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Title: Riesele - Geschichte eines kleinen Pferdes
Author: Schwarzkopf, Nikolaus
Language: German
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  | Anmerkungen zur Transkription                                    |
  |                                                                  |
  | Gesperrter Text ist als _gesperrt_ dargestellt, Antiquaschrift   |
  | als ~Antiqua~.                                                   |
  | Eine Liste der Änderungen befindet sich am Ende des Buchs.       |
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Schwarzkopf/Riesele

[Illustration]


                         Nikolaus Schwarzkopf



                                Riesele

                   Geschichte eines kleinen Pferdes

                                 1920

                      Georg Müller Verlag München


1. bis 3. Tausend

Copyright 1920 by Georg Müller Verlag A. G., München


                          Meinen beiden Buben
                          Friedemann und Klaus



I


Trudel, die kleine, hochträchtige Stute, zog das mit frischem Gras
beladene Wägelchen den tiefgleisigen Weg nach ihrem Stalle hinan, und
der Bauer, der mit seinen drei Kindern oben auf dem Grase lag, sagte:

„Sie hat nun Feierabend für ein paar Wochen: morgen oder übermorgen
wird sie uns ein Füllen schenken!”

Die Kinder, zwei Buben und ein Mädchen, hüpften aus Freude darüber von
dem Wagen herab, und auch der Vater kletterte herunter, und alle vier
sprangen sie an die Radachsen und drückten und schoben, daß Trudel
nicht mehr zu ziehen brauchte und vor Freude laut aufwieherte.

Aus dem Fenster der Wohnstube, grad überm Stalle, guckte die Bäuerin,
die Mutter der Kinder, und rief:

„Ist's Zeit für die Trudel, soll ich kommen?”

Sie kam auch schon die hohe Steintreppe herabgesprungen, verlor den
einen Holzschuh, stieß auch den anderen zur Treppe hinab und riß die
Stalltür auf und rannte barfuß in die kleine Scheune, frisches Stroh zu
holen.

„Nur Geduld!” sprach der Bauer, „so eilt's wohl nicht, Katherin; ihr
Weiber seid mir allzu ängstlich besorgt um euer schweren Stunden!”

Hühner, dreißig an der Zahl, standen aus dem Sande auf, schüttelten den
Staub aus den Federn und sahen neugierig und wie in Ehrfurcht zu der
Stute hin, der bunte Hahn krähte einmal, eine Henne kam mit ihren zehn
Küchlein aus den Halmen der Wiese, junge Enten, die im Wiesengraben
plätscherten, wackelten mühselig an den Weg, und etliche schwere Gänse
hüpften flatternd auf den Wagen, das frische Gras zu versuchen.

Indessen wurde Trudel von acht rührigen Händen abgeschirrt, das kleine
Mädchen legte seine Hand an des Tieres schwabbelige Lippen, und diese
folgten dem Händchen in den weitgeöffneten Stall.

Bärbel, die Kuh, deren Kalb, weil es ein vernaschtes Ding war,
seitabgebunden an seinem Stricke riß, Bärbel, die Kuh, drehte den
breiten Kopf nach der Trudel und schob zugleich das Hinterteil mit dem
schweren Euter dem blökenden Kinde zu, das heftig einstieß.

„Mamme, der Max sauft schon wieder!” rief der rothaarige August der
Mutter zu, die mit einem Arm voll Stroh hereinkam in den Stall.

„Laß ihn heut noch einmal saufen, den Nimmersatt, morgen ist er nicht
mehr der Jüngste im Stall, da wird er sich schämen, so vernascht zu
sein!”

Sie zerknüllte das widerborstige Stroh und breitete es unter der
Trudel aus, und zwei Zicklein hüpften um sie her, indem sie, einen Halm
im Mäulchen, die überlangen Hinterbeine nach allen Seiten in der Luft
umherwarfen. Auch Sapperlott, der Hasenvater, kam über die sauberen
Pflastersteine des Stalles dahergehoppst, indes die alte Häsin hinten
in ihrem verdrahteten Geburtskasten hockte und ihre Zitzen einer
wimmelnden Kinderschar preisgab. Sapperlott hüpfte mitten hinein ins
neue Stroh, die Bäuerin packte ihn im Genick und warf ihn dem kleinen
Mädchen, das sich in die Krippe vor die Augen der Trudel gesetzt hatte,
in den Schoß. Aber das Kind mochte den Alten nicht und setzte ihn
hinter sich in die Krippe, und nun lief er langsam höckernd auf dem
Stein zur Bärbel hinüber, die sich nicht um ihn kümmerte.

Die Bäuerin putzte an dem Leib der Trudel herum, das Mädchen
streichelte die lange Mähne glatt und versuchte, ein Zöpfchen zu
flechten, August und Gustav schabten an der Stalltür Dreck von den
Runkeln und warfen sie in die Futtermaschine. Mit dem Vater kamen die
Hühner, alte und junge, angelockt vom frischen Stroh, und die Enten
standen schräg hintereinandergereiht, wie das ihre Art ist, vor der
Schwelle und wackten nach ihrem Abendessen.

Auch die Sonne guckte in den Stall; sie schob ein Brett Licht, so breit
wie die Tür, herein, das an der hinteren Wand sich emporstellte und,
da es Abend war, bis an die Decke hinaufreichte, wo ein Schwalbennest
klebte. Die Runkeln polterten in dem Kasten.

Der Bauer brachte Gras herein, verteilte es an Kuh, Ziegen und Hasen
und sagte zu seiner Frau:

„Na los jetzt, wenn's Zeit ist, mach das Trinken für die Trudel und
nimm Weizenkleie heut abend!”

„Eine Mehlsuppe soll sie haben, Vatter!”

„Meintwegen, koch ihr eine Mehlsuppe! Los, Buben, 's Federvieh
gefüttert!”

Die Bäuerin wischte mit der Sackschürze dem Gäulchen über die
glänzenden Schenkel, trat aus dem Stall, schlüpfte treppauf in die
Holzschuhe und schlappte in die Küche, das Getränk zu kochen. Gustav
warf oben von der Treppe herab Gerste und Mais in vollen Händen
weithin, und das Federvieh schoß aus allen Winden drauf zu, laut und
gierig, und auch der Hahn tat, als könne er nicht genug bekommen,
obwohl er doch sonst gern den Anschein erweckte, daß er vom Winde lebe!

Drüben aber in den Wiesen erging sich das Schwesterchen, tappte hierhin
und dahin, sammelte sich die großsternigen Kuhblumen, die millionenhaft
den Abhang überblühten, und das freundlich gelbe Scharbockskraut,
dessen Blüten wie kleine Sonnen zerstrahlten. Einen ganzen Arm voll
Gelb und Weiß stellte das Kind, das auch Trudel hieß, in sein
Eimerchen, ließ an dem fließenden Quellrohr, in dessen Trog ein Entlein
schwamm, Wasser ins Eimerchen laufen und hob die zarte Herrlichkeit ans
Stallfenster hinauf, daß das junge Füllen, wenn es komme, gleich einen
Gruß von ihr habe.

Der Nachbar mähte die erste Blust seiner Wiesen vorm Hause ab, ein
gelbweißer breiter Weg schob sich in die weißübertupfte Farbenpracht,
und seine Kinder zogen aus dem niedergemähten Gras die Blumen heraus,
weil sie nicht in die Wiesen treten durften.

Trudelchen sprang zu ihnen hin und verkündete, daß heute nacht ein
kleines Gäulchen ankommen werde.

Die Mutter rief zum Essen, der Vater schloß die untere Stalltür, die
Schwalben kamen heim, das Federvieh schlief, die Sonne schlief, die
Blütenpracht ward überdunkelt, das Glöcklein des spitzen Kirchturmes
bimmelte sich schläfrig, das Gras duftete, ein Kohlweißling flatterte
übermüdet vorüber, da setzte sich die Familie ans Abendessen.

Und dann sogleich wurden die Kinder ins Bett gesteckt.

„Einen Fuchs gibt's!” sagte August leise.

„Ein Schimmelchen!” entgegnete Gustav.

„Ein Räppele!” lispelte Trudel.

„Ruhig! Eingeschlafen!” flötete die Stimme der Mutter aus der Küche.

„Wenn's ein Fuchs ist, muß es August heißen!” hub August wieder an.

„Gustav muß es heißen ...”

„Wenn's ein Fuchs ist?”

Trudel kicherte:

„Ein Räppele, nun ja, wie heißt's denn dann?”

„Räppele!” antwortete Gustav.

„Aber wie wird denn das große R gemacht?”

„Ruhig! Eingeschlafen!” rief der Vater.

Im Kirchtürmlein schlugs langsam zehn; so langsam, daß man darüber ein-
und ausschlafen konnte. Dann fing auch das fleißige Lieschen an und
schnurrte eilig und abgearbeitet seine zehn herunter.

„Ein Schimmel?” flüsterte Gustav.

„Ruhig! Eingeschlafen!” rief ebenso heftig Trudel.

Und dann lispelte auch sie wieder:

„Das große R, August, darf ich zu dir kommen, willst du mir's zeigen?”

„Vater kommt!” stieß Gustav hervor und schlief ein.

Die Eltern gingen im Nachbarzimmer zu Bett.

„Mutter”, rief Trudel, „das große R, wie wird denn das gemacht?”

„Schlaf!” sagte der Vater, „die Mutter schläft schon!”

Gustav und August schliefen, und der eine schnarchte laut.

„Vater”, fing nach einer Weile Trudelchen wieder an, „Vater, wie wird
das große R gemacht?”

„Ruhig!” antwortete jetzt die Mutter, „der Vater schläft!”

Da hatte das Kind etwas anderes zu denken ... und schlief ein.

Jenseits vom Wiesentälchen im Birkenschlag sang eine Nachtigall; sie
und die Bäuerin wachten in der Nacht, da das Gäulchen zur Welt kam. Als
der Bauer des Morgens in den Stall trat, stand das kleine Gäulchen auf
den weitgespreizten vier Beinen im Stroh und ließ sich behaglich von
seiner Mutter lecken.

Ein Räppchen war's, ganz schwarz, und nur auf seiner Stirn war ein
weißer Fleck, allerliebst anzusehen und gar gefällig und kleidsam!

Die Bäuerin holte ihr Mädchen aus dem Bett, die beiden Buben sprangen
in ihren Hemdchen hinterdrein, und das Füllen streckte seinen nassen,
großen, eckigen Kopf von dem Halse der Mutter weg, den Kindern
entgegen, und das Schwesterchen ließ den Daumen im Mäulchen, ließ den
Arm um Ihrer Mutter Halse liegen und blinzelte durch die schweren
Lider, als sei es recht von dem Ankömmling enttäuscht. Die Buben
tätschelten schon an ihm herum, worüber die Pferdemutter sehr erfreut
war und ihre Augen aus dem Duster des Morgens leuchten ließ.

Die Mutter nahm des Tierleins Kopf, schob ihn an der Pferdemutter
Zitzen, und sogleich begann der kleine Gaulmann wacker zu saugen.
Unendlich zärtlich bog die Alte ihren Kopf nach ihrem Jungen herab
und zurück, daß die Mähne die Augen verdeckte, leckte, leckte und hob
das rechte Hinterbein, daß das Junge recht bequem sein Erdendasein
beginne! Dann schob sie den Kopf wieder hochauf, spitzte die Ohren,
hälmelte an dem Gras oben in den Raufen und sah wieder zurück, hob mit
den schwabbeligen Lippen ein Bündel Heu auf und putzte damit an dem
Kleinen. Dieses ließ sich, als es sich vollgesoffen hatte, genau wie
die großen Gäule auf die Vorderknie nieder und dann zurückplumpsen ins
Stroh, und sogleich legte sich auch die Mutter nebendran und leckte
weiter.

Die Bauern der Nachbarschaft kamen am selben Morgen, die Bäuerinnen
kamen und auch der Herr Pfarrer kam, den Säugling zu sehen. Er kannte
Trudel, die Mutter, sehr gut: sie hatte ihn schon oft übers Gebirg
gezogen in die Filialorte, wenn Glatteis war, sie hatte ihn schon oft
bei Regenwetter vom Bahnhof des Städtchens abgeholt! Was sollte er sie
in ihrem Wochenbett nicht einmal heimsuchen?

Er war ein sehr großer Mann, der Herr Pfarrer, und als er in die
Stalltür trat, mußte er sich bücken. Der Bauer, ängstlich besorgt, der
Herr Pfarrer könne trotzdem den Kopf an die Oberschwelle stoßen, legte
vertraut, wie er mit ihm war, die Hand auf des Herren Schulter und
sagte:

„Herr Paschtohr, geben Sie acht, daß Sie Ihren Grind nit anstoßen!”

„Schon gut,” entgegnete der Pfarrer und dachte: Grind bräucht er grad
nit zu sagen; na, es ist aber mal so auf dem Land, 's ist nit bös
gemeint!

Der Pfarrer freute sich gern und freute sich über das Tierlein und
über die Mutter, doch war es ihm nicht vergönnt, einen Aerger zu
verschlucken, als der Bauer den eckigen Kopf des Säuglings überaus
zärtlich untern Arm nahm, ihn, den Pfarrer, glücklich wie ein Vater
angrinste und sagte:

„Gucke Sie doch, Herr Paschtohr, was ein goldiges Köpfle!”

„Allerliebst!” antwortete der Pfarrer, aber er dachte bei sich: sein
Vieh hat ein Köpfle, ich, sein Pfarrer, hab nur einen Grind!

„Segen ist in der Liebe zum Getier, nicht wahr, wie in aller Liebe?”
sprach der Bauer, und:

„Wie in aller Liebe!” wiederholte der Pfarrer und fügte hinzu:

„Und der liebe Gott gesegnet's einem mehr und sichtbarlicher, wenn man
sich weniger zu den Menschen wendet und mehr zum Getier und zu den
Blumen, zu den Bäumen, selbst zu dem harten Gestein! Hat das etwa keine
Ursache, Vetter Klaus?”

„Das hat wohl seine Ursache, Herr Pfarrer, wie alles in der Welt, und
Sie wissen es wahrlich besser als ich!”

„Warum sollte ich es besser wissen, Vetter Klaus? Ich schlage mich im
Schatten mit den Menschen herum und mit ihren dunklen Leidenschaften,
und Sie, Vetter Klaus, Sie leben und weben im Sonnenlicht, am Herzen
der Natur, die noch weit mehr das Quellrohr Gottes ist als wir
Menschen, die wir uns in schnöder Ueberschätzung Ebenbilder Gottes
nennen!”

„Hat sich etwa die Stammutter der Pferde im Paradies vergangen? Hat sie
von einem verbotenen Apfel gegessen?”

„Vetter Klaus, Vetter Klaus, ich weiß ganz gut, wohinaus er will, ich
kenne meine Pfarrkinder nur zu gut; aber wisse er: wenn der liebe Gott
den übrigen Geschöpfen keinen verbotenen Baum in den alltäglichen Weg
gestellt hat, so wußte er genau, was er tat!”

„Sonst wär er nicht Gott!”

„Ganz recht, Vetter Klaus, sonst wär er nicht Gott! Aber die
Erkenntnis, mit der er uns Menschen ausgestattet hat, -- --”

„Die hat er den Tieren, die er mehr liebte und mehr liebt, erspart!”
warf der Bauer ein.

„Oho! Vetter Klaus!” rief der Pfarrer, jedoch der Bauer fuhr fort:

„Sagten Sie nicht selbst schon auf der Sonntagskanzel, daß die
Erkenntnis, die den Menschen gegeben sei, daß dieser Knochen, der den
Menschen vorgeworfen wurde, eben nichts Halbes und nichts Ganzes ist,
eben, daß er ein wirklicher Fluch ist?”

„Vetter Klaus: Erkenntnis sei ein Fluch?!”

„Ha, ich habe aus Euren Predigten, Herr Paschtohr, schon etwas gelernt:
und man macht sich hinterm Pflug so seine eigenen Gedanken!”

Er nahm des Füllen Kopf an seine Brust, hob den überaus langen
Schweif der Stute hoch und trocknete damit an dem Füllen herum. Der
Pfarrer nahm eine Prise, hielt auch dem Bauern die Dose hin und sagte
freundlich lächelnd:

„Lieber Vetter Klaus, ich habe stets das unverdorbene Urteil des
gesunden, unverbildeten Bauernverstandes zu schätzen gewußt und bin
gerade deshalb Bauernpfarrer geworden! Lassen Sie mich das so sagen,
wie ich es sage: Einst ist in einem Stalle ein Kindlein auf die Welt
gekommen, und das war Gott. Es lebte, auch da es schon Mann war,
fröhlich wie Ihr in den Tag hinein, fröhlich wie Ihr und die Vögel des
Himmels und die Lilien des Feldes und tat sonst nichts, als daß es
seinen Mitmenschen vom himmlischen Vater erzählte. Nicht viel anders
erzählte es, als wie die Vögel erzählen und die Blumen, das Wasser, das
Gras, Dein Vieh und ganz unmittelbar das kleine Füllen, das eben erst
seiner Schöpferhand entsprossen.”

„Ja, und ich selbst, und wir selbst?” warf der Bauer ein, und der
Pfarrer fuhr fort:

„Die Menschen freilich sind ohne Gott, haben seine Worte vielfältig
umgemünzt zu ihren verbrecherischen Zwecken, verstehen auch die Natur
nicht mehr, das Göttliche in der Natur und im eigenen kindlichen
Herzen und haben sich immer weiter von Gott entfernt, den sie nunmehr
mit ihrem Verstand zu erforschen suchen gleich der Urkraft in der
Zelle, anstatt ihn mit ihrem Herzen zu lieben! Immer ärmer, immer
unglücklicher! Schier des Teufels!”

„Darf ich etwas fragen, Herr Paschtohr?”

„Aber freilich”, entgegnete der Pfarrer neugierig und stolz.

„Ist Ihnen diese Meinung eben erst in meinem Stall gekommen, will
sagen: in einem Stall? Wie sich's gehörte?”

„Wie sich's gehörte, sagt Ihr und wollt sagen: daß die echte
Erkenntnis im Stall geboren wird, dieses kleine göttliche Kindlein der
Menschenseele ... Ja, Vetter Klaus, hier in Deinem Stall!”

Der Pfarrer deutete in fröhlich hohem Schwung den Wiesen zu, dem
Wäldchen, den Hügelwellen, die leise zu schwingen schienen, der Sonne
und den Wolken ...

„Sagen Sie es doch so, Herr Paschtohr: in Eurem Paradies, Vetter
Klaus!”

„Ganz recht: in unserem Paradies, Vetter Klaus!”

Trudel, das Mädchen, kam mit fliegenden Haaren und fliegenden
Tafelschwämmen den Weg hergesprungen und schrie schon von weitem:

„Ich kann's, Vater, ich kann's!”

„Was denn, was kannst denn?”

„Das große R!”

Es ließ seine Bücher fallen, behielt nur die Tafel in den Händen, blieb
einen Augenblick stehen und wischte mit dem Zeigefinger gar fürsorglich
und rannte dann um so rascher zum Vater. Auf der Tafel stand, von des
Lehrers Hand geschrieben, das Wort „Räppchen”, und darunter stand das
Wort von Trudels Hand ungelenk nachgemalt.

Der Pfarrer ließ sich die Tafel geben und sagte zu dem Bauern:

„Sehn Sie doch, Vetter, wie die Menschen von Anbeginn gierig sind nach
ihrem Fluch!”

„Sie sind es in der Tat: der Teufel hol mir alle seine Schulmeister!”

„Und alle seine Pfaffen dazu!” lachte der Pfarrer und ging quer über
die gemähte Wiese des Nachbars davon.



II


Als das Räppchen zum ersten Mal aus dem Stall gehen durfte, rannte
es unter den Händen der drei Kinder davon, feuerte aus, wie wenn es
toll wäre, und die Hühner stoben auseinander, die Gluck sträubte das
Gefieder, die Enten ordneten sich schräg hintereinander und guckten in
die Höhe, und nur die Gänse gingen vorgestreckten Halses beherzt auf
den Fremdling los, ihn mit ihren sägig bewehrten Schnäbeln zu beißen
und zu vertreiben. Jedoch das Räppchen achtete nicht ihrer Waffen,
hüpfte weiter und blieb erst stehen, wo kein Huhn und keine Gans mehr
stand, und turnte da einmal recht kräftig auf seine Vorderbeine, um mit
den dickknochigen Hinterbeinen gehörig auszufeuern und gleichsam die
ganze Flatterschar keck zum Kampf herauszufordern.

Da es eine Pause machte und um sich guckte, ob vielleicht Gegner auf
die Walstatt gefolgt seien, drehte sich der Hahn seitab und krähte
einmal ins Birkenwäldchen, als ginge ihn dieser Bramarbas herzlich
wenig an. Die Gänse streckten die Schnäbel zusammen und schnatterten,
was sie gesehen, und machten sich lustig über den Tollpatsch, und nur
die Enten kamen gutmütig, wie sie sind, seitlich am Rande der Wiese
entlang auf das Räppchen zugewackelt, sagten aber nichts.

Auch die drei Kinder kamen, schnalzten mit den Zungen, hielten die
Hände vor und rieben die Daumen auf den Zeigefingern. Das Räppchen
blieb stehen, bis die Kinder nur noch einen Schritt entfernt waren,
dann warf es sich behend herum und raste davon. Die kleine Trudel
begann zu weinen, und aus dem Stall erscholl das klagende Wiehern der
anderen Trudel, aber das Räppchen achtete auf nichts und lief immer
weiter, ins Dorf hinein.

Die Bauern traten in die Türen und sahen ihm nach, die Bäuerinnen kamen
mit ihren Kochlöffeln gelaufen, alle Kinder eilten herzu, das Füllen
einzufangen.

Er, der Säugling, konnte der Meute der Jugend nicht weiter entfliehen
und ergab sich schließlich, wieherte und streckte den zahnlosen Mund in
die Luft und schweifte das dünne Schwänzchen hin und her, bis es von
einer kleinen Hand festgehalten wurde. Die Mähne, die wie ein Besen in
die Höhe starrte, ward von Kinderhänden überstreichelt bis tief in den
Rücken. Auch die beiden Ohren wurden festgehalten und die zierlichen
Hufe, die Lippen, die Mähne, und schier wäre das ganze Kerlchen von
Kinderhänden überdeckt worden, hätte das Räppchen nicht durch einen
heftigen Ruck sich selber befreien können. Da stand gerade die kleine
Trudel vor ihm, und diese Trudel durfte ihm über die Augen fahren und
an die weiße Stirn. Mit ihr ging das Räppchen auch wieder heimzu, und
die Kinder des Dorfes strömten mit an den Stall und drangen bis in
den Stall hinein, und Katherin, die Bäuerin, hatte ihre liebe Not mit
ihnen, sie wieder hinaus zu bringen.

Als der Bauer mit Bärbel, der Kuh, die den kleinen Pferdewagen an der
Stirn hängen hatte, gemächlich, wie es einem Kuhfuhrwerk zukommt,
den Weg herauftrottete, saßen noch einige auf der Stallschwelle und
betrachteten das kleine Füllen mit seiner Mutter, denn junge Pferde
gab's nicht alle Tage, und zudem solch ein kleines war noch nicht
gesehen worden im Dorf und nicht im Tal.

Der Bauer war beinah böse: er wollte den kleinen Mann so früh nicht auf
die Gasse schicken, nun er seinen ersten Ausflug doch gemacht hatte,
mäßigte er seinen Groll, da er wußte, wie die gute Mutter dem Drängen
der Buben nicht hatte widerstehen können ... Er holte sich das Tierlein
heraus in die Sonne, hob zärtlich den einen der zierlichen Hufe und so
auch die anderen, und da er nicht erkennen konnte, daß das junge Horn
sich allzu sehr abgenutzt hatte, gab er dem Räppchen einen gelinden
Stoß auf die schmalen Backen und jagte es in den Stall zur Mutter.
Sofort stürzte sich der kleine Ausreißer gegen den Leib der Alten, soff
sich voll und ließ sich hinplumpsen, um sogleich einzuschlafen.

Sapperlott, der Hasenvater, kam ganz nahe an seinen Hinterhuf
herangehopst, als wolle er jetzt schon einmal prüfen, welch tückische
Macht ihm den Aufenthalt in dem ruhigen, viel zu ruhigen Stall
vielleicht verleiden könne! Er wagte sich sehr nahe an den kleinen,
kindlich harmlosen Huf heran, er zog sogar die Oberlippe faltig in die
Höhe, er streckte selbst das Zünglein zwischen den spitzen Zähnen
hervor, ließ die langen Schnurrhaare über das Horn gleiten und drehte
sich schließlich ohne jeden Grund davon weg, um eiligst nach seinem
Drahtgitter zu hüpfen. Daselbst, so mochte es scheinen, erzählte er das
Ergebnis der Untersuchung seiner Häsin und seiner Jungmannschaft, denn
alle krabbelten plötzlich ans Gitter und staunten nach dem winzigen
Pferdehuf, der gelb wie ein Fetzen Maibutter neben der dunklen Lende
lag. „Keine Gefahr, keine Gefahr!” Die Schwalben flogen eifrig aus und
ein; plötzlich erschallte aus dem Nest ein heftiges Gezwitscher und
verstummte. Der Hasenvater schien auch jetzt den Seinen etwas zu sagen,
denn alle hoben wie auf seinen Wink die Augen von dem harmlosen Hufe
weg und hinauf an den Querbalken, wo das Nest klebte. Auch das Räppchen
regte den Kopf, als störe ihn das Gezwitscher der jungen Schwalben,
oder aber als errege es seine besondere Freude.

Am Nachmittag kam Trudel, das Mädchen, aus der Schule und hatte an
der Stirn einen großen Kreidefleck, den es wie ein Aschermittwochmal
ängstlich hütete. Es stellte sich vor sein Räppchen und sagte:

„Guck, das hat mir mein Lehrer gemacht!”

Sie trug aber ein Stückchen Kreide in der Hand und machte nun dem
Mutterpferd auch eine Blesse, dann Sapperlott, dem Hasenvater, der
in der Reife seiner Jahre geduldig standhielt, dann den jungen
Geislein, die noch keine Hörner hatten, dann der Stalltür und den
zwölf Steinstufen der hohen Treppe, der Haustür, dem Küchentisch
und schließlich gar den eisernen Kochhäfen, die in Reih und Glied
hochangefüllt mit Kartoffeln auf dem kalten Herde standen. Und über
jeden Fleck malte Trudel ein großes R.

Als die Mutter aus dem Garten, der hinterm Hause lag, hervorkam, um
den Herd zu heizen, sah sie, was ihr Mädchen gemacht hatte, und da sie
eine rechte Kindsmutter war, lachte sie über den sinnigen Unsinn und
ließ sich selber eine Blesse auf die Stirn malen. Bald qualmten die
Kartoffelhäfen, und der Schwarm des Dampfes stieg überm Herde auf, an
der dunklen Decke hin, vorüber an der Mückenleimampel, die da pendelte,
und hinaus durchs offene Fenster.

Es geschah, daß die Buben und alle Buben des Dörfchens mit dem Namen
Räppchen nicht mehr zufrieden waren und sich auf einen anderen Namen
besannen. Während der Pausen auf dem Schulhof, während man im Badloch
zu schwimmen versuchte, plätscherte man eifrig die schönsten Namen
übers Wasser hin, und Trudel, das Kind, hatte seine liebe Not! Es
wollte sein Gäulchen „Richard” nennen, „Richardele”, aber die Buben
spotteten und hörten sie nicht einmal an!

Da standen sie wieder beisammen, die Herrn Buben, standen mit ihren
Reifen im Stall und waren keine Minute mehr zurückzuhalten, die
Gassenbuben!

„Na Trudelein,” sagte der eine, „solls Räppchen immer noch Richardele
heißen?” und er lachte, und alle Buben lachten mit ihm.

„Weißt,” sprach August, „ein schwarzer Gaul kann nicht Richard heißen!”

„Warum denn nicht?” fragte sie dagegen, „warum denn nicht?” Und sie
nahm ihr Däumchen in den Mund und schmollte.

„Und dann, Trudel, das mußt du verstehen, das verstehst du aber noch
nicht,” so sagte ein anderer, der an einer gelben Rübe kaute, „Richard
ist doch ein Bubenname!”

Alle lachten sie frech, und Trudel weinte laut heraus.

„Besinn dich halt auf etwas Besseres!”

„Wir können das Räppchen doch auch nicht Riese Goliath nennen!” meinte
August, und Gustav entgegnete:

„Auch Siegfried sollen wir's nicht nennen, da kann sie den großen S
nicht machen und kommt wieder gelaufen!”

„Doch, ich weiß!” warf Trudel jetzt hin, „Riese Goliath heißen wir's!”

„Das sind ja zwei Namen, einer genügt!”

„Gut!” entschied Gustav, „nennen wir's Riese!”

Sie lachten schon wieder, aber Trudel griff den Namen herzhaft auf und
rief ein übers andere Mal:

„Riese heißt es, Riesele, Riesele!”

„Riesele!” schrien die Buben, „Rieselein, der kleine Gernegroß!” und
sie trieben ihre Reifen an und rasten mit dem Namen davon, die Wegspur
hinunter. Trudel aber holte am Brunnen eine Handvoll Wasser, trug sie
fürsorglich in den Stall, goß sie dem Gäulchen übern Kopf und sagte
immerzu: „Riesele, Riesele!”

Alle Welt war mit dem Namen einverstanden, und das Füllchen Riesele
ward der Freund und Genosse der ganzen Dorfjugend und die stille Freude
aller Erwachsenen.

Es lief im Dorf umher, auf den Straßen, in den Bauernhöfen, über die
Wiesen, selbst über die Felder durfte es laufen, und niemand verwehrte
es ihm. Junge Rinder und Kälber, die des Morgens in großen Scharen
auf die gemeinsame Weide getrieben wurden, ließen stillschweigend
geschehen, daß das Gäulchen sich ihnen anschloß und mitlief, ließen
geschehen, daß das Gäulchen, das freilich viel wilder war als die
Kälber, die großen Rinder, die schon fast ausgewachsen waren und schon
fast eingespannt werden konnten, anrannte und seinen Kopf in ihre
Lenden stieß, als wenn es saufen wollte!

Die Gänse, die auch allmorgendlich gemeinsam auf die Weide auszogen,
die Gänse mußten stets gewärtig sein, daß ihre Unterhaltungen während
des Ausmarsches oder während der Heimkehr plötzlich aus einem Hof
heraus von dem Riesele gestört wurden. Zwar fürchteten sich die
Gänse keineswegs, rannten auch nicht davon, wenn der Wildfang
angetrippelt kam, aber da es doch unliebsam war, mitten im Gespräch
auseinandergerupft zu werden, so haßten die Gänse das Riesele heimlich,
und immer wieder konnte man wahrnehmen, wie einige ihrer beherztesten
die Schnäbel hoben, schnatterten, sogar laut krischen und dem
Störenfried an die Beine wollten.

Auch die Schweine grunzten des Morgens, wenn Rinder und Gänse fort
waren auf ihrem gemeinsamen Weideplatz, und der Hirt, ein verlorener
Sohn aus Nirgendwo, war ein guter Mensch von Anbeginn und konnte das
Riesele recht leiden, weil es ein so sauberes, freundliches Kerlchen
war. Zwar die Schweine gewöhnten sich nicht an die Freiheit des
Gäulchens, verstanden sie nicht und verziehen sie deshalb auch nicht
und stoben immer wieder verscheucht auseinander, wenn sie es nur von
ferne trappeln hörten.



III


Natürlich stürmte es auch in den Schulhof, denn Kinder waren ja seine
besten Freunde, und es war ja selber ein Kind! Die dreiunddreißig
Schüler der kleinen Dorfschule brauchten den Freund nicht zu fürchten,
brauchten auch nicht neidisch zu sein seiner Zartheit und Sauberkeit
wegen und hegten keinerlei schlimme Absichten gegen den ausgelassenen
Gassenbuben, es sei denn, daß sie ihn für die paar Schulstunden, die
sie an Freiheit weniger hatten, doch leise beneideten. Sie hörten das
Gäulchen an den Fenstern des Schulsaales vorüberspringen und durften
nicht mit hinaus; sie sahen es am Abhang der Schulwiese grasen und
durften nicht hinaus; sie hörten aus dem Birkenwäldchen sein tolles
Wiehern, und sie durften nicht einmal „Riesele” rufen! Da mußten sie
hocken und lesen, rechnen, rechteckige Aecker zeichnen und ausrechnen,
was, wenn ein Quadratmeter eine Mark und siebenundzwanzig Pfennig
koste, was der ganze Acker wert sei! Anstatt mit dem Riesele drüber
hin zu rennen über den Acker! Da mußten sie Quadratwurzeln ausziehen,
und niemand wußte, wozu, da doch Quadratwurzeln auf keinem Acker
wuchsen, kein Unkraut waren und auch kein Kraut und was also denn
eigentlich? Da mußten sie die Preußenkönige kompagnienweise vorreiten
können und genau die Spanne Zeit abgrenzen können, die einem jeden von
ihnen und ausschließlich diesem ihre militärische Größe verdankt und
ausschließlich ihre militärische Größe, weil es offenbar eine andere
nicht gibt!

Und draußen im Sonnenschein verjubelte das Riesele seine Jugendkraft
und durfte anstellen, was es wollte!

Aber der Herr Lehrer, obgleich er ein Preußenfreund war, war doch kein
Ungerader! War doch so kein ganz Ungerader!

Es kam einmal vor, daß das Riesele in seinem Uebermut ins Schulhaus
stürmte, über die vier Treppenstufen kletterte und den Hausgang
betrappelte. Das hörten Lehrer und Schüler! Da blieb weder Lehrer
noch Schüler auf dem Platz: dies Getrommel auf den Steinplatten des
Hausganges zertrampelte alle Wissenschaft, weil es ein Stückchen
Kinderweisheit war: der Preußenkönig flog in die Ecke, die
Quadratwurzel trieb Schößlinge aus dem Acker, dessen Quadratmeter so
schrecklich teuer war, ... und der Herr Lehrer sprang vom Pulte auf,
schnitt munter, schalkhaft lächelnd mit den beiden heftig ausfahrenden
Händen die Unruhe entzwei, daß die Kinder wieder auf die Sitze
herabsanken und ging auf den Zehen an die Tür und hob leise die Klinke
aus der Nase. Und wahrlich: das Riesele stieß die Tür mit dem Maule
auf, daß sie zurückknallte wider den Schrank.

Da stand es nun, das Riesele, die buttergelben Vorderhufchen auf der
Schulschwelle, und blieb stehen! Kam nicht näher in den Saal, kam nicht
in den Saal herein! Alle Kinder standen, standen gar auf den Bänken,
hielten dem Gäulchen ihr Brot hin, riefen, kosten, -- allein, es kam
nicht näher. Es drehte einmal den Kopf zur Seite, als wolle es den
Herrn Lehrer sehen, den es offenbar fürchtete, allein, der Lehrer hielt
sich vielleicht aus sicherer Kenntnis elementar fühlender Seelen hinter
dem schwarzen Ofen verborgen! Er stieß den Zeigefinger vor, deutete auf
das Trudelchen, das Kind solle von seinem Platz aufstehen, hervortreten
und das Riesele hereinholen. Aber Trudel getraute sich nicht, und da
die Buben wild wurden und jeder das Pferdchen holen wollte, streckte
dieses seine Nase weit vor, wie wenn es niesen wolle, nieste wirklich
und nahm Reißaus! Die ganze Klasse aber stürmte hinterdrein, und für
diesen Tag war die Schule aus.

„Ganz recht, Riesele!” sagte der Lehrer, als er sein preußisches
Geschichtsbuch ins Pult einschloß, „unsere Weisheit ist keine Einfalt
mehr und deshalb keine Weisheit mehr! Wer weise werden will, der muß
uns fliehen!”

Am nächsten Morgen erzählte der Pfarrer den Kindern von dem kleinen
David und dem Riesen Goliath. Er erzählte da, wie der kleine David
als Hirtenbub auf den Bergwiesen sich umhertrieb, wie's just eben das
Riesele tue, wie er aber doch emsiger gewesen sei als das Riesele, wie
er gelernt habe, die Harfe spielen, wie er selber neue Lieder gesungen
habe aus seinem Herzen heraus: Lieder, wie sie vor ihm und nach ihm
kein Mensch mehr habe singen können, wie er sich zugleich geübt
habe, die Schleuder zu führen, um im Falle der Not das Vaterland zu
verteidigen, und wie er alsdann später seiner Lieder wegen dem kranken
König Saul habe singen dürfen! Wie der König ihn habe liebgewonnen
und wie er nicht mehr habe leben können ohne ihn, den Hirtenknaben,
wie dann auch wirklich die Feinde gekommen seien, und wie just er,
der Hirtenknabe, den mächtigsten der Feinde, ihren Riesen, den Riesen
Goliath, eben mit der Schleuder erlegt habe, indem er ihm einen spitzen
Stein mitten in die Stirn getrieben habe, so daß der ungeheure Kerl
umgefallen sei, um sich zu verbluten!

„Ihr Buben!” sprach der Pfarrer, „ich frage euch: ist das nicht eine
echte Bubengeschichte? Das ist die schönste Bubengeschichte der Welt!
Oder kennt ihr eine schönere?”

„Robinson!” rief einer; jedoch der Pfarrherr wehrte ab und antwortete:

„Sei mir still mit deinem Robinson, mit deinem unfolgsamen Engländer!”

„Joseph!” meinte ein anderer, „Joseph von Aegypten!”

„Aha!” sagte darauf der Pfarrer, „und warum denn Joseph?”

„Weil er verkauft wurde, weil er ins Gefängnis gesteckt wurde und
nachher doch König wurde!”

„Gut, er hat gelitten und wurde erhöht!”

„David wurde auch erhöht, David wurde auch König!” rief ein Großer
dazwischen.

„Wurde auch König,” wiederholte der Geistliche, „David wurde auch
König, freilich, und was für einer! Aber: welcher von den beiden
gefällt dir nun am besten, der aus Aegypten, der zuerst leiden mußte,
oder der von den Fluren Bethlehems, der niemals litt und immer siegte
und sang und Flöten blies und Harfen schlug?”

Die Kinder zischelten; aus den neun Bänken schossen die Finger wie
Pfeile gegen des Pfarrers Antlitz, und mitten in dem Gezisch schlug
plötzlich ein kleiner Mädchenkopf knallend auf die Bank: das Trudelchen
heulte laut auf und schnippste und holte den Schürzzipfel an die nassen
Augen. Der Pfarrer trat zu ihm hin, ergriff sein Händchen und sagte:

„Was ist los, Trudel? Komm, los! Sag mir's rasch?”

