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Title: Der rote Stern - Ein utopischer Roman
Author: Bogdanow, Alexander
Language: German
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produced from scanned images of public domain material,
provided by the German National Library.



             Erstes Buch der Internationalen Jugendbücherei


                              A. Bogdanoff



                             Der rote Stern


                          Ein utopischer Roman


                     Aus dem Russischen übertragen
                        von Hermynia Zur Mühlen


                                  1923
                    Verlag der Jugendinternationale
                           Berlin-Schöneberg


        Die mit diesem Eindruck versehenen Exemplare dürfen nur
        an Mitglieder der der 3. Internationale angeschlossenen

       Alle Rechte insbesondere das der Uebersetzung vorbehalten
    Copyright by Verlag der Jugendinternationale, Berlin-Schöneberg,
                                   1923
            Druck der Vereinsdruckerei G. m. b. H., Potsdam



                Dr. Werner an den Schriftsteller Mirski


Lieber Genosse, ich sende Ihnen Leonids Schriften. Er wollte sie
veröffentlichen, -- Sie verstehen sich auf diese Dinge besser als ich.
Leonid hat sich verborgen. Ich verlasse das Krankenhaus, um ihn zu
suchen. Meiner Ansicht nach wird er in den Bergwerksgebieten zu finden
sein, wo sich eben gewaltige Ereignisse vorbereiten. Anscheinend ist das
Ziel seiner Flucht -- ein verborgener Selbstmordversuch, die Folge
seiner Geisteskrankheit. Und er war doch der völligen Heilung schon so
nahe.

Sobald ich etwas erfahre, werde ich Sie verständigen.

                                                 Mit herzlichen Grüßen
                                                                   Ihr
                                                            N. Werner.

24. Juli 19..



                           Leonids Manuskript


                              Erster Teil


                               Der Bruch

Es war zu jener Zeit, da in unserem Lande der gewaltige Zusammenbruch
seinen Anfang nahm, jener Zusammenbruch, der noch heute weiter geht und
der sich, meiner Ansicht nach, dem unvermeidlichen, drohenden Ende
nähert.

Die ersten blutigen Tage erschütterten dermaßen das gesellschaftliche
Bewußtsein, daß alle den raschen und leuchtenden Ausgang des Kampfes
erwarteten; es schien, als wäre das Aergste bereits geschehen, als könne
es gar nichts Aergeres mehr geben. Niemand vermochte sich vorzustellen,
wie unerbittlich starr die knochige Gespensterhand sei, die alles
Lebendige erdrosselt hat und auch noch heute in ihrer verkrampften
Umarmung festhält.

Die Erregung des Kampfes durchströmte die Massen. Die Seelen der
Menschen eilten unbändig der Zukunft entgegen, die Gegenwart verschwamm
in einem rosigen Nebel, die Vergangenheit entschwand irgendwo, in weiten
Fernen, wurde aus den Augen verloren. Alle menschlichen Verhältnisse
waren unsicher und verschwommen, wie noch nie zuvor.

In jenen Tagen ereignete sich all das, was mein Leben verwandelte und
mich aus der Sturzflut des proletarischen Kampfes fortriß.

Trotz meiner siebenundzwanzig Jahre war ich in der Arbeiterpartei einer
der »Alten«. Es wurden mir sechs Jahre der Arbeit angerechnet,
unterbrochen durch ein Jahr Gefängnis. Früher als manch anderer fühlte
ich das Nahen des Sturmes, und ging ihm auch gelassener entgegen. Es war
nötig, weit mehr als bisher zu arbeiten, dennoch gab ich meine Studien
nicht auf; besonders interessierten mich die Fragen der Struktur der
Materie. Doch war dies nicht nur platonisch, sondern ich schrieb auch
für wissenschaftliche Zeitschriften, verdiente auf diese Art mein Brot.
Zu jener Zeit liebte ich, oder glaubte zumindest zu lieben.

In der Partei war ihr Name Anna Nikolajewna.

Sie gehörte der anderen, der gemäßigteren Richtung unserer Partei an.
Ich erklärte mir dies aus der Weichheit ihres Charakters, sowie aus der
allgemeinen Verworrenheit der politischen Verhältnisse unseres Landes.
Obgleich sie älter war als ich, hielt ich sie dennoch nicht für einen
völlig geklärten Charakter. Doch irrte ich.

Bald nachdem wir einander näher gekommen waren, zeigte sich die
Verschiedenheit unserer Charaktere auf schmerzlichste Art. Allmählich
bildeten sich die tiefsten gedanklichen Widersprüche aus, die sich
sowohl auf unsere Stellung zur revolutionären Arbeit, als auch auf unser
persönliches Verhältnis bezogen.

Sie war unter der Fahne der Pflicht und des Opfers zur Revolution
gekommen -- ich unter der Fahne des eigenen freien Verlangens. Sie hatte
sich der großen proletarischen Bewegung als Moralistin angeschlossen,
suchte darin die Befriedigung höherer Sittlichkeit -- ich hingegen
gehörte der Bewegung als Amoralist an, als Mensch, der das Leben liebt,
dessen höchste Blüte ersehnt und sich jener Bewegung zuwendet, die den
zur Entwicklung und Blüte führenden Weg der Geschichte verkörpert. Für
Anna Nikolajewna war die proletarische Ethik heilig in sich selbst, ich
jedoch betrachtete diese als nützliche Anpassung, die im Klassenkampf
wohl unerläßlich sei, aber vergänglich wie der Kampf selbst, und bloß
aus der Lebensordnung geboren. Anna Nikolajewna erwartete von der
sozialistischen Gesellschaft ausschließlich eine Umwandlung und
Erneuerung der proletarischen Klassenmoral, während ich behauptete, daß
das Proletariat schon heute die Vernichtung jeglicher Moral anstrebe und
daß das sozialistische Gefühl, indem es die Menschen zu Kameraden der
Arbeit, der Freude und des Leids mache, nur dann völlig ungehemmt
herrschen könne, wenn es den Fetisch-Mantel der Sittlichkeit von sich
werfe. Aus dieser Meinungsverschiedenheit entstanden gar häufig
Widersprüche über die Wertung politischer und sozialistischer Faktoren,
Widersprüche, die zu schlichten unmöglich war.

Noch weit schärfer zeigte sich unsere Meinungsverschiedenheit, wenn es
sich um unser persönliches Verhältnis handelte. Sie fand, daß die Liebe
zur Nachgiebigkeit, zum Opfer, vor allem aber zur Treue verpflichte,
solange der Bund bestehe. Ich dachte gar nicht daran, eine neue
Verbindung einzugehen, doch vermochte ich die Treue als Pflicht nicht
anzuerkennen. Ja, ich behauptete sogar, daß die Polygamie höher stehe
als die Monogamie, weil sie dem Menschen ein reicheres persönliches
Leben und den Nachkommen mehr Vielartigkeit zu geben vermag. Meiner
Ansicht nach ist die sogenannte Unmöglichkeit der Polygamie nur von den
Widersprüchen der bürgerlichen Ordnung geschaffen, gehört zu den
Privilegien der Ausbeuter und Parasiten, zu deren schmutzigen, sich
zersetzenden Psychologie. Auch hierin muß die Zukunft eine gewaltige
Wandlung bringen. Diese Auffassung erschütterte Anna Nikolajewna aufs
tiefste: sie sah darin einen Versuch, in der Form der Idee die groben
sinnlichen Beziehungen zum Leben zu rechtfertigen.

Trotz allem sah ich, ahnte ich nicht die Unvermeidlichkeit eines
Bruches. Da drang in unser Leben ein von außen kommender Einfluß, der
die Entscheidung beschleunigte.

Um diese Zeit kam in die Hauptstadt ein junger Mann, der den in unseren
Kreisen ungewöhnlichen Decknamen Menni trug. Er brachte aus dem Süden
Berichte und Aufträge mit, die klar erkennen ließen, daß er das völlige
Vertrauen der Genossen besitze. Nachdem er seine Aufgabe erfüllt hatte,
beschloß er, noch einige Zeit in der Hauptstadt zu verweilen, und suchte
uns häufig auf; es schien ihm viel daran gelegen, meine Freundschaft zu
erwerben.

Er war in vielem ein origineller Mensch. Schon sein Aeußeres war
ungewöhnlich. Seine Augen wurden derart von dunklen Brillen verdeckt,
daß ich nicht einmal ihre Farbe kannte, sein Kopf war unproportioniert
groß, seine Gesichtszüge waren schön, doch seltsam unbeweglich und
leblos, sie harmonisierten nicht im geringsten mit der weichen
ausdrucksvollen Stimme und der schlanken, jünglinghaft-biegsamen
Gestalt. Er sprach frei und fließend, und was er sagte, war stets
gehaltvoll. Seine Bildung war äußerst einseitig; dem Beruf nach schien
er Ingenieur zu sein.

Im Gespräch hatte Menni die Gepflogenheit, einzelne praktische Fragen
auf allgemeine Grundideen zurückzuführen. Befand er sich bei uns, so
geschah es stets, daß die zwischen meiner Frau und mir bestehenden
Charakter- und Meinungsverschiedenheiten irgendwie in den Vordergrund
gelangten, und zwar derart deutlich und scharf, daß wir voller Qual die
Aussichtslosigkeit des Ganzen erkannten. Mennis Weltanschauung glich der
meinen; er verlieh ihr der Form nach voller Vorsicht und Zartheit, dem
Inhalt nach jedoch voller Schärfe und Tiefgründigkeit Ausdruck. Er
verstand es, unsere verschiedenartigen politischen Ansichten derart
geschickt mit der Verschiedenartigkeit unserer Weltanschauung zu
verknüpfen, daß dieser Unterschied als psychologische Notwendigkeit
erschien, ja schier als logische Schlußfolgerung; jegliche Hoffnung der
gegenseitigen Annäherung entschwand, der Möglichkeit, über die
Meinungsverschiedenheiten hinweg, zu irgendetwas Gemeinsamem zu
gelangen. Anna Nikolajewna empfand für Menni eine Art mit lebhaftem
Interesse gemischten Haß. In mir erweckte er große Achtung und ein
unklares Mißtrauen; ich fühlte, daß er ein Ziel verfolgte, wußte jedoch
nicht, welches.

An einem Januartag -- es war bereits gegen Ende Januar -- wurde den
Parteiführern beider Richtungen der Plan einer Massendemonstration
unterbreitet, einer Demonstration, die aller Wahrscheinlichkeit nach zu
einem bewaffneten Zusammenstoß führen würde. Am Vorabend der
Demonstration erschien Menni bei uns und warf die Frage auf, ob Anna
Nikolajewna entschlossen wäre, falls die Demonstration stattfände,
selbst die Parteiangehörigen anzuführen. Es entstand ein Streit, der
bald einen erbitterten Charakter annahm.

Anna Nikolajewna vertrat die Ansicht, daß ein jeder, der für die
Demonstration gestimmt habe, moralisch verpflichtet sei, in den ersten
Reihen mitzugehen. Ich hingegen behauptete, dies wäre keineswegs
verpflichtend, es müßten nur jene mitgehen, die unentbehrlich oder von
wirklichem Nutzen seien; ich dachte dabei an mich selbst, als an einen
in derartigen Dingen erfahrenen Menschen. Menni ging noch weiter und
erklärte, angesichts des unvermeidlichen Zusammenstoßes mit der
bewaffneten Macht dürften nur redegewandte Agitatoren und
Kampforganisatoren mitgehen; die politischen Führer hingegen hätten bei
der Demonstration nichts zu suchen, Schwächlinge und nervöse Leute
könnten sogar gefährlich werden. Anna Nikolajewna war über dieses Urteil
gekränkt; es schien ihr, als sei es gegen sie gerichtet. Sie brach das
Gespräch ab und zog sich in ihr Zimmer zurück. Auch Menni entfernte sich
bald darauf.

Am folgenden Tage stand ich frühmorgens auf und verließ das Haus, ohne
Anna Nikolajewna gesehen zu haben. Es wurde Abend, ehe ich heimkehrte.
Die Demonstration war von unserem Komitee abgelehnt worden, und soweit
mir bekannt war, hatten auch die Führer der anderen Richtung den
gleichen Beschluß gefaßt. Ich war mit dieser Lösung äußerst zufrieden,
denn ich wußte genau, wie wenig wir auf einen Konflikt mit Waffen
vorbereitet waren, und hielt ein derartiges Vorgehen für eine nutzlose
Kraftvergeudung. Auch glaubte ich, der Entschluß werde Anna Nikolajewnas
Erregung über das gestrige Gespräch ein wenig beschwichtigen ... Daheim
fand ich auf Anna Nikolajewnas Tisch folgenden Brief:

»Ich gehe fort. Je mehr ich mich selbst und Sie begreife, desto klarer
wird mir, daß wir verschiedene Wege gehen und daß wir uns beide geirrt
haben. Es ist besser, wenn wir einander nicht mehr begegnen. Verzeihen
Sie mir.«

Lange durchwanderte ich die Straßen, erschöpft, mit dem Gefühl der Leere
im Kopf und der Kälte im Herzen. Als ich heimkehrte, fand ich einen
unerwarteten Gast vor; am Tisch saß Menni und schrieb einen Brief.


                            Die Aufforderung

»Ich muß mit Ihnen über eine äußerst wichtige und einigermaßen seltsame
Angelegenheit sprechen«, sagte Menni.

Mir war alles einerlei; ich setzte mich nieder, bereit, ihn anzuhören.

»Ich las Ihre Abhandlung über die Elektrone und die Materie«, begann er.
»Ich studierte selbst einige Jahre diese Frage und finde in Ihrer
Abhandlung viele wertvolle, richtige Ideen.«

Ich verbeugte mich schweigend, und er fuhr fort:

»Ihre Arbeit enthält eine für mich besonders interessante Bemerkung. Sie
gelangen dort zu der Annahme, daß die elektrische Theorie der Materie
zur unvermeidlichen Voraussetzung eine Schwerkraft hat, die sich aus der
elektrischen Kraft, sowohl als Anziehungskraft wie auch als
Abstoßungskraft ergibt, was zu einer neuen Auffassung der elektrischen
Schwerkraft unter einer andern Formel führen muß. Das heißt: wir
erhalten dadurch eine Art der Materie, welche die Erde abstößt anstatt
sie anzuziehen, und das gleiche gilt auch für die Sonne und die anderen
uns bekannten Körper. Sie bringen als Vergleich die diamagnetische
Abstoßungskraft der Körper und die Abstoßung der Parallelströme. All
dies ist bei Ihnen nur angedeutet, doch glaube ich trotzdem, daß Sie
diesen Voraussetzungen größere Bedeutung beimessen, als Sie in Ihrer
Arbeit zugeben wollten.«

»Sie haben recht«, erwiderte ich. »Ich glaube, dies ist der einzige Weg,
auf dem die Menschheit das Problem der freien Bewegung in der Luft,
sowie jenes der Verbindung zwischen den Planeten zu lösen vermag. Aber
mag nun diese Idee in sich richtig sein oder nicht, jedenfalls ist sie
bis zum heutigen Tage fruchtlos geblieben, weil uns die richtige Theorie
der Materie und der Schwerkraft fehlt. Gibt es noch eine andere Art der
Materie, so ist es scheinbar unmöglich, diese zu entdecken: die
Anziehungskraft besteht für das ganze Sonnensystem, aber ebenso wahr
ist, daß sie bei dessen Entstehung, als sich dieses aus der Nebulosität
herausbildete, noch nicht bestand. Dies bedeutet, daß wir diese Art der
Materie noch theoretisch bilden und erst dann praktisch schaffen müssen.
Heute fehlen uns hierzu noch Mittel und Wege, wir ahnen bloß die
Aufgabe, die wir zu lösen haben.«

»Trotzdem ist das Problem bereits gelöst«, erklärte Menni.

Ich blickte ihn verblüfft an. Sein Gesicht war, wie immer, völlig
unbewegt, aber im Ton seiner Stimme lag etwas, das mich hinderte, ihn
für einen Charlatan zu halten.

»Vielleicht ist er geisteskrank«, fuhr es mir durch den Kopf.

»Ich habe keineswegs den Wunsch, Sie zu täuschen, weiß genau, was ich
sage«, mit diesen Worten antwortete er auf meine Gedanken. »Hören Sie
mich geduldig an, später, wenn es nötig ist, werde ich Ihnen die Beweise
erbringen.« Und nun berichtete er folgendes:

»Die gewaltige Entdeckung, von der hier die Rede ist, war nicht die
Leistung einzelner Personen. Sie gehört einer ganzen wissenschaftlichen
Gesellschaft an, die seit recht geraumer Zeit besteht und schon lange an
diesem Problem arbeitete. Diese war bis heute eine Geheimgesellschaft,
und ich bin nicht bevollmächtigt, Ihnen Näheres über deren Ursprung und
Geschichte mitzuteilen, solange ich nicht mit dem Oberhaupt
zusammengekommen bin.

Unsere Gesellschaft hat in vielen wichtigen Dingen die akademische Welt
weit überholt. Die Radium-Elemente und deren Zersetzung waren uns lange
vor Curie und Ramsey bekannt, und unseren Genossen gelang eine weit
tiefgehendere Analyse der Materie. Auf diesem Weg ahnten wir die
Möglichkeit des Bestehens von Elementen, die die Erdkörper abstoßen und
vervollkommneten die Synthese dieser Minus-Materie, wie wir sie
abgekürzt nennen.

Nun fiel uns die technische Ausarbeitung und Anwendung dieser Entdeckung
nicht mehr schwer, -- vor allem, einen Flugapparat zu bauen, der sich in
der Atmosphäre unserer Erde zu bewegen vermag, dann einen Apparat, der
imstande ist, die Verbindung mit den übrigen Planeten herzustellen.«

Mennis gelassener, überzeugter Ton vermochte nicht zu verhindern, daß
mir seine Erzählung äußerst seltsam und unwahrscheinlich erschien.

»Und es gelang Ihnen tatsächlich, all dies zu leisten und dabei das
Geheimnis zu wahren«, unterbrach ich seine Rede.

»Ja, denn dies erschien uns von ungeheuerer Wichtigkeit. Wir fanden, daß
es äußerst gefährlich wäre, unsere wissenschaftliche Entdeckung bekannt
zu geben, solange der größte Teil der Länder eine reaktionäre Regierung
besitzt. Und Ihr russischen Revolutionäre müßt, mehr als alle anderen,
mit dieser unserer Ansicht übereinstimmen. Betrachtet doch, wozu
Eure asiatische Regierung die europäischen Verbindungs- und
Vernichtungsmittel benützt: sie wendet sie an, um hier alles Lebendige,
Fortschrittliche zu erdrosseln und samt der Wurzel auszureißen. Was ist
an diesem halb feudalen, halb konstitutionellen Reich Gutes, auf dessen
Thron ein kriegslustiger, schwatzhafter Dummkopf sitzt, der sich von
allbekannten Gaunern lenken läßt? Wozu bestehen in Europa bereits zwei
kleinbürgerliche Republiken? Es ist klar, daß, wenn unsere Flugmaschinen
bekannt würden, die Regierung sich ihrer bemächtigen, sie zu einem
Monopol umwandeln würde, um sie zur Machtstärkung der herrschenden
Klassen auszubeuten und anzuwenden. Dies wollen wir auf keinen Fall
gestatten, deshalb soll auch in der Erwartung günstigerer Bedingungen
das Monopol in unseren Händen bleiben.«

»Ist es Ihnen tatsächlich gelungen, einen anderen Planeten zu
erreichen?« erkundigte ich mich.

»Ja, wir erreichten die zwei nächsten tellurischen Planeten, Venus und
Mars; den toten Mond rechne ich selbstverständlich nicht mit. Wir sind
nun damit beschäftigt, die Einzelheiten genauer kennen zu lernen. Wir
besitzen alle nötigen Mittel; was uns fehlt, sind starke, hoffnungsvolle
Menschen. Bevollmächtigt von meinen Genossen, fordere ich Sie auf, sich
uns anzuschließen. Selbstverständlich würden Sie dadurch alle unsere
Pflichten auf sich nehmen und alle unsere Rechte genießen.«

Er verstummte, wartete auf eine Antwort.

»Die Beweise«, sagte ich. »Sie versprachen mir Beweise zu geben.«

Menni zog aus der Tasche eine Glasflasche, gefüllt mit einer
metallischen Flüssigkeit, die ich für Quecksilber hielt. Seltsamerweise
jedoch füllte diese Flüssigkeit bloß den dritten Teil der Flasche, und
zwar befand sie sich nicht auf dem Grund, sondern im oberen Teil, in der
Nähe des Flaschenhalses, ja sie reichte sogar bis an den Pfropfen. Menni
drehte die Flasche um, und nun sank die Flüssigkeit auf den Grund, das
heißt, sie strebte abermals in die Höhe. Menni ließ das Fläschchen los,
und es schwebte in der Luft. Dies war unglaublich, aber dennoch sah ich
es genau, konnte nicht daran zweifeln.

»Die Flasche besteht aus gewöhnlichem Glas«, erklärte Menni. »Sie ist
mit einer Flüssigkeit angefüllt, die die Körper des Sonnensystems
abstößt. Die Flüssigkeit verfolgt nur den Zweck, der Flasche
Gleichgewicht zu verleihen; hat sonst keinerlei Bedeutung. Nach dieser
Methode verfertigten wir die Flugapparate. Sie bestehen aus gewöhnlichem
Material, enthalten aber ein Reservoir, das mit der nötigen Menge der
Materie der negativen Art gefüllt ist. Dann galt es noch, diesem Apparat
die gebührende Bewegungsschnelligkeit zu verleihen. Für die irdischen
Flugmaschinen genügt ein elektrischer Motor mit Luftschrauben, für die
interplanetare Bewegung freilich genügen diese Mittel nicht. Dort
verwenden wir eine völlig andere Methode, mit der ich Sie später bekannt
machen werde.«

Es war unmöglich, noch weitere Zweifel zu hegen.

»Was fordert Ihre Gesellschaft außer der Pflicht, das Geheimnis zu
wahren, von jenen, die sich ihr anschließen?«

»Sie stellt fast keine anderen Forderungen. Kümmert sich weder um das
Privatleben, noch um die gesellschaftliche Tätigkeit der Genossen, falls
letztere nicht für die Ziele unserer Gesellschaft schädlich ist. Doch
muß ein jeder, der sich der Gesellschaft anschließt, irgendeine wichtige
verantwortungsvolle, von der Gesellschaft gestellte Aufgabe erfüllen.
Dies dient einerseits dazu, die Verbindung zwischen ihm und der
Gesellschaft zu verstärken, andrerseits aber dazu, seine Fähigkeiten und
seine Energie zu beweisen.«

»Es würde also auch mir ein derartiger Auftrag, eine derartige Aufgabe
auferlegt werden?«

»Ja.«

»Was?«

»Sie müßten sich der Expedition anschließen, die sich morgen im großen
Aetheroneff nach dem Planeten Mars begibt.«

»Wie lange wird diese Expedition währen?«

»Das ist noch unbekannt. Der Flug hin und zurück nimmt wenigstens fünf
Monate in Anspruch. Es ist auch möglich, daß die Expedition überhaupt
nicht zurückkehrt.«

»Das begreife ich, und daran liegt mir auch nichts. Aber meine
revolutionäre Arbeit? Sie sind, wenn ich nicht irre, selbst
Sozialdemokrat und werden diese Schwierigkeit begreifen.«

»Wählen Sie! Wir halten die Unterbrechung Ihrer Arbeit unumgänglich
notwendig für Ihr Werk. Für die einmal Aufgenommenen gibt es kein
Zurück. Eine einzige Weigerung ist eine Weigerung auf ewig.«

Ich überlegte. Ob sich der eine oder andere Arbeiter aus der breiten
Masse ausschaltete, hatte für die Sache und das Ziel nicht die geringste
Bedeutung. Auch vermöchte ich, nach dieser vorübergehenden Unterbrechung
der Arbeit, unserer revolutionären Bewegung vermittels der neuen
Verbindungen, Kenntnisse und Mittel weit nützlicher zu sein. Ich
entschloß mich.

»Wann muß ich zur Stelle sein?«

»Sofort, Sie kommen gleich mit mir.«

»Können Sie mir noch zwei Stunden geben, damit ich die Genossen
verständige? Sie müssen mich morgen im Bezirk vertreten.«

»Dies ist schon fast getan. Heute kam Andrej, der aus dem Süden geflohen
ist. Ich teilte ihm mit, Sie würden vielleicht verreisen, und er ist
bereit, Ihre Stelle einzunehmen. Während ich Sie hier erwartete, schrieb
ich auf gut Glück an ihn und erteilte ihm die nötigen Anweisungen. Wir
können unterwegs den Brief für ihn abgeben.«

Ich vermochte nicht länger zu schwanken. Rasch vernichtete ich einige
persönliche Schriften, schrieb an meine Wirtin und kleidete mich an.
Menni war schon bereit.

»So, gehen wir. Von diesem Augenblick an bin ich Ihr Gefangener.«

»Sie sind mein -- Genosse«, entgegnete Menni.


                               Die Nacht

Mennis Wohnung nahm das ganze fünfte Stockwerk eines großen Gebäudes
ein, das an dem einen Ende der Stadt vereinsamt zwischen niederen
Häuschen aufragte. Wir begegneten niemandem. Die Zimmer, die ich mit
Menni durchschritt, waren leer; im grellen Licht der elektrischen Lampen
mutete diese Leere besonders trübselig und unnatürlich an. Im dritten
Zimmer blieb Menni stehen.

»Hier«, und er wies auf die Tür des vierten Zimmers, »befindet sich das
kleine Luftschiff, in dem wir uns nach dem Aetheroneff begeben werden.
Vorher aber muß ich noch eine kleine Verwandlung bewerkstelligen. In
dieser Maske fiele es mir schwer, das Schiff zu lenken.« Er knöpfte den
Kragen auf, nahm zugleich mit den Brillen die erstaunliche Maske ab, die
wir, sowohl ich wie alle anderen, bis dahin für sein wahres Gesicht
gehalten hatten. Ich war von dem sich mir bietenden Anblick äußerst
verblüfft. Mennis Augen waren ungeheuer groß, waren größer, als dies
Menschenaugen je zu sein pflegen. Die Pupillen waren sogar für diese
unnatürlich großen Augen außerordentlich geweitet, was einen schier
erschreckenden Eindruck hervorrief. Der obere Teil des Gesichtes und der
Schädel waren so breit, wie dies bei den großen Augen notwendig schien,
hingegen war der untere, völlig bartlose Teil des Gesichtes ungewöhnlich
klein. All das machte einen sehr originellen Eindruck, gemahnte an eine
Mißgeburt, doch keineswegs an eine Karikatur.

»Sie sehen, was für ein Aeußeres mir die Natur gab«, sprach Menni.
»Werden begreifen, daß ich es verbergen muß, schon um die Menschen nicht
zu erschrecken, mehr noch aber aus konspirativen Gründen. Sie jedoch
müssen sich an meine Häßlichkeit gewöhnen, denn Sie werden gezwungen
sein, lange Zeit mit mir zu verbringen.«

Er öffnete die Tür des anstoßenden Zimmers und entzündete das Licht. Ich
erblickte einen großen Saal. In der Mitte lag ein kleiner, ziemlich
breiter Kahn aus Metall und Glas. Vorderteil, Bord und Boden bestanden
aus Glas und Stahlgeflecht; die durchsichtigen Wände von etwa zwei
Zentimeter Dicke waren augenscheinlich sehr fest. Am Vorderteil des
Schiffes befanden sich, in einem spitzen Winkel vereinigt, zwei starke
Kristallplatten; diese mochten die Luft zerschneiden und gleichzeitig
die Passagiere gegen den durch die rasche Bewegung erzeugten Wind
schützen. Die Maschine füllte den Mittelteil des Schiffes aus, die
Schrauben und die etwa einen halben Meter breiten Schaufeln nahmen den
Hinterteil des Schiffes ein. Der halbe Vorderteil des Schiffes, sowie
die Maschinen waren von einem feinen, dünnplattigen Schutzdach bedeckt;
den Glasbord verstärkten Metallbänder und leichte Stahlsäulen. Das Ganze
war fein und zierlich wie ein Spielzeug.

Menni gebot mir, auf der Seitenbank der Gondel Platz zu nehmen, dann
verlöschte er das elektrische Licht und öffnete das riesige Saalfenster.
Er selbst setzte sich vorne an die Maschine und warf aus der Gondel
einige Säcke Ballast. Das Schiff zitterte, setzte sich langsam in
Bewegung und schwebte lautlos zum offenen Fenster hinaus.

»Dank der Minus-Materie«, sagte Menni, »brauchen unsere Aeroplane nicht
die wichtigtuerischen und ungelenken Flügel.«

Ich saß wie angeschmiedet, wagte nicht, mich zu rühren. Der Lärm der
Schrauben wurde immer stärker, die kalte Winterluft überströmte uns,
kühlte mir das glühende Gesicht, doch vermochte sie nicht durch meine
warmen Kleider zu dringen. Ringsum funkelten, schwebten tausend Sterne,
und unter uns ... Durch den durchsichtigen Boden der Gondel sah ich, wie
die dunklen Flecken der Häuser immer kleiner wurden und die hellen
Pünktchen der elektrischen Lampen immer mehr in der Ferne verschwammen;
in der Tiefe leuchteten die schneeigen Ebenen unter dem düsteren,
blaßblauen Himmel. Das Gefühl des Schwindels, das mich zuerst leicht und
fast angenehm gedeucht hatte, nahm heftig zu, und ich schloß die Augen,
um ihm zu entkommen.

Schärfer wurde die Luft, mächtiger der Lärm der Schrauben und das
Pfeifen des Windes -- augenscheinlich steigerte sich unsere
Geschwindigkeit. Mein Ohr unterschied durch alle Geräusche einen feinen
ununterbrochenen, gleichmäßigen, silbrigen Ton -- die Luft peitschend,
erschütterte dieser die Glaswände der Gondel. Eine seltsame Musik
erfüllte das Bewußtsein, die Gedanken verwirrten sich, verschwanden,
zurück blieb einzig und allein das Gefühl einer elementar-leichten und
ungehemmten Bewegung, die uns weitertrug, vorwärts, vorwärts in den
unendlichen Raum.

»Vier Kilometer in der Minute«, sprach Menni, und ich öffnete die Augen.

»Ist es noch weit?« fragte ich.

»Noch etwa eine Wegstunde auf eisgebundenem See.«

Wir hatten eine Höhe von etlichen hundert Metern erreicht; das
Flugschiff bewegte sich horizontal, ohne sich zu senken und ohne höher
zu steigen. Nun hatten sich meine Augen bereits an das Dunkel gewöhnt
und ich vermochte alles ringsum klar zu erkennen. Wir waren in der
Gegend der Seen und Granitfelsen. Ueber den Schnee aufragend, dunkelten
die Felsen. Zwischen ihnen klebten Dörfchen.

Zu unserer Linken blieben in der Ferne zurück die Flächen der von
gefrorenem Schnee bedeckten Felder, zu unserer Rechten die weiße Ebene
eines ungeheueren Sees. In dieser leblosen Winterlandschaft schickten
wir uns an, das Band zwischen uns und der alten Erde zu zerreißen. Und
jählings fühlte ich nicht nur die Ahnung, nein, die Gewißheit, daß
dieses Band nun auf ewig zerrissen werde ...

Die Gondel senkte sich langsam zwischen die Felsen nieder, hielt an in
der kleinen Bucht des Bergsees, vor einem dunklen, aus dem Schnee
aufragenden Bau. Weder Fenster noch Türen waren zu sehen. Die
Metallhülle schob sich langsam zur Seite, eine schwarze Oeffnung kam zum
Vorschein, in die unsere Gondel hineinflog. Dann schloß sich die
Oeffnung von neuem, der Raum, in den wir gelangt waren, erhellte sich im
Licht elektrischer Lampen. Es war dies ein großes, langgestrecktes
Zimmer ohne Möbel; auf dem Fußboden lagen viele Säcke mit Ballast.

Menni befestigte die Gondel an einem eigens dazu bestimmten Pfosten und
schob eine der Seitentüren auf. Sie führte auf einen langen, hell
erleuchteten Korridor. An den Seiten des Korridors befanden sich
Kajüten. Menni geleitete mich in eine derselben und sprach:

»Hier ist Ihre Kajüte. Richten Sie sich hier ein; ich muß mich ins
Maschinenabteil begeben. Wir sehen uns morgen früh wieder.«

Ich war froh, allein zu sein. Nach der durch die seltsamen Ereignisse
des Abends hervorgerufenen Aufregung machte sich bei mir große
Erschöpfung bemerkbar. Ohne das auf dem Tisch vorbereitete Abendessen
anzurühren, verlöschte ich die Lampe und warf mich aufs Bett. In meinem
Kopf vermischten sich auf unsinnigste Art die Gedanken, jagten von Thema
zu Thema, nahmen die unerwartetsten Formen an. Ich bemühte mich
hartnäckig, einzuschlafen, doch wollte mir dies lange Zeit nicht
gelingen. Endlich jedoch verdunkelte sich das Bewußtsein, unklare,
schwankende Gestalten begannen vor meinen Augen zu reigen, meine
Umgebung zerfloß ins Weite, und schwere Träume suchten mein Gehirn heim.

Das Ganze endete mit einem furchtbaren Alpdruck. Ich stand am Rande
eines ungeheueren schwarzen Abgrunds, in dessen Untiefe Sterne
funkelten. Menni riß mich mit unbesiegbarer Kraft hinab, sagend, ich
dürfe nicht die Schwerkraft fürchten, wir würden nach einigen
hunderttausend Jahren des Sturzes die nächsten Sterne erreichen. Ich
stöhnte auf in der Qual des letzten Kampfes und erwachte.

Weiches blaues Licht erfüllte meine Stube. Niedergebeugt zu mir, saß auf
meinem Lager -- Menni? Ja, er war es, aber phantastisch verändert: mir
schien, als sei er um vieles kleiner und seine Augen blickten nicht mehr
so scharf aus dem Antlitz; seine Züge waren weich und gütig, nicht kalt
und abstoßend, wie sie am Rande des Abgrunds gewesen ...

»Wie gut Sie sind ...«, murmelte ich, unklar diese Veränderung
erfassend.

Er lächelte und legte mir die Hand auf die Stirne. Eine kleine weiche
Hand. Ich schloß die Augen, mir kam der sinnlose Gedanke, daß ich diese
Hand küssen müßte, dann vergaß ich alles und versank in einen ruhigen,
wohltuenden Schlaf.


                             Die Erklärung

Als ich erwachte und meine Stube erhellte, war es zehn Uhr. Nachdem ich
mich angekleidet hatte, drückte ich auf die Schelle, und gleich darauf
betrat Menni das Zimmer.

»Werden wir bald abfahren?« fragte ich.

»In einer Stunde«, erwiderte Menni.

»Kamen Sie heute Nacht zu mir, oder träumte ich dies nur?«

»Es war kein Traum, doch kam nicht ich zu Ihnen, sondern unser junger
Arzt Netti. Sie schliefen unruhig und gequält, er mußte Sie mit Hilfe
des blauen Lichtes und der Hypnose einschläfern.«

»Ist er Ihr Bruder?«

»Nein«, entgegnete Menni lächelnd.

»Sie sagten mir noch nie, welcher Nation Sie angehören. Sind auch Ihre
übrigen Genossen vom gleichen Typus, wie Sie?«

»Ja«, antwortete Menni.

»Dies bedeutet, daß Sie mich betrogen haben«, sprach ich scharf. »Hier
handelt es sich nicht um eine wissenschaftliche Gesellschaft, sondern um
etwas ganz anderes?«

»Ja«, erwiderte Menni gelassen. »Wir alle sind Bewohner eines anderen
Planeten, gehören einer andersgearteten Menschheit an. Wir sind --
Marsbewohner.«

»Weshalb betrogen Sie mich?«

»Hätten Sie mich angehört, wenn ich Ihnen mit einem Male die ganze
Wahrheit gesagt haben würde? Ich hatte äußerst wenig Zeit, um Sie zu
überzeugen. Deshalb mußte ich um der Wahrscheinlichkeit willen die
Wahrheit fälschen. Ohne diesen Uebergang wäre Ihr Bewußtsein allzusehr
erschüttert worden. In der Hauptsache aber -- was diese unsere Reise
anbelangt -- sprach ich die Wahrheit.«

»Ich bin also dennoch Ihr Gefangener?«

»Nein, noch sind Sie frei. Es bleibt Ihnen eine Stunde Zeit, Ihren
Entschluß zu fassen. Wollen Sie die Fahrt aufgeben, so werden wir Sie
zurückbringen und unsere Reise aufgeben, denn es hätte für uns keinen
Sinn, allein heimzukehren.«

»Wozu brauchen Sie mich?«

»Um ein lebendiges Band zwischen uns und der irdischen Menschheit
herzustellen. Damit Sie unsere Lebensordnung kennen lernen und den
Marsbewohnern die nähere Bekanntschaft mit der irdischen Ordnung
vermitteln, damit Sie, falls Ihnen dies erwünscht ist, in unserer Welt
Vertreter Ihres Planeten seien.«

»Ist dies nun bereits die volle Wahrheit?«

»Ja, die volle Wahrheit. Falls Sie die Kraft fühlen, diese Rolle
durchzuführen.«

»In einem solchen Fall muß ich es eben versuchen. Ich bleibe bei Ihnen.«

»Ist dies Ihr endgültiger Entschluß?« fragte Menni.

