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Title: Wilhelm Hauffs sämtliche Werke in sechs Bänden. Fünfter Band
Author: Hauff, Wilhelm
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Wilhelm Hauffs sämtliche Werke in sechs Bänden. Fünfter Band" ***


    Anmerkungen zur Transkription


    Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text
    ist _so ausgezeichnet_. Im Original in Antiqua gesetzter Text ist
    ~so markiert~.

    Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des
    Buches.



    Wilhelm Hauffs

    sämtliche Werke in sechs Bänden

    Mit einer biographischen Einleitung
    von Alfred Weile

    Neu durchgesehene Ausgabe
    :: :: in neuester Rechtschreibung :: ::

    Fünfter Band.

    A. Weichert Verlag, Berlin NO.⁴³, Neue Königstr. 9.



    Der Mann im Monde.

    Kontroverspredigt über _H. Clauren_
    und den Mann im Monde. -- Skizzen.



Inhaltsverzeichnis.


                                                             Seite

    Der Mann im Monde                                            5

    Kontroverspredigt über H. Clauren und den Mann im Monde    193

    _Skizzen_:

    Die Bücher und die Lesewelt                                225

    Freie Stunden am Fenster                                   240

    Der ästhetische Klub                                       264

    Ein paar Reisestunden                                      267

    Hochzeitgruß an Karl Grüneisen                             278



Erster Teil.

Der Mann im Monde

oder

Der Zug des Herzens ist des Schicksals Stimme.

Von

H. Clauren.


Der Ball.

Ueber Freilingen lag eine kalte, stürmische Novembernacht; der Wind
rumorte durch die Straßen, als sei er allein hier Herr und Meister,
und eine löbliche Polizeiinspektion habe nichts über den Straßenlärm
zu sagen. Dicke Tropfen schlugen an die Jalousien und mahnten die
Freilinger, hinter den warmen Ofen sich zu setzen während des
Höllenwetters, das draußen umzog. Nichtsdestoweniger war es sehr
lebhaft auf den Straßen; Wagen von allen Ecken und Enden der Stadt
rollten dem Marktplatz zu, auf welchem das Museum, von oben bis unten
erleuchtet, sich ausdehnte.

Es war Ball dort, als am Namensfest des Königs, das die Freilinger, wie
sie sagten, aus purer Gewissenhaftigkeit, nie ungefeiert vorbeiließen.
Morgens waren die Milizen ausgerückt, hatten prächtige Kirchenparade
gehalten und kümmerten sich in ihrem Patriotismus wenig darum, daß die
Dragoner, welche als Garnison hier lagen, sie laut genug bekrittelten.
Mittags war herrliches Diner gewesen, an welchem jedoch nur die Herren
Anteil genommen und so lange getrunken und getollt hatten, daß sie kaum
mehr mit dem Umkleiden zum Ball fertig geworden waren.

Auf Schlag sieben Uhr aber war der Ball bestellt, dem die Freilinger
Schönen und Nichtschönen schon seit sechs Wochen entgegengeseufzt
hatten. Schön konnte er diesmal werden, dieser Ball; hatte ihn
doch Hofrat Berner arrangiert, und das mußte man ihm lassen, so
viele Eigenheiten er sonst auch haben mochte, einen guten Ball zu
veranstalten, verstand er aus dem Fundament.

Die Wagen hatten nach und nach alle ihre köstlichen Waren entladen; die
Damen hatten sich aus den neidischen Hüllen der Pelzmäntel und Schals
herausgeschält und saßen jetzt in langen Reihen, alle in unchristlichem
Wichs, an den Wänden hinauf. Es war der erste Ball in dieser Saison.
Der Landadel hatte sich in die Stadt gezogen, Kranke und Gesunde waren
aus den Bädern zurückgekehrt; es ließ sich also erwarten, daß das
Neueste, was man überall an Haarputz und Kleidern bemerkt und in seinem
aufmerksamen Herzen bewahrt hatte, an diesem Abend zur Schau gestellt
werden würde. Daher füllte die erste halbe Stunde eine Musterung der
Coiffuren und Girlanden, und das Bebbern und Wispern der rastlos
gehenden Mäulchen schnurrte betäubend durch den Saal. Endlich aber
hatte man sich satt geärgert und bewundert und fragte überall, warum
der Hofrat Berner das Zeichen zum Anfang noch nicht geben wolle.

Das hatte aber seine ganz eigenen Gründe; man sah ihm wohl die Unruhe
an, aber niemand wußte, warum er, ganz gegen seine Gewohnheit, unruhig
hin und her laufe, bald hinaus auf die Treppe, bald herein ans Fenster
renne; sonst war er Punkt fünf Uhr mit seinem Arrangement fertig
gewesen und hatte dann ruhig und besonnen den Ball eröffnet, aber heute
schien ein sonderbarer Zappel das freundliche Männchen überfallen zu
haben.

Nur er wußte, warum alles warten mußte; keinem Menschen, so viel man
ihn auch mit Schmeichelwörtchen und schönen Redensarten bombardierte,
vertraute er ein Sterbenswörtchen davon; er lächelte nur still und
geheimnisvoll vor sich hin und ließ nur hie und da ein »werdet schon
sehen« -- »man kann nicht wissen, was kommt« fallen.

Wir wissen es übrigens und können reinen Wein darüber einschenken:
Präsidents Ida war vor wenigen Stunden aus der Pension zurückgekommen;
er, der alte Hausfreund, war zufällig dort, als sie ankam, er hatte
nicht eher geruht, bis sie versprochen hatte, das ganze Haus in Alarm
zu setzen, das Blondenkleid, in welchem sie bei Hofe war präsentiert
worden, ausbügeln zu lassen und auf den Ball zu kommen. Wie spitzte er
sich auf die langen Gesichter der Damen, auf die freundlichen Blicke
der Herren, wenn er die wunderschöne Dame in den Saal führen würde;
denn _kennen_ konnte sie im ersten Augenblick _niemand_.

Wo hatte nur das Mädchen die Zeit hergenommen, so recht eigentlich
bildhübsch zu werden? Als sie vor drei Jahren abreiste, wie besorglich
schaute da der gute Hofrat dem Wagen nach; er hatte sie auf dem Arm
gehabt, als sie kaum geboren war; bis zu ihrem vierzehnten Jahre hatte
er sie alle Tage gesehen, hatte sie früher auf dem Knie reiten lassen,
hatte sie nachher, trotz dem Schmollen der Präsidentin, zu allen tollen
Streichen angeführt; er liebte sie wie sein eigenes Kind, aber er mußte
sich vor drei Jahren doch gestehen, daß ihm angst und bange sei, was
aus dem wilden Ding werden solle, das man da in die Residenz führe, um
sie menschlich zu machen.

Denn wollte man ein Mädchen sehen, das zur Jungfrau und fürs Haus
völlig verdorben schien, so war es Präsidents Wildfang; einen solchen
Ausbund traf man auf zwanzig Meilen nicht. Kein Graben war ihr zu
breit, kein Baum zu hoch, kein Zaun zu spitzig; sie sprang, sie
klimmte, sie schleuderte trotz dem wildesten Jungen; hatte sie doch
selbst einmal heimlich ihren Damensattel auf den wilden Renner ihres
Bruders, des Leutnants, gebunden und war durch die Stadt gejagt, als
sollte sie feuerreiten! Dabei war sie mager und unscheinbar, scheute
sich vor jeder weiblichen Arbeit, und der einzige Trost der gnädigen
Mama war, daß sie Französisch plappere wie ein Stärchen, und daß,
trotz ihrem Umherrennen in der Märzsonne, ihr Teint dennoch trefflich
erhalten sei.

Aber jetzt --!

Nein! Was war mit diesem Mädchen in den kurzen drei Jahren eine
Veränderung vorgegangen: wenigstens um einen Kopf war sie gewachsen,
alles an ihr hatte eine Rundung, eine zarte Fülle bekommen, die man
sonst nicht für möglich gehalten hätte; das Haar, das sonst, wie
oft man es auch kämmte und an den Kopf hinsalbte, der wilden Hummel
in unordentlichen Strängen und Locken um den Kopf flog, war jetzt
der herrlichste Kopfputz, den man sich denken konnte. Die Augen
waren glänzender, und doch fuhren sie nicht, wie ehemals, wie ein
Feuerrädchen umher, alles anzuzünden drohend. Die Wangen bedeckte ein
feines Rot, das bei jedem Atemzug in alle Schattierungen von zartem
Rosa bis ins Purpurrot wechselte; das liebe Gesichtchen war oval und
hatte eine Würde bekommen, über die der staunende Hofrat lächeln mußte,
so sehr er sie bewunderte.

Dieses Götterkind, diesen Ausbund von Liebenswürdigkeit erwartete
der Hofrat; dem guten alten Junggesellen pochte das Herz beinahe
hörbar, wenn er an sein Gold-Idchen dachte. Wie mußte sie erst im
Ballkleide aussehen, wenn sie ihn in dem Reiseüberröckchen und in
der Haube ~à la jolie femme~ beinahe närrisch machte; wie mußte sie
erst strahlen, wenn sie, wie sie ihm versprochen, die Haare nach dem
allerfunkelnagelneuesten Geschmack, die schöne Stirne und den schlanken
Hals, die wie aus Wachs geformten Partien, welche die handbreiten
Brüsseler Kanten umziehen werden, mit dem Amethystschmucke zierte,
den sie von ihrer Patin, der Fürstin Romanow, geschenkt bekommen
hatte. Ihm, ihm hatte sie mit all jener Herzlichkeit, mit der sie
früher versprochen, einen Spaziergang mit ihm zu machen oder ihn, den
Einsamen, zu besuchen, wenn er krank war, jetzt als Königin des Festes
die erste Polonäse zugesagt.

Immer verdrießlicher wurden die Damen, immer ungestümer mahnten die
Herren den alten ~Maître de plaisir~, schon seit einer halben Stunde
stimmten die Musikanten, daß man vor dem Quieken der Klarinette, vor
dem Brummen der Bässe sein eigenes Wort nicht hörte -- er gab nicht
nach. Da rasselte ein Wagen über den Marktplatz her und hielt vor dem
Flügeltore des Museums.

»Das sind sie,« murmelte der Hofrat und stürzte zum Saal hinaus; bald
darauf öffneten sich die Flügeltüren, und der kleine freundliche Alte
schritt am Arme einer jungen Dame in den Saal.


Ida.

Aller Augen waffneten sich mit Lorgnetten und Brillen; wer konnte das
wunderschöne Mädchen sein, so hoch und schlank, mit dem königlichen
Anstand, mit dem siegenden Blick, mit der kräftigen Frische des
jugendlichen Körpers? Sie nickte so bekannt nach allen Seiten, als käme
sie alle Tage auf Freilinger Bälle und Assembleen; und doch kannte sie
niemand. Doch ja! Da kommt ja auch der alte Präsident. Wahrhaftig! es
kann niemand anders sein als Präsidents Ida!

Aber wie herrlich war dieses Knöspchen aufgegangen! »Welcher Anstand!«
bemerkten die Herren. »Welche Figur! Welcher Nacken! Wahrhaftig,
man möchte ein Mückchen oder noch etwas weniger sein, nur um darauf
spazieren zu gehen.« »Welcher Schmuck, welche Spitzen, welche
Stickerei an dem Kleid!« bemerkten die Damen und wünschten sich weit
weg, denn wie sollten sie ihre Fähnchen, die sie doch ihr gutes Geld
gekostet, ihre Blumen, die sie selbst gemacht und für wundervoll
gehalten hatten, neben diesen italienischen Rosen und Astern, die eben
erst aus den Gärten der Hesperiden gepflückt zu sein schienen, neben
diesen Kanten sehen lassen, von welchen die Elle vielleicht mehr wert
war als eines ihrer Ballkleider, nebst Schneiderskonto und Façon! Nein,
Berner, der arge Berner hätte ihnen keinen schlimmern Streich spielen
können, als diese Ida gerade heute einzuführen. Aber man mußte sich
Gewalt antun; der Präsident machte das erste Haus in der Stadt, war
der gewaltige Herrscher der Provinz, eine glänzende Aussicht auf ~Thés
dansants~, Soupers, Hausbälle und dergleichen eröffnete sich vor den
schnell berechnenden Blicken der Damen; wehe der, die dann nicht mit
Ida bekannt war oder sie sogar kalt empfangen hatte! Man wußte, daß
dies der Herr Präsident nie verzeihen würde; man nahm sich zusammen,
und in kurzem war die Gefeierte von allen jungen und alten Damen
umringt, welche Glück wünschten, alte Bekanntschaft erneuerten und
nebenbei dies und jenes von dem hoffähigen Anzug spickten. Alle redeten
zumal, keine wurde verstanden, und die Herren fluchten und schimpften
ein Donnerwetter über das andere, daß sich eine so dichte Wolke vor
diese kaum aufgegangene Sonne gedrängt und sie ihrem Anblick entzogen
habe.

Jetzt zog Hofrat Berner das weiße Sacktuch, schwenkte es in der Luft
und gab dem Kapellmeister und Stabstrompeter der Dragoner das Zeichen,
und eine herrliche Polonäse begann. Im Nu stoben die Glückwünschenden
auseinander und machten Raum für die Assessoren, Leutnants, Sekretäre,
jungen Kaufherren, Jagdjunker, die glücklicherweise noch nicht versagt
waren und sich jetzt um einen Walzer, Ekossaise oder gar Kotillon mit
Ida die Hälse brechen wollten. Sie aber lachte, daß die Schneeperlen
der Zähne durch die Purpurlippen heraussahen, behauptete, sich immer
nur auf eine Tour zu versagen, hüpfte dem Hofrat entgegen und reichte
ihm die kleine Hand.

Selig, gerührt, begeistert stellte er sich mit seinem holden Engelskind
an die Spitze der Kolonne und marschierte unter den mutigen, lockenden
Tönen der Polonäse stolzen Schrittes gegen das wohlunterhaltene
feindliche Tirailleurfeuer, das von vorn, von den Flanken, überallher
aus den Mündungen der Lorgnetten auf seine Tänzerin sprühte. Aber
diese, war sie kurzsichtig, hatte sie statt des Korsettchens einen
Kürassierpanzer vom feinsten Stahl mit der Musketenprobe um das
Herzchen oder war sie das Feuer so gewohnt, wie die alte Garde, die,
Gewehr im Arm, im Paradeschritt durch das Kartätschenfeuer marschierte?
Ich weiß nicht, aber sie schien gar nicht auf die schrecklichen
Ausbrüche der gebrochenen Herzen, auf die Knallseufzer der Verwundeten
zu hören, das Plappermäulchen ging so ruhig fort, als ginge sie, drei
Jahre jünger, mit dem guten Hofrätchen im Wald spazieren.

Da kamen alle die Streiche, die der leichte Springinsfeld losgelassen,
alle jene tausend Schwieten des kleinen Uebermuts aufs Tapet. Lust und
Lachen blitzte wie ehemals aus ihrem Auge, wenn sie sich erinnerte, wie
sie einem Spanferkel Kindszeug angezogen und es dem Hofrat als Findling
vor die Türe gelegt, wie sie dem Oberpfarrer die Waden voll Stecknadeln
gesetzt, daß sie aussahen wie der Rücken eines Stachelschweines, alles,
ohne daß er es merkte, denn er trug falsche. Der Hofrat wollte seinen
Ohren nicht trauen. Es war ja dasselbe lustige, naive Ding wie früher,
und doch so wunderherrlich, so groß, mit so unendlich viel Anstand und
Würde! Er hätte sie auf der Stelle am Kopf nehmen und recht abküssen
mögen wie früher, wenn sie einen rechten Ausbund von Schelmenstreich
gemacht hatte.

Es ging über seine Begriffe! »Wie können Sie nur so hartherzig sein,
Idchen!« sagte er, »und nicht einen Blick auf unsere jungen Herren
werfen, die zerschmelzen wie Wachs am Feuer? Nicht einmal einen Blick
für alle diese Exklamationen und Beteuerungen, welche Sie doch gehört
haben müssen?«

»Was gehen mich Ihre jungen Herren an?« plapperte sie mit der
größten Ruhe fort. »Die sind hier, wie überall, unverschämt wie die
Fleischmücken im Sommer. Das könnte kein Pferd aushalten, wollte
man darauf achten. Sie pfeifen in der Residenz ebenso, das wird man
gewohnt; so von Anfang macht es ein wenig eitel. Wenn man aber sieht,
wie sie dieser und jener dasselbe zuflüstern, vor der Ursel ebenso
wie vor der Bärbel sterben möchten, so weiß man schon, was solche
schnackische Redensarten zu bedeuten haben.«

Die muß eine gute Schule durchgemacht haben, dachte der Hofrat.
Siebzehn Jahre alt und spricht so mir nichts dir nichts von der Farbe,
als wäre sie seit zwanzig Jahren in den Salons von Paris und London
umhergefahren. Er ärgerte sich halb und halb über Mamsell Neunmalklug
und Uebergescheit, denn es waren just keine unebene junge Männer, die
ihre Seufzer so hageldick losgelassen hatten, und ihn, der in seiner
Jugend wohl so zwanzig Amouren und Amürchen gehabt hatte, konnte nichts
mehr ärgern als ein fühlloses Herz.

Aber dieser Aerger konnte bei seinem Idchen nicht in ihm aufsteigen.
Wenn er in ihr volles glühendes Auge sah, wenn er den süßgewölbten Mund
betrachtete, da dachte er: Nein, dir traue dieser und jener, aber ich
nicht, weiß ich doch von früher her, wie du gerne Flausen machst und
dem guten ehrlichen Berner gerne ein X für ein U unterschiebst. Jetzt
willst du dein Schach verdeckt spielen und mir irgend einen blauen
Dunst vorschwefeln, und das Herzchen ist am Ende doch in der Residenz
geblieben, und Fräulein Stahlherz ist nur darum so spröde gegen die
Freilinger Stadtkinder. Aber basta! der Hofrat Berner hat auch gelebt
und geliebt, und wettet seinen Kopf, dieses Auge weiß, was Liebe ist,
diese frischen Purpurlippen haben schon geküßt, aber anders als nur
solche Hofratsküsse!

Der gute Alte äußerte etwas von diesen Gedanken gegen Ida, sie aber sah
ihm so ganz ruhig ins Gesicht und versicherte lächelnd: gefallen habe
ihr schon mancher, geliebt habe sie aber bis diese Stunde noch keinen
Mann, als ihren Vater und ihn.


Schöne Augen.

»Aber sagen Sie, Idchen,« fragte der Hofrat, als er sie wieder an ihren
Platz geführt hatte, »ist das etwa ein Cousin oder dergleichen, der da
mit Ihnen kam?«

»Ich kam mit Papa,« antwortete die Gefragte, »sonst war niemand dabei.
Wen meinen Sie denn?«

»Nun, der Bleiche dort kam ja doch wohl mit Ihnen, es kennt ihn
niemand im Saal, und mit Ihnen trat er herein, sonst müßte er ja, Sie
wissen, daß das Museum geschlossene Gesellschaft ist, sonst müßte er
ja eingeführt sein. Sehen Sie, der dort.« Er zeigte hin. An eine Säule
gelehnt, stand unbeweglich mit übergeschlagenen Armen eine schlanke
Gestalt. Noch konnte Ida das Gesicht nicht sehen, nur die glänzenden
schwarzen Locken des Haares fielen ihr auf; sie wollte sich eben
besinnen, wo sie schon solche gesehen habe, da wandte sich jener um,
und unwillkürlich schrak Ida zusammen; gespensterhafte Blässe lag auf
diesem feinen, schönen Gesicht, geheimer Gram oder verschlossenes
Kämpfen mit finsterem Leiden schien das muntere, jugendliche Leben aus
diesen tiefen, im schönsten Ebenmaß geformten Zügen hinweggewischt zu
haben, und ein gemischtes Gefühl drängte sich bei seinem Anblick auf,
neugieriges Mitleid schien sich mit zweifelhafter Furcht streiten zu
wollen.

Kaum hatte des Fremden glühendschwarzes Auge Ida getroffen, als sie
ihren Blick abwandte. Ueberraschung und Verlegenheit machten sie stumm
auf einige Augenblicke; von dem Diadem auf der schönen Stirne, über
den Liliensamt der blühenden Wange, bis herab auf den jungfräulichen
Alabasterbusen flog ein brennendes Rot, das der Hofrat nicht unbemerkt
ließ. Er wollte sie eben mit dem pfiffigsten Gesichte nach der Ursache
ihres Rotwerdens fragen, aber eine Unzahl Herren drängte sich zu,
sie um einen Tanz zu bitten; Vettern und Basen freuten sich, sie
wiederzusehen, und gafften das Wunderkind an. Der Hofrat aber, welchem
daran lag, die Spur, die er aufgefunden zu haben meinte, zu verfolgen,
machte seine Bewegungen wie ein geübter Feldherr; er fragte sie so
laut als möglich, ob es ihr jetzt, wie sie gewünscht, gefällig sei,
zu ihrem Herrn Vater zu gehen, der im dritten Zimmer sich zu einem
Whistchen gesetzt habe, und Pfiffköpfchen verstand gleich, wo der gute
Alte hinaus wollte; sie beurlaubte sich also mit großer Hast von dem
ungeheuren Kometenschweif, in welchem sie als Kern gesessen, und ging
mit Berner durch den Saal.

Und jetzt nahm Berner sie ins Gebet; zuerst setzte er die
Daumenschrauben des Spottes an, dann untersuchte er die vermeintliche
Herzenswunde seines Gold-Idchens mit der langen Sonde des väterlichen
Ernstes, indem er ihr vorwarf, sehr unklug getan zu haben, ihre
Residenzliebhaber mit nach Freilingen zu nehmen. Sie aber lachte dem
Ratgeber, welcher meinte, seine Sache recht gut gemacht und sie ganz im
Netz zu haben, ins Gesicht und witschte ihm aus.

»Sie geben sich vergebliche Mühe, Hofrätchen,« kicherte das lose Ding,
»ganz vergebliche Mühe; ich habe diesen Menschen in meinem ganzen
Leben, auf Ehre, noch nie gesprochen; doch gesehen,« setzte sie,
ernster werdend, hinzu, »gesehen habe ich ihn, und deswegen kam ich
auch vorhin etwas in Verlegenheit.«

»Was da! Zwischen sehen und sehen ist ein großer Unterschied,«
antwortete Berner mit einem völlig ungläubigen Kopfschütteln. »Da
müssen Sie ihm doch ein wenig gar scharf in die Augen gesehen haben?«

»So hören Sie mich doch, Sie böser Mann!« unterbrach ihn Ida. »Wer
wird denn auch gleich auf den Schein hin verdammen? Ich sage noch
einmal, ich weiß nicht, wer er ist, aber das innigste Mitleid habe ich
mit ihm. Als wir gestern durch den Lanzinger Wald kamen, fuhren wir
einer Equipage vor, die ganz langsam im Schritt hinging. Es war ein
prachtvoller Landau mit einem großen Bock, worauf ein alter Diener
in reicher Livree saß; am Wagen zogen vier Postpferde; das Dach war
zurückgeschlagen, und es saß niemand darin als ein großer Hund. Sie
wissen, wie man auf der Reise ist, man interessiert sich um die
Mitreisenden, besonders wenn man glaubt, auf einerlei Station mit ihnen
zu wohnen oder zu speisen. So dachte ich mir jetzt, die Reisenden,
denen der Wagen gehöre, seien vorausgegangen und lassen ihn langsam
nachfahren. Ich sah daher alle Augenblicke aus unserm Wagen, ob ich
noch keine reisende Engländerinnen oder Französinnen gewahr werden
könnte, aber immer vergebens. Endlich, als wir um eine Waldecke bogen,
sah ich auf einmal einen Mann, der unter einer Eiche saß und zu dem
Wagen gehören mußte.«

»Und war es derselbe, der dort an der Säule steht?« fragte der Hofrat.

»Derselbe, er war auch ganz schwarz gekleidet wie jetzt, sein Hut
lag neben ihm im Gras, seinen Kopf stützte er in die hohle Hand.
Das Geräusch unseres Wagens, der jetzt, weil es bergauf ging, auch
langsam fuhr, schien ihn aufzuschrecken; ohne aufzusehen, ging er mit
gesenktem Haupt bis an unsere Wagentüre. Da richtete er sich auf, und
Sie können sich meinen Schrecken denken, Hofrat, als ich das nämliche
geisterbleiche Gesicht sah, das auch Ihnen aufgefallen ist. Er mußte
heftig geweint haben, denn Tränen hingen in den langen schwarzen
Wimpern und gaben dem glühendschwarzen, sinnigen Auge einen ganz
eigenen Reiz!«

»So, so? Einen ganz eigenen Reiz!« antwortete lächelnd der Hofrat.
»Wer hat denn meinem Mädchen erlaubt, über Männeraugen Betrachtungen
anzustellen? Hat sie das auch bei Madame la Truiaire in der Residenz
gelernt?«

Das lustige Amorettenköpfchen, das sich da, es wußte nicht wie,
verbebbert hatte, schlug die Augen nieder und sagte: »Legen Sie nicht
alles so bös aus, Bernerchen, Sie verstanden ja doch sonst Ihre Ida
nicht immer falsch.

Sehen Sie, was die Augen betrifft, da habe ich nun einmal meinen
eigenen Geschmack. Schöne blaue oder schwarze Augen, mitunter auch
recht glänzendbraune, sehe ich an jedermann gerne. Daher sind mir auch
alle jungen Herren so zuwider, weil sie selten schöne Augen haben;
sie haben ihnen durch die Lorgnetten, Brillen und, Gott weiß durch was
sonst, den schönsten Glanz benommen und stieren uns an wie gestochene
Böcke; desto mehr freue ich mich, wenn ich einmal eine solche Ausnahme
treffe. Eine ganz eigene Freude macht mir auch das Aufschlagen der
Augen, das man unter Tausenden kaum einmal so recht anmutig, sinnig
und, wie man es gerne haben möchte, trifft. Beides sah ich nun an dem
Fremden, darum hat er mir auch so ge--«

Da hatte sich das schnelle Schnäbelchen schon wieder verplappert! Der
Hofrat horchte noch immer, aber Idchen blieb still, biß die Lippen
zusammen und spielte mit dem Amethystkreuz am Kollier, das unter dem
Tanzen sich zwischen den Schneehügeln hinabgeschoben hatte und ganz
glühend heiß geworden war.

»Ei, ei!« warnte der Hofrat, »ich habe da in zwei Minuten Dinge gehört,
wovor einem die Haut schaudern könnte; nimm dich um Gottes willen in
acht, Kind, wenn du deine Augenbeobachtungen anstellst; ich weiß es aus
meiner Jugend, daß in gewissen Augen Häkchen sitzen, die uns, wenn man
allzutief schaut, festhalten, daß an kein Entrinnen zu denken ist; hast
du nie etwas von der Augensprache gehört?«

»Doch,« entgegnete der kleine Uebermut, »ich glaube, sie auch zur Not
zu verstehen.« --

»Ist gar nicht vonnöten; man spricht sie zwar vom Rhein bis zum
Mississippi, vom Don bis zum Ohio. Lerne aber nie _mehr_, als etwas
Kauderwelsch parlieren, denn wer sich so gar geläufig ausdrückt und mit
zwanzig zumal in dieser Sprache spricht, gilt nicht mit Unrecht für
eine Erzgeneralkokette.«

»Nun, für eine solche werden Sie mich doch nicht halten?« fragte Ida
etwas empfindlich.

»Dazu kenne ich mein süßes Mädchen zu gut,« entgegnete der Hofrat
traulich und drückte ihr das weiche Samthändchen; »was aber den
bleichen Patron dort drüben betrifft, so kann er über allerlei geweint
haben; er kann zum Beispiel seine Mutter, seine Schwester oder gar sein
Mädchen verloren haben.«

»Mei--nen -- Sie?« antwortete Ida gedehnt und unmutig. »Doch nein! da
würde er ja nicht auf den Ball gehen,« setzte sie freudig hinzu! »da
würde er zu Haus trauern und nicht die Freude aufsuchen.«

»Oder,« fuhr jener fort, »es gingen ihm vielleicht seine Wechsel aus,
und er hat im Augenblick kein Geld, um seine Reise weiter fortzusetzen.«

»Nicht doch,« fiel sie ein, »wie mögen Sie nur diesem interessanten
Gesicht einen so gemeinen Kummer andichten. Sieht er nicht nobler aus
als alle unsere Assessoren, Leutnants und so weiter zusammen, und er
sollte mit vier Postpferden in einem herrlichen Landau fahren und
weinen, weil er kein Geld hat? Pfui!«

»Ei, wie sich der kleine Advokat vereifert und verdisputiert; das
Mäulchen geht ja, als sollte es einen Prozeß vor den Assisen führen!
Uebrigens wollen wir bald sehen, wer der Patron ist; habe ich doch den
Ball arrangiert und daher auch das Recht, Fremden, die sich eindrängen,
auf den Zahn zu fühlen.«

»Nun ja, tun Sie das, liebes Hofrätchen, aber ja recht artig
und delikat,« setzte das errötende Mädchen mit den süßesten
Schmeichelworten hinzu; »wer so tiefen Kummer hat, wie jener zu haben
scheint, muß unter Fremden wie unter Freunden zart behandelt werden!«


Der Fremde.

Unterdessen hatten sich mehrere Herren an Berner gewendet, um zu
erfahren, wer der Fremde sei; allen war es aufgefallen, wie er schon
seit einer Stunde sich nicht vom Platz bewegte und, an eine Säule
gelehnt, so wenig Interesse an dem glänzenden Ball zu nehmen schien.
Der Hofrat ging zu ihm hin und kehrte bald zurück. »Wer ist es? Wie
heißt er?« fragten zehn, zwanzig zumal. »Was hat er gesprochen?«

»Nichts hat er gesprochen!« antwortete Berner, »sondern mir nur diese
Karte gegeben.«

Die Karte ging jetzt von Hand zu Hand, es war aber nichts darauf zu
sehen als ein schöngestochenes Wappen und der Name, _Emile, Comte de
Martiniz_. »Ein Graf also?« Die Neugierde war nur halb gestillt; die
Freilinger, denen die Erscheinung eines fremden Grafen auf ihren Bällen
etwas Seltenes sein mochte, gingen kopfschüttelnd umher; sie hätten
gar zu gerne gewußt, woher er komme, wohin er gehe, warum er nicht
tanze. Man betrachtete das fremde Wundertier von allen Seiten; doch der
Hofrat, der so viel Takt hatte, daß er in des Fremden Seele fühlte,
wie peinlich eine so kleinliche Neugierde sein müsse, gab das Zeichen,
und die Galoppade, von zwanzig Trompeten vorgetragen, rauschte durch
den Saal hin und rief zum Tanze.

Walzer um Walzer waren getanzt, noch immer stand die fremde, gebietende
Gestalt unbeweglich an die Säule gelehnt. Es war, als hätte er sich
nur in schwarz und weiß geteilt und kenne keine andere Farbe. Sein
Haar, sein Auge war so dunkel als das feine glänzende Tuch seines
Kleides; das blendend bleiche Gesicht, die wunderschöne Wäsche, welche
durch ihre Weiße und ihre zierlichen Fältchen den Freilinger Damen
schon von weitem Bewunderung einflößte, kontrastierten sonderbar mit
jener dunkeln Farbe; nur die feinen Lippen schmückte ein gesundes,
freundliches Rot. Er schien ganz ohne Teilnahme in das bunte Gewühl
hineinzustarren, aber dennoch begegnete nicht leicht einer diesem
scharfen Blicke, ohne das eigene Auge überrascht vor diesem furchtbaren
Ernst, dieser sprühenden Glut niederzuschlagen.

Wie es aber zu gehen pflegt, die Damen fingen nachgerade an, nicht viel
von dem Fremden zu halten, weil er nicht tanzte, die jungen Herren
machten sich über ihn lustig, und beide Teile hatten so viel an der
neuen Erscheinung der wunderlieblichen Ida zu schauen, zu bekritteln,
zu bewundern, daß man bald nicht mehr an jenen dachte. Nur Idas Blicke
streiften öfter nach jener Säule hinüber; ein Blick zu ihm schien sie
für das Geschwätz der Freilinger Stutzer, die ihr heute unendlich fade
vorkamen, zu entschädigen. Doch betrachtete sie ihn immer nur von der
Seite; denn wenn Auge auf Auge traf, so trieb es ihr unwiderstehlich
die Glut ins Gesicht, und sie war froh, daß die Musik so laut war, denn
sie meinte in solchen Momenten, man müsse ihr siedendes, glühendes Blut
an ihr Herzchen pochen hören. Waren es die Tränen, die sie gestern
in diesen dunkeln Wimpern sah, war es der wehmütige Ernst auf seinem
Gesicht, was sie so rührte, hatte der Hofrat recht mit den Häkchen,
die in gewissen Augen sitzen, und hatte sie zu tiefe Beobachtungen
angestellt und war geangelt worden und gef--? -- Nein! lächelte sie
schelmisch vor sich hin, da hat es keine Not; es ist ja nur das
natürliche Mitleiden, was mich immer nach ihm hinsehen heißt!

Elf Uhr war vorüber, es sollte noch eine Ekossaise vor dem Souper
getanzt werden. Stürmisch drängten sich die Herren um das Wunderkind;
aber Trotzköpfchen Ida blieb fest dabei, diesmal auszusetzen, und ließ
die Herren ablaufen. Der Hofrat setzte sich zu ihr, und unwillkürlich
waren sie wieder mitten im Gespräch über den Fremden.

»Ach, sehen Sie nur,« sagte Ida mit der himmlischen Gutmütigkeit ihres
Engelköpfchens, »sehen Sie nur, ich meine, er wird zusehends immer
blässer; wenn er nur nicht krank wird.« Der Hofrat fand ihre Bemerkung
richtig, er zeigte ihr aber, wie dieser feste heldenmäßige Körper nicht
so leicht von einem Kranken-Unfall gestört werden könne; aber Ida wurde
immer unruhiger, sie sah, wie Martiniz die Lippen zusammenpresse, als
wolle er einen Schmerz verbeißen; der Ernst in seinem Gesicht wurde
nach und nach zur Trauer, das Wehmütige, der tränenschwere Trübsinn in
seinem Auge wurde immer unverkennbarer.

»O Gott, sehen Sie ihn nur an, guter Berner, ist mir doch, als sollte
ich zu ihm gehen und fragen: was fehlt dir, daß du nicht fröhlich bist
mit den Fröhlichen? Wie gerne wollte ich alles tun, dir zu helfen.« --

Der Mensch denkt's, Gott lenkt's!

Auch der Hofrat wurde jetzt unruhig, denn mit einem Ruck hatte sich
der bleiche Fremde aufgerafft und stand nun in seiner ganzen Größe, in
gebietender und doch graziöser Haltung da, aber sein Auge heftete sich
furchtbar starrend nach der Saaltüre. Berner wollte eben aufstehen und
zu ihm hin --

Da öffnete sich die Türe, ein alter, reichgekleideter Bedienter,
derselbe, welchen Ida gestern gesehen, trat ein, ging auf den Fremden
zu und neigte sich schweigend vor ihm. Dieser riß eine Uhr heraus, warf
einen Blick auf sie und einen zweiten voll Wehmut auf Ida herüber und
verließ langsamen Schrittes den Saal.

Ehe noch der Hofrat seiner Nachbarin seine Vermutungen über diesen
sonderbaren Abzug mitteilen konnte, war die Ekossaise zu Ende.
Der Präsident kam und führte sein liebes, holdes, wunderherziges
Töchterchen zur Tafel.


Die Kirche.

Der alte Küster am Münster zu Freilingen saß in dieser Nacht nach
seiner Gewohnheit noch lange in seinem kleinen Stübchen; der Abendsegen
war schon vor einer Stunde seiner Ehehälfte vorgelesen, er hatte sich
jetzt hinter die alte Chronik gesetzt und las mit brummender Stimme
halblaut vor sich hin, wie man den herrlichen, vierhundert Schuh
hohen Münsterturm erbaut, und wie solches viel Zeit und Geld gekostet
habe. Eben wollte die Alte den weiß und blau gestreiften Umhang der
zweischläfrigen Himmelbettlade auseinanderschlagen, um ihren Ehezärter
zu ermahnen, sein gewohntes Lager zu suchen, als man stark an den
Fensterladen des niedern Parterrestübchens pochte. »Macht auf, Meister
Küster! seid so gut und macht auf!« rief eine tiefe, aber bescheidene
Stimme draußen. »Wird wohl ein Bote von einem Kranken sein,« näselte
der Küster, »der die Sakramente noch will.« Er legte die Brille ins
Chronikbuch, daß die Stelle nicht verblättere, denn er hatte von dem
Kalk gelesen, den man mit Wein angemacht habe, und hatte dabei unmutig
an das Dünnbier gedacht, das seine Ursula ihm, einem Nachkommen dieser
Weinmaurer, tagtäglich vorsetzte.

Draußen schob er die mächtigen Schlösser und Riegel der Haustüre
auf, und herein trat ein kleiner ältlicher Mann in reichbordiertem
Bedientenrocke. »Was soll's so spät?« fragte der Küster.

»Kamerad,« antwortete der Bediente, indem er den Küster aus dem kalten
Hausgang in die wärmere Stube hineinzog. »Kamerad, wollt Ihr mir und
noch jemand einen Liebesdienst erweisen?« Zugleich legte er einen
blanken harten Taler auf den Tisch.

Der Küster wog den Taler in der Hand, ließ ihn wieder auf den Tisch
fallen, daß es einen wohllautenden Klang gab, und sagte: »Wenn's nichts
gegen Amt und Gewissen ist, warum nicht?«

»So nehmt Eure Schlüssel,« fuhr der andere fort, »und schließt die
Münsterkirche auf.«

»Jetzt, in dieser Stunde?« rief der Alte mit Entsetzen, »Jetzt, in
dieser stürmischen Nacht? Geht nicht, Kamerad, so wahr ich -- nein, es
geht nicht, mich bringt kein Hund hinüber!«

»Beileibe,« rief die Küsterin aus dem Bette und riß den Umhang zurück,
daß man das ganze Paradiesgärtlein ihres geblümten Bettes übersehen
konnte, »führe uns nicht in Versuchung Alter, laß dich nicht betören,
wer weiß, was draußen lauert.«

»Hätte nicht geglaubt, daß Ihr, ein so stattlicher Mann, unter dem
Weiberregimente stündet,« sprach der alte Diener. »Glaubt mir, es
ist auch ein Gottesdienst, wenn Ihr mitgeht, und bringt Euch guten
Lohn.« Noch einmal wog der Küster den Taler auf der Fingerspitze und
schien sich zu besinnen. »Es wird zwar gleich zwölf Uhr brummen, und
da ist es gar nicht geheuer drüben in der Kirche, denn ich weiß, was
ich weiß, und habe gesehen, was ich gesehen habe, aber weil Ihr sagt,
es sei ein Gottesdienst, so kommt.« Indem hatte er schon die Laterne
zurechtgemacht. Er hing noch einen warmen Mantel um und ergriff die
gewichtigen, wunderlich geformten Schlüssel.

»Ei du meine Güte! Läßt er sich doch verblenden vom Mammon,« seufzte
die Alte im Bette. Der Küster aber trat zu ihr mit dem größten seiner
Schlüssel: »Du schweigst, Ursel! Der Herr da soll sehen, daß unsereiner
nicht unterm Pantoffel steht,« brummte er und verließ mit dem Diener
das Haus.

Die Nacht war grimmkalt, der Himmel jetzt ganz rein, nur einzelne
dunkle Wölkchen tanzten im Wirbel um den Mond. Schweigend schritten die
beiden durch die Nacht der Kirche zu. Wenige Schritte, so standen sie
am Portal des Münsters. Der Küster schrak zusammen, als dort aus dem
Schatten eines Pfeilers eine hohe, in einen dunkeln Mantel gehüllte
Gestalt hervortrat. Es war jener Fremde, der Idas Interesse in so hohem
Grade erregt hatte.

»Schließ auf, schließ auf,« sprach Martiniz, »denn es ist hohe Zeit!«
Indem er sprach, fing es an zu surren und zu klappern, dumpf rollte
gerade über ihnen im Turme das Uhrwerk, und in tiefen, zitternden
Klängen schallte die zwölfte Stunde in die Lüfte.

»Schließ auf!« schrie Martiniz. »Schnell auf! Dort kommt er schon um
die Ecke!«

Seufzend ging die hohe Türe auf, in _einem_ Sprung war jener in der
Kirche. Der Küster schloß behutsam wieder hinter sich ab und ging dann
voraus mit der Laterne; stille folgten ihm die Fremden. In wunderlichen
Schatten und Figuren spielte das schwache Licht der Laterne an den
hohen Säulen des Doms, nur auf wenige Schritte verbreitete es Helle und
verschwebte dann in matte Dämmerung, bis es sich in der tiefen Nacht
des Gewölbes verlor. Manchmal schien es, als schritten hohe Gestalten
in weiten schleppenden Gewändern hinter den Säulen ihnen nach. Scheu
blickte Emil von Martiniz nach allen Seiten und ging dann schneller
hinter dem Küster her. Dumpf schallten ihre Schritte auf dem hohlen
Boden, unter welchem eine alte Gruft sich befand, und ein vielfaches
Echo gab diese Töne aus allen Ecken zurück.

So waren sie bis an den Altar gekommen. Martiniz setzte sich dort auf
die Stufen, das Gesicht, das bei dem Scheine der trübe brennenden
Laterne noch viel bleicher erschien, stützte er auf die Hand, daß die
glänzendrabenschwarzen Ringellocken darüber herabfielen. Der Diener
winkte dem Küster, zog ihn auf eine Bank an der Seite zu sich nieder
und gab ihm durch Zeichen zu verstehen, daß er schweigen und sich ganz
ruhig verhalten möchte.

Tiefe Stille herrschte mehrere Minuten in den großen, dunkeln Hallen,
tiefe Stille draußen in der Nacht. Nur vom Altar her hörte man ein
leises Wispern, Martiniz schien zu beten. Bald aber erhob sich lauter
die Nachtluft und wehte um die Kirche. Je lauter es wurde, desto
unruhiger wurde Emil. Er seufzte, er blickte einigemal auf und lauschte
nach der Seite hin, wo der Luftzug stärker wehte.

Näher und näher heulte der Wind, die Fenster bebten, das Licht der
Laterne wehte seine Schatten her und hin, die alten verblichenen
Banner, die an der Mauer hingen, rollten sich auf und bewegten ihre
zerfetzten Bilder an der schwachbeleuchteten Wand.

Jetzt brauste der Wind auf in gewaltigen Stößen. Krachend stürzte ein
Fenster des Chors auf die breiten Quadern des Bodens, daß der Schall
durch die Halle tönte, und mit fürchterlichem Lachen des Wahnsinns fuhr
der am Altar auf und sprang die Stufen hinan. Gellend tönten diese
hohlen Töne der Verzweiflung durch die Gewölbe. »Er kann nicht herein,
er kann nicht herein zu mir,« schrie er, »darum hat er die Wolken
aufgezäumt, auf dem Sturmwind reitet er um die Kirche; ~ça ça!~ Holla,
Antonio -- wie schäumt das Purpurblut deiner Wunde! Rase, tobe durch
die Lüfte, du kannst doch nicht herein zu meiner Freistatt!«

Der Sturm legte sich, ferner und ferner rollte der Wind, und säuselnd
zog die Nachtluft durch die Kirche. Der Mond schien freundlich durch
die hellen Scheiben, und mit des Sturmes Toben schien auch der Sturm in
Emils Brust gewichen zu sein. »Seht ihr,« sprach er wehmütig und zeigte
an die vom Mond beschienenen Fenster hinauf, »seht ihr, wie er so
ernst und zürnend auf mich herabsieht! Kannst du denn nicht vergeben,
Antonio?«

Immer leiser wurde seine Klage, bis er weinend am Altare niedersank.
Jetzt stand der alte Diener, dem während der schrecklichen Szene
die Tränen in den grauen Wimpern gehangen, von seinem Sitze auf und
unterstützte seinen Herrn. Er wischte ihm den kalten Schweiß von der
Stirne und die Tränen aus dem gebrochenen Auge und flößte ihm aus einer
kristallenen Phiole mildernde Tropfen ein.

Der Ohnmächtige richtete sich wieder auf, hüllte sich tiefer in seinen
Mantel und schritt durch die Kirche.

Der alte Diener aber trat zu dem Küster. »Ich danke, Alterle,« sagte
er, »du hast jetzt gesehen, daß wir nichts Unrechtes in deinem
Gotteshause gemacht haben; dafür halte aber reinen Mund. Und wenn du
niemand ein Sterbenswörtchen hören lässest von dem, was du hier gesehen
und gehört hast, so kommen wir vielleicht morgen und manche Nacht
wieder, und du sollst pflichtgemäß deinen Harten haben.«

»Das kann sich unsereiner schon gefallen lassen,« antwortete der Küster
im Weitergehen; »so viel merke ich, daß Euer Herr entweder nicht recht
richtig unter dem Hut ist, oder daß er mit dem Gottseibeiuns hier
Versteckens spielt. Nun hier, denke ich, soll er ihn nicht holen; kommt
nur morgen nacht wieder. Was das Stillschweigen betrifft, so seid außer
Sorgen, von mir erfährt es kein Mensch, vor allem meine Ursel nicht;
denn ich denke, was sie nicht weiß, macht ihr nicht heiß.«

Der alte Diener lobte den Entschluß des Küsters und nahm am Portal mit
einem Händedruck von ihm Abschied. »Ist doch schade um ein so junges
schönes Blut,« brummte dieser vor sich hin, indem er seinem Häuschen
zuschritt; »so jung und hat schon Affairen mit Herrn Urian. Nun, er
soll ihn immer noch ein Halbjährchen reiten; um die harten Taler kann
man zur Not so guten Wein kaufen, als die Freilinger Maurermeister
hatten, um den Kalk zu meinem Münster festzumachen.


Das Souper.

Es schlug ein Uhr, als der Fremde und sein Diener von dem Münster
zurück über den Marktplatz gingen. An den Fenstern des erleuchteten
Museums drängten sich Gestalten an Gestalten geschäftig hin und her,
verworrenes Gemurmel vieler Stimmen tönte herab auf den stillen Platz,
hie und da zeigten laute Ausbrüche der Fröhlichkeit, mit Trompeten
vermischt, daß eine Gesundheit oder ein Toast ausgebracht worden sei.

»Robert!« begann der Graf, »ich will noch einmal hinaufgehen; die
süßen Töne der Flöten, die klagenden Klänge der Hörner haben etwas
Beruhigendes für mich, und mitten im Gewühle der fröhlichen Menge
vergesse ich vielleicht auf Augenblicke, daß ich unter den Glücklichen
der einzige Unglückliche bin.«

Umsonst bat der alte Robert seinen Herrn, er möchte doch seine
Gesundheit bedenken und sich jetzt zur Ruhe legen; er schien es gar
nicht zu hören, schweigend warf er in der Haustüre den Mantel ab, gab
ihn dem Alten und eilte die Treppe hinan. Kopfschüttelnd folgte ihm der
Diener; hatte er doch seit einer langen traurigen Zeit nicht bemerkt,
daß sein armer Herr Freude an rauschender Lustbarkeit hatte; es mußte
etwas Eigenes sein, das ihn noch einmal da hinaufzog, denn wenn er sich
sonst auch in das fröhlichste Gewühl gestürzt hatte, so war er doch
immer nach einem halben Stündchen wieder zurückgekommen. Und heute
hatte er ihn sogar an die Stunde mahnen müssen; heute ging er zu einer
Zeit, wo er sonst erschöpft von Kummer und Unglück dem Schlaf in die
Arme geeilt war, noch einmal auf den Tanzboden. »Gott gebe, daß es
zu seinem Heil ist!« schloß der treue Diener seine Betrachtungen und
wischte sich die Augen.

Der Saal war noch leer, als Emil oben eintrat, nur die Musikanten
stimmten ihre Geigen, probierten ihre Hörner und ließen die Schlegel
dumpf auf die Pauken fallen, um zu sondieren, ob das tiefe C recht
scharf anspreche; mitten durch netzten sie auch ihre Kehlen mit manchem
Viertel, denn ein ellenlanger Kotillon sollte den Ball beschließen.
Löffel- und Messergeklirr, das Jauchzen der Anstoßenden tönte aus dem
Speisesaal; ein schwermütiges Lächeln zog über Emils blasses Gesicht,
denn er gedachte der Zeiten, wo auch er keiner fröhlichen Nacht
ausgewichen war, wo auch er unter frohen, guten Menschen den Becher
der Freude geleert und, wenn kein liebes Weib, doch treue Freunde
geküßt hatte, und mit fröhlichem Jubel in das allgemeine Millionenhallo
und Welthurra der Freude eingestimmt hatte; unter diesen Gedanken trat
er in den Speisesaal. In bunten Reihen saßen die fröhlichen Gäste
die lange Tafel herab; man hatte soeben die hunderterlei Sorten von
Geflügel und Braten abgetragen und stellte jetzt das Dessert auf.
Gewiß! man konnte nichts Schöneres sehen als die Präzision, mit welcher
die Kellner ihr Dessert auftrugen, die Bewegungen auf die Flanken und
ins Zentrum gingen wie am Schnürchen, die schweren Zwölfpfünder der
Torten und Kuchen, das kleinere Geschütz der französischen Bonbons
und Gelees wurde mit Blitzesschnelle aufgefahren, in prachtvoller
Schlachtordnung, vom Glanz der Kristalllüster bestrahlt, standen
die Guß-, Johannisbeeren-, Punsch-, Rosinentorten, die Apfelsinen,
Ananas, Pomeranzen, die silbernen Platten mit Trauben und Melonen.
Aber Hofrat Berner hatte sie auch eingeübt, und den ungeschicktesten
Kellnerrekruten schwur er hoch und teuer in acht Tagen so weit bringen
zu wollen, daß er, einen bis an den Rand gefüllten Champagnerkelch auf
eine spiegelglatte silberne Platte gesetzt, die Treppe heraufspringen
könne, ohne einen Tropfen zu verschütten, was in der Geschichte des
Servierens einzig in seiner Art ist. Wenn die Festins, die er zu
arrangieren hatte, herannahten, hielt er auf folgende Art völlige
Uebungen und Manövers. Er setzte sich in den Salon, wo gespeist werden
sollte, ließ eine Tafel zu dreißig bis vierzig Kuverts decken, und
wie den Rekruten ein fingierter Feind mit allen möglichen Bewegungen
gegeben wird, so zeigte er ihnen auch Präsidenten, Justizräte,
Kollegiendirektoren, Regierungsräte und Assessoren mit Weib und
Tochter, Kind und Kegel, und mahnte sie, bald diesem ein Stück
Braten, jener diese Sauciere zu servieren, bald einem dritten und
vierten einzuschenken und dem fünften eine andere Sorte vorzusetzen;
da sprangen und liefen die Kellner sich beinahe die Beine ab, aber
-- ~probatum est~ -- wenn der Tag des Festes herannahte, durfte er
auch gewiß sein, zu siegen. Wie jener große Sieger, der nur mit
feierlichem Ernst die Worte sprach: »Heute ist der Tag von Friedland!«
oder »Sehet die Sonne von Austerlitz!« so bedurfte es von seinem Mund
auch nur einiger erwähnender, tröstlicher Hindeutungen auf frühere
Bravouren und gelungene Affairen, und er konnte darauf rechnen, daß
keiner der zwanzig Kellnergeister über den andern stolperte oder ihm
die Aalpastete anstieß, oder daß sie mit Sauce und Salat einander
anrannten, purzelten und auf dem Boden die ganze Bescherung servierten.

Mit dieser Präzision war also auch heute die Tafel serviert worden,
der Nachtisch war aufgetragen, die schweren Sorten, als da sind:
Laubenheimer, Nierensteiner, Markobrunner, Hochheimer, Volnay, feiner
Nuits, Chambertin, beste Sorte von Bordeaux, Roussillon wurden
weggenommen, und der zungenbelebende Champagner aufgesetzt. Hatte schon
der aromatische Rheinwein die Zungen gelöst, und das schwärzliche
Rot des Burgunders den Liliensamt der jungfräulichen Wangen und die
Nasen der Herren gerötet, so war es jetzt, als die Pfröpfe flogen, und
die Damen nicht wußten, wohin sie ihre Köpfe wenden sollten, um den
schrecklichen Explosionen zu entgehen, als die Lilienkelche, bis an den
Rand mit milchweißem Gischt gefüllt, kredenzt wurden, wie auf einem
Bazar im asiatischen Rußland, wo alle Nationen untereinander plappern
und maulen, gurren und schnurren, zwitschern und näseln, plärren und
jodeln, brummen und rasaunen, so schwirrte in betäubendem Gemurmel,
Gesurre und Brausen in den höchsten Fisteltönen bis herab zum tiefsten,
dreimalgestrichenen C der menschlichen Brust das Gespräch um die Tafel.


Das Urteil der Welt.

Aber der größte Teil der Konversation, wenigstens am untern Ende
des Tisches, galt Präsidents Ida. Dort gingen die zahnlosen
Mäulchen der Tanten und Mütter wie oberschlächtige Mühlen, und die
Posaunenseraphsgesichter der Töchter nickten ihren Konsens aus den
kleinen Kalmuckenäugelein. Wie hatte doch das Mädchen vor Gott
gesündigt und gefrevelt dadurch, daß es so wunderhübsch geworden war!
Wäre sie zurückgekommen wie eine wilde Hummel, oder wie so manche,
die man als Gagack in die Residenz schickt, um sie »Bildung und
Blumenmachen lernen zu lassen, und die als Gagack wiederkehrt«, da
hätte es geheißen: »An der ist Hopfen und Malz verloren, mich dauern
nur die Eltern.« Jetzt, wo sie mit ihrem Tannenwuchs, mit ihrer
unnachahmlichen Grazie bescheiden und doch voll so erhabener Würde
hereintrat, das strahlende Diadem in den geschmackvoll geordneten
Ringellocken und Löckchen, im feuersprühenden Auge Geist und Liebe,
verschmolzen mit schuldloser, anspruchsloser Natürlichkeit, die
Wangen von Gesundheit gerötet, in den feinen Grübchen den kleinen,
kleinen Schelm, den Mund so würzig, so kußlich, die aphroditische
Schwanenbrust mit dem fürstlichen Schmuck, mit dem Pariser Hofkleid
umschlossen -- Nein! das Mädchen _durfte_ nicht schön, _durfte_ nicht
unschuldig und tugendhaft sein. -- »Ha, ha, ha, Frau Oberhofmeisterin!«
lachte die Kammerdirektorin, ohne darauf zu achten, daß sie die acht
unschuldigen Ohren ihrer erwachsenen Töchterlein beleidigen könnte --
»Tugendhaft? Wir kennen die Residenztugend noch aus unserer Zeit! Da
müßten sich die Steine umgekehrt haben, die Garde-Ulanen-Rittmeister
müßten ihre eng schließende Uniform ausgezogen und die Herren
Archidiakonen und Superintendenten um ihr ehrbares Kostüm ersucht
haben, müßten in schwarzen Mäntlein, weißen Beffchen, kurzen Höschen
und seidenen Wädchen, die Bibel unter dem Arm, einhergehen, wenn man
bei siebzehnjährigen Mädchen Tugend finden sollte in Sodom!«

»Wahrhaftig, Sie haben recht,« schnatterte es über die Tafel herüber;
»und die gerühmte Schönheit? Ist alles Lug und Trug, das kann man alles
dort ums liebe Geld haben; meinen Sie denn, diese Locken dort, diese
Zöpfe seien echt? Bewahre; man hat ja gesehen, was für Haar Mamsell
Sausewind in die Residenz nahm; wo sind die gelben Zähne hingekommen?
Meinen Sie etwa, ein so herrlicher Mund voll, wie jene hat, schiebe
sich im sechzehnten, siebzehnten Jahre noch nach? Lauter Seehund,
nichts als Seehund.«

»Ja, Frau Gevatterin,« unterbrach eine dritte, »und die handbreiten
Brüsseler Kanten, der Amethystschmuck, mit welchem man meinen Torweg
pflastern könnte -- von der Fürstin Romanow soll er sein! Ha, ha, ha,
man hat auch seine Nachrichten; die Fürstin, Gott halte sie in Ehren,
ist eine splendide Frau, auch reich, steinreich, gebe alles zu -- aber
so einem naseweisen Kind, das kaum hinter den Ohren trocken ist, dieses
Diadem, diese Ohrringe, dieses Kollier, dieses Kreuz zu schenken --
nein, dazu ist die Frau Fürstin Hoheit doch zu vernünftig. Haben Sie
aber nie von ihrem Neffen, dem Prinzen Ferdinand, gehört? Soll ein
splendider, artiger Herr sein, der Prinz, und wenn man nur gegen ihn
gefällig ist, ist er es wohl auch wieder, ha, ha, ha --«

Und der ganze Zirkel lachte und stieß an auf den gefälligen splendiden
Prinzen.

Nein, wahrhaftig, es war nicht zum Aushalten; ein schönes, engelreines
Geschöpf, voll Milde, Sanftmut und Mitleiden, so schonungslos
zu verdammen! Emil hatte in einer Fenstervertiefung, wo er sich
hingestellt hatte, um die Tafel zu übersehen, alles mit angehört; er
hätte mögen der Frau Gevatter den einzigen Zahn, den sie noch hatte,
mit welchem sie aber nichtsdestoweniger den Ruf einer jungen Dame
tapfer benagte, ein wenig einschlagen; er rückte, nur um die giftigen
Bemerkungen nicht zu hören, um ein Fenster weiter hinauf. Aber hier
kam er vom Regen in die Traufe. Frau von Schulderoff setzte dort
ihrem Sohn, dem Dragonerleutnant, weitläufig auseinander, daß er, um
den gesunkenen Glanz ihres Hauses wieder auf den Strumpf zu bringen,
notwendig eine gute, sehr gute Partie machen müsse, und dazu sei die
Ida ganz wie gemacht.

Dem jungen Schulderoff, der neben dem gesunkenen Glanz seines Hauses
bei Juden und Christen einige tausend Tälerchen mehr stehen hatte,
als sein Gage-Abzug auf siebzig Jahre wahrscheinlicherweise aufwiegen
konnte, schien mit dem Vorschlag ganz zufrieden; nur das _Wie_ wollte
ihm nicht recht einleuchten.

Aber die gnädige Mama wußte Rat. »Erstens: recht oft mit ihr getanzt,
namentlich im Kotillon recht oft geholt. Das heißt Attention beweisen,
das Mädchen wird dann mit dir aufgezogen, sie wird aufmerksam auf
dich. Zweitens: morgens zehn Uhr im kurzen Galopp am Haus vorbei; dort
verlierst du, im Staunen über sie, die Reitpeitsche; du voltigierst
ja so gut, hältst also nicht an, sondern herab vom Gaul, Peitsche
ergriffen, wieder hinauf, einen Feuerblick dem Fräulein zugeworfen, und
davon im gestreckten Galopp. Wenn nun ihr Herzchen aus Angst für dich
einmal schneller pulsiert, dann hast du sie schon im Sack. Drittens:
in einer schönen Nacht mit der ganzen Regimentsmusik vors Haus; einige
mutige Stücke, einige zärtliche Arien aufgespielt, und sie kommt hinter
die Jalousien, darauf wette ich meinen ganzen Schmuck, der jetzt
zufällig bei Levi ist. Einige Kameraden tun dir schon den Gefallen
und gehen mit; sie rufen: ›Schulderoff! Schulderoff! Wo steckst du
denn? Ach siehe, der arme Junge weint.‹ -- ›Ach, laßt mich, tapfere
Kameraden,‹ antwortest du, ›mir ist so weh und so wohl in ihrer Nähe.‹
So kommt es in allen Ritterbüchern, wo der Adel noch allein liebte, und
die dummen Bürgerlichen noch kein Geld hatten.«

»Auf Ehre, Mama, Sie haben recht,« antwortete der Leutnant und wichste
sich den Schnurrbart; »sehen Sie, dann kann ich auch so angr--«

Emil wurde, er wußte nicht warum, ganz bange ums Herz, als er den
Eroberungsplan des Wildfangs hörte, er rückte um einige Fenster weiter
hinauf und war dort dem Gegenstand nahe, den die Schmähsucht der Weiber
zu zerreißen, der Eroberungsgeist Schulderoffs zu gewinnen suchte.

Obenan saß der Präsident, die feierliche Geschäftsmiene war zu Hause
geblieben; er hatte den freundlichen, gefälligen Gesellschaftsmenschen
angezogen und tafelte zum großen Trost der jüngern Glieder seines
Kollegiums wie ein Junger.

Das behagliche runde Gesicht durchblitzte oft schnell, wie ein Gedanke,
ein satirisches Lächeln, wenn er und der Hofrat Ida zum süßen,
brüsselnden Schaumwein nötigten.

Es war nicht möglich, etwas Liebreizenderes zu sehen als das Mädchen,
eine ewig junge Hebe zwischen den alten, fröhlichen Herren. Es war
jetzt ganz das wählige, mutwillige Kind wie vor drei Jahren, wenn
es dem Papa oder dem alten Hagestolz Berner auf dem Schoße saß;
Madeirasekt und Xeres hatten ihr, weil Berner keinen der schweren
Weine über die Purpur-Barrieren ihrer Lippen gelassen hatte, alles
Blut in die Wangen getrieben; es zischte und gischte in ihren Adern
so warm und so wohltuend, daß das Auge von Lust und Liebe strahlte,
und die rosige Tiefe des Schelmengrübchens alle Augenblicke sich
zeigte. Der Champagner, den sie auf den Drymadeira setzte, war auch
nicht aus seinen Kreidebergen geholt worden, um ein fröhlichglühendes
Engelsköpfchen abzukühlen und einen in ewig wechselnder Wonne Flut und
Ebbe wogenden Busen zur Ruhe zu bringen. Wußte sie doch selbst nicht,
was sie so fröhlich machte! Die Rückkehr ins Vaterhaus allein war es
nicht, auch nicht, daß die Blicke der jungen Freilinger Stadtkinder
alle auf sie flogen, es war noch etwas anderes; war es nicht ein
bleiches, wunderschönes Gesicht, das sich immer wieder ihrer Phantasie
aufdrängte, das sie wehmütig durch Tränen anlächelte? Warum mußte er
aber auch gehen, gerade als man zur Tafel ging, wo sie ihn hätte sehen
und sprechen können. --

»Ei, Kind!« sagte der Präsident und weckte sie aus ihren Träumen. »Da
sitzest du schon eine geschlagene Glockenviertelstunde, starrst auf
den Teller hin, als lesest du in der Johannisbeer-Marmelade so gut als
im Kaffeesatz deine Zukunft, und lächelst dabei, als machten dir alle
ledigen Herren, unsern Hofrat mit eingeschlossen, ihr Kompliment!«

Die Glutröte stieg ihr ins Gesicht; sie nahm sich zusammen und mußte
doch wieder heimlich lächeln über den guten Papa, der doch auch
kein Spürchen von ihren Gedanken haben konnte. Aber als vollends
der Hofrat ihr von der andern Seite zuflüsterte: »Der alte Herr hat
fehlgeschossen, wir alle könnten uns den Rücken lahm komplimentieren
und die Kniee wund liegen, mein stolzes Trotzköpfchen gönnte keinem
einen halben Blick oder ein Viertelchen von dem Engelslächeln, das hier
in den Teller ging. Aber da darf nur ein so interessanter Fremder in
einem Landau weinen, so ein Signor Bleichwangioso --«

»Ach, wie garstig, Berner! an den habe ich gar nicht mehr gedacht!«
rief sie, ärgerlich, daß der Kluge ins Schwarze geschossen haben
sollte. Jener aber wischte seine Brille ab, schaute auf Idas silbernen
Teller und deutete lachend auf den Rand --

»Gar nicht mehr an ihn gedacht? Welcher Graveur hat denn da gekritzelt?
Fräulein Lügenhausen? He!«

Nun, da hatte sich das Mädchen wieder vergaloppiert, hatte, ohne daß
sie es im geringsten wußte, unter ihrer Gedankenreihe das Dessertmesser
in die Hand bekommen, auf dem Teller herumgekritzelt, und da stand mit
hübschen, deutlichen Buchstaben: Emil v. Mart. --

»Nein! wie einem doch der Zufall bei bösen Leuten Streiche spielen
kann!« replizierte sie mit der unverschämtesten Unbefangenheit,
kratzte, indem sie sich selbst über ihre furchtbare Kunst, zu
verdrehen, wunderte, in aller Geschwindigkeit ein Schnörkelchen hin,
wies dem kurzsichtigen Hofrat den Teller und sagte: »Sehen Sie? Da war
irgend einmal eine reisende Prinzessin hier, welcher man auf Silber
servierte, und um den merkwürdigen Tag ihrer Anwesenheit zu verewigen,
schrieb sie die paar Worte hieher: Emilie v. Mart., heißt offenbar:
Emilie, am fünften März.«

»Gott im Himmel, was hättest du für einen Rechtskonsulenten und
Rabulisten gegeben!« antwortete Berner und setzte vor Schrecken den
frischeingeschenkten Kelch, den er schon halbwegs gehabt, wieder
nieder. »Habe ich nicht gesehen, wie du das Ding da kritzeltest,
und jetzt täte es not, ich deprezierte den falschen Verdacht?« Doch
Engelsköpfchen Ida sah ihm so bittend ins Auge, daß er unwillkürlich
wieder gut wurde; in den süßesten Schmeicheltönen bat sie ihm die Unart
ab, versprach, sich nie mehr aufs Leugnen zu legen, wenn er gelobe,
dem Papa nichts zu sagen, der sie wenigstens acht Tage lang mit ihrer
Silberschrift necken würde. Er gelobte, mahnte aber, jetzt sich zum
Kotillon zu rüsten. »Nur noch ein Viertelstündchen!« bat Ida, weil sie
dem widerwärtigen Kreissekretär habe zusagen müssen. Aber das Sträuben
half nichts; die Hörner erklangen im Tanzsaal, und die Tafel rüstete
sich, aufzubrechen. Da stand der Präsident auf. »Noch einen Kelch,
meine Damen!« rief er über die Tafel hin, »noch einen echten Toast aus
den guten alten Zeiten: die Gläser hoch -- der Liebe und der Freude!«
Die Trompeten schmetterten ihren Freudenruf unter den Jubel, aber
mitten durch das Geschmetter, durch das donnerschlagähnliche Wirbeln
der Pauken, mitten in dem schrankenlosen Hallo der bechampagnerten
Gäste war es Ida, als hörte sie hinter sich tief seufzen; und als sie,
von einer plötzlichen Ahnung ergriffen, sich schnell umsah, begegnete
sie Emils Auge, der wehmütig, tränenschwer in das Gewühl der Freude
schaute. Alles Blut jagte die Ueberraschung dem Mädchen aus den Wangen,
es hatte keinen Atem mehr, und doch konnte es um keinen Preis ihr
Auge wieder von ihm abwenden. Doch ehe sie noch ihrer Verlegenheit
Meister werden konnte, gerade als sie der schöne junge Mann anreden
zu wollen schien, riß ihn das Gedränge der Aufstehenden aus ihrer
Nähe, der Kreissekretär kam mit seinem widrigen, sauersüßen Gesicht,
schätzte sich glücklich, den Kotillon errungen zu haben, und führte
seine Tänzerin im Triumph durch die dichten Reihen seiner Neider. Sie
aber folgte ihm, noch immer über diese Erscheinung, über die Gewalt
dieser dunkeln Flammensterne sinnend. »Wahrhaftig!« sagte sie zu sich.
»Der Hofrat hat doch recht, es muß Menschen geben, die Häkchen im Auge
haben, von welchen man sich gar nicht losreißen kann, und dieser muß
einen von den großen Angelhaken haben.«


Der Kotillon.

In rauschenden Tönen klangen die Hörner und Trompeten durch den Saal,
in verschlungenen Gruppen, bald suchend, bald fliehend, hüpften die
Paare den fröhlichen Reigen, und Idas liebliche Gestalt tauchte auf
und nieder in der Menge der Tanzenden wie eine Nixe, die neckend bald
dem Auge sich zeigt, bald in den Fluten verschwindet. Oft wenn der
Augenblick es gestattete, wagte sie einen Viertelseitenblick über
den Saal hinüber nach ihm, zu welchem ein unerklärliches Etwas sie
noch immer hinzog, und wenn die Flöten leiser flüsterten, wenn die
weichen, gehaltenen Töne der Hörner süßes Sehnen erweckten, da glaubte
sie zu fühlen, daß diese Töne auch in seiner Brust widerklingen
müssen. In glänzender Kette schwebten jetzt die Mädchen in der
Runde, bis die Reihe sich löste, und sie den Saal durchschwärmten,
um selbst sich Tänzer zu suchen. Emil stand wieder an seine Säule
gelehnt. Kaum den Boden berührend, schwebte eine zarte Gestalt, auf
dem Amorettengesichtchen ein holdes verschämtes Lächeln, auf ihn zu
-- es war Ida. Lächelnd neigte sie sich, zum Tanz ihn einzuladen; er
schien freudig überrascht, eine flüchtige Röte ging über sein bleiches
Gesicht, als er das holde Engelskind umschlang und mit ihr durch den
Saal flog.

Aber ängstlich war es Ida in seinen Armen; kalt war die Hand, die in
der ihrigen ruhte; schaurige Kälte fühlte sie aus des Fremden Arm, der
ihre Hüfte umschlang, in sich eindringen, scheu suchte ihr Auge den
Boden, denn sie fürchtete, seinem Flammenblicke zu begegnen, jetzt erst
fiel ihr auch ein, daß es sich doch nicht so recht schicke, den ganz
fremden Menschen, der ihr von niemand noch vorgestellt war, zuerst zum
Tanze aufgefordert zu haben.

Aber ein freudiges Flüstern des Beifalls begleitete sie durch die
Reihen; bedeutender schien des Fremden edles Gesicht, von der Bewegung
des Tanzes leicht gerötet, bedeutender erschien seine edle Gestalt,
sein hoher, königlicher Anstand; und dem schönen Mann gegenüber
erschien auch Ida in noch vollerem Glanze der Schönheit. Mit dankendem
Blick schied er, als er sie an den Platz zurückführte; wieviel stiller
Gram, wieviel Wehmut lag in diesem langen Blick; ja, wenn sie sich den
Ausdruck seines Auges noch einmal zurückrief, wieviel Dank lag darin,
wieviel Lie--

Sie drückte geschwind die Augen zu, um nur den Gedanken zu entgehen,
die sie unablässig verfolgten, sie tanzte rascher und eifriger, nur um
sich durch den raschen Wirbel zu zerstreuen; aber da wisperte von der
einen Seite der Xeres, von der andern kicherte der Champagner ihr ins
Ohr: er liebt dich, du bist es ja, nach welcher er immer sieht, wegen
dir ist er noch einmal auf den Ball gekommen. Der Kotillon hatte jetzt
seine glänzendste Höhe erreicht; eine Tour, die in Freilingen noch
nie getanzt worden, sollte eingeschoben werden. Die Dame, welche die
Reihe traf, setzte sich, von ihrem Tänzer geführt, auf einen in die
Mitte des Kreises gestellten Sessel; mit einem seidenen Tuch wurden
ihr die Augen verbunden und dann Tänzer jeglicher Gattung zur blinden
Wahl vorgeführt. Die Ausgeschlagenen stellten sich als Gefangene und
besiegt hinter den Stuhl, der Erwählte flog mit der von der Binde
erlösten Tänzerin durch den Saal. Die Tour an sich war gerade nicht
so kühn erfunden, um durch sich selbst sehr bedeutungsvoll zu werden;
sie ward es aber dadurch, daß der Vortänzer, ein gerade von Reisen
zurückgekommener Herr aus Freilingen, behauptete, in Wien werde diese
Tour für sehr verhängnisvoll gehalten, denn es gelte dort bei dieser
blinden Wahl das Sprichwort, der Zug des Herzens sei des Schicksals
Stimme, und mehr denn hundertmal habe er den Spruch bei dieser Tour
eintreffen sehen. Die Freilinger Schönen machten zwar Spaß daraus und
behaupteten, die Wiener Damen werden unter dem Tuch hervorgesehen
haben, doch mochten sie abergläubisch genug sein und wünschen, des
Schicksals Stimme möchte dem Zug ihres Herzens nachgeben und ihnen den
schönen Major oder den Jagdjunker mit dem Stutzbärtchen oder einen
dergleichen vor die blinden Augen führen.

Auch an Ida kam jetzt die Reihe, sich niederzusetzen, der sauersüße
Kreissekretär führte sie zum Stuhl, fragte mit schalkhaft sein
sollendem Lächeln, das aber sein Gesicht zur scheußlichen Fratze
verzog, ob er den Herrn Hofrat Berner bringen solle, band ihr das
Tuch vor die Augen, und in wenigen Augenblicken standen schon drei
arme Unglückliche, von der spröden, blinden Mamsell Amor-Justitia
verschmäht, hinter dem Stuhl. Es war ihr wohl auch der Gedanke an
Martiniz durch das Köpfchen gezogen; aber sie hatte sich selbst recht
tüchtig ausgescholten und vorgenommen, ihr Herzchen möge sie ziehen,
wie es wolle, das Schicksal möge noch so gebietend rufen, sie lasse
drei ablaufen, und den vierten wollte sie endlich nehmen.

»Numero vier! gnädiges Fräulein!« meckerte der Kreissekretär. Sie ließ
die Binde lösen, sie schlug die Augen auf und sank in Emils Arme, der
sie im schmetternden Wirbel der Trompeten, im Jubelruf der Hörner
im Saal umherschwenkte; die Sinne wollten ihr vergehen, sie hatte
keinen deutlichen Gedanken, als das immer wiederkehrende: »Der Zug des
Herzens ist des Schicksals Stimme.« Ach! so hätte sie durch das Leben
tanzen mögen; ihr war so wohl, so leicht; wie auf den Flügeln der
Frühlingslüfte schwebte sie in seinen Armen hin, sie zitterte am ganzen
Körper; ihr Busen flog in fieberhaften Pulsen, sie mußte ihn ansehen,
es mochte kosten, was es wollte, sie hob das schmachtende Gesichtchen,
ein süßer Blick der beiden Liebessterne traf den Mann, der ihr in
wenigen Stunden so wert geworden war; das edle Gesicht lag offen vor
ihr, wenige Zoll breit Auge von Auge, Mund von Mund, ach, wie unendlich
hübsch kam er ihr vor, wie fein alle seine Züge, wie schmelzend sein
Auge, sein Lächeln, sie hätte mögen die paar Zöllchen breite Kluft
durchfliegen, ihn zu lieben, zu kü--

Klatsch, klatsch, mahnten die ungeduldigen Herren, indem sie die
glacierten Handschuhe zusammenschlugen, daß die zarten Nähte sprangen;
will denn dies Paar ewig tanzen? Ach, ihr Kurzsichtigen, wenn ihr
wüßtet, wieviel namenlose Seligkeit in einer solchen kurzen Minute
liegt, wie die Pforten des Lebens sich öffnen, wie die Seele hinter
die durchsichtige Haut des Auges heraufsteigt, um hinüberzufliegen zu
der Schwesterseele -- wahrlich, ihr würdet diesen Moment des süßesten
Verständnisses nicht durch euer Klatschen verscheuchen.

Der Ball war zu Ende; der Hofrat nahte, Ida den Schal anzulegen und
das wärmende Mäntelchen umzuwerfen, er nahm dann ihren Arm, um sie
zur Abkühlung noch ein wenig durch den Saal zu führen. »Sie haben mit
ihm getanzt, Töchterchen?« -- »Ja,« antwortete sie, »und wie _der_
tanzt, können Sie sich gar nicht denken; so angenehm, so leicht, so
schwebend!« -- »Idchen, Idchen!« warnte der Hofrat lächelnd. »Was
werden unsere jungen Herren dazu sagen, wenn Sie sie über einen
Landfremden so ganz und gar vergessen?« -- »Nun, die können sich
wenigstens über das Vergessen nicht beklagen, denn ich habe nie an
sie gedacht! Aber sagen Sie selbst, Hofrat, ist er nicht ganz, was
man interessant nennt?« -- »Ihnen wenigstens scheint er es zu sein,«
antwortete der neckische Alte. »Nein, spaßen Sie jetzt nicht, ist nicht
etwas wunderbar Anziehendes an dem Menschen? Etwas, das man nicht recht
erklären kann?« Der Hofrat schwieg nachdenklich. »Wahrhaftig, Sie
können recht haben, Mädchen,« sagte er, »habe ich doch den ganzen Abend
darüber nachgesonnen, warum ich diesen Menschen gar nicht aus dem Sinne
bringen kann.«

»Aber noch etwas,« fiel Ida ein, »wissen Sie nicht, wo er so plötzlich
mit dem alten Diener hinging?« -- »Das ist es eben!« sagte jener. »Eine
ganz eigene Geschichte mit dem Grafen da; kommt auf den Ball, tanzt
nicht, geht fort, bleibt über eine Stunde aus, kommt wieder; und wo
blieb er? Wo meinen Sie wohl? Er war im Münster!!«

»Jetzt eben, in dieser Nacht?« fragte Ida erschrocken und an allen
Gliedern zitternd. »Heute nacht, auf Ehre! Ich weiß es gewiß; aber
reinen Mund gehalten, Gold-Idchen, morgen komme ich dem Ding auf die
Spur.«

Der Wagen war vorgefahren; der Präsident kam in einer Weinlaune;
»Hofrätchen,« rief er, »wenn du nicht anderthalbmal ihr Vater sein
könntest, wollte ich dir Ida kuppeln!«

»Hätte ich das doch vor dem Ball gewußt,« jammerte der Hofrat, »aber
da gab es allerlei interessante Leute usw.« Errötend sprang Ida in den
Wagen, auf den losen Hofrat scheltend, und umsonst gab sich Papa auf
dem Heimweg Mühe, zu erfahren, was jener gemeint habe. Trotzköpfchen
hätte mögen laut lachen über die Bitten des alten Herrn; es biß die
scharfen Perlenzähne in die Purpurlippen, daß auch kein Wörtchen heraus
konnte.

Nicht mehr so fröhlich als in früheren Tagen und dennoch glücklicher
legte Ida das Lockenköpfchen auf die weichen Kissen. Es war ihr so
bange, so warm; mit einem Ruck war der seidene Plumeau am Fußende des
Bettes, und auch die dünne Seidenhülle, die jetzt noch übrig war,
mußte immer weiter hinabgeschoben werden, daß die wogende entfesselte
Schwanenbrust Luft bekam.

Aber wie, ein Geräusch von der Türe her? Die Türe geht auf, im matten
Schimmer des Nachtlichtes erkennt sie Martiniz' blendendes Gesicht;
sein dunkles, wehmütiges Auge fesselt sie so, daß sie kein Glied zu
rühren vermag, sie kann die Decke nicht weiter heraufziehen, sie kann
den Marmorbusen nicht vor seinem Feuerblick verhüllen: sie will zürnen
über den sonderbaren Besuch, aber die Stimme versagt ihr. Aufgelöst
in jungfräuliche Scham und Sehnsucht, drückt sie die Augen zu; er
naht, weiche Flötentöne erwachen und wogen um ihr Ohr, er kniet nieder
an ihrem bräutlichen Lager, »der Zug des Herzens ist des Schicksals
Stimme,« flüstert er in ihr Ohr; er beugt das gramvolle, wehmütige
Gesicht über sie hin, heiße Tränen stürzen aus seinem glühenden Auge
herab auf ihre glühenden Wangen, er wölbt den würzigen Mund -- er will
sie kü--

Sie erwachte, sie fühlte, daß ihre eigenen heftig strömenden Tränen sie
aus dem schönen Traume erweckt hatten.


Die Beichte.

Am andern Morgen sehr früh stand der Hofrat schon vor des Präsidenten
Haus und zog die Glocke. Er mußte ja sein holdes Idchen fragen, wie
es zum erstenmal wieder in Freilingen geschlafen habe. Nebenbei hatte
er so viel zu fragen, so viel mitzuteilen, daß er nicht wußte, wo ihm
der Kopf stand. Nur so viel war ihm klar, als er den hellpolierten
Handgriff der Glocke in der Hand hielt, daß er um keinen Preis von dem
interessanten Herrn von gestern zuerst sprechen werde; _sie_ soll mir
daran, sagte er, sie soll mir beichten; er tat sich auf seinen Witz
nicht wenig zugut und lächelte noch still vor sich hin, als er die
breite Treppe hinanstieg.

Der Präsident sei schon in die Session gefahren, gaben ihm die
Bedienten auf seine Anfrage zur Antwort, aber gnädiges Fräulein nehme
ihn vielleicht an, obwohl ihre Toilette noch nicht fertig sei.

Man meldete ihn, er wurde sogleich vorgelassen. In ihrem kleinen,
aufs geschmackvollste dekorierten Boudoir saß Ida auf einer Estrade
am Fenster, das Lockenköpfchen in die Hand gestützt. War es doch, als
sei das Mädchen in dieser Nacht noch tausendmal schöner geworden! Der
Hofrat bekam ordentlich Ehrfurcht vor ihrer Schönheit; es lag so viel
Schmachtendes in ihrem Auge, so viel ernste Sanftmut auf dem lieben
Gesichtchen, das ihn begrüßte, daß er gar nicht wußte, woher dies alles
das Wunderkind gestohlen hatte.

Er sagte ihr auch, wie schön er sie finde, sie aber lachte ihm geradezu
ins Gesicht; sie finde, daß sie weit bleicher aussehe als sonst, der
Ball könne einesteils daran schuld sein, sagte sie; dazu komme, daß sie
heute nacht so dumm geträumt habe und alle Augenblicke aufgewacht sei.
Sie wollte bei dieser Behauptung recht ernst aussehen, aber das kleine
Schelmchen flog ihr doch beinahe unmerklich um den Mund, als wüßte es,
was dem hübschen Engelskind geträumt habe.

Der Hofrat sprach vom gestrigen Ball, von Herren und Damen, von allen
möglichen Schönen, aber er hätte sich lieber die Zunge abgebissen, ehe
er von Martiniz zuerst angefangen hätte, obgleich er wohl sah, daß Ida
darauf warte.

Er sah sich daher, als alle Tänze und Touren bekrittelt waren und
das Gespräch zu stocken drohte, im Zimmer um. »Nein,« sagte er, »wie
wunderschön Ihnen Papa das Boudoir da dekorieren ließ, die bronzierte
Lampe am gewölbten Plafond, die freundliche Tapete! Wie werden sich
Ihre Besucher erfreuen, wenn man sich nicht mehr um den Rang auf dem
Sofa streiten darf, denn jenes von hellbraunem Kasimir, das sich an
drei Wänden hinzieht, den eleganten Teetisch von Zedernholz in der
Mitte, kann ja eine ganze Legion von Dämchen in sich aufnehmen. Der
französische Kamin mit dem deckenhohen Spiegel scheint aber nicht sehr
warm geben zu wollen, doch Hoffart muß schon auch ein wenig Schmerz
leiden. Die geschmackvolle Etagere dort haben Sie gewiß selbst erst aus
der Residenz geschickt, denn hier wüßte ich niemand, der solche Arbeit
lieferte.«

Das ging ja dem alten Herrn aus dem Munde wie Wasser; schade nur,
daß er den tauben Wänden predigte, denn Ida schaute stillverklärt
durch die Scheiben und hatte weder Augen noch Ohren für ihren alten
Freund, dieser sah sich um, sah das Hinstarren des Mädchens, folgte
ihrem Auge und -- drüben in der ersten Etage des ehrsamen Gasthofes
zum goldenen _Mond_ hatten sich die rot und weißen Gardinen aufgetan,
und im geöffneten Fenster stand -- nein, er machte es gerade zu, als
der Hofrat hinsah, und ließ die Gardine wieder herab; das selige Kind
drehte jetzt das Köpfchen, und ihr Blick begegnete dem lauernden Auge
des Hofrats. Die Flammenröte schlug ihr ins Gesicht, als sie sich so
verraten sah, aber dennoch sagte Trotzköpfchen kein Wort, sondern
arbeitete eifrig an einer Zentifolie; nun, dachte der Alte, wenn du es
durchaus nicht anders haben willst, auf den Zahn muß ich dir einmal
fühlen, also sei's.

»Sie haben brave Nachbarschaft, Ida,« sagte er, »da können Sie Ihre
astronomischen Betrachtungen nach den Glutsternen des Herrn von
Martiniz recht kommod anstellen: ich habe zu Haus einen guten Dollond,
er steht zu Diensten, wenn Sie etwa --«

»Wie Sie nur so bös sein können, Berner!« klagte das verschämte
Mädchen. »Wahrhaftig, ich habe bis auf diesen Augenblick gar nicht
gewußt, daß er nur im Mond logiert: und daß ich gestern diesen Mann
schon wegen seines Aeußeren gehaltvoller gefunden habe als unsere
jungen Herren hier, um die ich nun einmal kein Flöckchen Seide gebe,
ist das denn ein so schweres Verbrechen, daß man es noch am andern
Tag büßen muß? Ist es denn so arg, wenn man Mitleiden hat mit einem
Menschen, der so unglücklich scheint?«

»Nun, da bringen Sie mich just auf den rechten Punkt,« sagte der
Hofrat, »daß der junge Herr im Mond drüben gestern nacht in der
Münsterkirche war, habe ich Ihnen gesagt; aber was er dort tat? Das
wissen Sie nicht, und was bekomme ich, wenn ich es sage?«

»Nun, was wird er viel dort getan haben?« antwortete Ida, vergeblich
bemüht, ihre Neugierde zu bekämpfen. »Er hat sich wahrscheinlich die
Kirche zeigen lassen, wie die Fremden auf der Durchreise immer tun.«

»Durchreise? Als ob ich nicht wüßte, daß Herr von Martiniz die drei
Zimmer Ihnen gegenüber auf vier Wochen gemietet hat --«

»Auf _vier_ Wochen?« rief Ida freudig aus, erschrak aber im nämlichen
Augenblick über die laute Aeußerung ihrer Freude. »_Vier_ Wochen?«
setzte sie gefaßter hinzu. »Wie freut mich das für die gute Mondwirtin!
Sie muß immer Schelte hören von ihrem Mann, daß ihre Table d'hote nicht
so gut sei wie im Hotel de Saxe; und kein Mensch bleibe recht lange, da
hat sie nun doch einen Beweis für sich.«

»Die arme Mondwirtin,« spottete der Hofrat, »die gute Seele! Muß sie
jetzt auch noch zur Entschuldigung dienen, wenn man seine Freude nicht
recht verbergen kann! Und, um aufs Vorige zurückzukommen, Sie glauben
also, der _Mann im Monde_ da drüben habe sich als durchreisender
Fremder unsern Münster zeigen lassen und dazu die glückliche Stunde
nachts von zwölf bis ein Uhr gewählt, habe den Küster mit seiner
Laterne alles beleuchten lassen, nur um die Finsternis desto deutlicher
zu sehen?«

Der kleine Schalk lachte verstohlen auf seine Arbeit hin und ließ den
Hofrat immer fortfahren --

»Heute in aller Früh war ich beim Küster, dem ich vor Zeiten einmal
einen Prozeß geführt und ein Kind aus der Taufe gehoben hatte; gewiß,
ohne diese Empfehlung wäre ich bei dem Alten nicht durchgedrungen.
›Gevatter!‹ sagte ich zu ihm, ›Er kann mir wohl sagen, was der Fremde,
der Ihn gestern nacht noch besuchte, im Münster getan hat.‹ Der Mann
wollte von Anfang von gar nichts wissen; ich rief aber meinen alten
Balthasar, Sie kennen ihn ja, wie geschickt er ist, alles aufzuspüren,
diesen rief ich her und konfrontierte beide: der Balthasar hatte den
Bedienten des Fremden in des Küsters Haus gehen und beide bald darauf
mit dem Fremden im Münster verschwinden sehen. Er gab dies zu; bat
mich aber, nicht weiter in ihn zu dringen, weil es ein furchtbares
Geheimnis sei, das er nicht verraten dürfe. So neugierig ich war,
stellte ich mich doch ganz ruhig, bedauerte, daß er nichts sagen
dürfe, weil es ihm sonst eine Bouteille Alten (seine schwache Seite)
eingetragen hätte, da gab er weich und erzählte --«

»Nun, fahren Sie doch fort,« sagte Ida ungeduldig, »Sie wissen von
früher her, daß ich für mein Leben gerne Geschichten höre, namentlich
geheimnisvolle, die bei Nacht in einer Kirche spielen.«

»So, so? Man hört gerne Geschichten von interessanten geheimnisvollen
Leuten? Nun ja, hören Sie weiter. Der Küster, der für seine Mühe einen
harten Taler bekam, führte gestern nacht einen Herrn, der bleich wie
der Tod, aber so vornehm wie ein Prinz ausgesehen haben soll, in den
Münster. Dort habe sich der Fremde auf die Altarstufen gesetzt und
in voller Herzensangst gebetet. Dann sei ein Sturm gekommen, wie er
fast noch nie einen gehört; er habe an den Fenstern gerüttelt und
geschüttelt und die Scheiben in die Kirche hereingeschlagen, der Herr
aber habe wunderliche Reden geführt, als reite der Teufel draußen um
die Kirche und wolle ihn holen.

Der Küster glaubt auch daran, wie ans Evangelium, und weint wie ein
Kind um den bleichen jungen Mann, der schon so früh in die Hölle fahren
solle. Dabei verspricht er aber ganz getrost, wenn der Herr alle
Nacht bei ihm einkehre und sich in den Schutz seines Münsters begebe,
solle ihm vom Bösen kein Haar gekrümmt werden. Sehen Sie, das ist die
Geschichte, da werde jetzt einer klug daraus; was halten Sie davon?«

In ängstlicher Spannung hatte Ida zugehört; in hellem Wasser schwammen
ihr die großen blauen Augen, die volle schöne Schwanenbrust hob sich
unter der durchsichtigen Chemisette, als wolle sie einen Berg von sich
abwälzen, die Stimme versagte ihr, sie konnte nicht gleich antworten.

»O Gott!« rief sie. »Was ich geahnt, scheint wahr zu sein, der arme
Mensch ist gewiß wahnsinnig, denn an die törichte Konjektur des Küsters
werden Sie doch nicht glauben?«

»Nein, gewiß glaube ich an solche Torheiten nicht, aber auch, was Sie
sagen, scheint mir unwahrscheinlich; sein Auge ist nicht das eines
Irren, sein Betragen ist geordnet, artig, wenn auch verschlossen.«

»Aber haben Sie nicht bemerkt,« unterbrach ihn Ida, »nicht bemerkt, wie
unruhig er wurde, wie sein Auge rollte, als es elf Uhr schlug? Gewiß
hat es eine ganz eigene Bewandtnis mit dieser Stunde, und irgend eine
Gewissenslast treibt ihn wohl um diese Zeit, Schutz in dem Heiligtum zu
suchen, das jedem, der mühselig und beladen kommt, offen steht.«

»Ihr Frauen habt in solchen Sachen oft einen ganz eigenen Takt,«
antwortete der Hofrat, »und sehet oft weiter als wir, doch will ich
auch hier bald auf der Spur sein, denn mich peinigt alles, was ich nur
halb weiß, und mein Idchen weiß mir vielleicht auch Dank, wenn ich mit
dem Herrn Nachbar Bleichwangioso aufs reine komme; das greifen wir so
an: der Mondwirt ist mein spezieller Freund, weil ich gewöhnlich abends
mein Schöppchen bei ihm trinke und mir seit zehn Jahren das Essen von
ihm tragen lasse. Ich speise nun die nächsten paar Tage an seiner
Tafel, und er muß mein Kouvert neben das seines bleichen Gastes setzen
lassen; bekannt will ich bald mit ihm sein, und habe ich ihn nur einmal
auf einem freundlichen Fuß, so will ich den alten Diener aufs Korn
fassen. Natürlich holt man weit aus und fällt nicht mit der Türe ins
Haus; aber ich habe schon mehr solche Käuze ausgeholt, es ist nicht der
erste.«


Das Dejeuner.

»Das ist herrlich,« sagte Ida und streichelte ihm die Wangen wie
ehemals, wenn er ihr etwas geschenkt oder versprochen hatte. »Das
machen Sie vortrefflich, zum Dank bekommen Sie aber auch etwas
Extragutes, und gleich jetzt!« Sie stand auf und ging hinaus; dem
Hofrat pupperte das Herz vor Freude, als er das wunderherrliche Mädchen
dahingehen sah; die zarten Füßchen schienen kaum den türkischen
Fußteppich zu berühren, der einfache, blendendweiße Batistüberrock
verriet in seinem leichten Faltenwurf das Ebenmaß dieses herrlichen
Gliederbaues, diese frische jugendliche Kräftigkeit! Er versank in
Gedanken über das holde Geschöpf, das allen Lockungen der Residenz
Trotz geboten, sich das jungfräuliche Herz frei bewahrt von Liebe, und
jetzt, als sie in ihre kleine Vaterstadt zurückkommt, am ersten Abend
einen Mann findet, den sie -- nein! sie konnte es nicht leugnen, es war
ja offenbar, daß sie ihm mit der hohen Glut der ersten jungfräulichen
Liebe zugetan sei. Aber wie? Durfte er, der gereifte Mann, diese
Neigung, die doch wahrscheinlicherweise kein vernünftiges Ende nehmen
konnte, durfte er sie unterstützen? Konnte nicht der landfremde,
wie es schien sogar gemütskranke Mensch alle Augenblicke wieder in
seinem Landau sitzen und weiterfahren? Doch der Karren war jetzt schon
verfahren. --

Ida trat ein, das Gesichtchen war hochgerötet, sie trug einen silbernen
Teller mit zwei Bechern, ein Kammermädchen folgte mit allerlei
Backwerk. »Schokolade mit Kapwein abgerührt,« sagte Ida lächelnd, indem
sie ihm einen Becher präsentierte, »ich kenne den Geschmack meines
Hofrätchens gar wohl, darum habe ich dieses Frühstück gewählt, und
denken Sie, wie geschickt ich bei Madame la Truiaire geworden bin, ich
habe ihn ganz allein selbst gemacht, Gesicht und Arme glühen mir noch
davon; versuchen Sie doch, er ist ganz delikat ausgefallen.«

Sie lüftete, ohne sich vor dem alten Freund zu genieren, das leichte
Ueberröckchen; eine himmlische Aussicht öffnete sich, der weiße
Alabasterbusen schwamm auf und nieder, daß der Hofrat die alten
Augen in seine Schokolade heftete, als solle er sie mit den Augen
trinken. »Hierher sollte einer unserer jungen Herren kommen,« dachte
er, »Kapweinschokolade in den Adern, ein solches Himmelskind mit dem
offenen leichten Ueberröckchen vor sich -- ob er nicht rein von Sinnen
käme.« Beinahe ebenso großen Respekt als vor ihren entfesselten Reizen
bekam er aber vor der Kochkunst des Mädchens. Die Schokolade war so
fein, so würzig, das rechte Maß des Weines so gut beobachtet, daß er
bei jedem Schlückchen zögerte, zu schlucken.

