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Title: Madonna - Novellen Author: Rosmer, Ernst, Bernstein, Elsa Language: German As this book started as an ASCII text book there are no pictures available. *** Start of this LibraryBlog Digital Book "Madonna - Novellen" *** images generously made available by Bayerische Staatsbibliothek / Bavarian State Library.) =ERNST ROSMER= Madonna Novellen Berlin S. Fischer, Verlag 1894. Inhalt. Madonna 5 =Corriger l'amour= 27 Platonisch 95 In der Mauernstraße 115 =Milost pan= 139 Madonna. Er war allein mit ihr. Seit zwanzig Jahren zum ersten Mal. Sie war tot. Er legte den Reisehut auf den alten Lehnstuhl und trat mit gefalteten Händen an die ungeschmückte Bahre. Das mädchenzarte Angesicht eines stillen tiefen Weibes ruhte auf dem schwarzen Totenkissen. In seinen Augen stieg ein altes unendliches Leid auf. »Wenn Du mich geliebt hättest, wie ich Dich!« Er ging langsam durch das große, von lebendigem Sonnenlicht durchflutete Zimmer. Ueber dem Flügel hing in schwarzem Ebenholzrahmen die Sixtina. »Fräulein Maria von einem alten Freunde zum Andenken. 25. Mai« -- stand in der Ecke. Auf dem Flügel lag die schwere Partitur seines letzten Werkes. =Missa solemnis.= Das =Agnus Dei= war aufgeschlagen. »So hat sie mich doch nicht vergessen«. Mit wehmutvoller Freude blätterte er die bekannten Seiten durch. Die Partitur mußte viel gespielt worden sein. Verschiedene Druckfehler waren auf kundige Weise ausgebessert. Am Rande standen allenthalben musikalische Anmerkungen. Er las sie langsam durch. »Wie richtig! Welch' vornehmes künstlerisches Gefühl. .... Freilich, hier wäre die Mollterz besser«. Er schrieb sich die Stelle in sein Taschenbuch und schlug die letzte Seite um. Da lag ein großes versiegeltes Couvert. In festen klaren Zügen stand sein Name und seine genaue Adresse darauf. »Nach meinem Tode dem Adressaten zu übergeben und nur von ihm zu öffnen«. Sein Eigentum. Sein ernstes altes Gesicht war von junger Glut übergossen. Von ihr! Er rückte einen Stuhl an die Bahre und brach langsam die Siegel auf. Feine weiße Papierbögen mit blauer Seide zusammengeheftet fielen ihm entgegen. Er nahm sie auf. Sie waren ganz mit schmalen festen Schriftzügen bedeckt, die einige Jahre alt sein mochten. Er las: -- »Wenn ich tot bin, sollst Du wissen, wie's gekommen ist. Ich hab' Dich immer lieb gehabt. Als kleines Mädchen schon, da Du mich »Aennchen von Tharau« und »Jetzt geh' ich an's Brünnele« singen lehrtest. Aber ich wußte es nicht. Ich fand Dich alt und strenge und gar nicht hübsch. Gleichwohl weinte ich heimlich, wenn Du einen Sonntag nicht kamst. Halb aus unklarer Sehnsucht, halb aus sehr klarer Selbstsucht, denn Du brachtest mir stets ein Buch, eine Spielerei, ein Naschwerk mit. An meinem fünfzehnten Geburtstag schenktest Du mir die Sixtina und nahmst Abschied. Du wolltest nach Italien. »Werden Sie mir schreiben?« fragtest Du. Ich lachte. »Nein, ich mache zu viele orthographische Fehler«. »Die werde ich Ihnen korrigieren. Also schreiben Sie mir und wäre es nur, daß Sie etwas lernen. Sie haben es nötig, denn Sie sind sehr unwissend«. »Ich will aber nichts lernen. Ich bin hübsch und wenn mich einer heiraten will, geht's auch so«. Du sahst mich mit einem ganz strengen bösen Blicke an. »Ich finde Sie gar nicht hübsch«. Und Du gingst. Meine gute nachsichtige Mutter nahm mich in die Arme und küßte mich. »Warum bist Du so unfreundlich gegen ihn? Er hat Dich so gerne«. Jawohl. Aber ich wollte Dich nicht. Ich wollte einen jungen, lustigen, der meine orthographischen Fehler nicht korrigierte, und mir sagte, daß ich hübsch wäre. Der junge Lustige kam. Unserem Hause gegenüber in einer einstöckigen Villa wohnte eine kluge alte Dame. Die beste Freundin meiner Mutter seit dem Tode des Vaters. Ich kam oft zu ihr hinüber, bewunderte die vielen Bilder an den Wänden, lauter berühmte Leute, wie die Vestvali, Daudet, die Goncourts, Flaubert und viele andere. Ein einziges Oelbild war da, aber ohne berühmten Namen. Ein schönes, fröhliches Jünglingsgesicht mit tolllustigen Augen und braunem dicklockigem Haar. Das war der Sohn der alten Dame. Ein junger Schriftsteller, der in Berlin lebte und eine neue naturalistische Zeitschrift herausgab. Diesen Sommer wollte er kommen und seine Mutter besuchen. Ich war sehr neugierig auf ihn. Er kam in der Nacht an. Am nächsten Tage hatten wir ihn und seine Mutter zum Mittagsessen gebeten. Ich hatte allein gekocht und den ganzen Tisch mit blühenden Junirosen geschmückt. Mein weißes Battistkleid hatte ich mir ein wenig kürzer gemacht. Die schwarzen Lederschuhe mit dunkelblauen Stahlschnallen sahen so hübsch aus, und ich hatte sehr kleine Füße. Er war schöner als das Bild, fünfundzwanzig Jahre alt und von toller lebenatmender Lustigkeit. Wir neckten uns am ersten Tage, schlugen uns am zweiten auf die Hände und nannten uns am dritten Du. Die beiden Mütter wußten es, lachten und freuten sich. Wir waren den ganzen Tag beisammen und den halben allein. Er las mir seine Geschichten vor, die mich entzückten. Das war so leicht und unterhaltend, ich brauchte mir gar keine Mühe zu geben, um es zu verstehen. Manches fand ich ein wenig unanständig und sagte es ihm auch. Er lachte. Das wäre die realistische Schule, daran würde ich mich schon gewöhnen. Ich mochte mich aber nicht daran gewöhnen. Zu eitel und zu feig, es einzugestehen, log ich mich mit einem »wunderbar, großartig, meisterhaft« darüber hinweg. Die kluge alte Dame küßte mich und nannte mich ihr Töchterchen, wenn ich von dem Genie ihres Sohnes sprach, und was für ein großer Dichter er wäre. Eines Tages sah sie mir mit ihren schönen großen Augen fest ins Gesicht. »Möchtest Du ihn wohl heiraten?« Ich wurde sehr rot und wußte keine Antwort. Sie zog mich auf ihren Schoß. »Du bist das einzige Mädchen, dem ich ihn gönne. Ich habe Dich lieber als alle anderen. Es wäre mein größtes Glück«. Ich hatte mich immer so gefreut auf das Heiraten. Da war's auf einmal. »Ja«, sagte ich ganz leise. »Aber noch nicht gleich. Ich möchte doch den Winter erst tanzen«. Sie lachte glücklich. »Du liebes kindisches Ding. Jawohl sollst Du tanzen«. -- Drei Tage später standen wir auf unserer großen Schaukel, rings die dämmernde Sommernacht. Wir hatten uns beide müde gearbeitet und blickten nach den Sternen. »Wie blau der Himmel ist!« »In Italien ist er noch tiefer blau«, sagte er. In Italien! Ich dachte an Dich. Er wickelte meine langen Locken um seine Finger und flüsterte mir kaum hörbar ins Ohr: »Du bist ein liebes reizendes Geschöpf. Ich möchte Dich haben, ganz haben, so wie Du bist, mit dem kleinen Muttermal am Kinn und all den süßen kindischen Thorheiten. Willst Du mich?« Ich war gar nicht verwirrt, fühlte mich nur sehr geschmeichelt und gab ihm mein übermütiges lachendes Ja. Dann liefen wir durch den Garten, küßten die Rosen und küßten uns. Ganz tief innen sagte etwas, daß ich mir die Sache doch anders vorgestellt hätte. Das war ja gerade so, als wenn ich meine wunderschöne große Schreipuppe küßte. »Müssen wir's nicht der Mama sagen?« fragte ich. »»Nicht nötig. Die weiß es von selbst««. Sie wußten's beide von selbst und ließen uns noch mehr gewähren. Wir rannten stundenlang durch die stillen grünen Eichenwälder, plauderten von unserer künftigen Wohnung, zankten uns über die Tapeten, und heimlich langweilte ich mich oft unaussprechlich. Anfangs Oktober mußte er nach Berlin zurückkehren. Er war trauriger als ich. »Nächstes Jahr im Mai komme ich wieder, und dann ... Wirst Du mich nur nicht vergessen? Du bist so jung!« Schreiben sollten wir uns nicht, zu meiner großen Erleichterung. »Solch' eine Correspondenz wird leicht langweilig«, sagte die kluge alte Dame. »Er hört von mir über Dich, und Du hörst von mir über ihn«. Ich war sehr zufrieden. Am fünften Oktober reiste er ab. Wir brachten ihn zur Bahn. Ich hatte mein schönstes Taschentuch mitgenommen, um dem Zug nachzuwinken. Auf dem Heimweg weinte ich ein wenig und kaufte mir drei große Aepfel. Die aß ich Abends auch auf. In meinem Innern rührte und regte sich nichts. Ich langweilte mich in der ersten Zeit, da ich des vielen Alleinseins entwöhnt war. Da war niemand mehr, der viertelstundenlang vor mir auf den Knieen lag, mir die Hände küßte und mir erzählte, wie schön meine Augen und wie glänzend meine Haare wären. Die klassischen Bücher aus der alten Bibliothek meines Vaters verstand ich nicht. Meinen sehr mangelhaften Sprachkenntnissen durch Studien nachzuhelfen, wäre mir schon gar nicht eingefallen. Ich spielte ein wenig Klavier und arbeitete den ganzen Tag für meinen künftigen Haushalt tausend unnütze bunte Sächelchen: Zeitungshalter, Sofaschoner, Tintenwischer, Wandkörbchen und dergleichen. Am Weihnachtsabend traf ein Kästchen aus Berlin ein und eine Kiste aus Rom. In dem Kästchen war ein zierliches Armband aus glänzend farbigen Emailplatten. Von ihm. In der Kiste war der Moses des Michelangelo und ein ruhiger freundlicher Brief, der um kurze Nachricht über unser Befinden bat. Von Dir. »Du mußt antworten und Dich bedanken!« sagte meine Mutter. Ich that es nicht. Ich war zu sehr mit meinem Armband und meinem neuen Ballkleid beschäftigt. Ich tanzte in diesem Winter zum ersten Mal, tanzte viel und fand mich immer hübscher und liebenswürdiger. Es sagten's mir ja Alle. Die kluge alte Dame schrieb von meinen Triumphen nach Berlin und las mir die Antworten ihres Sohnes vor. Ich hörte äußerlich mit großer Aufmerksamkeit, innerlich sehr zerstreut zu. Ich dachte immer weniger an den guten lustigen Jungen, oder nur in Verbindung mit meinem Brautkleide und den niedlichen kleinen Capotehüten, die ich als junge Frau tragen würde. Meine Mutter hatte bei einem großen auswärtigen Geschäfte meine Aussteuer bestellt. Ich stickte mir Wäschehalter mit verschlungenen Buchstaben und dachte heimlich daran, die Hochzeit bis zum Herbst zu verschieben. Das Heiraten kam mir jetzt nicht mehr so lustig vor. Ich durfte dann nicht mehr tanzen, und das Tanzen war mir jetzt die Hauptsache. Als die Ballsaison vorüber war, sank ich in die frühere trostlose Langeweile zurück. Ich quälte meine Mutter, ärgerte mich über die kleine Stadt, wo man so wenig Zerstreuung haben konnte, und wollte Reisen machen. Die kluge alte Dame nahm meine Unruhe und Unlust zu jeglicher Beschäftigung für Sehnsucht. »Ich werde ihm schreiben; er soll schon im April kommen«. Ich freute mich mit übertriebenem Lachen und Händeklatschen, bestellte mir zwei neue Kleider, und schrieb am Abend auf vieles Drängen der Mutter einen trockenen dürren Brief an Dich. Das Schreiben verursachte mir Mühe, die Worte mußte ich aus allen Winkeln meines Gehirns zusammensuchen, ich wurde ungeduldig und namenlos ärgerlich auf Dich. Ich wollte Dich kränken, ich wollte Dir wehthun, und von einem dunklen bösartigen Instinkt getrieben, schrieb ich ganz zum Schluß, daß ich mit einem wunderschönen jungen Manne verlobt sei und ihn ungeheuer liebe. Mit dem unliebenswürdigsten Händedruck preßte ich die Marke auf das Couvert und übergab ihn dem Mädchen. Aber der Gedanke an Dich ließ sich nicht so ohne weiteres fortschicken. Ich erinnerte mich an so viel, was früher gewesen, anders als jetzt gewesen. Ich dachte an mein lang vernachlässigtes Klavier. Ich versuchte zu spielen. Meine Finger waren schwer und unbehilflich geworden. Das reizte mich. Ich spielte -- was sehr selten geschah -- einige Tonleitern und langte mir schließlich einen Band Sonaten her. Ich schlug auf -- das Adagio der Pathétique. Ich hatte es als Kind oft von Dir gehört. Einmal hattest Du mich bei der Hand genommen, mir lange in die Augen gesehen. Endlich sagtest Du: »Wenn Du ein echtes großes Weib werden willst, dann kannst Du es von diesen vier Seiten besser lernen, als durch alle Weisheit der Welt. In diesen Tönen atmet das schönste und reinste Frauengemüt«. Das fiel mir wieder ein. Ich spielte das Adagio. Es ging sehr schlecht, aber die wunderbare Musik siegte über meine Ungeschicklichkeit. Es begann etwas in mir zu zittern. Als ich zu Ende war, weinte ich. Ich weinte vor Ergriffenheit und weil ich leise, aber schmerzhaft deutlich empfand, daß ich nichts, gar nichts von dem Frauengemüt hatte, das in diesen Tönen lebte. Aber seit diesem Abende spielte ich viel, wenn es auch kein geregeltes und regelmäßiges Ueben war. Nach fünf Tagen kam Dein Brief. Ich warf ihn damals ins Feuer. Weniger zornig über den kühlen traurigen Glückwunsch