»Ja, wenn nicht auch diese letzte Erklärung irgend eine Art Uebergang
bedeutet.«

»Also wir reisen«, sprach Menni, ohne meine Stichelei zu beachten. »Ich
gehe noch, um dem Maschinisten einige Weisungen zu erteilen, dann komme
ich wieder und wir wollen zusammen die Abfahrt des Aetheroneff
beobachten.«

Er verließ das Zimmer, und ich blieb von den verschiedensten Gedanken
bewegt zurück. Noch war die Erklärung nicht vollständig. Es blieb eine
recht bedeutsame Frage übrig. Doch konnte ich mich nicht entschließen,
sie an Menni zu stellen. Hatte er bewußt, wissentlich meinen Bruch mit
Anna Nikolajewna herbeigeführt? Mir erschien dies so. Wahrscheinlich sah
er in ihr ein Hindernis für seine Ziele. Vielleicht mit Recht. Doch
hatte er den Bruch höchstens beschleunigen, nicht aber schaffen können.
Freilich war dies eine dreiste Einmischung in meine persönlichen
Angelegenheiten gewesen. Da ich aber nun bereits mit Menni verbunden
war, mußte ich meine Feindseligkeit gegen ihn unterdrücken. Es galt, das
Vergangene nicht mehr zu berühren; am besten würde es sein, nicht mehr
an diese Frage zu denken.

Im allgemeinen bedeutete diese neue Wendung für mich keinerlei besondere
Erschütterung. Der Schlaf hatte mich gekräftigt, und es war schwer, nach
dem am gestrigen Abend Verlebten noch über irgend etwas in Verblüffung
zu geraten. Nun galt es bloß, den Plan künftiger Tätigkeit
auszuarbeiten.

Offensichtlich bestand meine Aufgabe darin, mich so schnell und so
vollkommen wie möglich mit meiner neuen Umgebung vertraut zu machen. Am
besten wird es wohl sein, ich befasse mich zuerst mit dem
Zunächstliegenden, strebe dann Schritt für Schritt dem Fernerliegenden
zu. Als Zunächstliegendes erschienen mir der Aetheroneff, seine Bewohner
und unsere beginnende Fahrt. Der Mars war noch fern, im besten Fall
würden wir ihn, Mennis Worten zufolge, in zwei Monaten erreichen.

Die äußere Form des Aetheroneff hatte ich bereits am vorhergehenden
Abend erblickt: sie war fast kugelförmig, mit abpolierten Enden,
gemahnte an das aufgestellte Ei des Kolumbus. Selbstverständlich war
diese Form gewählt worden, um bei möglichst kleiner Oberfläche die
größtmögliche Ausdehnung zu erhalten, das heißt, bei dem geringsten
Aufwand von Material die der Abkühlung ausgesetzte möglichst geringe
Fläche. Was das Material anbelangte, so schien dieses aus Aluminium und
Glas zu bestehen. Die innere Einrichtung sollte mir von Menni gezeigt
und erklärt werden, auch wollte er mich mit den übrigen »Ungeheuern«
bekannt machen, wie ich bei mir meine neuen Genossen nannte.

Menni kehrte zurück und führte mich zu den übrigen Marsbewohnern. Sie
waren alle in dem Seitensaal versammelt, dessen ungeheueres
Kristallfenster die eine Hälfte der Wand einnahm. Das echte Sonnenlicht
wirkte nach der phantastischen Helle der elektrischen Lampen angenehm.
Es waren etwa zwanzig Marsbewohner zugegen; mich deuchte, sie hätten
alle die gleichen Gesichter. Der Mangel eines Bartes oder Schnurrbartes,
ja sogar das völlige Fehlen von Runzeln und Falten schien die
Verschiedenheit ihres Wuchses gleichsam zu verwischen. Unwillkürlich
heftete ich die Augen auf Menni, um ihn unter diesen mir fremden
Kameraden nicht zu verlieren. Uebrigens gelang es mir bald, zwischen
ihnen meinen nächtlichen Gast Netti zu erkennen, der sich durch seine
Jugendlichkeit und Lebhaftigkeit auszeichnete, sowie den
breitschultrigen Riesen Sterni zu unterscheiden, der mich mit kaltem,
fast unheildrohendem Gesichtsausdruck betrachtete. Außer Menni sprach
nur Netti Russisch. Sterni und drei oder vier andere redeten
Französisch, noch andere Englisch oder Deutsch; untereinander
unterhielten sie sich in einer mir völlig neuen Sprache, anscheinend
ihrer Muttersprache. Diese war wohlklingend und schön, und ich bemerkte
mit Vergnügen, daß die Aussprache offensichtlich keine großen
Schwierigkeiten bot.


                              Die Abfahrt

Wie interessant auch immer die »Ungeheuer« sein mochten, so wurde meine
Aufmerksamkeit dennoch unwillkürlich von ihnen abgelenkt und richtete
sich auf den feierlichen, immer näher kommenden Augenblick der
»Abfahrt«. Ich starrte beharrlich auf die sich vor uns dehnende
schneeige Fläche und nach der steil aufragenden Granitwand. Jeden
Augenblick erwartete ich, einen starken Stoß zu verspüren, glaubte,
alles werde rasch zurückbleiben, in weiter Ferne verschwimmen. Doch
wurde ich in meiner Erwartung enttäuscht.

Eine geräuschlose, langsame, kaum wahrnehmbare Bewegung entfernte uns
ein wenig von der Schneeplatte. Nach etlichen Sekunden erst wurde der
Aufstieg bemerkbar.

»Eine Beschleunigung von zwei Zentimeter«, erklärte Menni.

Ich verstand, was dies bedeute. In der ersten Sekunde legten wir einen
Zentimeter zurück, in der zweiten drei, in der dritten fünf, in der
vierten sieben usw. Die Geschwindigkeit veränderte sich unablässig,
entwickelte sich nach dem Gesetz der arithmetischen Progression. In vier
Minuten hatten wir die Schnelligkeit eines gehenden Menschen, in
fünfzehn die eines Personenzuges erreicht usw.

Wir bewegten uns dem Gesetze der Schwerkraft zufolge, doch fielen wir
hinauf, und zwar um fünfhundertmal langsamer, als auf der Erde ein
Körper von gewöhnlicher Schwere fällt.

Die Glasplatte des Fensters begann sich vom Feld zu erheben, bildete mit
diesem einen stumpfen Winkel, analog der Kugelform des Aetheroneff,
dessen einer Teil nun sichtbar wurde. Wir vermochten, uns vorneigend,
all das zu sehen, was sich gerade unter uns befand.

Immer rascher sank die Erde unter uns nieder, immer weiter ward der
Horizont. Die dunklen Flecken der Felsen und Dörfchen wurden kleiner,
die Umrisse des Sees zeichneten sich ab wie auf einem Plan. Der Himmel
aber ward immer dunkler; während ein blauer dem Meer gleichender
Streifen den westlichen Horizont überzog, vermochten meine Augen trotz
dem Tageslicht die heller leuchtenden großen Sterne zu unterscheiden.

Die äußerst langsame, kreisende Bewegung des Aetheroneff um die eigene
vertikale Achse gestattete uns, den ganzen Raum ringsum zu überblicken.

Es deuchte, als erhebe sich der Horizont zusammen mit uns, die
Erdoberfläche erschien als ungeheuere, ausgehöhlte, mit Reliefs
geschmückte Schüssel. Die Konturen wurden verschwommener, die Reliefs
flacher, immer mehr nahm die Landschaft den Charakter einer Landkarte
an, scharf gezeichnet in der Mitte, verschwommen und unklar an den
Rändern, die von halbdurchsichtigem, bläulichem Nebel bedeckt waren. Der
Himmel wurde immer schwärzer, und zahllose Sterne, dicht gesät,
funkelten ungetrübt in ihrem stillen Licht, nicht fürchtend die
strahlende Sonne, deren Helle schier schmerzhaft brannte.

»Sagen Sie mir, Menni, wird sich diese Beschleunigung von zwei
Zentimetern, mit der wir uns jetzt bewegen, bis ans Ende der Reise
erhalten?«

»Ja«, entgegnete er. »Nur daß die Richtung etwa auf halbem Weg ins
Gegenteil umschlägt, wir mit jeder Sekunde die Geschwindigkeit nicht
beschleunigen, sondern verzögern. So daß diese, wenn die höchste
Geschwindigkeit des Aetheroneff ungefähr fünfzig Kilometer in der
Sekunde beträgt, die mittlere aber fünfundzwanzig Kilometer, im
Augenblick der Ankunft abermals ebenso gering ist, wie sie im Augenblick
der Abfahrt war. Dies ermöglicht uns, ohne Stoß und Erschütterungen an
der Oberfläche des Mars zu landen. Ohne diese ungeheuerliche wechselnde
Geschwindigkeit vermöchten wir niemals weder die Erde, noch die Venus zu
erreichen, denn sogar die kürzeste Strecke beträgt sechzig bis hundert
Millionen Kilometer, -- bei der Geschwindigkeit, sagen wir, Ihrer
Erdeneisenbahnen würde eine derartige Reise ein Jahrhundert, aber nicht,
wie in unserem Fall, Monate währen. Was den »Schuß mit der Kanonenkugel«
anbelangt, über den ich in Eueren phantastischen Romanen las, so ist
dies selbstverständlich ein bloßer Scherz, denn den Gesetzen der
Mechanik zufolge gäbe es dabei nur eine praktische Möglichkeit --
entweder sich im Augenblick des Schusses im Inneren der Kanonenkugel zu
befinden, oder sie im eigenen Inneren zu haben.«

»Auf welche Art erhalten Sie diese gleichmäßige Beschleunigung und
Verlangsamung?«

»Die bewegende Kraft des Aetheroneff ist einer jener
radiumausstrahlenden Stoffe, die uns in großen Mengen hervorzubringen
gelang. Wir fanden ein Mittel, um die Zerlegung der Elemente ums
Hunderttausendfache zu beschleunigen; dies geschieht in unseren Motoren
durch ein äußerst einfaches elektrisches Verfahren. Durch unsere Methode
wird eine ungeheure Menge Energie entbunden. Die Teilchen der
zerfallenden Atome besitzen im Flug, wie Ihnen bekannt ist, eine
zehntausendmal größere Geschwindigkeit, als das Artilleriegeschoß. Wenn
diese Teile nun aus dem Aetheroneff bloß nach einer einzigen bestimmten
Richtung fliegen können, -- das heißt, durch einen einzigen Kanal
zwischen den sonst undurchdringlichen Wänden, -- dann bewegt sich der
Aetheroneff in der entgegengesetzten Richtung, wie der Rückschlag beim
Gewehr. Da Ihnen das Gesetz der lebendigen Kraft bekannt ist, werden Sie
ja auch wissen, daß ein unbedeutender, milligrammgroßer Teil pro Sekunde
völlig genügt, um unserem Aetheroneff die regelmäßige Beschleunigung zu
verleihen.«

Während wir also redeten, hatten sich die übrigen Marsbewohner entfernt.
Menni forderte mich auf, mit ihm in seiner Kajüte zu frühstücken. Wir
gingen zusammen hin. Die Kajüte glich den Wänden des Aetheroneff, auch
sie hatte das gleiche große Kristallfenster. Wir frühstückten. Ich
wußte, daß mir neue, noch nie empfundene Gefühle bevorstanden, da ich ja
die Schwere meines Körpers verlieren würde. Ich befragte Menni darüber.

»Ja«, erwiderte er. »Obgleich uns die Sonne noch immer anzieht, so ist
doch hier ihre Anziehungskraft eine sehr geringe. Und auch jene der Erde
wird morgen oder übermorgen unmerklich werden. Nur dank der stets
zunehmenden Geschwindigkeit des Aetheroneff bleibt uns ein
Vierhundertstel, mindestens ein Fünfhundertstel unseres Gewichtes
bewahrt. Es fällt ein wenig schwer, sich zum ersten Mal daran zu
gewöhnen, obwohl die Veränderung ganz allmählich vor sich geht. Mit
zunehmender Leichtigkeit werden Sie Ihre Geschicklichkeit verlieren,
eine Menge falscher, nicht berechneter Bewegungen machen, über das Ziel
hinausschießen. Was das unvermeidliche Herzklopfen, das Schwindelgefühl
und die Uebelkeit anbelangt, so wird Ihnen Netti darüber hinweghelfen.
Es wird Ihnen auch schwer fallen, Wasser und andere Flüssigkeiten zu
handhaben, die beim leichtesten Anstoß aus dem Gefäß fließen und sich
überallhin verbreiten. Doch waren wir nach Kräften bemüht, derartige
Unbequemlichkeiten zu vermeiden und abzuschwächen. Möbel und Gefäße sind
an Ort und Stelle befestigt, die Flüssigkeiten verkorkt, überall
befinden sich Griffe und Riemen, um den unfreiwilligen Sturz zu
verhindern, der bei rascherer Bewegung leicht vorkommt. Sie werden sich
schon daran gewöhnen, haben hierzu genügend Zeit.«

Seit der Abfahrt waren etwa zwei Stunden verflossen. Schon war die
verminderte Schwere fühlbar, doch war diese Empfindung bis jetzt noch
angenehm: der Körper fühlte Leichtigkeit, die Bewegungen waren frei und
ungehemmt, dies war alles. Dem atmosphärischen Druck wichen wir völlig
aus; er kümmerte uns nicht, besaßen wir doch in unserem hermetisch
verschlossenen Schiff einen genügenden Vorrat an Sauerstoff. Das uns
sichtbare Erdgebiet glich immer mehr einer Landkarte im verkleinerten
Maßstab. Im Süden, am Mittelländischen Meer, waren zwischen dem blauen
Dunst Nordafrika und Arabien klar ersichtlich, im Norden, über
Skandinavien, verlor sich der Blick in schneeigen vereisten Leeren, nur
die Felsen Spitzbergens dunkelten als schwarze Flecke empor. Im Osten,
im grüngestreiften Ural, wurde das Grün von weißen Schneeflecken
durchbrochen, hier herrschte wieder völlig das weiße Licht, vermischt
mit leichtem, grünlichem Schimmer, eine zärtliche Erinnerung an die
ungeheueren Nadelwälder Sibiriens. Im Westen verloren sich in den hellen
Konturen Mitteleuropas die Küste von England und Nordfrankreich. Ich
vermochte nicht lange auf dieses gigantische Bild zu blicken; der
Gedanke an die schauerliche Untiefe, über der wir schwebten, erweckte in
mir ein ohnmachtsnahes Gefühl. Ich wandte mich abermals an Menni.

»Sind Sie der Kapitän dieses Schiffes?«

Menni nickte bejahend und erwiderte:

»Doch bedeutet dies keineswegs, daß ich über die Macht eines
Kommandanten verfüge, wie dies Ihrer irdischen Auffassung entspräche.
Ich habe bloß in der Führung des Aetheroneff mehr Erfahrung als die
anderen; meine Verfügungen in dieser Hinsicht werden berücksichtigt, wie
ich Sternis astronomische Berechnungen annehme, oder wie wir Nettis
medizinische Ratschläge zur Erhaltung unserer Gesundheit und
Arbeitskraft befolgen.«

»Wie alt ist Doktor Netti? Er dünkte mich äußerst jung.«

»Ich erinnere mich nicht genau, sechzehn oder siebzehn«, entgegnete
Menni lächelnd.

Das hatte auch ich gedacht. Staunte aber über eine derart junge
Gelehrsamkeit.

»In diesem Alter bereits Arzt sein!«, entfuhr es mir unwillkürlich.

»Und fügen Sie hinzu: ein äußerst geschickter und erfahrener Arzt«,
ergänzte Menni.

Damals überlegte ich nicht, -- und Menni erinnerte mich absichtlich
nicht daran, -- daß die Marsjahre fast doppelt so lang sind, wie die
unseren: der Mars umkreist die Sonne in 686 Erdentagen und Nettis
sechzehn Jahre kamen etwa dreißig Erdenjahren gleich.


                            Der Aetheroneff

Nach dem Frühstück forderte mich Menni auf, unser »Schiff« zu
besichtigen. Vor allem begaben wir uns in den Maschinenraum. Dieser nahm
das unterste Stockwerk des Aetheroneff ein -- stieß direkt an dessen
verdichteten Boden und bildete die Scheidewand zwischen fünf Zimmern --
das eine in der Mitte, die anderen an den Seiten gelegen. Inmitten des
zentralen Raumes erhob sich der Treibmotor, an seinen vier Seiten von in
den Boden eingelassenen runden Glasfenstern umgeben; das eine Fenster
bestand aus reinem Kristall, die anderen waren bunt gefärbt; das Glas
hatte eine Dicke von etwa drei Zentimetern und war außerordentlich
durchsichtig. Im gegebenen Augenblick vermochten wir durch diese Fenster
bloß einen Teil der Erdoberfläche zu sehen.

Die Basis der Maschine bildete ein vertikaler Metallzylinder, drei Meter
hoch und einen halben Meter im Durchmesser. Menni erklärte mir, dieser
Zylinder bestehe aus Osmium, einem schwer schmelzenden Edelmetall, aus
der Gruppe des Platins. In diesem Zylinder ging die Zerlegung der
radiumausstrahlenden Stoffe vor sich; die zwanzig Zentimeter dicken
Wände bewiesen zur Genüge die bei diesem Prozeß entwickelten Energien.
Im Raum herrschte keine besondere Hitze; der ganze Zylinder war von zwei
großen, breiten, aus irgendeinem durchsichtigen Material bestehenden
Futteralen umgeben. Diese Futterale schützten vor der Hitze; beide
vereinigten sich unter der Decke zu einem Rohr, aus dem die erhitzte
Luft nach allen Seiten ausströmte und den Aetheroneff gleichmäßig
»heizte«.

Die übrigen Teile der Maschine waren durch verschiedene Zylinder
miteinander verbunden, bestanden aus elektrischen Spulen, Akkumulatoren,
einem Meßapparat mit Zifferblatt usw. Alles befand sich in tadelloser
Ordnung, und verschiedene Spiegel gestatteten dem diensthabenden
Maschinisten, den ganzen Umkreis zu überblicken, ohne sich von seinem
Lehnstuhl zu erheben.

Von den Seitenstuben war die eine das »astronomische« Zimmer, rechts und
links von diesem befanden sich der »Wasserraum« und der »Sauerstoffraum«
und auf der entgegengesetzten Seite der »Rechenraum«. Im astronomischen
Zimmer waren der Fußboden und die Wände aus dickem Kristall; das in
geometrischen Formen geschliffene Glas zeigte ideale Reinheit. Die
Durchsichtigkeit dieses Glases war so groß, daß ich, während ich Menni
über die Schwebebrücke folgte und hinabblickte, zwischen mir und dem
Abgrund unter uns nichts sah; ich mußte die Augen schließen, um nicht
von qualvollem Schwindel überwältigt zu werden. Ich bemühte mich,
seitwärts, nach den Instrumenten zu schauen, die sich zwischen der
Brücke auf Stativen befanden, oder sich von der Decke und der Außenwand
herabsenkten. Das Hauptteleskop war etwa zwei Meter lang, die Linse von
unproportionierter Größe und augenscheinlich von einer entsprechenden
optischen Stärke.

»Als Ferngläser verwenden wir nur Diamanten«, sagte Menni. »Sie geben
ein bedeutend größeres Gesichtsfeld.«

»Wie stark ist die gewöhnliche Vergrößerung dieses Teleskops?« fragte
ich.

»Die klare Vergrößerung beträgt etwa das Sechshundertfache«, entgegnete
Menni. »Genügt uns dies nicht, so photographieren wir das Gesichtsfeld
und betrachten die Photographie unter dem Mikroskop. Derart vermögen wir
eine sechzigtausendfache und noch bedeutendere Vergrößerungen zu
erzielen, und das Photographieren nimmt kaum eine Minute Zeit in
Anspruch.«

Menni forderte mich auf, durch das Teleskop die entschwindende Erde zu
betrachten und stellte es ein.

»Die Entfernung beträgt nun ungefähr zweitausend Kilometer«, erklärte
er. »Wissen Sie, was vor Ihnen liegt?«

Mit einem Mal erkannte ich den Hafen der skandinavischen Hauptstadt, die
ich häufig in Parteiangelegenheiten besucht hatte ... Es interessierte
mich, die Dampfer in der Reede zu betrachten. Menni drehte einen an der
Seite befestigten Griff, setzte anstelle des Fernrohrs den
photographischen Apparat, nahm dann nach wenigen Sekunden Teleskop und
Apparat und schob beide in eine riesenhafte, in der Ecke stehende
Vorrichtung, die sich als Mikroskop erwies.

»Wir entwickeln und fixieren das Bild dort«, sprach er, ohne die Platte
mit den Händen zu berühren. Nach wenigen belanglosen Griffen, die
höchstens eine halbe Minute währten, schob er das Mikroskop vor mich
hin. Mit verblüffender Klarheit sah ich einen mir bekannten, einer
nordischen Gesellschaft gehörenden Dampfer; er schien sich etliche zehn
Schritte von mir entfernt langsam zu bewegen; im kreisenden Licht war
das Bild reliefartig und hatte eine völlig natürliche Färbung. Auf der
Brücke stand der grauhaarige Kapitän, mit dem ich auf meinen Fahrten
häufig geplaudert hatte. Ein Matrose, der eine Kiste an Deck schleppte,
blieb plötzlich stehen, neben ihm ein Passagier, der mit der Hand auf
etwas wies. Und all dies war zweitausend Kilometer entfernt ...

Ein junger Marsbewohner, Sternis Gehilfe, betrat den Raum. Er mußte über
die vom Aetheroneff zurückgelegte Strecke eine genaue Messung anstellen.
Wir wollten ihn in seiner Arbeit nicht stören und begaben uns weiter, in
den »Wasserraum«. Dort befanden sich ein ungeheures mit Wasser gefülltes
Reservoir und große Filtrierapparate. Eine Anzahl Röhren leitete das
Wasser durch den ganzen Aetheroneff.

Nun betraten wir den »Rechenraum«. Hier standen für mich unverständliche
Maschinen mit unzähligen Zifferblättern und Zeigern. Sterni arbeitete an
der größten Maschine. Von dieser hing ein langes Band nieder,
augenscheinlich das Resultat der Berechnungen. Die auf dem Band
stehenden, sowie die auf den Zifferblättern sich befindenden Zeichen
waren mir völlig unbekannt. Ich wollte Sterni nicht stören, empfand
überhaupt keine Lust, mit ihm zu sprechen. Rasch verließen wir diesen
Raum und betraten die letzte Seitenstube.

Diese war der »Sauerstoffraum«. Hier wurden die Sauerstoffvorräte
aufbewahrt, in der Gestalt von fünfundzwanzig Tonnen Bertholetschen
Salzen, aus denen, durch eine entsprechende Methode, bis zu zehntausend
Kubikmetern Sauerstoff hergestellt werden konnten, eine genügende Menge
für einige Fahrten gleich der unseren. Hier befanden sich auch die
Apparate zur Spaltung der Salze, sowie Vorräte von Bariumoxyd und
Aetzkali, die die Bestimmung hatten, der Luft die Kohlensäure zu
entziehen, Vorräte von Schwefel-Anhydrid zur Absorbierung der
überschüssigen Feuchtigkeit und des Leuhomain, -- jenes durch das Atmen
erzeugten physiologischen Giftes, das unvergleichlich gefährlicher ist,
als die Kohlensäure. Dieser Raum unterstand Dr. Netti.

Dann kehrten wir in den mittleren Maschinenraum zurück, fuhren mit einem
kleinen Aufzug ins höchste Stockwerk des Aetheroneff. Hier war der
Mittelraum als zweites Observatorium eingerichtet; es glich in allem dem
unteren Raum, nur daß hier die Kristallhülle sich oben und nicht unten
befand, und daß die Instrumente größere Dimensionen hatten. Aus diesem
Observatorium vermochte man die andere Hälfte der Himmelssphäre zu
sehen, und die Planeten zu bestimmen. Der Mars leuchtete mit seinem
roten Licht etwas abseits vom Zenith. Menni richtete auf ihn das
Teleskop, und ich erblickte die mir durch Schiaparellis Landkarten
bekannten Konturen, die Meere und Kanäle. Menni photographierte den
Planeten und legte unter das Mikroskop eine detaillierte Karte. Doch
vermochte ich von dieser ohne Mennis Erklärungen nichts zu verstehen:
die Flecken der Städte, Wälder und Seen unterschieden sich voneinander
durch für mich unmerkliche und unverständliche Einzelheiten.

»Wie groß ist die Entfernung?« fragte ich.

»Verhältnismäßig gering; sie beträgt ungefähr hundert Millionen
Kilometer.«

»Weshalb befindet sich der Mars nicht im Zenith der Kuppel? Fliegen wir
denn nicht geradewegs, sondern seitlich auf ihn zu?«

»Ja, anders geht es nicht. Indem wir uns von der Erde fortbewegen,
bewahren wir unter anderem durch die Kraft der Trägheit auch die
Geschwindigkeit, mit der die Erde um die Sonne kreist, das heißt,
dreißig Kilometer in der Sekunde. Die Geschwindigkeit des Mars jedoch
beträgt vierundzwanzig Kilometer, und flögen wir perpendikular in der
Bahn zwischen Mars und Erde, so würden wir mit der restlichen
Geschwindigkeit von sechs Kilometern in der Sekunde gegen die Oberfläche
des Mars stoßen. Dies darf nicht geschehen, wir müssen deshalb den
krummlinigen Pfad wählen, damit die überflüssige Geschwindigkeit ins
Gleichgewicht kommt.«

»Wie lange ist in diesem Fall unser Weg?«

»Etwa hundertsechzig Millionen Kilometer. Die zur Zurücklegung dieser
Strecke nötige Zeit beträgt im Mindestfall zweieinhalb Monate.«

Wäre ich nicht Mathematiker gewesen, so hätten diese Zahlen meinem
Herzen nichts gesagt. So jedoch erweckten sie in mir ein dem Alpdruck
ähnliches Gefühl, und ich beeilte mich, den astronomischen Raum zu
verlassen. Die sechs Seitenabteilungen des obersten Abschnitts umgaben
ringförmig das Observatorium; sie hatten keine Fenster, und ihre Decke,
die ein Teil der Oberfläche der Kugel war, neigte sich fast zum Fußboden
hinab. An der Decke waren große Reservoire für die Minus-Materie
angebracht, deren Repulsion alles auf dem Aetheroneff zu paralysieren
vermochte.

Die mittleren Stockwerke, das dritte und vierte, umfaßten Säle,
Laboratorien für die einzelnen Mitglieder der Expedition, Kajüten,
Baderäume, die Bibliothek, den Turnsaal usw.

Nettis Kajüte befand sich neben der meinen.


                              Die Menschen

Immer merklicher empfand ich den Verlust der Schwere. Das sich
steigernde Gefühl der Leichtigkeit hörte auf, angenehm zu sein. Es
vermischte sich mit einem Element des Mißtrauens, irgendeiner unklaren
Unruhe. Ich begab mich in meine Kammer und legte mich auf die Pritsche.

Zwei Stunden des ruhigen Liegens und angestrengten Nachdenkens ließen
mich unmerklich in Schlaf versinken. Als ich erwachte, saß Netti vor dem
Tisch. Mit einer unwillkürlichen heftigen Bewegung erhob ich mich vom
Lager, wurde gleichsam hochgeschleudert und prallte mit dem Kopf gegen
die Decke.

»Wenn man weniger als zwanzig Pfund wiegt, muß man vorsichtiger sein«,
bemerkte Netti in gutmütig philosophischem Ton.

Er hatte mich aufgesucht, um mir die nötigen Anweisungen zu geben, für
den Fall, daß ich »seekrank« würde. Tatsächlich fühlte ich bereits die
durch den Verlust der Schwere erzeugten ersten Symptome. Von meiner
Kajüte ging eine elektrische Schelle in die seine, so daß ich ihn immer
zu rufen vermochte, falls ich seines Beistandes bedurfte.

Ich benützte die Gelegenheit, um mit dem jungen Arzt zu plaudern; dieser
sympathische, gelehrte und dennoch so fröhliche junge Bursche zog mich
an. Ich fragte ihn, wie es komme, daß außer Menni von allen sich auf dem
Schiff befindlichen Marsbewohnern nur noch er meine Muttersprache könne.

»Dies ist ganz einfach«, erklärte er. »Als wir _Menschen suchten_,
wählte Menni für sich und mich Ihr Vaterland, und wir verbrachten
daselbst mehr als ein Jahr, bis es uns endlich gelang, mit Ihnen die
Angelegenheit zu erledigen.«

»Die andern suchten Menschen in anderen Ländern?«

»Selbstverständlich; bei allen größeren Völkern der Erde. Aber, es fiel,
wie Menni vorausgesehen hatte, in Ihrem Lande am leichtesten, jemanden
zu finden, denn bei Ihnen ist das Leben entschlossener und glühender,
die Menschen sind mehr als in anderen Ländern gezwungen, vorwärts zu
blicken. Nachdem wir einen Menschen gefunden hatten, benachrichtigten
wir die übrigen; sie kamen aus allen Ländern herbei, und wir traten die
Fahrt an.«

»Was verstehen Sie, persönlich, unter den Ausdrücken >einen Menschen
suchen< und >einen Menschen findenviele und gute Arbeit leisten<, nicht wahr?«

»Im allgemeinen: ja. Menni wählte die Genossen aus vielen Tausenden
heraus, die den Wunsch hegten, mit ihm zu gehen.«

»Der gröbste und kräftigste von allen dürfte wohl Sterni sein?«

»Ja, wenn Sie hartnäckig darauf bestehen wollen, die Leute zu messen und
zu vergleichen. Sterni ist ein hervorragender Gelehrter, wenngleich von
ganz anderer Art, als Menni. Er ist Mathematiker. Er war es auch, der
eine ganze Anzahl jener Berechnungsfehler entdeckte, denen zufolge alle
vorherigen Expeditionen nach der Erde mißglückten, er bewies, daß selbst
wenige dieser Fehler genügten, um den Untergang der Menschen und des
Werkes herbeizuführen. Er fand neue Berechnungsmethoden, und von dieser
Zeit an sind die Berechnungen fehlerlos.«

»So stellte ich ihn mir nach Mennis Worten und meinem ersten Eindruck
vor. Trotzdem, es ist mir selbst unbegreiflich, erweckt sein Anblick in
mir ein unbehagliches Gefühl, eine unbegründete Unruhe, eine Art
sinnlose Antipathie. Können Sie mir, Doktor, dafür eine Erklärung
geben?«

»Sehen Sie, Sterni hat einen starken, aber kalten, vor allem:
analysierenden Verstand. Er zergliedert alles auf unerbittliche,
folgerichtige Art, seine Schlüsse jedoch sind oft einseitig, bisweilen
außerordentlich streng, denn die Analyse der einzelnen Teile ergibt
nicht das Ganze, sondern weniger als das Ganze. Sie wissen, daß überall,
wo Leben besteht, das Ganze größer ist, als seine einzelnen Teile, und
so ist denn auch der lebendige menschliche Körper größer, als dessen
einzelne Glieder. Die Folge dieser Charaktereigenschaften ist, daß
Sterni sich weit weniger als andere in die Stimmung und die Gedanken
anderer Leute zu versetzen vermag. Er wird Ihnen stets gerne bei jenen
Dingen behilflich sein, die Sie ihm selbst klar machen, niemals aber
wird er erraten, was Sie brauchen. Dies hängt natürlich auch damit
zusammen, daß seine Aufmerksamkeit fast immer völlig von der Arbeit in
Anspruch genommen wird, sein Kopf stets von irgend einer schweren
Aufgabe erfüllt ist. Darin unterscheidet er sich von Menni in hohem
Maße: dieser sieht immer alles ringsum, und mehr als einmal erklärte er
mir, wonach ich selbst verlangte, was mich beunruhigte, was mein
Verstand oder mein Gefühl suchte.«

»Wenn die Dinge so stehen, so muß Sterni uns widerspruchsvollen,
fehlerhaften Erdenmenschen gegenüber doch Feindseligkeit empfinden?«

»Feindseligkeit! Nein, dieses Gefühl ist ihm fremd. Aber ich glaube:
starken Skeptizismus. Er verbrachte ein halbes Jahr in Frankreich und
telegraphierte an Menni: >Hier hat es keinen Sinn, zu suchen.<
Vielleicht hatte er zum Teil recht, denn auch Letta, der mit ihm war,
fand keinen entsprechenden Menschen. Aber seine Charakteristik der Leute
jenes Landes war bei weitem strenger, als jene Lettas, und
selbstverständlich auch viel einseitiger, wenngleich sie nichts
tatsächlich Unwahres enthielt.«

»Wer ist dieser Letta, von dem Sie sprechen? Ich entsinne mich seiner
nicht.«

»Ein Chemiker, Mennis Gehilfe; er gehört nicht zu den Jüngsten, ist auf
unserem Aetheroneff der älteste. Mit ihm werden Sie sich leicht
verständigen können, und dies wird für Sie sehr nützlich sein. Er
besitzt einen weichen Charakter und viel Verständnis für eine fremde
Seele, obgleich er nicht, wie Menni, Psychologe ist. Suchen Sie ihn im
Laboratorium auf; er wird sich darüber freuen und Ihnen allerlei
Interessantes zeigen.«

In diesem Augenblick fiel mir ein, daß wir uns von der Erde schon weit
entfernt hatten, und es verlangte mich, sie zu betrachten. Wir begaben
uns zusammen in einen der mit großen Fenstern versehenen Seitensäle.

»Werden wir uns nicht dem Mond nähern?«, erkundigte ich mich im Gehen.

»Nein, der Mond bleibt weit abseits liegen, und dies ist recht schade.
Auch ich sähe den Mond gerne aus der Nähe. Von der Erde aus erschien er
mir so seltsam. Groß, kalt, langsam, rätselhaft ruhig, gleicht er nicht
im geringsten unseren zwei kleinen Monden, die so eilig am Himmel
dahinrennen, und ihre Gesichtchen so rasch verändern wie lebhafte
launische Kinder. Auch Euere Sonne ist bei weitem leuchtender, darin
seid Ihr glücklicher als wir. Euere Welt ist doppelt so hell als unsere,
deshalb bedürft Ihr auch nicht derartiger Augen, wie wir, braucht nicht
die großen Pupillen, um das schwache Licht unserer Tage und unserer
Nächte aufzufangen.«

Wir setzten uns ans Fenster. In der Ferne glänzte die Erde wie eine
ungeheuere Sichel, auf der bloß die Umrisse Westamerikas und des
nordöstlichen Asiens als dunkle Flecke erkennbar waren; auch ein Teil
des Stillen Ozeans war sichtbar, und ein heller Fleck: das Nördliche
Eismeer. Der Atlantische Ozean und die alte Welt versanken in Nacht,
konnten am verschwommenen Rand der Sichel bloß erraten werden, denn der
unsichtbare Teil der Erde verbarg die Sterne im ungeheuren Raum. Unsere
schiefe Bahn, sowie die Drehung der Erde um ihre Achse, verursachten
dieses veränderte Bild.

Ich blickte hinab, und mir wurde schwer ums Herz, weil ich nicht mehr
meine Heimat sah, wo so viel Leben, Kampf und Leiden herrschen, wo ich
noch gestern in den Reihen der Genossen stand, und wo heute ein anderer
meine Stelle einnimmt. Zweifel schlichen sich in meine Seele.

»Dort unten fließt Blut«, sprach ich. »Hier jedoch ist aus dem gestrigen
Arbeiter ein beschaulicher Betrachter geworden.«

»Das Blut fließt um einer besseren Zukunft willen«, entgegnete Netti.
»Und dieser Kampf fordert das _Kennen_ einer besseren Zukunft. Um diese
Kenntnisse zu erwerben, sind Sie hier.«

Von unwillkürlicher Bewegung erfaßt, griff ich nach seiner kleinen, fast
kindlichen Hand.