Idchen aber schien ihre Schokolade ganz vergessen zu haben, denn ein
neues Schauspiel bot sich ihren Augen dar. Der wohlbekannte Diener des
Fremden führte ein Paar prachtvolle Pferde vor das Portal des goldenen
Mondes. Sie selbst war so viel Reiterin, daß sie wohl beurteilen
konnte, daß besonders das eine Pferd, ein majestätischer Stumpfschwanz,
Tigerschimmel, von unschätzbarem Wert sei. Auch Berner, der in allen
Sätteln gerecht war, stimmte bei und pries die einzelnen Schönheiten
des Schimmels, besonders auch das elegante geschmackvolle Reitzeug.

Ida wagte voll Erwartung kaum Atem zu holen; der Mondwirt, ein
stattlicher Vierziger, trat gravitätisch aus dem Torweg und
bekomplimentierte sich mit dem alten Diener um die Ehre, die Zügel des
Tigerschimmels zu halten. Als aber dieser sich dieses Geschäft nicht
nehmen ließ, hielt er den Steigbügel. Emil von Martiniz, in einem
eleganten Morgenüberrock, trat jetzt aus der Halle, gefolgt von dem
Oberkellner; er streichelte den schlanken Hals seines Schimmels und
warf über ihn weg oft seine Blicke zu dem Fenster gegenüber, wo Ida
neben dem Hofrat saß.

Indem tönte der Hufschlag eines in kurzem Galopp ansprengenden Pferdes
die Straße herauf, es kam näher, es war der junge Dragonerfreier,
Leutnant von Schulderoff. Er hatte die gute Uniform an und von einem
seiner Kameraden eine prachtvolle Tigerdecke entlehnt und langte jetzt
in vollem Wichs vor des Präsidenten Haus an.

Nach Vorschrift der gnädigen Mama ließ er jetzt mit einem Blick auf die
Holdselige seine Reitpeitsche fallen; im Nu war der geübte Voltigeur
herab von seinem Rappen; aber gerade, als er wieder aufspringen
wollte, scheute sein Roß an denen, die vor dem goldnen Mond standen,
machte einen Seitensprung und dann im Karriere davon, gerade auf einen
Kirchplatz zu, wo viele Kinder, die gerade aus der Schule kamen, ihre
unschuldigen Spiele trieben. Der Mondwirt, der bis jetzt noch immer
den Bügel gehalten, flog rechts, der alte Diener links, und ~ventre à
terre~ flog Martiniz mit Windeseile dem Rappen nach, überholte ihn noch
drei Schritte vor einem Haufen Kinder, die keinen Ausweg mehr hatten,
packte mit Riesenkraft den Ausreißer und brachte ihn zum Stehen. Alles
dies war das Werk eines Augenblicks. Der liebende Dragoner hinkte auf
seinen Freiersfüßen dem Rappen nach, murmelte einige Flüche, die wie
ein Dank lauten sollten, saß auf und jagte davon. Martiniz aber ritt,
ohne auf den tausendstimmigen Beifall, der ihm von der Menge, die
sich versammelt hatte, zugejubelt wurde, zu achten, zurück, grüßte
ehrerbietig an des Präsidenten Haus hinauf und zog, gefolgt von dem
alten Diener, auf seinem Morgenritt weiter.

Ida hatte in dem schrecklichen Moment das Fenster aufgerissen; sie
hatte die Gefahr der armen Kleinen, hatte mit steigender Angst den
gefährlichen Moment gesehen, wo Martiniz in gestreckter Karriere sein
Pferd herumriß, auf die Gefahr hin, zu überstürzen; sie hätte mögen
mit jener Menge laut aufjauchzen und konnte sich nicht enthalten, als
er vor ihrem Fenster vorbeikam, seinen Gruß so freundlich als möglich
zu erwidern. Dieser Moment war entscheidend; in der Angst, die sie
fühlte, ward sie sich bewußt, wie teuer ihr der Mann war, der dort
hinflog. Das gepreßte Herz, die stürmisch wogende Brust rang nach einem
Ausweg. Der Hofrat wollte seinen alten Sarkasmus wieder spielen lassen,
aber er drängte ihn zurück, als ihn das Mädchen so bittend ansah, als
sie seine Hand drückte, und die hellen, vollen Tränen aus den sanften
Augen herabfielen. »Ich bin ein rechtes Kind, nicht wahr, Hofrat? Aber
über solche Szenen kann ich nicht anders, muß ich unwillkürlich weinen.
Lachen Sie nur nicht über mich, es würde mir gerade jetzt recht wehe
tun.«

»Gott bewahre mich, daß ich lache,« entgegnete der Hofrat, »wenn eines
im höchsten Fieberparoxysmus ist, wie Sie, Goldkind, so lacht man
gewöhnlich nicht.« Er dankte ihr für ihre Schokolade, nahm Stock und
Hut und ließ das Mädchen mit ihrem siebzehnjährigen, von dem Keim der
ersten Liebe stürmisch bewegten Herzchen allein.


Der Brief.

Als Hofrat Berner nach Tisch wieder in des Präsidenten Haus kam, um
ihn, da er ihn heute früh verfehlt hatte, zu besuchen, traf er Ida
wieder so vergnügt und fröhlich wie immer. »Das ewige Aprilwetter!«
dachte er. »Auch bei ihr bleibt es nicht aus; wenn _wir_ morgens
weinen, so darf man gewiß sein, daß uns auch der Abend noch traurig
oder doch ernst findet; aber das weint und lacht, klagt und tollt
durcheinander wie Heu und Stroh.« Er setzte sich zum Präsidenten,
der gewöhnlich vor dem Kaffee noch ein halbes Stündchen tischelte;
gegenüber hatte er das liebe Aprilenkind und nötigte sie durch sein
beredtes Mienenspiel, wodurch er sie an heute früh erinnerte, alle
Augenblicke zum Lachen oder Rotwerden.

»Apropos! Sie kommen gerade recht, Berner,« sagte der Präsident,
»hätte ich doch beinahe das Beste vergessen. Sie können mir durch
Ihre Umgänglichkeit und Gewandtheit, durch die viele freie Zeit, die
Sie haben, einen sehr großen Gefallen tun. Ich bekam da heute vom
Ministerialsekretär ein Brieflein, worin mir unter den größten Elogen
der ganz sonderbare Auftrag wird, neben meinem Amt als Präsident
auch noch den gehorsamen Diener anderer Leute zu spielen. Da haben
Sie,« fuhr er fort, indem er einen Brief mit dem großen Dienstsiegel
hervorzog, »lesen Sie einmal vor, aber da die Elogenstelle bleibt weg,
ich kann das Ding für meinen Tod nicht leiden, wenn man einen so ins
Gesicht hinein lobt.«

Berner nahm den Brief, der, weil in solchen Fällen der Staatssekretär
von Pranken selbst schrieb, ein wenig schwer zu lesen war, und begann:
-- »Nächstdem wurde mir höheren Orts der Wink gegeben, daß, da ein
sicherer Graf von Martiniz den Kreis Euer Exzellenz bereisen werde,
ihm aller mögliche Vorschub und Hilfe zuteil werden soll. Besagter
Herr von Martiniz wurde unserem Hofe durch den --schen ~Ministre
plénipotentiaire~ aufs angelegentlichste empfohlen. Er hat im Sinne,
bei uns, aller Wahrscheinlichkeit nach in Ihrem Kreise, sich bedeutende
Güter zu kaufen, ist ein Mensch, der seine drei Millionen Taler hat und
vielleicht noch mehr bekommt, und muß daher womöglich im Lande gehalten
werden. Eure Exzellenz können, wenn solches gelingen sollte, auf großen
Dank höheren Orts rechnen, da, wie ich Ihnen als altem Freunde wohl
anvertrauen darf, im Fall er sich im Lande ansiedelte und sein Vermögen
hereinzöge, die Hand der Gräfin Aarstein Exzellenz demselben nicht
vorenthalten werden wird.«

Im Anfang dieses Briefes war Ida bei dem Namen Martiniz hoch errötet,
denn sie begegnete dem Auge des Hofrats, der über den Brief hinweg
zu ihr hinübersah; als die Stelle von den drei Millionen kam, wurde
die Freude schwächer; ein dreifacher Millionär war nicht für Idas
bescheidene Wünsche; als aber die Hand der Gräfin Aarstein nach ihrem
sanften, liebewarmen Herzen griff, da wich alles Blut von den Wangen
des zitternden Mädchens, sie senkte das Lockenköpfchen tief, und eine
Träne, die niemand sah als Gott und ihr alter Freund, stahl sich aus
den tiefsten Tiefen des gebrochenen Herzens in das verdunkelte Auge und
fiel auf den Teller herab.

Sie kannte diese Gräfin Aarstein aus der Residenz her. Sie war die
natürliche Tochter des Fürsten ...; von ihm mit ungeteilter Vorliebe
erzogen und mit einem ungeheuren Vermögen ausgestattet, lebte sie in
der Residenz wie eine Fürstin. Sie war einmal einige Jahre verheiratet
gewesen, aber ihre allzu vielseitige Menschenliebe hatte den Grafen
Aarstein genötigt, seine Person von ihr scheiden und ihr nur seinen
Namen zurückzulassen. Seitdem lebte sie in der Residenz; sie galt dort
in der großen Welt als Dame, die ihr Leben zu genießen wisse; wenn man
aber nur _eine_ Stufe niederer hinhorchte, so hörte man von der Gräfin,
daß sie dieses angenehme Leben auf Kosten ihres Rufes führe, zehn
Liebeshändel, zwanzig Prozesse auf einmal, Schulden so viel als Steine
in ihrem Schmuck habe und Kokette sei, die sich nicht entblöde, mit dem
Geringsten zu liebäugeln, wenn seine Formen ihr gefielen.

So war Gräfin Aarstein. Ein unabweislicher Widerwille hatte schon in
der Residenz die reine, jungfräuliche Ida von dieser üppigen Buhlerin
zurückgeschreckt; so oft sie zu ihren glänzenden Soirees geladen war,
wurde sie krank, um nur diese frivolen Augen, diese bis zur Nacktheit
zur Schau gestellten Reize nicht zu sehen, und diese Frau, deren
Geschäft ein ewiges Gurren und Lachen, Spotten und Persiflieren war,
sie sollte der ernste, unglückliche junge Mann mit dem rührenden Zuge
von Wehmut, dem gefühlvollen sprechenden Auge --

Berner hatte schweigend den Brief noch einmal überlesen und legte
ihn dann mit einem mitleidigen Blick auf Ida zurück. »Nun, was sagen
Sie zu dem sonderbaren Auftrag?« fragte der Präsident. »Wahr ist es,
der Martiniz ist nach dieser Beschreibung ein Goldfisch, den man
nicht hinauslassen darf, ja, ja -- man muß negoziieren, daß er in
unserem Kreise bleibt. Da könnte er zum Beispiel Woldringen kaufen; um
zweimalhunderttausend Tälerchen ist Schloß, Gut, Wiesen, Feld, Fluß,
See, Berg und Tal alles, was man nur will, sein; und dieser Preis ist
ein Pappenstiel. So, so? Die Aarstein also? Nicht übel gekartet von
den Herren. Sie soll enorme Schulden haben, die am Ende doch der Fürst
übernehmen müßte, die bekommt der Herr Graf in den Kauf. Du kennst die
Aarstein, Ida? Sahst du sie oft?«

»Nie!« antwortete Ida unter den Löckchen hervor und sah noch immer
nicht vom Teller auf.

»Nie?« fragte der Präsident gereizt. »Ich will nicht hoffen, daß die
gnädige Gräfin _meine_ Tochter nicht in ihren Zirkeln sehen wollte; hat
sie dich nie eingeladen, wurdest du ihr nicht vorgestellt?«

»O ja,« sagte Ida, »sie schickte wohl zwanzigmal, ich kam aber nie
dazu, hinzugehen.«

»Was? der T--! Ich hätte geglaubt, du wärest ein vernünftiges,
gesittetes Mädchen geworden; wie kannst du solche Sottisen begehen
und die Einladungen einer Dame, die mit dem fürstlichen Hause so nahe
liiert ist, refüsieren?«

»Man hat mich deswegen bei Hof nicht weniger freundlich aufgenommen,«
antwortete Ida und hob das von Unmut gerötete Gesichtchen empor; »man
hat sich vielleicht gedacht, daß es der Ehre eines unbescholtenen
Mädchens wohl anstehe, so fern als möglich von der Frau Gräfin zu
bleiben.«

»So sieht es dort aus?« fragte der Präsident kopfschüttelnd. »Nun, nun!
Heutzutage setzt man sich, wenn man ein wenig Welt hat, darüber weg.
Ich mag dir hierüber nichts sagen, ihr jungen Mädchen habt eure eigenen
Grundsätze; nur wäre es wegen den jetzigen Verhältnissen besser
gewesen, du hättest sie öfter gesehen; denn wenn sie sich hier in der
Gegend ankaufen, nach Freilingen kommen sie doch auch alle Jahre ein
paarmal, wir machen das erste Haus hier, du sollst in Zukunft die Dame
des Hauses vorstellen, wie kannst du nur die Gräfin Martiniz empfangen,
wenn du in der Residenz sie so ganz negligiertest?«

»Nun, Gräfin Martiniz ist sie ja noch nicht,« meinte der Hofrat und
lächelte dabei so geheimnisvoll, daß es sogar dem Präsidenten auffiel.

»Nun, Er spricht ja so sicher über diesen Punkt,« sagte dieser, »als
kenne Er den Grafen Martiniz und seine Herzensangelegenheiten aus dem
Fundament.«

»Seine Herzensangelegenheiten nun freilich nicht,« lächelte Berner,
»aber den Grafen hatte ich die Ehre, gestern kennen zu lernen --«

»Wie?« unterbrach ihn der Präsident, »er ist schon hier? Und wir
schwatzen schon eine Stunde von ihm, und Sie sagen nichts --«

»Fräulein Tochter ist nicht minder in der Schuld als ich,« entgegnete
jener, »sie kennt ihn sogar genauer als ich.«

»Ich glaube, Ihr seid von Sinnen, Berner, oder mein Laubenheimer hat
Euch erleuchtet. Du, Idchen, du kennst ihn?«

»Nein -- ja --« antwortete Ida, noch höher errötend. »Ich habe mit ihm
getanzt, das ist alles.«

»Er war also gestern auf dem Ball? Schon bei Jahren, natürlich, ein
ältlicher Mann? Schon in unserem Alter, Berner?«

»Nicht so ganz,« sagte dieser mit Hohn, »er mag so seine drei- bis
vierundzwanzig Jährchen haben. Uebrigens können Exzellenz seine
Bekanntschaft recht wohl machen, er logiert drüben im Mond.«

Der Präsident war zufrieden mit diesen Nachrichten; er sann nach, wie
der junge Mann am besten zu halten sein möchte, denn er trieb alles
gern nach dem Kanzleistil. Freund und Tochter, die er zu Rat zog,
rieten, ihn einzuladen und ihm so viel Ehre und Vergnügen als möglich
zu geben. Der Hofrat nahm es über sich, die Sache einzuleiten, und der
Präsident ging um ein Geschäft leichter in sein Kollegium.


Operationsplan.

Als er weg war, sahen sich Ida und Berner eine Zeitlang an, ohne ein
Wort zu wechseln. Der Hofrat, dem das lange Schweigen peinlich wurde,
zwang sich, obgleich ihm die wehmütige Freundlichkeit in Idas Gesicht,
ihr tränenschwerer Blick bis tief ins Herz hinein weh tat, zum Lächeln.
»Nun, wer hätte es,« sagte er, »wer hätte es dem leidenden Herrn
von gestern nacht angesehen, daß er drei Milliönchen habe? Wie dumm
ich war, daß ich glaubte, er weine in seinem Landau, weil er keine
Wechselchen mehr habe! Wer hätte es dem trübseligen Schmerzenreich
angesehen, daß er bald eine so glänzende, lustige Partie machen würde.«

Ida schwieg noch immer; es war als scheute sie sich vor dem ersten
Wort, das sie vor dem Freunde, der ihr Herz so tief durchschaut hatte,
auszusprechen habe.

»Oder wie?« fuhr er fort. »Wollen wir eine Allianz schließen, mein
liebes Aprilenwetterchen, daß die Gräfin Aarstein ihre Schulden nicht
zahlen kann, daß --«

»O Berner, verkennen Sie mich nicht,« sagte Ida unter Tränen; »es ist
gewiß nur das reine Mitleid, was mich nötigt, auszusprechen, was sonst
nie gesprochen worden wäre. Sehen Sie, dieses Weib ist die Schande
unseres Geschlechts! Sie ist so schlecht, daß ein ehrliches Mädchen
erröten muß, wenn es nur an ihre Gemeinheit denkt. Prüfen Sie den
jungen Mann da drüben, und wenn er ist, wie er aussieht, wenn er edel
ist und trotz seines Reichtums unglücklich, so machen Sie, daß er nicht
noch unglücklicher wird; suchen Sie ihn aus den Schlingen, die man um
ihn legen wird, zu reißen --«

»Das kann niemand besser als mein Idchen,« entgegnete jener und sah
ihr recht scharf in das Auge; »wenn mich nicht alles trügt, hängt das
Goldfischchen an einem ganz anderen Haken als an dem, womit ihn der
Minister ködern will; nur nicht gleich so rot werden, Kind. Ich will
alles tun, will ihm sein Leben angenehm machen, wenn ich kann, will ihm
die Augen auftun, daß er sieht, wohin er mit der Aarstein kommt, will
machen, daß er sich in unserer Gegend ankauft und seine drei Millionen
ins Land zieht, will machen, daß er mein Mädchen da lie--«

»Still, um Gottes willen,« unterbrach ihn die Kleine und preßte ihm das
kleine weiche Patschhändchen auf den Mund, daß er nicht weiter reden
konnte. »Wer spricht denn davon? Einen Millionär mag ich gar nicht; es
wäre ganz gegen meine Grundsätze, nur die Schlange im Residenzparadies
soll ihn nicht haben; vom übrigen kein Wort mehr, unartiger Mann! --«

Verschämt, wie wenn der Hofrat durch die glänzenden Augen hinabschauen
könnte auf den spiegelklaren Grund ihrer Seele, wo die Gedanken sich
insgeheim drängten und trieben, sprang sie auf und an den Flügel
hin, übertönte die Schmeichelworte des Hofrats mit dem rauschendsten
Fortissimo, drückte sich die weichen Kniee rot an dem Saitendämpfer,
den sie hinauftrieb, um die Töne so laut und schreiend als möglich zu
machen, um durch den Sturm, den sie auf den Elfenbeintasten erregte,
den Sturm, der in dem kleinen Herzchen keinen Raum hatte, zu übertäuben.

Verzweiflungsvoll über den halloenden Schmetter dieses Furiosos
enteilte der Hofrat dem Salon. Aber kaum hatte er die Türe geschlossen,
so stieg sie herab aus ihrem Tonwetter, die gellenden Akkorde lösten
sich auf in ein süßes, flüsterndes Dolce, sie ging über in die schöne
Melodie »Freudvoll und leidvoll«; mit Meisterhand führte sie dieses
Thema in Variationen aus, die aus ihrem innersten Leben heraufstiegen;
durch alle Töne des weichsten Moll klagte sie ihren einsamen Schmerz,
bis sie fühlte, daß diese Töne sie viel zu weich machen, und ihr Spiel,
ohne seine Dissonanzen aufzulösen, schnell wie ihre Hoffnung endete.


Die Mondwirtin.

Im goldenen Mond drüben ging es hoch her. Drei Zimmer in der Bel-Etage
vorn heraus hatte schon lange Zeit kein Fremder mehr gehabt. Die
Mondwirtin hatte daher alles aufgeboten, um diese Zimmer so anständig
als möglich zu dekorieren. Das mittlere hatte sie durch einen eleganten
Armoir zum Arbeits-, durch ein großes Sofa zum Empfangszimmer
eingerichtet. Das linke nannte sie Schlafkabinett, das rechte, weil
sie ihren ganzen Vorrat überflüssiger Tassen und eine bronzierte
Maschine auf einen runden Tisch gesetzt hatte, das Teezimmer. Auch an
der Table d'hote, wo sonst nur einige Individuen der Garnison, einige
Forst- und Justizassessoren, Kreissteuereinnehmer und dergleichen,
selten aber Grafen saßen, waren bedeutende Veränderungen vorgegangen.
Zum Dessert kam sogar das feinere Porzellan mit gemalten Gegenden und
die damaszierten Straßburger Messer, die sonst nur alle hohen Festtage
aufgelegt wurden.

Daß ihr angesehener Gönner und spezieller Freund, der Hofrat Berner,
jetzt im Mond statt zu Haus essen wollte und augenscheinlich dem
Grafen zu Ehren, zog einen neuen Nimbus um die Stirn des letzteren in
den Augen der Frau Mondwirtin. Sie war ganz vernarrt in ihren neuen
Gast. Schon als er in dem herrlichen Landau mit den vier Postpferden,
den aus Leibeskräften blasenden Schwager darauf, vorfuhr, als der
reichbordierte Bediente dem jungen Mann heraushalf, sagte sie gleich zu
ihrem Ehezärter: »Gib acht, das ist was Vornehmes.«

Als sie aber dem Brktzwisl, so nannte sich der gute alte Diener, die
Kommoden in den drei Zimmern öffnete, ihm die Kleider und Wäsche seines
Herrn aus den Koffern nehmen, sortieren und ordnen half, da schlug sie
vor Seligkeit und Staunen die Hände zusammen. Sie hatte doch von ihrer
Mutter gewiß recht feine, sanfte Leinwand zum Brauthemdchen bekommen,
aber das war grober Zwilch gegen diese Hemden, diese Tücher -- nein, so
etwas Extrafeines, Schneeweißes konnte es auf der Erde nicht mehr geben
wie dieses.

Es ist kein übles Zeichen unserer Zeit, wo der Edelmann seinen Degen
abgelegt hat, und Grafen und Barone im nämlichen Gewand wie der
Bürgerliche erscheinen, daß die Frauen dem Fremden, der zu ihnen kommt,
nach dem Herzen sehen, das heißt nach seiner Wäsche. Ist sie grob,
unordentlich oder gar schmutzig, so zeigt sie, daß der Herr aus einem
Hause sein müsse, wo man entweder seine Erziehung sehr vernachlässigte
oder selbst malpropre und unordentlich war. Wo aber der bläuliche oder
milchweiße Glanz des Halstuches, die feinen Fältchen der Busenkrause
und des Hemdes ins Auge fällt, da findet gewiß der Gast Gnade vor den
Augen der Hausfrau, weil sie selbst immer dieses Zeichen guter Sitte
ordnet und aufrecht erhält.

Auch die Freilinger Mondwirtin hatte diesen wahren Schönheitssinn,
diese angeborene Vorliebe für schönes Linnenzeug in ihrer oft
schmutzigen Wirtschaft noch nicht verloren. Daher der ungemeine Respekt
vor dem Gast, als sein Diener ihr die feinen Hemden dutzendweis, bald
mit geglockten, bald mit gefältelten Busenstreifen, bald mit, bald ohne
Manschetten, aus den geöffneten Koffern hinüberreichte. Und als er
vollends an die Unzahl von Hals- und Sacktüchern kam, wovon sie jedes
zum höchsten Staat in die Kirche angezogen hätte, da vergingen ihr
beinahe die Sinne! »Ach! wie fürstlich ist der Herr ausgestattet! Das
hat gewiß die gnädige Frau Mama ihm mitgegeben?«

»Der tut schon lange kein Zahn mehr weh,« gab Brktzwisl zur Antwort.

»Ist sie tot, die brave Frau, die so schöne Linnen machte?« sagte die
mitleidige Mondwirtin. »Aber die gnädigen Fräulein Schwestern haben --«

»Hat keine mehr. Vor einem Jahr starb die Gräfin Kreszenz.«

»Auch keine Schwestern mehr? Der arme Herr! Aber auf solche exquisite
Prachtwäsche verfällt kein junger Herr von selbst. Ich kann mir denken,
der gnädige Herr Papa Exzellenz --«

»Ist schon lange verstorben,« entgegnete das alte Totenregister mit
einem Ton, vor welchem der Wirtin die Haut schauderte.

»Der arme junge Herr!« rief sie, »was hat er jetzt von seinem schönen
Linnenzeug, wenn er nach Haus kommt und trifft keine Mutter mehr,
die ihn lobt, daß er alles so ordentlich gehalten, und keine Fräulein
Schwester, die ihm das Schadhafte flickt und ordnet. Jetzt kann ich mir
denken, warum der gnädige Herr immer so schwarz angezogen ist und so
bleich aussieht, Vater tot, Mutter tot, Schwester tot, es ist recht zum
Erbarmen --«

»Ja, wenn's das allein wäre!« seufzte der alte Diener und wischte sich
das Wasser aus dem Auge. Doch, als hätte er schon zuviel gesagt, zog er
murrend den zweiten Koffer, der die Kleider enthielt, heran und schloß
auf. Die Wirtin hätte für ihr Leben gerne gewußt, was sonst noch für
Unglück den bleichen Herrn verfolge, daß der Verlust aller Verwandten
klein dagegen aussehe. Aber sie wagte nicht, den alten Brktzwisl,
dessen Name ihr schon gehörig imponierte, darüber zu befragen, auch
schloß der Anblick, der sich jetzt darbot, ihr den Mund.

Die schwarze Kleidung hatte ihr an dem ernsten, stillen Gast nicht
so recht gefallen wollen, sie hatte sich immer gedacht, ein buntes
Tuch, ein hübsches helles Kleid müßten ihn von selbst freundlicher
machen. Aber da blinkte ihr eine Uniform entgegen -- nein! Sie hatte
geglaubt, doch auch Geschmack und Urteil in diesen Sachen zu haben.
Sie hatte in früherer Zeit, als sie noch bei ihrer Mutter war, die
Franzosen im Quartier gehabt, schöne Leute, hübsch und geschmackvoll
gekleidet. Später, als sie schon auf den Mond geheiratet hatte, waren
die Russen und Preußen da gewesen, große stattliche Männer wie aus
Gußeisen. Freilich hatten sie nicht die lebhaften Manieren wie die
früheren Gäste, aber die knappsitzenden Spenzer und Kutkas waren denn
doch auch nicht zu verachten. Aber vor der himmlischen Pracht dieser
Uniform verblichen sie samt und sonders zu abgetragenen Landwehr- und
Bürgermiliz-Kamisolen. Sie hob den Uniformfrack vom Sessel auf, wohin
ihn Brktzwisl gelegt hatte, und hielt ihn gegen das Licht; nein, es war
nicht möglich, etwas Schöneres, Feineres zu sehen als dieses Tuch, das
wie Samt glänzte; das brennende Rot an den Aufschlägen, die herrliche
Posamentier-Arbeit an der Stickerei und den Achselschnüren.

»Das ist die polnische Garde bei uns zu Haus in Warschau,« belehrte
sie der alte Diener, dem dieser Anblick selbst das Herz zu erfreuen
schien. »Möchte man da nicht gleich selbst in die mit Seide gefütterten
Aermel fahren und das spannende Jäckchen zuknöpfen? Und, weiß Gott!
so wie mein Herr gewachsen, war keiner unter allen! Der Schneider
wollte sich selbst nicht glauben, daß die Taille so fein und schmal
sei, gab noch einen Finger zu und brachte unter Zittern und Zagen, es
möchte zu eng sitzen, sein Kunstwerk; aber Gott weiß, wie es zugeht,
sie war zwar über seine breite Heldenbrust gerade recht, aber in den
Weichen viel zu weit; und dabei ist an kein Schnüren zu denken, mein
Herr verachtet diese Kunststücke. Der Schneider machte einen Sprung
in die Höhe vor Verwunderung, er konnte es rein nicht begreifen, die
anderen Herren beim Regiment ließen sich Korsette machen mit Fischbein,
schnürten sich zusammen, daß man hätte glauben sollen, der Herzbündel
wolle ihnen zerspringen, und dennoch rissen die Knöpfe alle drei Tage,
wenn sie nur ein wenig mehr als zuviel gegessen hatten -- mein Herr war
immer der Fixeste, gedrechselt wie eine Puppe -- und alles ohne ein Lot
Fischbein, so wahr ich lebe.«

»Es ist unbegreiflich, was es für herrliche Leute unter den Militärs
gibt,« unterbrach ihn die Wirtin, andächtig staunend.

»Und dann, Madame, lassen Sie ihn erst noch die Galabeinkleider
da anlegen, den Federhut aufsetzen, seine goldenen Sporen mit den
silbernen Rädchen an den feinen Absätzchen, denn Füßchen hat er trotz
einer Dame; lassen Sie mich ihm den St. Wladimir in Diamanten auf die
Brust hängen, den Ehrensäbel, den sein Herr Vater vom Kaiser bekommen,
und den er aus hoher Gnade als Andenken tragen darf, um den Leib
schnallen; Frauchen, wenn ich ein Mädchen wäre, ich flöge ihm an den
Hals und küßte ihm die schwarzen Locken aus der schönen Stirne. Und
dabei war er so fröhlich, die Wangen so rot, das Auge so freundlich
blitzend, und alles hieß ihn nur den schönen, lustigen Martiniz. Das
alles ist jetzt vorbei,« setzte der treue Brktzwisl seufzend hinzu,
indem er die Staatsuniform der Wirtin abnahm und in die Kommode legte,
»da liegt das schöne Kleid, nach dem Zehntausend die Finger leckten, so
liegt es seit drei Vierteljahren, und wie lange wird es noch so liegen!«

»Aber sagen Sie doch, liebster Herr Wiesel, Sein Vorderteil kann ich
nicht aussprechen, sagen Sie doch, warum dies alles, warum sieht Sein
Herr so bleich und traurig? Warum kleidet er sich wie ein junger
Kandidat, da er unsere ganze Garnison in den Boden glänzen könnte?
Warum denn?«

Der Alte sah sie mit einem grimmigen Blick an, als wollte er
über diesen Punkt nicht gefragt sein. Aber die junge, reinliche,
appetitliche Wirtin mochte doch dem rauhen Mann zu zart für eine derbe
Antwort vorkommen. »Bassa manelka!« sagte er unfreundlich. »Warum? Weil
-- ja sehen Sie, Madame, weil, weil wir, richtig, weil wir als Zivil
reisen,« und nach diesem war auch kein Sterbenswörtchen mehr aus ihm
herauszubringen.


Der polnische Gardist.

Dies alles hatte die Wirtin dem Hofrat erzählt, der sich in dem schönen
Speisesaal wohl eine Stunde früher als die übrigen Gäste zur Abendtafel
eingefunden hatte, um so allerlei Nachrichten, die ihm dienen konnten,
einzuziehen. Er hatte sie ganz aussprechen lassen und nur hie und da
seinen Graukopf ein wenig geschüttelt; als sie zu Ende war, dankte er
für die Nachrichten. »Und ihn selbst, Ihren wunderlichen Gast, haben
Sie noch nicht gesprochen oder beobachtet? Ich kenne Ihren Scharfblick,
Sie wissen nach der ersten Stunde gleich, was an diesem oder jenem ist,
und auch über Leben und Treiben fangen Sie hie und da ein Wörtchen weg,
aus dem sich viel schließen läßt.«

Die Geschmeichelte lächelte und sprach: »Es ist wahr, ich betrachte
meine Gäste gern, und wenn man so seine acht oder zehn Jährchen auf
einer Wirtschaft ist, kennt man die Leute bald von außen, und innen.
Aber aus dem da droben in der Bel-Etage werde ein anderer klug. Mein
Mann, der sich sonst auch nicht übel auf Gesichter versteht, sagt:
›Wenn es nicht ein Polack wäre, so müßte er mir ein Engländer sein,
der den Spleen hat.‹ Aber nein, wir hatten auch schon Engländer, die
den Spleen faustdick hatten, tage-, wochenlang bei uns, aber die sehen
griesgrämig, unzufrieden in die Welt hinein; aber die Frauen, nehmen
Sie nicht übel, Herr Hofrat, haben darin einen feinern Takt als mancher
Professor. Der Graf sieht nicht spleenig und griesgrämig aus, nein, da
wette ich, der hat wirkliches Unglück, denn die Wehmut schaut ihm ja
aus seinen schwarzen Guckfenstern ganz deutlich heraus. Denke ich den
Nachmittag, du gehst einmal hinauf und sprichst mit ihm, vielleicht,
daß man da etwas mehr erfährt als von dem alten Burrewisl. Im Teezimmer
sitzt mein stiller Graf am Fenster, die Stirne in die hohle Hand
gelegt, daß ich meine, er schläft oder hat Kopfweh. Drüben spielte
gerade die Fräulein Ida auf dem Flügel so wunderschön und rührend, daß
es eine Freude war. Dem Grafen mußte es aber nicht so vorkommen, denn
die hellen Perlen standen ihm in dem dunkeln Auge, als er sich nach mir
umsah.«

»Wann war denn dies?« fragte der Hofrat.

»So gegen vier Uhr ungefähr; wie ich nun vor ihm stehe, und er mich mit
seinem sinnenden Auge maß, da muß ich feuerrot geworden sein, denn da
fiel mir ein, daß doch nicht so leicht mit vornehmen Leuten umzugehen
sei, wie man sich sonst wohl einbildet; er ist auch nicht so ein Herr
Obenhinaus und Nirgendan wie unsere jungen Herren, mit denen man
kurzen Prozeß macht, nein, er sah gar zu vornehm aus. ›Ich wollte nur
gefälligst fragen, ob Ew. Exzellenz mit Ihrem Logis zufrieden seien?‹
hub ich an.

Er stand auf, fragte mich, ob ich Madame wäre, holte mir, denken Sie
sich, so artig, als wäre ich eine polnische Prinzeß, einen Stuhl und
lud mich zum Sitzen ein. Es ist erstaunlich, was der Herr freundlich
sein kann, aber man sieht ihm doch an, daß es nicht so recht von Herzen
gehen will.

An dem Logis hatte er gar nichts auszusetzen, und auch die Straße
gefiel ihm. Das Gespräch kam auf die Nachbarschaft und auch auf
Präsidents Haus; ich erzählte ihm von dem wunderschönen Fräulein, die
erst aus der Pension gekommen, und wie sie so gut und liebenswürdig
sei; von dem alten Herrn drüben, und daß die gnädige Frau schon so
lange tot sei; und ich hatte mich so ins Erzählen vertieft, daß ich gar
nicht merkte, wo die Zeit hinging, und statt ihn auszufragen, hatte ich
die Gelegenheit so dumm verplaudert!«

»Schade! Jammerschade!« lachte Berner über die sprachselige Wirtin.

»Und wie gut der Herr ist! Denken Sie sich nur, hinten im Garten, wo
es nun freilich zu jetziger Jahreszeit nicht mehr schön ist, sitzt
mein Luischen; das Dingelchen ist jetzt acht Jahre und schon recht
vernünftig, sitzt es im Garten und weiß nicht, daß ein so vornehmer
Herr hinter ihm steht. Ich war in der Küche und sah alles mit an; mein
Luischen kann allerhand schnackische Lieder, auch ein schwäbisches, ich
weiß nicht, wer sie es gelehrt hat; wie nun der Graf hinter ihr steht,
fängt der Unband an zu singen:

    ›'n bissel schwarz und 'n bissel weiß,
    'n bissel polnisch und 'n bissel deutsch,
    'n bissel weiß und 'n bissel schwarz,
    'n bissel falsch ist mei Schatz!‹

Ich glaube, ich müsse vor Scham in den Wurstkessel springen, daß mein
Kind so ungebildetes Zeug singt, was mußte nur der Graf von meiner
Erziehung denken! Ihm aber schoß das helle, klare Schmerzenswasser in
die Augen; er bog sich nieder, nahm das Dingelchen auf den Arm, herzte
und küßte es, daß mir brühsiedeheiß wurde, und fragte, wo sie das
Liedchen her habe?

Das Kind weiß vor Schrecken gar nicht zu antworten; mein Herr Graf aber
langt in die Tasche, kriegt einen blanken Taler heraus und verspricht,
wenn es das Verschen noch einmal deutlich sage und zweimal singe, so
bekomme es den Taler. Ich hätte ihm befehlen mögen, wie ich hätte
mögen, es hätte nicht gesungen. Der Taler aber tat seine Wirkung; sie
sagte ihr Sprüchlein ganz mir nichts dir nichts auf und sang nachher
das ›bissel polnisch und e bissel deutsch‹, wie wenn es so sein müßte.
Den Taler bekam es richtig; er liegt in der Sparbüchse in ein Papier
geschlagen, und darauf steht deutlich, daß sie es in zwölf Jahren noch
lesen und einmal ihren Kindern noch zeigen kann: _den 12. November 1825
bekommen vom polnischen Gardeoffizier, Grafen von Martiniz_.«


Der Hofrat auf der Lauer.

Die Gäste waren nach und nach alle zur Abendtafel herbeigekommen.
Madame trennte sich von dem Hofrat mit dem Versprechen, ihm nächstens
wieder zu erzählen. Der Hofrat sann nach über das, was er gehört, die
Szenen und Winke, die ihm Madame Plappertasche vorgesetzt hatte, gingen
ihm wie ein Mühlenrad im Kopf herum, sinnend kam er an seinen Platz und
setzte sich nieder. Vater tot, Mutter tot, Schwester tot, und dennoch
hatte der alte Diener gesagt, ja wenn es dies _allein_ wäre! Was konnte
ihm denn sonst noch gestorben sein? Etwa eine Gel-- Nein! Geliebt
konnte er nicht haben, denn wie konnte er nach drei Vierteljahren, so
lange hatte der Diener gesagt, sei er traurig, wie konnte er nach so
kurzer Frist schon wieder um eine Gräfin Aarstein auf die Freite gehen?
Unmöglich! -- Hätte, wenn jenes doch der Fall wäre, hätte Ida auf ihn
einen solchen Eindruck --

Ja, was wollte er denn eigentlich, der gute Hofrat; Ida hatte bestimmt
auf ihn einen großen Eindruck gemacht, das war auf dem Ball ganz und
gar sichtbar, denn er schaute ja nur nach ihr und immer wieder nach
ihr, und sein ernstes Gesicht, wie klärte es sich auf, als sie ihn im
Kotillon holte! Heute früh, hatte er nicht einen Feuerblick gegen sie
heraufgeworfen, als hätte er eine congrevesche Batterie hinter den
Wimpern aufgefahren? War es ihm selbst nicht, als sollte die Schokolade
in seiner Hand, von diesen Brennspiegeln getroffen, anfangen zu sieden?

Heute abend, wer hatte denn da hinter den roten Gardinen auf des
Mädchens gefühlvolles Spiel gelauscht als er? Wer war so gerührt davon,
daß ihm die hellen Tränen hervorperlten, als der gute Graf Martiniz?
Und Idchen, nun die war ja rein weg in den Mondgast verschossen.
»Die Aktien stehen gut!« lachte der Hofrat in sich hinein und rieb
sich unter dem Tisch die Hände, »bin neugierig, ob diesmal der alte
vergessene Hofrat nicht weiter kommt mit seinem guten ehrlichen
Hausverstand als der Herr Minister-Staatssekretär Superklug und
Uebergescheit in der Residenz mit seinen diplomatischen, extrafeinen
Kniffen, _mir_ muß das Goldfischchen in das Netz, mir muß --«

»Wenn ich nicht irre, mein Herr, so hatte ich gestern schon das
Vergnügen --« tönte dem alten Träumer, der über seinen staatsklugen
Plänen die Tafel, Nachbarschaft und alles vergessen hatte und jetzt
erschrocken auffuhr und sich umsah, ins Ohr -- es war Martiniz, der
sich unbemerkt neben ihn gesetzt hatte; er hätte vor Schrecken in den
Boden sinken mögen, denn sein erster Gedanke war, dieser müsse seine
Gedanken erraten haben, besonders da er sich nicht mehr deutlich
erinnern konnte, ob er nicht etwa, was ihm oft passierte, laut mit sich
selbst gesprochen habe.

Die Nähe des Fremden übte eine beinahe magische Gewalt auf den Hofrat
aus, die sinnende, kluge Miene, das neben seinem schwärmerischen Glanz
Verstand und Nachdenken verratende Auge imponierte ihm, jedoch auf eine
Weise, die ihm nicht unangenehm war; es war ihm, als müsse er sich
vor dem jungen Manne recht zusammennehmen, um nirgends eine Blöße zu
geben oder einen seiner Pläne zu verraten. Die gewöhnlichen Fragen, wie
sich der Gast hier gefalle, Komplimente über seine Reitfertigkeit, mit
welcher er heute früh einem Kinde das Leben gerettet, und dergleichen
waren bald abgemacht, ohne daß er über des Fremden Gesinnungen näheren
Aufschluß bekommen hätte. Es kam an die Gegend des Freilinger Kreises,
es wurde gelobt, gepriesen, einzelne Güter, die durch Lage und Ertrag
sich auszeichneten, näher beschrieben, aber auch hier ging der Gast
nicht ein; er verlor kein Wörtchen, als wolle er sich nur um einen
Taler Land mieten oder kaufen.

Der Hofrat haute sich jetzt einen neuen Weg ins Holz; er lobte die
Residenz, das angenehme Leben dort, die Schönen der Stadt und des
Hofes, jetzt mußte er etwas sagen, es mußte sich zeigen, ob er
die Aarstein -- Der Gast sprach von der Residenz, von den schönen
Anstalten dort, von der Militärverfassung, schien namentlich über
die Kavallerie sich gerne genauere Aufschlüsse geben zu lassen, aber
kein Wörtchen über die Damen. Endlich, der Hofrat hatte gerade eine
trefflich bereitete Ortolane ~à la Provençale~, seine Leibspeise, am
Mund und einen tüchtigen Biß hinein getan, da wandte sich Martiniz zu
ihm herüber und fragte, ob er nicht in der Residenz die schöne Ar --
schnell wie der Wind fuhr Berner mit seiner Ortolane auf den Teller,
wischte den Mund und war ganz Ohr, denn jetzt mußte ja die Gräfin aufs
Tapet kommen -- ob er nicht die schöne Armenanstalt kenne, die er in
solcher Vollkommenheit nirgends gesehen habe.

Dem Hofrat war es auf einmal wieder froh und leicht um das Herz,
denn solange er ja über das Verhältnis des Polen zur Gräfin Aarstein
nichts Gewisses wußte, durfte er immer der Hoffnung Raum geben. Als
die Abendtafel zu Ende war, rief Martiniz nach Punsch und lud seinen
Nachbar ein, mit ihm noch ein Stündchen zu trinken. Berner sagte zu
und hat es nie bereut, denn hatte ihm der interessante junge Mann
zuvor durch seine äußere Persönlichkeit imponiert, so gewann er jetzt
ordentlich Respekt vor ihm, da jener, wie es schien, von dem Punsch,
dem die Mondwirtin eine eigene geheimnisvolle Würze zu geben verstand,
aufgetaut, eine so glänzende Unterhaltungsgabe entwickelte, wie sie dem
Hofrat, obgleich er in seinem Leben vieles gesehen und gehört hatte,
selten vorgekommen war.

Wie freudig war aber sein Erstaunen, als er nach einer Viertelstunde
schon bemerkte, daß er und sein Nachbar die Rollen getauscht zu haben
schienen. Der kluge Alte bemerkte nämlich bald, daß der Graf auf
allerlei Umwegen sich immer nur einem Ziele, nämlich Ida, nähere. Er
konnte dieses Flankieren dem Ulanenoffizier gar leicht verzeihen,
hatte er doch nicht den Dienst der schweren Kavallerie gelernt, die,
wenn Marsch-Marsch geblasen wird, im Karriere geradeaus sprengt, das
feindliche Viereck durch ihre eigene Wucht und Schwere im Chok zu
zerdrücken. Der Ulan umschwärmt seinen Feind, sticht nach ihm, wo er
eine Blöße entdeckt, und sucht auf geflügeltem Roß das Weite, wenn der
Feind sich zu einer Salve sammelt. So der Garde-Ulan Martiniz. Aber
der tapfere Pole mochte sich tummeln, wie er wollte, seine Angriffe
so versteckt machen, als er wollte, sein Gegner durchschaute ihn; auf
Idchen ging es los, und dem alten Mann pochte das Herz vor Freude,
als er es merkte, auf Idchen ging es los, _sie_ wollte der Pole
rekognoszieren. Er glaubte, den Hofrat drüben am Fenster gesehen, auch
gestern auf dem Ball ein engeres Verhältnis bemerkt zu haben, er pries
des Mädchens königlichen Anstand, der sie vor den übrigen Freilinger
Damen so hoch erhebe; er lobte die Zurückhaltung, mit welcher sie
die ungestümen Herren zurückgewiesen habe, pries ihr Spiel und ihren
Gesang, womit sie unbewußt sein einsames Zimmer erheitert habe; eine
schöne Röte war durch das warm gewordene Gespräch auf den Wangen des
jungen Mannes aufgegangen, jener Zug von Unglück und Wehmut, der sich
sonst um seinen schönen Mund gelagert hatte, war gewichen und hatte
einem feinen, holden Lächeln Platz gemacht, das Auge strahlte von
freudigem Feuer, er ergriff das Glas, als er ausgesprochen hatte, und
zog es bis zum letzten Tropfen so andächtig aus, als hätte er in seinem
Herzen einen Toast dazu gesprochen.


Der selige Graf.

»Herzensjunge! Liebes, bestes Gräfchen! Söhnchen! Goldpoläckchen!« alle
Schmeichelnamen hätte der Hofrat ausschreien, den trefflichen Redner
an sein Herz reißen und mit väterlichen Küssen bedecken mögen -- aber
das ging nicht; ein Diplomat vom Fach, und das war er ja bei seinen
jetzigen Negoziationen durch und durch, durfte seine Freude über eine
glückliche Entdeckung, über einen unverhofften, köstlichen Fund nicht
laut werden lassen; er schluckte alle jene Ausbrüche des Vergnügens
wieder hinunter, faßte den Grafen nur mit einem recht zärtlichen,
seligen Blick und bestätigte weitläufig sein treffendes Urteil. Er
beschrieb ihm das Mädchen, wie er es, seit es den ersten Schrei in
die Welt getan, kenne, wie es früher ein lustiger, fröhlicher Zeisig
war, wie es jetzt zur ernsten Jungfrau herangewachsen sei; ihre Anmut,
ihre Geschicklichkeit in Sprachen und allen Dingen, die ein Mädchen
zieren, als da sind Stricken, Nähen, Schneidern, Sticken, Kochen,
Früchte-Einmachen, Backen, Blumenmachen, Zeichnen, Malen, Tanzen,
Reiten, Klavier- und Gitarrespielen; wie es in der Residenz trotz der
hohen Stellung, die es in der Gesellschaft eingenommen, doch immer
seinem Sinn für reine Weiblichkeit gefolgt sei; wie es seinen reinen,
keuschen, kindlichen Sinn auf dem Boden, wo schon so manches gute Kind
ausgeglitscht sei, bewahrt habe.

»Es ist mir unbegreiflich,« setzte er, von dem Eifer, der ihn beseelte,
fortgerissen, hinzu, »rein unbegreiflich, wie dieses für alles Schöne
und Gute glühende Herz sich in der Residenz so vor aller Liebe bewahrt
hat. Unsere jungen Herren schreien gewöhnlich bei solchen Mädchen
über Eiskälte und Phlegma, aber Gott weiß, _diesem_ Mädchen kann man
_dieses_ nicht nachsagen. Aber unsere jungen Herren sind meistens
selbst daran schuld. Kraft- und marklos schlendern sie einher, auf
den Bällen stehen sie scharweise zusammen, gucken durch Gläser von
Nr. 4 und 5, die für Blinde scharf genug geschliffen wären, nach den
Reizen der Ballschönen, lassen ganze Reihen sitzen und tanzen nicht,
und geben sie sich auch einmal zu einem Walzerchen und Kotillönchen
her, so meint man, sie wollen den letzten Atem ausschnaufen, so wogt
es in den ausgedörrten Herzkammern. Kann solche Lumperei einem jungen,
schönen, in der Fülle der Kraft strotzenden Mädchen, das zwei solcher
Flederwische an die Wand schleuderte, gefallen? Kann man es einem
solchen Engelskind, das sich so gut wie jeder andere abends im Bettchen
mit verschlossenen Augen und verstohlenem Lächeln sein Ideal vormalt
und vorträumt, kann man es ihr verargen, wenn sie solche Vogelscheuchen
gering achtet und kalt abweist?

Ein solches Mädchen soll dann kalt sein wie Eis, soll kein Feuer im
Leib haben; habe ich doch Über mein Goldmädchen gestern abend solche
Urteile hören müssen; geschossen hätte ich mich um sie, wäre ich nur
dreißig Jahre jünger gewesen. Sie hätte kein Feuer? Habe ich nicht
gesehen, wie sie heute früh, als Sie, Herr Graf, das Kind retteten, das
Fenster aufriß und beinahe hinaussprang aus purem Mitgefühl? Und dieses
Mädchen hätte kein Feu--?«

»Das hat sie getan?« fragte der glückliche Martiniz, bis an die Stirne
errötend. »Sie hat das Fenster ein wenig geöffnet und herausgesehen?«

»Was öffnen und heraussehen! Dazu braucht man zwei Minuten, aber
aufgerissen hat sie das Fenster, daß sie mir den Schokoladenbecher
beinahe aus der Hand schlug, sie war in zwei Sekunden fertig! Sehen
Sie, so ist das Mädchen; Feuer und Leben, wo es etwas Schönes, wahrhaft
Freudiges, Erhabenes gilt, schwärmerisch empfindsam, wenn sie wahre
Leiden der Seele sieht, aber kalt und abgemessen, wenn die leere schale
Alltäglichkeit sich ihr aufdrängen will.«

Mit einem Feuerblick an die Decke, die Rechte auf das lautpochende Herz
gelegt, trank Graf Martiniz wieder einen stillen Toast, der nirgends
widerklang als in seinem tiefen Herzen, aber dort traf er so viele
Anklänge, daß dieses wehmütige, traurige Herz, das so lange nichts
kannte als die Wehmut und den Kummer heimlicher Tränen, im stillen,
aber vollen Jubel aufschwoll und sich stolz wie vorzeiten unter dem
Ordensband hob, das es von außen zierte.

Er sagte dem Hofrat, daß er, wenn es möglich wäre, während seines
hiesigen Aufenthalts gerne von einem Empfehlungsschreiben an den
würdigen Herrn Präsidenten Gebrauch machen würde, das er heute durch
den Gesandten seines Herrn von dem Minister-Staatssekretär bekommen
habe. Der Hofrat versprach freudig, ihn dort einzuführen und seine
Abende im Umgange mit diesem trefflichen Menschen erheitern zu helfen.
Bei sich lachte er aber über den Staatssekretär, der seine Sachen so
geschickt einzufädeln wisse; der Graf solle dem Lande bleiben mit
seinen drei Milliönchen, aber die Gräfin soll ihn nicht bekommen, dafür
steht der Hofrat Berner. Auch er trank jetzt im stillen ein Toastchen
und ließ mit einem freundlichen, wohlwollenden Seitenblick die künftige
Frau Gräfin leben. Vivat hoch! scholl es in allen Winkeln seines alten
treuen Herzens, hoch und abermal h--

Da brummte in dumpfen Tönen die Glocke vom Münsterturme elf Uhr. Mit
wehmütigem Blick sprang Martiniz auf, stammelte gegen den erschrockenen
Hofrat eine Entschuldigung hervor, daß er noch einen Besuch machen
müsse, und ging.

Berner konnte sich wohl denken, wohin der unglückliche Junge ging.
Mitleidig sah er ihm nach und lehnte sich dann in seinen Stuhl zurück,
um über das, was diesen Abend gesprochen worden war, nachzudenken;
der Graf hatte einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht; es hatte ihm
nicht leicht ein junger Mann so wohl gefallen wie dieser; so viel
Grazie und Feinheit des Umganges, so viele Bildung und Kenntnisse,
so viel anspruchslose Bescheidenheit bei drei Millionen Talern, so
hohe männliche Schönheit und doch nicht jenes eitle, gefallsüchtige
Sich-zeigen-wollen, das schönen jungen Männern oft eigen ist --
nein, es ist ein seltener Mensch und gewiß beinahe so viel wert als
mein Idchen, dachte er, wenn die beiden erst einmal ein Paar -- die
Mondwirtin unterbrach ihn; mit zornglühendem Gesichte setzte sie sich
hastig auf den Sessel, den Martiniz soeben verlassen hatte. »Nein,
da traue einer den Männern,« wütete sie, »hätte ich doch mein Leben
eingesetzt für diesen Herrn Grafen; hätte geglaubt, er wäre ein
unschuldiges, reines Blut und kein so Bruder Liederlich, die an jede
Schürze tappen --«

»Nun, was ist denn geschehen?« unterbrach sie der aus allen Himmeln
gefallene Hofrat. »Was haben Sie denn, das Sie so aufbringt, Frauchen?«

»Was ich habe? Möchte da einem nicht die Galle überlaufen, so ein
schöner, reicher Herr, wo es sich manche Dame zur Ehre rechnen
würde, in nähere Bekanntschaft -- geht auf nächtlichen, liederlichen
Wegen; glaubt, es sei hier in Freilingen auch so eine großstädtische
Nachtpromenade; tief in seinen Mantel gehüllt, ist er zum Torweg
hinausgewischt mit dem alten Kuppler, dem Berrzwisel. Will haben, man
solle das Haus offen lassen bis ein Uhr. Aber die Türe schlage ich ihm
vor der Nase zu, ich brauche keinen solchen Herrn im Haus, der bei
Nacht und Nebel nicht weiß, wo er steckt.«

»Habe ich doch Wunder geglaubt, was es gibt,« sagte der Hofrat, wieder
freier atmend; »da dürfen Sie ruhig sein, der geht nicht auf schlimmem
Wege; er macht noch einen durchaus ehrbaren Besuch, ich weiß wo, darf
es aber nicht sagen.«

Die Wirtin sah ihn zweifelhaft an. »Ist es aber auch so?« sprach sie
freundlicher. »Ist es auch so, und machen Sie mir keine Flausen vor?
Doch Ihnen glaube ich alles aufs Wort, und ich ärgere mich nur, daß ich
gleich so Schlimmes dachte; aber die Welt liegt jetzt im argen, unseren
jungen Herren ist nicht mehr über die Straße zu trauen. Sagen Sie ihm
aber um Gottes willen nichts, ich glaube, er könnte mich mit einem
einzigen Blick verbrennen; es war ja lauter christliche Liebe zu meinem
Nebenmenschen.«

Der Hofrat lächelte fein, indem er ihr die Hand zum Versprechen und
zugleich zum Abschied bot; er jagte ihr alle Röte auf die hübschen
Wangen, sie wußte nicht, wo sie hinsehen, ob sie lachen oder zürnen
solle, denn, schon im Fortgehen begriffen, wisperte er ihr ins Ohr: »Es
war all nichts als lauter christliche, nebenmenschliche -- Eifersucht!«


Gute Nachricht.

Man hätte glauben sollen, das Haus des Präsidenten sei ein großer
Vogelbauer geworden, in welchem Nachtigallen, Kanarienvögel, Stärchen
und alle Gattungen gefiederter Bewohner wären. Es hüpfte etwas
treppauf, treppab, ein süßes Stimmchen hörte man bald in gehaltenen,
wehmütigen Tönen singen, bald in fröhlichen, scherzenden Rouladen
jauchzen und jodeln wie die Kanarienhähnchen, bald zwitschern und
plaudern wie Stärchen; aber Hähnchen, Nachtigallen und Stärchen, sie
alle waren in _einer_ Person Idchen, das vor Freude, vor Sehnsucht,
vor Langerweile und Geschäftigkeit treppauf und -ab flog, mit allen
Menschen anband, alle auslachte, alle begrüßte und neckte, allen
zugleich befahl und schalt.

Graf Martiniz hatte dem Vater eine Karte und den Empfehlungsbrief des
Staatssekretärs geschickt; der alte Herr war mit beidem zu ihr gekommen
und hatte sie förmlich um Rat gefragt, was nun zu beginnen sei; nach
seiner Ansicht, wenigstens war es vor zwanzig Jahren noch so, mußte man
den Fremden zum Mittagessen bitten, zwei Tage nachher zum Tee, nach
zwei Tagen wieder zum Nachtessen, und vor seiner Abreise mußte ihm ein
kleiner Hausball gegeben werden.

Das selige Mädchen drückte die Augen zu und biß die Purpurlippen
zusammen, um ihre Freude nicht zu verraten; nach ihrer Ansicht, und das
war endlich doch die vernünftigste, sollte man ihn auf Mittag zu einer
Suppe laden, Nachmittag setzte er sich dann zu ihr ans Klavier, abends
trank er mit ihr Tee, und dann konnte ja ein kleiner Hausball mit einem
Souper den seligsten Tag ihres Lebens schließen; doch nein -- sie nahm
sich zusammen und erklärte ihm, wie sie das in der Residenz ganz anders
gelernt habe.

»Es würde dem guten Grafen ein wenig kleinstädtisch vorkommen, wollten
wir ihn gleich von vornherein zum Mittagessen einladen. Wir müssen
einen Bedienten hinüberschicken und ihm sagen lassen, daß wir ihn zur
Teestunde erwarten, da wird er dann nicht fehlen; wir bitten Direktors
Pauline und Fräulein Sorben, den Hofrat, meinetwegen einen oder den
anderen deiner jungen Räte dazu. Ich mache die Honneurs beim Tee,
und um neun Uhr marschieren die Herrschaften wieder ab. Dem Grafen
sagen Sie, Sie wünschen ihn öfter bei uns zu sehen und namentlich um
die Teestunde. Ist er einigemal dagewesen, so bittet man ihn einmal
beim Nachtessen zu bleiben; nachher koche und backe ich eines Tages
recht flott und anständig, Sie, lieber Papa, geben ihm morgens nur
so ~en passant~ einen Besuch heim und lassen fallen, ob er nicht
einmal, etwa heute, eine Suppe mit uns essen wolle; es wäre unartig,
es auszuschlagen. Die Idee mit dem Hausball ist recht hübsch, übrigens
darf nur _er_ allein merken, daß es _ihm_ zu Ehren geschieht; wir
würden uns lächerlich machen, wollten wir den Leuten sagen, daß wir
dem Grafen Martiniz einen Ball geben; es kann ja heißen, Papa gebe mir
einen Einstand in sein Haus.«

Papa Präsident war alles zufrieden, nur wollte ihm die neue Sitte, daß
man sich stelle, als sei alles Natur, was doch nur immer wieder die
alte Kunst ist, nicht recht einleuchten. Er hatte ihr die Schlüssel des
Hauses und alle Gewalt im Boden und Keller übergeben, und das Mädchen
rumorte jetzt als tätige Hausfrau in dem großen Gebäude umher, als
sollte sie zwanzig Wagen voll Gäste empfangen. Sie sollte ihn sehen,
sie sollte ihn sprechen, er mußte, wenn er nur halbwegs so artig war,
als er aussah, jetzt alle Wochen wenigstens viermal herüberkommen --
nein, es war nicht zu sagen, wie himmlisch selig das Mädchen war!

Um zehn Uhr hatte es angefangen zu tollen und zu rumoren, und schon um
zwölf Uhr war das Teezimmer bereitet, wie es heute abend sein mußte.
Erschöpft von den Haushaltungsgeschäften warf sie sich in ein Sofa; sie
machte die Augen zu, um sich den Abend schon recht selig zu träumen,
sie besann sich, wie man ihm den Abend recht schön mache, daß er recht
oft wiederkomme, sie suchte ihre beste Musik zusammen, um ihn zu
erheitern und die Schwermut von seiner Stirne zu bannen, so -- o, es
mußte einen herrlichen Abend geben; da fiel ihr auf einmal die Gräfin
Aarstein ein, und alle Freude, aller Jubel war wieder hinweggeflogen;
Träne auf Träne stahl sich aus dem Auge, sie klagte alle Menschen an
und war auf sich, auf die Welt bitterböse.

Aber Berner, der nachmittags nur im Flug ein wenig bei ihr einsprach,
verscheuchte diese Wolken. Er war zwar zu vorsichtig, um ihr den tiefen
Eindruck zu schildern, den sie auf den geliebten Fremden gemacht
hatte, aber das sagte er mit triumphierender Miene, daß sie vor der
Aarstein nicht bange haben solle; er habe gute, köstliche Nachrichten,
die dies vollkommen bestätigen; weg war er, ehe sie ihn noch recht
fragen konnte, und sie hatte doch so viel, so unendlich viel zu fragen.
Er hatte ihr nur von der Aarstein gesprochen und wollte sich nichts
weiter merken lassen, der gute Hofrat! Aber wo ist ein Mädchen, das die
Flamme der ersten, reinen Liebe im Herzen trägt, wo ist ein solches
Engelskind, das nicht in ein paar Stunden die größten Fortschritte in
der Kunst, zu schließen und zu berechnen, gemacht hätte? Man sprach so
viel von magnetisierten Schläferinnen und Clairvoyantes, man schrieb
viele gelehrte Bücher über solche seltene Erscheinungen, und wie
gewöhnlich ließ man, was am nächsten lag, unbeachtet! Das sind ja die
eigentlichen Clairvoyantes, die Mädchen mit der ersten, kaum erkannten
Sehnsucht in der Brust, wohl haben sie die Augen niedergeschlagen, aber
dennoch sehen sie weiter als unsereiner mit der schärfsten Brille, die
Liebe hat sie magnetisiert, hat ihnen das Auge des Geistes geöffnet,
daß sie in den Herzen lesen. So auch Ida; sie merkte dem Hofrat wohl
an, daß er mehr wisse, als er sagen wolle, mit der Gräfin war es
nichts, aber ebensogut mußte er wissen, daß es auch mit keiner andern
etwas sei, sonst hätte er nicht so vergnügt, nicht so schelmisch
gelächelt. Er wußte, das sah die neue Clairvoyante jetzt hell und klar,
er mußte sogar wissen, daß Martiniz _sie_ --

O, wer das Mädchen jetzt gesehen hätte, wie es das Köpfchen in die Ecke
des Sofas barg, wie alles Blut nach dem vom süßen Schauer der ersten
Liebe bebenden Herzen hinauf und hinab wogte, wie der jungfräuliche
Busen zitterte und hüpfte, wie ein nie gekanntes Gefühl, wie eine
Mitternachtssonne in den Nächten des Nordpols, im Tiefsten ihres Innern
mit ihren zuckenden, blitzenden Strahlen aufging! Wahrlich, es liegt
eine rührende Zaubermacht in einem solchen Gesichtchen voll stiller
Seligkeit, es ist der Lichtpunkt des jungfräulichen Lebens, zu dem sie
einen kurzen Weg hinauf, von welchem sie lange, oft traurige Stufen
hinabsteigt!


Der lange Tag.

Aber der Nachmittag war auch gar zu lang, die Stunden gingen so
träge hin, sie konnte sich ordentlich über sich selbst ärgern, daß
sie schon heute früh das Teezeug gerüstet hatte, sie fing an zu
arbeiten, zehnerlei nahm sie vor und legte es ebenso schnell zurück.
Sie hatte ein Bukett von Phantasieblumen angefangen, sie hatte
sonst mit Lust und Liebe daran gearbeitet, aber nein! Es war doch
auch gar zu langweilig; erfunden war etwas bald, man malte seine
Gedanken recht artig aufs Papier, aber bis man alle die Blätter und
Blättchen zusammenband -- zurückgelegt bis auf weiteres; sie nähte so
wunderhübsche Tapisserien; sie machte ihre Kreuzstiche so fein und
gleich, als habe sie in den besten Fabriken gelernt, und alles ging
ihr so schnell von der Hand, daß es eine Freude war. Ihre Freundinnen
in der Residenz hatten sich immer Stücke von Paris und London kommen
lassen; da waren die schönsten Girlanden von Rosen Astern, alle
möglichen Blumen und Farben; in der Mitte war leerer Raum gelassen,
daß die Damen nach ihrem Belieben hineinnähen konnten, was sie immer
wollten; natürlich stachen meistens die schönen Pariser Girlanden
sonderbar ab gegen die Dessins der Residenzdamen; Ida hatte immer nur
ihr leeres Stickstramin vorgenommen, hatte sich selbst mit geübter
Hand Zeichnungen entworfen und war noch vor ihren Freundinnen fertig,
die Idas Arbeit für Zauber, für nicht möglich gehalten hätten, wenn
sie nicht unter ihren Augen entstanden und vollendet worden wäre.
Sie hatte noch in der Residenz ein prachtvolles Fußkissen für Papa
angefangen, sie nahm es jetzt auch wieder vor, aber sie konnte sich
selbst nicht begreifen, wie sie früher so langweilige Arbeiten machen,
Stich über Stich und immer wieder Stich um Stich machen konnte --
zurückgelegt bis auf weiteres. Sie zeichnete mit schwarzer Kreide so
fein, so gefällig für das Auge, daß sie der Stolz ihres Zeichenlehrers
war; auch hier war ihre Geduld unermüdlich gewesen; wenn andere ihre
Kopien kaum durchgezeichnet und, mit den ersten Schatten versehen,
schon weggeworfen oder dem Zeichenmeister zur Vollendung auf einen
Geburts- oder Namenstag übergeben hatten, so hatte Ida fortgemacht, und
man sah allen ihren wunderlieblichen Bildern an, daß sie ~con amore~
ausgeführt waren; denn hatte sie einmal etwas angefangen, so mußte
es auch vollendet werden. Sie hatte eine angefangene ~Madonna della
sedia~ mitgebracht, sie öffnete jetzt die Mappe, breitete das Bild,
das schon in seinen Umrissen viel versprach, vor sich aus, spitzte
die Kreide, nahm sich vor, mit recht viel Geduld zu zeichnen, aber
bald gab die Kreide keine Farbe, bald wurden die Striche zu dick und
mußten verwischt werden, sie wurde von neuem gespitzt, aber war die
Spitze zu fein oder die Zeichnerin zu ungeduldig oder die Kreide zu
grobkörnig, alle Augenblicke brach sie unter dem Messer ab, und Finger
bekam man so schwarz, daß sie kaum mehr rein gemacht werden konnten;
sie entsetzte sich wie Lady Macbeth vor ihren eigenen Händchen, packte
die Madonna schnell ein und legte sie ad acta. Sie setzte sich vor ihre
Kommode, zog alle Schubfächer heraus, wühlte in Blonden und Bändern
und besah sich Stück vor Stück, auch der Schmuck wurde hervorgezogen
und gemustert; aber hatte sie dies alles nicht hundertmal gesehen und
wieder gesehen? Schnell Schmuck, Bänder und Blonden in die Fächer und
zugeschlossen, alle diese Herrlichkeiten wollten das unruhige Herzchen
nicht zerstreuen.

Endlich, endlich schlug es fünf Uhr, und sie konnte sich jetzt doch,
ohne sich von ihrem Zöfchen auslachen zu lassen, zum Tee anziehen. Sie
studierte jetzt recht ernsthaft, was sie wählen sollte; einen vollen
Anzug oder ein Hausnegligee? In der Residenz hätte sie, ohne sich zu
besinnen, das erstere gewählt. Dort fing ja der Tag eigentlich erst
abends recht an, und zur zweiten Toilette konnte sie dort kein Negligee
wählen; aber hier in Freilingen, wo Morgen Morgen, der Mittag Mittag,
der Abend nur Abend war, hier schien ein Negligee für den Abend ganz
am Platz, um so mehr, da die paar Fräulein, die sie geladen hatte,
wahrscheinlich recht geputzt kommen würden. Sie wählte daher ein
feines Hausnegligee, ein allerliebstes weißes Batist-Ueberröckchen,
das nach einem Muster, wie man es hier zu Land noch nie gesehen hatte,
gemacht war; und wie glücklich hatte sie gewählt! Das knappe, alle
Formen hervorhebende Ueberröckchen zeigte den in jugendlicher Frische
blühenden Körper, den Teint hob zwar keine Perle, kein Steinchen,
aber er war so schneefrisch, so zart, so blendend weiß, daß er ja gar
keines Schmuckes bedurfte. Aber das Haar wurde dafür so sorgfältig, so
glänzend als möglich geordnet. Die seidenen Ringellöckchen schmiegten
sich eng und zart um Schläfe und Stirne, die Pracht ihrer Haarkrone
war so entzückend, daß sie sich selbst gestand, als sie beim Glanz der
Kerzen in den Spiegel blickte, als sie ihre höher geröteten Wangen,
ihr glänzendes Auge sah, mit Lust und heimlichem Lächeln sich gestand,
heute ganz besonders gut auszusehen.

Und nun musterte sie noch einmal mit Kennerblicken den Teetisch. Der
große Lüster verbreitete eine angenehme Helle über das ganze Zimmer.
Die Sitze waren im Kreise gestellt, ihr Platz neben dem Sofa, neben
ihr mußte der Graf sitzen; die silberne Teemaschine, den Hahn ihr
zugekehrt, dampfte und sang lustige Weisen, die Tassen standen in
voller Parade, die goldenen Löffelchen alle rechts gekehrt. Die Vasen
mit Blumen von ihrer eigenen Arbeit nahmen sich gar nicht übel zwischen
dem Backwerk und den Kristallflaschen mit Arrak und kaltem Punsch aus.
Die kleineren Partien, als Zucker, geschlagener Rahm, kalte und warme
Milch, Zitronen, waren in ihren silbernen Hüllen gefällig geordnet --
es fehlte nichts mehr, als, weil es einmal in Freilingen Ton war, beim
Tee zu arbeiten, eine geschickte Arbeit für sie; auch diese war bald
gefunden, und kaum hatte sie einige Minuten in Erwartung gesessen, so
fuhr ein Wagen vor.

»Wenn dies Marti--« doch nein, er konnte es nicht sein; die paar
Schritte aus dem goldenen Mond herüber machte er wohl ohne Wagen;
die Flügeltüre rauschte auf -- Fräulein von Sorben. »Wenn nur die
andern auch bald kämen,« dachte Ida, indem sie das Fräulein empfing,
denn diese war nicht die angenehmste ihrer Freilinger Bekannten. Sie
war wenigstens acht Jahre älter als Ida, spielte aber doch immer
noch das naive lustige Mädchen von sechzehn Jahren, was ihr bei
ihrer stattlichen Korpulenz, die sich für eine junge Frau nicht übel
geschickt hätte, schlecht paßte. Sie mußte übrigens von Präsidents
mit Schonung und Achtung behandelt werden, weil sie einigermaßen
mit ihr verwandt waren und ihr Oheim in der Residenz eine der
wichtigsten Stellen bekleidete. Sie flog, als sie eingetreten war, Ida
an den Hals, nannte sie Herzenscousinchen und gab ihr alle möglichen
süßen verbrauchten Schmeichelnamen. Nachdem sie ihr Haar vor dem
deckenhohen Spiegel ein wenig zurechtgeordnet, die Falten des Kleides
glattgestrichen hatte, fragte sie, wer heute abend mit Tee trinken
werde? Kaum hatte Ida zögernd, als würde er dadurch entheiligt, den
Namen Martiniz ausgesprochen, so machte sie einige mühselige Entrechats
und küßte Ida die Hand: »Wie danke ich dir für deine Aufmerksamkeit,
daß du mich zu ihm eingeladen hast! Du bemerktest gestern gewiß auch,
wie er mich mit seinen schwarzen Kohlenaugen immer und ewig verfolgte?
Und heute früh, ich habe mich kaum frisieren lassen, war schon mein
guter Graf zu Pferd vor meinem Haus; das macht sich herrlich, so
ein kleiner Liebeshandel ~en passant~. Lache mich nur nicht aus,
Herzenscousinchen, aber du weißt, junge Mädchen wie wir plaudern gern,
und die andern nehmen es nicht so genau, wenn eine eine Eroberung
gemacht hat.«

Ida hatte zwar auch die Kohlenaugen leuchten sehen, aber nicht nach der
alten gelblichen Cousine; sie stand noch neben ihr vor dem Trumeau, sie
warf einen Blick in das helle, klare Glas und überzeugte sich, daß Emil
nicht nach der Cousine geschaut haben könne. Das »mein guter Graf« und
das »wir jungen Mädchen« aus dem Munde der alten schnurrenden Hummel
kam ihr so possierlich vor, daß sie, statt in Eifersucht zu geraten,
des heitersten, fröhlichsten Humors wurde. »O du Glückliche,« sagte
sie boshaft, »wer auch so im Flug Eroberungen machen könnte!« -- »Es
gehört nichts dazu, mein Kind, als Routine, nichts als eine gewisse
Gewandtheit, die man freilich so schnell nicht erlernt; die Gewohnheit,
der Geist muß sie geben. Du bist hübsch, Cousinchen, du bist gut
gewachsen, an Anstand, an schönen gesellschaftlichen Formen fehlt es
dir auch nicht; ehe drei Jährchen ins Land kommen, angelst du Grafen,
als hättest du von Jugend auf gefischt.«

Ida brach, weil sie das Lachen nicht mehr halten konnte, in lauten
Jubel aus: »Das wäre schön, das wäre herrlich, Grafen fangen!« rief
sie, nahm ihre naive Lehrerin unter den Arm und flog mit ihr im
rasenden Schnellwalzer um den Teetisch.

Von Anfang ließ sich die Sorben diese rasche Bewegung gefallen,
obgleich ihr, da sie bei ungemeiner Korpulenz bis zum Ersticken
geschnürt war, der Walzer nicht sehr behagte, aber sie wußte, wenn man
nur erst aufhöre zu tanzen, so werde man gleich unter das alte Eisen
gezählt, und gab sich also alle Mühe, leicht zu tanzen. Als aber das
Teufelskind, dem der Schelm aus Augen, Mund und Wangen hervorsah, immer
rasender walzte, immer rascher im Wirbel tollte, da stöhnte sie: »Ich
kann nicht mehr -- oh -- hö--re auf!« Aber Idchen riß sie noch einmal
herum und ließ sie dann, weil sie das Geräusch der Kommenden hörte,
atemlos und bis zum Tode gepreßt vor der Flügeltüre stehen, die in
diesem Augenblick von zwei Lakaien aufgerissen wurde.


Der Tee.

Martiniz und der Hofrat traten ein. War es Emils hoher kräftiger
Tannenwuchs, war es die ungezwungene Grazie seiner würdigen Haltung,
war es das Geistvolle seines sprechenden Auges, war es der wehmütige
Ernst, der auf diesem schönen Gesichte lag und ihm einen so unendlichen
Liebreiz gab, waren die Träume der Ballnacht wieder aufgestiegen,
um süße Erinnerungen zu flüstern? -- Ida stand versteinert, als sie
den Grafen erblickte. Ach, sie hätte viel darum gegeben, in diesem
Augenblick nicht die Hausfrau machen zu dürfen, sie hätte ganz von
ferne ihn betrachten und selig sein wollen. Hofrat Berner stellte ihn
mit einem vielsagenden Blicke seiner Ida vor; aber diese hätte sich in
diesem wichtigen Moment selbst Schläge geben mögen, so linkisch, meinte
sie, so albern hatte sie sich noch nie benommen. Was mußte er nur von
ihr denken? War sie doch gerade aus der Residenz gekommen, wo ihre
Erziehung nach allen Regeln vollendet worden war, hatte sich in allen
Zirkeln, in den feinsten Salons ohne Aengstlichkeit bewegt, und hier
stand sie errötend, mit niedergeschlagenen Augen, und stammelte recht
kleinstädtisch »von der Ehre, die Seine Exzellenz ihrem Hause erzeige.«

Aber bei dem feinfühlenden Manne, der schon früher ihren Anstand, ihre
Würde, ihre Erhabenheit über jedes Verlegenwerden bewundert hatte,
erhöhte gerade diese süße Verlegenheit den Wert des Mädchens. Mit
unendlicher Gewandtheit wußte er sie aus der peinlichen Verlegenheit
dieser ersten Minuten herauszuführen, in wenigen Augenblicken war sie
wieder das frohe, unbefangen scheinende Mädchen wie früher und konnte
die Albernheit ihrer Cousine beobachten. Diese war, als die Flügeltüre
aufging, dagestanden wie Frau von Lot bei Sodom, als sie in Steinsalz
verwandelt wurde, starr, steif, atemlos, nur die beiden ungeheuren
Fleischmassen ihres aufgepreßten Busens arbeiteten, von dem rasenden
Schnellwalzer in Aufruhr gebracht, noch immer fort. Als ihr Martiniz
vorgestellt wurde, war sie noch nicht zu Atem gekommen, sie ließ also
nur einen Liebesblick auf ihn hinüberspazieren und verneigte sich hin
und wieder. Als sie aber wieder Atem geschöpft hatte, fing sie in ihrer
naiven Manier an zu kichern und erzählte, daß sie für ihr Leben gern
tanze, und daß es ihr und dem kleinen Herzenscousinchen unwiderstehlich
in die Füße gekommen sei. Sie plapperte fort und fort, aber leider
schien ihr nur der Hofrat zuzuhören, denn Martiniz, der neben Ida Platz
genommen hatte, war mit dieser schon in so tiefem Gespräch, daß er auf
das Geschnatter der Dicken nicht hören konnte. Sich so vernachlässigt
zu sehen, konnte das fünfundzwanzigjährige Kind nicht dulden, sie
erhob also ihre Stimme noch lauter und wurde sogar witzig; aber der
Graf, dachte sie, nein, einen so verschämten Anbeter hatte sie noch
nicht gehabt, nicht einmal die Augen wagte er zu ihr aufzuschlagen;
aber der Graf, denken wir, _wie_ konnte sie auch nur verlangen, daß
er zu ihr aufsehe? Hatte er denn jetzt nicht gerade alle Augen nötig,
um die unnachahmliche Grazie zu sehen, mit welcher das Engelskind
Ida ihren Tee machte? Wie appetitlich sah es aus, wenn sie in die
Tassen warmes Wasser strömen ließ, um sie in dem Gümpchen zu reinigen;
wie allerliebst drehte sie den Hahn in der Maschine auf und zu, wie
verbindlich wußte sie die Tasse zu reichen; ach, er hätte sich auch
die Butterbrötchen, den Zucker, den Arrak und alle anderen Bedürfnisse
viel lieber von ihr reichen lassen, als von den fünf reich galonierten
Dienern, die solches umherboten! Mit welchen Augen hing er an ihr, an
allen ihren Bewegungen! Und Ida hätte nicht das pfiffige Mädchen sein
müssen, wenn sie nicht in diesem sprechenden Auge das Gefühl bemerkt
hätte, das für sie in seiner Brust lebte.

Die Gesellschaft war nach und nach größer geworden; der Präsident
hatte einige seiner jungen Assessoren und Räte mitgebracht, einige
junge Damen von Idas Bekanntschaft hatten sich eingefunden, und
die Freilinger mußten sich alle, mit Ausnahme der Sorben, die sich
schrecklich ennuyierte, gestehen, daß sie selten einen so geselligen,
interessanten Abend verlebt hatten. Es kam dies wohl daher, daß der
Präsident, der Hofrat und Idchen alles aufboten, um ihren neuen Gast
zu erheitern; dadurch wurde das Gespräch allgemein und anziehend.
Es ist eine alte Erfahrung, daß der allgemein anerkannte Wert des
Geliebten ihn in den Augen seines Mädchens noch unendlich reizender
macht, ihm noch eine erhabenere Stellung in ihrem Herzen gibt; so
ging es auch Ida. Der Umfang des Wissens, den Martiniz im Gespräch
mit den Männern an den Tag legte, seine interessanten Mitteilungen
von seinem Vaterlande, von den vielen Reisen, die er gemacht hatte,
seine feine Gewandtheit, womit er auch die Damen in das Gespräch zog,
die verbindliche Artigkeit, womit er jeder zuhörte und ihr Urteil
weiter auszuführen und unbemerkt so zu drehen wußte, daß es wie etwas
Bedeutendes klang, sein glänzender, lebhafter Witz, den ihm das immer
rascher fortrollende Gespräch entriß -- dies alles gewann ihm die
Achtung der Männer, riß die Herzen der Damen zu dem glänzenden Fremden
hin.

Und Ida -- sie war ganz weg! Seine Reden hatten allen, seine
Feuerblicke nur ihr gegolten; ihr Herzchen pochte stolz und froh;
wo die Sorben und die anderen Freilingerinnen seinen kühnen Ideen
nicht mehr folgen konnten, da fing für sie erst die rechte Straße an;
sie plauderte, wie ihr das Rosenschnäbelchen gewachsen war, lachte,
scherzte in Witz und Schwank, daß dem Präsidenten vor Freuden das Herz
aufging, wie gebildet, wie gesellschaftlich sein Kind geworden war. Er
nahm sich in seinem Entzücken vor, gleich morgen ein Belobungsschreiben
an Madame la Truiaire zu schreiben, die ihm eine so glänzende Weltdame
mit ungetrübter Unschuld und Natürlichkeit erzogen habe. Die gute
Madame la Truiaire aber hatte _dieses_ Wunder nicht bewirkt; zwar
galt Ida von Sanden in den ersten Häusern der Residenz für eine sehr
feine und anständig erzogene junge Dame; doch war sie dort ernst,
zurückhaltend, so daß, wer sie nicht näher kannte, über ihren Geist
wenig oder gar nicht urteilen konnte; nein, eine andere Lehrmeisterin,
die reine Seligkeit der ersten, erwiderten Liebe hatte sie so
freudig, so selig gemacht, hatte alle Pforten ihres tiefen Herzens
aufgeschlossen und den Reichtum ihres Geistes ans Licht gelockt.

Der Hofrat war ein feiner Menschenkenner; von Anfang, als das Gespräch
noch nicht recht fort wollte, hatte er alles getan, um es ins rechte
Gleis zu bringen. Nachher aber hatte er sich zurückgezogen und nur
beobachtet. Da entging ihm denn nicht, daß der Graf, je länger er
mit dem süßen Zauberkind sprach, je tiefer er ihm in das geistvolle
Veilchenauge sah, je mehr sich vor ihm diese zarte Mädchenhaftigkeit,
dieser reiche Geist, diese hohe Herzensgüte entfaltete, immer
mächtiger zu ihr hingezogen wurde; wie gestern, als er ihm von des
Mädchens gebildetem Geist, seinen stillen Tugenden erzählte, so
verschwand auch jetzt nach und nach die Wehmut aus seinen Zügen; eine
rosige Laune, die diesem Gesicht unendlichen Reiz gab, ging an ihm auf,
er konnte, was der Hofrat bei diesem Unglücklichen nicht für möglich
gehalten hätte, sogar recht herzlich lachen, er konnte -- nein, der
alte Mann war selbst verliebt in ihn, er sah ja vor Seligkeit und Liebe
aus wie ein verklärter Cherub.

Kam übrigens der Graf dem Hofrat wie ein Cherub vor, so sah in ihm die
Sorben den leibhaftigen Satan. Hatte sie sich doch alle erdenkliche
Mühe gegeben, ihm ihre Neigung zu ihm zu zeigen. Hatte sie nicht die
kleinen Kalmückenaugen aufgerissen, daß ihr das Wasser darin aufstieg,
nur um ihm das Feuer zu zeigen, das für ihn strahle; hatte sie nicht
alle naiven Künste aufgeboten, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu
ziehen? Aber jetzt sah sie klar, die kleine unzeitige Kokette, ihre
Cousine, hatte ihr den herrlichen Mann weggeschnappt. Sie warf allen
Haß auf diese; hatte sie sich doch vorhin so kindisch gestellt, als
könnte sie nicht fünfe zählen. Sie selbst, o, sie hätte sich können
auf den Mund schlagen für die Dummheit, ja, sie selbst hatte offenbar
das Mädchen, das eigentlich noch ein Backfisch war, dazu aufgereizt,
den Grafen zu fangen. Wäre sie mit ihrer Anleitung zur Routine
zurückgeblieben, das Kind hätte nie daran gedacht, ihre Augen zu dem
schönen Fremden zu erheben. So dachte die Sorben.

Ihr pomeranzenfarbiger Teint rötete sich vor Zorn, sich so
hintangesetzt zu sehen; hatte ja doch, wenn sie recht darüber
nachdachte, der Graf sogar ihrer gespottet, als sie glaubte, etwas
recht Witziges gesagt zu haben. Es war davon die Rede gewesen, daß
jetzt alles Fräulein heiße, was man sonst wohl auch schlechthin Mamsell
genannt habe. Man sprach her und hin darüber, und um Ida einen Stich
zu geben, die zwar von väterlicher Seite von altem Adel war, aber eine
Bürgerliche zur Mutter gehabt hatte, warf sie die witzige Bemerkung
ein, die Fräulein kämen ihr gerade vor wie die Spitzen. Es heiße alles
Spitzen, und doch sei ein so großer Unterschied zwischen den echten
und unechten, daß jedes Kind die Feinheit der echten von den gröbern
unterscheiden könne. Sie hatte triumphierend über ihr Bonmot im Kreise
umhergesehen, die Antwort des Grafen machte sie aber stutzen. »Sie
haben recht, gnädiges Fräulein,« hatte er gesagt, »und die echten
unterscheiden sich, wenn ich nicht irre, hie und da auch durch ihre
Farbe von den unechten, wenigstens habe ich mir sagen lassen, daß die
ganz echten gelblichbraun aussehen.« Hatte er auf ihre bräunliche
Haut anspielen wollen? Die Herren und namentlich der Hofrat hatten so
höhnisch dabei ausgesehen. Das Betragen des Grafen, der sie über Ida
gänzlich zu ignorieren schien, bestätigte die Meinung. Sie kochte Rache
in ihrer Brust und schwur sich mit den fürchterlichsten Eiden, daß
der Backfisch seine Eroberung nicht weiter fortsetzen solle. Sie war
auch die erste, welche aufstand, und weil es schon ziemlich spät war,
folgten die übrigen. Nein, es war ihr unerträglich. An der Türe noch
mußte sie mit ansehen, wie der Graf, welcher sich auch verabschiedete,
mit seinen Blicken Ida beinahe verzehren wollte. Sie mußte hören,
wie er versprach, recht oft herüberzukommen. Verachtungsvoll wandte
sie ihrer Cousine, die ihre Freundinnen zum Abschied küßte, den
Rücken, stürmte die Treppe hinab und setzte sich, mit der ganzen Welt
zerfallen, in ihren Wagen.

»Herrlicher Mensch, der Martiniz,« sagte der Präsident, als die
Gesellschaft auseinandergegangen war, zu Ida und dem Hofrat, die noch
bei ihm saßen; »scharmanter Mensch! Wie gewandt, wie fein! Schade
nur, daß er sich nicht aufs diplomatische Fach gelegt hat! Wie er
alles so artig zu geben weiß; wie er allem, auch dem Trivialsten, was
unsere Damen sagten, mit einer Engelsgeduld zuhörte und gutmütig ein
glänzendes Mäntelchen umhing, wenn sie etwas Dummes plapperten. Er wäre
eine wahre Zierde des Landes, wenn er sich bei uns ankaufte. Die Gräfin
Aarstein mag ich ihm auch ganz wohl gönnen, möchte übrigens wissen, wie
weit er mit ihr steht.«

Ida, die dem Lob des Geliebten mit niedergeschlagenen Augen und
fliegender Brust zugehört hatte, fühlte bei den letzten Worten nicht
nur einen Stich ins Herz, sondern auch einen leisen Druck auf ihr
Füßchen. Sie merkte gleich, woher dies kam und begegnete dem listigen
Auge des Hofrats, der ihr Trost zuwinkte und den alten Papa über seine
Fehlschüsse auszulachen schien. Ja, es stieg reiner, süßer Trost in ihr
auf. Zwar sie hatte schon von der hohen Verstellungsgabe der Männer
gehört und gelesen; sie wußte das Sprichwort solcher Reisenden: ein
ander Städtchen, ein ander Mädchen. Sie erinnerte sich an die üppigen
Reize der Aarstein, an ihre Verführungskunst, die schon so manches
junge unerfahrene Männerherz betörte, an ihre wichtigen Verbindungen
mit dem Hof, an ihre eigene nicht ganz streng stiftsfähige Geburt.
Aber was wollte sie denn? Sie wollte ja gar nicht an das Glück denken,
Hand in Hand mit diesem Mann durchs Leben zu gehen, sie wollte ja nur
geliebt sein, und daß sie es war, sagte ihr ihr scharfes Auge, ihr
Herz, das jeden Ton der Liebe verstanden hatte. Aber konnte dieses
alles nicht dennoch Verstellung sein? Wer sagte ihr, daß dieser fremde
Mann sie nicht betr--

Nein! betrügen konnte dieses edle, reine Gesicht nicht, die Glut dieser
Augen konnte nicht täuschen. Froh dieser Ueberzeugung, die sie während
dem Auskleiden gewann, hüpfte sie in ihr Schlafzimmer und machte
dort vor dem Spiegel einen komischen Knicks. »Habe die Ehre, mich zu
empfehlen, Frau Exzellenz, Gräfin von Aarstein,« sprach die Mutwillige,
»hier steht eine junge Dame, die sich mit Ihnen in den Kampf um den
schönen Polacken einlassen will, welchen Eure Exzellenz als Sattelpferd
an Ihren Triumphwagen spannen möchten. Ich bin zwar weder so dick, noch
so geschminkt als Sie, aber dennoch wagt es meine Wenigkeit, gegen
Höchstdieselben zu streiten.« Noch einen Knicks, und dann Unterröckchen
und Strümpfchen herunter und mit einem Satz in das weiche Bettchen.
Dort streckte sie das Engelsköpfchen noch einmal aus der Decke hervor,
warf ein Kußhändchen nach dem goldenen Mond hinüber und flüsterte:
»Gute Nacht, mein armer Emil; schlafe sanft und träume süß, träume auch
ein ganz klein wenig von Ida.« Sie schloß selig die Augen und legte
sich zurecht, wollte eben hinüberwandern in das unbekannte Land der
Träume, da schüttelte sie ein jäher Schrecken wieder auf und jagte sie
aus dem Bette. --


Das Ständchen.

Dem Oberleutnant von Schulderoff hatte die Demonstration seiner
gnädigen Frau Mama zu wohl gefallen, als daß er sich durch den
ersten, ziemlich bedeutenden Durchfall, den er überall lieber als vor
Präsidents Haus erlebt hätte, abschrecken ließ.

Im Gegenteil, wenn er recht darüber nachsann, so schien ihm die Sache
eine glücklichere Wendung genommen zu haben, als er dachte. Schon oft
hatte er ja von dem zarten Mitleiden der Mädchen gelesen, und daß aus
Mitleid leicht Liebe werde, hatte er an sich selbst erfahren. Einer
seiner Kameraden hatte einen Hund gehabt, eine prachtvolle englische
Dogge. Dieser war der Fuß abgeführt worden, und wie es mit den
Invaliden zu gehen pflegt, der Herr Bruder wollte Diana dem Schinder
geben. Schulderoff aber bat, von Mitleiden ergriffen, um ihr Leben,
erhielt sie als Geschenk, und jetzt läuft sie auf allen vieren so gut
wie zuvor. Ihr Herr aber liebt sie, wie man nur einen Hund lieben kann,
und das alles aus Mitleiden! So konnte auch _ihr_ Mitleiden bald in
Liebe verwandelt werden. Daß sie aber Mitleiden fühle, war gar keine
Frage. War sie nicht, als er die verdammte Mähre nicht mehr erreichen
konnte, ganz bleich mit dem Kopf zum Fenster hinausgefahren, als wollte
sie durch die Tafelscheiben brechen? Hatte sie nicht seinem Roß mit
einem Jammerblick nachgesehen, der ihm deutlich sagte, daß sie den
innigsten Anteil an seiner Fatalität nehme?

Der erste Coup war solchergestalt unglücklich und dennoch glücklich
ausgefallen; der zweite sollte um so brillanter werden. Mama hatte
auf Nr. 2 im Eroberungsplan die ungemeine Nachtmusik mit den
Regimentstrompetern angegeben, sie hatte ihm noch einmal eingeprägt,
wie er sich dabei zu gebärden habe, und endlich schritt man an das
große Werk.

Schulderoff hatte einige Kameraden, denen auch Rollen von diesem neuen
Don Juan zugeteilt worden waren, in ein Weinhaus geführt, wo sie sich
gütlich taten, bis der entscheidende Moment kam. Je näher es aber
an zwölf Uhr ging, desto besorgter sahen sich die Freunde an, denn
Schulderoff hatte, sie wußten nicht wie, einen kapitalen Hips bekommen,
daß er allerlei tolles Zeug untereinander vorbrachte. Aber die Kälte
draußen konnte ihn schon zur Besinnung bringen, man brach also Schlag
zwölf Uhr auf, rief die Regimentsmusik aus einem Bierhaus, wo sie
sich versammelt hatte, und fort ging es vor des Präsidenten Haus.
Da man voraussetzen konnte, daß Ida schon sanft entschlafen sei, so
wurde zum ersten Stück kein Adagio gewählt, sondern das rauschendste
Fortissimo, das unter den Dragonern _Tagwache_ oder Reveille genannt
wurde, weil die achthundert Dragoner alle Morgen mit diesem Stück aus
ihrem sanften Morgenschlummer trompetet wurden. Zu dieser Reveille
setzten die zwanzig Trompeter ihre Hörner, Posaunen und Trompeten an,
der Stabstrompeter oder, wie er sich lieber nennen ließ, Kapellmeister
winkte, und in rauschendem Geschmetter, als wollten sie den jüngsten
Tag anblasen, tönte die Reveille durch die stille Mitternacht zu dem
einsamen Bettchen Idas und weckte sie aus süßen Träumen. Diese Art von
Attention war ihr so ungewohnt, daß sie von Anfang glaubte, es brenne
irgendwo im Städtchen, als sie aber nachher deutlich einige Walzer
unterschied, so war kein Zweifel mehr, daß es eine Nachtmusik sei, die
ihr gelte.