als über den einen Satz, der sich in mein Gedächtniß bohrte: »Ich glaube nicht, daß Sie ihn heiraten, denn Sie lieben ihn nicht. Sie sind noch ein Kind, kein Charakter«. Ich sollte ihn nicht lieben, ich sollte kein Charakter sein! Jetzt wollte ich erst recht beweisen, wie sehr ich ihn liebte, was für ein Charakter ich war. Er kam. Ich war liebenswürdiger gegen ihn als früher, und wärmer. Aber das Adagio der Pathétique spielte ich nicht mehr. Was die Hochzeit betraf, so hatte ich meinen Willen durchgesetzt. Erst im Herbst. Und noch war es mir zu früh. Der Mai brachte sommerheiße Tage. Ich war seit dem letzten Jahre größer und stärker geworden, atmete tiefer und errötete sehr oft, ohne daß ich wußte warum. Die unnatürlich heiße Frühlingssonne machte mich tagsüber müde, während ich nachts vor den lauten Schlägen meines Herzens nicht schlafen konnte. Ich sagte es der klugen alten Dame. Sie blickte mich mit einem eigentümlichen Lächeln an, das ich nicht verstand. Drei Tage vor meinem sechzehnten Geburtstag saß ich mit ihm allein auf einem freien grünen Waldrain. Aus der Erde drang ein heißer feuchter Duft empor. Ich hatte den Kopf gesenkt. Plötzlich fühlte ich seinen Blick auf meinem Nacken ruhen. Eine brennende Empfindung und ein leichter widerwärtiger Schauer stieg in mir auf. Dennoch wandte ich mich, von einer bösen Neugier getrieben, zu ihm. Es war nur ein Moment, ein Blick -- aber dieser Blick, der wie eine sinnlich zitternde Berührung über meinen Körper glitt -- mir war's, als stände ich nackt, von unkeuscher Glut übergossen, in dieser freien, lichtvollen Natur -- o Gott! In der Nacht brach die Lüge meines Innern zusammen. Ich wußte, daß ich ihn nicht liebte. Aber was hatte ich für die Wahrheit geben müssen! Die Keuschheit meiner Seele, auf der jener Blick wie eine Entehrung brannte, nicht Entehrung vor Menschen, Sitte und Religion, aber Entehrung vor dem Höchsten, was es für ein Weib giebt, vor dem geheimnisvollen, gottähnlichen Gefühl der Reinheit. Das fühlte ich in jener Nacht. Ich lag da in stillem irrsinnigem Weinen -- ich dachte an Dich. Und ich war noch feige. Drei Tage. Drei endlose verzweifelte Tage schob ich den entscheidenden Schritt hinaus. Da kam mein Geburtstag. Er brachte mir einen goldenen Ring, den Verlobungsring. Ich nahm ihn nicht. Er verstand mich nicht, und als er mich verstand, fiel er vor mir auf die Knie. Er griff wie einst nach meinen Händen, aber der grauenvolle Ekel, der mein Gesicht erstarren machte, ließ ihn zurückfahren. Er ging, totenbleich, in trostlosem Zorn. Sie versuchten mich zu überreden. Umsonst. Ich widerstand -- nicht aus Charakterfestigkeit, denn -- nur zu wahr, ich hatte noch keinen Charakter, sondern mit dem Eigensinne der Verzweiflung um ein ewig Verlorenes. O dies ewig Verlorene, dies Ungreifbare, Unnennbare.... Nun lebten wir ganz allein. Aus dem Häuschen drüben waren sie fortgezogen nach Berlin. Ich arbeitete. Ich hatte einen freundlichen alten Herrn zum deutschen Lehrer, der mit kleinem Kopfschütteln und großer Geduld meine unglaublichen Fehler verbesserte. Nach vier Monaten schrieb ich an Dich. Nicht mehr auf buntem parfümiertem Papier, auf einem einfachen weißen Bogen einen einfachen, orthographisch richtigen Brief. Zuletzt sagte ich, daß ich nicht mehr verlobt sei. Seitdem schrieben wir uns regelmäßig. Du wurdest nicht müde, mir gute und treue Worte zu sagen. Meine Lebensanschauung habe ich aus Deinen Händen empfangen. Ich fing an zu verstehen, daß wir keinen Richter über uns erkennen dürfen, als das Ideal, das strenge, unerbittliche Ideal, nicht das nach den Forderungen der Menschen zugeschnittene. Ich fing an zu verstehen, warum ich ohne Schmerz und Vorwurf an jene thöricht-traurige Spielerei denken konnte, bis zu dem Augenblicke, wo ich innerlich schuldig geworden war. Das blieb. Das ließ sich nicht hinwegweinen oder hinwegarbeiten. Das blieb. Nach drei Jahren kamst Du wieder. Ich war nicht mehr hübsch. Aber ich war still und gut geworden. Eine kleine Freude machte es mir, Dich mit allem zu überraschen, was ich gelernt hatte. Französisch, englisch und italienisch. Ich hatte die Klassiker gelesen und konnte auch schwere Bach'sche Fugen spielen. Du gabst mir Compositionslehre, um mir das Partiturlesen zu ermöglichen und meinem instinktiven Verständnis durch das theoretische nachzuhelfen. Ich weiß noch sehr gut, was Du bei den falschen Quinten und Oktaven sagtest: »Man hört sie oft nicht, sie dürfen aber doch nicht gemacht werden«. Ja .... man hört vieles nicht mit Menschenohren und sieht vieles nicht mit Menschenaugen, und doch darf es nicht geschehen. Dein vierzigster Geburtstag kam. Du verbrachtest ihn bei uns. Ich hatte mittags in der Küche zu thun. Als ich etwas spät ins Eßzimmer kam, hörte ich Dich und die Mutter im kleinen blauen Salon reden. Wie es schien, ernsthaft. Ich wollte nicht stören. Ich nahm mir eine Arbeit. Durch die offene Thür klangen Eure Worte. Die Mutter fragte: »Warum haben Sie nicht geheiratet?« -- -- -- Deine Worte fielen wie schwere heiße Thränen auf mein Herz. »Ich möchte nur ein Weib lieben, das ich hoch über alle andern stellen, das ich als ein einziges, auserwähltes ansehen kann. Zu diesem Weibe müßte ich beten können, wie zur Madonna. Auf ihrer Stirne dürfte kein Hauch und in ihrem Herzen kein Fehler sein. Ich hätte sie zu lieb, um es ihr vergeben zu können. Bei dem Unendlichen darf es kein Begnügen und keine Nachsicht geben. Ich muß fraglos anbeten und mich in den Staub niederwerfen können: »Ich verdiene Dich nicht, aber ich kann Dich nur lieben, wenn Du bist wie das Licht selbst«. Solch' ein Weib habe ich noch nicht gefunden -- ein Weib wie Ihre Tochter«. Ich starrte mit weiten Augen in die große flammende Mittagssonne. »Meine Tochter -- Wissen Sie, daß sie verlobt war?« »Ich weiß es. Aber gnädige Frau, halten Sie mich nicht für eine so kleine Natur, daß ich solch' einer äußerlichen Sache nur einen Gedanken schenken würde. Diese empfindungslose Kinderthorheit hat die Seele Ihrer Tochter nicht berührt. Sie ist rein -- wie Madonna«. Die Nacht! Ich sah Dich vor mir stehen und lag mit gefalteten Händen vor Dir auf den Knieen. Ich liebe Dich -- und kann Dir's nicht sagen, denn ich kann nicht mehr Madonna für Dich sein. Ich bin schuldig -- und wenn ich's Dir gestehen könnte, so könnte ich mir's doch nicht von Dir vergeben lassen. Du darfst mir nichts zu vergeben haben, Du bist zu hoch dazu und ich liebe Dich zu sehr. Ich bin besser als die Anderen, aber nicht gut genug für Dich. Ich bin stolzer als die Andern, und liege hier vor Dir auf den Knieen: ich liebe Dich. Ich habe Dir's nie gesagt. Ich konnte nicht, ich konnte nicht. Jener Blick stand nachtdunkel zwischen diesem Wort und mir. Ich ließ Dich gehen und sagte meiner weinenden Mutter: »Ich liebe ihn nicht. Nein. Nein«. Mein lebendiges Leid hat sich nicht so leicht im toten Herzen begraben lassen. Manchmal wachte es auf und schrie mir mein Elend in die Ohren. Ich wurde älter und sah, wie die Menschen lügen und sündigen, ohne es für Lüge und Sünde zu halten. Ihnen mußte ich lächerlich sein. Aber mein Ideal mit den traurigen goldenen Augen sprach anders. Die Mutter starb. Ich war ganz einsam. Ich hörte durch die Zeitungen viel von Dir. Dies und Deine Werke waren mein einziges Glück. Ich wußte auch, daß Du nicht geheiratet hattest .... Du konntest keine Madonna finden. Ich lebe still weiter, freue mich, armen Menschen helfen zu können, und sterbe langsam. Ich liebe Dich zu sehr. Und nun, da lange fünfzehn Jahre vorbei sind, habe ich Dir diese meine Geschichte erzählt. Du sollst sie lesen, wenn ich tot bin. Zu meinem Begräbnis soll meine alte Pflegerin Dich rufen lassen. Ich weiß, daß Du kommen wirst. Du sollst wissen, daß ich Dich geliebt habe, und doch solltest Du mich nicht Madonna nennen. Es wäre eine Lüge gewesen. Sage mir, daß ich recht gethan habe. Nun weißt Du, wie's gekommen ist«. -- Das Abendrot hauchte seine Lichter auf die Stirne der Sixtina. Ein Abglanz fiel auf das Antlitz der toten Maria. Es war so ernst und herrlich rein, wie das der Himmelskönigin. Er lag auf den Knieen und neigte sein Haupt auf ihre bleichen Hände. »Du hast recht gethan -- Madonna«. =Corriger l'amour= Soll ichs? ... Es ist ein hübscher Junge und ich ennuyiere mich. Mein geliebter Gemahl ist den ganzen Tag in den Bergen. Er sitzt am See; schreibt seinem Aussehen nach Gedichte. Ich? ... was thue ich? Brauche möglichst lang zu meiner Toilette; lasse mir von der Köchin das Menu zeigen; sitze auf der Veranda und bilde mir ein, See, Wald und Berge zu zu bewundern. =Voilà tout.= Ah, meine Gnädigste, in solcher Stimmung ist's verzeihlich, ein Tagebuch zu beginnen! Fünfundzwanzig Jahre und ein Tagebuch! Lächerlich! Aber die Langeweile ... Dazu ärgerten mich die weißen, öden Blätter. Ich fing an, Spinnen und Fliegen darauf zu zeichnen. Und während ich es that, kamen mir die Gedanken ... Es ist wirklich ein hübscher Junge. Noch ein wenig blaß von seiner Krankheit. Und so gut erzogen, so rührend ungalant ... Vor acht Tagen kam der Brief seines Vaters. Fritz las ihn. Ein-, zweimal. Dann schob er die Cigarette in den rechten Mundwinkel. Ah! macht' ich in Gedanken. Der will etwas. Die Cigarette wanderte wieder in den linken Mundwinkel. Mich geht's auch an? So! Pause. Ich sah auf die Badestatuette von Tabachi. Man sagt, ich sehe ihr ähnlich. Ich gähnte. Thea! Fritzl? Der Lobkowitz hat geschrieben. So. Was? Sein Jüngster, der Ossi, war krank. Nervenfieber. Hat sich beim Examen überarbeitet. Er möchte ihn auf's Land schicken; zu uns. Willst Du? Wie alt ist der -- Ossi? Neunzehn oder zwanzig, weiß nicht recht. Also willst Du? Neunzehn, zwanzig -- nein. Aber Thea! Fritzl, sei vernünftig. Der Junge ist neunzehn, meinetwegen auch zwanzig. Ich bin hübsch. Wir leben hier sehr einsam. In acht Tagen ist er verliebt in mich bis über die Ohren und wir haben den Skandal. Fritz lachte. Das ist Deine ganze Besorgnis? Möglich, daß er sich in Dich verliebt. Sicher, daß ich einen Skandal verhindre. Ich lasse ihn kommen. Und er kam. Ganz anders, als ich ihn erwartet hatte. Schlank, brünett, mit der zigeunerischen Noblesse des slavischen Adels, aber zugleich schüchtern, linkisch, wie ein bürgerlicher Privatdozent. Keine Spur von =savoir-vivre=. Und sein Vater ist Gesandter! Ich interpellierte Fritz. Wo hat der Lobkowitz seinen Jungen erziehen lassen? Weiß nicht. Keinenfalls in Paris. Der Fred hat ihn zu viel Geld gekostet. Darum sollte der Ossi wohl desto solider werden. Ich glaube, er hat Philosophie studiert. Bist Du nun ruhig, daß er sich nicht in Dich verliebt? Ganz ruhig, mein Herr Gemahl. Aber Sie hätten das nicht so spöttisch zu sagen brauchen. -- Mein philosophischer Graf sitzt noch immer auf seinem Felsen, dichtend ... Was gilts? Eine Spielerei von zwei Monaten -- =ce n'est que le premier pas qui coûte=. Soll ichs? -- Ich werds! _21. Juli._ Ich las, was ich gestern geschrieben. Es amüsiert mich. Ich werde weiter schreiben. Ich langweile mich noch immer. Die -- Affaire ist noch nicht im Gang. ... Sentimental wird mein Tagebuch nicht. In dieser Richtung bin ich ein Genie an Talentlosigkeit. Sentimental -- Affaire -- Genie -- wie unlogisch ich durcheinander schreibe. Ah, =laissons=! Logik ist die schreckliche Begabung der gelehrten Frauen; ich kann sie nicht leiden; sie verstehen nichts von Koketterie. Ich bin nicht gelehrt; kokett? -- Ich spreche französisch, nicht mit schwerfällig-deutscher Institutsrichtigkeit, sondern so anmutig und unordentlich, als käme ich aus dem tiefsten Paris; englisch wie eine Lady, deren Augenbrauen weißer als ihre Haut sind; italienisch -- man hat mich für eine Toskanerin gehalten. Weiter kann ich nichts. Oder von allem ein wenig. Natürlich spiele ich Klavier. Mit viel Technik und wenig =sentiment=. Manchmal phantasiere ich auch, =cela veut dire=, ich spiele eine unmögliche Melodie, dazu suche ich mir noch unmöglichere Akkorde. Kurz, es sieht in meinem Kopf aus wie in einem =bric-à-brac=-Laden. Ich weiß es ganz genau und mache mir gar nichts daraus. Die Grisettenwirtschaft solch eines =bric-à-brac=-Ladens ist weit interessanter als die anständige Steifheit wohlgeordneter Wohnzimmer. Ich habe mich in Paris mit Daudet, in London mit Gladstone, in Bayreuth mit Wagner aufs beste unterhalten. Ohne jede Gelehrsamkeit. Ein wenig Esprit, ein wenig Koketterie. Ich kenne all meine Fehler und finde