                             Die Annäherung

Die Erde entfernte sich immer mehr und verwandelte sich, gleichsam als
zürnte sie ob dieser Trennung, in eine Mondsichel, die die winzige
Sichel des wirklichen Mondes begleitete. Parallel damit waren wir, die
Bewohner des Aetheroneff, gleich phantastischen Akrobaten, die ohne
Flügel zu fliegen und nach Belieben im Raum jede Stellung einzunehmen
vermögen, mit dem Kopf bald auf dem Fußboden, bald auf der Decke, bald
auf den Wänden stehen ... darin fast keinen Unterschied sehen ...
Allmählich näherte ich mich meinen neuen Gefährten und begann mich unter
ihnen heimisch zu fühlen.

Schon am Tag nach unserer Abfahrt (wir hielten an dieser Zeitberechnung
fest, obgleich es für uns natürlich weder wirkliche Tage, noch Nächte
gab) legte ich, dem eigenen Wunsch zufolge, die Kleidung der
Marsbewohner an, um weniger von den übrigen abzustechen. Freilich gefiel
mir diese Kleidung auch an und für sich: sie war einfach, bequem, ohne
nutzlose Einzelheiten wie Kragen und Manschetten, gestattete die
größtmöglichste Freiheit der Bewegung. Die einzelnen Teile des Gewandes
wurden durch Klammern verbunden, so daß das ganze Gewand zwar
einheitlich, aber dennoch leicht an- und auszuziehen war; so vermochte
man zum Beispiel den einen, oder beide Aermel, oder aber die ganze Bluse
abzulegen. Und die Manieren meiner Mitreisenden glichen ihrem Gewand:
sie waren einfach, ermangelten alles Ueberflüssigen, jeder
Konventionalität. Sie begrüßten einander nicht, verabschiedeten sich
nicht, dankten nicht, verlängerten nicht aus Höflichkeit ein Gespräch,
wenn der Zweck desselben erreicht war. Zur gleichen Zeit jedoch gaben
sie voller Geduld jedem die erwünschten Erklärungen, paßten sich genau
der geistigen Einstellung des Fragenden an, nahmen Rücksicht auf dessen
Psychologie, wenngleich diese auch nicht im geringsten der ihren glich.

Selbstverständlich ging ich gleich am ersten Tag an das Erlernen ihrer
Sprache, und sie waren alle gerne bereit, mir als Lehrer zu dienen, vor
allem aber Netti. Die Sprache war äußerst originell, und trotz der
einfachen Grammatik und Regeln eigneten ihr Einzelheiten, an die ich
mich schwer anzupassen vermochte. Die Regeln hatten keine Ausnahmen, es
gab auch keine Unterschiede, kein männliches, weibliches oder sächliches
Geschlecht. Hingegen besaßen die Namen der Gegenstände und die
Eigennamen eine Biegung, die sich auf das Zeitliche bezog. Dies wollte
mir nicht recht in den Kopf.

»Was für einen Sinn haben diese Formen?« fragte ich Netti.

»Begreifen Sie es denn nicht? Wenn Sie in Ihrer Sprache einen Gegenstand
benennen, so achten sie sorgsam darauf, ob er männlich oder weiblich
ist, was bei leblosen Gegenständen äußerst unwichtig, bei lebendigen
aber sehr merkwürdig erscheint. Es ist bei weitem wichtiger, zwischen
jenen Gegenständen zu unterscheiden, die jetzt bestehen, und jenen, die
waren oder erst sein werden. Bei Euch ist das Haus sächlich, der Kahn
männlich, bei den Franzosen ist das Haus weiblichen Geschlechtes, das
Ding an sich aber bleibt dasselbe. Wenn Ihr aber von einem Haus redet,
das bereits abgebrannt oder das noch nicht erbaut ist, so verwendet Ihr
das gleiche Wort und die gleiche Form, wie wenn Ihr von dem Hause
sprecht, in dem Ihr lebt. Gibt es denn in der Natur einen größeren
Unterschied als den zwischen einem lebenden und einem toten Menschen,
zwischen dem, was ist, und dem, was nicht ist? Ihr braucht ganze Worte
und Sätze, um diesen Unterschied auszudrücken -- ist es nicht weit
besser, dies durch das Hinzufügen eines Buchstabens zu tun?«

Netti war mit meinem Gedächtnis zufrieden; seine Lehrmethode schien
äußerst gut, und ich kam rasch vorwärts. Dies half mir bei der
Annäherung an meine Reisegefährten, ich begann der Reise auf dem
Aetheroneff mit großem Vertrauen entgegenzusehen, begab mich in Kajüten
und Laboratorien, befragte die Marsbewohner über alles, was mich
beschäftigte.

Der junge Astronom Enno, Sternis Gehilfe, ein lebhafter, heiterer
Mensch, dem Wuchs nach fast noch ein Knabe, zeigte mir eine Menge
interessanter Dinge, nicht bloß Berechnungen und Formeln -- auf diesem
Gebiet war er Meister -- sondern auch die Schönheit dieser
Beobachtungen. Mir war in der Gesellschaft des jungen Astronom-Dichters
wohl zumute; der Trieb, mich über unsere Lage in der Natur genau zu
orientieren, lenkte meine Schritte immer von neuem zu Enno und seinem
Teleskop.

Einmal zeigte mir Enno durch das stärkste Vergrößerungsglas den winzigen
Planeten Eros; ein Teil seiner Bahn lag zwischen Erde und Mars, der
andere befand sich weiter als der Mars, im Gebiet der Asteroiden. Damals
befand sich der Eros auf hundertfünfzig Millionen Kilometer von uns
entfernt, aber die Photographie seiner kleinen Scheibe zeigte im
mikroskopischen Maßstab die ganze Landkarte, die der des Mondes glich.
Selbstverständlich war auch der Eros ein toter Stern, gleich dem Monde.

Ein anderes Mal photographierte Enno einen Schwarm Meteore, die etliche
hundert Millionen Kilometer von uns entfernt waren. Auf diesem Bild
waren natürlich nur verschwommene Nebel zu sehen. Bei dieser Gelegenheit
erzählte mir Enno, daß eine der früheren Expeditionen zur gleichen Zeit
zugrunde ging, als ein derartiger Schwarm Meteore niederschoß. Die
Astronomen, die mit großen Teleskopen die Fahrt des Aetheroneff
beobachteten, sahen, wie plötzlich das elektrische Licht erlosch -- der
Aetheroneff verschwand auf ewig im Raum.

Wahrscheinlich war der Aetheroneff mit einigen dieser winzigen Körper
zusammengestoßen; bei der ungeheuerlichen Geschwindigkeit mochten diese
die Wände durchbohrt haben. Die Luft drang in den Raum und die Kälte der
zwischen den Planeten befindlichen Sphäre ließ die bereits toten Körper
der Reisenden gefrieren. Nun fliegt der Aetheroneff dahin, folgt der
Bahn der Kometen, entfernt sich auf immer von der Sonne. Niemand weiß,
wo der Weg dieses schauerlichen, von Leichen bemannten Schiffes enden
wird.

Bei diesen Worten schien eine eisige Leere in mein Herz zu dringen. Ich
stellte mir lebhaft vor, wie unser winziges leuchtendes Schifflein im
unendlichen toten Ozean des Raumes schwebt. Ohne Stützpunkt in der
schwindelerregend schnellen Bewegung, und ringsum die schwarze Leere ...
Enno erriet meine Stimmung.

»Menni ist ein vortrefflicher Steuermann ...«, sagte er. »Und Sterni
irrt sich nicht ... Und der Tod ... Sie haben ihm sicherlich schon oft
im Leben ins Auge geblickt ... Was uns droht ... ist der Tod, weiter
nichts.«

Gar bald kam die Stunde, da wir im Kampf mit einem schweren Kummer
gezwungen wurden, an diese Worte zu denken.

Der Chemiker Letta zog mich nicht nur durch seine sanfte Natur an, von
der mir Netti bereits gesprochen hatte, sondern auch durch sein großes
Wissen und sein Interesse für eine von mir viel studierte Frage: die
Struktur der Materie. Außer ihm war in dieser Frage nur noch Menni
kompetent, doch wandte ich mich so wenig wie möglich an Menni,
verstehend, daß dessen Zeit äußerst wertvoll sei, sowohl im Interesse
der Wissenschaft, als auch in dem der Expedition, und daß ich nicht das
Recht habe, sie für mich in Anspruch zu nehmen. Der gutmütige alte Letta
hingegen ließ sich mit derart unerschöpflicher Geduld zu meiner
Unwissenheit herab, erklärte mir mit solcher Bereitwilligkeit, ja sogar
mit offensichtlicher Freude das Alphabet dieser Wissenschaft, daß ich
niemals das Gefühl hatte, ihn zu belästigen.

Letta hielt mir einen ganzen Kurs über die Struktur der Materie,
illustrierte diesen durch verschiedene Experimente der Zerlegung der
Elemente und durch deren Synthese. Viele dieser Experimente hatte er
anscheinend allein ausführen und sich darauf beschränken müssen, bloß
Schlagworte niederzuschreiben, insbesondere bei jenen, die einen
stürmischen Verlauf nehmen; diese Elemente zersetzten sich in der Form
einer Explosion, oder die Zersetzung konnte zumindest unter gegebenen
Bedingungen diese Form annehmen.

Einmal betrat während einer mir erteilten Lektion Menni das
Laboratorium. Letta beendete eben die Niederschrift eines äußerst
interessanten Experimentes und schickte sich an, dasselbe anzustellen.

»Seien Sie vorsichtig«, sprach Menni. »Ich entsinne mich, daß dieses
Experiment eines Tages für mich schlecht ausfiel; es genügt die kleinste
Menge nebensächlicher Ingredienzien in der von Ihnen zu zerlegenden
Materie, um bei der Erhitzung selbst durch den schwächsten elektrischen
Strom eine Explosion herbeizuführen.«

Schon wollte Letta das geplante Experiment aufgeben, aber Menni, der mir
gegenüber unveränderlich aufmerksam und liebenswürdig war, schlug vor,
bei der genauen Vorbereitung für das Experiment zu helfen; das
Experiment wurde ohne Unfall beendet.

Am folgenden Tag stellten wir mit dem gleichen Stoff neue Experimente
an. Mir schien es, als entnähme Letta die Materie nicht demselben Glas
wie am vorhergehenden Tag. Als er bereits die Retorte in das elektrische
Bad stellte, dachte ich daran, ihn darüber zu befragen. Gelassen schritt
er an den die Reagenten enthaltenden Schrank, stellte das Bad mit der
Retorte auf das an der Wand stehende Tischchen; an die gläserne
Außenwand des Aetheroneff. Ich folgte ihm.

Jählings erfolgte ein ohrenbetäubender Knall, und wir wurden beide mit
ungeheurer Kraft gegen die Schranktür geschleudert. Ein furchtbar lauter
Pfiff, entsetzlicher Lärm und metallisches Klirren. Ich fühlte, daß eine
orkanartige, unbezwingliche Kraft mich nach rückwärts, an die Außenwand
riß. Schier mechanisch gelang es mir, nach dem starken Riemen zu
greifen, der horizontal befestigt am Schrank hing. In dieser Lage
vermochte ich dem gewaltigen Luftstrom standzuhalten. Letta war meinem
Beispiel gefolgt.

»Halten Sie sich fest«, schrie er mir zu; ich vermochte im Dröhnen des
Orkans kaum seine Stimme zu vernehmen. Eine scharfe Kälte durchdrang
meinen Körper.

Letta blickte sich rasch um. Seine Züge waren erschreckend in ihrer
Blässe, doch verwandelte sich plötzlich der Ausdruck des Entsetzens in
den klarer Vernunft und festen Entschlusses. Er sprach bloß zwei Worte,
-- ich vermochte sie nicht zu hören, erriet aber, daß sie ein Abschied
auf ewig waren. Dann ließ er den Riemen los.

Ein dumpfer Schlag, und das Dröhnen des Orkans verebbte. Ich fühlte, daß
ich nun den Riemen loslassen und um mich blicken könne. Vom Tischchen
war nichts mehr zu sehen, an der Wand jedoch, dicht mit dem Rücken an
sie gepreßt, stand unbeweglich Letta. Seine Augen waren geweitet, das
ganze Gesicht schien gleichsam erstarrt. Ich vernahm an der Tür ein
Geräusch und öffnete sie. Ein starker warmer Wind stieß mich zurück.
Eine Sekunde nachher betrat Menni das Zimmer. Er eilte zu Letta hin.

Wenige Augenblicke später war der Raum voller Menschen. Netti stieß alle
zur Seite, stürzte zu Letta. Die übrigen umringten uns in bewegtem
Schweigen.

»Letta ist tot«, klang Mennis Stimme auf. »Die bei dem chemischen
Experiment erfolgte Explosion zerschmetterte die Wand des Aetheroneff,
und Letta verstopfte mit seinem Leib die Bresche. Der Luftdruck zerriß
seine Lungen und lähmte sein Herz. Der Tod war ein augenblicklicher.
Letta rettete unseren Gast, hätte er anders gehandelt, sie hätten beide
unweigerlich den Tod gefunden.«

Netti brach in heftiges Schluchzen aus.


                              Vergangenes

Die ersten Tage nach der Katastrophe blieb Netti in seinem Zimmer, und
ich las in Sternis Augen einen fast mißgünstigen Ausdruck. Zweifellos
ergab sich aus Lettas Tod eine Lehre, und Sternis mathematisch
eingestelltes Gehirn konnte nicht umhin, einen Vergleich zwischen dem
hohen Wert jenes Lebens zu ziehen, das geopfert, und jenes das bewahrt
worden war. Menni blieb, wie immer, unverändert freundlich und gelassen,
brachte mir sogar noch mehr Aufmerksamkeit und Fürsorge entgegen; seinem
Beispiel folgten auch Enno und die übrigen.

Ich lernte eifrig die Sprache der Marsbewohner; bei der ersten günstigen
Gelegenheit wandte ich mich an Menni und bat ihn, mir irgendein Buch zu
geben, das die Geschichte ihrer Menschheit behandle. Menni fand diesen
Gedanken vortrefflich und brachte mir ein Werk, das die Marskinder in
die allgemeine Weltgeschichte einführte.

Ich begann mit Nettis Hilfe dieses Buch zu lesen und zu übersetzen. Der
Geschmack, mit dem der unbekannte Verfasser die auf den ersten Blick
abstrakt, allgemein und schematisch wirkenden Dinge zu beleben, zu
konkretisieren und zu illustrieren verstanden hatte, versetzte mich in
Erstaunen. Dieser Geschmack gestattete ihm, ein geometrisch aufgebautes
System mit derart folgerichtigen Schlüssen für Kinder zu erörtern, wie
dies bei keinem unserer populär schreibenden irdischen Verfasser
gelungen wäre.

Der erste Teil des Werkes hatte geradezu einen philosophischen Charakter
und war der Idee des Weltalls als einheitliches Ganzes geweiht, das in
sich alles einschließt und sich alles dienstbar macht. Dieser Teil
erinnerte lebhaft an die Ausführungen jener Arbeiter-Denker, die auf
naive und schlichte Art die erste proletarische Naturphilosophie
schufen.

Im folgenden Teil wandte sich die Ausführung jener unermeßlich fernen
Zeit zu, da im Weltall noch keine uns bekannten Formen bestanden hatten,
im gewaltigen Raum das Chaos und die Unbestimmtheit die Herrschaft
geführt. Der Verfasser berichtete über die Abtrennung der ersten
formlosen, unmerklich feinen Materie, die chemisch nicht festzustellen
ist. Diese Abtrennung bewirkte die Entstehung der gigantischen
Sternenwelt, die als Sternnebel erscheint und zu der auch die
Milchstraße mit zwanzig Millionen Sonnen gehört, unter denen unsere
Sonne eine der kleinsten ist.

Weiterhin war die Rede von der Konzentrierung der Materie und dem
Uebergang zu einer festeren Verbindung, die die Form chemischer Elemente
annahm; zu diesen ersten formlosen Materien gehören auch die gasförmigen
Sonnennebel, von denen wir mit Hilfe des Teleskops viele Tausend zu
unterscheiden vermögen. Die Geschichte der Entwicklung dieser Nebel, die
Herauskristallisierung der Sonnen und Planeten, ist bei uns nur in der
Kant-Laplaceschen Entstehungstheorie zu finden, aber mit größerer
Bestimmtheit und mehr Einzelheiten.

»Sagen Sie mir, Menni«, fragte ich, »halten Sie es wirklich für richtig,
den Kindern gleich zu Anfang diese allgemeinen, fast abstrakten Ideen zu
vermitteln, diese farblosen Weltbilder zu zeigen, die der ihnen
naheliegenden konkreten Umgebung so fern sind? Bedeutet dies nicht, das
kindliche Gehirn mit leeren, fast nur wörtlichen Bildern füllen?«

»Die Sache ist die«, erwiderte Menni, »daß bei uns der Unterricht
niemals mit dem Buch beginnt. Das Kind schöpft seine Kenntnisse aus der
lebendigen, von ihm beobachteten Natur, aus der lebendigen Verbindung
mit anderen Menschen. Ehe es nach einem derartigen Buch greift, hat es
bereits allerlei Reisen unternommen, verschiedene Bilder der Natur
betrachtet, es kennt viele Pflanzen- und Tierarten, kennt das Teleskop,
das Mikroskop, die Photographie, den Phonograph, hat von älteren Kindern
und erwachsenen Freunden allerlei Erzählungen über Vergangenes und
Fernes gehört. Das Buch erfüllt bloß die Aufgabe, all diese Kenntnisse
zu verknüpfen und zu stärken, zufälliges Wissen zu vervollkommnen und
den künftigen Bildungsweg zu weisen. Vor allem gilt es natürlich, ein
genaues Wissen zu erzielen, das Kind vom Anfang bis zum Ende zu führen,
auf daß es sich nicht in Einzelheiten verliere. Der vollkommene Mensch
muß bereits im Kind geschaffen werden.«

All dies erschien mir äußerst ungewohnt, doch wollte ich Menni nicht
weiter befragen; ich werde ja unmittelbar die Bekanntschaft der
Marskinder machen, sowie des dort herrschenden Erziehungssystems. Ich
kehrte zu meinem Buch zurück.

Der Gegenstand des folgenden Teils war die geologische Geschichte des
Mars. Diese Ausführungen brachten trotz ihrer Kürze zahllose Vergleiche
mit der Geschichte der Erde und der Venus. Bei einem bedeutenden
Parallelismus aller drei ergab sich als wichtigster Unterschied, daß der
Mars doppelt so alt wie die Erde und viermal so alt wie die Venus war.
Es wurde in Zahlen die Entwicklung der Planeten angegeben, ich entsinne
mich ihrer noch genau, doch will ich sie hier nicht anführen, um den
irdischen Gelehrten eine Erschütterung zu ersparen, denn diese Zahlen
wären für sie etwas äußerst Unerwartetes.

Dieser Abhandlung folgte die Geschichte des Lebens von seinem Anbeginn.
Es wurden hier geschildert jene ersten Verbindungen, die das Cyanradical
enthielten und die noch keine lebendige Materie waren, obzwar sie viele
ihrer Eigenheiten besaßen. Desgleichen wurden hier jene geologischen
Bedingungen geschildert, unter denen sich die chemischen Verbindungen
vollzogen. Die Ursachen wurden erklärt, vermittels derer sich die eine
Materie im Gegensatz zu anderen, die zwar eine stärkere aber weniger
schmiegsame Verbindung besaßen, bewahrte und anhäufte. Schritt für
Schritt wurde hier die Entwicklung und Differenzierung dieser chemischen
Ahnen jeglichen Lebens verfolgt, bis zur Bildung der ersten wahrhaft
lebendigen Zelle, mit der die »Herrschaft der Einzeller« anhebt.

Nun folgte das Bild der stufenweisen Entwicklung der lebendigen Wesen,
ihrer allgemeinen Genealogie, vom Einzeller bis zu ihrer höchsten
Entwicklung -- dem Menschen einerseits, sowie andrerseits zu seinen
verschiedenen Abarten. Im Vergleich mit der »irdischen«
Entwicklungslinie zeigte sich, daß auf dem Weg von der ersten Zelle bis
zum Menschen die ersten Glieder der Kette fast gleich waren und auch bei
den folgenden nur ein geringer Unterschied bemerkbar wurde; bei den
mittleren Gliedern jedoch begann der Unterschied bedeutsam zu werden.
Das erschien mir äußerst seltsam.

»Diese Frage«, sagte Netti, »ist, so viel ich weiß, noch nicht zum
Spezialstudium geworden. Wußten wir doch vor zwanzig Jahren noch nicht,
wie die höchst entwickelten Erdentiere beschaffen seien. Wir waren
äußerst erstaunt, als wir sahen, wie sehr sie unserem Typus gleichen.
Anscheinend ist die mögliche Zahl der höchsten, das vollkommenste Leben
ausdrückenden Typen eine geringe, und auf den dem unseren gleichenden
Planeten vermag bei den gleichartigen Bedingungen der Natur dieses
Maximum des Lebens bloß eine Form hervorzubringen.«

»Außerdem«, bemerkte Menni, »ist der höchste Typus, der sich der
Planeten bemächtigt hat, jener, der am stärksten der ganzen Summe der
Lebensbedingungen Ausdruck verleiht, bei den Zwischenstufen hingegen,
die sich nur einem Teil der Bedingungen anzupassen vermögen, bleibt mehr
Raum für Verschiedenheit.«

Ich entsann mich, daß mir bereits in meinen Studentenjahren der Gedanke
an die mögliche Zahl der höchsten Typen durch den Kopf gegangen war,
aber freilich aus einer ganz anderen Ursache: bei den Achtfüßlern, den
Kopffüßlern des Meeres, besitzt die höchstentwickelte Art Augen, die
denen unserer Wirbeltiere seltsam ähnlich sind. Und doch ist die
Entwicklung des Auges bei den Kopffüßlern eine ganz andere, insofern,
als die entsprechenden Gewebe des Sehapparates bei ihnen in
entgegengesetzter Ordnung angebracht sind.

Wie dem auch immer sei, eines stand fest: auf dem anderen Planeten
lebten Menschen, die uns gleichen und es verlangte mich, mit ihrem Leben
und ihrer Geschichte bekannt zu werden.

Was die prähistorische Zeit und die ersten Phasen des menschlichen
Lebens auf dem Mars anbelangte, so bestand zwischen diesen und denen der
Erde eine ungeheure Aehnlichkeit. Die gleichen Stammesverhältnisse
hatten geherrscht, einzelne Stämme hatten bestanden, die untereinander
durch Tauschhandel verbunden gewesen waren. Nachher jedoch zeigte sich
ein Auseinandergehen, nicht in der Richtung der Entwicklung, sondern in
der Schnelligkeit und der Art ihres Charakters.

Der Gang der Geschichte auf dem Mars war irgendwie glatter und
einfacher, als der auf der Erde. Freilich gab es Kriege zwischen den
Stämmen und Völkern, und es gab auch den Klassenkampf; doch spielten im
historischen Leben die Kriege eine äußerst kleine Rolle und wurden
verhältnismäßig früh aus der Welt geschafft; auch der Klassenkampf war
geringer und weniger scharf, was die rohe Gewalt anbelangte. Dies ging
selbstverständlich nicht alles aus dem Buch hervor, aber ich vermochte
es dennoch zu erkennen.

Die Sklaverei hatten die Marsbewohner überhaupt nie gekannt; ihre
Feudalzeit war im geringen Maßstab militaristisch gewesen,
ihr Kapitalismus befreite sich frühzeitig vom
nationalistisch-imperialistischen Charakter, und es gab nichts, was
unserer zeitgenössischen Armee entsprach.

Die Erklärung für alle diese Tatsachen mußte ich selbst finden. Die
Marsbewohner und selbst Menni begannen erst jetzt die Geschichte der
Erdenmenschheit zu studieren, und es war ihnen noch nicht gelungen, aus
unserer und ihrer Vergangenheit vergleichende Folgerungen zu ziehen.

Ich entsann mich eines früheren Gespräches mit Menni. Als ich mich
anschickte, die von meinen Reisegefährten benützte Sprache zu lernen,
interessierte es mich zu erfahren, ob diese von allen Marssprachen die
verbreitetste sei. Menni erklärte mir, sie sei die einzige auf dem Mars
geredete Sprache.

»Auch bei uns«, fügte Menni hinzu, »verstanden die Bewohner der
verschiedenen Länder einander nicht, aber schon vor langer Zeit, etliche
hundert Jahre vor dem sozialistischen Umsturz, wurden alle Dialekte zu
einer einzigen Sprache verschmolzen. Dies vollzog sich auf freie,
elementare Art -- niemand bemühte sich darum oder schenkte der
Angelegenheit besondere Aufmerksamkeit. Etliche örtliche Sprachgebräuche
erhielten sich noch längere Zeit, doch waren diese allen verständlich.
Und die Entwicklung der Literatur fegte auch diese hinweg.«

»Diese Tatsache vermag bloß auf eine Art erklärt zu werden«, meinte ich.
»Offensichtlich ist auf Ihrem Planeten die Verbindung zwischen den
Menschen weit besser, leichter und enger, als bei uns.«

»Dies stimmt«, erwiderte Menni. »Auf dem Mars gibt es weder Euere
ungeheuren Ozeane, noch Euere unübersteigbaren Berggipfel. Unsere Meere
sind klein, trennen nirgends die einzelnen Landteile in selbständige
Kontinente, unsere Berge sind nicht hoch, abgesehen von einigen Gipfeln.
Die ganze Oberfläche unseres Planeten ist viermal kleiner, als die der
Erde. Außerdem ist bei uns die Schwerkraft zweieinhalbmal geringer, als
bei Euch; dank der Leichtigkeit unseres Körpers vermögen wir uns auch
ohne besondere Mittel rasch und leicht zu bewegen, wir laufen ohne zu
ermüden ebenso schnell wie Ihr zu Pferde weiterkommt. Die Natur hat
zwischen unseren Völkern weit weniger Mauern und Scheidewände
aufgerichtet, als bei Euch.«

Dies war offensichtlich eine der Hauptursachen, die bei der
Marsmenschheit die scharfe Trennung der Rassen und Nationen verhindert
hatte, sowie das Emporkommen der Kriegerkaste, des Militarismus und des
ganzen Systems des Massenmordens. Wahrscheinlich hatte auch hier der
Kapitalismus mit seinen Widersprüchen zur Erschaffung all dieser, der
höheren Kultur angehörenden Eigenheiten geführt, doch wurde die
Entwicklung des Kapitalismus von der Nebenerscheinung begleitet, für die
politische Vereinigung aller Völker und Nationen neue Bedingungen zu
schaffen. Grund und Boden der Kleinbauern wurden frühzeitig vom
Großgrundbesitz verschlungen, und bald darauf wurde der ganze Grund und
Boden nationalisiert.

Die Ursache hierfür lag in der stetig stärker werdenden Trockenheit des
Bodens, gegen welche die Kleinbauern nicht erfolgreich zu kämpfen
vermochten. Die Erde des Planeten verschlang das Wasser und gab es nicht
wieder zurück. Dies war die Fortsetzung jenes elementaren Prozesses,
vermittels dessen die einst auf dem Mars bestehenden Ozeane seichter
geworden und sich in kleine Binnenmeere verwandelt hatten. Ein
derartiger Prozeß geht auch auf unserer Erde vor sich, doch ist er noch
nicht so weit gediehen; auf dem Mars hingegen, der doppelt so alt ist
wie die Erde, wurde die Lage bereits vor tausend Jahren äußerst ernst.
Die Verminderung der Meere führte zu einer Verminderung der Wolken und
des Regens, zum Seichterwerden der Flüsse und zum Austrocknen der
Quellen. An den meisten Orten mußte die künstliche Bewässerung
eingeführt werden. Wie hätten sich unter diesen Bedingungen die
unabhängigen Kleinbauern halten können?

In dem einen Fall gingen sie einfach zugrunde und ihr Boden fiel in die
Hände der benachbarten Großgrundbesitzer, die über genügend Kapital
verfügten, um die künstliche Bewässerung durchführen zu können. Im
anderen Fall schlossen sich die Bauern zusammen, vereinigten ihre Kräfte
für das gemeinsame Werk. Doch gingen diesen Genossenschaften früher oder
später die Mittel aus; anfangs dünkte sie dies ein vorübergehendes
Uebel, sie machten bei den großen Kapitalisten die ersten Anleihen.
Trotzdem ging es mit ihnen immer rascher bergab, die Prozente der
Anleihe vergrößerten ihre Ausgaben, führten unweigerlich zu neuen
Anleihen usw. Die bäuerlichen Genossenschaften unterlagen der
wirtschaftlichen Macht ihrer Gläubiger und gingen zugrunde, rissen ihre
Mitglieder, bisweilen hundert oder tausend Bauern, auf einmal mit sich.

Derart gelangte die urbar gemachte Erde in den Besitz etlicher tausend
großer Bodenkapitalisten; aber der innere Teil des Landes blieb eine
Wüste; hierher gelangte kein Wasser, und die einzelnen Kapitalisten
besaßen nicht genügend Mittel, um diese Landstriche zu bewässern. Als
die Staatsgewalt, die damals schon völlig demokratisch war, sich
gezwungen sah, diese Sache in die Hand zu nehmen, um das allzu zahlreich
werdende Proletariat zu beschäftigen und der sterbenden Bauernschaft zu
Hilfe zu kommen, verfügte selbst sie nicht über die zum Bau der
gigantischen Kanäle nötigen Mittel. Kapitalistische Syndikate wollten
die Sache übernehmen, -- doch war das ganze Volk dagegen, wohl wissend,
das dies eine Stärkung der Syndikate und deren Herrschaft bedeuten
würde. Nach langem Kampf und verzweifeltem Widerstand von seiten der
Bodenkapitalisten wurde eine große progressive Einkommensteuer auf
landwirtschaftliche Erzeugnisse eingeführt. Die durch diese Steuer
erzielten Summen wurden zum Fonds der ungeheuren Arbeit: des Baues der
Kanäle. Die Macht der Gutsbesitzer war gebrochen, und der Uebergang zur
Nationalisierung von Grund und Boden vollzog sich rasch. Damit
verschwanden auch die letzten Reste der Kleinbauern, da die Regierung im
eigenen Interesse ausschließlich den Großkapitalisten Land überlassen
hatte, so daß die landwirtschaftlichen Unternehmungen noch größer
geworden waren als zuvor. Nun wurden die hauptsächlichsten Kanäle
geschaffen, was zu einer mächtigen wirtschaftlichen Entwicklung führte
und die politische Vereinigung der Menschheit näher brachte. Dies
lesend, konnte ich nicht umhin, Menni meine Verwunderung darüber
auszudrücken, daß Menschenhände vermocht hatten, solche riesenhaften
Wasserwege zu erbauen, die selbst mit unseren mangelhaften Teleskopen
von der Erde aus gesehen werden konnten.

»Sie befinden sich in einem kleinen Irrtum«, erwiderte Menni. »Zwar sind
diese Kanäle tatsächlich ungeheuer groß, aber sie müßten noch um etliche
zehn Kilometer breiter sein, um von Eueren Astronomen unterschieden
werden zu können. Was diese sehen, sind die gewaltigen Waldstreifen, die
wir längs der Kanäle pflanzten, damit eine gleichmäßige Verdunstung der
Feuchtigkeit erzielt und das allzurasche Austrocknen des Wassers
verhindert werde.

Die Zeit der Kanalbauten brachte einen ungeheueren wirtschaftlichen
Aufschwung; die Industrie blühte und der Klassenkampf ebbte ab. Es gab
eine große Nachfrage nach Arbeitskräften, die Arbeitslosigkeit
verschwand völlig. Als jedoch das große Werk beendet war, und zusammen
mit ihm auch die kapitalistische Kolonisierung der wüsten Gegenden, kam
es bald zu einer wirtschaftlichen Krise, und die »soziale Welt« wurde
durchschaut. Die soziale Revolution brach aus. Und abermals spielte sich
alles verhältnismäßig friedlich ab; die Hauptwaffe der Arbeiter war der
Streik, und nur in seltenen Fällen und an einigen Orten, fast
ausschließlich in ländlichen Bezirken, kam es zu Aufständen. Schritt für
Schritt unterlagen die Grundbesitzer dem Unvermeidlichen; selbst als die
Regierungsgewalt schon in den Händen der Arbeiterpartei lag, versuchten
die Sieger nicht, ihre Sache mit Gewalt zu fördern.

Es gab, nachdem die Produktionsmittel sozialisiert worden waren, keine
Entschädigung im wahren Sinne des Wortes, doch wurden die Kapitalisten
pensioniert. Später spielten viele von ihnen bei der Organisation
kooperativer Unternehmungen eine große Rolle. Zuerst fiel es schwer, der
Schwierigkeit bei der Verteilung der Arbeit im Sinne der Arbeiter zu
begegnen. Ungefähr hundert Jahre bestand für alle, ausgenommen die
pensionierten Kapitalisten, die allgemeine Arbeitspflicht; zuerst der
Sechsstundentag; später wurde die Arbeitszeit verkürzt. Der Fortschritt
der Technik sowie die genaue Berechnung der freien Arbeit gestatteten,
bei dieser die letzten Ueberreste des alten Systems auszumerzen.«

Das ganze Bild war schön und harmonisch, nicht wie bei uns von Blut und
Pulverrauch befleckt; ich empfand unwillkürlich ein Gefühl des Neides
und sprach darüber mit Netti, da wir zusammen das Buch lasen.

»Ich weiß nicht«, meinte der Jüngling, »mir scheint, daß Sie unrecht
haben. Es ist wahr, daß auf der Erde die Gegensätze weit stärker sind,
und daß die Natur der Erde weit freigebiger Schläge und Tod verteilt,
als unser Mars. Doch ist dies vielleicht darauf zurückzuführen, daß der
Reichtum der Erde von allem Anfang an unvergleichlich größer war, als
der unsere; die bedeutend größere Sonne gibt ihr die lebendige Kraft.
Bedenken Sie, um wie viele Millionen Jahre unser Planet älter ist, als
der Euere; unsere Menschheit jedoch entstand bloß einige zehntausend
Jahre vor der Eueren, und ist letzterer heute vielleicht nur um zwei,
höchstens drei Jahrhunderte voraus. Ich stelle mir diese beiden
Menschheiten als zwei Brüder vor. Der ältere besitzt einen ruhigen,
gleichmäßigen Charakter, der Jüngere ist stürmisch und explosiv. Der
jüngere Bruder versteht es schlechter, seine Kräfte zu verwerten,
vergeudet sie, begeht mancherlei Fehler; seine Kindheit war voller
Krankheiten und unruhig. Jetzt, da er ins Jünglingsalter kommt, leidet
er unter qualvollen krampfartigen Anfällen. Wird er aber nicht zu einem
schaffenden Künstler werden, der weit größer und stärker ist, als der
ältere Bruder, wird er nicht dann unsere alte Natur weit schöner und
reicher gestalten? Ich weiß es nicht, doch scheint mir, daß dem so sein
wird.«


                              Die Ankunft

Geführt von Mennis klarem Kopf, setzte der Aetheroneff ohne weitere
Unfälle den Weg nach dem fernen Ziel fort. Schon war es mir gelungen,
mich den ungewohnten Lebensbedingungen anzupassen und auch mit den
größten Schwierigkeiten der Marssprache fertig zu werden, als Menni uns
eines Tages mitteilte, die Hälfte des Weges sei zurückgelegt, die
höchste Geschwindigkeit erreicht worden, von nun an werde sich diese
vermindern.

Im gleichen Augenblick, da Menni diese Worte sprach, drehte sich rasch
und gleitend der Aetheroneff. Die Erde, die sich schon seit langer Zeit
aus einer großen, leuchtenden Sichel in eine kleine, und aus der kleinen
Sichel in einen grünschimmernden, nahe der Sonnenscheibe schwebenden
Stern verwandelt hatte, glitt nun aus dem unteren Teil des schwarzen
Himmelsgewölbes in die obere Halbkugel, und der rote Stern, der Mars,
der hell über uns gefunkelt hatte, sank zu unseren Füßen nieder.

Noch einige hundert Stunden, und der Mars verwandelte sich in eine
kleine helle Scheibe, und gar bald unterschieden wir auch zwei kleine
Sternchen, seine Weggenossen, -- Deimos und Phobos, unschuldige, winzige
Planeten, die ihre furchtbaren Namen wirklich nicht verdienten. Diese
Namen bedeuten auf griechisch »Schrecken« und »Grauen«. Die ernsten
Marsbewohner wurden lebhafter, begaben sich immer häufiger in Ennos
Observatorium, um ihre Heimat zu betrachten. Auch ich tat dies, doch
verstand ich, trotz Ennos geduldigen Erklärungen, gar schlecht, was ich
vor mir sah; freilich gab es da viel, was mir völlig fremd war.