Es war kalt, sie hüllte sich fröstelnd wieder in ihre seidene Decke und
dachte unter den lockenden Tönen nach, ob wohl Martiniz auf so unzarte
Weise ihr eine Aufmerksamkeit erweisen wolle. Nein, der Unglückliche
mußte ja der Zeit nach jetzt in der Kirche sein; und er, der sich in
allem so zartfühlend, so sinnig bewies, er konnte nicht diese Trompeten
zu Organen wählen, um seine Empfindungen auszudrücken; in Wälzerchen
und Polonäschen, in diesem rauhtönenden Deideldum und Schnirkeldum
konnte Emil seine Liebe nicht ausdrücken.

Jetzt schwieg die Musik, sie hörte Stimmen auf der Straße.

Die Offiziere hatten Schulderoff in den Schein einer Straßenlaterne
an eine Mauer gelehnt. Verabredeterweise fingen sie nach dem dritten
Walzer an: »Herr Bruder! Schulderoff! wo steckst du denn? Ich glaube,
die Liebe hat den armen Kerl ganz voll gemacht!«

»Ach, Kameraden, mir ist so weh, so weh!« stammelte der begeisterte
Liebhaber, dem nur noch ein Teil seiner Rolle beifiel, und zwar gerade
der Teil, welchen er in seiner jetzigen Lage mit großer Wahrheit
spielte. »Blast, blast!« rief er dann, und focht mit den Armen in der
Luft, »blast! O, wären das. die schwedischen Hörner, und ging's von
hier gerad' ins Feld des Todes.«

»Wie der Herr Leutnant befehlen,« antwortete der Stabstrompeter.
»Frisch auf, Nr. 62, die Galoppade!« Und jetzt ging der Tanz von
neuem los, daß alle Hunde in der Nachbarschaft laut wurden und die
Nachbarn sich beklagten, daß man ihre Nachtruhe störe. Ida war kein
Wörtchen des Gesprächs entgangen, und sie schämte sich ordentlich, dem
Herrn von Schulderoff, der ihr gerade nicht von der empfehlendsten
Seite bekannt war, diese Musik zu verdanken. Es schlug ein Uhr, als
die Künstler abzogen, und von Idas Augen war aller Schlaf gewichen.
Sie warf sich hin und her, aber es wollte ihr nicht gelingen, den
mohnbekränzten Gott, den Schulderoff so unzarterweise verscheucht
hatte, zurückzurufen. Sie ging noch einmal die Bilder dieses Abends und
der letzten Tage durch; durfte sie auch mit Recht hoffen, daß sie ihm
nicht gleichgültig --

Der Ball? Es ist wahr, er hatte immer nach ihr gesehen, aber das bewies
nur, daß auch sie immer nach ihm gesehen hatte; konnte ihm nicht ihr
wiederholtes Hinsehen aufgefallen sein, konnte er nicht deswegen so
oft nach ihr gesehen haben? -- Bei dem Souper, ja, da war er hinter
ihr gestanden, hatte, als sie anstießen auf Liebe und Freude, tief
geseufzt; aber durfte sie dies auch auf sich beziehen? Konnte ihn, der
so unglücklich schien, nicht so manches seufzen machen? -- Nachher
bei dem Kotillon, ja, er errötete, als sie ihn zum Tanz aufzog, aber
etwa nur wegen ihr? Nicht weil sie die einzige war, die es wagte, ihn
aufzuziehen? -- Heute abend, als er beim Tee neben ihr gesessen, da
hatte er oft sonderbare Winke ihr zugeflüstert; einmal, als man ihn
fragte, was ihm an der hiesigen Gegend so anziehend sei, hatte er ihre
Hand unter dem Tisch gefaßt, sie gedrückt und ihr zugeflüstert: »Ich
weiß wohl, darf es aber nicht sagen.« Was konnte er damit gemeint
haben? Es war wohl bloße Galanterie gegen sie als Dame des Hauses.

Schelmchen Ida wußte es wohl, was es war, aber sie belog sich selbst,
um immer wieder aufs neue zu zweifeln und zu hoffen. Sie lächelte sich
selbst aus über ihren Zweifel. »Nein, der Hofrat muß mir beichten,«
sagte sie zu sich und klopfte auf die seidene Decke, »der muß beichten;
hat er doch so geheimnisvoll getan, als habe der Graf sein ganzes Herz
gegen ihn ausgeschüttet, da will ich schon erfahren, ob er mich lie--«

Einige rasche, volle Griffe auf einer Gitarre unterbrachen ihr
Selbstgespräch; sie setzte sich im Bettchen auf, sie lauschte; ein
süßes, melancholisches Adagio wurde gespielt; Ida hatte selbst etwas
weniges klimpern gelernt, sie kannte hinlänglich die Schwierigkeit
dieses Instruments, wenn es ohne Begleitung der Stimme oder eines
andern Instruments die Gefühle in wohlgerundeten vollen Sätzen
ausdrücken soll; aber so hatte sie dieses Instrument nie spielen
gehört. Es graute ihr vor diesen fließenden Läufen, wenn sie daran
dachte, wie schwer sie seien, und diese vollen, runden Klänge, diese
melodischen Klagen, die den ärmlichen sechs Saiten entlockt wurden! Wer
konnte nur in Freilingen so hinreißend, so süß spielen? Sie huschte
schnell in die Pantöffelchen, zog die seidene Mantille um und schlich
ans Fenster; sollte Mart--

Ja, weiß Gott! Seine Zimmer waren noch hell erleuchtet, die Gardinen
waren herabgelassen, aber deutlich konnte sie den Schatten eines an den
Fenstern Auf- und Abwandelnden erspähen. Es war Martiniz; und jetzt
gewann sein Spiel erst volle Bedeutung, jetzt verstand sie seine
flüsternden Klagen, seine sehnenden Uebergänge, die süße Melancholie
seiner Mollakkorde. Er schwieg, er stand, sie sah deutlich seinen
Schatten, er stand ihr gegenüber am Fenster. Ein bedeutungsvolles
Vorspiel begann. »O, wenn er auch singen könnte, wie köstlich, wie
wunderschön wäre es!« dachte Ida, hüllte sich tiefer in ihr Mäntelchen
und setzte sich ans Fenster; ihr Herzchen pochte voll Erwartung.
-- Er sang; eine tiefe, volle, klare Männerstimme trug eines jener
polnischen Nationallieder vor, wie sie schon mehrere gehört hatte,
und die jedes fühlende Herz durch ihre Innigkeit, durch ihre sanften
Klagen so tief ansprechen; er sang; sie verstand kein Silbchen von den
polnischen Wörtern, aber dennoch faßte sie den Sinn so gut als irgend
eine polnische Schöne; ach, es waren ja die Töne, die man auf der
ganzen Erde versteht, die Klagen der Liebe, die sich nach dem geliebten
Gegenstand sehnt, die um Erwiderung fleht, die ihren Schmerz in den
flüsternden Tönen der Wehmut ausweint. Tränen stürzten dem liebenden
Mädchen aus den Augen, sie schlich sich zurück zu ihrem einsamen Lager,
Emils Töne begleiteten sie. Die geheimnisvolle Stille der Nacht, das
rätselhafte Leiden des interessanten, unglücklichen Mannes, sein Liebe
atmender Gesang, der ja ihr allein in der schweigenden Mitternacht
galt, dies alles erfüllte sie mit einer nie gekannten Sehnsucht, es war
ein unaussprechliches, aber süßes Gefühl der Wehmut und des Glückes;
ja, sie war geliebt; diese liebewarmen Töne wisperten es ihr in die
Seele, sie war geliebt, wahr und innig, wie auch sie liebte; sie preßte
ihre weichen Händchen auf das lautpochende Herz, auf die entfesselte
Brust, wo es siedete und brannte, als habe das dunkle Feuerauge des
Geliebten das wallende Blut wie dürren Zunder angezündet. Verschämt,
als könne er durch die finstere Nacht, durch ihre dichten Jalousien zu
ihr herübersehen, verhüllte sie das pochende Herzchen, zog die Decke
bis an den Mund herauf, preßte die Aeuglein zu und flüsterte hinüber in
die weichen Töne seiner Laute noch ein herzliches: »Schlaf wohl!«


Die Freilinger.

Die Leute in Freilingen sind wie überall; es vergingen keine acht
Tage, so wußte jedes Kind, daß Präsidents Ida und der reiche Pole
ein Paar seien. Die Freilinger ärgerten sich nur darüber, daß man
ihnen Sand in die Augen streuen wolle; daß die beiden Leutchen
einander vorher schon gekannt hatten, war am Tage; denn wie sollte
Martiniz am gleichen Tag mit ihr ankommen, was sollte er überhaupt in
dem obskuren Freilingen so lange tun, als weil er Ida liebte, die,
Gott weiß durch was für Kunstgriffe, den Goldfisch in ihr Netzchen
gelockt hatte. Papa-Präsident -- nun dem schwefelte man etwas Blaues
vor, daß der Herr Graf doch mit Ehren ins Haus kommen konnte; was
da beim Tee vorging, das wußte freilich jedermann, weil man hie und
da so ein paar Respektspersonen dazu einlud; aber was vormittags im
Zimmer, nachmittags im Garten, abends _nach_ dem Tee vorging, das
wußte niemand; beten werden sie nicht miteinander, sagten die Leute;
da spricht man wohl immer von dem Hofrat Berner, der sei ja hinten und
vorn dabei, daß ja nichts Unrechtes geschehen könne; aber man wußte
ja von früher her, wie er dem Mädchen alle losen Streiche durch die
Finger sah, jetzt wird es nicht viel anders sein, da sie größer ist.
So urteilte die Welt; sie urteilte aber noch weiter: das Mädchen, die
Ida, tut jetzt so jüngferlich und so zimperlich, als wäre sie in der
Residenz eine Vestalin geworden, und vorher war sie wild, ausgelassen,
trotzig; das müßte ja ein Gott sein, der aus einer solchen Hummel ein
reputierliches Mädchen ziehen wollte. Aber in allen Instituten ist man
seit neuerer Zeit viel pfiffiger geworden; da sagt man den Mädchen, ihr
könnt alles tun, aber haltet Maß und treibet es fein; daher kommt es,
daß jetzt lauter Tugendspiegel aus den Instituten kommen. Sonst kamen
sie ein wenig affektiert, ein wenig frei nach französischem Schnitt und
Ton; jetzt weiß man das ganz anders; sittsam, keusch, ehrbar, alles,
was sie sein sollten, sind sie, da fehlt sich's nicht, vollkommen
wenn man es so von der Seite sieht. Kommt aber so ein Pole, so ein
Graf Weißnichtwoher und Baron Nirgendan, so bewahrt man den Schein,
und damit holla! So urteilten die Freilinger von dem edelsten, besten
Mädchen, das in ihren Mauern war; so urteilten sie, und wie das Böse
überall schneller um sich greift als das Gute, so wußte und glaubte
schon nach acht Tagen die ganze Stadt, was ein paar Muhmen bei einer
Tasse Kaffee ausgeheckt hatten. Auch über den harmlosen Martiniz erging
das nämliche Gerücht.

Leute wie die Freilinger können nichts weniger leiden, als wenn
Menschen unter ihnen umherwandeln, von denen sie nicht alles von A bis
Z wissen, woher und wohin, was sie für Pläne haben usw. Kauft einer
nicht ein Pferd oder ein Paar Ochsen oder ein paar Hufen Landes, so
ist er ein unerträglicher Geheimniskrämer, der allein das Vorrecht
haben wolle, daß die Leute nicht wissen sollen, was an ihm ist.
Dieser Pole vollends versündigte sich auf die impertinenteste Art an
Freilingen. Er schien kein Frauenzimmer zu bemerken als Ida; und doch
gab es viele, die ihm ihre Aufmerksamkeit da und dort bezeigt hatten;
er war reich, gab viel Geld aus, und doch konnte niemand sagen, was
er denn eigentlich im Städtchen zu tun habe; schon sein ernstes,
bleiches Gesicht war ihnen wie ein verschlossenes Buch, das sie gar zu
gern durchblättert hätten. Das ist ein Bruder Liederlich, sagten die
einen, man sieht es ihm an der Farbe an; ein Mensch ohne ein Fünkchen
Lebensart, sonst würde er wenigstens seine Tischnachbarn mit seinen
näheren Verhältnissen bekannt machen, würde auch in andere anständige
Zirkel kommen als nur zu Präsidents. So urteilten sie von Martiniz,
zuckten die Achseln, wenn sie von ihm und seinem Verhältnis zu Ida
sprachen; darin waren sie aber alle einverstanden, daß der Präsident
von seinen Verhältnissen doch etwas wissen müsse, denn er lächelte so
geheimnisvoll, wenn man ihn wegen des Fremden anbohrte.

Alt und jung kannte bald den fremden Grafen, und überall kursierte er
unter dem Namen »Der Mann im Mond«, denn sein geisterhaft bleiches
Gesicht, sein Aufenthalt im goldenen Mond hatte dem Volkswitz Anlaß zu
diesem Spottnamen gegeben, und selbst Ida, als sie es erfuhr, nannte
ihn nie anders als den »Mann im Mond«.


Feindliche Minen.

Wie es übrigens zu gehen pflegt, die ärgsten Feinde Idas und des Grafen
ließen sich öffentlich am wenigsten über dies Verhältnis aus; Frau von
Schulderoff und Fräulein von Sorben fühlten sich bis zum Tod beleidigt,
aber sie hielten öffentlich an sich und schwiegen.

Beide hatten sich vorher wenig gesehen, denn sie waren etwas über
den Fuß gespannt; der Leutnant Schulderoff hatte einmal einen ganzen
Winter hindurch dem Fräulein die Cour gemacht; das Verhältnis hatte
sich aber aufgelöst, man wußte nicht wie. Jetzt, da sie in _einem_
Spital krank waren, jetzt näherten sie sich wieder, und obgleich das
Fräulein in ihrem Herzen der Frau von Schulderoff schuld gab, sie habe
den Sohn aus ihren Netzen gezogen, so vergaß sie doch einstweilen
diese Kränkung, um diese neuere besser zu tragen oder zu rächen. Die
Frauen sehen in solchen Sachen feiner und viel weiter als jeder Mann
an ihrer Statt; so hatte die Sorben bald weggehabt, daß das Unglück
des Leutnants vor dem Hause des Präsidenten, von dem die ganze Stadt
sprach, wohl nicht so zufällig sei, als man es erzählte, sie hatte
durch ihre Kundschafter bald weggehabt, daß die Nachtmusik, von den
zwanzig Regimentstrompetern aufgeführt, nicht den Grafen, sondern
Leutnant Schulderoff zum Urheber habe, der, wie die Juden die Mauern
von Jericho, so die Steinwälle und Gußeisentore von Idas Herzen mit
Zinken und Posaunen habe niederblasen wollen.

Dies alles fühlte sie recht gut und kalkulierte, was sie _nicht_
wußte, so richtig zusammen, daß sie über den ganzen Roman des Herrn
von Schulderoff Rechenschaft geben konnte. Die Mama des verunglückten
Liebhabers, der seit der Nachtmusik nur noch spröder behandelt worden
war, mochte sie nun ahnen, daß die Sorben auch ein wenig verletzt sei,
oder mochte sie nur einen gewissen Verwandtschaftsneid zwischen dem
Fräulein und Ida voraussetzen -- sie besuchte von freien Stücken die
Sorben, teilte ihr mit, was sie wußte, und ließ sich mitteilen, was
das Fräulein im stillen erlauscht und erspäht hatte. Uebrigens lebte
auch sie in der festen Ueberzeugung, Martiniz und Ida haben sich schon
lange gekannt, und er sei ihr nach Freilingen nachgefolgt, denn von den
nächtlichen Leiden des unglücklichen Grafen ahnte niemand auch nur ein
Silbchen, so verschwiegen war der Küster des Münsters in dieser Sache.

Unbegreiflich war und blieb es übrigens sowohl der Frau von Schulderoff
als der Sorben, warum der Graf, der doch sein eigener Herr schien,
nicht schon lange bei dem Präsidenten um Idas Hand gefreit habe; sie,
die sich kein anderes Hindernis dachten, sie, die nur einen Grund
sehen wollten, waren einig darüber, daß es dem Grafen entweder nicht
recht Ernst sei, oder daß es sonst irgendwo ein Häkchen haben müsse.
So hatten beide Damen schon seit vielen Nachmittagen und Abenden, die
sie bei Kaffee oder Tee miteinander zubrachten, kalkuliert, und immer
schien es ihnen, sie haben noch nicht das Rechte getroffen; da traf
es sich, daß ein Kammerherr, den Frau von Schulderoff kannte, durch
Freilingen kam und der gnädigen Frau, bei welcher Fräulein Sorben
gerade auf Kaffee war, während man umspannte, einen Besuch machte.

Wessen das Herz voll ist, des geht der Mund über. Der Kammerherr
hatte kaum seine Tagesneuigkeiten vom Hof ausgepackt, als Frau von
Schulderoff auch auf Ida und den Grafen kam und den Kammerherrn fragte,
ob sie wohl schon in der Residenz liiert gewesen seien?

Der Kammerherr horchte hoch auf bei dem Namen des Grafen Martiniz. »Wie
ist mir denn?« sagte er. »Ist das nicht der polnische Graf mit den drei
Milliönchen, der unsere Gräfin Aarstein -- Ja, wahrhaftig! Jetzt fällt
es mir erst ein; in dieser Gegend, sagt man, werde er sich ankaufen,
und darum ist er wohl hier. Nein, meine Gnädigen, mit Fräulein Ida von
Sanden war der Pole in der Residenz nicht liiert, denn er war noch nie
in der Residenz, wird aber dort jeden Tag erwartet; das Verhältnis, das
er hier angeknüpft hat, da können Sie sich auf Ehre darauf verlassen,
ist nur so ~en passant~, weil er vielleicht nichts zu tun hat; nein,
der ist nicht für die Sanden!«

Die beiden Damen warfen sich bedeutende Blicke zu, als sie diese
Nachricht hörten. »Sie sprachen vorhin von der Gräfin Aarstein,« sagte
die Schulderoff, »darf man fragen, wie diese --«

»Die Aarstein will ihn heiraten,« warf der Kammerherr leicht hin, »sie
hat es jetzt genug, die Witwe zu spielen; der Hof wünscht sie wieder
vermählt zu sehen, und zwar soll es, weil der Fürst überdrüssig ist,
ihre enormen Schulden zu bezahlen, etwas Reiches sein. Da kommt wie
ein Engel vom Himmel dieser Pole ins Land, um sich hier anzukaufen;
er ist von seinem Gesandten der Regierung aufs dringendste empfohlen,
denn man macht hauptsächlich wegen seines Oheims, der Minister in
...schen Diensten ist, ein großes Wesen aus ihm; kaum hört die Aarstein
von den drei Millionen und dem alten Oheim, der ihm einmal ebensoviel
hinterläßt, so erklärt sie mit schwärmerischer Liebe (Sie kennen ihr
liebevolles, ahnendes Herz): ›Diesen und keinen andern.‹ Man ist
höheren Orts schon gewöhnt, ihrem Trotzköpfchen nachzugeben; und
diesmal traf es ja überdies ganz herrlich mit allen Plänen zusammen,
kurz, die Sache ist eingeleitet und, soviel ich weiß, schon so gut als
richtig.«

»~Est-il possible, est-il croyable?~« tönte es von dem Mund der
erfreuten Damen; die Sorben traute aber doch nicht so ganz. »Ich kann
Sie versichern,« sagte sie zum Kammerherrn, »Fräulein von Sanden, die
Sie aus der Residenz kennen müssen, ist sehr liiert mit dem Grafen, und
ich fürchte, ich fürchte, die Gräfin kommt nicht zum Ziel!«

»Nicht zum Ziel?« lachte der Kammerherr. »Nicht zum Ziel? Das wäre doch
kurios; man spricht ja in allen Cercles von dieser Verbindung; die
Gräfin nimmt zwar noch keine Gratulationen an, aber ihr Lächeln, mit
dem sie es ablehnt, ist so gut als Bestätigung; und wenn er auch nicht
wollte, er muß sie heiraten, denn er kann doch nicht unsern Hof vor den
Kopf stoßen. Was wird er aber nicht wollen? Bedenken Sie, die Gräfin
ist so gut als anerkannt von unserem Hof, hat unleugbar mehr Gewicht
als alle übrigen zusammen, ist schön, blühend, macht das beste Haus;
er wäre ja ein Narr, wenn er nur den leisesten Gedanken hätte, sie
auszuschlagen. Und Fräulein Ida? Nun, das soll mich doch wundernehmen,
wenn die sich endlich einmal hat erweichen lassen. Unsere Herren in der
Residenz knieten sich die Kniee wund vor diesem Marmorengel; aber alles
soll umsonst gewesen sein, zwar erzählte man sich allerlei von dem
Rittmeister von Sporeneck; sie sollen aber gebrochen haben, weil sie
seine Liaison mit der Aarstein erfuhr. Nun, Glück auf! Wenn der Graf
_die_ zahm gemacht hat, dann paßt er zu der Gräfin; und ich sehe nicht
ein, was dieses Verhältnis schaden könnte; die Gräfin Aarstein wird als
Gemahlin des Polen ihre Liebhaber nebenher auch nicht aufgeben. Doch
was schwatze ich; Ihr Onkel, Fräulein von Sorben, kann Ihnen über diese
Sachen die beste Auskunft geben, denn ich müßte mich sehr irren, wenn
er nicht die Hand dabei im Spiele hat.« Der Reisewagen fuhr vor, der
Kammerherr empfahl sich und ließ die beiden Damen in frohem Staunen und
Verwunderung zurück.

»Arme Ida!« sagte die Sorben spöttisch. »So viel Routine hast du denn
doch noch nicht, daß du Geschmack daran finden könntest, die Nebenbei
des Grafen Martiniz zu spielen. Nein! wie das Dämchen, das also in der
Residenz die Spröde so schön zu spielen wußte, aufschauen wird, wenn
der gute _Mann im Mond_, den sie schon ganz sicher in Ketten und Banden
hat, wenn der Amoroso Bleichwangioso auf einmal morgens verschwunden
ist, am nächsten Posttag aber ein Paket einläuft mit Karten, worauf
_Graf Martiniz mit seiner Gemahlin, verwitweten Gräfin von Aarstein_,
deutlich zu lesen ist.«

»Nicht mit Gold ist sie zu bezahlen, diese Nachricht,« bemerkte die
Schulderoff mit triumphierender Miene, »und um so mehr wird sie sich
ärgern, daß es die Gräfin Aarstein ist, denn diese hat ihr ja, wie Sie
hörten, auch den herzigen Jungen, den Sporeneck, abgespannt --«

»Sie kennen den Sporeneck, gnädige Frau?« fragte die Sorben, und ihr
gelbliches Gesicht schien tief über etwas nachzusinnen.

»Wie meinen Sohn,« versicherte jene; »wie oft war er auf Besuch bei uns
in Schulderoff, als er in Garnison in Tranzow lag! Mich nimmt es nicht
Wunder, wenn er Ida kirre gemacht hat, denn wo lebt ein Mädchen, das
er, wenn er es einmal auszeichnete, nicht für sich gewann!«

»Herrlich, das muß uns dienen,« fuhr das Fräulein fort; sie setzte
auseinander, daß ihr scheine, als habe der Graf doch etwas zu tief
angebissen bei Präsidents und als wolle er vorderhand nicht an die
Gräfin denken; da wolle sie nun ihren Onkel, den geheimen Staatsrat
von Sorben gehörig präparieren, und sie stehe dafür, daß der Graf die
längste Zeit im Mond logiert haben werde. Am besten wäre es, wenn
man die Aarstein selbst in Freilingen haben könnte; doch sei dies
bei dieser Jahreszeit nicht wohl möglich, darum solle auch Frau von
Schulderoff Schritte tun. Sporeneck werde ihr schon die Gefälligkeit
erweisen, auf einige Tage hierherzukommen; seine Sache sei es, den
Grafen recht eifersüchtig zu machen. Habe man diesen nur erst dahin,
daß er nicht so ganz auf die Scheinheiligkeit Idas baue, so sei auch im
übrigen bald geholfen.

Frau von Schulderoff umarmte die Rednerin stürmisch und ergänzte den
Plan vollends -- »und wenn der Graf aus dem Netz ist, wenn man dann
fühlt, daß man sich doch ein wenig sehr prostituiert hat, dann ist auch
mein Leutnant wieder gut genug; aber dann soll er mir sie auch nicht
nehmen, die stolze Prinzessin, als bis der Herr Papa Präsident mit
seinen Friedrichsdors herausrückt und unsern Schulderoff wieder flott
macht; um die zimperliche Schwiegertochter bekümmere ich mich dann
nicht _so_ viel; die mag sehen, wie sie mit meinem Monsieur Tunichtgut
auskommt.«

Der Traktat, der noch einige geheime Artikel enthielt, war gemacht
und beschworen. Schon nach zwei Stunden ging eine Depesche von
Fräulein von Sorben an ihren Onkel in die Residenz ab, worin mit
bewunderungswürdiger Klarheit dargetan war, wie die Tochter des
Präsidenten einen jungen Polen in ihre Netze zu ziehen suche, daß
man schon von einer Heirat zwischen beiden spreche, und daß sie nur
bedaure, daß dadurch der Residenz ein glänzendes Haus entzogen werde,
denn Ida scheine darauf zu bestehen, daß der polnische Graf sich in
Freilingen niederlasse.

Der Brief, das wußte sie, konnte seine Wirkung nicht verfehlen.
Wenn auch der Oheim Geheimrat nicht daran gedacht hätte, bei der
eingeleiteten Heirat zwischen Martiniz und der Gräfin Aarstein seine
Hand im Spiel zu haben, so hätte ihn doch der letzte Punkt des Briefes
dazu vermocht, alles aufzubieten, um die Niederlassung des Grafen in
Freilingen zu hintertreiben. Der Gedanke, daß ein großes Haus mehr
in die Residenz kommen könnte, war begeisternd für ihn. Unter allen
Sterblichen schätzte er die am höchsten, welche Häuser machten;
darunter verstand er freilich nicht Zimmerleute oder Maurer, sondern
die, welche ihm Schildkrötensuppen, fette Austern, feine Ragouts, gute
fremde Weine vorsetzten, die, welche regelmäßig einmal in der Woche
des Abends Türen und Tore öffneten, um frohe Gäste bei sich zu sehen,
hohe Spiele arrangierten, köstliche Bälle zu geben wußten. Solche
Häusermacher liebte der alte Sorben, denn er war ein altes Weltkind
und ein feiner Schmecker aller Delicen, sie mochten tot oder lebendig,
vier- oder zweifüßig sein, mochten dem Gaumen oder der Nase, dem Ohre,
dem Auge oder dem Tastsinne schmeicheln -- er war ein Kenner, und daher
mußte es in seinen Wünschen liegen, ein Dreimillionen-Gräfchen in die
Residenz zu bekommen.

So hatte ihn seine gewandte Nichte, ohne daß er es merkte, bei allen
fünf Sinnen zumal, nur durch ein paar kleine Worte gefaßt, und sie
durfte überzeugt sein, er fange Feuer.

Aus dem freiherrlich Schulderoffschen Palais, das für jetzt, in
Ermangelung eines besseren, nur aus einigen Mansardenstübchen bestand,
lief ein Brief ab, der keinen geringeren Hagelslärm, kein schwächeres
Hallo in der Residenz machen sollte als die zwanzig Trompeter
letzthin, als sie die Reveille vor Idas Fenster bliesen. Er war an Se.
freiherrliche Gnaden, den Herrn Rittmeister von Sporeneck, bei Husaren
Nr. 3, überschrieben und lautete wie folgt:


            »Freilingen, 11. Dez. 1825.

        »Herr Bruder!

    In meiner Garnison dahier geht es eigentlich noch immer
    so ledern zu wie vordem. Das halbe Dutzend Reitpeitschen
    habe ich erhalten und sende hier den Betrag. Sie sind recht
    schwank und sehen flott genug aus. Den Säbel erwarte ich noch
    bestimmt vor Neujahr; vergiß nicht, daß der Korb, wie bei den
    badischen Dragonern, doppelt sei. Dahier hat sich vor kurzem
    auch etwas zugetragen, was Dich, Herr Bruder, vielleicht
    auch interessiert; die junge Sanden ist mit einem Galan hier
    angekommen, der ihr jetzt täglich und stündlich die Cour
    schneidet. Begreife übrigens nicht, wie sie dazu kommt, da man
    hier allgemein sagt, sie habe _Dich_ sehr schnöde abgewiesen.
    Auf Ehre, Herr Bruder! Es tut mir leid, aber ein Kerl wie Du,
    der seine vierundzwanzig Liebschaften des Monats hat, sollte
    nicht so von sich sprechen lassen. Solltest Du wegen dieser
    Affaire, was ich fürs beste hielte, selbst einige Wörtchen
    entweder mit dem neuen Courtisan oder mit dem Fräulein selbst
    sprechen wollen, so steht Dir mein Logis zu Dienst. Der junge
    Herr ist ein Pole, Graf von Martiniz, soll schwer Geld haben
    und scheint meines Erachtens der angeführte Teil, denn sie hat
    ihn in der Kuppel, daß er weder links noch rechts kann. Lebe
    wohl und grüße alle Kameraden bei Nr. 1, 2 und 3; ich verbleibe
    in Bruderliebe

            Dein
            _Franz v. Schulderoff_,
            Leutnant bei Königin-Dragoner.«

Dies war das Schreiben, womit die Frau von Schulderoff den Rachegeist
für Ida beschwor. Noch war des guten, unschuldigen Kindes Himmel rein
und heiter, aber indem es in das reine Blau des Aethers hineinsah und
sich dessen freute, zog Wolke um Wolke am Horizont auf und drohte, ihr
stilles Glück zu suchen und zu zerschmettern.


Geheime Liebe.

Aber so gewiß die Freilinger alles zu wissen glaubten, so wußten sie
doch nichts. Es ist eine eigene Sache um die Liebe, besonders um die
erste; es gehen so zwei Menschen nebeneinander hin, still vergnügt,
still selig; sie sehen aus wie Kinder, denen etwas recht Hübsches
träumt, und einem andern käme es grausam vor, sie aufzuwecken. Sie
gehen nebeneinander hin, sprechen von den gleichgültigsten Dingen und
denken an das, was ihr Herz erfüllt, sie wagen es nicht auszusprechen,
und doch verstehen sie sich so gut durch die Augen, denn sie tragen den
Schlüssel zu dieser Zeichensprache nebst Wörterbuch und Formlehre in
ihrem treuen Herzen. So war es auch bei Martiniz und Ida. Sie wußten,
daß sie sich liebten, aber noch hatte der Graf nie deutlich darüber
gesprochen, noch hatte ihm Ida keine Gelegenheit gegeben, sich zu
erklären.

Der Hofrat Berner sah diesem allem halb freudig, halb unmutig zu. Er
liebte die beiden guten Leutchen, als wären es seine eigenen Kinder,
darum hätte er ihnen auch alles Gute und Liebe gegönnt, ebendarum
konnte er aber dieses verschämte Treiben nicht leiden. Er war so
halb und halb des Grafen Vertrauter, denn dieser hatte ihm ja alle
Tage von des Mädchens Schönheit, seinem Reichtum an stillen Tugenden
vorgeschwatzt, hatte ihm gestanden, daß er glaube, Ida sei ihm gut,
aber dabei blieb es auch, und Berner war zu zart, bei dem Grafen den
Kuppler zu spielen. Auch Idas Vertrauter war er; er kannte ja ihr
Herzchen beinahe, seit es schlug, er wußte jede Schattierung in ihren
Liebessternen zu deuten, er sah ganz deutlich den Schelm mit Pfeil und
Bogen in ihren klaren Pupillen, und doch wollte auch sie nicht recht
voran; doch konnte er es ihr, als einem Mädchen, weniger übelnehmen,
als ihm.

»Nein! wer mir je so etwas gesagt hätte,« dachte er, »dem hätte
ich mit Fug und Recht unter die Nase gelacht; ein polnischer
Garde-Ulanenrittmeister, mit dem Rang eines Oberstleutnants in der
Linie, und wagt nicht einmal, ein Mädchenherz, das ihm gewogen ist,
anzugreifen.« Er hätte mögen aus der Haut fahren, wenn er daran dachte,
wie man zu seiner Zeit gelebt und geliebt habe, und wie die Welt in den
letzten Jahrzehnten sich so ändern konnte. Aber wie, wenn Martiniz aus
Gewissenh-- ja, das war nicht unmöglich, es konnte Gewissenhaftigkeit
sein, daß er sich nicht erklärte; befand er sich, der unglückliche
junge Mann, ja doch immer noch in demselben Zustand, wie er hier
angekommen war.

Der Küster, der jetzt regelmäßig nachmittags sein Däpschen hatte, ohne
daß seine Frau begreifen und ergründen konnte, wo er das Geld dazu
herbringe, der Küster hatte dem Hofrat alle Morgen referiert, wie es
in der Nacht zuvor mit dem Grafen in der Kirche gegangen sei; er hörte
zwar, daß er seit neuerer Zeit weniger stark wüte, daß er aber desto
mehr weine und jammere. Es war ein eigenes Ding mit diesem Zustand;
es war kein Zweifel, daß der Graf jede Nacht um dieselbe Stunde davon
befallen werde, und doch sah man ihm den Tag über keine Spur von
Wahnsinn an; nur seine zarte Blässe, das Wehmütige, das noch immer in
seinem Wesen vorherrschte, konnte darauf hindeuten, daß er körperlich
oder geistig angegriffen sei.

Seinen Entschluß, den alten Brktzwisl um die Krankheit seines Herrn zu
fragen, hatte der Hofrat noch immer nicht ausrichten können; je näher
er den jungen Mann kennen lernte, je mehr Achtung er täglich vor
seinem gediegenen Charakter, vor seinem ausgebreiteten Wissen bekam,
desto unzarter schien es ihm, auf diesem Wege in seine Geheimnisse
eindringen zu wollen.

Aber unablässig verfolgte ihn der Gedanke, daß er vielleicht, wenn er
das Nähere über des Grafen Krankheit wüßte, helfen könnte. So saß er
eines Morgens in seinem Zimmer, dem man die Junggesellenwirtschaft wohl
ansah; der Küster hatte im Vorbeigehen zum Schnapshaus ein wenig bei
ihm eingesprochen und erzählt, gestern nacht sei der fremde Herr so
zahm gewesen wie ein Lamm, aber geweint habe er wieder, daß ein Töpfer
die Hände darunter hätte waschen können. Er sann hin und her, wie man
dem Geheimnis beikommen könnte: da klopfte es bescheiden an der Türe,
und der alte Brktzwisl trat zu ihm ins Zimmer.

Der Hofrat konnte den alten Diener wohl leiden; er schien so fest an
seinem jungen Herrn zu hängen, schien so väterlich für ihn besorgt
zu sein, daß man sah, er müsse ihn schon seit Kindesbeinen gekannt
und gepflegt haben; recht erwünscht kam er daher gerade in diesem
Augenblick, wo Berner so ganz mit Gedanken an seinen Herrn erfüllt war.
Der Alte war anfangs ein wenig in Verlegenheit, was er sagen solle,
denn daß er nicht aus Auftrag des Grafen komme, hatte Berner gleich
weggehabt. Nachdem er sich in allen Ecken sorgfältig umgesehen hatte,
ob nicht sonst wer im Zimmer sei, trat er näher:

»Mit Excüse, Herr Hofrat,« sagte er, »nehmen Sie es einem alten
Dienstboten, der es gut mit seiner Herrschaft meint, nicht ungnädig,
wenn er ein Wörtchen im Vertrauen sprechen möchte.«

»Wenn es keine Klagen über deinen Herrn sind, so rede immerhin frisch
von der Leber weg,« sagte Berner.

»Klagen! Jesus Maria, wie käme ich bei unserm jungen Herrn zu Klagen!
habe ich ihn doch auf den Händen getragen, als er's Vaterunser noch
nicht kannte, und ihm gedient bis auf den heutigen Tag, und er hat
mir noch kein unschönes Wort gegeben, so wahr Gott lebt, Herr, und
das sind jetzt fünfundzwanzig Jahre. Nein, aber sonst etwas hätte ich
anzubringen, wenn es der Herr Hofrat nicht ungnädig nehmen wollen.
Ich weiß, Sie sind meines Herrn bester Freund in hiesiger Stadt, ja,
ich darf sagen, im ganzen Land hier, und mein Herr hat mir dies nicht
nur zehnmal versichert; ich weiß auch vom Küster, daß Sie schon seit
dem ersten Tag unseres Hierseins etwas wissen, das Sie keiner Seele
wiedergesagt haben, was Ihnen Gott lohnen wolle --«

»Nun ja,« unterbrach ihn der Hofrat, »und du willst mir erzählen, wie
dein Herr in diesen unglücklichen Zustand kam, daß er alle Nacht von
einer Art von Wahnsinn befallen wird, willst mich fragen, ob ich nicht
etwa helfen könne?«

»Ja, das wollte ich,« fuhr jener fort, »aber eine Art von Wahnsinn
nennen Sie das; ich versichere Sie, es ist ein Wahnsinn von so echter
Art, wie man sie nur im Tollhaus finden kann; aber ich will erzählen,
wie er dazu kam.«


Emils Kummer.

»Mein Herr war nicht von jeher so, wie Sie ihn jetzt sehen; jetzt ist
er bleich, still, finster, spricht wenig und lacht nie, geht langsam
seine Straße, und wenn er allein ist, so weint er. Ach! Sie hätten
ihn sehen sollen, als noch die gnädige Frau Gräfin und die Fräulein
Schwester lebten. Keinen frischeren, kräftigeren jungen Herrn gab es
in ganz Polen nicht mehr; das sprang, ritt, tanzte, focht, liebte und
lebte, lachte und tollte, wie man nur in der Jugend sein kann. Keinen
schmuckeren Offizier habe ich mein Tage nicht gesehen, und es traten
mir immer Tränen in die Augen, wenn er wie ein Hauptmann aus den
himmlischen Heerscharen an der Spitze seiner Schwadron zur Parade zog,
wenn die Trompeter an unserm Hotel aufbliesen, die Ulanen ihre Fähnlein
senkten, und der junge Graf zu seiner Fräulein Schwester herauflächelte
wie verklärt, und seinen Tigerschimmel dazu tanzen ließ.

Das ging nun so seinen guten Gang, bis der Teufel den Herrn Vetter
Antonio nach Warschau führte. Das war ein Schwestersohn von der Frau
Gräfin Exzellenz, ein schöner schmucker Italiener mit braunroten
Wangen, blitzenden Augen, und wenn er sprach, glaubte man, er singe.
Der war eigentlich nur so weit herausgekommen aus seinem schönen
Land, um die Familie seiner Frau Mutter zu besuchen, aber ehe man
sich's versah, nahm er Dienste bei uns und blieb, denn er sagte, es
gefalle ihm nirgends so wie in Polen; muß auch so gewesen sein, denn
wie sich nachher zeigte, er war zum Sterben verliebt in des Grafen
Schwester, die junge Gräfin Kreszenz. Im Hause hatte ihn jedermann
lieb, absonderlich aber der junge Graf, mein Herr, war ihm mit
übermenschlicher Freundschaft zugetan und tat ihm alles, was er ihm nur
an den Augen absehen konnte.

Das ging nun lange Zeit gut: kein Mensch merkte, daß Herr Baron Antonio
die junge Gräfin liebte; denn diese hatte viele Liebhaber, welche
großes Geräusch und Aufsehen machten; der Italiener aber trieb seine
Sache im stillen und kam wohl bälder ans Ziel als die andern; denn
er hatte, ich stand dabei, eines Tages einen schönen Brillantring am
Finger, der auch mir bekannt vorkam. Plötzlich faßte Graf Emil seine
Hand und fragte: ›Wo hast du den Ring her?‹ Er aber sagte lächelnd und
ganz gelassen: ›Von deiner Schwester.‹ Nun wußte ich, was die Stunde
geschlagen hatte; der Graf sah ihn mit einem sonderbaren Blick an, gab
ihm die Hand und sprach: ›Ich habe nichts dagegen, nur sei ihr treu.‹
Es verging wieder ungefähr ein Vierteljahr, da kam mein Herr auf einmal
nach Hause, wie ich ihn noch nie gesehen hatte; seine Augen rollten und
blitzten schrecklich, zweimal schnallte er den Säbel um, und ebenso
oft warf er ihn wieder hin. Ich fragte, was ihm wäre, aber er gab mir
gar keine Antwort, was er sonst nie getan hatte. Ich habe nachher den
ganzen Handel erfahren und darf ihn wohl erzählen. Der Graf war an
jenem Nachmittag in ein Kaffeehaus gekommen, da kam ein Offizier zu
ihm, nahm ihn auf die Seite, zeigte ihm einen Ring und fragte, ob er
ihn wohl kenne. Der Graf besah ihn genau und erkannte, daß es derselbe
Ring sei, den seine Schwester dem Marchese geschenkt. Er äußerte dies
aber nicht gegen den Offizier, sondern fragte nur, woher er den Ring
habe. Der Offizier sagte ihm, daß er diesen Ring an Personen gesehen
habe, die den Grafen Martiniz nahe angingen, er sei daher gekommen,
um ihm freundschaftlich zu sagen, daß er diesen Ring auf eine Stunde
von Madame Trizka entlehnt habe, die ihn von einem Italiener, seinem
Vetter, zum Präsent bekommen zu haben behaupte.

Madame Trizka aber war die berüchtigtste Courtisane der Stadt und um
Geld zu haben. Der Herr Graf fragte den Offizier auf sein Ehrenwort, ob
alles sich so verhalte, und nahm ihn auf seine Versicherung sogleich
zum Sekundanten an. Er schickte ihn mit dem Ring an seinen Vetter und
ließ ihn fragen, ob die Trizka denselben von ihm bekommen habe. Der
Italiener antwortete mit einem kalten, einfachen Ja, das meinen Herrn
nur noch wütender machte. Seiner Fräulein Schwester mochte er das
Herzeleid nicht antun, ihr etwas von diesem Bubenstück zu sagen, und
beschloß daher, den treulosen Vetter so bald als möglich aus der Welt
zu schaffen.

In einem Garten der Krakauer Vorstadt schossen sie sich gleich
den Morgen darauf. Mein Herr wurde an der rechten Schulter leicht
gestreift. Er aber, der eine sichere Hand hatte und einen Rubel auf
dreißig Schritte traf, schoß den Marchese durch die Brust, daß er
keine Ader mehr zuckte. Man brachte beide in die Stadt und machte mit
dem Italiener noch einige Versuche, ihn wieder zum Leben zu bringen,
aber alles vergeblich. Es war zwar noch Leben in ihm, aber er lag ohne
Besinnung, und die Aerzte gaben gar keine Hoffnung.

Mein Herr, der den Herrn Vetter trotz seiner Schlechtigkeit dennoch
beweinte, war so um ihn besorgt, daß er sogar nicht auf seine Rettung
bedacht war, sondern sich an das Sterbebett des Vetters bringen ließ.
Dieser lag immer ohne Besinnung und, wie es schien, ohne Rettung. Mein
Herr saß bis tief in die Nacht bei ihm, am Ende gegen zwölf Uhr hin in
der Nacht war niemand mehr zugegen als er, zwei Freunde, der Wundarzt
und ich. Mit dem Schlag zwölf Uhr aber schlug der Italiener seine
greulichen, dunkeln Augen auf. Er richtete sich in die Höhe und sah
sich im Zimmer um.

Uns alle wandelte ein Grauen an, denn man konnte glauben, er sei
schon gestorben, so gestanden und gläsern war sein Blick. Endlich
sah er meinen Herrn, wütend riß er seine blutigen Binden von der
durchschossenen Brust, daß das Blut herausströmte. ›~Maledetto
diabolo!~‹ brüllte er und warf dem Grafen die Binden an den Kopf, sank
zurück auf die Kissen, und als wir hineilten, um ihn zu unterstützen,
hatte er seinen wilden Geist schon aufgegeben.

Mein Herr aber war bei dem schrecklichen Fluch des Toten in Ohnmacht
gesunken. Er fiel in eine lange Krankheit, aus der er so unglücklich
wiedererstand, wie Sie ihn jetzt sehen. Als er aber aus seinem
Wahnsinnfieber, in welchem er drei Wochen gelegen, wieder aufwachte,
da ging erst der Jammer von neuem an, denn während der Krankheit war
er vollends ganz zur Waise geworden. Die junge Gräfin war ein paar
Tage nach dem traurigen Vorfall plötzlich gestorben. Man sagt arge
Sachen in Warschau, von Gift und dergleichen, die aber ein alter Diener
nicht glauben darf. Die Frau Gräfin Mutter, die immer gesiecht hatte,
überlebte sie wenige Tage, dann trug man auch sie zu Grabe.

Der junge Herr vernahm dies alles mit großer Fassung, als man ihm aber
einen Brief seiner Schwester brachte, da kam er außer sich, so daß wir
fürchteten, er komme wieder vom Verstand.

Ich vermute, der Italiener war doch nicht so schuldig, als wir alle
glaubten, denn der Graf ließ sich auf sein Grab führen, weinte dort
lange und rief mit flehender Stimme in die Erde hinein um Vergebung.
Als ich in der nächsten Nacht neben dem Zimmer des Herrn zum erstenmal
seit langer Zeit ruhig schlief, weckte mich ein schreckliches Geschrei
-- es kam aus seinem Zimmer -- ich eilte hinein und sah ihn in
Schrecken und Wahnsinn, denn er glaubte, der Italiener sei in seinem
blutigen Hemde zu ihm gekommen, habe die Binden abgerissen, sie ihm an
den Kopf geworfen und sein ~Maledetto diabolo~ dazu geschrien. Mit dem
Schlag ein Uhr hörte auch sein Wahnsinn auf. Aber seitdem kehrte er
jede Nacht wieder. Er bekam wegen des Duells Begnadigung, mußte aber
auf einige Zeit sich außer Landes begeben.

Diese Weisung kam erwünscht, denn die Aerzte rieten zur Zerstreuung
durch eine Reise. Ach! wir fahren jetzt seit einem Jahr durch ganz
Europa, und dennoch kehrt sein Zustand jede Nacht wieder. Ich glaube
nicht an Gespenster, Herr, aber oft ist es mir doch auch, als habe
mein Herr recht und der selige Herr Antonio folge uns auf den Fersen.
In Rom, wohin wir auf unserer Irrfahrt kamen, entwischte er mir in
seinem Anfall und lief in eine Kirche; wie es nun sein mag, von da an
behauptet er, der Spuk könne nicht zu ihm herein, wenn er am Altar
sitze.

Wer war froher als ich über dieses Auskunftsmittel? Aber auch nicht
jede Kirche war ihm recht, bald ist sie zu groß, bald zu klein, wie es
so mit kranken Leuten geht. Hier geht es nun unbegreiflich gut. Die
Kirche behagt ihm wie beinahe keine, und seit acht oder zehn Tagen hat
er gar nicht mehr gewütet, sondern nur geweint.«

Der alte Diener hatte, oft unterbrochen von dem Hofrat, seine Erzählung
beendigt. Berner konnte kaum seine Rührung zurückhalten. Es wollte
ihm das Herz abdrücken, daß ein Mensch, so schön, mit allen Gaben des
Glückes so reichlich versehen, mit _einem_ Schlage in so namenloses
Unglück stürzen sollte. Er war voll Eifer zu helfen, aber welchen Weg
konnte man einschlagen, um dem Grafen seinen schrecklichen Wahn zu
benehmen? Waren nicht gewiß alle Mittel schon versucht worden, ihn zu
heilen? Er fragte den Alten, wozu er ihm behilflich sein könnte bei
dieser Sache.

Der alte Brktzwisl lächelte geheimnisvoll vor sich hin und begann dann:
»Wenn ich recht gesehen habe, so ist mein Herr auf dem besten Wege zur
Heilung, und der Herr Hofrat können als Arzt dabei dienen. Vor allem
muß ich um Verzeihung bitten, wenn ich etwa nicht recht gesehen hätte.
Einem alten Diener, der nur für das Wohl seines Herrn besorgt ist,
kann man ja schon etwas zugut halten. Der Herr Onkel des Grafen, ein
steinreicher Mann, der jetzt auch das Vermögen des Grafen verwaltet,
hatte mich mit reichlichen Mitteln versehen, daß ich jeden berühmten
Arzt um Rat fragen konnte. Ueberall, wohin wir kamen und uns auch nur
zwei Tage aufhielten, befragte ich gleich die Aerzte; die einen wollten
dies, die andern jenes, was man schon oft probiert hatte, die meisten
aber rieten Reisen und Zerstreuung.

In einer kleinen deutschen Stadt, wo ich gar keinen Arzt gesucht hätte,
traf ich durch Zufall einen in unserm Wirtshaus. Es war ein kleiner
alter Mann mit einem klugen Gesicht, das mir sogleich Vertrauen zu
ihm einflößte. Er gab nicht gleich eine Antwort, sondern betrachtete
den Kranken in seinem Zustand, aber von ihm ungesehen. Den andern Tag
sagte er zu mir: ›Höre, Alter! Dein Herr ist unheilbar, wenn ihn nicht
Liebe heilt; und zwar recht innige, warme Liebe zu einem Mädchen,
das sie erwidert. Hat ihn erst einmal eine recht gefaßt, so ist es
unzweifelhaft, daß sein Wahnsinn sich zerstreut und nach und nach
vergeht.‹

Diese Nachricht war mir nun von Anfang ein Donnerschlag, denn ich
wußte, wie wenig er sich aus den Frauenzimmern macht. Wenn er durch
Liebe geheilt werden soll und durch nichts anderes, so ist er verloren,
dachte ich. Denn wo soll er sich verlieben? Er ging an keinen Ort,
wo schöne Mädchen waren, in keiner Stadt wollte er über einen oder
zwei Tage bleiben. Kurz, dieser Rat brachte mich erst recht zur
Verzweiflung. Aber dennoch schrieb ich es treulich dem alten Herrn
Onkel.

Diesem aber leuchtete das Ding ein. Er schrieb mir, er wolle seinem
Neffen eine recht gute Partie suchen, und wir sollen einstweilen
hierher ins --sche gehen.

Hier in Freilingen geschah nun, was ich für meine Seele nicht für
möglich gehalten hätte. Er blieb vor vierzehn Tagen bis nach elf Uhr
auf dem Ball, daß ich ihn sogar abrufen mußte; nach der Kirche geht er
wieder auf den Ball, was er in einem Jahr nie getan, und kommt ganz
still selig nach Haus. Gleich den andern Morgen läßt er mich das Logis
im goldenen Mond auf vier Wochen bestellen, ich glaubte, mir solle
Hören und Sehen vergehen; er merkte auch, daß ich mich so verwunderte,
und gab vor, daß ihm die Kirche so wohl gefallen habe. Aber wie ich aus
unserem mittleren Zimmer einmal hinausschaue, werde ich in dem Haus
drüben einen Engel gewahr, der so holdselig herüberlächelte, daß mir
altem Kerl ganz warm ums Herz wurde. Da ging mir denn ein Licht auf!
Schon auf der Herreise hatten wir dieses Fräulein gesehen; auf dem Ball
war sie auch gewesen, und tagelang schaute jetzt mein Herr hinter dem
Vorhang nach dem Fenster im Haus gegenüber.

Und das ist niemand als die wunderschöne Fräulein Ida. Meinen Sie, mein
Herr sei früher in Gesellschaft gegangen? Zu keiner Seele, obgleich ich
für jede Stadt eine Handvoll Empfehlungsbriefe hatte; aber ich will
die Tasse Tee mit Löffel und Stiel aufessen, die er seit einem Jahr in
Gesellschaft getrunken hat, und seit er ins Haus hinüberkommt, geht er
alle Abende, die Gott gibt, zum Tee hinüber.

Seit der Zeit läßt aber auch sein Zustand mehr und mehr nach, er raset
gar nicht mehr; er richtet sich nicht mehr auf; er bleibt ruhig am
Altar sitzen und weint aber nur desto mehr. Ich hatte eine Freude, als
ich dies bemerkte, daß ich dem alten Doktor auf der Stelle mein Hab und
Gut geschenkt hätte, dem Engelsfräulein aber, das dies Wunder bewirkte,
möchte ich, so oft ich sie sehe, vor purer Freude zu Füßen fallen.

Wenn es nun Gottes Wille wäre, daß das Fräulein meinen Herrn liebte,
ach, da wäre ihm geholfen, so gewiß ich selig werden will! Und wenn sie
nicht schon einen andern hat, der kann ihr ja doch gewiß recht sein.
Lassen Sie ihn nur wieder einmal zu roten Wangen kommen, lassen Sie ihn
nur ein wenig lächeln wie früher, lassen Sie ihn erst einmal wieder in
die Uniform schlüpfen statt des schwarzen Zeuges, das er anhat -- da
muß er ja einem Mädel gefallen, und wenn sie einen Marbelstein in der
Brust hätte statt eines Herzens. Ueber das Vermögen will ich gar nichts
sagen; sehen Sie, da ist das herrlich eingerichtete Hotel in Warschau,
da sind die Güter Ratitzka, Martinizow, da ist Flazizhof, da --«

»Laß gut sein, Alter,« bat der Hofrat, »mit einem davon könnten wir
samt und sonders zufrieden sein. Was deinen Herrn betrifft, so glaube
ich selbst, daß er das Fräulein gerne sieht; wie das Fräulein über ihn
denkt, weiß ich nicht so genau, doch kann sie ihn nicht übel leiden.
Das Ding muß sich übrigens bald geben, glaube mir. Hat dein Herr das
Fräulein recht von Herzen lieb, so soll er, merke wohl auf, so soll er
es ihr sagen; ich meine, ich könnte dafür stehen, daß sie nicht nein
sagt.«

Der alte Brktzwisl war außer sich vor Freude, als er dies hörte.
»Nun, das muß wahr sein, wenn sich vernünftige Menschen miteinander
besprechen, gibt es ein Stück; mein Herr soll dran, soll Hochzeit haben
und wieder fröhlich sein, und der alte Brktzwisl will kuppeln, und all
sein vierzigjähriges Dienen soll umsonst sein, wenn er nicht, ehe acht
Tage ins Land kommen, den Herrn Grafen auf der rechten Fährte hat.«

»Aber meinst du auch, du verdienst dir beim alten Onkel Dank, wenn du
den Herrn Neveu verheiratest? Das Fräulein ist eigentlich doch keine
rechte Partie für einen polnischen Grafen --«

»Wird ihm wohl an ein paar hunderttausend Taler mehr liegen als an
der gesunden Vernunft seines Brudersohnes? Nein, der alte Graf ist
ein räsonnabler, nobler Herr, der nicht auf solche Sachen viel sieht.
›Mache mir meinen Emil gesund,‹ hat er zu mir gesagt, als wir abfuhren,
›bringe ihn vernünftig zurück ~à tout prix~.‹ Da darf man ja wohl auch
eine Heirat dazu rechnen! Und überdies bekümmern wir uns eigentlich
nicht sehr viel um den alten Herrn; der junge Graf ist eigentlich
sein eigener Herr, und der Onkel hat ihm nicht so viel zu gestatten
oder zu verbieten. Doch besser bleibt besser, und daß der Alte mit
Freuden seinen Segen gibt, dafür stehe ich; ach, wenn er nur das liebe
Engelskind selbst sehen könnte!« Dem alten Mann schien der Mund zu
wässern; er bat den Hofrat noch einmal, recht zu sorgen, und ging.


Der selige Berner.

Als Brktzwisl fort war, schlug der Hofrat ein Schnippchen nach dem
andern in die Luft. Er hatte sich ja seine Herzensfreude vor dem
klugen Alten nicht merken lassen dürfen, und doch hätte er dem alten,
verwitterten Polacken um den Hals fallen mögen, so recht ins Schwarze
seiner Seele hatte er mit seinem Plänchen getroffen. »Ein kapitaler
Kerl, der Brktzwisl,« dachte der Hofrat, »ohne den wären wir doch
samt unserer stillen Liebe und unseren geheimen Plänchen ganz und
gar den Katzen. Beim alten Oheim scheint er einen Stein im Brett zu
haben, und nicht nur so einen Bauern oder lausigen Läufer, wie man von
der alten Tressenrockseele glauben sollte, sondern einen gewichtigen
Rocher, der dem ganzen feindlichen Hof, der Königin Aarstein und dem
Staatssekretär Springer mit seinen Winkelzügen ein verdecktes und
entscheidendes Schach geben soll!« So waren des Hofrats Gedanken; es
war ihm dabei so federleicht und stolz zu Mut wie einem Kandidaten, der
sein letztes Examen im Rücken und vor sich die Aussicht auf eine fette
Pfarre hat, wo er mit Frauchen, Pferdchen, Kindchen, Kühen, Schafen und
Schweinen mitten unter seiner lieben Pastoralherde residieren kann.
Ja, es war ihm sogar ein wenig göttlich zu Mut, als hätte er Stangen,
Zaum und Trense der Welt unter der Faust, und regiere an geheimen
Schicksalsfäden das Los des Grafen und seiner Ida.

Alle Leute blieben auf der Straße stehen, als Berner vorüberkam.
Man kannte ihn sonst als einen lieben, freundlichen Mann, der gerne
jedermann grüßte und hier und dort mit einem sprach; aber heute --
nein, es sah zu possierlich aus, wie der gute alte Herr vor sich hin
sprach und lächelte und alle Mädchen in die Wangen kniff, allen Männern
zuwinkte und ein paar Bettelbuben, die sich am Markte prügelten, einige
Groschen schenkte, daß sie sich einen vergnügten Tag machen möchten.
Den Präsidenten traf er auf der Treppe; er bot ihm einen guten Morgen,
schüttelte ihm recht treuherzig die Hand und dachte sich, wie sich wohl
der Alte freuen werde, wenn der polnische Freier angestiegen komme, um
sein eheleibliches Töchterchen zu freien.

»Alte Exzellenz,« wisperte er ihm ins Ohr, »aus der Heirat des Polen
mit der Gräfin Aarstein wird -- nichts.« -- »Nichts?« fragte der
Präsident mit langem Gesicht. »Nichts? Hat Er Nachrichten, Berner? Hat
etwa der Hof andere Absichten mit dieser Dame?«

»Was der Hof! Was der Staatsminister!« lachte der Hofrat. »Es gibt
noch ganz andere Diplomaten als die Herren in der Residenz! Meinst
denn du, wenn so ein echter feuriger Pole liebt, daß ihm das Feuer aus
den Kohlenaugen herauspfupfert, er werde erst vor dem Staatssekretär
den Hut abziehen und fragen: ›Erlauben Sie gütigst, wollen Euer Gnaden
mir einen Gegenstand für meine zärtlichen Neigungen rekommandieren?‹
Nein, Herr Bruder! Auf Ehre, wir haben das anders gehalten Anno
achtundachtzig, und ich mag es dem guten, reichen Jungen nicht
verdenken, wenn er es auch so macht.« -- »Wie, so wäre der Graf in eine
andere verliebt?« unterbrach ihn der Präsident.

»Verliebt, wie ich sage, und für die Gräfin so gut wie verloren.« --
»Ei, ei,« sagte der Präsident mit einem klugen Gesicht, indem er den
Finger an die Nase legte; »siehst du, das habe ich mir neulich gleich
gedacht, daß das Attachement an die hohe Person nicht so gar groß sein
müsse. Du weißt von den Aufträgen, die mir in einem Handschreiben des
Staatssekretärs zukamen; ich richtete mich mit aller Gewissenhaftigkeit
nach meiner Vorschrift und bohrte ihn zuerst über die hiesige Gegend
an; weiß Gott, ich meine, der Mensch wird mir närrisch; lobt und
preist die Gegend bis an den Himmel, hat in den vierzehn Tagen, wie er
mir versichert, mit seinen scharfen Augen Lokalschönheiten entdeckt,
die ihn unwiderstehlich anziehen und fesseln, ja, sogar unser gutes,
ehrliches Freilingen, das nun in meinen Augen eben nichts Apartes hat,
liebt er so, daß ihm die hellen Tränen liefen. Nun haben wir ja den
Goldfisch, denke ich; ja, ja, der Freilinger Kreis ist nicht übel, aber
die Gräfin Aarstein ist wahrscheinlich der Köder; ich wende also das
Gespräch auf den Hof und endlich auch auf die Gräfin; da ist er aber
so kalt und gleichgültig wie Eis. Ich frage ihn endlich, als er gar
nicht anbeißen wollte, ob er die Gräfin denn nicht kenne, und da machte
er ein ganz eigenes Gesicht, wie wenn man beim überzuckerten Kalmus
endlich aufs Bittere kommt, und sagte: ›Nicht anders kenne ich sie als
~par renommée~.‹ Das ist nun freilich bei der Frau Gräfin nicht das
Beste, das man haben kann. Wenn er sie daher nur, und zuerst von dieser
Seite kennt, so hat der Herr Staatssekretär schlecht manövriert.«

»Weiß Gott, das hat er,« lachte der Hofrat, »ich könnte dir Dinge sagen
-- doch gedulde dich noch ein paar Wochen, und du siehst den Herrn
Grafen als Bräutigam; eine Dame aus der Residenz ist es nicht, an die
er sein Herz verlieren wird, nichtsdestoweniger ist es ein Landeskind
unseres allergnädigsten Herrn, und zwar ein gutes, liebes, schönes --«

»Nun, nun, so arg wird der Engel auch nicht sein,« meinte der
Präsident, indem er sich verabschiedete; »aber ordentlich wohl ist es
mir, daß es die Gräfin nicht ist, denn ich sammelte mir so unter der
Hand Nachrichten über sie, und die lauteten denn doch gar zu fatal.«

War es dem Präsidenten ordentlich wohl, so war es dem Hofrat
außerordentlich selig zumut, als er vollends die Treppe hinanstieg,
als er näher und näher an Idas Zimmer kam, als ihn das Mädchen
»Wunderhold« empfing. Er hätte mögen nur gleich mit allem, was er im
Herzen und Gedächtnis hatte, herausplatzen, aber nein! Hand auf den
Mund! so ging's nicht; vor seinem Schicksalspuppenspiel, was er jetzt
dirigierte, wäre _das_ Mädchen bis in das Herz hinein errötet und
davongelaufen. Daher ließ er seine Gedanken eine kleine Schwenkung
rechts machen, um dem Mädchen mit den Plänklern der Neugierde und mit
den schweren Kavalleriemassen der Rührung in die linke Flanke zu fallen
und ihr Herzchen zu nehmen. Darum erzählte er ihr das Unglück des
Martiniz; aus seiner eigenen Phantasie tat er die rührendsten Farben
hinzu, um den tiefen Jammer des Grafen zu schildern.

Doch das bedurfte es ja nicht; des innigliebenden Mädchens Tränen
flossen, als er noch nicht zur Hälfte fertig war. Wenn sie sich den
fröhlichen, kräftigen Jüngling dachte, geliebt, geachtet von allen, und
plötzlich so unendlich unglücklich; ja! jetzt hatte sie den Schlüssel
zu seinem ganzen Wesen, zu seinem ganzen Betragen.

Jetzt wußte sie, warum er damals, als sie ihn zuerst im Walde sah,
so bitter geweint habe, jetzt ward es ihr auf einmal klar, warum er
niemals wieder recht fröhlich sein könne. Er hatte seinen liebsten
Freund getötet, und wie die Erzählung des alten Dieners merken ließ,
unschuldig getötet; je zarter ihr eigenes Gefühl war, desto tiefer
fühlte sie den Schmerz in dieser fremden und ihr dennoch so verwandten
Brust.

Sie weinte lange, und ihr alter, treuer Freund wagte es nicht, dieses
Tränenopfer zu unterbrechen. Noch hatte er ihr aber nichts darüber
gesagt, wie der Graf aus seinem Wahnsinn zu retten sein möchte; so
schonend wie möglich berührte er diese Saite, indem er nicht undeutlich
zu verstehen gab, daß ihre Nähe wunderbar auf ihn zu wirken scheine.
Sie sah ihn lange an, als ob sie sich besänne, ob sie auch recht
verstanden habe; eine hohe Röte flog über das liebliche Gesichtchen,
ein schelmisches Lächeln mitten durch die Tränen zeigte, daß sie dies
selbst wohl gedacht habe; sie schien zu zögern, das auszusprechen, was
sie dachte, aber endlich warf sie sich an die Brust des alten Mannes,
verbarg ihr glühendes Gesichtchen und flüsterte kaum hörbar: »Wenn er
durch warme Teilnahme, durch lautere innige Freundschaft zu retten
ist, so will ich ihn retten!« Sie weinte an Berners Brust leise fort
und fort, ihre Schwanenbrust hob und senkte sich, als wolle sie alle
sechsunddreißig Schnürlöcher des Korsettchens zumal zersprengen.

Dem Hofrat aber kam dies mitten in seinem Schmerz höchst komisch vor.
Die weint, dachte er, weil sie einen schönen Mann und drei Millionen
verdienen soll; er konnte sich nicht enthalten, sie, vielleicht auch,
um das Mädchen wieder aufzuheitern, recht auszukichern. »Ist es doch,
als ob es Ihnen blutessigsauer würde, daß Sie den schönen, edlen Grafen
aus seinem Wahnsinnsfegefeuer herauslangen sollen! Es ist ja nicht die
Rede von einem solchen leeren Schnüffel und Musje Unausstehlich, wie
sie jetzt zu Dutzenden herumschlendern; nein, um solche wäre es nicht
der Mühe wert, sich die Hand naß zu machen, und wenn sie im Sumpf bis
unter die Nase stäken und nicht mehr um Hilfe schreien, sondern nur ein
wenig näseln und rüsseln könnten. Aber nein, da ist der Ausbund von
Männerschönheit, der Mann mit dem interessanten, feurigen Auge, mit der
zarten Blässe, welche die Gemüter so anzieht, mit dem feinen Bärtchen
über den Lippen, das ein ganz klein wenig sticht, wenn er den würzigen
Mund wölbt zum Ku--«

»Nein, es ist zu arg!« maulte Idchen und tat so ernst und reputierlich
wie eine Kartäuserin, und doch mußte das lose Ding die Knie
zusammenpressen, um nicht zu lachen. »Zu arg! nicht einmal ein Fünkchen
Mitleiden darf man zeigen, ohne daß die böse Welt, den Herrn Hofrat
an der Spitze, gleich darüber kritisiert, ob es einem _schönen_ Herrn
gegolten oder nicht.«

»Nun, nun,« lachte der Hofrat noch stärker als zuvor, »es kommt
immer besser, Sie machen ja, weiß Gott, ein Gesichtchen, als wollten
Sie mir nichts, dir nichts der ganzen Welt ein Pereat bringen; aber
im Hintergrunde lauert doch der Schelm, denn mein Idchen hat es
faustdick hinter den Ohren. Ich mache gewiß nicht wie Fräulein von
Sorben und Frau von Schulderoff die große Stadtklatsche, aus jedem
Maulwurfshaufen einen Himalaya, aber -- wer schaut denn immer hinter
dem Vorhang hinüber in den Mond, um ›den Mann im Mond‹, wie ihn die
bösen Stadtkinder heißen, herauszuäugeln. Aber freilich, die jungen
Damen machen jetzt gerne astronomische Versuche, sehen nach den schönen
Sternen, welche das schöne Fenster haben, da muß man ja doch auch in
den Mond sehen; aber Fräulein Ida wird nicht, wie jener scharfsichtige
Astronom Städte, Festungen, ganze Wälle und Verschanzungen darin
erschauen, sondern höchstens die Besatzung selbst, den Gr--«

Idchen hielt es nicht mehr aus; sie wurde röter als ein Purpurröschen,
sie preßte dem Hofrat die weiche Flaumenhand auf den Mund, daß ihm
Hören und Sehen verging, und schmälte ihn jetzt so tüchtig aus, wie
er früher sie selbst geschmält hatte, als sie noch ein ganz kleines,
unreifes Ding war. »Wie oft habe ich hören müssen,« eiferte sie,
»man soll die schönen Püppchen nicht beschmutzen, und Sie, böser
Hochverräter, machen ja Ihr armes Püppchen Ida ganz schwarz; wie oft
haben Sie gesagt, man solle nicht alles untereinander werfen, sondern
jedes Ding ordentlich an seinem Platz lassen, wo es steht, und Sie
nehmen da und dort etwas, rudeln und nudeln es recht bunt durcheinander
wie ein Apotheker und malen die Leute damit an. Ist das auch recht?
Kann das Ihr sonst so geordnetes Oberbuchhaltergewissen vertragen?«

Der arme Hofrat bat nur durch die Augen um Pardon, denn der Mund
war ihm so verpetschiert, daß er nicht einmal ein Ach! oder Au!
hervorgurgeln konnte. Endlich gab sie Pardon, der Hofrat schöpfte tief
Atem und sagte endlich: »Das verdient Strafe, und die einzige Strafe
sei, daß Sie auf der Stelle über und über rot werden!« Ida behauptete
zwar, das lasse sich nicht nur so befehlen, aber es half nichts; der
Hofrat begann: »So wissen Sie denn, daß der Graf seit einem Jahr Europa
durchfliegt, durchrennt, an keinem Orte länger als _einen_, höchstens
zwei Tage verweilt, daß er auch hier eigentlich nur einen Rasttag
halten wollte, es sind Wochen daraus geworden, ich gebe Ihnen mein
Wort, wegen Ihnen allein ist er hiergeblieben.« Der Hofrat hatte seine
Strafe richtig beurteilt, sie schrak zusammen, als er es aussprach.

»Wegen mir wäre er hiergeblieben? Meinetwill--« sie konnte nicht
weiter, ein holdes Lächeln geschmeichelter Selbstzufriedenheit schwebte
um die roten, frischen Lippen, der zarte Inkarnat ward überall zur
Flamme, und wie von alters her das weibliche Geschlecht ein tiefes
Rätsel für den Forscher war -- war es Freude, war es Schmerz? -- das
überraschte Herzchen machte sich in heißen Tränen Luft. Das hatte der
Hofrat nicht gewollt; er wollte wieder von neuem anfangen, wollte die
lindernden Mittel der Fröhlichkeit und des Scherzes auf die Wunde
legen, die er so ganz ohne Absicht geschlagen hatte, wollte das Mädchen
aufheitern, zerstreuen; aber war es denn möglich, war das möglich, wenn
man _dieses_ Auge in Tränen sah? So mit ihrem Schmerz beschäftigt,
hatte er ganz überhört, daß man schon zweimal an der Türe geklopft
habe; leise wurde sie endlich geöffnet, auf dem weichen Fußteppich
hallte kein Schritt -- Ida war es, als wehe sie ein kühlendes Lüftchen
an, es war ihr so wunderwohl zumut, sie nahm das Tuch von den weinenden
Augen und tat einen lauten Schrei, denn vor ihr stand in voller
Lebensgröße Graf Martiniz.

Auch dem Hofrat erstarb das Wort auf den Lippen vor Staunen, gerade in
diesem Augenblick den Mann zu sehen, von welchem er und Ida gesprochen
hatten. Doch der gewandte junge Mann ließ sie nicht lange in diesem
peinlichen Stillschweigen, er entschuldigte sich, so unberufen
eingetreten zu sein, er habe aber niemand zum Anmelden gefunden, und
auf sein wiederholtes Pochen habe niemand geantwortet. Er setzte sich
neben Ida und fragte mit der Zutraulichkeit eines Hausfreundes, ob er
den Grund ihres Kummers nicht wissen dürfe. Ach! er war ja der Grund
dieses Kummers, ihm galten ja diese Tränen, die aus den geheimnisvollen
Tiefen des liebevollen Mädchenherzens heraufdrangen.

Sie wollte antworten, die Stimme versagte ihr, sie wollte lächeln, aber
ihre unwillkürlich strömenden Tränen straften sie Lügen; er hatte so
freundlich, so zart gebeten, an ihrem Schmerz teilnehmen zu dürfen, daß
es sie immer mehr und mehr rührte. Mit einem Feldherrnauge schaute der
Hofrat in diese wirren Verhältnisse; rasch mußten die Blößen benutzt
werden, der Zweck heiliget die Mittel, dachte er, wirf sie beide in
einen wirbelnden Strom, sie werden sich eher finden, sich vereint an
den Strand hinausretten; er ergriff also sein Hütchen, brach auf und
flüsterte dem Grafen laut genug, daß es Ida hören konnte, ins Ohr: »Und
wenn Sie noch zehn Jahre so dasitzen und nach ihrem Kummer fragen, sie
sagt Ihnen doch nicht, warum sie weint. Um Sie, bester Graf, weint das
Fräulein, weil sie meint, Sie seien unglücklich, und doch nicht helfen
kann.« Mit schnellen Schritten witschte er aus dem Zimmer, es war ihm
zumut wie einem, der gesäet hat und doch nicht weiß, was aufgehen wird.
»Der Würfel liegt,« sprach er bei sich, als er die Treppe hinabeilte,
»er liegt, zählet nun selbst die Augen und vergleichet euer Gerad oder
Ungrad!«


Entdeckung.

Die beiden jungen Leutchen saßen sich gegenüber wie die Oelgötzen;
keines wagte von Anfang ein Wörtchen zu sagen, selbst den Atem hielten
sie fest an sich. Dem Fräulein hatte der Hofrat durch seinen gewagten
Scherz alles Blut aus den rosigen Wangen gejagt; es war ihr, als steche
ihr einer einen Dolch von Eiszapfen in das glühende Herz, und ein
anderer schütte eine Kufe des kältesten Wassers über sie herab, und im
nächsten Augenblick war ihr wieder so brühsiedeheiß zumut, als ob die
Feuerflammenbrandung der Lava in ihren Adern siede und ein Rheinstrom
von rotglühendem flüssigem Eisen durch alle ihre Nerven sich ergösse.
Sie wußte nicht, sollte sie aufspringen und davonlaufen, sollte sie
lachen oder vor Unmut über diese Unzartheit weinen, ein tiefer Seufzer
entriß sich dem gepreßten Herzen --

Und Martiniz -- was hilft in solchen Momenten das vollendetste Studium
dessen, was wir Welt nennen? Er war auf Hofbällen von Kaisern und
Königen gewesen, er hatte mit einer Fürstin eine Polonäse eröffnet
und ihr dabei die Schleppe von der ~drap d'argent~nen Hofrobe
abgetreten, daß ihr die Fetzen vom Leibe hingen, und hatte dennoch
dabei die Fassung behalten, obgleich die Durchlaucht einen ganzen
Kartätschenhagel aus ihrer Augenbatterie auf ihn spielen ließ. Er hatte
-- doch was konnte es ihm in diesem süßen Augenblick helfen, daß er
sich sonst nicht so leicht verblüffen ließ? Der Moment riß ihn hin;
sie, die er mit aller Macht heimlicher Glut liebte, sie, die ihm in
seinen Träumen allnächtlich erschien und ihn zum Gott machte, sie hatte
um ihn geweint, weil sie ihn für unglücklich hielt!

Und als er jetzt zu ihr hinaufblinzelte, als er die rührende Scham auf
dem engelreinen Gesichtchen, das holde Lächeln um den Mund, tiefer
herab die Schneepracht des Halses, dieses Nackens, dieser Brust
ansah -- er hatte auf seiner großen Tour alle Galerien der Welt, die
Kunstschätze der Malerei, die lockenden, majestätischen, niedlichen
Formen der alten und neuen Bildhauerkunst gesehen, mit wahrhaftem
Kunstfleiß studiert, und was waren sie, was war Venus und alle Grazien,
was war Madonna und alle die herrlichen, heiligen Gesichtchen aller
Zeiten und Schulen gegen dieses geheimnisvolle Amorettenköpfchen? Es
lag _ein_ Liebreiz in diesem süßen Wesen. -- Er hörte sie seufzen,
eine große, helle Perle hob sich unter den seidenen Wimpern, er
ergriff ihre Hand und drückte seinen Mund darauf, sie zog das weiche
Wunderpatschchen nicht weg.

»Können Sie zürnen, mein Fräulein,« hub er an, »daß ich zu so
ungelegener Zeit« -- er hielt inne, um ihre Antwort zu erwarten; --
keine Antwort.

»Wenn ich gewußt hätte, daß ich Sie nicht heiter finden würde, ich
hätte mir gewiß nicht die Freiheit« -- noch keine Antwort.

»Sie haben einem Unglücklichen eine Träne des Mitleids geschenkt; zarte
Herzen wie das Ihrige verstehen einen tiefen Schmerz viel früher als
andere, möge Gott Ihnen diese Tränen des Mitgefühls vergelten, die mir
so unendlich wohltun« -- keine Antwort, nur Perlchen um Perlchen drängt
sich über den feinen Rand der Wimpern.

»Sie zürnen mir also dennoch,« fuhr Martiniz trübe lächelnd fort,
»das beste wird sein, ich nehme mir die Freiheit, Sie ein andermal zu
besuchen.« Er wollte seine Hand aus der ihrigen ziehen, aber Ida hielt
ihn fest.

»Herr Graf!« flüsterte sie leise bittend.

»Warum nennen Sie mich Herr Graf?« antwortete Martiniz. »Wie oft haben
Sie versprochen, Martiniz und, wenn ich recht gut bin, Emil zu sagen?«

»Martiniz!« flüsterte sie wieder.

»O, bin ich denn nicht mehr so gut wie gestern, oder sind Sie nicht
mehr die freundliche, tröstende Ida wie früher?«

»Emil!« hauchte sie kaum hörbar, aber in diesem einzigen Wörtchen lag
ein so süßer Ton, dem alle Saiten in Emils Brust antworteten, voll
namenloser Seligkeit beugte er sich von neuem auf ihre zarte Hand; doch
er faßte sich wieder, und, es war ihm zwar sauer genug, aber dennoch
kam er bald wieder in den rechten Takt der vertrauenden Freundschaft.
Er bat sie, ihn geduldig anzuhören, er wolle ihr sagen, warum er so
trübe und traurig durchs Leben gehe, und vielleicht werde sie ihn
entschuldigen.

Er erzählte ihr die Geschichte seines unglücklichen Hauses, wie sie
der alte Brktzwisl dem Hofrat erzählt hatte; aber den schrecklichen
Verdacht, den der alte Diener nur ahnte und sich selbst nicht zu
gestehen wagte, bestätigte er. Er erzählte, daß, als er aus jener
langen Krankheit wieder zu völligem Bewußtsein und dem Gebrauch seiner
Verstandskräfte gekommen sei, habe ihm das Leben und die ganze Erde so
öde geschienen, daß er seiner Mutter und Schwester die selige Ruhe im
Grabe gegönnt, ja beneidet habe, besonders seine Schwester habe er
glücklich gepriesen, denn betrogen von dem Mann, den sie liebte, wie
hätte sie ferner glücklich leben können?

Aufs neue sei damals eine große Bitterkeit in seiner Seele gegen den
Italiener aufgestiegen, der nur nach dem fernen Norden gekommen schien,
um ein holdes Mädchen auf wenige Stunden glücklich zu machen und dann
zu betrügen, einen Freund zu gewinnen und ihn dann zum unerbittlichen
Rächer zu machen. Da habe man ihm einen Brief gebracht, den seine
Schwester kurz vor ihrem Ende geschrieben habe; er enthielt das
Bekenntnis einer tiefen Schuld, einer unwürdigen Schande. Antonio habe
lange geahnt, daß er, obgleich ihr Verlobter, doch nicht der einzig
Begünstigte sei. Er habe sie in einem Augenblick getroffen, der ihm
keinen Zweifel über die Unwürdigkeit der Geliebten gelassen. Doch zu
edel, sie der Schmach und dem Unwillen ihrer Familie preiszugeben, habe
er ihr erlaubt, seinen Verlobungsring fortzutragen, in wenigen Wochen
wolle er Warschau verlassen und _sie_ nie mehr sehen; ihren Ring, bei
welchem sie ihm mit den heiligsten Eiden Treue geschworen, wolle er der
nächsten besten Metze schenken.

»Dies war die einzige Strafe,« fuhr Martiniz fort, »die sich der edle,
so schändlich betrogene Mann erlaubte. Wie unselig rasch ich handelte,
wissen Sie, mein Fräulein. Meinem Sekundanten wollte er die Schande
meiner Schwester nicht anvertrauen, eine persönliche Zusammenkunft mit
ihm schlug ich in meiner Wut aus, so stellte er sich denn mit seinem
ganzen Unglück, mit seinem noch größeren Edelmut vor die Mündung meiner
Pistole. Jenen ganzen Tag, da ich die Schuld meiner Schwester und seine
Unschuld erfuhr, wütete ich gegen mich selbst.

Ich wurde ruhiger als es Abend wurde, aber zu derselben Stunde, wo er
verschieden war, fühlte ich auf einmal seine Nähe, sein blutbedecktes
Bild stand vor mir da, meine Seele faßte das Schreckliche nicht, ich
verfiel in Wahnsinn. Seit jener schrecklichen Stunde naht er mir alle
Nacht und zeigt mir seine klaffende Wunde; kein Raum ist ihm zu weit,
kein Gebet verscheucht ihn, er würde mir im frohesten Zirkel meiner
Freunde erscheinen.

Nur in eine Kirche scheint er sich nicht zu wagen, und meine letzte
Zuflucht ist, mich jede Nacht an den Altar zu retten. Mein Leben ist
für jede Freude verloren, mir blüht kein Frühling mehr; die Natur
ist mir erstorben; ein rastloser Flüchtling eile ich über die Erde
hin, verfolgt vom Gespenste dessen, den mein unüberlegter Rachedurst
erschlug. Ich bin Kain, der seinen edlen Bruder ermordete, ich fliehe
und fliehe, bis sich mir eine frühe Grube öffnet, wohin sein blutiger
Schatten nicht mehr dringt, wo ich ausruhe, ungekannt, unbeweint, der
letzte Sprosse meines Stammes, ohne Denkmal als das der Blumen, die der
Frühling aus meiner Asche keimen läßt.« --

Ohne Idas Antwort abzuwarten, hatte sich nach den letzten Worten
Martiniz erhoben und war davongeeilt. Er war von seiner eigenen
Erzählung so ergriffen, daß er die laute Teilnahme des geliebten
Mädchens in diesem Augenblick nicht hätte ertragen können. Ihre zarte
stille Teilnahme, die tausend Zeichen der lautlosen Liebessprache
hatten ohnedies schon so heftig auf ihn gewirkt, daß er die rasende
Glut in seinem gepreßten Herzen kaum mehr beschwichtigen, daß er sich
kaum enthalten konnte, die Tränen, die seinem Unglück flossen, von den
zarten Wangen zu küssen. Wie eine trauernde Andromache saß Ida, das
Engelsköpfchen auf ihr schneeweißes Händchen gestützt, und ließ die
Tränen herab in den Schoß rollen. Nach und nach schien sie aber ruhiger
zu werden, sie sah oft auf, und dann lag in dem schönen Auge etwas so
schwärmerisch Sinnendes, daß man glauben durfte, sie sinne über einen
großen Entschluß nach.

So traf sie Berner, der mit einem Armensündergesicht zur Türe
hineinguckte. Es hatte ihm unterwegs, nachdem der erste Kitzel über
seinen gewagten Feldherrn-Einfall vorüber war, doch ein wenig das
Gewissen geschlagen, daß er die Leutchen so im heillosen Zappel
zurückgelassen habe. Er mußte sich gestehen, daß die Sache auf diese
Manier ebenso leicht ganz über den Haufen gerannt werden konnte. --
Doch da war er ja der Mann dazu, auch die vereiteltsten Verhältnisse
wieder zu entwirren. »Haben sie sich auch wie ungeschickte Hauderer
ein wenig verfahren,« dachte er, »der alte Berner weiß sie schon
wieder ins rechte Gleis zu bringen.« Als er aber den Grafen nicht
mehr traf, als er sah, daß das Mädchen so gar bitterlich weinte und
schluchzte, daß es einen Stein in der Erde hätte erbarmen mögen --
da grieselte es ihm doch den Rücken hinauf, eine Gänsehaut flog über
seinen Kadaver und schnürte ihm die Brust zusammen. -- »Sicher einen
dummen Streich gemacht,« brummte er vor sich hin. Da schaute sich Ida
nach ihm um. Unter den verweinten Augen hervor traf ihn doch ein so
mildes Lächeln, daß es ihm wieder wohl und warm wurde, als hätte er den
besten ~Extrait d'Absynthe~ vor den Magen geschlagen. -- »Habe ich ein
dummes Streichelchen gemacht, mein Kindchen?« fragte er kleinlaut,
machte aber so verschmitzte, kluge Aeuglein dazu, daß Ida, so ernst sie
sein wollte, lächeln mußte. Sie gab ihm die Hand und erzählte ihm, wie
sie von Anfang durch seine doch etwas gar zu indiskrete Aeußerung sehr
außer Kontenance gekommen, daß sie ihm aber jetzt nicht genug danken
könne, denn der Graf habe ihr all sein Unglück, sein Leiden erzählt,
und sie sei wie von ihrem Leben überzeugt, daß er von seinem Phantome
könne befreit werden. Jetzt hatte ja der Hofrat Ida auf dem Punkt,
wo er sie haben wollte. Jetzt war er mit der ganzen Geschichte auf
einmal im klaren und rieb sich unter dem Tisch vor Freuden und lauter
Seligkeit die Hände. Sie können und müssen ihn retten, und darum hat
mir mein Genius das tolle Wagestück von vorhin eingegeben. _Sie_ müssen
ihn überzeugen, daß alles Ausgeburt seiner Phantasie ist. Sie müssen
machen, daß er wieder den Menschen angehört, der gute Junge, daß er bei
Tag freundlich und gesellig ist und nachts nicht mehr in die Kirche
läuft. Ich will davon gar nicht sagen, daß es für seine Gesundheit
höchst nachteilig ist, alle Nacht sich vor einem blutigen Gespenst
zu fürchten. Aber bedenken Sie nur alle anderen Unannehmlichkeiten,
die ein solcher Umstand mit sich führt. Der Graf, ist er nun so
recht im Feuer, so recht, was man sagt, im Zug, gibt es dann einen
herrlicheren, angenehmeren Gesellschafter als ihn? Da ist alles Leben,
alles Feuer, das sprudelt von dem feinsten Witz, von der zartesten
Geselligkeit, und um die Zeit, wo gewöhnlich der Champagnerpunsch, den
Sie so trefflich zu bereiten wissen, oder Kardinal, und für Liebhaber
des Roten auch Bischof aufgesetzt werden soll, wenn man glaubt, jetzt
geht es erst recht an, da wird er nach und nach ernster und stiller,
zieht einmal um das andere die Uhr aus der Tasche oder läßt sie in
der Tasche repetieren, daß man glaubt, er habe ein Glockenspiel im
Magen, und -- hast ihn gesehen -- schleicht er sich ~sans adieu~ fort
und eilt der Kirche zu. Der Mondwirtin kann ich es, ob ich gleich
die heiligsten fürchterlichsten Eide dazu schwöre, noch immer nicht
begreiflich machen, daß er nicht auf ganz schlimmen Wegen im Dunkeln
schleiche. ›Ich weiß das besser,‹ sagt sie immer; ›im Dunkeln ist gut
munkeln -- das mache mir ein anderer weis.‹ Und dann, wie unangenehm
ist ein solches Verhältnis, wenn der Herr Graf einmal in den heiligen
Stand der Ehe sich begeben soll. Zur Zeit, wenn da sein Weibchen ihre
Tücher und Tüchelchen, ihre Röcke und Röckchen abgeworfen hat, wenn
sie im Hemdchen und Nachtkorsettchen ins Bettchen schlüpft, ganz weit
hinüberrückt, um noch einem zweiten Platz zu m--«

»Was weiß ein alter Hagestolz wie Sie?« unterbrach ihn das Fräulein
eifrig, indem sie ihm mit dem weichen Patschchen, über und über
errötend, eines hinter das Ohr versetzte, die Knie zusammenkniff,
schelmisch lächelte und innerlich beinahe platzte. »Was wissen Sie von
Nachtkorsettchen und Schlafhäubchen? Solche Dinge gehören ganz und gar
nicht in Ihr Fach, und der Schuster, heißt ein altes Sprichwort, der
Schuster bleibe bei seinem Leisten.«

»Leider, Gott erbarm's!« seufzte und knurrte der alte Kater-Murr-Berner
mit komischem Pathos, »leider heißt es bei mir: ~ne ultra crepidam~;[1]
ich darf nichts sehen als die hübschen Füßchen, und höchstens, aller
-- allerhöchstens Jahrs einmal ein hübsches Wäd--; doch um wieder
auf Martiniz zu kommen -- ich habe hin und her gedacht, ich weiß nur
_ein_ Mittel, wie man ihn der Welt wiedergeben kann. Wir mögen über die
Torheit des Gespensterglaubens an ihn hinpredigen, solange wir wollen,
er gibt uns recht, und in der Nacht sieht er dennoch wieder sein
Phantom. Nein, man muß ihm auf ganz anderem Wege beikommen. Sie, Ida,
Sie müssen in der Stunde der Mitternacht zu ihm an den Altar gehen, bei
ihm bleiben in den Augenblicken der Angst, und ich stehe dafür, er wird
so viel an Sie denken, daß das Bild seiner Phantasie verschwindet.« Ida
sträubte sich vor diesem Hilfsmittel mit mädchenhafter Scheu. Sie gab
dem Hofrat zu bedenken, daß das sich aufdringen heiße. Was die Welt
dazu sagen werde, wenn sie einem landfremden Menschen in die Kirche
nachlaufe, und dies und jenes -- aber der Hofrat, der das Mädchen von
seiner Kindheit an kannte, sah tiefer. Er sah, wie sich in ihr zwar
das Mädchenhafte gegen das Unschickliche, das nach den Begriffen der
Welt darin liegen könne, sträube, daß aber das Edle und Große, das sie,
nur von wenigen gekannt, tief in der stolzen, jungfräulichen Brust
verschloß, schon jetzt diesen Rettungsgedanken mit Wärme ergriffen
haben müsse, denn in ihrem Auge sah er jenes stille Feuer ernsten
Nachdenkens, ihre Brust hob sich stolzer, wie wenn sie eines großen
Entschlusses mächtig geworden wäre. Er tröstete sie über den Gedanken,
was die Welt sagen würde; unerkannt wolle er sie in der dunklen Nacht
in die Kirche führen: »Und landfremd,« fuhr er mit schalkhaftem
Lächeln fort, »landfremd nennen Sie diesen Menschen? Mir wenigstens
ist es in den vierzehn Tagen geworden, wie wenn ich ihn lange, lange
gekannt hätte; und wer war es denn, der in jener Ballnacht, als wir
den landfremden Menschen zum allererstenmal sahen, sagte: _ich möchte
hingehen und fragen, warum bist du nicht fröhlich mit den Fröhlichen_,
sage mir deinen Kummer, ob ich nicht helfen kann?« -- Es ist etwas im
weiblichen Herzen, das sie in einzelnen Momenten so hoch erhebt, daß
sie Entschlüsse fassen und ausführen, wovor ein Mann vielleicht sich
gescheut hätte. Auch Idas Herz war nicht unempfänglich für solche
großen Entschlüsse, die der kältere Beobachter mit Unrecht Schwärmerei
nennt; sie lehnte sich an die Brust des alten Freundes und lispelte
mit geschlossenen Augen kaum hörbar, aber fest entschlossen: »Ich will
es tun, denn ich fühle es: _der Zug des Herzens ist des Schicksals
Stimme_!«

    [1] Nicht über den Leist hinaus.


Die Heilung.

Es war vierundvierzig Minuten auf Mitternacht, als aus des Präsidenten
Haus ein Paar dunkle Gestalten traten; die eine größere war in einen
dicken Ueberrock geknöpft, den Hut tief ins Gesicht gedrückt, die
andere kleinere hatte einen Schal von dunkler Farbe um den Kopf
geschlagen, war tief in einen Karbonaro eingewickelt, der aber zu lang
schien, denn die Person, die ihn trug, mußte ihn alle Augenblicke
aufnehmen. Die beiden Gestalten schlichen sich dicht an den Häusern
hin, gingen mehrere Straßen entlang und verschwanden endlich im Portal
der Münsterkirche.

Bald darauf kam ein Mann mit einer Laterne über den Münsterplatz;
es war der Freilinger Küster; er schloß schweigend die große,
knarrende Kirchtüre auf und winkte den beiden Gestalten, einzutreten.
Die kleinere schien zu zögern, als scheue sie sich, in den
nachtrabenschwarzen Dom zu treten; als aber der Küster mit seiner
Laterne voranleuchtete, schien sie mutiger zu werden und folgte, doch
sah sie bei jedem Schritt unter dem Schal hervor, als fürchte sie,
irgend etwas Greuliches hinter den großen Säulen hervorgucken zu sehen.

Am Altar machten sie Halt. Der Küster zeigte auf einen breit
vorspringenden Pfeiler, von wo aus man den Altar und einen großen Teil
der Kirche übersehen konnte, und die beiden Verhüllten nahmen dort
ihren Platz; die Laterne gab übrigens so wenig Licht, daß man, ohne
näherzutreten, die an dem Pfeiler Sitzenden von dem übrigen Dunkel
nicht unterscheiden konnte. Indem hörte man den Glockenhammer im Turme
surren und zum Schlag ausholen, der erste Glockenschlag von Mitternacht
rollte dumpf über die Kirche hin, und zugleich hallten eilende Schritte
den mittleren Säulengang herauf, dem Altar zu. Es war Martiniz mit
seinem Diener.

Blaß und verstört setzte sich jener, wie er alle Nacht zu tun pflegte,
auf die Stufen des Altars.