Das Kind erhob sich nicht, sondern rief mitten in seine Tränen hinein:

„Das Riesele soll David heißen, nein, Joseph, Joseph soll es heißen!”

„Na, wie soll's nun eigentlich heißen, Trudel?”

Das Kind begann, aus seinen Tränen zu lachen, erhob sich, sah dem
Pfarrer über die Maßen vertraut ins Gesicht und sagte:

„David!!”

„David?” antwortete der Pfarrer, „es soll König werden, ohne daß es
zuvor von seinen Brüdern wäre verkauft worden; es soll sich immer nur
freuen, ohne daß es gelitten hätte! Ihr Großen dahinten: wie ist's mit
König David gewesen: hat er schließlich nicht auch sein Bündelchen zu
tragen gehabt?”

„Aber er war doch stärker als der Riese, und ich hab's doch nicht
gewußt!” heulte Trudel.

„Gewußt, gewußt! Trudelein! Du hast's doch selbst getauft! Und getauft
ist getauft! Oder willst du dein Gäulchen dreimal taufen lassen, wie's
dem Schalk aus Braunschweig geschah, und willst du haben, daß Riesele
gleich diesem Schalk ein Taugenichts werde und ein Tagdieb? Sei stille,
sei stille!”

Trudel, von der Unabänderlichkeit zerschmettert, ließ sich niederfallen
und ihr Geschluchz hub stärker an.

Da wieherte draußen das Riesele, da knallten auch schon die kleinen
Hufe wieder im Hausgang! Die ganze Klasse begann zu schreien vor
Freude, der Gustav und der August liefen an die Tür, den kleinen
Frechdachs fernzuhalten, hinauszuführen, aber dieser schlüpfte unter
ihren Händen durch zum Saal herein und schnurstracks auf das Trudelchen
zu, das bei den Kleinsten in der vordersten Bank saß.

Diesmal, weil der Pfarrer im Saale war, zögerte das Mädchen nicht. Es
schämte sich nicht! Allein es hatte gar nicht Zeit, sich zu schämen,
sein kleines, ungestümes Herzchen hüpfte von selbst auf die Bank, nahm
das kleine, sechsjährige Körperchen mit in die Höhe, es legte die
nackten Arme um des Riesele schwarzen Hals, es küßte das Riesele auf
die weiße Blesse und riß es an der in Jugendwuchs strotzenden Mähne mit
sich fort, zur Schule hinaus und rief immerzu:

„Dävidele, Dävidele!”

Der Lehrer, der im Hofe auf- und abging und seinen Aufsatz auswendig
lernte, kam eiligst herein, aber die zwei Kleinen waren schon draußen.

„Riesele hat einen sehr gesunden Drang nach -- nach -- nach, Herr
Pfarrer, nach Weisheit in sich!” meinte der Lehrer, „gestern war es
auch hier!”

„Es weiß nicht, was es tut!” erwiderte der Pfarrer pfiffig, „ihm soll
verziehen werden! ... Uebrigens, wenn das Riesele ein Esel wäre und
nicht ein kluges Ding, ein Pferd, man könnte versucht sein, mit der
Schrift zu sagen: er kam in sein Eigentum, aber die Seinen ... Nix für
ungut, Herr Lehrer, guten Morgen!!”



IV


Ein Viertelstündchen abseits vom Dorf wohnte der Großbauer Michael,
der sieben Pferde und dreiundzwanzig Rinder hatte. Riesele sah einmal
vier dieser Gäule an einem mit Steinen beladenen Wagen ziehen, zwei
Peitschen knallten über ihnen, die Siele gerrten, Funken stoben aus den
Hufeisen, und dies Spiel der Kraft mochte ihm so sehr gefallen, daß es
sich den Pferden zugesellte und mit ihnen lief in den großen Hof. Sie
konnten es gut leiden, die dicken Gäule, sie drehten allesamt die Köpfe
nach ihm, sie ließen es an ihrem Trog Wasser saufen, ja, sie schoben es
förmlich zu sich in den Stall, so daß Riesele mit ihnen fressen mußte
aus ihren hohen Krippen. Ha, wie fühlte sich das Zwergfüllchen so wohl!
Die sieben Kerle standen da in Reih und Glied nebeneinander, Knechte
putzten an ihnen herum, daß die vollen Backen zu blinken anfingen,
warme Dämpfe stiegen von den breiten Rücken in die Höhe, und die
Schweife tanzten nur so!

Riesele begann den Schweiß zu lecken, Riesele lief von dem einen zum
anderen, Riesele ließ sich von allen liebkosen und streckte den Kopf
auch den Knechten zu, die es liebreich tätschelten. Ueberallhin sprang
Riesele in dem ungeheuren Stall, schlüpfte gar durch einen schmalen
Verschlag hinüber in den Kuhstall, und die sieben Gäule drehten die
schweren Köpfe an den dicken Hälsen hinzu nach dem Verschlag, sei es,
daß sie selber gern einmal hindurchgeschlüpft wären zu den Kühen, sei
es, daß sie das Gäulchen den plumpen Milchkühen nicht gönnten. Dies
Kerlchen, -- man war selber einmal so lieblich und klein, man hätte
selbst gern solch ein Kind gezeugt, solch ein Kind sein eigen genannt
-- dies Kerlchen sprang nun zwischen den Kühen herum, und keine Magd
jagte es fort! Sie standen beisammen, die Mägde, und schwatzten.

Die Knechte gingen gar hinüber und stellten sich zu ihnen, und der
kleine Mann war nicht mehr zu sehen! Ein Hinterbein nur, ein Stück des
linken Ohres: die Gäule wurden unruhig, wieherten, rissen an ihren
Ketten, schlugen mit den Hinterhufen auf, als sei ein Bienenschwarm
über sie hergefallen.

Da auf einmal gab's ein Geschrei:

„Er wirft mir die Milch um!”

Sie stoben auseinander, die Mägde, die Knechte lachten laut auf, ein
Eimer kollerte übern Steinboden, und Riesele kam in großen Sätzen durch
den Verschlag in den Pferdestall zurück. Ha, wie freuten sich die Gäule!

Aber da stand plötzlich ein kleines Mädchen in der Tür, wagte sich
nicht näher, rief: „Riesele, Riesele,” und alle Herrlichkeit hatte
ein Ende, denn das Riesele wandte sich von den alten Gaulmännern ab
und lief zu dem Kind und lief mit dem Kind davon, ohne sich nochmals
umgeguckt zu haben.

Es kam wieder, das Milchkind! Es kam schon am nächsten Tage wieder!
Zwei der Gäule zogen hinterm Haus den Pflug, zwei zerrten die Egge
hinterdrein, zwei trabten mit dem leeren Steinwagen den Hügel hinauf,
und der siebente, der dickste, hatte eine Fuhre Mist hinter sich hängen
und stand noch im Hof, an der Mistkaute. Dieser allein sah das Riesele
an sich vorüberspringen, sah es ohne Gruß an sich vorüberspringen,
als wenn ein Gaul, der das Unglück hat, Mist ziehen zu müssen,
deshalb keiner Achtung würdig wäre! Das eingebildete Aeffchen rannte
schnurstracks in den Pferdestall, und da es niemand zu Hause fand,
legte es sich ein Weilchen auf den Platz in der Mitte und schlief in
dem großen Bette ein, wie alle Kinder es so gerne tun! Es wachte auf,
als draußen der Mistwagen den Hof hinausratterte. Eiligst hob es sich
auf die Beine, lief hinter dem Wagen drein, kehrte aber, noch bevor
es ihn erreicht hatte, um und erblickte die Pflüger und die Egger und
rannte nun, so schnell es konnte, hinters Haus, um sich den Pflügern
zugesellen zu können.

Schräggestellt wie ein Hund, tänzelte es nunmehr vor, neben und hinter
den schweißigen Ackergäulen einher über die frischen Schollen wie eine
flinke Meise, und seine aufstarrende Mähne bog sich schwer nach beiden
Seiten. Die Schimmel, die hinterdrein die Egge zogen, begannen zu
traben, der Knecht zerrte die Leine an und schrie unausgesetzt: „hü,
hü!”, aber die Schimmel ließen sich nicht halten und eilten voran,
wenn auch die Schollen nicht recht zereggt waren. Munter und stolz
mit hochaufgestreckten Ohren nickten indessen die Füchse, die vorm
Pfluge gingen, ihre Schar durch den harten Boden, wie wenn sie dem
Kinde hätten zeigen wollen, was für ehrenfeste Kräfte sie seien, oder
wie wenn sie ihm hätten ein gutes Beispiel geben wollen. Kein Blick
abseits, kein Schritt abseits, gleichmäßig zerrten die Lederriemen
an den Kummeten. Ja, der Knecht, der Soldat gewesen war und Sinn für
maschinenhafte Ordnung hatte, gewahrte, daß die Schritte der Füchse,
die sonst nach jedem fünften Tritt zum Gleichschritt kamen, eben
fortgesetzt gleichmäßig im Takte blieben, und da er diesen Takt von
der Kaserne her so sehr liebte, freute er sich über die Maßen wie beim
fertigen Parademarsch und sah selber bisweilen wie ein Kompagniechef
hinüber zum General, der heute sogar ein ganz junges Prinzlein aus
vielleicht höchstem Hause war.

Als wieder einmal die Furche zu Ende war, durften die Füchse warten,
bis die Schimmel kamen, und nun stellten sich die Schimmel in dem
Abstand, der ihnen ihrer Arbeit entsprechend zukam, seitlich von
den Füchsen auf, um gleichzeitig und gleichmäßig ans andere Ende des
Ackers die Arbeit zu ziehen. Ja, auch die Schimmel hoben nun die Köpfe
und stellten die Ohren steil auf! Und wenn ihre Hufe auch nicht den
gleichen Schlag bewahren konnten, -- vielleicht weil die Egge ein
unordentliches Gezerr verursacht, -- so blieben sie doch, von der Hand
des Knechtes gelenkt, in gleichem Abstand und in gleicher Höhe.

Riesele aber, wie es da einen einheitlichen Willen erfühlt, hüpft wie
ein abgerichteter Zirkusgaul von hinten her zwischen die vier Pferde
und marschiert nun wie an der Tete mit fröhlichem Getrippel einher und
tollt nicht mehr seitab und tänzelt nicht mehr und bockelt nicht mehr
und ist ganz Ordnung und Würde.

Jedoch gleich am Ende der Furche, als gewendet wurde, mochte ihm etwas
anderes besser gefallen haben, und es lief vom Acker der Arbeit, dem es
ein Stückchen Schönheit eigener Art verliehen hatte, davon.

Es lief in eine neue Schönheit hinein: ein Weizenfeld stand oben, wo
sich der Hügel hinabzu biegt, und Millionen von knallroten Mohnköpfen
leuchteten, wie wenn sie als Wolke am blauen Sommerhimmel einhergingen,
zwischen den steilen, kurzen Halmen dicht gedrängt, als stünde der
Acker in Feuer.

Riesele rannte drauf zu. Jedoch, wie es oben war, sah es sein Dörfchen
unten, sah alle Schornsteine rauchen, -- kerzengerade ringelten sich
feine Rauchsäulen in die heiße Luft -- und dann sah es noch am anderen
Abhang eine Schafherde grasen. Der Pferch stand weiter unten im Tal,
und die Hütte des Schäfers lehnte an einem Nußbaum.

Diese Schafherde gefiel offenbar dem Riesele am besten, es lief
deshalb zu ihr hin. Die Schafe hoben die Köpfe von der Erde auf und
drehten sie. Der Schäfer pfiff, riß, wie wenn Gott weiß welche Gefahr
gedroht hätte, die Schippe hoch, und der Hund stürzte sich heulend
Riesele entgegen, so daß dies nichts besseres tun konnte, als eiligst
umzukehren zu seinem Mohnfeld. Richtig erschreckt hatte es der garstige
Hund: es legte sich um in dem Weizen und schlief fünf Minuten.

Es erwachte wieder, blieb aber liegen, hob den schwarzen Kopf aus dem
roten Feuer und nieste einmal kräftig in den Tag hinein.

Sogleich, wie es geniest hatte, hörte es seine Mutter wiehern. Es
duckte sich wieder zwischen die Halme, guckte aber doch nach allen
Seiten um sich und sah schließlich den Kopf seiner Mutter oben am
Himmelsrande des Hügels aus dem Rot auftauchen, wie er eine Last, die
noch nicht zu sehen war, hinter sich hernickte. Die Mutter erschien
ganz, die Last erschien: es war der leichte, überdächelte Stuhlwagen,
den sie, wer weiß wohin, zu ziehen hatte, vielleicht den Pfarrer
abzuholen oder den Gerichtsvollzieher.

Riesele blieb liegen und duckte den Kopf. Als aber die Mutter wieder
wieherte und nochmals, konnte es sich nicht halten und sprang auf und
ihr entgegen.

Die Mutter aber war durchaus nicht lieb zu ihm! Sie sah mit einem
fernen Blick, der keine Liebkosung heischte, nach ihm hin, und Riesele
getraute sich deshalb gar nicht so nahe zu ihr, obwohl es Durst hatte
und gern an die Mutterbrust gestürzt wäre! Der Bauer nahm sogar die
Peitsche, die am Kummet der Trudel stak, schwang sie hoch und riß dem
Riesele die dünne Schmicke über die Ohren, daß es, obwohl die Schmicke
nicht traf, sich rasch herumwarf und heimwärts lief.

Als es einmal stehen blieb und nach der Mutter umsah, war das Fuhrwerk
verschwunden.

Im Stall des Großbauern brüllten etliche Kühe, deren Euter zu
schwer geworden waren, nach den Mägden. Allein Riesele hörte den
Peitschenknall und zog es vor, heimzutrippeln. Es sah sich nicht mehr
nach den Gäulen um, nicht mehr nach den kleinen Kindern und selbst
am Schulhof, wo gerade Pause war, raste es vorbei und mißachtete des
Brotes und der lauten Rufe.

Je näher es seinem Stalle kam, um so rascher sprang es, es hörte den
Peitschenknall an den Ohren, und vielleicht vermeinte es, die Peitsche
schwebe noch über ihm wie ein Engel über Kindern ... es rannte, rannte
und sah nicht auf, nicht um, ja, der junge Mund, der schlaff nach unten
hing, füllte sich mit schaumigem Geifer, und ein weißer Fetzen troff
herab und klatschte auf den gelben Huf.

Ein Kind stand da, sah das Riesele den Weg daherrasen; es trug in der
Hand einen irdenen Krug mit Milch und erschrak vor solcher Kindeswut
im kleinen Gäulchen und konnte nicht ausweichen und blieb stehen mitten
auf dem Weg.

Jedoch das Riesele konnte heute nicht bei dem Kind verweilen wie sonst,
konnte überhaupt nicht achthaben auf ein Kind. Es rannte das Kind an,
daß der Milchkrug fiel, daß er zerbrach und daß die Milch sich weithin
ergoß.

Der Schlag schreckte aber nun das Riesele auf aus seinen Träumen; es
drehte sich um, blieb einen Augenblick stehen, kam zaghaft näher an
das Kind und besah sich die Milch, die in Rinnseln dahinfloß. Einen
Augenblick nur, wohl bis es sich überzeugt hatte, daß es diese Milch
doch nicht trinken könne, besah es sich das Unglück; dann drehte
es sich wieder, schlug sich überaus leichtfertig mit dem lichten
Schwänzchen über die Hinterbacken und ging gemächlich weiter.

Ein blütenweißer Gänserich stand da auf einem Bein und schielte zu
den Gänsefrauen, die einen Steinwurf entfernt im Sande lagen. Im
vergangenen Winter war er der einen Liebster gewesen; offenbar konnte
er nicht so rasch vergessen, als er vergessen ward, und er stand da und
träumte, und Riesele tappte auf ihn zu, daß er ganz verschreckt die
Flügel aufriß und halb flog, halb hoppste und nun, gesammelt, heftig
dem Gäulchen nachschimpfte. Die Weiber lachten ihn aus.

Die Hühner hockten vorm Stall; sie standen auf, wie Riesele kam, und
setzten sich wieder, als hätten sie nur grüßen wollen! Sapperlott saß
auf der Schwelle und hoppste langsam zurück. Drei junge Schwalben
zwitscherten auf der nach innen aufgedrehten Tür, eifrig wie alte.

Riesele legte sich seitab von den Hühnern an das Wässerchen, leckte,
erhob sich, ging an den Trog und versuchte mit der Zunge zu lecken wie
ein Hund und trank dann regelrecht wie ein erwachsenes Pferd. Aeußerst
stolz sahen die großen Augen rings auf das Geziefer herab, das doch
meinte, Riesele sei noch ein Brustkind! Das Wasser tat ihm gut; es
hätte schier nicht mehr aufhören mögen, zu trinken!

Ein Fuhrwerk, mit zwei Kühen bespannt, schob sich in dem tiefgleisigen
Weg vorbei; Riesele, das großen Hunger hatte, begann aus irgendeinem
Grund, vielleicht aber auch ohne jeden Grund, hinter dem Wagen
herzulaufen, bis es die Entenschar daherkommen sah. Der Enterich,
dessen Gefieder schillerte, wie wenn er's frisch für einen Feiertag
geölt hätte, warf den Kopf rückwärts zur nächsten Ente, sagte: „wack
wack”, drehte den eitlen Kopf wieder vor, und eine Ente sagte der
anderen dieses Wort, das sicher eine mißliebige Bemerkung gegen Riesele
war, denn eine jede zog, nachdem sie gesprochen, den Unterschnabel
zurück und lachte auf diese Weise, wie es Enten tun, und wackelte
weiter. Riesele schien von diesem verschmitzten Lachen beleidigt zu
sein, tappte in die Schar, zerstreute sie und freute sich seiner Tat so
sehr, daß es in wilden Sätzen auch die Hühner aus ihrem trägen Brüten
aufjagte und wunder meinte, was für ein Held es sei! Denn es turnte
wieder an den Wassertrog, tunkte ungestüm den Kopf bis fast zur Hälfte
hinein und schüttelte die Wassertropfen nun über die Hühner hin, die
schon wieder beisammen saßen. Das schien in der Tat ein Heldenstück,
war aber keineswegs ein solches, war Not, nicht Tugend, sofern ein
Heldenstück dieser Art überhaupt Tugend sein kann.

Riesele war größer und kräftiger als das Federvieh zusamt den Gänsen,
aber es war auch jünger! Die Gänse und die Hühner und die Enten hatten
sich ihren Lebenskreis schon lange gezogen und waren fertige Leute!
Riesele aber fing erst an, sein Leben sich zu zimmern, und es wäre
eine schöne Sache, wenn berichtet werden könnte, daß aus diesem Grund
das Federvieh, wie es reifen Leuten zukommt, die Quertreibereien des
Gäulchens geruhsam über sich hätte ergehen lassen! Man weiß indes: sie
wichen der Gewalt!

Oft, sehr oft mußten die pflichttreuen Tiere der Gewalt dieses
Tollpatsches weichen. Ausgebreitete Hühnerflügel, flatternde Schwänze,
das Durcheinander des Entenwacks wirkten jeweils auf das Riesele
wie Disteln unter seinem Schwanz, und es geschah nicht selten, daß
die Hühner flüchten mußten, sich mühsam aufschwingen mußten auf die
Stalltür, auf die Wagenleiter, oder daß sie auf- und davongehen mußten
ins Gras, so wild gebärdete sich Riesele! Die armen Enten: sie trugen
von ihrer Stammutter her den Drang nach der Ferne im Blut, sie sahen
alltäglich ihre wild und frei gebliebenen Schwestern übers Tälchen
streichen und ins Röhricht einfallen, wo sie ihren verletzenden
Freiheitsruf immerhin lockend erschallen ließen, sie spotteten der
zahm, gesinnungstüchtig, eierlegend, aber auch schwerfällig und dick
gewordenen Hausenten, und diese, obwohl sie des Dranges nicht ledig
waren, konnten ihren plump gewordenen Körper um keinen Preis mehr in
die freien Lüfte erheben und hätten's doch so gerne getan. Hätten's
doch zu allererst deshalb so gern getan, um diesem Tunichtgut rasch
entflattern zu können und nicht mühselig und stets seines Hufs
gewärtig, aus der unbestimmten Bahn entwackeln zu müssen! Die armen
Enten! Sie haßten das Riesele sehr!

Ganz anders verhielt es sich mit den Gänsen! Sie waren neun an der
Zahl, sie trugen das Bewußtsein ihrer Stärke in sich, sie konnten
das Riesele, wenn wirklich ein Ernstfall entstehen sollte, mit ihren
Schnäbeln und mit ihren schweren Flügeln schon dermaßen verhauen,
daß es -- der graue Gänserich ist neulich einem Kalb an die Kehle
gesprungen -- daß es gerne die Flucht ergreifen würde! Auch das Riesele
wußte das! Aber was sollten die großen Gänse Händel suchen, weil
die kleinen Enten sich nicht selber verteidigen konnten, ihre Natur
ganz und gar vergessen hatten, sich also auch nicht mehr zu retten
vermochten, wenn der Feind stärkere Kräfte ins Feld führen konnte, als
ihnen zur Verfügung standen! Törichtes Entenvolk!

Die Peitsche, jeweils die Peitsche, mußte solchen Zwist schlichten, und
darnach vertrug man sich wieder, hielt Freundschaft und fraß aus einer
Schüssel.

Das Schlimmste aber an all diesen Mißhelligkeiten war, daß die Kinder
immer und immer wieder einseitig und urteilslos Partei ergriffen für
den, der Hilfe am wenigsten nötig hatte, für Riesele!

Aber es muß doch gesagt sein, daß das Geflügel auch wieder seine Freude
hatte an dem tollen Vierbein, und daß selbst die Enten sich jeweils
mehr über sich selber ärgerten, als über das Riesele! Die Enten, die
Hausenten, sind das Opfer ihrer Bequemlichkeit geworden, sie sind's nun
einmal, und wissen sich drein zu schicken!

Die Geißen im Stall trugen auf der Stirn wie gezückte Schwerter die
beiden Hörner und blieben unbehelligt, und ihre Jungen verstanden den
Kindskopf Riesele besser als alles Geziefer und tollten mit ihm, wenn
es tollen wollte, und legten sich neben es, wenn es schlafen wollte.
Es kam oft vor, daß neben, ja dicht an und auf dem tiefschwarzen
Füllenrücken ein schneeweißes Geißlein schlief oder gar zwei, und
Sapperlott, der Hasenvater, der offenbar einen besonderen Sinn für
Farben hatte oder auch für Musik, brachte kein Auge zu und sah und
hörte nicht, was um ihn vorging, wenn Schwarz und Weiß in solcher
Eintracht beisammenlagen wie ein preußisches Fähnlein.



V


Noch sprang das Riesele umher ohne Zaum, ohne Zügel, ohne Halfter,
pudelnackt, wie Gott es erschaffen hatte. Trudel, das Mädchen, konnte
ihm keine Blumen anstecken, und hätte es doch so gerne getan! Gustav
und August, wenn sie es striegeln wollten, konnten es nicht festhalten
und striegelten es doch so gerne! Die Hufe, die sich gemach vom Staub
der Erde grau färbten, sollten gelb bleiben wie Maibutter, aber wer
konnte die Hufe des Tages siebenmal bürsten? Wer könnte die Mähne, die
zusehends wuchs, des Tages siebenmal strähnen, wer den Schweif, der wie
ein Mädchenzopf baumelte, richtig durchkämmen, wie sich's gehörte?

Trudel, das Schwesterchen, setzte einmal seine Puppe auf den schmalen
Rücken des Riesele, aber das Riesele warf die Puppe von sich, indem es
mit den Vorderbeinen sich heftig gegen die Erde stemmte und den Rücken
vom Hals bis zum Schwanz wacker schüttelte. Eine Puppe freilich, eine
Puppe!

Gustav kam zuerst auf den guten Gedanken: August mußte den Kopf
Rieseles untern Arm nehmen, mußte ihn festhalten, und Gustav hob das
Trudelchen hinauf, ganz hoch hinauf auf den Rücken und probierte
vorsichtig, ob das Tierlein auch solche Last tragen könne. Es trug sie!
Es fühlte sich offenkundig wohl mit seiner Last, es drehte den Kopf aus
Augusts Arm und reckte ihn stolz in die Höhe. Dann machte es gar einen
Schritt und noch einen, und da das alles so leicht ging, schoß es ganz
plötzlich weiter, und das Trudelchen purzelte aufs Gras herab, stand
auch schon wieder und lachte und setzte dem Ausreißer nach quer über
die Wiesen, die der zweiten Mahd entgegensahen.

„Lauft mir mal schnell zum Sattler miteinander!” rief der Vater von der
Treppe herab, „und laßt mir dem Riesele ein Halfter anmessen!”

„Los, zum Sattler!” schrien die Buben, „los zum Sattler!” triumphierte
das Mädchen, „und ein Sättele, ein Sättele, Vater, darf der Sattler
auch ein Sättele machen?”

„Sättele, Sättele,” entgegnete der Vater, „was willst du mit einem
Sättele? Maidlin gehören nit aufs Sättele! Los, und nix angestellt
unterwegs!”

Als der Sattler das Maß nahm, sagte er zu Trudel:

„Heut kommt das Riesele in die Schul; mach einen Strich in den
Kalender!”

„Wie lang muß es in der Schule bleiben? Ich muß acht Jahre drin
bleiben!”

„Acht Jahre?” versetzte der Sattler, „und dann?”

„Dann geh ich in die Stadt!”

„Du hast's gut vor, Trudel, acht Jahre sind schnell herum! Aber das
Riesele muß sein ganzes Leben lang in der Schule bleiben!”

„Muß es?” fragte Trudel.

Gustav kam herbei und hielt ihr den Mund zu, denn der Polizeidiener
stand an der Straßenecke und rief etwas aus. Er rief aus, daß von
morgen ab das Betreten der Weinberge verboten sei!

Und dann kam er schnurstracks an die Treppe des Sattlers, griff dem
Riesele in die Mähne und sagte zu den Kindern:

„Höchste Eisenbahn, daß er sein Halfter ankriegt, der Tagdieb, sonst
hätt' ich ihn morgen gleich ins Wachtstübchen gesteckt!”

„Sonderbare Welt das,” dachte Trudel, und die Buben dachtens auch,
„der Sattler will Riesele nicht mehr aus der Schule lassen, der
Polizeidiener will's gar ins Kittchen stecken!”

Noch am Abend holten die vier das Halfter ab, strippten es Riesele um
den Kopf und führten es heim in den Stall, wo der Vater es neben seiner
Mutter ankettete, jedoch so kurz, daß es nicht, wie es wollte, stets an
der Mutter Zitzen saufen konnte.

Von nun an also stand Riesele gleich den Erwachsenen im Stall. Doch
jeden Tag durfte es etliche Stunden lang, an einen Pfahl gebunden, auf
der Wiese kreisen, eng umzirkt zwar, doch immerhin draußen in einer
gewissen Freiheit. Gar oft, -- ach, wer konnte dem lieben Tierlein
gegenüber so entsetzlich streng sein? -- durfte es frei umherspringen,
wohin es wollte, und durfte seine Bubenstreiche vollbringen, die ihm
jedermann schon verzieh, bevor sie begangen waren.

Es war indes doch die Zeit gekommen, daß die Hufe des Riesele breiter
wurden, sein Magen größer, seine Kraft heftiger, die Zeit, da es von
der Gasse genommen werden mußte in das Gehege des Zaunes. Als der
Bauer Klaus diesen Hag gegenüber der Wohnstube in die Wiesen schlug,
merkte Riesele sicher, was für ein Geschick sich da erfüllen wollte.
Trudel, die Mutter, die ohnedies an dem Gassenbuben zu wenig eigene
Freude hatte und um so mehr Kummer und Bangen ausstehen mußte, zog auf
dem kleinen Wagen selber die Pfähle herbei aus dem Birkenwald. Sie tat
es gerne, die Pferdemutter! Denn wenn Riesele jeweils, wie es seine Art
war und wie es überhaupt die Gewohnheit aller guten Kinder ist, gerne
zur Mutter, die in die Arbeit ging oder von der Arbeit heimkehrte,
hinsprang, sich ein paar Küsse zu holen, ein paar Küsse zu verschenken,
so konnte jedermann, der ein waches Auge hatte, wahrnehmen, daß
diese Liebkosungen nicht nur seltener, sondern, -- und dies war noch
ungeheuerlicher, -- daß sie weniger zärtlich wurden! Ja, es kam vor,
daß die getreue Mutter auf einen ganzen Tag fort in den Wald mußte,
schwer schaffen mußte, und am Morgen nicht einen lieben Blick, nicht
ein kurzes „Wiedersehen” bekommen hatte vor lauter „Gasse”, und daß
sie alsdann im Schweiße ihres Angesichtes auch nicht mit Wohlbehagen
und süßer Hoffnung, wie andere Mütter sie doch stets mit sich tragen
können, auf einen frohen Abend rechnen durfte.

Solchergestalt kann es nicht wundernehmen, daß Trudel, die Stute,
den Augenblick ersehnte, da die Birkenstämme abgeladen wurden, und
es nimmt weiterhin durchaus nicht wunder, daß der Gassenbengel
wußte, worum sich's drehte, und daß er fortlief in's Weite, recht
weit von den Balken des Zuchthauses fort! Mütter wissen ja immer die
Erziehungsmaßregeln, die nicht sie über ihre Kinder verhängen, die
sie selber seinerzeit als Zwang empfunden haben, ihren Kindern recht
eindringlich und nachdrücklich hinzustellen, und etwa zu sagen: „Wart
nur, wenn der Vater heimkommt,” oder: „Wart nur, wenn du in die Schule
kommst!” Es ist ein Glück, daß sie dabei übersehen, wie sie sich selber
vor sich selber bloßstellen ...

Da gruben Vater und Buben Löcher aus dem Wiesengrund, zwei Pfähle
ragten schon eingerammt gleich ungeheuren drohenden Gerten gegen
Riesele auf, die Gänse lachten, die jungen, frechen Hähne flogen oben
drauf und versuchten zu krähen, um das Riesele, das Reißaus nahm, zu
foppen. Riesele blieb stehen, sah sich um, schleuderte leichtsinnig die
Hufe in die Luft und lief fort! Es lief dem Dorfe zu und hörte hinten
im Armenhäuschen ein Waldhorn blasen und lief dem Waldhorn nach.

Im Armenhaus wohnte der Schweinehirt, der einzige Mensch, der mit
dem Riesele noch nicht Freundschaft hatte. Er blies das Waldhorn! Er
wohnte da ganz allein für sich, hatte nicht Weib, nicht Kind, kein
Tierlein um sich, war aber ein Musiknarr und ein Kinderfreund, wie
es nicht viele gibt. Riesele wußte das noch nicht, wußte auch nicht,
daß der Musikant der Sauhirt war, und lief dem Liede des Waldhorns
nach und streckte den Kopf nach der niedrigen Fensterbank, ohne ihn
hineinstrecken zu können. Da sah es den Hirten, den es fürchten mußte,
vor einem Spiegel stehen und blasen und sah sein eigen Antlitz in dem
Spiegel, der schräg an der kahlen Wand hing.

Der etwas verwucherte Mann legte sogleich das blankgeputzte Blasrohr
weg, zog den Schubkasten aus dem Tisch und griff hinein und hielt dem
Riesele ein Stückchen Zucker hin. Riesele nahm den Zucker vorsichtig
zwischen die Lippen und verschluckte ihn alsdann, und sogleich schob
ihm der Hirt ein neues Stück ins Maul und dann noch eins und noch eins!
Sie liebten sich, diese beiden!

Der Freund nahm sein Waldhorn wieder, setzte sich auf die Fensterbank
und schmetterte einen strammgefügten Marsch an den Ohren Rieseles
vorbei, so daß es dem Tierlein ganz seltsam zumute ward. Ab und zu
hoben sich die weißgelben Hufe, bald dieser, bald jener; ab und zu hob
sich das vernaschte Maul, ab und zu erschien eben aus dem Maul die
Zungenspitze rot wie Himbeereis und verschwand wieder.

Als aber das Gäulchen das Maul auf die Fensterbank hob und liegen ließ
und die Luft aus den kleinen Nüstern stieß, daß der Staub aufwirbelte,
da begannen die Kinder, die um es her standen, zu lachen. Der Hirt
merkte sogleich, daß dies Lachen dem Riesele peinlich war, denn er
wußte Bescheid in solchen Sachen der entzückten Seele, und er sprang
aus dem Fenster und gab dem Gäulchen wieder ein Stück Zucker, und er
griff ihm ans neue Halfter, und es folgte ihm. Die Kinder durften nicht
mit.

Die beiden schritten dem Birkenwäldchen zu, und als sie die letzten
Häuser hinter sich hatten und keine Kinder mehr zu sehen waren, da band
der Hirt sein Waldhorn dem Riesele an den Hals und sang:

    Das Schwein, das muß gehütet sein!
    Der Kastor kann es hüten!

    Der Kastor muß gehütet sein!
    Der Cornel kann ihn hüten!

    Der Cornel muß gehütet sein!
    Wer kann den Cornel hüten?

    Ich will mein Schwein behüten fein,
    Mag seins der Kaiser hüten!

    Der Kaiser muß behütet sein!
    Wer mag den Kaiser hüten?

    Sein lieber Gott behüt ihn fein!
    Mög mich der meine hüten!

Das Liedchen führte die zwei Wanderer bis ans Birkenwäldchen. Sie
legten sich nebeneinander nieder, der Hirt steckte dem Riesele
dunkelblaue Glockenblumen ins Halfter, setzte das Horn an die Lippen,
und das Riesele starrte übers Wiesentälchen hinunter an seinen
Heimatstall, wo der Bauer emsig die Balken des Gefängnisses einschlug.
Riesele hörte die Axt knallen, und der Hirt, als er das erste Lied
geendet hatte, nahm sich den zierlichen Ponykopf an die Brust,
streichelte ihn, zerrte an den Ohren, kribbelte an der Blesse herum,
strich mit den Fingern durch die Furche, die den Rücken hin die zarten
Backen teilte, und schob die Hand quer in den Pferdemund und sagte:

„Riesele, ich weiß, was es da unten gibt! Sie werden dich einsperren,
wie sie mich eingesperrt haben, und werden's aus demselben Grund tun!
Wir sind freier wie sie, wir sind fröhlicher wie sie, und das können
sie nicht vertragen! Sie laufen, seitdem sie sich selber aus dem
Paradies vertrieben haben, mit Handschellen umher wie Sträflinge, mit
Handschellen umher wie Mausfallenhändler, und wo sich die Freiheit
regt, da schnallen sie an! Die Unfreien haben das große Wort an sich
gerissen, und sie haben es im Laufe der Jahrtausende fertig gebracht,
daß alle Menschen unfrei wurden, so unfrei, daß die wahrhaft Freien
sich ihrer Freiheit wegen verdächtig vorkommen, sich ihrer schämen, an
ihrer Freiheit straucheln, sich ihrer Freiheit fluchen und schließlich
sich ihrer Freiheit entäußern! Sich freiwillig der Freiheit entäußern,
das tun oft ganz gute Christenmenschen und meinen, das sei der höchste
Grad der Freiheit! Doch sag selbst, Bruder Riesele, wenn du jetzt aus
freiem Entschluß in deinen Hag stolzierst, so magst du zwar ein guter
Christengaul werden, bist aber trotz aller Philosophie kein freies
Geschöpf mehr! Und Geschöpf sein, das heißt noch lange nicht, wie
sie meinen: unfrei sein! Auch ums Paradies haben die Unfreien, die
Umzäunten, einen Zaun erfunden, weil sie Gott nach ihrem Bilde und
Gleichnisse formen wollten. Einen Schutzmann machten sie aus ihm, einen
Zirkusdirektor, der die Taschen voller Zucker trägt und innen, unterm
Faltenrock die allmächtige Peitsche! Nein, nein, Riesele: die wahre
Freiheit haben wir in uns, oder aber wir sind schlechter als unsere
Tiere! Bleib schön liegen, Riesele, ich bin noch nicht ganz fertig!”

Der seltsame Sauhirt, der sicher von sich vermeinte, ein göttlicher
Eumäos zu sein, hielt inne mit seiner Rede über die Freiheit und zog
den Kopf des Riesele näher an sich, so daß das Tier die entblößte Kehle
seiner Hand darbieten mußte. Der Mann spielte mit den Fingern an dieser
Kehle, was dem Riesele erst gut gefiel, was es aber doch nicht lange
ertragen mochte. Es sprang auf; drei Johanniskäferchen schwirrten
grelleuchtend um es her, so dunkel stand der Abend schon vorm Wäldchen,
und die grünlichen Signale verwirrten es so sehr, daß es zu laufen
begann und nicht wußte, wohin es lief.

Dem Hirten pochte das Herz: er hatte das Riesele mitgenommen, jedermann
mußte es gesehen haben, er hatte also auch die Verantwortung über das
Kind, und schließlich, wenn der Hirte des Hirten bedurft hätte, so
hätte die Gemeinde nicht ohne Recht diesen bedürftigen Schweinehirten
jener Obhut übergeben können, die er so sehr fürchtete.

„Sie dürfen dich nicht wieder zum Verrückten machen, Cornel!” sagte er
laut in den Abend, ergriff sein Waldhorn aus dem Grase auf, setzte es
an und schmetterte seinen gradlinigen Militärmarsch übers Dorf hin,
daß sicher alles, was schon schlief, erwachte, und alles, was noch im
Stall hantierte, mit neuer Kraft sich anspornte. Er spielte ja nur,
um das Riesele wieder zu sich zu locken, aber das Riesele trabte
im Dämmerlicht weiter am Waldrand hin, fraß an den Brombeerhecken,
zauselte an herabhängenden Zweigen, und die Glühwürmchen, die aus
allen Richtungen aus dem Gras, aus den zerstreuten Heuwellen, aus den
weißdurchtupften Rosenhecken aufschossen, -- und der Heugeruch selber
und das aufdringliche Gequak der Frösche unten im Wassergraben setzten
seinem jungen Herzen so sehr zu, daß es des strammen Marsches nicht
mehr achtete und wahllos weiter lief, einerlei, wohin es kam! Ja, das
lockende Waldhorn jagte das Riesele eher weiter weg, als daß es lockte.

Cornel, der Hirt, hing das Horn um die Schulter und begann, den Weg
hinzulaufen, den das Riesele eingeschlagen hatte. Er horchte, er legte
das Ohr auf den steinigen Boden, den Huftritt zu erlauschen, er lief
wie ein Hund, der eine Spur erschnuppert, allein er sah und hörte das
Riesele nicht. Die Sichel des Mondes spitzte überm Waldrand; kleine
Wolken rasten gegen ihren Bogen, als wollten sie geschnitten sein wie
Gras.