sie alle reizend. Z. B. meinen Egoismus. Ich beweise ihn schon dadurch, daß ich nur von mir rede. Da ist ja noch -- =monsieur mon mari=. Ich liebe ihn heute ebenso wie vor fünf Jahren an unsrem Hochzeitstage. Mittelmäßig. Warum ich ihn geheiratet? Er war zweiunddreißig Jahre, die Perfektion eines Kavaliers, sein Vermögen groß genug, um mir Toiletten =à la= Sarah Bernhardt und Diamanten =à la= Judic zu gestatten; und in mich verliebt! Sehr! Ich? ich wußte recht gut, daß mein Ministerpapa eine glänzende Einnahme, aber kein Vermögen habe. Die glänzende Einnahme wurde durch ein glänzendes Leben verbraucht. Meine Heirat mit Baron Gersewald war das Vernünftigste, was ich thun konnte. Ich that es. Fritzl ist heute wie vor fünf Jahren galant, liebenswürdig, verliebt. Wir leben in der größten Harmonie. Wir sind beide nicht eifersüchtig. Wir wissen beide, daß wir uns hie und da etwas vorlügen. Was die gegenseitigen Wünsche angeht, schicken wir uns ineinander. Vier Wintermonate in Paris, reizendes Hotel Place Vendôme, das ist für mich. Drei Sommermonate Eibsee, einsame Villa, das ist für ihn. Eine Laune meines seligen Schwiegervaters hat diese Bonbonnière in die Felseneinöde gestellt. Die Gegend entzückte ihn, doch nicht genug, um sie ohne Comfort genießen zu wollen. Fritz hat seine ersten Lebensjahre fast ausschließlich hier verbracht; wahrscheinlich ist seine Bergfexerei auf diesen Umstand zurückzuführen. Sie stimmt keineswegs zu seinem übrigen Charakter. Vor einigen Tagen fand ich in einem Winkel mehrere seiner Schulbücher. Besonders amüsierte ich mich über ein dickes Buch: Homer. Voller Tintenflecke und Eselsohren. Ich zeigte es Fritz. Weißt Du noch etwas davon? Er lachte: Kein Wort. Mir ist der Aufenthalt hier nicht unbequem genug, um mich dagegen aufzulehnen. Die Luft, die Ruhe die Bäder sind der Gesundheit sehr zuträglich. Volle Gesundheit trägt wesentlich zur Verlängerung der Jugend und Schönheit bei. Ich möchte mir beides möglichst lange erhalten. Aber es ist schwer, hier zu leben, wenn man für sogenannte Naturschönheiten keinen Sinn hat. Fritzl ist tagelang in den Bergen. Ich glaube, er war schon ein dutzend Mal auf der Zugspitze. Die längste _meiner_ Fußpartieen erstreckte sich nur bis nach Lermoos. Seitdem sitze ich lieber zu Hause oder mache kurze Spaziergänge an den Frillensee. Baadersee ist mir schon zu weit; dazu der Rückweg bergauf. Auch wohnen mir in dem kleinen Hotel zuviel Kaufleute und Commerzienräte. Ich befinde mich trotz der Langeweile immer noch am besten -- =chez moi=. Unser philosophischer Graf bleibt auch zu Hause. Das Bergsteigen ist ihm noch verboten ... =L'affaire?= Ist noch nicht im Gang. Zum ersten Mal weiß ich nicht, wie einem Menschen beikommen. Wir sehen uns Mittags und Abends. Morgens ist er von fünf Uhr ab im Wald; Fritz in den Bergen. Punkt zwölf kommt der Graf zurück. Rasch, erhitzt, zerzaust. Er muß über die Veranda, an mir vorbei. Drei Schritte entfernt bleibt er stehen. Sein überkorrektes Compliment ist steif und ungeschickt. Er dreht seinen weichen Schlapphut in den Händen und wird ganz unmotiviert rot. Wie haben gnädige Frau geruht? Danke, Graf, gut. Sie? Vortrefflich, gnädige Frau. Erlauben Sie, daß ich jetzt meine Toilette in Ordnung bringe. Wieder ein eingelerntes Compliment. Er geht. So eilig als es mit der Höflichkeit vereinbar ist. Bei Tisch führen Fritz und ich die Conversation. Der Graf spricht nur, wenn er gefragt wird. Wir fragen nicht mehr. Seine Antworten sind zu einsilbig. Auch wird er immer bis an die Haarwurzeln rot. Ich habe eine unwiderstehliche Lust, ihn durch boshafte Bemerkungen in Verlegenheit zu bringen. Fritz verbot es mir. Er hat ein =faible= für den Grafen. Warum, kann ich mir nicht erklären. Vielleicht weil er ihn für gar so ungefährlich hält. Er ist es auch. Und doch ... 22. =L'affaire s'en va= ... Fritz hat sich für fünf Tage verabschiedet. Er macht eine Tour nach Tirol. Gestern Abend teilte er es mir mit. Der Graf stand dabei. Ich hoffe, Ossi, daß Sie der Baronin während meiner Abwesenheit Gesellschaft leisten. Der Graf wurde rot -- und schwieg. Das aigrierte mich. Ich werde den Herrn Grafen in keiner Weise bemühen. -- Ich klingelte. -- Heinrich, Sie werden morgen dem Herrn Grafen hier, mir auf meinem Zimmer servieren. Ich machte ihm eine förmliche Verbeugung. Mit einem ganz kleinen Blick bemerkte ich, wie er sich auf die Lippen biß. Ich lächelte innerlich. =Ça commence.= Eine Stunde später trat Fritz in mein Boudoir. Thea, Du warst unartig gegen den Grafen. Nur Revanche. Er ist schüchtern. Nein, ungezogen. Ich zerdrücke einen kleinen, roten Chenilleaffen, der an einer blassen Chrysanthemenblüte hängt. Fritz beobachtet mich. Ich fühl's. Thea -- ich werde meine Partie nicht machen. Ich erschrak. Ich hatte mich unklug benommen. Das mußte wieder gut gemacht werden. Gleichgiltig, unbeweglich blickte ich vor mich hin. Es ist nur Deine Pflicht, mich nicht allein zu lassen mit dem dummen Jungen. Ich accentuierte die »Pflicht« sehr scharf; den »dummen Jungen« ließ ich fallen -- eben weil er mir die Hauptsache war. Er sah mich an, drehte bedächtig die feinen Spitzen seines blonden Schnurrbarts: Ich werde meine Partie doch machen. Ich spielte die Zornige: Wirklich? Nun dann bitte ich, sie sofort anzutreten. Er küßte mir langsam beide Hände: Sie sind reizend, Baronin. Er ging. Ich schlief sehr ruhig. Gegen vier Uhr weckte mich das Oeffnen der Zimmerthür. Fritz. Er beugt sich über mich. Ich stelle mich fest schlafend. Madame -- Mylady -- Signora! Ich rühre mich nicht. Thea -- hübschester kleiner Satan, der je -- Ich konnte das Lachen nicht mehr verbeißen, schlug die Augen auf. Er setzte sich auf den Bettrand und nahm meinen Kopf in seine Arme. Ich gehe fort, Kleine. Sei artig während meiner Abwesenheit. Quäle den Grafen nicht. Ich habe Befehl gegeben, daß ihr zusammen diniert. Das Souper will ich Dir schenken. Ich setze mich kerzengrade auf: Ich werde nicht mit dem Grafen dinieren. Die Erklärung nehme ich mit Vergnügen an; doch nur die Erklärung. Im übrigen wirst Du die Liebenswürdigkeit haben, meine Anordnung anzuerkennen. Nein. Mein liebes Kind, dies »Nein« ist gleichbedeutend für mich mit einer Blamage vor den Dienstboten. Und wenn ich auch duldsam wie ein Lamm bin -- darin nicht. Ich zerreiße die Picots an den Seidenbändern meines Nachtkleides. Also ja? J ... j ... ja. Er will mich küssen. Ich vergrabe den Kopf in die Polster. Er küßt mich in den Nacken und lacht leise: Baronin, ich nehme mir ein Andenken mit. Ich schaue rasch um. Er hält eines meiner Morgenpantöffelchen in der Hand und mißt es mit Daumen und Zeigefinger. Welche Nummer? Hm! 35! Nein 33! rufe ich eifrigst. Er sieht mich komisch-ungläubig an: Wahr? Dann neigt er sich dicht zu mir: Ich muß es doch wissen. Ich habe dies Cendrillonfüßchcn oft genug in der Hand gehabt. Adieu. -- Jetzt sitze ich auf der Veranda. Schreibend. Der Graf wird kommen. Ich habe eine Toilette gemacht, eine Toilette -- --! Er versteht nichts davon, ich weiß es. Doch empfindet jeder Mann unwillkürlich den Zauber eines guten Ensembles. Spitzen, nichts als Spitzen. Weich, weiß. Nachlässige Draperien von reizender Unregelmäßigkeit. Mein Gesicht habe ich nach meiner Toilette eingerichtet. =L'air de petite fille.= Das steht mir. Und grüßen werde ich ihn, grüßen -- -- so, daß er mich anreden muß. Da kommt er. Sehr langsam. Ist ihm unbequem, daß er an mir vorbei muß. Sehr gut, sehr gut. Ich vertiefe mich eifrigst ins Schreiben. Uebers Papier hinweg sehe ich seinen schmalen Fuß ... _Halbe Stunde später._ Die Philosophie? Ich lache! Ah Herr Graf, sie wird Sie nicht schützen gegen Ihre zwanzig Jahre. Soll ich schreiben? Das eben stattgehabte Gespräch? Mir zuckt's und prickelt's in den Fingern. Also ... Der Graf kam die Treppe herauf. Ich kratzte zwanzig i-Striche nacheinander. Ich mußte ja schreiben. »Guten Morgen, gnädige Frau.« Mein Ohr seziert den Ton, in welchem er die vier Worte spricht. Schüchternheit und Trotz; so das Resultat meiner raschen Analyse. Ich hob den Kopf, dankte ihm, ohne zu sprechen. Gnädige Frau ... Ich sehe mit dem liebenswürdigsten Gesichtsausdruck an ihm vorbei. Er ist tötlich verwirrt. Gnädige Frau, ich ... ich bin sehr ungeschickt. Gewiß. Er wird weiß bis in die Lippen. Noch siegt die Philosophie über seine gekränkte Mannheit. Das ist mir nicht recht. Ich muß ihn reizen, reizen, bis er sich vergißt und .... Gnädige Frau, ich habe Sie gestern beleidigt. Graf, beleidigen können Sie -- mich nicht. Einen Augenblick ist's sehr still. Dann macht er mir eine tiefe Verbeugung. Sehr unkorrekt, aber zum ersten Mal frei und natürlich. Gnädige Frau, ich werde heute Abend abreisen. Wenn Sie das für das Richtige halten -- Das Richtige? Es dürfte zum mindesten ein sehr eigentümliches Licht auf mich werfen, wenn Sie nach dem ersten Tage des Alleinseins mit mir -- abreisen. Das trifft. Ich -- werde -- bleiben. Ich schaue von unten zu ihm hinauf und fange an zu lachen. Aufrichtig, Graf, wir sind doch wie zwei Kinder. Nur, daß es bei mir verzeihlicher ist. Ich bin eine Frau. Sie, ein Mann, der Philosophie studiert hat .... Er, sehr bitter: Aber keine Lebensart. Nein. Ich habe es Ihnen schon zu verstehen gegeben. Sehr deutlich!!! So? Das kann Ihnen doch nur gefallen. Ein Philosoph, ein Verehrer der Wahrheit ... Das bin ich. Beweisen Sie es. Was unsere heutige Unterhaltung angeht -- =passons=. Von heute an werden Sie ein wenig höflicher, ich ein weniger nachsichtiger sein. Ja. Mein Mann hat meinen gestrigen =faux pas= schon wieder gut gemacht. Wir dinieren zusammen. Ich weiß. Er hat es Ihnen schon gesagt? Desto besser. Heute Morgen winkte mir die angenehme Aussicht, in Ihrer Gegenwart keinen Bissen genießen zu können. Ich hoffe, es wird besser gehen, aber -- -- Aber? Appetitanregend sind Sie auch gerade nicht, Graf. Ein schwaches, finstres Lächeln huscht um seine Mundwinkel. Ich habe mich noch nie um diesen Ruhm bemüht. Und ich, um eine Nuance wärmer als bisher: Wollen Sie es heute versuchen? Nein! Ah! Gnädige Frau -- -- Sie -- wollen -- mir gefallen. Einen Moment bin ich starr. Nur einen Moment. =Vogue la galère.= Ja. Er blickt mich mit unverhohlener Entrüstung an. Ich habe keinen Spiegel. Kann mich nicht sehen in diesem Augenblick. Doch weiß ich genau, wie ich aussehe. Sonnig. Lieb. Kindlich. Ich _will_ Ihnen gefallen. Ist das etwas Schlimmes? Ich will jedem Menschen gefallen. Ich bin mit Allen liebenswürdig, um Allen liebenswert zu sein. Mein Mann hat Sie gerne, Graf. Er hält Sie für eine besondere Natur. Soll ich mich da nicht bemühen, Ihnen zu gefallen? Ich wende den Kopf so, daß mir die Sonne gerade in die Augen scheint. Ich habe sehr schöne Augen. Sie glänzen im Sonnenlicht wie Tautropfen. Und mit diesen Augen sehe ich ihn an ... er ist eine Weile ganz stumm. Ich habe Unrecht gethan, gnädige Frau. Ich werde es gut machen. Und langsam, langsam tritt er ins Haus. Und jetzt! Ich bin lebhaft geworden; lebhaft vor Freude und Kampflust und Bosheit. Dieser kleine Graf! »Sie wollen mir gefallen!« Ja, ja, ja, das will ich -- und ich werd's. _Nachmittags._ Ich hätte nicht gedacht, daß ein Tagebuch so anziehend werden könnte. Mir. Unser Diner -- -- =C'est un drôle d'homme.= Um was für Dinge er sich gekümmert hat. Ich wußte nicht recht, was für ein Gespräch mit ihm beginnen, und nahm darum den ersten besten Gegenstand auf. Waren Sie schon in dem Gasthof zum Eibsee? Ja. Wohl alles sehr schlecht? Nein, einfach. Ich glaube auch von einem Pensionat Krinner gehört zu haben. Ja, Pensionat und Künstlerherberge. Künstlerherberge? Es wohnen mehrere Maler dort. Außerdem sind nur noch zwei Bauernhäuser da. Eines ist uralt. Zigeuner sollen darin gewohnt haben. Die früheren Besitzer des Eibsees. Und jetzt? Wohnen ihre Nachkommen darin, derbe, dunkelköpfige Bauern. =Tiens=, wie romantisch. Sie sind sehr unterrichtet, Graf. Ich spreche manchmal mit den Leuten. Können Sie sie denn verstehen? Ich gebe mir Mühe. So. Und verlohnt es sich der Mühe? Ja. Diese einfachen sind die interessantesten Menschen. Unter diesen »interessanten Menschen« sind wohl ein paar hübsche, schwarzhaarige Dirnen? Die Mädchen sind sehr hübsch. Ah, nun verstehe ich die Anziehungskraft. Sie irren, gnädige Frau. Die Mädchen sind mir gleichgiltig. Aber es lebt in dem Hause ein vierundsiebzigjähriger Mann. Der Tonerl. Schwere Arbeit kann er nicht mehr verrichten. Er sitzt im Wald, bindet Besen und raucht seine Pfeife. Ich habe mich oft mit ihm unterhalten. Er sei schon weit herumgekommen, erzählte er mir. Nach München? fragte ich. O nein, aber bis Tölz! Werktags geht er bei gutem und schlechtem Wetter in Hemdärmeln. Sonntags hängt er sich den Lodenrock über die Schulter und steckt sich eine Rose hinters Ohr. Das sieht zu seinem zusammengerunzelten Gesicht rührend komisch aus. Ist er verheiratet? Nein. Ah, er denkt wohl ins Bäurische übersetzt: =Marriage and hanging go by destiny=? Doch nicht. Das Heiraten sei nur für reiche Leute, erklärte er mir. Sehr wahr. -- Aber Sie essen gar nicht, Graf. Ich bin nicht hungrig. Nachdem Sie den ganzen Morgen im Wald waren? Ich habe mir im Bauernhaus ein Glas Milch und ein Stück Brot geben lassen. Das hätten Sie bei uns nicht bekommen? Nein. Die Milch nicht so frisch und das Brot nicht so schwarz. =C'est un goût extraordinaire.