Zuerst sah er still vor sich hin, er weinte und seufzte, und, wie in
jener Nacht, da ihn der Küster zum erstenmal gesehen hatte, rief er
mit wehmütiger bittender Stimme: »Bist du noch immer nicht versöhnt?
Kannst du noch immer nicht vergeben, Antonio!« Seine Stimme tönte voll
und laut durch die Gewölbe der Kirche, aber kaum war der letzte Laut
verhallt, da rief eine silberreine, glockenhelle Stimme, wie die eines
Engels vom Himmel: »_Er hat vergeben!_«

Freudiger Schrecken durchzuckte den Grafen, seine Wangen röteten sich,
sein Auge glänzte, er streckte seine Rechte zum Himmel hinauf und
rief: »Wer bist du, der du mir Vergebung bringst von den Toten?« Da
rauschte es an jenem vorspringenden Pfeiler, eine dunkle Gestalt trat
hervor, der Graf trat bebend einen Schritt zurück, sein Haar schien
sich emporzusträuben, sein Blick hing starr an jeder Bewegung des
Nahenden, die Gestalt kam näher und näher, der milde Schein der Laterne
empfing sie, noch einige Schritte, und -- der dunkle Mantel fiel, ein
seraphähnliches Wesen -- Ida mit der Taubenfrommheit eines himmlischen
Engels schwebte auf den Grafen zu, dieser war in ein willenloses
Hinstarren versunken, noch immer glaubte er, einen Bewohner höherer
Räume zu sehen, bis ihn die süße, wohlbekannte Stimme aus der Betäubung
weckte.

»Ich bin es,« flüsterte, als sie ganz nahe zu ihm getreten war, das
mutige, engelschöne Mädchen, »ich bin es, die Ihnen die Vergebung eines
Toten verkündigt. Ich bringe sie Ihnen im Namen des Gottes, der ein
Gott der Liebe und nicht der Qual ist, der dem Sterblichen vergibt,
was er aus Uebereilung und Schwachheit gesündigt, wenn ernste Reue
den Richter zu versöhnen strebt. Dies lehrt mich mein Glaube, es ist
auch der Ihrige; ich weiß, Sie werden ihn nicht zu schanden machen. Du
aber,« setzte sie mit feierlicher Stimme hinzu, indem sie sich gegen
das Schiff der Kirche wandte, »du, der du durch die Hand des Freundes
fielst, wenn du noch diesseits Ansprüche hast an dieses reuevolle Herz,
so erscheine in dieser Stunde, zeige dich unseren Blicken oder gib ein
Zeichen deiner Nähe!«

Tiefe Stille in dem Gotteshause, tiefe Stille draußen in der Nacht,
kein Lüftchen regte sich, kein Blättchen bewegte sich. Mit seligem
Lächeln, mit dem Sieg der Ueberzeugung in dem strahlenden Auge wandte
sich Ida wieder zum Grafen. »Er schweigt,« sagte sie, »sein Schatten
kehrt nicht wieder -- er ist versöhnt!«

»Er ist versöhnt!« jubelte der Graf, daß die Kirche dröhnte. »Er ist
versöhnt und kehrt nicht wieder! O Engel des Himmels, Sie, Sie haben
ihn gebannt; Ihre treue Freundschaft für mich Unglücklichen, die ebenso
hoch, ebenso rein ist als Antonios Treue und Großmut, sie hat den
blutigen Schatten versöhnt. Wie kann ich Ihnen danken --?«

»Danken Sie dem, der stark war in mir Schwachen,« sagte Ida, indem
sie ihm sanft die Hand entzog, die er gefaßt und mit glühenden
Küssen bedeckt hatte; »wollen Sie aber mir etwas mehr gönnen als das
Bewußtsein, dem Freunde genutzt zu haben, so danken Sie mir dadurch,
daß Sie sich wieder den Menschen schenken, daß Sie wieder heiter und
froh sind, wie es Menschen gebührt, denen Gott die schöne Erde zu einem
Ort der Freude geschenkt hat.«

Sprachlos faßte er das zarte Händchen wieder und drückte es an sein
klopfendes Herz, sein freudiges Lächeln, ein seliger Blick sagten ihr,
daß er erfüllen wolle, was sie ihm geheißen.

Der Hofrat war indes näher getreten und hatte mit freudiger, zuweilen
etwas schalkhafter Miene die schöne Gruppe betrachtet. Man konnte aber
auch nichts Schöneres sehen. Der hohe, schlanke junge Mann mit dem
zarten, sprechenden Gesicht, aus dem jetzt alle Wehmut, alle Trauer
gewichen war, das jetzt nur Freude und Glück aussprach, an seiner Seite
die feine Seraphgestalt mit dem lieblichen Engelsköpfchen, das aus
den sinnigen, schmelzenden Augen so freudig, so schmachtend an jenem
hinaufsah -- sie beide umstrahlt von dem ungewissen milden Schein der
Laterne an den Seiten, und im Hintergrund der Altar und die wunderlich
geformten Bogen und Säulen des majestätischen Tempels. »Nun,« dachte
Berner, »sei es um ein paar Wochen, dann sind wir zu guter Tageszeit
wieder hier am Altar, dort auf den Stufen steht dann der Herr Pastor
~primarius~, und weiter unten müssen mir die beiden Leutchen dort
knien: der Herr Pastor spricht dann den Segen, und sie sind kopu--«

Es zupfte ihn etwas am Rockschoß, er sah sich um. Der alte Brktzwisl
stand hinter ihm und wischte sich einmal über das andere die alten
Augen, die vor seliger Rührung übergingen. »Das ist Ihr Werk, Herr
Hofrat,« schluchzte er, »möge es in Zeit und Ewigkeit --«

»Sei still,« flüsterte Berner, »dein Werk ist es, denn hättest du nicht
endlich geschwatzt, so spukte der Herr Antonio nach wie vor.«

Der alte treue Diener nahm aber das Lob nicht an. »Nun, am Ende ist es
doch der Himmelsengel dort,« schluchzte er weiter, »der es vollbracht
hat; ohne sie hätten wir anzetteln können, was wir hätten wollen, wir
hätten doch nichts zuwege gebracht. Morgenden Tages schreibe ich alles
dem alten Herrn Onkel, und der kann nicht anders, er muß seinen Segen
zu der holdseligen, zukünftigen Frau Gräf--« Ein Wink seines Herrn
unterbrach ihn, er eilte zu ihm hin, küßte die Hände des Grafen und
den Saum von Idas Gewand und brachte dann, wie ihm der Graf befahl,
Idas Mantel. Scherzend, als ging' es von einem Ball nach Hause, hing
Martiniz dem holden Mädchen den Mantel um und hüllte ihr das Köpfchen
so tief in den Schal, daß nur noch das feine Näschen hervorsah; der
Hofrat führte sie, der stillselige Graf ging neben seiner Retterin her,
und Berner wurde gar nicht eifersüchtig, daß diese das Gesichtchen
immer nur dem Grafen und viel seltener ihm zuwandte.

Brktzwisl und der Küster, der ganz traurig schien, daß seine
Talerquelle doch endlich versiegt war, schlossen den Zug. »So Gott
will,« sagte zu ihm der alte Diener, als er die Türe schloß, »sind wir
zum letztenmal nachts da drinnen gewesen; dir soll es übrigens dennoch
nichts schaden, alter Kauz. Wenn deine durstige Seele nach einem Glas
Wein verlangt, so komme nur zum alten Brktzwisl in den Mond, da setzen
wir uns dann hinter den Tisch, die Frau Wirtin muß Alten geben, und wir
trinken dann aufs Wohlsein meines Herrn und des schönen Fräuleins.«


Neue Entdeckung.

Der alte Brktzwisl kam am andern Morgen mit einem Gesicht, aus welchem
man sich nicht recht vernehmen konnte, zum Hofrat; er wünschte mit
freundlichem Grinsen guten Morgen und zischte doch dabei, wie wenn
er Rhabarber zwischen den Zähnen hätte, ein »wenn nur das heilige
Kreuzdonner --« oder, »wenn nur das Mohren-Kraut-Stern-Elementerchen«
um das andere heraus. Er rapportierte, daß er einen Brief von der alten
Exzellenz, dem Oheim, habe, worin ihm dieser ankündige, daß er seine
Briefe nach Fuselbronn, einer Badeanstalt zwischen Freilingen und der
Residenz seitwärts gelegen, zu schicken habe. »Der Kuckuck!« rasaunte
der alte treue Knecht, »hätte der alte Herr nicht die vierzehn Meilen
weiter machen können? Jetzt wäre er hier in Freilingen und schaute
das Glück seines Herrn Brudersohnes mit leiblichen Augen, könnte
nebenbei auch den Hochzeitvater vorstellen! Was hilft mich das, daß
er wieder schreibt: ›Brktzwisl, scheue keine Kosten, wir können es ja
bezahlen, wenn der Himmel unserm Emil wieder gesunden Menschenverstand
verleihen will.‹ Was hilft mich das? In allen Nestern von Italien,
Frankreich, Schweden, Norwegen, England, Holland, wo wir herumfuhren,
habe ich keine Kosten gescheut; ich mag gar nicht denken, was nur die
Doktores kosteten, wenn ich allemal die Antwort bekam: ›Reise weiter!
Zerstreuung hilft! Glückliche Reise.‹ -- Jetzt, wo wir hier Zerstreuung
und Freude umsonst hatten, wo ein Engelchen meinen armen Herrn kuriert
hat, jetzt soll ich keine Kosten scheuen? Was hilft da der verfluchte
Mammon? Kann ich dem Fräulein sechs Louisdors geben, wie einem Doktor
oder Professor?«

So knurrte der alte Kauz bei dem Hofrat; die Worte pullerten ihm nur so
hervor, es war ihm ganz ernstlicher Ernst mit der Sache, und er war auf
sich und die ganze Welt ergrimmt, daß er jetzt nicht ~stante pede~ eine
Hochzeit herhexen konnte. Der Hofrat sah ihn ganz erstaunt an und hielt
sich den Bauch vor Lachen, so komisch kam ihm des alten Gesellen Wüten
vor. »Alter Narr!« rief er endlich, »muß man dir denn die Nase drauf
stoßen und eine Brille aufsetzen, daß du findest, was du suchst? Kannst
du dich denn nicht hinsetzen und die ganze Geschichte von den letzten
vierzehn Tagen deinem alten Herrn schreiben und dabei einfließen
lassen, daß dein Herr zum Sterben in das Mädchen verschammert sei? Und
wenn der Herr Onkel das weiß, nun ja -- das Fräulein ist von gutem
Adel, ich sehe nicht ein, was für ein besonderes Hindernis --«

»Weiß Gott, so tu' ich,« rief Brktzwisl und setzte vor Freuden den
Respekt so ganz aus dem Auge, daß er einen Katzensprung in die Luft
machte; »aber eines fehlt doch immer noch, mein Herr sollte nur erst
mit dem Fräulein im reinen sein, aber geben Sie acht, geben Sie acht,
der macht uns einen Streich! Er ist so blöde, so furchtsam --«

Wenn er es nur gewußt hätte, der alte Brktzwisl! Sein Herr saß,
indem sein Diener von seiner Blödigkeit perorierte, bei Ida auf dem
Sofa, der Präsident, der nur so auf ein Viertelstündchen in seiner
Tochter Boudoir eingesprochen hatte, neben ihm. Was es doch eine
eigne freie Kunst um das Augenparlieren ist; da schwatzten jetzt die
guten Leutchen ein langes und breites mit dem Herrn Papa von Bergen
und liegenden Gründen, nebenher hielten sie sich die schönsten Reden
durch verstohlene Blicke, mit einer Beredsamkeit, einem rednerischen
Feuer, von dem selbst Cicero in seiner Rednerkunst keine Aufschlüsse
gibt, und wovon auch kein Wörtchen weder in der Syntax der deutschen
Sprachlehren, noch in den verschiedenen Rhetoriken und ästhetischen
Vorlesungen steht, die alljährlich von den Kathedern abgehaspelt
werden. Der Präsident taute immer mehr auf, denn Martiniz sprach von
einem bedeutenden Güterkauf, den er in hiesiger Gegend im Sinne habe,
und der gute Präsident glaubte nicht anders, als seine Aufmunterungen
haben den Grafen auf diesen vernünftigen Gedanken gebracht, und wenn
er es vollends dazu bringen könnte, daß der Graf die Gräfin Aarstein
-- er gratulierte sich schon im voraus zu einem allergnädigsten
Handschreiben, besah lächelnd seine Brust, wo nächstdem das Großkreuz
des Zivilverdienstordens paradieren werde, nannte Martiniz seinen neuen
Landsmann und sein liebes Gräfchen, und zog kichernd und schnalzend
über seine vortrefflich gelungene Negoziation zum Zimmer hinaus.


Das Tete-a-tete.

Solange er da war, war es dem Grafen und Ida ziemlich leicht zumut;
zwar prickelte es beiden ein wenig ängstlich im Herzen, denn das
Wiedersehen nach einem so wichtigen Moment, wie die gestrige
Mitternacht war, führt immer eine kleine unabweisbare Verlegenheit mit
sich; man ist nicht sicher, den Ton gleich wiederzufinden, in welchem
man sich verlassen hat. Denn das ist keinem Zweifel unterworfen, daß
man, wie in jedem Gespräch, so auch in dem Flüstern der angehenden
Liebe abends wärmer ist und in einer Viertelstunde weiter kommt als
den Morgen nachher, wo schon der Verstand mehr mit der Phantasie
über die Haushaltung rechnet. Daher war es Martiniz auf den ersten
Augenblick des Alleinseins mit Ida bange; er war so traulich von ihr
geschieden, er hätte ihr gestern abend alles, alles sagen können,
wovon sein Herz so voll war -- und jetzt, jetzt hatte er wieder allen
Mut verloren. Er hatte mit den ersten Damen von vier großen Reichen
gescherzt und gelacht, ohne sich von den imposantesten Schönen
verblüffen zu lassen -- wo war sein Mut, seine Gewandtheit diesem
Mädchen gegenüber? Es war aber auch unmöglich, bei dem Engelskind
die Fassung zu behalten; -- erfreute der herrliche Tannenwuchs,
das Ungezwungene, Graziöse der Haltung, das Auge, war man beinahe
geblendet von dem Lilienschnee der Haut, von der jungfräulichen
Pracht des Alabasterbusens, war man entzückt von dem Rosensamt
der blühenden Wangen, von den zum Kuß geöffneten Korallenlippen,
war man wunderbar bewegt von dem lieblichen Kontrast, den ihre
brand-brand-brand-raben-raben-kohlen-tinten-schwarzen Ringellöckchen
und orientalisch geschweiften Brauen mit den Cyanen-Augen machten, war
man hingerissen von dem Zauberlächeln, das die Grübchen in den Wangen,
die Perlen hinter dem schöngeformten Mund zeigte, hätte man hinfliegen
mögen, die zarte Taille mit dem einen Arm zu umfangen, mit dem andern
das Amorettenköpfchen recht fest Mund auf Mund zu drücken -- o! so
durfte sie ja nur das Auge aufschlagen, durfte nur jenen Blick voll
jungfräulicher Hoheit auf den sündigen Menschen und seine Begierden
herabblitzen lassen, so schlich man sich so ducks und geschmiegt hinter
die Grenzbarrieren der Bescheidenheit zurück, als haben einen zehn
Paßvisitatoren und zwanzig Gendarmes dahinter zurückgedonnerwettert.

Das ist der Zauber reiner Jungfräulichkeit. Man sage, was man will,
von Verdorbenheit der Sitten, und daß kein reputierliches Frauenzimmer
mehr allein auch nur eine Meile weit reisen könne; an den Männern
liegt es wahrhaftig nicht, sondern an jenen selbst, die ohne den
Schutz- und Geleitsbrief jungfräulicher Reinheit in Blick und Mienen
hinausgehen. Der Graf war kein solcher Geck wie viele unserer heutigen
jungen Herren, welche glauben, jedes Herz, das sie lorgnettieren, müsse
auch unwillkürlich von ihrer interessanten Erscheinung hingerissen
sein. Nein, seinem scharfen Auge war es nicht entgangen, wie Ida diese
saubern Herren, als sie sich mit ihrer dreisten, handgreiflichen
Unverschämtheit an sie drängten, hatte ablaufen lassen; wenn auch ihm
keine solche Zurechtweisung bevorstand, wenn er sich auch schmeicheln
durfte, von diesem Phönix von Mädchen vor allen ausgezeichnet worden zu
sein, wenn er sich auch eines höheren Wertes bewußt war, wer stand ihm
dafür, daß nicht dieses Mädchen, das gewiß auf ihre Freundschaft einen
hohen Wert legte, sich tief beleidigt fühlen werde, wenn er zärtlichere
Gefühle äußerte? Wer stand ihm dafür -- zwar der Hofrat hatte es ihm zu
dutzend Malen mit den fürchterlichsten Eiden geschworen, daß es nicht
so sei, aber was wußte der Hofrat von den Heimlichkeiten eines tiefen
Mädchenherzens? Wer stand ihm dafür, daß sie nicht schon einen Anderen,
Würdigeren lie--

»Nein! er konnte den Gedanken nicht ertragen; die ganze Nacht hatte es
ihn gepeinigt; die guten Betten, über welche er jeden Morgen der Frau
Mondwirtin viel Schönes gesagt hatte, waren hart und schneidend wie die
Latten, auf welche er sonst seine ungezogensten Ulanen geschickt hatte;
die Kopfkissen -- Jakobs Stein muß ein Eiderdaunenpfühl dagegen gewesen
sein, denn er konnte ja darauf schlafen und sogar eine Himmelsleiter
träumen, die ihn in den Himmel -- es peinigte ihn den ganzen Morgen und
Vormittag, bis er endlich den Riesenentschluß faßte, sich _Gewißheit_
zu verschaffen.

Noch auf der Treppe hatte er Löwenmut, er stieg die Stufen hinan, als
wären es die schiefen Seiten einer feindlichen Batterie; noch solange
der Papa dabei saß, flüsterte er sich zu, daß er mehr Mut besitze, als
er gedacht habe; ihr Blick schien ihm heute besonders glänzend, schien
ihn selbst aufzumuntern, aber nein, es war ja nur das gewöhnliche
freundschaftliche Wohlwollen; er wünschte den Papa zum Henker oder in
seine Kanzlei, und doch hätte er ihn, als er ging, beim Frackzipfel
nehmen und festhalten mögen; jetzt Mut! -- Aber es schnürte ihm die
Kehle zusammen, er konnte nicht anfangen, alles schien ihm zu gemein,
zu trivial für diese Stunde. --

»Warum so still und trübe, Martiniz?« fragte Ida, als der Graf noch
immer keine Worte finden konnte. »Sie sind doch wohl nicht krank?« Wie
wohl tat ihm diese Teilnahme! -- Das Gespräch war eingeleitet, und
dennoch konnte er nicht weiter. Da fiel ihm auf einmal ein Gedanke ein
-- er beschloß, ihn auszuführen; er nahm noch einmal das Thema von
vorhin auf und ging die Landsitze, die ihm angeboten worden waren,
einzeln durch; auf allen war Idchen bekannt; und wie unendlich hübsch
stand es dem Mädchen, wenn sie von der Landökonomie so kunterbunter
plapperte, wie ihr das Schnäbelchen gewachsen war. Es war ihm, als
säße er schon mit ihr abends vor der Türe seines Schlößchens, die
Kinderchen alle um ihn her im Gras, wie es auf seines Vaters Schloß
gehalten wurde, und neben ihm, neben ihm Ida als züchtiges, hübsches,
allerliebstes Frauchen; und wie sie dann -- nein, es war zu hübsch,
wenn er es sich vorstellte -- wenn sie dann sorglich die Kinder
hineinschickte -- und selbst aufstand -- und ihn bei der Hand nahm --
und die andere Hand ihm auf die Stirne legte -- und, ja -- und dann
sagte: Männchen, es macht hier unten schon etwas kalt, wollen wir nicht
zu Bett --«

»Da sitze ich schon ein gutes Halbviertelstündchen,« unterbrach Ida
mit fröhlichem Lachen sein Selbstgespräch, »und sehe Ihnen zu, wie Sie
so gar nachdenklich sind, als wollten Sie die Quadratur des Zirkels
ausklügeln; wo haben Sie nur Ihre Gedanken? Gewiß saßen Sie schon auf
irgend einem Landgut und sannen nach, wie lustig Sie sich dort die Tage
vertreiben wollen.«

»Ach,« antwortete Emil, »so lustig wird es wohl dort nicht werden, wenn
man so allein, so ganz allein auf der Erde ist.«

»Nun, das kommt ja nur auf Sie an, Sie können sich die Einöde froh
machen, können Freunde zu sich bitten --«

»Freunde?« fragte Martiniz mit sonderbarem Ausdruck der Stimme. »Es ist
wohl etwas Gutes um Freunde, aber sie kommen und gehen; und das Herz
verlangt nach etwas Bleibendem.«

»Wer bedenkt,« antwortete Ida mit gerührtem Blick auf den jungen Mann,
»wer bedenkt, wieviel Sie schon verloren haben, wird Sie um diese
Ansicht nicht schelten; Sie haben recht, es ist nichts Bleibendes auf
der Erde.«

So hatte es aber der Graf auch wieder nicht gemeint. »Nein,« sagte er,
»es hieße dem Leben seinen schönsten Reiz ablügen, wollte man dies so
streng behaupten; etwas ist, was dem Manne in jedem Wechsel bleibt.
Ihnen darf ich sagen, ich meine, Ihnen, die in dem ersten Augenblick
dem Unglücklichen ihre zarte Teilnahme schenkte, die durch die zarten
Bande der Gastfreundschaft mein Herz wieder für die edlen Freuden der
Geselligkeit öffnete, die, wenn alle Menschen mich verkannten oder
über mein Unglück spotteten, mir treue Teilnahme und reichen Trost
gewährte, die mir aus gläubiger, frommer Freundschaft selbst in jene
Schreckensstunde, die mich von den Menschen verbannte, nachfolgte,
die den Fluch von mir nahm, der mich von Land zu Land rastlos
fortscheuchte, dir, du reines, holdes, ewig heiteres Engelskind, darf
ich sagen, was mir fehlt, du hast mir ja immer geholfen, mir fehlt --
sei du es mir -- ein liebes Weib.« --

Mit steigendem Erstaunen war Ida der Rede Emils gefolgt -- ihr Auge
hing an seinen Lippen, ihre Hand zitterte in der seinigen, denn sie
meinte nicht anders, als ein neues, noch furchtbareres Geheimnis
zu vernehmen. Mit einem Schrei der Ueberraschung, der Freude, der
Verlegenheit flog sie daher vom Stuhle auf, als er endete. -- »Herr
Graf -- Marti--« stammelte sie in steigender Verlegenheit, ihr Gesicht
brannte in den hohen Gluten bräutlicher Scham. --

»Mein Mädchen, meine Ida!« flüsterte Martiniz und zog sie zu sich herab
in seine Arme, er nannte sie mit den süßesten Schmeichelnamen. »O, laß
mir noch _einen_ Glauben, noch _eine_ Hoffnung, laß mir noch _einen_
Trost, den deiner Liebe!« -- »Mein Emil!« hauchte sie aus den süßen
Lippen hervor -- und der Graf preßte sie in stürmischem Entzücken an
die Brust, wollte eben den ersten, heiligen Kuß reiner Lie--

Da schmetterten Posthörner die Straße herab, ein schwerer Reisewagen
rasselte dröhnend über das Pflaster und hielt vor des Präsidenten
Haus; aufgeschreckt wie ein Reh flog Ida aus des Grafen Armen und riß
das Fenster auf -- aber erbleichend trat sie zurück. -- »Mein Gott im
Himmel!« rief sie, »es ist die Gräfin Aarstein.« -- Die Saat des Bösen
reift schnell.



Zweiter Teil.


Das Unkraut im Weizen.

Die höllischen Latwergen und Rhabarbermüschen aus der Leumundsiederei
Schulderoff und Komp. taten ihre Wirkung vollkommen. Kaum hatte Onkel
Sorben, eine jener Hofseelen, die durch Intrigen geboren, mit Intrigen
großgezogen werden und sicher einmal an einer Intrige sterben, die sie
gegen den Tod oder den Meister Urian anzetteln -- Onkel Sorben hatte
kaum den Brief seiner liebenswürdigen Posaunenseraphsnichte zu Gesicht
bekommen, als er wie wütend nach seinem Stadtwagen schrie. War doch die
Geschichte so geschickt, so fein eingefädelt gewesen, und Geschenke
-- vom Herrn eine Dose, vom Staatssekretär ein Staatssouper, von der
Gräfin ein Paar Pferde, und sonst noch was, was ein alter Kauz wie er
nie verschmäht, und dies alles sollte ihm so ein naseweises Ding, die
kaum hinter den Ohren trocken, wegliebäugeln.

Die Röte des Zornes lag noch auf seinem Gesichte, als er bei der Gräfin
vorgelassen wurde, er traf sie allein, nur der Rittmeister Sporeneck,
ihr täglicher Gesellschafter, war dort. Der letztere hatte einen Brief
in der Hand, aus welchem er soeben etwas Unangenehmes vorgelesen haben
mochte, denn die Gräfin schien mit Mühe sehr heiter zu sein, ihr
kolossaler Busen wogte ungestüm auf und ab.

»Exzellenz,« krächzte Sorben aus seiner angegriffenen Brust hervor,
»Exzellenz! Da bekomme ich soeben ganz sonderbare Nachrichten von Ihrem
Zukünftigen aus Freilingen.« -- Die Gräfin und der Rittmeister warfen
sich bedeutende Blicke zu, aber der graue Hofmann ließ sich nicht
merken, daß er es gemerkt habe -- »ja, aus Freilingen; er soll dort ~en
passant~ ein galantes Verhältnis mit einer jungen Dame, des Präsidenten
von Sanden Tochter, angeknüpft haben; solches wäre nun unter andern
Umständen ziemlich gleichgültig, Exzellenz werden sich aber vielleicht
noch aus dem Brief aus Warschau erinnern, daß der Herr Graf ein
Schwärmer genannt wurde, und einem solchen, wissen Sie wohl, ist nicht
zu tr--«

»Nicht zu trauen, da haben Sie recht, lieber Sorben, da haben Sie
recht, und ich danke Ihnen für Ihren Eifer. Die Sache ist übrigens
einmal so weit eingeleitet, daß das Gräfchen daran muß, es mag wollen
oder nicht; -- was schreibt sein Onkel?«

Diese Querfrage brachte den Geheimrat beinahe ganz außer Fassung, denn
sein Gewissen sagte ihm, daß er in dieser Hinsicht ein gewagtes Spiel
spiele; als nämlich Graf Martiniz ins Land kam, als man überall von
seinem Reichtum sprach, der Staatssekretär ihn für eine gute Prise
erklärte und alle Segel aufspannte, um ihn für die Gräfin zu kapern, da
wollte es Sorbens Glücksstern, daß ihm eine bedeutende Rolle zufiel.

Er hatte in Karlsbad den alten Onkel Martiniz kennen gelernt und stand
jetzt noch in einiger Korrespondenz mit ihm. Sein Geschäft war es
daher, den alten Polen für die Heirat seines Neffen mit der Gräfin
Aarstein zu gewinnen; er hatte sich auch nicht anders gedacht, als
er werde leichtes Spiel haben, der alte Graf wußte ja nichts von den
fatalen Verhältnissen der Aarstein, und -- ja es mußte gehen, er
schrieb dem alten Martiniz und trug ihm gleichsam die Hand der Gräfin
für den Neffen an. Mittlerweile hatte er, um sich bei der Gräfin, die
dem regierenden Hause so nahe verwandt war, wichtig und unentbehrlich
zu machen, viel von seinem großen Einfluß peroriert, den er auf seinen
Intimus, den alten Martiniz, habe, und jedesmal, so oft auf die Heirat
die Rede kam, ganz zuversichtlich gesagt: »Es fehlt sich gar nicht, der
alte Pole muß wollen, was ich will, und damit holla!«

Das Ding hatte aber doch einen Haken; der Graf hatte seinem Karlsbader
Freund wieder geantwortet, daß diese Verbindung mit einer so erlauchten
Dame seinem Neffen wie dem ganzen Hause Martiniz nicht anders als zur
größten Ehre gereichen könne, und daß er sich unendlich freue, die
schöne Gräfin einmal als seine Schwiegernièce zu umarmen; bis hierher
war es nun ganz gut, jetzt aber kam der Haken; -- was übrigens _sein_
Votum in der Sache betreffe, schrieb er weiter, so müsse er sich mit
Wünschen begnügen, denn er habe den Grundsatz, in solche Affairen sich
auch nicht im geringsten einzumischen; sein Neffe kenne ihn auch von
dieser Seite vollkommen und wisse, daß er ihm zu keiner Verbindung
weder zu- noch abraten werde. Er solle einmal nach Liebe heiraten,
natürlich nicht unter seinem Stand; wenn er aber diese Grenze nicht
überschreite, gebe er seinen Segen zu jeder Wahl.

Das war nun ein verzweifelter Haken; Sorben hatte sich vorgestellt,
der Alte werde bei einer Gräfin Aarstein sogleich mit beiden Händen
zugreifen und sie dem Herrn Neveu als Frau Gemahlin präsentieren ohne
weitere Speranzien; wahrhaftig, man mußte im Norden noch weit, sehr
weit in der Kultur zurück sein, daß man von einer _Heirat nach Liebe_
sprechen konnte; doch der Karren war schon einmal verfahren und konnte
auf dieser Seite nicht mehr herausgehaudert werden, der alte Herr von
Sorben dachte also: »~Vogue la galère~, der alte Narr _muß_ wollen!«
machte gute Miene zum bösen Spiel und sagte dem Staatssekretär und der
Gräfin, der alte Martiniz sei vollkommen damit einverstanden. Ein böses
Gewissen behielt er aber bei der Sache noch immer; wenn ja das Gräfchen
Goldfischchen doch nicht anbeißen mochte -- nein! Er konnte den
Gedanken nicht ausdenken, er wäre ja um Ehre und Reputation gekommen,
denn auf _seine_ Nachricht von dem alten Grafen hin hatte man sich
nicht mehr geniert und von der Verbindung, als von etwas, das sich von
selbst verstünde, überall gesprochen.

Wie jetzt die Sachen standen, ging ihm das Wasser bis an die Kehle,
und die fatale Querfrage der Gräfin: »Was schreibt sein Onkel?«
hätte ihn beinahe aus aller Kontenance gebracht. Doch er faßte sich
und antwortete mit der heitersten Miene von der Welt: »Der ist, wie
ich schon oft gesagt habe, durchaus damit einverstanden, und diese
Verbindung liegt ganz in seinen Wünsch--«

»Wie? Ganz in seinen Wünschen? Damit einverstanden? -- Das sind nicht
die Ausdrücke, die Sie mir früher sagten; erinnern Sie sich, Sie sagten
mir, er schreibe, er sei von selbst auf den Gedanken gekommen, daß sein
Neffe mich --«

Höllenangst, Höllenpein nagte in Sorbens Brust; nein! wenn er
kompromittiert würde! Doch da galt kein Besinnen mehr. »Vollkommen
damit einverstanden, meine Gnädige, so vollkommen, sage ich, daß er
selbst zuerst auf den glücklichen Gedanken kam.«

»Nun, was wollen wir weiter?« fuhr die Gräfin ruhig fort. »Mein
Gräfchen wird nicht das ungehorsame Söhnchen spielen wollen, denn die
drei Milliönchen, die er von dem Onkel erben soll und die, wie Sie mir
sagen, wegfallen, wenn er mich nicht --«

Sorben schnitt greuliche Gesichter; es war ihm, als sollten ihm die
hellen Tränen hervorstürzen, daß er sich so dumm verplaudert hatte,
und dennoch sollte er lächeln und freundlich sein, er grinste daher
furchtbar wie einer, der ~Asa foetida~ oder recht bitteres Salzkonfekt
im Mund hat und doch zuckerhonigsüß dabei aussehen will.


Das Unkraut wächst.

Der Rittmeister hatte bis jetzt noch kein Wort gesprochen; aber
die Miene des alten Fuchses mochte ihm doch nicht so ganz spaßhaft
vorkommen, als sie aussehen sollte. »Mir scheint es, als dürfe man die
Sache nicht nur so gehen lassen, wie sie geht, und am Ende warten, ob
der Graf gehorsam sein will oder nicht, denn hole mich der -- verzeihen
Sie, gnädige Gräfin -- wenn ich selbst drei Millionen hätte, wie der
Goldfisch, der jetzt in Freilingen vor Anker liegt, so täte ich nach
meinem Sinn, und nicht wie mein alter Oheim wollte.«

»Das heißt also,« rief die Gräfin pikiert, »Sie würden Ihrem Kopf
folgen, auch zu den Füßen des Fräuleins Ida liegen und die Gräfin
Aarstein refüsieren?«

»Wie Sie nur so reden mögen?« antwortete der Rittmeister empfindlich,
»Sie wissen ja selbst, wie ich mit Ida stehe; aber ich wollte damit
sagen, daß der Graf Sie sehen muß. Und hat er Sie nur erst einmal
gesehen, nun, so stehe ich dafür, daß er keine weitere Vergleichung
anstellt, sondern zu Ihren Füßen liegt.«

Die Geschmeichelte schlug ihn mit dem Éventail auf die Hand und meinte
selbst, indem sie einen Blick in den deckenhohen Spiegel warf, daß
dieser Rat vielleicht so übel nicht wäre. Auch Sorben schien er das
einzige Rettungsmittel in seiner peinlichen Lage. Kommt die nur erst
einmal hinter den Polen, dachte er, dann sei ihm Gott gnädig. Denn wenn
_die_ einen lieben und von einem geliebt sein will, dann kostet es
vierundzwanzig Stunden, und er ist im Netz.

Sie hielten jetzt großen Kriegsrat. Die Nachrichten, die der
Rittmeister von seinem Kameraden Schulderoff aus Freilingen erhalten
und kaum zuvor der Gräfin mitgeteilt hatte, stimmten auf ein Haar mit
dem überein, was Fräulein Sorben ihrem Onkel geschrieben hatte. Ueber
den Tatbestand war also nicht der geringste Zweifel mehr. Aber wie dem
Grafen beikommen?

»Ist sie denn wirklich so hübsch?« fragte Sorben, um die feindliche
Stellung recht genau zu rekognoszieren.

»Hübsch?« lachte die Gräfin bitter. »Hübsch? Nun das müssen Sie ihren
~primo amoroso~, den Rittmeister, fragen. Wenn durcheinandergefitztes
Rabenhaar, ein Maul voll gesunder Zähne, ein Paar rote Bäckchen, eine
gedrechselte Hopfenstange von Körper, die mir die Nerven angreift, weil
man sie nicht berühren darf, ohne fürchten zu müssen, daß man eines der
zarten Gliederchen abknicke« (bei der kolossalen Riesen-Kürassierfigur
der Gräfin war dies nicht zu befürchten), »wenn dies alles für hübsch
gelten soll, so ist sie wunderschön. Ha, ha, ha! wunderschön! Nun, und
das -- muß man ihr lassen, viel Welt und Bonton hat sie auch. Denken
Sie sich, ich lasse mich herab, sie mir letzten Winter präsentieren
zu lassen, lade sie zu meinen Soirees und Hausbällen ein, aber siehe
da, Mamsell Zimperlich setzte mir keinen Schritt wieder ins Haus. Ob
dies nicht eine Sottise ohnegleichen ist? Und als ich mich einmal bei
ihrer Frau Pate, die einen Affen an ihr gefressen haben mußte, als ich
mich bei der Fürstin Romanow beklagte, warum die junge Dame sich so
impertinent gegen mich betrage, was meinen Sie, daß ich zur Antwort
erhielt? Denken Sie sich, das gute Kind sei zu unverdorben und keusch,
als daß sie sich in meinen Cercles gefallen könnte! Dergleichen kann
man von der Fürstin sich sagen lassen und es ohne Replik einstecken,
aber, ~ma foi!~ sonst von niemand. Also zu unverdorben und keusch! Nun,
der Herr Rittmeister da wird von ihrer Keuschheit zu sprechen wissen.
Wie ist es damit? Gestehen Sie!«

Der Rittmeister versicherte zwar auf das heiligste, daß er Ida immer
nur als ein reines Kind der Natur gefunden habe, aber sein höhnisches
Teufelslächeln bei diesen Schwüren, die Art, mit welcher er den
Stutzbart bis an die Ohren zurückriß und die Augen einkniff, ließ fast
erraten, daß er mehr wisse und erfahren habe, als er sagen wolle.

»Nun,« sagte Sorben, »wenn die Aktien so stehen, so ist es nicht
schwer, zu agieren. Sie, Exzellenz, heben den Grafen durch Ihre Reize
aus dem Sattel, der Rittmeister aber Ida, und zwar dadurch, daß er den
Grafen eifersüchtig macht. Er darf nur dem süßen Schwärmer schwören,
daß er die Gunst des Fräuleins Engelrein noch nie ganz genossen habe,
und dazu ein Gesicht machen, wie wir es eben gesehen haben, so muß der
gute Mann abgekühlt sein, als sei er nie entbrannt gewesen.«

»Aber wie soll dies alles geschehen? Wir können doch die Mamsell
Zimperlich nicht mit Extrapost kommen lassen, da sie erst vor vierzehn
Tagen die Residenz verlassen hat, und der Graf ist auch nicht so
schnell zu meinen Füßen zitiert, als Sie sich wohl vorstellen.«

»Ist gar nicht nötig,« replizierte Sorben, indem er seine Karte immer
hübscher mischte, »nicht nötig. Wie wäre es, ja, das wäre am Ende das
beste, wenn Sie selbst nach Freilingen gingen und dort dem ganzen Spaß
auf einmal ein Ende machten?«

Der Gedanke schien der Gräfin nicht übel zu gefallen. »Wahrhaftig,
es wäre so übel nicht,« antwortete sie sinnend; »der alte Präsident,
wahrhaftig, ich quartiere mich selbst bei ihm ein. Erst vor einem
Jahre hat er mich eingeladen, wenn ich einmal auf der Durchreise
auf meine Güter durch Freilingen komme, bei ihm abzusteigen. Das
wäre ein zu hübscher Spaß, Fräulein Ida in ihrem eigenen Hause den
Galan abzuspannen. Nein, der Einfall ist göttlich, und ich bin fast
entschlossen, ihn auszuführen.« Sorben atmete wieder freier, als er die
Gräfin auf so gutem Wege sah. Jetzt konnte, jetzt mußte ja noch alles
gut werden, und sein Ansehen, seine Ehre war gerettet. Er tat sich
nicht wenig auf seinen Witz zugut, mit welchem er so hübsch die Volte
geschlagen und sein zweifelhaftes Spiel korrigiert hatte. Noch einmal
riet er dringend zur Reise und empfahl sich.

Als er fort war, gestand die Gräfin ihrem Cicisbeo, daß sie nach
Freilingen reisen werde, und zwar gleich morgen, aber nur unter _einer_
Bedingung, nämlich _er_ müsse sie eskortieren. Einmal würde ihr die
Reise zu langweilig ohne ihn, und dann habe sie ihn auch höchst nötig,
um Ida bei dem Grafen aus dem Felde zu schlagen. Der Rittmeister sagte
freudig zu. Eine Reise mit einer solchen Frau war eine herrliche
Aussicht. Daß er als Reisestallmeister den Wein nicht zu schonen habe,
wußte er wohl. Nach Freilingen war es drei Tagereisen, wie angenehm
ließ es sich bei der Gräfin im Wagen sitzen, wie interessant ließen
sich die Verhältnisse weiterspielen, wenn man abends ins Nachtquartier
einrückte. -- Und dann, er kitzelte sich schon mit dem Gedanken,
sich an Ida zu rächen, in die er, er mußte es sich zu seiner Schande
gestehen, bis zum Tollwerden verliebt war, und die ihm nicht einmal ein
Küßchen -- nein, es war zu unverschämt. Bei andern hatte er nach den
ersten Präliminarien beinahe ohne Schwertstreich gesiegt, und dieses
Landpomeränzchen hatte ihm so imponiert, daß er es nicht wagte, nachdem
sie ihn einmal mit Verachtung abgewiesen hatte, noch einmal einen
Versuch zu machen. Und diese Blame war ausgekommen, man wußte es sogar
in dem kleinen Nest Freilingen, zwanzig Meilen von der Residenz, sein
Kamerad Schulderoff, die ehrliche Haut, hatte ihn beschworen, sich zu
räch-- es mußte sein. Rache wollte er nehmen an der stolzen Jungfrau,
daß ihr die Haut schaudern sollte.

Am andern Morgen fuhr ein Reisewagen mit den gräflich Aarsteinischen
Wappen zum Tore hinaus. Bald nachher jagte der Rittmeister von
Sporeneck mit seinem Jockei hinterdrein, eine Stunde vor der Stadt gab
er das Pferd dem Jockei und setzte sich in den gräflichen Reisewagen,
und fort ging es über Stock und Stein, bis man den Münsterturm von
Freilingen sah. Dort stieg er aus, küßte noch einmal eine schöne Hand,
die ihm aus dem Wagen geboten wurde, saß auf und ritt auf einem Umweg
in die Stadt, wo er sich im Gasthof zum goldenen Mond einquartierte.


Trübe Augen.

Ida fühlte einen tiefen Stich im Herzen, als sie die Gräfin aus dem
Wagen steigen sah: »Nun adieu, Liebes- und Lebensglück!« seufzte
sie, indem sie einen trüben Blick über Martiniz hinfliegen ließ und
zur Treppe eilte, um den erlauchten Gast zu empfangen. »Nun adieu,
Liebesglück, wenn dieses Weib in mein Leben greift!«

Sie zerdrückte eine Träne des Unmuts über ihr Geschick und ging weiter.
So ungefähr muß es jenen unschuldigen Tierchen zumut sein, wenn sie die
Riesenschlange erblicken und, von ihrem greulichen Anblick übertäubt,
nicht auf ihre Flucht denken, sondern in geduldiger Resignation dem
Verderben entgegengehen.

Mit jener Leichtigkeit und Grazie, die man in höheren Verhältnissen von
Kindheit an studiert, wußte die Gräfin schnell über das Unangenehme
der ersten Augenblicke hinüberzukommen. Sie war die Freundlichkeit,
die Herzlichkeit selbst. So weit hatte es freilich Ida in der Bildung
nicht gebracht, daß sie denen, die sie nicht lieben konnte, wie ihren
wärmsten Freunden begegnete. Auch war _sie_ die Ueberraschte und die
Gräfin die Ueberraschende, daher war Ida etwas befangen und zeremoniös
beim Empfang der hohen Dame; aber ihr natürlicher Takt sagte ihr, daß
sie jede andere Rücksicht beiseite setzen müsse, um nur die im Auge zu
haben, die Gräfin, die nun einmal ihr Gast war, anständig und würdig zu
behandeln.

Um wieviel edler waren die Motive, welche Ida bei ihrem Betragen
leiteten, als die der Gräfin! So verschieden als Natur und Kunst. Die
Aarstein wußte gegen jeden, auch wenn sie ihn bitter haßte und ihm
hätte den Dolch in den Leib rennen mögen, freundlich und leutselig zu
sein. Sie konnte ihm etwas Verbindliches sagen, wenn sie das bitterste
Wort auf der Zunge hatte. Aber so sind jene Gesellschaftsmenschen,
die nichts Höheres kennen, als sich so zu produzieren. Wenn man in
ihre Cercles tritt, glaubt man in die alten Zeiten zu kommen, wo noch
alles so brüderlich und freundlich war; da ist alles übertüncht, alles
hat den schönen Anstrich der Geselligkeit, aber man soll nur einmal
hinhorchen, wie es da über die ehrlichen Leute hergeht, wie medisant
da alles bekrittelt wird, wie da der Bruder, der Freund gewiß sein
darf, von dem, der ihm gerade noch so schön getan, ohne Schonung bitter
bespöttelt zu werden.

Aber ist es nicht überhaupt in der Welt so? Sucht nicht immer einer
dem andern so viel als möglich Abbruch zu tun? Wohl dem, der es dahin
gebracht hat, daß er ruhig in dieses böse Treiben hineinsieht und
dazu lächelt. Mit Ruhe und dem Bewußtsein, Gutes gewollt zu haben,
in der zufriedenen Brust, lache ich über den Spott meiner Neider,
über die hämischen Bemühungen jener Falschmünzer, die mit schnöder
Schadenfreude aus allem, was man je gesagt und gedacht, nicht gesagt
und nicht gedacht hat, Gift saugen und in ihrer frechen Leumundsiederei
ein Gebräu zusammenkochen, das sie gerne mir unterschieben möchten!
Sie sind zu bedauern, solche schlechte Menschen, die von Neid und
Scheelsucht gestachelt, so ganz den wahren Lebenszweck aus dem Auge
verlieren, glücklich und brüderlich untereinander zu wohnen! So
denke ich und viele Tausende mit mir über jene bösen Menschen in den
gesellschaftlichen Zirkeln und in der Welt überhaupt, so denken wir
und lachen, denn _das Spiel des Lebens sieht sich heiter an, wenn man
ein sicheres Glück im Herzen trägt, und froher kehr' ich, wenn ich es
gemustert, zu meinem schönen Eigentum zurück_.

So dachte auch Ida, als sie an der Hand der Gräfin die Treppe
hinanstieg; ein tröstender Gedanke lag recht hell in ihrer Seele,
sie verglich ihren innern Wert mit dem ihres Gastes und dachte,
wenn Martiniz mich liebt, wie ich ihn liebe, so wird er diese Frau
verachten, und wenn -- ach, sie durfte den Gedanken nicht recht
ausdenken, ohne daß ihr das Wasser in die Augen trat! -- nun, wenn er
an _sie_ verloren geht, so habe ich wenig verloren.

Es gab einen sonderbaren, aber schönen Anblick, wenn man die beiden
Damen so nebeneinander hingehen sah. Gräfin Aarstein, eine kolossale
Figur -- sie hätte ohne Anstand in jedem Garderegiment dienen können
-- voll, üppig gebaut, in ihren Bewegungen lag etwas Imposantes,
Majestätisches, Gebietendes, in ihren Mienen eine Hoheit, die an
Uebermut grenzte. Ihre dunklen Augen hatten das holde, mädchenhafte
Niederschlagen schon lange verlernt und rollten mit einem unstäten
Feuer umher, als suchten sie lüstern einen Gegenstand der Begierde,
oder als musterten sie alles umher, ob auch die gehörige Ehrfurcht
gegen einen Sprößling eines so hohen Hauses bewiesen werde. Ihr Gang
war etwas schwerfällig, weil die korpulente Figur für die in die
feinsten Pariser Atlasschuhe eingepreßten Füße etwas zu schwer war.

Neben ihr die leichte, schlanke, sylphidenähnliche Gestalt Idas, nein,
dieser Kontrast! Sie hielt sich zwar kerzengerade wie eine Tanne, aber
doch war das holde Lockenköpfchen ein wenig vorwärts gesenkt; das
sanfte Auge, oft niedergeschlagen in Demut, zeigte dennoch, wenn sie es
aufschlug, so glänzenden Mut, so feurige Lust und Liebe, so gebietenden
Ernst, daß es durch die sanfte Beredsamkeit überzeugender gebot als
das Rollauge der gebietenden Gräfin. Und um wieviel anziehender war
das Schelmengrübchen-Lächeln des süßen Mädchens als das schrankenlose
Lachen und Gurren der Gräfin, die durch ihre rauhe, tiefe Stimme jedes
Ohr verletzte. So schwebte Ida neben der Gräfin hin, so wie Juno und
Hebe traten sie in das Zimmer.

Martiniz sah finster durch die Scheiben auf den Wagen hinab, der ihn
so unbarmherzig aus dem süßesten Moment seines Lebens herausgerasselt
hatte. Er verwünschte den Gast, der gerade jetzt kommen mußte, wo er
endlich seinem Herzen Luft gemacht, wo er dem Mädchen, das er liebte,
das er anbetete, seine Gefühle gestanden hatte, wo er Gegenliebe, süße
verschämte Gegenliebe in ihren sanften Augen las, wo, wie von Engeln
des Himmels gesungen, »_mein_ Emil« von ihren Lippen tönte, wo er das
Engelskind im Arm, die Seligkeit erwiderter Liebe in der Brust, Himmel
und Erde vergaß und auf diese würzigen Purpurlippen, auf die bräutlich
errötenden Wangen den ersten, seligen Ku--


Die Gräfin agiert.

Die Flügeltüren flogen auf, und Ida, hoch errötend beim Anblick des
Geliebten, führte die Gräfin herein. Sie zitterte, von so vielen
gegeneinander kämpfenden Empfindungen bestürmt, die Stimme wollte ihr
beinahe versagen, als sie »den Grafen Martiniz« der »Gräfin Aarstein«
vorstellte. Sie sah die Erz-General-Kokette erröten, sie sah, wie
sie den bildschönen Mann mit ihren Feuerrädchen beinahe zu versengen
drohte; es zuckte ihr ganz eisig in das liebende, ängstliche Herzchen
hinein, als die Gräfin sich in einer nachlässigen Stellung auf das Sofa
warf, ihr zurief, sie möchte sich doch gar nicht genieren und ihre
Arrangements treffen, die ein so plötzlicher Ueberfall wie der ihrige
immer notwendig mache, sie möchte sich doch durchaus nicht genieren,
der Graf werde schon die Gnade haben, sie zu unterhalten.

»Da sei Gott gnädig,« flüsterte Ida in sich hinein, indem es ihr
fröstelnd und doch wieder siedheiß durch alle Glieder ging, »wenn die
so fortmacht, so müssen wir ja alle samt und sonders, den Grafen mit
eingeschlossen, zu ihren Füßen knien.«

Sie nahm ihre Schlüssel und ging; aber noch in der Türe warf sie einen
Blick auf Martiniz zurück, so voll Liebe und Besorgnis, als müsse sie
ihn bei einem reißenden Tier allein lassen.

»Ein liebes Kind, die Ida,« wandte sich die Gräfin an Martiniz, der
schweigend und gedankenvoll neben ihr Platz genommen hatte, »ein liebes
Kind, schade nur, daß man sie so bald aus der Pension genommen hat, ehe
sie noch die letzte Vollendung, das freiere Sichbewegen angenommen hat.
Nun, das macht sich noch gerade immer noch, wenn auch hier nicht gerade
der Ort ist, wo sie anständige Vorbilder dazu haben mag; in größeren
Städten findet sich dies eher.«

Sie hielt inne, als erwartete sie eine Antwort von dem Grafen, diesem
aber schien sein Kopf mit dem Herzen Ida nachgesprungen zu sein, und
jetzt erst, als die Gräfin nicht mehr sprach, nahm er sich zusammen und
beantwortete ihre Frage durch ein leises Kopfnicken.

»Warte, ich will dich schon aufmerken lehren,« dachte die Aarstein,
der die Zerstreuung des jungen Mannes nicht entgangen war. »In _einer_
Hinsicht ist es gut, daß das Fräulein aus der Residenz wegkam, Sie
können sich gar nicht denken, unsere Herren waren ganz rabiat, als
sie so lieblich aufblühte; die Straße vor dem Haus der Madame la
Truiaire wurde nicht leer von den Anbetern, und natürlich! ein solches
Mädchen hat denn doch auch ein Herzchen und fühlt sich durch diese
Aufmerksamkeit geschmeichelt. Uebrigens, das muß man ihr lassen, mit
dem größten Anstand wußte sie den Herren zu imponieren und sie sogar zu
verscheuchen; daß sie nun freilich bei dem Rittmeister von Sporeneck es
nicht ebenso machte, kann man ihr nicht verdenken.«

»So--o?« fragte der Graf, indem ein dunkles Rot seine Wangen überzog.
»Der Rittm--« -- »Nun ja« lachte die Gräfin, »da ist es auch kein
Wunder, daß sie ihn liebte und vielleicht noch liebt; wo ist denn in
der Residenz ein Damenherz, das er zu überwinden sich vorsetzte, und
das er nicht überwunden hätte? Er hat zwar etwas leichte Grundsätze,
ist aber sonst ein artiger Mensch; ~au fond~ ist es übrigens dennoch
gut, daß man das Mädchen schnell aus der Pension nahm, denn sehen
Sie -- da kommt sie ja selbst,« lachte sie Ida entgegen, die mit
liebenswürdiger, wirtlicher Geschäftigkeit Tee für ihren Gast brachte.
Beinahe hätte sie das ganze zierliche Dejeuner auf den Boden fallen
lassen, denn der Graf -- was mußte ihm nur begegnet sein? Er saß da so
bleich wie der Tod, den starren Blick auf sie geheftet --

»Nun, da erzähle ich,« fuhr die Gräfin Satanas, die mit teuflischer
Freude das zarte Band, das diese liebenden Herzen kaum erst umschlungen
hatte, zu zerreißen strebte, »da erzähle ich gerade dem Herrn Grafen
Ihre Affaire mit dem Rittmeister, und wie ich die arme Ida bedauere,
daß man sie so grausam herausriß aus der Wonne der ersten Lie--«

»Gnädige Frau!« rief Ida mit den Tönen des Schreckens und setzte die
Tasse nieder, die in ihrer zitternden Hand zu klirren begann.

»Nun, so erschrecken Sie doch nicht so, daß ich aus der Schule
schwatze; das nimmt man bei uns nicht so genau; wahrhaftig, der Papa
hätte auch keine ungeschicktere Zeit zu Ihrer Zurückberufung wählen
können --«

»Ich muß Sie bitten, gnädige Frau --«

»Ei, so lassen Sie doch die gnädige _Frau_,« fiel ihr die Aarstein
ins Wort, »ich kann das Wort Frau nicht ausstehen. Es ist mir gar
nicht, als ob ich Frau wäre, und wahrhaftig, ich bin es ja eigentlich
gar nicht,« setzte sie naiv und mit einem schalkhaften Lächeln gegen
Martiniz hinzu, »ich lebte nur ein paar Wochen mit meinem Herrn Gemahl,
Gott hat uns kein Kind beschert, und da bin ich ja eigentlich so gut
als Mädchen.«

Ida schlugen die Flammen ins Gesicht; solche frivole Aeußerungen mußten
ihre unentweihten jungfräulichen Ohren hören, ohne daß sie diese
wegwerfende Gemeinheit bestrafen konnte; und dann das dumme Aufziehen
mit dem Rittmeister, es war ja kein wahres Wort an der Sache; sie
konnte gar nicht begreifen, was nur die Gräfin damit wollte; hatte
sie ihn denn nicht so gut abgetrumpft wie jeden andern? Was mußte
nur Martiniz von ihr denken! Sie nahm sich vor, bei der nächsten
Gelegenheit ihn zu überzeugen, daß gewiß an der Geschichte mit dem
Rittmeister kein wahres W-- Aber nein, wie sah der Graf aus! Er hatte
die Lippen zusammengekniffen, daß sie ganz weiß wurden, sein Auge
rollte unstät umher, schien sie zu suchen, zu fassen, und doch schlug
er es nieder, so oft er ihrem Blick begegnete. Es war ihr ganz bange
ums Herzchen, als ahne sie irgend ein Unglück; sie klügelte hin und
her, was ihm sein könnte, und fand immer nichts.

Die Gräfin zog sich jetzt in ihre Zimmer zurück, um sich umzukleiden.
Ida sah ihr mit leichterem Herzen nach, denn sie hoffte -- sie gestand
es sich nur so halb und halb, daß sie es hoffte, aber sie hoffte, der
Graf werde vielleicht an dem Gespräch von vorhin fortmachen, aber sie
täuschte sich bitter; er sagte kaum ja oder nein, wenn sie ihn etwas
fragte, finster sah er immer vor sich hin, und nach ein paar Minuten
sprang er auf und ging. Was hatte man ihm doch getan? Es war und blieb
ihr unbegreiflich. Endlich aber fiel ihr ein, der Rittm-- ja, das war
es, eifersüchtig war der gute Graf. Sie mußte lachen, als ihr der
Gedanke kam. Sie fühlte sich so rein und unschuldig, daß es ihr ein
leichtes schien, den Grafen zu überzeugen; aber Strafe soll er leiden,
der Unartige, nahm sie sich vor; wenn er mir die Aarstein zuviel
ansieht, so will ich immer von dem Rittmeister sprechen und ihn recht
bös machen.

Das gute, fröhliche Kind; wie wenig dachte sie daran, was Eifersucht
Böses anrichten könne, wie wenig ahnte sie, was ihrer wartete!


Eifersucht.

Das Gift, das die Gräfin Natterzunge ausgespritzt hatte, wirkte viel
tödlicher auf Martiniz, als man hätte denken sollen. Ein anderer hätte
entweder der Gräfin keinen Glauben beigemessen, hätte gedacht: »Nun,
das ist so das gewöhnliche Sekkieren und wieder Sekkieren unter den
Damen,« und damit holla; aber auf sein Gemüt, das kaum erst von seinem
Trübsinn, von seinem Mißmut, seinem Unglauben an die Welt geheilt war,
auf ihn machte es einen viel tieferen Eindruck; dieses Mädchen, das so
hoch stand in seiner Meinung, auch dieses sollte so leicht wägen wie
alle? Auch sie sollte so zwanzig, dreißig Liebschaftchen und am Ende
noch eine rechte tüchtige Amour mit einem leichten Rittmeister gehabt
haben?

Aber wie? Wenn er sich recht fragte, was ging es denn ihn an, ob
ein Mädchen in der Residenz sich verliebt oder nicht, ob sie einem
Rittmeister viel oder wenig Gehör gibt? Was ging es denn ihn an? Das
flüsterte ihm sein tief zerrißnes Herz zu, das, daß sie die Maske der
hohen, reinen Jungfrau so künstlich vorhielt, daß sie ihn begünstigte,
ja, er durfte sagen, an sich zog, während sie noch einen anderen, wie
es schien, Unwürdigen im Herzen trug; aber vielleicht, es war ja doch
möglich, vielleicht war es doch nicht wahr, vielleicht hatte jener nur
sich eingebildet, von ihr geliebt zu werden, und er, er war vielleicht
doch ihre erste Lie--

»Bitte untertänigst um Vergebung, wenn ich störe,« schnatterte ein
Jockei, der während des Grafen Selbstgespräch ins Zimmer gekommen war,
»der Herr Rittmeister von Sporeneck --«

Was Teufel! Hatte nicht die Aarstein jenen Sporeneck genannt? Sollte er
hier sein?

»Lassen sich Exzellenz zu Gnaden empfehlen,« fuhr jener fort, »und ob
der Herr Graf dem Herrn Rittmeister nicht eines Ihrer Zimmer vornheraus
abtreten wollten?«

Da hatte er es ja; ein Zimmer sollte er abtreten, weil gerade gegenüber
Idas Boudoir, Besuch- und Schlafzim-- nein, er konnte es nicht tun,
diese Forderung war zu unverschämt -- gedankenlos starrte er den
Bedienten an, der ihm die Unglücksbotschaft hinterbracht hatte; dieser
glaubte, der Graf wolle noch weitere Aufträge von seinem Herrn, und
schnatterte weiter:

»Die Zimmer im oberen Stock sind zwar auch nicht zu verachten, aber
mein Herr hat gesagt, es sei ihm nur um die schöne Aussicht, und da
hat er gemeint, Exzellenz könnten vielleicht eines von den drei --«

»Nein! --« rief der Graf mit einem so schrecklichen Ton und rollte
so finster die Augen dazu, daß dem armen Jockei ganz wind und weh
dabei wurde, und er sich das Abschiedswinken des Grafen nicht zweimal
vormachen ließ.

Da hat er es ja sonnenhell, daß ihm das Licht in den Augen weh tat, da
hat er es; der Rittmeister, nichts Gewisseres, war bestellt worden und
hatte jetzt noch die Unverschämtheit, ihm ein Zimmer abzufordern, daß
er besser hinüber zu seiner Dulcinea -- Nein, in diesem Tone _konnte_
es nicht fortgehen; die Wehmut war stärker als die Bitterkeit und wurde
Herr über sie; er warf sich in sein Sofa und weinte bitterlich. So war
gewiß noch kein Mensch getäuscht worden wie er; der Zufall, der blinde
Zufall läßt ihn ein Mädchen finden, so hold, so schön, so ganz Unschuld
und reine Jungfräulichkeit; er muß sie lieben, und wie glücklich ist er
in dieser Liebe! Trost, Freudigkeit, Ruhe, Dinge, die er seit langer,
langer Zeit nicht gekannt, ziehen wieder ein in sein Herz, er fühlt
sich glücklich, wie er selbst damals, als noch sein Haus in Fülle des
Glücks und der Freude prangte, sich nie gefühlt hatte, er sah, ja,
er durfte es sich gestehen, er sah das Morgenrot der ersten, zarten,
jungfräulichen Liebe auf ihren Wangen aufgehen, und diese Liebe galt
ihm; mit _einem_ Zauberschlag schuf sie aus ihm, dem Unglücklichsten
der Sterblichen -- den Glücklichsten. Jetzt hatte er ja alles, was die
kühnsten Wünsche nur verlangen mögen; Gesundheit, Jugend, hohe Geburt,
Ehre und Ansehen, Geld, daß er den Markt von Freilingen mit Talern
hätte belegen lassen können, ohne daß er es sonderlich gefühlt hätte,
es fehlte ihm nichts mehr als das _eine_, ein holdes, tugendsames Weib,
und auch dieser hohe Wurf war ihm gelungen, er hielt im seligsten
Moment seines Lebens ein Mädchen im Arm, ein Mädchen, für dessen
Tugend er sein Leben gegeben hätte. Da sendet in dem Augenblick, wo er
sein Herz hingeben will, der Himmel eine Dame, die unwillkürlich den
Schleier ein wenig lüftet und ihn das Mädchen ein wenig näher kennen
lehrt, die ihn merken läßt, daß dieses Auge nicht zum erstenmal von
Liebe leuchte, dieser keusche Mund nicht zum erstenmal geküßt werde,
die, wenn man es gleich in der großen Welt nicht so genau nimmt, doch
selbst eingestand, daß es gut sei, daß man das Mädchen aus einem
unschicklichen Verhältnis herausgerissen -- abscheulich! Ein Teufel
in Engelsgestalt -- an eine Schlange, an eine Kokette hat er sein
Herz verloren, da, wo er schüchtern mit der verschämten Zartheit
erster Liebe um ein einziges Küßchen gebeten hatte, da hatten andere
geschwelgt! Er schämte sich wie ein Primaner, der die Rute bekommen
hatte, so betrogen, so schnöde angeführt worden zu sein; er gönnte
ihr, obgleich sein Herz dabei blutete, er gönnte ihr den Rittmeister,
es reute ihn beinahe, daß er ihm sein Logis versagt hatte, alle Zimmer
hätte er ihm geben sollen, er wollte morgen in alle Weite fortziehen.
-- Und dennoch drängte es ihn, noch dazubleiben; wenigstens rächen
wollte er sich an ihr, er wollte hinüber zu ihr, wollte sehen, wie sie
sich jetzt gegen ihn betragen würde, wollte sehen, ob sie jetzt, da der
rechte Liebhaber gekommen, ob sie jetzt noch die Stirne habe, ihn wie
bisher an der Nase herumzuziehen; tausenderlei nahm er sich vor, ihr
zu sagen, aber das eine war ihm zu spitzig und schneidend, er wollte
ihr nicht so arg weh tun, das andere war ihm zu weich, zu gefühlvoll;
er wollte ihr nicht zeigen, wie tief sie sein Herz verletzt habe --
das beste schien ihm, er wollte ganz und gar nichts mit ihr reden,
wollte tun, als ob gar keine Ida in der Welt sei, oder als sei sie ihm
wenigstens sehr gleichgültig, wollte ihr zeigen, daß er sie verachte.

Die Stunde, zu der man gewöhnlich beim Präsidenten Tee trank, hatte
schon geschlagen; er wischte sich daher schnell die letzte Träne, die
er der Dirne geweint haben wollte, hinweg, besorgte eilends seine
Toilette, warf sich in die Kleider, preßte das weich gewordene Herz mit
beiden Händen zusammen und ging dann den schweren Gang hinüber in jene
Zimmer, wo er einst so unendlich glücklich gewesen war.


Der neue Nachbar.

Es war, als sei ein feindlicher Dämon mit der Gräfin in des Präsidenten
Haus eingezogen. In wenigen Stunden war alles, das ganze ruhige stille
Leben des Hauses verändert. Alles rannte und flog, um den hohen Gast
zu bedienen; es war ein Jagen und Treiben, ein Rennen und Laufen,
daß man glaubte, der Feind sei vor den Toren. Der Aergste war der
Präsident selbst; ganz still verklärt, schlüpfte er in allen Ecken
des Hauses umher, zankte und hantierte, daß die Konfusion nur noch
ärger wurde, und ihn sein Mädchen, das vor Haushaltungsgeschäften und
Herzensangelegenheiten nicht wußte, wo ihr der Kopf stand, ihn um
Gottes willen bat, sie doch ganz allein machen zu lassen. Es war aber
auch kein Wunder, daß er sich ein wenig verrückt gebärdete. Der Himmel
hing ihm voller eigenhändig-durchlauchtigster Belobungsschreiben,
voll großer Verdienstkreuze mit breitem Band über die Brust, voll
Dotationen und Standeserhöhungen; jetzt war er in seinem Esse, jetzt
konnte er negoziieren und zeigen, daß er nicht umsonst in Regensburg
und Wetzlar in seiner frühen Jugend Diplomatie studiert hatte. Was er
mit seinen kühnsten Wünschen nicht für möglich gehalten hätte, führte
ihm ganz bequem der Zufall in die Hände. Der Staatssekretär hatte
ihm aufgetragen, dafür zu sorgen, daß Martiniz sich ankaufe und für
die Idee einer Verbindung mit der Aarstein gewonnen werde; es hatte
ihm wahrhaftig schon manche Sorge gemacht, ob er diesen Ausbruch
allerhöchsten Vertrauens auch gehörig rechtfertigen werde. Jetzt gab
der Himmel der Gräfin ein, auf ihre Güter zu reisen. Was doch nicht der
Zufall tut! Ohne daran zu denken, daß es wirklich einmal in Erfüllung
gehen könne, denn der gerade Weg führte zwei Meilen seitwärts an
Freilingen vorbei, hatte er einmal in der Residenz in einem Anfall von
galanter Laune der Gräfin das Versprechen abgenötigt, einmal auf ihrer
Reise bei ihm einzusprechen. Und wie glücklich fügte es sich jetzt!
Sie, die beim Herrn alles galt, die er behandelte wie seine eigene
Tochter und ihr alles zu Gefallen tat, sie, nach deren Wink die ersten
Chargen sich richten mußten, die, ohne daß man es merkte, an ganz
geheimen Fäden, das Land regierte, sie besuchte _ihn_.

Aber sie sollte auch gehalten werden, als wäre sie in ihrem eigenen
Hause, daß sie recht viel Schönes und Gutes höheren Orts von ihm und
seinem Hause sagen konnte. Kaum hatte sie geäußert, sie finde Idas
Zimmer im ersten Stock so hübsch, so mußte das Fräulein das Feld
räumen und in die zweite Etage wandern. Es kam dem Mädchen sauer
an, als sie so die Plätze wechseln mußte, und in ihrem traurigen,
ahnungsvollen Herzen wollte es ihr beinahe bedünken, als sei dies eine
schlimme Vorbedeutung. Und es war ihr auch gar nicht zu verdenken; sie
hatte das Fenster mit der Estrade so gerne gehabt, dort saß sie am
liebsten, dort las, dort arbeitete sie, sie durfte ja nur das Köpfchen
ein wenig heben, den blauseidenen Vorhang nur ein wenig aufheben,
nur einen kleinen Viertelsseitenblick hinüberwerfen, so sah sie ja
auch schon _ihn_; und jetzt sollte sie der verhaßten Nebenbuhlerin,
die ja offenbar nur gekommen war, um den Grafen in ihre Fesseln zu
schlagen, jetzt sollte sie dem üppigen Weib, die gewiß alle Künste der
Fensterkoketterie aufbieten werde, ihr heimliches Plätzchen am Fenster,
ihr lauschiges Schlafstübchen abtreten und dafür, weiß Gott wie lange,
in den weiten unheimlichen Zimmern des obern Stockes wohnen. Mit
Seufzen richtete sie ihre kleine Haushaltung oben ein. Die Stickrahmen,
die Staffelei, die Toilette, die paar Kistchen und Kästchen waren bald
gestellt; jetzt setzte sie einen Stuhl ins Fenster, sie probierte, ob
man nicht auch von da in den ersten Stock des Mondes hinabsehen könne;
es ging wohl, aber sie sah nichts als die Wolken seiner Gardinen,
er mußte schon herausschauen, wenn sie ihn von diesem Platz aus zu
Angesicht bekommen sollte, und das merkte sie schon, einen steifen Hals
konnte sie sich füglich gucken, wenn sie immer das Köpfchen hinabbog.
»Doch was schadet das,« lächelte sie, »das tu' ich ihm schon zu Gef--«

Mit einem Schrei des Entsetzens sprang sie auf, hatte sie recht
gesehen oder hatte ihr nur die Phantasie diese Gestalt -- als sie von
der Bel-Etage des Mondes zurückkehrte, und ihr Blick zufällig an den
Fenstern des zweiten Stockes vorbeistreifte, erblickte sie -- »Nein,
was bin ich für ein Kind!« dachte sie. »Wie wäre es möglich? Was könnte
er nur hier zu tun haben?« Sie wagte noch einen Blick -- richtig! der
Rittmeister von Sporeneck lag geradeüber von ihr im Fenster und bückte
und verbeugte sich herüber und tat und lächelte so vertraut und so
freundlich, als hätte er sie jahrelang gekannt.

Voll Unmut über den Unverschämten riß sie an der seidenen Schnur,
welche den Store am Fenster emporhielt, und rauschend rollte der
Vorhang zwischen sie und den verhaßten Lüstling. Dieser Mann war ihr
der widerwärtigste auf der Erde; er war ein schöner, kräftiger Soldat,
gebildet, von glänzendem Witz, angenehm in der Unterhaltung; er wußte
den Bescheidenen zu spielen, aber nicht länger als ein paar Tage, dann
-- das Mädchen, das er belagerte, _mußte_ ja in dieser Frist kirre
gemacht sein -- dann kehrte er seine wahre Seite heraus, sein Auge
wurde lüstern, seine Reden, lockend, schlüpfrig, mußten jedes zarte,
weibliche Ohr aufs tiefste beleidigen, wenn es nicht schon ganz für
ihn gewonnen war. So hatte er sich auch Ida genähert. Das unschuldige
Kind hatte Gefallen an seinen Gesprächen, die ihr ein wenig mehr
Gehalt zu haben schienen als die der übrigen jungen Herren, sie ging
oft in seinen Witz, in seine heitere Laune ein. Er aber hatte sich ein
rasendes Dementi bei diesem Mädchen gegeben. Er hatte sie in eine
Klasse gerechnet mit den verdorbenen Kindern der Residenz, die, zur
Jungfrau herangewachsen, unter dem Schleier der Sittsamkeit eine kaum
verhaltene Lüsternheit, ein sündiges Sinnen und Begehren verbergen.
Diese hatte er immer bald aufs Eis geführt, und waren sie nur einmal in
einem Wörtchen geglitscht und geschlüpfert, husch --; so hatte er auch
bei Ida endlich, nachdem er alle edleren Farben hatte spielen lassen,
die herausgekehrt, die jede andere geblendet hätte, aber vor dem
strengen Blick der reinen Jungfrau nicht Farbe hielt. Mit Schanden, man
sagt sogar mit einer tüchtigen Ohrfeige, war er abgezogen, erklärte Ida
überall für ein Gänschen, schwur ihr bittere Rache und warf sich in die
Arme der Aarstein, wo ihm ohne langweilige Präliminarien bald wurde,
was er bei Ida durch tausend Künste umsonst gesucht hatte.

»Das ist aber auch zu abscheulich,« dachte Ida, »so wenig sich zu
genieren!« Denn daß die Gräfin ihren Liebhaber mitgenommen, daß er auf
keinem anderen Wege nach Freilingen gekommen sei, das hatte sie gleich
weggehabt. Weiter dachte sich aber das gute, unschuldige Kind nichts
dabei. Sie kannte zwar die grundlose Schlechtigkeit der Aarstein so
ziemlich, sie wußte, daß diese gekommen sei, um den Grafen zu gewinnen;
aber das ahnte sie nicht, daß man den Rittmeister nur dazu mitgenommen
haben könnte, um sie von Martiniz' Herzen loszureißen, um sie in eben
jenem Lichte zu zeigen, in welchem sie die Gräfin sah. Nein, an diesen
wahrhaft höllischen Plan dachte das engelreine Herzchen, das allen
Menschen gerne ihr Gutes gönnte, nicht. Und wie sollte sie auch daran
gedacht haben? Sie glaubte ja gar nicht anders, als die Gräfin könne
von ihrer Liebe zu Martiniz auch nicht die leiseste Ahnung haben;
wußte ja sogar sie kaum seit Stunden, daß sie ihn recht innig liebe,
hatte sie ja doch all ihre Sehnsucht, all ihre Liebe recht tief und
geheimnisvoll im Herzchen verschlossen, und niemand könne, glaubte
sie, da hineinsehen, als vielleicht höchstens Mart-- ja, er mußte ja
gefühlt haben, daß sie ihm gut sei, sonst hätte er wohl nicht jenes
Geständnis gewagt, daß er sie lie--

Aber da schellte es schon zum zweitenmal in des Vaters Zimmer;
wahrhaftig! die Teestunde war da, und noch manches war zu rüsten; die
Gedanken an Rum und Zitrone, Zucker und Tee, Milch und Brötchen, Tassen
und Löffelchen verdrängten alle anderen; sie flog die Treppe hinab, um
schnell alles zu ordnen. Dort stand schon Papa und flüsterte ihr zu:
»Schicke dich nur, es sind allerhand Besuche da, und du könntest leicht
mehr Rum brauchen als das Bouteillchen da!«


Trau -- schau -- wem?

Als Ida in das Teezimmer trat, stellte ihr der Präsident, nein, sie
hätte mögen gerade in den Boden sinken. -- »Siehe da, Ida,« sagte er,
»ein Bekannter von dir aus der Residenz, Herr von Sporeneck, hat uns
diesen Abend mit seinem Besuch beehrt. Nun, das wird mein Kind freuen;
wenn so einer von euch Herren in unser kleines Freilingen hereinkommt,
ist es gleich ein Jubel und ein Fest für alle Mädchen, die nur einmal
in der Residenz waren; da werden dann allemal in Gedanken alle Bälle
und die kleinsten Touren noch einmal durchgetanzt und in der Erinnerung
viel getollt; ich kenne das,« setzte der freundliche Alte hinzu, indem
er sein Töchterchen in die Wange kniff, »war auch einmal jung und kenne
das.« Er ging weiter und ließ den Rittmeister vor Ida stehen.

Diese wurde bald blaß, bald rot und zitterte, als sollte sie gerade
umfallen. Dieser Mensch, den sie so schnöde abgewiesen hatte, dieser
konnte es wagen, in ihres Vaters Haus zu kommen! Sollte sie ihn nicht
öffentlich prostituieren; ihn einen impertinenten Menschen heißen und
fortschicken? Doch nein, sie wußte, wie heilig das Gastrecht ihrem
Vater war, sie wollte ihn schonen. -- So hing sie ihren Gedanken nach
und bemerkte nicht, wie der Rittmeister schon seit einigen Minuten
neben ihr stand und an sie hinsprach. Jetzt kam sie wieder zu sich
-- was mußte nur der Graf denken, wenn sie so lange bei dem Menschen
stand, mit welchem sie die Aarstein bei ihm so verdächtig gemacht
hatte? Ihre Augen suchten den Geliebten -- er saß neben der Gräfin,
traulich hatte sie ihre Hand auf die seine gelegt, unverwandt sahen
beide nach ihr und dem Rittmeister herüber -- die Gräfin mit höhnischer
Schadenfreude, mit triumphierendem Blick, der Graf starr und finster,
als sehe er etwas, das er gar nicht für möglich gehalten hätte.

Und so war es ihm auch; noch waren immer Zweifel in ihm aufgestiegen,
ob denn auch wirklich alles so sei, wie die Aarstein gesagt hatte, wie
sein Mißtrauen ihm zuflüsterte; zwar das Hiersein des Rittmeisters
-- doch er konnte ja auch in Geschäften an das hiesige Regiment
geschickt worden sein; dann die Zumutung, ihm ein Zimmer Ida gegenüber
abzutreten; nun ja, das war allerdings stark, und der böse Geist
wollte ihm zuflüstern, daß dies schon sehr viel beweise. Aber sein
besserer Sinn siegte doch wieder; das alles bewies ja nur höchstens,
daß der Rittmeister in Ida verliebt sei, von ihrer Seite hatte er ja
keinen Beweis gesehen. Aber recht Achtung wollte er geben auf Ida, das
war sein Entschluß gewesen, als er durch die hellerleuchtete Enfilade
von Präsidents Zimmern ging.

Er war heute einer der ersten, und in den hohen, weiten Zimmern beinahe
niemand, den er näher kannte, oder mit welchem er in ein Gespräch sich
hätte einlassen mögen. Daher ging er allein und in tiefen Gedanken
durch die Zimmer. Da tippte es ihm leise auf die Schultern; wenn das
Ida -- dachte er; er sah sich freundlich um -- es war die Gräfin. Sie
verwickelte ihn bald in ein Gespräch, aus welchem er sich nicht so bald
herauswirren konnte. Das fatalste war, daß er dem Redegang der Gräfin
Plapperinsky immer folgen mußte, um nicht zerstreut zu erscheinen, und
doch ging ihm immer der Rittmeister und sein Logis im Kopf herum.

»Nein, aber sagen Sie selbst, Graf,« fuhr sie fort, nachdem sie in
einer Pause wieder Atem geschöpft hatte, »sagen Sie selbst, kann man
artiger und aufmerksamer für seine Gäste sein als Ida? Denken Sie sich,
meine Coffres und Vaches waren schon in den oberen Stock gebracht
worden; es wohnt sich dort ganz hübsch, zwar sind die Zimmer nicht so
elegant eingerichtet wie hier unten, doch Sie wissen selbst, auf Reisen
macht man keine so großen Ansprüche, besonders wenn man so schnell und
unangemeldet kommt wie ich. Ich war also schon ganz zufrieden in meinem
Sinn und ließ auspacken. Da kommt das gute, liebe Engelskind, denken
Sie sich, und ruht nicht eher, bis ich von ihrem schönen Boudoir,
Schlafzimmerchen und allem hier unten Besitz nehme, und sie selbst
zieht in ihrem Edelmut hinauf in den obern Stock. Nein, sagen Sie
selbst, kann man die Gastfreundschaft weiter treiben als die gute Ida?«

»Sehr viel, sehr viel!« preßte Emil heraus, es war ihm, als schnürte
ihm etwas die Kehle zusammen, als ob eine eiskalte Hand ihm in die
Brust führe und das warme, liebeglühende treue Herz umdrehte und
schmerzlich hin- und herreiße. Jetzt war es ja sonnenklar, entschieden
war jetzt die fürchterliche Verstellungskunst dieser -- -- Dirne,
die so schändlich mit ihm gespielt hatte; daß zwischen dem Logis des
Rittmeisters und ihrer ungemeinen Gefälligkeit gegen die Gräfin ein
geheimer Zusammenhang stattfand, konnte ein Blinder sehen.

Er lachte, es war das Lachen der Verzweiflung, und die ganze Hölle
lachte aus ihm heraus. »Wahrhaftig, ein großes Opfer,« sagte er mit
schrecklicher Lustigkeit zu der Gräfin, »eine ungeheure Großmut,
die ganz allein aus der allerausgedehntesten Nächstenliebe und
Gastfreundschaft hervorgeht!« Die Gräfin Aarstein-Satanas wußte wohl,
daß sie sein Herz mit glühenden Zangen zwickte, wußte auch nur gar zu
gut, woher die Logisveränderung kam, aber so vollständig, so schnell
hatte sie sich ihren Sieg, ihren höllischen Triumph nicht vorgestellt.

Sie hatte ja nie so recht geliebt, sie wußte daher auch nicht, daß die
stärkste, glühendste Liebe zugleich die schwächste und empfindlichste
ist!

Jetzt kam auch der Rittmeister, der mit Empfehlungen an den Präsidenten
reichlich versehen war. Der Graf bebte zurück vor ihm. Dieses gierige
Auge, dieses höhnische Lächeln, diese falsche, schlaue, lauernde Miene,
so ganz ohne höhere Bedeutung, ohne edlere Züge, diesen Menschen konnte
Ida lieben! Er hätte jedem unter die Nase gelacht, der ihm vor zwei
Tagen, als er noch an die Engelsunschuld des lieben Mädchens glaubte,
hätte weismachen wollen; er hätte jeden einen Schurken geheißen, der
dieses heilige, keusche Geschöpf mit diesem Mann, in dessen Gesicht
schon alle Leidenschaften gewühlt hatten, nur im leisesten Verdacht
gehabt hätte. -- Jetzt mußte er ja selbst daran glauben. Wie ein Kind
ließ er sich von der Aarstein leiten, sie zog ihn zu sich nieder,
sie spielte die Verwunderte, den Rittmeister hier zu sehen, sie ließ
manche giftige Bemerkung schlüpfen -- er hörte nichts, er sah nichts,
nur _ein_ Gedanke beschäftigte ihn, er wollte recht haarscharf acht
geben, wenn sie käme, wie sie sich gegen Sporeneck benehmen würde. Die
Türe ging auf, sie kam. An der Hand des Vaters ging ihr der Geliebte
entgegen, er sah, wie sie ihr Entzücken unterdrückte, wie Blässe und
Röte auf ihrem Gesicht wechselten, wie sie ganz versunken in Liebe
dem Rittmeister zuhörte, und wie glühende Dolche fuhr die bitterste
Eifersucht durch sein Herz. -- »Sehen Sie nur hin, Graf,« flüsterte ihm
die Aarstein ins Ohr, »sehen Sie nur, wie glücklich die Leutchen dort
sind! Das ist ein Erzählen, das ist eine Wonne, daß man einander nach
ein paar Wochen wieder hat. Daß sie sich nicht auf der Stelle abherzen
und küssen, ist alles!«

Dem Grafen wurde grün und gelb vor den Augen. -- Jetzt nahte Ida, der
Gesellschaft am Teetisch ihr Kompliment zu machen. Die Röte des Unmuts
und der Verlegenheit lag noch auf dem Gesichtchen und gab ihm einen
so eigenen Reiz, daß der Graf nur um so tiefer fühlte, wie schrecklich
sich hier die Natur vergriffen und um ein so falsches, zweideutiges
Herz eine so herrliche Gestalt gezogen, warum sie gerade _ihr_, die
es so gar nicht verdiente, diese sanften Taubenaugen, dieses holde
Grübchen in den Wangen, dieses bezaubernde, huldvolle Lächeln gegeben.
Sie verneigte sich gegen die Gesellschaft, die Gräfin drohte ihr
lächelnd mit dem Finger, sie errötete von neuem. Sie mußte noch die
Zuckerdose herbeiholen, sie hätte einen viel näheren Weg gehabt, aber
sie machte einen Umweg an Martiniz vorüber, er wagte nur einen leichten
Viertelseitenblick -- auf ihn war ihr strahlendes Auge gerichtet, ihm
lächelte sie, ihm flüsterte sie im Vorbeigehen kaum hörbar zu: »Guten
Abend, Freund! Warum so ernst und düster?«

Er fühlte den süßen Hauch an seiner Wange, ein solcher Gruß hätte
ihn sonst bis in den dritten Himmel erhoben, ein solches Zauberwort
hätte sonst alle Wolken von seiner Stirne gebannt und die traurigsten
Falten geebnet. Heute -- er blieb starr und stumm. Nein, eine solche
Erzgeneral-Armee-Kokette mußte es ja auf dem weiten Erdenrund nicht
geben! Ist fünf Minuten außer sich, weil sie den alten Liebhaber
wiedersieht, und um es doch mit dem neuen nicht zu verderben, flüsterte
sie ihm -- nein! jetzt sprudelte das Maß ihrer Schuld über. Der
reine, wahrheitsliebende Jüngling konnte ihr verzeihen, daß sie einem
so zweideutigen Menschen, wie dieser Sporeneck offenbar sein mußte,
ihr Herz schenkte, er konnte ihr verzeihen, obgleich es ihm das Herz
brechen wollte, daß sie mit ihm ein so grundfalsches Spiel gespielt
hatte, er konnte es der schwachen, weiblichen Natur beimessen, daß
sie sich, als der alte Liebhaber nahte, so ungeheure Blößen gab, er
konnte dies alles verzeihen. Daß sie aber auch jetzt noch ihr Spiel
fortspielen wollte, daß sie zweien auf einmal gehören wollte, nein, das
ging über seine Begriffe. Er mußte, seine Natur mochte sich dagegen
sträuben, wie sie wollte, es war ihm, als müsse er sie verachten. Aber
sie hatte recht, obgleich in einem andern Sinn. Seine Ehre forderte
es, daß er nicht dasaß wie ein armer Sünder, über welchen der Stab
gebrochen wurde. Wenn auch besiegt, durfte er nicht traurig aussehen.
Er wollte, er _mußte_ lustig sein, und sollte sein Herz dabei aus allen
Wunden bluten.

Der Hohn gegen die ganze Welt, der in der Brust des Tiefgekränkten
aufstieg, gab ihm Kraft dazu. Eine Lustigkeit bemächtigte sich seiner,
die er seit Jahren nicht gekannt hatte. Er riß das Gespräch an
sich, er strahlte von Witz und Leben, daß alle weiblichen Herzen dem
herrlichen Mann, dem schönen, witzigen Grafen zuflogen. Allen galt sein
Gespräch. Sein feuriges Auge schien jeder Dame etwas Schönes sagen zu
wollen, ausschließend aber galt es der Gräfin. Er wußte selbst nicht,
was ihn antrieb, ihr so sehr als möglich den Hof zu machen, aber es
war ein dunkles Gefühl in ihm, als müsse es Ida recht tief verletzen,
wenn er die Gräfin so sehr auszeichne, wenn er alle Damen für sich
gewinnen wollte und ihr, ihr allein keinen Blick, kein Lächeln gönnte,
nicht einmal zu hören schien, wenn sie hie und da ein Wörtchen mit
einschlüpfen lassen wollte.

Und in der Tat erreichte er seinen Zweck vollkommen. Er hatte es
getroffen, tief bis ins innerste Leben getroffen dieses treue Herz,
das nur für ihn, mit dem Feuer der ersten jungfräulichen Liebe nur
für ihn schlug! Ihr Blick hing an seinen Lippen, sie freute sich
anfangs, daß er so fröhlich sei, sie glaubte nicht anders, als die
paar Wörtchen, die sie ihm zugeflüstert, haben ihn aus seiner finstern
Laune hervorgezaubert; ihr kleines Herzchen triumphierte. Als sie aber
sah, wie er sich an alle wandte, nur an sie nicht, wie auch nicht
_ein_ Blick der Freundin galt, wie er nur für die Aarstein zu leben
schien, als sie seinen schneidenden Hohn, die grelle Lustigkeit, den
schillernden Witz, der ihm sonst gar nicht eigen war, bemerkte, da
ahnte ihr wohl, daß ihm jetzt ein anderes Gestirn aufgegangen sein
müsse, das seinen Einfluß auf ihn übe. Und wer konnte dies sein
als die, die ihr von jeher feindlich entgegengetreten war? -- Die
Aarstein! Der Glanz der üppigen Rose hatte ihn geblendet, was konnte
es ihm ausmachen, daß er nebenbei das Veilchen zertrat? Sie klagte
nicht, sie weinte nicht, aber eine furchtbare Blässe lag auf dem
holden Engelsgesichtchen, ein wehmütiges Lächeln spielte um ihren
Mund, sie sah ja alle die leise geahnten Hoffnungen ihres Herzens, die
sie, ach! nur in einem einzigen seligen Augenblicke, recht klar sich
gestanden hatte, sie sah sie alle mit einemmal versinken und -- mit
dem Freunde untergehen. Von Anfang war es ihr noch, als flattere eine
Art ängstlicher Eifersucht in Gestalt einer Fledermaus durch den kaum
dämmernden Morgenhimmel ihrer Liebe. Dann aber war alles stille Nacht
in ihr. Es blieb ihr nichts mehr als ein großer Schmerz. Sie fühlte,
daß sie diesen ewig, ewig in ihrem treuen Busen tragen werde.


Der Gram der Liebe.

Wie es an jenem Abend war, ebenso war es auch in den nächsten Tagen.
Der Hofrat hätte vielleicht alles bald wieder ins Gleis bringen
können, aber das Unglück wollte, daß er in wichtigen Angelegenheiten
an demselben Abend verreisen mußte, an welchem die Gräfin ankam. Die
Gräfin schrieb, so oft sie es unbemerkt tun konnte, an den Rittmeister
in den Mond hinüber und spornte ihn an, Ida nur noch immer mehr zu
verfolgen. Nach den letzten Briefen schien es zwar wegen ihrer selbst
nicht mehr nötig zu sein, weil sie den Grafen schon so umgarnt zu haben
glaubte, daß an kein Entrinnen mehr zu denken sei. Dem war aber nicht
also. Dem Grafen, der nur durch die Brille der Eifersucht sah, wollte
es trotz seiner Resignation fast das Herz abdrücken, daß Ida in einem
solchen Verhältnis mit dem Rittmeister sei. Wenn er bei Präsidents war,
ach, es war ja nicht wie ehemals; sonst war sie ihm wohl bis an die
Treppe entgegengesprungen, hatte mit lachendem Mund ihn geneckt oder
ihm einen neuen Schnack aufgetischt, hatte ihn dann unter Tollen und
Lachen hereingezogen ins Zimmer, dort war dann das Mäulchen gegangen
wie ein oberschlächtiges Mühlchen, und keine fünf Minuten hatte sie
ruhig sitzen können, ohne daß sie aufgesprungen wäre, dort was zu
holen, hier was zu zeigen, und welche Freude gewährte es dann, das
Mädchen dahinhüpfen zu sehen! Ihr Gang war dann Tanz, alles war Leben,
alles Grazie und Anmut, es war, wie wenn über die ganze Gestalt _ein_
zauberisches Lächeln gewoben gewesen wäre, und jetzt -- und jetzt!

Kalt und ernst sah sie ihn an, wenn er kam; oft wollte es ihn zwar
bedünken, sie setze schon an, um ihm wie sonst entgegenzuhüpfen, da
mußte sie aber wohl an den Sporeneck denken, denn sie neigte sich so
abgemessen, als wäre er ihr ganz und gar fremd; oft kam es ihm sogar
vor, als liege etwas so Wehmütiges in dem lieben Gesichtchen, das
er sich nicht anders erklären konnte, als daß es sie reue, ihn so
am Narrenseil geführt zu haben, daß sie sich schäme, so unverhofft
demaskiert worden zu sein. Zuzeiten wünschte er sich auch den Hofrat
herbei, um mit ihm über das Mädchen und seine grenzenlose Koketterie zu
sprechen.

Daß doch die Männer gewöhnlich so grausam sind und nicht sehen, was so
offen vor den Augen liegt! Sie lesen in Taschenbüchern und Romanen
alle Folgen unglücklicher, verschmähter Liebe, alle Zeichen eines
gebrochenen Herzens; sie können es sich auch in der Phantasie recht
lebhaft vorstellen, wie ein gutes, liebes Engelskind mit einem vom
Gram der Liebe gebrochenen Herzen aussehen müsse, sie nehmen sich vor,
das _nicht_ zu vergessen; aber wenn es drauf und dran kommt, wenn sie
selbst aus Uebermut oder törichter Eifersucht ein schönes, nur für sie
schlagendes Herz gekränkt, geknickt, gebrochen haben, da merken sie es
nicht, sie können sogar noch ein recht ungläubiges Hohngelächter der
Hölle aufschlagen, wenn man ihnen die stille Träne im trüben Auge, den
wehmütig ansprechenden Zug um den Mund zeigt, wenn man sie aufmerksam
macht auf die immer bleicher werdenden Wangen. »Da wird man seine
Gründe haben,« lachen sie und gehen ungerührt vorüber und denken nicht,
daß man auch ohne Doktor und Apotheker am gebrochenen Herzen sterben
könne.

Die Eifersucht macht blind; nirgends schien dieser Ausspruch besser in
Erfüllung zu gehen, als hier bei Martiniz und Ida.

Für ihren tränenschweren Blick, für ihren wehmütigen Ernst wußte er
tausend Gründe anzugeben, wußte sich mit wieder tausend Vermutungen zu
quälen und zu härmen, die rechte fand er nicht. Es war eine wunderbare
Veränderung vorgegangen mit diesem Mädchen in den paar Tagen. Sonst
das Leben, die Fröhlichkeit selbst, jetzt ernst und abgemessen.
Die bleicheren Wangen, das trübere Auge, das ja so deutlich von
tränenvollen Nächten, von gramerfüllten Träumen sprach, wollte niemand
verstehen, am wenigsten der, um welchen diese stillen Tränen flossen.
Es war ihr oft zumut, als sollte sie nur eben die heißen, ausgeweinten
Augen zuschließen und sich in das Grab legen lassen; dort, wenn die
Erde so kühl um die vier Bretter und zwei Brettchen, welche die arme
Ida umschließen, sich legen werde, dort, wo sie nicht mehr gefoltert
werde von dem Anblick, wo ihr geliebter Jüngling näher und näher,
enger und enger in die Schlingen jener Sirene sich verwickele -- dort,
dachte sie, müsse es gut schlummern sein. Denn das war ihr ja das
ärgste nicht, daß sie zurückgesetzt war; nicht, daß sie es war, die er
verließ, um sich dem Triumphzug der allgemeinen Siegerin anzuschließen,
nicht das brach ihr das Herz. Zwar es hatte ihr Mühe und Tränen
gekostet, bis sie es dahin gebracht hatte, daß sie nicht mit Bitterkeit
daran dachte, daß er, als kaum das Geständnis seiner Liebe über
seinen Lippen war, schon andern Sinnes sein konnte; aber sie hatte
überwunden; sie war tief in sich gekehrt; aus den geheimnisvollen,
unergründlichen Tiefen der heiligen jungfräulichen Brust hatte sie Mut
heraufgeholt, um den Gedanken zu ertragen, daß der, den sie liebe,
einer andern angehören könne.