Die roten Flecken erwiesen sich als Wälder und Wiesen, und die dunkleren
als erntebereite Felder. Die Städte erschienen als bläuliche Flecken, --
und einzig und allein Wasser und Schnee hatten eine mir verständliche
Farbe. Der muntere Enno ließ mich bisweilen erraten, was es sei, das ich
auf der Linse des Apparates erblickte, und meine naiven Irrtümer reizten
ihn und Netti zum Lachen; ich rächte mich, indem ich über ihre Ordnung
scherzte, ihren Planeten das Königreich der gelehrten Eulen und der
verwirrten Farben nannte.

Der Umfang der roten Scheibe wuchs immer mehr an. Schon übertraf sie an
Größe die merklich kleiner werdende Sonnenscheibe und glich einer
astronomischen Karte ohne Aufschriften. Auch die Schwerkraft begann sich
zu steigern, was mich sehr angenehm berührte. Deimos und Phobos
verwandelten sich aus leuchtenden Pünktchen in winzige, aber klar
umrissene Scheiben.

Noch fünfzehn bis zwanzig Stunden -- und schon umkreiste uns der Mars
als Planiglob und ich vermochte mit freiem Auge mehr zu sehen, als auf
allen astronomischen Karten unserer Gelehrten vermerkt ist. Die Scheibe
des Deimos glitt über diese runde Landkarte dahin, Phobos jedoch war
nicht zu sehen, -- befand sich nun auf der anderen Seite des Planeten.

Freude herrschte ringsum, nur ich allein vermochte nicht eine zitternde,
quälende Erwartung zu überwinden.

Näher und näher ... Keiner von uns brachte es über sich, etwas zu tun,
-- alle blickten unentwegt abwärts, dorthin, wo eine andere Welt
kreiste, -- eine Welt, die für sie die Heimat, für mich aber ein Ort des
Geheimnisses und der Rätsel war. Nur Menni befand sich nicht unter uns,
er stand im Maschinenraum: die letzten Wegstunden waren die
allergefährlichsten, es galt, die Entfernung festzustellen und die
Schnelligkeit zu regulieren.

Wie kam es eigentlich, daß ich, ein unfreiwilliger Kolumbus dieser Welt,
weder Freude, noch Stolz, ja nicht einmal Beruhigung fühlte, jetzt, da
wir ans feste Land gelangen sollten?

Künftige Ereignisse werfen ihre Schatten voraus ...

Noch etwa zwei Stunden! Rasch überschritten wir die atmosphärische
Grenze. Mein Herz begann schmerzhaft zu pochen, ich vermochte nichts
mehr zu sehen, eilte in meine Stube. Netti folgte mir.

Er begann mit mir zu plaudern, -- nicht über die Gegenwart, sondern über
die Vergangenheit, die ferne Erde, die dort oben lag.

»Sie werden noch dorthin zurückkehren, wenn Sie Ihre Aufgabe erfüllt
haben«, sprach er, und seine Worte klangen mir wie eine zarte
Aufforderung, mich mannhaft zu halten.

Wir redeten über diese Aufgabe, über ihre unbedingte Notwendigkeit und
Schwere. Unmerklich verging die Zeit.

Netti blickte auf den Chronometer. »Wir sind angekommen«, sagte er.
»Gehen wir zu ihnen!«

Der Aetheroneff stand still, schaukelte die breiten ungeheueren
Metallplatten; von außen drang frische Luft herein. Ueber unseren
Häuptern leuchtete klar der grünlich blaue Himmel, -- eine Menschenschar
umdrängte uns.

Menni und Sterni gingen als erste an Land; sie trugen den durchsichtigen
Sarg, in dem der tote Kamerad Letta lag.

Ihnen folgten die anderen. Ich und Netti kamen als letzte; Hand in Hand
verließen wir den Aetheroneff, schritten hinein in die Menschenmenge,
die völlig Netti glich ...


                              Zweiter Teil


                               Bei Menni

Die erste Zeit lebte ich bei Menni in der Fabrikstadt, deren Mittelpunkt
und Basis das große chemische, sich tief unter der Erde erstreckende
Laboratorium bildete. Der sich über der Erde befindende Teil der Stadt,
der, zwischen Parken und Anlagen erbaut, etwa zehn Quadratkilometer
einnahm, beherbergte etwa hundert Arbeiterhäuser, die von den
Laboratoriumsarbeitern bewohnt wurden, sowie das große Versammlungshaus,
das Konsumwarenhaus und die Verbindungsstation, die diese Stadt mit der
ganzen umgrenzenden Welt verband. Hier war Menni der Leiter der Arbeit;
er lebte in einem der Gemeinschaftsgebäude, nahe dem Abstieg zum
Laboratorium.

Das erste, was mich bei der Natur des Mars verblüffte und woran ich mich
nicht recht gewöhnen konnte, war die rote Farbe der Pflanzen. Dieser
Farbstoff, seiner Substanz nach dem Chlorophyll der irdischen Pflanzen
äußerst ähnlich, spielte auch hier in der Natur eine völlig analoge
Rolle: er schuf das Gewebe der Pflanzen aus dem Sauerstoff der Luft und
der Kraft des Sonnenlichtes.

Der vorsorgliche Netti schlug mir vor, Schutzbrillen zu tragen, um das
Auge vor der ungewohnten Reizung zu bewahren. Ich weigerte mich, dies zu
tun.

»Diese Farbe trägt auch unsere sozialistische Fahne«, sagte ich. »Ich
muß daher mit Ihrer sozialistischen Natur vertraut werden.«

»Wenn dem so ist, so müssen Sie wissen«, warf Menni ein, »daß auch bei
der Erdflora der Sozialismus besteht, freilich auf eine verborgene Art.
Die Blätter der Erdpflanzen besitzen eine rote Färbung, maskieren diese
bloß durch eine starke grüne Farbe. Es genügt, Brillen anzulegen, die
das grüne Licht verschlingen und das rote Licht abstoßen, damit auch
Ihre Wälder und Felder, gleich den unseren, rot erscheinen.«

Ich darf nicht Zeit und Platz vergeuden, indem ich die eigenartigen
Formen der Pflanzen und Tiere auf dem Mars beschreibe, noch die reine
und durchsichtige Atmosphäre, die zwar äußerst dünn, aber dennoch voller
Sauerstoff ist, noch den tiefen, dunklen, grünlichen Himmel, mit der
mageren Sonne und den winzigen Monden, mit dem doppelt so hellen Abend-
und Morgenstern -- der Venus und der Erde. Alldies, damals seltsam und
fremdartig, deucht mich heute, durch die Erinnerung verklärt, schön und
teuer. Aber es stand mit der Aufgabe meiner Sendung nur in losem
Zusammenhang. Die Menschen, die Verhältnisse, in denen sie lebten, dies
war für mich wichtig, und sie waren selbst in dieser märchenhaften
Umgebung das Allerphantastischste, das Allerrätselhafteste.

Menni wohnte in einem nicht sonderlich großen zweistöckigen Haus, das
sich der Architektur nach nicht von den übrigen Gebäuden unterschied.
Der originellste Zug dieser Architektur bestand in dem durchsichtigen,
aus riesenhaften himmelblauen Platten gebildeten Dach. Unter diesem Dach
befanden sich die Schlaf- und Wohnzimmer. Die Marsbewohner verbrachten
ihre Mußestunden in dieser blauen Beleuchtung, schätzten deren
beruhigenden Einfluß, und fanden die Farbe, die jenes Licht auf den
Gesichtern hervorruft, keineswegs unangenehm, wie es bei uns der Fall
gewesen wäre.

Die Arbeitszimmer, das Hauslaboratorium, sowie der Verbindungsraum lagen
im unteren Stockwerk; große Fenster ließen gewaltige Wogen des
beunruhigenden roten Lichtes, das von den Blättern der Parkbäume
ausging, in die Räume fluten. Dieses Licht, das in der ersten Zeit bei
mir eine unruhige und verwirrte Stimmung hervorrief, erregte bei den
Marsbewohnern eine gewohnte, der Arbeit günstige Erregung.

In Mennis Arbeitszimmer befanden sich viele Bücher und die
verschiedensten Schreibgeräte, angefangen vom einfachen Bleistift bis
zum Druckphonographen. Dieser Apparat besaß einen äußerst komplizierten
Mechanismus: jedes deutlich ausgesprochene Wort wurde sofort vermittels
eines Hebels auf der Schreibmaschine wiedergegeben und von dieser, je
nach Bedarf, auf die Setzmaschine gebracht.

Auf Mennis Schreibtisch stand das Porträt eines mittelgroßen
Marsbewohners. Die Gesichtszüge erinnerten lebhaft an Menni, doch
eignete ihnen ein Ausdruck strenger Energie und kalter Entschlossenheit,
ja fast der Grausamkeit, die Menni fehlte, dessen Gesicht nur einen
ruhigen, festen Willen ausdrückte. Menni erzählte mir die Geschichte
dieses Mannes.

Er war ein Ahne Mennis, ein großer Ingenieur. Er lebte vor der sozialen
Revolution, zur Zeit der großen Kanalbauten. Dieses grandiose Werk wurde
nach seinen Plänen und unter seiner Leitung ausgeführt. Sein erster
Gehilfe, der ihm den Ruhm und die Macht neidete, zettelte gegen ihn
Intrigen an. Einer der Hauptkanäle, an dem einige hunderttausend
Menschen arbeiteten, mußte in einer sumpfigen, ungesunden Gegend
begonnen werden. Viele tausend Arbeiter starben und erkrankten,
allgemeine Unzufriedenheit gärte. Zur gleichen Zeit, als der
Oberingenieur mit der Zentralregierung des Mars Besprechungen pflog, um
für die Familien der bei dem Bau verstorbenen Arbeiter und für jene, die
durch Krankheit an weiterer Arbeit gehindert wurden, Pensionen
durchzusetzen, agitierte der erste Gehilfe im Geheimen wider ihn, hetzte
zum Streik für die Forderung, die Arbeit an einen anderen Ort zu
verlegen, was bei dem jetzigen Stand der Arbeit unmöglich war, weil
dadurch der ganze Plan des großen Werkes und des Ingenieurs zerstört
worden wäre. Als der Ingenieur dies erfuhr, berief er den ersten
Gehilfen zu sich, verlangte von ihm eine Aufklärung und tötete ihn auf
der Stelle. Vor Gericht verschmähte der Ingenieur jegliche Verteidigung,
beschränkte sich auf die Erklärung, daß er seine Handlung für völlig
gerecht und notwendig halte. Er wurde zu vielen Jahren Gefängnis
verurteilt.

Doch stellte sich gar bald heraus, daß keiner seiner Nachfolger die
Kraft besaß, die gigantische Organisation der Arbeit durchzuführen.
Mißverständnisse entstanden, Raub und Betrug, gewaltige Verwirrung; der
ganze Apparat des Werkes war nahe daran zugrunde zu gehen, die Ausgaben
wuchsen in die Hunderte von Millionen, unter den Arbeitern gärte heftige
Unzufriedenheit, die bereits fast zu Aufständen führte. Die
Zentralregierung wandte sich in aller Eile an den früheren Ingenieur,
bot ihm Begnadigung und Wiedereinsetzung ins Amt an. Er wies die
Begnadigung zurück, willigte jedoch ein, vom Gefängnis aus die Arbeit zu
leiten.

Durch die Berichte seiner Revisoren wurden die Vorgänge an der
Arbeitsstelle rasch aufgeklärt. Hundert Ingenieure und Unternehmer
wurden fortgejagt und vor Gericht gestellt. Der Arbeitslohn wurde
erhöht, ein neues System für die Lieferung der Nahrung, Kleidung und
Werkzeuge eingeführt, der Arbeitsplan revidiert und verbessert. Bald war
die Ordnung wieder völlig hergestellt, der gewaltige Apparat arbeitete
rasch und genau, wie ein gehorsames Werkzeug in der Hand des Meisters.

Aber dieser Meister leitete nicht bloß das ganze Werk, sondern arbeitete
auch die Pläne für dessen Fortsetzung in den folgenden Jahren aus,
bereitete gleichzeitig auch noch einen Stellvertreter vor, einen jungen,
energischen, begabten, dem Arbeiterstand entstammenden Ingenieur. Da der
Tag nahte, an dem er aus dem Gefängnis entlassen werden sollte, war
alles so gut vorbereitet, daß der große Meister die Möglichkeit hatte,
das Werk, ohne es zu gefährden, einer anderen Hand zu übergeben. Im
Augenblick, als sich der erste Minister der Zentralregierung dem
Gefängnis näherte, um den Gefangenen freizulassen, tötete dieser sich
selbst.

Während Menni mir dies erzählte, veränderte sich sein Gesicht auf
seltsame Art; es erschien darauf der gleiche unbeugsam strenge Ausdruck,
der seinem Ahnen eignete, und in diesem Augenblick glich er ihm. Ich
fühlte, wie sehr er diesem Ahnen, der hundert Jahre vor seiner, Mennis,
Geburt gestorben war, nahestand und wie gut er ihn begriff.

Das Verbindungsbureau nahm den mittleren Raum des unteren Stockwerkes
ein. Hier befanden sich die Telephone und die optischen Apparate, die
auf jede beliebige Entfernung hin das Bild all dessen wiedergaben, was
sich vor ihrer Linse befand. Einer dieser optischen Apparate verband
Mennis Wohnung mit der Verbindungsstation, und über diese mit allen
Städten des Planeten. Ein anderer stellte die Verbindung mit dem
unterirdischen Laboratorium her, das von Menni geleitet wurde. Dieser
letztere arbeitete unaufhörlich: etliche dünne, gitterartige Platten
zeigten verkleinert das Bild eines hellerleuchteten Saals, wo sich
mächtige Metallmaschinen und gläserne Apparate befanden, an denen
Tausende von Leuten arbeiteten. Ich wandte mich an Menni mit der Bitte,
mich in das Laboratorium zu führen.

»Dies geht nicht«, erwiderte er. »Dort wird mit der noch nicht stabilen
Materie gearbeitet, und wie gering auch immer, dank unserer
Vorsichtsmaßregeln, die Gefahr einer Explosion oder einer Vergiftung
durch unsichtbare Strahlen ist, so besteht trotzdem noch eine gewisse
Gefahr. Sie dürfen sich dieser nicht aussetzen, denn Sie sind hier
einzigartig, und Sie zu ersetzen wäre unmöglich.«

In seinem Privatlaboratorium verwahrte Menni bloß jene Apparate und
Materialien, die zu seinen früheren Experimenten und Untersuchungen in
Beziehung standen.

Im Korridor des untersten Stockwerkes war an der Decke ein Luftschiff
befestigt, mit dem man in jedem Augenblick dorthin fliegen konnte, wohin
es einem beliebte.

»Wo lebt Netti?« fragte ich Menni.

»In einer großen Stadt, auf zwei Luftschiffstunden entfernt. Dort
befindet sich eine große Maschinenfabrik mit etlichen zehntausend
Arbeitern, so daß Netti für seine Untersuchungen weit mehr Material
besitzt, als hier. Wir haben einen anderen Arzt.«

»Ist mir auch nicht gestattet, die Maschinenfabrik zu besuchen?«
erkundigte ich mich.

»Nein; dort droht ja keine besondere Gefahr. Wenn es Ihnen recht ist,
werden wir uns morgen zusammen hinbegeben.«

Wir beschlossen, dies zu tun.


                             In der Fabrik

Ungefähr fünfhundert Kilometer in zwei Stunden, -- die Schnelligkeit
eines Falkenflugs, die bisher nicht einmal von unseren elektrischen
Eisenbahnen erreicht worden ist ... Unter uns kreiste in raschem Wechsel
die unbekannte, fremdartige Landschaft, und noch rascher flogen
seltsame, mir fremde Vögel an uns vorbei. Das Sonnenlicht warf blaue
Farben auf die Dächer der Häuser und färbte mit dem mir gewohnten gelben
Licht die ungeheuere Kuppel eines unbekannten großen Gebäudes. Flüsse
und Kanäle schimmerten als Stahlbänder, mein Auge ruhte auf ihnen, weil
sie denen der Erde glichen. In der Ferne ward eine gewaltige Stadt
sichtbar, umsäumt von kleinen Seen und durchschnitten von Kanälen. Das
Luftschiff verlangsamte seine Fahrt und senkte sich gleitend zu einem
kleinen schönen Haus nieder, Nettis Wohnung.

Netti war daheim und begrüßte uns freudig. Er stieg in unser Luftschiff,
und wir flogen weiter; die Fabrik befand sich noch etliche Kilometer
entfernt, an dieser Seite des Sees.

Fünf riesenhafte Gebäude, kreuzförmig gelegen, vereinigten sich zu einem
einzigen Bau; Kuppeln aus reinem Glas wurden von etlichen zehn dunklen
Säulen getragen, bildeten einen Kreis oder eine verlängerte Ellipse. Die
Glasplatten waren abwechselnd durchsichtig oder matt, bildeten zwischen
den Säulen die Wände. Wir machten am Mittelbau Halt, vor dem Tor, das
den ganzen Raum zwischen zwei Säulen, zehn Meter breit und zwölf Meter
hoch, einnahm. Die Decke des ersten Stockwerks durchschnitt horizontal
den Mittelraum des Tores; etliche Schienenpaare mündeten beim Tor, zogen
sich durch den äußeren Korridor.

Wir glitten zur halben Höhe des Tores, und jählings stürzte sich das
alles verschlingende Geräusch der Maschinen aus dem zweiten Stockwerk
auf uns nieder. Uebrigens war dieses Stockwerk nicht im eigentlichen
Sinne des Wortes ein eigenes, abgetrenntes Stockwerk; es war vielmehr
ein Netz aus Luftbrücken, das über den gewaltigen, mir unbekannten
Maschinen schwebte. Wenige Meter über den Maschinen befand sich ein
ähnliches Netz, noch höher ein drittes, viertes, fünftes; diese Netze
bestanden aus einem Glasparkett, das von vierkantigen Eisengittern
eingefaßt war; alle waren durch Fallgatter und Stufen miteinander
verbunden, und jedes Netz war kleiner, als das vorhergehende.

Weder Dunst, noch Ruß, noch Gestank, noch Staub. In der reinen, frischen
Luft arbeiteten die Maschinen kraftvoll und gleichmäßig, das Licht war
nicht schmerzlich grell, doch drang es überall hin. Die Maschinen
schnitten, sägten, hobelten ungeheuere Eisenstücke, Aluminium, Nickel,
Kupfer. Hebel, stählernen Riesenhänden ähnlich, bewegten sich
gleichmäßig und glatt, große Plattformen glitten mit sorgfältig
berechneter Genauigkeit hin und her; die Räder und Transmissionsriemen
schienen hingegen unbeweglich. Hier herrschte nicht die rohe Gewalt des
Feuers und Dampfes; die feine und dabei weit mächtigere Kraft der
Elektrizität war die Seele dieses unheimlichen Mechanismus.

Sogar der Lärm der Maschinen schien, sobald man sich ein wenig daran
gewöhnt hatte, schier melodisch, ausgenommen in jenen Augenblicken, da
der gewaltige Hammer niederschlug, und von dem mächtigen Schlag alles
ringsum erbebte.

Hunderte von Arbeitern gingen gelassen durch den Raum; in dem
Meeresrauschen der Maschinen waren ihre Schritte und Stimmen nicht
vernehmbar. Auf ihren Zügen lag keine angespannte Sorge, sondern bloß
ruhige Aufmerksamkeit; sie glichen wißbegierigen, gelehrsamen
Betrachtern; es interessierte sie nur, zu sehen, wie die ungeheueren
Metallstücke auf den unter der durchsichtigen Kuppel gelegenen
Schienenplattformen in die eiserne Umarmung der dunklen Ungeheuer
stürzten, wie die Ungeheuer diese mit ihren starken Kinnbacken
zermalmten, mit den schweren, harten Tatzen festhielten, mit den
scharfen, glänzenden Krallen durchbohrten und schließlich, im grausamen
Spiel innehaltend, sie auf die andere Seite zu den dort befindlichen
elektrischen Eisenbahnwaggons beförderten, als prächtige Maschinenteile,
deren Bestimmung rätselhaft war. Es erschien völlig natürlich, daß die
stählernen Ungeheuer die kleinen großäugigen Betrachter nicht anrührten,
die so vertrauensvoll zwischen ihnen dahinschritten. Diese Tatsache
entsprang der Geringschätzung ihrer Schwäche, der Erkenntnis, daß diese
kleinen Geschöpfe eine allzu unbedeutende Beute seien, unwürdig der
ungeheueren Kraft der Giganten. Unmerkbar und unsichtbar waren jene
Fäden, die das zarte Menschenhirn mit dem unzerstörbaren Organ des
Mechanismus verbanden.

Als wir endlich den Bau verließen, fragte der uns führende Techniker, ob
wir sofort die anderen Gebäude besichtigen, oder ob wir uns zur Erholung
eine kleine Unterbrechung gönnen wollten? Ich war für eine
Unterbrechung.

»Ich sah nun die Maschinen und die Arbeiter«, sprach ich. »Die
Organisation der Arbeit jedoch vermag ich mir nicht vorzustellen. Und
gerade darüber möchte ich Sie befragen.«

Statt einer Antwort führte uns der Techniker in einen kubisch gebauten,
zwischen dem Mittel- und einem Eckgebäude gelegenen Bau. Aehnlicher
Bauten gab es noch drei, die alle die analoge Lage hatten. Die schwarzen
Mauern waren mit Reihen von glänzend weißen Zeichen bedeckt; dies waren
die statistischen Arbeitstabellen. Auf der einen, mit Nummer eins
bezeichneten, stand:

»Der Maschinen-Betrieb verfügt über einen Ueberschuß von 968757
täglichen Arbeitsstunden, davon 11325 Arbeitsstunden erfahrener
Spezialisten.

Die Fabrik weist einen Ueberschuß von 753 Stunden auf, davon 29 Stunden
erfahrener Spezialisten.

In den folgenden Zweigen herrscht kein Mangel an Arbeitskraft: in der
Landwirtschaft, in den Bergwerken, bei den Erdarbeiten, in den
chemischen Betrieben usw. (Die verschiedenen Arbeitszweige wurden in
alphabetischer Reihenfolge aufgezählt.)«

Auf der Tabelle, die die Nummer zwei trug, war zu lesen:

»In den Konfektionsbetrieben ist ein Mangel von 392685 täglichen
Arbeitsstunden, davon 21380 Arbeitsstunden erfahrener Mechaniker für
Spezialmaschinen und 7852 Arbeitsstunden der Spezialisten für
Organisation.«

»Die Schuhfabriken benötigen 79360 Arbeitsstunden, davon ...« usw.

»Das Institut für Rechnungswesen benötigt 3078 Arbeitsstunden ...«

Der Inhalt der Tabellen Nummer drei und vier war ein ähnlicher. Auf den
Listen der Arbeitszweige stand auch die Erziehung von kleinen, sowie von
mittelgroßen Kindern, medizinische Hilfe für die Stadt, oder für
Landbezirke usw.

»Weshalb ist der Ueberschuß an Arbeitskraft nur in der Maschinenfabrik
so genau angegeben, der Mangel an Arbeitskräften jedoch überall so
ausführlich vermerkt?« fragte ich.

»Das ist leicht zu erklären«, entgegnete Menni. »Vermittels dieser
Tabellen wird die Verteilung der Arbeit vorgenommen. Dazu ist nötig, daß
ein jeder zu sehen vermöge, wo die Arbeitskräfte nicht ausreichen, in
welchem Maße sie fehlen. Dann vermag der Mensch, der für zwei
Beschäftigungen die gleiche oder verhältnismäßig gleiche Neigung
besitzt, jene der beiden Beschäftigungen zu wählen, bei der es an
Arbeitskraft gebricht. Den genauen Ueberschuß an Arbeitskraft zu kennen,
ist jedoch nur dort vonnöten, wo dieser Ueberschuß besteht. Auf diese
Art kann jeder Arbeiter selbst die Berechnung und das Maß des
Ueberschusses feststellen, sowie seine Neigung, die Beschäftigung zu
wechseln.«

Während wir so sprachen, bemerkte ich plötzlich, daß auf den Tabellen
einige Zahlen verschwanden und durch andere, neue, ersetzt wurden. Ich
fragte, was dies bedeute.

»Die Zahlen ändern sich stündlich«, erklärte Menni. »Im Verlauf einer
Stunde melden einige tausend Arbeiter ihren Wunsch, zu einer anderen
Arbeit überzugehen. Dies wird vom zentralen statistischen Apparat
vermerkt, und die Mitteilung wird auf elektrischem Wege stündlich
weitergeleitet.«

»Auf welche Art vermag der zentrale statistische Apparat die Zahlen des
Ueberschusses und des Mangels festzustellen?«

»Unser Institut für Rechnungswesen besitzt überall seine Agenturen;
diese verfolgen genau die Bewegung in der Produktion, die Warenmengen
der einzelnen Betriebe, die Zahl der dort schaffenden Arbeiter. Auf
diesem Weg wird genau ersichtlich, wieviel Arbeitsstunden erforderlich
sind. Das Institut berechnet, welcher Unterschied zwischen den
tatsächlichen und den erforderlichen Arbeitsstunden in den einzelnen
Betrieben besteht, und gibt dies überall bekannt. Die Flut der
Freiwilligen verteilt sich auf gleichmäßige Art.«

»Ist das Anrecht auf Produkte in keiner Weise eingeschränkt?«

»Nein; jeder nimmt das, was er braucht, nimmt soviel, wie er will.«

»Und wird niemals etwas unserem Gelde entsprechendes verlangt? Ein
Beweis für die Menge der geleisteten Arbeit, oder der Verpflichtung,
diese zu leisten?«

»Keineswegs. Bei uns ist die Arbeit frei, es herrscht an nichts Mangel.
Der erwachsene soziale Mensch fordert nur eines: Arbeit. Wir brauchen
ihn weder auf verhüllte noch auf offene Art zur Arbeit zu zwingen.«

»Wenn aber die Forderungen durch nichts begrenzt werden, ergibt sich
daraus nicht die Möglichkeit scharfer Schwankungen, die alle
Berechnungen des Instituts über den Haufen werfen?«

»Selbstverständlich nicht. Der einzelne Mensch kann für einen oder zwei
Menschen essen, ja auch die für drei Leute bestimmte Menge von
Nahrungsmitteln verzehren, oder aber er kann in zehn Tagen zehn Anzüge
tragen; bei einer Gesellschaft von dreitausend Millionen Menschen
hingegen gibt es keine derartigen Schwankungen. Bei so großen Zahlen
bedeuten die Schwankungen nach der einen oder anderen Seite hin nichts,
verteilen sich gleichmäßig; der Durchschnitt verändert sich äußerst
langsam, in strenger, gesetzmäßiger Kontinuität.«

»Dann arbeitet also Ihre Statistik völlig automatisch, ist weiter
nichts, als eine Berechnung?«

»Das will ich nicht sagen. Es gibt dabei auch große Schwierigkeiten. Das
Institut für Rechnungswesen muß scharfsichtig alle neuen Erfindungen
verfolgen, sowie die durch diese im Betrieb hervorgerufenen
Veränderungen, damit es diese richtig einzuschätzen vermag. Erscheint
eine neue Maschine, so fordert dies nicht nur eine Veränderung der
Arbeit in jenen Betrieben, wo sie benützt wird, sondern auch in den
Maschinenfabriken, und bisweilen in den Betrieben für Rohmaterial bei
ganz anderen Zweigen. Wird eine Erzgrube erschöpft, oder werden neue
mineralische Reichtümer entdeckt, so bedeutet das abermals eine völlige
Veränderung der Arbeit in einer ganzen Reihe von Betrieben, -- in den
Bergwerken, dem Bau der Eisenbahnstrecken usw. All dies muß von allem
Anfang an berechnet werden, wenn auch nicht ganz genau, so doch
annähernd, und das ist keineswegs leicht, solange nicht die Daten von
Augenzeugen erbracht werden können.«

»Bei derartigen Schwierigkeiten«, bemerkte ich, »ist es offensichtlich
nötig, stets über einen Vorrat an überschüssigen Arbeitskräften zu
verfügen?«

»Ja, gerade dies ist der Stützpunkt unseres Systems. Vor zweihundert
Jahren, als die kollektive Arbeit nur gerade genügte, um die Forderungen
der Gesellschaft zu befriedigen, war eine völlige Genauigkeit der
Berechnung unentbehrlich, und die Verteilung der Arbeit konnte nicht
ganz frei sein. Es gab Pflicht-Arbeitstage, und die Verteilung derselben
fand nicht immer die Zustimmung unserer Genossen. Doch brachte jede
Erfindung, wenngleich sie zuerst vorübergehende statistische
Schwierigkeiten bedeutete, eine gewaltige Erleichterung der Aufgabe.
Zuerst wurden die Arbeitstage gekürzt, dann, als sich allerorts ein
Ueberschuß an Arbeitskraft zeigte, wurde die Verpflichtung zur Arbeit
endgültig aufgehoben. Beobachten Sie, wie unbedeutend die Zahlen sind,
die sich auf den Mangel an Arbeitsstunden beziehen: tausend, zehn-,
hunderttausend Arbeitsstunden, nicht mehr, -- und dies bei Millionen und
zehn Millionen von Arbeitsstunden, die in den Betrieben unnötig
verbracht werden.«

»Dennoch besteht ein Mangel an Arbeitsstunden«, warf ich ein. »Freilich
dürfte er durch den darauffolgenden Ueberschuß gedeckt werden.«

»Nicht bloß durch diesen Ueberschuß. Bei den lebenswichtigen Betrieben
wird derart gearbeitet, daß die Grundziffern noch überboten werden. In
den für die Gesellschaft wichtigsten Industriezweigen -- den Betrieben
für Lebensmittel, Kleidung, Maschinen, Bauten -- erreicht dieses
Ueberangebot die Höhe von 6 Prozent, bei den weniger wichtigen 1 bis 2
Prozent. Auf diese Art drücken die den Mangel bezeichnenden Zahlen,
allgemein gesprochen, nur den relativen, aber nicht den absoluten Mangel
aus. Selbst wenn auf den Tabellen ein Mangel von zehn- und
hunderttausend Arbeitsstunden vermerkt ist, so bedeutet dies noch nicht,
daß die Gesellschaft unter einem wirklichen Mangel leidet.«

»Wieviel Stunden werden täglich vom Einzelnen, zum Beispiel in dieser
Fabrik, gearbeitet?«

»Die meisten arbeiten zwei, anderthalb und zweieinhalb Stunden«,
erwiderte der Techniker. »Doch gibt es auch welche, die länger oder
kürzer arbeiten. Jener Genosse dort, der den großen Hammer handhabt,
läßt sich derart von seiner Arbeit fortreißen, daß er niemandem
gestattet, ihn abzulösen, ehe nicht die volle Arbeitszeit, sechs
Stunden, vorüber ist.«

Ich übertrug im Gedanken die Marszahlen auf irdische Zahlen: ihr Tag
bestand, da ihre Stunden etwas länger waren aus zehn Stunden. Demzufolge
war ein Arbeitstag von vier, fünf, sechs Stunden ungefähr unserem
Arbeitstag von fünfzehn Stunden gleich, -- einer Arbeitszeit, die nur
bei den ausbeuterischsten Unternehmen vorkam.

»Ist es denn für den Genossen am großen Hammer nicht schädlich, so lange
zu arbeiten?« fragte ich.

»Bisher noch nicht«, entgegnete Netti. »Er wird sich diesen Luxus noch
ein halbes Jahr lang gestatten können. Ich habe ihn selbstverständlich
auf die Gefahren aufmerksam gemacht, die ihm von seiner Leidenschaft
drohen. Eine derselben ist die Möglichkeit eines krampfartigen
psychischen Anfalls, der ihn mit unwiderstehlicher Kraft unter den
Hammer reißen würde. Im Vorfahr ereignete sich in dieser Fabrik ein
derartiger Fall mit einem jungen Mechaniker, der ebenfalls die starken
Empfindungen liebte. Dank eines glücklichen Zufalls gelang es, den
Hammer aufzuhalten, und der unfreiwillige Selbstmord mißlang. Die Gier
nach starken Empfindungen ist an und für sich noch keine Krankheit, doch
kann sie sich leicht in eine verwandeln, falls das Nervensystem durch
Erschöpfung, seelische Kämpfe oder eine zufällige Krankheit erschüttert
ist. Selbstverständlich verliere ich niemals jene Genossen aus dem Auge,
die sich hemmungslos der gleichen Arbeit hingeben.«

»Sollte aber nicht jener Genosse, von dem die Rede ist, seine
Arbeitszeit auch schon deshalb abkürzen, weil in der Maschinenfabrik ein
Ueberschuß an Arbeitsstunden besteht?«

»Selbstverständlich nicht«, lachte Menni. »Weshalb sollte gerade er das
Gleichgewicht herstellen? Die Statistik verpflichtet keinen. Jeder nimmt
sie zur Kenntnis, doch kann er sich nicht einzig und allein von ihr
leiten lassen. Wenn es Sie danach verlangte, baldigst in dieser Fabrik
zu arbeiten, so würden Sie höchstwahrscheinlich eine Anstellung finden,
und die statistische Zahl des Ueberschusses würde sich auf ein bis zwei
Stunden vergrößern. Der Einfluß der Statistik macht sich bei der
_Massen_-Umstellung der Arbeit ununterbrochen bemerkbar, doch ist jeder
Einzelne frei.«

Wir hatten uns nun zur Genüge ausgeruht und gingen daran, die
Besichtigung der Fabrik fortzusetzen. Nur Menni begab sich heim, denn er
war ins Laboratorium gerufen worden.

Am Abend beschloß ich, bei Netti zu bleiben; er versprach, mir am
folgenden Tag das »Haus der Kinder« zu zeigen, wo seine Mutter eine der
Erzieherinnen war.


                          Das Haus der Kinder

Das »Haus der Kinder« nahm den wichtigsten und schönsten Teil einer
Stadt von fünfzehn- bis zwanzigtausend Einwohnern ein. Diese Einwohner
bestanden freilich hauptsächlich aus Kindern und deren Erziehern. Es gab
in allen größeren Städten auf dem Planeten derartige Anstalten, in
vielen Fällen bildeten sie sogar selbständige Städte; bloß an kleineren
Orten, wie etwa in Mennis »Chemischer Stadt«, fehlten sie bisweilen.

Das große zweistöckige Haus mit dem üblichen blauen Dach lag in von
Bächen durchzogenen Gärten; hier gab es auch Teiche, Spiel- und
Turnplätze, Gemüsegärten, Blumen und nützliche Gräser, Häuschen für
zahme Tiere und Vögel ... Eine Menge kleiner Ungeheuer spielten dort,
man vermochte, dank der für Mädchen und Knaben gleichen Bekleidung,
nicht zu unterscheiden, welchem Geschlecht sie angehörten ... Es war ja
auch bei den erwachsenen Marsbewohnern schwierig, der Kleidung nach die
Männer von den Frauen zu unterscheiden, -- die Grundzüge der Gewänder
waren die gleichen, nur bei kleinen Einzelheiten bestand ein
Unterschied: die engeren Gewänder der Männer paßten sich genauer an den
Körper an, während bei den Frauen dieser mehr verhüllt wurde. Jedenfalls
aber war die ältliche Person, die uns beim Verlassen der Gondel an der
Tür eines der großen Häuser begrüßte, eine Frau, denn Netti umarmte sie
und nannte sie »Mama«. Im weiteren Gespräch jedoch redete er sie, gleich
den anderen Genossen, nur mit dem Namen: »Nella« an.

Nella hatte bereits gewußt, daß wir kommen würden und führte uns sofort
in das »Haus der Kinder«, zeigte uns alle Abteilungen, bei der von ihr
geleiteten für die Allerkleinsten beginnend, bis zu jener, die für die
ans Knaben- und Mädchenalter grenzenden Kinder bestimmt war. Unterwegs
schlossen sich uns die kleinen Ungeheuer an, betrachteten mit ihren
riesigen Augen den Menschen, der von einem anderen Planeten stammte; sie
wußten genau, wer ich sei, und als wir die letzte Abteilung erreichten,
begleitete uns bereits eine ganze Schar, wenngleich die meisten Kinder
seit dem Morgen im Garten spielten.

Im Haus der Kinder lebten etwa dreihundert Kinder verschiedenen Alters.
Ich fragte Nella, weshalb die verschiedenaltrigen Kinder zusammen, und
nicht in einzelnen Häusern untergebracht waren, was doch sicherlich die
Arbeit der Erzieher erleichtern und vereinfachen würde.