= Wenigstens kein französischer. Sie dehnen Ihren Patriotismus auch auf Nahrungsmittel aus? Hie und da. Jedenfalls sind Sie kein Anhänger Brillat-Savarins. Wer ist das? Sie kennen doch die »Physiologie des Geschmacks«? Nein. Brillat-Savarin ist der Verfasser. Ein französischer Professor. Ich habe von dem Buch gehört. Gelesen habe ich es nicht. Ich kann es Ihnen geben. Ich danke sehr. Ich habe keine Zeit, es zu lesen. Aber mit Bauern zu plaudern? Ja. Ah, Graf, mit Ihnen werde ich nicht fertig. Unsere Ansichten gehen zu sehr auseinander. Es scheint. Glauben Sie nicht, daß wir uns vereinigen könnten? Ich bin nicht eigensinnig. Ich auch nicht. Nur überzeugungstreu. Ueberzeugungstreu! Wie pathetisch! Diesen Tragödienton goutiere ich nicht. Gehen wir lieber zur Tagesordnung über -- zum Marasquin crême. Das Diner ist vorüber. Er wünscht mir, echt kleinbürgerlich: Gesegnete Mahlzeit. Ich begebe mich in mein Toilettenzimmer. Wie kann er nur mit einem Menschen plaudern, der nach Tisch weder Nagel- noch Zahnbürste gebraucht. Unbegreiflich. Ich werde in den Wald gehen. Dann baden. Ob der Graf sich verpflichtet fühlt, mir späterhin noch Gesellschaft zu leisten -- Ja? Nein? 23. =Oui, madame la baronne!= _5½ Nachmittag._ Er kam mit einem Strauß tiefblauer Enziane aus dem Wald. Ich wartete seinen Gruß nicht ab. Dieser Strauß! =Ravissant!= Wo haben Sie die Blumen gefunden? Auf dem Weg nach den Thörlen. Da wachsen sie in Menge. Sie lieben die Blumen? Ja. Ich auch. Stellen Sie sie hier ins Glas. Ich glaube, sie welken sehr rasch. Wollen Sie nicht Platz nehmen? Wenn Sie gestatten ... Er setzt sich. Sein Auge schweift mit einem vagen Ausdruck über den sonnenbestrahlten See. Zwischen den Enzianblüten kriecht ein Marienkäferchen. Ich setze es auf meine Hand und beobachte seine ängstlichen Spaziergänge. Auch er blickt auf das Tierchen. Die Sonne schimmert durch meine geschlossenen Finger. Sie zeigt jede Blutwelle in dieser kleinen schmalen Hand. Ich fühle, wie sein Blick an meinen Fingerspitzen haften bleibt. Sind Sie schon lange von Wien fort, Graf? Sechs Jahre, gnädige Frau. Ihr Vater hat Sie nie in München besucht? Nein. Sie waren in einem Institut? Nein. In einer Familie. Das wußte ich gar nicht. Wohl bei Verwandten? Bei Fremden. Nun, ich bitte Sie, diejenigen, die einem Kreise angehören, können sich nie ganz fremd sein? Es waren Bürgerliche. Bürgerliche -- Graf Lobkowitz? Ich habe mich nie glücklicher gefühlt, als bei diesen Bürgerlichen. Ich habe ihnen sehr viel zu verdanken. Ich habe noch keine besseren Menschen kennen gelernt. Nie habe ich einen Aristokraten in stolzerem Ton reden hören. Und dieser Ton wurde für das Lob Bürgerlicher verschwendet. -- Sie sind Demokrat? Nein. Nur ein Mensch. Wollen Sie mir nicht von diesen außerordentlichen Bürgerlichen erzählen? Er schwieg. Sie können damit ein gutes Werk thun. Mich bekehren. Denn ich habe bis heute keine große Sympathie für die Bürgerlichen gehabt. Warum? Genau weiß ich das nicht. Sie verstehen nicht, sich zu benehmen. Die Männer haben keinen Takt, die Frauen keine Grazie. Lauter ästhetische Fehler, die Sie ihnen vorwerfen. Keine moralischen, keine Charakterfehler. Aesthetische Fehler verletzen mein Schönheitsgefühl. Das Schönheitsgefühl darf nicht richten, nur die Wahrheit. Sie mögen Recht haben. Ich werde darüber nachdenken -- was Sie mir wahrscheinlich nicht zutrauen. Doch jetzt erzählen Sie mir von Ihren bürgerlichen Freunden. Wie kamen Sie überhaupt gerade nach München? Meine Mutter war tot. Mein Vater war nach Paris versetzt worden, wohin er meinen ältern Bruder mitnahm. Ich hatte gegen Wien eine unüberwindliche Abneigung. Das Münchner Gymnasium, die Universität, wurden meinem Vater sehr gerühmt, und ich freute mich, etwas Neues kennen zu lernen. Und wie kamen Sie in jene Familie? Durch die Empfehlung des Fürsten Kinsky. Professor Richter ist längere Zeit bei ihm gewesen. Richter, Richter? Wenn ich mich recht erinnere, habe ich einen Professor Richter in Bayreuth kennen gelernt. Im Jahre 82. Bei Wagners. Er war sehr bekannt, geachtet und etwas gefürchtet. Er soll sehr grob sein können. Wenn man eine ganz ungewöhnliche Aufrichtigkeit dafür nehmen will -- gewiß. Professor Richter ist eben kein moderner Mensch. Um das zu verstehen müßten Sie mir erst erklären, was ein moderner Mensch ist ... und ich möchte jetzt von jener Familie hören. Die Frau? Ist eine echte Frau. Sie hat weniger Verstand als Gemüt. Kinder? Eine. Ich horche auf. Diese seltsame kurze Antwort, der Ton ... Eine Tochter? Sie heißt? Gabriele. Wie ist sie? Sein Auge wird groß und licht: Gut. Das ist nicht viel, werfe ich übereilt ein. Er mißt mich mit einem unsäglich mitleidigen Blick. Bei einem Weibe -- alles. Ist sie schön? -- Ich glaube nicht, daß er spricht, um mir Antwort zu geben. Er träumt die Worte. Sie ist sechzehn Jahre und hat goldene Locken. Sie kann lachen und weinen. Sie will nicht anders sein als sie ist. Das halten Sie für einen großen Vorzug? Ja. Dessen kann ich mich freilich nicht rühmen. Ich möchte immer anders sein, als ich bin. Denn ich bin mir lange nicht gut genug. Das gehört nicht hierher. Ich habe mich falsch ausgedrückt. Man soll nicht anders scheinen wollen, als man ist. Thue ich das? Ich glaube -- ja. Diese Worte sind zögernd und sein Auge ist traurig. Jetzt ist der Augenblick. Wenn ich ihn jetzt nur ein wenig ... Man darf nicht immer scheinen, was man ist. Am wenigsten in der Welt. Wenn ich jedes Lächeln und jede Thräne zeigen wollte -- Thräne? O ja. Sie wiederholen das Wort in so fragendem Ton ... ich habe schon bitter geweint. Nur durfte ich es nicht zeigen. Er hat mir sein Antlitz voll und ernst zugewendet. Ihrem Gatten? Auch -- ihm -- nicht. Er würde mich nicht verstanden haben. Ich zwinge mich zu einem Lächeln: Ich lebe in einer menschenreichen Wüste. Ich habe Sie für glücklicher gehalten. Das thun Alle. Und das ist's, was mich oft so tief verletzt. Sie beneiden mich um mein Elend. Elend? Ist das nicht ein zu schweres Wort? Vom allgemeinen Standpunkt aus gewiß. Was fehlt mir denn? Ich kann mir mit Konfitüren den Magen und mit französischen Stöckeln die Gesundheit verderben. Aber leider ist die Dame auch ein Weib. Und das Weib sehnt sich nach Licht und Luft, die Brust verlangt nach einem freien kräftigen Atemzug, nicht gehindert durch das seidene Corset der Convention. Und doch, gnädige Frau, habe ich gerade bei Ihnen die peinlichste Beobachtung der äußeren Form gesehen. Gewiß, so lange sie eine Rücksicht, ja mehr, eine Höflichkeit gegen unsere Mitmenschen ist. Convention nenne ich die Schranke, die meiner geistigen Ausbildung von Jugend an gesetzt wurde. Was habe ich gelernt? Fast nichts. Ich bekomme jetzt oft ein Buch in die Hand, das ich lesen und verstehen möchte. Dazu fehlt mir eine gewisse Vorbildung. Ich möchte eine Treppe hinaufsteigen, in der so und so viele Stufen fehlen. Sollte sich das nicht gut machen, nachholen lassen? Mein Mann hat zu viel andere Dinge im Kopf, um sich für diese zu interessieren. Allein, das gestehe ich offen, ist es mir nicht möglich. Und wenn ich mich erbieten wollte, Ihnen zu helfen? Sie sind sehr liebenswürdig. Danke. Ich glaube, es ist zu spät. Von Ihrem Standpunkt aus sind all meine Versuche doch nur Kindereien. Ein so ernster Mann darf sich nicht mit dergleichen abgeben. Darf nicht? Es ist des Mannes würdigste Beschäftigung, dem nach Wahrheit Strebenden zu helfen. Aber ich bin ungeschickt. Desto mehr Freude wird Ihnen das Errungene machen. Ich bereite Ihnen eine Plage ... Sie machen mir eine Freude. =Bon.= Ich nehme Sie an als Lehrer. Womit möchten Sie beginnen? Ich habe soviel von der Iliade gehört. Wollen wir sie morgen lesen, oder ist das noch zu schwer für mich? Sie verraten einen vortrefflichen Geschmack. Wir können ohne alle Bedenken damit beginnen. Ich habe eine sehr gute Uebersetzung mit. Und ich habe die von Fritz, denke ich im Stillen. Denn sonst hätte ich weder von Homer noch von der Iliade etwas gewußt. Und wo soll die erste Stunde abgehalten werden? Hier? Ich sehe ihn an. Hier? Nein. Es wäre kaum der geeignete Ort. ... Die anmutige Neugier meiner Dienstboten -- -- Sie gehen jeden Morgen in den Wald. Kann ich Sie um zehn Uhr am Frillensee treffen? Ich werde pünktlich sein. Ich auch. Ich würde gerne früher kommen, aber meine Leute sind nicht gewohnt, mich vor zehn Uhr fortgehen zu sehen. Ah, über die Convention. -- =Enfin= -- wir plauderten noch ein wenig. Das Abendrot überschimmerte meine weißen Hände. Sein Auge haftet auf ihnen -- immer wieder. Gute Nacht, gnädige Frau. =Felicissima notte.= -- Sie ist sechzehn Jahre und hat goldene Locken ... seine erste =amourette=. Natürlich. Jetzt _muß_ ich .... ah, Ihre Augen sollen nicht mehr glänzen, wenn Sie an jene denken. Sie sollen blitzen, flammen -- für mich. Ich bin sehr müde. Doch werde ich noch lernen. Für morgen. Die Iliade durchlesen. Er soll überrascht sein durch mein rasches Fassungsvermögen. * * * * * Diese Iliade! =Affreux!= Langweilig, geistlos. Kein Bonmot, keine pikante Bemerkung. Ich werde Mühe haben, das Gähnen zu maskieren. Meine Kenntnis der griechischen Geschichte erstreckte sich nur bis zur schönen Helena und Orpheus in der Unterwelt. =A demain, mon maître; après-demain, mon esclave!= 24. Morgens im Wald. Er war schon da. Ich stieg langsam den schmalen, steilen Weg hinab. Er lächelte -- zum ersten Mal. Wie schön es hier ist! Nicht wahr, gnädige Frau? Ich setzte mich auf die niedrige Holzbank. Er blieb stehen. Es ist nur _eine_ Bank da. Wir müssen uns schon vertragen. Er nahm am äußersten Ende Platz. Sie werden aus lauter Rücksicht so rücksichtslos sein, hinunterzufallen. Kommen Sie nur näher. Mir ist es peinlich, Sie in einer so unbehaglichen Situation zu wissen. =Commençons!= Er zog ein geschmacklos gebundenes Buch aus der Tasche. Der grünblau marmorierte Einband allein hätte genügt, um mir eine Antipathie gegen den Inhalt einzuflößen. Der Graf schien verlegen. Was haben Sie? Sind Sie Ihres Lehramtes müde, ehe Sie es angetreten? Nein, doch überlegte ich, daß die Iliade eine gewisse Kenntnis der griechischen Götterlehre voraussetzt -- Die ich nicht habe, fiel ich ihm lachend ins Wort. Wollen Sie mir vor Beginn unserer Lektüre einen kleinen Vortrag halten? Und er sprach. Gründlich, ernst, langweilig. Ich gab meinem Blick den Ausdruck der gespanntesten Aufmerksamkeit. Hie und da warf ich eine Frage ein, stellte sie absichtlich kindlich, ja kindisch. Er gab mir bereitwilligst Auskunft. Erst erstaunt über meine Naivetät, dann lächelnd. Schließlich mit der frohen Heiterkeit, die jeder Mann beim Geltendmachen seiner Ueberlegenheit empfindet. Und ich sah ihm in die Augen -- -- -- fortwährend ... mit weichem, träumend lächelndem Blick ... o, ich habe ihn nicht umsonst vor dem Spiegel geprüft ... er sprach stockender, verwirrt, schwieg plötzlich. Eine Minute lang saßen wir stumm einander gegenüber. Ich weltvergessen, traumumfangen -- innerlich jede Geberde berechnend. Verlegen, errötend fuhr ich empor. Sind -- Sie nicht wohl? Doch -- doch. Er stammelt und beugt sein flammendes Gesicht auf den blaugrünen Homer. Ich streife mit dem Zeigefinger auf der Tischplatte hin und her und sehe zu Boden. Ich mache mir Vorwürfe. Ich habe Sie zu lange reden lassen. Mein Egoismus. Aber ich will mich bessern. Heute wird nichts mehr gelesen. Schauen wir uns den Wald an. Er ist so schön. Und daß Sie nicht ganz aus Ihrer Lehrerrolle fallen -- was ist das für ein Baum? Ein Ahorn. Sehen Sie, das habe ich gar nicht gewußt. Und wie heißt die prächtige rote Blume dort? Das ist ein Türkenbund. Soll ich sie Ihnen holen? Nein, nein. Das ist zu stolz. Das paßt nicht für mich. Wenn Sie etwas Kleines, Feines sehen, das können Sie mir bringen. Und ich lasse mir von ihm alle Baum- und Blumenarten erklären. Ich baue aus Tannenzapfen Häuschen und spähe atemlos einem schwarzen Eichhörnchen nach. Graziös, kindlich, mit unterdrücktem Lachen und halblautem Jubel. Ich fühle, daß er mich unverwandt betrachtet. Ich fühle, daß er sich unwillkürlich immer dahin wendet, wohin ich gehe ... o ... o ...! Ich sehe auf meine Uhr und erschrecke. Auch er. Adieu, Graf. Auf Wiedersehen. Morgen. O es ist schön hier. Ich springe davon. Ohne mich umzusehen, weiß ich, daß er mir nachschaut. Bei Tische sahen wir uns wieder. Er war blaß. Ich blasiert und steif. Nicht seine Worte, der angstvolle Ton seiner Stimme fragte mich: Bist du denn wirklich das Kind, das heute Morgen mit mir im Walde war? Ich beachtete es nicht; sprach über Rennsport und Tanagrafiguren, über alte Spitzen und die Rhapsodien von Liszt. Sie spielen Klavier, gnädige Frau? Schlecht. Ah -- darf man Sie nicht einmal hören? Einmal -- vielleicht. Heute nicht. Spielen Sie? Ja. Ich fordre ihn absichtlich nicht auf. Es ist noch nicht an der Zeit. Ich sitze in dem amerikanischen Schaukelstuhl, rauchend, ein Knie über dem andern. Er zerknittert zornig seine Serviette. Ich sehe ihn an und werfe die Cigarette fort. »Oh -- gnädige Frau!