Aber dagegen sträubte sich mit aller Macht ihr keusches, bräutliches
Herz, daß er an _jene_, auf welche die Kinder in der Residenz mit den
Fingern deuteten und sich ihre Schandtaten erzählten, daß er an _jene_
verloren gehen sollte. Wäre er ein Mann gewesen, der frech mit ihrem
armen, unerfahrenen Herzchen gespielt hätte, sie hätte es ertragen,
daß er bei der Gräfin dafür büßen sollte; aber Emil -- ihr feiner,
weiblicher Takt, der darin so weit und so scharf sieht, sagte ihr, daß
er noch ein Neuling in der Liebe sei, daß er sein Herz frei bewahrt
habe, bis sie ihn kennen gelernt habe, daß _sie_ seine erste Neigung
gewesen sei; und doch er, der so namenloses Unglück schon erduldet
hatte, auch er sollte durch dieses Weib unglücklich werden? Ach, wie
oft wünschte sie sich ihren alten Freund, den Hofrat, herbei! Ihm hätte
sie alles, alles vertraut, auch jenen Augenblick der seligen Liebe,
wo er ihr gestand, daß er sie liebe, wo er sie umschlang und an sein
pochendes Herz drückte, wo er sie mit den süßesten Schmeichelnamen der
Zärtlichkeit genannt, wo ihr Mund sich schon zum ersten, heiligen Kuß
der Liebe ihm entgegengewölbt hatte; dies alles war ja längst vorüber,
war begraben, tief, tief in ihrem Herzen, mit aller Hoffnung, aller
Sehnsucht, die es einst erweckt hatte; aber Berner durfte es wissen,
ihm hätte sie alles gesagt und ihn dann zum warnenden Schutzgeist für
den Grafen aufgerufen.

Aber er war noch nicht zurück, darum verschloß sie ihren Schmerz in
die Seele; aber mit Angst und Zittern sah sie, wie der Graf um die
Aarstein flatterte wie die Fliege um das Licht. Alle Beispiele von den
sinnlichen Lockungen dieser Sirene, die man sich in der Residenz in
die Ohren geflüstert, fielen ihr bei; wie leicht konnte er in einem
unbewachten Augenblick, hingerissen von den verführerischen Reizen der
üppigen, buhlerischen Dame Potiphar -- sie errötete vor dem Gedanken
und preßte die Augen zu, als sollte sie was Schreckliches sehen. Wenn
etwas solches geschah -- dann war er der Gräfin und dem Satan auf ewig
verschrieben.


Feine Nasen.

So verdeckt hier jedes sein Spiel spielte, so geheim alle diese Fäden
gesponnen, angeknüpft und nach und nach zu einem dichten Gewebe
verschlungen wurden, so merkte man doch hin und wieder, was vorging.
Fräulein von Sorben und die alte Schulderoff wurden von Tag zu Tag
durch die getreuen Rapporte des Rittmeisters von Sporeneck über
den Stand der Dinge belehrt. Ihre scheelblickenden Augen glänzten
vor Freude, wenn sie wieder Neues erfuhren. Der Graf war ihnen ein
verlorener Posten, den Fräulein Ida weder mit Tränen noch Gebet wieder
heraushauen konnte.

Nichts war ihnen aber größeres Labsal als das Fräulein von der
traurigen Gestalt selbst, wie sie Ida nannten. Daß sie ernster,
blässer, trüber war als sonst, war weder ihrem noch des Rittmeisters
Scharfblick entgangen, und eine wahrhaft teuflische Schadenfreude,
die sich in einem vierstimmigen Gelächter Luft machte, befiel sie,
als Sporeneck erzählte, daß er sie durch seinen Tubus, mit welchem er
hinter seinen Gardinen nach Idas Fenster visierte, bitterlich habe
weinen sehen.

Aber Fräulein von Sorben sorgte auch dafür, daß Ida in ihrer
Verzweiflung sich nicht dem Rittmeister in die Arme werfen konnte;
sie hatte alle ihre Geistes- und Körperreize teils vor ihm entfaltet,
teils durchschimmern lassen, und ihrem scharfsinnigen Auge konnte es
nicht verborgen bleiben, daß er ganz bezaubert davon war. Es ist nur
schade, daß er auf die Liebe so trefflich eingeschult war, daß er sechs
oder acht der zärtlichsten Liebschaften zumal haben konnte und jede
die Betrogene war. So hatte also die beleidigte Dame dem naseweisen
Backfisch, der sich erdreistet hatte, in ihrer Gegenwart Grafen in sich
verliebt zu machen, zwei Liebhaber auf einmal weggeputzt. »Da kann
man sehen,« sagte sie zu sich, »was die Routine macht. Das armselige
Ding ist kaum sechzehn Jahre gewesen, ich habe sie noch in den Windeln
gesehen, und sie will sich mir gleichstellen. Aber das Affengesicht
hat jetzt seinen Lohn, man hat dem unreifen Ding den Mund sauber
abgewischt, hat ihr die verliebten Aeuglein ausgeputzt, daß sie sieht,
daß in der ganzen Welt vierundzwanzig vor sechzehn kommt.«

Aber auch der alte Brktzwisl, die gute ehrliche Seele, hatte das
Ding so ein wenig gemerkt. Als sie damals miteinander aus der Kirche
gekommen waren -- seitdem hatte der schreckliche Wahnsinn seinen Herrn
kein einziges Mal mehr befallen -- damals hatte er sich ein Herz
gefaßt und zu dem Grafen gesagt: »Wie doch das Fräulein so hübsch, so
tausenddonnernett aussah am Altar. ~Bassa manelka~, wie müßte sie erst
aussehen bei Tag und als Bräutchen --!« Dem Grafen schien der Gedanke
nicht übel einzuleuchten, denn er hatte zufrieden gelächelt und gesagt:
»Nun, was nicht ist, kann noch werden.« Er aber hatte sich folgenden
Tages gleich hingesetzt und an den alten Herrn Grafen geschrieben:
»So und so, und dem gnädigen Fräulein und sonst auf Gottes weitem
Erdboden niemand ist man die Rettung meines Herrn schuldig. Es kann
aber auch in sechs Herrenländern kein solches Wunderkind mehr geben.
Die selige Komtesse war doch auch nicht, mit Respekt zu vermelden,
aus Bohnenstroh, aber Gott weiß, sie reichte dem schönen Fräulein das
Wasser nicht. Und vornehm sieht sie aus, als wäre sie allerwenigstens
ein Stück von einer Prinzeß. Der junge Herr ist aber auch rein in sie
verschossen, und ich meine, daß es nicht menschenmöglich gewesen wäre,
ihn zu kurieren, außer durch so große Inbrunst und Liebhaberei. Das hat
ja auch schon der deutsche Doktor prophezeit, wie ich Euer Exzellenz,
meinem gnädigsten Herrn Grafen, vermeldet habe.«

So lautete die Freuden-Epistel an den alten Onkel, worin die Errettung
vom Wahnsinn gemeldet wurde. Die Freude wollte dem alten Diener beinahe
die Herzkammertüre zersprengen, bis er die Buchstaben alle aufs Papier
gemalt hatte. Bisher hatte er allwöchentlich Bericht erstatten müssen.
Da hatte es denn aus Italien, Frankreich, Holland, vom Genfer See,
am Rhein, an der Seine, an der Nordsee immer geheißen: »Der Herr
Graf befindet sich noch im alten Zustand.« -- »Die Krankheit scheint
zuzunehmen.« -- »Die Aerzte wußten wieder nichts.« -- »Die Aerzte geben
ihn auf.«

Hier in dem unscheinbaren Städtchen, hier endlich sollte das Heil, der
Stern des Segens aufgehen. Er konnte sich die Freude des alten Herrn
denken, der so ganz an Emil wie an einem Sohn hing; er sah schon im
Geiste, wie der Herr Graf lächeln, die Hände reiben und rufen werde:
»Nun, in Gottes Namen, macht Hochzeit!«

Aber jetzt mußte der Teufel ein Ei in die Wirtschaft gelegt haben, denn
sein Herr -- der sah gar nicht mehr so glücklich und selig aus wie
damals, als jene Freudenbotschaft abging -- er war niedergeschlagen,
traurig; fragte der alte Brktzwisl, dem aus alten Zeiten eine solche
Frage zustand, was ihm denn fehle, so erhielt er entweder gar keine
Antwort oder der Graf stöhnte so schmerzlich, daß es einen Stein hätte
erbarmen mögen, und sagte dabei: »Du kannst mir doch nicht helfen, alte
Seele!«

Es wollte ihm nun gar nicht recht gefallen; er klügelte hin und her,
was es denn wohl sein könne, das seinen Herrn auf einmal so stutzig
und trutzig mache -- da ist ein Gast drüben bei Präsidents, eine große
Dicke, so halb Jungfer, halb Frau, hat die vielleicht Unkraut gestr--

Ja, das konnte sein, das schien dem alten Brktzwisl sogar
wahrscheinlich; wenn er aber dieser nachlief und das schöne Fräulein
im Stich ließ -- nein, er wollte seinem Herrn nichts Böses wünschen,
aber da soll ihm doch das siedende Donnerwetter auf den Leib -- er
schlug zu diesem Gedanken so grimmig auf seines Herrn Rock zu, den er
im Hausgang ausklopfte, daß der Staub in dichten Wolken umherflog. »Ja,
da wollte ich,« rief er in seinem Selbstgespräch weiter und klopfte
immer schrecklicher, »wenn du die dicke Trutschel nimmst und das schöne
Fräulein, die dich aus den Klauen des schwarzen Teufels herausklaubte,
wenn du die fahren läßt, alles siedende Schwefelpech des Fegfeuers soll
dich dann kreuzmillionenmal --«

»Wen denn?« fragte eine tiefe Stimme hinter ihm. Er sah sich um
und glaubte nun gleich in den Boden sinken zu müssen. Ein großer
ältlicher Mann, mit feinen klugen Gesichtszügen, in einem schlichten
Reiseüberrock, dem nur ein vielfarbiges Band im Knopfloch einige
Bedeutung gab, stand vor ihm. »Alle guten Geister!« stammelte endlich
Brktzwisl, indem er den Fremden noch immer mit weit aufgerissenen Augen
anstarrte -- »wie kommen Euer Ex--«

»Halt jetzt dein Maul von dergleichen,« sagte der Herr mit dem
Ordensband freundlich, ich reise inkognito und brauche diesen Firlefanz
nicht; wo ist dein Herr?«

Starr und stumm bückte sich der alte Diener mehreremal, führte dann den
fremden Herrn den Korridor entlang zur Türe seines Herrn, erwischte
dort noch einen Rockzipfel, küßte diesen mit Inbrunst und sah zu seiner
großen Herzensfreude, wie sein junger Herr mit einem Ausruf der Freude
dem Fremden in die Arme sank.

Der Fremde war aber niemand anders als -- doch gerade fällt uns ein,
daß der Herr, wie er sich gegen Brktzwisl äußerte, inkognito reiset,
und es wäre daher auch von uns höchst indiskret, wenn wir dieses
Inkognito früher verrieten, als der fremde Herr selbst für gut findet,
es abzulegen.


Der Herr Inkognito.

Ein stiller, aber scharfer Beobachter erschien jetzt auf dem
Schauplatz, es war der fremde Herr, den der Graf unter dem Namen eines
Herrn von Ladenstein bei dem Präsidenten einführte. Die Empfehlung
eines Hausfreundes, wie der Graf war, hätte schon hingereicht,
ihn in diesem Hause willkommen zu machen; aber die vom Alter noch
nicht gebeugte Gestalt des alten Herrn voll Würde und Anstand, sein
sprechendes Gesicht erwarben ihm Achtung, und als vollends der
Präsident, ein Kenner in solchen Dingen, das Theresienkreuz auf seiner
Brust wahrnahm, stieg seine Achtung zur Verehrung. Er wußte, daß, wer
dieses Zeichen trug, ein Ritter im vollen Sinn des Wortes war, und daß
ein solcher sich gewiß einer Tat rühmen durfte, die nicht die Laune des
Glücks oder hohe Protektion zu einer glänzenden erhoben, sondern die
_aufgesucht_ unter Gefahr hohen Mut und tiefe Einsicht bewährte.

Vorzüglich Ida fühlte sich von diesem Manne wunderbar angezogen.
Seit der Spannung zwischen ihr und Martiniz hatte sie immer mit
geheimem Widerwillen der Teestunde, sonst ihre liebste im ganzen Tag,
entgegengesehen. Der Graf kam entweder gar nicht oder sehr spät oder
er unterhielt sich mit der Aarstein. Die Sorben und andere dergleichen
Fräulein und Damen kamen ihr schal und langweilig vor, daß sie glaubte,
nicht eine Stunde bei ihnen sitzen zu können; der Rittmeister, dessen
Geschäfte beim hiesigen Regimente noch immer nicht zu Ende gehen
wollten, war ihr am fatalsten von allen.

Sein erstes war immer, daß er sich mit seinem Stuhl neben sie drängte
und dann so bekannt und vertraut tat, als wären sie Zeltkameraden, er
half ihr Tee einschenken, Arrak und Milch umherreichen, und verrichtete
alle jene kleinen Dienste, die einem begünstigten Liebhaber von seiner
Dame erlaubt werden. Dabei nahm er sich oft die Freiheit, ihr in die
Ohren zu flüstern, aber die gleichgültigsten Dinge, etwa ob sie noch
mehr Milch oder noch mehr Zucker bedürfe, sah aber dabei aus, wie wenn
er die zärtlichste Liebeserklärung gewagt hätte.

Daher kam ihr der alte Ladenstein sehr zustatten. Sie sorgte dafür, daß
er neben sie zu sitzen kam, und nun durfte sie doch für diesen Abend
sicher sein, daß der Rittmeister nicht ihr Nachbar würde.

Und wie angenehm war seine Unterhaltung! Alles, was er sagte, war so
tief und klar gedacht, so angenehm und interessant, und trotz seines
grauen Haares, trotz seiner sechzig Jährchen, die er haben mochte,
war eine Kraft, ein Feuer in seinen Reden, das einem Jüngling keine
Schande gemacht hätte. Aber auch dem alten Herrn schien das Mädchen
zu behagen; sein ernstes Gesicht heiterte sich zusehends auf, seine
lebhaften Augen wurden glänzender -- solch ein Mädchen hatte er selten
getroffen, und er war doch auch ein bißchen in der Welt gewesen. Diesen
klaren Verstand, dieses richtige Urteil, diese Gutmütigkeit neben so
viel Humor und Witz, er war ganz entzückt. Und überall war sie zu Haus;
er bewunderte die wunderherrlichen Blumen, die sie machte, man kam von
diesen auf die natürlichen Blumen, auf seltene Pflanzen. Er beschrieb
ihr eine Blume, die so wunderschön aussehe und die sich zu Girlanden
gar hübsch ausnehmen würde, aber der Name fiel ihm nicht ein. Kaum
hatte er die Form der Blätter erwähnt, so sagte sie ihm auch schon,
daß die Blume ~Calla aethiopica~ heißen müsse, weiß blühe und auch
äthiopische Drachenwurz genannt werde. Er bekam ordentlich Respekt vor
dem holden Kind, das so gelehrt sein konnte; aber da war nicht jenes
Prahlen mit Kenntnissen, das man bei gelehrten Damen so oft findet.
Nein, als die Blume abgemacht war, sprach sie auch kein Wörtchen mehr
von Botanik, und es war, als habe sie nie davon gesprochen.

Er kam auf die neueste Literatur und pochte da an; wahrhaftig, sie
hatte alles gelesen und zwar nicht nur, was man so aus Leihbibliotheken
bekommt oder in einem Almanach findet; nein! sie hatte interessante
Geschichtswerke gelesen und eigentlich studiert. Aber auch daraus
machte sie nichts Großes. Je wichtiger das Werk war, desto bescheidener
war ihr Urteil, und dabei tat sie so unbefangen, als ob jedes Mädchen
dergleichen gelesen hätte. Und als sie auf ausländische Literatur
kamen, als sie von Lord Byron, seinen herrlichen Gedichten und seinem
unglücklichen Ende sprachen, als der alte Herr mit dem Theresienkreuz
ihn dennoch glücklich pries, weil sein Geist sich höher als alle
anderen geschwungen, weil er den Menschen und die ganze Natur so tief
erkannt habe; da antwortete ihm -- nein, es ging über seine Begriffe
-- antwortete ihm die kleine Wetterhexe mit Byrons eigenen Worten, als
hätte sie seinen Manfred eben erst gelesen:

    »~The tree of knowledge is not that of life.~«[2]

    [2] Erkenntnisbaum ist nicht des Lebens Baum.

Er war ganz selig, der alte Herr, ein solches Mädchen hatte er in
vielleicht zwanzig Jahren nicht gefunden. Und das schnepperte und
bepperte mit seinem lieben, hübschen Schnäbelchen so unschuldig in die
Welt hinein, das blickte ihn mit seinen frommen Taubenaugen, in welchen
doch wieder ein wenig der lose Schalk saß, so wundervoll an, er war
ganz weg und dankte dem Grafen tausendmal, als sie wieder in den Mond
zurückgekommen waren, daß er ihn mit einem so interessanten Geschöpf
bekannt gemacht habe.


Emil auf der Folter.

Dieser sah ihn wehmütig an und seufzte. »Glauben Sie mir,« sagte er,
»auch ich war einst erfüllt von diesem Himmelskind; auch mir war sie
eine Erscheinung wie aus dem Jenseits, wie des großen Dichters Mädchen
aus der Fremde; ich sah, wie sie mit ungetrübtem Frohsinn und dennoch
mit einer Würde, einer Höhe, jedem eine Gabe reichte; mir, wähnte ich,
mir habe sie der Gaben schönste aufbewahrt -- ach! da gewahrte ich, daß
schon ein anderer diesen Kranz zerpflückt --«

»Nein, ich kann's nicht glauben,« rief der ehrwürdige Theresienritter,
»dieses Mädchen kann nicht so niedrig denken, kann nicht das tiefe,
herrliche, jungfräuliche Herz an einen Windbeutel verlieren, wie der
Sporeneck ist, dessen seichtes Wesen, dessen Gemeinheit ihr ja gleich
den ersten Augenblick nicht verborgen bleiben konnte!«

»Aber mein Gott,« rief Emil ungeduldig, »habe ich Ihnen nicht gesagt,
was mich die Gräfin merken ließ, was ich mit eigenen Augen sah? Nehmen
Sie doch nur zum Beispiel, daß sie ihm gleich in den obern Stock
nachzog, um ihn recht vis-a-vis zu haben --«

»Beweist viel, recht sehr viel, und doch wieder nichts, gar nichts,
denn ein so kluges Mädchen wie die Ida trägt ihre Liebe nicht so
schamlos zur Schau.«

»Aber die Gräfin sagt mir ja, die Gräfin --«

»Eben die Gräfin sagte dir alles, Freundchen, und eben der Gräfin traue
ich nicht, dazu habe ich meine vollkommen gegründeten Ursachen. Ich
habe sechzig Jahre in der Welt gelebt, du erst deine zwanzig, darum
darf ich auch meinem Blicke trauen, denn ich bin unparteiisch und
schaue nicht durch die grüne Konversationsbrille der Eifersucht. Ich
habe diesen Abend Dinge gesehen, die mir gar nicht gefielen; doch der
Erfolg wird lehren, daß ich recht hatte.«

So sprach der alte Theresier mit dem Grafen; doch auf ihn schien es
wenig Eindruck zu machen, denn er murmelte: »Weiß alles, und ist alles
gut, wenn nur der verdammte Rittmeister nicht wäre!«


Der Rittmeister.

Was doch oft an einem kleinen unscheinbaren Zufall das Glück der
Menschen hängt! So fragte an diesem Abend der Kellner die beiden
Fremden, ob sie unten an der Tafel oder hier oben in ihren Appartements
speisen wollen. Der Graf, der seit des Hofrats Reise abends selten mehr
hinabgekommen war, stimmte dafür, auf dem Zimmer zu speisen, indem er
sich schlechte Unterhaltung unter den Offizieren, Assessoren, Ober- und
Unter-Justizleuten versprach. Der ältere Herr aber redete ihm zu; man
sehe und höre doch manches unter den Gästen, was zum Nachdenken oder
zur Augen- und Ohrenweide dienen könne -- sie gingen. Gerade an diesem
Abend hatte der Rittmeister von Sporeneck einige Freunde der Garnison
zu sich auf ein Abendbrot in den Mond gebeten.

Sie hatten schon auf seinem Zimmer mit Rheinwein angefangen und
waren bereits ganz kordial. Der Rittmeister hatte auch alle Ursache,
ein kleines Sieges- und Jubelfest zu veranstalten. Die Gräfin hatte
ihm, wie gewöhnlich durch ihre Zofe, die mit seinem Bedienten in
telegraphischer Verbindung stand, geschrieben, daß Idas Niederlage
jetzt vollkommen sei. Der Graf sei nie so warm gegen sie gewesen wie
diesen Abend, und sie sähe nächstens einer Erklärung von seiner Seite
entgegen. Das hatte der Rittmeister seinem Vertrauten, dem Leutnant von
Schulderoff, und einigen andern vorgetragen, man stieß an auf das neue
gräfliche Paar und auf den galanten Hausfreund, und so kam man auch,
weiß nicht wie, darauf, ob man nicht den Grafen auch einmal ein wenig
schrauben sollte. Sie stimmten alle darüber ein, daß dies sehr dienlich
wäre, um Unterhaltung für den heutigen Abend zu haben, und sie machten
sich auch gar kein Gewissen daraus. Ja, wenn er Soldat wäre, dann wäre
es etwas anderes; einen Kameraden schraubt man nicht gerne, aber solch
ein ziviles Gräfchen, das in der Welt umherreist, um den Damen schön zu
tun und sein Geld auf die langweiligste Manier totzuschlagen -- nun,
das kann man mit gutem Gewissen.

Mit diesem löblichen Vorsatz hatten sich die Marssöhne nicht weit
von der Stelle placiert, wo Martiniz gewöhnlich zu sitzen pflegte,
und harrten, ob er nicht komme. Er kam, und mit ihm der andere Gast,
aber diesmal ohne Ordensband, denn er hatte nur einen unscheinbaren
Oberrock an. Martiniz und der ältere Herr unterhielten sich flüsternd
miteinander; um so lauter waren die Kriegsgötter; die Pfropfen der
Champagnerbouteillen fingen an zu springen, und in kurzem waren die
Herren allesamt kreuzfidel und erzählten allerlei Schnurren aus
ihrem Garnisonsleben. Die übrigen Gäste hatten sich nach und nach
verlaufen. Das Kapitel der Hunde und Pferde war schon abgehandelt,
und der Rittmeister hielt es jetzt an der Zeit, die _Schraube
anzuziehen_. Er gab also Schulderoff einen Wink, und dieser ergriff
sein Champagnerglas, stand auf und rief: »Nun, Bruder Sporeneck, eine
Gesundheit recht aus dem Herzen -- deine Ida!«

Aufflogen die Dragoner von ihren Sitzen, tippten die feinen
Lilienkelche aneinander und sogen den weißen Gischt mit einer Wollust
aus, als hätte die Gesundheit ihnen selbst gegolten. Martiniz biß die
Lippen zusammen und sah den Theresienritter an.

»Auf Ehre, ein Götterkind, Herr Bruder,« fuhr Schulderoff fort, »ich
wäre selbst imstande gewesen, sie zu lieben, hätte ich nicht deine
früheren Rechte gewußt und mich daher bescheiden zurückgezogen.«

»Auf Ehre, ich hätte es ihr wohl gönnen mögen,« antwortete der
großmütige Liebhaber, »wenn man so einen Winter allein zubringen
soll, ist es für ein junges, warmes Blut immer fatal, wenn es sich
nicht Luft machen soll. Einen braven Kerl, wie du bist, hätte ich ihr
zum Intermezzo wohl gewünscht, wäre mir lieber gewesen, als hören
zu müssen, daß mir so ein fremder Gelbschnabel ins Nest habe sitzen
wollen.«

Das Herzblut fing dem Grafen an zu kochen. In solchen Ausdrücken von
einem Mädchen reden zu hören, das er liebte und ehrte -- es war beinahe
nicht zu ertragen, doch hielt er an sich, denn er wußte, wie schlimm
es ist, in einem fremden Lande ohne ganz gegründete Ursache Händel
anzufangen.

»Hattest du bange?« lachten die Reiter den Rittmeister an.

»Nicht im geringsten,« replizierte dieser; »ich kenne mein Täubchen
zu gut, als daß ich hätte eifersüchtig werden sollen; wenn auch zehn
solche Wichte ins Nest gesessen wären, sie hätte sich doch von keinem
andern schnäbeln lassen als von ihrem Hähnchen.«

Allgemeines Gelächter applaudierte den schlechten Witz. Der Graf --
es war ihm kaum mehr möglich, anzuhalten; er sah voraus, es werde so
kommen, daß ihm nur zwei Wege offen stehen würden, entweder sich zu
entfernen oder loszubrechen.


Unschuld und Mut.

Das erstere war jetzt nicht mehr möglich; seine Würde als Abkömmling
so tapferer Männer ließ einen solchen Rückzug nicht zu, und was würden
seine Ulanen gesagt haben, wenn er so vom Kampfplatz sich weggestohlen
hätte? Die nächste schicklichste Gelegenheit mußte entscheiden.

»Nun, Brüderchen,« sagte ein anderer zum Rittmeister, »wir sind hier
so ziemlich unter uns, gib weich, beichte uns ein wenig, wie stehst
du mit der kleinen Präsidentin?« Der Rittmeister spielte von Anfang
den Zarten, Zurückhaltenden, endlich aber auf vieles Zureden gab
er wirklich weich und -- rühmte sich heimlich von ihr erhaltener
Begünstigungen, die Emils Blut zu Eis erstarren ließen. Plötzlich aber,
wie eine Erleuchtung von oben, trat ihm das Bild des unschuldigen,
engelreinen Kindes, mit ihrem sanften Blick, mit ihrem keuschen,
jungfräulichen Erröten vor das Auge -- nein! nein! rief es mit tausend
Stimmen in ihm, es kann ja nicht wahr sein, so weit verfehlt sich der
Himmel nicht, daß er die heiligste Unschuld auf die Züge einer Metze
malte. Er stand auf und stellte sich dicht vor den Rittmeister. »Von
wem sprechen Sie da, mein Herr?« fragte er ihn. Der Rittmeister konnte
sich nichts Erwünschteres denken, als daß endlich die Engelsgeduld von
dem zivilen Gräfchen gewichen sei. Er wollte ihn mit _einem_ Blick
einschüchtern und setzte daher an, die Augen recht an ihn hinrollen zu
lassen; da kam er aber an den Falschen.

Er begegnete einem jener Glutblicke, die dem Grafen so eigen
waren; Hoheit, Mut, Zorn, alles sprühte auf einmal wie mit _einem_
Feuerstrom aus diesen Augen auf ihn zu, daß er die seinigen betroffen
niederschlug. »Was fällt Ihnen ein? Was kümmert Sie unser Gespräch? Es
ist hier niemand, der danach zu fragen hätte.«

»Sie haben,« fuhr der Graf mit großer Mäßigung fort, »Sie haben dem
ganzen Zimmer hier mit vernehmlicher Stimme Ihre Sottisen erzählt, es
hat also auch jeder das Recht zu fragen, von wem Sie sprachen, und _ich
frage_ jetzt!«

»Mein Herr, das kommt mir schnackisch vor,« lachte der Rittmeister; »es
kann doch wahrhaftig jeder von seinem Schätzchen reden, ohne daß ein
anderer sich darein zu legen hätte. Wenn Sie übrigens durchaus uns mit
Ihrer Gesellschaft beehren wollen -- Kellner, noch einen Kelch hierher
für den Herrn da!«

»Ist unnötig,« rief der Graf, »es ist mir durchaus nicht um Ihre werte
Gesellschaft zu tun, sondern nur die Frage, die ich an Sie tat, möchte
ich gerne beantwortet haben.«

»Nun ja,« schnarrte Sporeneck, »wenn Sie sich durchaus in meine
Herzensangelegenheit mischen müssen, was ich übrigens nicht sehr
delikat finde, ich habe von Fräulein Ida von Sanden, meiner Nachbarin,
gesprochen.«

»Und von dieser Dame wagen Sie auf so freche Weise zu sprechen, wie Sie
vorhin taten?«

»Wer will es mir wehren?« lachte der Rittmeister und maß den Grafen von
oben bis unten, wobei er übrigens sich hütete, seinem Auge zu begegnen.
»Wer will es mir wehren, ein jeder kann zu seinem Heu Stroh sagen!«

»Sie beharren also auf dem, was Sie von der Dame aussagten?«

»Dame hin oder her,« antwortete der Rittmeister. »Sie fangen an,
anmaßend zu werden; ich werde vor Ihnen und zehn solcher -- Polacken
behaupten, was ich sagte.«

»Nun ja,« sagte der Graf, indem er sich stolz aufrichtete und an die
übrigen Offiziere, die bisher mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört
hatten, wie der Graf geschraubt würde, sich wandte, »nun ja, so muß
ich nur _Sie_ bedauern, meine Herren, daß Sie sich auf diese Art
unterhalten lassen von diesem erbärmlichen Lügner.«

»Donner und alle Teufel!« fuhr der Rittmeister auf, »wie kommen Sie mir
vor, Herr! Ich glaube, Sie haben Platz zwischen den Rippen für blaue
Bohnen.«

»Tun Sie, was Ihnen beliebt,« sagte der Graf, »ich wohne hier und bin
auf Nr. 2 zu finden.« Er ging, der alte Theresienritter mit ihm. »Das
ist spaßig,« lachte der Rittmeister, obgleich es ihm nicht recht frei
von der Brust wegging, »das ist spaßig, daß ich in Freilingen einen
kleinen Gang zu machen habe!«

Die Dragoner saßen noch ganz verdutzt über den schnellen Ausgang der
Schrauberei. »Hol' mich der Teufel,« sagte ein alter Leutnant, »das
Kerlchen nahm sich doch so übel nicht bei der Sache; er hat einen
verfluchten Anstand, und es ist, als wäre er schon mehr dabei gewesen!«

Man beriet sich jetzt, was zu tun sei, man verteilte die Rollen,
Schulderoff sollte des Rittmeisters Sekundant sein, den alten Leutnant
bestimmte man, Martiniz denselben Dienst zu leisten, wenn er nicht
sonst wo einen Sekundanten auftreiben könnte. Der Rittmeister zeigte
eine ungemeine, spaßige Fröhlichkeit, meinte, es müsse sich ganz
herrlich ausnehmen, wenn so ein Herrchen vom Zivil eine Pistole
losbrenne; den andern war es übrigens nicht so ganz wohl zumut, das
schnelle Ende des Streites hatte aus allen Köpfen den Champagnerdampf
weggeblasen, man dachte doch ernstlich an die Affaire, und manchen
wollte es bedünken, daß sie doch im heillosen Uebermut herbeigeführt
worden sei. Man äußerte dies auch unverhohlen gegen Sporeneck, und auch
er schien so etwas zu denken; doch versteckte er diese Gedanken hinter
lustigem Lachen und beauftragte Schulderoff, sogleich zum Grafen zu
gehen, um die Sache ins reine zu bringen. Nach einer Viertelstunde kam
dieser wieder sehr ernst zurück und sagte: »Sporeneck, morgen früh acht
Uhr, auf Pistolen.«

Diese lakonische Meldung machte einen ganz eigenen Eindruck auf die
Gesellschaft; es war allen, als sei doch etwas Ungerechtes vorgefallen,
und keinem war es recht behaglich, an morgen zu denken. Man bestürmte
Schulderoff mit Fragen, wie der Graf es aufgenommen, und dergleichen;
er erzählte:

»Die beiden Fremden seien in ziemlich ruhigem Gespräch miteinander
im Zimmer auf und ab gegangen, als er eingetreten sei. Sie haben ihn
sehr höflich und zuvorkommend empfangen, er aber habe seinen Auftrag
ausgerichtet und den Grafen zuerst gefragt, ob er seine Beleidigung
zurücknehmen wolle. Dieser habe ganz ruhig mit Nein geantwortet, worauf
er ihn gefordert; sie seien auf Pistolen einig geworden und haben die
Wiese hinter dem Gottesacker zum Kampfplatz ausgewählt. Für einen
Sekundanten lasse er danken, der alte Herr, der bei ihm ist, werde ihm
sekundieren.« Der Rittmeister schien vor Freude außer sich zu sein, daß
er seinem Rivalen mit guter Manier eins auf den Pelz brennen könne;
er wollte mit dem Champagner weitermachen, die nüchtern gewordenen
Kameraden ließen es aber nicht zu, baten ihn, auf morgen recht fest
auszuschlafen, und versprachen, um sieben Uhr allesamt bei Schulderoff
zu frühstücken.


Noch einmal zieht er vor des Liebchens Haus.

Als Ida am Morgen, der zu dem Duell festgesetzt war, kaum aufgestanden,
eben sich mit der Toilette beschäftigte, hörte sie Pferdegetrappel
gegenüber am Mond; sie trat ans Fenster und schob den Vorhang ein wenig
zurück, es standen drei Pferde vor dem Wirtshaus, wovon sie das eine
bestimmt für das von Martiniz erkannte. »Wo er nur hinreiten mag an
diesem kalten Tag, ob er --« der Gedanke an eine plötzliche Abreise
ohne Abschied durchblitzte sie, daß ihr die hellen Perlen in den zarten
Wimpern hingen. Doch sie hatte ja darüber einen Trost, der sie zugleich
tief betrübte; die Gräfin war ja noch hier; sie wußte nichts von seiner
Abreise, er konnte also doch nicht so schnell reisen. Endlich glaubte
sie Emils Stimme aus dem Torweg heraufzuhören: »Adieu, Madame, adieu!«
Es galt offenbar der Mondwirtin; o, wie gerne wäre sie in diesem
Augenblicke die Ehehälfte des Mondwirts gewesen, um ihn zu sehen und
das freundliche Adieu von seinen Lippen zu hören!

Der alte Brktzwisl, die gute treue Seele sprang hervor, ergriff den
Zügel von Martiniz' Pferd und stellte ihn zum Aufsitzen zurecht, jetzt
kam Mart-- nein, ein Offizier in fremder, glänzender Uniform. Jetzt
kam auch der alte Herr von Ladenstein, der sie gestern so trefflich
unterhalten hatte; wo blieb aber nur Emil? Der alte Herr, heute mit
vielen Orden behängt, schwingt sich auf sein Pferd; jetzt auch der
Offizier. »Eine schöne geschmackvolle Uniform,« dachte Ida; wenn sie
nicht irrte, eine polnische oder russische, vielleicht ein Bekannter
von Martiniz; aber die Gestalt kam ihr so bekannt vor, wie, sollte etwa
Em-- doch nein, er war ja nicht Soldat und trug auch keinen Orden, und
diesem glänzte der Wladimir in Diamanten auf der Brust -- wenn er,
eine kleine Neugierde ist ja verzeihlich, wenn er doch nur den hohen
Ulanenkalpak ein wenig hintersetzte, daß sie sein Gesicht sehen könnte.

Jetzt war alles in Richtigkeit, der alte Herr schaute am Haus herauf
und stieß den Offizier an, er richtete das Haupt auf, er sah herauf --
es war Emil von Martiniz.

Wie schön, wie götterschön war dieser Mann! Wie herrlich kleidete
ihn die Uniform! Wie hingegossen saß er auf seinem stolzen Roß; die
dunkeln Locken stahlen sich unter dem Sturmband des Tschapkas hervor
und beschatteten die blendend weiße Stirn; das dunkle Auge voll
hohen Ausdrucks hatte heut eine Bedeutung, die sie beinahe noch nie
an ihm gesehen; stolz und frei, als wollte es in einem Blick eine
Welt ermessen, schweifte es her und hin; er klopfte den zierlichen,
schlankgebogenen Hals des schönen Tieres, das er ritt, er sah so
kampflustig, so mutig aus, als halte er an der Seite seiner Ulanen,
und es werde in schmetternden Tönen Marsch-Marsch geblasen; sie konnte
nicht mehr anders, sie dachte nicht mehr an ihr Negligee, sie öffnete
das Fenster und sah heraus. Man konnte nichts Schöneres sehen als das
Mädchen, wie es hier im Fenster stand. Die Aeuglein sahen so klar und
freundlich aus dem Köpfchen, die Bäckchen von der kalten Morgenluft
gerötet, das Mäulchen so süß und küßlich, um das feine, liebe
Gesichtchen ein zartes, reinliches Nachthäubchen, der Hals frei, und
dann ein Spenzerchen, so weiß wie frischgefallener Schnee, über Nacken
und Brust herab. Tausend Löckchen und Stränge, die, vom mutwilligen
Morpheus entfesselt, unter dem Häubchen sich durchgestohlen hatten --
das ganze Wunderkind sah aus wie ein süßer Morgentraum --

Noch einmal sah der Graf zu diesem Engelskind hinauf, das in der
Glorie der jungfräulichen Unschuld mit der Wehmut gekränkter und doch
verzeihender Liebe zu ihm herabsah -- noch einmal, vielleicht das
letzte Mal hienieden, warf er einen seiner Feuerblicke zu ihr hinauf,
und eine Träne blitzte in seinem Auge; jetzt aber stieß er seinem Pferd
beide Sporen in den Leib, daß es wuterfüllt kerzengerade aufstand,
unwillkürlich bog sich seine Hand nach dem Mund, er warf ihr einen
herzlichen Kuß zu: »~Adieu, mon coeur!~« rief er, und dahin flogen die
Reiter, in einem Augenblick war nichts mehr von ihnen zu sehen.

»Was war das? Wem galt das?« fragte sich Ida, als sie sich ein wenig
von ihrem Staunen erholt hatte. Er sah so zärtlich herauf -- er warf
einen Kuß herauf -- wem flog er zu? Ihr oder der Grä-- konnte diese
nicht auch im Fenster gestanden sein? Konnte er nicht ihr den Kuß
zugeworfen haben? Sie mußte Gewißheit haben, sie schickte schnell
hinab, zu fragen, ob die Gräfin schon aufgestanden sei. -- Exzellenz
lagen noch schuhetief in den Federn und schliefen. »Also mir, mir --«
lächelte das stillselige Mädchen vor sich hin, schaute hinaus und
zehnmal wieder hinaus nach dem Fleckchen Erde, wo er gehalten, wo er
ihr seinen Gruß, seinen Kuß zugewinkt hatte. Aber wie, konnte er nicht
nach der Gräfin Fenster gewinkt haben? Konnte er nicht ihr seinen Kuß
geschickt haben, nur um _sie_, die er doch gesehen haben mußte, zu
kränken? Doch nein; _ihr_ hatte ja sein Blick gegolten, sie hatte tief
in seine dunkeln Liebessterne hineingeschaut, nach ihrem Fenster hatte
er gegrüßt, sie, sie war die Glückliche; wie weit er sich auch verirrt
hatte, sie fühlte, daß sein besserer Sinn ihn dennoch zu seiner Ida zog.

Jetzt versank sie in angenehme Träume; sie wiederholte sich, wie
engelhübsch er ausgesehen habe! Sie nahm sich vor, wenn sie wieder
recht gut miteinander wären, ihn recht auszuschmälen, daß er sich nie
vor ihr in der Kleidung hatte sehen lassen, die ihm so wunderschön
stand. So träumte sie, das liebliche, bräutliche Mädchen, sie ahnte
nicht, welchen gefährlichen Gang der Geliebte ging, und daß die Parze
so schnell den Faden ihres Glückes zerreißen könne, daß dann das Herz,
an dem sie so gerne ruhte, für immer ausgeschlagen haben würde, daß die
kühnen, liebesprühenden Augen schnell sich zu jenem eisernen Schlummer
schließen könnten, aus welchem auch die süßeste Stimme, das zärtlichste
Klagen der Liebe nicht aufweckt.


Das Duell.

Vor der Stadt hatten die drei Reiter ihre Pferde angehalten und ließen
sie jetzt im Schritte dem bestimmten Orte zugehen; sie schwiegen eine
Zeitlang, und jeder schien seinen besondern Gedanken nachzuhängen.
Emils Brust erfüllte die Qual aller Zweifel an Ida. Es war ihm da
einmal, als stehe sie, wie er sie eben gesehen hatte, in blendend
reiner Unschuld vor ihm und flüsterte ihm mit sanfter Stimme Vorwürfe
zu, daß er auch nur einen Augenblick habe an ihr zweifeln können;
dann kamen wieder alle Qualen der Eifersucht über ihn, er wiederholte
sich alles, was er zwischen ihr und Sporeneck bemerkt hatte, und das
Billett von gestern -- »nein! _sie ist schuldig_,« rief er laut und
unmutig. Gestern abend nämlich, als Schulderoff sie verlassen hatte,
war Brktzwisl gekommen und hatte einen kleinen Zettel gebracht, der
wahrscheinlich dem Rittmeister entfallen sein müsse. Er war offen, Emil
konnte sich nicht enthalten, einen Blick hineinzuwerfen, und ward weiß
wie die Wand. Schweigend reichte er Ladenstein das Billett, und dieser
las:

»Du mußt noch das Strumpfband haben, das Du mir letzthin
mutwilligerweise abgebunden hast; ich brauche es notwendig; ist Dir
übrigens an einem Zeichen Deiner Dame gelegen, so kannst Du etwas
anderes haben. Willst Du eine Busenschleife? Willst du ein Schnürband
von meinem Korsettchen?«

»Das ist freilich stark,« hatte Ladenstein gesagt, nachdem er gelesen,
»kennst du die Handschrift?« -- »Von wem soll es sein als von ihr,
die mich um mein Lebensglück betrogen? Hätte ich den Wisch da um eine
Stunde früher gehabt, ich hätte den Rittmeister wahrhaftig nicht
getadelt, daß er von seinem zärtlichen Liebchen so ausdrucksvoll
sprach!«

»Kennst du Idas Handschrift?« fragte der alte Herr noch einmal. »Es
kommt hierbei sehr viel darauf an, daß du sie genau kennst.«

Emil mußte gestehen, daß er noch nichts von Idas Hand gesehen; es
könne ja aber doch niemand anders geschrieben haben, denn die Adresse
lautete ja an Herrn von Sporeneck. Der alte Herr hatte den Kopf dazu
geschüttelt und gesagt, daß dieses Billett der ganzen Sache eine andere
Wendung geben könnte; jetzt sei er aber schon einmal gefordert, und
darum könne vor Ausgang des Duells nicht mehr davon gesprochen werden,
nachher werde sich vielleicht manches aufklären. Dieses Billett war nun
auch auf dem Wege zum Kampfplatz Emil in den Sinn gekommen und hatte
ihm jenen lauten Ausruf: »Sie ist dennoch schuldig,« entlockt.

Der Alte reichte ihm die Hand hinüber und sagte freundlich ernst:
»Urteile nicht zu frühe. Du gehst einen gefährlichen Weg, nimm nicht
die Schuld mit dir, ungehört verdammt zu haben. Du bist der letzte
Martiniz. Schlägt eine Kugel hier unter den Wladimir, so ist es vorbei
mit dir und dem Heldenstamm, dessen Namen du trägst. Du schlägst dich
für die Ehre einer Dame; solange du für sie kämpfst, darfst du nicht
an ihrer Tugend zweifeln, sonst ist deine Sache nicht gut. Denke dir
das Mädchen, so hold und engelrein, wie du sie sahst, als wir zu
Pferde stiegen, wie du ihr, von ihrem heiligen Anblick übermannt, dein
zärtliches Lebewohl zuriefst -- und du wirst freudiger streiten.«

Emil hörte nur mit halbem Ohr; seine ganze Aufmerksamkeit war auf den
Platz gerichtet, dem sie sich nahten. Sie bogen um die Ecke der Mauer
des Gottesackers. Sein Gegner war schon auf dem Platz, er nahm sein Roß
zusammen und sprengte majestätisch im kurzen Galopp an.

Sporeneck und seine Begleiter waren auf einem andern Weg herausgeritten
und hatten auf der Wiese den Grafen erwartet. Sie hatten ihre besten
Uniformen angezogen, alles gewichst und gebürstet, als ginge es zur
Hochzeit, denn sie wollten dem Grafen und seinem Begleiter durch Glanz
und militärische Würde imponieren. Wer beschreibt ihr Erstaunen, als
sie den strahlenblitzenden, in den schönsten Farben schimmernden
Ulanen ansprengen sahen? Sie trauten ihren Augen kaum, wie gewandt,
wie flink das zivile Gräfchen vom Sattel sprang, mit welchem Anstand
er die Zügel seinem Diener zuwarf, sich dann zu ihnen wandte und seine
Honneurs machte. Die Diamanten des Wladimir, der goldene, vom Vater
ererbte Ehrensäbel glänzten im Morgenrot, der ganze Mann hatte etwas
Gewaltiges, Gebietendes, Königliches, das sie beinahe mit Ehrfurcht
bewunderten.

»Alle Teufel, wer hätte das gedacht?« flüsterte Sporeneck. »Hätte
ich das gewußt -- weiß Gott, die Uniform der polnischen Garde, wo
jeder Rittmeister für einen Obersten in der Linie zieht! Nein, wenn
ich gewußt hätte, daß er Soldat ist, dann wäre es wohl etwas anderes
gewesen.«

»Und alle Wetter,« fuhr ein anderer fort, »sieh nur den alten Graukopf,
wie der behängt ist, eins -- zwei -- drei -- sieben Orden hat das
Kerlchen und noch obendrein einen Stern! siehe, das Theresienkreuz --
und weiß Gott, den Kommandeur der Ehrenlegion, das muß ein fixer Kerl
sein.«

Der alte bekreuzte und besternte Herr nahte sich Schulderoff, zog ganz
gelassen und kaltblütig eine reich mit Brillanten besetzte Uhr heraus.
»Herr Kamerad,« sprach er, »wenn's gefällig ist.«

Dieser hatte sich von seinem Staunen kaum erholt. Er hatte die
Aeußerung des Rittmeisters gehört, daß, wenn er gewußt hätte, daß der
Graf Soldat wäre, er die Sache vielleicht nicht so weit getrieben
hätte. Er versuchte daher noch einmal mit dem alten Herrn zu
parlamentieren. Doch die Unterhandlungen zerschlugen sich an dem harten
Sinn des Grafen, man maß die Schritte ab, man schüttete frisches Pulver
auf die Pfannen -- fertig!

Sporeneck hatte den ersten Schuß. »Nun, wenn es denn einmal sein muß,«
sagte er, drückte ab und -- den Kalpak riß es dem Grafen von dem
Kopf, mitten durch war die Kugel gegangen, er stand unverletzt. Ein
sonderbares Feuer sprühte aus seinem Auge, als er jetzt die Pistole
aufnahm. Es war ihm, als stehe Antonios blutende Gestalt vor dem
Rittmeister und wehre ihm ab, zweimal setzte er an, zweimal ließ er die
Pistole wieder sinken. Da rief der Rittmeister mit bitterem Lachen:
»Wird's bald, Herr Kamerad?« Und in demselben Augenblick krachte es,
Sporeneck wankte und fiel.

Er hatte genug, gerade unter der Brust hatte die Kugel durchgeschlagen.
Der Regimentsarzt der Dragoner machte ein bedenkliches Gesicht und gab
wenig Hoffnung. Man brachte ihn in die Wohnung eines der Offiziere, der
vor der Stadt wohnte. In tiefem Ernst, schweigend ritt der Graf und
sein Begleiter zur Stadt zurück.


Fingerzeig des Schicksals.

Die Dragoner waren seit der Entdeckung, daß der Graf Offizier sei, die
Artigkeit selbst. Alle Stunden kam einer, um zu rapportieren, wie der
Verwundete sich befinde. Aus ihren Reden, die sie hie und da über die
Geschichte fallen ließen, wurde man zwar nicht ganz klug, aber so viel
merkte Martiniz und der alte Herr, daß der Rittmeister, indem er sich
geheimer, von Ida erhaltener Begünstigungen rühmte, gewaltig gelogen
habe. Von dem Duelle war übrigens bis jetzt noch nirgends etwas bekannt
geworden. Den Reitknecht des Rittmeisters hielt man in dem Haus vor dem
Tore fest, daß nicht etwa durch ihn etwas auskäme, die übrigen hatten
sich das Ehrenwort gegeben, nichts zu verraten.

Mehr denn achtmal war die Kammerzofe der Gräfin im Mond gewesen und
hatte heimlich nach dem Rittmeister gefragt und allemal den Bescheid
erhalten, er sei auf der Jagd. Endlich kam auch, wahrscheinlich auf
der Gräfin Anstiften, ein Diener von Präsidents, um den Grafen zu
bitten, nachmittags hinüberzukommen. Er schlug es ab, denn er war noch
zu aufgeregt von dem blutigen Morgen, als daß er mit der Gräfin, die
ohnehin ihn immer sehr langweilte, hätte konversieren mögen.

Endlich als es schon Abend war, kam Schulderoff, der jetzt auch wie ein
umgekehrter Handschuh war, und brachte bessere Nachricht. Man hatte
die Kugel herausgenommen, die Aerzte behaupteten, es sei kein edlerer
Teil verletzt. Zugleich lud er den Grafen und Herrn von Ladenstein ein,
mit ihm zu gehen und den Kranken, dem es gewiß Freude machen würde, zu
besuchen. Sie gingen mit.

In einem der letzten Häuser der Vorstadt lag der Rittmeister. Als
die beiden Fremden mit Schulderoff die Treppe hinaufkamen, gerieten
die übrigen Offiziere augenscheinlich in einige Verlegenheit. Sie
flüsterten etwas mit Schulderoff, das ungefähr lautete, als sei der
Kranke nicht recht bei sich und phantasiere allerhand verwirrtes Zeug,
das nicht wohl für einen Fremden geeignet sei. Leutnant Schulderoff
besann sich aber nicht lange. Er erklärte, daß er es auf die Gefahr
hin, seinen Freund zu beleidigen, über sich nehmen wolle, die Fremden
einzuführen, weil der Kranke es vor einer Stunde selbst noch gewünscht
habe.

Sie traten ein. Der Rittmeister war sehr bleich, sonst aber nicht
entstellt, nur daß sein Auge unstät umherirrte. Sie hatten ausgemacht,
daß zuerst Ladenstein ans Bett treten solle, um zu probieren, ob ihn
der Kranke erkenne. Es geschah so. Sporeneck sah ihn lange an und faßte
dann hastig seine Hand: »Ach, sind Sie es, Herr Geheimrat von Sorben?«
rief er. »Was schreibt der Alte aus Polen? Darf der Graf die Aarstein
heiraten?«

Die Anwesenden waren alle höchst betreten, als der Verwundete so aus
der Schule schwatzte. Schulderoff gab dem alten Herrn zu verstehen,
es möchte doch vielleicht besser sein, wenn er zu einer andern Zeit
wiederkäme. Es scheine, der Kranke erhitze sich zu sehr. Der alte
Herr schien es aber nicht verstehen zu wollen. Sein Auge nahm einen
sonderbaren Ausdruck von forschendem Ernst an, der den Leutnant
unwillkürlich zum Schweigen brachte. Der Kranke aber fuhr fort: »Laß
dich nicht von diesen da forttreiben, lieber Sorben, du kannst mir
jetzt einen großen Dienst erweisen. In meinem Zimmer ist ein Koffer, in
diesem eine Kassette; laß dir von Schulderoff die Schlüssel geben und
schließ auf. Dort findest du ein Strumpfband mit goldenem Schloß --«
er hielt inne, als ob er nachsänne, der Graf aber trat in der höchsten
Spannung näher, um jedes Wörtchen zu verschlingen, das er sprechen
würde -- »und richtig, ~Honny soit qui mal y pense~ ist drauf gestickt.
Das bringst du der Gräfin, sie hat den Kameraden dazu am linken Bein,
und sagst, das sei das Band, um welches sie mir geschrieben habe, ich
könne heute nicht selbst kommen. Ja -- und weiter sage ihr, mit der
Ida sei es nichts, ich habe es satt, dem spröden Ding die Cour zu
schneiden, nur um das Gräfchen eifersüchtig -- ja, halt, bei dem Grafen
fällt mir ein, sage ihr, den Grafen soll sie mir in Ruhe lassen, er sei
kein Ofenhocker, sondern ein braver Soldat, und wenn sie ihm ferner
noch was anhaben wolle, so habe sie es mit mir zu tun.«

Erschöpft sank er auf die Kissen zurück, als er so gesprochen hatte.
Schulderoff stand in einer Ecke und schalt sich selbst aus, so
töricht gehandelt und die Fremden in diesem kritischen Momente zu
dem Rittmeister geführt zu haben. Gern hätte er in seinem Unmut den
beiden etwas Hartes gesagt, aber der Graf hatte ihm durch sein Betragen
und seinen Stand, der alte Herr durch seine vielen und bedeutenden
Ordenszeichen so imponiert, daß er nicht wagte, sich ihnen anders als
mit der zuvorkommendsten Höflichkeit zu nahen. Die übrigen Dragoner
waren aber von beiden ganz entzückt. In des Grafen Uniform verliebten
sie sich ganz und gar, und wie geehrt und gehoben fühlten sie sich, daß
ein Kommandeur der Ehrenlegion, ein alter Ritter des Theresienordens
sie mit der größten Freundlichkeit »Herr Kamerad« titulierte.

Es dauerte aber keine fünf Minuten, so war auch Schulderoff ganz
von dem Alten gewonnen. Dieser führte ihn nämlich in eine Ecke und
machte ihm unter der Bedingung, daß er es nicht als Kränkung aufnähme,
die Proposition, ob er nicht für den Rittmeister, der jetzt doch so
entfernt von Haus sei, ein kleines Anlehen von ihm annehmen wolle.

»Lieber Gott,« sagte er, »ich weiß, wie es in der Garnison ist; habe
auch lange gedient; mit dem besten Willen bringt man es selten so weit,
daß man immer einen großen Notpfennig in Bereitschaft hat. Einer muß
immer dem andern aushelfen, und da ich jetzt gleichsam auch hier in
Garnison liege, Herr Kamerad -- ich denke, wir könnten darüber einig
sein.«

Der herzliche Ton, mit welchem dies Anerbieten gemacht wurde, rührte
den Leutnant zu Tränen; es konnte ihm nichts mehr zustatten kommen als
ein solches Anlehen; er hatte kein Geld, die Mama hatte kein Geld, die
Kameraden hatten auch kein Geld, und er wäre am Ende genötigt gewesen,
sich an die Gräfin zu wenden, und doch war ihm diese in der tiefsten
Seele zuwider, lieber hätte er sein Pferd verkauft -- da kam ihm nun
das Anerbieten des alten Kameraden sehr erwünscht; es war so natürlich
und ehrenvoll angetragen, daß er ohne Bedenken einschlug, und von
dieser Stunde an wäre er, und wenn ihn Frau Mama, Fräulein Sorben, die
Gräfin und alle Höllengeister am Kollett gepackt hätten, für die beiden
Fremden durchs Feuer gegangen.


Licht in der Finsternis.

»Nun, was sagst du zu dieser Geschichte?« sprach der alte Herr zu
Martiniz, als sie wieder in ihrem Zimmer waren. »Was sagst du zu der
schönen Strumpfbandgeschichte?« -- »Nun, was werde ich dazu sagen,«
antwortete Emil nachdenklich, »daß er mit der Gräfin in einem sehr
unanständigen Verhältnis steht. Aber erklären Sie mir nur, was
plauderte er nur von einem alten Sorben und von einem Grafen, der die
Gräfin Aarstein heiraten solle?«

»Das will ich dir schwarz auf weiß zeigen,« sagte jener und zog
einen Pack Briefe hervor, den er Emil zur Durchsicht gab. Es waren
jene Briefe, welche der alte Sorben an den älteren Grafen Martiniz
geschrieben hatte, um wo möglich eine Heirat zwischen Emil und der
Aarstein zu bewirken. Immer eifriger las Emil, immer zorniger und
düsterer wurden seine Züge, der alte Herr ging indessen auf und ab und
betrachtete den Lesenden. Endlich sprang dieser auf und rief: »Nein,
das ist zu arg! Das ist nicht auszuhalten, mit mir ein solches Spiel
spielen zu wollen? Was sagen Sie zu diesen Briefen? Wie reimen Sie dies
alles zusammen?«

Der alte Herr setzte sich zu Emil nieder, legte seine Hand zutraulich
auf seine Schulter und sprach: »Ich habe dir letzthin gesagt, daß ich
sechzig Jahre habe und du zwanzig, daß ich also auch manches kälter
betrachte, und darum schärfer als du. Schon damals ahnte ich manches;
jetzt durch die Irrereden des Rittmeisters ist mir auf einmal alles
klar. Daß dich in diesen Briefen die Gräfin durch den schlechten Kerl,
den alten Sorben zu angeln sucht, siehst du wohl ein; sie hört nun
durch Kundschafter, oder wie es sonst gegangen sein mag, du seiest
hier, und, wie du nicht leugnen kannst, in einem zärtlichen Verhältnis
mit Ida; daß der Gräfin daran lag, dich oder vielmehr dein Vermögen
nicht hinauszulassen, kannst du dir denken. Daher kam sie eilends
hierher, um dich zu erobern; dazu gehörte aber auch, daß sie Ida von
deinem Herzen losriß, und wie konnte dies besser sein als durch den
Rittmeister? Wie dieser mit der Gräfin stand, wissen wir aus dem
Strumpfbandbillett, das also von _ihr_ ist; wie er aber mit Idchen, dem
keuschen reinen Engel, stand -- und hat er sein ganzes Leben hindurch
gelogen, so war er wenigstens in seinem Wundfieber wahr -- erinnerst
du dich, daß er mir auftrug, der Gräfin zu sagen, daß mit dem spröden
Mädchen nichts anzufangen sei? Da hast du jetzt den ganzen Plan,
Freundchen, so und nicht anders verhalten sich die Sachen. Was sagst du
nun dazu?«

Ganz versunken in Schmerz und Wehmut saß der Graf neben ihm. Er hatte
sein Gesicht in das Taschentuch gedrückt und weinte heftig. »O Ida, wie
tief habe ich dich beleidigt!« flüsterte er. »Was war ich für ein Tor,
wie war ich so stockblind, um nicht gleich alles einzusehen! Wie war
ich so grausam und konnte das gute sanfte Engelskind, das mir so gut
war, das mich so lieb hatte, so tief kränken und beleidigen!«

Dem alten Herrn wurde angst und bange, Emil möchte, wenn die Reue
sein Gemüt zu sehr angreife, wieder in seinen Wahnsinn verfallen, aus
welchem ihn das Mädchen so wundervoll errettet hatte. »Solange man
lebt, kann man alles wieder gut machen,« sagte er zu dem Weinenden,
»und namentlich ist nichts leichter zu schlichten als kleine
Katzbalgereien unter Liebenden. Sei darum getrost und glaube, es wird
sich alles noch gut machen.« Und nun setzte er dem Grafen auseinander,
daß er sich so bald als möglich mit seinem Mädchen versöhnen müsse;
aber dabei dürfe er nicht stehen bleiben; er zeigte ihm, wieviel er
diesem Mädchen schuldig sei, wie sie ihn zuerst mit der Welt wieder
ausgesöhnt habe, wie sie nachher, erhaben über alle mögliche falsche
Deutung, jenes unglückbringende Gespenst seiner Phantasie entfernt,
wie sie mit unendlicher Freundschaft alles aufgeboten habe, ihn zu
zerstreuen und zu erheitern. »Wahrlich,« schloß er, »diesem Mädchen
bist du mehr schuldig, als daß du ihr den argen Verdacht mit dem
Rittmeister abbittest -- du bist, ich sage es offen, du bist ihr deine
Hand schuldig, so sehr sich auch,« setzte er schalkhaft lächelnd hinzu,
»so sehr sich auch dein Herz dagegen sträuben mag!«

Es hat selten ein geistlicher Witwentröster, wenn er auch noch mit
zehnmal größerer Salbung sprach, mit so großem Effekt sein »Amen, gehe
hin und tue also!« gesagt, als der alte Herr auf dem Sofa neben dem
Grafen. Die Tränen waren schnell getrocknet von den glühenden Strahlen,
die aus dem dunkeln Auge sprühten, ein holdes Lächeln spielte um seinen
Mund, das ganze Gesicht war anmutig verklärt, er sprang auf, er ergriff
die Hände des guten Alten und preßte sie an sein lautpochendes Herz,
an die glühenden Lippen. »O, wie Herrliches verheißen Sie mir! Sie,
Sie muntern mich dazu auf, wozu mich mein Herz schon lange zog; o, wie
kann ich Ihnen danken, mein väterlicher Freund, mein guter, teurer --«,
doch halt, beinahe hätten wir das Inkognito des Herrn von Ladenstein
gebrochen und Namen genannt und Dinge geplaudert, die jetzt noch
verschwiegen werden müssen. Der alte Herr schloß Emil in die Arme und
ging dann an die Türe: »Brktzwisl, alter Kerl, komm herein und teile
die Freude deines Herrn; er will Hochzeit machen, und das so bald als
möglich!«

Der alte Diener machte ein sauersüßes Gesicht, als ob er ein
Rhabarbertränklein im Mund hätte und sollte es als den trefflichen
Xeres laben. »So--o?« sagte er, »nun da muß ich ja gra--tulieren!«
-- »Nun wie, alter Kauz,« sagte Ladenstein, »du scheinst dich nicht
recht zu freuen? Gefällt dir denn die Braut nicht, die sich dein Herr
erlesen?«

»Nun,« antwortete Brktzwisl, »sie ist schön, die Frau Gräfin --«

»Wer spricht denn von der Gräfin?« sagte sein Herr, »Fräulein Ida
meinen wir!«

»Was?« rief der alte Diener und gebärdete sich wie wahnsinnig, denn
jetzt hatte er wirklichen süßen Xeres im Mund. »Das Wunderengelskind?
Also hat Gott Ihr Herz gelenkt zum Guten? Fräulein Ida soll meine Frau
Exzellenz werden? Hurra, das ist einmal schön!«

Man mußte seinem Jubel Einhalt tun, er wäre sonst spornstreichs durch
die Straßen gerannt und hätte die Nachricht an allen Ecken verkündigt.
Das helle Wasser der Freude stand der alten treuen Seele in den Augen,
er küßte dem alten Herrn und dem Grafen die Röcke, und beiden war
es ein neuer schöner Beweis, wie das Mädchen Wunderhold alle Herzen
bezauberte, hatte sie ja doch, die holde Frühlingssonne, den alten,
eingeschnurrten-winterlichen Eisbären aufgeweicht und zum tollenden
Kind gemacht.


Reue und Liebe.

»Und nun noch eine Bitte,« sagte der glückliche Graf zu seinem Retter
und Ratgeber, »jetzt noch eine Bitte; ich habe dem armen Kind diese
Tage her so wehe getan; ich sah es ihr an, wie ich ihr Herzchen
gebrochen habe, lassen Sie es mich heute noch gut machen!«

Der alte Herr meinte zwar, es möchte heute schon zu spät sein, und
er solle seine Ungeduld bis morgen zügeln, aber der Graf bat immer
dringender. »Kann ich es dulden, daß sie noch eine Nacht mir böse ist,
daß sie auch nur noch eine Träne über mich weint? Nein, heute abend
noch bitte ich ihr ab, was ich gefrevelt habe; aber in dem Salon, wo
die Gräfin, die an allem Unheil ganz allein schuldig ist, auf mich
lauert, macht sich eine solche Versöhnung nicht gut; Sie müssen mir
schon dazu helfen. Gehen Sie hinüber! Wenn ich nicht irre, hat Ida
versprochen, Ihnen ihre Zeichnungen zu zeigen. Ich schleiche nach,
wenn sie mit Ihnen hinaufgeht, und vor Ihnen habe ich mich ja nicht zu
genieren.«

»Will dir auch den Platz ganz und gar nicht versperren. Nun, in Gottes
Namen, komm! -- Wenn so ein Herzchen von vierundzwanzig Jahren siedet
und hämmert, da hilft es nichts mehr, zu raten und zu predigen. Das
Hammerwerk geht fort, ob so ein alter Meister Dietrich ›halt‹ sagt
oder nicht. Aber das sage ich dir, den fatalen Frack da ausgezogen und
dein Kollett an, den Familien-Ehrensäbel umgehängt, daß du auch etwas
gleichsiehst; darfst dich, weiß Gott! vor König und Kaiser darin sehen
lassen, darum tritt als Soldat auf, wenn du dein Mädchen zum erstenmal
ans Herz drückst.«

»Zum erstenmal ist es nun nicht,« lachte der Graf, indem er den
goldenen Säbel umschnallte, »aber leider war die erste Umarmung
gleichsam das unterbrochene Opferfest unserer Liebe, denn die Gräfin
kam dazwischen, als ich schon den Mund zum ersten Küßchen spitzte.«

»Kamerad, das hast du schlecht gemacht,« belehrte ihn schmunzelnd der
alte Theresienritter, »wenn man einmal so weit ist, so muß ausgeküßt
werden, und wenn eine Kartätschenkugel zwischen durchfahren wollte, so
stand es wenigstens im Reglement zu meiner Zeit, denn es ist in der
Natur nichts Schädlicheres und Fürchterlicheres als ein unterbrochener
Kuß.«

Der Graf versprach, folgsam zu sein und sich ein andermal streng an das
Reglement des alten Herrn zu halten.

In Präsidents Haus war man beim Tee versammelt, als der alte Herr von
Ladenstein hinüberkam. Die Gräfin wollte ihn sogleich ins Gebet nehmen
und schmälen, wo denn die Herren heute alle bleiben, er aber gab ihr
kurz zur Antwort, daß die Bewohner des Mondes und einige andere Herren
auf der Jagd gewesen seien. Sie fragte sehr witzig, ob man doch keinen
Bock geschossen habe, und wollte sterben vor Lachen über ihr eigenes
Bonmot. Der Alte aber dachte: »Lache du nur immer zu; wenn du wüßtest,
wie nahe dich der Bock angeht, der geschossen worden ist, du würdest
nicht lachen; doch wer zuletzt lacht, lacht am besten!«

Er erinnerte Ida an ihr Versprechen, ihm ihre Zeichnungen und
Malereien zu zeigen. Sie nickte freundlich ein Ja und flog vor ihm die
Treppe hinan, daß er kaum folgen konnte. Es sah etwas kunterbunter
in dem Zimmer aus, das sie, weil sie der Gräfin Platz machen mußte,
einstweilen bewohnte. Sie entschuldigte sich daher bei dem alten Herrn.
»Machen Sie doch nur keinen falschen Schluß auf meine Ordnungsliebe,
lieber Ladenstein,« sagte sie, »aber die Gräfin hat uns aus aller
Ordnung herausgejagt, und besonders mir kam sie gar nicht sehr
geschickt, denn sie hat mich aus meinen vier Wänden, die ich so hübsch
eingerichtet hatte, herausgejagt und nicht eher geruht, bis ich hier
heraufzog.«

»So, das hat die Gräfin gewollt?« sagte der Alte, dem es immer klarer
aufging, daß jene ein falsches Spiel spiele; er schrieb es sich ~ad
notam~, um den Grafen noch mehr zu überzeugen. Sie schloß jetzt ihre
Mappe auf und breitete ihren Schatz vor ihm aus. Der Alte vergaß auf
einige Augenblicke, daß er ja dies alles nur als Vorwand gebrauchen
wollte; er war Kenner und ein wenig streng gegen die gewöhnlichen
Dilettantinnen in der Kunst; er konnte es nicht ausstehen, wenn man die
grellsten, fehlerhaftesten Zeichnungen, wenn sie nur von einer schönen
Hand waren, »wunderschön und genial gedacht« fand; er hatte hundertmal
gegen diese Allgemeinheit der Kunst geeifert, wodurch sie endlich so
gemein würde, daß ein jeder Sudler ein Raphael, oder jede Dame, die den
Baumschlag ein wenig nachmachen konnte, ein Claude Lorrain würde. Aber
hier bekam er Respekt; da war nichts übersudelt oder schon als Skizze
weggeworfen; nein, es war alles mit einem Fleiß behandelt, mit einer
Sorgfalt ausgeführt, die man leider heutzutage selten mehr findet,
und die man gerade an den größten Kunstwerken alter Meister so hoch
schätzen muß.

Des Mädchens tränenschwere Miene, die seit einiger Zeit sie selten
verließ, heiterte sich unwillkürlich auf, als sie sich von einem so
tiefen Kenner, als welcher der alte Herr sich zeigte, belobt, sogar
bewundert fand; er stieß auf Kartons, zu denen sie sich als Urheberin
bekannte, und sie waren alle meisterhaft, er wandte das letzte
Blatt in der Mappe um und hielt überrascht inne; sie wollte ihm die
Zeichnung entreißen, sie bat, sie flehte -- es half nichts, es war
ein zu bedeutendes Aktenstück, als daß er es hätte unbetrachtet aus
den Händen gelassen. Es stellte eine ihm unbekannte Kirche vor, am
Altar stand eine hohe, erhabene Figur -- bei Gott bis zum Sprechen
ähnlich -- Emil; der tiefe wehmütige Ernst, der sonst in seinen Zügen
lag, war herrlich aufgefaßt und wiedergegeben. Man fürchtete, wenn man
in diese Züge sah, ein namenloses Unglück zu erfahren, das auf den
feinen Lippen schwebte; zur Seite standen zwei Männer, wovon er nur den
einen kannte, es war der alte Brktzwisl; auch in diesem nichts weniger
als malerischen Gesicht war die ehrliche Gutmütigkeit, die innige,
ergebungsvolle Teilnahme an dem Schicksal seines Herrn trefflich
ausgedrückt; weiter im Hintergrund sah man zwei Figuren, die, weil
sie im Schatten standen, kaum flüchtig angedeutet waren; doch glaubte
er in der einen die Zeichnerin selbst zu erkennen. An dem Bilde war
außer der Aehnlichkeit der Gesichter und der gelungenen Anordnung der
Gruppen auch die Verteilung des Lichtes höchst genial ausgeführt; es
war nämlich Nacht in der Kirche, und die Helle ging nur von einer trübe
brennenden Laterne aus, so daß nun die wunderherrlichen Licht- und
Schattenpartien, das Verschweben der Helle im Dunkel auf ergreifende
Weise angegeben war.

Die Zeichnung an sich hätte seine innigste Bewunderung erregt, aber er
kannte auch gar wohl den Moment, der hier dargestellt war; er kannte
die Gestalt, die sich so bescheiden ins Dunkel gestellt hatte; es
war die Retterin seines geliebten Jünglings; gerührt sah er zu ihr
herab, auch sie war tief ergriffen. War es der furchtbare Moment des
Wahnsinns, wie sie ihn erlebt und gesehen hatte, war es der Gedanke,
daß der, den sie rettete, der nachher aufgelöst von Dankbarkeit nur
ihr gehört hatte, daß dieser auf die ersten Lockungen einer Kokette
sie verlassen hatte? -- Sie stand, das holde Amorettenköpfchen tief
gesenkt, voll Wehmut da; Träne um Träne stahl sich aus ihren Augen und
rieselte über die Wangen herab.

Er sah sie einige Augenblicke an und teilte stillschweigend ihren
Kummer. Doch er konnte ja alles gut machen, er konnte die Tränen
in Lächeln verwandeln. »Seien Sie nur ruhig, gutes, herziges Kind;
der tolle Patron da, den Sie so gut getroffen haben, der soll Ihnen
abbitten, soll alles wieder gut machen.«

Sie sah fragend an ihm hinauf und schüttelte dann wehmütig lächelnd das
Köpfchen, als wollte sie sagen: »Das ist jetzt alles vorbei und hat
ein Ende.« Er aber ließ sich nicht aus seinem Konzept bringen. »Wetten
wir diese Zeichnung,« sagte er, »der undankbare Junker Obenhinaus muß
heran und muß wieder brav und mild sein und seine Ida lieb--«

Das Mädchen ward feuerrot; »Herr von Ladenstein,« sagte sie, zwischen
Wehmut und Unmut kämpfend, »ich hätte nicht geglaubt, daß Sie --«

»Nun, wenn Sie nicht glauben, so muß ich Ihnen den Glauben in die Hände
geben;« damit schritt er zur Türe und riß sie auf.


Versöhnte Liebe.

Das Mädchen war sprachlos vor Staunen; es wußte nicht, wie ihm geschah,
und traute seinen Augen nicht. In glänzender Uniform, schön und
freundlich wie der Tag, ganz hingegossen in reuevoller Zärtlichkeit lag
Emil vor ihr auf den Knien, hatte ihr Händchen gefaßt und preßte heiße,
glühende Küsse der Liebe darauf. Sie wollte die Hand zurückziehen,
sie zog ihn mit herauf, und ehe sie es sich recht versah -- doch
das konnte man nicht sagen, sie sah sich mit einem blitzschnellen
Viertelseitenblickchen nach Ladenstein um, der aber schien gar nicht
auf sie beide zu achten, denn er schaute unverwandt durch die Scheiben
in die Nacht hinaus, also ehe sie sich kaum recht versah, lag sie in
des Grafen Armen, fühlte sie seine Lippen auf ihren Lippen und --
»solch ein Kuß, das ist ein Kuß!«

Und nun bat der arme Sünder um Verzeihung; er sagte ihr, wie ihn
die Gräfin so eifersüchtig gemacht hätte, wie er geglaubt habe, der
Rittmeister mache ältere Rechte geltend, wie er in der Verzweiflung der
Gräfin die Cour gemacht, wie er -- nun, er hatte sich stark versündigt,
aber sie ließ ihn nicht weiter reden, mit dem ersten Wort seiner Reue
war ja auch ihr Kummer verschwunden, sie legte ihm das weiche, zarte
Flaumenhändchen auf den Mund und wisperte ihm errötend zu, daß sie
alles vergeben und vergessen wolle; und jetzt ging es von neuem los. Da
wollte er erstens ein kleines Küßchen zum Zeichen der Vergebung, dann
den größeren Versöhnungskuß, dann einen langen dito, daß sie ihm nimmer
bös sei, dann einen noch längeren, daß sie ganz gewiß nimmer zürne,
dann den ganz ellenlangen zur Erlaubnis, daß er morgen zum Papa gehe
und um sie anhalte.

»Aber, Kinder, es wird spät,« sprach endlich schon zum drittenmal der
alte Herr und tippte Ida auf das Aermchen, das den reuevollen Geliebten
umschlungen hielt, daß sie erschrocken und über und über bepurpurt
aufsprang und nicht wußte, wohin sie sehen sollte, denn an diesen
Zeugen hatte sie in ihrer Seligkeit gar nicht mehr gedacht. -- »Kinder,
es wird spät, und die Bilder können alle schon zehnmal gezeigt sein;
wir müssen hinunter zur Gesellschaft.«

»Nur ich nicht,« bat Martiniz, »mir graut, vom Himmel, in dem ich war,
hinabzusteigen in einen nüchternen, irdischen Tee.«

Es wurde ihm zugestanden, aber unter der Bedingung, daß er morgen recht
bald kommen solle. Ladenstein versprach, ihn selbst hinüberzuspedieren,
und trieb immer wieder zum Aufbruch. Nun, so unbarmherzig konnte er
doch nicht sein, den allereinzigen Gutenacht-Kuß mußte er gestatten.
Er wurde in zwölf kleine Portionen verteilt und nach alter Vorschrift
eingegeben, und jetzt endlich trennte man sich.

Idchen war es ganz schwindelig zumut, tausend Gedanken stiegen in ihr
auf und nieder; sie hatten gar nicht alle recht Platz in dem Köpfchen
und drängten und trieben sich daher wirbelnd um und um. Nur _eines_
war ihr recht klar und deutlich, daß sie recht glücklich, unendlich
glückselig sei, daß er sie gek-- Sie errötete vor dem Gedanken, und
dennoch spitzte sie das Mäulchen und probierte es noch einmal im
Geiste, wie sie es gemacht hatten, daß es so wundersüß schmeckte.

Nein, so ging es nicht, sie mußte sich zusammennehmen, ehe sie zur
Gesellschaft ging; es war ihr, als sollte sie allen Menschen um den
Hals fallen und ihnen ihr stilles Glück verkünden. So ging es nicht --
da mußte man es gleich merken; sie stellte sich vor den deckenhohen
Spiegel und probierte recht ernsthafte oder gleichgültige Gesichter,
aber sie mochte es machen wie sie wollte, immer guckte wieder ein
lustiges Köpfchen mit einem spitzigen Mäulchen aus dem reinen, hellen
Glas. Endlich schalt sie sich selbst recht aus, nannte sich einen
Kindskopf, einen Wildfang und alles mögliche, und siehe, da ging es
endlich; mit dem gleichgültigsten Gesicht von der Welt trat sie wieder
ins Zimmer und behielt zu ihrer eigenen Verwunderung die gleichgültige
Miene, bis man sich verabschiedete.

Doch nein, einmal wäre sie beinahe herausgeplatzt, und sie hatte zu
beißen und zu schlucken, daß kein Kichern hervorkam.

Die Gräfin beklagte sich noch einmal gegen die Sorben, die jetzt ihre
Gesellschaftsdame spielte, daß der Graf heute sich gar nicht habe
sehen lassen. »Das verzeihe ich ihm in den nächsten zwei Tagen nicht,«
setzte sie preziös hinzu, indem sie die arme Ida dabei fixierte und
dachte: »Die verberstet vor Neid,« während es nur unterdrücktes
Lachen war, was dem lustigen Amorettenköpfchen um die Lippen zuckte --
»wenn er morgen früh mich zu besuchen kommt, wird er nicht angenommen,
nachmittags -- nicht angenommen, und abends, nun, da will ich ihm ein
so saures Gesicht machen, daß er nicht mehr daran denkt, uns einen
ganzen Tag zu negligieren.«

»Der arme Graf, wie ihn das mitnehmen wird!« lächelte Fräulein von
Sorben mit einem schadenfrohen Blick auf Ida.

»Der arme Graf!« dachte sie und lachte still in sich hinein, sie konnte
sich denken, wie arg dieser schreckliche Vorsatz ihn angreifen werde.


Die Freiwerber.

Schon seit einer langen halben Stunde hatte am andern Morgen Ida an
ihrem Fenster gelauscht. Um neun Uhr, ehe der Vater in die Session
ging, hatte Martiniz kommen wollen, um mit ihm zu sprechen, es war
Viertel, er kam noch nicht.

Daß der Vater ihn erwarten würde, wußte sie wohl, denn der Graf hatte
sich anmelden lassen; aber sie fürchtete, der Präsident möchte übler
Laune werden, wenn er so lange warten müsse. Ihr Herzchen pochte so
ungeduldig, alle Augenblicke wechselte das Rot auf ihren Wangen, der
bräutliche Busen flog auf und nieder voll banger Erwartung. Es kann
aber auch für ein Mädchen keine erwartungsvollere Stunde geben als die,
wenn der Geliebte zum Vater oder zur Mutter gehen will, um sein Mädchen
anzuhalten. Freude und Angst, Besorgnis und frohe Hoffnung wechseln
dann auf dem lieblichen Brautgesichtchen, ein tiefer Seufzer, wohl
auch ein leises Gebet entsteigt dann dem kindlichen Herzen, das zum
erstenmal geteilt ist zwischen der Anhänglichkeit an die Eltern und der
Liebe zu dem, der sie zu seinem Frauchen machen will.

Zwar konnte Ida nicht zweifeln, daß der Vater diese Partie für sehr
anständig finden würde, aber sie kannte ihn, wie er alles nach
den Dienstverhältnissen abwog. Konnte er nicht aus Furcht vor der
allerhöchsten Ungnade Nein sagen, weil man in der Residenz den Grafen
für eine andere bestimmt hatte? Und dann der Onkel des Grafen -- sie
hatte vom Hofrate gehört, daß es einen solchen gebe, einen ältlichen,
etwas grämlichen Mann, von dem der Graf sehr abhängig sei; wird er auch
seine Einwilligung geben?

Auch vor der Gräfin war ihr bange. Zwar es lag kein geringer Triumph
darin, die Gegnerin, die alle Höllenkünste aufgeboten hatte, Emils Herz
von ihr abzureißen, überwunden zu haben, aber sie scheute sich doch
beinahe ebensosehr vor dem Zorn der Gewaltigen, als sie sich freute, zu
sehen, was sie für ein Gesicht machen werde, wenn man es ihr ankündige.

Endlich -- ja, er war es; in seiner glänzenden Uniform wie gestern trat
er heraus -- mit ihm Ladenstein; nein, wie aber dieser geputzt war! Sie
hatte, als sie sich bei Hof präsentieren ließ, einmal einen ...schen
Gesandten gesehen, gerade so war er gekleidet; der Frack starrte von
goldener Stickerei, ein handbreites Ordensband ging ihm über die
Brust quer herab, auf der Brust -- was Tausend! da hatte er ja sogar
einen Stern! »Nun, das muß doch ein vornehmer Herr sein, der Herr von
Ladenstein,« dachte Ida und machte große Augen, »und sonst sieht er
doch ganz schlicht aus.«

Es kam die Treppe herauf, es pochte an ihrer Türe, gewiß wollte Emil
noch einmal -- nein, es war nur Ladenstein, aber auch dieser war ihr
willkommen. Aber so freundlich er lächelte, so war es ihr doch, als
könne sie heute nicht so ungeniert sein als früher. Sie machte einen
tiefen, tiefen Hofgala-Knicks, als er so bebändert, besternt und
übergoldet zu ihr eintrat, und wußte nicht gleich recht, wie sie ihn
empfangen sollte; er aber lachte ihr gerade ins Gesicht: »Ich weiß
wohl, woran es liegt, daß mich Fräulein Ida nicht empfängt wie einen
alten Freund; die paar Ellen Band da! Ei, ei, das hätte ich doch nicht
gedacht, daß sich eine junge Dame dadurch gleich so einschüchtern
ließe!« Sie sammelte sich und lachte sich jetzt selbst recht aus,
daß sie ihn so steif und förmlich wie eine ungeheure Respektsperson
empfangen hatte; er zog sie zutraulich zu sich auf den Diwan und
erzählte, daß Emil in diesem Augenblick mit seiner Werbung vor dem Papa
stehe und sie hoffentlich recht bald als Bräutchen umfangen werde. --

Das Mädchen ward feuerflammrot, sie hatte sich noch von keinem Menschen
Braut nennen hören, es war ihr ein so ungewohntes Wörtchen, und doch
kam es ihr selbst wieder vor, als sei es ihr recht bräutlich zumut. --

Er selbst, fuhr der freundliche Alte fort, sei als Reserve-Bataillon
und Hinterhalt aufgestellt; er habe sich darum mit all seinem
Flitterputz angetan, um damit dem Herrn Papa-Präsidenten, wenn er etwa
noch einiges Bedenken tragen sollte, über den Hals zu fallen.

Ida ward recht nachdenklich, als sie aus Ladensteins Mund hörte, daß es
denn doch fehlen könne, und sagte: »Ach, vor meinem Vater ist mir nicht
so bange, der gibt am Ende schon nach, wenn ich ihn recht schön bitte,
aber der Onkel --«

»Nun, was für ein Onkel ist denn das?« fragte Ladenstein aufmerksam und
neugierig.

»Emils Onkel, wissen Sie denn nichts von dem? Ach Gott! Das soll ein
gar böser alter Herr sein« (Ladensteins Gesicht zog sich immer mehr in
die Länge bei diesen Nachrichten), »das hat mir Hofrat Berner, der den
jungen Grafen und seine Verhältnisse kennt, gesagt; von ihm hängt Emil
ab, denn er soll ihn so lieb haben wie seinen Vater, und der alte Herr
soll auch sehr viel an dem Neffen tun --« (es zuckte wie tiefe Rührung
in Ladensteins Gesicht), »wenn nun dieser die Sache erfährt,« setzte
sie traurig hinzu, »wenn er dem Grafen eine Schönere, eine Bessere
ausgesucht hätte, wenn er Nein sagt.«

»O, er sagt nicht Nein, er kann keine Bessere finden,« unterbrach sie
der alte Herr voll wunderbarer Rührung.

»Eine Treuere wenigstens nicht, keine, die ihn mehr ehren würde; ach,
wenn man nur den erweichen könnte; sehen Sie, Ladenstein,« sagte sie
unter Tränen lächelnd, »ich habe mir eine kleine List ausgedacht, es
ist zwar eine Kriegslist, aber doch wohl eine erlaubte, und Sie habe
ich dazu ausersehen, daß Sie mir dabei helfen. Sie kennen die Szene
aus der Kirche, die ich Ihnen gestern zeigte, die habe ich nun ganz
eigentlich für den alten Martiniz entworfen. Sehen Sie, wenn er etwa
zweifelt, daß ich seinem Neffen so recht von Herzen gut bin, so -- das
tun Sie mir schon zu Gefallen, und Sie kennen den alten Herrn gewiß --
so zeigen Sie ihm die Gruppe da, sagen Sie ihm, ich sei es gewesen, die
seinen Emil von dem schrecklichen Wahn befreite; wollen Sie?«

Der alte Herr nickte ihr stumm seine Einwilligung zu, die hellen Tränen
rollten ihm durch die gefurchten Wangen, er war so tief gerührt, daß er
nicht sprechen konnte; er faßte ihre Hand und zog sie an seine Lippen.
Endlich faßte er sich doch wieder, er wischte die Tränen hinweg, er war
freundlich wie zuvor und fand auch die Sprache wieder.

»Ich will es ihm geben, dem alten Gesellen,« sagte er lächelnd,
»ich kenne ihn so gut wie mich selbst, und darf sagen, daß ich sein
innigster -- bester Freund bin; haben Sie keine Sorgen, Töchterchen,
der Alte schlägt mit Freuden ein, aber das Bild da soll er haben, und
wie ich ihn kenne, wird er es hoch anschlagen, es wird sein bestes
Kabinettstück sein.«


Fortsetzung der Freier.

Sie wurden von Emil unterbrochen, der in stürmischer Eile Ladenstein
zum Präsidenten hinabrief. Dieser ging und ließ die beiden allein. Emil
sagte seinem Mädchen, daß der Papa durchaus nicht abgeneigt scheine,
nur habe er bange, was der Hof dazu sagen werde. Er für seinen Teil
könne diese Bedenklichkeiten nicht begreifen, denn offenbar gehe es
den Hof nicht im mindesten etwas an, wen er heiraten wolle. Ida konnte
wohl ahnen, was ihr Vater unter diesen Bedenklichkeiten wegen des Hofes
verstand, aber sie scheute sich, den Geliebten darüber zu belehren. Es
wäre aber auch Sünde gewesen, ihn in seinem Glücke zu stören. Er saß so
selig neben dem bräutlichen Mädchen, er war so trunken von Wonne und
Glück, daß er nichts anderes mehr zu hören und zu denken schien als sie.

Man konnte aber auch nichts Holderes, Lieblicheres sehen als das
Mädchen. Ihr Auge glänzte voll Liebe und Seligkeit, auf den Wangen lag
das heilige Frührot der bräutlichen Scham, um den Mund spielte ein
reizendes Lächeln, das bald Verlegenheit über den ihr so ungewohnten
Stand einer Braut, bald Wonne und Freude verriet.

»Mein holdes, einziges, mein bräutliches Mädchen,« rief der glückliche
Martiniz, nachdem er sie lange mit seinen trunkenen Blicken angeschaut
hatte. »Mein lieber, guter Emil,« lispelte sie und sank in seine Arme
und barg ihr tief errötendes Köpfchen an seiner Brust. Aber obgleich
es ihm Freude machte, das Engelskind so an sein treues Herz geschmiegt
zu sehen, das schöne Haar mit seinen Ringellöckchen zu betrachten und
in den herrlich gewölbten Nacken, so rein und weiß, so glänzend wie
aus Wachs geformt, niederzublicken, so machte ihm doch die Kehrseite
mehr Freude. Er faßte das Engelsköpfchen an dem samtnen Kinn und hob es
aufwärts. Wie mild, wie treu blickten ihn diese Augen an, wie würzig
wölbten sich die Purpurlippen ihm entgegen! Er schlug den Arm um den
schlanken Leib, er preßte sie an sich und sog in langen, langen Küssen
das süßeste Leben in sich ein.

Nein, wahrhaftig, so sonderbar war ihr in ihrem ganzen Leben nicht
zumut gewesen, wie in diesen Augenblicken. Es prickelte und zuckte ihr
durch alle Nerven, durch alle Glieder und Gliedchen, bis hinaus in die
Fingerspitzen, bis hinab in den großen Zehen. Es war ihr so wohl, so
wonnig zumut, als sollte sie aufgelöst in innige Liebe vergehen. Sie
wollte ihn ansehen und hatte doch das Herz nicht dazu, sie wollte sich
schämen und schalt sich wieder aus über die Torheit, denn es war ja ihr
Bräutig--; nein, das fiel ihr eben siedendheiß ein, es war noch nicht
ihr Bräutigam, Papa hatte ihm seine Einwilligung noch nicht zugesagt
-- es schickte sich doch nicht so recht, sie wand sich verschämt aus
seinen Armen und wollte eben sagen, daß er doch ein wenig einhalten --

Da ging die Türe auf, und mit freudestrahlendem Gesicht, den lächelnden
Präsidenten an der Hand, schritt Ladenstein herein. »Ich gratuliere,«
rief er, »der Herr Papa willigt ein!« Ida flog an den Hals ihres
Vaters. Sie weinte, sie lachte in einem Atem, sie streichelte seine
Wangen und küßte ihn und war ein so munteres, wähliges Kind, als habe
er ihr eine hübsche Puppe zum Weihnachten oder als Geburtstagsangebinde
geschenkt.

Auch Emil war aufgestanden und zum Präsidenten getreten. Er fragte ihn
voll Freude, ob es ihm erlaubt sei, ihn Vater zu nennen?

Der Präsident lächelte und zeigte auf Ladenstein. »Nach dem, was Seine
Exzellenz, Ihr Herr O--« ein Wink des alten Herrn machte, daß er sich
schnell korrigierte -- »was Herr von Ladenstein mir sagte, ist durchaus
kein Zweifel mehr in mir, der dieser Verbindung entgegen wäre.«

Die Glücklichen sanken sich in die Arme, sie umarmten sich, den Vater,
den guten Ladenstein, ja, es schien fast, als möchten sie noch mehr
Zeugen ihres Glückes. Und nun ging es an ein Akkordieren wegen der
Hochzeit, der Graf wollte lieber heute als morgen und hätte gern sein
liebes Bräutchen nur so im Hauskleidchen, wie sie dastand, ins Münster
geführt. Aber dagegen sträubte sie sich selbst. Sie sah gar zu naiv
aus, als sie so ernsthaft sagte: »Nein, wenn es einmal sein muß, so muß
es auch recht sein. Im Hausüberröckchen traut man kein reputierliches
Fräulein.« Der Präsident stimmte bei, er sagte: »Sie haben ja noch gar
nichts, wo Sie nur Ihr Haupt hinlegen könnten, keine Wohnung, keinen
Stuhl, kein Bette!«

Aber dagegen protestierte wieder Ladenstein feierlich: »Ein Vierteljahr
ist viel zu lang, und was den Ort betrifft, wo sie ihr Haupt hinlegen
könnten, da habe ich ein so anständiges Plätzchen ausersehen, wie
man es nur wünschen kann. Da ist --« er zog eine große Schreibtafel
hervor, nahm mehrere Papiere heraus und entfaltete sie -- »da ist
ein gerichtlich ausgefertigter Kaufbrief von Schloß und Herrschaft
Groß-Lanzau, drei Viertelstunden von hier, angekauft für den Herrn
Grafen Emil von Martiniz, wenn Sie ihn kennen, und ihm von seinem Oheim
zur Morgengabe übermacht, kann heute schon bezogen werden, wenn es ihm
gefällig ist.«

Die drei machten große Augen. Emil stürzte dem alten Herrn an den Hals.
»Mein teurer, väterlicher --«

»Still, still, ist schon gut,« unterbrach ihn der alte Herr, indem er
ihm die Hand auf den Mund legte, »bedenke dein Versprechen. Ich habe
hier nur den Geschäftsträger gemacht, danke deinem Onkel, wenn er
einmal da ist!« -- »Ach, wo ist er denn, der gute Onkel,« rief Ida,
»daß ich ihm danken kann für seine unendliche Güte?«

»Wird auch kommen zu seiner Zeit,« antwortete Ladenstein, indem ihm
eine Träne der Rührung im Auge blinkte, »er wird schon kommen und eine
Freude an seinem holden Töchterchen haben, einstweilen soll ich Idchen
in seinem Namen küssen.« Er gab ihr einen recht väterlichen Kuß auf die
schöne Stirne.

Der Präsident hatte indessen die Papiere durchgesehen. Je länger er
las, desto größer und staunender wurden seine Augen. Ehrfurchtsvoll
faltete er die Papiere zusammen und sagte: »Nein, das ist zu arg, das
ist zu viel; bedenket, Kinderchen, nicht nur das herrliche Groß-Lanzau
mit dem schönen neuen Schloß, ganz durch und durch elegant ausmöbliert,
mit Stallung und Pferden, mit Scheunen und Knechten, mit Wäldern und
Feldern, weiß Gott! seine zweimalhunderttausend Taler unter Brüdern
wert, nein, bedenkt auch noch --«

»Still, alter Herr!« unterbrach ihn Ladenstein. »Macht kein solches
Wesen von dem Zeug. Ihr wißt, der alte Martiniz kann es geben und
gibt es gern. Da ist auch noch etwas in den Papieren für das liebe
Bräutchen, nämlich ein kleines Schlößchen, hart am Fluß, ein Stündchen
von hier. Man hat mir gesagt, daß Idchen immer gerne an jenem Plätzchen
gewesen sei, und deswegen hat es der Herr Onkel seiner lieben Nichte
erb- und eigentümlich zum Brautgeschenk übermacht.«

Voll freudigen Schreckens schlug das Mädchen die Hände zusammen. »Doch
nicht mein liebes Blauenstein?« rief sie.

»Ebendasselbe,« antwortete Ladenstein und überreichte ihr die
Schenkungsakte.

Sie konnte es nicht fassen, sie tanzte mit dem großen Brief im Zimmer
umher wie närrisch und rief immer: »Mein Blauenstein, mein liebes,
herziges Blauenstein!« daß die drei unwillkürlich über die possierliche
Freude des Mädchens lachen mußten.

Es ist aber auch wahr, man kann nichts Schöneres sehen als dieses
Blauenstein. Ein allerliebstes Schlößchen mit fünf bis sechs
elegant eingerichteten Zimmern und einem Salon, auf drei Seiten von
einem schönen Wald umgeben, und die vierte Seite, die Fassade des
Schlößchens, gegen den schönen Fluß geöffnet, und eine paradiesische
Aussicht hinüber in Täler und Berge -- und dieses lauschige, liebliche
Plätzchen ihr ganz eigen, ihr, dem fröhlichen Bräutchen, und dort zu
wohnen als Frauchen mit ihrem Emil -- gewiß, ein solcher Gedanke hätte
manche andere tanzen gemacht!