Plötzlich erschallte vom Dorf herauf das Feuersignal! Ohne nachzusehen,
ob irgendwo eine Flamme oder ein heller Qualm sich zeige, wußte
Cornel genau, wem dieses Signal gelte! Es galt zuerst dem Riesele,
aber es galt nicht minder auch ihm, dem Cornel! dem Schweinehirten
der Gemeinde! Denn sie kannten ihn nicht, sie wollten ihn überhaupt
nicht kennen lernen, und sie begnügten sich damit, ihn einen Narren zu
nennen! Es galt also, auf dem Damm zu sein, da die Flut stieg!

Stimmen erschallten vereinzelt und abgerissen aus dem Dorf herauf, das
Signal strömte zwischen dem Wald der Obstbäume, alle Hunde heulten auf,
irgendwo in einem Stall krischen ab und zu salvenweise ein paar Gänse,
wie wenn sie auch dabei sein müßten, wenn's dem Sauhirt an den Kragen
geht!

Die Stimmen sammelten sich und verteilten sich wieder, und bald hörte
Cornel bekannte Dorfstimmen, die sich den Hohlweg heraufnäherten, und
er hatte das Riesele, das er doch verführt, noch nicht in der Hut.

Aber da stand es ja plötzlich neben ihm! Stand da wie aus dem
Sommerabend geboren, der allhin so viel Liebe gebiert! Da stand es und
hielt einen Birkenzweig im Mäulchen, wie wenn nichts geschehen sei!

„Hast deinen Hirten aber schön erschreckt, Riesele!” sprach er, „doch
gib ihn her, den Oelzweig des Friedens, daß wir uns gemeinsam für
den Augenblick unserer Freiheit begeben können, denn sie kommen, die
Unfreien! Mit Leuchtfackeln kommen sie, wie zu Jesu Gefangennahme,
die Freiheit zu suchen, um sie einzupferchen und sie bei Wasser und
Brot fasten zu lassen! Siehst du sie kommen mit den Lederhelmen?
Hörst du sie kommen mit den Feueräxten? Sie schlagen, wenn sie's für
nötig erachten, das Sommerhaus ihres Gottes in Stücke und schrecken
vor diesem ihrem Schreckgespenst auch nicht zurück. Verstummet, ihr
Frösche, daß sie euch nicht erschlagen! Verkriecht euch in die Erde,
ihr Käfer, der ihr entnommen seid! Nachtigall, schlag nicht heute
abend: die Menschen kommen mit ihren Mordgewehren der Schönheit und des
Friedens.”

Riesele schien solches Gerede gerne anzuhören; es ließ seinen Kopf auf
der entblößten Schulter Cornels liegen und ging Schritt für Schritt
weiter.

„Weißt du, wo das Wachtstübchen ist? Nein, das weißt du nicht! Aber
paß gut auf, Riesele: wenn sie deinen Freund hineinstecken werden, so
komme manchmal an die Tür! Ich will dir Brot geben von meinem Brot und
Wasser, wenn du Durst nach Freiheit hast! Ich weiß, sie sperren mich
ein paar Tage ein; aber das ist immer noch besser als das Irrenhaus!
Sie dürfen mich einsperren: ich trage das Bewußtsein eines neuen
Freundes in der Brust, der so geschickt zuhören kann und meine Lehren
versteht! Paß auf! Paß auf! Laß uns niedersetzen!”

Cornel setzte sich, und Riesele blieb bei ihm stehen.

Zwei Feuerwehrmänner kamen daher, plauderten miteinander, und der eine
sagte gerade:

„Roma heißt rückwärts gelesen Amor! Amor ist aber, das steht
ausführlich in meinem Buche, der Gott der Liebe! Oh, in den großen
Städten wird fürchterlich geliebt!”

Sie sahen vor lauter Liebe nichts und gingen vorüber.

„Fürchterlich geliebt!” rief ihnen Cornel nach, „da habt ihr aber
recht!”

Sie schreckten zusammen, die verträumten Feuerwehrleute, kamen dann
aber gleich beherzt herzu und sagten zugleich:

„Da sind sie ja!”

„Da sind wir!” erwiderte Cornel und streckte beide Hände vor, als wolle
er sie fesseln lassen.

„Los, heim! Vor uns hermarschiert!” kommandierten die Wehrleute, und
Cornel legte den Arm auf Rieseles Hals, und so traten sie den Heimweg
an.

„Fürchterlich geliebt ist gut!” fing Cornel an, aber die Wehrleute
gaben ihm keine Antwort und redeten von den Dickrüben, die von Hasen
zerfressen waren.

Der Hirt wandte sich nunmehr wieder an Riesele und sagte laut, daß die
Männer es hören konnten:

„Weder Zucker, Riesele, -- das wollte ich dir vorhin noch sagen --
weder Zucker gab uns Gott noch Peitsche, sondern Freiheit, Freiheit.
Und das ist so gut und so viel als sich selber! Sich selber gab er uns,
mitten in den Herzschlag hinein, Riesele! Uns, das will heißen: dem
Kaiser, mir, dir, meinen Schweinen und aller Kreatur!”

„Und aller Kreatur!” wiederholte der eine Feuerwehrmann.

„Und aller Kreatur!” bestärkte Cornel und fuhr fort:

„Einheit, Schönheit, Harmonie ringsum in seiner Schöpfung! Nur die
Menschen sind ihm mißraten, Riesele! Sie sind entweder zu eng oder zu
weit ausgefallen!”

„Zu eng!” rief ein Wehrmann, und Cornel antwortete:

„Hörst du's, Riesele, der ist zu weit geraten! Zu weit, und er möchte
deshalb weiter sein!”

„Zu weit!” schrie der andere, und Cornel entgegnete:

„Hörst du's, Riesele, der ist zu eng ausgefallen! Zu eng, und er
möchte deshalb enger sein! Lüge ist alles! _Eine_ Einheit in der
Mannigfaltigkeit: die Lüge; _eine_ Mannigfaltigkeit in der Einheit:
die Lüge! Sie sind aber selbst schuld, die Menschen; sie haben die
göttliche Freiheit mißverstanden, sie haben ihre natürlichen Begriffe
irgendwie verwirrt, sie sagen: deine Freiheit ist die Grenze meiner
Freiheit, und nun gehen sie aufeinander los und sagen: ‚Gewalt geht
vor Recht, und die Freiheit ist für die Narren!’ Riesele! Hörst du's,
Riesele: ich will lieber ein Narr sein, als daß ich unfrei wäre! Du
nicht auch, Riesele?”

Das große Tor der Wachtstube öffnete sich wie von selbst.

„Nun bist du unfrei,” sagte ein Feuerwehrmann, „und bist doch ein Narr!”

„Nun bin ich unfrei,” entgegnete Cornel, „und bin doch frei!”

Cornel ward hineingestoßen, indes Riesele heimtrottete.



VI


Von nun an also sah man das Riesele nicht mehr auf den Gassen
umhertollen. Es ward eingesperrt! Der Zaun, im Geviert vor der
Wohnstube des Bauern errichtet, war aber stets lebendig: Buben hockten
drauf, Mädchen selbst erkletterten ihn und ließen die bloßen Füße
herabbaumeln, und da er sehr fest aus dicken Balken gezimmert war,
konnte manchmal die ganze Dorfjugend auf den Balken Platz finden. Die
Buben liefen mit weitausgestreckten Armen sicher wie Seiltänzer drüber
hin, und die Erwachsenen lehnten sich an, um wie vertraute Nachbarn das
Gäulchen zu beobachten.

Es lief da innen am Zaun entlang, biß an den Birkenrinden sich die
Lippen blutig und hälmelte spärlich an dem zertretenen Gras des
Bodens. Rundum, den Zaun entlang, war bald ein Pfad festgetrampelt, und
an den Balken nach der Wohnung zu wuchs auf einen Meter breit kein Halm
mehr.

Die Unfreiheit schmerzte. Zwar kam niemand vorüber, der nicht dem
Riesele ein Stückchen Brot schenkte, ein Klümpchen Zucker, eine
Handvoll Klee, aber es gab doch so viele Stunden, da mußte es allein
sein und wußte nichts zu tun, als an der Rinde knuppern, als mit den
Hufen scharren. Oft legte es sich mitten in sein enges Reich und
schlief oder träumte mit offenen Augen in den blauen Himmel.

Die Augen, die unendlich groß und unendlich dunkel und unergründlich
waren, spiegelten alsdann den Hag, die Wiesenhalme, das ferne Wäldchen
wider, als ergingen sich diese Schönheiten in der jungen Tierseele, und
Trudel konnte sich an diesem Glanze gar nicht satt sehen. Ach, so oft
schlüpfte sie durch das Gehege hinein und legte sich neben den Freund
und half ihm träumen und scharren und knuppern, wenn's nötig war. Es
geschah aber auch, daß andere Kinder ins Bereich schlüpften, um mit
Riesele im Gefängnis herumzutollen, und diese Stunden des Spiels waren
dann die wenigen Feststunden, da Riesele sein Elend vergessen konnte.

Die Mutter Trudel mochte in sich fühlen, daß ihr Kind schon Verständnis
habe für die Arbeit, oder doch, daß nun die Zeit gekommen sei, ihm
dieses Verständnis beizubringen, und immer, wenn sie angespannt wurde,
zerrte sie an ihren Strängen nach dem Kinde hin, das freilich, seit
es eingesperrt war, mehr nach der Mutter umsah als ehedem. Ja, die
Mutter wollte sogar nicht mehr ziehen, blieb stehen und ließ sich mit
der Peitsche schlagen und stieß klagende Schreie aus und ward bei der
erzwungenen Arbeit unruhig und wirr. Der Bauer wußte ja gleich, was sie
wollte; aber er vermeinte, das Zwerggäulchen noch ein Weilchen wachsen
lassen zu sollen, bevor ihm der Ernst des Lebens könne gezeigt werden.

Wahrscheinlich aber ist, daß die Mutterstute -- man weiß, wie Mütter
sind -- ihr Kind nicht deshalb bei sich haben wollte, daß es lerne, den
Wagen und auch den Pflug zu ziehen, sondern daß sie es nur deshalb bei
sich haben wollte, um es eben bei sich zu haben! Der Bauer Klaus ließ
also das Gäulchen vorerst noch ein Weilchen in seinem Hag und achtete
der flehentlichen Muttersorgen nicht. Der Raps war zudem reif und mußte
heimgefahren werden, im Rindenwald, gegenüber vom Birkenwäldchen,
kläpperten Eichenschäler seit drei Tagen die jungfrischen Rinden
von den Stecken, und: eine Fuhre Rinden nach dem Bahnhof im
Nachbarstädtchen bringen, das trug schon etwas ein! Da konnte man einen
Schüler nicht ohne weiteres nebenher laufen lassen!

Riesele blieb also in seinem Gefängnis und hatte nichts zu tun als auf
die Kinder warten, bis die Schule aus war, als an der Rinde zu nagen
wie eine Maus, als den Boden zu zertrampeln wie ein Töpferlehrling.
Die Leute des Dorfes beachteten Riesele von Tag zu Tag weniger, sei
es, daß sie ihm aus irgendeinem Grund feindlich gesinnt waren, sei es,
daß sie seiner überdrüssig wurden! Wer brachte noch ein Stück Brot?
Wer ein Klümpchen Zucker? Selbst die Kinder des Hauses kamen seltener
und liefen lieber den Seifenblasen nach, die sie doch nicht erreichen
konnten, denn Seifenblasen schweben in den Himmel!

Der Pfarrer, wenn er vorüberging, rieb wie die Kinder mit dem
Zeigefinger auf dem Daumen und ging vorüber! Der Lehrer, wenn der
vorüberging, blieb wenigstens einen Augenblick stehen, griff herein
ins Gefängnis, holte sich den willigen, ach, den der Liebe so sehr
bedürftigen Kopf des Riesele, streichelte über die Blesse, streichelte
über die warmen Augen, hob mit beiden Händen des Gäulchens volle Lippen
auseinander und befühlte die Zähne! Der Bürgermeister, der offenbar
eifersüchtig war, weil das Riesele nicht ihm gehörte, guckte immer,
wenn er in die Nähe des Hauses geriet, in irgendein Schriftstück, als
könne er nur ganz langsam lesen, und ging vorüber ohne Gruß, ohne
Blick! Vom Polizeidiener nicht zu reden! Dieser Mensch hatte Humor in
sich, hatte wiederholt mit seiner Schelle am Hag ein kleines Konzert
zusammengeläutet, hatte wiederholt mit dem Stiel seiner Schelle das
Riesele am Bauch gekitzelt: dieser Mensch wollte oder durfte, sicher,
weil der Bürgermeister eifersüchtig war, mit Riesele sich nicht mehr
abgeben!

Nur ein Freund blieb treu, und das war Cornel, der Schweinehirt!
Er trieb, seit er aus dem Wachtstübchen wieder entlassen war,
allmorgendlich seine Schar Schweine auf einem großen Umweg an Rieseles
Hag vorüber, er kam heran, erzählte etwas, was ihn gerade erfüllte,
und das Riesele tat sich die Musik seiner Worte, deren tiefen Inhalt
es ja nicht erfassen konnte, ins Herz und bewahrte sie getreulich auf
für die leeren Stunden des Tages, da es allein sein mußte mit seiner
Armut. Oft, wenn es den Freund nicht sah, hörte es die Lieder seines
Waldhornes aus den Häusern hinter der Kirche schweben und hatte genug
der Freude für ein paar Stunden.

Eines Morgens aber sieht der Bauer den Cornel mit seinen Schweinen vorm
Haus halten und wird über die Maßen wütend.

„Was hältst du hier mit deinen Säuen!” fährt er ihn an, „ist mein Hof
etwa ein Weidplatz für deine Säue? Willst du machen, daß du fortkommst,
du Faulenzer! Willst du mir auch das Riesele versauen?”

Cornel sagte nichts dagegen und trieb seine Herde, die gar nicht groß
war, den Weg hinunter, indes Riesele traurig ihm nachsah und seinen
Säuen.

Die Gänse kamen herein, schritten überaus stolz am Gäulchen vorbei, als
wollten sie sagen: jag uns doch fort, wenn du den Mut dazu hast! und
sie schlüpften wieder hinaus in die Wiese. Die Enten kamen herein und
schritten schnurgerade auf der anderen Seite wieder hinaus. Sie hatten
nicht Eile, denn sie brauchten keine Angst zu haben vor dem Riesele,
das seine Hörner, wie man so sagt, für Enten schon genügend abgestoßen
hatte. Oft, sehr oft, wenn Riesele dalag und träumte, kamen sie
unversehens herein, setzten sich zu ihm und steckten die Schnäbel in
die Flügel zurück. Auch die Hühner kamen alsdann, die jungen, die schon
von ihren Hähnen umworben wurden, scheuten sich nicht, dem Riesele die
Haferkörner vor der Nase wegzupicken, und in ihrem Uebermut hüpften
sie sogar auf seinen immerhin breit gewordenen Rücken und streckten die
Flügel von sich. Aber der alte Hahn ging nicht mit in den Verschlag;
war seine Schar drinnen, so flog er auf den obersten Querbalken und
blieb wie ein Wächter da sitzen.

Trudel, die Mutter, die zwischen Pflicht und Neigung anscheinend nicht
recht unterscheiden konnte wie viele Mütter und nicht wußte, was für
ihren Liebling gut war, hatte schwere Stunden auszuhalten, weil sie
sich bei der Arbeit in ihrer Sehnsucht verzehrte, sich ablenken ließ
und obendrein manchen Peitschenhieb verspüren mußte. Das eingesperrte
Riesele war doch ihr Kind! Wenn es auch ein Gassenbub gewesen, wenn es
auch noch so viel Liebe seiner Mutter verschmäht hatte: es war doch ihr
Kind! Jeden Peitschenhieb ertrug Trudel mit einem bestimmten Gefühl,
das dem Schmerz ein bißchen Süßigkeit verlieh.

Aber diese Tage waren gezählt; Riesele durfte, als die Körnerfrüchte
in der Scheune saßen, mit hinaus! Das Wägelchen steht leer vorm Stall,
der Bauer spannt die Trudel ein, Trudel, das Mädchen, riegelt das
Gefängnis auf, die beiden Buben bringen Halfter und Leine, und nun, da
die Mutterstute so zappelig nach dem Riesele hinstarrt, streifen die
Buben das Halfter an den kleinen Kopf, schleift der Bauer die Leine ans
Halfter, klatscht Trudelchen in die Hände, und wahrhaftig, Riesele wird
seiner Mutter an den Zügel geledert! Links an den Ring des eisernen
Zaumes wird der Lederriemen eingeschlauft, und -- o Herrlichkeit! --
sonst nichts, sonst bekommt das Kind keine Fessel und keinen Strang
und darf also nebenherlaufen wie Menschenkinder an Mutterschürzen.
Steil standen die Ohren der Stute, fromm unbeweglich ruhten die Hufe im
Sand der Geleise, züchtig hing der überaus lange Schweif nach unten,
obgleich die Mücken an den Lenden saßen und soffen.

Aufgestiegen, ihr Buben! Trudelchen, voran, neben den Vater gehockt und
die Peitsche hinten liegen gelassen! Die Bäuerin stand oben auf der
Treppe, stützte die Fäuste in die breiten Hüften und konnte den Mund
nicht zusammenhalten vor Freude. Nicht anders als ihr erging es den
dreißig Hühnern und dem Herrn Hahn, erging es den Gänsen, den Enten
und gar dem Hasenvater, der ausnahmsweise heute Häsinnen um sich herum
hatte, unter denen sicherlich etliche seine eigenen Kinder waren. Alle
Hühner saßen auf den Balken des Hages und hielten die Köpfe zur Seite
geneigt, um besser sehen zu können. Alle Gänse standen am Gartenzaun
beisammen, und wenn sie unter sich über ein ganz fernliegendes Thema zu
diskutieren schienen, so war das eine bewußte Täuschung: ihre kurzen
Blicke zum Gespann, gerade diese ablenkenden Blicke verrieten nur
zu deutlich, was in den reduzierten Gänsehirnen vorging! Gänserich,
es gilt nicht, wenn du in deinen Federn zu picken vorgibst! Alte
Stammutter, es gilt nicht, wenn du dich mit dem Fuß am Halse kratzest,
als hättest du einen Wasserfloh! Sie kratzt sich nämlich, -- das muß
gesagt sein -- nur, um unauffällig einen Blick zum Riesele werfen
zu können! Offen neugierig und ehrlich wie immer glotzten die Enten
mit beiden Augen hinter den breiten, biederen Schnäbeln hervor, und
ihr Enterich stand ganz nahe bei Rieseles linkem Hinterbein. Überaus
zierlich lag von diesem Beinchen weg ein Schatten überm zertretenen
Weggras, aber er verkroch sich alsbald in den größeren Schatten, den
der Leib der Mutter warf, und dieser große Fleck verschlang den ganzen
Schatten Rieseles, so daß nur ein Ohr noch daraus hervorragte.

Seht es euch an, das Riesele! Ganz Ordnung, ganz straffes Bewußtsein
von Würde und Kraft, steht es da in Erwartung der Dinge, die kommen
sollen! Keiner von den kleinen, erdgrauen Hufen, die sonst so unruhig
sind, getraut sich, zu mucken, keins der Muskelchen, die sonst in
fröhlichem Gezwitscher an ihren Knochen umherzitterten, als hätten
sie einen Kitzel im Blut, wagt sich, zu wippen, obgleich sie eben, da
die Schnaken kitzelten, doch schon einmal tanzen dürften! Kein Haar
an Mähne oder Schweif, kein Ohr, keine Lippe, nicht einmal ein Auge
untersteht sich, sich zu bewegen! Ganz Ordnung, ganz Kraft, ganz Würde,
ganz Wille zur Wohlerzogenheit und Vollendung!

Das Riesele, dessen seelische Regungen verträumt irgendwo
umherschweiften, so, als sei dieses Stillestehen schon eine große Tat,
schrak heftig zusammen, als der Bauer hinten aus dem Wagen rief:

„Hü, voran!”

Es war sogleich schon einen Schritt zurück und mußte schon laufen.
Es lief, und die Mutter nahm ihren Schritt kürzer; das Riesele aber
schoß voraus. Unsanft zerrte die Leine am Halfter. Nach drei Schritten
war Riesele wieder zurück, nach drei weiteren wieder voraus. Seine
Hinterbeine blieben nicht bei der Mutter; sie wandten seitab, und der
Kopf drückte gegen den Kopf der Mutter, die gewaltsam an sich hielt.
Ja, es geschah, daß das Riesele an seiner Leine riß, die Hinterbeine
nach vorn rennen ließ, so daß die beiden Pferdeköpfe fest aneinander
standen, und die Deichsel das Riesele arg bedrohte.

Es wäre gern wieder zurückgeturnt an seinen Platz, aber es konnte
nicht! Die Mutter durfte nicht ausweichen, weil die Leine dies nicht
zuließ (sie selber hätte in diesem Fall fünf gerade sein lassen, wie
man so sagt, und wäre dem Drängen des Kindes auf den Kleeacker gefolgt,
diese Mutter!) und so blieb sie stehen, und Mutter und Kind sahen sich
hilflos an!

Der Weg bog auf die breite Landstraße, und das war ein Glück!

Es darf nicht verschwiegen werden, daß Riesele zur Seite der Mutter,
als nun die breite Landstraße verführerisch genug auch noch in den
Schatten des Waldes einbog, allzusehr geneigt war, Bocksprünge zu
machen, daß der Bauer Klaus, in der Meinung, diese Tollheiten würden
schon bei der zweiten Reise aufhören, allzu nachsichtig war (Gustav
dachte ein übers andere Mal für sich: bei seinen Kindern war er nicht
so gutmütig!) und daß auch die Mutter, eingedenk der eigenen Jugend dem
Gäulchen Freiheiten gestattete, die sie (und der Bauer Klaus und noch
viele Kläuse und wohl fast alle) vom Standpunkt ihrer Wohlerzogenheit
durchaus nicht mehr Freiheit nennen konnte!

Eichenschälholz sollte geholt werden! Es saß in einer Schneise rechtsab
von der Straße im frischentblößten Schälwald. Die Schneise war
aufgeweicht, und schmutziggelbes Wasser stand in Lachen beisammen, und
Wasserschneider, Libellen und Stechmücken umschwirrten den Schmutz.
Vereinzelt warfen alte Tannen, riesige Eichen etwas Schatten über'n
Weg, und das Riesele scheute vor den Lachen, scheute vor den Libellen,
vor den gigantischen Bäumen, selbst vor den Schatten! Die Peitsche
schwirrte auf, aber die Peitsche machte die Unruhe noch größer und
verschwand wieder. Die Mutterstute begann schließlich auch zu bockeln
und kam nicht mehr von der Stelle.

„Wart, Bürschele!” sagte der Vater, „du kommst mir wieder einmal mit,
Holz holen, bevor du übern Zaun gucken kannst!”

Er stieg ab; auch die Kinder stiegen ab, das Riesele ward von der Seite
seiner Mutter genommen und neben im Wald an einen Pfahl, der zwei Meter
Schälholz hielt, angebunden. Allein mußte es hier zurückbleiben, ganz
allein, so sehr die kleine und die große Trudel auch flennen mochten.
Das Fuhrwerk schob sich tiefer in den Wald hinein und blieb an der
langen, leuchtenden Schälholzreihe halten.

Riesele sah und hörte, wie die gelben Prügel aufgeladen wurden, wie
selbst das Mädchen eifrig bei der Arbeit war und sich nicht um seinen
Freund kümmerte. Es riß an seiner Leine: sie war stark! Sie war stärker
als das Riesele, aber der eingerammte Pfahl erbarmte sich und gab nach
und fiel schließlich um, so daß der Holzstoß zusammenrutschte. Niemand
hörte den Schall!

Riesele sieht sich noch einmal um, weiß nicht recht, soll es zu der
Mutter laufen und zu ihren Peinigern -- oder soll es heimzu rennen? Es
rennt schließlich heimzu und schleift den Eichenprügel, der an seiner
Leine hängt, hinter sich her, den Prügel, der sich seiner erbarmt und
ihm die Freiheit gegeben hatte.

Es lief nicht die Landstraße, die es hergekommen; querfeldein lief
es wieder wie ehedem, denn der ausgetretene Weg der Ackergäule und
der Ackerkühe widerte sein ursprüngliches Gefühl an, das eigene, wenn
möglich: verbotene Wege zu gehen wünschte!

Da lag im Schatten eines alleinstehenden Buchengesträuchs Cornel, der
Hirt, und seine Schweine grunzten weitaufgelöst im warmen Schlamm, der
von blühenden Ginsterbüschen grell durchtupft war. Cornel hatte hinterm
Ohr eine Kuckuckslichtnelke stecken und las im Buch der Droste. Wie er
das Riesele kommen sieht, stützt er sich auf und sagt:

„Na, Riesele, heute merkst du's noch, wie dir der Knüppel zwischen
den Beinen herumfällt! Morgen schon wirst du's nicht mehr merken, und
übermorgen, -- solltest du ohne deinen Knüppel laufen, wirst du schon
schreien: ‚Wo ist mein Knüppel, wo ist mein Knüppel?’ Ade, Riesele,
ade! Wenn ich dich von dieser Freiheit befreien könnte, gern tät
ich's, Riesele, ach so gern!”

Das Riesele trat dicht vor seinen Freund hin; er löste die Leine von
dem Eichenholz, band sie fürsorglich am Halfter oben fest und sprach
tiefernst:

„Was nutzt es dir, Riesele, daß ich dich jetzt ganz fragwürdig frei
mache? Deinem Schicksal kannst du nicht entgehen, es sei denn, daß du
gleich am Anfang deiner Laufbahn über deinen Knüppel stolperst, das
Bein brichst und stirbst! Riesele, Riesele, soll ich dir von deinen
Voreltern erzählen, wie die einst so glücklich waren?”

Riesele mißachtete der Worte des Freundes und lief, des Prügels ledig,
davon.

„Will halt nicht wissen, wie seine Voreltern glücklich waren,” sagte
Cornel für sich, und zu seinen Schweinen sagte er:

„Seht ihn euch an, er läuft dahin im Segen seiner Freiheit!”

Als Riesele heimkam, war der Hag verschlossen, die Stalltür zugeklappt,
die Scheune verriegelt. Es wußte nicht, was es tun sollte, und da es
am liebsten in seinen Hag gegangen wäre, streckte es den Kopf zwischen
den Balken hindurch und hob das Bein, konnte aber durchaus nicht
hineingelangen in sein Gefängnis. Schließlich starrte es den Weg hin,
den es gekommen, und da auch die Gänse nicht zu Hause waren und die
Enten nicht, und nur einige Hühner im Sand badelten, lief es unter
den Schuppen, wo die kleine, überdächelte Kutsche stand, und legte
sich zwischen die Deichseln der Schere, zu dieser auf den Boden. Es
ist nicht ausgeschlossen, daß es sich hier als ein erwachsenes Pferd
fühlte, dem man die Kutsche anvertrauen kann, daß es kühne Träume
hegte! Träume, wie sie Kindern eigen, die so gerne groß wären und so
gerne einen Beruf erfüllten!

Die Mücken umschwärmten zwar das Riesele, setzten sich aber nicht auf
sein schwarzes Fell, und als die Holzfuhrleute heimkamen, sahen sie das
Riesele also liegen und freuten sich sehr.



VII


Indessen gewöhnte sich Riesele an die Deichsel und durfte schließlich
überallhin mit. Eines Tages wollte ein Fremder an den Bahnhof gefahren
werden. Der Kutscherbock war zweisitzig; der feine Herr kam, wie er
Riesele sah, aus der überdächelten Chaise hervor und setzte sich neben
den Bauer Klaus, um das Riesele genau beobachten zu können.

Es lief erst züchtig, wie wenn es ziehen würde, neben der Mutter her
und nickte gleich ihr mit dem Kopf nach unten, als sei die Last gar
nicht so leicht, wie es scheinen mochte! Aber schon gleich auf der
Landstraße riß es an seinem Halfter, schob die Hinterbeine seitaus und
machte seiner Mutter große Beschwerden. Trudel, die Mutter, ließ sich
nicht beirren und vermochte immer wieder durch gütiges Zureden, das
den Menschen leider nicht erkennbar ist, den kleinen Burschen in Zucht
zu halten. Jedoch nie lange! Trudel selbst begann aufgeregt zu werden,
man sah ihr den Angstschaum am Maule stehen.

Als das Riesele aber wieder einmal am Halfter zerrte und gar zu bockeln
anfing, sagte der Fremde zum Bauern Klaus:

„Würden Sie mir einmal Ihre Peitsche und Ihre Leine anvertrauen? Ich
will mal meine Kunst probieren!”

Er schnalzte ein seltsames Gezisch mit der Zunge, und sogleich stellte
Trudel die Ohren aufrecht, und sogleich drehte der Student die großen
Augen einmal zurück nach dem Kutscherbock und lenkte die Hinterbeine
ein.

Die Leine straffte, die Peitschenschmicke flatterte hochauf.

„Das ist ein seltenes Feuer, Herr, woher haben Sie es?” fragte der
Fremde.

„Die Mutter brachte mir der Jude, das Kleine ist ein Gelegenheitskind:
der Vater war bei einer Seiltänzergesellschaft!”

„Aha! Passen Sie auf!”

Der Fremde sprang ab, besah sich der Stute Gebiß, griff ihr an die
Muskeln des Vorderbeines und tupfte dann mit dem Zeigefinger auf ein
Plätzchen über der Kniescheibe, worauf die Haut, wie wenn eine Mücke
dasäße, leicht erzitterte.

„Sie ist ein braver Ackergaul, nicht? Sie hat zwar Qualitäten gehabt,
ist aber in falsche Hände gekommen und hat's zu nichts gebracht! Wollen
mal beim Kleinen sehen!”

Er nahm Rieseles Kopf in die Hände, reckte ihn wie einen Rekrutenkopf
zu sich in die Höhe, schnitt mit dem Fingernagel hinter den beiden
Ohren zwei Halbkreise, und die beiden Ohren schlugen fast aneinander.
Er tupfte an den Knien herum, und die beiden Vorderbeine knickten ein,
und fast wäre Riesele hingefallen.

Der Fremde sah den Bauern lange an, nickte und sagte:

„Er ist wohl auch ein toller Bruder, was? Hören Sie, verkaufen Sie mir
den Studenten, ich bezahle ihn gut!”

„Was soll aus ihm werden, Herr?” entgegnete der Bauer, „er ist
ein einfaches Tier, das weder große Kraft noch große Arbeitslust
haben wird. Anlagen hat er, ja, aber Anlagen zum Taugenichts, zum
Guckindieluft, und da er Sternkundiger wohl nicht werden kann, muß er
in stramme Zucht genommen werden für den Wagen!”

„Es gibt außer körperlicher Arbeit und außer der hohen Wissenschaft
noch andere Dinge in der Welt, mit denen man die Menschen beglücken
kann, mit denen man schließlich auch sein Brot verdienen kann, Dinge,
die dem grauen Alltag ferne liegen!”

„Soll er etwa das lebendige Spielzeug werden verwöhnter Fürstenkinder,
soll er Kinderschlachten schlagen helfen auf den umhegten
Spielplätzen, vor denen wirkliche Soldaten Wache stehen? Soll er den
Kopf senken vor den Herrschaften dieser Erde, wie wenn er ein Sklave
wäre gleich den meisten unserer Mitmenschen?”

„Die Freiheit, Herr, steckt ihm zu sehr im Blut, als daß er sich hierzu
eigne! Er soll, in Freiheit dressiert, ein großer Künstler werden zum
Heil der Menschen!”

„Ich seh mein Gäulchen meiner Treu schon auf dem Hochseil tanzen! Nein,
nein, wollten Sie gar einen Künstler aus ihm machen, gäb ich es erst
recht nicht her. Auch in meinem Haus wird mehr gelacht als geweint.”

Riesele schritt indes züchtig einher, da die Schmicke der Peitsche über
seinen Ohren drohte und nicht verschwinden wollte!

Am Bahnhof stieg der Fremde aus, nahm Rieseles Köpfchen zwischen die
Hände und sagte zu ihm:

„Wir sehen uns wieder!” und zum Bauern sagte er:

„Glücklich sein oder glücklich machen: was dünkt Ihnen am schönsten,
Herr?”

Der Bauer sah dem Fremden in die Augen, wußte nicht, was er sagen
sollte, und wiederholte schließlich dieselbe Frage:

„Glücklich sein oder glücklich machen? Ja! Ja! Glücklich machen,
natürlich! Aber was ist Glück?”

„Hahaha!” entgegnete der Fremde, „Sie gehen mir schon wieder zu weit!
Zu tief, zu tief in die Erde, zu tief an die Wurzeln! Wir Menschen des
Kaiserreichs treiben gern oben auf dem Wasser unserer Zukunft entgegen,
leben über der Erde, wo die Blumen blühen und die Vögel singen!”

„Verstehen aber die Blumen nicht und die Vögel nicht und haben
überhaupt die Wurzeln verloren! Nicht wahr?”

„Möglich, Herr, möglich; aber wer die Wurzel nun einmal verloren
hat, wie Sie sagen, soll dem für die kurze Zeit, da seine Blüte noch
standhält, das Glück versagt sein?”

„Das Glück wird ihm versagt sein müssen, denn Glück bedeutet: Wurzel
haben! Aber den Schimmer soll man dem Schimmer lassen!”

„Den Schimmer soll man dem Schimmer lassen,” wiederholte spöttisch und
nachdenklich der staunende Fremde, und fuhr dann fort: „Doch genug der
leeren Worte: ich komme nach drei Wochen wieder und werde dann das
Riesele abholen! und wie gesagt: Sie werden keinen Schaden haben bei
der Sache!”

Als der Vater zu Hause erzählte, was ihm begegnet war, öffneten sich
die drei kleinen Mäulchen und schlossen sich schier nicht mehr an
diesem Abend. Der Vater hatte beim Militär allerhand interessante
Stückchen gesehen: der Rittmeister war ein Narr gewesen: Kerle! sagte
er oft zur Schwadron, ich bin der Teufel! Ich liebe meine Frau nicht
und meine Kinder nicht: wie soll ich etwa euch lieben? Ein vollendeter
Narr war der Rittmeister! Dazu ein Pferdenarr, der neunzehn Reitpferde
besaß und sie dressieren konnte. Im Walzertakt ritt er an zum Appell;
Schottisch auf den Hinterbeinen konnten zwei seiner Gäule flott tanzen!
Einmal erschien er mit einem Rappen, dessen Hufe vergoldet waren, zum
Appell.

„Vergoldet?” rief das Trudelchen, das in der Mutter Schoß lag, „und die
Hufeisen, waren die auch von Gold?”

„Die waren natürlich auch von Gold!” erwiderte der Vater und erzählte
weiter, wie dieser Rittmeister einmal in einem Zirkus ganz plötzlich,
ohne daß irgend jemand zuvor davon gewußt hätte, angeritten sei mit
einem schneeweißen Hengst, wie er nur einfach rundum geritten sei, und
wie die Menge vor Begeisterung geschrien hätte. Alles habe geschrien
„Bravo, bravo!” und er, der Vater, habe mit seinen Kameraden zuerst
geschrien und zuerst geklatscht, und nachher hätte jeder drei Tage
Urlaub bekommen und zwanzig Mark!

„Zirkus?” sagte die Mutter, „ja, wenn Riesele in einen Zirkus soll, da
weiß ich auch Bescheid! Doch will ich heut abend nichts mehr erzählen,
ich heb meine Sach auf bis zum Sonntag! Ja, wenn's Riesele in einen
Zirkus soll, da ging ich auch mit!”

„Ich auch, ich auch!” versetzten die Buben und knöpften schon die
Hosenträger ab, und Trudel, die schon halb geschlafen hatte, rieb sich
die Augen und flüsterte:

„Ich auch, Mutter, gelt, ich auch?”

„Freilich, freilich, wir alle gucken, wenn das Riesele Walzer tanzt,
oder auf dem Hochseil läuft, oder wenn es dem König sagt, wie lange er
noch zu leben habe!”

Nun wurden alle Tage zu Sonntagen, die Buben schnitten sich Degen aus
Holz, klebten Papierhelme, gürteten farbige Bänder um den Leib, und das
Mädchen tanzte, wo immer sie ging und stand. Die Mär, daß Riesele in
den Zirkus komme, wußte bald die ganze Jugend des Dorfes. Hüpfseile,
Springreife, goldige Schnüren, Soldatengerät aller Art tauchten auf,
und auch die Alten betrachteten das Tierchen mit den Augen ihrer
Komödiantentage, wie jeder Mensch sie mit sich durchs Leben trägt. Das
ganze Dorf begann inmitten der grauen Kartoffelernte zu leuchten im
zukünftigen Glanze des kleinen Riesele, und alle sagten:

„Er hat sein Glück gemacht!”

„Glücklich sein, ist nicht Glück,” sagte der Bauer Klaus zum Herrn
Pfarrer, „glücklich machen, das ist Glück! Oder wie denken Sie über
diesen Fall, Herr Paschtohr?”

„Da ist nicht viel zu denken, Freund Klaus: wer sein Glück darin
findet, daß er glücklich macht, der ist wahrlich ein kleiner Heiland!”

Als jedoch die drei Wochen herum waren und der Fremde wieder kam, da
wollte niemand das Riesele hergeben. Die ganze Stube war voller Kinder,
aber das Riesele stampfte ungestüm in seinem Hag, als wisse es, was
geschehen solle, und als wolle es möglichst rasch fort in den Zirkus.

Der Fremde zählte zwei lange Reihen dicker Silbermünzen auf den
eichenen Tisch, der Vater überzählte sie, indem er mit zwei Fingern auf
je zwei tupfte und sie ein bißchen höher schob, und die Mutter hielt
die Daumenspitze zwischen den Zähnen.

Die Buben liefen hinaus, wie sie das viele Geld sahen, und die Stube
leerte sich fast. Trudel trat betrübt zur Mutter, und als die Mutter
sie auf den Arm nahm, kollerten dem Kinde die Tränen aus den Augen, und
es sagte ganz laut:

„Jetzt verkaufen wir das Riesele, wie die Brüder den Joseph verkauft
haben um dreißig Silberlinge; da hätten wir das Riesele doch Joseph
nennen sollen, wie's noch ganz klein war!”

Die Mutter konnte die Tränen auch nicht verbeißen, sie sah den Vater an
und sagte:

„Dreißig Silberlinge, sind's nicht auch gerade dreißig Silberlinge,
dreißig dicke Silberstücke, und dafür hat auch Judas den Herrn
verraten!”