« Der dumme Junge wird feuerrot vor Erregung. Dann läuft er davon. 25. Andre Frauen würden heute erregt sein. Ich bin so ruhig. Ich spiele meine Partie vortrefflich. Schach dem König .... matt? Noch nicht. Das wäre auch schade. Wenn das Spiel zu Ende ist, werde ich gähnen. =Mon petit comte= -- er ist so recht, was man einen idealen Menschen nennt, und darum würde er mich langweilen, wenn nicht .... Er haßt die Slaven und nennt sich von ganzem Herzen einen Deutschen. Aber sein Blut fragt nichts nach seiner politischen Ueberzeugung. Das ist so heiß, so wild, so echt slavisch ... ich hielt seine Hand eine Sekunde lang in der meinen. Seine Fingerspitzen brannten, pochten -- Wir haben im Homer gelesen, und ich war so begeistert. Wie er sich freute darüber! Ich habe auch eine Aufgabe: den gelesenen Abschnitt aus dem Gedächtnis schriftlich wiederzugeben. Ich bat darum. Er meinte, es sei zu schwer. Ganz recht. Er weiß ja nicht, daß ich weniger aus dem Gedächtnis als abschreiben werde. Ja heute morgen ... Dichten Sie? fragte ich. Nein, nein, nein. Ich lachte hell auf. So heftig sagen Sie das? Und dreimal? Nun weiß ich, daß Sie dichten. Darf man nichts sehen? Er schüttelt stumm den Kopf. Wie Sie wollen. Ich bin nicht neugierig. Sie sind doch nicht böse, gnädige Frau? Nein. Oder doch. Aber nicht der vorenthaltenen Gedichte wegen, sondern ... warum sagen Sie mir immer so steif, so kleinbürgerlich »gnädige Frau«? Warum nicht kurzweg »Baronin«, wie es in unseren Kreisen gebräuchlich? Sage ich denn »gnädiger Herr«? Er sah mit einem schüchtern bittenden Blick zu mir auf. Ich weiß es nicht anders. =C'est ça.= Sie wissen es nicht anders. Sie haben zu lange in einer beschränkten, kleinbürgerlichen Umgebung gelebt. Sie haben dort mit den besten Grundsätzen das steifste Benehmen bekommen. Wenn Sie einmal Ihr Compliment sehen könnten! Ich machte es ihm vor. Ein wenig karrikiert, die Füße auswärts wie zwei Windmühlenflügel, die Arme steif an den Körper gepreßt. Ich glaubte, er würde lachen. Er sah mich fest und ernsthaft an. So mache ich es? Das ist wirklich nicht schön. Wollen Sie es besser lernen? Ja. Gut. Ich werde es Ihnen zeigen; aber vorher machen Sie ein anderes Gesicht. Ich würde fragen, ob Sie beleidigt sind, wenn das nicht zu albern wäre. Ich bin jedem dankbar, der mich auf einen Fehler aufmerksam macht. Ah, so will ich es auch nicht. Dankbar -- Fehler. Sie nehmen alles gleich =au grand tragique=. Ihr Compliment ist eine Ungeschicklichkeit, kein Fehler, daß ich es Ihnen sage, ist eine Pflicht und verdient keinen Dank. Oder wenn Sie mir danken wollen, revanchieren Sie sich. Ich weiß ja, daß Ihnen vieles an mir nicht gefällt. Das ist wahr. Sie haben sehr viele Fehler. Gesamtsumme? Kann ich noch nicht feststellen. Details? Darf ich offen sein? Welche Frage! =Vite!= Ihr erster und größter: Sie können nicht deutsch. Nicht -- deutsch? Nein. Fast jeder ihrer Sätze enthält ein unnötiges französisches Wort. Sogar jedes ihrer Worte hat einen französierten Klang. Ich habe immer die Empfindung, als setzten Sie Accents über die Vokale. Und das gefällt Ihnen nicht? Nein. Unsre deutsche Sprache ist so schön. Der fremde Aufputz steht ihr ungefähr so, wie der griechischen Chlamys eine moderne Schleifengarnitur. Ich kann Ihnen nicht ganz Recht geben. Es giebt tausend französische Worte, für die der Deutsche gar keine Begriffe hat. Die französische Sprache tanzt, die deutsche geht. Doch werde ich Ihren Wünschen entgegenkommen. Machen Sie mich aufmerksam, wenn ich wieder -- tanze. Ich werde so frei sein. Wie steif er das sagt. Es klingt sehr komisch und sein bleiches Gesicht hat sich ein wenig gerötet vor Freude. Der Wind rauscht stärker durch die Bäume und wirft mir Blätter und kleine Zweige ins Haar. Das paßt mir. Ich schüttle sie rasch und energisch ab. Dabei fallen mir die Locken auf die Schultern. Ich weiß es sehr gut, aber ich sehe es nicht. Jetzt beginnt Ihre Stunde. Stellen Sie sich mir gegenüber. So. Und nun geben Sie Acht. Vor allem zeige ich Ihnen die vier Positionen. Ich hebe das Kleid ein wenig in die Höhe, um ihn meine Füße sehen zu lassen, und mache es ihm vor. Er macht es möglichst korrekt und möglichst ungeschickt nach. Ja, ja, so ist es schon recht. Aber Sie müssen mehr auf Kleinigkeiten achten. Sie setzen die Füße viel zu viel auswärts -- noch immer zu viel -- ach warten Sie! Ich trete rasch an ihn heran und bringe mit der Spitze meines Fußes den seinigen in die richtige Lage. Nun treten Sie rechts in die zweite Position, ziehen den linken Fuß an, neigen den Kopf -- nicht so tief, nicht so tief! -- stehen wieder gerade und treten links einen Schritt zurück. Das wäre die Hauptsache. Jetzt muß aber erst die Leichtigkeit, der gewisse Elan -- Elan? Pardon! Bitte noch einmal .... Gut -- sehr gut. Nur Ihr Gesicht schaut so unliebenswürdig drein, lächeln Sie ein wenig, noch ein wenig ... Er macht das Compliment zwei-, dreimal, er lächelt. Nun werde ich Ihnen zur Belohnung ein schönes Damencompliment machen. Während ich den Kopf neige, blicke ich zu ihm herauf ... o über seine erbleichenden Lippen, seine stockende Stimme. Es ist schon spät, gnädige Frau. Gnädige Frau? Nun denn, Baro -- -- nein, ich kanns nicht! Das war ein Schrei. Eine Minute lang -- so still. Aug' in Auge. So -- nennen Sie mich -- Thea. Er wendet sich ab und birgt sein Gesicht an einem Baumstamm. Ich gehe langsam fort. Er kam nicht zu Tische. Das war mir sehr angenehm. In seiner Gegenwart hätte ich zum mindesten einige Appetitlosigkeit zeigen müssen. Nach dem Diner schlief ich eine Stunde. Die unerträgliche Schwüle weckte mich. Ein Gewitter steht am Himmel; und in meinem Tagebuch. Ich werde in den Salon hinuntergehen. _Nachts._ Wie ich lache! Wie ich vor Vergnügen mein Taschentuch mit den Zähnen zerreiße. Das Gewitter ist vorbei. Draußen die nasse, funkelnde Erde -- und während der rauschende Regen niederströmte, hat er ... Geduld, Geduld. Im Salon. Er war da. Wir grüßen uns stumm. Ich setze mich an den Schreibtisch. Er blickt zum Fenster hinaus. Ich nehme ein Buch und beobachte ihn. Seine schwarzumränderten glutigen Augen, seine trockenen, zersprungenen Lippen .... Draußen wetterleuchtets; die Berge sind verschwunden in dem bräunlichgrauen qualmenden Wolkendunst, über ein Kurzes wird der Sturm daherfegen. Ich klingle dem Diener, erteile den Befehl, Thüren und Fenster sorgfältig zu schließen. Er geht. Ich drücke einen Augenblick die Stirn an die Glasscheiben und mit einem leisen Seufzer: Das wird ein böses Wetter. Er wendet sich zu mir. Um seine Nasenflügel zuckt es wie gezwungener Spott: Sie fürchten? Nicht den Ausbruch des Gewitters. Nur sein Herannahen bedrückt mich unwillkürlich. Ich gehe ein paarmal unruhig auf und ab. Möchten Sie mir nicht etwas vorspielen? Ich wäre Ihnen sehr dankbar. Er verneigt sich und tritt an den Flügel. Was soll ich spielen? Das überlasse ich Ihnen. Er sitzt einen Augenblick still mit tiefgesenktem Kopf. Dann fällt seine Hand wuchtig auf die Tasten ... die ersten Akkorde der Pathétique. Er kann spielen ... aber ich habe die Sonate zu oft gehört, selbst zu oft gespielt, als daß sie mich noch interessierte. Er kann mich nicht sehen. Eben beginnt er das Adagio. Sehr schön. Nur für mein Gefühl zu langsam, zu zart. Ich bin gespannt, ob er dem Presto die nötige Schärfe, ich möchte sagen ein gewisses sarkastisches Weh geben wird. Der erste Blitz -- ein Krachen und Prasseln -- mein Graf läßt sich in seinem Adagio nicht stören. Daß ihm nicht einfällt, ich könnte ohnmächtig geworden sein ... Er ist zu Ende. Wollen Sie mir nicht auch etwas vorspielen, gnädige -- Frau? -- -- -- Ein paar übermäßige Akkorde, und weiter, weiter -- sehnsüchtig träumende, wild erregte Volksmelodien, slavische! Und das trotzige Verlangen in mir, diesen Knaben zu zwingen, giebt meinem Spiele eine nie besessene Leidenschaftlichkeit, gesteigert durch alle Tollheiten moderner Virtuosität. Er steht neben mir; sein trockner heißer Atem fliegt mir über die Stirne. Ohne ihn zu sehen, fühle ich, wie er mit sich kämpft. Das schwüle, gewitterdämmrige Zimmer, die verhüllte Sinnlichkeit der Töne ... mit emporgehobenen Armen fällt er vor mir auf die Knie: Thea! Sein Herz sieht mich an und spricht zu mir. Ohne Worte. Und ich sitze still und traurig mit müden Augen vor ihm, bis er nach meiner Hand greift. Da stehe ich auf. Meine zitternden Finger drücken wie unversehens die Tasten nieder: =E=-Moll-Akkord. Gute Nacht! Er liegt noch immer auf den Knien. Sie -- kommen doch morgen? Natürlich, sagte ich innerlich, laut: Nein. Oh! -- Er faßt nach dem Herzen. Thea! Ich erbebe und mache rasch einige Schritte. Bitte -- bitte! Ich bin an der Thür. Ein Blick, ein Neigen des Kopfes, ein Hauch der Lippen: Ja. Er jauchzt auf und wirft sich vornüber, das Gesicht in den Teppich vergrabend. -- Vor zehn Minuten sah ich ihn im Mondschein im Garten herumrennen. Er hob eine Hand voll Rosenblätter vom Boden auf und preßte sie an seine Lippen. Ach diese Romantik! Ich muß noch meine Toilette für morgen auswählen. Sie muß vorsichtig gewählt werden. Ich will morgen sehr blaß sein. Dazu brauche ich meine dunkelsten Korallen ... _26. Nachmittag._ Das war ein Tag -- -- -- Der Saum meines weißen Battistkleides ward naß, als ich durch den Wald ging. Unzählige schwarze Molche krochen vor meinen Füßen hin und her. Aus dem Waldboden stieg eine betäubende würzige und feuchte Wärme. Der See lag da wie ein dunkelgrüner Stein, auf welchem tausend boshafte Sonnenteufelchen Cancan tanzten. Ich bin erstaunt. Er ist nicht da. Ich setze mich und warte. Minute auf Minute -- was soll das bedeuten? Ich werde unruhig. Und zornig. Diese Ungezogenheit. Immer noch nichts. Endlich -- da ist er. In einem Zustand -- das Haar hängt ihm rauh und wirr um die Stirne. Die Gesichtshaut spröde und fleckig. Die schlaffen, zersprungenen Lippen lassen die untere Zahnreihe frei. Mit beiden Händen in eine Dornhecke greifend bleibt er stehen. Ein schauerndes Schluchzen rinnt durch seinen Körper. Und wie von brutalem Jammer erwürgt, grollt es aus seiner Brust: Ich will nicht -- ich will nicht! Ich springe auf, will zu ihm. Er streckt beide Hände gegen mich aus. Bleib -- nicht zu mir -- sonst -- alles verloren. Ich wollt' nicht kommen. Dich nicht mehr sehen. Nur fort, nur fort. Deine Ehre, meine -- und doch, und doch ... Wie der Strom über die Felswand, so stürzt sein Blick an meiner Gestalt nieder. Ich halte die Wimpern tief gesenkt. Der lächelnde Triumph meiner Augen ist nichts für seine Qual. Und ich überlege auch. Soll ich ihn lassen? Gehen lassen? =Le jeu est fait.