Und jetzt hatte der Präsident auch nicht das geringste mehr
einzuwenden, und die Hochzeit wurde vor den Ohren des errötenden
Mädchens auf die nächste Woche festgesetzt. Heute abend aber wollte
Papa Präsident große Gesellschaft geben und dort das junge Paar als
Braut und Bräutigam präsentieren.


Die Soiree.

»Was aber der Präsident Sanden dick tut!« sagten die Freilinger, als
jetzt die Lakaien in der Stadt umherflogen und zum Souper einluden. Die
meisten dachten, es geschehe der Gräfin Aarstein zu Ehren, bei welcher
er sich auf alle mögliche Weise zu insinuieren suche, um später einmal
Minister zu werden.

Als man aber abends in den Salon des Präsidenten trat, wurde man noch
mehr von diesem »Dicktun« überzeugt. Außer den prachtvollen Lüstern,
die gewöhnlich bei Gesellschaften angezündet wurden, war eine ganze
Galerie der geschmackvollsten Wandleuchter von Bronze angebracht, und
Walratlichter, so durchsichtig und klar wie Glas, eine ganz nagelneue
Erscheinung für Freilingen, strahlten ein Feuermeer von sich. Die
Wände waren mit Festons von Blumen und grünen Zweigen geschmückt, die
sich in den deckenhohen Spiegeln zu einem ganzen Wald von Kränzen
und Girlanden vervielfältigten. Ein ganzer Hausrat der prächtigsten
Kristalle, Vasen, Teller, Becher, Platten, Schüsseln, Bouteillen
blinkte mit seinen geschliffenen Figuren in tausend vielfarbigen
Lichtern. Das schwerste Silber an Bestecken und Leuchtern ward heute
aufgesetzt, und jedermänniglich war erstaunt über diese Pracht.

Einige aber, die feinere Nasen hatten als die übrigen, legten die
Finger daran und klügelten hin und her, was dies alles zu bedeuten
habe; denn man wußte so ziemlich allgemein, daß der alte Sanden ohne
Not und wichtige Ursache nicht so viele Umstände mache. Doch aus seinem
Gesicht konnte man nicht recht vernehmen, was er ~in petto~ habe. Er
empfing seine Gäste höchst freundlich, aber zeremoniös, sprach mit
keinem sehr viel und lange, sondern teilte sich überall und allen mit.
Die Gräfin -- nun, die kam endlich, sah aber nicht danach aus, als ob
ihr das Fest gehöre, denn sie war wie gewöhnlich prachtvoll, aber nicht
gerade festlich gekleidet.

Die einzigen von allen Gästen, die mit ihren Erwartungen so ziemlich
am nächsten ans Ziel trafen, waren wohl Leutnant Schulderoff und
seine Kameraden. Sie waren seit der Duellgeschichte die eifrigsten
Freunde des Polen geworden und hatten ihre geheime Schadenfreude
daran, daß der Goldfisch wahrscheinlich der Aarstein, welche die
Garnisonsoffiziere sehr über die Achsel angesehen und ganz obenhin
behandelt hatte, entschlüpfen würde. »Wenn die Ida doch keinem von
uns gehören soll,« hatte Schulderoff geäußert, »so gönne ich sie am
liebsten dem Martiniz; er ist Soldat, und das muß man ihm lassen, brav
wie der Teufel; stand er doch da, als die blaue Bohne auf ihn zusurrte,
als wäre es ein Schneeglöckchen; so kalt und fest habe ich in meinem
Leben keinen sich schießen sehen. Und am Ende hatte er doch recht, denn
Sporeneck räsonierte doch über die Ida, daß es mir selbst das Herz im
Leib hat zerreißen wollen. Das kommt aber von niemand her als von der
Aarstein, die den guten Jungen, den Sporeneck zum Teufel moduliert
hat, und nebenbei kommt es auch von meiner Frau Mama mit ihrer ewigen
Planmacherei, mich unter die Haube zu bringen, und nebenbei auch von
der falschen Katze, der Sorben, die gegen jedermann ergrimmt ist, wer
nicht von ihren Reizen hingerissen wird.«

So urteilte der Leutnant und mit ihm seine Kameraden; so sehr hatte die
Uniform und der Orden auf Martiniz' Brust die ganze Sache verändert.

Endlich war die ganze Gesellschaft beisammen. Man konversierte in dem
festonierten Saal, ehe man zu den Spieltischen ging, und die Gräfin
hatte den größten Hof um sich, denn man dachte nicht anders, als sie
müsse doch vielleicht die Königin des Festes sein. Es fehlte niemand
mehr; doch ja, Martiniz und Ladenstein fehlten noch, die Gräfin suchte
vergebens mit ihren rastlosen Blicken nach dem ersteren. Sie hatte
eine tüchtige Schelte einstudiert, um ihn für seine Vernachlässigung
zu strafen; überhaupt hatten sich ihr heute so sonderbare Gedanken
aufgedrängt -- der Graf, der sich doch sonst an sie angeschlossen,
dem sie so merklich als möglich ihre Neigung zu ihm gezeigt hatte,
war zwei Tage gar nicht für sie sichtbar; sie wußte, daß er heute im
Hause gewesen, und doch hatte er sie nicht besucht; der Rittmeister --
der war ihr nun ganz unbegreiflich, und sie war bitterböse auf ihn.
Im ganzen war er ihr gleichgültig, denn ihre Neigungen waren sehr
flüchtiger Natur, auch war ihr der Graf jetzt bei weitem interessanter,
und sie gestand es sich selbst, sie hätte ein Wohlwollen zu ihm, das
beinahe Liebe war -- aber dennoch sollte der Rittmeister noch immer
der ~Cavaliere servente~ sein, und dennoch konnte er es wagen, zwei
Tage sich nicht mit einem Blick sehen zu lassen. Wenn er auf die
Jagd geritten war, wie die übrigen Offiziere äußerten, so hätte er
wenigstens ein Billett an sie hinterlassen können -- aber sie wollte es
ihm entgelten.

Der Arme! er lag gerade jetzt auf seinem Schmerzenslager und fluchte
die fürchterlichsten Flüche, daß er sich jemals in die Dienste dieser
Sirene begeben habe.


Die Braut.

Auch Ida fehlte noch in der Gesellschaft; nun, sie hatte wahrscheinlich
noch manches für die Bewirtung zu sorgen und zu rüsten. Endlich -- der
Präsident hatte sich heimlicherweise weggeschlichen -- endlich ging
die Tür auf, ein allgemeines Flüstern der Erwartung rauschte durch den
Saal -- herein trat ein großer, ältlicher Herr in reicher, prächtiger
Kleidung, mit Sternen und Orden besäet (wir kennen ihn schon), an
seinem Arm ein holder, verschämter Engel voll Huld und Anmut, demütig
und doch voll wunderbarer Majestät -- Ida.

Aber wie _das_ Mädchen heute geputzt war, das Blondenkleid, man
hatte noch nichts so Feines, Zartes, Geschmackvolles gesehen. Um den
Schwanenhals ein Perlenschmuck, der, es waren scharfe Kenner in dem
Saal, aber sie schwuren hoch und teuer, mit den fürchterlichsten
Flüchen, er sei unschätzbar und nicht in diesem Lande gekauft! Im
zierlich geordneten Haar einen Solitär, die Gräfin hätte heulen
mögen, daß sie den ihrigen hatte in der Residenz lassen müssen -- er
war in Kost und Logis bei Salomon Moses' Söhnen -- und doch hätte er
gegen dieses Wasser, gegen die funkensprühende Kraft dieses Steins
verbleichen müssen!

Hatten die Gäste schon dies Paar mit weit aufgerissenen Augen
angestarrt, so riskierten sie jetzt vor Verwunderung den schwarzen Star
zu bekommen, denn jetzt trat der Präsident ein, an der Hand führte er
einen Jüngling, hoch und schlank, in prachtvoller, pompöser Uniform,
den Diamantorden auf der stolz gewölbten Brust, an der Seite einen mit
flunkernden Steinen übersäeten Säbel, in der Hand seinen Kalpak, woran
die Agraffe, ein Familienstück, von Kennern auf zweimalhunderttausend
Taler geschätzt wurde; der Präsident mit seinem strahlenden Jüngling
trat näher, es war Emil.

Der Kreis der erstaunten Gäste öffnete sich -- der Präsident empfing
aus Ladensteins Hand sein Idchen, so trat er mit dem Pärchen in den
Kreis -- die Gräfin mochte ahnen, was vorging, denn sie schoß wütende
Blicke auf die drei, ihr Busen flog auf und nieder; tief und bescheiden
neigte sich Ida, das Engelskind und errötete über und über; der Graf
aber schaute fröhlich, stolz, mit seinem siegenden Glutblick im Kreise
umher, der Präsident verbeugte sich und begann: »Verehrte Freunde, ich
habe Sie eingeladen, ein glückliches Ereignis meines Hauses mit mir zu
begehen -- meine Ida hat sich heute verlobt mit dem Grafen Emil von
Martiniz.« Von Anfang tiefe, tiefe Stille, man hätte eine Mücke können
trappen hören -- unwillkürlich flogen die Blicke der erstaunten Gäste
nach der Gräfin, denn _sie, sie_ mußte ja nach ihren Kalkülen die Braut
sein, dann öffneten sich die Schleusen der Beredsamkeit, ein ungeheurer
Strom von Gratulationen, gegenseitigen Lobpreisungen brach über die
Dame herein, man hörte sein eigenes Wort nicht, so gingen, wie in einer
Windmühle, wenn der Nordost bläst, die Mäuler und Mäulchen.

Endlich fand auch die Gräfin Worte, sie hatte, das übersah sie mit
_einem_ Blick, das Schlachtfeld verloren, jetzt galt es, sich geordnet
zurückzuziehen und dem Feind, wo sie eine Blöße erspähen könnte, noch
eine tüchtige Schlappe zu geben. Sie hatte schnell gefunden, was sie
wollte. Sie eilte auf Ida zu, umarmte sie herzlich und wünschte ihr
Glück zu ihrer Verbindung. »Aber dennoch, Kinderchen,« setzte sie hinzu
und wollte freundlich aussehen, obgleich ihr das grüne Neidfeuer aus
den Augen sprühte und ihr Mund krampfhaft zuckte, »dennoch weiß ich
nicht, ob ihr ganz klug getan habt. Idas Mutter war, soviel ich weiß,
aus keinem alten Haus, und Sie selbst, Graf, müssen wissen, wie Ihr
Oheim, der Minister, darüber denkt; wenigstens, soviel ich mir von ihm
habe sagen lassen, wird er diese Verbindung nun und nimmermehr zugeben.«

Ida war ganz bleich geworden, sie dachte im Augenblick nicht daran, daß
nur böslicher Wille und Neid die Gräfin so sprechen lasse, das Wasser
schoß ihr in die Augen, sie warf einen bittenden, hilfesuchenden Blick
auf Ladenstein und Martiniz; jener stand auf der Seite und sah ernst,
beinahe höhnisch der Gräfin zu, Emil aber sagte ganz kalt und gelassen:
»Wissen Sie das so gewiß, gnädige Frau?« Dieser Gleichmut reizte sie
noch mehr; eine hohe Röte flog über ihr Gesicht, die Augen strahlten
noch tückischer. »Ja, ja, das weiß ich gewiß,« rief sie, »ein Freund
Ihres Herrn Onkels, der Geheimrat von Sorben, hat mir über diese Sache
hinlänglich Licht gegeben, daß ich weiß, daß er diese Mesalliance nie
genehmigen wird, Sie werden es sehen!«

»Und dennoch _hat_ er sie genehmigt,« antwortete eine tiefe, feste
Stimme hinter ihr. Erschrocken sah sie sich um, es war der alte
Ladenstein, der sie mit einem höhnischen, sprechenden Blick ansah;
sie konnte seinen Blick nicht aushalten und maß ihn daher mit stolzem
Lächeln, hinter das sie ihre Wut verbarg, von oben bis unten. »Das
müßte doch sehr schnell gegangen sein,« sagte sie und schlug eine
gellende Lache auf, »noch vor fünf Tagen lauteten die Nachrichten
hierüber ganz anders, der Herr von Sorben sagt mir --«

»Er hat Sie belogen,« entgegnete der alte Herr ganz ruhig.

»Nein, das wird mir zu stark,« rief die hohe Dame gereizt, »von einem
Mann wie Herr von Sorben bitte ich in anderen Ausdrücken zu sprechen;
wie können _Sie_ wissen, was der alte Herr von Martiniz --«

»Er steht vor Ihnen, gnädige Gräfin,« sagte der alte Herr und
beugte sich tief, »ich heiße mit Ihrer Erlaubnis Dagobert Graf von
Ladenstein-Martiniz.«

Ehe er noch ausgesprochen hatte, lag Ida an der besternten Brust des
Oheims, vergoß Tränen der Freude und der Wonne und suchte vergeblich
nach Worten, ihr Entzücken auszusprechen. Die Gräfin stand da, wie
zu einer Säule versteinert, doch hatte sie, sobald sie wieder Atem
hatte, auch Fassung genug, zu sprechen; so freundlich und herablassend
als möglich wandte sie sich an das junge Paar: »Nun, da wünsche ich
doppelt Glück, daß ich mich geirrt habe. Hätte es Sr. Exzellenz früher
gefallen, seine Maske abzunehmen, so würde ich Ihr Glück auch nicht auf
einen Augenblick gestört haben.«

Sie ging, von außen ein Engel, im Herzen eine Furie; sie wünschte in
ihrem wutkochenden Herzen alles Unglück auf das Haupt der unschuldigen
Ida. Wütend kam sie zu der Sorben, die mit Frau von Schulderoff in
einer Fenstervertiefung bei einem Glas Punsch sich von dem Schrecken
erholte, der ihr in alle Glieder gefahren war. »An allem Unheil ist
Ihr sauberer Herr Onkel schuld, Fräulein Sorben,« rief die Wütende,
»warum hat er uns mit falschen Nachrichten bedient? Warum hat er uns
nichts gesagt, daß der alte Narr hier herumspukt unter falschem Namen?
O, ich möchte --!« Der orangenfarbene Teint von Fräulein Sorben war ins
Erdfahle übergegangen, sie hatte die stille Wut und machte sich hier
und da nur durch ein unartikuliertes Kichern Luft, indem ihr das helle
Tränenwasser in den Augen stand.

»Und keinen Hufen Landes sollen sie mir kaufen, das Polenpack! solange
mein Oheim noch Herr im Lande ist; nach ihrem Polen mögen sie ziehen,
und das Affengesicht, den naseweisen, dürren Backfisch, mögen sie
mitnehmen und dort meinetwegen für Geld sehen lassen!«

»Ach, das ist ja gerade das Unglück,« seufzte Frau von Schulderoff,
»daß wir sie in der Nachbarschaft behalten; denken sich Exzellenz, wie
der alte Narr sein Geld zum Fenster hinauswirft; zum Hochzeitsgeschenk,
erfahre ich soeben, hat er ihnen Groß-Lanzau und das freundliche nette
Blauenstein gekauft!«

»Gekauft?« preßte die Gräfin zwischen den Zähnen, die sie ganz
verbissen hatte, heraus, »gek--«

»Denken Sie sich, gekauft um dreimalhunderttausend Taler und ihnen
geschenkt; ob man etwas Tolleres hören kann!«

»Das fehlte noch!« knirschte die Gräfin und rauschte weiter.


Präliminarien.

Indessen war Ida glücklich, selig zwischen dem Geliebten und dem
Oheim. Dieser Oheim, sie hatte sich ihn als einen grämlichen, alten
Herrn vorgestellt; dieser war es, der hie und da in Gedanken ihr
Glück noch gestört hatte. Sie wußte ja, wie Emil an ihm hing, wie
es ihn betrüben würde, wenn jener sein Verhältnis zu Ida ungünstig
aufnähme. Und jetzt, nein! sie wußte sich nicht zu fassen vor lauter
Seligkeit! Der freundliche, gütige Ladenstein hatte sich wie durch
einen Zauberschlag in die gestrenge Exzellenz, den Minister Grafen
von Martiniz verwandelt, und doch blieb er so freundlich, väterlich,
traulich wie zuvor; sie wußte nicht, wem von beiden sie das nette,
lustige Amorettenköpfchen zuwenden sollte, sie lachte und tollte, gab
verkehrte Antworten und schnepperte, wie ihr das Schnäbelchen gewachsen
war. Es war das glückseligste Kind, die holdeste, vollendetste Jungfrau
und das lieblichste, anmutigste Bräutchen unter der Sonne in _einer_
Person.

Einer der Glücklichsten im Saal war aber Hofrat Berner. Heute abend
erst war er zurückgekommen, hatte sich nur schnell in die Toilette
geworfen und schnurstracks zu Präsidents, und das erste war, als
er in den Salon trat, daß er hörte, wie der Präsident seine Kinder
präsentierte; er hätte mögen aus der Haut fahren vor teilnehmendem
Jubel seines alten treuen Herzens. »Das ist _mein_ Werk,« lächelte er
vor sich hin, »ganz allein mein Werk; es konnte nicht anders gehen,
nachdem es einmal eingefädelt war.« Aber wie riß er die Augen auf, als
er von einer Gräfin Aarstein, von einem alten Grafen Martiniz, welche
auch hier seien, hörte! »Nun, da muß es was Tüchtiges gesetzt haben,«
dachte er, »das beste wird sein, ich frage Idchen selbst.«

Das Brautpaar empfing ihn mit Jubel, und Martiniz stellte ihn sogleich
dem alten Grafen vor, denn er hatte ihm viel von diesem alten Freund
und Ratgeber ihrer Liebe erzählt. Ida gestand ihm, daß sie ihn oft
schmerzlich vermißt habe; auch Martiniz äußerte dies und versprach, ihm
alles so bald wie möglich zu erzählen.

»Lassen wir die Brautleutchen, alter Freund,« unterbrach Graf Martiniz
seinen Neffen, indem er den Hofrat am Arm nahm und mit sich fortzog;
»lassen wir sie; uns Alten liegt es ob, für das Glück der Jungen zu
sorgen. Man hat mir gesagt, daß Sie, lieber Hofrat, sich so trefflich
darauf verstünden, ein Festchen zu arrangieren. Ich war in früheren
Jahren einmal Oberhofmeister, das fügt sich nun ganz vortrefflich. Da
wollen wir nun, wir zwei, beide miteinander etwas zusammenschustern,
wie man es hierzulande noch nicht sah.«

Der Hofrat war es zufrieden, und der Graf machte ihm jetzt seine
Vorschläge. Morgens sollten sie getraut werden. »Nicht zu Haus, das
kann ich für meinen Tod nicht leiden, die Hauskopulationen reißen jetzt
so ein, daß sie fast zur Mode werden, als wäre eine vornehme Ehe nicht
dieselbe wie eine geringe, als wäre der Altar Gottes nicht für alle und
jeden; aber der Fluch kommt gewöhnlich bald nach. Hat man sich in den
gewöhnlichen Zimmern, wo man sonst tollte und lachte, wo man, sobald
der Altar weggeräumt ist, tafelt und tanzt, hat man sich da trauen
lassen, so kommt einem auch das neue Verhältnis so ganz gewöhnlich vor,
daß man bald davor keine Ehrfurcht mehr hat.« -- Also in der Kirche;
nachher sollten die Gäste hinausfahren nach Blauenstein.

Der Hofrat machte große Augen, und als er hörte, daß dies die neue
Besitzung des lieben Pärchens sei, und daß Groß-Lanzau auch noch dazu
gehöre, er hätte, wenn es sich nur halbwegs geschickt hätte, ein paar
Kapriolen in die Luft gemacht -- nach Blauenstein, dort mußte das
Schloß festlich geschmückt sein, und zum Essen, was man nur Feines und
Gutes haben kann! Nachher -- die beiden Alten sahen sich an, und beiden
zuckte der kleine, sarkastische Schelm um den Mund, denn beiden fiel
ein, daß sie noch Junggesellen seien -- »nun, nachher,« fuhr der Graf
fort, »muß das Brautpaar eine kleine Reise machen, und wir beide gehen
als ~garde de dame~ auch mit, bestellen die Pferde auf den Stationen,
daß die jungen Eheleutchen in ihrem Landau nicht inkommodiert werden,
wir beide aber spiegeln und erfreuen uns an dem Glück, das wir, Sie und
ich, lieber Hofrat, zusammen gemacht haben.«

Dem Hofrat, obgleich er lächeln wollte, stand doch eine Träne der
Rührung im Auge; er drückte dem edelmütigen Polen die Hand und erklärte
sich bereit, mit ihm selbst um die Erde zu reisen. »Und wann soll die
Hoch--«

»Ueber acht Tage soll die Hochzeit sein,« rief der alte Herr; und der
Präsident, der gerade hinzugetreten war, rief es nach und lud sämtliche
versammelte Gäste dazu ein.


Zurüstungen.

Es war ein sonderbarer Anblick, den des Präsidenten Haus in diesen
Tagen gewährte. Das Rennen und Laufen der Schneider und Schneiderinnen,
Nähterinnen, Schuster, Schreiner, Schlosser, Küster, Bäcker, Fleischer,
Köche, Kaufleute usw. wollte gar kein Ende nehmen. Beinahe in jedem
Zimmer sah man, auf jeder Treppe stieß man auf einen Handwerker, und
alle taten, als ob von ihrer Nadel oder Pfriemen die ganze Hochzeit
abhinge.

Machten aber diese schon wichtige Gesichter -- hu! da grauste einem
ordentlich, es lief wie eine dicke Gänsehaut über den Körper, wenn man
den Hofrat sah. Er war in diesen Tagen der Vorbereitung viel magerer
und bleicher geworden, seine Augen lagen tief und entzündet, ein
Zeichen, daß er viel bei Nacht wachte; und es war auch so; bei Tag lief
er sich beinahe die Füße ab wie die Hündin des Herrn von Münchhausen
aufschneiderischen Angedenkens, da war zu bestellen und zu besorgen, er
lief hin und her, in alle Ecken und Enden der Stadt, ja, man will ihn
an mehreren Orten zugleich gesehen haben.

Bei Nacht -- nein, es war ein Wunder, daß der Mann nicht schon längst
tot war; nachdem er sich müde gelaufen, müde gesorgt, müde gesehen,
müde geschwatzt, müde gescholten, müde erzählt hatte, kam erst kein
Schlaf über ihn.

Er streckte sich ins Bett, ließ zwei Wachskerzen und einigen Glühwein
auf den Nachttisch setzen; in einem großen Korbe standen vor ihm
Bücher, ein ganzer Schatz von Festen. Da war das seltene Werk:
»Wahrhafte und akkurate Beschreibung der solennesten Festins am Hofe
Ludwigs XIV.« Ferner: »Der allzeitfertige ~maître de plaisir~ für
Hofleute, vornehme Festlichkeiten und anderen Kurzweil.« »Der galante
Junker, oder wie Tänze, Schmäuse, Hochzeiten, Kindtaufen usw. am
schönsten zu arrangieren.« Sogar das Festbüchlein von Krummacher hatte
er sich aus dem Buchladen kommen lassen, denn er dachte nicht anders,
als es müssen darin allerhand neue und noch nie gesehene Festivitäten
erzählt sein. Er soll sich übrigens sehr geärgert haben, als dem nicht
also war.

Aus dieser Festbibliothek nun, die er Stück für Stück mit der größten
Geduld und Aufmerksamkeit durchlas, machte er sich Randglossen und
Auszüge, er kam aber dadurch am Ende selbst mit sich in Streit,
denn das sah er ein, wenn man alle die schönen Sachen, die er sich
aufnotiert hatte, ausführen wollte, so mußte man vierzehn Tage lang
Hochzeit halten, und doch konnte er nicht mit sich einig werden, was
er weglassen sollte. So lebte er in einem ewigen Zappel, ja, es war
ordentlich rührend anzusehen, wenn er hie und da bei Ida bis zum Tode
ermüdet in ein Sofa sank, den brechenden Blick auf sie heftete, als
wollte er sagen: »Sieh, für dich opfere ich mein Leben auf.«

Und Ida? Habt ihr, meine schönen Leserinnen, je ein geliebtes Bräutchen
gesehen, oder waret ihr es einmal oder -- nun, wenn ihr es selbst
noch seid, gratuliere ich von Herzen -- nun, wenn ihr ein solches
süßes Engelskind kennt, mit dem bräutlichen Erröten auf den Wangen,
mit dem verstohlenen Lächeln des küßlichen Mundes, der sich umsonst
bemüht, sich in ehrbare Matronenfalten zusammenzuziehen, mit der süßen,
namenlosen Sehnsucht in dem feuchten, liebetrunkenen Auge, wenn ihr
sie gesehen habt in jenen Augenblicken, wo sie dem geliebten Mann,
dem sie bald ganz, ganz angehören soll, verstohlen die Hand drückt,
ihm die Wange streichelt, wenn sie den weichen Arm vertrauungsvoll um
seine Hüfte schlingt, wie um eine Säule, an der sie sich anschmiegen,
hinaufranken, gegen die Stürme des Lebens Schutz suchen will, wenn sie
mit unaussprechlichem Liebreiz die seidenen Wimpern aufschlägt und mit
einem langen Blick voll Ergebenheit, voll Treue, voll Liebe an ihm
hängt, wenn die Schneehügel des wogenden Busens sich höher und höher
heben, das kleine, liebewarme Herzchen sich ungeduldig dem Herzen des
Geliebten entgegendrängt -- kennet ihr ein solches Mädchen, so wißt
ihr, wie Ida aussah. Kennet aber _ihr_ ein solches Engelskind, ihr
Tausende, die ihr einsam unter dem Namen Junggesellen über die Erde
hinschleicht, ohne wahre Freude in der Jugend, ohne Genossin eures
Glückes, wenn ihr Männer seid, ohne Stütze im Alter -- wißt ihr eine
solche frische Hebe-Blüte und ein fröhliches Amorettenköpfchen, das
etwa auch so warme Küßchen, auch so liebevolle Blicke spenden könnte
wie Ida, o, so bekehret euch, solange es Tag ist; wenn sie sich euch
vertrauensvoll im Arme schmiegt, wenn sie das Lockenköpfchen an eure
Brust legt, aus milden Taubenaugen zu euch aufblickt, mit dem weichen
Samtpatschchen die Falten von der Stirne streichelt -- ihr werdet mir
für den Rat danken.

Und Emil? Nun, ich überlasse es meinen Leserinnen, sich einen recht
bildhübschen Mann aus ihrer Bekanntschaft zu denken, wie er den Arm um
sie schlingt, ihnen recht sinnig ins Auge blickt und sie kü--

Nun, erschrecken Sie nur nicht! Es tut nicht weh; Sie haben sich einen
gedacht? -- Ja? -- Nun gerade _so_ sah Emil von Martiniz als Bräutigam
aus.

So sah ihn auch die Gräfin; das Herz wollte ihr beinahe bersten, daß
der herrliche Mann nicht ihr gehören sollte. Eines Morgens, ehe man
sich's versah, sagte sie adieu, ließ packen, und -- weg war sie.


Hochzeit.

Und endlich war der schöne Tag gekommen.

Was nur halbwegs laufen konnte, war heute in Freilingen auf den Beinen,
und der polnische Graf und Fräulein Ida von Sanden waren in aller Mund.
Vor der Kirchtüre schlugen und drängten sich die Leute als wie vor
einem Bäckerladen in der Hungersnot. Alle Stühle in der Kirche waren
besetzt, und von Minute zu Minute wuchs der Andrang.

Aber zum Hauptportal, den Gang hinauf, bis an den Altar durfte kein
Mensch, das hatte sich ein Mann ausgewirkt, der heute stille, aber tief
an dem Glück des Brautpaares teilnahm; dieser Mann war der Küster. Er
hätte viel darum gegeben, wenn er der versammelten Menge hätte sagen
dürfen: »Sehet, der Herr Bräutigam, es war just nicht ganz recht
richtig mit ihm; er hatte allerhand Affären mit Herrn Urian, der ihn
allnächtlich hierher in die Münsterkirche trieb. Da herein konnte er
aber nicht, und ich, der Küster von Freilingen, habe ihm allnächtlich
zu seiner Freistatt verholfen, war auch dabei, wie das Wunderkind,
das jetzt seine Braut ist, ihn erlöset hat von dem Uebel, das mir,
nebenbei gesagt, alle Tage einen harten Taler einbrachte; habe ich
es nicht gleich damals zu dem alten Polacken gesagt, daß die beiden
Liebesleutchen noch einmal in meine Kirche und vor meinen Altar kommen
würden?«

So hätte er gerne zu den Freilingern gesprochen; es juckte ihn und
wollte ihm beinahe das Herz abdrücken, daß er sich nicht also in seiner
Glorie zeigen durfte, aber -- er tat sich doch auch wieder nicht wenig
darauf zu gut, daß er, was nicht jeder kann, so gut das Maul halten
könne. Aber seine Attention hatte er dem Pärchen bewiesen, daß es eine
Freude war. Vom Portal bis zum Altar waren Blumen gestreut, er hatte
es sich etwas kosten lassen und keine kleine Hatz deswegen mit seiner
Liebsten gehabt, aber diesmal hatte er doch durchgedrungen und seinen
eigenen Willen gehabt.

Jetzt kam Gerassel die Straße herauf; dem alten Küster schlug das Herz,
jetzt, ja, sie mußten es sein, der große Glaswagen des Präsidenten fuhr
vor; darin saßen der Präsident und Emil. »Ach! der schöne Offizier!«
schrien die Freilinger und machten lange Hälse. »Wie prächtig, wie
wunderhübsch!« flüsterten die Mädchen, denen das Herz unter dem Mieder
laut pochte; aber man konnte auch nichts Schöneres sehen.

Er hatte die Staatsuniform angelegt, sie schloß sich um den herrlichen,
schlanken, heldenkräftigen Körper, wie wenn er damit geboren worden
wäre; das sonst so bleiche, ernste Gesicht war heute leicht gerötet
und verherrlicht durch einen Schimmer von holder Freundlichkeit; sein
stolzes, glänzendes Auge durchlief den Kreis, es traf den Küster, der
in einem fort Bückling über Bückling machte, gerührt und freundlich
reichte er ihm die Hand und stellte sich neben ihn unter das Portal.

Jetzt rasselte es wieder die Straße herauf. Ein Wagen, noch glänzender,
geschmackvoller als der erste; er gehörte zu der neuen Remise des
Grafen und war heute von Blauenstein hereingefahren worden. Der alte
Brktzwisl, der in höchster Gala mit noch einem Kameraden hinten
drauf stand, sprang ab, riß die Glastüre auf, schlug klirrend den
Tritt herab -- jetzt regt sich kein Atem mehr in der ganzen großen
Menge; jedes Auge ist erwartungsvoll auf die geöffnete Türe geheftet.
Der alte Graf, angetan mit all seinen Orden, der Hofrat mit dem
himmlischen Ehrenzeichen der Freundschaft auf dem Gesicht, stiegen aus
und postierten sich an den Schlag. Jetzt wurden ein Paar glacierte
Handschuhe sichtbar, jetzt ein Füßchen, es war nicht möglich, etwas
Kleineres, Niedlicheres zu sehen als die winzigen, weißseidenen Schuhe
-- jetzt -- ein Lockenköpfchen, ein Paar selig glänzende Augen, ein
Paar überpurpurte Wangen, ein lächelnder Mund -- hübsch stand das
Bräutchen zwischen den alten Herren. Ein Kleid von schwerem, weißem
Seidenzeug schlang sich um den jugendlich-frischen Körper; wie
darüber hingehaucht war ein Oberkleid vom feinsten Spitzengrund, ein
Geschenk des Oheims, und mit der reichen Blonden-Garnierung, in welche
es endigte, mit der Diamantenschnalle und dem aus Venetianerketten
geflochtenen Gürtel, welcher den wunderniedlichen Blusenleib
zusammenhielt, wenigstens seine achttausend Taler wert, und die
Brasseletts mit den großen Steinen und das Diadem, um das sich der
Myrtenkranz schlang! Nein, wer sich auch nur ein wenig auf Steine
verstand, dem mußte hier der Mund wässern, aber war nicht alles dies im
Grund unbedeutende Façon, um den herrlichsten Edelstein, das Wunderkind
selbst, einzufassen?

Sie traten in die Kirche; das in Seligkeit schwimmende Bräutchen
vergaß nicht, im Vorübergehen dem Küster einen recht freundlichen
Gruß zuzuwinken, daß ihn die Menge ehrfurchtsvoll angaffte und nicht
begreifen konnte, wie der alte Schnapsbruder zu so hoher Bekanntschaft
gelangt sei. Ernster und ernster wurden die Züge Idas, als sie sich
dem wohlbekannten Altare näherte. Ihr Auge begegnete dem Auge Emils,
des Grafen und des Hofrats, die mit Blicken des Dankes und der Rührung
an ihr hingen. Hier war ja ihr Siegesplatz, wo das mutige Mädchen
mit hingebender Liebe gegen den bösen Feind der Schwermut und des
Trübsinnes gekämpft und gesiegt hatte.

Mühsam rang sie nach Fassung; die Freude, daß sich alles so schön
gefügt hatte, wurde zur heiligen Rührung in ihr; noch einmal durchflog
sie die Erinnerung an den ersten Blick des Grafen bis hierher zu dieser
Stätte, und ihr Auge wurde feucht von Entzücken. Als aber die Trauung
begann, als der würdige Diener der Kirche, dem man das Geheimnis
anvertraut hatte, in einer kurzen, aber gehaltvollen Rede von den
wunderbaren Fügungen Gottes sprach, der oft aus Tausenden sein Werkzeug
zur Beglückung vieler wähle, da strömten ihre Tränen über. »Ja,« dachte
sie bei sich selbst, »es ist erfüllt, was damals ahnungsvoll meine
Seele füllte, _der Zug des Herzens ist Gottes, ist des Schicksals
Stimme_.« Und viele Tränen flossen, denn auch die Augen derer, die
einst den Jammer des edlen Jünglings gesehen hatten, gingen über.

Wie ein Engel Gottes kam sie dem alten Oheim vor, als sie am Altar ihre
Hand in die seines Neffen legte, wie ein Engel, der mit freundlichem
Blick, mit treuer Hand den Menschen aus der dunklen Irre des Lebens zu
einem schönen lichten Ziele führte.


Der Schmaus.

Schnurstraks von der Kirche ging es hinaus nach Blauenstein. Eine ganze
Karawane von Wagen und Reitern zog dem wohlbekannten Landau, in welchem
die neugebackenen Eheleute saßen, nach. Der Hofrat war vorangeeilt,
um alles zu leiten. Sechs Böller riefen ihnen ihre Freudengrüße
entgegen, als sie in die Grenze ihres Eigentums einfuhren. Ein
donnerschlagähnliches Wirbeln von Pauken und Trompeten empfing sie am
Portal des schönen Schlosses, und als alle Wagen aufgefahren waren, als
Emil sein Weibchen auf den Balkon herausführte, um die herrliche Gegend
zu übersehen, da gab der Hofrat das Zeichen, und ein schrankenloses
Vivat, Hurra und Hallo erfüllte die Luft.

Paar und Paar zog man jetzt durch das Schloß, um alles in Augenschein
zu nehmen. Es wandelte die Gäste beinahe ein Grauen an vor dem
Hexenmeister, dem alten Martiniz. Das Schloß -- es lag zwar niedlich,
geschmackvoll, bequem gebaut, lag wunderschön und hatte Gärten und
Felder, wie man sie selten sah; aber vor vierzehn Tagen war dies alles
noch leer gestanden, Tapeten waren abgerissen herabgehangen, im Saal
war Hafer aufgeschüttet gewesen, kurz, man hatte gesehen, daß es eine
gute Weile nicht bewohnt war, und mancher Käufer hätte nicht geglaubt,
innerhalb eines halben Jahres mit der Restauration fertig werden zu
können. Und jetzt -- die behaglichste Eleganz, die man sich denken
konnte; diese Trümeaus, ein Gardist mit sieben Fuß hätte sich, und
hätte er noch einen ellenlangen Federbusch auf dem Hut gehabt, perfekt
am ganzen Leib von der Zehenspitze bis zum äußersten Federchen darin
sehen können. Diese breitarmigen Lüster, diese Kristall-Lampen, diese
geschmackvollen Sofas, Teetische, Toiletten, Etageren, diese Pracht von
Porzellan, Beinglas, Kristall, Silber an Servicen, Leuchtern, Vasen,
an allem, was nur die feinste Modedame sich wünschen kann; gar nichts
war vergessen! Die Freilinger wandelten wie in einem Feenpalast umher,
und die Mädchen und die Frauen! -- Ida wandelte zwar wie eine Königin
in dieser Herrlichkeit, als hätte sie von Jugend auf darin gelebt, aber
man hörte doch so manches Sprüchlein vom blinden Glück und Zufall, die
einen im Schlafe heimsuchen.

Jetzt riefen die Trompeten zur Tafel, und da war es, wo Hofrat Berner
seine Lorbeeren erntete. Die neue Dienerschaft des jungen gräflichen
Paares hatte er schon so instruiert, daß alles wie am Schnürchen ging,
und zwar alles auf dem höchsten Fuß, denn wenn einer der Gäste nur vom
silbernen Teller ein wenig aufsah, der mit seinem Nachbar konversierte,
husch! war der Teller gewechselt und eine neue Speise dampfte ihm
entgegen. Aber auch in der Küche hatte er gewaltet, und es hätte wenig
gefehlt, so hätte er aus lauterem Eifer, alles recht delikat zu
machen, sich selbst zu einem Ragout oder Haschee verarbeiten oder zu
einer Gallerte einsieden, wenn nicht gar mit einiger Zutat von Zucker
zu einer Marmelade oder Gelee einkochen lassen. Auch ihn hielten die
Damen für einen zweiten Oberon, der eine ewig reichbesetzte Tafel aus
dem Boden zaubern kann. Denn solche Speisen zu dieser Jahreszeit, und
alles so fein und delikat gekocht!

Da war:

    Schildkrötensuppe.
    Coulissuppe von Fasanen mit Reis.

        *

        ~Hors d'œuvres.~

    Pastetchen von Brießlein mit Salpicon.
    Kabeljau mit Kartoffeln und ~Sauce hollandaise~.

        *

    ~Du bœuf au naturel.~
    Englischer Braten mit ~Sauce espagnole~.

        *

        Gemüse.

    Spargeln mit ~Sauce au beurre~.
    Grüne Erbsen mit gerösteten Brießlein.

        *

        ~Entrées.~

    Junge Hühner mit ~Sauce aux fines herbes~.
    ~Financière~ mit Klößen.
    Schinken ~à la broche au vin de Malaga~.
    Feldhühnersalmi.
    Kalbskopf ~à la tortue~.
    ~Fricandeau à la Provençale.~

        *

        Braten.

    Kalbsschlegel.
    Rehbraten.
    Feldhühnerbraten.
    Kapaunenbraten.
    ~Dindon à la Perigord.~

        *

        Salat vielerlei.

        *

        Süße Speisen.

    Sulz von Malaga.
    ~Crême~ von Erdbeeren.
    ~Compote mêlée.~
    ~Crême panachée mêlée.~
    Punschtorte mit Früchten.
    ~Tartelettes aux abricots.~
    ~Tourte de chocolat montée.~
    Gußtorte.

        *

        Dessert.

    Punsch ~à la glace~.
    ~Crême de Vanille.~


Schluß.

Als das Dessert aufgetragen wurde, entschlüpfte unbemerkt von
den bechampagnerten Gästen die junge Frau. Sie warf den schweren
Hochzeitsstaat ab und erwählte unter der reichen Garderobe ein
allerliebstes Reisekleidchen, denn nach der Tafel sollte gleich
eingesessen und ein wenig in die Welt hinausgefahren werden, so wollte
es der alte Graf.

Sie erschrak selbst, als sie in den Spiegel sah, nein, so
wundergrazienhübsch hatte sie noch nie ausgesehen; das Ueberröckchen
schloß so eng und passend, das Reisehäubchen, die hervorquellenden
Löckchen gaben dem Köpfchen einen wundervollen Reiz. Die Bäckchen waren
so rosig, die Aeuglein glänzten so hell und klar im Widerschein ihres
bräutlichen Glückes, kleine, kleine Schelmchen saßen in den Grübchen
der Wangen und schienen allerlei wunderbare Geheimnisse zu flüstern
von Sehnsucht und Erwartung; das Mäulchen, so spitzig wie zum Küssen,
zeigte immer wieder die Perlen, die hinter dem Purpur verborgen waren.

Die sechs Kammerjungfern, Lisette, Babette, Trinette, Philette und
Minette und wie sie alle hießen, schlugen vor Verwunderung über ihre
wunderniedliche gnädige Frau die Hände zusammen. »Diese herrliche,
jugendliche Frische! Dieser Alabasterbusen, der alle Nestel des
Korsettchens zu zersprengen droht!« sagte Minette. »Diese weißen Arme!«
flüsterte Philette. »Diese Füßchen,« dachte Trinette weiter, »diese
Wäd--«

»Der Herr Graf wird ganz selig sein,« wisperte Lisette der Babette zu,
doch nicht so leise, daß es den Ohren der jungen Gräfin entging. Sie
wollte tun, als hätte sie nichts gemerkt, aber ward flammenrot von der
Stirne bis herab in das Halstuch, und als vollends Babette, die das
schneeweiße Nachtzeug in die Vache packte, mit einer höchst naiven
Frage in die Quere kam, da hielt sie es nicht mehr aus, ganz dunkel
überpurpurt entschlüpfte sie den sechs dienstbaren Geistern und lief
wie ein gescheuchtes Reh in den Speisesaal.

Allgemeiner Jubel empfing die holde Reisende, alles war darin
einverstanden, daß ihr diese Tracht noch besser stehe als der
Brautstaat; kein Wunder, es war ja das Pilgerkleid, in welchem sie ins
gelobte Land der Ehe reiste.

»Warum bist du nur so über und über rot?« fragte Emil sein holdes
Weibchen, indem er sie näher an seine Seite zog. »Hat dir jemand was
getan?«

Sie wollte lange nicht heraus. »Die Babette,« flüsterte sie endlich und
errötete von neuem, »die Babette hat so dumm gefragt.«

»Nun, was denn?« fragte der neugierige Herr Gemahl. Aber da stockte es
wieder; zehnmal setzte sie an; sie wollte gerne eine Lüge erfinden,
aber das schickte sich denn doch nicht am Hochzeitstag, und doch -- es
ging nicht; er mußte bitten, flehen, drohen, betteln sogar; endlich,
nachdem er hatte versprechen müssen, die Augen recht fest zuzumachen,
flüsterte sie ihm ins Ohr. »Sie hat mein Nachtzeug eingepackt, und
da hat sie gefragt, ob sie das deinige auch dazu packen soll.« Selig
schloß der Graf sein Engelsweibchen in die Arme, er wollte antworten,
aber seine Antwort verhallte im Geräusch der aufbrechenden Gäste.

Die Wagen waren vorgefahren, man verabschiedete sich. Der Graf nahm
sein Idchen um den Leib und trug sie schnell hinab in den Wagen, denn
dort beschloß er ihr zu antworten.

Auf dem Balkon drängten sich die Gäste, die Champagnergläser in den
Händen; sie riefen, vermischt mit den neuen Untertanen des Grafen, ein
tausendstimmiges Vivat in den Wagen hinab. Ida drückte ihr Köpfchen an
die Brust des Geliebten. Er winkte, die Pferde zogen an, und dahin fuhr
Emil und seine glückliche Ida.


Nachschrift.

Es ist ein schöner Brauch unter guten Menschen, die sich lieben und
getrennt sind, daß sie gewisse Tage des Jahres festsetzen, in welchen
sie sich von nahen und entfernten Orten her sammeln, sich wiedersehen
und die Strahlen ihrer Liebe von neuem an der allgemeinen Flamme
anzünden. So halte ich es seit langen Jahren mit meinen Freunden,
die das Schicksal nach Ost und West verschlagen. Auch heuer war ich
hingereist an den Ort, den wir zu unserem Rendezvous bestimmt hatten.
Als ich an dem stattlichen weißen Hirsch in B. vorfuhr, lagen schon
manche Fenster voll, und wie wohl tut da das freundliche, jubelnde »Er
ist's, er ist's,« das von schönen Lippen herab dem Freunde entgegentönt!

Ich traf sie alle, alle meine Lieben, da war meine holde, sinnige
Doralice und ihr Stern, da war die lose, naive Vally und ihr geheimer
Kriegsrat, da war Graf Law und seine Klementine, da war meine süße
Mimili, da war Herr von Estavayer mit seiner Elsi, da war mein
russisches Lisli; selbst Sponseri, mein lieber Sponseri, ich hieß
ihn nur immer den Grünmantel, hatte sich aus Venedig eingefunden und
Emmeline Mellinger mitgebracht; da war auch Fanny und ihr Graf, der
Generalbevollmächtigte, Kilian mit Julchen. Da war Molly und ihr
Justizrat, da war die herzige Pina und ihr Gatte, Agnes und Rose,
Rosamunde und der Graf Oliva, das liebe Dijon-Röschen, Klothilde und
ihr Sekretär. -- Meine Freude war unaussprechlich, ich flog wie ein
Ball von einem Arm in den andern, und das Küssen wollte gar kein Ende
nehmen. Endlich faßte man sich, daß es doch zu einem vernünftigen
Gespräch kam. Freilich trübte der Tod unserer Magdalis und ihres treuen
Willibald, die uns im Leben so nahe standen und auch nach ihrem Tode
so innig verschwistert mit uns fortleben, die ersten Augenblicke des
Wiedersehens; aber nachdem wir ihnen das Totenopfer inniger Tränen
geweiht, kehrte die holde Freude wieder bei uns ein.

Wir tollten, lachten und schäkerten, der weiße Hirsch faßte kaum so
viele Gäste, und manches Pärchen mußte sich mit _einem_ Bettchen
behelfen.

So lebten wir schon seit zwei Tagen in Saus und Braus und brachen dem
weißen Hirschwirt beinahe das Haus ab, da -- wir saßen gerade beim
Kaffee, da fuhren Wagen vor; wir drängten uns alle an die Fenster und
schlugen den fremden Menschenkindern ein Schnippchen, denn -- gut
essen und trinken konnten sie wohl bekommen, aber Betten -- Logis --
ohne unsere Bewilligung kein Fleckchen, und landfremde Leute mochten
wir gerade nicht gerne unter uns haben. In einem prächtigen Landau,
mit vier Postpferden bespannt, saßen ein Herr und eine junge Dame; sie
hoben die Köpfe in die Höhe --

»Mein Gott, das ist ja Graf Martiniz,« rief ich, und zugleich rief
Vally: »Ei der Tausend, das ist ja Ida Sanden!« Ich sprang gleich
hinab, um sie heraufzuführen; sie folgten willig nebst noch drei andern
ältlichen Herren, welche der zweite Wagen entladen hatte. Ida und
Vally flogen einander in die Arme; sie hatten sich in der Residenz, wo
Vally lebt, kennen gelernt und liebten einander innig. Der Graf zog
mich zu den beiden jungen Damen, um welche die übrigen schon einen
dichten Kreis geschlossen hatten. »Sehen Sie,« sagte er zu mir, »das
ist seit gestern mein liebes Frauchen.«

Da fanden sich also alte Bekannte zusammen. Ich hatte den Grafen in
Hamburg kennen gelernt. Damals faßte ich tiefe Zuneigung zu ihm, sie
wurde zur Freundschaft, und er gestand mir seine schrecklichen Leiden.
So wenig ich an solche Visionen glaubte, so war ich doch der Meinung,
daß ihn Liebe zu einem guten, reinen Mädchen zerstreuen, retten könnte;
und wie herrlich hatte sich dieses gemacht! Er war fröhlich, selig, war
durch die Liebe dieses Engels der Menschheit wiedergeschenkt.

Auch in den drei andern Gästen, der Leser wird unschwer den alten
Martiniz, den Präsidenten und den Hofrat in ihnen erkannt haben, lernte
ich wackere, liebenswürdige Männer kennen. Schon den ersten Abend war
es uns allen, als haben wir das holde Pärchen schon jahrelang gekannt,
so trefflich paßten sie zu unserem Sinn, zu unserem ganzen Wesen. Der
junge Graf erzählte uns seine Geschichte, und wenn wir bedachten, wie
zufällig er nach Freilingen, wie zufällig er auf jenen Ball, wo er
Ida fand, gekommen war, wie ebenso zufällig der alte Oheim auf einer
Geschäftsreise diese Gegenden berührte, dem Neffen eine Ueberraschung
bereiten wollte und als ~Deus ex machina~ mitwirkte und die Ränke der
bösen Aarstein vereiteln half, wahrlich, wir mußten diese Fügungen
bewundern und fanden den alten Spruch bestätigt:

        »_Der Zug des Herzens ist des Schicksals Stimme._«

Noch zwei Tage blieb das junge Paar unter uns und reiste dann, als auch
wir alle uns wieder nach Ost und nach West zerstreuten, weiter.

Noch in der letzten Stunde erlaubte mir Emil, seine Geschichte der Welt
zu erzählen.

Es soll mich innig freuen, wenn ihre innige, treue Liebe Beifall
findet, sie sind es wert; alle, die sie kennen, lieben sie, und ich
darf sagen, sie sind _ein_ Herz, _eine_ Seele mit mir, sie sind auch
wieder durch den Zug des Herzens ganz die Meinigen geworden.

            H. Clauren.



Kontroverspredigt

über

H. Clauren und den Mann im Monde,

gehalten

vor dem deutschen Publikum

in der Herbstmesse 1827

von

Wilhelm Hauff.

Text: Ev. Matth. 8. 31. 32.



Allen Verehrern

der

Claurenschen Muse

widmet diese Blätter in bekannter Hochachtung

            der Verfasser.


        Ehrwürdige Versammlung, andächtige Zuhörer!

Die Apostel, besonders der heilige Paulus, als er zu Rom predigte,
verschmähten es nicht, auch häusliche, bürgerliche Angelegenheiten der
Gemeinde zu Gegenständen ihrer Betrachtungen zu machen. Es läßt sich
zwar mit vieler Wahrscheinlichkeit annehmen, daß sie belletristische
Gegenstände nicht berührt haben, daß sie literarische Streitigkeiten
nicht, wie man zu sagen pflegt, auf die Kanzel brachten; denn sie
hatten Wichtigeres zu tun; nichtsdestoweniger aber geschah dies
einige Jahrhunderte später, und man trifft in den Kirchenvätern nicht
undeutliche Spuren, daß sie über allerhand literarische Subtilitäten,
sogar über die Tendenz und den Stil ihrer Gegner auf dem kirchlichen
Rednerstuhl gesprochen haben.

Berühmte Kanzlerredner neuerer Zeit haben oft und viel, zum Beispiel
über das Theater gepredigt, oder über das Tanzen am Sonntag oder
über das Singen unzüchtiger Lieder, andere wieder über das Spielen,
namentlich das Kartenspielen, und einen habe ich gehört, der in einer
Vesperpredigt das Schachspiel in Schutz nahm und nur bedauerte, daß es
ein Heide erfunden.

Und wenn es die Pflicht des Redners ist, meine Freunde, der Gemeinde
darzutun, welchen Irrtümern sie sich hingebe, welche bösen Gewohnheiten
unter ihr herrschen, wenn es die Natur der Sache erfordert, bei einer
solchen Aufdeckung von Irrtümern und böswilligen Gewohnheiten bis ins
einzelne und kleinste zu gehen, weil oft gerade dort, recht ins Auge
fallend, der Teufel nachgewiesen werden kann, der darin sein Spiel
treibt, so kann es niemand befremden, wenn wir nach Anleitung der
Textesworte eine Betrachtung anstellen über:

        Den Mann im Monde

        von

        H. Clauren;

und zwar betrachten wir:

    I. Wer und was ist dieser Mann im Monde? Oder -- was ist sein
      Zweck auf dieser Welt?

    II. Wie hat er diesen Zweck verfolgt? Und wie erging es ihm auf
      dieser Welt?

I. Andächtige Zuhörer! Kontroverspredigern, namentlich solchen, die
vor einer so großen Versammlung reden, kommt es zu, den Gegenstand
ihrer Betrachtung so klar und deutlich als möglich vor das Auge zu
stellen, damit jeder, wenn ihn auch der Herr nicht mit besonderer
Einsicht gesegnet hat, die Sache, wie sie ist, sogleich begreife und
einsehe. Es hat in unserer Literatur nie an sogenannten _Volksmännern_
gefehlt, das heißt an solchen, die für ein großes Publikum schrieben,
das, je allgemeiner es war, desto weniger auf wahre Bildung Anspruch
machen konnte und wollte. Solche Volksmänner waren jene, die sich in
den Grad der Bildung ihres Publikums schmiegten, die eingingen in den
Ideenkreis ihrer Zuhörer und Leser und sich, wie der Prediger Abraham
a Santa Clara, wohl hüteten, jemals sich höher zu versteigen, weil
sie sonst ihr Publikum verloren hätten. Diese Leute handelten bei den
großen Geistern der Nation, welche dem Volke zu hoch waren, Gedanken
und Wendungen ein, machten sie nach ihrem Geschmack zurecht und gaben
sie wiederum ihren Leuten preis, die solche mit Jubel und Herzenslust
verschlangen. Diese Volksmänner sind die Zwischenhändler geworden
und sind anzusehen wie die Unternehmer von Gassenwirtshäusern und
Winkelschenken. Sie nehmen ihren Wein von den großen Handlungen, wo er
ihnen echt und lauter gegeben wird; sie mischen ihn, weil er dem Volke
anders nicht munden will, mit einigem gebrannten Wasser und Zucker,
färben ihn mit roten Beeren, daß er lieblich anzuschauen ist, und
verzapfen ihn ihren Kunden unter irgend einem bedeutungsvollen Namen.

Die Gassenwirte oder Volksmänner treiben aber eine schändliche und
schädliche Wirtschaft. Sie fühlen selbst, daß ihr Gebräu sich nicht
halten würde, daß es den Ruf von Wein auf die Dauer nicht behalten
könnte, wenn er nicht auch berausche. Daher nehmen sie Tollkirschen
und allerlei dergleichen, was den Leuten die Sinne schwindeln macht;
oder, um die Sache anders auszudrücken, sie bauen ihre Dichtungen
auf eine gewisse Sinnlichkeit, die sie, wie es unter einem gewissen
Teil von Frauenspersonen Sitte ist, künstlich verhüllen, um durch den
Schleier, den sie darüber gezogen haben, das lüsterne Auge desto mehr
zu reizen. Sie kleiden ihr Gewerbe in einen angenehmen Stil, der
die Einbildungskraft leicht anregt, ohne den Kopf mit überflüssigen
Gedanken zu beschweren, sie geben sich das Ansehen von heiterem,
sorglosem Wesen, von einer gewissen gutmütigen Natürlichkeit, die lebt
und leben läßt, sie sind arglose Leute, die ja nichts wollen, als ihren
Nebenmenschen seine »oft trüben Stunden erheitern« und ihn auf eine
natürliche, unschuldige Weise ergötzen. Aber gerade dies sind die Wölfe
in Schafskleidern, das ist der Teufel in der Kutte, und die Krallen
kommen frühe genug ans Tageslicht.

Wem unter euch, meine Andächtigen, sollte bei dieser Schilderung
nicht vor allem _jener_ beifallen, der alljährlich im Gewande eines
unschuldigen Blumenmädchens auf die Messe zieht und »Vergißmeinnicht«
feilbietet. Ich weiß wohl, daß dort drüben auf der Emporkirche, daß da
unten in den Kirchstühlen manche Seele sitzt, die ihm zugetan ist, ich
weiß wohl, daß er bei euch der Morgen- und Abendsegen geworden ist,
ihr Nähermädchen, ihr Putzjungfern, selbst auch ihr sonst so züchtigen
Bürgerstöchterlein, ich weiß, daß ihr ihn heimlich im Herzen traget,
ihr, die ihr auf etwas Höheres von Bildung und Geschmack Anspruch
machen wollet, ihr Fräulein mit und ohne von, ihr gnädigen Frauen und
andere Mesdames. Ich weiß, daß er das A und das O eurer Literatur
geworden ist, ihr Schreiber und Ladendiener, daß ihr ihn beständig
bei euch führt und, wenn der Prinzipal ein wenig beiseite geht, ihn
schnell aus der Tasche holt, um eure magere Phantasie durch einige
Ballgeschichten, Champagnertreffen und Austernschmäuse anzufeuchten;
ich weiß, daß er bei euch allen der Mann des Tages geworden ist, aber
nichtsdestoweniger, ja, gerade darum und ebendeswegen will ich seinen
Namen aussprechen, er nennt sich _Clauren_. ~Anathema sit!~

Vor zwölf Jahren laset ihr, was eurem Geschmack gerade keine Ehre
machte, Spieß und Cramer, mitunter die köstlichen Schriften über
Erziehung von Lafontaine; wenn ihr von Meißner etwas anderes gelesen
als einige Kriminalgeschichten etc., so habt ihr euch wohl gehütet, es
in guter Gesellschaft wiederzusagen; einige aber von euch waren auf
gutem Wege; denn Schiller fing an, ein großes Publikum zu bekommen.
Gewinn für ihn und für sein Jahrhundert, wenn er, wie ihr zu sagen
pflegt, in die Mode gekommen wäre! dazu war er aber auch zu groß, zu
stark. Ihr wolltet euch die Mühe nicht geben, seinen erhabenen Gedanken
ganz zu folgen. Er wollte euch losreißen aus eurer Spießbürgerlichkeit,
er wollte euch aufrütteln aus eurem Hinbrüten, mit jener ehernen
Stimme, die er mit den Silberklängen seiner Saiten mischte, er sprach
von Freiheit, von Menschenwürde, von jeder erhabenen Empfindung, die
in der menschlichen Brust geweckt werden kann. -- Gemeine Seelen! Euch
langweilten seine herrlichsten Tragödien, er war euch nicht allgemein
genug. Was soll ich von Goethe reden? Kaum, daß ihr es über euch
vermögen konntet, seine Wahlverwandtschaften zu lesen, weil man euch
sagte, es finden sich dort einige sogenannte pikante Stellen -- ihr
konntet ihm keinen Geschmack abgewinnen, er war euch zu vornehm.

Da war eines Tages in den Buchläden ausgehängt: »Mimili, eine
Schweizergeschichte.« Man las, man staunte. Siehe da, eine neue Manier,
zu erzählen, _so angenehm_, _so natürlich_, _so rührend_ und _so
reizend_! Und in diesen vier Worten habt ihr in der Tat die Vorzüge
und den Gehalt jenes Buches ausgesprochen. Man würde lügen, wollte man
nicht auf den ersten Anblick diese Manier angenehm finden. Es ist ein
ländliches Gemälde, dem die Anmut nicht fehlt, es ist eine wohltönende,
leichte Sprache, die Sprache der Gesellschaft, die sich zum Gesetz
macht, keine Saite zu stark anzuschlagen, nie zu tief einzugehen, den
Gedankenflug nie höher zu nehmen als bis an den Plafond des Teezimmers.
Es ist wirklich angenehm zu lesen, wie eine Musik angenehm zu hören
ist, die dem Ohre durch sanfte Töne schmeichelt, welche in einzelne
wohllautende Akkorde gesammelt sind. Sie darf keinen Charakter haben,
diese Musik, sie darf keinen eigentlichen Gedanken, keine tiefere
Empfindung ausdrücken, sonst würde die arme Seele unverständlich werden
oder die Gedanken zu sehr affizieren. Eine angenehme Musik, so zwischen
Schlafen und Wachen, die uns einwiegt und in süße Träume hinüberlullt.
Siehe, so die Sprache, so die Form jener neuen Manier, die euch
entzückte.

Das _zweite_, was euch gefiel, hängt mit diesem ersteren sehr genau
zusammen, diese Manier war so _natürlich_. Es ist etwas Schönes,
Erhabenes um die Natur, besonders um die Natur in den Alpen. Schiller
ist auch einmal dort eingekehrt, ich meine mit Wilhelm Tell. Sein Drama
ist so erhaben als die Natur der Schweizerlande, es bietet Aussichten,
so köstlich und groß, wie die von der Tellskapelle über den See hin;
aber nicht wahr, ihr lieben Seelen, der ist euch doch nicht natürlich
genug? Zu was auch die Seele anfüllen mit unnützen Erinnerungen an die
Taten einer großen Vorzeit? Zu was Weiber schildern wie eine Gertrude
Stauffacher oder eine Bertha oder Männer wie einen Tell oder einen
Melchthal? Da weiß es Clauren viel besser, viel natürlicher zu machen!
Statt großartige Charaktere zu malen, für welche er freilich in seinem
Kasten keine Farben finden mag, malt er euch einen Hintergrund von
Schneebergen, grünen Waldwiesen mit allerlei Vieh; das ist ~pro primo~
die Schweiz. Dann einen Krieger neuerer Zeit mit schlanker Taille von
acht Zollen, etwas bleich (er hat den Freiheitskrieg mitgemacht), das
eiserne Kreuz im Knopfloch etc. Das ist der Held des Stückes. Eine
interessante Figur! Nämlich _Figur_ als wirklicher Körper genommen,
mit Armen, Taille, Beinen etc., und _interessant_, nicht wegen des
Charakters, sondern weil er etwas bleich ist, ein eisernes Kreuz trägt
und so ein Ding von einem preußischen Husaren war. Neben diesen Helden
kommt ein frisches, rundes »Dingelchen« zu stehen, mit kurzem Röckchen,
schönen Zwickelstrümpfen etc. Kurz, das Inventarium ihres Körpers und
ihres Anzuges könnt ihr selbst nachlesen oder habt es leider im Kopfe.
Das Schweizerkind, die Mimili, ist nun so natürlich als möglich; d.
h. sie geniert sich nicht, in Gegenwart des Kriegers das Busentuch zu
lüften und ihn den Schnee und dergleichen sehen zu lassen, daß ihm
»angst und bange« wird. Einiger Schweizerdialekt ist auch eingemischt,
der nun freilich im Munde Claurens etwas unnatürlich klingt. Kurz,
es ist nichts vergessen, die Natur ist nicht nur nachgeahmt, sondern
förmlich kopiert und getreulich abgeschrieben. Aber leider ist es nur
die Natur, so wie man sie mittels einer ~Camera obscura~ abzeichnen
kann. Der warme Odem Gottes, der Geist, der in der Natur lebt, ist
weggeblieben, weil man nur das Kostüm der Natur kopierte. Zeichnet die
nächste beste Schweizer Milchmagd ab, so habt ihr eine Mimili, und
freilich alles so natürlich als möglich.

Das _dritte_, was euch so gut mundete an dieser Geschichte, war -- das
_Rührende_. Wann und wo war der Kummer der Liebe nicht rührend? Es
ist ein Motiv, das jedem Roman als Würze beigegeben wird, wie bittere
Mandeln einem süßen Kuchen, um das Süße durch die Vorkost des Bitteren
desto angenehmer und erfreulicher zu machen. Ihr selbst, meine jungen
Zuhörerinnen, und ich habe dies zu öfteren Malen an euch gerügt,
versetzt euch gar zu gerne in ein solches Liebesverhältnis, wenn nicht
dem Körper, doch dem Geiste nach. Wenn ihr so dasitzet und nähet oder
stricket und über eure Nachbarn gehörig geklatscht habt, kommt gar
leicht in eurer Phantasie das Kapitel der Liebe an die Reihe, und ihr
träumet und träumet und vergesset die Welt und die Maschen an eurem
Strickstrumpf. Wenn man nachts durch den Wald geht, so denkt man gerne
an arge Schauergeschichten von Mord und Totschlag. Gerade so machet
ihr es. Je greulicher der Schmerz eines Liebespaares ist, von welchem
ihr leset, desto angenehmer fühlet ihr euch angeregt. Da wollet ihr
keine Natürlichkeit, da soll es recht arg und türkisch zugehen, und
wie den spanischen Inquisitoren, so ist euch ein solches Autodafee ein
Freudenfest. Je länger die Liebenden am langsamen Feuer des Kummers
braten, je mehr man ihnen mit der Zange des Schicksals die Glieder
verrenkt, desto rührender kommt es euch vor, und doch habt ihr dabei
immer noch den Trost ~in petto~, daß der Autor, der diesen Jammer
arrangiert, zugleich Chirurg ist und die verrenkten Glieder wieder
einrichtet, zugleich Notar, um den Heiratskontrakt schnell zu fertigen,
zugleich auch Pfarrer, um die guten Leutchen zusammenzugeben. Ihr habt
recht, ihr guten Seelen! Ihr wollet nicht gerührt sein durch tiefere
Empfindungen, man darf bei euch nicht jene Moll-Akkorde anschlagen, die
durch die Seele zittern. Wer wollte auch mit einer Aeolsharfe auf einer
Kirchweihe aufspielen! Da ist der schnarrende Konterbaß Meister, und je
gräßlicher es zugeht, desto rührender ist es.

Ich komme aber auf den _vierten_ Punkt der Mimili-Manier, nämlich auf
-- -- das _Reizende_. Die drei andern Punkte waren das Schafskleid,
das ist aber die Kralle, an der ihr den Wolf erkennet, der im Kleide
steckt, jenes war die Kutte, unter welcher er unschuldig wie der
heilige Franziskus sich bei euch einführt; aber siehe da, das ist der
Pferdefuß, und an seinen Spuren wirst du ihn erkennen. Und was ist
dieses Reizende? Das ist die Sinnlichkeit, die er aufregt, das sind
jene reizenden, verführerischen, lockenden Bilder, die eurem Auge
angenehm erscheinen. Es freut mich, zu sehen, daß ihr, da unten, die
Augen nicht aufschlagen könnet. Es freut mich, zu sehen, daß hin und
wieder auf mancher Wange die Röte der Beschämung aufsteigt. Es freut
mich, daß Sie nicht zu lachen wagen, meine Herren, wenn ich diesen
Punkt berühre. Ich sehe, ihr alle verstehet nur allzuwohl, was ich
meine.

Ein Lessing, ein Klopstock, ein Schiller und Jean Paul, ein Novalis,
ein Herder waren doch wahrhaftig große Dichter, und habt ihr je
gesehen, daß sie in diese schmutzigen Winkel der Sinnlichkeit
herabsteigen mußten, um sich ein Publikum zu machen? Oder wie? Sollte
es wirklich wahr sein, daß jene edleren Geister nur für wenige
Menschen ihre hehren Worte aussprechen, daß die große Menge nur immer
dem Marktschreier folgt, weil er köstliche Zoten spricht, und sein
Bajazzo possierliche Sprünge macht? Armseliges Männervolk, daß du
keinen höheren geistigen Genuß kennst, als die körperlichen Reize eines
Weibes gedruckt zu lesen, zu lesen von einem Marmorbusen, von hüpfenden
Schneehügeln, von schönen Hüften, von weißen Knieen, von wohlgeformten
Waden und von dergleichen Schönheiten einer Venus vulgivaga. Armseliges
Geschlecht der Weiber, die ihr aus Clauren Bildung schöpfen wollet,
errötet ihr nicht vor Unmut, wenn ihr leset, daß man nur eurem Körper
huldigt, daß man die Reize bewundert, die ihr in der raschen Bewegung
eines Walzers entfaltet, daß der Wind, der mit euren Gewändern spielt,
das lüsterne Auge eures Geliebten mehr entzückt als die heilige Flamme
reiner Liebe, die in eurem Auge glüht, als die Götterfunken des Witzes,
der Laune, welche die Liebe eurem Geiste entlockt? Verlorene Wesen,
wenn es euch nicht kränkt, euer Geschlecht so tief, so unendlich tief
erniedrigt zu sehen, geputzte Puppen, die ihr euren jungfräulichen
Sinn schon mit den Kinderschuhen zertreten habt, leset immer von
andern geputzten Puppen, bepflanzet immer eure Phantasie mit jenen
Vergißmeinnicht-Blümchen, die am Sumpfe wachsen, ihr verdienet keine
andere als sinnliche Liebe, die mit den Flitterwochen dahin ist.

Siehe da die Anmut, die Natürlichkeit, das Rührende und den hohen Reiz
der Mimili-Manier. Lasset uns weiter die Fortschritte betrachten,
die ihr Erfinder machte. Wie das Unkraut sich üppig ausbreitet, so
ging es auch mit dieser Giftpflanze in der deutschen Literatur.
Die Mimili-Manier wurde zur Mimili-Manie, wurde zur Mode. Was war
natürlicher, als daß Clauren eine Fabrik dieses köstlichen Zeuges
anlegte, und zwar nach den vier Grundgesetzen, nach jenen vier
Kardinaltugenden, die wir in seiner Mimili fanden? Bei jener Klasse von
Menschen, für welche er schreibt, liegt gewöhnlich an der _Feinheit des
Stoffes_ wenig. Wenn nur die Farben recht grell und schreiend sind.
Mochte er nun selbst diese Bemerkung gemacht haben, oder konnte er
vielleicht selbst keine feineren Fäden spinnen, keine zarteren Nüancen
der Farben geben, sein Stoff ist gewöhnlich so unkünstlerisch und grob
als möglich angelegt; ein fadengerades Heiratsgeschichtchen, so breit
und lang als möglich ausgedehnt; von tieferer Charakterzeichnung ist
natürlich keine Rede; Kommerzienräte, Husarenmajore, alte Tanten,
Ladenjünglinge ~comme il faut~, etc. Die Dame des Stückes ist und
bleibt immer dasselbe Holz- und Gliederpüppchen, die nach Verhältnissen
kostümiert wird, heiße sie nun Mimili oder Vally, Magdalis oder
Doralice, spreche sie Schweizerisch oder Hochdeutsch, habe sie Geld
oder keines, es bleibt dieselbe. Ist nun die Historie nach diesem
geringen Maßstabe angelegt, so kommen die _Ingredienzien_.

Bei den _Ingredienzien_ wird, wie billig, zuerst Rücksicht genommen
auf das Frauenvolk, das die Geschichte lesen wird. Erstens, einige
artige Kupfer mit schönen »_Engelsköpfchen_,« angetan nach der
»_allerfunkelnagelneuesten_« Mode. Diese werden natürlich in der
Fabrik immer zuvor entworfen, gemalt und gestochen, und nachher
der resp. Namen unten hingeschrieben. Sündigerweise benutzt der
gute Mann auch die Porträts schöner fürstlicher Damen, die er als
Quasie-Aushängeschild vor den Titel pappt. So hat es uns in der Seele
weh getan, daß die Großfürstin Helena von Rußland, eine durch hohe
Geistesgaben, natürliche Anmut und Körperschönheit ausgezeichnete
Dame, bei dem Tornisterlieschen (im Vergißmeinnicht 1826) gleichsam zu
Gevatter stehen mußte.

Zweitens, ein noch bei weitem lockenderes Ingredienz ist die Toilette,
die er trotz der ersten Modehändlerinnen zu machen versteht. Wer wollte
es Virgil übelnehmen, wenn er den Schild seines Helden beschreibt,
wer lauscht nicht gerne auf die kriegerischen Worte eines Tasso, wenn
er die glänzenden Waffen seines Rinaldo oder Tankred besingt? Es sind
Männer, die von Männern, es sind edle Sänger, die von Helden singen.
Ueberwiegt aber nicht der Ekel noch das Lächerliche, wenn man einen
preußischen geheimen Hofrat hört, wie er den Putz einer Dame vom
Kopf bis zu den Zehenspitzen beschreibt? Es kommt freilich sehr viel
darauf an, ob auf dem hohlen Schädel seiner Mimili ein italienischer
Strohhut oder eine Toque von Seide sitzt, ob die Federn, die solche
schmücken, Marabu- oder Straußfedern oder gar Paradiesvögel sind;
und dann die niedlichen »Sächelchen« von Ohrgeschmeide, Halsbändern,
Brasseletts etc., daß »einem das Herz puppert«, und dann die Brüsseler
Kanten um die wogende Schwanenbrust und das gestickte Ballkleid und
die durchbrochenen Strümpfe und die seidenen Pariser Ballschuhe oder
ein Negligee wie aus dem leichtesten Schnee gewoben, und dieses
Ueberröckchen und jenes Mäntelchen und dieses Spitzenhäubchen, aus
dem sich die goldenen Ringellöckchen hervorstehlen. ~O sancta
simplicitas!~ Und ihr kneipt, um mich seiner Sprache zu bedienen, ihr
kneipt die Kniee nicht zusammen, meine Damen, und wollet euch nicht
halb zu Tode lachen über den köstlichen Spaß, daß ein preußischer
geheimer Hofrat eurer Zofe ins Handwerk greift und euch vorrechnet, was
man im Putzladen der Madame Prellini haben kann? Leider! ihr lachet
nicht! Ihr leset den allerliebsten Modebericht mit großer Andacht,
ihr sprechet, das ist doch einmal eine Lektüre von Geschmack; nichts
Ueberirdisches, Romantisches! ~Tout chez comme nous~, bis aufs Hemde
hat er uns beschrieben, der deliziöse Mann, der Clauren!

Ein drittes Ingredienz für Mädchen sind die magnifiken Bälle, die
er alljährlich gibt. Hu! wie da getanzt wird, daß das Herzchen »im
Vierundsechzigstel-Takt pulsiert!« Wie schön! Vornehme Damen, die bei
Präsidents A, bei Geheimrats B., bei dem Bankier C oder gar bei Hofe
Zutritt haben, finden alles »haarklein« beschrieben, von der Polonäse
bis zum Kotillon. Arme Landfräulein, die nur in das nächste Städtchen
auf den Kasinoball kommen können, lesen ihren Clauren nach, ihre
Phantasie trägt sie auf den herrlichen Ball bei Hof, und »der Himmel
hängt ihnen voll Geigen«. Putzjungfern, welche Ballkleider verfertigen,
ohne sich selbst darin zeigen zu können, Kammermädchen, die ihre Dame
zu dem Ball »aufgedonnert« haben, nehmen beim Scheine der Lampe ihren
Clauren zur Hand, treten unter dem Tisch mit den tanzlustigen Füßen den
Takt eines Schnellwalzers und träumen sich in die glänzenden Reihen
eines Fastnachtsballes! Treffliches Surrogat für tanzlustige Seelen,
köstliche Stallfütterung für Schafe, die nicht auf der Weide hüpfen
können!

Als ein viertes treffliches Haupt-Ingredienz für liebevolle weibliche
Seelen ist das vollendete Bild eines Mannes, wie er sein soll, zu
rechnen, das Clauren zu geben versteht. In der Regel zeichnen sich
diese Leute nicht sehr durch hohe Verstandesgaben aus, doch wir wollen
diesen Fehler an Clauren nicht rügen; wo nichts ist, sagt ein altes
Sprichwort, da hat der Kaiser das Recht verloren. Statt des Verstandes
haben die Vergißmeinnicht-Männer herrliche Rabenlocken, einen etwas
schwindsüchtigen Teint, der sie aber schmachtend und interessant macht,
unter fünf Fuß, sechs Zoll darf keiner messen; kräftige, männliche
Formen, sprechende Augen, die Hände und Füße aber wie andere Menschen.
Sie sind gerade so eingerichtet, daß man sich ohne weiteres auf den
ersten Augenblick in sie verlieben muß. Dabei sind sie meistens arm,
aber edel, stolz, großmütig und heiraten gewöhnlich im fünften Akt.
Auf welche edle weibliche Seele sollte ein solcher Held neuerer Zeit
nicht den wohltuendsten Eindruck machen, wenn sie von ihm liest?
Sie schnitzelt das Bild des Obergesellen oder Jagdschreibers oder
Apothekergehilfen, das sie im Herzen trägt, so lange zurecht, bis er
ohngefähr gerade so aussieht wie der Allerschönste im allerneuesten
Jahrgange des allerliebsten Vergißmeinnicht.

Fünftens: Von schimmernden Lüsters, von deckenhohen Trümeaus, von
herrlichen Sofas, von feengleicher Einrichtung, von Sepia-Malerei und
dergleichen wäre hier noch viel zu reden, wenn es die Mühe lohnte.

Gehen wir, andächtige Versammlung, über zu den Ingredienzien und
Zutaten für _Männer_, so können wir hier leicht zwei Klassen machen: 1)
Zutaten, die das Auge reizen, 2) Zutaten, die den Gaumen kitzeln.

Unter Nr. 1 ist vor allem zu rechnen die Art, wie Clauren seine Mädchen
beschreibt. Um zuerst von ihrem geistigen Werte zu sprechen, so gilt
hier dasselbe, was von den Männern gesagt wurde; eine tiefe, edle,
jungfräuliche Seele weiß kein Clauren zu schildern, und wenn er es
wüßte, so hat er ganz recht, daß er nie eine Thekla, eine Klothilde
oder ein Wesen, das etwa ein Titan oder Horion lieben könnte, unter
seiner Affenfamilie mittanzen läßt. Was das Aeußere betrifft, so macht
er es wie jener griechische Künstler, der aus sieben schönen Mädchen
sich eine Venus bilden wollte. Aber er vergißt den hohen Sinn, der in
der Sage von dem Künstler liegt.

Sechs zogen vorüber und zeigten dem entzückten Auge stolz die
entfesselten Reize ihrer Jugend. Die siebente, als die Gewänder fallen
sollten, errötete und verhüllte sich, und der Künstler ließ jene sechs
vorübergehen und bildete nach diesem Vorbild jungfräulicher Hoheit
seine Göttin. Nicht also Clauren; die sechs hat er wohl aufgenommen,
der siebenten, als sie verschämt, verhüllt, errötend nahte, hat er die
Türe verschlossen.

Und jetzt, meine Herren, setzet euch her, macht es euch bequem, der
große Meister gibt ja das Panorama aller weiblichen Reize. Siehe die
entfesselten Locken, die auf den Alabaster der Schultern niederfallen,
siehe -- doch wie? Soll ich alle jene erhabenen, ausgesuchten
Epitheta wiedergeben, die sich mit Schnee, mit Elfenbein, mit Rosen
gatten? Ich bin ein Mann und erröte, erröte darüber, daß ein Mann
aus der sogenannten guten Gesellschaft die sittenlose Frechheit hat,
alljährlich ein ausführliches Verzeichnis von den Reizen drucken zu
lassen, die er bei seinem Weibe fand!

Als Tasso jene Strophen dichtete, worin die Gesandten Gottfrieds am
Palaste der neuen Kirke die Nymphen im See sich baden sehen, glaubet
ihr, seine reiche glühende Phantasie hätte ihm nicht noch lockendere
Bilder, reizendere Wendungen einhauchen können als einem Clauren? Doch,
er dachte an sich, er dachte an die hohe, reine Jungfrau, für die er
seine Gesänge dichtete, er dachte an seinen unbefleckten Ruhm bei Mit-
und Nachwelt, und siehe, die reichen Locken fallen herab und strömen
um die Nymphen und rollen in das Wasser, und der See verhüllt ihre
Glieder. Aber, ~si parva licet componere magnis~, was soll man zu jener
skandalösen Geschichte sagen, die H. Clauren in einem früheren Jahrgang
des Freimütigen, eines Blattes, das in so manchem häuslichen Zirkel
einheimisch ist, erzählt?

Rechne man es nicht _uns_ zur Schuld, wenn wir Schändlichkeiten
aufdecken, die jahrelang _gedruckt_ zu lesen sind. Eine junge Dame
kommt eines Tages auf Claurens Zimmer. Sie klagt ihm nach einigen
Vorreden, daß sie zwar seit vierzehn _Tagen_ verheiratet, und
_glücklich_ verheiratet, aber durch einen kleinen Ehebruch von einer
Krankheit angesteckt worden sei, die ihr Mann nicht ahnen dürfe. H.
Clauren erzählt uns, daß er der engelschönen Dame gesagt, sie sei nicht
zu heilen, wenn sie ihm nicht den Grad der Krankheit ~et cetera~ zeige.
Die Dame entschließt sich zu der Prozedur. Ich dächte, das Bisherige
ist so ziemlich der höchste Grad der Schändlichkeit, zum mindesten
ein hoher Grad von Frechheit, dergleichen in einem belletristischen
Blatt zur Sprache zu bringen. Eine Dame, _glücklich_ verheiratet, seit
vierzehn Tagen ein glückliches Weib und Ehebrecherin! Aber nein! Der
Faun hat hieran nicht genug; er ladet uns zu der Prozedur selbst ein;
er rückt den Sessel ans Fenster, er setzt die Dame in Positur, er
beschreibt uns von der Zehenspitze aufwärts seine Beobachtungen!!!

Ich wiederhole es, man kann von einem solchen Frevel nur zu sprechen
wagen, wenn er offenkundig geworden ist, wenn man die Absicht hat, ihn
zu rügen. Warum in einem öffentlichen Blatte etwas _erzählen_, was man
in guter Gesellschaft nicht _erwähnen_ darf? Aber das ist H. Clauren,
der geliebte, verehrte, geachtete Schriftsteller, der Mann des Volkes.
Schande genug für ein Publikum, das sich Schändlichkeiten dieser Art
ungestraft erzählen läßt!

In die eben erwähnte Kategorie von _berechnetem_ Augenreiz für Männer
gehören auch die Situationen, in welchen wir oft die Heldinnen finden.
Bald wird uns ausführlich beschrieben, wie Magdalis aussah, als sie
zu Bette gebracht wurde, bald weidet man sich mit Herrn Stern an
Doralicens Angst, zu _zwei_ schlafen zu müssen, bald hört man Vally
im Bade plätschern und möchte ihrer naiven Einladung dahin folgen,
bald sieht man ein Kammermädchen im Hemde, das kichernd um Pardon
bittet, der glühenden, durch alle Nerven zitternden Küsse, der Blicke
beim Tanze abwärts auf die Wellenlinien der Tänzerinnen u. dgl. nicht
zu gedenken; Honigworte für Leute, die nichts Höheres kennen als
Sinnlichkeit, köstlich kandierte Zoten für einen verwöhnten Gaumen,
treffliches Hausmittel für junge Wüstlinge und alte Gecken, die mit
ihrer moralischen und physischen Kraft zu Rande sind, um dem Restchen
Leben durch diese Reizmittel aufzuhelfen!

Ein _zweites_ Reizmittel für Männer sind jene Zutaten, die den Gaumen
kitzeln. »Heda, Kellner, hierher sechs Flaschen des brüsselnden
Schaumweins; ha, wie der Kork knallend an die Decke fährt!
Eingeschenkt! laßt ihn nicht verrauchen! jetzt für jeden zwei, drei
Dutzend Austern draufgesetzt!« Ist diese Sprache nicht herrlich?
Wird man nicht an Homer erinnert, der immer so redlich angibt, was
seine Helden verspeisten; freilich gab er ihnen nur gewöhnliches
Schweinefleisch, und die Weinsorten rühmt er auch nicht besonders; aber
ein Clauren ist denn doch auch etwas anderes als Homer; wer wollte
es übelnehmen, wenn er die Korke fliegen läßt und Austern schmaust,
fünfhundert Stück zum ersten Anfang?

Ich kannte einen jener bedauernswürdigen Menschen, die man im
glänzenden Gewande, mit zufriedener Miene auf den Promenaden
umherschlendern sieht. Ihr haltet sie für das glücklichste Geschlecht
der Menschen, diese Pflastertreter; sie haben nichts zu tun und vollauf
zu leben. Ihr täuschet euch; oft hat ein solcher Herr nicht soviel
kleine Münze, um eine einfache Mittagskost zu bezahlen, und was er
an großem Gelde bei sich trägt, kann man nicht wohl wechseln. Einen
solchen nun fragte ich eines Tages: »Freund, wo speiset Ihr zu Mittag?
Ich sehe Euch immer nach der Tafelzeit mit zufriedener Miene die Straße
herabkommen, mit der Zunge schnalzend oder in den Zähnen stochernd; bei
welchem berühmten Restaurateur speiset Ihr?«

»Bei Clauren,« gab er mir zur Antwort.

»Bei Clauren?« rief ich verwundert. »Erinnere ich mich doch nicht,
einen Straßenwirt oder Garkoch dieses Namens in hiesiger Stadt gesehen
zu haben.«

»Da habt Ihr recht,« entgegnete er, »es ist aber auch kein hiesiger,
sondern der Berliner, H. Clauren. --«

»Wie und dieser schickt Euch kalte Küche bis hierher?«

»Kalte und warme Küche nebst etzlichem Getränke. Doch ich will Euch
das Rätsel lösen,« fuhr er fort, »ich bin arm, und was ich habe, nimmt
jährlich gerade das Schneiderkonto und die Rechnung für Zuckerwasser
im Kaffeehause weg; nun bin ich aber gewöhnt, gute Tafel zu halten,
was fange ich in diesen Zeiten an, wo niemand borgt und vorstreckt?
Ich kaufe mir alle Jahre von ersparten Groschen das herrliche
Vergißmeinnicht von H. Clauren, und ich versichere Euch, das ist mir
Speisekammer, Keller, Fischmarkt, Konditorei, Weinhandlung, alles in
allem. Ihr müßt wissen, daß in solchem Büchlein auf zwanzig Seiten
immer eine oder zwei, wie ich sie nenne, Tafelseiten kommen. Ich setze
mich mittags mit einem Stück Brot, zu welchem an Festtagen Butter
kommt, nebst einem Glase Wasser oder dünnem Biere an den Tisch, speise
vornehm und langsam, und während ich kaue, lese ich im Vergißmeinnicht
oder in Scherz und Ernst. Seine Tafelseiten werden mir nun zu delikaten
Suppentafeln, denn mein Teller ist nicht mehr mit schlechtem Brot
besetzt, meine Zähne malmen nicht mehr dieses magere Gebäck, nein, ich
esse mit Clauren, und _der_ Mann versteht, was gute Küche ist. Was da
an Fasanen, Gänseleberpasteten, Trüffeln, an seltenen Fischen, an --«

»Genug,« fiel ich ihm ein, »und Eure Phantasie läßt Euch satt werden?
Aber könntet Ihr hierzu nicht das nächste beste Kochbuch nehmen? Ihr
hättet zum mindesten mehr Abwechselung.«

»Ei, da ist noch ein großer Unterschied! Sehet, das versteht Ihr nicht
recht. In den Kochbüchern wird nur beschrieben, wie etwas gekocht
wird, aber ganz anders im Vergißmeinnicht; da kann man lesen, wie es
schmeckt, Clauren ist nicht nur Mundkoch und Vorschneider, sondern
er kaut auch jede Schüssel vor und erzählt, so schmeckte es, und wie
natürlich ist es, wenn er oft beschreibt, wie diesem die Sauce über
den Bart herabgeträufelt sei, oder wie jener vor Vergnügen über die
Trüffelpastete die Augen geschlossen. Ueberdies hat man dabei den
herrlichsten Flaschenkeller gleich bei der Hand, und wenn ich das
Glas mit Dünnbier zum Munde führe, schiebt er mir immer im Geiste
Drymadeira, Bordeaux oder Champagner unter.«

So sprach der junge Mann und ging weiter, um auf sein großes
Claurensches Traktament, der Verdauung wegen, zu promenieren.

Was ist Rumford gegen einen solchen Mann? sprach ich zu mir. Jener
bereitet aus alten Knochen kräftige Suppen für Arme und Kranke; ist
aber hier nicht mehr als Rumford und andere?

Speist und tränkt er nicht durch eine einzige Auflage des
Vergißmeinnichts fünftausend Mann? Wenn nur die Phantasie des gemeinen
Mannes etwas höher ginge, wie wohlfeil könnte man Spitäler, ja sogar
Armeen verproviantieren? Der Spitalvater oder der respektive Leutnant
nähme das Vergißmeinnicht zur Hand, ließe seine Kompagnie Hungernder
antreten, ließe sie trockenes Kommißbrot speisen und würde ihnen einige
Tafelseiten aus Clauren vorlesen.

Doch von solchen Torheiten sollte man nicht im Scherz sprechen, sie
verdienen es nicht, denn wahrer bitterer Ernst ist es, daß solche
Niederträchtigkeit, solche Wirtshauspoesie, solche Dichtungen ~à la
carte~, wenn sie ungerügt jede Messe wiederkehren dürfen, wenn man den
gebildeten Pöbel in seinem Wahne läßt, als wäre dies das Manna, so in
der Wüste vom Himmel fällt, die Würde unserer Literatur vor uns selbst
und dem Auslande, vor Mit- und Nachwelt schänden!

Doch ich komme, meine verehrten Zuhörer, noch auf einen andern Punkt,
den man weniger Ingredienz oder Zutat, sondern ~Sauce piquante~ nennen
könnte: das ist die _Sprache_. Man wirft, nicht mit Unrecht, den
Schwaben und Schweizern vor, daß sie nicht sprechen, wie sie schreiben,
aber wahrhaftig, es gereicht H. Clauren zu noch größerem Vorwurf,
daß er so gemein schreibt, wie er gemein und unedel zu sprechen und
zu denken scheint. Man hat in neuerer Zeit manches verschrobene
und verschränkte Deutsch lesen müssen; waren es Wendungen aus dem
fünfzehnten Jahrhundert, waren es Sätze aus einer spanischen Novelle,
es wollte sich in unserer reichen, herrlichen Sprache nicht recht
schicken. Ohrzerreißend waren auch die Kompositionen, die Voß nach
Analogie Homers vornahm; aber man kann Männer dieser Art höchstens
wegen ihres schlechten Geschmacks bedauern, anklagen niemals; denn es
lag dennoch ein schöner Zweck ihrem wunderlichen Handhaben der Sprache
zugrunde. Was soll man aber von der geflissentlichen Gemeinheit
sagen, womit der Erfinder der Mimili-Manier seine Produkte einkleidet?
König Salomo, wenn er noch lebte, würde diesen Menschen mit einem
Freudenmädchen vergleichen. Sie geht einher im Halbdunkel, angetan
mit köstlichen Kleidern, mit allerlei Flimmer und Federputz auf dem
Haupte. Du redest sie an mit Ehrfurcht, denn du verehrst in ihr
eine wohlerzogene Frau aus gutem Hause, aber sie antwortet dir mit
wieherndem Gelächter, sie gesteht, sie müsse lachen, daß »_sie der Bock
stößt_«; sie spricht in Worten, wie man sie nur in Schenken und auf
blauen Montagstänzen hören konnte, sie enthüllt sich, ohne zu erröten,
vor deinen Augen und spricht Zoten und Zötchen dazu. Wehe deinem
Geschmack, wehe dir selbst und deinem sittlichen Wert, wenn dir nicht
klar wird, daß die, welche du für eine anständige Frau gehalten, eine
feile Dirne ist, bestimmt zum niedrigsten Vergnügen einer verworfenen
Klasse!

Wozu ein langes Verzeichnis dieser Sprachsünden hierher setzen, da ja
das Buch, über welches wir sprechen, der Mann im Monde, ein lebendiges
Verzeichnis, ein vollständiger Katalog seiner Worte, Wendungen, Farben
und Bilder ist? Es ist die Sauce, womit er seine widerlichen Frikasseen
anfeuchtet, und je mehr er ihr jenen echten Wildbretgeschmack zu geben
weiß, der schon auf einer Art von Fäulnis und Moder beruht, desto mehr
sagt sie dem verwöhnten Gaumen seines Publikums zu.

Noch ist endlich ein Zutätchen und Ingredienzchen anzuführen, das er
aber selten anwendet, vielleicht weil er weiß, wie lächerlich er sich
dabei ausnimmt; ich meine jene rührenden, erbaulichen Redensarten,
die als auf ein frommes Gemüt, auf christlichen Trost und Hoffnung
gebaut erscheinen sollen. Als uns der Fastnachtsball und das erbauliche
Ende der Dame Magdalis unter die Augen kam, da gedachten wir jenes
Sprichworts: »Junge H...n, alte Betschwestern,« wir glaubten, der
gute Mann habe sich in der braunen Stube selbst bekehrt, sehe seine
Sünden mit Zerknirschung ein und werde mit Pater Willibald selig
entschlafen. Das Tornisterlieschen, Vielliebchen und dergleichen
überzeugten uns freilich eines andern, und wir sahen, daß er nur ~per
Anachronismum~ den Aschermittwoch _vor_ der Fastnacht gefeiert hatte.
Wie aber im Munde des Unheiligen selbst das Gebet zur Sünde wird, so
geht es auch hier; er schändet die Religion nicht weniger, als er
sonst die Sittlichkeit schändet, und diese heiligen, rührenden Szenen
sind nichts anderes als ein wohlüberlegter Kunstgriff, durch Rührung
zu wirken; etwa wie jene Bettelweiber in den Straßen von London,
die alle Vierteljahre kleine Kinder kaufen oder stehlen und mit den
unglücklichen Zwillingen seit zehn Jahren weinend an der Ecke sitzen.

Zum Schlusse dieses Abschnittes will ich euch noch eine kleine
Geschichte erzählen. Es kam einst ein fremder Mensch in eine Stadt,
der sich Zutritt in die gute Gesellschaft zu verschaffen wußte.
Dieser Mensch betrug sich von Anfang etwas linkisch, doch so, daß man
manche seiner Manieren übersehen und zurechtlegen konnte. Er hielt
sich gewöhnlich zu den Frauen und Mädchen, weil ihm das Gespräch der
Männer zu ernst war, und jene lauschten gerne auf seine Rede, weil er
ihnen Angenehmes sagte. Nach und nach aber fand es sich, daß dieser
Mensch seiner gemeineren Natur in dieser Gesellschaft wohl nur Zwang
angetan hatte; er sprach freier, er schwatzte den Ohren unschuldiger
Mädchen Dinge vor, worüber selbst die Eltern hätten erröten müssen.
Wie es aber zu gehen pflegt; das Lüsterne reizt bei weitem mehr als
das Ernste, Sittliche; zwar mit niedergeschlagenen Augen, aber offenem
Ohr lauschten sie auf seine Rede, und selbst manche Zote, die für eine
Bierschenke derb genug gewesen wäre, bewahrten sie in feinem Herzen.
Der fremde Mann wurde der Liebling dieses Zirkels. Es fiel aber den
Männern nach und nach auf, daß ihre Frauen über manche Verhältnisse
freier dachten als zuvor, daß selbst ihre Mädchen über Dinge sprachen,
die sonst einem unbescholtenen Kind von fünfzehn bis sechzehn Jahren
fremd sein müssen. Sie staunten, sie forschten nach dem Ursprung dieser
schlechten Sitten, und siehe, die Frauen gestanden ihnen unumwunden:
»Es ist der liebenswürdige, angenehme Herr, der uns dieses gesagt hat.«
Viele der Männer versuchten es mit Ernst und Warnung, ihn zum Schweigen
zu bringen; umsonst, er schüttelte die Pfeile ab und plauderte fort.
Die Männer wußten nicht, was sie tun sollten, denn es ist ja gegen die
Sitten der guten Gesellschaft, selbst einen verworfenen Menschen die
Treppe hinabzuwerfen. Da versuchte einer einen andern Weg. Er setzte
sich unter die Frauen und lauschte mit ihnen auf die Rede des Mannes
und merkte sich alle seine Worte, Wendungen, selbst seine Stimme. Und
eines Abends kam er, angetan wie jener Verderber, setzte sich an seine
Seite, ließ ihn nicht zum Worte kommen, sondern erzählte den Frauen
nach derselben Manier, mit nachgeahmter Stimme, wie es jener Mann zu
tun pflegte. Da fanden die Vernünftigeren wenigstens, wie lächerlich
und unsittlich dies alles sei. Sie schämten sich, und als jener Mensch
dennoch in seinem alten Ton fortfahren wollte, wandten sie sich von ihm
ab, er aber stand beinahe allein und zog beschämt von dannen.