„Ja, willst du das Riesele behalten?” fragte der Vater.

„Die Kinder, die Kinder!” antwortete die Mutter, „da guck hinaus, die
Buben führen's fort!”

„Was die Buben tun, gilt wohl nicht!” sagte der Fremde, zog seine Börse
und legte drei Zehnmarkstückchen zu dem Geld, hob das eine wieder vom
Tisch auf, reichte es dem weinenden Trudelchen und sprach:

„Hier, Kind, ein Füchschen für dein Räppchen, und das hier gibst
du deinen Brüdern! Hier, sieh genau hin, der Mann, der da im Gold
abgebildet ist, das ist der Kaiser!”

Das Kind betrachtete die Münze und rief zum Fenster hinaus:

„Gustav, August, kommt herein, ihr habt goldene Kaiser bekommen!”

Sie kamen herein, und das Riesele ging, ohne seiner Mutter Ade gesagt
zu haben, von dannen, dem Zirkus des Lebens entgegen, den sich die
Menschen eingerichtet haben.



VIII


Der Fremde also führte das Riesele fort aus dem Paradies, am
Buchenwäldchen vorbei in das nahe Städtchen an den Bahnhof, wo Riesele
mit seiner Mutter schon einmal gewesen war. Die Kinder kamen wieder
gelaufen, weil gerade die Schule aus war, und sie stellten sich ans
Gitter des Güterbahnhofes, wo das schwarze Gäulchen auf den Zug warten
mußte, und sie winkten ihm, da es in den Bahnwagen trat, und riefen
seinen Namen, da sie es nicht mehr sehen konnten! Riesele blieb lange
Stunden im Bahnwagen, und als es heraustreten durfte, hing vor seinen
Augen ein ungeheures Licht, das langsam an einem Pfahl in die Höhe
geleiert wurde. Nun pendelte es hoch oben, und ringsum zuckten kleinere
Lichter auf, die Sperre schnurrte zurück, und Riesele schritt hinaus
in den Abend und stapfte neben dem Manne her über eine große, flache
Wiese, einem unheimlichen Hage zu, zwischen dessen Gebälk unabsehbar
Gäule weideten, schwere Kerle, deren Köpfe sich nicht vom Grasboden
erhoben.

Riesele brauchte nicht in einen dieser Hage; es wurde in einen Stall
geführt, der ganz weiß getüncht war. Hier verbrachte es die erste Nacht
in der Fremde.

Gleich am Morgen kam ein Mann in einem langen, weißen Kittel, der
streichelte an dem jungen Körper herum, und dann kamen zwei andere
Männer, die legten Riesele aufs Stroh nieder, und dann spürte es einen
heftigen Stich in der linken Flanke, daß es ausgeschlagen hätte, wenn's
ihm möglich gewesen wäre. Es konnte mit keinem Muskel zucken, so fest
hielten die Männer das Riesele, und als sie es freigaben, wollte es
sich nicht bewegen, so müde war es geworden. Es lag da, eine weiße
Schnur war um seinen Leib gewickelt, und vor seinem Munde stand ein
Napf mit Milch, den es aber nicht berührte.

Es trank indes gegen Abend doch die Milch, und am nächsten Morgen hatte
es sogar Lust, sich auf die Beine zu stellen, stellte sich auch und
fraß frischen Klee, und schon am andern Tag kam der Mann im weißen
Kittel wieder und wickelte den Verband ab. Riesele war also wieder
gesundet von einer Krankheit, die ihm zu Hause hinter seinen Bergen
sicher erspart geblieben wäre.

Es durfte aus dem Stalle laufen, es durfte die großen Gäule besuchen
an deren Hag, es durfte den Kopf hineinstrecken zu den Großen und ward
geliebkost wie von seiner Mutter.

Eines Tages entdeckte es in einem der letzten Hage ein Füllen, das an
der Brust seiner Mutter trank. Dieses Füllen trank noch an der Brust
seiner Mutter, obgleich es viel größer war als Riesele. Riesele wollte
durchaus nicht etwa mit ihm trinken: es hatte nur seine Freude an dem
großen Säufer und dünkte sich sehr erwachsen. Jeden Tag trieb es sich
bei Mutter und Kind umher, bis ein Wärter ihm gar die Tür aufmachte und
es hineinlaufen ließ.

Hier im Schatten einer Mutterliebe verbrachte Riesele die nächsten
Wochen seines Lebens, bis der Winter kam. Die Mutter hatte genug Liebe
und verschenkte davon an das Riesele, soviel sie konnte, und Riesele
wuchs mächtig heran! So sehr es sich aber im Wachsen beeilte: das
kleine Mutterkind blieb größer! Es konnte seinen Kopf auf die dritte
Querstange des Hages legen, aber Riesele konnte das nicht! Riesele war
klein, Riesele war ein Zwerg gegen dieses Füllen, Riesele konnte sich
strecken, soviel es wollte, aber es blieb klein. Trotzdem, wenn es auch
kleiner war als der Säugling, so war es doch stärker als dieser, und
sein Benehmen glich viel eher dem eines gesetzten Burschen.

Von Tag zu Tag glänzte Rieseles Haut mehr, seine Haare stellten sich
dichter, da der Winter weiß auf den nahen Bergen hockte, die Blesse
leuchtete etwas über den Augen, und in den Augen erschien ein seltener
Glanz, der alle, die kamen, über die Maßen entzückte. Zugleich schossen
die Haare des Schweifes tief hernieder und berührten fast die Hufe, die
Mähne zottelte sich in weichen Kräuselwellen am Halse herab und fiel
über die Schulterblätter, und die Stirnhaare wuchsen bis zur Blesse und
hörten auf zu wachsen!

Rieseles Rücken blieb schmal, seine Brust wollte sich nicht breit
auseinandertun, entfaltete sich zwar, blieb aber trotzdem schmal und
zierlich. Seine Schenkel wulsteten sich nur kaum merklich hervor.
Dennoch, obwohl die Muskelstärke nicht so sehr zutage trat wie bei
Füllen, die für den Strang geboren sind, machte sich in diesem kleinen
Körper ein reges Spiel der zarten Kräfte bemerkbar, das den Kenner und
noch mehr den Menschen, der in dem Spiel der Muskeln das Leben sieht
und die Schönheit und, was alles dahinter sich versteckt, höchlich
entzücken mußte. Wenn die beiden Kinder miteinander spielten, so
tolpatschte das größere, das jüngere, hierhin und dahin, ungelenk und
steif und stieß bald an den Stangen an und rannte gegen die Mutter, und
einmal warf es sogar das Riesele um auf den Grasboden, daß dem Riesele
fast die Tränen kamen.

Dieses aber bewegte sich ganz anders! Die geringe Last seines Körpers
schnellte, von den Vorderbeinen aufgewippt, überaus leicht und
zierlich und anmutig den Rücken hernieder in die Hinterbeine, so daß
die Vorderbeine sich fröhlich in der Luft ergingen, so daß die lange
Zottelmähne umherwirbelte, der Kopf sich aufreckte, sich vor Uebermut
schüttelte, so daß die Zähne hervorblitzten und die Ohren in der
Luft herumstachen, wie wenn sie Fliegen schlagen wollten! Die geringe
Last des Körperchens turnte in die Vorderbeine, daß die Hinterbeine
befreit waren, daß die Hinterbeine nach allen Seiten ausfeuern konnten,
als seien sie die schlimmsten Pferdebeine der Welt, daß sie aber nur
fortgesetzt und immer wieder Löcher in die kalte Herbstluft schlugen.

Die Kraft, die sich in dem kleinen Körper regte, war durchaus nicht
klein und wollte vertobt sein! Ein Spatz, der sich aufs Geländer des
Hages setzte, eine Mücke, die heranflog, das Riesele zu stechen und von
seinem Blut zu trinken, ein verspäteter Schmetterling, der irgendwohin
flatterte und an Riesele zufällig vorbeikam, sie alle reizten des
Riesele junge Kraft wie echte Feinde, und jeweils stürzte sich der
kleine Mann auf das harmlose Tierchen los, der große Säugling tat dann
auch mit, und wenn der Spatz endlich den Hag verlassen, wenn der
Schmetterling sich weiter in die Höhe geschwungen, wenn das Bienlein
das Weite gesucht hatte vor solcher Turnierwut, so gerieten die zwei
Kleinen sich an die Köpfe und bissen sich gegenseitig in die Hälse,
in die Kinnbacken, gar in die Ohren, und sie feuerten aus, trafen
sich aber niemals! Der Säugling war ungelenk; sein Körper wartete
noch auf größeren Kräftenachschub, war aber schon für diese größeren
Kräfte einstweilen eingerichtet und stand oft breitbeinig da wie das
hölzerne Pferd der Trojaner, das auch auf allerhand Kraft warten mußte.
Riesele dagegen wußte mit sich umzugehen! Es konnte, wenn eine Fliege
an seiner Brust saß, den Brustmuskel erzittern lassen und brauchte
vor dieser Fliege nicht fortzulaufen wie sein Milchbruder! Es konnte,
wenn der Bauch juckte, den Schweif herschwingen, oder es konnte den
Kopf so weit zurückbiegen, daß es sich am Bauche schaben konnte, mit
den Zähnen beißen konnte, daß es den Vorderhuf oder auch den Hinterhuf
heben konnte und dabei nicht achtzugeben brauchte, ob es umfalle, wie
der große Kleine! Er war wirklich einmal umgefallen, der Säugling: er
wollte es dem Riesele gleichtun, wie es sich am Hinterschenkel biß, er
drehte sich da oftmals im Kreise, und der Schenkel drehte sich auch
und entlief dem Maule immer wieder im Kreise herum. Blieb endlich
das Hintergestell an seinem Platze, so reichte der Hals nicht, d. h.
gereicht hätte der Hals schon, aber er war zu steif, als daß er sich
genügend gebogen hätte. Da nun in dem zukünftigen Ackergaul offenbar
ein Stück Ehrgeiz rumorte, überspannte er den Bogen seines Halses und
knackte um. Da lag er nun!

Diese Umbiegung, daß der Kopf sich dem Schweife näherte, war seitdem
Rieseles liebstes Spiel, und dies Spiel sah sich köstlich an: die
dünnen Rippen preßten sich am schwarzen Bäuchlein hervor wie mit
dem Silberstift getönt, der Hals erglänzte längs der Rundung, die
Mähnenspitzen ergossen sich über den gestreckten Kopf, und der ganze
Körper ruhte gefestigt in dieser Stellung wie in Erz gegossen. Da
mochte denn der braune Ehrgeiz nicht mehr von den Stangen des Hages
weggehen und schabte, ob nicht bald die ersten Zähne kommen wollten!

Indessen: es wurde kalt, das ganze Gestüt ward abgebrochen, und Riesele
kam in einen Stall.

Schon am zweiten Tage erschienen etliche Männer in dem Stall. Sie
besahen sich die schweren Gäule, und plötzlich kommt einer der Männer
auf Riesele zu und sagt zu den übrigen:

„Hier, staunt: brauchen wir denn nicht auch einen Dauphin? Er ist zwar
von Haus aus ein Mädchen, aber was verschlägt's?” Er sagte das etwa
so, wie ein Theatermann einen jugendlichen Liebhaber sucht oder eine
Heldenmutter oder eine komische Alte!

Alle kamen zu Riesele her; alle besahen, befühlten, betätschelten
Riesele, und Riesele stand da inmitten ihrer Lobpreisungen und
spielte mit den Nüstern und spürte die vielen eingehenden Blicke wie
Liebkosungen an sich umhergleiten. Seine Blesse ward gestreichelt,
seine Ohren wurden gezerrt, seine Augen wurden mit einem kleinen
Kerzenlicht beleuchtet, ob sie gesund seien, seine Lippen wurden
wiederholt auseinandergenommen, seine Zunge herausgeholt, seine Zähne
betickt mit einem blanken Schlüssel!

Riesele und mit ihm ein überaus starker Hengst, der auffällig rot
gesprenkelt war, diese zwei mußten aus dem Stalle treten und wurden am
selben Tage fortgeführt ans Bahnhöfchen.

Während der langen Fahrt freundeten sich die beiden Pferde an, und
der große Hengst, der seine Nüstern oben am Viehwagen hinausstrecken
konnte, was dem kleinen Riesele versagt war, schurfte mit seiner Nase
oftmals an Rieseles Hals herum, als wolle er dessen Kopf hinaufziehen
an das breite Luftloch. Aber Riesele war doch zu klein! Es legte sich
auch einmal nieder, streckte die vier Beine von sich und streckte die
Beine unendlich weit aus und wuchs zusehends. Auch den Kopf reckte es
von sich, und wenn das garstige Halsband nicht gewesen wäre, das an der
Eisenstruktur festgebunden war, so hätte Riesele ein Stündchen oder ein
Viertelstündchen geschlafen.

Der Fuchs konnte sich nicht legen: er hatte Hufeisen an, die schon
recht glatt abgelaufen waren, und so oft er's auch versuchte, glutschte
er und schnellte vor Aufregung, vor Angst immer wieder in die Höhe.

Ungeheure Schenkel hatte dieser Gaul! Ueber den Knien wulsteten
die Muskeln hervor wie Halbkugeln, und dann begann eine Fülle von
gestrafftem Fleisch sich hinaufzubiegen, die in ihrer Fuchsröte den
dunklern Schweif, der sehr kurz und zerfranst war, fast völlig in
sich einbettete. Beinahe etwas zu wenig dick zog der Bauch nach den
Vorderbeinen hin, gleichmäßig rund wie eine Walze, und vom rechten
Vorderbein her ästelte eine Ader, dick wie ein Bauerndaumen nach
oben und unterm Bauche her. Unten erhöhte sich das Rot zu einem
überschmutzten Weiß, das sich gegen die Brust ergoß und zwischen den
Beinen auf den stets federnden Brustmuskeln sich wieder verlor. Gerade
wie Don Quichotes Beinschienen strafften die Muskeln dieser Vorderbeine
nach unten, mehr Sehne als Muskel, von keinerlei Fettansatz verhunzt,
von keinem warzigen Auswuchs verunstaltet, und die Hufe breiteten sich
unter dem schmalen Zehengelenk, das scheinbar schwach aussah wie ein
Brückenbogenaufsatz, kurz, straff, gepackt und fast rechtwinkelig zur
Erde. Ueberaus zierlich standen diese Hufe da, kaum größer als die des
Riesele.

Riesele aber hatte seine Freude an des Fuchses Hals! Es konnte und
durfte mit seinen Lippen über die blanke Glätte hintasten, es konnte
und durfte längshin die Rinne beschnuppern, die sich von der Brust
bis an die Backen des Kopfes erstreckte, es konnte und durfte an
der kurzen Mähne, die bald nach links, bald nach rechts äußerst
zerzauselt herabhing, mit den Lippen, mit den Zähnen, mit der Zunge gar
herumschmecken.

Riesele merkte bald, wie der große Freund Freude hatte an den
kindlichen Schmeicheleien! Es schmarotzte auch an seinem Kopf herum:
es biß mit seinen Milchzähnchen an den festen Nüstern, es leckte
gar an die Zähne hinein, es schabte mit der Nase seitlich an die
sehnigen Backen, wo Aederchen zitterten aus Zorn über die harten
Halfterriemen, die da angeschnürt waren. Ha, wenn der Große den Kopf
herniederbog, wenn der Hals hinter den Kinnbacken sich einfältelte
wie ein Kinderkleid, ha, da boten sich dem Kleinen zwei Lichter dar,
links eins, rechts eins, zwei Börnchen lebendigen Wassers, zwei
wogende Schalen, in denen Kraft und Uebermut und Liebe und Schönheit
fluteten, daß es dem Kinde angst und bange ward und warm ums junge Herz
und bockelig vor Freude. Von der Stirn her quirlte ein angeknäulter
Haarschopf gegen die Augen, die er aber nicht verdecken konnte, und die
aufgespitzten Ohren hatten Mühe, sich aus diesem Quirle zu erheben.

Was für eine seltsame Freude war das doch in Rieseles Herz!

Aneinandergekoppelt schritten die zwei ungleichen Gesellen quer durch
eine große Stadt und beschlossen ihre Wanderung an einem grauen Zelt,
das neben anderen größeren Zelten auf einer Wiese stand. Kinder liefen
an gelbgestrichenen Wagen umher, lüfteten die Zelttücher und sahen
hinein, und Hunde bellten an ihnen herum, bissen aber nicht!

Die beiden Freunde mußten ein Weilchen warten, bis sie hinein durften
ins Zelt. Sie standen vor einer Reklametafel, die ganz bedeckt war mit
buntigen Tieren, mit Pferden, Tigern, Löwen, Elefanten und mit drei
ganz kleinen Gäulchen, die Ball miteinander spielten. Sie besahen beide
diese Herrlichkeiten! Der Fuchs regte sich nicht; selbst die vielen
Kinder, die sich um sie herstellten, ließen ihn nicht aufmerken!

Ein kleines Mädchen scheuchte mit seinem dicken Muff nach des Fuchses
Kopf, aber der Fuchs verzog keine Miene. Starr hafteten seine Augen an
den grellen Farben der Holztafel.

Riesele aber konnte die Ruhe nicht bewahren! Sei es, daß die Kinder
das kleine Gäulchen verwirrten, da sie ohne jede Scheu seinen Hals
streichelten und seinen Rücken, sei es, daß das Kerlchen von dem, was
auf der Tafel dargestellt war, ein Ahnen hatte, eine Lust, mit den
drei Kleinen zu spielen, eine Ungeduld, hier angekoppelt sich begaffen
lassen zu müssen!

Eine Sacktür öffnete sich! Riesele ward hineingezogen, der Fuchs kam
hinter ihm drein. Warm war's hier, es roch nach Pferden, aber auch nach
anderen Tieren! Löwen lagen hinter starken Gittern, ließen die Pranken
heraushängen und blinzelten mit den Augen. Ein alter Affe lauste sein
Junges. Und weiter hinten erst standen die Pferde! Ein Junges soff an
seiner Mutter, etliche ganz kleine Gäulchen lagen wie Geschwister auf
einem Häufchen und pflegten der Ruhe. Das Allerkleinste, viel kleiner
als Riesele, war weiß und hatte hellrote Flecken am ganzen Körper. Die
drei auf dem Häufchen sahen, ohne die Köpfe zu erheben, den Ankömmling
an. Dieser verspürte Lust, mit ihnen zu spielen, und strebte nach
ihrem Verschlag, mußte aber etwas weiter zurück in dem Stall. Der Fuchs
hatte schon seinen Platz bei vielen Gäulen gleicher Größe, doch schien
er stärker als alle.

Es dauerte nicht lange, so gab's reges Treiben im Stall. Eine Dame
brachte den Löwen Fleisch und streichelte sie und nannte den einen
Mäuschen, den anderen Herzblatt, den dritten Rapunzel, den vierten
Kasimir Edschmid. Burschen kamen, sattelten, äußerst bunt, etliche
der großen und alle die kleinen Pferde, und eine Mannsstimme rief
irgendwoher:

„Dahinten liegt ein Paar Schuhe; wem gehören die denn?”

„Sind's weiße?” rief eine blecherne Frauenstimme dazwischen, und die
Mannsstimme entgegnete:

„Nein, rote!”

„Die sind mir!” krischen etliche Weiber, und zwei liefen durch den
Stall, die eine mit nackten Beinen, die andere ohne Bluse überm grünen
Seidenhemd.

„Entree!” ertönte es, eine Peitsche knallte. Die Burschen, die alle
schmutzig gekleidet waren, schoben fast alle Pferde nach dem Eingang.
Die kleinen hatten grüne Lappen auf den Rücken liegen, die von
gelbglänzendem Lederzeug festgehalten wurden. Schellen rasselten an dem
Lederzeug!

Riesele stand! Riesele streckte den Kopf vor und scharrte mit dem Huf
im Mist und riß an seiner Kette. Der Hengst lag und schnaufte.

„Entree!” rief eine dunkle, aber hellgestellte Stimme wieder.

Man schwang sich in die Sättel! Männer, als Empiresoldaten verkleidet,
Frauen als Empiresoldatenmädchen verkleidet, schwangen sich in die
Sättel. Lanzen ragten auf, Helme blinkten, Fähnlein hingen züchtig an
den bunten Stangen. Zwei rotgefärbte Reiherfedern schnitten quer durch
die Lanzenstangen; ganz hinten trippelte das winzige Schimmelchen,
nicht größer als solch eine Feder.

Nein! Riesele durfte nicht mit!

Ein Vorhang hob sich, Trompeten erschollen, der Zug schob ab ins
Entree! ... Was zurückkam, jubelte, wieherte, knirschte mit den Zähnen
vor Lust; was zurückkam, stand begierig, wieder fort zu dürfen, hinaus,
in die Manege, in die Herrlichkeit des großen Lebens, die Herren
Menschen zu ergötzen!

„Tableau!” schrie hell die dunkle Stimme; die Pferde reckten sich schon.

Riesele, der Fuchs, das Füllen und seine Mutter blieben zurück, sonst
niemand! Nicht einmal nach dem Vorhang durfte Riesele gehen! Was mochte
sich da draußen abspielen?! Auch der Fuchs schlief nicht, sondern sah
nach dem Vorhang.

Sie kamen schon wieder, die Pferde; sie wurden umtätschelt von den
überaus lustig gekleideten Menschen, und eine Dame turnte auf den
Rücken ihres Gaules und legte die Wange an den Hals des Tieres und
sagte:

„Dat war aber mal eine leckere Chose, Schatz!”

Sie küßte das Pferd, dessen Augen rundum frohlockten. Riesele sah dies
genau.

Ein Bursch schlug einem anderen Burschen, der eine dünne, lange Röhre
schräg vom Kopf abragen hatte, ins Genick: er purzelte. Auch der erste
purzelte, und so kamen sie auseinander, jeder zu dem Pferd, das er
zu bedienen hatte! Die Löwen wurden in ihrem Käfig hereingezogen,
die Dame, die bei ihnen am Gitter stand, trug einen Lorbeerkranz im
Haar. Sie schillerte von glänzenden Steinen wie ein Heckenrosenstrauch
im Juniregen. Ganz zuletzt erschien ein niedriggebautes arabisches
Vollblut, das trug gesenkten Kopfes einen mächtigen Eichenkranz, der
mit goldenen Schleifen durchwirkt war, um den Hals. Ein Mann im Trikot
schritt neben ihm, nahm von einem Nagel im Pfosten drei schwere,
silberne oder bleierne Ringe und streifte sie sich an die Finger.

Ein jeder sang, pfiff oder trillerte vor sich hin; alle Tiere, die
draußen waren, sangen, pfiffen, oder trillerten vor sich hin. Was, um
des Himmels willen, mochte draußen alles geschehen sein!

Riesele sah auf einmal dauernd zu dem Freunde hin, und auch dieser
spitzte die Ohren und starrte zu Riesele her, als wünsche auch er
Auskunft!

Mit einem Schlage jedoch verlöschten die Lichter, Riesele legte sich
nieder und schlief ein, in Erwartung der Dinge, die seiner harrten.



IX


Am nächsten Morgen schon um zehn Uhr begann die Hauptprobe in der
Manege, und Riesele sowohl als auch der Fuchs, der Wallenstein genannt
ward, durften einmal an den Vorhang treten, um hineinzusehen in die
Manege und mußten dann auch wirklich hinein. Sie wurden an einen
Zeltpfahl angebunden. Ein Pferd lief dauernd an einer Leine im Kreise
herum. Unten im Sand bewegte sich manchmal etwas wie eine dünne
Schlange und blieb wieder ruhig.

„~Changez!~” rief der Direktor, und der Gaul lief in entgegengesetzter
Richtung den Kreis der Manege. Eine Peitsche zuckte auf, warf in eine
entfernte Ecke einen Knall und sank wieder in den Sand: diese Schlange
war eine unendlich lange Peitsche!

„Komm zu mir, Prinz!” sagte der Direktor gutmütig, äußerst gutmütig,
und der Bruder kam in die Mitte und wurde liebreich getätschelt.

Riesele ward unruhig: es wäre auch gern im Kreise gelaufen, hierhin und
dorthin, wie der Herr Direktor es gewünscht hätten, ja, und es wäre
auch gern so geliebkost worden!

Aber nun rief der Direktor nach anderen Pferden, und sieben an der Zahl
surrten aus dem braunsamtnen Vorhang in die Manege. Sieben Pferde, groß
das erste, klein das vierte, winzig das letzte, viel, viel kleiner als
Riesele. Sie liefen im Kreise, streng der Größe nach hintereinander.

„~Changez!~”

Sie schnitten mitten im Sand an der Peitsche vorbei und liefen
wieder, -- endlos schier wechselten sie die Laufrichtung. Die kleinen
Bürschlein konnten ihren Platz nicht finden, da mußte die Peitsche
helfen! Aber die Peitsche machte mehr Lärm, als sie wirklich strafte!
Sie tippte manchmal einem der Kleinen um die Ohren, um die Füße, und
sogleich wußten sie, ihre Plätze wieder zu finden.

„Hierher, zu mir!” erschallte plötzlich die Stimme des Direktors, und
sogleich bog der Große zur Mitte, und die ganze Familie folgte ihm; da
standen alle nebeneinander, Lende an Lende.

„Miezi, Miezi, wo steckst du denn?”

Das Kleinste tat einen Schritt nach vorn, und im selben Augenblick
knallte die Stimme:

„~À genoux!~”

Alle fielen auf die Knie, mühsam zwar, doch rasch und fast gleichmäßig!
Nur Miezi kam nicht herunter. Die Peitschenspitze züngelte herbei;
trommelte an den Schienbeinen des kleinen Gäulchens umher, unausgesetzt
wie Spechtgehämmer, aber das Kleine konnte nicht herabkommen. Es sank
zur Hälfte und strauchelte und sprang wieder auf. Die Peitsche knallte
heftig. Die anderen Tiere konnten aber solange nicht auf den Knien
liegen und turnten auf. Wieder erschallte die erregte Stimme:

„~À genoux!~”

Glatt sanken die sechs Tiere, und Miezi blieb unterwegs hocken; die
Peitsche trommelte.

„~À genoux, à genoux!~” trommelte die Peitsche von weit her, wo der
Direktor stand. Sie trommelte wider die Beine, wider die Knie, sie
kletterte an Miezi empor, bis an Hals und Augen, sie tickte an seine
Ohren!

Plötzlich aber flog die Peitsche seitab in den Sand, die sechs größeren
Tiere bogen nach dem Ausgang und durften hinterm Vorhang verschwinden,
und nur Miezi blieb zurück!

Der Direktor bekam eine kurze Lederpeitsche, einen Riemen eigentlich,
und trat zu den zwei Neulingen, zu Riesele und seinem Freund, hielt
diese Peitsche steil vor deren Augen und sagte:

„Die Wünschelrute! Die Wünschelrute der Ordnunk, der Schönheit und
alles Glückes!”

Er lachte dazu, und seine Augen und sein Mund verschwanden in einem
Gemisch von tiefen Falten, die wie in Leder gezogen sein Gesicht
zergeißelten.

„~À genoux, à genoux, à genoux!~” schrie er, indes er sich
Miezi näherte, die unbeweglich stehen blieb, obwohl sie doch
lieber fortgelaufen wäre! Er faßte ihren linken Vorderfuß, ihren
Unterschenkel, bog ihn mit aller Kraft zur Erde, zog und drückte
zugleich das winzige Körperchen nach unten, das willig folgte, wenn
auch der Kopf ängstlich sich aufreckte, wie bei einem Kind, das man in
den Fluß taucht. Ganz sachte berührte schließlich das zierliche Knie
den Sand, und der Dresseur tat seine Hand weg. Jedoch sogleich federte
Miezi in die Höhe. Aeußerst in Liebe ließ er die kurze Peitsche an
seiner freien Hand herabhängen, streichelte den Unterschenkel wieder,
sagte:

„Miezerl, Miezerl, Schnuckerl!” und bog und drückte wieder sanft und
bestimmt nach unten. Wieder setzte Miezi keinen Widerstand und sank
herab, indes ihr Kopf sich aufreckte.

„Muß ich den Kadett wieder durch den Kakao schleifen!” knirschte der
Direktor.

Riesele stand an seinem Balken, straff alle Muskeln angespannt, und
rührte sich nicht. Doch als Miezi wieder aufschnellte, zuckte es heftig
zusammen wie von einem Schlag erschreckt. Der Fuchs regte sich nicht;
er zerrte bisweilen an seiner Leine, um an einer Stuhllehne, die vor
ihm stand, zu knuppern.

Der Dresseur aber nahm nun die kurze Peitsche in die andere Hand und
schlug zweimal auf Miezis Rücken. Wieder schmeichelte er, wieder bog
und drückte er den willigen Fuß zum Sande, wieder entfernte er die
helfende Hand, und Miezi sprang auf. Wieder zuckte die Peitsche auf,
aber diesmal legte sie nicht zwei Schläge auf den Rücken, sondern
klatschte an die Seiten, an die empfindlichen Seiten, und das kleine
Ding blieb stehen, ohne sich zu regen und ließ sich peitschen, und nur
die Haut zuckte erschüttert nach den Hieben.

Riesele streckte den Kopf lang vor sich aus und schüttelte ihn.

Die Qual in der Manege begann wieder. Diesmal wollte sich das Knie
nicht so bereitwillig beugen lassen, schien schon vor der umfassenden
Liebkosung der Hand sich wehren zu wollen und gab erst nach, als ein
Faustschlag es zwang. Die Augen des Dresseurs hoben sich von unten
herauf zu Miezis Augen, und Miezi erkannte vielleicht die vielen Ruten
in dem verhaßten Gesicht und streckte das halbgebeugte Knie wieder.
Da ließ sich der Dresseur auf seine beiden Knie herab, schlug mit der
kurzen Peitsche hinauf gegen Maul, Nase und Ohren, und das Tierchen
hob sich auf die Hinterbeine, und seine überaus kindlichen Vorderhufe
schwebten über des Dresseurs Schultern wie Trommelschlägel. Dieser
zuckte auf, als seien diese Hufe gefährlich für ihn und schleuderte das
Körperchen rücklings von sich, so daß es überstürzte und platt auf den
Rücken plumpste!

Er stand, der Dresseur! Er schwang die kurze Peitsche hochauf, er ließ
sie niedersausen auf den sich darbietenden Leib, holte mit dem Fuße
aus und schlug den Fuß, der mit schweren Schuhen bekleidet war, dem
kleinen Gäulchen in die Rippen, daß der leichte Körper ein Stückchen
davonrutschte im Sand. Nochmals bohrte sich dieser Fuß in die Seiten,
und der Ruck, den er verursachte, ließ das Tierchen aufspringen auf
seine vier Beine.

Schaum spritzt von dem Pferdemund gegen den Dresseur, und dieser faßt
das dünne Halfter, rafft alles Geriem zusammen in seiner großen Hand,
zerrt Miezi etwas zu sich heran, murmelt vor sich hin:

„Junk, Junk, du hast keene Ahnunk nisch!” und faßt die Peitsche fester.
Sein Mund sprudelt über, indes er zu schlagen beginnt:

„Ein Lama biste nisch! Nisch? biste Lama, das speecht? Nee! Nee!
Scheeler Minister!”

Und dann, da die Hiebe rascher niedersausen, kreischt er unausgesetzt
zur Musik der Hiebe:

„~À genoux! À genoux! À genoux!~”

Man weiß nicht, wer die Laute schreit, ob der Mund des Dresseurs sie
klatscht, ob die Peitsche den französischen Laut zischt!

Riesele streckte den Kopf steil in die Höhe und schrie. Der Direktor
kam daraufhin zu ihm her, ließ unterwegs die Peitsche fallen, holte aus
der Rocktasche ein Stück Zucker und hielt es Riesele hin, und indes
Riesele das Stück nahm, streichelte er über seinen Hals und sagte:

„Recht so, recht so, du wirst einmal besser, nisch?”

Und dann legte er seine überschweißte Wange an Rieseles Wange und sagte
liebreich:

„Dauphäng, Dauphäng!”

Miezi rührte sich nicht; Schaum stand vor ihrem Munde.

„~À genoux, À genoux!~” trällert der Direktor wieder und kommt näher zu
Miezi, hebt die Peitsche auf, bückt sich, erfaßt den Unterschenkel und
läßt sich auf ein Knie nieder.

„Rudolf herbei!” kreischt er.

Aus der Reihe von Burschen, Männern und Mädchen, die da umherstehen und
gucken, springt einer in die Manege und wirft die Zigarette von sich.
Er trägt eine kurze Peitsche mit sich und stellt sich mit gespreizten
Beinen neben seinen Direktor und neben Miezi.

„~À genoux!~” schreit dieser wieder, und Miezi hebt gefällig den Huf in
die hingehaltene Hand, gibt bereitwillig dem Druck und dem Zug dieser
Hand nach und senkt den vorderen Körper zur Erde herab. Jedoch, da das
Knie den Sand berührt, zuckt der Kopf auf, und das ganze Körperchen
zuckt mit. Rudolf, der Bursche, reißt einen Schlag über diesen Kopf,
daß Riesele zusammenzuckt und an seiner Leine zerrt. Umsonst, der Kopf
Miezis turnt weiter, aber das Knie ruht fest im Sand, fest in der Hand.
Einen Augenblick ruht auch der Kopf, und:

„Brav, brav!” ruft der Direktor, „so ist's brav, Miezi!”

Ueber des Tierchens Kopf steht ein kleiner, dreispitziger Stahl aus der
Hand Rudolfs herab. Berührt fast die Haut zwischen den Ohren!

Festgeklemmt zwischen Hände, Peitschen, Stahl und Menschenwillen, steht
Miezi und rührt sich nicht mehr.

Die Hand des Dresseurs will sich unten vom Schenkel lösen.

„Miezerl, Miezerl, liab Dingele, Zuckerle gibt's, Zuckerle! So isch's
brav, liabs, so isch es liab!”

Miezi aber wird, da die Finger sich lösen, unruhig, der Kopf stößt,
stößt in die drei Stahlspitzen, das ganze Körperchen wirft sich auf,
der Dresseur fällt um, Rudolf haut mit Fäusten drein, Miezi stürzt über
den Dresseur, wird hinweggerissen, rast, den Dreizack in der Stirn,
nach dem Ausgang, wo die Knechte stehen, und wird dort aufgefangen und
auf Armen zurückgetragen zu seinen Quälern. Rudolf reißt den Stahl aus
der Haut und steckt ihn ein, der Direktor hebt die beiden Fäuste über
sich, als schleppe er einen Felsen, und geht so auf Miezi los, und in
seinem Antlitz schwirren die Lederriemen umher.

Ein Strömlein roten Blutes sickert Miezi über die weiße Nase herab.

Der Direktor achtet nicht darauf, er streckt die Hände aus, Rudolf
reicht ihm die Peitsche, er flüstert für sich:

„Immer feste druff! Immer feste druff!” Er sagt laut zu den Umstehenden:

„Jibt man ihm seinen Hafer ~pour~ nisch?”

Die Sklaven lächeln im Chor:

„~Pas du tout!~” und:

„Nur die Ruhe kann es machen!” sagt der Dresseur und nähert sich Miezi.
Er spreizt die Beine, stößt sich die Fäuste in die Hüften, beugt den
Oberkörper gegen Miezi und spuckt ihr ins Gesicht, hebt den Zeigefinger
weit übern Kopf, wirft ihn nach dem Ausgang zu und gibt Miezi einen
Tritt, daß sie etliche Schritte machen muß, und die Sklaven holen das
Tier ab in den Stall.

Der Dresseur zieht wieder sein rotes Schnupftuch, wischt sich über die
Stirn und geht auf Riesele zu und sagt:

„Die kleine Dame, die du eben kennen jelernt hast, meint, sie habe
jetzt ihren Willen durchjesetzt, aber sie wird erst morgen erfahren,
wie sie sich täuscht! Ich sehe es dir an, du bist von anderem Schrot
und Korn. Aber da bist du jerade recht jekommen! Und du Großer: na, wir
werden uns ooch noch zu sprechen haben!”

Er wandte sich ab:

„Wo stecken die Oojuste?”

Sie sprangen vor, die Auguste, drei Stück! Der Dresseur schnalzte mit
der Zunge, sie warfen ihre leichten Körper zum salto mortale zurück und
standen auch schon wieder in Reih und Glied.

„Auf die Hände!” schrie der Dresseur. Sie schwangen sich auf die Hände
und liefen im Kreise, die lange Peitsche schleifte hinter ihnen drein.

„~Changez!~” Sie wechselten die Richtung.

„Ab, gut!”

Der Direktor wandte sich und schrie:

„Dauphäng! Hast du das gesehen? -- Kein Schlag!”

Er wandte sich.

„Tierschutzverein?” rief er dann, „wer fragt?”

Der dickste von den dreien fragte den Direktor:

„Sind Sie im Tierschutzverein?”

„Sind -- Sie -- im -- Tier -- schutz -- ver -- ein?” äffte der Direktor
nach, „wer wird so damlich fragen?”

Alle drei schrien sie nun, jeder in seiner Art und mit fröhlichen
Bewegungen der Hände, der Augen, der Beine auf ihn ein:

„Sind Sie im Tierschutzverein, Mister?”

„Aha, natürlich! Natürlich bin ich im Tierschutzverein! Wie könnt ihr
fragen? Wißt ihr nisch, daß ich ein Freund des Kronprinzen bin?”

„Laß doch den Kronprinzen beiseit!” flötete eine Frauenstimme aus dem
Hintergrund, und der Direktor starrte stumm nach der Stimme.

„Immer Reklame für den Kronprinzen, der jibt dir en Dreck dafür!”

„Iß er etwa nisch Protektor des Tierschutzvereins? -- Iß er wohl!”

„Laß ihm doch sein Pläsier!”

„Pläsier? Sein Pläsier schaut anders aus!”

„Er liebt die Jagd! ... Weißt: von wegen Tierschutzverein! Aber laß
ihn aus unsrer Manege, er hat genug mit der seinen! Und zudem: uns
Kunstbagage steht wie überhaupt armen Leuten der Patriotismus der Gasse
nicht recht zu Mund!”

„Gut, nehm ich das Warenhaus des Westens!”

„Natürlich, nimm doch das Warenhaus des Westens!”

„Also nochmal Aujust: Sind Sie ...”

„Sind Sie im Tierschutzverein, Mister?”

„Aha, natürlich! Natürlich bin ich im Tierschutzverein! Wie kannst du
fragen? Weißt du nisch, daß ich ein Freund des Kaufhauses des ...”

„Ja, verehrter Gatte, nur heraus damit: daß ich ein Freund vom
Kaufhaus ...”