= Schach matt. Allein noch amüsiert mich seine Tollheit. Gefährlich? Ah bah! Ich bin meiner sicher. Und er ringt mit sich wie ein Sterbender. Ein großes Schluchzen steigt ihm in die Kehle. Leb wohl -- leb wohl! Und er geht, hat wirklich die Kraft -- Das soll nicht! Leise, leise, mehr Klang als Wort: Ossi! -- Doch er hört's. Mit einem Sprung ist er bei mir. Und ich schlage meine schimmernden Augen zu ihm auf: Du! Vergraben das Gesicht in die Falten meines Kleides, wortlos, nur süße wilde gebrochene Laute murmelnd; dann mit einem tolljauchzenden Schrei aufspringend, mich mit seinen Armen hoch emporhebend -- dieser Knabe! Er preßt mich an seine Brust, küßt mich mit entsetzlicher Glut, mit taumelnder Innigkeit. Aber mein Körper bleibt kalt wie meine Seele. Ich empfinde keine andre Wollust, als daß seine atmende Trunkenheit an mir abrinnt, wie das Wasser vom glatten Leib einer Schlange. Er setzt sich auf einen Baumstumpf und hält mich auf seinen Knieen. Wie schön du bist, wie schön! Ich habe nicht gewußt, daß ein Weib so schön ... ich habe ja keines gekannt. Nur ein Kind ... ach wie das vorbei ist, so vorbei. Nur du! Nur du! Dann sieht er mich eine Weile stumm an. Wie ein Kind mit vorsichtiger Neugier sein Spielzeug, so berührt er meine Haare, meine Stirn, meine Wangen mit seinen Fingern. Dann mit seinen Lippen. Minutenlang ruhen sie auf den meinen, daß mir der Atem zu vergehen droht. Weißt du, daß ich Gedichte an dich gemacht habe? Willst du sie hören? Ich schlinge meinen Arm um seinen Nacken und er flüstert mir ins Ohr. Ueberschwängliche Poesie, für die mir jedes Verständnis abgeht. Aber meine Arme zittern und mein Mund haucht ihm zu: Wie schön! wie groß! Seine liebende Eitelkeit jauchzt auf, und wie einen farbigen Regen schüttet er mir rückhaltlos seine innersten Gedanken in den Schoß. Er hat Philosophie studiert. Aber er will ein Dichter werden. Ein echter Dichter. Nur das Große, Herrliche, Gewaltige will er den Menschen vorführen. Nun, da er mich gefunden, nun wird er das Höchste erreichen. Die Liebe, die Liebe! Die große, einzige, göttliche Liebe, sie ist ihm alles, Leben und Sterben. So schwärmt und rast seine Phantasie. Aber in seiner Tollheit ist eine dämonische Kraft, eine Naturkraft, die meine Nerven unangenehm berührt. Ich winde mich aus seinen Armen. Unbändiges Flehen, zornige Thränen, maßlose Küsse ergießen sich über mich. Er läßt mich nicht eher fort, als bis ich verspreche, mich heute Abend im Dunkel noch einmal herzuschleichen. Das letzte Mal. Denn morgen Nachmittag kommt Fritz. Er denkt freilich nicht daran. Gegenwärtig fühle ich mich ordentlich müde von dem heute Morgen erlebten Sturm. Ich langweile mich nicht. Aber die Sache fängt an, mir unbequem zu werden. Es wird Zeit, daß ich die Karten zusammenwerfe. Der Spiegel zeigt mir mein fatiguiertes Gesicht. =Dieu=, wenn ein Fältchen zurückbliebe! Ich wäre untröstlich. Warum ist dieser Narr auch so unbändig in seiner Leidenschaft. _Nachts ein Uhr._ Ah -- =cette bêtise, cette bêtise=! Ruhe, Ruhe! Schreib, überleg. Jetzt gilt nur eins -- -- -- -- -- ich kann nicht. _Morgens acht Uhr._ Kein Schlaf. Nur die Gedanken wie flatternde Fledermäuse. Rastlos. Planlos. Ich möchte schreien vor Zorn. Daß dies geschehen konnte. Mir! Ich muß mich zwingen, klar zu überdenken -- sonst komme ich zu keinem Ende. Gestern Abend zehn Uhr schlich ich fort. Unbemerkt. Die Nacht war trüb. Er kam mir auf dem steilen Weg entgegen. Er trug mich weiter, immer weiter in den Wald. Ich bat, flehte. Vergeblich. Die Lippen fest in meine Locken gedrückt, schritt er fort. Bis zu einer Schlucht. Unten stürzte das Wasser. Er breitete meinen Mantel auf das Moos und legte mich behutsam nieder. Sein Haupt ruht an meiner Brust. Dumpfes Wasserrauschen, Nachtdämmer und eine Leidenschaft, die sich wie alle Sonnen des Weltalls über mich ergießt. Ich fühle die Erregung meiner Nerven, das Fiebern meiner Pulse, fühle, wie mein Atem zu fliegen beginnt, fühle es in Zorn und Angst, und dennoch unfähig, mich zu beherrschen, unfähig, mich zu regen. =C'est plus fort que moi.= Und er! Er fühlt das Beben meines Körpers, das Nachgeben meiner Glieder, meine Schwäche ist seine Kraft -- die Perlen meiner zerrissenen Korallenkette rieseln mir kalt über den Nacken -- _Zwei Stunden später._ Ich mußte vorhin aufhören. Die innere Wut erstickt mich. Auch mußte ich meine feuchten, zerdrückten, vom Waldboden beschmutzten Kleider verbergen. Und ein wenig =rouge= auf meine bleifahlen Wangen. Louison bringt eine Empfehlung des Herrn Grafen: Ob die Frau Baronin nicht Lust zu einer Partie nach Garmisch hätten, im Hotel wäre ein bequemer Wagen zu haben. Was soll das bedeuten? Ich habe bitten lassen. Ich muß ja doch mit ihm sprechen. Nur jetzt keine Sentimentalität. Rücksichtslose Klugheit. _Mittags._ =C'est fait.= Die Affaire beendigt. Ich bin wieder ruhig -- bin ich. Aber ich habe mir geschworen, mich nie mehr mit diesen sogenannten idealen Naturen einzulassen, die nichts sind als überspannt und gesellschaftlich schlecht erzogen. Die Tragödienszene von heute Morgen hat mir ihre Lächerlichkeit im hellsten Lichte gezeigt. Louison meldete den Grafen. Er trat ein. Im schwarzen Anzug. Ungewöhnlich korrekt gekleidet, mit ungewöhnlich tiefer Verbeugung. Als das Mädchen die Thüre wieder geschlossen hatte, warf er sich vor mir nieder. Ein wahrer Thränenstrom und dazwischen Jubel- und Schmerzenslaute: Mein Lieb, mein einziges Lieb, verzeih mir, verzeih mir! Ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Nur seine weiße Stirn. Das unnatürliche, blendende und doch bleiche Weiß echter Perlen, durchzogen von feinen, blauen Adern. Diese Stirn ist sehr schön, sagte ich mir. Es bestimmte mich, ein wenig mitleidig mit ihm zu verfahren. Ich ließ ihn sich ausweinen. Doch es währte nicht lange. Mit einem Ruck sprang er auf. Ich gewahrte erstaunt in seinem Gesicht eine sieghafte Entschlossenheit, einen starken hellen Willen. Er setzte sich und ergriff meine Hände. Er sprach, und auch seine Stimme klang tiefer. Vergieb mir die Thränen. Es sollen die letzten sein. Der Knabe ist tot. Ich habe Dich, ich habe Dich durch die Welt zu tragen -- dazu bedarf es eines Mannes. Und der Mann soll Dir mit der Kraft seines ganzen Lebens vergelten, was Du in dieser Nacht für den Knaben gethan hast. Ich starrte ihn diesmal in Wahrheit völlig verständnislos an. Was -- was? Und in steigender Hast, flüsternd, fast atemlos: Du mußt fort, so rasch wie möglich. Ich bringe Dich nach München. Oder weiter. Leite die Scheidung ein, und dann, dann -- Thea -- unsere Hochzeit! Ich entreiße ihm meine Hände: Hochzeit?! Sein zum Tod erschrockener Blick gab mir meine Fassung wieder. Ossi! Was fällt Dir ein! Ein solcher Streich! Ohne Stellung, ohne Geld eine Frau heiraten, die älter ist als Du! Seine großen irren Augen bohren sich in mein Gesicht. Thea -- ich liebe Dich! Ich werde arbeiten. Dein Vater, der Eclat -- Ich vertrete mein Recht! =Vous êtes fou!= Er hebt sich halb vom Sessel empor. Nein. Aber -- Thea, was sind das für Worte? Fühlst Du denn nicht, daß ich thun muß, was ich thun will? Ich sehe nur, daß Du Dich ruinieren willst. Thea, wenn ich nicht an Dir zweifeln soll, muß ich Deine Worte für Edelmut nehmen. Aber das ist ein falscher, ein schlechter Edelmut. Und mit weißen, bebenden Lippen raunt er mir ins Ohr: Was ich in dieser Nacht gethan, ist ein Verbrechen. Kann nur gesühnt werden durch die höchste Liebe, die den Menschen über alle irdischen Schranken, über sich selbst hinaushebt. Und diese Liebe muß den Mut zum Licht haben. Sie darf vor keiner ihrer Consequenzen zurücktreten -- sonst, Thea, merk wohl, bin ich ein Schurke, ein gemeiner, erbärmlicher Schurke, ein Ehrloser. Ich bin ganz kalt, gelassen. Was Du da sagst, ist Unsinn. Du hast kein Verbrechen begangen, sondern nur eine Dummheit, die am besten durch Schweigen gut gemacht wird. Uns aneinander ketten, heißt, uns beide unglücklich machen. In zwei Jahren bist Du meiner überdrüssig, oder ich Deiner. Ich bin nicht gewöhnt, mich einzuschränken. Die Erträgnisse Deiner Liebesgedichte würden wohl kaum für das Parfum ausreichen, welches ich gebrauche. Unter solchen Umständen ist die höchste Liebe etwas durchaus Unhaltbares. Sein Körper bricht zusammen. Er scheint tot zu sein. Nur die Augen leben noch. Endlich murmelt er: Wer bist Du denn? Wer bist Du denn? Und dann mit drohender Geberde und flehender Stimme: Geh mit mir! Nein. -- -- -- hast Du mich nie geliebt? Nie. Ich atme erlöst auf. Nun ists vorbei. Ich trete an den Toilettentisch und schütte mir ein wenig =eau de Cologne= aufs Taschentuch. Er sieht unangenehm grün aus; es ist ihm wohl sehr schlecht. Ich reiche ihm mein Tuch hin. Er stößt mich zurück. Sein Antlitz flammt. Nie geliebt!! Aber meine Ehre zerbrochen. Weißt Du, daß ich nicht leben kann, so -- so --. Was ich von je als das Schmählichste, das Niederträchtigste angesehen, ich hab's gethan. Und dann verkriechen? Feig verkriechen? Nein, nein! Er soll mich niederschießen wie einen Hund, wehrlos, ich gestehe alles -- Und verrätst eine Frau. Wie edel! Einen Moment ist mir doch bange. Ich glaube, er stirbt. Auf seinen Lippen stehen zwei Blutstropfen. Ich fühle sehend, wie eisig seine Hände werden. Da lösen sich seine zusammengeklebten Finger. »Meine Ehre, meine Ehre!« Und in jähem Umschlag, rauh, brutal: Wohl, wenn Sie den Mut haben, eine Dirne zu zu sein, so werde ich den Mut finden -- ein ehrlicher Mann zu bleiben. =A -- Dieu=, Baronin! Welch infame Ironie! Sie trifft mich mehr als die rohe Beleidigung. Er schreitet weiß und kalt zur Thüre hinaus. Die schwere Portière fällt wie ein Grabtuch hinter ihm zu. _9. August._ =Life is a comedy to those who think, a tragedy to those who feel.= Ich denke. Das geschriebene Lebenskapitel muß doch einen Schluß bekommen. Diese vierzehn Tage waren -- =dégoûtants=. Und noch liegt's in der Luft wie Leichengeruch ... Fritzl traf an dem verhängnisvollen Tag einige Stunden früher ein, als ich erwartet. Sehr braun und verwildert, besten Humors, und galanter gegen mich als je. Daraus schloß ich, daß er mit irgend einem hübschen Gebirgskind ein kleines Abenteuer gehabt. Er ist vernünftig genug, es nicht einzugestehen, sondern durch doppelte Liebenswürdigkeit gut zu machen. Ganz mein Grundsatz. Eine seiner ersten Fragen galt dem Grafen. »Wie vertragen?« Ich zuckte die Achseln: Nicht gut, nicht schlecht. Heute ist er beleidigt. Er lud mich zu einer Tour nach Garmisch ein. Ich schlug natürlich aus, da ich Dich erwartete. Er muß übrigens bald zurückkommen. Heinrich, der eben eintritt, bemerkt: Entschuldigen Frau Baronin, aber der Herr Graf sind nicht nach Garmisch gefahren, sondern haben den Wagen abbestellt und sind in den Wald gegangen. Fritz schaut verwundert auf: Und nicht zum Mittagessen gekommen? Ach, das thun der Herr Graf manchmal. So -- so --, dehnt Fritz vor sich hin. Als der Diener hinaus ist, meint er ein wenig mißtrauisch prüfend: Ihr müßt Euch doch nicht glänzend vertragen haben. Die Zeit vergeht im amüsantesten Geplauder. Es thut mir wohl. Fritzl gefällt mir besser als je. Da ist doch Chic, Raffinement. Ich bin ein wenig verliebt, lasse es ihn merken, und er ist entzückt. Die Rokokopendule schlägt mit ihrem hellen zitternden Stimmchen neun Uhr. Fritz fährt erschrocken empor. Neun Uhr! Und Ossi noch nicht zu Hause! Es wird dem Jungen doch nichts geschehen sein? Ich wehre ab: Bitte Dich, was sollte denn -- unartig ist er, weiter nichts. Aber Fritz ist nicht zu beruhigen. Meine Gleichgiltigkeit beleidigt ihn fast. Natürlich! Du kannst ihn nicht leiden. Aber ich habe den Jungen gern, sehr gern, und werde darum sogleich ... Er ist schon hinaus. Ich höre Befehle, Anordnungen. Eine Viertelstunde später flammen am Rande des Sees Pechfackeln auf, die sich im Walde verlieren. Der Herr Baron haben auch aus dem Hotel und aus den Bauernhäusern Leute mitgenommen, erzählt Louison, während sie mich entkleidet. Ich schlüpfe in mein Negligé und blättere, auf der Chaiselongue liegend, im neuesten von Malot. Müdigkeit und Nervenabspannung lassen mich in einen tiefen unruhigen Halbschlaf versinken. Verworrnes Stimmengemurmel, dazwischen laute Commandorufe wecken mich. Ich fahre empor. Ans Fenster. Ein Menschenknäuel. Der Fackelrauch läßt mich nichts erkennen. Was ist geschehen? schreie ich hinunter. Eine breite bäurische Stimme antwortet: Tot. Eine Minute später tritt Fritz ins Zimmer. Mit Erde beschmutzt, die Kleider in Fetzen gerissen, das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Er wirft sich in einen Stuhl. -- -- Wir haben ihn gefunden. In einer Schlucht oberhalb des Frillensees. Mit zerschmetterten Gliedern. Halb im Wasser liegend. Er ist verunglückt, oder ... Er springt auf und