»Weil es auf diese Art keine wirkliche Erziehung geben könnte«,
erwiderte Nella. »Um für die Gesellschaft erzogen zu werden, muß das
Kind ein gesellschaftliches Leben führen. Jede lebendige Erfahrung,
jedes lebendige Wissen verbindet die Kinder miteinander. Wollten wir das
eine Alter vom anderen isolieren, so gäben wir den Kindern dadurch ein
einseitiges und enges Milieu, in dem die Entwicklung der zukünftigen
Menschen nur langsam, träge und einseitig vor sich ginge. Die
verschiedenen Alter hingegen lassen der Aktivität weit mehr Spielraum.
Die älteren Kinder sind unsere besten Gehilfen beim Erziehen der
Kleinen. Doch bringen wir nicht nur deshalb absichtlich die Kinder der
verschiedenen Altersstufen zusammen, sondern die Erzieher in jedem
Kinderhaus bemühen sich auch, die verschiedenen Alter und verschiedenen
praktischen Eigenheiten gleichsam zu sammeln.«

»Dennoch sind in diesem Haus der Kinder die Kleinen dem Alter nach in
den verschiedenen Abteilungen untergebracht«, warf ich ein. »Dies
widerspricht Ihren Worten.«

»Die Kinder begeben sich nur in die verschiedenen Abteilungen, um dort
zu schlafen und zu speisen; hierbei muß man selbstverständlich die
einzelnen Altersstufen trennen. Beim Spiel und der Beschäftigung jedoch
gruppieren sich die Kinder, wie es ihnen beliebt. Auch wenn irgend
welche belletristischen oder wissenschaftlichen Vorträge gehalten
werden, finden sich unter den Zuhörern stets auch Kinder aus anderen
Abteilungen ein. Die Kinder wählen sich selbst ihren Umgang, und lieben
es, mit den andersaltrigen Kameraden, vor allem aber mit den Erwachsenen
zu verkehren.«

»Nella«, rief aus der Menge hervorspringend ein kleiner Junge. »Esta hat
das Schiff, das ich selbst verfertigt, fortgenommen. Nimm es ihr wieder
und gib es mir.«

»Wo ist sie?« fragte Nella.

»Sie lief zum Teich, um das Schiff auf dem Wasser schwimmen zu lassen«,
erklärte das Kind.

»Ich habe jetzt keine Zeit, um dorthin zu gehen; eines von den älteren
Kindern soll mit dir gehen und Esta sagen, sie möge dich nicht kränken.
Am besten aber wäre es, du gingest allein hin und hülfest ihr, das
Schiff schwimmen zu lassen. Es ist gar nicht erstaunlich, daß ihr das
Schiff gefällt, wenn du es schön gemacht hast.«

Das Kind lief fort und Nella wandte sich an die Uebrigen.

»Hört Kinder, es wäre gut, wenn Ihr uns allein ließet. Dem Fremden kann
es nicht angenehm sein, von hundert Kinderaugen angestarrt zu werden.
Stelle dir einmal vor, Elwi, daß dich eine ganze Schar Fremder
anstarrte. Was tätest du?«

»Ich liefe fort«, entgegnete tapfer das uns zunächst stehende Kind, an
das sich Nella gewandt hatte. Und schon im gleichen Augenblick rannten
alle Kinder lachend von dannen.

»Da sehen Sie selbst, wie mächtig die Vergangenheit ist«, meinte
lächelnd die Erzieherin. »Man könnte glauben, bei uns herrsche
vollkommener Kommunismus, von dem die Kinder fast nie abweichen, --
woher stammt das Gefühl des Privateigentums? Da kommt nun ein Kind und
sagt »mein« Schiff, das »ich selbst« verfertigt habe. Und derartiges
ereignet sich häufig, führt manchmal bis zu Prügeleien. Dagegen läßt
sich nichts tun -- ein allgemeines Lebensgesetz lautet: die Entwicklung
des Organismus gibt im verkleinerten Maßstab die Entwicklung des
Aeußeren wieder, und die Entwicklung des Einzelnen wiederholt auf
gleiche Art die Entwicklung der Gesellschaft. Der Selbstbestimmung der
Kinder mittleren und reiferen Alters eignet in vielen Fällen dieser
unklar individualistische Charakter. Und diese Färbung wird mit der
Reife stärker. Nur bei der jüngsten Generation besiegt das
sozialistische Milieu endgültig die Reste der Vergangenheit.«

»Machen Sie die Kinder mit dieser Vergangenheit bekannt?« fragte ich.

»Selbstverständlich. Sie lieben sehr die Gespräche und Erzählungen über
vergangene Zeiten. Zuerst erscheinen diese ihnen als Märchen, als
schöne, ein wenig seltsame Märchen von einer anderen Welt, die mit ihren
aufregenden Bildern des Krieges und der Gewalt in den atavistischen
Tiefen des Kinderinstinktes einen Widerhall finden. Die unbesieglichen
lebendigen Ueberreste der Vergangenheit, die es in der eigenen Seele
findet, ermöglichen dem Kinde genau den Zusammenhang der Zeiten zu
erkennen, die Märchen und Bilder verwandeln sich in wahrhafte
Weltgeschichte, -- in die lebendigen Glieder einer unzerreißbaren
Kette.«

Wir durchwanderten die Alleen eines weiten Gartens, begegneten von Zeit
zu Zeit Kindergruppen, mit Spielen beschäftigt, Graben auswerfend, mit
Werkzeugen arbeitend, in ernste Gespräche vertieft, oder lebhaft
plaudernd. Alle wandten sich mir mit Aufmerksamkeit zu, doch folgte uns
niemand; anscheinend waren sie bereits von den andern benachrichtigt
worden. Die meisten Gruppen bestanden aus Kindern verschiedenen Alters;
in vielen gab es auch ein bis zwei Erwachsene.

»In diesem Hause sind viele Erzieher«, bemerkte ich.

»Ja, besonders wenn wir, was nur gerecht ist, die größeren Kinder dazu
rechnen. Wirkliche Erziehungsspezialisten gibt es hier nur drei; die
übrigen Erwachsenen, die Sie sehen, sind zum großen Teil Väter und
Mütter, die auf kurze Zeit bei ihren Kindern leben, oder junge Leute,
die sich für den Erzieherberuf vorbereiten wollen.«

»Wie, es ist den Eltern gestattet, hier mit ihren Kindern zu leben?«
»Natürlich. Einige der Mütter leben etliche Jahre hier. Die meisten
jedoch kommen von Zeit zu Zeit her, verbringen hier eine Woche, zwei
Wochen, einen Monat. Die Väter leben selten hier. In unserem Haus gibt
es sechzig Einzelzimmer für die Eltern, oder für jene Kinder, die den
Wunsch nach Einsamkeit verspüren. Ich entsinne mich nicht, daß diese
Zimmer je unbenützt blieben.«

»Es kommt demnach auch vor, daß Kinder nicht in den allgemeinen Räumen
leben?«

»Ja; die älteren Kinder verlangt es häufig danach, abgesondert zu leben.
Dies ist zum Teil ein Ueberrest jenes unbesieglichen Individualismus,
von dem ich bereits sprach, zum Teil das bei Kindern häufige Verlangen,
sich in die Studien zu vertiefen, der Wunsch, all das zu verbannen, was
die Aufmerksamkeit ablenkt und zerstreut. Gibt es doch bei uns auch
Erwachsene, die einsam zu leben wünschen, insbesondere jene, die sich
mit wissenschaftlichen Forschungen, oder aber mit Kunst beschäftigen.«

In diesem Augenblick sahen wir vor uns auf einer kleinen Wiese ein Kind,
-- es mochte sechs oder sieben Jahre zählen -- das, mit einem Stock in
der Hand, ein Tier verfolgte. Wir beschleunigten unsere Schritte; das
Kind beachtete uns nicht. Als wir an es herantraten, hatte es eben seine
Beute erreicht -- diese schien eine Art großer Frosch zu sein. Das Kind
schlug heftig auf die Pfote des Tieres los. Dann schleppte sich das Tier
mit gebrochener Pfote langsam über den Rasen.

»Weshalb tatest du dies, Aldo?« fragte Nella in aller Ruhe.

»Ich konnte es nicht fangen, es lief immer fort«, erklärte der Knabe.

»Weißt du auch, was du tatest? Du hast dem Frosch weh getan und ihm die
Pfote gebrochen. Gib den Stock her, ich werde es dir erklären.«

Das Kind gab Nella den Stock, und diese schlug ihm mit rascher Bewegung
kräftig auf die Hand. Der Knabe schrie auf.

»Tut es weh, Aldo?«, fragte die Erzieherin gelassen.

»Sehr weh; böse Nella!«, entgegnete das Kind.

»Ich verletzte dir nur leicht die Hand, du aber hast den Frosch noch
viel stärker geschlagen. Hast ihm die Pfote gebrochen. Er hat nicht nur
viel größere Schmerzen, als du, sondern kann auch nicht mehr laufen und
springen, kann sich nicht mehr seine Nahrung suchen, wird vor Hunger
sterben, oder von einem bösen Tier, dem er jetzt nicht entfliehen kann,
verschlungen werden. Was denkst du darüber, Aldo?«

Das Kind schwieg; in seinen Augen standen Tränen des Schmerzes, es hielt
die verletzte Hand mit der anderen fest. Dann sagte es: »Man muß ihm die
Pfote flicken.«

»Das ist richtig«, erwiderte Netti. »Komm, ich werde dir zeigen, wie man
es macht.«

Sie begaben sich zu dem verwundeten Tier, das sich nur auf wenige
Schritte hatte entfernen können. Netti nahm sein Taschentuch hervor,
zerriß es in Streifen, gebot Aldo, einige dünne Zweiglein zu bringen.
Mit dem tiefen Ernst echter Kinder, die einer äußerst wichtigen
Beschäftigung obliegen, legten sie beide dem Frosch einen festen Verband
an.

Bald darauf schickten Netti und ich uns an, heimzukehren.

»Ach ja«, erinnerte sich Nella. »Heute Abend können Sie bei uns Ihren
alten Freund Enno antreffen. Er wird den älteren Kindern eine Vorlesung
über den Planeten Venus halten.«

»Wohnt er denn in dieser Stadt?« erkundigte ich mich.

»Nein, das Observatorium, in dem er arbeitet, liegt auf drei Stunden von
hier. Aber er liebt die Kinder sehr und vergißt auch mich, seine alte
Erzieherin, nicht. Deshalb kommt er häufig her und erzählt den Kindern
jedesmal etwas interessantes.«

Am Abend fanden wir uns selbstverständlich zur festgesetzten Stunde
abermals im »Hause der Kinder« ein. Alle Kinder, mit Ausnahme der
allerkleinsten, hatten sich bereits versammelt; unter ihnen befanden
sich auch einige Erwachsene. Enno begrüßte mich freudig.

»Ich wählte Ihnen zuliebe dieses Thema«, meinte er scherzend. »Sie sind
betrübt über die Rückständigkeit Ihres Planeten und die schlechten
Sitten der dort lebenden Menschheit. Ich werde von einem Planeten
erzählen, wo die höchsten Vertreter des Lebens -- Dinosaurier und
fliegende Eidechsen sind, bei denen ärgere Sitten und Gebräuche
herrschen, als bei Ihrer Bourgeoisie. Dort brennen Euere Steinkohlen
nicht im Herde des Kapitalismus, sondern befinden sich noch im
Pflanzenzustand, als gewaltige Wälder. Wollen wir uns dorthin begeben
und zusammen auf die Ichthyosaurusjagd gehen? Diese Tiere stellen die
dortigen Rothschilds und Rockefellers vor; freilich sind sie gemäßigter
und gelinder als die Ihren, dafür aber besitzen sie weniger Kultur. Dort
finden wir das Reich der ersten Kapitalsanhäufung in ihren Uranfängen,
die im »Kapitalismus« Ihres Marx vergessen wurde ... Aber Nella runzelt
schon die Stirne über mein leichtfertiges Geschwätz. Ich beginne
sofort.«

Mit hinreißender Beredsamkeit schilderte er den fernen Planeten mit den
tiefen, sturmgepeitschten Ozeanen, den furchtbar hohen Bergen, der
brennenden Sonne, den dichten, weißen Wolken, den schauerlichen Orkanen
und Gewittern, den unförmigen Ungeheuern und der üppigen, riesenhaften
Vegetation. Seine Erzählung illustrierte er durch die Vorführung
lebendig wirkender Photographien, die auf der über die eine Wand des
Saales gespannten Leinwand dahinzogen. Einzig und allein Ennos Stimme
durchtönte die Dunkelheit; tiefes, aufmerksames Schweigen herrschte im
ganzen Raum. Als er das Schicksal der ersten Reisenden in jener Welt
schilderte und berichtete, wie einer derselben mit einer Handgranate
eine Rieseneidechse tötete, spielte sich eine seltsame, von den meisten
Zuhörern nicht bemerkte, kleine Szene ab. Aldo, der sich in Nellas Nähe
hielt, brach plötzlich in leises Weinen aus.

»Was fehlt dir?« fragte Nella, sich zu ihm niederbeugend.

»Das Ungeheuer tut mir leid. Man hat ihm weh getan und dann mußte es
sterben«, flüsterte der Knabe.

Nella schlang den Arm um den Kleinen und versuchte ihn zu
beschwichtigen, doch dauerte es lange Zeit, bis er sich beruhigte.

Enno berichtete von den zahllosen einzigartigen Reichtümern dieses
herrlichen Planeten, von den gewaltigen, viele Millionen Pferdekräfte
besitzenden Wasserfällen, von den Edelmetallen, die sich auf den Gipfeln
der Berge befinden, von den reichen Radiumlagern, die schon bei einer
Tiefe von etlichen hundert Metern zutage gefördert werden könnten, von
dem Vorrat an Energie für hunderttausend Jahre. Ich beherrschte die
Sprache noch nicht genügend, um die ganze Schönheit des Vortrags zu
empfinden, die Bilder aber fesselten meine Aufmerksamkeit im gleichen
Maße, wie die der Kinder. Als Enno endete und der Saal erhellt ward,
wurde mir schier ein wenig traurig zumute, wie mochten da wohl erst die
Kinder das Ende des schönen Märchens bedauern.

Als der Vortrag zu Ende war, begannen die Zuhörer Fragen zu stellen,
ihre Bemerkungen zu machen. Die Fragen waren verschiedenartig, wie es ja
auch die Zuhörer waren; sie betrafen die Genauigkeit der Photographien,
die Mittel, die im Kampf gegen die Natur angewendet wurden. Es wurde
auch die Frage aufgeworfen, wann sich auf der Venus von selbst Menschen
entwickeln würden und wie deren Körper beschaffen sein werde?

Die Bemerkungen waren meist naiv, häufig jedoch scharfsinnig; sie
wandten sich vor allem gegen Ennos Behauptung, daß zu unserer Zeit die
Venus für die Menschen ein äußerst nutzloser Planet sei und daß es kaum
möglich sein würde, ihre gewaltigen Reichtümer bald auszubeuten. Gegen
diese Ansichten lieferten die jungen Optimisten einen erbitterten Kampf,
dem sich die meisten anschlossen. Enno bewies ihnen, daß die Sonnenglut
und die feuchte Luft eine Unmenge Bazillen hervorbringe, die für die
Menschen äußerst gefährlich seien, sie mit vielen Krankheiten bedrohten;
dies erfuhren alle Reisenden auf der Venus am eigenen Leibe, sowie auch,
daß die Orkane und gewaltigen Gewitter jegliche Arbeit erschwerten, das
Leben der Menschen gefährdeten, und dergleichen mehr. Die Kinder jedoch
fanden, es sei merkwürdig, sich von derartigen Hindernissen abschrecken
zu lassen, wenn es um die Eroberung eines so herrlichen Planeten gehe.
Zur Bekämpfung der Bakterien und Krankheiten müßte man so rasch wie
möglich Tausende von Aerzten auf die Venus senden, und auch den Orkanen
und Gewittern könnte Trotz geboten werden, indem man hunderttausend
Bauarbeiter hinschickt, die überall dort, wo es nötig ist, hohe Mauern
errichten und Blitzableiter anbringen. »Mögen neun, zehn und mehr
Menschen umkommen!« rief ein entflammter zwölfjähriger Knabe. »Dort gibt
es Dinge, um derentwillen es sich zu sterben lohnt, es kommt ja nur
darauf an, den Sieg zu erringen.« Und seine glühenden Augen verrieten,
daß er sich nicht weigern würde, zu jenen zehn Menschen zu gehören.

Sanft und gelassen warf Enno diese Kartenhäuser über den Haufen; doch
war ihm anzumerken, daß er in der Tiefe seiner Seele das gleiche
empfinde wie die Kinder, und daß seine junge lodernde Phantasie
entschlossene Pläne verberge, die zwar bedachter und ausgeklügelter
waren, aber ebenso hartnäckig. Er selbst war noch nicht auf der Venus
gewesen, und seine Begeisterung bewies klar, wie sehr ihn deren
Schönheit und Gefahren anzogen.

Als der Gedankenaustausch beendet war, verließ Enno mit mir und Netti
den Saal. Er beschloß, noch einige Tage in dieser Stadt zu verweilen und
schlug mir vor, am folgenden Tag das Kunstmuseum zu besichtigen. Netti
würde beschäftigt sein; er war in eine andere Stadt zu einem großen
Aerztekonsilium gerufen worden.


                            Das Kunstmuseum

»Ich hätte nie gedacht, daß auch bei Euch ein eigenes Museum für
Kunstgegenstände existiere«, meinte ich, mit Enno dem Museum zustrebend.
»Glaubte, daß Bildergalerien und Skulpturausstellungen eine Eigenheit
des Kapitalismus mit seinem prunkhaften Luxus und grob zur Schau
getragenen Reichtum seien. In der sozialistischen Gesellschaft erwartete
ich die Kunst überall im Leben zu finden, als Schmuck dieses Lebens.«

»Darin irren Sie auch nicht«, antwortete Enno. »Der größte Teil der
Kunstgegenstände ist bei uns für die Gemeinschaftsgebäude bestimmt, für
jene, wo wir unsere allgemeinen Angelegenheiten regeln, wo wir studieren
und Forschungen anstellen oder der Ruhe pflegen. Fabriken und Betriebe
werden weit weniger geschmückt, die Aesthetik der gewaltigen Maschinen
und deren Bewegung ist an und für sich ein schöner Anblick, und es gibt
nur wenig Kunstgegenstände, die völlig mit den Maschinen harmonieren, in
deren Gegenwart nicht einen abgeschwächten, verminderten Eindruck
machten. Am wenigsten aber schmücken wir unsere Häuser, wo wir uns ja
auch äußerst selten aufhalten. Unser Kunstmuseum jedoch ist eine
ästhetisch-wissenschaftliche Anstalt, eine Schule, in der man die
Entwicklung der Kunst zu verfolgen vermag, oder, richtiger gesagt, die
Entwicklung der Menschheit in ihrer künstlerischen Tätigkeit.«

Das Museum befand sich auf einer kleinen Insel inmitten eines Sees,
durch eine schmale Brücke mit dem Ufer verbunden. Das viereckige Gebäude
war von einem Garten umgeben, in dem hohe Springbrunnen plätscherten und
unzählige blaue, weiße, schwarze und gelbe Blumen prunkten; außen war es
herrlich geschmückt, innen hell von Licht überflutet.

Hier gab es wahrlich nicht jene unsinnige Anhäufung von Gemälden und
Statuen wie in den großen Museen der Erde. Vor mir erläuterten einige
hundert Abbildungen die Entwicklung der plastischen Kunst, angefangen
von den groben, ersten Gegenständen der prähistorischen Zeit bis zu den
technisch-idealen Erzeugnissen des letzten Jahrhunderts. Und vom Anfang
bis zum Ende war überall der Stempel jener innerlichen Vollkommenheit
fühlbar, die wir »Genie« nennen. Offensichtlich gehörte alles hier
ausgestellte zu den besten Erzeugnissen jeder Epoche.

Um die Schönheit einer anderen Welt klar zu erfassen, gilt es, deren
Leben genau zu kennen, aber um anderen das Verständnis für diese
Schönheit zu übermitteln, dazu muß man selbst deren teilhaftig sein.
Deshalb vermag ich auch nicht zu _schildern_, was ich dort sah; ich
vermag nur Andeutungen zu geben, kann bloß ausdrücken, was mich am
meisten in Staunen versetzte.

Das Hauptmotiv der Skulptur war bei den Marsbewohnern ebenso wie bei uns
der schöne menschliche Körper. Die körperliche Beschaffenheit der
Marsbewohner unterscheidet sich nur wenig von jener der Erdenmenschen,
abgesehen von der Verschiedenheit der Augen, die zum Teil durch die
Schädelformation bedingt ist, doch übersteigt auch diese Verschiedenheit
nicht jene, die bei den einzelnen irdischen Rassen vorkommt. Ich kann
diesen Unterschied nicht genau erklären, verstehe mich schlecht auf
Anatomie; jedenfalls aber gewöhnte sich mein Auge bald an die
Marsbewohner, sah in ihnen keineswegs Mißgeburten, sondern vielmehr
etwas Originelles.

Ich bemerkte, daß der männliche und weibliche Körperbau weit ähnlicher
war, als bei den Erdenrassen; die Breite der Frauenschultern entsprach
häufig der der Männer, und das gleiche galt von der Muskulatur. Dies
zeigte sich besonders in den Abbildungen aus der letzten Zeit, der Zeit
der freien menschlichen Entwicklung; bei den Werken aus der
kapitalistischen Periode trat der Unterschied zwischen dem männlichen
und weiblichen Körper weit stärker zutage. Anscheinend hatte die
häusliche Sklaverei der Frau und das Schuften des Mannes die Körper nach
verschiedenen Richtungen hin beeinflußt.

Ich verlor auf keinen Augenblick die bald klare, bald verschwommene
Erkenntnis, daß ich vor mir die Bilder einer fremden Welt sehe; sie
trugen für mich den Stempel des Seltsamen, Gespenstischen. Sogar die
herrlichen Frauenkörper dieser Statuen und Bilder erweckten in mir ein
unverständliches Gefühl, das mit dem mir bekannten aesthetisch
verliebten Entzücken nichts gemein hatte, sondern vielmehr den unklaren
Ahnungen und Empfindungen glich, die mich vor langer Zeit, an der Grenze
zwischen Kindheit und Jünglingsalter, heimgesucht hatten.

Die Statuen der frühesten Epochen waren, wie dies auch bei uns der Fall
ist, einfarbig. Die späteren jedoch besaßen die Farben der Natur. Dies
wunderte mich keineswegs; ich fand stets, daß das Verwerfen der
Wirklichkeit nicht ein unentbehrliches Element der Kunst sein könne, ja,
daß es sogar unkünstlerisch wirke, insbesondere, wenn es die
Mannigfaltigkeit der Wahrnehmung vermindert, wie dies bei einfarbigen
Skulpturen der Fall zu sein pflegt. In solchen Fällen wird die
künstlerische Idealisierung des konzentrierten Lebens gestört.

Bei den Statuen und Bildern der alten Zeiten herrschte ebenso wie bei
unseren antiken Kunstgegenständen große Ruhe und Gelassenheit vor; diese
waren voller Harmonie, frei von jeglicher Anspannung. In den folgenden
Uebergangsepochen zeigte sich ein anderer Charakter: Leidenschaft,
Aufregung, bisweilen gemildert zu irren Träumen, Träumen erotischer oder
religiöser Natur, mitunter den schmerzhaften Widerspruch zwischen
seelischer und körperlicher Kraft scharf betonend. In der
sozialistischen Epoche veränderte sich abermals der Grundcharakter: hier
überwogen harmonische Bewegung, gelassen vertrauensvolle Entfaltung der
Kräfte, fremd jeder schmerzlichen Vergewaltigung, ein freies Streben,
eine lebendige Tätigkeit, das konzentrierte Bewußtsein der
Einheitlichkeit des Körpers und der unbesieglichen Vernunft.

Wenn die ideale Frauenschönheit der antiken Zeiten die Möglichkeit
grenzenloser Liebe, die der Renaissance den Durst nach mystischer und
gefühlicher Liebe ausdrückte, so verkörperte jene, die sich nun meinen
Augen zeigte, die Liebe selbst in ihrem ganzen ruhigen und stolzen
Selbstbewußtsein -- klar, leuchtend, alles besiegend ...

Den späteren sowie den frühesten künstlerischen Schöpfungen eignete ein
äußerst einfacher Charakter; sie behandelten ein einziges Motiv. Ihre
Aufgabe bestand darin, ein kompliziertes menschliches Wesen
wiederzugeben, dessen Leben reich und ausgefüllt war; deshalb wählten
sie jenen Augenblick des Lebens, in dem sich irgend ein Gefühl oder ein
Streben konzentriert hatte ... Bei den neuesten Künstlern schienen
beliebte Themen: die Extase des schöpferischen Gedankens, die Extase der
Liebe, die Extase des Naturgenusses, der ruhige freiwillige Tod --
lauter Themen, die charakteristisch waren für eine große Rasse, eine
Rasse, die intensiv und vollkommen zu leben und bewußt und würdig zu
sterben verstand.

Die Abteilung für Gemälde und Skulptur nahm die eine Hälfte des Museums
ein; die andere war der Architektur gewidmet. Unter Architektur
verstanden die Marsbewohner nicht nur die Aesthetik der Bauten und der
großen technischen Konstruktionen, sondern auch die der Möbel, der
Werkzeuge, der Maschinen, überhaupt die Aesthetik alles materiell
Nützlichen. Welche gewaltige Rolle in ihrem Leben gerade diese Kunst
spielte, ließ sich aus dem Reichtum und der Vollständigkeit dieser
Sammlung ersehen. Von den ersten Höhlenwohnungen mit den primitiven
Geräten bis zu den luxuriösen Gemeinschaftshäusern aus Glas und
Aluminium, bis zu den gigantischen Fabriken mit den schauerlich schönen
Maschinen, bis zu den gewaltigen Kanälen mit den mächtigen Ufern und
Schwebebrücken -- war hier alles in der typischen Form dargestellt, in
Bildern, Plänen, Modellen, besonders aber in großen Stereoskopen, die
eine Illusion der Wirklichkeit gaben. Eine besondere Stelle nahm die
Aesthetik der Gärten, der Felder und Parke ein; und wie ungewohnt auch
immer mir die Natur dieses Planeten war, so vermochte ich dennoch die
Schönheit der Blumen- und Formenkombinationen zu erkennen, die das
Kollektivgenie dieses großäugigen Volkes der Natur verliehen hatte.

In den Uebergangsepochen kam es, wie auch bei uns, häufig vor, daß die
Pracht die Nützlichkeit beeinträchtigte, der äußere Schmuck hinderlich
für die Dauerhaftigkeit wurde; die Kunst vergewaltigte die Gegenstände.
Hier jedoch, in den Erzeugnissen der neuen Epoche, schauten meine Augen
nichts derartiges, weder bei den Möbeln, noch bei den Geräten oder
Konstruktionen. Ich fragte Enno, ob die zeitgenössische Architektur
jemals die Neigung zeige, um der Schönheit willen die praktische
Vollkommenheit zu vernachlässigen.

»Niemals«, entgegnete er. »Diese wäre eine falsche Schönheit, wäre etwas
Gekünsteltes, aber keine Kunst.«

Bis zur sozialistischen Zeit ward das Andenken der großen Männer durch
Denkmäler geehrt; jetzt jedoch wurden Denkmäler nur mehr zur Erinnerung
an große Ereignisse errichtet: wie etwa der erste Versuch, die Erde zu
erreichen, der mit dem Tode aller Mitglieder der Expedition endete, oder
aber die völlige Ausrottung einer tödlichen Infektionskrankheit, oder
die Entdeckung und Synthese der Spaltung aller chemischen Elemente. Im
Stereogramm sah man zusammen mit den Denkmälern Grabmäler und Kirchen.
(Früher hatte es bei den Marsbewohnern auch eine Religion gegeben.)
Eines der letzten Denkmäler großer Männer war das jenes Ingenieurs, von
dem mir Menni erzählt hatte. Es war dem Künstler trefflich gelungen, die
ganze Seelenstärke dieses Mannes wiederzugeben, der die Armee der Arbeit
siegreich in den Kampf wider die Natur geführt und stolz das feige
Urteil der Sitten über seine Tat zurückgewiesen hatte. Als ich in
unwillkürlicher Versonnenheit vor dem Panorama dieses Denkmals
verweilte, sprach Enno leise einige Verse, in denen der seelischen
Verfassung des Helden Ausdruck verliehen wurde.

»Von wem sind diese Verse?« fragte ich.

»Von mir«, erwiderte Enno. »Ich schrieb sie für Menni.«

Ich vermochte nicht völlig die innere Schönheit dieser mir noch immer
fremden Sprache zu beurteilen, aber die Gedanken waren zweifellos klar,
der Reim war stark, der Rhythmus klingend und mächtig. Dies lenkte meine
Gedanken in eine neue Richtung.

»Euere Dichtung hat also noch strenge Reime und Rhythmus?«

»Selbstverständlich«, entgegnete Enno erstaunt. »Finden Sie das etwa
nicht schön?«

»Doch«, erklärte ich, »bei uns hingegen war die Ansicht verbreitet, daß
diese Form dem Geschmack der herrschenden Klassen unserer Gesellschaft
entspringe, der Ausdruck ihrer Laune und ihrer Leidenschaft für
Begrenztes sei, eine Fessel für die freie künstlerische Rede bedeute.
Wir glaubten, die Poesie der Zukunft, die Dichtung der sozialistischen
Epoche werde diese engen Gesetze abschütteln und vergessen.«

»Das ist völlig falsch«, meinte Enno. »Die reinen Reime erscheinen uns
schön, aber keineswegs aus Leidenschaft für das Begrenzte, sondern weil
sie zutiefst mit dem rhythmischen Prozeß unseres Lebens und unseres
Bewußtseins harmonieren. Und der Rhythmus, der das Vielförmige zu einem
einzigen Schlußakkord vereint, hat nicht auch er seinen tiefgründigen
Ursprung in der lebendigen Verbindung der Menschen, die das Mannigfache
des Aeußern mit der Lust der einheitlichen Liebe krönt? Der Arbeit mit
dem einheitlichen Ziel, der Einheitlichkeit der Stimmung in der Kunst?
Ohne Reim und Rhythmus gibt es überhaupt keine künstlerische Form. Wo
der Rhythmus der Töne fehlt, muß er durch den umso strengeren Rhythmus
der Bilder oder Ideen ersetzt werden ... Und wenn Reim und Rhythmus
tatsächlich feudalen Ursprungs sind, so läßt sich dies ja auch von
vielen anderen guten und schönen Dingen sagen.«

»Aber der Reim an und für sich beschränkt und erschwert den poetischen
Ausdruck der Idee.«

»Was hat das zu bedeuten? Diese Begrenzung entspringt dem vom Künstler
frei gewählten Ziel. Sie erschwert nicht nur, sondern vervollkommnet
auch den Ausdruck der dichterischen Idee, verfolgt ausschließlich diesen
Zweck. Je komplizierter das Ziel, desto schwerer der dazu führende Weg
und desto größer der Zwang, den sich der Künstler auferlegen muß. Wenn
Sie einen schönen Bau errichten wollen, wie viel richtiger Technik und
Harmonie bedürfen Sie dabei, das heißt: wie viel »Zwang« müssen Sie sich
auferlegen! Bei der Wahl des Zieles sind Sie frei. Dies ist die einzige
menschliche Freiheit. Wenn Sie aber nach dem Ziel verlangen, so
verlangen Sie gleichzeitig auch nach den Mitteln, durch die es zu
erreichen ist.«

Wir schlenderten in den Garten hinaus, um uns von den zahlreichen
Eindrücken zu erholen. Der Abend war bereits niedergesunken, ein klarer
milder Frühlingsabend. Die Blumen zogen Kelche und Blätter ein, um sie
für die Nacht zu schließen; dies war eine Eigenheit der Marspflanzen,
verursacht von den kalten Nächten. Ich wandte mich abermals an meinen
Gefährten:

»Sagen Sie mir, welche Art der Belletristik ist heutzutage bei Ihnen die
vorherrschende?«

»Im Drama die Tragödie, in der Dichtung die Naturschilderung«,
antwortete Enno.

»Was ist der Inhalt der Tragödien? Wo finden Sie bei Ihrem glücklichen
friedlichen Dasein den Stoff für Tragödien?«

»Glücklich? Friedlich? Woher nehmen Sie das? Es ist ja wahr, daß bei uns
zwischen den Menschen Frieden herrscht, aber keineswegs herrscht Frieden
zwischen uns und den Kräften der Natur, das wäre ja auch unmöglich.
Diese ist ein Feind, bei dem selbst jeder Sieg eine neue drohende Gefahr
bedeutet. In der letzten Epoche der Geschichte haben wir die Ausbeutung
unseres Planeten um das zehnfache erhöht, unsere Bevölkerung wächst an
und noch weit mehr steigern sich unsere Bedürfnisse. Schon mehr als
einmal bedrohte uns auf dem einen oder anderen Arbeitsfeld die
Erschöpfung der Naturkräfte und Mittel. Bis heute gelang es uns noch
immer, diese Gefahr zu besiegen, ohne zu der hassenswerten Verkürzung
des Lebens greifen zu müssen, der Verkürzung des Lebens bei uns selbst
und unseren Nachkommen. Aber gerade jetzt nimmt der Kampf abermals einen
besonders ernsthaften Charakter an.«

»Ich hätte niemals gedacht, daß bei Ihrer technischen und
wissenschaftlichen Vollkommenheit eine derartige Gefahr bestehen könnte.
Sie sagten, dies habe sich auf dem Mars bereits ereignet?«

»Ja, vor siebzig Jahren; als unsere Steinkohlenvorräte versiegten und
der Uebergang zur Wasser- und Elektrizitätskraft noch lange nicht
bewerkstelligt war; damals mußten wir, um die gewaltigen Maschinen
herstellen zu können, einen bedeutenden Teil unserer Wälder abholzen,
was auf Jahre hinaus unseren Planeten verunstaltete und das Klima
verschlechtert hat. Als dann diese Krise überwunden war, zeigte es sich,
vor etwa zwanzig Jahren, daß die Eisenerzlager erschöpft waren. Nun galt
es, in aller Eile die richtige dauerhafte Legierung des Aluminiums
herzustellen, und ein großer Teil unserer technischen Kraft wurde auf
die elektrische Gewinnung des Aluminiums aus der Erde verwandt. Heute,
da sich, wie auch aus der Statistik ersichtlich ist, die Bevölkerung
äußerst rasch vermehrt, wissen wir bereits, daß uns in dreißig Jahren
ein furchtbarer Mangel an Lebensmitteln bedrohen wird, falls es uns bis
dorthin nicht gelingen sollte, die Synthese des Eiweiß aus den Elementen
zu entdecken.«

»Aber die anderen Planeten«, warf ich ein, »könnten Sie nicht auf denen
das Fehlende finden?«

»Wo? Die Venus ist anscheinend noch unzugänglich. Und die Erde? Die
besitzt ihre eigene Menschheit, und es ist bis heute noch nicht klar
ersichtlich, inwieweit wir deren Kräfte ausnützen können. Jede Fahrt
nach der Erde verschlingt große Vorräte an radiumausstrahlenden Stoffen;
dies weiß ich von Menni, der mir unlängst über seine letzte Expedition
berichtete, und unser Vorrat an diesen Stoffen ist ziemlich gering.
Nein, die sich uns überall entgegenstellenden Schwierigkeiten sind
keineswegs zu unterschätzen, und je enger sich unsere Menschheit im
Kampfe gegen die Natur zusammenschließt, desto enger schließen sich auch
die Elemente zusammen.«

»Aber es würde doch genügen, die Vermehrung zu beschränken?«

»Die Vermehrung beschränken! Das bedeutete den Sieg der Natur. Bedeutete
den Verzicht auf das unbegrenzte Anwachsen des Lebens, bedeutete das
Stehenbleiben auf der gleichen Stufe. Wir siegen, weil wir in gewaltigen
Massen gegen die Natur vorgehen. Wenn wir aber auf das Anwachsen unseres
Heeres verzichten, dann sind wir von allen Seiten durch die
Elementargewalten belagert. Dann würde auch der Glaube an unsere
Kollektivkraft geschwächt werden, an unser großes Gemeinschaftsleben.
Und zusammen mit diesem Glauben ginge auch für jeden Einzelnen der Sinn
des Lebens verloren, weil ja doch in jedem von uns die kleine Zelle des
großen Organismus lebt, vollständig lebt, und jeder wieder in dieser
Zelle sein Dasein hat. Nein, eine Beschränkung der Vermehrung, -- das
wäre das allerletzte, wozu wir uns entschließen könnten, und wenn dies
gegen unseren Willen geschähe, so würde es den Anfang vom Ende
bedeuten.«

»Nun begreife ich, daß auch bei Ihnen stets Tragödienstoffe vorhanden
sind, zumindest als drohende Möglichkeit. Solange jedoch der Sieg noch
auf Seiten der Menschheit ist, sieht sich der Einzelne zur Genüge vor
dieser Tragödie der Gemeinschaft bewahrt; ja selbst wenn die Gefahr in
unmittelbare Nähe rückt, so verteilen sich die gigantische Anstrengung
und die Leiden des Kampfes so gleichmäßig unter den zahllosen
Einzelwesen, daß deren ruhiges Glück kaum gestört werden kann. Und zu
diesem Glück fehlt anscheinend bei Ihnen nichts.«

»Ruhiges Glück! Ist es denn möglich, daß der Einzelne nicht zutiefst die
Erschütterung eines ganzen Lebens, in dem sein Anfang und sein Ende
liegt, empfinde? Und zeigen sich nicht auch die tiefen Widersprüche des
Lebens in der Begrenztheit des Einzelwesens verglichen mit dessen Ziel,
in seiner Ohnmacht, mit diesem Ziel zu verschmelzen, es völlig mit
seinem Bewußtsein zu umfassen und sein Bewußtsein selbst aus dem Ziel zu
schöpfen? Begreifen Sie diese Widersprüche nicht? Das kommt daher, weil
sie in Euerer Welt von anderen, näherliegenden und gröberen Dingen
verdunkelt werden. Der Kampf der Klassen, der Gruppen, der Einzelwesen
raubt Euch die Idee des Zieles, und zugleich damit das Glück sowie das
Leid, die darin enthalten sind. Ich sah Ihre Welt; und ich vermag auch
nicht den zehnten Teil des Wahnsinns zu erfassen, in dem Ihre Brüder
leben. Eben deshalb vermag ich nicht zu beurteilen, wer von uns dem
ruhigen Glück näher ist: je stärker und harmonischer das Leben, desto
quälender und unvermeidlicher wirken die Dissonanzen.«

»Sagen Sie, Enno, sind Sie zum Beispiel nicht glücklich? Sie besitzen
Jugend, Wissen, Poesie und sicher auch Liebe ... Was können Sie Schweres
erfahren haben, daß Sie so glühend von der Tragödie des Lebens
sprechen?«

»Das ist prächtig«, lachte Enno, und sein Lachen klang seltsam. »Sie
wissen nicht, daß der heitere Enno bereits einmal zu sterben beschlossen
hatte. Und wenn Menni nur einen einzigen Tag später sechs Worte
geschrieben hätte, in denen unsäglich viel lag: »Wollen Sie auf die Erde
mitkommen?« so würde Ihnen Ihr heiterer Reisegefährte gefehlt haben.
Doch kann ich Ihnen augenblicklich nichts Näheres verraten. Sie werden
ja selbst sehen, daß, wenn es bei uns ein Glück gibt, dieses keineswegs
das friedliche und ruhige Glück ist, von dem Sie sprechen.«

Ich konnte mich nicht entschließen, weitere Fragen zu stellen. Aber ich
konnte auch nicht länger systematisch die Kunstsammlung besichtigen.
Meine Aufmerksamkeit war abgelenkt, meine Gedanken schweiften umher. In
der Abteilung für Skulptur verharrte ich vor einer der neuesten Statuen,
die einen schönen Jüngling darstellte. Seine Gesichtszüge erinnerten an
Netti; mich erschütterte das Talent, mit dem der Künstler in dem
leblosen Stoff, in unvollendeten Zügen, in den glühenden Augen des
Knaben die Geburt des Genies wiedergegeben hatte. Lange verweilte ich
reglos vor dieser Statue, und die ganze Umgebung entschwand meinem
Bewußtsein; Ennos Stimme durchbrach meine Gedanken:

»Das seid Ihr«, sprach er, auf den Jüngling weisend. »Dies ist Ihre
Welt. Sie wird eine wundervolle Welt sein; heute befindet sie sich noch
in ihrer Kindheit, beachten Sie, was für dunkle Träume, was für bebende
Bilder noch ihr Bewußtsein erregen ... Noch liegt sie im Halbschlaf,
doch wird sie erwachen; ich fühle es, glaube zutiefst daran!«

In das freudige Gefühl, das diese Worte in mir erweckten, mischte sich
ein seltsames Bedauern:

»Weshalb war es nicht Netti, der diese Worte sprach?«


                             Im Krankenhaus

Ich kehrte äußerst ermüdet heim; nach zwei schlaflosen Nächten und einem
qualvollen Tag, da ich zu keiner Arbeit fähig war, beschloß ich, mich an
Netti zu wenden. Ich wollte den mir unbekannten Arzt der chemischen
Stadt nicht zu Rate ziehen. Netti arbeitete seit dem Morgen im
Krankenhaus, dort fand ich ihn in der Vorhalle, mit der Aufnahme der
eben eingetroffenen Kranken beschäftigt.