»Wo Ernst nicht hilft, da nimm den Spott zur Hilfe,« dachte jener, und
wohl ihm, wenn es ihm gelang, den Wolf im Schafskleide zu verjagen!

Meine Freunde! Dasselbe, was in dieser Geschichte erzählt ist, dasselbe
wollte auch _der Mann im Monde_, und das war ja unsere erste Frage, er
wollte den Erfinder der Mimili-Manier zu Nutz und Frommen der Literatur
und des Publikums, zur Ehre der Vernunft und Sitte lächerlich machen.

Wie er diesen Zweck verfolgte? Ob es ihm gelingen _konnte_? ist der
Gegenstand der folgenden Fragen.

II. Haben wir bisher nachgewiesen und darüber gesprochen, welchen Zweck
der Mann im Monde zu verfolgen hatte, indem wir den Gegenstand, gegen
welchen er gerichtet war, nach allen Teilen auseinandersetzten, so
kommt es uns zu, andächtig miteinander zu betrachten, _wie_ er diesen
Zweck verfolgte.

Es gibt verschiedene Wege, wie schon in der Parabel vom angenehmen
Mann angedeutet ist, verschiedene Wege, um ein Laster, eine böse
Gewohnheit oder unsittliche Ansichten aus der sittlichen Gesellschaft
zu verbannen. Das erste und natürlichste bleibt immer, einen solchen
Gegenstand mit Ernst, mit Gründen anzugreifen, seine Anhänger von
ihrem Irrtum zu überführen, seine Blöße offen vor das Auge zu bringen.
Diesen Weg hat man auch mit dem Claurenschen Unfug zu wiederholten
Malen eingeschlagen. Ihr alle, meine Zuhörer, kennet hinlänglich jene
öffentlichen Gerichte der Literatur, wo die Richter zwar, wie bei
der heiligen Feme, verhüllt und ohne Namen zu Gericht sitzen, aber
unverhüllt und unumwunden Recht sprechen; ich meine die Journale, die
sich mit der Literatur beschäftigen. Wie es in aller Welt bestechliche
Richter gibt, so auch hier. Es gab einige freilich an Obskurantismus
laborierende Blätter, welche jedes Jahr eine Fanfare bliesen, zugunsten
und Ehren Claurens und seines Neugeborenen. Dem Vater wie dem Kindlein
wurde gebührendes Lob gespendet, und das Publikum eingeladen,
einige Taler als Patengeschenk zu spendieren. Doch zur Ehre der
deutschen Literatur sei es gesagt, es waren und sind dies nur einige
Winkelblätter, die nur mit Modeartikeln zu tun haben.

Bessere Blätter, bessere Männer als jene, die um Geld lobten, scheuten
sich nicht, so oft Claurens Muse in die Wochen kam, das Produkt nach
allen Seiten zu untersuchen und der Welt zu sagen, was davon zu halten
sei. Sie steigerten ihre Stimme, sie erhöhten ihren Tadel, je mehr die
Lust an jenen Produkten unter euch überhand nahm, sie bewiesen mit
triftigen Gründen, wie schändlich eine solche Lektüre, wie entwürdigend
ein solcher Geschmack sei, wie entnervend er schon zu wirken anfange.
Manch herrliches Wort wurde da über die Würde der Literatur, über
wahren Adel der Poesie und über euch gesprochen, die ihr nicht errötet,
ihm zu huldigen, die ihr so verstockt seid, das Häßliche _schön_, das
Unsaubere _rein_, das Kleinliche _erhaben_, das Lächerliche _rührend_
zu finden. Woran lag es aber, daß jene Worte wie in den Wind gesprochen
scheinen, daß, so oft sich auch Männer von wahrem Wert _dagegen_
erklärten, die Menge immer mehr Partei _dafür_ nahm? Man müßte glauben,
der Herr habe ihre Herzen verstockt, wenn sich nicht noch ein anderer
Grund fände.

Jene Institute für Literatur, die kein Volk der Erde so allgemein, so
gründlich aufzuweisen hat wie wir, jene Journale, wo auch das Kleinste
zur Sprache kommt und nach Gesetzen beurteilt wird, die sich auf
Vernunft und wahren Wert der Kunst und Wissenschaft gründen -- sie
sind leider nur für wenige geschrieben. Wer liest sie? Der Gelehrte,
der Bürger von wahrer Bildung, hin und wieder eine Frau, die sich
über das Gebiet der Leihbibliothek erhoben hat. Ob aber Clauren für
_diese_ schreibt? Ob seine Manier _diesen_ schädlich wird? Ob sie ihn
nur lesen? Und wenn sie ihn lesen, wird ihnen die Stufe von Bildung,
auf welcher sie stehen, nicht von selbst den Takt verleihen, um das
Verwerfliche einzusehen? Und wenn unter hundert Menschen, welche lesen,
sogar zehn wären, die sich aus jenen Instituten unterrichten, verhallt
nicht eine solche Stimme bei neunzig andern?

So kam es, daß Clauren zu wiederholten Malen angegriffen, getadelt,
gescholten, verhöhnt, bis in den Staub erniedrigt wurde, er --
schüttelte den Staub ab, antwortete nicht, ging singend und wohlgemut
seine Straße. Wußte er doch, daß ihm ein großes ansehnliches Publikum
geblieben, zu dessen Ohren jene Stimmen nie drangen, wußte er doch,
daß, wenn ihn der ernste Vater mit Verachtung vor die Türe geworfen,
wie einen räudigen Hund, der seine Schwelle nicht verunreinigen soll,
das Töchterlein oder die Hausfrau eine Hintertür willig öffnen werde,
um auf die Honigworte des angenehmen Mannes zu lauschen, der Ernst
und Scherz so lieblich zu verbinden weiß, um ihm von den ersparten
Milchpfennigen ein Sträußchen Vergißmeinnicht abzukaufen.

Man könnte sich dies gefallen lassen, wenn es sich um eine gewöhnliche
Erscheinung der Literatur handelte, die in Blättern öffentlich
getadelt wird, weil sie von den gewöhnlichen Formen abweicht oder
unreif ist oder nach Form und Inhalt den ästhetischen Gesetzen nicht
entspricht. Hier kann höchstens die Zeit, die man der Lektüre einer
Gespenstergeschichte oder eines ehrlichen Ritterromans widmete,
übel angewendet scheinen, oder der Geschmack kann darunter leiden.
Solange für die jugendliche Phantasie, für Sittlichkeit keine Gefahr
sich zeigt, mögen immer die Richter der Literatur den Verfasser
zurechtweisen, wie er es verdient, das allgemeine Publikum wird
freilich wenig Notiz davon nehmen. Wenn aber nachgewiesen werden kann,
daß eine Art von Lektüre die größtmögliche Verbreitung gewinnt, wenn
sie diese gewinnt durch Unsittlichkeit, durch Lüsternheit, die das Auge
reizt und dem Ohre schmeichelt, durch Gemeinheit und unreines Wesen, so
ist sie ein Gift, das um so gefährlicher wirkt, als es nicht schnell
und offen zu wirken pflegt, sondern allmählich die Phantasie erhitzt,
die Kraft der Seele entnervt, den Glauben an das wahrhaft Schöne und
Edle, Reine und Erhabene schwächt und ein Verderben bereitet, das
bedauernswürdiger ist als eine körperliche Seuche, welche die Blüte der
Länder wegrafft.

Ich habe euch vorhin ein Bild entworfen von dem Wesen und der Tendenz
dieses Clauren, nach allen Teilen habe ich ihn enthüllt, und wer unter
euch kann _leugnen_, daß er ein solches Gift verbreite? Wer es kann,
der trete auf und beschuldige mich einer Lüge! Männer meines Volkes,
die ihr den wahren Wert einer schönen, kräftigen Nation nicht verkennt,
Männer, die ihr die Phantasie eurer Jünglinge mit erhabenen Bildern
schmücken wollt, Männer, die ihr den keuschen Sinn einer Jungfrau
für ein hohes Gut erachtet, ihr, ich weiß es, fühlet mit mir. Aber
ihr müßt auch gefühlt, gesehen haben, daß jene öffentlichen Stimmen,
die den Marktschreier rügten, der den Verblendeten Gift verkauft,
nicht selten in eure Häuser gedrungen sind. Ich habe gefühlt wie
ihr, und der Ausspruch jenes alten Arztes fiel mir bei: »_Gegen Gift
hilft nur wieder Gift._« Ich dachte nach über Ursache und Wirkung
jener Mimili-Manier, ich betrachtete genau die Symptome, die sie
hervorbrachte, und ich erfand ein Mittel, worauf ich Hoffnung setzte.
Aus denselben Stoffen, sprach ich zu mir, mußt du einen Teig kneten,
mußt ihn würzen mit derselben Würze, nur reichlicher überall, nur noch
pikanter; an diesem Backwerk sollen sie mir kauen, und wenn es ihnen
auch dann nicht widersteht, wenn es ihnen auch dann nicht wehe macht,
wenn sie an _dieser_ »Trüffelpastete«, an _diesem_ »Austernschmaus«
keinen Ekel fassen, so sind sie nicht mehr zu kurieren, oder -- es war
nichts an ihnen verloren.

Zu diesem Zweck scheute ich nicht die Mühe, die reiche Bibliothek von
Scherz und Ernst, die üppig wuchernde Sumpfpflanze Vergißmeinnicht nach
allen ihren Teilen zu studieren. Je weiter ich las, desto mehr wuchs
mein Grimm über diese nichtige Erbärmlichkeit. Es war eine schreckliche
Arbeit; alle seine Kunstworte (~termini technici~) alle seine
Wendungen, alle seine Schnörkel und Arabesken, jene Kostüme, worein er
seine Püppchen hüllt, alle Nüancen der Sinnlichkeit und Lüsternheit,
jenen feinen durchsichtigen Schleier, womit er dem Auge mehr _zeigt_,
als _verhüllt_, alle Schattierungen seines Stils, jenes kokettierende
Abbrechen, jenes Hindeuten auf Gegenstände, die man verschweigen will,
dies alles und so vieles andere mußte ich suchen mir zu eigen zu
machen. Ich mußte einkehren auf seinen Bällen, bei seinen Schmäusen,
ich mußte einkehren in seiner Garküche und die rauchenden Pasteten, den
Braten, den schmorenden Fisch beriechen, alle Sorten seiner dampfenden
Weine mußt' ich kosten, mußte den Kork zur Decke springen lassen, mußte
die »_brüsselnden Bläschen im Lilien-Kelchglas auf und niedertanzen_«
sehen -- und dann erst konnte ich sagen, ich habe den Clauren studiert.

Dann erfand ich eine Art von Novelle, in der Manier, wie Clauren
sie gewöhnlich gibt, etwas mager, nicht sehr gehaltvoll und dennoch
zu zwei Teilen lang genug. Notwendiges Requisit war nach den oben
angedeuteten Gesetzen: 1) ein junger, schmächtiger, etwas bleicher,
rabengelockter Mann, unglücklich, aber steinreich; 2) die Heldin
des Stücks, ein tanzendes, plauderndes, naives, schönes, lüsternes,
mitleidiges »Dingelchen«, dem das Herzchen alsbald vor Liebe »puppert«,
dem die Liebe alles Blut aus dem Herzen in die Wangen »pumpt«. (Welch
gemeines Bild, von einem Weinfaß entlehnt, eines Küfers würdig!) 3)
ein ~Spiritus familiaris~, wie wir ihn beinahe in allen Claurenschen
Geschichten treffen, ein altes, freundliches »Kerlchen«, das den
Liebenden mit Rat und Tat beisteht; 4) ein neutraler Vater, der zum
wenigsten Präsident sein muß; 5) ein paar Furien von Weibern, die das
böse, eingreifende Schicksal vorstellen; 6) einige Husarenleutnants
und Dragoneroffiziere, nach seinen Modellen abkonterfeit; 7) ein alter
Onkel, der mit Geld alles ausgleicht; 8) Bediente, Wirte etc. So waren
die Personen arrangiert, das Stück zu Faden geschlagen, und jetzt
mußte gewoben werden. Hier mußte nun hauptsächlich Rücksicht darauf
genommen werden, daß man sein Dessin immer im Auge behielt, daß man
immer daran dachte, wie würde er, der große Meister, dies weben? Das
Gewebe mußte locker und leicht sein, keiner der Charaktere zu sehr
herausgehoben und schattiert. Es wäre z. B. ein leichtes gewesen, aus
Ida eine ganz honette, würdige Figur zu machen; der Charakter des
Hofrats Berner hätte mit wenigen Strichen mehr hervorgehoben werden
können; man hätte aus der ganzen Novelle ein mehr gerundetes, würdiges
Ganzes machen können! Aber dann -- war der Zweck verfehlt. So flach als
möglich mußten die verschiedenen Charaktere auf der Leinwand stehen,
steif in ihren Bewegungen, übertrieben in ihrem Herzeleid, grell in
ihren Leidenschaften, sinnlich, _sinnlich_ in der Liebe. Jene Novelle
an sich hat keinen Wert, und dennoch hat es mich oft in der Seele
geschmerzt, wenn ich eines oder das andere der gesammelten »Zutätchen«
einstreuen, wenn ich von keuschem Marmorbusen, stolzer Schwanenbrust,
jungfräulichen Schneehügeln, Alabasterformen etc. sprechen mußte, wenn
ich nach seinem Vorgange von schönen »Wäd--«, von süßen »Kü--« (was
nicht _Küche_ bedeutet), von wollüstigen Träumen schreiben sollte;
wenn die Liebesglut zur Sprache kam, die dem »jungfräulichen Kind« wie
glühendes Eisen durch alle Adern rinnt, daß sie alle anderen Tücher
wegwirft und die leichte Bettdecke herabschieben muß! Ich habe gelacht,
wenn ich nach Anleitung seines ~Gradus ad Parnassum~ als Beiwort zu den
Haaren »kohlrabenschwarz« oder »Flachsperücke« setzen mußte, wenn man
statt der Augen »Feuerräder« oder »Liebessterne« hat, »Korallenlippen«,
»Perlenschnüre« statt der Zähne, Schwanenhälse samt dito Brust, Knie,
die man zusammen »kneift«, weil man vor Lachen »bersten« möchte;
Wäd-- und Füßchen zum Kü-- und dergleichen lächerliche, gemeine
Worte. Nachdem gehörig _getollt_, _gejodelt_, _getanzt_, _geweint_,
_abgehärmt_ war, nachdem, wie natürlich, das Laster besiegt und die
Tugend in einem herrlichen Schleppkleide, mit Brüsseler Kanten, Blumen
im Haare auf die Bühne geführt war, wurden als Morgengabe mehrere
Millionen Taler, einige Schlösser, Parks, Gründe etc. aufnotiert und
Hochzeit gehalten. Da gab es nun ein »erschreckliches Hallo, daß man
nicht wußte, wo einem der Kopf stand«, es wurde trefflich gespeist und
getrunken, und das selige Liebespaar beinahe bis in die Brautkammer
befördert.

Das ist der Ur- und Grundstoff, wie zu jedem Claurenschen Roman, so
auch zum _Mann im Monde_, auf diese Art suchte er seinen Zweck zu
erreichen, durch Uebersättigung Ekel an dieser Manier hervorzubringen,
die Satire sollte ihm Gang und Stimme nachahmen, um ihn vor seinen
andächtigen Zuhörern lächerlich zu machen. Mit Vergnügen haben wir da
und dort bemerkt, daß der Mann im Monde diesen Zweck erreichte. Jeder
vernünftige, unparteiische Leser erkannte seine Absicht, und Gott sei
es gedankt, es gab noch Männer, es gab noch edle Frauen, die diese
öffentliche Rüge der Mimili-Manier gerecht und in der Ordnung fanden.

Oeffentliche Blätter, deren ernster würdiger Charakter seit einer Reihe
von Jahren sich gleich blieb, haben sich darüber ausgesprochen, haben
gefunden, daß es an der Zeit sei, dieses geschmacklose, unsittliche,
verderbliche Wesen an den Pranger zu stellen. Tadle mich keiner,
ehrwürdige Versammlung, daß ich, ein junger Mann ohne Verdienste,
ohne Ansprüche auf Sitz und Stimme in der Literatur, es wagte, den
Hochberühmten anzugreifen. Steht doch jedem Leser das Recht zu, seine
Meinung über das Gelesene, auf welche Art es sei, öffentlich zu machen,
steht doch jedem Mann in der bürgerlichen Gesellschaft das Recht zu,
über Erscheinungen, die auf die Bildung seiner Zeitgenossen von einigem
Einflusse sind, zu sprechen.

Ich bin weit entfernt, mich mit dem großen jüdischen Könige und
Harfenisten _David_ vergleichen zu wollen, aber hat nicht der Sohn
Isais, obgleich er jung und ohne Namen im Lager war, dem Riesen Goliath
ein steinernes _Vergißmeinnicht_ an die freche Stirn geworfen, ihm in
_Scherz_ und _Ernst_ den Kopf abgehauen und solchen als _Lustspiel_
vor sich hertragen lassen? Mir freilich haben die Jungfrauen nicht
gesungen: »Er hat zehntausend geschlagen« (worunter man die Zahl seiner
Anhänger verstehen könnte), denn die Jungfrauen sind heutzutage auf der
Seite des Philisters; natürlich hat er ja, wie Asmus sagt,

    »-- Federn auf dem Hut
    Und einen Klunker dran.«

Selbst die jüdischen Rezensenten haben sich undankbarerweise gegen mich
erklärt. Leider hat ihre Stimme wenig zu bedeuten in Israel.

Gehen wir aber in Betrachtung, wie es dem Mondmanne auf der Erde
erging, weiter, so stoßen wir auf einen ganz sonderbaren Vorfall.
Als dieses Buch, dem neben der Weise und Sprache des Erfinders der
Mimili-Manier auch sein _angenommener_ Name nicht fehlen durfte, in
alle vier Himmelsgegenden des Landes ausgegeben wurde, erwarteten
wir nicht anders, als Clauren werde »geharnischt bis an die Zähne«
auf dem Kampfplatz der Kritik erscheinen, uns mit Schwert und Lanze
anfallen, seine Knappen und dienenden Reisigen zur Seite. Wir freuten
uns auf diesen Kampf, wir hatten ja für eine gute Sache den Handschuh
ausgeworfen. Vergebens warteten wir. Zwar erklärte er, was schon auf
den ersten Anblick jeder wußte, dieser Mann im Monde sei nicht sein
Kind, aber statt, wie es einem berühmten Literator, einem namhaften
Belletristen geziemt hätte, wie es sogar seine Ehre gegenüber von
seinen Anbetern und Freunden verlangte, öffentlich vor dem Richterstuhl
literarischer Kritik, nach ästhetischen Gesetzen sich zu verteidigen,
begnügte er sich als Gegengewicht das »Tornisterlieschen« auf die
Wagschale zu legen, und ging hin, vor den bürgerlichen Gerichten
zu klagen, man habe seinen Namen mißbraucht. Hatte man denn die
paar Buchstaben _H. Clauren_ angegriffen, war es nicht vielmehr
seine heillose Manier, seine sittenlosen Geschichten, sein ganzes
unreines Wesen, was man anfocht? Konnten Schöppen und Beisitzer eines
bürgerlichen Gerichts ihn rein machen von den literarischen Sünden,
die er begangen, konnten sie mit der Flut von Tinte, die bei diesem
Vorfall verschwendet wurde, ihn reinwaschen von jedem Flecken, der
an ihm klebte, konnten sie ihm, indem sie ihm ihr bürgerliches Recht
zusprachen, eine Achtung vor der Nation verschaffen, die er längst in
den Augen der Gutgesinnten verloren? Konnten sie, indem sie genugsam
Sand auf das Geschriebene streuten, das, was er geschrieben, weniger
_schlüpfrig_ machen?

Wenn aber, andächtige Versammlung, der Gerichtshof H. Clauren als
wirklich vorhanden angenommen hat, so hat er damit nur erklärt, daß man
Claurens Namen nicht führen dürfe, daß es unrechtmäßigerweise geschehen
sei, wenn man die acht Buchstaben, die das ~non ens~ bezeichneten, H.
C. l. a. u. r. e. n. in derselben Reihenfolge auch auf ein anderes
Werk gesetzt habe. In einer andern Reihenfolge wäre es also durchaus
nicht unrecht gewesen, und wie viele Anagramme sind nicht aus jenen
mystischen acht Buchstaben zu bilden, z. B. Hurenlac oder Harnceul.
Der geheime Hofrat Carl Heun bezeugt eine außerordentliche Freude über
diesen Spruch und glaubt, somit sei die ganze Sache abgetan, und _er
habe_ recht. Wie täuscht sich dieser gute Mann! War denn jene Satire:
der Mann im Monde, gegen seinen angenommenen Namen gerichtet? -- Namen,
Herr! tun nichts zur Sache, der Geist ist's, auf den es abgesehen war.
Und die Richter vom Eßlinger Gerichtshof konnten und wollten _diese_
entscheiden, ob die Tendenz, die Sprache, das ganze Wesen von Seiner
Wohlgeboren Schriften sittlich oder unsittlich sei, ob sie Probe
halten vor dem Auge, das nach kritischen Gesetzen urteilt und nach
den Vorschriften der Aesthetik, in welches Gebiet doch die Schriften
eines Clauren gehören? Der _Name_, nicht die _Sache_, konnte nach
bürgerlichen Gesetzen unrecht sein; aber versuche er einmal, nachdem er
mit Glück seinen _Namen_ verfochten, auch seine _Sache_, den Geist und
die Sprache seiner Schriften zu verteidigen! -- -- -- -- -- -- -- -- --
-- -- -- -- -- -- Bedenke:

    Auch das Schöne muß sterben, das Menschen und Götter entzückte,
      Doch das _Gemeine_ steigt lautlos zum Orkus hinab.

Wohl dem Namen Clauren, wenn er dann trotz so manchem Vergißmeinnicht
_vergessen_ sein wird, denn nach wenigen Jahrzehnten verschwindet der
_Scherz_, und _Ernst_ richtet die Nachwelt. Da wird man fragen, von
welchem Einfluß war dieser Name auf seine Mitwelt, was hat er für die
Würde seiner Nation, für den Geist seines Volkes getan? Und -- man wird
nach Werken, nicht nach Worten richten.

Bei den alten Aegyptern war es Sitte, wenn man die Könige der Erde
wiedergab, Gericht zu halten über ihre Taten. Man hat in unseren Tagen
diese schöne Sitte erneuert, so oft einer unter den Dichtern, den
Königen der Phantasie, hinübergegangen war. Ueber Jean Paul vernahmen
wir das schöne merkwürdige Wort: »Gute Bücher sind gute Taten!« Wird
man von Clauren dasselbe sagen?

Doch genug davon, noch hat weder Clauren noch ein Gerichtshof der
Erde den Mann im Monde nach seinem innern Wesen widerlegt; wir sind
begierig, ob und wie es geschehen werde.

Und nun zum Schlusse noch ein Wort an euch, verehrte Zuhörer. Habt
ihr bis hierher mir aufmerksam zugehört, so danke ich euch herzlich,
denn ihr wisset jetzt, was ich gewollt habe. Schmerzen würde es mich
übrigens, wenn ihr mich dennoch nicht verständet, nicht _recht_
verständet. Es möchte vielleicht mancher mit unzufriedener Miene von
mir gehen und denken: der Tor predigt in der Wüste; sollen wir denn
jeglichem heiteren Geistesgenuß entsagen, sollen wir so ganz asketisch
leben, daß unsere Taschenlektüre Klopstocks Messias werden soll?

Mit nichten, und es wäre Torheit, es zu verlangen; als der Schöpfer dem
Sterblichen Witz und Laune, Humor und Empfänglichkeit für Freude in die
Seele goß, da wollte er nicht, daß seine Menschen trauernd und stumm
über seine schöne Erde wandelten. Es hat zu allen Zeiten große Geister
gegeben, die es nicht für zu gering hielten, durch die Gaben, die ihnen
die Natur verlieh, die Welt um sich her aufzuheitern. Nein, gerade
weil sie den tiefen Ernst des Lebens und seine hohe Bedeutung kannten,
gerade deswegen suchten sie von diesem Ernste -- trüben Sinn und jene
Traurigkeit zu verbannen, die alles, auch das Unschuldigste, mit
Bitterkeit mustert. Wirkliche Tiefe mit Humor, Wahrheit mit Scherz, das
Edle und Große mit dem heitern Gewande der Laune zu verbinden, möchte
auf den ersten Anblick schwer erscheinen. Aber England und Deutschland
haben uns seit Jahrhunderten so glänzende Resultate gegeben, daß wir
glauben dürfen, wenn nur der Geschmack der Menge besser wäre, der
Geister, die sie würdig und angenehm zu unterhalten wüßten, würden
immer mehrere auftauchen. Welchen Mann, der nicht allen Sinn für Scherz
und muntere Laune hinter sich geworfen hat, welchen Mann ergötzt nicht
die Schilderung eines sonderbaren, verschrobenen Charakters, wer
erfreut sich nicht an heiteren Szenen, wo nicht der _Verfasser_ lacht,
sondern die Figuren, die er uns gezeichnet? Wem, wenn er auch jahrelang
nicht gelächelt hätte, müßten nicht Jean Pauls Prügelszenen ein Lächeln
abgewinnen? Auf der Stufenleiter seines Humors steigt er herab bis in
das unterste gemeinste Leben, aber sehet ihr ihn jemals gemein werden,
wie Clauren auf jeder Seite ist? Walter Scott, der Mann des Tages, der
aus manchem Herzen selbst die Wurzeln des Vergißmeinnicht gerissen hat,
Walter Scott treibt sich in den gemeinsten Schenken des Landes, in
den schmutzigsten Höhlen von Alsatia umher, aber sehet ihr ihn jemals
gemein werden? Weiß er nicht, wie jene niederländischen Künstler,
sogar das Unsauberste zu malen, ohne dennoch selbst unreinlich und
schlüpfrig zu sein? Könnet ihr nicht seine Schilderungen, selbst an das
Gefährliche streifende Situationen, jedem Mädchen von Zucht und Sitte
vorlesen, ohne sie dennoch erröten zu machen?

Solche Männer kommen mir vor wie anständige Leute, die durch eine
schmutzige Straße in gute Gesellschaft gehen sollen. Sie treten leise
auf, sie wissen mit sicherem Fuße die breiten Steine herauszufinden
und treten reinlich in die Hausflur, während Menschen wie Clauren,
wilden Jungen oder Schweinen gleich, durch dick und dünn laufen und,
nicht zufrieden, sich selbst beschmutzt zu haben, die Vorübergehenden
besudeln und mit Kot bespritzen.

Noch gibt es, Gott sei es gedankt, solcher reinlichen Leute genug in
unserer Literatur, gibt es der Männer viele, die mit Wahrheit und
Würde jene Anmut, jene Laune verbinden, die euch in trüben Stunden
freundlich zu Hilfe kommt. Oder solltet ihr vergessen haben, daß uns
ein Goethe, ein Jean Paul, ein Tieck, ein Hoffmann Erzählungen gaben,
die sich mit jeder Dichtung des Auslandes messen können? Hat euch
der Vergißmeinnicht-Mann so gänzlich gefesselt, daß ihr die schönen
Blüten zahlreicher anderer Erzähler nicht einmal vom Hörensagen
kennt? Freilich, diese Männer verschmähten es, ihre Blumen am Sumpf
zu brechen oder ihre Farbe mit dem Wasser einer Pfütze zu mischen,
sie fühlten, daß der Entwurf ihrer Gemälde anziehend und interessant,
daß die Stellung der Gruppen nach natürlichen Gesetzen zu ordnen sei,
daß selbst das Neue, Ueberraschende angenehm für das Auge sein müsse.
Zeichnung der Landschaft, nicht der Spiegel und Sofas, Schilderung der
Charaktere, nicht der Hüte und Gewänder, der Geist einer Jungfrau,
nicht der üppige Bau ihrer Glieder, war ihnen die Hauptsache. Und
darum können wir auch ihre Bilder, wie jedes gute Buch, alle Jahre mit
erneuertem Vergnügen lesen, während uns _der Berühmte_ schon nach der
ersten Viertelstunde anekelt.

Man hat in neuerer Zeit in Frankreich und England angefangen, unsere
Literatur hochzuschätzen. Die Engländer fanden einen Ernst, eine Tiefe,
die ihnen bewunderungswürdig schien. Die Franzosen fanden eine Anmut,
eine Natürlichkeit in gewissen Schilderungen und Gemälden, die sie
selbst bei ihren ersten Geistern selten fanden. Faust, Götz und so
manche herrliche Dichtung Goethes sind ins Englische übertragen worden,
seine Memoiren entzückten die Pariser, Tiecks und Hoffmanns Novellen
fanden hohe Achtung über dem Kanal, und Talma rüstet sich, Schillers
tragische Helden seiner Nation vor das Auge zu führen. Wir Deutschen
handelten bisher von jenen Ländern ein, ohne unsere Produkte dagegen
ausführen zu können. Mit Stolz dürfen wir sagen, daß die Zeit dieses
einseitigen Handels vorüber ist.

Aber müssen wir nicht erröten, wenn es endlich einem ihrer
Uebersetzer, aufmerksam gemacht durch den Ruhm des Mannes, einfällt,
ein Vergißmeinnichtchen oder ein Bändchen von Scherz und Ernst zu
übertragen? Mit Recht könnt' er in einer pompösen Anzeige sagen: »Das
ist jetzt der Mann des Tages in Deutschland, er macht Furore, _den_
müßt ihr lesen!« Meinet ihr etwa, man sei dort auch so nachsichtig
gegen Lächerlichkeit und Gemeinheit, um diese Geschichtchen nur
erträglich zu finden? Welchen Begriff werden gebildete Nationen von
unserem soliden Geschmacke bekommen, wenn sie den ganzen Apparat einer
Tafel oder ein Mädchen mit eigentümlichen Kunstausdrücken anatomisch
beschrieben finden? Oder, wenn der Uebersetzer in unserem Namen
errötet, wenn er alle jene obscönen Beiworte, alle jene kleinlichen
Schnörkel streicht und nur die interessante Novelle gibt, wie Herr N.
die Demoiselle N. N. heiratet? Was wird dann übrig sein?

Schneidet einmal dieser Puppe ihre kohlrabenschwarzen Ringellöckchen
ab, preßt ihr die funkelnden Liebessterne aus dem Kopfe, reißt ihr die
Perlenzähne aus, schnallet den Schwanenhals nebst Marmorbusen ab, leget
Schals, Hüte, Federn, Unter- und Oberröckchen, Korsettchen etc. in den
Kasten, so habt ihr dem lieben, herrlichen Kinde die _Seele_ genommen,
und es bleibt euch nichts als ein hölzerner Kadaver, das Knochengerippe
von Freund Heun!

Und wenn ihr euch nicht vor fremden Nationen schämet, wenn ihr über das
deutsche Publikum nicht erröten könnet, so errötet vor euch selbst.
Schämet euch, ihr Männer, wenn ihr eure Langeweile nicht anders töten
könnet als mit Hilfe dieses Clauren, schämet euch, ihr Frauen, wenn
ihr Gefallen finden könnet an dieser niedrigsten Darstellung eures
Geschlechtes, schämet euch, ihr Jünglinge, wenn ihr wahre Liebe in
diesem Handbuche der Sinnlichkeit wiederfinden wollet. Errötet,
wenn ihr es in seiner Schule nicht verlernt habt, errötet vor euch
selbst, ihr Jungfrauen, eure Phantasie mit diesen lüsternen Bildern zu
schmücken. Es gibt eine moralische Keuschheit, eine holde, erhabene
Jungfräulichkeit der Seele: man darf darauf rechnen, daß ein Mädchen
sie verloren hat, wenn sie Claurens Erzählungen gelesen.

Ueberlasset seine Schilderungen Dirnen, an welchen nichts mehr zu
verlieren ist. Man wird es ihnen so wenig übelnehmen, wenn sie ihn
lesen, als den Handwerksburschen, wenn sie auf der Straße unzüchtige
Lieder singen.

Meine Zuhörer! Ich habe also vor euch gesprochen, weil ich nicht anders
konnte. Ich habe nicht auf Dank, nicht auf Lob gerechnet. Die Menge ist
vielleicht so tief gesunken, daß sie nicht mehr an solche Worte glaubt,
meine Stimme verhallt vielleicht in dem tausendstimmigen Hurra, womit
man in diesem Augenblick einen frischen Strauß Vergißmeinnicht empfängt.

Doch, wenn meine Worte auch nur auf _einem_ Antlitz jene Röte der Scham
aufjagten, die wie die Morgenröte der Bote eines schöneren Lichtes ist,
wenn auch nur zwei, drei Herzen entrüstet sich von _ihm_ abwenden, so
habe ich für mein Bewußtsein genug getan! Weiß ich doch, daß es in
diesen Landen noch Männer gibt, die mir im Geiste danken, die mir die
Hand drücken und sagen: »Du hast gedacht wie wir!« Amen.



Skizzen.


Inhaltsverzeichnis.

                                             Seite.

    Die Bücher und die Lesewelt.

    1. Die Leihbibliothek                       225

    2. Geschmack des Publikums                  227

    3. Der große Unbekannte                     230

    4. Besuch im Buchladen                      233

    5. Der unternehmende Geist                  235

    6. Schluß                                   238

    Freie Stunden am Fenster                    240

    2. Die Liebe parterre                       243

    3. Der zweite Stock                         246

    4. Jocko                                    249

    5. Die Bel-Etage                            252

    6. Der arme Schuster                        255

    7. Die deutsche Literatur                   261

    Der ästhetische Klub                        264

    Ein paar Reisestunden                       267

    Hochzeitgruß an Karl Grüneisen              278



Die Bücher und die Lesewelt.


1. Die Leihbibliothek.

Als ich noch in --n lebte, gehörte es zu meinen Vormittagsvergnügungen,
in eine Leihbibliothek zu gehen; nicht um Bücher auszuwählen, denn die
Sammlung bestand aus vier- bis fünftausend Bänden, die ich größtenteils
zwei Jahre zuvor in einer langen Krankheit durchblättert hatte, sondern
um zu sehen, wie die Bücher ausgewählt werden. Ich trug mich damals mit
dem sonderbaren Gedanken, ein Buch zu schreiben; ich hatte noch keinen
bestimmten Gegenstand oder Zweck und war noch sehr unentschieden, nach
welchem großen Meister ich mein erstes Stück verfertigen sollte; an
den innern Wert des künftigen Buches dachte ich zwar mit unbehaglichem
Gefühl, denn unter allen meinen Gedanken war ich bis jetzt auf keinen
gestoßen, der sich, selbst mit Schwabacher Lettern gedruckt, schön
ausgenommen hätte; doch schien mir das größte und notwendigste für
einen, der ein Buch machen will, daß er die Menschen studiere, nicht um
Menschenkenntnis zu sammeln, die lernt man jetzt in Büchern, sondern um
den Leuten abzusehen, was etwa am meisten Beifall finde, oft und gerne
gelesen werde. ~Vox populi, vox Dei~, dachte ich, gilt auch hier. So
saß ich denn manchen Vormittag in der Bibliothek, um die Leser und ihre
Neigungen zu studieren.

Der Bibliothekar war ein alter, kleiner Mann, der in den zehn Jahren,
die ich in seiner Nähe lebte, beständig einen apfelgrünen Frack, eine
gelbe Weste und blaue Beinkleider trug; ich suchte ihm zu beweisen, daß
er seinen Anzug nicht greller und abgeschmackter hätte wählen können;
er brach aber, nachdem ich einiges Schlagende aus der Farbenlehre
vorgebracht hatte, in Tränen aus und versicherte mir, er trage sich so
und werde sich bis an sein Ende so tragen, denn von diesen Farben sei
sein Hochzeitskleid gewesen, das er sich sechs Wochen vor der Hochzeit
und leider zu frühe habe verfertigen lassen; denn die Braut sei schnell
am Nervenfieber gestorben. Der Bibliothekar hatte in seinem Fach eine
vieljährige Erfahrung, und interessant war, was er zuweilen darüber
äußerte. »Morgens,« sagte er mir z. B., »morgens werden am meisten
Bücher ausgetauscht, das ist die Zeit der zweiten und dritten Teile.
Es kommt nicht daher, wie ich anfänglich glaubte, daß zu dieser Zeit
die Bedienten und Kammermädchen ihre Ausgänge in die Stadt machen, denn
dann müßte sich dieses Verhältnis auch auf erste Teile erstrecken,
nein, es kommt vom Nachtlesen her.« -- »Vom Nachtlesen?« fragte ich
verwundert.

»Davon, meine ich, daß die Leute interessante Bücher bei Nacht lesen.
Ein großer Teil der Menschen, die jungen und ganz gesunden ausgenommen,
kann nicht in derselben Minute einschlafen, wo sie zu Bette gehen.
Zum Opium mag man nicht greifen, weil man damit, einmal angefangen,
fortfahren muß; da gibt es nun kein besseres Mittel, als zu lesen.«
-- »Gut, ich verstehe,« erwiderte ich; »aber Sie sagen ja selbst von
interessanten Büchern: sind denn diese zum Einschläfern eingerichtet?«
-- »Nicht alle und nicht für alle; natürlich muß man unterscheiden,
für wen dies oder jenes interessant sein kann. Sie kennen die Gräfin
Winklitz? Nun, die kann am längsten nicht einschlafen; mich dauert
nur das Kammermädchen, die ihr jede Nacht oft bis zwei Uhr vorlesen
muß. Nun gebe ich einmal aus Irrtum dem Mädchen Görres' Deutschland
und die Revolution mit -- Sie wissen, für den Kenner gibt es nichts
Interessanteres -- acht Nächte haben sie daran gelesen, und doch hat
es nur 190 Seiten, und jedesmal ist die Gräfin um elf eingeschlafen.
Das Mädchen wußte mir Dank für das ›schläfrige Buch‹. Kommt, um Ihnen
nur noch ein Beispiel zu geben, kommt zu meinem großen Erstaunen der
alte Professor Wanzer, der über Mathematik liest, in meinen Laden.
Er habe seit zwanzig Jahren nichts Belletristisches mehr gelesen,
als zuweilen die Traueranzeigen im Merkur, und nun wünsche er doch
wieder eine Uebersicht über das zu bekommen, was einstweilen Gutes
geschrieben worden. Ich fragte ihn, ob er von Walter Scott etwas
gelesen? Er erinnerte sich, von dem berühmten Mann gehört zu haben,
und nimmt Ivanhoe mit, Ivanhoe, diese herrliche Geschichte! Den andern
Tag kommt er ganz verdrießlich, wirft mir ein paar Groschen und den
Scott auf den Tisch und sagt, die Rittergeschichten, die er in seiner
Jugend gelesen, seien bei weitem schöner gewesen; er sei schon über den
ersten Teil eingeschlafen; bitte Sie ums Himmels willen, über Ivanhoe
einzuschlafen!« -- »Aber wie hängt dies mit Ihren Beobachtungen über
die zweiten und dritten Teile zusammen?« unterbrach ich ihn.

»Nun, wir sprachen gerade von interessanten Büchern, und da kam ich
auf die Gräfin und den Professor. Kommt aber ein interessantes Buch
an den rechten Mann, so geht es, wie wenn ein Pferd flüchtig wird.
Abends war man im Theater oder in Gesellschaft, man hat nachher gut zu
Nacht gespeist und rüstet sich nun, zu Bette zu gehen. Die Lampe auf
dem Tische am Bette ist angezündet, das Mädchen oder der Bediente hat
einen ersten Teil zurechtgelegt, alles ist in Ordnung, nur der Schlaf
will nicht kommen. Man rückt die Lampe näher, man nimmt das Buch in
die Rechte, stützt den linken Ellbogen in die Kissen und schlägt das
Titelblatt auf. Sagt der Titel dem Leser zu, hat er sich über das
erste, oder, wie ich's nenne, Geburtsschmerzen-Kapitel hinübergewunden,
so geht es rasch vorwärts, die Augen jagen über die Zeilen hin, die
Blätter fliegen, und solch ein rechter Nachtleser reitet einen Teil
ohne Mühe in zwei Stunden hinaus. Gewöhnlich ist der Schluß der ersten
Teile eingerichtet wie die Schlußszenen der ersten Akte in einem Drama.
Der Zuschauer muß in peinlicher Spannung auf den nächsten Akt lauern.
Unzufrieden, daß man nicht auch den zweiten Teil gleich zur Hand
hat, und dennoch angenehm unterhalten, schläft man ein; den nächsten
Morgen aber fällt der erste Blick auf das gelesene Buch, man ist
begierig, wie es dem Helden, der am Schlusse des ersten Teils entweder
gerade ertrunken ist oder ein sonderbares Pochen an der Tür hörte und
soeben »herein!« rief, weiter ergehen werde, und wenn ich um acht
Uhr meinen Laden öffne, stehen die Johanns, Friederichs, Katharinen,
Babetten schon in Scharen vor der Türe, weil gnädiges Fräulein, ehe
sie eine englische Stunde hat, der Herr Rittmeister, ehe die Schwadron
spazieren reitet, die Frau Geheimrätin, ehe sie Toilette macht, noch
einige Kapitel im folgenden Teil des höchst interessanten Buches lesen
möchten.«


2. Geschmack des Publikums.

»O, daß ich auch einer der Glücklichen wäre,« dachte ich, als jetzt
die Leihbibliothek sich öffnete und ein Gemisch von bordierten
Bedientenhüten und hübschen Mädchengesichtern sich zeigte, »einer
jener Glücklichen, deren zweiter Teil mit so großer Sehnsucht erwartet
wird!« Nicht ohne Neid blickte ich auf die Bände, die der kleine
Bibliothekar mit der wichtigen Miene eines Bäckers zur Zeit einer
Hungersnot verteilte. -- Er hatte die dringendsten Kunden befriedigt,
das Geld oder die Leseschulden eingeschrieben, und ich konnte jetzt
eine wichtige Frage an ihn richten, die mir schon lange auf den Lippen
schwebte, die Frage über den Geschmack des Publikums.

»Er ist so verschieden,« antwortete er, »und ist oft so sonderbar als
der Geschmack an Speisen. Der eine will süße, der andere gesalzene; der
eine Seefische, Austern und italienische Früchte, der andere nahrhafte
Hausmannskost: in _einem_ Punkte stimmen sie aber alle überein, sie
wollen gut speisen.« -- »Das heißt?« -- »Sie wollen unterhalten
sein; natürlich jeder auf seine Weise.« -- »Aber wer ist der Koch,«
rief ich aus, »der für diese verschiedenen und verwöhnten Gaumen das
Schmackhafte zubereitet? Wie kann man es allen oder nur vielen recht
machen? Denn darin liegt doch der Ruhm des Autors.« -- »Sie sind nicht
so verwöhnt, als man glaubt,« entgegnete er; »die Mode tut viel, und
wenn nur die Schriftsteller fleißiger die Leihbibliotheken besuchten,
mancher würde finden, was ihm noch abgeht, oder was er zuviel hat. Kann
doch keiner ein guter Theaterdichter werden, der nicht mit der ganzen
Stadt vor seinem eigenen Stücke sitzt, aufmerksam zuschaut und lauscht,
was am meisten Effekt macht.«

Der Mann sprach mir aus der Seele; er hatte ausgesprochen, was auch ich
schon lange mir zugeflüstert hatte. »Die Leihbibliotheken studiere,
wer den Geist des Volkes kennen lernen will,« fuhr er mit Pathos
fort. »Sehen Sie einmal, Bester, jene lange Reihe von Bänden an; die
weißen Pergamentrücken sind so rein, als hätte man sie nie oder nur
mit Handschuhen angefaßt. Wer ist wohl der Autor, der so vergessen und
gleichsam in Ruhestand versetzt dort steht?«

Ich riet auf eine Reisebeschreibung oder auf ein naturhistorisches Werk.

»Letzteren Artikel führen wir gar nicht,« antwortete er wegwerfend;
»nein -- es ist Jean Paul.« -- »Wie!« rief ich mit Schrecken,
»ein Mann, der für die Unsterblichkeit geschrieben, sollte schon
jetzt vergessen sein? Hat er denn nicht alles in sich vereinigt,
was anzieht und unterhält, tiefen Ernst und Humor, Wehmut und
Satire, Empfindsamkeit und leichten Scherz?« -- »Wer leugnet dies?«
erwiderte der kleine Mann. »Alles hat er in sich vereint, um auch die
verschiedensten Gaumen zu befriedigen; aber er hat jene Ingredienzien
klein gehackt, wunderlich zusammengemischt und mit einer ~Sauce
piquante~ gekocht; als es fertig war und das Publikum kostete, fand
man es wohlschmeckend, delikat, aber es widerstand dem Magen, weil
niemand seine Kraftbrühen, den sonderbaren dunkeln Stil ertragen
konnte. Dort stehen alle seine Gerichte unberührt, und nur einige
Gourmands im Lesen nehmen hie und da ein Kampanertal oder einen Titan
nach Hause und schmecken allerlei Feines heraus, das ich und mein
Publikum nicht verstehen. Sehen Sie in jener Ecke die lange Reihe mit
den neuen grünen Schildchen? Das ist Herder; auch dieser -- doch hier
kommt ein lebendiges Beispiel die Straße herauf; kennen Sie Fräulein
Rosa von Milben?« -- »Gewiß; ich sah sie zuweilen und fand in ihr eine
Dame vom feinsten Geschmack und sehr belesen; zwar etwas empfindsam
und idealisch, aber dabei von einer liebenswürdigen Unbefangenheit.«
-- »Des Fräuleins Kammermädchen wird sogleich eintreten, und da haben
Sie die beste Gelegenheit, den feinen, empfindsamen Geschmack jener
Dame kennen zu lernen.« -- »Ich wollte erraten, von welcher Art ihre
Lektüre ist,« erwiderte ich, »etwa Rosaliens Nachlaß oder Jacobs'
Frauenspiegel, Tiedges Urania oder Agathokles von Karoline Pichler.« --
»Stellen Sie sich nur ruhig an jene Seite, wir werden sogleich sehen.«

Ich tat, wie er mir sagte; ich nahm ein Buch aus dem Schrank und
stellte mich, scheinbar mit Lesen beschäftigt, in eine Ecke. Das
Mädchen trat in das Gewölbe, richtete eine freundliche Empfehlung vom
gnädigen Fräulein aus, und sie lasse fragen, ob man denn No. 1629 noch
immer nicht haben könne?

»Nicht zu Hause,« antwortete er nach einem flüchtigen Blick auf die
Bücherschränke; »hier ist eine andere Nummer für Ihr Fräulein. Sie
soll sich gut unterhalten.« Das Mädchen ging. »Schnell einen Katalog,«
rief ich, als sich die Türe hinter ihr geschlossen hatte, »lassen Sie
mich sehen, was 1629 ist!« Mit ironischem Lächeln reichte mir der
Alte den Katalog; ich blätterte eilig, fand, und mein Herz erstarrte
vor Verwunderung, denn No. 1629 war -- »Leben und Meinungen Erasmus
Schleichers von Cramer!« -- »Wie! dieses, um wenig zu sagen, gemeine
Buch darf Fräulein Rosa, die liebenswürdige Einfalt, lesen?« sprach ich
unmutig. »Und wenn keine Gouvernante, keine Mutter ihre Lektüre ordnet,
darf sie sich selbst etwas solches erlauben? Doch es ist ein Irrtum,
die Zahlen sind falsch aufgeschrieben!« -- »Wertester Herr,« erwiderte
der Bibliothekar, »Sie trauen den Menschen zu viel Gutes zu. Hier ist
ein Zettelchen, das ich heimlich aus dem Körbchen des Kammermädchens
nahm, Erasmus Schleicher ist es und kein anderer; ~noscitur ex socio~
-- an deinem Kameraden kennt man dich; hier stehen die übrigen Nummern,
nach welchem das Herz des Fräuleins verlangt, vergleichen Sie!«

Zürnend nahm ich das Blättchen, auf welchem zierlich die Worte: »Für
Fräulein von Milben« und eine lange Reihe von Zahlen geschrieben
waren. Ich fing mit der ersten Nummer an und fand Leute, welchen
freilich die Nachbarschaft des alten Erasmus keine Schande brachte.
1585 der deutsche Alcibiades, 2139 der Geist Erichs von Sickingen und
seine Erlösung, 2995 Historien ohne Titel, 1544 der Blutschatz von H.
Clauren. 1531--40 Scherz und Ernst von H. Clauren. Nein, weiter mochte
ich diese Herzensgeheimnisse nicht entziffern. »Welche Heuchlerin ist
dieses Mädchen!« rief ich. »Das ist ihre Lektüre, und ich glaubte, sie
werde nur die Stunden der Andacht lesen!« -- »Da müßten Sie wahrhaftig
einen guten Teil unserer jungen Damen Heuchlerinnen nennen, denn
Clauren und Cramer und dergleichen sind ihre angenehmste Lektüre, und
daß sie nicht darüber sprechen, ist noch keine Heuchelei.« -- »Aber,
mein Gott, warum lesen denn wohlgezogene Leute so schlechte Bücher,
von welchen sie ohne Erröten nicht sprechen dürfen? Wahrhaftig, der
Umgang mit schlechten Büchern ist oft gefährlicher als der Umgang mit
schlechten Menschen.« -- »Warum?« entgegnete der Büchermann lachend,
»warum? Das ist nun einmal der _Geschmack der Zeit_.«


3. Der große Unbekannte.

Ein Bedienter unterbrach uns. »Die Frau Gräfin von Langsdorf läßt sich
ein Buch ausbitten;« sprach er.

»Was für eine Nummer?« -- »Das hat sie nicht gesagt. Aber ich glaube,
sie will eine Geistergeschichte.« -- »Geistergeschichte?« fragte der
kleine Bibliothekar, umhersuchend, »darf es auch eine Rittergeschichte
sein? Die Geister sind alle ausgeliehen.« -- »Ja, nur etwas recht
Schauerliches, das hat sie gerne,« erwiderte der Diener, »so wie das
letzthin, die schwarzen Ruinen oder das unterirdische Gefängnis, das
hat uns sehr gut gefallen.« -- »Liest Er denn auch mit?« sagte der
kleine Mann mit Staunen.

»Nachher, wenn die Frau Gräfin einen Band durch hat, lesen wir es
auch im Bedientenzimmer.« -- »Gut; will Er lieber das Geisterschloß,
die Auferstehung im Totengewölbe oder das feurige Racheschwert von
Hildebrandt?« -- »Da tut mir die Wahl weh,« erwiderte er; »was müssen
das für schöne Bücher sein! Nu -- ich will diesmal das feurige
Racheschwert nehmen, behalten Sie mir das Geisterschloß für das nächste
Mal auf.«

Kaum hatte sich der Diener der Gräfin, die gerne Schauergeschichten
las, entfernt, so trat gemessenen Schrittes ein Soldat ein.

»Für den Herrn Leutnant Flunker beim fünfzehnten Regiment den blinden
Torwart vom alten Schott?« -- »Freund, hat Er auch recht gehört?«
fragte der Leihbibliothekar. »Den blinden Torwart vom alten Schott?
Ich kenne keinen Autor dieses Namens.« -- »Es soll auch kein Auditor
sein,« entgegnete der Soldat vom fünfzehnten, »sondern ein Buch; der
Herr Leutnant sind auf der Wache und wollen lesen.« -- »Wohl! Aber vom
alten Schott? Es steht weder ein alter noch ein junger im Katalog.«
-- »Es ist, glaub' ich, derselbe, der so viel gedruckt hat, und den
sich alle Korporals und Wachtmeister um zwei gute Groschen gekauft
haben.« -- »Walter Scott!« rief der Kleine mit Lachen, »und das Buch
wird Quentin Durward heißen.« -- »Ach ja, so wird es heißen!« sprach
der Soldat. »Aber ich darf den Herrn Leutnant nichts zweimal fragen,
sonst hätte ich wohl den Namen gemerkt, und er hat sich das undeutliche
Sprechen vom Kommandieren angewöhnt.« Er empfing seinen blinden
Torwart und ging. Aber der Himmel hatte ihn in diesem Augenblick in
die Leihbibliothek gesandt, und seine Worte hatten einen Lichtstrahl
in meine Seele geworfen. »So ist es denn wahr,« sprach ich, »daß die
Werke dieses Briten beinahe so verbreitet sind als die Bibel, daß alt
und jung und selbst die niedrigsten Stände von ihm bezaubert sind?«
-- »Gewiß, man kann rechnen, daß allein in Deutschland sechzigtausend
Exemplare verbreitet sind, und er wird täglich noch berühmter. In
Scheerau hat man jetzt eine eigene Uebersetzungsfabrik angelegt, wo
täglich fünfzehn Bogen übersetzt und sogleich gedruckt werden.« -- »Wie
ist das möglich?« -- »Es scheint beinahe so unmöglich, als daß Walter
Scott diese Reihe von Bänden in so kurzer Zeit sollte geschrieben
haben; aber es ist so, denn erst vor kurzer Zeit hat er sich öffentlich
als Autor bekannt; die Fabrik habe ich aber selbst gesehen.« -- »Wird
vielleicht durch Verteilung der Arbeit Zeit gewonnen?« fragte ich.
-- »Einmal dies,« entgegnete er, »und sodann wird alles mechanisch
betrieben; der Professor Lux ist sogar gegenwärtig beschäftigt, eine
Dampfmaschine zu erfinden, die Französisch, Englisch und Deutsch
versteht, dann braucht man gar keine Menschen mehr. Die Fabrik ist aber
folgendermaßen beschaffen: Hinten im Hof ist die Papiermühle, welche
_unendliches Papier_ macht, das schon getrocknet wie ein Lavastrom
in das Erdgeschoß des Hauptgebäudes herüberrollt; dort wird es durch
einen Mechanismus in Bogen zerschnitten und in die Druckerei bis unter
die Pressen geschoben. Fünfzehn Pressen sind im Gang, wovon jede
täglich zwanzigtausend Abdrücke macht. Nebenan ist der Trockenplatz
und die Buchbinder-Werkstätte. Man hat berechnet, daß der Papierbrei,
welcher morgens fünf Uhr noch flüssig ist, den anderen Morgen um elf
Uhr, also innerhalb dreißig Stunden, ein elegantes Büchlein wird. Im
ersten Stock ist die Uebersetzungsanstalt. Man kommt zuerst in zwei
Säle; in jedem derselben arbeiten fünfzehn Menschen. Jedem wird morgens
acht Uhr ein halber Bogen von Walter Scott vorgelegt, welchen er bis
mittags drei Uhr übersetzt haben muß. Das nennt man dort: ›aus dem
Groben arbeiten‹. Fünfzehn Bogen werden auf diese Art jeden Morgen
übersetzt. Um drei Uhr bekommen diese Leute ein gutes Mittagbrot. Um
vier Uhr wird jedem wieder ein halber Bogen gedruckte Uebersetzung
vorgelegt, die durchgesehen und korrigiert werden muß.« -- »Aber was
geschieht denn mit den übersetzten Bogen vom Vormittag?« -- »Wir werden
es sogleich sehen. An die zwei Säle stoßen vier kleine Zimmer. In
jedem sitzt ein Stilist und sein Sekretär; Stilisten nennt man dort
nämlich diejenigen, welche die Uebersetzungen der dreißig durchgehen
und aus dem Groben ins Feine arbeiten; sie haben das Amt, den Stil zu
verbessern. Ein solcher Stilist verdient täglich zwei Taler, muß aber
seinen Sekretär davon bezahlen. Je sieben bis acht Grobarbeiter sind
einem Stilisten zugeteilt; sobald sie eine Seite geschrieben haben,
wird sie dem Stilisten geschickt. Er hat das englische Exemplar in der
Hand, läßt sich vom Sekretär das Uebersetzte vorlesen und verbessert
hier oder dort die Perioden. In einem fünften Zimmer sind zwei
poetische Arbeiter, welche die Mottos über den Kapiteln und die im Text
vorkommenden Gedichte in deutsche Verse übersetzen.«

Ich staunte über diesen wunderbaren Mechanismus und bedauerte nur, daß
die dreißig Arbeiter und vier Stilisten notwendig ihr Brot verlieren
müssen, wenn der Professor Lux die Uebersetzungsmaschine erfindet.

»Gott weiß, wie es dann gehen wird,« antwortete der kleine Mann; »schon
jetzt kostet das Bändchen in der Scheerauer Fabrik nur einen Groschen;
in Zukunft wird man zwei Bändchen um einen Silbergroschen geben, und
alle vier Tage wird eins erscheinen.«


4. Besuch im Buchladen.

Mein Entschluß stand fest; einen historischen Roman ~à la~ Walter
Scott mußt du schreiben, sagte ich zu mir, denn nach allem, was man
gegenwärtig vom Geschmack des Publikums hört, kann nur diese und keine
andere Form Glück machen. Freilich kamen mir bei diesem Gedanken noch
allerlei Zweifel; ich mußte die Werke dieses großen Mannes nicht nur
lesen, sondern auch studieren, um sie zu meinem Zweck zu benutzen. Ein
dritter und der mächtigste Zweifel war, ob ich einen Verleger bekommen
würde. Ich beschloß daher, ehe ich mich an das Werk selbst machte, die
Wege kennen zu lernen, die man bei solchen Geschäften zu gehen hat.
Den Buchhändler Salzer und Sohn kannte ich von der Harmonie her; ich
steckte zwei Taler zu mir, um ein Buch bei ihm zu kaufen und so seine
nähere Bekanntschaft zu machen.

»Ein schönes Buch für zwei Taler?« fragte er. »Was soll es sein?
Gedichte?« -- »Erzählungen oder ein Roman, Herr Salzer.« -- »Um
diesen Preis werden Sie nichts Schönes finden,« erwiderte er lachend;
»doch hier ist der Katalog.« -- »Wie? Nichts Schönes um zwei Taler,
und doch kostet ein Roman von Walter Scott nur zwanzig Groschen!« --
»Wenn Sie Uebersetzungen haben wollen,« sagte er; »ich dachte, Sie
wollten Originale.« -- »Aber, mein Gott,« entgegnete ich, »wenn ein
guter Roman aus einer anderen Sprache nur zwanzig Groschen kostet,
warum hält man denn die deutschen Bücher so teuer?« -- »Meinen
Sie,« erwiderte er unmutig, »wir werden auch noch die Originale um
einen Spottpreis wegwerfen? Diese Uebersetzungen, diese wohlfeilen
Preise werden uns ohnedies bald genug ruinieren. Was ist denn jetzt
schon unser schöner Buchhandel geworden? Nichts als ein Verkaufen
im Abstreich; alles soll wohlfeil sein, und so wird alles schlecht
und in den Staub gezogen. In jeder Ecke des Landes sitzt einer, der
mit wohlfeiler Schnittware handelt, und wir anderen, die uns noch
dem Verderben entgegenstemmen, gehen darüber zu Grunde.« -- »Aber
wie kann denn diese Veränderung des Handels so großen Einfluß auf
Originale oder auf die Buchhandlung üben?« -- »Wie?« fuhr er eifrig
fort. »Wie? Es ist so klar als die Sonne; das Publikum wird dadurch
verdorben und verwöhnt! Ich streite Scott und den beiden Amerikanern
ihr Verdienst nicht ab; sie sind im Gegenteil leider zu gut. Aber jedes
Nähtermädchen kann sich für ein paar Taler eine Bibliothek klassischer
Romane anschaffen. Unnatürlich schnell hat sich die Sucht nach dieser
Art von Dichtungen verbreitet, und hunderttausend Menschen haben jetzt
durch diese Groschenbibliotheken einen Maßstab erhalten, nach welchem
sie eigensinnig unsere deutschen Produkte messen.« -- »Um so besser
für die Welt; wird denn nicht dadurch die Intelligenz und der gute
Geschmack verbreitet und das Schlechte verdrängt?« -- »Intelligenz
und Geschmack, das Bändchen um neun Kreuzer rheinisch!« rief er aus.
»O, ich kenne diese schönen Worte! Guter Geschmack! Als ob nur die
Leute über dem Kanal guten Geschmack hätten! Intelligenz! Meinen Sie
denn, die Menschen denken dadurch vernünftiger, daß sie jetzt alle
selbst rezensieren und sagen: Es ist doch nicht so schön als Walter
Scott und Cooper, und nicht so tief und witzig als Washington Irving?
Und welcher Segen für unsere Literatur und den Buchhandel wird aus
diesem Samen hervorgehen, den man so reichlich ausstreut? Verkehrtheit
der Begriffe und einige schlechte Nachahmungen (wie ich mich schämte
bei seinen Worten!) und überdies unser Ruin. Die Schriftsteller
verlangen immer stärkere Honorare; wofür man sonst einen Louisdor
zahlte, will man jetzt fünf, und im umgekehrten Verhältnis werden die
Bücher weniger gesucht als jemals. Ueberdies hat auch diese Herren
Walter Scotts Fruchtbarkeit angesteckt. Sie sind jetzt sparsam mit
Gedanken und verschwenderisch mit Worten. Gedanken, Szenen, Gemälde,
die man sonst in den engen Rahmen eines Bändchens fügte, werden
auseinandergezogen in zehn, zwölf Bände, damit man mehr Geld verdiene,
und was früher vier, fünf hübsche Verse gegeben hätte, wächst jetzt
in holperiger Prosa zu ebensovielen Seiten an.« -- »Also geht die
gereimte Poesie nicht mehr?« -- »Wer will sie kaufen? Privatleute?
die sehen vornehm herab und nennen alles Verselei; Gelehrte? die
bekommen es vom Autor, damit sie ihn desto gnädiger rezensieren
möchten; Leihbibliotheken? die führen nur Romane, weil sie ihr Publikum
kennen. Und diese Leihbibliotheken sind noch unser Unglück. Jedes
Städtchen hat ein paar solcher Anstalten. Das Publikum denkt, warum
sollen wir für ein Buch so viel Geld wegwerfen, wenn wir es in der
Leihbibliothek lesen können. Man kauft sich Groschenübersetzungen
oder wohlfeile Taschenausgaben, um doch eine Bibliothek zu haben,
und der Buchhändler, der ein Buch verlegen will, kann also höchstens
noch auf fünfhundert Leihbibliotheken rechnen. Und wenn heute wieder
ein Goethe oder Schiller geboren würde, man könnte keine fünfhundert
Exemplare absetzen, das Publikum hat Glauben, Vertrauen und Lust
an unserer Literatur verloren.« -- »Und von alledem sollten Scott
und die Taschenausgaben die Schuld tragen?« -- »Ja! und diese
unselige Zersplitterung durch alle Zweige ist auch mit schuld! Die
Schriftsteller zersplittern ihr Talent in Almanache und Zeitschriften,
weil sie dort gut bezahlt werden; das Publikum zersplittert sein
Geld für diese Luxuswaren, weil sie Mode geworden sind; wir selbst
überbieten uns; jeder will einen Almanach, eine Zeitschrift haben; und
diese Taschenkrebse sind es, die unsere Krebse erzeugen.« -- »Aber,
Herr Salzer,« sagte ich zu dem Unmutigen, »warum schwimmen Sie gegen
den Strom? Warum veranstalten Sie nicht selbst Taschenausgaben? Warum
unternehmen Sie keine Zeitschrift? Oder schämen Sie sich vielleicht,
selbst mitzumachen?« -- »Schämen würde ich mich eigentlich nicht,«
erwiderte er nach einigem Nachdenken. »Was ein anderer tut, kann Salzer
und Sohn auch tun. Aber ehrlich gestanden, ich fürchte, mit einer
Zeitschrift zu spät zu kommen; und wer soll sie schreiben? Etwas Neues
muß heutzutage neu, auffallend, pikant sein, wenn es Glück machen
soll; so habe ich mich schon lange umsonst auf einen ausgezeichneten
Titel besonnen, denn der Titel muß jetzt alles tun. Hätte ich nur hier
einige tüchtige Männer vom Fache, eine kritische oder belletristische
Zeitschrift sollte bald dastehen; denn ich bin ein _unternehmender
Geist_ so gut als einer.«


5. Der unternehmende Geist.

»Man hat jetzt Morgen-, Mittag-, Abend- und Mitternachtblätter, man
hat alle Götter- und Musentitel erschöpft, man sieht sich genötigt,
zu den sonderbarsten Namen Zuflucht zu nehmen, will man Aufsehen
machen, denn nur der neue Klang ist es, der das Alte, längst Gewöhnte
übertönt, und jeder Vernünftige sieht ein, daß eine neue Zeitschrift
nicht an und für sich besser ist als die alten. Erzählungen, Gedichte,
Kritiken finden sich hier wie dort, und gute Mitarbeiter werden nicht
zugleich mit dem Namen des Blattes erfunden.« -- »Aber, Herr Salzer,«
erwiderte ich, »warum verlassen denn die Menschen oft die längst
bekannten Zeitschriften, um auf ein paar Probeblätter hin eine neue
anzuschaffen?« -- »Das liegt ganz in unserer Zeit; Veränderung macht
Vergnügen, und neue Besen kehren gut,« antwortete er; »so ist einmal
das Publikum, wetterwendisch, und weiß nicht warum. Kleider machen
Leute, und eine hübsche Vignette, ein auffallender Titel tun in der
Lesewelt so viel als eine neue Mode in einer Assemblee. Wer diesen
Charakter der Menschen recht zu nützen versteht, kann in jetziger
Zeit noch etwas machen; hätte ich nur einen Titel!« -- »Da unsere
Zeitschriften gegenwärtig so vielseitig sein müssen,« sprach ich, »was
denken Sie zu dem Titel: ›Literarisches Hühnerfutter‹?« -- »Wäre nicht
so übel; man könnte in der Vignette das Publikum als ein Hühnervolk
darstellen, welchem von der Muse kleingeschnittenes Futter vorgestreut
wird; aber es geht doch nicht! In dem Futter könnte eine Beleidigung
liegen, weil es schiene, als wollte man das Publikum mit dem Abfall von
dem großen Mittagstisch der Literatur füttern; geht nicht!« -- »Oder
etwa -- ›die Abendglocke‹.« -- »Abendglocke? Wahrhaftig! Ei, das ließe
sich hören! Es liegt so etwas Sanftes, Beruhigendes in dem Wort. Will
mir doch den Gedanken bemerken; aber ein kritisches Beiblatt müßte
dazu; ich habe schon gedacht, ob man es nicht ›der Destillateur‹ nennen
könnte.« -- »Es liegt etwas Wahres in Ihrer Idee,« entgegnete ich, »die
Bücher werden allerdings neuerer Zeit durch einen chemischen Prozeß
rezensiert oder abgezogen; man destilliert so lange, bis sich das X
Geist, das man suchte, verflüchtigt, oder bis der gelehrte Chemiker der
Welt anzeigen kann, aus welchen verschiedenen Bestandteilen das Gebräue
bestand, das er zersetzte; aber das Blatt röche doch zu sehr nach einer
Materialhandlung oder nach gebrannten Wassern; was aber halten Sie von
einem ›kritischen Schornsteinfeger‹?«

Der Buchhändler sah mich eine Zeitlang schweigend an und umarmte mich
dann voll Rührung. »Ein Fund, ein trefflicher Fund!« rief er; »was
liegt nicht alles in diesem einzigen Wort! die deutsche Literatur
stellt den Kamin vor, unsere Rezensenten die Schornsteinfeger, sie
kratzen den literarischen Ruß ab, damit das Haus nicht in Brand
gerate. Ein Oppositionsblatt soll es werden, Aufsehen muß es machen,
das ist jetzt die Hauptsache; der kritische Schornsteinfeger! Und die
Kunstkritiken geben wir unter dem vielversprechenden Titel: ›_Der
artistische Nachtwächter!_‹« Hastig schrieb er sich den Namen auf
und fuhr dann fort: »Herr! Sie hat mein Schutzengel in meinen Laden
geführt; wenn ich so hinter meinem Arbeitstisch sitze, bin ich wie
vernagelt, aber schon oft habe ich bemerkt, wenn ich mich ausspreche,
kommen mir die Gedanken wie ein Strom. So, als Sie vorhin von Walter
Scott und seinem Einfluß sprachen, ging mir mit einemmal eine herrliche
Idee in der Seele auf. Ich will einen deutschen Walter Scott machen.«
-- »Wie? Wollten Sie etwa auch einen Roman schreiben?« -- »Ich? o
nein, ich habe Besseres zu tun; und _einen_? nein, zwanzig! Wenn ich
nur meine Gedanken schon geordnet hätte. Ich will mir nämlich einen
großen Unbekannten verschaffen, dieser soll aber niemand anders sein
als eine Gesellschaft von Romanschreibern; verstehen Sie mich?« --
»Noch ist mir nicht ganz klar, wie Sie --« -- »Mit Geld kann man
alles machen; ich nehme mir etwa sechs oder acht tüchtige Männer,
die im Roman schon etwas geleistet haben, lade sie hierher ein und
schlage ihnen vor, sie sollen zusammen den Walter Scott vorstellen.
Sie wählen die historischen Stoffe und Charaktere aus, beraten sich,
welche Nebenfiguren anzubringen wären, und dann --« -- »O, jetzt
verstehe ich Ihren herrlichen Plan; dann errichten Sie eine Fabrik,
etwa wie jene in Scheerau. Sie lassen sich Kupferstiche von allen
romantischen Gegenden Deutschlands kommen; die Kostüme alter Zeiten
kann man von Berlin verschreiben; Sagen und Lieder finden sich in des
Knaben Wunderhorn und anderen Sammlungen. Sie setzen ein paar Dutzend
junger Leute in Ihr Haus; die _Sechseinigkeit_, der neue Unbekannte,
gibt die Umrisse der Romane, hie und da zeichnet und korrigiert er an
einem großartigen Charakter; die vierundzwanzig oder dreißig anderen
aber schreiben Gespräche, zeichnen Städte, Gegenden, Gebäude nach der
Natur --« -- »Und,« fiel er mir freudig ins Wort, »weil der eine mehr
Talent für Gegendmalerei, der andere mehr für Kostüme, der dritte für
Gespräche, ein vierter, fünfter fürs Komische, andere wieder mehr
für das Tragische --« -- »Richtig! so werden die jungen Künstler in
Gegendmaler, Kostümschneider, Gesprächführer, Komiker und Tragiker
eingeteilt, und jeder Roman läuft durch aller Hände, wie die Bilder bei
Campe in Nürnberg, wo der eine den Himmel, der andere die Erde, jener
Dächer, dieser Soldaten zeichnet, wo der erste das Grün, der zweite das
Blau, der dritte Rot, der vierte Gelb malen muß nach der Reihe. Und
Einheit, Gleichförmigkeit wird dadurch erreicht, gerade wie in Walter
Scott, wo alle Figuren offenbar Familienähnlichkeit haben; und eine
Taschenausgabe veranstalten wir davon, so wohlfeil als nur möglich;
auf vierzigtausend können wir rechnen. Und der Titel soll heißen: _Die
Geschichte Deutschlands von Hermann dem Cherusker bis 1830 in hundert
historischen Romanen!_«

Herr Salzer vergoß einige Tränen der Rührung. Nachdem er sich wieder
erholt hatte, drückte er mir die Hand. »Nun? bin ich nicht ein so
unternehmender Geist als irgend einer?« sprach er. »Was wird dies
Aufsehen machen! Aber Sie, Wertgeschätzter, waren mir behilflich,
diesen Riesengedanken zu gebären; suchen Sie sich das schönste Buch in
meinem Laden aus, und zum Dank sollen Sie -- einer der Vierundzwanzig
sein!«


6. Schluß.

So war ich denn durch mein günstiges Geschick in kurzem dahin gelangt,
wohin ich mich so lange gesehnt hatte. Jetzt hatte ich nicht mehr
nötig, die Leute und ihren Geschmack in einer Leihbibliothek zu
studieren, hatte nicht mehr nötig, ängstlich nach Plan und Anordnung
eines Werkes oder gar nach vortrefflichen Gedanken umherzusuchen;
ich war ein Glied, ein Finger des neuen Unbekannten geworden, durfte
schreiben nach Lust und mein Geschriebenes gedruckt lesen. Es ist
bekannt, welch großen Erfolg das Unternehmen des Herrn Salzer hatte,
und schon längst ist es kein Geheimnis mehr für die Welt, aus welchen
Bestandteilen eigentlich der große Unbekannte bestand. Es konnte uns
nur schmeicheln, daß man anfänglich auf berühmte und vorzügliche
Schriftsteller riet, wie z. B. auf den Professor Lux, der indessen
seine Uebersetzungsmaschine erfand, den Dichter F. Kempler und andere
Treffliche, ja, daß man einen Augenblick sogar Willibald Alexis, trotz
seiner bekannten Abneigung gegen die deutsche Geschichte, im Verdacht
hatte. Längst haben sich jene sehr verdienstvollen Herren genannt, die
das Direktorium gebildet haben, und mir bleibt nur noch übrig, einiges
von dem Anteil zu erzählen, welchen ich selbst an dem Unternehmen hatte.

Weil ich einige Teile Deutschlands genau kannte, erhielt ich zuerst
eine Stelle unter den Gegendmalern. Leider schrieb ich aber in dem
Roman _das Konzilium in Konstanz_: »Leicht und schwebend trug sie der
Kahn an den rebenbepflanzten Hügeln hin von _Basel_ nach _Konstanz_ --«
diese Stelle wurde, von den sechs Direktoren übersehen, gedruckt, und
die Rezensenten und das ganze Publikum wunderten sich höchlich, daß man
damals den _Rheinfall hinauf_ gefahren sei, und zur Strafe wurde ich
in die Klasse der Gesprächführer versetzt. Gespräche in Wirtshäusern,
auf Straßen und Märkten, Händel und Wortstreit wurden mir zugeteilt. In
dieser Eigenschaft blieb ich, bis einer der sentimental und heroisch
Sprechenden einen großen Fehler machte. Er sagte nämlich: »Die Wolken
zogen bald _vor_, bald _hinter dem Mond_;« vergebens berief er sich
auf die Autorität eines Herrn S..., aus dessen _historischem Roman_
er diese herrliche Stelle entlehnt habe; man erklärte die Worte für
widersinnig, weil die Wolken nicht _hinter dem Mond_ vorbeiziehen, und
setzte ihn ab; seine Stelle fiel mir zu. In diesem Fache leistete ich
mehr als in den beiden andern. So ist z. B. der größte Teil des Romans:
»_Der Dom zu Aachen oder die Paladine Karls des Großen_« von meiner
Hand. Auch in »_Barbarossa oder die Hohenstaufen_« habe ich etwa zehn
Kapitel geschrieben. Meine letzte Arbeit vor Auflösung des Unternehmens
war das achte, neunte und fünfzehnte Kapitel in der »_Schlacht von
Kunersdorf_«.

Man hat viel über und gegen dieses großartige Unternehmen, das ich,
wiewohl zufällig, ins Leben rief, geschrieben und gesprochen. Wenn
man bedenkt, daß in der kurzen Zeit von zwei Jahren fünfundsiebzig
Bände oder fünfundzwanzig Romane aus der Fabrik des deutschen
Unbekannten hervorgingen, so muß man zum mindesten den Fleiß und die
Ausdauer der Teilnehmer bewundern. Man hat vorgeworfen, daß einige
geschichtliche Charaktere gänzlich verzeichnet seien, daß sogar
bedeutende Anachronismen vorkommen; aber wie kraftlos erscheint ein
solcher Vorwurf gegen die übrigen Vorzüge des Unternehmens! Sind nicht
alle Gegenden so treu geschildert, daß man sieht, man habe nicht die
Natur, sondern wirkliche Gemälde abgezeichnet? Haben wir nicht bei
den Kleidungen unserer Helden und Damen die Kostüme des pünktlichsten
und genauesten Theaters von Europa als Vorlegeblätter vor uns gehabt?
Hat nicht Herr Salzer mit schwerem Gelde allerlei altertümliches
Hausgerät aus Burgen und Rüstkammern gekauft, damit wir desto richtiger
zeichneten?

Das ist historische Wahrheit und Treue, und das ist es auch, was das
Publikum verlangt; das übrige, genaue Beachtung der geschichtlichen
Charaktere oder Zeiten ist nur Nebensache; Kleider, Schuhe, Stühle,
Häuser usw. wird man in allen fünfundsiebzig Bänden niemals unwahr
finden. Daß nach zwei Jahren schon diese Art von Darstellungen aus
der Mode kam, war nicht unsere Schuld; aber leider scheiterte das
schöne Unternehmen an der Veränderlichkeit des Publikums. Aus der
Mode entstand das Ganze, und mit dem günstigen Wind dieser Mode
segelten wir auf dem Strom der Geschichte, und unser Wahlspruch war:
»Verletzet eher die Wahrheit der Geschichte, verzeichnet lieber einen
historischen Charakter, nur sündiget nie gegen die Mode der Zeit und
den herrschenden Geschmack des Publikums.«



Freie Stunden am Fenster.

        ~Laetus sorte tua vives sapienter.~

            ~_Horatius_.~


1.

Mein Onkel war gestorben; er hinterließ ein hübsches Vermögen, das
meinen heimlichen Kummer wieder stillen konnte; aber er hatte es
einer Witwe vermacht, die er noch in seinen alten Tagen gern gesehen.
Ich erklärte, der Wille des Seligen sei mir zu heilig, als daß ich
ihn umstoßen möchte, d. h. die Advokaten hatten mir gesagt, daß ich
den Prozeß in allen Instanzen verlieren würde; aber die ganze Stadt
pries meinen Edelmut. Sie hatte gut loben, die ganze Stadt; Loben
kostet nichts, aber um so viele Hoffnungen betrogen, um das ganze
Vermögen des Onkels ärmer zu sein, das war hart! Ich habe in meiner
Jugend im Kinderfreund gerne ein Stück gelesen, es hieß: »Edelmut in
Niedrigkeit«; nachher hat mich oft ein anderes: »Armut und Edelsinn«
bis zu Tränen gerührt. -- War es vielleicht die Ahnung, daß ich einst
diese Rolle selbst spielen müsse, was mir Tränen auspreßte? Meinen
einzigen Trost, meine süße Hoffnung, die Tante in Leipzig, rührte vor
vier Wochen der Schlag. Ich, ihr nächster Leibeserbe, machte bei dieser
Nachricht bedeutende Einkäufe in schwarzem Tuch, zog einen ganz neuen
Menschen an, und meine Bekannten wußten sich diesen Aufwand nicht
zu erklären. Die Tante hat ihre Taler einem ganz fremden Menschen
vermacht. Ich dachte anfänglich, aus Haß gegen mich, weil ich einmal
geäußert: _die Zeitung für gebildete und noble Menschen_ sei schlechtes
Zeug, sie aber hatte alles trefflich und genial gefunden; aber nein,
es verhielt sich anders. Die Tante, ich erfuhr es erst vor einigen
Tagen, die selige Tante war Schriftstellerin gewesen. Unter dem Namen
Idoina Strahlen hatte sie in die Zeitung für noble etc. Erzählungen,
Aphorismen aus ihrem Leben, Romanzen und dergleichen geliefert. Ja,
sie hatte sogar Romane für Leihbibliotheken geschrieben; wer kennt
nicht »Lisbethas letzte Seufzer« in Duodez; »Die Mohrenschlacht oder
die grausamen Herzen, eine spanische Geschichte«; wem ist nicht »Meine
erste Liebe oder der blutige Säbel« bekannt? Ich hatte sie oft auf die
Seite geworfen, wenn sie mir nebst anderer dergleichen Ware in die
Hände fielen; konnte ich denken, daß sie mich um mein Erbe bringen
würden? Idoina las alle ihre Produkte einem Magister vor, der sie
~quoad stylum~ korrigierte, reinlich abschrieb, an die Zeitung für
noble etc. oder an die Verleger verschickte und, wenn sie erschienen
waren, in sechs oder acht Journalen günstig rezensierte. Es konnte
nicht fehlen -- die selige Tante hinterließ ihm ihren Mammon.

Das neue Kleid war gekauft und konnte nicht mehr ungekauft gemacht
werden; ich verkaufte mein Piano, um jenes zu bezahlen. Es war gut, daß
nicht noch etwas Schwereres zu vergüten war. Als mir nämlich die Kunde
von dem Tod der seligen Idoina kam, als ich mich im neuen Kleide vor
dem Spiegel musterte, fand ich, daß ich gut genug zu einem Ehemanne
aussehe. Wenn ich nicht irrte, so mochte dies auch des Oberhofmeisters
Trinette finden. Ich hatte Aussichten, gemächlich mit einer Frau leben
zu können; ich las aufrichtige Liebe in ihren schönen, braunen Augen;
ich wollte endlich einen Schritt vorwärts tun, da kam die Leipziger
Post, der Magister hatte das Erbe, und ich -- blieb stehen, ich ging
rückwärts. Jetzt erst war ich arm, denn ich hatte keine Hoffnung mehr.
Ich dachte ernstlich über meine Stellung in der Welt nach und fand,
daß ein armer Teufel eine um so traurigere Rolle spiele, je weiter er
oben steht. Moreaus Rückzug wird für das Glänzendste gehalten, was
dieser große General getan hat. An mir war es jetzt, eine ähnliche
Operation zu machen; ich mußte mich ohne Schande aus den Salons
zurückziehen, mein Rückzug mußte einem Siege gleichen, wenn ich mir das
Erröten ersparen wollte. Man kann sich denken, daß ich am schwersten
daran kam, jene treffliche Stellung zu verlassen, die ich gegen die
Bastion Trinette eingenommen hatte. Meine Vorposten waren schon so weit
vorgeschoben, daß sie täglich mit dem Feinde plänkelten, ich war daran,
die Laufgräben zu eröffnen, es war mathematisch gewiß, daß ich siegen
mußte; wer hat eine solche Stellung nicht mit einer Träne im Auge
aufgegeben?

Aber mein Rückzug war meisterhaft; es fand sich eine Gelegenheit, gegen
Trinette den Eifersüchtigen zu spielen; ich erschien einige Abende
bei den fröhlichsten Soupers, bei den glänzendsten Bällen düster und
in mich gekehrt, es fiel auf, und jetzt hatte ich gewonnen. »Er ist
melancholisch,« sagte die ganze Stadt; ich war melancholisch, denn ich
hatte ja nichts mehr, um die Freude zu bezahlen, die Melancholie kann
man aber umsonst haben. Ich gab meine vier Zimmer in der Hauptstraße
auf und bezog ein kleines Stübchen in einem entlegenen Teile der Stadt.
»Nein, wie er melancholisch ist!« sagten die Leute. Ich speiste sonst
im ersten Gasthof; jetzt ließ ich mir die Speisen aus einer Garküche
bringen. »Er ist ein Narr,« war das Urteil der Welt, und jeder, der
mich sah, fragte mich teilnehmend, wie es mir gehe? Die Ehre war
gerettet; ich wollte lieber für einen Narren, für melancholisch -- als
für einen armen Teufel gelten.

Es wohnt sich übrigens ganz gut in dem kleinen Stübchen. Die einzigen
Möbel, die mir gehören, sind ein großer Fauteuil, ich konnte es nicht
übers Herz bringen, ihn zu verkaufen, denn meine gute Mutter war
darin verschieden; das andere war ein Schreibtisch, der beinahe ein
Drittel des Stübchens einnahm -- mein Vater hatte daran gearbeitet.
Anfangs vermißte ich mein Piano sehr ungern. Es gab in meinem Tag so
manche freie Stunde, die ich mir mit Musik verkürzt hatte. Aber bald
entdeckte ich ein Möbel, das mir noch größern Genuß verschaffte als
das Klavier; es war mein Fenster. Mein Stübchen lag im zweiten Stock;
ich konnte, wenn ich mein Opernglas zu Hilfe nahm, ganz bequem in die
Etage meiner Nachbarn schauen; ich lernte beobachten, und stundenlang
saß ich an meinem Fenster. Ich komme mir oft vor wie der Ritter
Toggenburg. Es ist zwar kein Nonnenkloster, dem gegenüber ich mein
Hauswesen aufgeschlagen habe; aber doch schaue ich vielleicht mit nicht
geringerer Andacht nach dem schönen, zweistöckigen Haus und lausche,
bis ein Fenster klingt und ich auch Worte vernehme. Auch bleibe ich so
nach und nach ein Junggeselle wie der melancholische Ritter, doch soll
mich Gott bewahren, daß ich darüber das bißchen Geist aufgebe wie der
Toggenburger, und es wäre mir höchst fatal, wenn man von mir sagte:

    »Und so saß er, eine Leiche,
    Eines Morgens da,
    Nach den Fenstern noch das bleiche,
    Stille Antlitz sah.«


2. Die Liebe parterre.

»Christel!« sagte ich am Morgen, nachdem ich mich eingerichtet hatte,
zu der alten Aufwärterin, die mir den Kaffee brachte, »Christel, wer
wohnt da gegenüber in dem breiten Hause?« -- »Parterre wohnt der
Schuhmacher Rupfer, mitten die gnädige Frau, und oben der Doktor und
der Leutnant.« -- »Nicht so schnell, Christel, nicht so schnell, da
weiß ich so viel als vorher; wem gehört das Haus?« -- »Dem Schuhmacher,
daß mir's Gott verzeih'!« antwortete sie. »Ist es nicht eine Sünde,
daß ein Schuhmacher einen solchen Palast hat? Das kommt aber alles von
der Russenzeit. Da hat ihm sein Vetter, der Kriegsrat-Kanzelist, eine
Schuhlieferung verschafft, und weil die Russen bekanntlich große Füße
haben, so --« -- »So war auch der Abfall groß, natürlich; aber wie
sind die Leute? Der Meister scheint früh auf zu sein, ich sah schon um
fünf Uhr Licht; auch einige Mädchen glaubte ich zu bemerken.« -- »Der
Alte um fünf Uhr auf?« rief Christel mit wegwerfender Miene. »Ja, dem
tut's not; der lebt wie ein großer Herr seit der Russenzeit und steht
vor acht Uhr nicht auf. Sie werden schon merken, wann er aufsteht.
Geht ein rechtes Geschrei los in der Werkstatt, hören Sie einen Mann
schimpfen und die Mädchen heulen, so ist der Alte aufgestanden; das
ist alle Tage, die Gott gibt, sein Morgenlied.« -- »Wer arbeitet denn
aber so früh am Tag in der Werkstatt? Sind die Mädchen so fleißig?«
-- »Wie man will;« erwiderte sie, »es ist eigentlich der Pariser, der
Geselle des Schuhmachers, und Brenners Karlchen, der Lehrjunge; diese
arbeiten vom frühesten Morgen; aber auch Mamsell Karoline, die größere
mit den schwarzen Augen, ist mit der Torglocke auf. Früher hätte man
sie nicht mit zehn Pferden aus dem Bette gebracht; aber seit der
Pariser im Haus ist, steht man alle Morgen schon um fünf Uhr auf; das
macht, sie lebt mit ihm in einem unchristlichen Verhältnis.« -- »Und
im ersten Stock wohnt die gnädige Frau? Wie heißt sie denn? Hat sie
Familie?« -- »Es ist die Frau Oberforstmeisterin von Trichter. Der Mann
ist gestorben, sie hat zwei Fräulein und einen ungeratenen Sohn. Sie
tun auch zu vornehm; es soll nicht immer richtig sein mit dem Geld,
und die Titel und vornehmen Bekanntschaften kann man nicht wechseln
lassen.« -- »So, die wohnt hier?« Ich hatte in den Zirkeln, die ich vor
meinem Rückzug besuchte, von einer solchen Frau von Trichter gehört;
doch erinnerte ich mich nicht mehr gewiß, was von ihr gesprochen wurde.
»Und oben?« fuhr ich fort, indem ich auf die Fenster zeigte, die in
gleicher Höhe mit den meinigen waren; »oben?« -- »Nun, da wohnt der
Doktor und der kleine Leutnant.« -- »Was ist das für ein Doktor? Ein
Mediziner?« -- »Nein, es ist kein Menschendoktor; aber soviel ich
weiß, soll er ein gelehrter Herr sein, der Doktor Salbe, und Bücher
schreiben. Ich habe ihm früher auch den Kaffee gebracht, aber er macht
ihn jetzt selbst, der Hungerleider, in der Maschine mit Spiritus. Wenn
er sich nur die Finger recht verbrennte mit dem Weingeist! Was hat er
nötig, mit der Maschine Kaffee zu machen? Aber freilich, jetzt soll
alles mit Maschinen gehen und mit Dampf. Sie gönnen einer armen Frau
nicht einen Groschen mehr, den sie ehrlich erworben.« -- »Und der
Leutnant,« unterbrach ich ihre Philippika gegen den Maschinenkaffee des
Doktors, »wie sagst du, daß er heiße?« -- »Man nennt ihn in der ganzen
Nachbarschaft nur den kleinen Leutnant. Er ist ein freundlicher Herr,
aber reich muß er auch nicht sein, denn er reitet um sechs Groschen
spazieren und hat zwar große Sporen, aber kein Pferd.«

Christel hatte unter diesen Belehrungen mein Stübchen aufgeräumt und
ging.

Die Lampe der Schuster war verlöscht, ein schönes Mädchen trat aus
dem Hause und machte die eisernen Stangen der Fensterladen los; die
Laden öffneten sich von innen, ein hübscher, junger Mann sah heraus,
um die Stange herein zu nehmen, das schöne Kind reichte sie hin,
zog sie zurück, wenn er helfen wollte, sie neckte ihn, daß er nicht
schneller sei als sie. Das wird der Pariser sein, dachte ich, und das
Mädchen mit den schwarzen, feurigen Augen, mit dem blühenden Rot auf
den Wangen ist wohl niemand anders als Mamsell Karoline, des Meisters
Tochter. Diese Scene zog mich an. Sie schienen sich verglichen zu
haben, der junge Mann empfing die Stange, man ging an den zweiten
Laden. Hier erneuerte sich das Schauspiel; der Pariser drohte ihr,
er zeigte mit dem Finger auf seinen Mund und dann auf sie, es war
deutlich, er drohte ihr mit einem Kuß, und sie -- lachte und gab die
Stange nicht. Welch unchristliches Verhältnis! Man ging endlich an das
dritte Fenster; der Laden ging auf, der Pariser erschien mit einer
Eisenstange bewaffnet und machte Ausfälle gegen seine Schöne; sie
parierte aber -- ~malheureusement~, mochte der Pariser denken, seine
Stange gleitete ab und zerschlug klirrend eine Scheibe. Man senkte
bestürzt die Waffen, die feindlichen Parteien vereinigten sich, um das
Unglück zu betrachten; eine kleine Figur wurde auf der Bank hinter
dem Pariser sichtbar, es war wohl Brenners Karlchen, der Lehrjunge,
der so jammervoll die Hände über dem Kopf zusammenschlug; der böse
Meister, der seit der Russenzeit erst um acht Uhr aufsteht, und
dessen Morgenlied Geschrei und Zanken ist, fiel mir ein -- gewiß, ihn
fürchteten sie, vor ihm zitterten sie. Der Pariser zog ein Stückchen
Geld aus der Tasche, er drehte es hin und her, es war sehr klein -- er
fuhr wieder in die Tasche, er brachte nichts mehr hervor; wer will es
ihm verargen? Es war ja gestern Sonntag, und ich wollte wetten, er war
mit Karolinchen auf dem Tanzboden und hat ihr fürstlich aufgewartet.
Er sah sein Stückchen Geld an und errötete. Das schöne Kind drängte
seine Hand mit dem Gelde zurück; sie zog ein Beutelchen aus dem Busen
und zählte ab, was etwa zu einer neuen Scheibe reichen konnte; der
Pariser widersetzte sich, aber er schien der süßen Gewalt ihrer Blicke
nachzugeben, sie gab dem jammernden Burschen das Geld, man hob das
Fenster aus, und bald sah ich ihn aus dem Hause und um die nächste Ecke
traben. Mögen die Götter seine Schritte lenken, daß er nicht fällt und
die übrigen zwei Scheiben mit zerbricht! Aber diese Unterbrechung hatte
die Freuden der beiden Leutchen gestört; Karoline ging ins Haus, der
Geselle an die Arbeit, und ich sah nur noch, wie das Mädchen hie und da
ängstlich zum Fenster herausschaute, als wolle sie Brenners Karlchen
mit dem Fenster erspähen; wenn der Vater kam, ehe er zurück war, wenn
er den Schaden bemerkte, den sie beide angerichtet -- ich glaubte in
ihren Mienen diese Angst zu lesen. Doch war ich überzeugt, wenn dieser
unglückliche Fall eintreten sollte, so nahm sie die Schuld auf sich;
hätte der Alte nicht auf so manches schließen können, wenn er den Kampf
mit den Eisenstäben erfuhr? Es schlug acht Uhr, unwillkürlich fing ich
selbst an unruhig zu werden; ich glaubte im Geist den Lieferanten der
Russenzeit in weiten Pantoffeln herbeischlurfen zu hören; ein böser
Husten wird ihn schon zuvor anzeigen, wie wird er toben, wie wird er
fluchen, wenn er --

Da kommt Brenners Karlchen um die Ecke gefahren; er hat das Fenster
unter dem Arm; jede Spur von Angst ist aus Karolinchens Zügen
verschwunden; sie nimmt dem Burschen das Fenster schon von der Straße
ab; sie hängt es ein; triumphierend schaut sie durch die neue Scheibe;
der Pariser ergreift ihre Hand und zieht sie vom Fenster. Wird er noch
Zeit gefunden haben, seine fürchterliche Drohung zu vollziehen, und sie
für die Neckerei an ihren frischen Lippen bestrafen?