packt mich mit einer schrecklichen Geberde am Handgelenk, unbarmherzig: Thea, als ich mit der Fackel suchend am Rande der Schlucht hinging, blinkte mir aus dem Moos etwas Rotes entgegen. Ich bücke mich. Eine rote Perle, zwei, drei -- da! Er schleudert sie auf den Boden. Deine Korallen! Wenn es -- oh, oh, Deine Korallen! Ich schaue starr zur Erde, fieberhaft überlegend, was ich sagen, am klügsten sagen ... Thea, was hast Du mit dem unglückseligen Jungen gemacht? Wenn Du -- ah, es wäre zu schändlich, zu schrecklich. Sag, sag Du's: Ist er verunglückt? -- -- -- Nein! -- Heute Morgen gestand er mir seine tolle Leidenschaft, flehte mich an, ihm in die Welt zu folgen. Ich wies ihn zurück. Die Kette nahm er mit sich -- als letztes Andenken. Und das würdest Du mir verschwiegen haben, wenn ich nicht fragte?! Ja. Hätte ich Dirs immer sagen wollen, wenn mir ein Andrer seine Liebe gestand ...! Wer trägt die Schuld? Ich? Ich habe Dich gewarnt am ersten Tag. Aber Du warst ja so sicher. -- Er bedeckt sein Gesicht mit den Händen: Es ist ja wahr, wahr. Dann dumpf und gewaltsam: Komm mit. Er preßt mir die Knöchel zusammen und will mich fortziehen. Ich mache mich kühl und gelassen los: Keine Beleidigung. Ich gehe allein. Sein Zimmer. Er liegt auf dem Bett. Der zerschmetterte Unterkörper mit der seidenen Steppdecke verhüllt. Der Kopf ist unversehrt. Die nassen Haare weit von der Stirne zurückgestrichen. Und über diese wunderschöne Stirn läuft ein schmaler roter Streif. Das Gesicht ist finster schmerzlich. Auf den Lippen klebt ein wenig Blut. Ich stehe da und empfinde nicht viel mehr als den unangenehmen Eindruck des Leichenhaften. Fritz beobachtet mich: Und kein Augenzucken, keine Thräne des Mitleids! Thränen? Ich habe ihn gehaßt. Und er ist für Dich gestorben! Geh, geh! Boten werden mit Telegrammen nach Baadersee hinuntergeschickt; das Haus ist die ganze Nacht in Unruhe. Fritz weicht nicht von dem Toten. Einmal schleiche ich an die Thür. Sie ist halb geöffnet. Er geht ruhelos auf und ab. Mein armer Junge, flüstert er, und dann wieder: Und meine Schuld, meine Schuld. Am nächsten Tage Telegramme aus Paris und München. Der alte Graf kann nicht kommen. Fritz möchte das Begräbnis übernehmen. Wo, sei gleich. Fritz lachte bitter: Der muß seinen Jungen ja recht lieb gehabt haben. -- Anders der Bescheid des Professors. Er wird kommen. Noch ein Tag und noch einer. Das Begräbnis. Auf einem tannenumrauschten Hügel am See. Eine Menge Menschen sind aus der Umgegend gekommen. Bauern aus Baadersee, Krainau, Garmisch und Partenkirchen. Und die Fremden, die sich gerade dort aufhalten. Ein Zeitungsreporter macht sich Notizen ins Taschenbuch. Alle sind sehr neugierig und sehr wenig betrübt, bis auf die Professorsfamilie. Ich war nicht wenig gespannt, meine =ci-devant= Rivalin zu sehen. Ein gescheit-hübsches, pikanterieloses Gesicht. Die Figur nicht übel, doch zu wenig geschnürt. Nur das Haar sehr schön und reich. Die Mutter gutmütig, natürlich, ein Muster von Anständigkeit, mit breiter Taille und Doppelkinn. Der Vater schweigsam und unhöflich. Nach der schrecklichen Grabrede des Dechanten von Oberkrainau gingen wir zurück in unsre Villa. Fritz hatte die Professorsfamilie zu Tisch gebeten. Man saß unbehaglich und appetitlos beisammen. Die Frau Professor konnte ihre Thränen nicht zurückhalten. Die Kleine weinte nicht. Das gefiel mir eigentlich. Fritz und der Professor sprachen zusammen. Es war ein so begabter Junge. Ich setzte große Hoffnungen auf ihn. Noch zu leidenschaftlich und überspannt, aber ich dachte immer: Laß sich den Most auch noch so toll geberden, es giebt zuletzt doch noch 'nen Wein. Im Herbst wollte er seine Gedichte herausgeben, und nun ... Ich habe alles, was sich in seinem Schreibtisch fand, zusammenpacken lassen, sagte Fritz. Und hier das Notizbuch, welches er in der Tasche trug -- Ich erschrecke -- man kann aber nichts mehr erkennen, das Wasser hat es vollständig ruiniert. Ich atmete auf. Das Mädchen flüsterte mit ihrer Mutter. Diese schien abzuwehren: Warum denn, Jella, warum! Ich bog mich hinüber. Was möchte denn das Fräulein? Ach -- sie hat ihren Rosenstock, den Ossi so sehr liebte, mitgeschleppt -- für sein Grab. Ich hielt mich mit Gewalt ernsthaft. Unser Gärtner soll es sogleich besorgen. Nein, ich will es selbst thun. Leise, aber sehr bestimmt kam es aus dem kleinen Mund. Sie stand auf. Eine gewisse Neugier ergriff mich. Ich gehe mit Ihnen, liebes Fräulein. Sie schien nicht sehr erfreut, machte aber ihren schüchtern anmutigen Fräuleinknix und ließ mich vorantreten. Wir kamen auf die Veranda. Wo haben Sie denn die Blumen? Ich muß sie aus dem Hotel holen. Das kann ja der Diener. Aber sie schüttelte das Köpfchen und flog davon. Ich schritt unterdessen zu dem frischen, ungeschminkten Grabhügel hinunter. Das Kreuz wird erst in einigen Tagen eintreffen. Die Kleine kam wieder. Mit einem unförmlichen weidengeflochtenen Marktkorb am Arm. Den haben Sie von München hergeschleppt? Ja. Vorsichtig hebt sie einen großen, schönen Rosenstock heraus. =Gloire de Dijon.= Dann wühlt sie mit ihren Händen die Erde auf. =Mais, ma petite=, Sie machen sich schmutzig. Sie sieht mich erstaunt an: Was thut das? Ich begebe mich jedes weiteren Einwandes. Und sie drückt die Erde wieder fest; schöpft in ein Blechgefäß Wasser, um die Pflanze zu begießen; wäscht am Strand ihre Hände rein. Nun steht sie am Grab. Die scharfe, heiße Nachmittagssonne huscht über ihr schwarzes Cachemirekleidchen, dessen Einfachheit von der Eile der Herstellung zeugt. Es sieht trostlos dürftig aus im Gegensatz zu den funkelnden Perlenagréments meiner schweren Atlasrobe. Plötzlich fällt die Kleine mit einem tiefen Schluchzen auf das Grab hin. Erschrocken will ich ihr emporhelfen. Aber sie krallt sich förmlich in die Erde. Ich muß sie gewähren lassen. Endlich richtet sie sich halb empor und schluchzt wie entschuldigend: Ich habe ihn so lieb gehabt, so lieb! Und nun soll ich nicht einmal sein Grab in der Nähe haben, nicht manchmal zu ihm gehen und ihm Blumen bringen können. Aber liebes Fräulein, Ihr Herr Papa hat meinem Mann auf seine Anfrage doch geantwortet, er sei dafür, den Grafen hier zu beerdigen. Hätte da nicht ein Wort von Ihnen ... O, Papa hat mich gefragt. Und da habe ich gesagt -- sie sollen ihn hier begraben. Nicht auf dem großen öden Friedhof mit den vielen andern. Er hat die Berge so lieb gehabt. Es ist auch recht selbstsüchtig daß ich darüber weine, aber -- Sie macht in schmerzlichem Heroismus einen kleinen harten Ballen aus ihrem Taschentuch und steht auf. Sie ist plötzlich wieder sanft und schüchtern. Ich -- möchte -- zu Mama. Wir gehen zur Villa hinauf, und sie sieht sich um, sieht sich fortwährend um mit den schmerzensgroßen Kinderaugen -- =c'est drôle=! Einförmig gehen die Tage weiter. Fritz ist höflich, eiskalt höflich gegen mich. Ich bin gleichmäßig ruhig mit glatter Stirn und klaren Augen. Ich lasse ihn völlig gewähren. In ein paar Monaten habe ich ihn so gewiß zurückerobert, als ich noch jung und schön bin. Ich bin ganz froh, daß ich etwas zu thun haben werde, und lege mir jetzt schon die Karten zurecht. Fritz war öfters wieder fort. Aber keine Gebirgstouren. In München. Vor drei Tagen kündigte er mir den Verkauf der Villa an: Ich kann nicht mehr hier bleiben. Das Grab da unten ist mir ein ewiger Vorwurf ... Allein auf meinem Zimmer klatsche ich vor Freude in die Hände. Die Villa verkauft! Mein sehnlichster Wunsch erfüllt, nicht mehr in diese Einöde zu müssen. Die Möbel sind teilweise schon fortgeschafft. In den Zimmern ist's jetzt in Wahrheit -- =bric-à-brac=. Die Vorhänge sind herabgenommen. Ungehindert strömt das Sonnenlicht herein. Ich kann das große vergoldete Kreuz auf dem Grab dort unten sehen. Es ist ein Geschenk von Fritz. Er hat sich das nicht nehmen lassen. Und der Rosenstock hat eine Menge Blüten. Ich habe den zurückbleibenden Gärtner beauftragt, ihn zu pflegen. Warum sollt' ich nicht? Dafür bin ich gerade gutmütig genug. Auf dem Boden liegt ein Haufen zusammengekehrter Papierschnitzel, Spitzen, Schleifen, Haarnadeln, Stecknadeln, Seidenfäden, eine Puderschachtel mit verschüttetem Inhalt -- es sieht häßlich aus im vollen Sonnenlicht. Was schimmert denn so? Eine rote Perle .... Platonisch. »Sie lassen sich also nicht von mir lieben, kleine Eigensinnige?« Sie streifte die weichen dänischen Handschuhe noch ein wenig über den Ellenbogen und schaute mit suchendem Blick auf den Requisitentisch. »O ja, aber --« »Aber?« »Platonisch.« -- Er lachte aufdringlich. Die Coulissenelegance seiner Haltung für einen Augenblick vergessend, steckte er die Hände in die Hosentaschen. »Platonisch? Das ist ein weiter Begriff. Was verstehen Sie darunter?« Die schmalen abfallenden Schultern des jungen Mädchens schienen noch tiefer zu sinken. Sie musterte mit melancholischer Bosheit die von der Schminke stark porös gewordene dunkle Gesichtshaut des Bonvivant. »Etwas, was Sie nicht verstehen. Stumme Liebe.« Der Schauspieler brach in ein rohes schmetterndes Gelächter aus und warf wie im Uebermaße der Lustigkeit seine Rolle zu Boden. »Teufel noch einmal! Sie verlangen hübsch viel --«. »Weil ich nichts verlange.« Der Inspizient eilte erschrocken herbei. »Aber meine Herrschaften! So laut! Eben hat der Regisseur geklingelt. Uebrigens kommen Sie in der nächsten Scene, Herr Possanski. Und Sie auch, Fräulein!« Der Schauspieler hob die schmutzige stark zerlesene Rolle wieder auf, ohne den Staub abzuklopfen. Seiner Kollegin noch ein liebenswürdiges Lächeln und einen bösen Blick zuwerfend ging er nach dem Vordergrunde der Bühne. »Kröte!« murmelte er vor sich hin. Die junge Dame war zurückgeblieben. »Ich habe keine Requisiten,« wandte sie sich an den in seinem Buche blätternden Inspizienten. »Ich kann doch nicht selbst in die Requisitenkammer gehen.« Der Inspizient sah sich um. »Wo sind denn all' die Kerls.... Aha, Klaus!« Der baumlange Theaterarbeiter ließ die Versatzstücke stehen. Schon eine ganze Weile hatte er sie geräuschlos aus dem Wege geräumt, ohne in dem trügerischen Dämmer von Gas- und Taglicht bemerkt zu werden. »Verlangen Sie in der Requisitenkammer einen Brief und eine Zeichenmappe. Aber rasch.« Die anmutig herbe Stimme der Schauspielerin fügte hinzu: »Ich bitte.« Ich bitte! Wie zwei kleine silberne Perlen fielen diese Worte in die großen abstehenden Ohren des ungeschlachten Burschen, und diese Ohren hatten vorher schon einiges aufgefangen von »platonisch« und »stummer Liebe«. Der schweigsame Theaterarbeiter hatte das Gespräch wohl gehört. Für gewöhnlich besaß er gar keine Beobachtungskraft. Wenn nur die Kleine nicht gewesen wäre. Anfangs hatte er sie gar nicht bemerkt. Sie war ja so sehr klein; gegen ihn. Er hatte über sie hinweggesehen wie der gemalte Mont Blanc im Manfred über die cachierten Felsstücke zu seinen Füßen. Aber gehört hatte er sie. Diese eigentümlich regungslose Stimme, die immer so unendlich viel zu verbergen schien. Er glaubte sie zu sehen, wenn er die Augen schloß, glaubte eine weite sonnenbeschienene Haide zu sehen. Das war seine Heimat. Von dorther hatte er die riesigen Glieder mitgebracht, gelbe Haare und tote tagklare Augen. Aber jene Stimme hatte sie lebendig gemacht. Er fing an, zu sehen. Das kleine Geschöpf mit dem weichen blassen Gesicht. Während der Proben machte er sich in ihrer Nähe etwas zu schaffen. Er schleppte die schwersten Dekorationsstücke zehnmal allein hin und her, nur um vom Theatermeister an keine andere Arbeit geschickt zu werden. Auf der letzten Galerie des Schnürbodens oder im dritten Versenkungsstockwerk horchte er mit Anstrengung auf ihre Stimme, auf ihre kleinen ruhigen Schritte. Die eintönige Musik derselben verfolgte ihn den ganzen Tag. Abends bemächtigte sich seiner eine schwerfällige Unruhe, bis sie aus der Garderobe kam. Das sammtartige Weiß und Rot der Schminke, die feinen schwarzen Striche an Brauen und Wimpern machten ihr Gesicht lebhafter, leuchtender. Seine kritiklose Bewunderung fand sie so am schönsten. Er hatte sich ihre Photographie gekauft; ein schlechtes Bild in der beliebten Tischkantenposition. Das übermäßig retouchierte Gesicht lächelte wie die Vignette eines Cigarrenkastens. Wenn der Arbeiter spät Abends nach Hause kam, war es seine liebste Beschäftigung, bei einem qualmenden Lichtstümpfchen den Platz des Bildes hundertmal zu verändern. Im geleimten Muschelrahmen aus dem Fünfzig-Pfennig-Bazar sah es mit hochmütiger Gewöhnlichkeit auf die rauhen, zersprungenen Zimmerwände. Morgens wickelte er es in einen blauen Papierbogen. In großen schwerfälligen Buchstaben war ein Wort darauf gemalt. Das einmal gehörte und halb verstandene Wort mit dem fremdartigen Klang. Es hatte in seinem Gedächtnis Wurzel gefaßt wie die Haideblüten im rauhen dunklen Boden seiner Heimat. Farb- und duftlos, aber mit hundert zähen kleinen Wurzeln, mit schmerzlicher Eigensinnigkeit. Dieselbe Eigensinnigkeit machte den langen Haideburschen verschlossen und einsilbig. Er lebte ganz in der Phantasie, ohne Phantasie zu haben. Im Theater verspotteten die andern Arbeiter seine Dummheit und beneideten seine Kraft. Die Schauspieler ärgerten sich heimlich über die unbewußte stolze Unverdorbenheit seines Wesens. Den Vorgesetzten war er nicht höflich und diensteifrig genug. Alle nannten ihn den Haidelümmel. Er wußte es nicht. Es hätte ihn auch wenig gekümmert. Aber seine Augen waren dunkler geworden und sein Schritt schwerer. Es war eine Woche vor Weihnachten. Eine großartige Feerie sollte als Festvorstellung am fünfundzwanzigsten Dezember zum ersten Mal gegeben werden. Dornröschen. Nach den Vorstellungen mußte oft bis vier Uhr Morgens gearbeitet werden, um die neuen Dekorationen und Maschinerien fertig zu stellen. Die doppelt bezahlte Nachtarbeit ging schwerfällig und langsam von statten. Die übermüdeten Arbeiter schwatzten viel und tranken noch mehr, um sich wach zu erhalten. Beleuchtungseffekte sollten probiert werden. Zwei Arbeiter setzten neue farbige Gläser vor die Rampe. Die gähnende Unterhaltung klang abgebrochen ins zweite Versenkungsstockwerk hinab, wo Klaus unter Aufsicht des Maschinenmeisters ein Netzwerk von eisernen Stangen anbrachte. »Warum geht sie denn Neujahr?