„... also, daß ich ein Freund vom Kaufhaus des Westens ... nein! das
paßt nisch, Rosa! Das, das, das paßt nisch!”

„Nu, dann nimm ihn, deinen Kollegen, den Kronprinzen, voran also!
Nochmals von vorn!”

„Gut, gut, also, wir wollen nicht nochmal von vorn anfangen,
sonst machts die Madame wieder entzwei! Wenn du sagst, Oojust,
daß du Mitglied ... halt: du sagst das überhaupt nisch
vom Automobilschutzverein, du springst gleich auf deinen
Menschenschutzverein und stellst dich so hin, kuck! Diese Geste!!!”

„Gehste mir mit deiner Geste!” krisch die Frauenstimme, „du verdirbst
mir mit deiner Kronprinzenmoral das ganze Geschäft! Ab!! Los!! Hol
wieder dein Faß, alter Diogenes und deine Laterne, wenn ihr Witze
machen wollt! Witze müssen rollen wie Erbsen aus dem Faß, müssen
Knallerbsen sein und keinen Pulvergestank verbreiten! Los, ins Faß,
alte Erbse, vertrockneter Diogenes!”

Der Direktor lachte aufdringlich, als wolle er glauben machen, seine
Frau spaße, und dies Gespaß sei eher eine Liebkosung als ein Tadel, und
er begann, laut nach seinem Faß zu schreien und klatschte dabei heftig
in die Hände ... Das Faß rollte heran, der Dresseur verkroch sich!



X


Gleich am anderen Tage begannen für Riesele, das nunmehr Dauphin
genannt wurde, die Dressuren im Sande der Manege. Dauphin freute sich
darauf, war ordentlich stolz, konnte gar nicht abwarten, bis, da er
angeseilt in der Hand des Direktors seinen sicheren Halt hatte, bis die
lange Peitsche mit ihrem harmlosen Geknall den Befehl, zu marschieren,
gab! Eine Kleinigkeit, eine Leichtigkeit, ein Kinderspiel, so im Kreise
langsam und sicher zu schreiten, den Kopf ungezwungen hochzuhalten,
immer innen an den abgerundeten Bretterkasten der Barriere entlang!

Wenn er anders laufen sollte, entgegengesetzt dieser Richtung, ha, so
trat der Direktor etwas nach hinten, was man deutlich sah, und die
Peitsche, deren Riemen da irgendwo im Sande lag, zuckte leicht auf!

„~Changez!~” sprach dann immer der Direktor! Das war nicht mehr
mißzuverstehen!

Fertig, Dauphin! Abgeseilt, ein Stück Zucker in den Mund, hinaus aus
der Schule, in den Stall zurück! Das war der erste Tag!

Lang ward die Zeit bis zum nächsten Morgen, und was brachte dieser
Morgen? Nichts Neues, nichts Neues! Noch einmal und noch zum Überdrusse
oft das alte Spiel mit „~Changez!~”

Am dritten Tage sprach der Direktor:

„Ist die Kleine fertig? Bringt sie!” Wer kam da zu Dauphin? Die kleine
Miezi, die vor drei Wochen so verpeitscht worden war. Sie wurde vor
Dauphin gestellt, mußte also ihm gleichsam den Weg weisen, denn Dauphin
war schon nicht mehr angeseilt! Sie trippelte gar possierlich vor dem
doch größeren Dauphin her und sah nicht nach rechts, nicht nach links
... sie hatte sicher schon oft solch Leithammelspiel getrieben ... und
Dauphin brauchte nur hinter ihr dreinzumarschieren. Machte der Direktor
nur eine leise Bewegung, so wußte sie gleich, daß er nun „~Changez~”
sagen würde, und sie changierte auch schon! Das hätte Dauphin
unstreitig so glatt nicht fertiggebracht ohne sie! Aber sie trippelte
ihm zu langsam! Er konnte das nicht leiden: wiederholt setzte er den
Huf seitab nach vorn, um vielleicht selber an die Tete zu kommen,
um wenigstens zu zeigen, daß er hin wolle ... aber immer zuckte die
Peitsche auf, und Dauphin blieb gehorsam!

Als die Lektion zu Ende war, lief Dauphin vor Freude allein nochmals
die Runde, aber der Direktor beachtete es nicht, und als er's endlich
doch beachtete, zuckte die Peitsche, und Dauphin konnte nicht schnell
genug draußen sein: Gehorsam ist das erste!

Am vierten Tage geschah dasselbe wieder, am fünften machte Dauphin
sein Lektiönchen ganz allein und bekam zwei Stückchen Zucker. Aber
am Abend zu den Vorstellungen durfte er nicht! Zwar riß er an
seiner Kette, als er sah, wie seine Kameraden aufgeputzt wurden und
hinausgehen durften in den grellen Lichterschein, allein niemand
kümmerte sich um ihn.

Bald kamen zu den allmorgendlichen Uebungen noch andere Pferde, auch
große, ganz große selbst, und auch der Freund Fuchs trabte eines Tages
mit Dauphin in die Manege und machte sein „~Changez~” ohne jeden Tadel.

Er hieß Wallenstein! Ha, welch eine Wonne für Dauphin, so in der Schar
der Großen und Kleinen, inmitten, denn Dauphin war größer als Miezi
und kleiner als Wallenstein ... so in der Schar als Jüngster sein
Kunststück zeigen zu können, nicht aufzufallen, nicht überzutreten,
sich vor allen Dingen nicht vorzudrängen! sein „~Changez~”
rechtzeitig, nicht zu früh wie hinten die kleine Miezi und nicht zu
spät wie fast alle zu erkennen! Und durch nichts zu verraten, daß man
doch der Jüngste war!

„Wallenstein und Dauphäng!” schrie dann der Direktor, und die zwei
Freunde mußten hinaus, indes die anderen weiterüben durften!

Ach, wie bald wurden die Uebungen schwerer! Dauphin sollte erst den
linken, dann den rechten Vorderfuß auf die Barriere heben und stehen
bleiben und zu den Leuten gucken, die da saßen: Madame, Turnerinnen in
nachlässigen Lumpen, Burschen, Sklaven, Männer mit scharfen Scheiteln
und gradlinig zugeschnittenen Koteletts! Nonchalant alle mit Zigaretten
zwischen den Lippen und lächelnden Publikumsgesichtern!

Das war nicht so leicht, wie es sich ansieht! Jedoch: keine Schläge
gab's dabei! Aber dann sollten auch die Hinterbeine auf die so schmale
Barriere! Dann mußte gegangen werden, gelaufen werden! Links eine
Peitsche, rechts eine Peitsche!! Wenn die Stunde vorüber war, wußte
Dauphin nie mehr, ob diese Peitschen ihn geschlagen hatten! Wenn diese
Stunden vorüber waren, so klopfte jeweils Dauphins Herz, der Schweiß
stand ihm in den Haaren, und der Schaum fiel in Schwaden von seinem
Munde.

Nicht einmal vierzehn Tage dauerte es, da konnte Dauphin auf der
Barriere schreiten und laufen, wie die Peitsche es wünschte! Das war
aber durchaus kein großes Stück; das konnte Miezi fast im Schlaf.
Immerhin mußte es für Dauphin eine bedeutende Leistung sein, denn an
einem der nächsten Abende durfte er hinterm braunen Samtvorhang stehen
und durch den Spalt hineinsehen in die Menge der fröhlichen Menschen.
Ja, als er seinen Kopf einmal recht weit vorstreckte, als der Bursche,
der ihn hielt, ihn sogar einen Schritt vortreten ließ, da fingen
etliche Kinder, die da in der Nähe saßen, an zu jauchzen und zu toben:
„Da Mama, sieh dies kleine Kerlchen, eben kommt's!”

Nein, es kam nicht!

Am andern Tage aber geschah es, daß dem kleinen Dauphin, bevor der
Unterricht begann, ein roter Sattel aufgeschnallt wurde, ein Sättelchen
aus rotem Tuch, das von roten Bändern festgehalten wurde. So in diesem
Staat durfte es alle seine Fertigkeiten zeigen: Rundlauf mit Changez,
Beine auf Barriere und -- sich nicht vor dem Publikum fürchten,
Rundlauf auf Barriere!

Herrjeh, herrjeh! Und am Abend geschah es wirklich: Dauphin wurde mit
den anderen Gäulen geschirrt, bekam etwas auf dem Rücken angeschnallt,
das er noch nicht kannte, und mußte am Vorhang freilich recht lange
warten, bis alle Leute vom „Tableau” aus der Manege verschwunden waren.

Husch, hinaus! Auf die Barriere!

Spar' deine Peitsche, Direktorle!

„Ah, aah, aaah!” rief die Menge, und Kinder krischen: „Pause!”

Dauphin lief rundum und schlüpfte wieder hinter den Vorhang, indes die
Leute von ihren Plätzen sich erhoben.

Dieses Schild, das die Pause ankündigte, mußte Dauphin von nun an immer
hinaustragen.

Aber das blieb keineswegs seine Hauptbeschäftigung, deshalb hatte
man ihn nicht eigens angekauft, wie man Kräfte für allerhand Dienste
braucht! Nein, nein! Dauphin war zu anderen Sachen auserlesen, wußte
das offenbar und trug sein Schild so gern hinaus, wie Agnes Sorma mit
dem Staubtuch einst an der Fensterbank stand.

Es geschah, daß die kleine Miezi wieder ihren schlimmen Tag hatte!
Sie lief wie gewöhnlich am Ende der Reihe, die von einer halbgroßen
Stute namens Lore geführt wurde. Rief der Direktor: „Komm her!” so
hieß es rasch in höchster Ordnung nach der Mitte zu einschwenken und
daselbst zu Seiten des Dresseurs zu stehen, bis ein neuer Befehl kam.
Dieser neue Befehl hieß gewöhnlich -- wer wüßte das nicht schon! --
„~à genoux!~” Beim ersten Rufen klappte alles sehr gut, und die sieben
Tiere standen Schulter an Schulter nebeneinander im verjüngten Maßstab,
Dauphin in der Mitte, Miezi am äußeren Ende. „~À genoux!~” knallte der
Befehl, und die Peitschenschmicke züngelte vor den vierzehn Knien,
bereit, ein jedes und alle zugleich zu stechen.

Dauphin, der in diesem Stück fast noch ein Neuling war, fiel zuerst
auf die Knie und jubelte um sich her mit den Augen, ob er's vielleicht
nicht schon am besten mache? Nacheinander und mit großer Mühe sanken
die Genossen, aber die Miezi draußen kam nicht herunter! Die Peitsche
trommelte an ihren Unterschenkeln, die Stimme des Direktors stieß wie
aus Karnevalstrompeten an Dauphins Ohren vorbei und umher in allen
erregten Tonlagen: sie kam nicht nieder, und die Reihe ward unruhig und
konnte nicht länger unten bleiben.

„Auf! An die Plätze! Die ganze Familie!” donnerte der Dresseur, und
sogleich schoß die Führerin nach der Barriere, und die übrigen folgten.

Miezi, gänzlich verwirrt, konnte ihren Platz nicht finden, lief
neben, außer der Reihe, wollte sich erst vor Dauphin, dann hinter ihm
eindrängen, und die Peitsche knallte umher, traf Dauphin, verzögerte
seinen eiligen Schritt, und Miezi schob sich vor ihn und raste mit
voran. Die Peitsche züngelte nicht mehr, surrte vielmehr von oben herab
auf Miezis Kopf, immer heftiger, immer heftiger im rasenden Rundlauf.

Miezi feuert nach hinten aus, trifft Dauphin an den Kinnbacken. Dieser
hat nicht Zeit, an den Schmerz zu denken, rast weiter in der wirren
Runde, stößt gar den Kopf an Miezis Backen, um sie, das unglückliche
Kind, aus der Reihe zu bringen, und im selben Augenblick springt ein
Bursch herzu, packt Miezi am Halfter und zerrt sie zurück auf ihren
Platz.

Daselbst aber fängt für Miezi erst recht die Drangsal an. Der Bursche
rennt mit und haut unausgesetzt auf das Tierchen drein mit der kurzen
Peitsche.

Der Führerin vorn an der Tete knirschen die Zähne, Dauphin trägt Schaum
am Munde, die lange Peitsche knallt, die kurze klatscht.

Soll der tolle Wirbel nicht enden? Kann Miezi überhaupt noch mittollen?
Lebt sie noch? Dauphin dreht im Laufen die Augen zu ihr hin, und
sogleich schneidet die Peitschenschmicke über seine beiden Ohren. Laut
kreischt der Dresseur, was man nicht mehr verstehen kann. Oft zischt
das Wort: „So siehste aus!”

Plötzlich aber zerreißt Dauphin die Kette; die Peitschen verlassen die
arme Miezi und stürzen sich auf Dauphin. Er spitzt nach dem Ausgang,
er sieht, wie Miezi nunmehr ohne Tadel ihren Platz innehält und sucht
auch den seinen wieder.

„So, so, so ist's gut, so ischt's guat!”

Des Direktors Stimme flutet in wohligem Wellenschlag durch das Zelt,
bald hoch, bald tief, wie ein Lied, ein schmeichelnder Gesang!

„Komm her!” heißt es nun wieder.

Die Führerin biegt ein, die Schultern reihen sich aneinander:

„~À genoux!~” ertönt's jetzt wieder streng und roh.

Miezi kommt nicht herunter, und Dauphin hockt auch in halber Senkung
und kommt nicht nieder.

„Schluß!!”kreischt der Direktor, und seine Stimme zerflattert wie eine
Fahne alter Veteranen.

„Dauphin und Miezi bleiben! Die andern ab!”

Die Gasse am Ausgang öffnet sich, eiligst strömen die fünf Befreiten
hinaus. Er wirft die lange Peitsche von sich, der Herr Direktor, der
Bursch gibt ihm die kurze.

Miezi torkelt; ein Schlag hält sie aufrecht! Auf ihrer Stirn scheint
die Wunde aufgebrochen zu sein: ein Strömlein Blut rinnt über die weiße
Nase. Der Direktor wendet sich an Dauphin: „Soll ich auch dich durch
den Kakao schleifen?” kreischt er.

„Soll ich Miezi fortführen?” fragt der Bursche. Der Direktor winkt:
fort!

„Na, und du, Proletarier, was ist denn dir in den Schädel jestiegen,
he, wat?”

Dauphin scharrt mit dem linken Vorderfuß, der Lederriemen klatscht
darauf: „Hab' ich wat jesagt, he? Willst wohl zeigen, daß du's
jutmachen willst, Jünklink! Hast Angst vor Haue, wat?”

Aller Augen richten sich auf Dauphin, dem anscheinend kein gutes
Stündlein bevorsteht. Ein Bursch zieht die Kappe, nimmt zwei
Zigaretten heraus, gibt eine einer Dame und zündet beide an.

„Hast nisch ooch eene pour moi?” fragt der Direktor, und der Bursch
holt eine dritte aus der Mütze und gibt Feuer. Schweißtropfen hängen in
den Lederriemen des Direktorengesichts. Er tut ein paar Züge und wirft
die Zigarette von sich, er faßt die kurze Peitsche und spuckt nochmals
in die Hände ...

Da geschieht ein Wunder! Am Eingang erscheint eine Frau und trägt ein
halbjähriges Kind auf den Armen.

„Ah! Aaah Aaah!” schreit alles, was da ist in dem Zelt, alles bewegt
sich nach dem Kinde hin, und selbst der Direktor läßt die Peitsche
sinken, streckt, indes er zu Mutter und Kind geht, die Hand nach dem
Burschen, der ihm eine Zigarette gegeben, bekommt eine, zündet sie an
und nimmt das Kind auf seinen garstig tätowierten Arm.

Trägt's in die Manege, sagt:

„Da guck, Jochem, was eine liebes Gäulchen!”

Und zu allen rundum sagt er:

„Dieser Dauphin gehört meinem Jochem!” worauf der Vater des Kleinen
hinterher ruft:

„Ich halte Sie beim Wort, Direktor!”

„Da guck, da guck! Dauphin, verfluchtes Sauvieh, guck dir den Jochem
an!”

Er setzt Jochem auf Dauphins Rücken, und der ganze Zirkus ist im
siebenten Himmel. Dauphin trabt einher, eine kleine Tänzerin hoppst
herbei wie ein Flugzeug, das angekurbelt ist, schwingt sich auf
Dauphins schmalen Rücken, nimmt das Kindchen auf den Schoß und reitet
so dahin, wirft's in die Luft, fängt's wieder, küßt es, drückt es an
sich und jauchzt wie die Menschen hinter den Bergen vor Freiluft und
Freude. Wer jauchzt da mit? Wer schweigt da noch?

Dauphin, Dauphin, du hättest die Freude der Freiluft schon vergessen?

Ha, Dauphin streckt, indes er wacker weiterläuft, den Kopf weit nach
vorn und stößt einen Schrei aus, der seltsam klingt wie eine Schalmei
aus Weiden, wie ein Hirtenlied auf der „Zeil”.

Nur ein Viertelstündchen währt das fröhliche Zwischenspiel, die kleine
Tänzerin seilt sich an, klappst Dauphin auf den Schenkel und sagt:

„Fort, Kleinzeug, mach' morgen deine Sache besser!”



XI


Dauphin machte am nächsten Tage seine Sache wieder besser, wie er
überhaupt ein gelehriger Schüler war! Allein trotz aller Gelehrigkeit,
trotz alles besten Willens geschah es sehr oft, daß Dauphin die große
und die kleine Peitsche zu verspüren hatte, und wenn die Menschen,
da er seine Errungenschaften ihnen darbot, Freude empfanden an ihm,
wenn die Kinder ihn bejubelten mit ihren kleinen Händen, so dachten
sie nur selten daran, daß hinter dieser Stellung vielleicht hundert
Geißelhiebe staken, daß dieser so überaus lustige Sprung vielleicht
tausend Geißelhiebe beansprucht hatte! „Mit Wunden ganz bedecket”,
zerschlagen, zerschunden an Leib und Seele kam Dauphin oftmals in
die fröhliche Arena, aus den Händen der Häscher, aus dem verruchten
Lederriemengesicht des Direktors in die überzuckerte freundliche Miene
des Abends angesichts der Menschen, die ergötzt sein wollten! Hundert
Stunden höchste Qual für ein Viertelstündchen Menschenbelustigung!
Hundert Stunden Erniedrigung für ein Viertelstündchen kleinfrohe
Menschenlaune!

Trotz aller Qual behielt Dauphin doch den inneren Frieden, die Freude:
den Menschen Freude zu bereiten, sei es, daß durch eine überaus
glückliche Veranlagung seine Seele all ihre Leiden, die zur Freude der
Menschen führen sollten, leicht ertrug und leicht verwand, sei es,
daß die göttliche Meinung des Bauern Klaus: glücklich machen heiße
glücklich sein! in dieser Seele Dauphins heilsam wirkte!

Untrüglich und jedem zugänglich, der Sinn für Seele hat, lebte ein
großes Mitleid in Dauphin, eine Lust, Leiden tragen zu helfen, Leiden
mindern zu helfen, und es muß gesagt sein, daß die meisten Schläge,
die er erhielt, freiwillige Schläge waren, indem er oft und immer
wieder die entfesselte Wut des Dresseurs von seinen Kameraden auf sich
ablenkte.

Es fiel dem Direktor bald auf, daß alle Dressuren, die er mit Dauphin
allein vornahm, rasch und bestens sich erledigten, während die
Korporationsdressuren, anstatt durch Dauphins Mitwirkung sich zu
erleichtern, keineswegs einen Vorteil von ihm hatten.

So kam es, daß, als Dauphin die elementarsten Begriffe der Kunst besaß,
daß er an einen Zirkus verkauft wurde, der sich einen Solisten seiner
Art eher leisten konnte.

Als Dauphin abgeholt wurde, lag Frühlingsschnee auf den Zelten,
und Burschen gingen mit langen Stangen, an die oben quer ein Brett
genagelt war, umher und schüttelten die Schneemassen von den tief
hereinhängenden Dachzelten. Dauphin mußte, bevor er abgeführt wurde,
sein gesamtes Können vor den Augen des neuen Herrn entfalten, und vor
Eifer und Freude brach ihm der Schweiß aus allen Poren. Die Burschen,
die ihn liebgewonnen hatten, rieben ihm den Schweiß aus den Haaren, und
der neue Herr wunderte sich und fragte, ob Dauphin überhaupt so leicht
schwitze?

„Keineswegs!” entgegnete der alte Herr, „der Eifer steckt in ihm,
es rumort überhaupt allerlei Gutes in dem Kind; er eignet sich zum
Steiger, er hat Musike im Bauch, und wenn es gut geht, bringt er's zu
was ordentlichem!”

Auch Wallenstein, der die Elementarschule erledigt hatte, zog mit
Dauphin zusammengekoppelt fort in den größeren Zirkus, der in
der Nachbarstadt weilte. Sie fuhren nicht mit der Eisenbahn, sie
marschierten zu Fuß der Stadt entgegen, die kaum drei Stunden entfernt
lag.

An einem Abhang pflügte ein Bauer mit zwei dicken Ackergäulen.
Wallenstein ward unruhig, drehte oft den Kopf nach der Feldarbeit und
zog leise aber stets an der Koppel, so daß Dauphin gar nicht leicht zu
gehen hatte. Was wollte er nur? Er wieherte, daß dem kleinen Dauphin
der Speichel an die Nüstern spritzte, er peitschte mit dem Schweif, er
trug die Ohren hochgestellt, und endlich geschah etwas: Wallenstein
riß so heftig an der Koppel, daß Dauphin nicht widerstehen konnte,
vielleicht auch nicht widerstehen wollte, und im Nu feuern die beiden
Freunde seitab und rasen über die Aecker den Abhang hinan in hellem
Galopp querfeldein. Der zierliche, weißgebleßte Dauphin spürte zwar
Schmerzen am Munde, aber was sind denn Schmerzen gegen Freude? eine
Wonne, mit dem starken Wallenstein auf- und davonzugehen! Er möchte
größer sein, stärker sein, hurra, er möchte den starken Wallenstein
selber noch fortreißen können, irgendwohin fort, er möchte Führer
sein, Verführer, er möchte den großen Kerl verführen zu allerlei losen
Streichen!

Die Häscher kamen natürlich! Wallenstein wurde gepeitscht, Dauphin
nicht! Dauphin sah großäugig und neidisch zu, wie Wallenstein
angesichts der Ackergäule gepeitscht wurde, und blieb verschont!
Ordentlich mitleidig sahen die schweren Kerle aus den Augenwinkeln auf
Dauphin herab, als sei er der Verführte, als sei er nur mitgezerrt
worden und sei schuldlos wie ein Kind.

In diesem neuen Leben gefiel es Dauphin besser als früher. Nur selten
brauchte er mit den übrigen Pferden zu exerzieren, um so öfter aber und
um so länger mußte er vor dem neuen Direktor seine Uebungen machen.
Mit großer Leichtigkeit erlernte er alles, was man von ihm verlangte:
er stellte sich auf die Hinterbeine, und es dauerte nicht lange, so
entwöhnten sich die herabhängenden Vorderbeine, lästig zu zucken, zu
schlagen und überängstlich zu tasten nach einer Stütze! Musik begann
oft zu erschallen, wenn er so stand, der Direktor fuchtelte graziös mit
den Händen in der Luft herum und summte die Melodie mit und sang dazu:

    „~L'amour est l'enfant du bohême,~
    ~Elle n'a jamais, jamais connu de loi!~”

Heisa, wenn auch noch die Peitschenspitze an Dauphins Hinterhufen
herumzutrommeln anfing, so konnten sich diese Füße nicht mehr halten
und trippelten dahin und dorthin und erhaschten bald den Taktschlag
der Weise! Da konnte der Herr Direktor getrost seine Peitsche beiseite
werfen und näherkommen! Konnte ganz nahekommen, konnte seinen linken
Arm über Dauphins rechtes Bein, den rechten unters linke Bein schieben,
so daß seine Brust des Pferdchens Brust berührte, und: Kinder! Kinder!
habt ihr schon so etwas gesehen? Sie tanzen miteinander, sie tanzen
miteinander, der Direktor tanzt mit eurem kleinen Freunde Dauphin!

Das vollbrachte Dauphin! Er vollbrachte, was man von ihm verlangte: er
zählte die Jahre seines jungen Lebens, und wenn er dabei sieben angab
und also log, so war das seine Lüge nicht! Er zählte die Stunden des
Tages, die Lebensjahre eines jeden Menschen, der sein Alter nicht mehr
zu wissen schien, er holte aus dem Publikum jenen Kerl heraus, der
seinen Namen „Dauphin” norddeutsch ausgesprochen hatte „Dauphäng!” Er
fand den versteckten Gänsedieb, wo immer auch er sich versteckt haben
mochte, er schoß mit dem linken Vorderfuß eine Kanone ab und mehr, er
verbeugt sich höchst manierlich vor seiner Königin!

Kinder, Kinder, so etwas habt ihr noch nirgends gesehen! Euer Spielzeug
daheim hat eine Feder im Bauch, aber Dauphin hat eine Seele! Kein
Wunder, daß die Kinder das kleine Gäulchen mit der weißen Blesse
so gern hatten! Die Kinder des ganzen Reiches kannten ihn, liebten
ihn, träumten von ihm wie vom Weihnachtsbaum! In den Zeitungen lasen
sie über ihn, wenn er kam, wenn er gastierte, wenn er ging. An den
Plakatsäulen sahen sie ihn in hellen, fröhlichen Farben, und vergaßen
ihre Schule und ihren Mittagstisch. Wenn sie mit ihren Eltern im Zirkus
saßen, wollten sie nichts anderes sehen als Dauphin. Wenn sie die
Ställe besuchen durften, wollten sie nichts anderes sehen als Dauphin.
Väter photographierten Dauphin. Ein ganz kleines Kind kam einmal im
Stall auf Dauphin zu und sagte: „Ich heiße Tarl Tnöpfle!”

So also sprang Dauphin Abend für Abend im Lichte der Arena umher durch
den Beifall der von ihm beglückten Menschen, bald in dieser, bald in
jener Stadt.



XII


Den tollsten Abend aber, zugleich den glorreichsten und
erkenntnisreichsten, erlebte Dauphin kurz vor Ausbruch des Krieges in
jener rheinischen Stadt, die sich wie eine Braut in den liebenden Arm
des Flusses schmiegt.

Als er seine Kunst so weit beendet hatte, daß er meinte, nun müsse er
hinaus aus der feierlichen Arena, da kam der Direktor nochmals auf ihn
zu, zog ihm vor allem Volk das goldbetreßte Purpurmantelettchen aus und
nahm den weißen Husarenbüschel von seiner Stirn, so daß er schließlich
ganz nackt dastand. Vom hohen Thron herab fragte der König laut und mit
großer Handbewegung schräg nach oben, daß all seine Ringe aufblitzten:

„Was kannst du noch, Freund Dauphin?”

Dauphin schüttelte den Kopf.

„Sonst kannst du nichts?” fragte schelmisch die sanfte Königin und
lächelte und schüttelte das gekrönte Haupt, als wisse sie genau, daß
Dauphin noch etwas ganz Besonderes könne, und zu ihrem hohen Gemahl
sagte sie hinüber:

„Versprachen Sie mir nicht: Dauphin übertreffe seinen Ruf?”

Da kam zum Glück der Direktor mit seiner Leiter, und nun fiel es dem
kleinen Gäulchen ein, daß es noch etwas könne: Es stieß heftig den
Atem durch die Nüstern, sah zu den zwei Buben, die bei einem Offizier
saßen, die es schon öfter betrachtet hatte, als spiele es nur für sie,
und schritt so seinem Direktor entgegen. Dieser stützt die Leiter auf,
und Dauphin hebt den linken Vorderfuß auf die erste Sprosse der Leiter,
dann den rechten und steigt so Sprosse um Sprosse hinauf bis zur
fünften. Nun wirft er den Kopf hoch, drückt sich ab, steht frei, fest
und stabil, ohne den Schwung der Freidressur, auf den Hinterbeinen
und marschiert so im raschwechselnden Rhythmus der volldröhnenden
Musikkapelle in allen Gangarten durch die Arena hin. (Die Kinder denken
an ihr Spielzeug, das eine Feder im Bauch hat!)

Der Marsch bricht ab! Dauphin steht wieder auf den vier Beinen. Einen
Augenblick nur steht er so da und rennt nun im Kreise herum, toll
vor Glück, schießt nacheinander sieben Kanonen ab, auf denen der
kaiserliche Adler prangt, und rast durch den Vorhang hinaus.

Kommt sofort wieder, läuft schnurstracks auf die beiden Buben zu, biegt
kurz ab, als habe er sich geirrt, und kniet plötzlich vor dem Thron des
Königs und der Königin nieder.

Und nun geschieht's: Die Königin erhebt sich von ihrem Thron! Mit einem
blauen Seidentüchlein wischt sie sich über die feuchten Augen, kommt
herab zu Dauphin, beugt sich weit vor, daß ihre Gewänder steil von den
schmalen Schultern herunterfließen, daß ihre Krone fast wankt, und küßt
Dauphin auf die weiße Blesse ...

Dauphin hört und sieht nichts mehr, hält die Augen geschlossen und
spürt diesen warmen Kuß auf der Stirn. Er reckt geschlossenen Auges den
Kopf steil in die Höhe, entblößt die Zähne von den Lippen, läßt den
Kopf niedersinken, läßt ihn tief herabsinken und weiß offenbar nicht,
was er tun soll.

Zwar hört er allerlei Geklopf und Getick, aber er verharrt in seiner
Verzückung, und die Menschen klatschen ihm und lächeln sich an vor
Glück und Freude über das geküßte Kind.

Als Dauphin dann doch die Augen aufschlägt, schleppen Sklaven und
Sklavenpferde den Thronsaal, ein werktägiges Balkengerüst, fort, eine
Dame hängt am Trapez, und alle Leute sehen nach der Dame! ...

Da springt Dauphin auf und davon und schämt sich, weil er es so eilig
hat! Der Wärter empfängt ihn draußen, die Menge klatscht wieder, die
Kinder rufen nach ihm, aber der Wärter zerrt ihn an den Ohren am großen
Spiegel vorbei nach dem Stalle zu.

Vor den Ställen stehen fünfundsechzig Pferde beisammen. Mit Ehrfurcht
in den Augen sehen sie den kleinen Dauphin kommen, lassen die Köpfe
hängen, bewegen sich nicht, heben die Augen und sehen gleich wieder
weg. Wallenstein steht auch da; er knappert mit den Zähnen am Randblech
eines Wagendaches. Dauphin schiebt sich zu ihm hin. Der Große läßt den
Kopf über den Hals des Kleinen sinken, als wolle er das Wunderkind
beschützen, und dieses reibt die Stirn an den straffen Lippen
Wallensteins: der Kuß der Königin brennt ihn!

Der Direktor kommt herzu, gibt Dauphin ein Stück Zucker und sagt:

„Heut Nacht darfst du bei Wallenstein schlafen!”

Der starke Wallenstein tritt mit dem feinnervigen Künstler Dauphin in
sein Stallzelt. Sie fressen aus einer Krippe und legen sich bald zum
Schlafe nieder, und Dauphins Köpfchen ruht auf Wallensteins festem
Halse.

Dauphin kann nicht einschlafen: er spürt den Kuß der Königin auf der
Stirn und sieht auch wohl den großen Spiegel vor Augen. Dann schläft er
doch ein Weilchen: es ist ihm, als kämen tausend Kinder zu ihm in die
Arena, als streichelten sie ihn, als küßten sie ihn alle auf denselben
Fleck der Stirn.

Er erwacht wieder, schiebt den Kopf nach Wallensteins Ohren und reibt
dort hin und her, und Wallenstein schnarcht, hebt den Kopf und läßt ihn
wieder sinken und schnarcht weiter.

Steif hochauf reckt Dauphin den schlanken Kopf in die stille Nacht der
Genossen und läßt die schweren Lippen von den Zähnen weghängen und die
breiten weißen Zähnchen aufleuchten.

Am Morgen, da Dauphin, allen Schmuckes bar, zur Probe am Spiegel
vorübergeht, sieht er auf seiner Stirn sicher zum erstenmal in seinem
Leben die weiße Blesse!

In dieser Stadt überraschte den zarten Dauphin der garstige Krieg.



XIII


Eines Abends fehlen bei der Vorstellung die bunten Offiziere, die
Menschen reden lauter und kargen mit Beifall. Und mitten in der
Nacht, da alles schon schläft, werden plötzlich in allen Zeltställen
die Lichter angedreht, alle Pferde werden in die Arena geführt, und
Offiziere suchen die stärksten und schönsten aus und stellen sie zu
Paaren.

Wie Dauphin sieht, daß auch Wallenstein mit ausgemustert ist, läuft er
zu ihm hin.

Ein Offizier aber schlägt ihm verächtlich auf die Backen, sagt: „Na
Kleiner, dich wollen wir hier lassen,” und zerrt ihn weg. Dauphin aber
möchte bei Wallenstein bleiben! Und wie die Pferde mit den Offizieren
fortziehen, läuft er nochmals zu Wallenstein hin und wird wieder
fortgejagt.

„Fort zurück, ihr da, in den Stall!” ruft der Direktor, und Dauphin
geht in seinen Stall. Die Löwen brüllen in den Käfigen, die Affen
kratzen an ihren Holzwänden, auf dem Pflaster der Straße vorm Eingang
zum Zirkus tuten und schollern Automobile, und Pferde trappeln in
endlosen Prozessionen durch die Nacht. Das Getrappel foltert den
kleinen Dauphin.

Morgens fand keine Probe statt. Wenn die Sacktür des Stalles sich
hob, sah Dauphin den blauen Wohnwagen des Direktors stehen. Künstler
fütterten, Künstler halfen das große Zelt abschlagen, Künstlerinnen
trugen die Schürzen der Wärter.

Wenn Dauphin sich die übriggebliebenen sieben Pferde ansah, ward
er traurig: Keiner von ihnen wußte anzugeben, etwa wie alt er sei,
wieviel Uhr es sei, keiner konnte auf den Hinterbeinen laufen; es
waren simple, halbstarke Reitpferde für Akrobatinnen, Sklavenpferde,
Sklaven samt und sonders! Der kleine, überaus hellweiße Schimmel,
dessen Fußhaare über die Hufe gekräuselt herabhingen, der äußerst
oberflächlich in Kunst und Wissenschaft war, konnte wenigstens durch
einen Reif springen! Dauphin war sehr traurig.

Was mochte nur los sein? Warum durfte Dauphin nicht dabei sein?

Dauphin wurde mit seinen sieben Genossen zu zweimal Vieren
zusammengekoppelt und gleich einer Kinderschule ausgeführt. Alle
Straßen der Stadt und alle Straßen außer der Stadt waren voller
Soldaten; Regimenter marschierten dahin und dorthin und sangen,
Automobile, mit dem roten Kreuz geschmückt, rasten, hundert
hintereinander, die Hauptstraße hin, Pferde und immer wieder Pferde,
mehr Pferde als Menschen!

Auf der Brückenrampe sah Dauphin seinen Freund Wallenstein, der
mit fünf dicken Gäulen eine riesige Kanone die Rampe hinaufzog. Als
Wallenstein Dauphin sah, wieherte er, schlug einen leichten Trab an und
zog ganz mörderisch an seinen Strängen. Welch eine Wonne mußte das sein
für ihn!

Wie gern hätte Dauphin geholfen, mit der Kraft seiner Muskeln die
Kanone ziehen, -- er hatte in der Arena schon manche Kanone gezogen
--, aber er war an den schäbigen Rest der einstigen Zirkusherrlichkeit
gefesselt und konnte sich nicht befreien. Seine Augen wölbten sich und
bettelten: „Wallenstein!! Komm, Großer, Starker, hilf, hilf doch deinem
kleinen Freunde!” Aber der hatte keine Zeit, und Dauphin mußte zurück,
heimzu, hinter seine Sacktür.

Täglich wurden die Acht ausgeführt. Die Sieben foppten Dauphin, rissen,
wenn er außen ging, die Koppel nach links, daß er mit den Hinterbeinen
aus dem Glied treten mußte und vom Wärter einen Schlag bekam. Wenn
er innen ging, zerrten sie sich nach den Seiten von ihm weg, daß die
Wärter meinen mußten, er, Dauphin, sei der Störenfried, der seine
Nachbarn belästige. Ging er im vorderen Glied, so wurde er gekitzelt,
ging er im hinteren, so flog ihm irgendein Pferdeschweif über die
Augen. Es geschah selbst, daß der oberflächliche Schimmel, nur um dem
Wärter darzutun, er sei belästigt worden, aufs Geratewohl nach hinten
gegen Dauphin ausfeuerte und zurücksah, und der Wärter, der seine
Pferde nicht kannte -- und besonders Dauphin nicht kannte --, sah
seitab nach den lauten Dingen der Straße, und hieb ohne weiteres immer
auf Dauphin ein. Oh, wenn Wallenstein dabei gewesen wäre!

Eines Tages kam ein Offizier mit breiten, roten Streifen an den
Beinkleidern. Er hielt eine Zeitung in der Hand und sagte:

„Wo ist Dauphin?”

Dauphin wurde losgebunden und aus dem Stall geführt, und die sieben
Gesellen mußten zurückbleiben. Der Offizier strich ihm über die Ohren
und sagte:

„Stark genug ist er schon!”

„Er hat Qualitäten und steht auf dem Höhepunkt seiner Kraft,”
entgegnete der Direktor, und Dauphin, der die Stunde der Befreiung,
die Stunde seiner Tauglichkeit ahnte, nickte lebhaft mit dem Kopfe
und scharrte mit dem linken Vorderbein, spürte fast den stolzen
Husarenbusch, den er seit Wochen nicht mehr getragen, zwischen
seinen Ohren schwanken und streckte die Nüstern gegen des Befreiers
braunbekleidete Hand.

„Wie alt bist du, Dauphin?” fragte der Offizier freundlich, und der
Direktor machte sein Geheimzeichen und sprach:

„Na, sag's dem Herrn General, wie alt du bist!”

Und Dauphin nickte siebenmal mit dem Kopfe.

Dann sah er von der Straße her zwei Buben am blauen Wohnwagen vorbei
herzulaufen. Die Buben riefen schon von weitem:

„Der Dauphin, der Dauphin!” und schwangen die Mützen und kamen herbei,
und Dauphin reckte den Kopf längs zu ihnen hin und zeigte seine Zähne.

Der eine konnte Dauphin die weiße Blesse streicheln, den anderen mußte
der General heben, daß er es auch tun konnte.

Der Große zog seine Uhr aus dem Matrosenblüslein, hielt sie Dauphin hin
und sagte:

„Na, wieviel?”

„Können Sie bis zwanzig zählen, Dauphin?” fragte der Kleine.