Als Netti mich im Vorraum erblickte, eilte er sofort auf mich zu,
betrachtete aufmerksam mein Gesicht, nahm mich bei der Hand und führte
mich in ein kleines Zimmer. Hier herrschte weiches blaues Licht, ein
leichter angenehmer, mir unbekannter Duft erfüllte den Raum, dessen
Stille durch nichts gestört wurde. Netti drückte mich in einen bequemen
Lehnstuhl und sprach:

»Denken Sie an nichts, machen Sie sich über nichts Sorgen. Für heute
nehme ich alles auf mich. Rasten Sie; später komme ich wieder.«

Er verließ das Zimmer, und ich dachte an nichts, machte mir über nichts
Sorgen, als habe er tatsächlich alle meine Gedanken und Sorgen auf sich
genommen. Dies war äußerst angenehm, und nach wenigen Minuten schlief
ich ein. Als ich erwachte, stand Netti vor mir, blickte mich lächelnd
an.

»Fühlen Sie sich besser?« fragte er.

»Ich bin vollkommen gesund, Sie aber sind ein genialer Arzt«, erwiderte
ich. »Gehen Sie zu Ihren Kranken und beunruhigen Sie sich meinetwegen
nicht.«

»Meine Arbeit ist schon beendet. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen unser
Krankenhaus zeigen«, schlug Netti vor.

Ich empfand dafür lebhaftes Interesse, und wir schickten uns an, das
ganze schöne Gebäude zu besichtigen.

Chirurgische Fälle und Nervenkrankheiten schienen hier vorzuherrschen.
Die meisten chirurgischen Fälle waren durch Maschinen verursachte
Verletzungen.

»Es ist doch nicht möglich, daß es in Eueren Betrieben an
Schutzvorrichtungen fehlt?« fragte ich Netti.

»Vollkommene Schutzvorrichtungen, die jeden Unglücksfall ausschließen,
gibt es überhaupt nicht. Aber Sie sehen hier die Verletzten aus einem
Gebiet mit zwei Millionen Einwohnern -- bei einem derartigen Gebiet sind
etliche zehn Verwundete gar nicht so viel. Meist handelt es sich hier um
Neulinge, die sich noch nicht recht auf die Maschinen verstehen, an
denen sie arbeiten. Bei uns behagt es den Leuten, von dem einen
Arbeitszweig zum anderen überzugehen. Die Erziehungs- und
Kunstspezialisten sind am häufigsten die Opfer ihrer Zerstreutheit; ihre
Aufmerksamkeit schweift oft ab, sie versinken in Gedanken und
Betrachtungen.«

»Die Nervenkrankheiten werden wohl meistens durch Erschöpfung
verursacht?«

»Ja, dieser Fälle gibt es viele. Doch werden derartige Krankheiten auch
ebenso oft durch eine Krise im Geschlechtsleben oder aber eine andere
seelische Erschütterung hervorgerufen, wie etwa der Tod geliebter
Menschen.«

»Werden hier auch Geisteskranke mit verdunkeltem oder verwirrtem
Bewußtsein aufgenommen?«

»Nein. Für diese gibt es ein eigenes Krankenhaus. Bei ihnen bedarf es
besonderer Vorrichtungen, damit sie in gewissen Fällen weder sich, noch
anderen Schaden zufügen können.«

»Und wird bei Euch in solchen Fällen gegen die Kranken Gewalt
angewandt?«

»Bisweilen; selbstverständlich aber nur dann, wenn es sich als
unumgänglich nötig erweist.«

»Nun begegne ich in Ihrer Welt bereits zum zweiten Mal der Gewalt! Das
erste Mal geschah dies im »Haus der Kinder«. Sagen Sie mir, es gelingt
also auch auf dem Mars nicht, dieses Element völlig aus dem Leben zu
verbannen? Sie sind gezwungen, es mit Bewußtsein anzunehmen.«

»Ja; ebenso wie wir gezwungen sind, Krankheit und Tod hinzunehmen, oder
etwa eine bittere Medizin zu schlucken. Welches vernünftige Wesen würde
zum Beispiel im Fall der Selbstverteidigung auf die Gewalt verzichten?«

»Wissen Sie, daß diese Tatsache mir die Kluft zwischen Ihrer und unserer
Welt weit weniger groß erscheinen läßt?«

»Der Unterschied besteht nicht darin, daß bei Ihnen notgedrungenerweise
viel, bei uns aber wenig Gewalt angewandt wird, sondern vielmehr darin,
daß sich bei Ihnen die Gewalt als Gesetz verkleidet, sei es nun als
äußeres oder inneres, daß sie als sittliche und rechtliche Norm
auftritt, die die Menschen beherrscht und belastet. Bei uns hingegen
tritt die Gewalt entweder als Krankheitserscheinung auf, oder aber als
vernünftige Handlung eines vernunftbegabten Wesens. In keinem dieser
Fälle bedeutet sie irgendein gesellschaftliches Gesetz, oder eine
gesellschaftliche Norm, ist weder persönliches noch unpersönliches
Gebot.«

»Gibt es denn keine Regel, nach der Sie die Freiheit der Geisteskranken
oder der Kinder einschränken?«

»Ja, eine Art wissenschaftliche, der Medizin oder Pädagogik entstammende
Regel. Freilich sind in dieser technischen Regel nicht alle jene Fälle
vorausgesehen, in denen die Gewalt angewandt werden muß, noch aber die
Mittel bei ihrer Anwendung, die Stufen -- alldies hängt
selbstverständlich von der Gesamtheit der Vorbedingungen ab.«

»Wird dadurch der Willkür der Erzieher oder Krankenpfleger nicht völlig
freier Lauf gelassen?«

»Was bedeutet das Wort »Willkür«? Wenn es unnötige, überflüssige
Anwendung der Gewalt bedeutet, so kann es nur in bezug auf einen Kranken
angewandt werden, der sich im Krankenhaus befindet. Ein vernünftiger,
bewußt handelnder Mensch ist der Willkür nicht fähig.«

Wir durchschritten die Krankensäle, die Operationsräume, die Zimmer, in
denen die Medizinen aufbewahrt wurden, die Stuben der Pfleger. Im
obersten Stockwerk betraten wir einen geräumigen, schönen Saal, dessen
durchsichtige Wände den Ausblick auf den See, den Wald und die fernen
Berge gestatteten. Der Raum war mit Statuen und Gemälden von hohem
künstlerischem Wert geschmückt, die Möbel waren prächtig und luxuriös.

»Dies ist das Zimmer der Sterbenden«, sprach Netti.

»Bringen Sie alle Sterbenden hierher?« fragte ich.

»Ja, oder sie begeben sich selbst in diesen Saal«, lautete die Antwort.

»Können denn bei Ihnen die Sterbenden noch selbst gehen?« staunte ich.

»Jene, die körperlich gesund sind, vermögen es selbstverständlich.«

Ich begriff, daß es sich hier um Selbstmörder handle.

»Sie überlassen diesen Saal den Selbstmördern zur Ausführung ihres
Vorhabens?«

»Ja, sowie alle Mittel, die einen ruhigen schmerzlosen Tod bringen.«

»Und Sie legen ihnen kein einziges Hindernis in den Weg?«

»Wenn der Patient bei klarem Verstand ist und sein Entschluß feststeht,
kann es doch gar kein Hindernis geben. Natürlich wird dem Kranken
Gelegenheit gewährt, sich vorher mit dem Arzt zu beraten. Einige tun
dies, -- andere nicht.«

»Kommen bei Ihnen viele Selbstmorde vor?«

»Ja, besonders unter den alten Leuten. Wenn sich das Gefühl des Lebens
abstumpft und schwächer wird, ziehen es viele vor, nicht das natürliche
Ende abzuwarten.«

»Begehen auch junge, völlig gesunde und starke Menschen Selbstmord?«

»Auch dies kommt vor, aber äußerst selten. Seitdem ich im Krankenhaus
arbeite, kann ich mich bloß an zwei Fälle erinnern, der dritte ließ von
seinem Vorhaben ab.«

»Wer waren die beiden Unglücklichen und was trieb sie in den Tod?«

»Der erste war mein Lehrer, ein hervorragender Arzt, der der
Wissenschaft viel Neues gegeben hat. Bei ihm war die Fähigkeit, die
Leiden anderer mitzufühlen, in einem unglaublich hohen Maße entwickelt.
Dies führte seinen Verstand und seine Energie zum Studium der Medizin,
war aber auch sein Verderben. Er ertrug es nicht. Verbarg aber seine
geistige Einstellung so gut vor allen Menschen, daß seine Tat völlig
überraschend wirkte. Er beging diese nach einer schweren Epidemie, die
als Folge der Trockenlegung einer Meeresbucht auftrat, als die toten
Fische tonnenweise verwesend am Strand lagen. Die Krankheit war ebenso
schmerzhaft wie bei Ihnen die Cholera, aber noch weit gefährlicher. Von
zehn Erkrankungen nahmen neun einen tödlichen Verlauf. Da aber dennoch
eine geringe Möglichkeit der Genesung bestand, konnten die Aerzte den
Bitten der Kranken um einen raschen und schmerzlosen Tod nicht
nachkommen; es war ja auch nicht möglich, von einem Menschen, den
starkes Fieber und große Schmerzen peinigten, anzunehmen, daß er sich
bei völlig klarem Bewußtsein befinde. Mein Lehrer arbeitete wie ein
Wahnsinniger, und seine Forschungen trugen viel dazu bei, die Epidemie
abzukürzen. Als diese völlig verschwunden war, beging er Selbstmord.«

»Wie alt war er damals?«

»Ihrer Berechnung nach ungefähr Fünfzig. Bei uns ist dies noch ein
jugendliches Alter.«

»Und der zweite Fall?«

»Eine Frau, der am gleichen Tag Mann und Kind gestorben waren.«

»Und der dritte Fall?«

»Den kann Ihnen nur jener Genosse erzählen, der ihn selbst erlebte.«

»Das ist wahr«, meinte ich. »Erklären Sie mir aber nun etwas anderes:
wie kommt es, daß sich die Marsbewohner so lange jung erhalten? Ist dies
eine Eigenheit Ihrer Rasse oder hängt es von den günstigen
Lebensbedingungen, oder aber noch von etwas anderem ab?«

»Mit der Rasse hat es nichts zu tun; noch vor zweihundert Jahren waren
wir weit weniger langlebig. Die günstigeren Lebensbedingungen? Ja,
selbstverständlich spielen auch diese eine bedeutsame Rolle, die
Hauptursache jedoch ist eine ganz andere: nämlich die _Erneuerung_ des
Lebens.«

»Was ist das?«

»Eine dem Wesen nach äußerst einfache Sache, Ihnen jedoch wird sie
wahrscheinlich seltsam erscheinen, obgleich Ihre Wissenschaft bereits
alle Daten für diese Methode kennt. Sie wissen, daß die Natur, um die
Lebensfähigkeit der Zelle oder des Organismus zu steigern, das
Einzelwesen durch ein anderes ergänzt. Um dieses Ziel zu erreichen,
verschmilzt sich das Einzelwesen aus zweien zu einem, und auf diese Art
erhält es die Lebens- und Vermehrungsfähigkeit, die »Unsterblichkeit«
des Protoplasma. Derselbe Gedanke beherrscht die Kreuzungen der höheren
Pflanzen- und Tierarten; hier vereinigen sich lebendige Elemente zweier
verschiedener Wesen, auf daß ein drittes geboren werde. Schließlich
wissen Sie wohl auch um die Einimpfung des Blutes, von dem einen zum
anderen Geschöpf, um diesem anderen eine stärkere Lebensfähigkeit zu
verleihen, wie dies beim Serum gegen verschiedene Krankheiten der Fall
ist. Wir gehen hierin noch weiter: verwenden die _Transfusion des
Blutes_ zwischen zwei menschlichen Wesen, von denen jedes dem anderen
eine gesteigerte Lebensfähigkeit zu geben vermag. Diese einmalige
Transfusion des Blutes zwischen zwei Menschen wird durch einen die
Blutgefäße der beiden verbindenden Apparat bewerkstelligt. Bei
Beobachtung der nötigen Vorsichtsmaßregeln ist der Prozeß völlig
ungefährlich. Das Blut des einen Menschen lebt weiter im Organismus des
anderen, vermischt sich mit dem eigenen Blut und erneuert die Gewebe.«

»Auf diese Art vermögen Sie durch die Transfusion jungen Blutes den
Alten die Jugend wiederzugeben?«

»Zum Teil; freilich nicht ganz. Denn das Blut ist im Organismus nicht
alles, der Organismus verarbeitet es. Deshalb altert auch der junge
Mensch nach der Transfusion alten Blutes nicht; alles, was in ihm
Schwäche, Alter ist, verteilt sich rasch im jungen Organismus, und zur
gleichen Zeit scheidet er aus dem Organismus all das aus, dessen er
nicht bedarf; dadurch werden die Energie und Anpassungsfähigkeit seines
ganzen Wesens gesteigert.«

»Wenn dies so einfach ist, weshalb hat bis heute unsere irdische Medizin
das Mittel noch nicht angewandt? Die Transfusion des Blutes ist, wenn
ich nicht irre, bereits seit etlichen hundert Jahren bekannt.«

»Ich weiß es nicht; vielleicht besteht irgendeine organische Eigenheit,
die bei den Erdenmenschen diesem Mittel seine Wirksamkeit raubt.
Vielleicht aber kommt dies auch von dem bei Ihnen herrschenden
Individualismus, der so sehr den einen Menschen vom anderen trennt, daß
der Gedanke an eine lebendige Verschmelzung Ihren Gelehrten schier als
ein Ding der Unmöglichkeit erscheint. Außerdem gibt es bei Ihnen eine
Unzahl das Blut vergiftender Krankheiten, Krankheiten, von denen die
Befallenen oft gar nicht wissen, oder die sie verheimlichen. Die bei
Ihnen äußerst selten vollzogene Transfusion des Blutes trägt irgendwie
einen philanthropischen Charakter: jener, der viel Blut besitzt, gibt
davon jenem, der dessen äußerst nötig bedarf, zum Beispiel in Fällen, wo
durch Wunden ein großer Blutverlust entstanden ist. Freilich kommt dies
auch bei uns vor; meist aber verhält es sich anders, entspricht unserer
ganzen Ordnung: unser Leben ist nicht nur dem Geist nach ein
kameradschaftliches, sondern sogar dem Körper nach.«


                         Arbeit und Gespenster

Die Eindrücke der ersten Tage, die wie ein stürmischer Wasserfall mein
Bewußtsein überfluteten, ließen mich erkennen, was für eine ungeheuere
Arbeit mir bevorstand. Vor allem galt es, diese Welt zu _begreifen_,
diese unermeßlich reiche und in ihrer Ordnung so eigenartige Welt. Dann
aber mußte ich mich ihr _nähern_, jedoch nicht wie einem interessanten
Museumsgegenstand, sondern wie ein Mensch den Menschen, ein Arbeiter den
Arbeitern. Nur so vermochte ich meine Mission zu erfüllen, als
wahrhaftes Band zwischen zwei Welten zu dienen, zwischen denen ich, der
an der Grenze stehende Sozialist, einen unendlich winzigen Augenblick
der Gegenwart bedeutete, der Vergangenheit und Zukunft verband.

Als ich das Krankenhaus verließ, sprach Netti zu mir: »Beeilen Sie sich
nicht allzu sehr.« Mir schien es, als habe er unrecht. Im Gegenteil: ich
mußte mich beeilen, mußte alle Kräfte, alle Energie anspannen -- denn
meine Verantwortung war eine ungeheuer große. Welcher gewaltige Nutzen
konnte unserer alten zerquälten Menschheit erwachsen, welche gigantische
Beschleunigung ihrer Entwicklung durch den Einfluß dieser lebendigen,
energischen, hohen Kultur, die so mächtig und harmonisch war! Und jeder
Augenblick der Verzögerung in meiner Arbeit konnte ein Hinausschieben
dieses Einflusses bedeuten ... Nein, ich durfte nicht erwarten, durfte
nicht rasten. Und ich arbeitete viel. Lernte die Wissenschaft und die
Technik der neuen Welt kennen, beobachtete genau ihr gesellschaftliches
Leben, studierte ihre Literatur. Und dabei boten sich mir viele
Schwierigkeiten.

Die wissenschaftlichen Methoden verblüfften mich völlig: ich prägte sie
mir mechanisch ein, vermeinte anfangs, sie seien leicht, einfach, ohne
Fehler; bald aber bemerkte ich, daß ich sie nicht verstand, daß ich
nicht begriff, wieso sie zum Ziele führten, ihre Verbindung nicht fand
und ihr Wesen nicht erfaßte. Ich glich einem alten Mathematiker des 17.
Jahrhunderts, dessen begrenzter unbeweglicher Geist die lebendige
Dynamik der unendlich kleinen Größen nicht zu erfassen vermag.

Die allgemein zugänglichen Versammlungen der Marsbewohner versetzten
mich durch ihren rein sachlichen Charakter in großes Erstaunen. Ob sie
nun wissenschaftlichen Fragen, oder aber der Organisation der Arbeit
oder Kunstfragen galten, -- stets waren die Ausführungen und Reden
seltsam nüchtern und kurz, die Argumente genau, sachlich, niemand
wiederholte sich und keiner wiederholte, was ein anderer gesagt hatte.
Der Beschluß der Versammlung, der häufig ein einstimmiger war, wurde mit
märchenhafter Geschwindigkeit durchgeführt. Beschloß die Versammlung der
Lehrer, daß eine neue Lehranstalt gegründet werden müsse, oder die
Versammlung der Arbeitsstatistiker, daß ein neues Unternehmen gegründet
werden solle, oder die Versammlung der Stadtbewohner, daß irgendein
Gebäude zu schmücken sei, -- sofort erschienen auch schon die neuen
Zahlen der erforderlichen Arbeitskraft, das Zentralbureau schaffte auf
dem Luftweg Hunderte und Tausende von neuen Arbeitern herbei; nach
einigen Tagen oder einer Woche war bereits alles beendet, und die neuen
Arbeiter verschwanden; niemand wußte, wohin. All dies erweckte in mir
schier den Eindruck der Magie, einer seltsamen, gelassenen, kalten,
Beschwörungen und Mystik verachtenden Magie, die vielleicht eben deshalb
durch ihre übermenschliche Macht besonders rätselhaft wirkte.

Auch die Literatur der neuen Welt, sogar die rein künstlerische,
bedeutete für mich weder Erholung noch Beruhigung. Ihre Form erschien
zwar klar und unkompliziert, aber der Inhalt mutete mich fremd an. Es
verlangte mich, tiefer in sie einzudringen, sie zu begreifen, ihr näher
zu kommen, doch führten meine Bemühungen zu einem völlig unerwarteten
Ergebnis: die Formen wurden gespenstisch, von Nebel umhüllt.

Besuchte ich das Theater, so überkam mich ebenfalls das Gefühl der
Verständnislosigkeit. Die Reden der Helden waren so zurückhaltend und
gedämpft, ihre Gefühle so schwach betont, daß es fast schien, als
wollten sie bei dem Zuschauer keinerlei Stimmung erregen, als wären sie
nur abgeklärte Philosophen, freilich äußerst idealisierte. Nur die
historischen, in der fernen Vergangenheit spielenden Dramen weckten in
mir einen vertrauten Eindruck; hier war auch das Spiel der Darsteller
bedeutend lebhafter, der Ausdruck persönlicher Gefühle um vieles
unverhüllter, glich weit mehr dem, woran ich in unseren Theatern gewöhnt
war.

Ein Umstand zog mich trotz allem immer wieder ins Theater unserer
kleinen Stadt: nämlich der, daß es hier keine Schauspieler gab. Die hier
aufgeführten Stücke wurden uns durch optische und akustische Apparate
vermittelt, die sich in anderen großen Städten befanden, oder aber, und
dies kam noch häufiger vor, es wurden Stücke aufgeführt, die so alt
waren, daß die meisten der darin auftretenden Schauspieler nicht mehr
unter den Lebenden weilten. Die Marsbewohner kannten die Momentaufnahmen
in natürlichen Farben, benützten sie, um Leben und Bewegung
wiederzugeben, wie dies in unseren Kinos geschieht. Aber sie vereinigten
nicht nur den Kinematograph mit dem Phonograph, wie das bereits, wenn
auch ohne rechten Erfolg, auf der Erde getan wurde, sondern sie wandten
auch das Stereogramm an und verliehen dadurch den Kinobildern Relief.
Auf der Leinwand erschienen gleichzeitig zwei Abbildungen, -- zwei halbe
Stereogramme; vor jedem Sitz war ein entsprechendes stereoskopisches
Glas befestigt, das die beiden flachen Abbildungen zu einer vereinigte.
Es schien seltsam, klar und genau lebendige Menschen zu sehen, die sich
bewegten, handelten, ihren Gefühlen in Worten Ausdruck verliehen, und
gleichzeitig zu wissen, daß von all dem nichts existierte, als die
Mattscheibe, der Phonograph und das elektrische Licht mit dem Uhrwerk.
Ja, dies war fast mystisch seltsam, und erweckte unklare Zweifel an
aller Wirklichkeit.

Selbstverständlich wurde durch all diese Tatsachen meine Aufgabe, das
Verstehen der fremden Welt, in hohem Maße erschwert. Ich hätte
entschieden fremder Hilfe bedurft. Doch wandte ich mich nur sehr selten
an Menni mit der Bitte um Erklärungen. Ich wollte ihn nicht in Anspruch
nehmen, denn er war eben mit seinen Forschungen über die Gewinnung der
»Minus-Materie« beschäftigt. Er arbeitete unermüdlich, schlief oft
nächtelang nicht, und ich wollte ihn nicht stören und ablenken. Seine
Arbeitsfreudigkeit war für mich ein lebendiges Beispiel, das mich
unwillkürlich dazu verleitete, meine Anstrengungen fortzusetzen.

Die übrigen Freunde waren von meinem Horizont verschwunden. Netti
verreiste auf etliche hundert Kilometer, um den Bau und die Organisation
eines riesenhaften neuen Krankenhauses auf der anderen Halbkugel des
Planeten zu leiten. Enno, Sternis Gehilfe, war ebenfalls viel
beschäftigt; in seinem Observatorium wurden Messungen und Berechnungen
für neue Expeditionen nach der Venus und der Erde angestellt, sowie für
Expeditionen nach dem Mond und dem Merkur; letztere sollten
photographiert und von den Mineralien sollten Proben zurückgebracht
werden. Mit den anderen Marsbewohnern war ich nicht näher bekannt,
beschränkte meine Gespräche mit ihnen auf praktische Fragen; es fiel mir
schwer, mich diesen so fremden und hoch über mir stehenden Wesen zu
nähern.

Allmählich begann ich zu finden, daß, allgemein gesprochen, meine Arbeit
gute Fortschritte machte. Ich bedurfte immer weniger der Rast, ja sogar
des Schlafes. Alles, was ich fast mechanisch leicht und frei erlernte,
brachte ich bequem in meinem Kopf unter, und dies rief irgendwie das
Gefühl hervor, als sei mein Kopf völlig leer und könne noch viel, sehr
viel beherbergen. Freilich, wenn ich nach alter Gewohnheit versuchte,
für mich selbst genau zu formulieren, was ich wußte, so mißlang das fast
immer; doch deuchte mich, es sei nicht wichtig, Einzelheiten und Teile
klar definieren zu können. Vor allem gelte es einen Allgemeinbegriff zu
haben, und den besaß ich.

Eine besonders lebhafte Befriedigung fand ich in meiner Arbeit nicht; es
gab nichts, das in mir das frühere Gefühl unmittelbaren Interesses
wachgerufen hätte, doch erschien mir dies selbstverständlich: nach all
dem, was ich gesehen und erfahren hatte, fiel es mir schwer, noch über
irgendetwas zu staunen. Es kam ja auch gar nicht darauf an, ob mir etwas
angenehm sei, sondern vielmehr darauf, daß ich alles begreife und mir zu
eigen mache.

Eines nur war peinlich: es wurde mir täglich schwerer, meine
Aufmerksamkeit völlig auf einen Gegenstand zu konzentrieren. Die
Gedanken schweiften von einer Sache, von einer Seite zur anderen; klare,
gänzlich unerwartete Erinnerungen fluteten bisweilen über mein
Bewußtsein hinweg, ließen mich meine Umgebung vergessen, raubten mir die
kostbaren Minuten. Ich bemerkte dies, zwang mich mit neuer Energie zur
Arbeit, aber nach kurzer Zeit suchten abermals flüchtige Bilder und
Phantasien der Vergangenheit mein Gehirn heim, und es galt von neuem,
ihrer Gewalt zu widerstehen.

Immer häufiger überkam mich ein bebendes, seltsam beunruhigendes Gefühl;
bekannte Gesichter tauchten vor mir auf, alte Geschehnisse. Eine
übermächtige Flut riß mich zurück, in ferne Zeiten, in die Jugend und
früheste Kindheit, dort verlor sich mein Bewußtsein in Unklarheit und
Wirrnis. Nach solchen Stunden vermochte ich die andauernde Zerstreutheit
nicht zu bewältigen.

In meinem Inneren entstand ein heftiger Widerstand, der mich hinderte,
einer Sache lange Zeit zu widmen; ich hastete von Gegenstand zu
Gegenstand, schleppte in meine Stube einen Haufen Bücher, die früher am
rechten Ort aufbewahrt waren, Tabellen, Karten, Stereogramme,
Phonographen usw. Auf diese Art hoffte ich, den Zeitverlust wieder
einzubringen, aber die furchtbare Zerstreutheit übermannte mich stets
von neuem, und häufig ertappte ich mich dabei, daß ich lange reglos auf
einen Punkt starrte, nichts begriff, nichts tat.

Lag ich auf meinem Bett und blickte durch das Glasdach zum düsteren
Nachthimmel empor, so begannen meine Gedanken eigenwillig mit
erstaunlicher Lebhaftigkeit und Energie zu arbeiten. Vor meinem Geiste
erschienen ganze Zahlenreihen und Formeln, sie waren von einer
derartigen Klarheit, daß ich sie, Zeile um Zeile, abzulesen vermochte.
Doch verblaßten diese Erscheinungen gar bald, machten anderen Platz,
mein Bewußtsein kehrte zum Panorama eines unglaublich lebendigen und
klar umrissenen Bildes zurück, das nichts mit meiner Beschäftigung und
meinen Sorgen zu tun hatte. Ich schaute irdische Landschaften,
theatralische Szenen, Bilder aus Kindermärchen, sah sie wie in einem
Spiegel. Sie durchdrangen meine Seele, verschwammen, vermischten sich,
erweckten keinerlei Aufregung, sondern bloß ein leichtes Interesse, eine
gewisse Neugierde, der eine schwache Befriedigung eignete. Dieser
Vorgang vollzog sich in meinem Bewußtsein, vermengte sich nicht mit der
äußeren Umgebung; später jedoch griff er auch auf sie über. Ich versank
in Schlummer, in Träume, die voll lebendiger und komplizierter
Erscheinungen waren; der Schlummer war ein leichter und gab mir nicht,
wonach mich so sehr verlangte -- das Gefühl der Rast und Erholung.

Schon längere Zeit störte mich Ohrensausen, jetzt wurde dieses immer
unaufhörlicher und stärker, hinderte mich bisweilen sogar daran, die
Töne des Phonographen zu vernehmen. Des Nachts raubte es mir den Schlaf.
Immer wieder vermeinte ich dazwischen Menschenstimmen zu hören, bekannte
und unbekannte, bisweilen glaubte ich, mein Name würde gerufen, oder
aber ich vernähme Gespräche, deren Worte ich wegen des Sausens nicht zu
verstehen vermochte. Ich sah ein, daß ich nicht völlig gesund sei, daß
mich Verwirrung und Zerstreutheit überwältigten, vermochte ich doch
nicht einmal einige Zeilen im Zusammenhang zu lesen.

»Das ist selbstverständlich nur Uebermüdung«, sprach ich zu mir. »Ich
muß mehr rasten, habe tatsächlich zu viel gearbeitet. Doch brauche ich
Menni davon nichts zu sagen, denn was jetzt mit mir vorgeht, erweckt gar
sehr den Eindruck, als machte ich bereits zu Anfang meiner Arbeit
Bankrott.«

Wenn mich Menni in meiner Stube aufsuchte, dies kam freilich zu jener
Zeit selten vor, gab ich mir den Anschein, äußerst beschäftigt zu sein.
Er warnte mich: ich arbeite zu viel, setze mich der Gefahr der
Erschöpfung aus.

»Heute sehen Sie besonders schlecht aus«, sagte er. »Schauen Sie in den
Spiegel, wie Ihre Augen glänzen, wie blaß Sie sind. Sie müssen sich
ausruhen, das wird später Früchte tragen.«

Mich verlangte ja selbst nach Ruhe, doch vermochte ich keine zu finden.
Zwar tat ich fast nichts, aber alles ermüdete mich, sogar die geringste
Anstrengung. Die stürmische Flut lebendiger Bilder, Erinnerungen und
Phantasien ebbte weder bei Tag noch bei Nacht ab. In ihr verblaßte meine
Umgebung, verlor sich, nahm etwas Gespenstisches an.

Schließlich mußte ich mich ergeben; ich sah, daß Schlaffheit und Apathie
immer stärker meinen Willen schwächten, daß ich immer weniger gegen sie
anzukämpfen vermochte. Eines Abends, als ich zu Bette lag, wurde es mir
plötzlich schwarz vor den Augen. Doch verging dies rasch, und ich trat
ans Fenster, um auf die Bäume des Parkes zu blicken. Jählings fühlte
ich, daß mich jemand anstarre. Ich wandte mich um -- vor mir stand Anna
Nikolajewna Ihr Antlitz war blaß und traurig, aus ihren Blicken sprach
Vorwurf. Ich wurde erregt, dachte gar nicht an das Seltsame ihrer
Erscheinung, tat einen Schritt vor, um ihr entgegenzugehen und etwas zu
sagen. Sie aber verschwand, als habe sie sich in Luft aufgelöst.

Und in diesem Augenblick begann der Gespensterreigen. An vieles erinnere
ich mich nicht; mein Bewußtsein war verdunkelt, ich befand mich in einer
Art Traum. Es kamen und gingen, erschienen vor mir allerlei Menschen,
denen ich in meinem früheren Leben begegnet war, aber auch Unbekannte.
Merkwürdigerweise befanden sich unter ihnen keine Marsbewohner, es waren
lauter Erdenmenschen. Die Bekannten gehörten meist zu jenen, die ich
seit langem nicht gesehen hatte, alte Schulkameraden, mein junger
Bruder, der noch als Kind gestorben war. Durchs Fenster erblickte ich
einen berüchtigten Spion, der mich mit bösem Lachen aus seinen listigen,
unsteten Augen anblickte. Die Gespenster redeten nicht mit mir; in der
Nacht jedoch, da alles still war, vernahm ich halluzinierende Töne,
hörte unzusammenhängende, sinnlose Gespräche, geführt von den
Unbekannten: ein Fahrgast, der mit einem Droschkenkutscher stritt, ein
Kommis überredete einen Kunden, die Ware zu kaufen, der Lärm eines
Universitätsauditoriums tobte, der Pedell versuchte Ruhe zu schaffen,
verkündete, daß der Herr Professor gleich kommen würde. Die
Gesichtshalluzinationen waren weit interessanter und störten mich viel
weniger und seltener.

Nach der Erscheinung Anna Nikolajewnas sprach ich selbstverständlich mit
Menni über meinen Zustand. Er schickte mich sofort ins Bett, berief den
Arzt und telephonierte den sechstausend Kilometer entfernten Netti an.
Der Arzt erklärte, er könne sich nicht entschließen, etwas zu tun, da er
den Organismus der Erdenmenschen zu wenig kenne; jedenfalls bedürfe ich
vor allem der Ruhe und Erholung. Befolgte ich diesen Rat, so sei es
nicht gefährlich, einige Tage zu warten, bis Netti zurückkäme.

Netti stellte sich am dritten Tag ein. Als er sah, in was für einem
Zustand ich mich befand, blickte er Menni mit traurigem Vorwurf an.


                                 Netti

Trotz der Behandlung durch einen so ausgezeichneten Arzt wie Netti
währte meine Krankheit einige Wochen. Ich lag zu Bett, ruhig und
apathisch, betrachtete mit der gleichen Seelenruhe die Wirklichkeit und
die Gespenster. Nettis stete Gegenwart erweckte in mir ein kaum
merkliches, leichtes Gefühl der Zufriedenheit.