« »Wer's wüßte! Sie hat ihre Entlassung verlangt. Ich denk' mir, der Schwarze setzt ihr stark zu. Das ist ihre letzte Rolle. Dornröschen.« Im Versenkungsstockwerk krachte etwas zu Boden. Die Erschütterung war so stark, daß den Händen des älteren Arbeiters eine rote Glastafel entfiel. Sie zersplitterte in tausend Stücke. »Was ist denn los?« schrie er zornig hinunter. »Nichts, nichts,« tönte es zurück. Nach einigen Minuten kam der Maschinenmeister herauf. »Aergerlich! Der Klaus muß sich überarbeitet haben. Er scheint krank. Ich muß ihn fortschicken. Kommt ihr beide hinunter.« Er war wirklich krank. Sie geht fort. Diese drei Worte hatten ihn aus dem dämmernden Zustand, in dem er dahinlebte, herausgerissen. Sie geht fort. Eine stille traurige Wut ließ ihn ruhelos in seinem Zimmer auf und ab rennen bis es dämmerte. Er wurde so müde. Ein innerliches Weinen durchschütterte ihn. Aber seine Augen blieben trocken. Ohne eine Minute geruht zu haben, ging er morgens ins Theater. Es war die erste Probe von Dornröschen. Sie ging in ihrer lautlosen verschleierten Weise an ihm vorüber. Einen Augenblick hätte er sie am liebsten vor Zorn geschlagen. Dann versank die rohe Gewaltsamkeit seiner Natur in dem stärkeren Gefühl eines großen Leids. Sie geht fort. Sie geht fort. »Ich gehe auch fort,« sagte er, spät abends in seine Kammer zurückkehrend. »Auf den Haidhof. Da ist's still.« Er sah sie jetzt täglich. Auf den Proben. Er hörte, wie die Kollegen ihr jedesmal auf's neue ihr unendliches Bedauern über ihren Fortgang ausdrückten. Mit einem Aufwand von Herzlichkeit, dem man die Lüge anmerken mußte, wäre er auch weniger bühnenhaft gewesen. »Lassen Sie sich an dem Abend nur ja einen Heuwagen kommen, sonst können Sie all' die Blumen und Kränze nicht fortschaffen,« sagte mit schiefgezogenen Mundwinkeln der Bonvivant. Die lächelnde Impertinenz seines Gesichts zeigte nur zu deutlich, daß er mindestens die Hälfte dieser Blumen und Kränze auf selbstgekauft taxiere. Und mit einem Wiederschein dieser Impertinenz, der sich je nach dem Rollenfach naiv oder intriguant äußerte, stimmten die Uebrigen bei. »Ja, die Blumen und Kränze!« Während der Mittagspause überzählte Klaus sein Geld. Sie soll auch von mir einen Kranz haben. Den allerschönsten. Er hatte die grünen Dinger nach den Aktschlüssen oft auf die Bühne fliegen sehen, wenn die Leute im Zuschauerraum so erschrecklichen Lärm machten. Er hatte nie begriffen, was an diesen farbentoten Blätterkränzen schön sein sollte. Sie vertrockneten in wenigen Tagen. Dann mußte man sie fortwerfen. Sein Kranz sollte ganz anders werden. Groß, ungeheuer groß. Er wollte ihn selbst binden. Als Knabe hatte er beim Einzug der Gutsherrschaft an den langen Blumenketten mitgeholfen, die über der Schloßthür befestigt wurden. Er erinnerte sich noch an die bunten Schleifen, die zwischenhinein geflochten waren. So wollte er's auch machen. Erst kaufte er bei einem Faßbinder einen elastischen Holzreifen. Groß wie ein Wagenrad. In einem Eisenmagazin Draht und eine feine Zange. Mit Herzklopfen öffnete er zuletzt die spiegelnde Glasthüre eines großen Geschäfts. Lauter ausgezeichnete Ware zu fabelhaft billigen Preisen. Eine blondgefärbte Ladnerin mit großen Nasenlöchern und falschen Korallenohrringen fragte ihn, was er wünsche. Blumen. Sie brachte mehrere Kartons herbei. Moderne Ballgarnituren in fahlen Farben und raffinierten Zusammenstellungen. Er schüttelte den Kopf. So nicht. So welche zum Kranz binden. Die Ladnerin sah ihn an. Es mochte ihr wohl einfallen, daß dieser blöde Riese im schmutzigen Leinwandkittel keine mit Glastropfen übersäten Ballgarnituren kaufen werde. Mit einem leichten verächtlichen Achselzucken, soweit es die übermäßig spannende Trikottaille gestattete, trug sie andere Kasten herbei. Das war das Richtige. Haufenweis zusammengebundene Papierblumen in schreienden Farben. Lauter naturgeschichtliche Unmöglichkeiten. Daneben glänzende, grünlackierte Blätter mit langen Drahtstielen und starkem Leimgeruch. Er wählte sich einen Berg von Blumen und Blättern aus. Zuletzt forderte er farbige Bänder. Die Ladnerin, jetzt mit dem Geschmack des Käufers schon besser vertraut, legte ihm ordinäres raschelndes Knitterband vor. Blau, rot, gelb, grün. Er ließ sich von jeder Farbe mehrere Meter abschneiden. Die Ladnerin sah ihm mit einem gemeinen prüfenden Blick nach, als er das Geschäft verließ, das große Packet vorsichtig im Arm haltend. Am Weihnachtsabend band er den Kranz. Es war eine schwere Arbeit für seine harten großen Finger. Viele Papierblumen wurden zerdrückt oder zerrissen. Der fertige Kranz war von einer ungeheuerlichen Größe und Unregelmäßigkeit. Zwölf Schleifen mit lang flatternden Enden prangten in der Runde. Nach vielem Ueberlegen befestigte er rückwärts eine steife weiße Karte. Mit unendlicher Mühe hatte er wenige ungelenke Buchstaben darauf gemalt. Das Ganze ein Werk lächerlicher Geschmacklosigkeit. Er wußte es nicht. Mit dunkelglänzenden Augen betrachtete er den Kranz wieder und wieder. Sein wirkliches Leid verschwand in der naiven Selbstbefriedigung. Er dachte nicht mehr daran, daß sie fortgehe, sondern nur, daß sie sich mit diesem Kranze freuen würde. Er war getröstet. Am nächsten Tag holte er seine Sonntagskleider hervor. Er wusch und kämmte sich so sauber, wie er's nur einmal in seinem Leben gethan hatte. Bei dem Begräbnis seines Vaters. Um vier Uhr nachmittags ging er ins Theater. Den Kranz trug er in ein großes Tuch eingeschlagen. Es dunkelte bereits stark. Er war froh darüber. Beim Portier gab er den Kranz ab. Erst ganz zum Schluß sollte er geworfen werden. Ein Herr habe ihn damit beauftragt. Er log zum ersten Mal. Er war feuerrot, stotterte und hätte in seiner Verwirrung beinahe vergessen, dem Portier den bereitgehaltenen Thaler zu geben. Auf der Bühne lärmten die Arbeiter. Hinauf und hinunter schallten durch's Sprachrohr die Kommandorufe der Maschinisten. Der Theatermeister prüfte noch einmal die verschiedenen Versenkungen und las die im Buch des Inspizienten notierten Klingelzeichen nach. Der Abend war für ihn von großer Bedeutung. Er hatte eine ganz neue Mechanik erfunden, um die Dornenhecke aus der Erde wachsen und sie wieder versinken zu lassen. Aus dem farbduftigen Feenmärchen war eine geschminkte Feerie geworden. In acht Bildern, mit einem ungeheuern Aufwand von Farben und Beleuchtung, und eben darum ohne Duft und Licht. Dornröschen selbst kam erst im dritten Bilde. In den ersten beiden wurde ihre Geburt und Verwünschung mit Dekorationseffekten, Ballet und Musik gefeiert. Nachdem der Vorhang zum zweiten Male gefallen und das prächtige Königsschloß aufgestellt war, erschien Dornröschen auf der Bühne. Alles drängte sich um sie. Die überschlanke Gestalt im Schleppkleid aus lichtrosigem Atlas, mit silbernem Gürtel geschürzt, einen schmalen Heckenrosenzweig wie ein Krönlein durch's Haar geflochten. Das fiel wie ein goldseidener Mantel über die Schultern bis hinab auf die Schleppe. Das Licht versank in der weichen glänzenden Fülle. Es war eine echte Märchenkönigstochter. Sie stand in der Seitencoulisse und wartete auf ihr Stichwort. Ein wenig bleich und erregt, fröstelnd im scharfen Bühnenzug. Der Inspizient trat an sie heran. »Gleich, Fräulein.« Sie wendete sich zu Klaus, der dicht neben ihr stand. »Bitte, wollen Sie mir das Taschentuch halten, bis ich wiederkomme?« Er hatte keine Zeit, Ja oder Nein zu sagen. Das feine weiche Ding lag schon in seiner Hand, und Dornröschen trat aus dem Halbdunkel der Coulisse in den blendenden Bühnentag hinaus. Klaus hörte nichts von dem lärmenden Beifallsgetön, mit dem sie empfangen wurde. Er sah nicht, wie viele Kränze und Blumen zu ihren kleinen rosa beschuhten Füßen niederflogen. Er betrachtete nur das winzige weiße Spitzentüchlein. Er fühlte es nicht auf seiner hartgearbeiteten Hand. Der leiseste Hauch konnte es fortwehen und dennoch wagte er nicht, es fest zu fassen. Er hätte es zerdrücken können. Das machte seine Freude ängstlich. Er blickte nicht auf die Bühne, wo Dornröschen arme Kinder mit ihren Perlen und Edelsteinen beschenkte. Er atmete erst wieder auf, als sie in die Coulisse abging und das Tuch mit einem »Danke« entgegennahm. Jetzt besann er sich, daß er eigentlich zusehen wollte. Aber ein Schwarm von Kindern, Balleteusen und müßigen Zuschauern drängte ihn aus der Coulisse fort. Der Theatermeister rief ihn in die Versenkung. Mühselig kletterte er die dunkle gewundene Treppe hinunter. Die andern Arbeiter in ihren schmutzgetränkten Leinwandkitteln lachten über seinen Sonntagsrock. Zum ersten Mal ekelten ihn die vom Coulissenstaub fahlgrauen Gesichter. Er horchte nach oben. Wie ein unendliches jubelndes Lachen tönte es herunter: »Prinzeß Dornröschen spinnt, kann spinnen, spinnen.« Gleichzeitig das erste Klingelzeichen. Die Arbeiter packten die eisernen Hebel fester. Man hörte die gemachten Entsetzensrufe der Choristen, bis ein kleiner müder gebrochener Schrei mitten hinein klang. Die Königstochter hatte sich mit der verwunschenen Spindel gestochen. Dann wurde es still, totenstill. Ein zweites Klingelzeichen, und langsam durch die Kraft vieler schwer arbeitender Hände stieg die Dornhecke aus dem Boden vor den Augen der Zuschauer bis in den gemalten Himmel hineinwachsend. Nun durfte Klaus wieder auf die Bühne. Er sah, wie das schlafende Dornröschen auf der Marmorbank in üblicher elektrischer Beleuchtung dem blausammtnen Prinzen als Traumbild erschien. Er sah, wie die Dornhecke zu blühen begann und der Theaterprinz sich in herrlicher Tapferkeit einen Weg durch die leinwandnen Dornen bahnte. Er sah, wie er mit dem erlösten Dornröschen auf goldenem Thron bis in die Soffiten hinaufschwebte, von bengalischen Flammen rot und grün beleuchtet, begleitet vom rasenden Klatschen des Publikums. Der Applaus wurde auf jähe Weise unterbrochen. Es polterte etwas wie ein eisernes Gewicht auf die Bühne. Durch den Zuschauerraum ging ein schallendes Gelächter. Der Regisseur stürzte aus der ersten Coulisse an die elektrische Klingel: »Vorhang herunter!« Der Vorhang fiel. Alles rannte auf die Bühne. Klaus mit. Da lag sein Kranz. Dornröschen war von ihrem Thron heruntergestiegen. Mit weißen starren Lippen betrachtete sie das Ungetüm. Die Meisten lachten. Die Damen trugen eine übermäßige Entrüstung zur Schau. Es sei unerhört, jemandem auf solche Weise den Abend zu verderben, ihn vor dem ganzen Publikum zu blamieren. Der Bonvivant hob den Kranz ein wenig in die Höhe. »Da ist ja auch ein Zettel. Ah -- ah -- ah!« Er schüttelte sich vor Lachen. »Meine Herrschaften lesen Sie doch: >Blathonisch
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