„Geduld, Jungens!” sagte der General, und der Direktor ließ Dauphin bis
zwanzig zählen und ließ ihn die Uhr ablesen, und der Große beobachtete
genau das Geheimzeichen des Direktors.

Dann mußte Dauphin mit den Buben übern Platz laufen, rundum, so schnell
er konnte, und dann lief er noch lange allein, da die Buben schon müde
waren und auf den im Erdboden steckengebliebenen Zeltpfählen hockten.

Der General hob nunmehr die Sacktür, und Dauphin schlüpfte in den
Stall. Der General kam, der Direktor, der Wärter und die Buben kamen;
aber Dauphin wurde angebunden, und alle gingen wieder fort.

Dauernd sah Dauphin nach der Sacktür, und alle seine Gefährten sahen
hin und machten große, glotzige Augen wie Kühe.

Und siehe, gegen Abend -- Dauphin war ganz allein im Stalle --
schlüpften die Generalsbuben herein, banden sich Dauphin los und
stürmten mit ihm, der stets zu tollen Streichen aufgelegt war, übern
Platz an den Wohnwagen, und am Wohnwagen hob ein Soldat aus einem
zweiräderigen, gelbgestrichenen Kastenwägelchen ein Kummet und schob
es Dauphin übern Kopf. In die Schere ward Dauphin eingeschoben, die
Buben sprangen auf, der Soldat sprang auf -- Dauphin hatte in der Arena
schon allerhand Wagen gezogen und sogar schon Kanonen -- und husch
gings übern Platz hin und her und rundum und dann hopp, hopp, übers
Pflaster in die Stadt hinein durch alle Straßen hin, an hunderttausend
Menschen vorbei und zur Stadt hinaus an den Fluß. Eine Wonne war's, mit
eigener Muskelkraft solche Dinge zu vollbringen! Dauphin achtete, ob
nicht der weiße Husarenbüschel an seine Ohren wedele, ob nicht seine
goldverbrämte Purpurdecke ihn jucke oder sonstwie sich bemerkbar mache.

Eine winzige Kaserne war in die Erde gebaut, und nur die Seite, wo
Drilchsoldaten Pfeife rauchten, war zu sehen. Ueber dem Portale stand
dick in schwarzen Lettern: Fort Großherzog von Hessen! Der größere
Preußenbub bog sich zum Soldaten und sagte:

„Nach Fort fehlt ein Komma oder ein Ausrufezeichen!”

„Oho!” entgegnete der Soldat, „das werd' ich aber Madame sagen, daß du
nicht weißt, was ein Fort ist, und daß du gar einen gekrönten Fürsten
aus seinem Reich vertreiben willst!”

Draußen am Fluß stellten sich die Buben im Wagen auf und nahmen Leine
und Peitsche, und der Soldat blieb sitzen. Sie schlugen Dauphin an die
Lenden, aber das tat nicht weh! Dauphin lief wie noch nie in seinem
Leben, und sein Herz flog vor ihm her.

Drüben im Schatten trottelte die verwahrloste Kleinkinderschule. Als
Dauphin sie kaum gesehen, war sie schon hinter ihm. Dauphin wieherte
laut, was heißen konnte:

„Schreit doch, ihr Generalsbuben, lacht doch, schlagt mich doch, tobt
euch doch aus an mir, ich bin auf dem Höhepunkt meiner physischen
Kraft!”

Ein großer Sandplatz schob sich in den Wald hinein zu beiden Seiten
der Straße. Ein Flieger stieg hinten auf, ließ Leuchtkugeln rudelweise
in die Dämmerung fallen; Kanonen, die auf Wällen standen, richteten
ihre Rohre nach ihm, und Kommandos erschallten weithin. Infanteristen
gingen, ausgeschwärmt, durch die Gräben über die Straße, rasselten an
den Schlössern ihrer Gewehre, und viele verloren, weil sie vor dem
rasenden Dauphin förmlich flüchten mußten, in der Eile etliche ihrer
Patronenhülsen.

Tausend Gäule -- war nicht Wallenstein dabei? -- trabten am Waldrand,
indeß Kanoniere, an langen Seilen geschultert, schwere Geschütze durch
den Sand zogen. Hinterm Wall aus dem Wald kam heftiges Geknatter, und
Dauphins Fußeisen knatterten nicht minder heftig auf der Steinstraße.

Plötzlich stand der General da mitten auf der Straße, Dauphins Befreier!

Dauphin rannte zu ihm hin und blieb halten. Aus seinen Nüstern stieß
sich sein Atem, sein ganzer Körper dampfte, die Adern am Kopf waren
fingerdick geschwollen: Das war die Kraft, die in ihm stak, die sich
freimachte und ihn so beglückte, so überaus beglückte! Doch plötzlich
senken sich die Lider über die jungfrohen Augen und Dauphin bricht
zusammen, kugelt auf den Rücken und streckt die vier Beine zum Himmel.

Als er daheim im Stall wieder erwachte, fühlte er sich so von allem
Physischen befreit, daß seine Seele wie in Gedankenanflügen sich
ergehen konnte. Er, Dauphin, gehörte doch gleich Wallenstein unter die
Soldaten, in die Menge, in die körperliche Arbeit, zu den Strapazen!
Was ist Kunst, und was ist Wissenschaft, was ist selbst der Kuß einer
Königin?

Dauphin hielt die Augen noch geschlossen, aber er sah mit diesen
seinen Augen! Er sah Soldaten schiefgebuckelt um Kanonen rennen, sah
einen Berg voller Soldaten! Ein Gebirge war statt mit Bäumen mit
Soldaten bewachsen, Soldaten sah er aus dem Erdboden aufwachsen;
Pferde schoben sich, wo sonst Wasser hinströmte, unendlich hin, und es
war ihm, als sähe er Wallenstein neben sich im Straßengraben liegen,
Wallenstein, den mächtigsten von allen. Ja wirklich, Wallenstein reckte
die vier Beine zum Himmel auf, und aus seiner Stirn, dort, wo Dauphin
von der Königin geküßt worden war, floß rotes Blut.

Dauphin hörte deutlich schießen und tat die Augen auf.

Der Direktor stand da bei ihm in dem fremden Stall, der Wärter rieb mit
Stroh an seinem Leib herum, der General stand da und die Buben mit den
Schulranzen, und der Kleine hatte den Daumen im Mund.

Dauphin sprang auf, nickte, beschnupperte der Buben fröhliche
Haarbüschel und wieherte schon wieder vor Freude. Aber dann wurde er
vom Wärter fortgeführt, und es ging nicht etwa auf den Exerzierplatz,
sondern wieder zurück am blauen Wagen vorbei, durch die Sacktür in den
Stall zu den Sieben.

Die Sieben wurden wieder spazieren geführt, und Dauphin blieb daheim.
Und Dauphin sah, solange er allein war, nach der Sacktür, ob nicht
der General käme, oder der Soldat, oder sonst ein Soldat, und niemand
kam. Der Wind wehte an der Sacktür herum, und manchmal sah Dauphin den
blauen Wohnwagen stehen.

Die Sieben kamen zurück, und am nächsten Tage mußte Dauphin mit ins
Freie spazieren, und die Qual begann wieder und dauerte -- der Direktor
ließ sich auch nicht mehr sehen -- viele Tage lang.

Bis wieder einmal ein Soldat in den Stall kam, der alle Pferde mit
Namen kannte und Dauphin besonders liebkoste und alles so tat, wie's
ehedem der Direktor getan hatte. Und wie er Dauphin ein Stück Zucker
hinhielt, erkannte Dauphin, daß der Soldat niemand anders war als der
Direktor selber. Da freute sich Dauphin über die Maßen und riß an
seiner Kette. Der geliebte Direktor redet in seltsam langgezogenem,
klagendem Tone allerhand mit Dauphin, was Dauphin zwar nicht ganz
verstand, was aber dennoch sehr schön und gut war, und zog dann seinen
Säbel aus der Scheide und hielt ihn Dauphin an die Augen.

Und Dauphin bekam ein bißchen Angst vor dem blanken Stahl, wie Isaak
vor seinem Vater Abraham, streckte den Kopf ganz wagrecht vor, hob die
Nüstern und beschnupperte, freundlich aus den Augen zu ihm lächelnd,
daß der Direktor doch nicht etwa ..., dessen Hand.

Der Direktor nahm Dauphins Kopf untern Arm und sagte:

„Unser buntgekleidetes Künstlertum ist zu Ende, mein Lieber, und die
Kunst schlechthin wird stark angerannt werden! Aber du lieber Himmel,
was ist denn auch die Kunst, was sind denn unsere Kunststückchen,
was steckt denn dahinter? Du hast es ja durchgemacht unter meiner
Peitsche, Dauphin! Ich habe dich gepeinigt, ich habe dir die Lenden
verhauen, einmal -- ich weiß das nur zu genau -- da habe ich dich, da
du hilflos am Boden lagst und mit dem Erdball nicht spielen wolltest
oder nicht spielen konntest vor Müdigkeit, da habe ich dir mit meinen
Füßen die Weichen zertreten, nicht anders als wie der Töpfer seinen
Ton tritt, auf daß er weich werde und sich der formenden Hand füge!
Nicht anders, Dauphin! Die Schmerzen, die du unter meiner Peitsche
erduldet hast, das sind so recht die Schmerzen aller Künstler, wenn
ich, mich zu entschuldigen, so sagen darf. Ich weiß: auch bei den
anderen Künstlern ist es so! Sie gucken zwar mit Verachtung auf
unsere Kunst, auf unsere Kunststücke herab, aber sie sollten es nicht
einmal tun! Wir leiden, bis wir unsere Bocksprünge richtig vollbringen
können, nicht viel weniger als sie, die mehr begnadet sind als wir,
aber wir leiden! Und leiden muß versöhnen und muß zu Brüdern machen!
Herrjeh, bringt nicht der Dichter gleich uns sein Herz zu Markt, um
gleich uns seinen Mitmenschen eine frohe Stunde zu bereiten? Leidet er
etwa weniger, als du gelitten hast, Dauphin? Ha, sie sind schlau wie
immer, und sagen: was sind körperliche Leiden verglichen mit den Leiden
der Seele? Als ob wir keine Seele hätten, Dauphin, als ob du keine
Seele hättest! Als ob deine Seele drinnen an der Krippe zurückbleibe
wie dein Halfter, das neben am Nagel hängt! Wer wüßt' besser als ich,
Dauphin, daß du eine Seele habest! Ich habe sie malträtiert! Ich habe
den Geist, der in dir kreist, den heiligen Geist, nicht wahr, Dauphin,
den heiligen Geist in dir vergewaltigt, und das muß sich naturgemäß und
übernaturgemäß rächen! Nun stehe ich vor dir: der Sklave eines anderen
Zirkusdirektors, der mich in seine qualvolle Arena spannt! Laß gut
sein, Dauphin, laß gut sein! Oft und immer wieder habe ich mich der
Einsicht verschlossen, unsere Verrenkungen, unsere Bocksprünge seien
keine Vergewaltigungen der Natur, seien keine Widernatürlichkeiten,
die sie doch sind ... Dauphin, die sie doch sind! Geh, frage auch
die anderen Künstler, die von der hohen Fakultät, meine ich, ob sie
dir nicht recht geben? Ob sie, so frage sie, ob sie nicht lieber das
Leben, das sie so glücklich vorzutäuschen vermögen, wirklich und in
Wahrheit leben würden, leben würden, anstatt gleich uns die Maske zu
tragen, zu gestalten, was sie nicht sind, zu erfreuen, da sie freudlos
sind? ... Was soll ich mich länger noch dieser Einsicht verschließen,
jetzt, am Ende der buntgekleideten Herrlichkeit, da über uns die
Wahrheit hereinbricht, die dem größeren Direktor noch verschleiert zu
sein scheint? Menschen soll ich töten gehen! Sieh dir den Stahl an,
er soll Menschen töten! Dauphin, Dauphin: wenn das Leben ein Zirkus
wäre, so würde ich mir hier und jetzt den Stahl in die Brust stoßen!
Liebes Tierchen, leb' wohl! Ich weiß -- so heftig fühle ich es --,
ich weiß, daß ich nicht zurückkehren werde aus dieser Narrenarena!
Ich fürchte, diejenigen, die den Krieg hätten verhüten können, sind
nur Zirkusdirektoren, Dauphin, sind auch nur Zirkusdirektoren und
versündigen sich am heiligen Geist! Aber das Leben ist ja kein Zirkus,
ist ja kein Zirkus!”

Der Direktor küßte Dauphin auf die Blesse und stürzte zum Stall hinaus.
Dauphin riß an seiner Kette! Umsonst riß Dauphin an seiner Kette!

Den ganzen Tag und die ganze Nacht schurfte Dauphin in seinem
Verschlag umher und strebte hinaus, irgendwohin, wo Leben pochte,
mochte es Leben sein, welcher Art es wollte.

Regentropfen prasselten auf die Zeltdecke des Stalles, unausgesetzt
strömte der Regen hernieder. Die Sieben lagen ausgestreckt in ihren
Abteilen und schliefen, und Dauphin allein wachte und hörte den
Rieselregen an. Neben seiner Krippe tropfte Wasser von der Decke
hernieder; die Tropfen zersprühten, da sie aufklatschten, und
bespritzten Dauphin. Ihn fror. Nach einigen Stunden aber hörte das
Gesumm des Regens auf, und die Sonne schnitt durch das Löchlein der
Zeltdecke, sichtbar wirbelte sich feiner Staub in den Sonnenstreifen,
und auf dem Rücken eines kleinen Schimmels lag ein greller Lichtfleck.



XIV


Nach einigen Tagen kam der Direktor wieder als Soldat und hatte einen
Herrn bei sich, dem Dauphin auf den ersten Blick ansah, daß er ein
gildiger Zirkusmann sei. Er gab Dauphin gleich vertraut ein Stück
Zucker, was diesem durchaus nicht schmecken wollte. Und am Abend nahm
der neue Direktor Dauphin mit sich in die Eisenbahn, und sie fuhren
eine Nacht und einen Tag lang durch unbekannte Gegenden nach Berlin.

Wie sie da aus dem Bahnhof heraustreten, auf die Friedrichstraße,
schieben sich viele Schwadronen kleiner, magerer Pferdchen, endlos wie
die Friedrichstraße, zwischen gaffenden, jubelnden Menschenmassen hin.
Sie ziehen schwere und leichte Kanonen und sind vollauf gerüstet, wie
einst Wallenstein gerüstet war.

Keinem dieser Gäulchen stand Dauphin an Muskelkraft nach! Dauphin
riß an seinem Zügel und wollte seinem schmeichlerischen neuen Herrn
entlaufen, wollte zu einem der Soldaten hinlaufen und wollte seinen
fleißigen Brüdern ziehen helfen.

Dauphin schien etwas von der arbeitsreichen, uniformierten Zeit zu
ahnen und widersetzte sich auf dem Weg, solange er Russenpferdchen sah,
seinem Zirkusdirektor, so sehr er konnte. Dauphin verlor die ungeheure
Masse der Pferde nicht mehr aus dem Herzen, und noch in der Nacht zogen
sie, sichtbar seinen Augen, von Soldaten geführt, an ihm vorüber.

Andern Tages begann wieder die Dressur; er sollte umlernen, Neues
lernen wie in seiner Jugend und hatte keinen Sinn dafür, sehnte
sich irgendwohin nach den Sielen und sah dauernd die Masse seiner
gerüsteten Brüder.

Qualvoll waren die ersten Tage bis zur Generalprobe, morgens um zehn
Uhr.

Dauphin steht, mit feldgrau überzogenem Helm auf dem Kopf und mit
feldgrauem Soldatenrock, der am Hals zusammengeknöpft ist, umhangen,
mit einem Tornister auf dem Rücken und einem langen Schleifsäbel zur
Seite hinterm Vorhang und sieht mit dem linken Auge in die Arena
hinüber, wo ein feldgrauer Soldat sitzt, der den Arm in einer weißen
Binde trägt. Hinten am großen Spiegel steht eine Dame und zupft ihr
steiffaltiges, weitgespreiztes Akrobatenröcklein zurecht. Dauphin
schämt sich ordentlich seines Gewandes und sieht erhöht hinter dem
Soldaten mit der Armbinde einen zweiten Feldgrauen sitzen, der vor dem
einen Auge ein schwarzes Läppchen hat.

„Dauphin!” ruft der Direktor, und Dauphin stößt mit dem Maul den
Vorhang auseinander und tritt hinaus in die Arena.

Herrjeh! Was sieht er da? Ringsum sind alle Plätze mit Soldaten
besetzt, einer geht an einer Krücke hinter der Manege hin und sucht
seinen Platz, einer sitzt im Fahrstuhl am Eingang, links und rechts vom
Eingang sind alle Plätze besetzt mit Männern in langen, weiß und blau
gestreiften Kitteln. Soldaten, Soldaten, ringsum Soldaten!

Und Dauphin soll Kunststückchen machen? (Daß er sie eigens für die
Verwundeten ausnahmsweise gutmachen müßte, fällt ihm seltsamerweise
nicht ein).

Dauphin rennt aufs Geratewohl zu ihnen hin, stellt die Vorderbeine auf
die Manege, streckt seine Zähne vor und stößt einen Schrei in die Luft,
der kein Wiehern ist.

Sie fassen ihn, die lieben Soldaten! Sie wissen, er ist einer, der zu
ihnen gehört!

Aber der Direktor kommt mit der Peitsche, und Dauphin muß in die Mitte,
um seine Kunststückchen zu machen.

Doch er weiß nichts und kann nichts und steht da wie soeben vom Himmel
gefallen, ein Träumer, der tumbe klâre, der reine Tor!

Die Peitsche, was will die Peitsche? Was will der Direktor mit seinem
Zucker?

Dauphin läuft am Zucker vorbei, an der Peitsche vorbei, durch ihre
Schläge hin an die Manege und wird zurück geholt von maskierten
Sklaven. Und Dauphin wird öffentlich planmäßig gepeitscht und mit
seinem Helm und seinem Schleifsäbel aus der Arena fortgejagt, hinaus,
hinter den Vorhang!

Vereinzelt lachen die Soldaten, keiner steht ihm bei: sie kennen ihn
halt nicht, ihn, den Dauphin, den von der Königin geküßten Dauphin!

Den Soldatenfreund, den Soldatennarren!

Nach der Vorstellung wurde Dauphin nochmals angesichts aller Pferde
geschlagen und bekam zwei Tage nichts zu fressen.

„Bürschken!” sagte der Direktor, „wenn du mir den Sonnabend-Abend
verdirbst, bist du gerichtet!”

Aber Dauphin freute sich entfernt seiner Schmerzen und sah hinter ihnen
eine Beschäftigung winken, irgendwo in den Sielen, die für ihn Wollust
war.

Der Samstag-Abend kam, und Dauphin sah eine Reihe Offiziere vorn sitzen
und wußte wieder nichts und konnte nichts und ward wieder hinausgejagt.

Und so geschah es noch zweimal, und dann sagte eines Tages der Direktor:

„Wart, Bürschken, du kommst mir zum Militär!”

Hätte Dauphin diese Sprache des gehaßten Direktors verstanden, so
hätte er sich sogleich auf die Hinterbeine gestellt -- denn das konnte
er -- und hätte gelacht wie eine ganze Kompagnie.

Und siehe da, Dauphin ward beglückt: am andern Morgen kommen Soldaten,
und alle Pferde werden wieder gemustert.

Wie die Reihe an Dauphin kommt, sagt der Offizier:

„Den da, den zarten Mann, können Sie behalten!”

Aber der Direktor entgegnet:

„Wat soll ich noch mit ihm machen? Nehmen Sie ihn doch ooch mit,
er kann Handlangerdienste tun in der Kaserne. So schwach, wie er
ausschaut, ist er nisch!”

Und Dauphin durfte bei den Soldaten stehen bleiben und wurde auch
sogleich von ihnen abgeführt. Viele Stunden lang durfte Dauphin dann in
einem Kasernenhof bei den kriegsverwendungsfähigen Pferden stehen.

Dann ging ein Soldat mit ihm an den Bahnhof; sie fuhren wieder viele
Stunden, und dann in einer kleinen Stadt eilten sie schnurstracks auf
die Kaserne zu.

Wie Dauphin die vielen Soldaten auf dem Kasernenhofe exerzieren sah,
streckte er, hurra! den Kopf steil hoch, ließ die schwabbeligen Lippen
hängen, daß die weißen Zähne zum Himmel aufbissen, und stieß einen
Freudenschrei aus, der durchaus kein gewöhnliches Wiehern war. Das Echo
dieses Schreies lief zwischen den hohen Bauten hin und her, und tausend
Gesichter richteten sich auf Dauphin, den Ankömmling.

Er ward nun in einen Stall geführt zu sechs blank gefütterten
Reitpferden und bekam zu fressen, indes die Reitpferde ihm zusehen
mußten, wie er fraß.

Ein Hauptmann kam, klatschte Dauphin auf den Schenkel, der recht feist
geworden war, und ging weiter.

Ein Soldat schlüpfte an seinem Halse vorbei, band den Apfelschimmel
los, führte ihn hinaus, und der Hauptmann setzte sich darauf.

So geschah es noch fünfmal, und Dauphin stand allein im Stall und
wartete auf den siebenten Hauptmann, auf „seinen” Hauptmann. Er trug
offenbar etwas wie einen hellen Schein im Herzen.

Ein Mann kam, ein ältlicher Zivilist mit beschmutzter, abgenutzter
Dienstmütze, die einmal blau gewesen war. Eine Zigarre hing ihm schwer
aus den Lippen und qualmte. Dauphin sah gerade durch die offene Tür
über den Kasernenhof, wo, den ganzen Platz zwischen den grünen Linden
erfüllend, sechs Kompagnien in Kompagniekolonne aufgestellt waren.
Die sechs Pferde standen mit ihren Hauptleuten, hochauf die Ohren, je
in der Mitte hintereinander, und Dauphin beobachtete den beschmutzten
Zivilisten nicht weiter.

Der aber band ihn los und führte ihn hinaus und spannte ihn kurzerhand
in ein Wägelchen, das so schmutzig war wie er selber, nahm ihn am Zaume
und führte ihn hinter sich her, irgendwohin, zum Tore hinaus.

Kinder standen am Tore, arme, zerlumpte Kinder mit guten und schönen
Augen. Eins hielt ein rotes Glasstück vors Auge und betrachtete Dauphin.

„Ach!” riefen sie, „der Balthasar hat ein neues Gäulchen, und was für
eins, Balthasar!”

Und sie klatschten Dauphin auf den Schenkel, sprangen aufs Wägelchen,
und Dauphin, der schon ganz niedergeschlagen den Kopf hatte hängen
lassen, hob ihn wieder und freute sich plötzlich, da er Kinder sah, die
ihm gut waren. Er zog sie wacker fürbaß, aber sie hüpften gemach eines
nach dem andern von seinem Wagen, einige ließen Pfennige auf die Erde
fallen und liefen ans Kasernentor zurück.

Balthasar steckte an der alten Zigarre eine neue an und ließ sie
zwischen den Lippen auf- und abpendeln.

Ins Schlachthaus gings, ins Schlachthaus, mitten hinein ins
Schlachthaus!

Einen halben Ochsen mußte Dauphin heimziehen, dessen hautloses Bein
seitlich aus der braunen Zeltdecke hervorragte.

Das Bataillon rückte aus, die Straße her, Dauphin entgegen, mit
Pauken und Trompeten! Dauphin versuchte, mit einem Ruck den Kopf
steil hochzurecken; die Last hinter ihm aber war zu schwer, und er
stieß den Atem krampfhaft durch die schwabbeligen Lippen und zog die
Nüstern hoch und die Augenbrauen, um alles genau zu sehen, und ließ
den langen Schweif hin und her schwingen. Er gehörte ja auch zu denen
da! Wahrscheinlich spürte er zwischen seinen Ohren den Husarenbusch
schwanken, den er einst trug.

Wie er am ersten Hauptmannspferd vorüberkam, sah er stolz zu ihm auf,
gleichsam, als wolle er es kameradschaftlich grüßen.

Allein das Hauptmannspferd wandte sofort die Augen, die es im
geradeausgestellten Kopf kaum merklich herübergedreht hatte, von
Dauphin ab. Und genau so machte es das zweite Pferd und das dritte und
das vierte.

Zum fünften sah Dauphin selber nicht mehr, ließ den Kopf tief sinken,
die Augenlider und die Ohren und den Schweif.

Allein in Dauphins Geist strömte ein dämmerndes Gefühl, daß er sich
nicht vor diesen Gecken zu schämen brauche: er, Dauphin, der voller
Kunst stak und voller Wissenschaft und voller Weisheit, und der von
einer Königin geküßt war!

Er nickte nach links und nach rechts und wußte schon den Weg ins
Kasernentor, wo die vielen Kinder standen.

Einige spielten mit Pfennigen, einige hielten Kasernenbrot im Arm; alle
aber kamen sie und lachten mit dem Gäulchen und streichelten es.

An der Küche wurde der halbe Ochse abgeladen. Köche mit aufgeschürzten
Aermeln klatschten ihre roten, fleischigen Hände auf Dauphins Rücken,
Hals und Stirn, und Dauphin schob den Kopf wagrecht vor, um diese Hände
von sich abzuschütteln. Aber die Köche lachten und liebkosten um so
mehr, weil sie meinten, das gefiele dem schwarzen Gäulchen.

„Heut raucht aber der Balthasar ein gutes Kraut!” sagte ein Koch.

„Das ist,” entgegnete ein anderer, „weil er ein neues Gäulchen hat!”

Große, offene Fässer, in denen eine zähflüssige Masse an die Wände
klunkerte, wurden ausgeladen. Ein Koch griff in ein Faß, holte etwas
heraus und hielt es Dauphin hin, daß er es fresse, aber Dauphin fraß es
nicht, obgleich er Hunger hatte, und der Koch warf die Handvoll in die
Gosse.

Dauphin mußte diese Fässer quer durch die ganze Stadt ziehen in eine
Fabrik mit vielen hohen und niedrigen Schornsteinen, wo es fürchterlich
stank. Balthasar begann in dem Gestank heftig zu niesen, nieste fünf-
oder sechsmal und stieß dabei diese Laute von sich:

„E Zigga, e Zigga!”

Als sie wieder in der frischen Luft waren, sagte Balthasar etwas zu
Dauphin, was diesen höchlich erfreute:

„Das Leben ist eine Hühnerleiter!” sagte Balthasar zu Dauphin.

Nunmehr zog Dauphin täglich den Fleischwagen, den Spülichtwagen und
noch andere Wägelchen durch die volkreiche Stadt. Man kannte ihn nicht
in dieser Stadt; niemand kannte ihn! Man blieb wohl einmal stehen,
besah sich das schwarze Gäulchen mit der weißen Blesse und ging weiter,
und nur die Kinder fanden es der Mühe wert, sich zu verweilen, mit dem
kleinen Freunde zu laufen, ihm einen Bissen Brot zu reichen oder ein
Stückchen Zucker.

Obwohl nirgends mehr an den Mauern, an den Plakatsäulen, in den
Schaufenstern Dauphins Bild mit dem Purpurmantelettchen hing,
wußten die Kinder doch, daß das kleine Gäulchen kein gewöhnliches
Kasernentierchen war, denn sie liefen neben ihm her und beschenkten es
mit Zucker und Liebkosungen!

O wenn Dauphin frei gewesen wäre! Wenn er ledig seiner Siele, ledig des
schweren Kummets gewesen wäre, ledig aller Mühen und Sorgen! Kinder!
Kinder!

So aber war das Leben eine Qual, so aber wollten die klaren Augen nicht
aufblicken in den Tag, der fast stets Nacht war, und sie blieben lieber
am Erdboden haften, und die Unterlippe, die sonst so gern und so
übermütig an den Freuden der Stunde nippte, hing schlaff nach unten und
ward täglich schwerer.

Die Hauptmannspferde bekamen bessere Kost als Dauphin, wurden täglich
gestriegelt, und ein jedes hatte einen Soldaten zur Bedienung!

Dauphin aber stand hinten im Stall, wo kein Fenster war, keine frische
Luft und kein Licht, und sein Fressen lag oft tagelang in der Krippe,
und wenn Balthasar ein dünnes Getränk brachte, so leerte er die Krippe
zuvor nicht aus, und Dauphin fraß fast nichts als Heu.

Auf seinem Rumpfe zeichneten sich bald die Rippen deutlich ab, und
da das schwarze Fell gänzlich von Staub und Schmutz durchsetzt
war, konnte kein Kind Freude haben, das Gäulchen zu streicheln
und liebkosend zu tätscheln. Die Mähne, ehedem ein zartwelliges
Gekräusel, ein Kindergelock und ein Fähnchen der Fröhlichkeit und
des Uebermutes, hing wie ein Bündel Haberstroh übern Hals herab und
stak zerschabt in der Fessel des Kummets. Der kotige Zügel griff durch
ihre letzten Spitzen, und wenn die Sonne auf diese Mähne schien, sah
man Staubwölkchen draus emporwirbeln wie aus einem Sofa. Die Knochen
der Hinterbacken stießen sich hervor, und Balthasar hing oft, wenn er
schwitzte, seine verschmutzte Mütze dran. Die schweren Eisen der Hufe
klapperten, die Rippen schoben sich unter der Haut hin und her.

Balthasar redete nie ein Wort mit Dauphin, und Dauphin empfand
natürlich auch nie Lust, den mürrischen Alten etwas von seinem Können
merken zu lassen. Niemand ahnte von Dauphins Qualitäten! Nicht einmal
seinen Namen kannte man. Balthasar nicht, die Hauptleute nicht, die
übrigen Wärter nicht! Selbst die Kinder riefen ihn nicht mit seinem
Namen.

Besaß dieser Arbeitsverwendungsfähige überhaupt noch Namen und
irgendwelche Qualität? Konnte dies arme Tierchen im Kehrichtwagen noch
etwas anderes als Sklavendienste tun?

Es liegt klar auf der Hand, daß Dauphin sehr litt! Seine Leiden, die
anfangs rein seelischer Art waren, bogen sich, da er trotz allem
unabänderlich gern und sogar freudig schaffte, ins Körperliche um, aber
Dauphin mußte immer noch sehr leiden! Oh, wenn Dauphin sich das Leben
unter den Soldaten so vorgestellt hätte, wie gern wäre er in seiner
Arena geblieben! Er gewahrte nicht einmal, wie seine Gaben schwanden,
und das war gut!

Einmal kamen fünf ganz junge, kleine Leutnants, aufgetakelt wie
frischgewickelte Säuglinge, aus der Regimentskammer gehüpft, streiften
weiße Handschuhe an dicke Hände an, hielten Reitpeitschen unter den
angepreßten Oberarmen und liefen an Dauphin und an Balthasar vorüber.
Da sagte Balthasar wieder einmal etwas. Er nahm sich Dauphins Ohren und
sagte:

„Sieh, Kleiner, fünf ist gleich eins! Kriegsware! Heut Mittag
trinken sie fünfzig Flaschen Sekt, und hernach steigen sie auf die
Hühnerleiter, ganz oben hin und fangen an, auf uns herabzukotzen!
Wundert's dich, daß wir so dreckig sind? Mich wundert's nicht!”

Dauphin freute sich über diese Rede, die er freilich nicht verstand,
wieherte und trug den Kopf höher als sonst.

Er sah eine Kompagnie, die auf dem Bauche lag und zielte. Ein Feldwebel
schrie einen Gemeinen an:

„Mensch! Sie wollen Feldwebel werden: werden Sie doch erst einmal
Mensch!”

Der Angeschrieene hob den Kopf und schrie dagegen:

„Feldwebel will ich werden!”

An der Wache vorn am Kasernentor hielt Balthasar sein Gäulchen an,
weil er mit einem Kollegen etwas zu reden hatte. Zwei Soldaten in
Drillichzeug schleppten eine verschlossene eiserne Kiste aus dem
Stübchen, das hinter dem Wachtstübchen lag.

„Hu, wie stinkts da drinnen!” sprach der eine.

„Geld stinkt!” erwiderte der andere.

„Auch die Fahnen, die dahinter stehen, stinken, Ambros!”

„Alle Signale stinken, Willi, der Mensch aber ist frei!”

„Frei ist der Mensch! Gewiß, aber auch er ist aus Dreck gemacht,
Ambros!”

Zum Glück verstand Dauphin auch dieses Gespräch nicht, aber er reckte
doch den Kopf zu den beiden Geldträgern hin, weil er wieder ein bißchen
Freude an den Menschen hatte.

Balthasars Freundlichkeit versickerte gleich wieder, und des Pferdchens
Kopf sank wieder, und seine Augen besahen die Steine, die seine Hufe
betreten mußten.

Einmal trottete er mit dem Mistwagen im Schatten der Linden rund um
den Kasernenhof herum, indes Balthasar bei Soldaten stand, die höchst
eifrig Strohsäcke stopften. Viermal trottete Dauphin so hinterm Rücken
Balthasars vorbei, und jedesmal hörte er Balthasar nießen und seinen
Laut ausstoßen:

„E Zigga, e Zigga!”

Als er zum fünftenmal vorüberkam, sah er, wie einer der Soldaten dem
Balthasar eine Zigarre in den Mund steckte, ein Streichholz am Schenkel
anstrich und sagte:

„Nun mach' dich mit deinem Räppchen aus unserem kaiserlichen Staub!”

Die Soldaten erregten Dauphins Teilnahme fast nicht mehr. Ihr
Trommelschlag, ihre Marschmusik, ihre bunten Kleider, ihr Feldgeschrei,
das sie zwischen den Mauern ausstießen, nichts erregte Dauphins
Aufmerksamkeit. In sich gekehrt, tat er seine Pflicht, und die
Erinnerung an glanzvolle Tage verblaßte in seiner Seele. Neigung zu
Schlaf zeigte sich.

Wenn das Fuhrwerk einmal das Weichbild der Garnison verließ und auf
Feldwege kam, begann Dauphin heftig die Luft in die Nasenlöcher zu
zerren, der Hals bog sich steil vom Kummet in die Höhe, und es ist
wahrscheinlich, daß vor seinem geistigen Auge sich die Bilder seiner
frühesten Jugend zeigten, das Glück der Einfachheit im kleinumzirkten
Leben hinter den Bergen. Alsdann ging's aber jeweils wieder zur Stadt
zurück, in die Kaserne, und die stolze Kurve des Halses sank wieder.

Der Koch der dritten Kompagnie, der es gut mit Dauphin meinte, hielt
ihm oft eine Handvoll Kartoffeln unter die Nase, aber Dauphin wollte
sich nicht gerne öffentlich mit Kartoffeln füttern lassen und biß nur
selten an, wenn er nicht gerade ganz großen Hunger hatte, und oft
geschah es, daß der Koch ihm die weichen Kartoffeln in die Nüstern
stumpfte. Da schreckte Dauphin wie aus Träumen auf, ließ entsetzt die
Kartoffeln fallen und sah den Spatzen zu, die sogleich sich drüber
hermachten und zwilchten und zankten, bis alles aufgefressen war.

Auch die Kinder umjubelten Dauphin immer seltener und schließlich
gar nicht mehr. Ja, es kam so weit, daß sie, wenn sie ihn bei seinem
Balthasar sahen, zu rufen begannen:

„E Zigga! e Zigga!” als ob dieser Laut Dauphins neuer Name gewesen
wäre, Dauphins Soldatenname!



XV


Einmal aber geschah dies: Dauphin trottelte so auf dem Pflaster hin
durch den Schatten und hört plötzlich seinen wirklichen Namen rufen:

„Dauphin!”

Er reißt den Kopf hoch, -- spürt er nicht den Husarenschweif zwischen
den Ohren schwanken? --, stößt kümmerlich, aber voller Ungeduld die
Luft aus den Lippen und biegt den Kopf zurück und sieht um sich.

Wieder ruft jemand:

„Dauphin!”

Auf einem mit alten Schuhen hoch beladenen Wagen vorm offenen Tor der
„Kammer” steht ein Soldat, hält einen Stiefel in der Hand und ruft
„Dauphin”. Der Soldat lacht laut und ruft etwas, kommt aber nicht, und
Dauphin trottelt weiter, indeß Balthasar zu dem Soldaten zurückguckt
und auch weitergeht. Dauphin aber läßt den Kopf nicht mehr sinken und
reißt die Augen weit auf und strengt sich an, die Ohren hoch zu halten.
Er spürt, wie er mit dem Kopfe heftig nickt, den Husarenbusch wirklich
an die Ohren wedeln, er sieht nach den Rippen, die wie Faßreifen um
seinen Bauch liegen, und sieht ein goldbordiertes Purpurmantelettchen.
Das sieht er ganz gewiß! Und er hört die liebe Stimme seines ersten
Direktors. Dauphin bleibt plötzlich stehen. Balthasar guckt zurück, was
heißen soll: „Na los!”, aber Dauphin bleibt stehen und nickt mit dem
Kopfe heftig auf und ab.

„Los!” kreischt Balthasar neben der Zigarre heraus und klatscht in die
Hände, wartet einen Augenblick, kommt zurück, nimmt Dauphin am Zügel
und will ihn mit sich ziehen.

Aber Dauphin hebt keinen Fuß und läßt sich nicht so mir nichts dir
nichts fortzerren.

Der Soldat auf dem Schuhwagen lacht, sieben Bäume weit entfernt, und
wirft einen Stiefel nach Dauphin, der aber nicht trifft, und ruft:

„Ganz recht, Schwammbruder, das hast du nicht nötig!”

„Wer ist Dauphin?” fragt Balthasar den Soldaten neben der Zigarre
heraus und stützt die Fäuste in die Hüften, und der Soldat erzählt
allerhand von Dauphin, indeß Dauphin mit dem Kopfe nickt und auch schon
mit dem linken Vorderfuße krampfhaft scharrt.

„So, so, so!” sagt Balthasar, daß die Zigarre zwischen den Lippen
tanzt, und gibt ihm einen gelinden, freundlichen Handschlag auf den
Schenkel, worauf Dauphin anzieht und den Kopf sinken läßt und mit
seinem Spülicht zum Tor hinausgeht.

Balthasar sagt kein Wort und ist still wie immer und hat die Hände auf
dem Rücken liegen wie immer.

Am Horizonte des tierischen, vom Leide erregten Bewußtseins aber
schnitt weiterhin gleich einer Sternschnuppe die Erinnerung an große
Tage vorbei. Die Kinder vorm Kasernentor hatten Dauphins wirklichen
Namen noch nicht vernommen, und Balthasar schritt wortlos neben
Dauphins Kopfe. Niemand hatte seither Dauphin erkannt. Niemand wußte
oder ahnte, wen er da eigentlich vor sich hatte.