Heute erscheint mir in der Erinnerung mein damaliges Verhältnis zu den
Halluzinationen sehr merkwürdig; obgleich ich mich an die hundert Mal
von ihrer Unwirklichkeit überzeugte, so vergaß ich dies, sobald sie
erschienen; selbst wenn sich mein Bewußtsein nicht verdunkelte und
verwirrte, hielt ich die Erscheinungen für wirkliche Gesichter und
Dinge. Bloß wenn sie bereits verschwunden waren, oder im Augenblick vor
ihrem Verschwinden, erkannte ich ihre Gespensterhaftigkeit.

Nettis Hauptbestreben ging dahin, mir Schlaf und Ruhe zu verschaffen. Er
konnte sich nicht dazu entschließen, mir irgendeine Medizin zu
verabreichen, fürchtete, diese könnte auf den irdischen Organismus als
Gift wirken. Etliche Tage vermochte er mich mit den gewöhnlichen Mitteln
nicht zum Schlafen zu bringen; die Halluzinationen verhinderten dies.
Endlich aber gelang es ihm dennoch, und als ich nach zwei- bis
dreistündigem Schlaf erwachte, sprach er:

»Nun zweifle ich nicht mehr an Ihrer Genesung, wenngleich die Krankheit
noch lange währen dürfte.«

Und die Krankheit nahm ihren Verlauf. Die Halluzinationen wurden
seltener, doch waren sie um nichts weniger lebhaft und klar, wurden
sogar etwas komplizierter; bisweilen ließen sich die gespenstischen
Gäste mit mir in ein Gespräch ein.

Von diesen Gesprächen hatte nur ein einziges für mich Sinn und
Bedeutung; es war schon gegen Ende meiner Krankheit, als es geführt
wurde.

Eines Morgens erwachend, sah ich Netti wie gewöhnlich in meiner Nähe;
vor seinem Lehnstuhl aber stand mein alter Revolutionskamerad, der
lebhafte, boshaft spöttische Agitator Ibrahim. Er schien etwas zu
erwarten. Als sich Netti ins anstoßende Zimmer begab, um das Bad
vorzubereiten, sprach Ibrahim grob und entschlossen zu mir:

»Du Dummkopf! Was hältst du Maulaffen feil? Siehst du denn etwa nicht,
wer dein Arzt ist?«

Ich wunderte mich weder über die in seinen Worten enthaltene Andeutung,
noch über den zynischen Ton, ich kannte ja seine Art. Doch entsann ich
mich des eisernen Griffs, mit dem Nettis kleine Hände zupackten und
glaubte Ibrahim nicht.

»Umso ärger für dich!« meinte er mit verächtlichem Lachen und
verschwand.

Netti betrat das Zimmer. Bei seinem Anblick empfand ich ein seltsames
Unbehagen. Er schaute mich scharf an.

»Nun«, sprach er, »Ihre Genesung macht rasche Fortschritte.«

Den ganzen Tag über war Netti schweigsam und versonnen. Am folgenden
Tag, überzeugt davon, daß ich mich wohl fühle und die Halluzinationen
sich nicht wiederholen würden, ging er seiner Arbeit nach und kehrte
erst gegen Abend heim, ließ sich durch einen anderen Arzt vertreten.
Etliche Tage kam er nur des Abends zu mir, um mich einzuschläfern. Erst
nun wurde es mir klar, wie wichtig und angenehm mir seine Anwesenheit
sei. Zusammen mit der Erregung der Genesung, die irgendwie aus der
ganzen Natur in meinen Organismus einzudringen schien, verfolgte mich
immer häufiger Ibrahims Andeutung. Ich schwankte, versicherte mir
selbst, das ganze sei Unsinn, der Gedanke entspringe meiner Krankheit;
weshalb hätten Netti und die übrigen Freunde mich in dieser Beziehung
irreführen sollen? Nichtsdestoweniger blieb ein unklarer Zweifel zurück,
der etwas Angenehmes besaß.

Einmal fragte ich Netti, mit was für einer Arbeit er eben beschäftigt
sei. Er erwiderte, es gebe jetzt viele Beratungen, auf denen über eine
neue Expedition nach den anderen Planeten verhandelt werde, er sei als
Experte zugezogen. Menni leite die Beratungen, doch dächte weder er noch
Netti daran, die Expedition in nächster Zeit zu unternehmen, was mich
mit großer Freude erfüllte.

»Aber Sie selbst, beabsichtigten Sie nicht heimzukehren?« fragte Netti,
und aus seinem Ton klang leise Unruhe.

»Es gelang mir doch noch nicht, irgendetwas zu tun«, entgegnete ich.
Nettis Gesicht strahlte.

»Sie irren, Sie haben bereits viel getan, ... schon diese Antwort allein
...«, erwiderte er.

Ich ahnte in dieser Andeutung etwas, das ich nicht wußte, das mich aber
betraf.

»Kann ich Sie nicht zu einer dieser Beratungen begleiten?« erkundigte
ich mich.

»Auf keinen Fall. Abgesehen davon, daß Sie noch der Erholung bedürfen,
müssen Sie noch einige Monate alles vermeiden, was mit dem Beginn Ihrer
Krankheit im Zusammenhang steht.«

Ich wollte nicht streiten. Es war so angenehm, sich zu erholen; die
Pflicht der Menschheit gegenüber schien in weite Ferne gerückt. Jetzt
beunruhigten mich nur mehr, und zwar in immer stärkerem Maße, die
Gedanken über Netti.

Eines Abends stand ich am Fenster und blickte durch die Dämmerung in die
geheimnisvolle Schönheit des Parkes; dieser dünkte mich herrlich, und
nichts an ihm war meinem Herzen fremd. Ein leises Klopfen an der Tür
wurde vernehmbar, und ich fühlte mit einem Mal -- dies sei Netti. Er
näherte sich mit seinen leichten raschen Schritten, streckte mir
lächelnd die Hand hin: der alte Erdengruß, der ihm gefiel. Freudig griff
ich nach seiner Hand, drückte sie so heftig, daß es sogar seine festen
Finger schmerzte.

»Ich sehe, daß meine Rolle als Arzt zu Ende ist«, lächelte er. »Doch muß
ich noch einige Fragen an Sie richten, um meiner Sache ganz gewiß zu
sein.«

Er richtete Fragen an mich, ich gab Antwort, erfaßt von unverständlicher
Verwirrung, und las in der Tiefe seiner großen, großen Augen heimliches
Lachen. Schließlich vermochte ich mich nicht länger zu beherrschen.

»Erklären Sie mir, weshalb ich mich so stark zu Ihnen hingezogen fühle?
Weshalb freut es mich so ungemein, Sie zu sehen?«

»Hauptsächlich wohl aus dem Grunde, weil ich Sie behandelt habe und Sie
unbewußt die Freude der Genesung auf mich übertragen. Vielleicht aber
auch ... deshalb, weil ich ... eine Frau bin ...«

Dunkle Punkte kreisten vor meinen Augen, alles ringsum versank in Nacht,
das Herz hörte schier zu schlagen auf ... Einen Augenblick lang hielt
ich wie ein Wahnsinniger Netti in meiner Umarmung fest, küßte ihre
Hände, ihr Gesicht, ihre großen tiefen Augen, die grünlich blau
leuchteten, wie der Himmel ihres Planeten ...

Schlicht und großherzig überließ sich Netti meiner Umarmung ... Als ich
meine sinnlose Freude beherrschte und von neuem ihre Hände und ihr
Gesicht küßte, die Augen voller Freudentränen, die selbstverständlich
von der durch die Krankheit verursachten Schwäche herrührten, sprach
Netti mit ihrem lieben Lächeln:

»Es schien mir, als fühlte ich in Ihrer Umarmung Ihre ganze junge Welt,
deren Despotismus, deren verzweifeltes Glücksverlangen -- all dies lag
in Ihrer Liebkosung. Ihre Liebe gleicht dem Mord ... Aber ... ich liebe
Sie, Lenni ...«

Dies war Glück.


                              Dritter Teil


                                 Glück!

Diese Monate! ... Gedenke ich ihrer, so erfaßt gewaltiges Zittern meinen
Leib, Nebel verdunkeln mein Auge, alles ringsum erscheint mir nichtig.
Und es gibt keine Worte, um das vergangene Glück zu schildern.

Die neue Welt kam mir nahe, schien mir mit einem Mal völlig
verständlich. Die erlittene Niederlage bekümmerte mich nicht. Jugend und
Glaube kehrten zu mir zurück, um, wie ich glaubte, mich nie mehr zu
verlassen. Ich besaß Hoffnung und einen starken Verbündeten; für die
Schwäche war kein Raum. Die ganze Zukunft gehörte mir.

In die Vergangenheit schweiften meine Gedanken nur selten zurück, sie
beschäftigten sich mit dem, was Netti und unsere Liebe anbelangte.

»Weshalb verbargen Sie mir Ihr Geschlecht?« fragte ich bald nach jenem
Abend.

»Anfangs ergab sich dies von selbst, zufällig. Dann aber unterstützte
ich absichtlich Ihre Täuschung, entfernte sogar von meiner Kleidung
alles, was Ihnen die Wahrheit hätte verraten können. Mich erschreckte
die Schwere und Kompliziertheit Ihrer Aufgabe, ich fürchtete, diese noch
verwickelter zu gestalten, besonders als ich später Ihre unbewußte
Zuneigung zu mir wahrnahm. Auch verstand ich mich selbst nicht recht ...
bis zu Ihrer Krankheit.«

»Diese also hat die Lösung herbeigeführt ... Wie segne ich meine lieben
Halluzinationen!«

»Ja, als ich von Ihrer Erkrankung erfuhr, traf es mich wie ein
Hammerschlag. Hätte ich nicht vermocht, Sie vollständig zu heilen, ich
wäre vielleicht gestorben.«

Nach einigen Augenblicken des Schweigens fügte sie hinzu:

»Wissen Sie auch, daß sich unter Ihren Freunden noch eine Frau befindet,
von der Sie dies gleichfalls nicht ahnten? Sie ist Ihnen sehr zugetan,
freilich nicht so wie ich ...«

»Enno!« erriet ich sofort.

»Selbstverständlich. Und auch Enno führte Sie absichtlich irre, befolgte
dabei meinen Rat.«

»Ach, wie viel Trug und Feigheit gibt es doch in Eurer Welt!« rief ich
mit scherzhaftem Pathos. »Laßt nur, bitte, Menni einen Mann bleiben,
denn verliebte ich mich in ihn, so wäre dies furchtbar.«

»Ja, dies ist furchtbar«, entgegnete Netti gedankenvoll, und ich
verstand ihren seltsamen Ernst nicht.

Tage reihten sich an Tage, und beglückt nahm ich von der schönen neuen
Welt Besitz.


                                Trennung

Und dennoch kam ein Tag, kam der Tag, an den ich nicht ohne
Verwünschungen zu denken vermag -- der Tag, da sich zwischen Netti und
mir der schwarze Schatten einer verhaßten und unvermeidlichen Trennung
erhob.

Mit dem gleichen gelassenen, abgeklärten Gesichtsausdruck, der ihr eigen
war, erklärte mir Netti unvermittelt, sie müsse sich im Verlauf eines
Tages der Riesenexpedition nach der Venus anschließen, die von Menni
geleitet wurde. Als sie sah, wie sehr mich diese Nachricht verstörte,
sprach sie:

»Es ist ja nicht auf lange Zeit. Hat die Expedition Erfolg, und ich
zweifle nicht daran, so wird ein Teil der Mitglieder baldigst
zurückkehren, und auch ich werde diesem Teil angehören.«

Dann berichtete sie mir, worum es sich handle. Auf dem Mars waren die
Vorräte der radiumausstrahlenden Materie, die für die Motoren der
interplanetarischen Luftschiffe und für die Zerlegung und Synthese aller
Elemente unentbehrlich waren, erschöpft und konnten nicht erneuert
werden. Auf der Venus hingegen, einem jungen Planeten, der fast viermal
kürzere Zeit bestand als der Mars, gab es auf Grund untrüglicher
Anzeichen ungeheure Lager dieser Materie, die sich fast an der
Erdoberfläche befand und sich nicht selbständig zerlegen konnte. Auf
einer Insel, die in dem gigantischen Ozean der Venus lag und von den
Marsbewohnern die »Insel des glühenden Sturms« genannt ward, gab es ein
reiches Lager der radiumausstrahlenden Materie, und es war beschlossen
worden, dieses Lager so rasch wie möglich auszubeuten. Doch war vorher
nötig, äußerst hohe und dicke Mauern zu errichten, die die Arbeiter
gegen den verderblichen glühenden Wind schützen sollten, der in seiner
Wildheit und Grausamkeit die Sandstürme unserer Wüsten bei weitem
übertraf. Diese Arbeit erforderte eine Expedition von zehn Aetheroneffs
und von zweitausend Menschen, unter denen sich zwanzig Chemiker
befanden; die übrigen sollten den Bau der Mauer übernehmen. Die besten
wissenschaftlichen Kräfte sowie die erfahrensten Aerzte würden sich
anschließen; die Gesundheit aller Expeditionsmitglieder war vom Klima
gefährdet und auch von der mörderischen Glut, sowie von den Emanationen
der radiumausstrahlenden Stoffe. Netti vermochte sich, den eigenen
Worten zufolge, nicht von der Expedition zu drücken, doch hatte sie sich
ausbedungen, daß, wenn die Arbeit gut von statten gehe, bereits nach
drei Monaten ein Aetheroneff zurückkehre, um Nachrichten und die zutage
geförderte Materie mitzubringen. Mit diesem Aetheroneff wollte dann auch
Netti heimkommen, also etwa zehn bis elf Monate nach Ausfahrt der
Expedition.

Ich vermochte nicht zu begreifen, weshalb Netti unbedingt an der
Expedition teilnehmen müsse. Sie meinte, das Unternehmen sei ein derart
ernstes, daß sie sich ihm nicht entziehen könne, außerdem sei es auch
für meine Aufgabe von großer Bedeutung, denn der Erfolg würde die
Möglichkeit einer engeren Verbindung mit der Erde schaffen. Uebrigens
würde ein jeder Irrtum auf dem Gebiet der medizinischen Hilfe das
Unternehmen von allem Anfang an zum Mißerfolg verurteilen. All dies
klang überzeugend, ich wußte ja auch, daß Netti als der beste Arzt galt,
besonders in Fällen, die nicht in den Rahmen der alten erfahrungsgemäßen
Medizin paßten; dennoch schien mir irgendwie, daß dies nicht alles sei,
als gäbe es noch etwas Unausgesprochenes.

An einem zweifelte ich nicht; an Netti selbst und ihrer Liebe. Wenn sie
sagte, es sei unbedingt nötig, die Expedition mitzumachen, so war dies
wirklich unvermeidlich, erklärte sie mir aber nicht, weshalb dies so
sein mußte, so bedeutete es, daß ich sie nicht weiter befragen dürfe.
Wenn sie sich von mir unbeobachtet glaubte, sah ich in ihren schönen
Augen Angst und Schmerz.

»Enno wird dir ein guter und liebevoller Freund sein«, sprach sie mit
wehmütigem Lächeln. »Und auch Nella wird dich nicht vergessen, sie liebt
dich um meinetwillen, besitzt viel Verstand und Erfahrung; in den
schweren Augenblicken des Lebens ist ihre Hilfe von hohem Wert. Wenn du
an mich denkst, so denke immer nur das eine: daß ich zurückkehre, sobald
dies irgendwie möglich ist.«

»Ich vertraue dir, Netti«, sprach ich, »und deshalb glaube ich auch an
mich, an den Menschen, den du liebst.«

»Du hast recht, Lenni, und ich bin überzeugt, daß dich keinerlei
Schicksalsschläge, keinerlei Prüfungen von deiner Aufgabe ablenken
werden, daß du dir selbst ebenso treu und daß du ebenso stark und rein
bleiben wirst wie bisher.«

Die Zukunft warf ihre Schatten auf unsere Abschiedsliebkosungen und
erschütterte Netti bis zu Tränen.


                           Die Kleiderfabrik

In diesen kurzen Monaten war es mir dank Nettis Hilfe in hohem Maße
gelungen, mich auf die Verwirklichung meines Hauptplanes vorzubereiten:
ein nützlicher Arbeiter der Marsgesellschaft zu werden. Ich schlug
wohlüberlegt alle Aufforderungen ab, über die Erde und deren Menschen
Vorträge zu halten; es wäre sinnlos gewesen, dies zu meiner Spezialität
zu machen, da es ja auf künstliche Art mein Bewußtsein an die Dinge der
Vergangenheit gefesselt hätte und mir dadurch die Zukunft, für die es zu
kämpfen galt, verloren gegangen wäre. Ich beschloß ganz einfach, in
einen Betrieb zu gehen und wählte, nach verschiedenen Vergleichen und
reiflicher Ueberlegung, als erste Arbeitsstelle die Kleiderfabrik.

Selbstverständlich wählte ich eine leichtere Arbeit. Dennoch forderte
diese von mir eine nicht geringe und ernsthafte Vorbereitung. Vor allem
galt es, mich mit der Ausarbeitung des wissenschaftlichen Prinzips der
Fabrikorganisationen im allgemeinen bekannt zu machen, dann aber mit
jener besonderen Organisation der von mir gewählten Fabrik, mit deren
Architektur, deren Arbeitseinteilung, mit den Maschinen, an denen ich
arbeiten würde, kurzum mit allen Einzelheiten. Zu diesem
Vorbereitungsstudium mußte ich gewisse Gebiete der Mechanik, der
Technik, ja sogar der mathematischen Analyse studieren. Die
Hauptschwierigkeit bestand für mich nicht in den Gegenständen selbst,
sondern in den Formeln. Die Lehrbücher und Anleitungen rechneten nicht
mit der weit niedrigeren Erdenkultur. Ich erinnerte mich daran, wie ich
als Kind gequält wurde, indem man mir ein französisches Lehrbuch der
Mathematik gab. Ich empfand für diesen Gegenstand eine ernsthafte
Vorliebe, und anscheinend auch eine ungewöhnliche Begabung. Die
Schwierigkeiten, die dem Anfänger meist so viel Kopfzerbrechen bereiten,
die Idee des »Grenzwertes« und der »Ableitung« machten mir so wenig
Mühe, als wären sie mir immer bekannt gewesen. Doch fehlten mir jene
logische Disziplin und das praktische Wissen, die von dem französischen
Professor vorausgesetzt wurden; das ganze Lehrbuch war dem Ausdruck nach
äußerst klar und genau, doch geizte es mit Erklärungen. Es gab hier
keine jener logischen Brücken, die sich ein Mensch von höherer
wissenschaftlicher Kultur selbst hinzudenken kann, die aber für den
jungen Asiaten vonnöten sind. Bisweilen dachte ich ganze Stunden lang
über irgendeine magische Reduktion nach, die auf die Worte folgte: »Wenn
wir unsere Aufmerksamkeit auf den vorangegangenen Vergleich richten, so
kommen wir zu dem Ergebnis ...« -- Derart war es mir damals ergangen,
und das gleiche empfand ich in noch verstärktem Maße beim Studium der
wissenschaftlichen Bücher des Mars. Die Illusion, die mich zu Beginn
meiner Krankheit irregeführt hatte, daß alles leicht und verständlich
sei, verschwand spurlos. Aber Netti hatte mir mit ihrer geduldigen Hilfe
stets zur Seite gestanden und mir den schweren Weg geebnet.

Bald nach Nettis Abfahrt faßte ich meinen Entschluß und trat in den
Betrieb ein. Die Fabrik war ein riesenhaftes und äußerst kompliziertes
Unternehmen; sie glich nicht im geringsten unserer üblichen Vorstellung
von einer Kleiderfabrik. Hier waren Spinnerei, Weberei, das Zuschneiden,
Nähen und Färben der Kleider vereinigt, das Material jedoch, das zur
Verarbeitung gelangte, war weder Flachs, noch Baumwolle, noch
Pflanzenfasern überhaupt, noch Wolle, noch Seide, sondern etwas ganz
anderes.

In der ersten Zeit verfertigten die Marsbewohner ihre Gewänder aus den
gleichen Stoffen wie wir; sie bauten jene Pflanzen an, deren Gewebe
diesem Zweck diente, schoren die wolletragenden Tiere, zogen ihnen die
Haut ab, züchteten eine besondere Art Spinnen, deren Gewebe die
Eigenschaften der Seide besaß usw. Die wirtschaftlichen Veränderungen
und die Vervollkommnung der Technik erforderten jedoch eine immer
größere Getreideproduktion. Die Pflanzenfasern wurden durch mineralische
Fasern ersetzt. Später wandten die Gelehrten alle Aufmerksamkeit der
Erforschung der Spinnengewebe zu, suchten nach einer Synthese neuer
Stoffe mit analogen Eigenschaften. Als ihnen dies gelungen war, erfolgte
auf diesem ganzen Gebiet eine gewaltige Umwälzung, und heute konnte man
die Gewebe des alten Typus nur noch in historischen Museen sehen.

Unsere Fabrik war die wahrhafte Verkörperung dieser Umwälzung. Etliche
Mal im Monat wurde aus der zunächstgelegenen chemischen Fabrik auf dem
Schienenweg für die Spinnerei »Material« geliefert, das heißt: eine
durchsichtige Flüssigkeit in gewaltigen Zisternen. Aus diesen Zisternen
wurde vermittels besonderer luftdichter Apparate das Material in
ungeheure, hohe Metallreservoire geleitet, deren dichter Boden
hunderttausend mikroskopisch kleine Oeffnungen besaß. Durch diese
Oeffnungen gelangte die klebrige Flüssigkeit unter einen starken
Luftdruck und verhärtete sich zu zähen Fasern. Zehntausend mechanische
Spindeln erfaßten diese Fasern, spannen sie zu Fäden verschiedener
Dicke, schafften das Gespinst in die Webeabteilung. Hier wurden die
verschiedenen Stoffe gewebt, von den allerfeinsten, wie Musselin und
Batist, bis zu den dicksten, wie Tuch und Filz. Die endlosen breiten
Streifen gelangten nun weiter in die Zuschneidewerkstätte. Hier wurden
sie von neuen Maschinen gepackt, sorgfältig gefaltet, geschichtet, zu
genau ausgemessenen Stücken zerschnitten, zu Stücken, die die einzelnen
Teile des Gewandes bildeten.

In der Schneiderwerkstatt wurden aus den zugeschnittenen Stücken fertige
Kleider hergestellt, jedoch ohne daß dabei Nadel, Faden oder Nähmaschine
angewandt worden wären. Durch einen chemischen Prozeß wurden die Ränder
der Kleidungsstücke erweicht und abermals in ihren ersten flüssigen
Zustand versetzt. Sobald die chemische Substanz verdunstete, waren die
Kleider gleichsam zusammengelötet, fester, als es bei der besten
Schneiderarbeit der Fall gewesen wäre. Diese Lötung wurde gleichzeitig
überall vollzogen, wo es nottat, so daß auf diese Art fertige Kleider
hergestellt wurden, und zwar in einigen tausend Mustern, der Form und
dem Maß nach verschieden.

Es gab für jede Größe einige hundert Muster, aus denen ein jeder fast
immer das geeignete zu wählen vermochte, und dies umso mehr, als sich
die Marsbewohner äußerst ungezwungen kleideten. War dennoch das
Geeignete nicht vorhanden, wie etwa im Fall einer körperlichen
Unnormalität, so kam das Stück abermals unter die Zuschneidemaschine; es
wurde ein besonderer Anzug »genäht«, was etwa eine Stunde in Anspruch
nahm.

Was die Farbe der Gewänder anbelangte, so trugen die Marsbewohner meist
dunkle weiche Farben, die dem Material entsprachen. Wurde jedoch eine
andere Farbe verlangt, so kam der Anzug in die Färbeabteilung und
erhielt vermittels eines chemisch-elektrischen Prozesses die gewünschte
Farbe, die ideal gleichmäßig und ideal dauerhaft war.

Aus den gleichen, nur viel dickeren Geweben wurden das Schuhwerk und die
warmen Winterkleider hergestellt. Unsere Fabrik verfertigte diese nicht,
doch gab es andere, noch größere Betriebe, in denen alles verfertigt
wurde, was ein Mensch vom Kopf bis zu den Füßen an Bekleidung braucht.

Ich arbeitete der Reihe nach in allen Abteilungen des Betriebes, ließ
mich anfangs völlig von meiner Arbeit hinreißen. Besonders interessant
erschien mir die Zuschneidewerkstatt; hier mußte ich bei meiner Arbeit
mir bisher unbekannte Hilfsmittel in Anspruch nehmen: die mathematische
Analyse. Die Aufgabe bestand darin, aus einem gegebenen Stück bei dem
geringstmöglichen Materialverlust alle Teile eines Anzugs zu gewinnen.
Dies war natürlich eine äußerst prosaische, aber auch ernste Sache, denn
selbst der geringste Irrtum, der sich im Verlauf der Arbeit viele
Millionen Mal wiederholte, bedeutete einen ungeheuren Verlust. Einen
erfolgreichen Entschluß zu fassen, gelang mir meist »nicht schlechter«
als andern.

Nicht »schlechter« zu arbeiten als die anderen, das strebte ich aus
allen Kräften an, und fast immer mit einem gewissen Erfolg. Doch mußte
ich bemerken, daß dies für mich eine weit größere Anstrengung bedeutete
als für meine Kameraden. Nach den gewöhnlichen vier bis sechs
Arbeitsstunden -- die Erdenberechnung als Grundlage genommen -- fühlte
ich heftige Erschöpfung und mußte sofort rasten, während die andern noch
in Museen, Bibliotheken, Laboratorien gingen oder aber in andere
Fabriken, um dort die Arbeit zu beobachten, bisweilen auch noch selbst
mitzuarbeiten ...

Ich hoffte, mich allmählich an die neue Arbeit zu gewöhnen und meinen
Genossen gleich zu werden. Doch geschah dies nicht. Ich überzeugte mich
immer mehr davon, daß mir die _Kultur der Aufmerksamkeit_ fehle.
Körperliche Bewegungen wurden äußerst wenig erfordert, und was deren
Schnelligkeit und Gewandtheit anbelangte, so stand ich nicht hinter den
anderen zurück, ja, ich übertraf sie sogar. Aber die ununterbrochene
aufmerksame Beobachtung der Maschine und des Materials fiel meinem
Gehirn ungeheuer schwer: diese Fähigkeit vermag sich offensichtlich erst
im Verlauf einiger Generationen zu jener Stufe zu entwickeln, die hier
als Durchschnitt und völlig alltäglich erscheint.

Wenn mich, und dies war meist am Ende des Arbeitstages der Fall,
Erschöpfung ankam und meine Aufmerksamkeit nachließ, ich Fehler beging
oder auf eine Sekunde die Ausführung einer Arbeit unterließ, brachte die
unermüdliche, unbeirrte Hand meines Nachbarn die Sache immer in Ordnung.

Die merkwürdige Fähigkeit dieser Menschen, alles ringsum zu beobachten,
ohne dabei auch nur im geringsten die eigene Arbeit zu vernachlässigen,
versetzte mich in Erstaunen und reizte mich sogar. Ihre Fürsorge störte
mich nicht nur, nein, sie rief in mir auch Aerger und Ungeduld wach;
erregte in mir das Gefühl, als ob alle ununterbrochen meine Tätigkeit
verfolgten ... Diese Unruhe verstärkte noch meine Zerstreutheit und ließ
mich schlechter arbeiten.

Heute, nach langer Zeit, da ich genau und leidenschaftslos an all dies
zurückdenke, sehe ich ein, daß ich es damals falsch aufgefaßt habe. Mit
der gleichen Fürsorge und auf dieselbe Art halfen meine Genossen in der
Fabrik einander. Ich war keineswegs der Gegenstand irgendeiner
ausschließlichen Aufsicht oder Kontrolle, wie es mich damals dünkte. Ich
selbst, der Mensch aus einer individualistischen Welt, sonderte mich von
den übrigen ab und verkannte auf krankhafte Art ihre Güte und ihre
kameradschaftlichen Dienste, für die sie, die Menschen einer
kameradschaftlichen Welt, von mir nicht gewürdigt werden konnten.


                                  Enno

Der lange Herbst war vorüber, nun beherrschte bereits der schneearme,
aber kalte Winter unsere Gegend, die nördliche Mitte der Halbkugel. Die
kleine Sonne wärmte gar nicht mehr und leuchtete noch weniger als zuvor.
Die Natur warf die hellen Farben ab, erschien fahl und streng. Die Kälte
schlich sich ins Herz, der Zweifel in die Seele ein, und die Einsamkeit
des Sprößlings aus einer anderen Welt wurde immer qualvoller.

Ich suchte Enno auf, die ich seit langer Zeit nicht gesehen hatte. Sie
empfing mich wie einen ihr nahestehenden lieben Menschen; mir war, als
durchbreche das strahlende Licht der nahegelegenen Vergangenheit die
Winterkälte und die Nacht der Sorgen. Dann aber bemerkte ich, daß auch
sie blaß und von Kummer erschöpft zu sein schien. In ihrem Verhalten und
ihren Worten lag verborgener Gram. Wir hatten einander viel zu sagen,
und einige Stunden vergingen für mich angenehm und gut, wie dies seit
Nettis Abfahrt nicht mehr gewesen war.

Als ich mich erhob, um heimzukehren, wurde uns beiden schwer ums Herz.

»Wenn Ihre Arbeit Sie nicht hier festhält, so kommen Sie mit mir«, sagte
ich.

Enno ging sofort auf meinen Vorschlag ein. Sie nahm ihre Arbeit mit. Zu
jener Zeit hatte sie nichts im Observatorium zu tun, trug einen
ungeheuren Vorrat von Berechnungen zusammen, und wir begaben uns in die
chemische Stadt, wo ich Mennis Wohnung allein bewohnte. Allmorgendlich
fuhr ich in meine Fabrik, die sich hundert Kilometer, also eine halbe
Wegstunde, entfernt befand. Die langen Winterabende verbrachte ich von
nun an mit Enno; wir beschäftigten uns mit wissenschaftlichen Arbeiten,
plauderten oder unternahmen Spaziergänge in die Umgebung.

Enno erzählte mir ihre Geschichte. Sie liebte Menni und war dessen Frau
gewesen. Es verlangte sie sehnlichst danach, von ihm ein Kind zu haben,
aber Jahr um Jahr verstrich, ohne daß ihr Wunsch in Erfüllung ging. Sie
wandte sich an Netti um Rat. Diese erforschte alle Umstände und gelangte
zu dem kategorischen Ausspruch, daß Enno von Menni niemals ein Kind
haben werde. Menni hatte sich allzu spät vom Knaben zum Mann entwickelt
und allzu früh das anstrengende Leben eines Gelehrten und Denkers zu
führen begonnen. Die übertriebene Tätigkeit seines Gehirnes und dessen
außerordentliche Entwicklung hatten von allem Anfang an die lebendigen
Elemente der Vermehrung zerstört und erdrückt; dies war nicht mehr gut
zu machen.

Nettis Urteil bedeutete einen furchtbaren Schlag für Enno, bei der die
Liebe zu dem genialen Menschen und der starke Mutterinstinkt zu einem
Streben verschmolzen waren, das sich nun als hoffnungslos erwies.

Doch war dies noch nicht alles: Nettis Untersuchungen führten auch zu
einem zweiten Ergebnis. Es zeigte sich, daß für Mennis gigantische
geistige Arbeit, für die Entwicklung seiner genialen Fähigkeiten die
größte Enthaltsamkeit vonnöten sei, daß er sich so wenig wie möglich den
Liebkosungen der Liebe hingeben dürfe. Enno fühlte sich verpflichtet,
Nettis Rat zu befolgen und konnte sich bald von dessen Richtigkeit
überzeugen. Menni war wie neubelebt, er arbeitete mit größerer Energie
als je zuvor, neue Pläne entstanden mit außergewöhnlicher Schnelligkeit
in seinem Kopfe, er führte sie mit Erfolg durch und schien
offensichtlich nichts zu entbehren. Enno, der ihre Liebe teuerer war als
das Leben, die aber das Genie des geliebten Menschen noch höher wertete
als ihre Liebe, zog die Folgen dieser Erkenntnis.

Sie trennte sich von Menni. Dieser war im Anfang äußerst erzürnt, fand
sich jedoch bald mit der Tatsache ab. Der wahre Grund des Bruches war
ihm vielleicht unbekannt. Enno und Netti hielten ihn geheim, doch konnte
man freilich nicht sicher wissen, ob nicht Mennis durchdringender
Verstand die Ursache erraten habe. Für Enno aber war nun das Leben so
unsäglich leer, das Unterdrücken ihrer Gefühle quälte sie derart, daß
die junge Frau schon nach kurzer Zeit beschloß, Selbstmord zu begehen.

Netti, an die sich Enno gewandt hatte, schob die Tat, die sie verhindern
wollte, unter verschiedenen Vorwänden immer wieder hinaus und
benachrichtigte schließlich Menni. Dieser organisierte damals gerade die
Expedition nach der Erde und sandte sofort eine Aufforderung an Enno,
sie möge sich diesem bedeutsamen und gefährlichen Unternehmen
anschließen. Es war schwer, dieser Aufforderung nicht Folge zu leisten;
Enno nahm sie an. Eine Unmenge neuer Eindrücke halfen ihr, den
Seelenschmerz zu überwinden, und zur Zeit der Rückkehr auf den Mars
vermochte sie sich bereits so weit zu beherrschen, um als der heitere,
junge Dichter zu erscheinen, den ich auf dem Aetheroneff kennen gelernt
hatte.

An der neuen Expedition hatte Enno nicht teilgenommen, weil sie
fürchtete, sich allzu sehr an Mennis Gegenwart zu gewöhnen. Aber die
Angst um dessen Schicksal folterte sie in ihrer Einsamkeit, denn sie
kannte genau die große Gefahr des Unternehmens. An den langen
Winterabenden kreisten unsere Gedanken und Worte beständig um den einen
Punkt des Weltalls: um jenen, wo unter der Glut der gigantischen Sonne,
unter dem sengenden Hauch des Windes, die beiden uns liebsten Wesen mit
fieberhafter Energie ihre titanisch kühne Arbeit verrichteten. Dieser
gemeinsame Gedanke und die gleichartige Stimmung brachte uns einander
sehr nahe. Enno war mir mehr als eine Schwester.

Schier selbstverständlich, ohne Kampf und ohne Erschütterungen führte
unsere Freundschaft zu einem Liebesverhältnis. Die unbeirrbar ehrliche
und gütige Enno wich dieser Entwicklung nicht aus, wenngleich sie sie
nicht angestrebt hatte. Sie beschloß nur, von mir kein Kind zu haben ...
Der Schatten einer leisen Trauer verdunkelte ihre Liebkosungen, -- die
Liebkosungen einer zärtlichen Freundschaft, die alles gestattet ...

Der Winter breitete seine kalten weißen Flügel über uns, -- der lange
Marswinter, ohne Tau, ohne Winde und Schneestürme, ruhig, starr wie der
Tod. Wir beide fühlten kein Verlangen, nach dem Süden zu fliegen, wo um
diese Zeit die Sonne glühte und die Natur ihr leuchtendes Gewand
angelegt hatte. Enno sehnte sich nicht nach einer derartigen Natur, die
so schlecht mit ihrer Stimmung harmoniert hätte, und ich floh fast vor
neuen Menschen und neuen Umgebungen, denn die Gewöhnung an diese würde
neue nutzlose Arbeit gefordert, neue Erschöpfung verursacht haben; ich
näherte mich ohnehin nur gar langsam meinem Ziel. Unserer Freundschaft
eignete etwas seltsam Gespenstisches -- Liebe, die Herrschaft des
Winters, Sorgen und angstvolle Erwartung ...


                               Bei Nella

Enno war seit ihrer frühesten Jugend mit Netti befreundet gewesen und
wußte mir über sie viel zu erzählen. Während eines unserer Gespräche
wurden Nettis und Sternis Namen in einer gewissen Verbindung genannt,
die mir merkwürdig erschien. Als ich darauf eine direkte Frage stellte,
überlegte Enno eine Weile, wurde schier verwirrt und erwiderte
schließlich:

»Netti war früher Sternis Frau. Wenn sie Ihnen dies nicht gesagt hat, so
steht mir kein Recht zu, darüber zu reden. Ich beging offensichtlich
einen Irrtum und Sie dürfen mich nicht weiter befragen.«

Das Vernommene erschütterte mich seltsam ... Eigentlich war es ja nichts
Neues, Unerwartetes ... Ich hatte niemals angenommen, daß ich Nettis
erster Mann sei. Es wäre Torheit gewesen, zu glauben, daß eine
lebensvolle, gesunde Frau mit schönem Leib und schöner Seele, das Kind
einer freien, hochkultivierten Rasse, bis zu unserer Begegnung ohne
Liebe gelebt habe. Weshalb also meine unbegreifliche Verblüffung? Ich
vermochte keine Erklärung dafür zu finden, kannte bloß ein Gefühl: ich
müsse alles erfahren, alles genau und klar wissen. Enno zu befragen,
ging offensichtlich nicht an. Ich erinnerte mich an Nella.