3. Der zweite Stock.

Die Jalousien des zweiten Stockes mir gegenüber öffneten sich, ich
erschrak; ein ungeheurer Knebelbart schaute zum Fenster heraus. »Das
ist sicher der kleine Leutnant,« sagte ich zu mir, »das muß ein
fürchterlicher Kriegsmann sein!« Ich wagte es, wieder aufzublicken und
nach ihm hinüberzuschielen; wo hatte ich nur meine Augen gehabt, daß
ich vor seinem Anblick so erschrak? Der Bart war allerdings bedeutend
und gehörte in die Klasse der grimmigen, aber hinter diesem Wall von
Haaren lag ein kleines, freundliches Gesichtchen, ein Näschen, das
schalkhaft zwischen dem Grimmigen hervorguckte, ein paar wackere
Aeuglein, die auch nicht im geringsten zum Erschrecken eingerichtet
waren. Der Kriegsmann hatte mit der Brust nicht sehr weit über den
Fenstersims emporgeragt, als er die Jalousien öffnete; jetzt hatte er
sich wohl einen Stuhl ans Fenster gerückt, denn er erschien auf einmal
groß und schaute mit dem halben Leib auf die Straße herab; doch nach
Verhältnis seiner Arme und seines Kopfes zu urteilen, mußte er ein
kleiner, untersetzter Mann sein; ich erinnerte mich, daß ihn Christel
den kleinen Leutnant genannt hatte. Nichtsdestoweniger brachte er eine
ungeheure Pfeife hervor, die bis in den ersten Stock hinabreichte. Sie
mochte ein bedeutendes Gewicht haben, denn der kleine Leutnant hielt
sie mit beiden Fäusten, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.

Als der Kriegsmann einige Zeit seinen Morgenbetrachtungen nachgehängt
haben mochte, fing er an, mit der langen Pfeife an den Jalousien zu
seiner Linken zu pochen. Sie taten sich auf, ein mageres, bleiches
Gesicht, eine lange, hagere Figur, in einen geblümten Schlafrock
gehüllt, schaute hervor; es war der Doktor Salbe.

Die Straße, in welcher ich wohnte, war ziemlich schmal; ich konnte,
wenn ich das Fenster öffnete, das Gespräch meiner Nachbarn hören; ich
öffnete daher mein Fenster, ließ die Gardinen herab, um nicht von ihnen
bemerkt zu werden, und lauschte.

»Wo habt Ihr Euch gestern nacht herumgetrieben, Doktor?« sprach der
Leutnant mit schalkhaften Blicken, indem sich der Bart zu einem
angenehmen Lächeln bis an die Ohren verzog. »Warum kamt Ihr nicht in
den goldenen Hahn? Ich wollte wetten, Ihr waret in einem Singtee.«

Der Doktor nickte und zündete still lächelnd eine Zigarre an der Pfeife
des Soldaten an. »Ich war im Singtee,« antwortete er mit hohler Stimme;
»Leutnant! da war es wieder herrlich! Im goldenen Hahn geht es mir
Sonntags gar zu roh her. Eure Kameraden rauchen so schlechten Tabak,
und das Schreien und Schwadronieren von den Gefechten setzt meinen
Nerven zu. Aber bei dem Professor Nanze war es gestern wieder göttlich!«

»War die Fremde auch dort?« fragte der kleine Krieger und deutete auf
den ersten Stock seiner Wohnung. »Waren auch die beiden Fräulein da?«

»Die Mutter, die Töchter und die Fremde; und wissen Sie wohl, wer
sie ist? Sie wird Cousine tituliert, und die Oberforstmeisterin tut
sehr freundlich mit ihr. Und denken Sie, ich wurde ihr vorgestellt
als Nachbar vom oberen Stock; sie war holdselig und hat auch mein
Trauerspiel gelesen und meine Erzählungen in der Zeitung für noble
Leute.«

Auch ein Genosse der seligen Tante Idoina, dachte ich und machte ihm
hinter den Vorhängen eine Faust, denn er schien mit dem Leipziger
Magister im Bunde gegen mich zu sein. Indem hörte man einen wahrhaft
höllischen Lärm in der Wohnung des Schusters. Eine tiefe Baßstimme
fluchte und tobte, wie die rauhen Töne des Violons; dazwischen hörte
man Karolinen und ihre Schwester in hohen, klingenden Tönen wie
Oboe und Klarinette, und Brenners Karlchen, der wohl Schläge bekam,
fistulierte mit greulichen Violinpassagen dazwischen. Es war kein
Zweifel, der Russenschuster war erwacht und hielt seinen feierlichen
Einzug in sein Reich.

»Hören Sie doch, wie der Alte wieder rumort,« sagte Doktor Salbe; »mich
dauern nur die Mädchen, er probiert sicher an Karolinchen ein paar neue
Knieriemen. Apropos, wie stehen Sie mit Karolinchen, Leutnant?«

»Gar nicht,« antwortete er mürrisch und blies große Wolken vor sich
hin; »die hochmütige, schnippische Person! Ich weiß nicht, was sie
jetzt wieder im Kopf hat, sie dankt kaum, wenn ich sie grüße. Es ist
mir auch ganz einerlei,« fuhr er ärgerlich fort: »meine Gedanken stehen
jetzt auf die Fremde, auf die Cousine; der will ich die Cour machen;
Höllenschwernötchen, Doktor! Das sollt Ihr mal sehen.«

»Hoho!« fiel ihm sein Nachbar mit hohlem Lachen ins Wort. »Wenn Sie
erst wüßten, was ich weiß, Wertester!«

»Donner! Hat sie von mir gesprochen? Salbe! Ihr foltert mich; hat sie
von mir gesprochen?«

»Nein! Aber sie sagte mir viel Schönes über mein Flötenspiel, das sie
vorgestern nacht in den Schlaf gewiegt habe.«

Ich glaubte, der Leutnant werde bei diesen Worten zum Fenster
hinausstürzen; er hüpfte auf seinem Stühlchen hin und her und rückte
weiter über die Brüstung heraus, um dem Doktor näher zu sein. »Und Ihr
habt dem lieben Kind doch gesagt, daß ich es bin, der musiziert?«

»Jawohl; ich sagte ihr, daß ich nur Gitarre schlage und etwas
weniges dazu singe; der Flötist aber sei mein Nachbar, der Leutnant
Münsterturm. Ich will Ihnen auch gar nicht im Wege stehen; ich habe
an meinem neugriechischen Roman so entsetzlich zu arbeiten, daß ich
vor den nächsten vierzehn Tagen an keine Liebe denken kann; aber den
goldenen Hahn sollten Sie sich abgewöhnen; Sie sollten in gebildete
Zirkel sich einlassen, dort können Sie die Haus-Cousine treffen.«

»Gott straf' mich, Ihr habt nicht unrecht!« unterbrach ihn der liebende
Soldat. »In den goldenen Hahn kommt sie doch nicht, also muß ich sie
anderen Ortes aufsuchen. Aber Ihr kennt ja meine Antipathie gegen das
Teetrinken, ich riskiere, daß ich auf der Stelle krank werde, wenn ich
dieses laue Wasser zu mir nehme. Was haltet Ihr davon, Doktor, wenn
ich Punschessenz mit mir nehme in einem Gläschen und, während ich nach
der tollen Sitte mit der Tasse auf und ab spaziere, heimlich einige
Tröpflein in den Tee gieße? Dann kann er mir nichts schaden.«

»Wahrhaftig, das könnten Sie tun, kaufen Sie Essenz, ich will Sie
einführen in Nanzes göttlichen Singtee.«

»Am Donnerstag bekomme ich meinen neuen Uniformsfrack,« antwortete er
vergnügt; »dann gehen wir miteinander in den Singtee.«


4. Jocko.

Ein Besuch, der mir gerade jetzt sehr ungelegen kam, unterbrach meine
Beobachtungen. Es war einer jener freundlichen Alltagsmenschen, die,
wenn sie mit uns Billard gespielt haben, auf der Promenade einige
hundert Schritte mit uns gingen, in der Loge zufällig neben uns einen
Platz fanden, sich unaufgefordert zu unsern Freunden zählen. Er hatte
sicher nicht geruht, bis er mein geringes Stübchen aufgefunden; er
kam, wie er versicherte, nur aus Teilnahme, und doch war es die
unverschämteste Neugierde, die ihn hergetrieben hatte; er und sein Hund
beguckten und berochen jeden Winkel meines Zimmers; ich sah ihm an, wie
er Notizen sammelte, um abends einige Damen über mich und meinen Spleen
zu unterhalten.

»Sie sind doch ein glücklicher Mensch,« sagte er; »waren Sie in
Gesellschaft, so vergaßen die Damen, daß es gegen allen guten Ton sei,
länger als fünf Minuten über einen Gegenstand zu sprechen. Man lauschte
begierig auf Ihre Worte, weil Sie ein halber Gelehrter sind.«

»Sie können sich doch wahrlich nicht beklagen,« erwiderte ich; »wie
glänzend haben Sie vor drei Wochen die Damen unterhalten, als Sie den
Brief aus Paris bekommen hatten.«

»Es war der einzige glückliche Abend meines Lebens,« sprach er mit
süßer Wehmut; »mein Mode-Korrespondent hatte den vernünftigen Einfall,
mir einige Anekdoten aus den Salons, einiges Neue über Damenputz und
über die Stellung einer modernen Pariserin beim Tee-Eingießen, und wie
sie in Gegenwart ihres jungen Ehemannes die Schlafhaube aufsetze, zu
schreiben. Ich brachte es bei Graf C. vor; man fand mich köstlich, man
fand mich liebenswürdig und amüsant. Es war aber auf Ehre der einzige
Abend. Aber Sie! Wie glücklich sind Sie.«

»In was soll nur mein Glück bestehen?« fragte ich, ärgerlich über seine
Ausrufungen.

»Haben Sie nicht immer das verdammte Spiel: ›_Der Chevalier de
Papillot_‹, von vorn bis hinten ohne Anstoß behalten können? Und ich!
Wenn ich am herrlichsten frisiert und gebrannt war, so wurde das dumme
»~Chevalier de Papillot a une papillote~« gespielt, meine Frisur ging
zum Teufel, denn ich konnte den französischen Sermon nicht behalten und
bekam den ganzen Kopf voll Papilloten. Aber Sie! Hatten Sie den ganzen
Abend nichts getan, als an einer Tür gestanden und finster in die
Zimmer geblickt, so gab es doch Leute, die Sie sehr interessant fanden.
Jetzt verlassen Sie sogar die Welt, werden melancholisch; ich wollte
wetten, wenn ich es geworden wäre, man hätte gelacht, und Sie werden
bemitleidet, zurückgesehnt; es gibt sogar junge Damen, die ganz offen
den Fächer vor das linke Auge halten, wenn von Ihnen gesprochen wird.«

»Den Fächer vor das linke Auge halten? Wozu denn, was soll es denn
bedeuten?«

»Sie wissen nicht einmal dieses Zeichen der trauernden Liebe? Das ist
das Neueste, was man hier in der Liebessprache kennt; das heißt ~à la
Jocko~ trauern.«

»~À la Jocko~ trauern!« rief ich. »Wer trauert denn mit der Windfuchtel
vor dem linken Auge um mich?«

»Gehen Sie, das wissen Sie nur zu gut; Oberhofmeisters Trinettchen ist
ganz melancholisch geworden. Auf Ehre, ich sah sie zweimal ~à la Jocko~
trauern. Ist das nicht rührend?«

»Was werden Sie heute mit Ihrem Tag anfangen?« fragte ich, um mir das
Erröten über die trauernde Jocko zu ersparen. »Wo werden Sie speisen?
Werden Sie ins Theater gehen?«

»Speisen?« sagte er wehmütig lächelnd. »Speisen! Ich lebe gegenwärtig
wie ein Klausner. Denken Sie sich mein Unglück!«

Ich war begierig; sollte ihn etwa auch eine Tante enterbt haben, war
er vielleicht auf halben Sold gesetzt wie ich? Er schien bekümmert,
geheimnisvoll.

»Denken Sie sich mein Unglück! Schon seit einiger Zeit bemerkte ich,
daß mir meine Röcke und Westen nicht mehr recht passen wollten. Ich
nahm daher das vormalige Maß meiner Taille (mein Schneider in Frankfurt
und ich haben jeder ein Exemplar, und zwar aus Draht geflochten, daß
es sich nicht verzieht); ich nehme es, lege es um, und o Schrecken!
ich bin seit einem Vierteljahr um zwei Daumen breit stärker geworden!
Ich war außer mir, ich wütete, ich war nahe daran, Hand an mich selbst
zu legen. Ich entdeckte mich dem jungen Baron F.; Sie kennen seinen
herrlichen Wuchs, er tröstete mich, er gab mir Mittel.«

»Nun, in was bestehen diese?«

»Zuerst mußte ich Rhabarbertinktur nehmen, daß ich beinahe tot war.
Dann darf ich acht Tage lang nichts genießen als eine Tasse voll
Gerstenschleim, einige Austern und ein Glas Madeira, alle Morgen nach
acht Uhr muß ich ein Glas Kräuteressig trinken und darauf spazieren
gehen. Es ist heute der fünfte Tag; es ist wahr, es hilft, ich bin
schon um einen Daumen eingegangen, aber meine Kräfte schwinden, ich
bin so schwach, daß ich heute abend nicht werde tanzen können. Es ist
nur gut, daß es jetzt Mode ist, daß wir jungen Herren nicht tanzen;
aber das ewige Stehen mit dem Hut in der Hand werde ich auch nicht
aushalten; ich werde mich setzen müssen gegen allen guten Ton und feine
Lebensart.«

»Ich bedaure Sie,« sagte ich, als er mit zitternder Hand von mir
Abschied nahm. »Wären denn fünf Tage nicht auch genug?«

»Acht Tage müssen es sein,« antwortete er seufzend; »aber dieser
Leidenskelch wird auch an mir vorübergehen; was tut man nicht um den
Ruhm, eine Taille ~à la Jocko~ zu haben.«

Armer Jocko! sprach ich bei mir, als er weggegangen war. Armseliger
Affe! Du schämst dich deiner menschlichen Gestalt und wendest alle
Mittel an, ein Pavian oder eine Wespe zu werden! Jene große Werkstätte
der Torheit ergötzte sich an einem Menschen in Affengestalt; sie
trugen sich wie der herrliche Affe, es gab nichts, was nicht den Namen
dieses Affen trug; es nimmt mich wunder, daß sie ihren König nicht ~à
la Jocko~ krönten. Aber die Narrheit bleibt nicht in jenen Mauern,
sie verbreitet sich über die Provinzen, sie passiert ungehindert die
Douanen des Rheins, und man schämt sich in Deutschland, auf eine andere
Art ein Tor zu sein, als wie es vor sechs Monaten in Paris Sitte war.
Wer ist ein größerer Affe und der Tierheit näher, jener Urjocko oder
die unzähligen Affenherren, Affenfräulein und Affenmamsellen, die an
dem Affen einen Affen gefressen haben, ihm nachäfften und mit Freude
samt und sonders Jockos wurden?

Erbärmlicher Affe! Der du mich um eine schöne Stunde betrogst!
Warum verbieten es die gesellschaftlichen Sitten, daß ich dich
freundschaftlichst aus der Türe warf?

Wie vergnügt, wie zufrieden wäre ich mit mir selbst gewesen! Wie
gut hätte ich mich an meinem Fenster unterhalten können! Und dieser
hohle Mensch, in dessen Kopf kein Gedanke war, als der an das Souper
heute abend, dessen Blick in die Zukunft nicht weiter reichte als bis
zum nächsten Ball, dessen Erinnerungen nur in Austern und Tanzmusik
bestanden, dessen Herz kein wärmeres Gefühl kannte als Neid, wenn er
nicht die feinste Taille hatte, oder die Freude, das neueste Tuch oder
die eleganteste Hutfaçon zu haben; dieser Mensch durfte sich meinen
Freund nennen, durfte mein stilles Asyl durch sein Geplauder entweihen?
Sind nicht diese Menschen die ärgsten Heiden? Es steht im Evangelium:
»Ihr sollt nicht sagen, was werden wir essen, was werden wir trinken,
wie uns kleiden, denn nach diesem allen fragen die Heiden.« Und diese
Leute möchten verzweifeln, weil sie nicht wissen, ob sie heute in jenem
Hotel oder bei diesem Italiener speisen werden; sie sind in Gefahr,
krank zu werden, weil sie im Zweifel sind, ob sie sich schwarz oder
blau ankleiden sollen?


5. Die Bel-Etage.

Ich war unter diesen Gedanken wieder an mein Fenster getreten. Der Tag
war nun auch im ersten Stock gegenüber angebrochen. Ich konnte, weil
das Haus auf der Mittagsseite lag, bis in die Mitte dieser schönen
Zimmer schauen; ich nahm mein Opernglas zur Hand und musterte die
Fenster. Es waren drei junge und eine alte Dame, die ich sah; von den
Mädchen waren zwei noch im Negligee, die eine las im Fenster, schaute
übrigens oft über das Buch hinweg auf die Straße; sie schien nicht
mehr sehr jung, ihre Züge hatten schon etwas Scharfes angenommen, an
ihrem Nasenwinkel glaubte ich jenes unbeschreibliche mokante Etwas zu
bemerken, das einer meiner Freunde den Alten-Jungfern-Zug nennt.

Die zweite im Negligee schien jünger und hübscher; sie saß am Klavier
und präparierte sich wohl auf ihre Lektion oder gar auf einen Singtee.
Mama saß an ihrer Seite und schien ihr Spiel zu bewundern. An einem
andern Fenster saß ein Kind von sechzehn bis siebzehn Jahren. Es mußte
die Fremde, die Cousine sein; denn wäre dieser schöne Kopf, wären
diese Augen, deren Glanz ich aus so weiter Ferne bewunderte, schon
länger in der Stadt gewesen, ich hätte gewiß von einer schönen Tochter
der Oberforstmeisterin gehört. Sie nähte emsig an einem Kleide, aber
dennoch konnte sie sich nicht enthalten, zuweilen die Vorübergehenden
zu mustern, mit den niedlichen Fingern zu deuten, wenn ihr etwas
auffiel, und die Lesende im Negligee zu befragen. Es mußte die Fremde
sein. Ich hatte dazu mehrere Gründe. Die beiden andern Fräulein
hatten gleiche Hauben, gleiche Bänder, gleiche Ueberröcke; sie waren
die Schwestern. Die eine las, die andere musizierte, das schöne Kind
aber arbeitete; was war natürlicher, als daß es die Fremde war, die
arbeitete? Sie hatte ihre Garderobe vom Land mitgebracht. Wenn sie auch
dort nach der Mode gewesen sein mochte, so war sie doch hier schon um
einige Monate zurück. Der Leib am Kleidchen durfte vielleicht nur etwas
weiter ausgeschnitten, die Garnitur nur etwas höher gesetzt werden, so
war man noch passabel nach der Mode. Auch das, daß sie so frühe schon
in vollem Anzug war, bestärkte meine Vermutung.

Ich hatte einige Zeit mit diesen Betrachtungen hingebracht, als ich
Madame plötzlich aufstehen sah; sie winkte der Cousine, sie deutete
ans Fenster; das schöne Mädchen öffnete und sah heraus, sie heftete
ihre Blicke auf die Haustüre. Ich war begierig, wer erscheinen werde,
denn offenbar erwartete sie jemand, der aus dem Hause treten sollte;
war es der Russenschuster? Hatte der Pariser ihre Aufmerksamkeit auf
sich gezogen? Oder ging vielleicht jemand aus dem obern Stock an ihrem
Zimmer vorbei? etwa der Doktor oder Münsterturm, der kleine Leutnant?
Er war es, der Kleine! Aber welchen sonderbaren Anblick gewährte er!
Gleichsam zum Hohn hatte ihm die Natur einen großen Namen gegeben; wer
dachte sich nicht, wenn er vom Leutnant Münsterturm hörte, einen Kerl,
der dem Kölner oder Straßburger Münster Ehre machte? Aber er war ein
Duodez-Münsterchen. Er hatte eine tiefe rauhe Stimme; wenn man die
Augen zumachte und ihn fluchen und donnerwettern hörte, glaubte man
wenigstens einen riesenhaften Kürassier vor sich zu haben. ~Parturiunt
montes, nascetur ridiculus mus~; es ist der kleine Münsterturm.
Er kündigte sich zuerst durch das schreckliche Klirren eines
nachschleppenden Säbels an; dann kam ein ungeheurer Hut mit wehendem
Federbusch aus der Türe, unter ihm wandelte der Leutnant. Dieser Soldat
schien seine verkürzten Formen dadurch entschädigen zu wollen, daß er
alles, was er sich selbst beilegen konnte, in größtem Maßstabe hatte;
seinen ungeheuren Bart, die lange Pfeife, die er mit zwei Händen
balanzierte, hatte ich früher schon bewundert. Der Hut samt Federbusch
maß drei Schuh in der Höhe, also zwei Dritteile von dem Leutnant, sein
Schwert war eine furchtbare Waffe und reichte ihm, wenn es aufrecht
neben ihm stand, hoch über die Brust. Er führte die längste Reitgerte,
die ich gesehen, lange Sporen rasselten an seinen Füßchen; er ging
wohl aus, um einen Morgenritt für sechs Groschen zu machen. Er machte
Front vor der Haustüre, ich sah, daß er unter seinem Hut hinaufschielte
in den ersten Stock; er bemerkte die Fremde, eine angenehme Freude
blitzte, mir sichtbar, aus seinen Augen; er tat, als hätte er sie nicht
erblickt.

Er hieb mit der Reitpeitsche auf seinen Stiefel und rief mit tiefer,
dröhnender Stimme: »Johann!«

Ein großer Kerl in abgetragenen Soldatenkleidern fuhr aus dem Haus,
stellte sich in militärische Position, die Hand an der Mütze, und
antwortete: »Herr Leutnant!«

»Schlingel!« fuhr der Kleine fort, »hab' ich dir nicht gesagt, du
sollest meine Flöte jeden Abend einsalben mit Mandelöl? Ha! daß dich
das Donnerwetter, sie hat gestern nacht gequiekt wie ein Dudelsack.
Schmier' ein! sag' ich dir, salbe das fürtreffliche Instrument, daß es
weich töne, oder dich soll der T... holen, und ich lasse dich sechs
Stunden auf die Latten legen, daß du kein Glied rühren kannst.«

»Ganz wohl, Herr Leutnant! aber ...«

»Was aber, wenn ich befehle, gibt es kein Aber; was willst du denn?«

»Ich hätte schon gestern eingeschmiert und gesalbt, Herr Leutnant, aber
der Grunsky, bei dem ich das süße Mandelöl kaufen soll, sagt, er borge
-- mit Respekt zu vermelden -- dem Herrn Leutnant keinen Groschen mehr.«

»Was? mir _das_?« schrie Münsterturm mit entsetzlicher Stimme, daß
meine Fenster zitterten und die schöne Fremde erbleichte. »Ich ermorde
ihn, ich renne ihn mit dem Säbel durch und durch, ich zerhacke alle
Gläser, Pomeranzen und Zitronen in seinem Laden in Kochstücke, der
Kuckuck soll ihn holen, ihn und sein süß Mandelöl!« Der tapfere
Soldat wackelte zu diesen Worten mit dem Federbusch, klirrte mit
dem Säbel, stampfte mit den Sporen, focht mit der Reitpeitsche in
der Luft und blinzelte hinauf ans Fenster, welche Wirkung seine
Berserkerwut hervorbringe. »Doch, es ist unter meiner Würde, mich über
solche Kanaille zu alterieren,« fuhr er ruhiger fort, »ich werde ihn
verklagen, so tu' ich. -- Johann!«

»Was befehlen der Herr Leutnant?«

»Geh in die Apotheke in der Königstraße, dort, wo es zur Kirche
hinuntergeht, laß dir für zwei Groschen süß Mandelöl geben; laß es
aufschreiben -- die Welt kennt meinen Namen.«

So sprach der Leutnant Münsterturm. Er nahm seinen Säbel unter den Arm,
rückte den großen Hut schiefer aufs Ohr und schritt mit mächtigem Gange
die Straße hinab.

Die Fremde aber schlug das Fenster zu, setzte sich an ihren Platz und
lachte.


6. Der arme Schuster.

Ich habe jetzt seit mehreren Tagen die Liebenden parterre betrachtet;
immer klarer wird es mir, daß ein sehr reines Verhältnis zwischen
Karolinchen und dem Pariser besteht. Wenn etwas Unchristliches in
dieser Liebe wäre, so müßte es in der Art, wie sie zusammen scherzen,
sich zeigen; der Pariser könnte nicht so zart seine Glut verraten;
er würde, wenn er schon höhere Rechte sich zugeeignet hätte, nicht,
wie ich wohl bemerkt habe, um ein Küßchen so lange betteln und sogar
schmollen, wenn er es nicht bekommt. Karolinchen könnte nicht mit
jenem heitern, ungetrübten Mut Scherze selbst beginnen, könnte ihn
nicht aus ihren klaren Augen so treuherzig anblicken, wenn sie sich
etwas Unchristliches bewußt wäre. Es ist etwas Heiliges, Holdes
um die Unbefangenheit der ersten Liebe, sollte sie sich bei einem
Schustergesellen und seines Meisters Tochter oder in dem Boudoir einer
jungen Fürstin zeigen; es ist der herrliche Schmelz, den die Unschuld
aushaucht; keine Kunst ersetzt ihn wieder, wenn du ihn abstreifst.
Oder kann der Maler dem Schmetterling die Flügel wieder malen, wenn
eine rauhe Hand ihn betastet und den Blütenstaub verwischt hat, womit
die Natur seinen bunten Mantel überkleidete? Ist nicht die sanfte Röte
auf den Wangen eines schönen Kindes ein solcher Blütenstaub? Wird die
Schuldbewußte erröten, wenn der Geliebte um ein Küßchen bittet? Wird
sie die Augen niederschlagen? Die Kunst einer Kokette geht weit; sie
kann durch großes Studium vielleicht lernen, wie und wo man die Augen
niederschlagen müsse; aber jenen holden jungfräulichen Schmelz, jenes
~rouge fin~ der Natur, kann sie bei ~Laugier père et fils, rue bourg
l'abbé à Paris~ nicht kaufen.

Ich traute daher lieber meinen Augen und meinem guten Opernglas als
der bösen Zunge der alten Christel, meiner Aufwärterin, die mir das
Verhältnis der beiden Leutchen als ein unchristliches schilderte. Ich
hatte ein Paar Pantoffeln nötig, was war natürlicher, als daß ich
meinen Nachbar, den Russenschuster, mit diesem Auftrag beehrte? Ich
hatte dabei noch eine Nebenabsicht. Der alte Russe, dachte ich, ist
wohl zu bequem und vornehm, als daß er sich zu mir bemüht; Brenners
Karlchen, den Lehrjungen, kann er auch nicht wohl schicken, um mein
Maß zu nehmen, folglich werde ich den Pariser bei mir sehen. Die
alte Christel wollte mir zwar das Vorhaben mit Gewalt ausreden; sie
behauptete, daß ich bei dem reichen Nachbar das Doppelte werde zahlen
müssen, aber es half nichts, sie mußte hinüber. Sie kam bald wieder und
berichtete, man werde kommen; sie lächelte dazu vor sich hin, als wüßte
sie noch etwas, das sie sich unbefragt nicht zu sagen getraue. Ich
konnte ihr schon den Gefallen tun, zu fragen, denn sie schwatzte gerne.

»Als ich hinüberkam,« sagte sie, »und ausrichtete, daß Sie ein Paar
Pantoffeln wünschten, da -- nein, ich kann es nicht sagen --«

»So sprich doch, Alte! was sagten sie denn?«

»Karolinchen sah recht mitleidig aus und sagte: ›Ach, zu dem bleichen
Herrn im zweiten Stock drüben? was fehlt ihm denn? er ist immer zu Haus
und sieht so trübselig durchs Fenster;‹ und der Pariser sagte: ›Ja, und
wenn er ausgeht, so sieht er so ernst und traurig aus, was fehlt ihm
denn?‹«

»Nun? und was sagtest du, Alte? Was gabst du zur Antwort?«

»Na, ich weiß es ja selbst nicht; ich sagte, es müsse Ihnen jemand
gestorben sein, Sie gehen meist in schwarzen Kleidern; und da meinten
sie -- hi! hi! da sagte Karolinchen: ›Ach, gewiß ist ihm sein Schatz
gestorben, dem armen Herrn, oder es geht ihm gar wie dem armen jungen
Werther, der auch so viel gelitten hat.‹«

Die guten Seelen! dachte ich; weil sie lieben, so kennen sie kein
anderes Leid als die Trauer der Liebe! Wie unendlich prosaischer
ist doch mein Kummer! Freilich ist mir ein Schatz gestorben; der
Leipziger Magister hat ihn gewonnen. Die alte Tante ist es, der meine
Melancholie gilt, der seligen Idoina, der Mitarbeiterin an der Zeitung
für noble und gebildete Leute. Wie prosaisch, wie so ganz miserabel und
unpoetisch! Meine Farbe spielt etwas ins Blasse, was ist natürlicher,
als daß ich Kummer habe? Ich bin viel zu Hause, ich muß über meinem
Kummer brüten; ich sehe melancholisch aus, ich könnte schwer verdauen,
ich könnte einen Roman unter falschem Namen geschrieben haben und
deswegen auf Geldbuße angeklagt sein. Aber dies alles ist uns
heutzutage zu prosaisch -- er ist melancholisch, er muß Liebeskummer
haben, ganz erschreckliche Seelenleiden; sogar die Schustermamsell, die
liebende, weiß gleich, wo einen der Schuh drücken könnte. In welcher
Schule mag sie das gelernt haben? Ja, sie hält mich für größer als ich
bin; sie vergleicht mich sogar mit dem jungen liebenden Werther, dem
unvergeßlichen; und ich -- muß erröten, jene enorme Höhe von tragischem
Pathos noch nicht erreicht zu haben!

Mit diesen Betrachtungen beschäftigt, sah ich den Pariser aus dem Hause
treten. Er sah gar nicht übel aus, und ich konnte es Karolinchen nicht
verdenken, daß sie gern mit ihm scherzte. Er war nett und elegant
gekleidet, denn zu solchen Besuchen wurde der Sonntagsstaat angelegt.
Er ist ein hübscher, gedrungener, untersetzter Bursche, lebhaft,
gewandt; es kann ihm nicht fehlen, er muß bei den Mädchen Glück machen.
Schon der Name, der _Pariser_, weckt tausenderlei günstige Meinungen
zum voraus. Der muß die Welt gesehen haben, denkt man und fühlt sich
nicht wenig geehrt, von ihm zu einem Walzer oder Dreher aufgezogen
zu werden. Ich konnte mir denken, daß er seine Sitten perfektioniert
haben werde. In der Hauptstadt der Welt, wo die Schuster in Glaswagen
bei ihren Kunden vorfahren und ihre eigenen geheimen Sekretäre haben,
welche sogleich die Maße der Kundenfüße zu Protokoll nehmen, wo die
Meister Künstler sind, ein Atelier statt der Werkstatt haben, mehrere
Kurse über Anatomie anhören, um sich in ihren Bemühungen um den Fuß
zu vervollkommnen, wo die Gesellen nicht auf einfüßigen Schemeln,
sondern in prachtvollen Fauteuils Schuhe flicken, und die Lehrjungen
oder Garçons den Draht mit parfümiertem Pech wichsen, in einer solchen
Stadt hatte er den deutschen Handwerksburschen, diesen aus Flegelei,
Courtoisie und Sinnlichkeit zusammengesetzten Kraftmenschen, ausziehen
und in den Pariser fahren müssen.

Er kam, ich hatte mich nicht getäuscht. Wie artig wußte er sich zu
verbeugen, den Hut abzulegen und ein paar Fünffingerstriche durch
sein Haar zu tun? Wie unbefangen näherte er sich, mit welcher Grazie
setzte er mir den Stiefelzieher zurecht! Er schien mich mit mitleidigen
Blicken zu betrachten, der arme Siegwart mochte ihm einfallen, oder gar
die Leiden des jungen Werthers, denn er erkundigte sich ~dolce~ nach
meiner Gesundheit.

»Sie haben eine angenehme Werkstatt da drüben,« sagte ich zu ihm,
indem er mit einem rosenfarbenen Seidenband meinen Fuß maß und sich
Notizen in eine saffianene Brieftasche aufzeichnete. »Ich meinte, Ihre
Werkstatt muß hell und freundlich sein?«

»Unser Arbeitszimmer meinen Sie? O ja, es ist hübsch und freundlich,
und man hat doch auch eine Aussicht auf die Straße.«

»Nun, und die Einsicht ist gewiß auch nicht übel; läßt Ihnen Mamsell
Karoline soviel Zeit, auf die Straße zu sehen?«

Stumm vor Staunen lag er vor mir auf den Knien; er hielt in einer
malerischen Stellung das rosenfarbne Maß in der Hand, die Brieftasche
war ihm entfallen. »I der Tausend!« preßte er heraus. »Wie meinen Sie
denn das, wertgeschätzter Herr ...?«

»Nun, ich habe letzthin eine kleine Attacke mit den eisernen
Ladenstangen gesehen, wo eine Fensterscheibe zerschlagen wurde, da
dachte ich --«

»Ei, so hat Brenners Karlchen doch recht gehabt,« rief er, »er hat
gesagt, Sie haben herausgesehen; ja, ich hatte einen kleinen Spaß mit
des Meisters Tochter.«

»Und wenn ich recht gesehen, ist sie Ihnen gut, die Mamsell?«

Der gute Pariser wurde über und über rot, und ein Strahl der Freude
schien aus seinen ehrlichen Augen zu dringen. »Was hilft es mir auch,
wenn mir das Mädchen gut ist?« sagte er nach einigen Augenblicken
leise, »ich kriege sie doch nicht!«

»Und warum nicht,« fragte ich verwundert, »ein geschickter Arbeiter,
der sogar in Paris gelernt hat, diesen sollte der Meister verschmähen?«

»Es ist wahr,« sagte der junge Schuster nicht ohne Selbstgefühl,
»ich habe in Deutschland und Frankreich gelernt; ich habe in Paris,
Amsterdam, Berlin und Frankfurt in den berühmtesten Ateliers
gearbeitet, aber was hilft's? Der Meister ist reich und vornehm, er
wird nächstens Stadtrat werden, er sucht seine Tochter in vornehme
Familien zu verheiraten. Ein Bierbrauer, ein Schweinemetzger, ein
Rotgerber, alles vornehme und angesehene Herren, die wenigstens ihre
zwanzig- bis dreißigtausend Taler schwer sind, haben um Karolinchens
Hand angehalten, und der Alte ist nur noch im Zweifel, wem er sie geben
solle.«

Der arme Bursche dauerte mich, er hatte Tränen in den Augen, während er
mir das erzählte. »Und Karolinchen?« fragte ich.

»Ach! das ist gerade mein Jammer; sie hat mich lieb, wir haben es
vergangenen Sonntag auf dem Tanzboden einander gestanden. Wenn ich
wollte, sie liefe mit mir davon, denn sie mag keinen andern als mich,
aber ich weiß wohl, in den Romanbüchern werden oft junge Frauenzimmer
entführt, die es nachher recht gut bekommen; aber was kann ich ihr
anbieten? Bis ich Meister werde zu Haus, geht mein kleines Vermögen
vollends drauf, und ich soll sie in ein Haus voll Kummer und Sorgen
führen? Nein; sie wird mich vielleicht doch auch vergessen können. Sie
soll heiraten, wie es der Vater will, sie wird dann eine vornehme,
wohlhabende Frau, und wenn sie erst ein paar liebe Büblein hat, denkt
sie nimmer an unsere Liebschaft und an den armen Pariser.«

»Aber Sie? Können Sie so ruhig entsagen? Wird es Ihnen nicht recht
schwer werden, von Karolinchen zu scheiden?«

»Ich mag nicht daran denken,« antwortete er; »es würde mir jede Stunde
verbittern; wenn einmal geschieden sein muß, so soll es schnell gehen.
Wohl wird es mich schmerzen, wenn ich wieder so allein in die weite
Welt hinaus muß, denn hier kann ich nicht bleiben; aber ich denke dann,
es wandert mancher arme Teufel durchs Reich, den es im Herzen noch weit
schwerer drückt, als sein Bündel auf dem Rücken; so geht's halt in der
Welt!«

Er ging mit einer Träne im Auge von mir.

»Also auch hier die unglückselige Macht der Verhältnisse!« dachte ich.
»Auch hier der Eigensinn der Väter, auch hier das eifrige Streben
nach Geld und Ehre! Man spricht von dem Unglück hochgeborner junger
Damen, daß sie nicht dem Zug des Herzens, sondern dem Gebot der
Verhältnisse folgen müssen. Man bedauert Prinzessinnen, daß für sie
wahrscheinlicherweise das Glück stiller, beglückter Liebe verloren
sei; man beklagt junge Gräfinnen und Fräulein von altem Adel, daß
ihrem Auge kein Mann gefallen dürfe, der nicht sechzehn Ahnen gehabt,
daß ihre Seele kein Bild legitimerweise erfüllen dürfe, das nicht
stiftsfähig wäre. Hat die Tochter des Russenschusters ein glücklicheres
Los? Es werben reiche Grafen, besternte Diplomaten um die Hand einer
jungen Dame, der Arme, Unberühmte muß zurücktreten; hier kommen ganz
außerordentlich vornehme und angesehene Leute und wollen Karolinchen
zur Frau, wer sind sie? Bierbrauer, Schweinemetzger, Rotgerber;
sollte nicht der Pariser ebensogut, sogar noch passender für sie
sein? Mit nichten! Jene haben Geld und Ansehen in der Stadt, sie sind
außerordentlich vornehm; Karolinchen muß sie heiraten. Aber welche
Nötigung ist bei all diesen Fällen? Der Vater des Fräuleins wird die
Achseln zucken und sagen: die Verhältnisse. Verflucht sei, wer dieses
Wort erfand, um einen Begriff zu bezeichnen, der auf Vernunft und Recht
keinen Anspruch machen kann!«

Ich war ergrimmt über diese Unnatur des Schusters, und in meinem
Grimm mußte ich die Resignation des Parisers bewundern. Wäre dieser
Fall in den höchsten oder in den Mittelständen vorgefallen, der
Amoroso hätte sich erstens entweder mit seinem durch die Verhältnisse
begünstigten Nebenbuhler schießen wollen, oder zweitens, er hätte
gewütet, seiner Geliebten das Leben verbittert, ihr geflucht, gedroht,
sich zu erschießen, und erst auf ihr inständiges Bitten sich das Leben
geschenkt, oder drittens, er wäre ins Wasser gesprungen, oder viertens,
er wäre tiefsinnig geworden, und dieses letzte ist das Allgemeinere.
Nicht so der Pariser; er sieht sein Unglück voraus; er könnte zur Not
einen dummen Streich machen, aber das Glück und die Ehre der Geliebten
ist ihm teurer -- er liebt und vergißt sein Unglück, bis es da ist,
und dann schnallt er den Ranzen und wandert traurig durch das Reich.
Man wird sagen, er hat nicht jenes tiefe Gefühl, nicht jene feinere
Bildung, die zur wahren Liebe und zum tieferen Schmerz der Liebe
gehört; kann man glauben, daß ein Schustergeselle so innig lieben
könnte als ein Dragonerleutnant oder ein Legationsrat oder gar als ein
junger Doktor? Kleinliche Torheit, die du auch hier wieder die Gefühle
nach den Ständen abmessen willst! Die Aeußerungen dieses armen Burschen
sind erhabener als die Rodomontaden hochgeborner Liebhaber, sie zeugen
von tieferer Empfindung als eure erlernten und erlesenen Sentiments,
und seine Resignation ist edler als euer Toben und Wüten gegen das
Schicksal. Er will sich nicht schießen mit seinen Nebenbuhlern wie der
Legationsrat; er will sich nicht in seinen eigenen Sonetten ersäufen
wie der Doktor; er schließt die Geliebte zum letztenmal in die Arme,
wirft sein Ränzel auf den Rücken, nimmt den Wanderstab und geht. Sein
Unglück fühlt er tief, wenn er zum letztenmal die Türme der Stadt, die
er verläßt, aus der Ferne ragen sieht; aber er denkt, es wandert noch
mancher arme Teufel durchs Reich, den es im Herzen noch weit schwerer
drückt als sein Bündel auf dem Rücken. Er trocknet eine Träne ab und
geht. Aber der Dragoner und der Legationsrat und der Doktor? Wenn jener
nicht geblieben ist, wenn sich dieser nicht erschoß, wenn der Doktor
nicht ertrunken -- so gehen sie auch und geben sich zufrieden. Aber
freilich, es gehört dazu, daß sie vorher etwas weniger gestöhnt und
gejammert hatten. So wollen es die Verhältnisse!


7. Die deutsche Literatur.

Vor einigen Tagen traf ich am dritten Ort meinen Nachbar, Doktor Salbe.
Er erkannte mich als Nachbar, freute sich, mich zu sehen, und lud mich
ein, ihn hie und da zu besuchen. Ich versäumte es nicht. Doktor Salbe
ist ein unterrichteter Mann, und ich bin gerne in seiner Gesellschaft.
Anfangs war es mir schwer, seiner Einladung in den _goldenen Hahn_
zum zweitenmal zu folgen; diese qualmende Bierstube wollte mir, da
ich an diese Tabakshöhlen nicht gewöhnt war, nicht zusagen. Aber
ich gewöhnte mich daran, und so mancher Kernwitz, der in dieser
Gesellschaft fiel, die gewaltige, tönende Sprache der Leutnants, die
aus allen Wissenschaften zusammengeholten Ausdrücke der jungen Doktoren
entschädigten mich für das Aeußere. So war es auch in Doktor Salbes
Haus. Eine Unordnung, beinahe Unreinlichkeit ohnegleichen. Wenn er mir
ein neues Gedicht vorlesen wollte, blickte er mit Falkenaugen im Zimmer
umher und fuhr dann oft plötzlich unter den Tisch, denn dorthin hatte
sich der Wisch verloren. Einmal erzählte er mir von einem Sonett, an
welchem er drei Tage gedreht habe. Es sei ganz unübertrefflich, und
die Ausgänge tönen wie lauter Italienisch und Spanisch durcheinander.
Er suchte in allen Ecken, auf allen Tischen, in allen Fächern; es
fand sich nicht. Endlich führte ihm der Zufall ein zusammengedrehtes,
halbverbranntes Papier in die Hand. Er sah es an, er erblaßte, er
schlug sich vor die Stirne. »O ihr Götter!« rief er aus, »mit meinem
herrlichsten Sonett hat der verdammte Leutnant Münstertürmchen seine
Pfeife anzündet! Wie hättest du geglänzt, klangvolles Gedicht, in der
Zeitung für noble und gebildete Leute! Jetzt muß ich dich aus meinem
miserablen Gedächtnis kompensieren. Du bist ein Torso, und ich soll dir
neue Füße einsetzen!«

Trotz dieser schrecklichen Unordnung gefiel es mir wohl bei Salbe.
Er hatte eine gewisse gelehrte Atmosphäre, die jeden schlechten,
trivialen Gedanken zu ersticken schien; man konnte sich ganz behaglich
in seiner Nähe fühlen, denn er hatte eine ungemeine Literatur im Kopf
und belehrte im Gespräch auf angenehme Weise. Wir sprachen eines
Nachmittags, den ich bei ihm zubrachte, von Literatur und ihrem Einfluß
auf die Menschen. Ich sagte: »Die Franzosen haben das vor uns voraus,
daß alle ihre Geschichtswerke, ihre Romane, ihre Gedichte, selbst
ihre philosophischen Bücher so geschrieben sind, daß sie jeder lesen
kann. Die Werke ihrer größten Geister sind unzähligemal als Stereotypen
gedruckt, ich habe oft auf meinen Reisen gesehen, daß ein geringer
Handwerker, ein Soldat, selbst ein Bauer seinen Voltaire, seinen
Rousseau las; dadurch wird die Intelligenz unbegreiflich gesteigert,
daher kommt auch, daß jene Redner in der Kammer so ungeheuer wirken;
nicht durch den verschwebenden Schall von der Tribüne, der Einzelkampf
richtet dort wenig aus, wo man in Massen kämpft, sondern durch die
Verbreitung dieser Reden durch die öffentlichen Blätter. Der geringere
Bürger, der Landmann liest begierig diese Reden; seine Lektüre hat ihn
vorbereitet, das Wahre von dem Falschen zu sondern, und ich versichere
Sie, ich habe diese Leute mit einer Wahrheit, mit einer Tiefe über die
Schönheiten einer Rede, über die Wendungen eines Satzes sprechen hören,
die mich in Verwunderung setzte, und die ich vergebens selbst in unsern
Mittelständen, bei dem Kaufmann, dem Künstler, dem Schreiber, suchen
würde.«

»Sie machen damit unserm Vaterland und seinen Schriftstellern ein
schlechtes Kompliment,« antwortete Doktor Salbe. »Es ist wahr, die
eigentlichen Gelehrten bei uns bilden sich eine eigene Sprache; sie
konnten sich aus dem früheren lateinischen Jargon nicht gleich in
das ehrliche Deutsch finden. Daher kommt es, daß man bei uns, außer
Platt, Schwäbisch und Hochdeutsch, auch noch Kantisch, Schellingisch,
Hegelisch etc. spricht und schreibt; man muß zu diesen Sprachen eigene
Wörterbücher haben, um sie zu verstehen, und es ist kein Wunder, daß
man Kant ins Deutsche übersetzt hat.«

»Aber sagen Sie mir um Gottes willen, zu was denn diese
Sprachverwirrung? Wie können denn unsere Philosophen auf die
Intelligenz des Volkes wirken? Und dazu sind sie ja doch auf der Welt.«

»Im Gegenteil,« erwiderte Salbe, »da haben Sie eine völlig unrichtige
Ansicht. Es mag dies vielleicht bei den französischen Philosophen der
Fall sein. Aber bei uns sind die Philosophen nur für das Katheder
geschaffen; sie haben nur das kleine Publikum, das vor ihnen in den
Bänken sitzt, über Sonne, Mond und Sterne und die Erbsünde aufzuklären;
sonst haben sie lediglich nichts mit dem Publikum zu tun. Kennen Sie
denn nicht den Artikel im Regensburger Reichstags-Abschied?«

»Wie? ein Artikel über die Philosophen? Kein Wort habe ich davon
gehört.«

»Man wußte wohl, daß die populäre Philosophie der Franzosen für das
Volk durchaus schädlich sei, weil die Menschen dadurch Aufklärung,
eine Art von illegitimer Vernunft bekommen; daher hat man sehr weise
damals das Gesetz erlassen und heimlich auf allen Universitäten und
Gelehrten-Anstalten verbreitet: ›Alldieweilen, die durch die in das
für sich schon intelligente Leben so leicht eingreifende Philosophie
angesteckten Menschen allzuleicht rebellische sogenannte Ideen
bekommen, so sollen die für die auf den zu der Vorbereitung junger
Leute errichteten Instituten bestehenden Lehrstühlen angestellten
Philosophen dahin gehalten sein, daß, wenn sie Bücher schreiben, so in
dies Fach einschlagen, diese also abgefaßt seien, daß andere zu dieser
Wissenschaft nicht bestimmte Leute solche gar nicht kapieren können.‹«

»Das stand im Regensburger Reichstags-Abschied?«

»Jawohl, und daher dämmten die Philosophen ihre Bücher mit allerlei
wunderlichen Redensarten ein, so daß, wenn ein ungelehrter Bürger
in ein solches Opus hineinschaute, ihm die Worte vor den Augen
herumtanzten, ihm die überschwenglichen Gedanken wie ein Mühlrad im
Kopf herumgingen, und er in Gefahr war, darüber ein Narr zu werden. Es
war dies auch ganz gut; Sie wissen, die Deutschen sind eine Nation, die
gar zu schnell Feuer fängt wie nasser Zunder, daher war dies Mittel
ganz gut. Denken Sie nur an jene Zeit, wo eine Regierung dies Interdikt
aufhob, und ein Gelehrter Reden an die deutsche Nation in natürlicher
Sprache hielt, was entstand daraus für ein Spektakel. Man hat daher das
Interdikt aufs neue geschärft, ja, die Philosophen müssen jetzt sogar
mystisch sprechen; selbst wenn einer z. B. über Deutschland und die
Revolution schreiben wollte, müßte er seiner Rede kurzen Sinn in diese
Wortspezereien einbalsamieren.«

»Ha! jetzt erst ist mir das große Geheimnis unserer Literatur klar und
deutlich! Also daher kommt es, daß wir so weit zurück sind; da bleibt
also für das Volk nichts übrig als Genoveva und Eulenspiegel?«

»Das möchte ich doch nicht behaupten,« sagte Salbe; »unsere mittlern
und untern Stände lesen sehr viel, nur natürlich nichts, was auf den
gesunden Menschenverstand Anspruch machen könnte. Sie haben ihren
Spieß, ihren Cramer, ihren Lafontaine, in neuerer Zeit hauptsächlich
ihren Clauren. Alles liest, aber unschädliches Zeug, das ihren
Verstand ganz gelinde affiziert, Gespenstergeschichten, Mordtaten,
Räuberhistorien, Heiratsaffären mit vielem Geld etc.«

»O Gott! weiter nichts? so kommen also unsere größten Geister, ein
Schiller, ein Goethe, ein Tieck nicht unter das Publikum?«

»Behüte! Schiller kennen sie zur Not vom Theater her, aber er ist meist
zu hoch für sie, eigentlich zu gut. Von Goethe, Tieck, Jean Paul weiß
man nichts. Sie haben für die Ewigkeit geschrieben, aber nicht für
unser Volk.«



Der ästhetische Klub.

        ~Conticuere omnes, intentique ora tenebant.~


»Wertester!« sprach mein Freund zu mir, als wir die Treppen meines
Hauses herabstiegen, »Sie würden sich sehr irren, wenn Sie glaubten, es
gäbe nur in höhern Ständen ästhetische Gesellschaften. Jene herrlichen
Tees, wo feingebildete Menschen sich über die neuesten Erzeugnisse der
Literatur besprechen, finden sich, nur unter anderer Form, auch unter
den gemeineren Leuten. Wie jene mit dem Teewasser eine neue Novelle
oder einen Sonettenkranz einschlürfen, so haben diese ihre eigenen
Schriftsteller, welche sie beim Biere mit derberem Stoffe bewirten.«
-- »Und zu einem solchen ästhetischen Biere werden Sie mich führen,
Doktor?« -- »Gewiß! Der Meister des Hauses, wohin wir wandern, geht
alle Nachmittage in die Schenke; seit nun der neue Gesell im Hause ist,
wird jeden Nachmittag ästhetischer Klub gehalten. Er ist ein schöner
Geist und besorgt mit großer Auswahl die Lektüre. Die beiden Töchter
des Meisters und einige Freundinnen aus der Nachbarschaft bilden den
Damenzirkel; sie stricken oder nähen, trinken dünnen Kaffee dazu, den
die Mädchen unter sich bezahlen, und eine von ihnen hat das Amt des
Vorlesers; denn der neue Gesell arbeitet streng an seinen Schuhen fort;
sein Geschäft beschränkt sich darauf, den Zirkel auf die Schönheiten
des Gelesenen aufmerksam zu machen. Er und der Leipziger trinken Bier.
Ich war schon einigemal in diesen Klubs; natürlich hüte ich mich wohl,
in die Schönheiten ihrer Literatur einen Zweifel zu setzen. Ich staune
und bewundere mit ihnen; und so bin ich wohl gelitten in diesem Kreise
und darf es wagen, Sie einzuführen.«

Wir standen vor der Türe und horchten; aber das war kein fröhlicher
Leseklub! Ich sah den Doktor ängstlich an, denn deutlich hörte man ein
vielstimmiges Schluchzen und Weinen; es wurde mit jammernder Stimme
etwas gelesen; wir strengten unsere Ohren an, aber vernahmen nur
Gestöhn und tiefes Herzseufzen.

»Ha! Sie lesen etwas Tragisches!« rief mein Freund. »Das ist köstlich;
nur zu! Wir wollen ihr Pathos beobachten.« Er machte rasch die Türe
auf; welch sonderbarer Anblick! Auf einer Erhöhung saß der Leipziger
und heulte laut; es wollte ihm beinahe das Herz abdrücken, und sein
Lieblingsdichter hatte für diesen Zustand gesorgt. Neben ihm saß der
neue Gesell; sein Schmerz war nicht minder tief, aber er beherrschte
ihn mit männlicher Festigkeit; doch auch ihm hing eine Perle in den
Wimpern. Auf der Seite saßen fünf oder sechs hübsche Mädchen, unter
denen ich Karolinchen sogleich erkannte; sie schienen einem geliebten
Toten ein letztes Opfer zu bringen, denn sie wischten mit den Schürzen
ihre schönen weinenden Augen, und in ihren Mienen war ein so wahrer
Ausdruck von Kummer und namenlosem Jammer, daß ich über die Tiefe ihrer
Empfindungen staunte.

Sie nickten uns zu, wir nahmen schweigend Platz. »Tu nur nicht
so erschrecklich, Leipziger!« sagte der neue Gesell mit dumpfer,
gebrochener Stimme. »Sie wird ja bald vollends ausgerungen haben, die
arme Seele; machen Sie nur gefälligst weiter, Jungfer Köhlerin.«

Diese wischte ihre Tränen ab, die wie ein Wasserfall herabrollten, und
las mit zitternder Stimme weiter.

Sie hatte geendet und legte schnell das Buch nieder; die Mädchen
weinten noch etwas weniges in der Stille fort; der Leipziger aber
vertrank seinen Schmerz in einem mächtigen Zuge Bieres.

»Wir sind heute leider zu spät gekommen, um noch etwas von Ihrer
Lektüre profitieren zu können. Was haben Sie heute gelesen?« -- »Rochus
Pumpernickels Tod;« antwortete der neue Gesell. »O, Herr Doktor, das
ist eine so grausam rührende Geschichte, als im ganzen Evangelium keine
steht!« -- »So? A. v. S. macht auch rührende Geschichten?« fragte jener
weiter. »Ich habe bisher geglaubt, er sei immer nur fröhlich und heiter
und lasse seine Leutchen heiraten, nebst schöner Mitgift von ein paar
Milliönchen?« -- »Ja, wir haben es anfangs auch geglaubt,« entgegnete
Karolinchen; »es ging so hübsch und fröhlich an.« -- »Das ist gerade
das Schöne, daß man glaubt, es komme alles so freudig wie immer, und
dann kommt es auf einmal hageldick mit dem Unglück. Das ist um so
rührender, daß einem die Tränen unwillkürlich laufen; ach, und wie wahr
ist es! Nicht alle Liebenden können ja glücklich werden! Dies beweist
ja der Siegwart und Werthers junge Leiden, die ich in Mannheim gelesen
habe, und viele andere rührende Historien. Und sieht man es nicht alle
Tage?« setzte er gerührt hinzu, indem er nach Karolinchen blickte. »Wie
viele zärtliche Liebschaften hat schon das grausige Schicksal getrennt!«

Karolinchen weinte still; der Leipziger aber schlug mit dem Hammer auf
den Absatz eines Stiefels, daß es Funken gab. »Den Kerl, den Alten
soll der Teufel holen; er ist an allem schuld, der heimtückische
Sackermenter; hier möcht' ich ihn haben, zwischen meinen Knieen, ich
wollte ihn hämmern wie Sohlenleder!« -- »Ja, der ist an allem schuld,«
klagten die Mädchen. -- »Sie lieben also diesen Schriftsteller?« fragte
ich. »Sie scheinen ihn allen andern vorzuziehen?« -- »Gewiß!« sagte der
neue Gesell. »Sehen Sie, es mag wohl sonst noch Dichter geben; aber
sie sind nur für die vornehmen Leute, sie sind uns zu hoch; da ist nun
A. v. S. gerade recht für uns, so gemein wie er schreibt keiner. Ihn
verstehen wir; wenn er etwas sagt, so weiß man auch, was er will. Ich
kann Ihnen versichern, es ist mir oft, wenn ich ihn lese, als säße ich
im Bierhaus, und mein Kamerad, der Straubinger oder der Hamburger,
erzählte mir eine schöne Geschichte.«

Ich sah mich nach meinem Freund um, er saß ganz ernsthaft da und rief
alle Augenblicke aus: »Es ist zum Erstaunen!«

»Und Kernmädchen hat er,« fuhr der große Kritiker fort, »so schön
und köstlich, daß einem ordentlich der Mund wässert. Nicht wahr, ihr
Jungfern?«

Die Mädchen erröteten, doch, was sie sich lächelnd in die Ohren
flüsterten, mochte den Satz des Leipzigers nicht umstoßen.

»~Vox populi, vox Dei!~« sagte ich. »Denken viele Leute so wie Sie?«
-- »Ich bin weit herumgekommen,« erwiderte er mit Feuer, »aber überall
fand ich die gleiche Liebe für diesen Mann! Alle Handwerksburschen von
Bildung lassen sich für ihn totschlagen.«

Der Doktor stand auf, er mochte glauben, ich habe jetzt genug gehört,
um seine Behauptung bestätigt zu finden. Wir nahmen Abschied von diesem
ästhetischen Klub und gingen. Unter der Haustür nahm er meine Hand.
»Nun, was meinen Sie?« sagte er, indem Spott und Hohn um seinen Mund,
aus seinen Augen blitzten. »Glauben Sie jetzt, daß auch in Deutschland
ein Schriftsteller allgemein werden könne? Was wollen Sie mit Ihren
Franzosen, die ihren Voltaire hinter dem Pfluge lesen und von den Reden
eines Foy in den ärmlichsten Hütten begeistert sind? Kann nicht auch
bei uns ein großer Geist durchdringen und ein Mann des Volkes allgemein
werden?« -- »Ja,« erwiderte ich und drückte ihm die Hand, »er kann es,
wenn er es versteht, gemein zu sein.«



Ein paar Reisestunden.

Ein Bruchstück.


Vorwort an Madame J. Floret,

Eigentümerin des ~Hôtel de Flandre, Rue Notre Dame des Victoires à
Paris~.

        Sehr verehrte Frau!

Sie gehören unter die wenigen Menschen, die mir auf mein ehrliches
Gesicht hin und ohne andern Schein als etwas Scheinheiligkeit getraut
haben, und ich würde Ihre trefflichen Eigenschaften, ein gutes Herz,
nachsichtige Augen, ein offenes Ohr und einen für ~Rue Notre Dame des
Victoires~ hinlänglichen Verstand, öffentlich gemacht haben, auch wenn
ich es Ihnen nicht versprochen hätte.

Als ich, versehen mit allem, was ein mutiges, junges Herz unterstützt,
in Ihr Haus trat, da dachte ich freilich nicht, es einst so plötzlich
verlassen zu müssen; doch wäre auch jene Begebenheit schon damals
vor meiner ahnungslosen Seele gestanden, an eine so romantische,
samaritanische, beinahe unglaubliche Zuversicht einer Eigentümerin
eines Hotel garni hätte ich nie geglaubt.

Ich vergesse jenen Abend nie, als ich vor Schrecken, Unwillen und Angst
beinahe leblos, bei Ihnen eintrat, nach meiner Rechnung fragte und
Ihnen gestand, daß ich abreisen müßte. Ich hatte von allem gemünzten
Gold, das auf der Erde umherrollt, noch zwei Zwanzigfrankstücke,
von dem ungemünzten in Barren, Gefäßen und Geschmeiden einen Ring,
und alles übrige Schätzbare bestand in einigen Kleidern, welche
rechtlicherweise noch nicht mein gehörten.

Ihr Scharfblick, verehrte Frau, oder nenne ich es lieber barmherzigen
Instinkt? kurz, jene unbegreifliche Ahnung sagte Ihnen in _einem_
Augenblicke alles; Sie schlugen das wohlbekannte Buch von grünem
Saffian auf, Sie lispelten freundlich: vierhundertundfünfzig Frank, und
ich wiederholte mit bebender Zunge: vierhundertundfünfzig! Und als ich
Ihnen dann meinen Kummer auseinanderzusetzen wagte, wie gütig waren Sie
da, wie mütterlich besorgt fragten Sie nach den kleinsten Umständen!

Genug! Sie haben mir aus einer Verlegenheit geholfen, die, so klein
sie dem Namen nach sein mochte, für mich in jenem Drang der Umstände
niederdrückend, schmerzlich war. Es war in meinen Augen, obgleich ich
gewiß war, schon im folgenden Monat meine Schuld tilgen zu können,
nichts anderes als ein Geschenk; denn konnten Sie wissen, daß ich
ehrlich genug sein werde, die Summe heimzuzahlen? Und mit welcher
Urbanität wußten Sie es zu bieten! Wie fein wußten Sie der peinlichen
Notwendigkeit, eine Wohltat annehmen zu müssen, alles Drückende zu
benehmen! Es ist heute ein Jahr seit jenem Abend verflossen, aber noch
heute steht jedes Ihrer Worte deutlich und wie gedruckt vor meiner
Seele. »Es haben schon viele deutsche Doktoren bei mir gewohnt,«
sprachen Sie, bald auf Ihr Buch, bald auf mich blickend, »meistens
~au cinquième~ und ~quatrième~, Sie sind der erste gewesen ~au
second~; alle haben geraucht wie Sie, alle haben schlecht Französisch
gesprochen, alle verlangten anfangs ein Kopfkissen von Federn statt
meiner trefflichen Rollen von Roßhaar, keiner von ihnen konnte mit dem
Kaminfeuer zurecht kommen, fast alle schrieben den ganzen Vormittag,
oft bis vier Uhr, und Gott weiß, was sie geschrieben; aber alle waren
redliche, ehrsame Leute und mir, ich gestehe es (ihre runden Köpfe
und blonden Haare abgerechnet), lieber als meine jungen Landsleute,
die über einen unpolierten Nagel an der Wand eine Stunde sprechen
können und doch nicht mehr wert sind, als daß man sie daran aufhänge.
Ich habe gehört,« fuhren Sie fort, »daß alle diese jungen Herren,
wenn sie nach Deutschland zurückkehren, unsere schöne Hauptstadt in
Büchern beschreiben und weitläufig erzählen, was sie daselbst gehört
und nicht gehört, gesehen und nicht gesehen haben. Mein Vetter,
Doktor Q--, Sie müssen ihn oft bei mir gesehen haben, und die Leute
behaupten, er sehe mir ähnlich, obgleich sein Teint dunkler ist als
der meinige, nun dieser Vetter ist Mitarbeiter am Globe, und es ist
nicht die schlechteste Zeitung, die in Paris gelesen wird. ›Die
Deutschen, Madame,‹ sagte er mir oft, ›sind in der Gesellschaft nicht
zu gebrauchen, aber die Feder ist ihre Zunge; sie sind treffliche
Leute mit der Feder und in der Tat gelehrt; ihre Literatur fängt an,
bei uns bekannt zu werden, und es ist nicht das Schlechteste, was wir
vom Auslande empfangen.‹ So sprach er oft, und meine Achtung vor Ihren
Landsleuten stieg.

»Monsieur Off,« fuhren Sie fort, denn mein Name war Ihnen nicht
geläufig, »Sie haben viel geschrieben, solange Sie auf Nr. 15 im Hotel
de Flandre waren. Doktor K., Ihr Landsmann, hat mir auch versichert,
daß man schon einige von Ihren Schriften gedruckt habe; Monsieur Off,
gegen einen solchen Mann kenne ich meine Pflichten, und diese Rechnung
(Sie machten einen dicken Strich dadurch) soll Ihnen nicht länger
beschwerlich fallen; aber Sie werden auf Ihrer Seite auch so gütig
sein, meiner und meines Hauses in Ihrer nächsten Schrift zu erwähnen,
und ich weiß, diese vierhundertundfünfzig Frank werden mir dann schöne
Zinsen tragen.«

Wahrlich, verehrte Frau, noch zur Stunde kann ich nicht glauben, daß
es Ihnen mit jener Bitte ernst war; denn wer von meinen Landsleuten
wird gerade deshalb, weil ich dort wohnte, Ihr Hotel beziehen? Dies
Buch, vor welches ich Ihren Namen setze, Sie selbst können es nicht
lesen, und Jean, ~le garçon~, spricht zwar die Worte Brot, Schnaps,
Salz, Wein, Wurst, Bett, die er auf seinen militärischen Durchreisen
bei uns zu lernen die Gnade hatte, deutlich genug aus; aber auch
er wird unsere Buchstaben so wenig lesen können als die gotischen
Charaktere an den Butiken der deutschen Schneidermeister, die ihn oft
zu Verwünschungen steigerten. Vielleicht wohnt irgend einer meiner
Landsleute ~au quatrième~, und in diesem Fall können Sie sich einige
Kapitel übersetzen lassen, vorausgesetzt, daß Sie sein _ang_ und _ong_
verstehen.

Auf jeden Fall aber müssen Sie sich durch Ihren gelehrten Vetter
von der Redaktion des Globe ein Certifikat verschaffen, daß ~à la
tête~ dieser Schrift wirklich eine Zueignung an Sie zu lesen ist,
denn Sie könnten glauben, dadurch, daß ich darauf bestand, meine
Rechnung zu tilgen, habe ich mich von meinem Wort und einer angenehmen
Pflicht losgesagt. Wem könnte ich ein Buch, in dem meine Landsleute
flüchtige Zeichnungen der Sitten Ihres und meines Volkes finden
sollen, würdiger zueignen als einer liebenswürdigen Repräsentantin des
neuen Frankreichs, einem Kinde der Revolution, das, obgleich so weit
entfernt von Politik als vom Studium der Geographie, die Abschnitte
seines Lebens nach den Leiden und Freuden seines Vaterlandes zählt?
Sie wurden von der Sturmglocke des dreizehnten Vendemiaire aus
Mutterleibe geläutet; als Bonaparte sich die Krone Karls des Großen
auf die Stirne setzte, warf Sie, Neugierige, eine Volkswelle an die
Treppe des ~Hôtel-Dieu~; die Stirnnarbe, die Sie davontrugen, ist noch
nicht verschwunden, aber sie steht Ihnen gut, und Sie wissen es. Bald
fluchte Ihr junges, der Liebe erschlossenes Herz Cäsarn und seinem
Glück, denn Ambroise, der hübsche Kommis aus der ~Rue Montmartre~,
sollte als Voltigeur helfen Rußland erobern, und bald beweinten Sie
Frankreich und sich -- Ambroise mit erfrornen Beinen konnte nicht
wieder über die Beresina voltigieren. Monsieur Floret war Ambroises
Nachfolger in der Wohnung Ihres Herzens; jedoch erbte er nicht das
ganze Appartement, er mußte sich mit _einer_ Kammer begnügen, die
andern blieben für Ambroises Andenken verschlossen. Alle Kammern
konnten sich indessen nicht enthalten, bange zu klopfen, als Herr
Floret im Kleide der Pariser Nationalgarde, Gewehr im Arm, Abschied
nahm, um an die Barriere zu fliegen, und Sie -- zum letztenmal umarmte,
ehe er unter Blüchers erstem Kanonendonner wiederkam. Frankreichs
Geburtswehen beschleunigten Ihr Glück. Sie stiegen mit Ludwig XVIII.
auf den Thron des Zahltisches und saßen ungleich fester, denn Sie
bedurften seitdem keiner Restauration; ja, Herrn Florets Tod, der an
dem Tage, wo der alte Lilienstengel eine junge Knospe trieb, zu ~Père
la Chaise~ schlafen ging, statt ihn zu erschüttern, diente dazu, ihn
zu befestigen. -- Leben Sie wohl auf Nimmerwiedersehen; einfache und
-- meine Landsmänninnen mögen die Nase rümpfen, so viel sie wollen --
tugendhafte Frau; Ihr Andenken soll mich begeistern, wenn sich die
liebenswürdige Seite Ihres Volkes mir zuwendet, ich werde sie aufsuchen
und mit Liebe aufsuchen, und ewig sollen mir die Worte unvergeßlich
bleiben, die Sie im Augenblicke des Abschieds, anfangs in einem Tone,
als seien Sie die Sprecherin Ihrer Nation der meinigen gegenüber, dann
mit zitternder Stimme und mit feuchtem Auge sprachen: »Monsieur, ich
achte Ihre Nation, und diese Achtung hat sich vermehrt, seitdem ich die
Ehre hatte, Sie kennen zu lernen. Reisen Sie glücklich, und kommen Sie
schnell wieder in das schöne Frankreich, wenn Sie zu Hause friert --
~car je suppose, qu'il n'y a pas loin de chez vous aux glaces, où mon
pauvre petit Ambroise a péri~.«

       *       *       *       *       *

Es sind schon so viele Reisen nach Paris geschrieben und gedruckt
worden, daß man eine eigene Bibliothek davon errichten könnte, und
es scheint, es sei eine sehr überflüssige Mühe, nach der tausendsten
noch die tausendunderste herauszugeben; dennoch kann keinem Reisenden
das Recht bestritten werden, seine eigene Reise zu beschreiben, so
wenig als einem verboten werden könnte, seine Biographie oder Reise
durchs Leben herauszugeben, weil er etwa nur Nachtwächter, Doktor der
Philosophie und nicht König, Kaiser oder Goethe war; jeder lebt, denkt
und reist anders als sein Vordermann, und es kommt am Ende weder auf
die Reise, noch auf die Beschreibung, sondern darauf an, ob einer etwa
so viele Leser findet, als ich mir wünsche.

Vergebens würde übrigens einer aus meiner Reisebeschreibung zu
berechnen hoffen, wie viele tausend Taler ein junger Mann etwa in einem
Monat brauchen könnte, wo die besten Nachtlager und die teuersten
Mittagessen, wo die höchsten Türme und die breitesten Straßen seien.
Vergebens wird einer, der töricht genug ist, sie als ~Guide des
voyageurs~ mitzunehmen, nach andächtigen Empfindungen und richtigen
Notizen über irgend ein bedeutungsvolles Monument blättern; ich
schreibe weder zur Erbauung noch zur Bereicherung der Geographie, ich
dränge niemand meine Empfindungen auf, denn jeder hält am Ende doch
seine eigenen für die besten; ich will nur wiedererzählen, was ich
gehört habe, nur einiges Vorübergehende, aber Bedeutungsvolle, was
andere nicht gesehen haben, will ich beschreiben.

Darunter gehört zum Beispiel nicht das Städtchen Saarlouis, sondern die
Leute, die von dort aus in dem Metzer Eilwagen mit mir fuhren; obgleich
es beinahe so viele Geschichten von Postwagen gibt als Gespenstersagen
und Lichtkarzmärchen, so bin ich doch versucht, von einigen dieser
Personen zu sprechen.

Ich saß in einer Ecke und mußte es mir gefallen lassen, wenn mich die
übrigen so aufmerksam betrachteten wie ich sie; es ist mir übrigens
gewiß nicht zu verargen, wenn meine Blicke hauptsächlich auf einer
jungen Dame mir gegenüber hafteten, von deren Antlitz ich freilich
nichts sah als eine dunkle Locke und ein glänzendes Auge; denn eine
große Kapuze, welche sie am Mund mit einem Tuch verschlossen hielt,
umhüllte den Kopf; daß sie jung sei, sagte mir nicht nur die schlanke
Taille, die Behendigkeit, womit sie in den Wagen gestiegen war, sondern
auch ein gewisser Aberglaube, denn meine Base in Frankfurt hatte mir
prophezeit, ich werde mit einer schönen jungen Dame nach Paris fahren.
Ich bemerkte, daß ihr die Stellung der nächsten vier Füße unbequem sei,
machte ihr Raum, konnte aber nicht verstehen, in welcher Sprache sie
mir dankte, denn ich hatte bei dem Manöver einen dicken Mann, ihren
Nachbar, auf seinen Leichdorn getreten, und er brummte vernehmlich und
deutsch. Es war morgens vier Uhr, die Luft kühl, aber gegen acht Uhr
mußte nach meiner Rechnung der Nebel und mit ihm die Kapuze der schönen
Nachbarin fallen.

Ein Mann mit kühnem, dunklem Gesicht und schwarzen Falkenaugen,
einem schon ins Graue spielenden Bart um die Oberlippe, saß in der
anderen Ecke neben dem dicken Mann. »Ein echt französisches Gesicht,
ein Offizier,« dachte ich, »und zwar einer von der alten Armee und
auf halbem Sold, denn seine Kleidung ist etwas ärmlich, er sieht
unzufrieden aus und will wahrscheinlich die Ehrenlegion Heinrichs IV.
nicht tragen, denn er hat kein Band im Knopfloch. Welche Gedanken
sprechen aus diesem dunkeln Auge! Dieselbe Straße nach Deutschland
ist er in der Revolution als junger feuriger Patriot, nachher als
Offizier des Kaisers, vielleicht an der Spitze eines Regiments gezogen!
Auf diesem Wege vielleicht hat er seine tapfern Truppen aus den
Feldzügen von Sechs und Neun zurückgeführt! Jetzt bezeichnet ihm diese
Kaiserstraße nur noch wehmütige Erinnerungen ehemaliger Größe; noch
lange nicht ist seine ganze Generation ins Grab gestiegen, und doch
ist alles dahin vorangeeilt, was ihnen groß und teuer war, und dieses
schöne Frankreich deucht ihnen ein großer Kirchhof, wo ihr Ruhm und
ihre Hoffnungen begraben liegen und auf eine frohe Urständ warten.«

Der kleine junge Mann an meiner Seite könnte etwa ein angehender
Kaufmannsdiener sein; in meinem Herzen halte ich ihn aber für einen
deutschen Schneider, der nach Paris reist, um sich auszubilden. Noch
gibt es einen jungen Menschen in einem blauen flandrischen Hemde an der
Seite meines Nebenmannes; er schläft schon und ist seinem Gesicht nach
unbedeutend.

Bis jetzt wurde noch kein deutliches Wort unter der Gesellschaft
gewechselt. Nach und nach schlafen die meisten, nur das Auge der jungen
Dame sehe ich hie und da aus der Kapuze leuchten.


            _Fünf bis sechs Uhr morgens._

Der dicke Mann schnarcht schrecklich; sein Kopf droht auf die Schulter
der jungen Dame zu sinken, ich bringe ihn durch einen kleinen Fußtritt
zu sich selbst, er fährt auf, setzt sich zurecht, schläft wieder ein
und schnarcht von neuem. Seine Bewegung hat den französischen Oberst
erweckt; er sieht sich unzufrieden und stolz um. Es gefällt mir nicht,
daß er eine ungeheure Dose von Horn hervorzieht und schnupft; er
schläft bald wieder ein.

Die Morgenluft weht immer kälter. »Soll ich vielleicht das Fenster
vorziehen? Wird es Ihnen nicht zu kalt?« fragte ich so freundlich als
möglich die junge, schöne Dame und denke erst bei »zu kalt« daran, daß
wir längst auf französischem Boden sind und Mademoiselle kein Deutsch
verstehen wird. Aber sie antwortet mit heller, wohltönender Stimme,
jedoch ohne die Kapuze zu lüften: »Wenn es Ihnen selbst nicht zu kalt
wird, danke ich; ich bin wohl verwahrt.«

Also eine Deutsche, dachte ich, nun, um so besser, da werde ich doch so
bald unsere Sprache nicht verlernen. »Ihr Nachbar, mein Fräulein,« fuhr
ich fort, »ist wohl etwas unbequem für Sie; der Wagen ist zu enge, als
daß ein solcher Koloß mit Recht in der Mitte sitzen dürfte.«

»Und doch möchte ich ihn noch weniger zum Tete-a-tete,« erwiderte sie.

Ich errötete beinahe über diese Artigkeit und war doch eitel genug zu
fragen: »Und warum?«

»Ich denke, ein schlafender Koloß würde nicht so artig sein, auf meine
Bequemlichkeit Rücksicht zu nehmen.«

Ich weiß nicht, ob sie mir wirklich dadurch für ihre Sicherstellung vor
den breiten Hufen des dicken Mannes danken wollte, aber ich verbeugte
mich, murmelte etwas von Schuldigkeit gegen Damen und war in demselben
Augenblicke wieder unmutig über mich selbst; weil sie doch vielleicht
mich nicht gemeint hatte, ließ die angeknüpfte Unterhaltung fallen
und suchte wie ein gleichgültiger Reisender auszusehen, obgleich noch
mancher Streifblick an dem glänzenden Auge der jungen Dame vorüberflog.


            _Sechs bis sieben Uhr._

Die Pferde werden gewechselt; die Schlafenden erwachen und starren
mit glanzlosen, schläfrigen Augen auf einige zerlumpte Weiber und
Kinder, die mit ihrem kreischenden Patois und ihren Holzschuhen einen
unangenehmen Lärm machen. Der Oberst zieht an einem alten ledernen
Riemchen eine silberne Uhr aus der Tasche, und ich denke, er müsse
seit der Restauration sehr zurückgekommen sein. Der dicke Mann hat
ein unerträglich dummes Gesicht, und wenn ich ihn nicht für einen
Viehhändler halte, so ist nur seine reinliche Kleidung schuld; ich
mache ihn zu einem holländischen Krämer. -- Man fuhr weiter, und aufs
neue zogen mich die melancholischen Züge des Obersten an. Er sang ganz
leise vor sich hin ein Liedchen, das er mit den Silben »Leon« und einem
tiefen Seufzer endete; ach! es war Napoleon, sein Held, sein Kaiser,
von welchem er sang! Jetzt zog er eine Schreibtafel heraus, die, ich
muß es gestehen, ein wenig schmutzig und verbraucht war; aber nur um
so interessanter schien sie mir, denn sie war wohl ein Andenken an
einen gefallenen Kameraden; er hatte, stellte ich mir vor, als er
einst nachts beim Mondlicht über das Schlachtfeld ritt, die bleichen
Züge seines Freundes erkannt, er schwang sich vom Pferd, kniete nieder
zu ihm, rief mit schmerzlichen Tönen seinen Namen, aber jener hörte
nicht mehr, die bleichen Lippen, die er küßte, sie konnten seinen
Abschiedsgruß nicht erwidern. Da nahm er mit einer männlichen Träne
jenes Andenken, und es hat ihn in Glück und Unglück begleitet. Ich sah
wieder nach ihm hin; er warf bald nachdenkliche Blicke über das Land
hin, bald zeichnete er mit fester Hand seine Gedanken auf, und nichts
schien mir gewisser, als daß dieser alte Offizier (ich ließ ihn jetzt
zum General avancieren) das Land durchfliege, um seine militärischen
Erinnerungen aufzufrischen und -- seine Memoiren über die Feldzüge der
Franzosen zu ergänzen.


            _Sieben bis acht Uhr._

Die junge Dame ist eingeschlafen oder scheint wenigstens zu ruhen; noch
immer ist ihr Gesicht neidisch verhüllt. Der junge Schneider an meiner
Seite läßt seinen großen Hummerkopf bald links, bald rechts fallen,
ohne aufzuwachen. Aber der junge Bursche im blauen Hemd ist erwacht,
und wunderbar! zwischen ihm und dem General oder Oberst entspinnt sich
ein Gespräch; ich lausche, aber es ist nicht Englisch, nicht Deutsch,
weder Französisch noch Holländisch; am meisten Aehnlichkeit hat es mit
dem Italienischen, und ich würde den Offizier für einen Korsikaner
oder einen Veteranen der italienischen Armee halten, kämen nicht Worte
in ihrem schnellen Gespräche vor, die völlig fremd tönen. Doch muß es
wenigstens nicht die Muttersprache des Jüngern sein, denn er scheint
sich hie und da auf den rechten Ausdruck zu besinnen, und der ernste
ältere Mann weist ihn mit einem leichten Lächeln zurecht. Der dicke
Holländer ist jetzt mit tiefem Stöhnen auch erwacht, betrachtet seine
Nachbarn einen Augenblick aufmerksam, lauscht auf ihre Sprache und
fragt dann langsam und höflich: »~Vos este Espanol, Senor?~«

Ah! dachte ich, vielleicht ein edler, vertriebener Spanier, vielleicht
ein Genosse Minas?

Aber man denke meinen Schrecken, als der Oberst, der General,
Empecinados und Minas Genosse, der interessante Mann in
österreichischem Dialekt antwortete: »Um Vergebung, wir sind halt
böhmische Glashändler, mein Neffe da und ich, und reisen nach Sevilla,
wo ich mit Trink- und Tafelgläsern handle.« Und nun erzählte er
unerträglich breit und langweilig, daß sein Bruder in Frankfurt
einen Glashandel habe, daß Stoffel, der Neffe, daselbst in Kondition
gestanden und jetzt auch auf sechs Jahre nach Spanien gehe; wie dort
der Glashandel beschaffen sei, und wie viele tausend Trinkgläser sie
alljährlich schmuggeln und verkaufen. Ich verwünschte den Böhmaken,
seine Adlernase, sein schönes Auge, seinen ehrwürdigen Bart und den
holländischen Krämer, der ihn zum Sprechen gebracht; ich verwünschte
vor allem meine eigene Torheit, von einem General der alten Armee zu
träumen; seine silberne Uhr fand ich jetzt ganz in der Ordnung, in sein
schmieriges Souvenir schrieb er keine erhabenen Erinnerungen, sondern
Kunden und Gläser ein, und wenn er mit dem melancholischen Auge über
das Land hinstreifte, setzte er Kaisergulden in Dollars, und schlechte
Konventionskreuzer in schlechtere Maravedis um. Ich schämte mich, in
der Physiognomik noch so weit zurück zu sein; denn jetzt hatte der alte
Kerl allen Schimmer der Einbildungskraft verloren und erschien mir,
genauer betrachtet, wie ein ganz gewöhnlicher böhmischer Musikant, wie
man sie, gelb und sonnenverbrannt, mit dicken Bärten und dunkeln Augen
umherziehen sieht; um ihn nicht zu sehen, schloß ich die Augen und
drückte mich in meine Wagenecke.


            _Acht bis neun Uhr._

Das Auge der schönen Dame glänzt wieder, aber der Wind mag ihr noch zu
heftig sein, sie hat die Kapuze noch immer nicht zurückgeschoben. Der
dicke Mann sucht ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen, aber sie antwortet
einsilbig, und diese Zurückhaltung freut mich, denn ich kann den
feisten Holländer, seit er Spanisch sprach, noch weniger leiden als
zuvor. Er fährt übrigens mit großer Ruhe fort, ihr den Namen jedes
Dorfes zu nennen, das man an der Landstraße sieht, und weiß einige
Anekdoten von dem Maire von Fouligny, welches eben hinter uns liegt, zu
erzählen. Dabei lacht er aber immer zuerst, legt, wenn die Schneide der
Anekdote kommt, seine Hand zutraulich auf den Arm der jungen Dame, um
sie gleichsam einzuladen, sich ebenfalls mit ihm und den Böhmen halb
tot zu lachen, und hält es für keine Beleidigung, wenn sie (offenbar
mit einem Seitenblick auf mich) unwillig ihren Arm zurückzieht.

Der dicke Mann befand sich gerade mitten in einer Geschichte, die zu
meiner großen Besorgnis für das zarte Ohr der jungen Dame etwas obscön
zu werden drohte, als man hinter dem Wagen einigemal heftig: ~halte!
postillon! halte!~ rufen hörte; zugleich jagte ein Reiter vorüber,
der einen großen Brief emporhielt. Der Wagen hielt, Kondukteur und
Postillon fluchten; der erstere schwang sich nach einigem Wortwechsel
von seinem Imperial herab und trat dann mit dem großen Brief an unserem
Schlag herauf, musterte die Gesellschaft aufmerksam, zog seine Mütze
und bot den Brief herein. Ich saß zunächst, nahm ihm den Brief aus
der Hand und las die Ueberschrift: ~A monsieur, monsieur le Comte
Blankenspeer, à Saarbruk, poste restante, citissimo~. Da stieg der
schlafende Schneider auf einmal bei mir im Preis, denn niemand anders
konnte der Graf sein; des Kondukteurs ~allons, monsieur!~ und ein Stoß,
den ich ihm in die Seite gab, weckten ihn; ich überreichte ihm den
Brief, er starrte ihn gedankenlos an und gab ihn dann kopfschüttelnd
und murrend zurück. Der Kondukteur wurde ungeduldig über die Zögerung:
»~Allez, messieurs~,« rief er, »~qui est donc monsieur le Comte de
Blanquesepère?~«

»Ist der Brief an mich?« fragte der Holländer verwundert, riß ihn mir
aus der Hand, las flüchtig die Adresse -- und erbrach das Siegel.
Schnell zog er darauf die Börse, befriedigte den Kurier, den man ihm
nachgeschickt hatte, und der Wagen fuhr weiter. Aber ich -- sah mich
zum zweitenmal getäuscht, und um so bitterer, als der Herr Graf zwar
nach wie vor die Miene eines holländischen Käsekrämers behielt, aber
das Mädchen mit den schwarzen Augen es jetzt gar nicht mehr bemerken zu
wollen schien, daß seine Hand schwer auf ihrem runden Arme ruhe; ja,
zu meinem Aerger lachte sie sogar einigemal mit heller Stimme auf, als
der Herr Graf die Gnade hatte, einige Schnurren aus seinem Leben zu
erzählen.


            _Von neun bis zehn Uhr._

In Courcelles wurde zum Frühstück angehalten. Wir traten in das
freundliche Zimmer, wo bereits auf dem großen Roste die Kotelettes
knisterten; die Männer legten Mützen und Mäntel ab; das Gewölk, das um
das Haupt der Jungfrau hing, zerriß plötzlich, und mir war, als erwache
ich jählings aus einem schmeichelnden Traume. Wer sah nicht schon ein
unbekanntes Schloß aus dem Morgennebel tauchen? Man mustert es; es ist
bewohnt, ist nicht übel gebaut, ist vollständig unter Dach, aber der
Totaleindruck, und hier eine Efeuranke, dort eine unvermauerte Ritze,
hier ein Krähennest, dort ein schlimmer, einspringender Winkel am
Dachstuhl verkünden laut, es habe seine schönste Zeit gesehen. Wenn ein
solcher Zustand einer Baulichkeit herkömmlichermaßen etwas Poetisches
hat, so war der analoge Zustand meiner Reisegefährtin nur zu sehr
geeignet, mich in die platte Wirklichkeit zurückzuwerfen; kurz, ich
hatte ein ziemlich erhaltenes Exemplar einer alten Jungfer vor mir, und
die schönen, schwarzen Sterne, die Verführer meiner Einbildungskraft,
und die Reminiszenzen einer Jugendblüte, die keine Frucht getragen,
preßten mir jetzt nur den Seufzer aus: warum kann man solche Brillanten
nicht aus der alten Hülse brechen und modern fassen lassen? Wie mancher
~Seigneur châtelain~ mit jedem Quader, der von den Zinnen seines
Erbsitzes in den Graben stürzt, froher und lebenslustiger wird, so war
meine Unbekannte, wie dies so gewöhnlich ist, mit den Breschen, welche
in den Wall ihrer Zähne gefallen waren, regsamer, ihre Zunge geläufiger
geworden; denn kaum hatte sich der General-Glashändler einen Zipfel der
Serviette in das Ordensknopfloch gesteckt, kaum standen die duftenden
Kotelettes auf dem Tisch, so sagte mir die Kadenz ihres quiekenden
Sprachinstruments, daß sie eine meiner südlichen Landsmänninnen aus
den Grenzmarken von Schwaben und Franken sei, und ungefragt gab sie
uns zum besten, wie sie ihren Herrn Bruder, den Kaufmann Morgenstern
zu Paris, in einer wichtigen Angelegenheit besuche. Ihr Herr Bruder
habe im vorigen Jahre durch die grobe Unwissenheit der französischen
Hebammen den Stammhalter des französischen Zweiges des Morgensternschen
Hauses verloren; da nun jetzt wiederum nahe Hoffnung zum Aufgang eines
neuen Morgensternes sei, so habe er sich entschlossen, trotz der
französischen Erziehungskunst, trotz der Protestationen von Madame,
denselben ~à l'allemand~ aufgehen zu lassen, und deshalb _sie_, seine
Schwester, berufen, die durch langjährige Praxis sich damit vertraut
gemacht habe, wie in der Morgensternschen Familie die Sauglappen
gebunden und der Kinderbrei gebraut werde. Zur Bekräftigung ihrer
Aussage und damit in keinem Winkel unserer Herzen ein Argwohn über
ihren wahren Charakter bleibe, teilte sie uns mit triumphierender Miene
lithographierte Karten aus, auf denen in gotischen Buchstaben zu lesen
stand: ~Jules Morgenstern, marchand tailleur, palais royal, galerie
de bois No. 65 à Paris etc.~ Unter diesem interessanten Gespräch ging
das schmackhafte Frühstück vorwärts, alle Details einer deutschen
Wochenstube wurden besprochen und mit den französischen Instituten
derselben Art verglichen. Der Herr Graf, überhaupt ein sehr leutseliger
Herr, ging mit Herablassung und Sachkenntnis in die populäre Materie
ein, und selbst die Böhmen fanden beim Artikel der Milchgläser und
Saugflaschen Gelegenheit, ein kritisches Wort anzubringen. Auf diese
Weise war die Genesis sämtlicher gräflich Blankenspeerschen und
Schneider Morgensternschen Sprossen abgehandelt worden, und schon
begann ich zu fürchten, daß nun die Reihe an die böhmische Deszendenz
kommen möchte, als sich der Kondukteur den Mund wischte, und Madeleine
mit ihrem Teller und ihrem: ~Messieurs, n'oubliez pas la fille!~ das
Zeichen zum Aufbruch gab. --



Hochzeitgruß an Karl Grüneisen.


            _Berlin_, den 18. September 1826.

        Mein lieber Vetter!

Entweder kommt dieser Brief vor Deiner Hochzeit zu Dir, oder er kommt
gerade recht dazu oder nachher. In beiden ersten Fällen begünstigt
mich der Zufall, im letztern wirst Du auch ~post festum~ den guten
Willen für die Tat nehmen. Ich möchte Dir nämlich recht viel Glück
und Segen in diesem Stande wünschen, und diese, Du hast sie ja schon,
sollen lange und ungetrübt bei Dir verweilen. Wie ich noch klein
war, dachte ich mir das Heiraten als eine sehr leichte Sache und
wußte nicht, warum die Leute so viel Wesen davon machen und sogar
in die Kirche gehen. Ich dachte, sie ziehen zu einander, die beiden
Brautleute; _er_ sorgt dafür, daß Geld ins Haus kommt, und _sie_ kocht
ihm dafür allerlei, was er haben mag, und hält Haus. Es ging mir aber
damit wie mit dem Konfirmieren. Auch bei diesem Aktus kamen mir die
Menschen und ihre Zeremonien wunderlich vor; die Knaben und Mädchen
blieben ja, was sie waren, und wuchsen unter der Hand des Pfarrers um
keinen Zoll. Als ich aber selbst dabei war, da ging es mir in einem
andern Lichte auf. Ich tat einen kurzen, aber ernsten Blick aufwärts
und dann ins Leben vor mir, und da kam mir alles so feierlich vor
und hatte eine andere Bedeutung gewonnen. Der Pfarrer trug nichts
dazu bei, wohl aber ein anderer. So denke ich mir, wird es auch beim
Kopulieren sein. Es gibt Augenblicke, wo der Vorhang vor unserer Seele
auffliegt, wo wir ahnungsvoll in die Zukunft blicken. Welch reiche
Aussicht hat in solchem Moment ein Hochzeiter! Liebe, treue innige
Liebe, und Kindtaufschmäuse, und Weihnachtsbäume, die er anzündet und
die dennoch auch ihm leuchten, und Spielsachen und das erste Wort des
Kindes; und wenn es erst gehen kann, und wenn die Mutter es singen
lehrt, singen die einfach schönen Lieder des Vaters, die er der Mutter
dichtete in den Tagen der Jugend! Und wenn Deine Blicke weiter und
immer weiter hinausgehen, wenn Enkel um Euch spielen und am goldenen
Abend singen: »Und als Großvater die Großmutter nahm, da war Großvater
ein Bräutigam.« Schöne Aussicht! und wie feierlich wird sie erst, wenn
Dein Auge vorüberstreift am Krankenlager, am Kummer häuslicher Leiden,
an mancher tränenschweren Stunde, die jedes wartet, so lange er auf
der Erde geht. Da faßt wohl Deine Hand mutig die Hand der Geliebten,
da schaut getrost Dein Auge in ihr Auge, da denkst Du wohl, geteilter
Schmerz ist halber Schmerz. Und Du hat recht; auch Leiden zu teilen mit
der Geliebten, muß süß sein, denn unglücklich ist nur der Einsame.

Glück auf den Weg, mein lieber Vetter, Euch kann es nimmer fehlen, denn
Eure Seelen haben sich in einem reinen, klaren Element, im Reiche der
Töne, gefunden und verstanden, und gehört denn dieses Reich nicht mehr
als jedes andere dem Jenseits an?

In meine innigen Wünsche für Dein Wohl stimmen alle Deine Freunde und
Freundinnen in Bremen und Berlin ein; Hitzigs und der Frau v. Chamisso
mußte ich Deine l. Frau oder Braut wiederholt beschreiben, und die
Ohren müssen Euch geklungen haben, als wir in Bremen im alten Rheinwein
Euer Wohl ausbrachten.

Wie gerne hätte ich meine Wünsche in einige Reime gebracht, weil nun
einmal Karmina üblich bei derlei Gelegenheiten, aber Du weißt, man muß
dazu aufgelegt sein, und einem Dichter möchte ich nicht gerne schlechte
Verse zur Hochzeit schicken. Nimm mit diesen Zeilen vorlieb und mit
einem redlichen Herzen, das Dir Gutes wünscht. Grüße mir Onkel, Tante
und Base Luise; Deiner Liebsten aber küsse, Du tust es ja gerne, die
schöne Hand und die blanke Stirne im Namen

            Eures treuen Vetters
            _Wilhelm Hauff_.



    Weitere Anmerkungen zur Transkription


    Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Die
    Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht.

    Korrekturen:

    S. 82: einmal → einmal in der Woche (laut älteren Ausgaben)
      welche regelmäßig {einmal in der Woche} des Abends

    S. 186: schimmernde → schwimmende (laut älteren Ausgaben)
      in Seligkeit {schwimmende} Bräutchen

    S. 244: Sonne → Scene
      Diese {Scene} zog mich an





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Wilhelm Hauffs sämtliche Werke in sechs Bänden. Fünfter Band" ***

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