Im Fortnicken berührte Dauphin bisweilen, wie er sonst nie getan, mit
seinem Maule des Mannes schmutzigen Aermel; dauernd knapperte er an
seinem Zaum herum, der ihm viel zu groß war, den Gott weiß welcher
Klepper schon zerkaut hatte!

Sie hielten an einem Wirtshaus an, und Balthasar, der noch nie ein
Wirtshaus aufgesucht hatte, ließ Dauphin mit seinem Wagen in den
Schatten der Gartenbäume treten, die da in Reih und Glied, noch
ziemlich jung, aufwuchsen, und trat in das Haus.

Nebenan saßen an einem Tisch zwei Arbeiter und vesperten.

Dauphin sah in einem von innen verhängten Schaufenster sein Bild und
zog den Wagen sogleich hin, um sich näher zu betrachten.

Richtig, die Blesse! Die Blesse auf der Stirne leuchtete förmlich
aus der dunkeln Scheibe: der Kuß der Königin, die Erinnerung an den
glorreichen Tag Dauphins.

Und nun begann Dauphin sich wieder zu recken, ward größer, und
seine Haut umstraffte die Rippen, und seine Augen füllten sich wie
Königslogen in zwei erhabenen Halbkugeln mit jungem Glanz.

Er sah sich um: Es machte den Eindruck, als sähe er nach seinem ersten
Direktor oder nach der Königin. Er sah, wie Kinder am Zaune des
Biergartens gleich Soldaten exerzierten und sangen: „Wer will unter
die Soldaten”, und: „Büblein, wirst du ein Rekrut”.

Da streckte Dauphin den Kopf wagrecht von sich und wieherte durch die
breiten Nüstern und entblößte die Zähne, schüttelte den Kopf in der
Längsachse und stieß seinen Freudenschrei aus, den alle hören mußten.

Die Kinder hörten das auch, und Dauphin nickte heftig mit dem Kopfe und
scharrte mit dem linken Vorderfuß, daß alle Kinder zu ihm hinkamen.
Rasend nickte Dauphin mit dem Kopfe und scharrte dann so heftig mit dem
linken Vorderfuß, daß der Kies auf- und davonsprühte.

Die Kinder kamen auf den richtigen Gedanken und begannen mit Dauphin zu
plaudern.

„Hast du Hunger?” Dauphin nickte.

„Hast du Durst? Dann beiß in die Wurst! Kannst du Bier trinken?”

Dauphin konnte alles, jawohl ihr Kinder, warum etwa nicht?!

Ein Bübchen lief zu den vespernden Arbeitern, kletterte, so klein war
es noch, auf einen Stuhl, wischte mit den Händen in den Bierkringeln
herum, die von den Gläsern dalagen, und kam zurück. Es hielt sein
bierbefeuchtetes Händchen Dauphin an die Nase, und Dauphin, dem das
ungeheuer Spaß machte, -- es war so fröhlich wie früher im Zirkus --,
nieste dreimal hintereinander.

Hellauf lachten die Kinder.

Dauphin spürte deutlich den Husarenbusch zwischen den Ohren.

Er sah in den Spiegel, aber den Husarenbusch sah er nicht: der war ihm
abgenommen worden, den hatte man ihm soeben abgenommen!

Und etwas seitab sah er, als die Arbeiter gerade fortgingen, eine
Leiter stehen, die vor der Stalltür ziemlich steil zum Heuschober
hinaufgelegt war.

Da wußte Dauphin, was nun kommen müsse, denn hinter der Leiter sah
seine Seele auch seinen geliebten Direktor stehen: Nun müsse das große,
halsbrechende Kunststück kommen, das allen Zuschauern, -- wißt ihr's
noch, ihr lauten Kinder? --, den Atem nahm.

Er zog sein Wägelchen hin und trat mit dem linken Vorderfuß auf die
erste Sprosse der Leiter.

Da sahen die Kinder, daß das kluge Pferdchen von seinen Strängen sehr
beengt war, und sie spannten es aus.

Wie nun Dauphin frei aus den Sielen tritt, wird's ihm ganz leicht
zumute. Er hebt die Beine auf die erste und die zweite und dann das
linke Vorderbein gar auf die dritte Sprosse.

Und wie Dauphin sich gerade abdrücken will, um frei aufrecht zu stehen,
kommt der Balthasar aus dem Wirtshaus, und die Kinder zerstieben
zwischen den Bäumen hinaus auf die Straße.

Da läßt Dauphin die Beine langsam von der Leiter hinab und wird
eingespannt, und es geht in die Fabrik mit den hohen und niedrigen
Schornsteinen. Ganz fröhlich trottet Dauphin hinter Balthasar drein ...

Unterwegs sagt Balthasar wieder einmal etwas zu Dauphin! Er sagt:

„Ich weiß genau, was du willst, Zirkusmann: zur Leiter willst du
hinauf, zur Hühnerleiter! Willst über mich hinaus und schließlich auch
von oben auf mich herabkotzen! Aber ich will dir schon helfen, wenn's
auf mich ankommt!”

Als sie ins Kasernentor eingebogen waren, schritt Balthasar quer übern
Kies, der wie gefrorene Tränen dalag, auf die Kammer zu.

Dauphin stellte die Ohren, um vielleicht wieder seinen Namen rufen zu
hören, der Hals schweifte steil auf, am linken Vorderbein erzitterte
eine Muskel.

Gar nicht lange verweilte Balthasar in der Kammer; der Feldwebel kommt
mit ihm heraus, und trägt in der Hand eine Peitsche, die anscheinend
für schwere Artillerie bestimmt ist, gibt sie Balthasar, und sie treten
zu Dauphin her.

„Wie ist er sonst im Dienst?” fragt der Feldwebel, und Balthasar
entgegnet:

„Zirkus, Zirkus! Der Zirkus steckt ihm noch im Kopf!”

Jedoch der Feldwebel nimmt dem Alten die Peitsche wieder ab, schlägt
ihm leichthin auf die Achsel und sagt:

„Wenn's sonst nichts ist: uns allen steckt der Zirkus noch im Kopf,
Balzer, los, vertragt euch miteinander! Wir haben halt allerhand
Kostgänger!”

Sie vertrugen sich noch über zwei Jahre!

Ewig dasselbe spielte sich in Dauphins Umgebung ab: Menschen kamen,
wurden entmenscht, für den Tod uniformiert, mit dem Tode vielgestaltig
ausgestattet, gingen hell bekränzt irgendwohin, den Tod bringen, kamen
nicht mehr oder kamen, vom Tode gestreift und gezeichnet, wieder
zurück. Menschen fluchten ihres Daseins, wenn sie knirschend auf dem
Angesichte lagen und den Kies zwischen den Zähnen zerbissen, um sich
vor dem Zuchthaus zu bewahren. Männer fielen und schnellten wieder auf
wie an Schnüren aufgereiht, und das Kommando schwirrte über sie her wie
Säbelstreiche. Frauen und Kinder standen außen hinter dem Gitter und
sahen zu und weinten ob der Erniedrigung. Wenn Dauphin Kinder weinen
sah, ließ er den Hals noch tiefer sinken, so daß das weite Kummet fast
herabgleitete auf das Tränental. Schaum troff hernieder aus seinem
hungrigen Maul.

Ein Frühling kam, und die Kinder sangen nicht und spielten nicht
Ringelreihen auf den Plätzen! Die Vögel sangen in den Büschen, aber
die Platzpatronen auf den Schießständen verschlangen den Vogelruf! Die
Blumen blühten an den Rainen, aber die jungen Mädchen kamen nicht,
sie zu pflücken! Die Fleischfuhren wurden leichter, die Spülichtfuhren
schwerer. Der Gesang der Glocken verstummte, und nur ein jämmerliches
Gestammel blieb übrig! Keine Fahne flog mehr über die Dächer, und
die Straßen füllten sich mit Krüppeln. Die Schreie erregter Generale
tobten um die Stadt, und in allen Häusern weinten Frauen und Kinder!
Leichenzüge schlängelten sich in den winkeligen Straßen. Aus den
Spülichtfässern zog Balthasar Brotreste und Knochen und aß daran.

Ein Sommer kam, und die Leichenzüge begegneten sich an den Portalen der
Friedhöfe! Hauptleute schrien Siege aus, aber die Soldaten stimmten
nicht mit ein und wandten die Augen zu Boden! Immer noch lagen Männer
mit grauen Bärten vor jugendlichen Gecken im Staub und bissen an den
Kieseln des Jammertales! Der Sommer kam, und die Ernte blieb im Regen
sitzen, weil die Frauen zermürbt waren von der schrecklichen Arbeit
und weil die Kühe müde waren von der schrecklichen Arbeit! Eine Kuh
schlappte, wo früher zwei Pferde galoppierten.

Ein Herbst kam, und Soldaten wurden korporalschaftsweise in das
vergitterte Haus geführt, weil sie zu Hause ihre Ernte einbringen
wollten anstatt tagelang zu üben, wie man den Herrn Leutnant grüßt!
Kinder stürmten ans Rathaus der Stadt und schrien um Brot. Da Soldaten
Maschinengewehre herbeibrachten statt Brot, liefen die Kinder wieder
heim. Unheimlich mehrten sich die Verstümmelten! Die Soldaten standen
beisammen und redeten leise. Balthasar blieb bei ihnen stehen; sie
hefteten ihm ihre eisernen Kreuze an! Balthasar ließ sich's gefallen,
und als er auf der Brust keinen Platz mehr hatte und auf dem Rücken
auch nicht, da zog er Dauphin in die Schar der Soldaten, und sie
banden Dauphin ein eisernes Kreuz über die Stirn, daß es gerade in die
weiße Blesse hing.

Ein Offizier geht vorüber, sieht genau, was da geschieht, schwenkt
seitab und nestelt die klingenden Ehrenzeichen von seiner wattierten
Brust. Und sogleich rennen bewaffnete Kameraden herzu, umstellen die
Schar und führen sie samt Balthasar ins vergitterte Haus.

Dem kleinen Dauphin reißt man das Kreuz von der Stirn, tritt ihn in
die Seiten und stößt ihn gegen die Mitte des Hofes, wo er hinstürzt in
den scharfen Kies. Er erhebt sich wieder von selbst, Blut sickert aus
seinen Knien, er trottelt seinem Stalle zu und zieht das Wägelchen an
einem Strang hinter sich her. Ein anderer Balthasar kommt zu ihm an
den Stall, ein junger, starker Kerl, der statt des rechten Auges eine
eingefältelte Narbe in der Höhle hat.

Er trägt Balthasars Mütze: er raucht Zigaretten, er fängt gleich am
ersten Tage an, Dauphin zu striegeln, putzt die Krippe aus und mistet
und schmiert Dauphins Hufe mit Schmalz, das er aus der Küche der
Offiziere brachte. Die Herren Feldwebel beginnen auf einmal Dauphin zu
kennen, streicheln sein reinliches Fell, rufen ihn Maxel und lassen
ihre Kinder auf ihm reiten. Selbst Offiziere kommen im Stall zu Dauphin
her; wenn sie mit dem neuen Herrn irgend etwas Wichtiges geredet haben,
ziehen sie ihre Handschuhe an und tätscheln seine festlich sauberen
Backen und tätscheln auch ohne Handschuhe. Etliche sagen zu dem
einäugigen Herrn „Du” und stecken ihre Zigaretten an der seinen an.

Da zieht Dauphin eines Tages sein Wägelchen übern Hof, und tausende von
Soldaten haben sich hier versammelt, wirr durcheinander, hochgerüstet,
und auf den Dächern steigen rote Fahnen in die Höhe, die Soldaten
stürmen aufs Wägelchen zu, reißen rote Bänder heraus, rote Fetzen,
schwingen sie und stecken sich kleine Rosetten in die Knopflöcher.
Dauphin wird vielfach rot bewimpelt, und ein Rosettchen baumelt in der
Blesse und in den Zöpfen der glänzenden Mähne.

Tische werden aufgestellt, auf die Tische wird ein Tisch geschoben, und
der Einäugige steigt hinauf und beginnt mit weithin schallender Stimme,
daß zwischen den Mauern ein Echo wach wird, seine Rede zu halten.

Als er sagte, der deutsche Kronprinz müsse einem süddeutschen Schuster
in Erziehung gegeben werden, da löste sich ein Soldat, der schon oft zu
Dauphin hergesehen hatte, aus seiner Umgebung und kam zu ihm. Er legte
den Arm um den festlich geschmückten Hals des Tieres und flüsterte ihm
in die gespitzten Ohren:

„Dauphin, Dauphin! Ist's das Mißgeschick aller Dauphins, daß sie
zu Schustern in die Lehre kommen müssen? Auch du bist nach deiner
Glanzzeit in rauhe Wirklichkeit verstoßen worden, aber du hast keine
Schuld an deinem Geschick!”

Hände wurden gen Himmel ausgestreckt, Schreie wuchsen wie Bergzüge
hinan, vereinzelt krachten Schüsse gegen die kalten Wolken. Ein Wind
hub an; manche Sätze des Redners waren unverstehbar, manche deutlich zu
hören:

„Als das Bübchen vierzehn Jahre alt war, versprach ihm sein
kaiserlicher Papa: wenn du dereinst wirst dreißig sein, darfst du
an der Spitze meiner Truppen ~au milieu de mes troupes~ in Paris
einziehen!”

„Hörst du's, Dauphin? Denkst du an den Kuß der Königin, wie auch du an
der Spitze unserer, ach, so fröhlichmachenden Truppe durch die Arena
triumphiertest? Keine Menschen mußten unsertwegen sterben, und manche
vergrämte Seele hat sich an uns wieder gesund gefreut! Weißt du's
noch, Dauphin?”

Dauphin stand entzückt da, und der Geist, der aus den Soldaten
aufbegehrte, riß den seinen mit sich fort. Er streckte den Kopf
hochauf, er entblößte die Zähne, er scharrte mit dem linken Vorderfuß,
und die Kiesel schwirrten den Soldaten, die um ihn standen, ins
Gesicht. Sie wußten, daß das Gäulchen sich nicht gut anders freuen
konnte und ertrugen die Kiesel, und einer reichte ihm ein Stück Zucker
hin. Dauphin schüttelte plötzlich den Kopf und nickte mit dem Kopfe,
und der Soldat, der ihn vom Zirkus her kannte, besänftigte seine
Freude, indem er ihm sachte über die Blesse strich.

„Auf Vater und Mutter schießen!” schrie der Redner und wiederholte:
„Auf Vater und Mutter schießen!”

„Auf Vater und Mutter schießen!” tobte die ganze Versammlung, und
Dauphin, in dessen Herz unter allerlei Unrat noch mehr Natur lebte
als in vielen Menschenherzen, stellte sich plötzlich, als sei dieses
verruchte Wort der Weckruf seiner tiefsten Erlebnisse, all seiner
Freuden, all seiner Schmerzen, auf die Hinterbeine und stieß einen
klagenden Laut zum Himmel.

„Das unvernünftige Tier,” rief der Redner, „seht, seht, es bäumt sich
auf angesichts solcher Schändlichkeiten! Die Natur, die Natur bricht
über jene herein, weil wir selber jene Unnatur nicht gerichtet haben!
Und nun werden wir, weil wir's nicht getan haben, mitgerichtet werden!
Seht dem Junker, der uns peitschte, hier in Berlin, in Straßburg, in
Köln, in Regensburg und in Stuttgart, seht ihm in die Augen! Was seht
ihr da? ... Das Tier!!”

„Das Tier!!” krischen die Mannschaften, und das Echo wollte nicht enden.

„Nein!” begann der Redner wieder, „nicht das Tier! Nicht das Tier!”

„Den Teufel” schrie einer. „Den Teufel!” erwiderten etliche.

„Ja, den Teufel! Den Bösen! Das Böse! Den Feind des Guten! Den Feind
der Menschheit, den Feind alles Menschlichen! Sie kommen mit dem
Mordgewehr zur Taufe! Mit vierzehn Jahren stehen sie als Leutnant
auf dem Kasernenhof, den sie zeitlebens nicht mehr verlassen!
Menschen dressieren, Menschen schikanieren, drangsalieren, von
Kasernengeneration zu Kasernengeneration! Die Peitsche, die Peitsche
über das deutsche Volk! Sie wollen Frankreich vernichten, England
an Zeppelinen verankern, lichten und im Ozean draußen niederlassen!
Kaiser, Könige, Fürsten aller Schattierungen ließen sich von ihnen
und von ihren Hohenzollern ihren Glanz und ihre Macht garantieren und
verschrieben sich und ihre Landeskinder ihrem Blutwahn! Hohen Zoll
zahlten wir ihnen und ihren Hohenzollern! Ihre Namen kann man nicht
aussprechen, man zerbricht sich die Zunge! Die meisten endigen auf ow!
O W! O weh!! rufe ich aus, o weh!! gutes deutsches Volk! Herrliches
Volk des Gemüts, des Herzens, armes, zerschundenes Volk, gekreuzigtes
Volk! Und doch wieder: Törichtes Volk! Dummes Volk! Was gingst du nur
zu gern in ihre Schützengräben! Der dich so gleich hineinjagte, hat
von jeher das Wort verachtet! Diese Diplomaten -- das ist ein echtes
Hohenzollernwort -- verdarben uns den Braten! Uns, uns, Männern des
Schwertes! Was ließest du dich so leicht betören!”

Der Einäugige hielt inne und fuhr dann fort:

„Aber Revolution ist Tat!: Auf! Auf, zur Revolution!”

Er riß sein Seitengewehr heraus, schwang es in die Luft, deutete nach
der Fahne, die auf dem Hauptgebäude flatterte, und schrie:

„Schwarz, weiß, rot! Was daran junkerisch ist, schwarz und weiß,
das reißt ab! Was übrig bleibt, sei unsere Fahne: Das Rot der wahren
Freiheit ... Versteht mich nicht falsch: Das Rot der befreiten
Menschenliebe, die Farbe unseres Blutes, des Lebens, des heiligen
Geistes, der in Flammen über uns kommen möge! Auf zur Tat! Auf zur
befreienden Tat!”

Der Einäugige sprang von dem Tisch herab, und nun folgten ihm alle zum
Tor hinaus, und auch Dauphin lief mit.

Am Kasernentor aber sieht Dauphin Balthasar, und Balthasar zieht das
Gäulchen aus dem begeisterten Soldatenknäul und nimmt es wieder zurück
in seinen neuen Alltag.

Jedoch dieser neue Alltag blieb wie der alte. Was ging Balthasar die
Revolution an? Kehricht, Spülicht, ab und zu ein duftendes Pfuhl!
Mit Fleisch versehen, mag sich, wer will! Ganze Länder gibt's, die
sich nicht wollen revolutionieren lassen: was braucht Balthasar eine
Revolution?

Dauphin aber, dem die Revolution also nicht bessere Zeiten zu bringen
schien, hatte unverhofft Glück!



XVI


Er stand am Ladenfenster eines Herrenschneiders und träumte in das
helle Glas. Weil er letzter Tage schon öfter dagestanden, indeß der
Balthasar drinnen im Laden weilte, sah er mehr nach den goldenen
Buchstaben des Schneidernamens als nach seiner Blesse.

Plötzlich schollern schwerste Räder übers Pflaster der Straße,
erschreckt sieht Dauphin um und sieht wuchtige Kanonen daherkommen,
von wuchtigen Pferden gezogen. Maskiert sind Pferde und Kanonen, mit
Schmutz beschmiert, mit Oelfarben aller Art, und die Kanoniere sitzen
oben, und ihre Köpfe hängen tief auf die Knie herab, und auch die
Gäule schreiten müde dahin. Wenn ganz einmal einer der Soldaten den
Kopf hochträgt und die Augen in die Zuschauer sinken läßt, sieht
man unendliche Traurigkeit in diesen Augen, und die Menschen, die da
stehen, gehen heim und verwinden die Tränen.

In der Ladentür steht Balthasar bei dem Schneidermeister und hat eine
dunkle Weste an, die mit weißen Reihfäden allerlustigst durchsprenkelt
ist, und über die gelblichen Hemdsärmel hängt das Metermaß.

Dauphin hat keine Ruhe mehr. Den Balthasar konnte er kaum erkennen,
wollte ihn vielleicht auch nicht recht erkennen, und als er wieder im
Laden verschwunden war, zog Dauphin sein Wägelchen an und zog es neben
einer gestutzten Abwehrkanone her, die mit vier Füchsen bespannt war.
Der Lärm der schweren Geschütze verschlang natürlich das Gekläpper des
Wägelchens vollauf, und Balthasar merkte nichts.

Als die versunkenen Kanoniere erst weit draußen vor der Stadt den
kleinen Abenteurer neben sich entdeckten, stiegen sie ab und banden ihn
kurzerhand, ohne zu beachten, wie sehr er widerstrebte, an den nächsten
Apfelbaum, der am Wege stand. Sie liefen eiligst ihrem Fuhrwerk, das
unterdessen nicht halten konnte, nach und sprangen auf, und Dauphin
flehte die, die unausgesetzt an ihm vorüberzogen, um Erbarmen an, daß
sie ihn doch seiner Fessel entledigen und mitnehmen sollten. Und weil
Soldaten sich auf die Pferdesprache manchmal recht gut verstehen, wenn
sie wollen, geschah es, daß einer sich von seinem Protzkasten schwang
und Dauphins Fessel löste und auch die Stränge des Wagens loskettete.
Just im selben Augenblick, als Dauphin ausreißen wollte in die
unsichere Freiheit des Nichtmehrganzjungen, da stand Balthasar hinter
ihm und kettete die Stränge wieder ein, drehte das kleine Fuhrwerk
stadtwärts, und Dauphin ließ den Kopf wieder hängen, denn er schämte
sich vor den großen Gäulen sehr.

In die Kaserne ging's!

„Noch ein Weilchen Geduld, feiner Herr!” sprach Balthasar zu Hause,
„die Hühnerleiter ist zwar schon herumgedreht: was unten war, ist
heute oben, aber wir müssen nicht tollkühn sein und uns noch einen Tag
gedulden können!”

Dieser Tag kam nach drei Tagen!

Balthasar trug einen neuen Anzug, einen schwarzen, steifen Hut und
einen Spazierstock mit Silberkrücke. Dauphin ward nicht eingespannt,
sondern durfte, nur mit dem Halfter bekleidet, an dem ein Lederriemen
hing, mitgehen. Sie machten Halt in einer Wirtschaft der Stadt, und
Dauphin ward in einen Stall geschoben, wo noch drei große Gäule
standen, die vor Hunger stampften.

Kaum war Balthasar in der Wirtschaft verschwunden, so kamen zwei
Burschen in den Stall, banden eilig den kleinen Dauphin los und
führten ihn durch ein Hintertürchen -- Dauphin verstand es wohl, sich
zu bücken -- davon.

Die drei Burschen liefen querfeldein und kamen nach einer Stunde auf
einem großen Platze an, wo anscheinend der ganze Zug, der gestern
durch die Stadt sich träg und ermattet hingeschlängelt, aufgelöst sich
ausbreitete.

Da gab's offenbar etwas Neues! Dauphin reckte den vom Joch befreiten
Hals mit glorreichem Schwunge in die Höhe, um nicht übersehen
zu werden, denn er war doch daran gewöhnt, geachtet und sogar
ausgezeichnet zu sein!

Kannte Dauphin nicht einen dieser dicken Kerle da? Hatte er nicht
mit einem dieser roten Hengste einst sogar Freundschaft? Er zerrte
an seiner Leine, und einer der Füchse legte seinen starken Hals über
Dauphins Mähne ... Dauphin wibberte, indeß er so in dieser Liebkosung
verharrte, am Heu eines Protzkastens, fraß nicht, hälmelte nur so und
war seit langer Zeit wieder einmal durchaus beglückt!

Bauern, die Dauphin schon oft neben müden Kühen durch die Stadt hatte
schlendern sehen, ergingen sich zwischen den abgeschirrten Pferden,
rieben die Hände aneinander und lachten sich an und guckten den starken
Gäulen in die aufgerissenen Mäuler. Dauphin hätte sich nicht so von
jedermann in den Mund gucken lassen!

Seine zwei Begleiter hatten's eilig! Ein Judenbübchen, kaum fünfzehn
Jahre alt, kam auf sie zu, klatschte Dauphin auf den Schenkel, trat
aber wieder rasch beiseite, als fürchte er sich vor den Zweien. Es
legte die eine Hand vorsichtig auf seine Mütze, die sonderbare Wülste
hatte, als verhülle sie einen verbeulten Kopf.

„Na, willst du nicht anbeißen?” fragte der eine von Dauphins
Begleitern, und der andere fügte gleich hinzu:

„Kannst ihn billig haben!”

„Der Fuchs hier,” antwortete das Judenbübchen, „kostet fünfundsiebzig
Mark!”

Es zog aus seiner tiefen Innentasche ein Pfund Butter und stülpte die
Mütze seines Kopfes und hielt in der Mütze den beiden zehn reinweiße
Eier vor die Nasen. Der Knabe sah sogleich, daß sie's zufrieden seien
und sagte, indem er ihnen seine Kostbarkeiten überreichte und die Leine
ergriff:

„Emma heißt sie doch, gelt?”

Der eine steckte die Butter in seine Innentasche, der andere kippte am
Wagenrad ein Ei auf, und beide sagten sie zugleich:

„Emma! Freilich, wie denn sonst!”

Auch der andere schlug ein Ei auf, und während der Judenknabe das
Gäulchen schon fortführte, flogen die Eierschalen um ihre Ohren, aber
sie beide achteten nicht darauf!

Sie entfernten sich weiter von der Stadt, überschritten die Brücke,
die Dauphin noch nie überschritten hatte, und kamen auf eine
Landstraße, die links und rechts mit alten Apfelbäumen bestellt war. An
einem Steinhaufen mußte Dauphin stehen bleiben, und der Knabe schwang
sich auf seinen Rücken.

Heisa! Heisa! Ein Kind auf Dauphins Rücken, draußen in der Freiheit,
unter Apfelbäumen, zwischen Aeckern und Wiesen! In leichtem Trab lief
er dahin über die Steinstraße, ledig der Siele, ledig der Stadt, ledig
des mürrischen Balthasar!

Ein Apfel hing allein auf einem Baum: der Knabe stieg ab, warf mit
einem Stecken in die Krone, der Stecken blieb hängen, der Apfel fiel,
und der Knabe gab den Apfel dem Gäulchen, das auf einmal wieder einen
Namen hatte!

„Will Emma auch ein Stück Brot?”

Jawohl, Emma will auch ein Stück Brot!

Aber Emma will auch den Knaben wieder auf ihrem starken Rücken tragen!
Am nächsten Steinhaufen blieb Emma wieder stehen, und der Knabe
schwang sich wieder bäuchlings auf den schmalen Pferderücken, und der
Pferderücken schwebte nur so dahin, einer ungewissen Zukunft entgegen!

Die große Glocke der Stadtkirche flutete hinterdrein, und als das
Gewoge nicht mehr zu hören war, verzögerte Emma den Schritt! Schweiß
stand auf ihrer Haut. Durchs nächste Dorf führte der Knabe sein
Tierchen an der Leine, und hinterm Dorf stieg er nicht wieder auf, und
der Schweiß verkroch sich wieder.

Ein Gebirge hob sich aus der Ebene auf, und in den Fichtenspitzen des
Bergkammes schwang sich ein leiser Wind. Die Sonne senkte sich gerade
in diese zart bewegte Ruhe, und der Knabe sprach und deutete:

„Siehst du, Emma, dort oben hinter diesem Buckel ist unsere Heimat!
Gehst du gerne mit? Du sollst es gut bei uns haben! Weißt, wir haben
noch richtigen Hafer! Bei uns kannst du dich richtig erholen, da wird
dein Wasserbauch verschwinden und die Faßreifen hier, und deine Backen
werden sich füllen und deine Augen: zeig mal deine Augen! Aha! das ist
eine Kleinigkeit für dich, die werden glänzen wie die Sonne am Berge
Garizim! Zu schaffen ist ja nicht viel bei uns: du gehörst übrigens
mir, und wenn sie dich einspannen wollen zu Dreckarbeiten, so werd ich
auch ein Wörtchen mitzureden haben! Es ist ja richtig: wir haben einen
Stall voll Kinder, und die Dienstboten bleiben nicht lang bei uns; aber
bist du etwa ein Dienstbote? Nein, Emma, du bist kein Dienstbote! Und
unter uns gesagt: Dienstboten sollte es fortan überhaupt nicht mehr
geben!”

Gänse ergingen sich, Schweine grunzten im Chausseegraben, eine
Dreschmaschine brummte irgendwo, und man sah sie nicht.

An all diesen Herrlichkeiten raste Emma vorüber, ohne verweilen zu
wollen, und der Weg führte, wie sie wünschte, den Berg hinan, der Sonne
entgegen! Die Sonne versank vollends, der Weg führte wieder talab, ein
Dörflein hockte unten beisammen wie eine Hühnerschar. Im Dorf stand ein
neues Haus neben der Kirche, beschattet von der Kirche: das Schulhaus
natürlich, und hundert Kinder rasten an die Gitterstäbe, als Emma kam.
Aber der Knabe hielt nicht an und eilte, ins Vaterhaus zu kommen, das
am Ende der Straße in Fachwerk leuchtete.

„Vater, Vater!” rief der Knabe in den Hof, „Hans im Glück ist
heimgekehrt! Komm rasch heraus und sieh, was ich dir bringe für die
Butter und für die Eier!”

Die Mutter erschien, schlug die Hände überm Kopf zusammen, drei kleine
Kinder wackelten herzu, vier größere rissen das Hoftor auf und warfen
ihre Schulbücher in die Ecke, und dann kam auch der Vater mit dem
Federhalter hinterm Ohr, und in das Gejubel der Kinder streckte sich
seine sonore, hastige Stimme:

„Uebermorgen, Sigmund, ist sie tausend Mark wert unter Brüdern!”

Emma stand sehr erregt da, sah sich nach allen Seiten um, musterte
besonders die Kinder und freute sich, daß nacheinander alle, und drei
auf einmal sich auf ihren Rücken setzten.

„Tausend Mark unter Brüdern,” entgegnete Sigmund, „aber Emma wird nicht
wieder verkauft! Emma gehört mir!”

„Und mir! Und mir!” krischen die Kleinsten durcheinander, und der Vater
sagte:

„Versteht sich, Sigmund, daß er dir gehört!”

„Und wenn du ihn verkaufen solltest: nicht unter tausend Mark, und
diese tausend Mark für mich auf die Kasse!”

„Versteht sich! Futtergeld abgerechnet!”

„Versteht sich!” erwiderte Sigmund und führte sein Gäulchen in den
Stall des Vaters. Ein altes, ausgemergeltes Kühlein drehte gar
freundlich den Kopf nach Emma und schien ihn nicht mehr wegwenden zu
wollen! Sigmund fing an zu putzen und striegelte Emma blitzblank. Diese
schüttelte sich einmal der ganzen Länge nach vom Halse bis zum Schweif
und schien über die Maßen beglückt zu sein.

Am nächsten Morgen wurde das Kühlein geholt, und am Abend kamen zwei
Kälber in den Stall. Emma, die den ganzen Tag über mit den Kindern und
mit allen Kindern des Dorfes auf den herbstlichen Wiesen umhergetollt
war, wie sie's seit ihrer Jugend nicht mehr getan, traf am Abend die
beiden Milchkälber neben sich und mußte sehen, wie die acht Kinder
sich eher mit diesen Neulingen beschäftigten als mit ihr. Denn die
Neulinge waren noch so jugendlich, daß sie ihre Milch nicht aus der
Schüssel trinken wollten, und daß sie also aus Flaschen mit Gumminapf
trinken mußten.

Sie blieben nur eine Nacht im Stall, die Milchkinder, wurden geholt,
und Emma war allein. Emma durfte ein Wägelchen ziehen, das kleiner und
leichter war als das Kasernenwägelchen. Zum nächsten Dorf gings, an
den Bahnhof! Ein Sack Grieß wurde aufgeladen, und diesen Sack zog Emma
heim. Es ging am selben Tag nochmals an diesen Bahnhof, und diesmal
gab's eine Kiste Zucker und ein Faß Marmelade.

Doch siehe! Ein Militärzug rauschte heran, und Sigmund stellte sich
an die Sperre, indes Emma an der Straße stehen mußte. Sogleich
waren Kinder um sie her. Aber die Kinder blieben nicht lange bei
ihr, denn die Straße her kamen etwa zwanzig Soldaten zu vieren im
Gleichschritt mit fliegenden Mänteln und pfiffen. Als sie an dem
Wägelchen vorüberschritten, löste sich einer aus dem Glied, blieb einen
Augenblick stehen und stürzte sich dann mit weitgeöffneten Armen auf
das Gäulchen und schrie:

„Riesele! Riesele!”

Die Kameraden hörten auf zu pfeifen, der Trupp verwirrte auseinander,
und der eine Soldat rief unausgesetzt:

„Freut euch mit mir, ich habe mein Riesele wiedergefunden, das verloren
war!”

Alle umstellten sie Riesele, alle grinsten vor fröhlichem Lachen, alle
legten die schweren Hände auf Rieseles Rücken! Etliche spannten schon
aus, das Kummet flog auf das Marmeladenfaß, und jetzt erst kam Sigmund
und schrie und tobte:

„Mein Gäulchen, mein Gäulchen! Tausend Mark ist es wert unter Brüdern!”

„Die Revolution hebt auch den Hilfsdienst auf, Gustav,” sagte ein
Feldwebel, „du nimmst dein Riesele mit heim, wohin es gehört!”

„Tausend Mark! Tausend Mark!” schrie Sigmund.

Gustav zog seinen Geldbeutel, leerte ihn in die Hand und zählte; er
hatte noch vierundzwanzig Mark und siebenzig Pfennige.

„Hier hast du die Barschaft eines geschlagenen Soldaten!”

Sigmund weinte heftig; Kinder kamen hinzu und viele Erwachsene, und
niemand hatte gegen das Wort des Soldaten etwas einzuwenden. Die
Soldaten aber zogen alle ihre Geldbeutel, und jeder gab dem Sigmund
noch einen Markschein, so daß dieser die Lippen vorwulstete, das Geld
einsteckte und sich getrost vor sein Wägelchen spannte und schließlich
zu schmunzeln begann.

Riesele aber zog mit. Es hatte den Handel still über sich ergehen
lassen und wohl dem alten, längst vergessenen, trauten Laute sich
hingegeben, ohne der süßen Dinge gedenken zu können, die sich an diesen
Namen hefteten. Da es ausgeschirrt wurde, mochten zudem allerlei
zukunftsfrohe Bilder das verträumte Herz beschlichen haben, das auch
ohne Künstlerschaft stets zu einem Abenteuer bereit war! Der alte
Name Riesele aber brauchte nicht lange in dem zerquälten Kinderherzen
umherzuirren, bis er sich selber wiederfand, denn die Jugend ist
alleweil der ewige Nährboden der Seele.

Der Soldatentrupp nahm Riesele in seine Mitte und schob sich weiter
die Landstraße hin. Man sang, man pfiff; einer trommelte geräuschvoll
ins Land hinein, und Riesele trappte inmitten einer Herrlichkeit, die
es noch nicht durchkostet hatte. In den Dörfern kamen Kinder, ritten
eine Strecke auf Rieseles Rücken und liefen wieder zurück. Junge
Mädchen kamen, hingen sich den Soldaten in die Arme, ließen sich küssen
und lachten und sangen mit, hell, wie Kinder singen, und ihre Stimmen
drangen Riesele ins Herz, als gehörten sie dorthin!

Keines ging, ohne Riesele gestreichelt zu haben, und viele schenkten
ihm etwas: ein Stück Zucker, einen Bissen Brot, eine Handvoll Gras, das
sie in der Eile neben an den Wiesen abrissen! Eines dieser Mädchen, das
besonders übermütig sein mochte, ließ sich sogar auf Rieseles Rücken
heben, als wär es selber noch ein Kind und ritt so eine gute Strecke
mit.

Ehrenpforten taten sich auf, da der Trupp weiter ins Land kam, schwarz
gekleidete Bürgermeister standen auf Balkonen und sprachen Gedichte von
Schiller, und Riesele nahm alles ruhig und ernst entgegen. Rote Bänder
flatterten wieder an seinen Schläfen, und der Hals reckte sich, und die
Ohren spitzten fast so hoch als die der Soldaten.

Eine alte Frau sah zum Fenster heraus, schlug, da sie die heimkehrenden
Soldaten sah, die Arme überm Kopf zusammen und schrie wild hinaus.

Indessen wurde noch an diesem Abend der Trupp kleiner und kleiner,
und als man sich zum Schlafen anschickte, waren nur noch sieben Mann
beisammen und Riesele. Sie schliefen in einem warmen Stall. Sie
schliefen auch am nächsten Abend wieder in einem warmen Stall. Am
folgenden Tag aber stiegen sie in die Eisenbahn; und nun gings rasch
dahin, rechts die Ebenen, links das Gebirge, über einen Fluß, über
Bäche, zu den zwiebeligen Kirchtürmen, und man stieg aus an einem
Bahnhöfchen, das Riesele schon einmal gesehen hatte. Etliche Soldaten
blieben zurück, zwei stiegen aus.

Nun wanderten die drei die Bergstraße hinan, wo Riesele alles schon
gesehen hatte. Das Birkenwäldchen hob sich in den blauen Himmel, die
Wiesen dehnten sich hin, und viele Kühe weideten den letzten Wuchs
ab. Am Eingang des Dorfes prangten wie überall grüne Fichtenkränze,
Tafeln mit Sprüchen, die noch im Kaiserreich geboren waren, und rote
Papierfetzen flatterten hin und her, durchzittert von bangen Hoffnungen
um die bessere Zukunft.

Ha, eben, wie Riesele den Weg links einbog nach dem Mutterhaus, ging
etwas in seiner Seele vor: es blieb stehen! Es hob langsam den Kopf, es
pendelte die Ohrenspitzen gegeneinander, es entblößte die Zähne, und
nun begann es zu rennen, daß Gustav nur mit Mühe ihm folgen konnte.

Auf den Steinstufen der hohen Treppe saß die Familie des Bauern Klaus:
er, der Bauer, Katherin, seine Frau, der rothaarige August und Trudel,
die ein großes Mädchen geworden war. Sie tranken aus weiten tönernen
Schalen ihre Abendmilch und aßen weißes Brot, das dick mit Butter
bestrichen war.

Als sie erkannten, wer da heimkehrte, liefen sie von der Treppe herab,
eine Schale zerklirrte in Scherben, und mitten auf dem Weg fielen
sich alle nacheinander um den Hals, und auch Riesele ward geherzt und
verstohlen geküßt. Als der Bauer sich überzeugt hatte, daß die beiden
Zurückgekehrten unverletzt und gesund vor ihm standen, nahm er seine
Frau an der Hand und führte die Seinen heim.



XVII


In dem Heimathause Rieseles hatte sich nicht viel verändert. Trudel,
die Mutter, stand noch im Stall, eine Kuh ihr zur Seite, zwei Ziegen
meckerten hinten, ein Hasenvater hoppste an seinen vernachlässigten
Jungen vorbei, die Schwalbennester prangten in vergilbendem Rot, auf
der Stallschwelle saßen Hühner mit ihrem Hahn, Enten wackelten einher,
die Gänse erzählten sich die Neuigkeiten der Zeit, und das fleißige
Lieschen schnurrte dünn und abgearbeitet die Stunden aus der Stube
herunter in den Stall.

Die Mutter Trudel war alt und mager geworden, und es dauerte etliche
Tage, bis sie sich ihres Kindes erinnern konnte. Riesele, im ganzen
etwas schmächtiger gebaut als die Mutter, strotzte von Jugendkraft,
und es kam dem Bauern Klaus gleich am ersten Tag der Gedanke, die alte
Trudel irgendwie zu verkaufen und Riesele ihren Dienst versehen zu
lassen.

Seltsamerweise war die ganze Familie mit diesem Plane gleich
einverstanden, und auf der Straße sagten die Leute:

„Na Klaus, jetzt wirst du die Alte abschaffen!”

Es gab sich Gelegenheit, sie nicht einem Pferdehändler, auch nicht
einem Roßschlächter überantworten zu müssen, indem ein Bäuerlein des
Dorfes sie um ein Geringes erstand und sie neben sein schwaches Kühlein
spannte.

Die Hauptarbeit des Jahres war geschafft, als Riesele frischen Mutes
in die heimatlichen Siele trat. Am ersten Tag ließ sich Gustav von
seinem Bruder August ins Städtchen zu seinem Meister fahren, wo er das
Wagnerhandwerk erlernen wollte; und am Abend trabte Riesele nochmals
hinunter, den Gustav wieder abzuholen!

Jeder Schritt, den Riesele tat, war Freude; jeder Atemzug war Freude!
Das Birkenwäldchen drüben, das mächtig in die Höhe geschossen war, goß
Freude in Rieseles Seele; das leere Feld goß Freude in seine Seele!
Die kahlen Obstbäume, die wie abgearbeitete alte Männer den Hang
hinan standen, als mühten sie sich, hinaufzukommen, als wollten sie
jederzeit niedersinken auf ihren ausgebreiteten Schattenteppich, sie
erfüllten die Seele des Gäulchens mit Freude! Das Wässerlein rieselte
nicht größer, nicht kleiner, nicht lauter, nicht leiser inmitten der
Wiesen, und war so hell und so klar wie ehemals, ließ sich auf den
letzten Grund gucken und verheimlichte nichts von seinem Wesen, und gab
bereitwillig und munter schwatzend dem Riesele, wenn dieses über das
Brückelchen stapfte, den Schattenriß seines Kopfes wieder. Welch eine
Freude tat das Wässerlein in Rieseles Herz, wenn es die weiße Blesse
schimmern ließ!

Als Riesele am Abend mit dem Wagnergesellen heimkehrte, kamen ihm schon
ein paar Kinder entgegen, setzten sich zu den Burschen aufs Wägel, und
zu Hause hinter den Fensterscheiben winkte Trudel, das Mädchen, das ein
blaues Band im Krönchen seiner Haare trug, und öffnete das Fenster und
hörte nicht auf zu singen. Es kam sogar heraus zu Riesele, liebkoste es
und sprach:

„Aber wo sind deine goldenen Hufe, Riesele, wo sind sie denn geblieben?
Ich für mein Teil, wenn ich fortzöge in ein Märchenland wie du, ich
käme nicht heim ohne goldene Schuhe!”

„Geh du lieber gar nicht fort!” sagte Gustav, „sonst kann es geschehen,
daß du barfuß wiederkehrst, denn der Krieg macht Deutschland zum
Aschenbrödel der Welt!”

Gustav schirrte Riesele ab; am rechten Brustbein hatte das Kummet
der Mutter, das dem Riesele zu weit war, eine Wunde aufgeschürft, die
Trudel mit essigsaurer Tonerde sofort auswusch. Sie sang dazu das Lied
von den drei Lilien, und Riesele spürte keinen Schmerz und trat in
seinen Stall und legte sich.

Ueber Nacht schneite es ein wenig. Am andren Morgen bekam Riesele vom
Sattler ein weiches Unterkummet an, und nun zog es den Wagen in den
Fichtenwald. Der Bauer saß oben und klapperte mit der Peitsche in
die kalte Morgenluft, und immer fiel der Knall in den weiß beladenen
Fichtenwald und kam zurück und traf niemals Rieseles Ohren!

Hat Riesele je einen solchen Wald gesehen? Die Stämme stehen zu
tausenden im Lot nebeneinander, versinken nach der Tiefe zu im
Dunkeln, die saftgrünen Aeste hängen breit herab übern Weg, und ihr
Schnee bedroht Mensch und Tier, sich zu nahe an sein Geheimnis zu
wagen! Unendlich schier senkt sich der dicht ineinander verwucherte
Fichtenwald ins Tal hinab, steigt wieder empor und verliert sich ins
Weite. Hie und da bricht eine Schneelast vom Zweig und zerstäubt, denn
die Sonne stochert durch die brüchigen Wolken.

Als Riesele an einer Lichtung stehen bleibt, wo der Bauer kleine
Fichten schlägt, da ballt sich das Düster zusammen und flieht in großen
Fetzen über den weißen Hang hinan, und die Sonne greift in langen
Strichen durchs Düster zwischen den grünweißen Fichten. Von den Spitzen
herab tropft das Schneewasser, schneidet durch das Sonnenlicht und
jauchzt tiefblau auf für ein Sekündchen. Was hängt, zittert und quirlt
aus seiner Unruhe alle Farben dieser Erde, und entblößt die Schönheit
der Sonne und ihre Seele. Rasch sinken die Schneemassen hernieder, die
tiefhängenden Schalen heben sich der Sonne entgegen und lassen den
Schnee über die Ränder gleiten, und behalten tausend Wassertropfen
an den grünen Nadeln, in denen die Sonne ihr Geheimnis millionenfach
offenbart.

Geblendet von der schillernden Farbenpracht, läßt Riesele hin und
wieder die Lider sich über die großen Augen herabwölben und hebt sie
sogleich wieder, die Pracht in sich einzutrinken und keinen Tropfen zu
verlieren! Der Duft der Fichten mischt sich drein; die frisch umgehauen
wurden, strömen ihr aufgeritztes Blut umher, und Riesele saugt diesen
würzigen Duft durch die weiten Nüstern in sich ein.

Der Wagen ist schwer beladen, ein leichter Dampf schwebt über dem
kleinen Pferderücken, als der Bahnhof sichtbar wird! Aber Kinder sind
da, Kinder! Sie schreiten neben Riesele drein und rufen:

„Weihnachten, Weihnachten!” und es ist, als freue sich auch das
Riesele auf Weihnachten, und als freuten sich auch die erschlagenen
Fichten ihres frühen Todes, da sie für das Glück der Kinder sterben
durften ...

Oft und jeden Tag fast mußte Riesele diesen Weg wieder machen und mußte
Christbäume an den Bahnhof fahren.

Indeß wurde es kälter, und das Wasser, das über den Wiesen stand,
ward zu Eis. Die Kinder warfen ihre Schlittschuhe über die Schultern
und gingen, die Hände in den Hosentaschen, hinaus und schnallten die
Schlittschuhe an und fegten über die glatte Fläche, hielten die Arme
seitab und die roten Nasen hochauf.

Riesele durfte auch zu den Kindern! Der Bauer Klaus brach das Eis, um
es in die Brauerei des Städtchens zu fahren, und Riesele durfte lange
neben der Eisfläche stehen und gucken, und die Kinder kamen zu ihm,
wärmten ihre Hände an seinem Leib und unter seiner Rückendecke und
umstanden das liebe Gäulchen wie die Stadtkinder den Maronimann.

Was mußte Riesele nicht alles schaffen in der stillen Winterszeit!

War etwa der Herr Doktor aus dem Nachbardorf zu holen: wer anders als
Riesele hätte das so eilig besorgen können? Weilte der Herr Amtsrichter
im Dorf, und er wollte, nachdem er am Abend noch ein dunkles Geschäft
erledigt hatte, samt der schweren Tasche, die das dunkle Geschäft
verhüllte, rasch an den Bahnhof gebracht werden: wer anders als
Riesele, und wer diskreter als Riesele hätte den Herrn Amtsrichter über
den Berg gezogen?

Sollte der Herr Pastor ins Gebirg hinauf, und Glatteis klebte an den
Steinen, oder der Schnee sauste, vom Nordwind zerpeitscht, hernieder:
wer anders als Riesele wäre mit dem Herrn Pastor durch Nacht und Wind
gestürmt, zu denen, die es eilig hatten auf dem Weg zu ihrem ewigen
Glück?

Weihnachten kam und die Neujahrsnacht! In dieser Nacht betrat Cornel,
der Schweinehirt, den Stall und setzte sich vor Riesele auf dessen
steinerne Krippe und sprach:

„Ich will dir Prosit Neujahr sagen, Riesele, alter Freund! Nichts weiß
ich von dir aus deiner Zeit der Fremde! Nur eine schlimme Spur von der
Menschen Hand trägst du an deiner Seite, die ich erkennen kann: sie
haben dir das Geheiligte der Irdischkeit entrissen, um mehr Arbeit von
dir, um größere Freude an dir haben zu können. Sie ließen nicht zu, daß
du jemals Mutter werdest! Sie, die sich Krone der Schöpfung nennen,
treiben Raubbau mit Gottes Angesicht, wo immer sie es antreffen. Zum
Glück, ach ja, zum Glück werden sie ja von Tag zu Tag blinder für die
Herrlichkeiten der Schöpfung, wie zu des alten Noe Zeiten! Damals kam
die gewaltige Sintflut von oben herab über die Menschen! Später, als
sie wieder alles vergessen, aber nichts gelernt hatten, da schickte
Gott sogar seinen eigenen Sohn herunter, sie zu erlösen von ihren
Narreteien und von ihrer Vernichtungswut gegen Gott! Das war doch wohl
das letzte Mittel, das gegen sie zur Verfügung stand: Gott selber kam
und -- erlöste sie nicht! Riesele, Riesele! Sei froh, daß du kein
Mensch bist! Kein Gott könnte dich erlösen! Aber du könntest dich
auch nicht selber erlösen, Riesele, wenn du ein Mensch wärst, obwohl
du alsdann doch den Ekel an dir und die Sehnsucht nach Erlösung in
dir trügest! Siehe, ihr lieber Gott hat sie sich selber überlassen,
da er offenbar nicht wußte, was geschehen sollte! Nun, was haben sie
getan? Aus sich heraus, aus ihrer famosen Freiheit haben sie eine neue
Sintflut geboren, eine Sintglut aus Blut und Eisen! Aber auch diese
Flut war nicht schrecklich genug, sie zu bessern, nicht groß genug,
sie zu vertilgen, und nun stehen sie, zu Stahl geworden, wieder da
und wissen nicht, was jetzt geschehen soll! Frieden! kreischen sie,
überdrüssig des Stahles, an allen Ecken und Enden der Welt! Weißt du,
Riesele, was das ist: Frieden? Und wann erst wieder Frieden werden wird
auf Erden, wann der liebe Gott wieder sichtbarlich -- freilich nicht
mehr in Gestalt der Menschen -- auf Erden wandeln wird, wann, wann,
Riesele? Ich will es dir sagen, denn ich weiß es: wenn die Zeiten der
Menschen abgelaufen sein werden! Dann und nicht eher!

Soll ich dir sagen, was mir neulich unser Pastor, den du gut kennst,
den du noch aus deiner Jugendzeit kennst, was der zu mir sprach? Er
sprach, und er ist ein weiser Mann und hat das Herz auf dem rechten
Fleck:

„Pfaffen herbei!” hat er gesagt, „Hohenzollernsches Brimborium herbei!
Diesem Geschlecht kann die Hölle nicht heiß genug gemacht werden!” So
hat er gesagt, aber er irrt gewaltig! ... Er ist keiner von jenen, die
er herbeiwünscht, er verwünscht alle Peitschen, die über die Menschheit
geschwungen werden: ja, Pfaffen seiner Art ließe ich mir noch gelten,
aber er ist gar kein Pfaffe!

Einst, Riesele, wollte ich dir erzählen, wie die Menschen sich die
Tiere zu Haustieren machten, und ich will es dir jetzt rasch erzählen!

Als die Menschen noch so einfach und noch so gut waren wie die Tiere,
lebten deine Vorfahren frei und fröhlich draußen in den großen
Wiesengärten, die sich endlos über die Erde erstrecken. Sie lebten
vereinzelt, zu zweien und in großen Herden, sie fraßen das Gras vom
Erdboden, sonnten sich und pflegten der Minne. Sie lebten der Liebe
wegen. War im Winter die Erde überschneit, so scharrten sie mit breiten
Hufen das Gras bloß und warteten auf bessere Zeiten. Feinde lauerten
manchmal auf die Jungen, auf die Mütter, auf die starken Väter.
Blutgierige Raubtiere brachen aus den Hecken, aus den Wäldern hervor,
sprangen geschickt an ihre Kehlen und soffen ihr Blut.

Nicht minder geschickt aber wußten die Pferde sich zu verteidigen.
Schon lange, bevor der Feind zur Stelle sein konnte, hörten sie
ihn mit den hochgestellten Ohren, sahen sie ihn mit den großklaren
Augen im Kreise schleichen, und nun ordneten sie sich eiligst in der
Runde, streckten die Köpfe nach innen, daß die bewehrten Hinterbeine
nach außen im Kreise standen, und nun, wenn der Feind es wagte,
heranzukommen, feuerten diese Hufe gegen ihn aus, daß er kein
Plätzchen, keine Lücke fand, anzugreifen.

Da kam der Mensch! Erst schleuderte er aus dem Hinterhalt die
schwersten Steine in die Herde, dann schoß er Pfeile ab aus weiter
Entfernung, das Fleisch der Pferde zu essen, da er ringsum in der Natur
nicht genug fand und es den Blutsaugern ähnlich machen wollte.

An einem Fluß hing seine Hütte halb im Wasser; sein Feld erstreckte
sich den Wald entlang, seine Frauen und seine Kinder wuschelten im
Schilfrohr und nahmen den Kiebitzen und den Enten die Eier aus den
Nestern und stachen die Fische aus dem Wasser. Mühsam, ja, mühsam
warfen sie die Schollen der Erde um, daß neues Korn um so besser
wachsen konnte, und sie sahen die starken Pferde in göttlicher Freiheit
auf den Wiesen umhertollen und kamen, gedankenreich, wie sie sind,
darauf, diese Pferde einzufangen und vor die rohe Pflugschar zu
spannen. Mit einem großen Seil mußten sie das erste Pferd eingefangen
haben. Es ward an den Pfahl gebunden, es ward mit Rindshautriemen
gezügelt, alsdann zog es mit Leichtigkeit den Pflug! Zur Regenzeit
stand es unter einem Dach, zur Winterszeit in einem warmen Stall. Gab
es dem Menschen seine Kraft, so erhielt es dafür ein reichliches Futter
und brauchte besonders im kalten Winter nicht das spärliche Gras aus
dem Schnee zu scharren.

Durch ein Loch in der Lehmwand seines Stalles sah es seine Kameraden
draußen in der Kälte des Winters nach dem spärlichen Grase scharren,
indeß es selber seine warme Suppe nicht ganz verzehren konnte. Da kam
sein Herr herein, sattelte es, nahm das lange Seil, schwang sich auf
des Pferdes Rücken, und nun galoppierten die zwei keck den vielen
Kameraden entgegen, mitten in sie hinein, der Mensch schleuderte das
Seil und fing sich ein zweites Pferd, das mit heim in den warmen Stall
gehen mußte.

Möglich, Riesele, daß noch andere Pferde nachkamen, freiwillig ihrer
Freiheit sich begaben für das bißchen Wärme, für das bißchen Futter!

Wie gesagt, Riesele, Freiheit tauschten sie für die Bedürfnisse des
Bauches und für die Bequemlichkeit! Ich für mein Teil und du nicht
minder, Riesele, wir wären nicht in die Falle gegangen, wir wären
draußen geblieben, denn auch der garstige Winter ist schön, wie alle
Natur in jeglichem Zustand schön ist, wie jeder Mensch, der sich
natürlich gibt, und das Herz, das hier nicht recht Bescheid weiß, lebt
nur halb und weiß nicht, was vollkommene Freude ist!

Die Menschen haben die Verbindung verloren mit der großen Natur allhin
gleich dem Wasser der Pfütze, das steht, stockt, stinkt und nicht zum
Meere kann und des Meeres Pulsschlag verloren hat.

Gut, gut, Riesele: das Geschöpf ist in sich gut und will seinem
Mitgeschöpf behilflich sein! Aber der Mensch unterjochte die Tiere,
erfand die Peitsche, rottete viele gänzlich aus und machte auch den
Mitmenschen sich zum Haustier. Das ist die Wurzel alles Elends in der
Welt! Die Freiheit wurde ausgerottet, und was da übrig blieb, -- der
Pastor hat recht! -- das ist reif für den Schürhaken der Hölle!

Wer spielt die größte Rolle in diesem Menschengezücht? Wer? Der Bauch!
Ha, sie haben so viele Erfindungen gemacht, sie haben sich mit Leib
und Seele der Chemie verschrieben und von der Natur entfernt: wenn die
Chemie doch wenigstens ein Kernchen Radium zu präparieren verstünde für
den Bauch, für den Magen, für den absoluten Souverän der Menschen, daß
ein ganzes Geschlecht davon seine Kräfte beziehen könnte, der Freiheit
zu fröhnen und der Minne! Ha, sie überfressen sich und sagen: das ist
unmenschlich und tierisch! Sie wollen das Tier im Menschen überwinden,
hörst du's, Riesele! sie wollen das Tier im Menschen überwinden und
wissen nicht einmal mehr, daß das Tier keusch ist! Diese raffinierten
Bösewichter des Weltkriegs wissen überhaupt nichts mehr vom Guten!
Wer könnte uns erlösen? Wollen wir's einmal mit dem Gotte in unserer
Brust versuchen, der von uns verlangt, daß wir in Minne das Gute tun
und sonst gar nichts? Wollen wir's versuchen? Wir zwei, wir wollen uns
freiwillig der Gemeinschaft verschreiben und sie erlösen helfen, wenn
dies möglich ist! Wir wollen die Verirrten lieben, weil wir Mitleid
mit ihnen haben, die Hungrigen speisen, die Kranken besuchen, die
Gefangenen erlösen, o Gott, o Gott, Riesele: lieben wollen wir, lieben!
Wir wollen helfen, glücklich machen, wir wollen uns freiwillig in Minne
unserer Freiheit begeben, Riesele, Apostel der Freiheit werden, daß
Gott für unsere armen Mitmenschen in uns wirksam werde!”

Es schlug zwölf, als Cornel seine lange Rede beendet hatte, Schüsse
krachten im Tal umher, das Geknall vorlauter Feuerfrösche hüpfte
zwischen den Revolverschlägen umher, und junge Stimmen riefen das neue
Jahr ein, das wie jedes seiner Vorgänger den Menschen das Glück und
reichen Segen bringen sollte ...



XVIII


Als der Frühling kam, erwachte in dem Dorf sogleich die alte
Fröhlichkeit wieder. Die Kinder sangen auf den Gassen, sie besuchten
Riesele, sie liefen neben ihm drein, sie schenkten ihm Zucker und
gutes Brot, denn an solcherlei Dingen fehlte es in dem Gebirgsdörfchen
nicht. Sie steckten ihm die ersten Blumen ins Halfter, ganze Ketten von
Löwenzahn schoben sie ihm übers Kummet, und sie riefen seinen Namen auf
Weg und Steg.

Die Burschen suchten in den Wiesen nach den schönsten Blumen, banden
Sträuße und stellten sie ihren Liebsten vor die Fenster. Des Abends
saßen sie bis tief in die Nacht auf den steinernen Haustreppen
bei den Mädchen, erzählten vom verruchten Krieg und boten mitten
im Schlachtengeheul ihre liebenden Herzen preis und spielten die
Ziehharmonika, die alle Vertraulichkeiten des Herzens so trefflich zu
sagen versteht, und sangen jene alten Lieder wieder, die unmittelbar
von Herz zu Herz gehen. Die Mädchen kannten schier diese Lieder nicht
mehr. Zoten aus Deutschlands eckigem Wasserkopf, Zoten aus Deutschlands
fettem Bierherzen hatten sie schon lange vorm Krieg hart bedrängt
und verdrängt! Die Küsse, die man zu diesen Zoten gab oder nahm,
verwundeten, die Küsse, die man zu den alten Volksliedern gab oder
nahm, heilten! In den Scheunen wurde getanzt.

Da stand irgendwo ein kleines Geschöpf, konnte zwar nicht mitsingen,
konnte auch nicht mittanzen und noch viel weniger mitküssen, stand da
und legte sich nicht um und schloß die hellen Augen nicht und hatte das
kleine Herz so voll ungestümer Sehnsüchte nach Menschenliebe! Da stand
es und riß an seiner Kette, die nicht aus Löwenzahn gefertigt war, und
scharrte mit dem linken Vorderfuß und nickte mit dem Kopfe und blieb
immer wieder allein! Zwar war es müde von des Tages Last und Arbeit,
zwar ging sein Atem schwer, aber die Augen blieben nicht geschlossen,
und der Kopf reckte sich immer wieder aus dem Stroh empor.

Das Riesele führte also tagsüber den Mist auf die Aecker, kehrte heim,
holte den Pflug und die leichte Egge und zog sie auf einer Schleife
hinaus. Als es aber vor dem Pfluge eingespannt war und die Schollen
aufwerfen sollte, da war seine Kraft zu schwach. Der rothaarige Gustav
begann zu fluchen, wie wenn er ein Feldwebel wäre, schnitt sogar neben
am Waldrand eine Gerte ab und schlug auf Riesele drein, bis er sich
überzeugt hatte, daß sein Räppchen nicht aus böser Absicht den Pflug
nicht zog! Der Bauer Klaus holte die alte Trudel, die jeweils den Acker
wenn auch mühsam durchpflügt hatte, und spannte Mutter und Tochter
nebeneinander, und die Schollen stürzten wacker um.

Ha, wie gingen dem Gäulchen die Nüstern auf, als die frische Erde zu
duften begann, die den Winter ausstrahlte und den Frühling behielt und
neuen Frühling aus der Sonne trank! Wärme und Kraft stiegen aus den
Schollen, und die Dohlen kamen von den kahlen Bäumen heruntergeflogen
und die zierlichen Bachstelzen, ganze Schwärme von Staren, ein
Ungeziefer zu picken oder ein verbummeltes Samenkorn!

Dann mußte Riesele mit der Mutter ein Stündchen am Wege stehen, Gustav
stapfte mit großen Schritten über die dampfende Erde und streute
in mächtigen Bogen den Weizen aus, der im Fallen knisterte und im
Auffliegen, als sehne er sich nach dem weichen Schoß, weithin in die
gleichmäßig nebeneinandergezeilten Furchen. Riesele fraß neben der
Mutter unterdessen das kaum ersproßte Gras des Weges ab, und die
Stränge mit dem Sellscheit schleiften hinter ihnen drein.

„Famos, Riesele!” rief Cornel, der mit seinen Schweinen vorüberzog.

In langen gelben Bändern blühte der Raps, und der Wind warf in breiten
Schwaden den würzigen Honigduft herüber, und die Bienen summten drüber
her.

Der Weizen sproßte, das Korn schoß auf, die Weinstöcke streckten ihre
grünen Fähnchen heraus, und alles, was unten wuchs, ward von den
kugeligen Apfelbäumen überblüht und von den aufstrebenden Birnbäumen,
und der Blütenjubel sprang hügelauf, hügelab im Tal einher, und niemand
war, der sich nicht freute! Kaum ein Tag verging, ohne daß Riesele
nicht irgendwie geschmückt worden wäre von Trudel oder von den andern
Kindern des Dorfes. Einmal flatterte schier eine ganze Woche lang ein
lila Bändchen an seinem Halfter, und niemand wußte, wer es angesteckt
hatte!

O, wenn Riesele Zeit gehabt hätte, wie ehedem mit den Kindern
umherzutollen! Aber es mußte schaffen, solange der Tag währte, und
schaffen war schließlich auch ein Spiel! Es zog den Wagen hinaus,
und auf der Leiter glänzte die scharfe Sense; der Gustav schlug den
würzigen Klee um und lud ihn auf, und Riesele zog ihn heim, daß die
Kuh, die Geißen, die Hasen und schließlich auch die Gänse und die
bequemen Enten etwas zu fressen hatten und das Riesele auch!

Es mußte den armen Kindern helfen, seinen Freunden, wo immer es konnte.
Sah es, daß ein Kind eine Last Futter auf dem Kopfe heimschleppte, so
mußte das Kind seine Last auf des Pferdchens Wagen legen und durfte
vielleicht sogar noch selber aufsteigen! Wollten sie, die Kinder, ins
Nachbardorf an den Bahnhof, und Riesele hatte dortselbst auch etwas
zu besorgen, -- was schon manchmal mitten in der eiligsten Feldarbeit
vorkam, -- so hieß es kurzerhand wie beim Militär: aufsitzen! Und wenn
die Eisenbahn einmal keine Verspätung hatte, und schon hinterdrein
gerannt kam, als hätte der Kommunalverband etwas übrig fürs Zügle, wer
war schließlich doch zuerst am Bahnhof?

Welch eine Kraft bändigte das kleine Riesele in seinen dünnen Beinchen,
wenn's was zu helfen gab!

Eines Abends erwachte hinten im Armenhaus auch ein anderes Lied
wieder und schwebte in breiten Flügelschlägen übers Dorf hin. Einmal
erwacht, wollte dieses Waldhorn wahrlich nicht mehr schlafen gehen und
kam jeden Abend und oft unter Tag, wenn Cornel nicht gerade auf den
Feldern des Großbauern schaffte. Vielleicht rief dieses Waldhorn ganz
frühe Jugenderinnerungen in Riesele wach, vielleicht auch die viel
näher liegenden Vorstellungen aus dem buntgekleideten Künstlerleben
im Zirkus, aber es nähme durchaus nicht wunder, wenn auch ohne all
diese Erinnerungen die empfindsame Pferdeseele in ihrem geruhigen
Gleichgewicht beeinträchtigt worden wäre! Lag Riesele im Stall und
ruhte sich aus nach des Tages Mühen, so sprang es sogleich auf, wenn
Cornels Waldhorn ertönte, so bockelte sein Blut in allen Pulsen,
so regten sich alle Muskeln, die draußen in der Welt für irgendein
Kunststück zugestutzt worden waren: der linke Vorderfuß scharrte, der
Kopf nickte, die Knie versuchten, sich zu beugen, die Hinterbeine
strafften sich, als sollten sie die Last des Körpers in sich aufnehmen!

Ging Riesele an den Strängen, und das Waldhorn schwebte heran, so
fing es an zu tänzeln, mochte die Last noch so schwer sein. Die Ohren
stellten sich, die Nüstern weiteten sich und witterten den Tönen nach,
der lange Schweif peitschte hin und her, als schwärmten Bremsen an
seinen Lenden. Das Kummet begann an dem Halse zu zerren, weil der Hals
steil aufragte, das kindliche Spiel der Muskeln trat deutlich aus dem
Ebenmaß der Glieder hervor, und die Räder des Wagens schnitten über die
Geleise.

Dem Bauern Klaus und seinen Kindern konnte dies Gebahren nicht
entgehen, und da sie vermuteten, daß Riesele draußen in der Fremde für
allerhand Kunststückchen abgerichtet worden sei, so ließen sie ihm
diese seine Freude und erfreuten sich selber daran, und wiederholt
sagte der Bauer zu allen, die sich darüber aufhielten:

„Wir wollen fröhlich miteinander unser schweres Tagwerk vollbringen und
unseren Vater preisen, der mit uns ist!”

Und Riesele war voll der Lieder seines Freundes Cornel und trug sie mit
sich durch sein arbeitsreiches Leben wie die Lieder der Lerchen, die
aus dem Himmelsblau über es herabfielen, wie die Lieder der Blumen,
die allhin läuteten, der Wälder, der Winde, der Wolken, und seine
unentwegte Fröhlichkeit verschenkte Feiertag und Glück, wohin es auch
kam, denn es war ja selber ein Lied draußen in dem großen Jubelruf der
Natur.

       *       *       *       *       *

Die Geschichte ist aus. Der Erzähler sah das Riesele zum erstenmal, als
er am ersten Ferientag, noch voll vom Staub der Stadt, mit seiner Frau
und seinen Kindern hinter den Bergen aus dem Bahnhof trat. Inmitten
einer großen Menschenmenge schwang sich just im selben Augenblick eine
buntgekleidete Dame in kurzem weitfaltigem Röckchen auf einen Schimmel,
der im Kreise raste, und blieb aufrecht stehen und hielt einen Reif
über sich und hoppste auf dem breiten Pferderücken von einem Fuße auf
den andern.

Seine Buben aber sahen zuerst das schwarze Gäulchen seitab stehen und
rannten zu ihm hin und streichelten es.

Und auf einmal beginnt die kleine Gesellschaft zu rennen, und das
Gäulchen schießt wie toll mitten in die Menge hinein, daß alles vor
solcher Wut auseinanderstiebt und Platz macht. Der Erzähler dachte,
seine Buben hätten das Tierchen etwa gefoppt, aber das war nicht so. Er
hört, wie die bunte Dame einen Schrei ausstößt, herzzerreißend schier,
wie Frauen ja schreien können, sieht sie vom Schimmel hüpfen, sieht sie
auf das Räppchen losstürmen und sieht sie umarmen und küssen und immer
wieder küssen.

„Dauphin, Dauphin!” ruft sie, breitet die Arme weit aus, spreizt die
Finger und schreit:

„Da guck, mein Schatz, Granaten hab' ich gedreht, Granaten! Und du?”

Die Leute sind bestürzt und kommen näher hinzu zu diesem seltsamen
Wiedersehen, das sie sich alle nicht erklären können. Die Dame aber
verlor sich in ihrer Freude oder in ihrem Schmerz gänzlich und sagte,
ohne sich um die Menschen zu kümmern:

„Mein Bräutigam, Dauphinettele, weißt du, mein König, dein König, er
ist der einzige König, der gefallen ist!”

Man schwieg ringsum; man sah bestürzt zu der so fröhlich gekleideten
Frau und schwieg irgendwie gerührt. Die Frau aber nahm das Gäulchen von
seinem Wagen weg, band ihm ein Seil ans Halfter, und siehe da: sogleich
beginnt dies, wie wenn's gar nicht anders sein könnte, im Kreise zu
trippeln und nickt mit dem Kopf und niest vor Freude. Die Umstehenden,
die das Räppchen kannten, jubelten ihm zu, und ein Bursche, dem es
offenbar gehörte, kam aus dem Bahnhof gerannt mit einer schweren Rolle
Stacheldraht auf den Schultern, ließ den Draht fallen und trat zur
Dame in den Kreis, um auch dabei zu sein.

„Komm her, mein Schatz!” befahl die Dame, und sogleich kam das Tierchen
zu ihr und scharrte auch schon mit dem linken Vorderhuf.

„~À genoux!~” schrie sie nun, aber sie schrie es nicht zum zweitenmal,
denn sie küßte das Kerlchen schon wieder auf seine weiße Blesse und
sagte dann zu ihm und zu dem Bauernburschen:

„Geh heim in deinen Sonnenschein, Sonnenschein du! Nimm mich mit, nimm
mich mit!”

Es geschah, daß der Erzähler und seine Familie, die Buben links und
rechts beim kleinen Gaul, mit dem Bauernburschen und mit der bunten
Dame gemeinschaftlich den Berg hinanschritten, und daß er mit seiner
Familie in den Stall zum Bauern Klaus kam und daselbst ganz oben im
Dachstübchen Wohnung nahm bis zum letzten Ferientag. Die Dame hatte es
nicht so gut und mußte schon am nächsten Tag mit ihrer Seiltänzertruppe
weiterziehn!

Riesele schloß rasch Freundschaft mit den beiden Buben und machte sie
dem Fräulein Trudel, dem Herrn Gustav, dem Herrn August, sowie allen
Dorfkindern ebenso rasch zu Freunden, aber auch allen Erwachsenen und
allen Tieren und dem Wald, den Wiesen, dem rauhen Bergwind und der
lieben Frau Sonne.

Als der Großbauer Michael seine riesigen Erbsenfelder einerntete, stand
das ganze Dorf auf den Aeckern, Buben und Mädchen, Männer und Frauen
kunterbunt durcheinander, weithin in langen Reihen aufgelöst, und auch
der Erzähler befehligte eine Rotte und führte sein Büchlein zwischen
den Knöpfen des Rockes gleich dem Herrn Lehrer und gleich dem Herrn
Pastor und gleich Cornel, dem geliebten Sauhirten. Hättet sehen sollen,
wie hochbeladen das Riesele die Maschensäcke auf seinem Wägelchen
liegen hatte! Hättet sehen sollen, wie die Stadtbuben Friedemann und
Klaus im Schweiß ihres Angesichtes mit diesem Fuhrwerk unausgesetzt an
den Bahnhof eilten und wieder kamen und aufluden!

Ach Gott, als die Ferien zu Ende waren, wollte der kleine Klaus das
Riesele mitnehmen in die graue Stadt!

Der Erzähler aber, der Vater, anstatt das Riesele zu kaufen, setzte
sich, wenn er müd vom Dienst war, des Abends hin und schrieb für seine
Buben die Geschichte ausführlich nieder, freilich auch für andere Buben
und für andere Leute, und im nächsten Jahr, wenn die Ferien beginnen,
wird er, wenn's möglich ist, wieder zum Bauern Klaus hinter die Berge
gehen, dessen Brot zu genießen, dessen Arbeit zu teilen, dessen Sonne
einzuheimsen und manch wackeres Wort.



Nikolaus Schwarzkopf

Maria vom Rheine

Erzählung

_Wilhelm Schäfer_ schreibt in den „Rheinlanden”: Ich preise dieses
Buch als eine seltene Dichtung. Wenn einmal die Literaturgeschichte
den Mut finden wird, auch in unserer grauenvollen Zeit nach Blüten zu
suchen, wird diese Erzählung sicherlich einen der reizvollsten Funde
darstellen. Ich muß gestehen, ein paarmal dachte ich an den herrlichen
„Taugenichts” von Eichendorff, so bilderbunt und romantisch läuft diese
Erzählung dahin, die von einem Steinbild an einer rheinischen Kirche
ins Mittelalter abschwenkt, um mit dem Schicksal des Steinbildes wieder
in der Gegenwart zu schließen.

_Hans Benzmann_ in „Das neue Deutschland”: Es gibt Dichtungen, die so
fein sind, die so in allem den Leser und seine Seele hinnehmen, ihn so
im tiefsten beglücken, daß er nichts anderes über sie sagen mag: Lest
alle sie, sie waren mir ein Erlebnis und schenkten mir ein vollkommenes
Selbstvergessen, sie werden euch wie mir unvergeßlich sein.


Georg Müller Verlag München



Nikolaus Schwarzkopf

Mathias Grünewald

Ein Büchlein für Kinder Gottes

Wie der Untertitel sagt: Kein Buch der Kunstwissenschaft oder
der Kunstgeschichte, kein „gelehrtes Buch”, kein Buch für den
„Kunstkenner”! Ein Buch vom Menschen und für den Menschen, ein Buch
von der Seele, ein Buch der tiefinnersten Dinge, der positiven,
gottfröhlichen Kindschaft, jenseits aller Konfessionalität. Wer dieses
Büchlein gelesen hat, wer den Ueberschwang der göttlichen Malerseele
des Meisters Mathias in sich verspürt, nachgefühlt, wer sich warm
gelesen an diesen Flammenzeichen der einfachsten Gottesnähe in uns,
tief in uns, dem wird der Meister und alle Kunst schlechthin ein neues
Zeichen sein, die Schuhe zu lösen an diesem heiligen Ort. Der wird
seiner Seele leichter folgen können, wenn sie zurückstrebt ins gelobte
Land der Gotteskindschaft und Gottesnähe.


Georg Müller Verlag München


Druck von Mänicke und Jahn in Rudolstadt



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  | Anmerkungen zur Transkription                                  |
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  | Inkonsistenzen wurden beibehalten, wenn beide Schreibweisen    |
  | gebräuchlich waren, wie:                                       |
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  | allzusehr -- allzu sehr                                        |
  | anderen -- andern                                              |
  | ging's -- gings                                                |
  | indes -- indeß                                                 |
  | soll's -- solls                                                |
  | trottelt -- trottet                                            |
  | über'n -- übern                                                |
  | Weideplatz -- Weidplatz                                        |
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  | Interpunktion wurde ohne Erwähnung korrigiert.                 |
  | Im Text wurden folgende Änderungen vorgenommen:                |
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  | S. 7 „tiefgeleisigen” in „tiefgleisigen” geändert.             |
  | S. 15 „mirs” in „mir's” geändert.                              |
  | S. 36 „wirs” in „wir's” geändert.                              |
  | S. 37 „allmorgentlich” in „allmorgendlich” geändert.           |
  | S. 77 „im Schweiße ihres Ansichtes” in „im Schweiße ihres      |
  |       Angesichtes” geändert.                                   |
  | S. 80 „neben aus dem Maul” in „eben aus dem Maul” geändert.    |
  | S. 99 „allmorgentlich” in „allmorgendlich” geändert.           |
  | S. 123 „wenns” in „wenn's” geändert.                           |
  | S. 138 „Henst” in „Hengst” geändert.                           |
  | S. 153 „auf den Kien” in „auf den Knien” geändert.             |
  | S. 171 „allmorgentlichen” in „allmorgendlichen” geändert.      |
  | S. 182 „hintenher” in „hinterher” geändert.                    |
  | S. 233 „nießen, nießte” in „niesen, nieste” geändert.          |
  | S. 240 „nießen” in „niesen” geändert.                          |
  | S. 291 „aufgeschurft” in „aufgeschürft” geändert.              |
  | mehrfach „A genoux” in „À genoux” geändert.                    |
  |                                                                |
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*** End of this LibraryBlog Digital Book "Riesele - Geschichte eines kleinen Pferdes" ***

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