Netti hatte vor ihrer Abfahrt zu mir gesprochen: »Vergiß Nella nicht;
suche sie auf in deinen schweren Augenblicken.« Ich hatte schon mehr als
einmal daran gedacht, zu Nella zu gehen, war aber zum Teil durch meine
Arbeit, zum Teil durch die unklare Angst vor den Hunderten von
neugierigen Kinderaugen zurückgehalten worden. Jetzt jedoch schwand
jegliche Unentschlossenheit; noch am gleichen Tag begab ich mich nach
dem Haus der Kinder, in die große Maschinenstadt.

Nella ließ sogleich ihre Arbeit liegen, bat eine der Erzieherinnen, sie
zu vertreten und führte mich in ihre Stube, wo uns die Kinder nicht
stören würden.

Ich beschloß, ihr nicht sofort den Zweck meines Besuches zu bekennen,
umsomehr, als mir dieser Zweck auch selbst nicht recht vernünftig und
ganz richtig erschien. Es war ja vollkommen natürlich, daß ich das
Gespräch auf jenes Wesen lenkte, das uns beiden das teuerste war, und
dann den günstigsten Augenblick für meine Frage abwartete. Nella
erzählte voller Eifer von Netti, deren Kindheit und Jugend.

Ihre ersten Lebensjahre hatte Netti bei der Mutter verbracht, wie dies
auf dem Mars allgemein üblich war. Als dann die Zeit kam, da Netti ins
Haus der Kinder gebracht werden mußte, damit sie nicht den
erzieherischen Einfluß des Umgangs mit anderen Kindern entbehre, brachte
es Nella nicht übers Herz, sich schon von ihr zu trennen und lebte mit
ihr zusammen in dieser Anstalt, wo sie dann schließlich als Erzieherin
blieb. Das ergab sich zum Teil aus ihrem Spezialstudium: sie hatte sich
vornehmlich mit Psychologie befaßt.

Netti war ein lebhaftes, energisches, wildes Kind mit großem Wissens-
und Tatendurst. Am meisten interessierte und zog sie die geheimnisvolle
astronomische Welt jenseits des Planeten an. Die Erde, die zu erreichen
damals noch nicht gelungen war, und deren unbekannte Menschheit waren
Nettis Lieblingstraum, das Hauptthema ihrer Gespräche mit den anderen
Kindern und den Erwachsenen.

Als der Bericht über Mennis erste erfolgreiche Expedition nach der Erde
veröffentlicht wurde, verlor das kleine Mädchen vor Freude und Entzücken
fast den Verstand. Die kleine Netti kannte Mennis Bericht Wort für Wort
auswendig und quälte die Mutter sowie die Erzieherinnen ewig mit Fragen
über die ihr unverständlichen technischen Ausdrücke, die in dem Bericht
vorkamen. Netti verliebte sich in Menni, ohne ihn zu kennen, schrieb ihm
einen begeisterten Brief, flehte ihn unter anderem an, er möge sie zu
den Erdenkindern bringen, denen keine Erziehung zu Teil werde, sie
übernehme es, diese auf vortreffliche Art zu erziehen. Sie schmückte ihr
Zimmer mit Erdenbildern und den Porträts der Erdenmenschen und stürzte
sich auf das Studium der Erdensprachen, sobald die dazu nötigen Bücher
erschienen waren. Sie entrüstete sich über die Gewalt, mit der Menni und
dessen Gefährten dem ersten Erdenmenschen begegnet waren: sie hatten ihn
gefangen genommen, damit er ihnen beim Erlernen der Erdensprachen
behilflich sei; zur gleichen Zeit jedoch bedauerte sie heftig, daß Menni
und die seinen bei der Rückkehr in die Heimat den Erdenmenschen
freigelassen und nicht nach dem Mars mitgenommen hatten. Sie faßte den
festen Entschluß, eines Tages nach der Erde zu fliegen, und auf die
Scherze der Mutter, sie würde sich dort sicher mit einem Erdenmenschen
verheiraten, entgegnete sie sinnend: »Das ist sehr möglich.«

All diese Dinge hatte mir Netti niemals erzählt; in ihren Gesprächen
schien sie vielmehr der Vergangenheit auszuweichen. Selbstverständlich
konnte niemand, nicht einmal sie selbst, jene Dinge besser berichten,
als Nella. Bisweilen vergaß ich völlig meine Person, sah vor mir das
reizende kleine Mädchen mit den großen funkelnden Augen und der
rätselhaften Sehnsucht nach der fernen, fernen Welt ... Doch verging
diese Stimmung rasch, das Bewußtsein meiner Umgebung kehrte zurück und
damit auch die Erinnerung an den Zweck unseres Gesprächs; von neuem
drang eisige Kälte in meine Seele.

Als sich das Gespräch den letzten Jahren aus Nettis Leben zuwandte,
beschloß ich, meine Frage zu stellen, mich so ruhig und ungezwungen wie
nur möglich nach Nettis und Sternis Verhältnis zu erkundigen. Nella
dachte einen Augenblick lang nach.

»Also deshalb suchten Sie mich auf! ... Weshalb sagten Sie es nicht
gerade heraus?«

Unerbittliche Strenge klang aus ihrer Stimme. Ich schwieg.

»Selbstverständlich kann ich es Ihnen erzählen«, fuhr sie fort. »Es ist
eine ganz einfache Geschichte. Sterni war einer von Nettis Lehrern. Er
hielt den Jüngeren Vorträge über Mathematik und Astronomie. Als er von
seiner ersten Expedition nach der Erde zurückkehrte, -- ich glaube, dies
war Mennis zweite Expedition, -- hielt er eine Reihe Vorträge über
diesen Planeten und dessen Bewohner. Netti zählte zu seinen ständigen
Hörern. Die Geduld und Aufmerksamkeit, mit der er ihren ewigen Fragen
begegnete, brachte die beiden einander näher. Schließlich führte all
dies zu ihrer Verbindung. Beide waren grundverschiedene Charaktere. Das
Ergebnis der Verschiedenheit zeigte sich bald auch in ihrem Privatleben,
führte zur Entfremdung und schließlich zum Bruch. Das ist alles.«

»Sagen Sie mir, wann kam es zum Bruch?«

»Zum endgültigen Bruch kam es nach Lettas Tode. Die innige Freundschaft
zwischen Netti und Letta gab dazu den ersten Anstoß. Netti litt unter
Sternis analytisch kaltem Verstand; er zerstörte allzu systematisch und
hartnäckig alle Luftschlösser, alle Phantasien des Geistes und des
Gefühls, die für sie einen Teil des Lebens bedeuten. Unwillkürlich
suchte sie nach einem Menschen, der sich diesen Dingen gegenüber anders
verhielt. Und dem alten Letta eigneten ein selten teilnahmsvolles Herz
sowie ein schier kindlicher Enthusiasmus. Netti suchte in ihm jenen
Gefährten, dessen sie bedurfte: Letta hatte mit ihren Phantasien nicht
nur Geduld, sondern ließ sich auch häufig selbst von ihnen fortreißen.
Bei ihm konnte sie von der strengen selbstzerfleischenden Kritik Sternis
Erholung finden. Letta liebte gleich ihr die Erdenträume und Phantasien,
glaubte an die künftige Verbindung der beiden Welten, die eine herrliche
Blüte und eine gewaltige Lebenspoesie zur Folge haben würde. Als dann
Netti erfuhr, daß ein Mensch, in dessen Seele derartige Gefühle
verborgen lagen, niemals Frauenliebe und Zärtlichkeit kennen gelernt
habe, konnte sie sich damit nicht abfinden. Auf diese Art kam Nettis
zweiter Bund zustande.«

»Einen Augenblick«, unterbrach ich sie. »Verstehe ich Sie recht, Sie
sagten, Netti sei Lettas Frau gewesen?«

»Ja«, erwiderte Nella.

»Sie sagten aber doch, daß der endgültige Bruch mit Sterni erst nach
Lettas Tode erfolgte.«

»Ja; erscheint Ihnen dies unbegreiflich?«

»Nein, ich verstehe Sie, wußte bloß nicht darum.«

In diesem Augenblick wurde unser Gespräch unterbrochen. Eines der Kinder
hatte einen nervösen Anfall erlitten und einer der Schüler rief Nella.
Ich blieb eine Zeitlang allein. Die Gedanken wirbelten durch meinen
Kopf; mir war so seltsam zumute, daß ich dies in Worten nicht
auszudrücken vermag. Weshalb eigentlich? Es war doch nichts Besonderes
vorgefallen. Netti war ein freier Mensch, hatte als freier Mensch
gehandelt. Letta ist ihr Mann gewesen? Ich hatte ihn stets verehrt, für
ihn warme Zuneigung empfunden, hätte ihn selbst dann geliebt, wenn er
sich nicht für mich geopfert haben würde. Netti war also gleichzeitig
mit zwei Genossen verheiratet gewesen? Ich hatte immer gefunden, daß die
Monogamie in unserer Welt ausschließlich den wirtschaftlichen
Bedingungen entspringe, die den Menschen bei jedem Schritt begrenzen und
hemmen. Hier existierten diese Bedingungen nicht, auf dem Mars
herrschten andere Verhältnisse, die dem persönlichen Gefühl und den
persönlichen Verbindungen keine Fesseln anlegten. Woher kam aber meine
Erregung und der unbegreifliche Schmerz, über den ich aufschreien, dann
aber wieder lachen hätte mögen? Konnte ich das, was ich _dachte_, nicht
auch _fühlen_? Anscheinend nicht. Und mein eigenes Verhältnis zu Enno?
Wo blieb da meine Logik? Und was bin ich eigentlich? Welch törichte
Stimmung!

Ach ja, und auch dies berührte mich peinlich: weshalb hatte Netti nicht
mit mir darüber gesprochen? Wie viele Geheimnisse, wie viel Betrug
umgeben mich noch? Wie viele harren meiner in der Zukunft? Aber nein,
auch dies stimmt nicht! Geheimnisse, ja, aber kein Betrug. Ist aber
nicht auch schon das Geheimnis ein Betrug?

Derartige Gedanken wirbelten durch meinen Kopf, als sich die Tür öffnete
und Nella zurückkam. Sie las augenscheinlich von meinen Zügen ab, wie
schwer mir ums Herz war, denn der Ton, mit dem sie sich an mich wandte,
war frei von Strenge und Kälte.

»Es ist natürlich schwer«, meinte sie, »sich an die völlig fremden
Lebensbedingungen und an die Sitten einer anderen Welt zu gewöhnen, mit
der Sie keine Blutsverwandtschaft verbindet. Sie haben bereits in dieser
Beziehung manchen Sieg errungen, finden Sie sich nun auch in diese
Dinge. Netti glaubt an Sie, und mir scheint, daß sie recht hat. Ist etwa
Ihr Vertrauen zu Netti, Ihr Glaube an sie schwankend geworden?«

»Weshalb verbarg sie diese Tatsache vor mir? Wo blieb da ihr Glaube? Ich
begreife sie nicht.«

»Ich weiß nicht, weshalb sie so handelte. Doch bin ich davon überzeugt,
daß sie hierfür gewichtige und edle Gründe hatte, es keineswegs aus
kleinlichen Motiven tat. Vielleicht vermag Sie dieser Brief aufzuklären.
Sie ließ ihn mir für den Fall zurück, daß wir ein derartiges Gespräch
führen sollten, wie wir es heute taten.«

Der Brief war in meiner Muttersprache geschrieben, die Netti so gut
beherrschte. Ich las folgendes:

»Mein Lenni! Ich sprach niemals mit Dir über meine früheren persönlichen
Verhältnisse, doch geschah es keineswegs deshalb, weil ich Dir
irgendetwas aus meinem Leben verheimlichen wollte. Ich vertraue fest auf
Deinen klaren Kopf und Dein edles Herz; zweifle gar nicht daran, daß Du,
wie auch immer fremd und ungewohnt unsere Sitten für Dich sein mögen,
sie zu verstehen und richtig zu werten vermagst.

Eines jedoch fürchtete ich ... Nach der Krankheit kehrte Deine
Arbeitskraft rasch zurück, jenes seelische Gleichgewicht hingegen, von
dem in jeder Minute die Selbstbeherrschung in Wort und Tat abhängt, hast
Du noch nicht völlig wiedererlangt. Würdest Du Dich, beeinflußt vom
Augenblick und von der elementaren Gewalt, die in der Tiefe jeder
Menschenseele verborgen liegt, mir gegenüber wie gegen eine schlechte
Frau verhalten, die sich aus der Vergewaltigung und Sklaverei der alten
Welt befreit hat -- Du würdest es Dir selbst niemals verzeihen. Ja,
Teuerster, ich weiß es, Du bist gegen Dich selbst streng, bisweilen
sogar grausam -- diesen Zug brachtest Du aus Eurer harten Schule mit,
aus den jahrhundertealten Kämpfen der Erdenwelt -- eine einzige Sekunde
böser, schmerzlicher Entzweiung würde genügen, um in Deinem Herzen auf
unsere Liebe für immer einen dunklen Schatten zu werfen.

Mein Lenni, ich will und kann Dich beruhigen. Möge in Deiner Seele ewig
schlummern und niemals erwachen jenes böse Gefühl, das in die Liebe zu
einem Menschen die Unruhe und Sorge um ein lebendiges Eigentum mischt.
Ich werde _keine persönlichen_ Verhältnisse mehr haben. Das vermag ich
Dir leicht und mit Bestimmtheit zu versprechen, weil im Vergleich zu
meiner Liebe für Dich, zu dem leidenschaftlichen Wunsch, Dir bei Deiner
großen lebendigen Aufgabe zu helfen, alles andere gering und nichtig
erscheint. Ich liebe Dich nicht nur wie eine Gattin, sondern auch wie
eine Mutter, die ihr Kind in ein neues und ihm fremdes Leben einführt,
das voller Gefahren und Mühen ist. Diese Liebe aber ist stärker und
tiefer, als irgendeine andere Liebe zwischen Mensch und Mensch. Deshalb
bedeutet auch mein Versprechen kein Opfer.

                        Auf Wiedersehen, mein teueres, geliebtes Kind,
                                                         Deine Netti.«

Als ich den Brief zu Ende gelesen hatte, blickte mich Nella fragend an.

»Sie hatten Recht«, sprach ich und küßte ihr die Hand.


                             Auf der Suche

Der oben geschilderte Vorfall ließ in meiner Seele das Gefühl tiefster
Demütigung zurück. Noch weit schmerzlicher als früher empfand ich die
Ueberlegenheit meiner Umgebung, in der Fabrik und überall. Zweifellos
übertrieb ich diese Ueberlegenheit sowie das Gefühl der eigenen
Schwäche. Ich begann in der mich umgebenden Dienstbereitschaft und
Fürsorge eine leichte Färbung halb verächtlicher Herablassung zu sehen,
in der vorsichtigen Zurückhaltung meiner Arbeitsgefährten eine heimliche
Abneigung gegen das niedrigere Wesen. In einer derartigen Stimmung
verlor ich die Fähigkeit genauer Beobachtung und richtiger Wertung.

In allen anderen Beziehungen blieben meine Gedanken klar, arbeiteten nun
vor allem an dem Problem, das sich auf Nettis Abreise bezog. Ich fühlte
immer stärker die Ueberzeugung, daß es für Nettis Teilnahme an der
Expedition ein mir noch unbekanntes Motiv gab, eines, das stärker und
gewichtiger war, als jene, die sie mir gegenüber vorgebracht hatte. Der
neue Beweis von Nettis Liebe und von der ungeheueren Bedeutung, die sie
meiner Mission, die zwei Welten einander nahe zu bringen, beilegte,
bestärkte mich in der Annahme, daß sie sich ohne zwingende Gründe nicht
entschlossen haben würde, mich für lange Zeit auf dem tiefen, durch
Sandbänke und Klippen gefahrvollen Meer des fremden Lebens allein zu
lassen, mußte doch ihr heller und scharfer Verstand besser als jeder
andere begreifen, welche Gefahren mich hier bedrohten. Es gab _etwas_,
um das ich nicht wußte, doch war ich fest überzeugt, dieses Etwas stehe
in enger Verbindung mit mir, und es sei nötig, um jeden Preis zu
erfahren, worum es sich handle.

Ich beschloß, systematisch Nachforschungen anzustellen. Es fielen mir
Beobachtungen ein, zu denen mich einige zufällige und unwillkürliche
Andeutungen Nettis veranlaßt hatten: der beunruhigte Ausdruck, der auf
ihrem Gesicht lag und mich in Erstaunen versetzte, sobald die Rede auf
die Kolonialexpeditionen kam; ich begann zu ahnen, daß Netti sich zu
unserer Trennung nicht erst damals entschlossen hatte, als sie mir davon
sprach, sondern bereits weit früher, schon in den ersten Tagen unserer
Vereinigung. Demnach mußte der Grund aus jener Zeit stammen. Wo aber war
er zu suchen?

Er konnte eine rein persönliche Angelegenheit Nettis sein, konnte aber
auch mit der besonderen Bedeutung der Expedition zusammenhängen. Die
erste Annahme erschien mir, nachdem ich Nettis Brief gelesen hatte,
unwahrscheinlich. Vor allem galt es also, die Einzelheiten zu
erforschen, mit jenen zu beginnen, die die Geschichte dieser
Expeditionen zu erklären vermochten.

Es verstand sich von selbst, daß die Expedition auf den Beschluß der
»Kolonialgruppe« zurückzuführen war. -- Diesen Namen trug
die Vereinigung jener Arbeiter, die aktive Teilnehmer der
interplanetarischen Reisen waren, zusammen mit dem Vorsitzenden des
Zentralen statistischen Bureaus und jener Fabriken, die die Aetheroneffs
herstellten, sowie alle für die Expedition unentbehrlichen Mittel. Ich
wußte, daß die letzte Sitzung der »Kolonialgruppe« während meiner
Krankheit stattgefunden hatte. Menni und Netti hatten an ihr
teilgenommen. Damals befand ich mich bereits auf dem Wege der Genesung,
langweilte mich ohne Netti und verlangte, ebenfalls der Sitzung
beizuwohnen. Netti jedoch erwiderte, dies wäre gefährlich für meine
Gesundheit. Hing diese »Gefahr« vielleicht von etwas ab, das ich nicht
wissen durfte? Ich mußte demnach das Protokoll der Sitzung lesen, dort
alles suchen, was mit dieser Frage in Zusammenhang stehen konnte.

Doch stieß ich bereits hier auf Schwierigkeiten. In der
Kolonialbibliothek wurde mir nur die auf der Sitzung gefaßte Resolution
vorgelegt. In dieser Resolution wurde bis in alle Einzelheiten die ganze
Organisation des grandiosen Unternehmens geschildert, doch fand ich
nirgends das, was mich im Augenblick interessierte. Ich erhielt auf
meine Fragen keine Antwort. Die Resolution wurde ohne jedes Motiv
wiedergegeben, ohne irgendeinen Hinweis auf die Ausführungen, die ihr
vorangegangen waren. Als ich dem Bibliothekar erklärte, ich wolle das
Protokoll, erwiderte er, das Protokoll werde nicht veröffentlicht,
außerdem würden detaillierte Protokolle überhaupt nicht geführt, wie
dies auch bei den technischen Sitzungen der Fall sei.

Auf den ersten Blick erschien mir dies richtig. Die Marsbewohner
veröffentlichten meist nur die »_Beschlüsse_« dieser Sitzungen, sie
nahmen an, daß jede dort geäußerte verständige und nützliche Ansicht,
sowie gegenteilige Meinungen und Auffassungen besser in Artikeln,
Broschüren, Büchern usw. verfochten werden konnten, als in einer kurzen
Rede. Ueberhaupt behagte es den Marsbewohnern nicht, die »Literatur«
übermäßig zu vermehren und man suchte bei ihnen vergeblich etwas, das
unserer »Arbeitskommission« gleichkam; sie bemühten sich, alles so wenig
umfangreich wie möglich zu gestalten. Im gegebenen Fall jedoch schenkte
ich den Worten des Bibliothekars keinen Glauben. Auf dieser Sitzung
hatte es sich um große und gewichtige Dinge gehandelt, als daß man sie
der öffentlichen Beurteilung hätte entziehen können, wie das bei den
gewöhnlichen technischen Fragen der Fall war.

Ich versuchte selbstverständlich mein Mißtrauen zu verbergen, um
keinerlei Verdacht zu erregen, vertiefte mich ergeben in das mir
gewährte Material und entwickelte unterdessen den Plan meines weiteren
Vorgehens.

Es war offensichtlich, daß ich von den Büchern der Bibliothek nicht jene
erhalten würde, deren ich bedurfte; entweder gab es über diese
Angelegenheit gar kein Protokoll, oder aber der Bibliothekar war auf
meine Fragen vorbereitet gewesen und versteckte es vor mir. Doch blieb
noch die Phonographen-Abteilung der Bibliothek übrig.

Dort konnten auch jene Protokolle, die nicht zur Veröffentlichung
freigegeben wurden, gefunden werden. Der Phonograph ersetzte bei den
Marsbewohnern häufig die Stenographie, und in den Archiven wurden viele
phonographische Platten der verschiedenen wichtigen Versammlungen
aufbewahrt.

Ich benützte den Augenblick, da der Bibliothekar in seine Arbeit
vertieft war und verfügte mich unbemerkt in die Phonographen-Abteilung.
Dort erbat ich von dem diensthabenden Genossen den Katalog der Platten.
Er gab ihn mir.

Aus dem Katalog ersah ich gar bald die Nummer der Platte der mich
interessierenden Sitzung und ich begab mich unter dem Vorwand, daß ich
den Genossen nicht belästigen wolle, selbst auf die Suche. Auch hier
errang ich einen Erfolg.

Es gab von dieser Sitzung fünfzehn Phonogramme. An jeder der Platten war
entsprechend dem hier üblichen Brauch ein Inhaltsverzeichnis befestigt.
Ich studierte rasch diese Verzeichnisse.

Die fünf ersten waren den Berichten über die Expedition gewidmet,
stammten noch aus einer früheren Sitzung und beschäftigten sich mit
technischen, den Aetheroneff betreffenden Fragen.

Die Ueberschrift der vierten Platte lautete:

»Vorschlag des Zentralen statistischen Bureaus für den Uebergang zur
Massenkolonisation. Wahl der Planeten -- Erde oder Venus. Reden und
Vorschläge Sternis, Nettis, Mennis und anderer. Beschluß zu Gunsten der
Venus.«

Ich fühlte, dies sei, was ich suche und steckte die Platte in den
Apparat. Was ich nun vernahm, schnitt mir für ewige Zeiten in die Seele.
Es war Folgendes.

Menni eröffnete die Sitzung als Vorsitzender des Kongresses. Als erster
ergriff der Vorsitzende des Zentralen statistischen Bureaus das Wort.

Er bewies auf Grund genauer Zahlen, daß bei der gegebenen Vermehrung der
Bevölkerung und der Steigerung ihrer Bedürfnisse selbst für den Fall,
daß die Marsbewohner die Ausbeutung ihres Planeten einschränkten, in
etwa dreißig Jahren ein Mangel an Lebensmitteln eintreten müsse. Dieser
Gefahr vermöchte freilich die Entdeckung der Synthese des Eiweiß aus
unorganischen Stoffen zu begegnen, doch könne niemand dafür bürgen, daß
diese Entdeckung in den nächsten dreißig Jahren gemacht würde. Deshalb
sei es unbedingt nötig, daß die Kolonialgruppe von den rein
wissenschaftlichen Expeditionen nach anderen Planeten zur Organisation
einer Massenauswanderung der Marsbewohner übergehe. In Frage kämen zwei
vom Mars aus erreichbare Planeten, beide reich an Naturschätzen. Es
müsse schleunigst beschlossen werden, welcher der beiden als Zentrum der
Kolonisation zu wählen sei, damit dann sofort an die Ausarbeitung des
Planes gegangen werden könne.

Menni stellte die Frage, ob jemand gegen den Antrag des Redners oder
gegen dessen Motivierung etwas einzuwenden habe. Doch verlangte niemand
das Wort.

Dann warf Menni die Frage auf, welcher Planet als erster für die
Massenkolonisation gewählt werden solle.

Sterni ergriff das Wort.


                                 Sterni

»Die erste, von dem Vorsitzenden des Zentralen statistischen Bureaus
gestellte Frage«, hub Sterni in seinem üblichen, mathematisch nüchternen
Ton an, »bezieht sich auf die Wahl des zu kolonisierenden Planeten.
Meiner Ansicht nach bedarf es hier gar keiner Entscheidung, denn die
Wahl wurde schon längst von der Wirklichkeit getroffen. Es hat gar
keinen Sinn, zwischen den zwei Planeten wählen zu wollen, denn von den
beiden uns erreichbaren ist für die Massenkolonisation bloß der eine
geeignet: und zwar die Erde. Wir besitzen über die Venus eine
ausführliche Literatur, mit der Sie alle selbstverständlich gut bekannt
sind. Das Ergebnis aller unserer Versammlungen und Beratungen war stets
das gleiche: es ist uns unmöglich, in diesem Augenblick von der Venus
Besitz zu ergreifen. Ihre versengende Sonne erschöpft und schwächt
unsere Kolonisten, ihre furchtbaren Stürme und Gewitter zerstören unsere
Bauten, schleudern unsere Aeroplane in den Raum, zerschmettern sie an
den riesenhaften Bergen. Mit ihren Ungeheuern vermöchten wir, freilich
um den Preis nicht geringer Opfer, fertig zu werden; aber ihre
unglaublich reiche Bakterienwelt, mit der wir noch ungenügend bekannt
sind -- wie viele neue Krankheiten vermag diese in sich zu bergen? Ihre
Vulkane befinden sich noch in Tätigkeit; wie viele unerwartete Erdbeben,
Lavaströme, Sturzfluten würden uns dort bedrohen? Der Versuch, die Venus
zu kolonisieren, würde unzählige und völlig nutzlose Opfer fordern,
Opfer, nicht der Wissenschaft und dem Glück der Allgemeinheit gebracht,
sondern der Unvernunft und Phantasterei. Diese Frage erscheint mir
völlig klar, und der Bericht über die letzte Expedition nach der Venus
zerstört endgültig alle Zweifel.

Wenn es sich also um eine Massenauswanderung handelt, so kommt dafür nur
die Erde in Betracht. Dort sind die durch die Natur bedingten
Hindernisse gering, der Reichtum der Natur ist grenzenlos, übertrifft
den unseres Planeten um das achtfache. Die Kolonisation selbst ist
bereits durch die auf der Erde lebenden Wesen gut vorbereitet,
wenngleich diesen Erdengeschöpfen eine höhere Kultur mangelt. All dies
ist dem Zentralen statistischen Bureau wohlbekannt. Wenn es uns daher
vorschlägt, die Wahl des Planeten zu treffen und wir es auch selbst für
nötig halten, so besteht dafür ein einziger Grund, nämlich, daß sich uns
auf der Erde ein äußerst ernstes Hindernis entgegenstellt: ihre
Menschheit.

Die Erdenmenschen bewohnen die ganze Erde, werden auf keinen Fall bereit
sein, sie gutwillig, und sei es auch nur einen Teil, an uns abzutreten.
Das hängt mit dem ganzen Charakter ihrer Kultur zusammen, deren Basis
der Besitz und die organisierte Gewalt sind. Wenngleich selbst die
zivilisiertesten Völker der Erde bloß einen geringen Teil der ihnen
erreichbaren Schätze der Natur ausbeuten, so verlangt es sie dennoch
immer nach der Eroberung weiterer Territorien, und diese Gier schwächt
sich niemals ab. Der systematisch betriebene Raub der Länder und des
Besitzes der weniger zivilisierten Völker trägt bei ihnen die
Bezeichnung Kolonialpolitik und wird als eine der Hauptaufgaben des
staatlichen Lebens betrachtet. Man kann sich demnach vorstellen, wie
sich die Erdenmenschen unserem ganz natürlichen und vernünftigen
Vorschlag gegenüber verhalten würden: uns einen Teil ihres Gebietes
abzutreten, wofür wir sie lehren und ihnen behilflich sein würden, den
ihnen gebliebenen Teil in unvergleichlich höherem Maße auszunützen ...
Für sie ist die Kolonisation eine Frage der rohen Kraft und der
Vergewaltigung und wir wären, ob wir nun wollen oder nicht, gezwungen,
ihnen gegenüber ebenfalls diesen Standpunkt einzunehmen.

Handelte es sich hier ausschließlich darum, ihnen ein einziges Mal
unsere größere Kraft zu beweisen, so wäre dies sehr einfach und würde
nicht mehr Opfer kosten, als die bei ihnen so beliebten unsinnigen,
nutzlosen Kriege. Es existiert bei ihnen eine gewaltige Herde für den
Mord dressierter Leute, die mit dem Wort Armee bezeichnet wird. Freilich
vermöchten wir vom Aetheroneff aus vermittels der verderblichen, durch
die beschleunigte Spaltung des Radiums erzeugten Lichtfluten in wenigen
Augenblicken ein oder zwei dieser Herden zu vernichten, und dies wäre
für die Zivilisation der Erde weit mehr nützlich als schädlich. Leider
jedoch ist das, was nachher käme, lange nicht so einfach, die wahren
Schwierigkeiten würden erst mit diesem Augenblick beginnen.

In dem jahrhundertealten Kampf der Erdenvölker gegen einander
entwickelte sich bei ihnen eine psychologische Eigenheit, die
Patriotismus heißt. Dieses unbestimmbare, aber starke und tiefe Gefühl
enthält ebensowohl boshaftes Mißtrauen gegen alle Völker und Rassen, als
auch eine schier elementare Anhänglichkeit für die Sitten und Gebräuche
der eigenen Umgebung. Besonders ist dies in jenen Ländern der Fall, wo
die Erdenvölker gleich Schildkröten mit ihrer Umgebung verwachsen sind;
oft aber ist dieser Patriotismus nichts anderes, als die Gier nach
Zerstörung, Vergewaltigung und Raub. Die patriotische Einstellung wird
besonders stark nach kriegerischen Niederlagen; nehmen die Sieger den
Besiegten einen Teil ihres Landes fort, dann nimmt der Patriotismus
dieser Besiegten den Charakter eines hartnäckigen und grausamen Hasses
gegen die Sieger an, und die Rache wird zum Lebensideal des ganzen
Volkes, nicht nur der schlechteren Elemente, der »oberen«, der
reaktionären Klassen, sondern auch der besten, der Arbeitermassen.

Wenn wir uns nun eines Teiles der Erdoberfläche durch Gewalt
bemächtigten, so würde dies zweifellos zu einer Vereinigung aller
Erdenmenschen in einem einzigen Gefühl des Erdenpatriotismus führen, zu
einem unbarmherzigen Rassenhaß, zu wilder Wut gegen unsere Kolonisten;
die Ausrottung der Eindringlinge, gleichviel mit welchen Mitteln, bis
zum gemeinsten Verrat, würde als heilige und edle Sache gelten, die
unsterblichen Ruhm verleiht. Unseren Kolonisten würde das Leben
unerträglich gemacht werden. Sie wissen, daß die Vernichtung des Lebens
selbst bei einer niederen Kulturstufe etwas äußerst einfaches ist. Im
offenen Kampf sind wir unvergleichlich stärker als die Erdenmenschen,
dennoch vermöchten sie durch unerwartete Ueberfälle uns ebenso zu töten,
wie sie dies untereinander zu tun pflegen. Außerdem darf nicht außer
acht gelassen werden, daß bei ihnen die Kunst der Zerstörung weit
stärker entwickelt ist, als irgendetwas anderes in ihrer Kultur.

Unter diesen Umständen wäre das Leben auf der Erde geradezu unmöglich;
es würde auf ihrer Seite Verschwörungen und Terror, auf der unserer
Genossen beständige Gefahr und unzählige Opfer bedeuten. Diese müßten
sich zu zehn oder vielleicht sogar hundert Millionen ansiedeln. Bei dem
auf der Erde herrschenden gesellschaftlichen System, das keine
gegenseitige Hilfe kennt, bei den dort herrschenden sozialen
Verhältnissen, Dienste und Hilfe mit Geld zu entlohnen, bei der
unzulänglichen und verschwenderischen Art der Produktion, die sich nicht
rasch genug auf die gewaltige Vermehrung der Bewohner einzustellen
vermöchte, würden Millionen der von uns Vertriebenen größtenteils zu
einem schmerzlichen Hungertod verdammt sein. Die Minderheit des
kolonisierten Teiles würde gegen uns bei der übrigen Erdenmenschheit
eine grausam fanatische Agitation betreiben.

Wir müßten also den Kampf fortsetzen. Unser ganzer Erdenteil müßte sich
in ein uneinnehmbares, festes Kriegslager verwandeln. Die Angst vor
künftigen Eroberungen unsererseits, sowie der starke Rassenhaß würden
alle Erdenvölker dazu vereinigen, sich auf einen Krieg gegen uns
vorzubereiten. Sind schon heute ihre Waffen weit vollkommener als ihre
Arbeitswerkzeuge, so würde in diesem Fall die technische Vervollkommnung
der Mordinstrumente mit rasender Schnelligkeit vor sich gehen. Zu
gleicher Zeit würden sie absichtlich eine Ursache für den Beginn des
gewaltigen Krieges herbeiführen und erzwingen, eines Krieges, der für
uns, selbst im Falle eines Sieges, ungeheure Verluste bedeutete. Es ist
nicht ausgeschlossen, daß ihnen auch die Aneignung und Verwertung
unserer besten Mittel gelingen könnte. Sie kennen bereits die
radiumausstrahlenden Stoffe; die Methode der beschleunigten Spaltung
vermöchten sie vielleicht irgendwie durch uns erfahren, oder aber ihre
Gelehrten könnten diese selbst entdecken. Es ist Ihnen allen bekannt,
daß bei Anwendung dieser Waffen jener, der auch nur um wenige Minuten
früher angreift als der Feind, diesen unweigerlich vernichtet; in diesem
Fall erfolgt das Zerstören des höchsten Lebens ebenso leicht, wie durch
ein Elementarereignis.

Welch ein Leben müßten unsere Genossen führen, umgeben von diesen
Gefahren, gefoltert von der ewigen Erwartung ähnlicher Ueberfälle? Nicht
nur alle Lebensfreude würde ihnen vergällt, nein, sogar ihr Typus würde
sich verändern, verschlechtern. Allmählich schlichen sich in sie
Argwohn, Mißtrauen ein, der egoistische Trieb der Selbsterhaltung und
die von ihm unzertrennliche Grausamkeit. Die Kolonie würde aufhören,
_unsere_ Kolonie zu sein, würde sich in eine kriegerische Republik
inmitten der geschlagenen, von Feindseligkeit erfüllten Völker
verwandeln. Die sich wiederholenden blutige Opfer fordernden Ueberfälle
würden immer mehr das Gefühl der Rache und der Feindschaft vergrößern,
das uns teure Bild des Menschen entstellen und unsere Leute wären,
objektiv gesprochen, aus Notwehr gezwungen, die grausamsten Mittel
anzuwenden. Schließlich, nach langem Schwanken und einer qualvollen
Kräftevergeudung, müßten wir unvermeidlich zu jener Lösung der Frage
gelangen, die wir bereits von allem Anfang an hätten anerkennen müssen:
_die Kolonisierung der Erde fordert die völlige Ausrottung der
Erdenmenschen_.«

(Unter den hundert Zuhörern entstand ein Gemurmel des Entsetzens, aus
dem sich Nettis mißbilligender Protest laut abhob. Als die Ruhe wieder
hergestellt war, fuhr Sterni gelassen fort:)

»Das Unvermeidliche muß _begriffen_, und, wie hart auch immer es
erscheint, es muß ihm ins Auge gesehen werden. Es gibt für uns zwei
Möglichkeiten: entweder eine Stagnation in der Entwicklung unseres
Lebens oder die Vernichtung des uns fremden Lebens auf der Erde. Ein
drittes gibt es nicht. (Nettis Stimme durchklang den Raum: »Das ist
nicht wahr!«) Ich weiß, woran Netti denkt, wenn sie gegen meine Worte
protestiert und gehe auch schon zu der dritten Möglichkeit über, die sie
im Auge hat.

Diese aber ist -- der sofortige Versuch einer sozialistischen Erziehung
der Erdenmenschheit, ein Plan, den wir alle noch unlängst befürwortet
haben, der aber, meiner Ansicht nach, unbedingt aufgegeben werden muß.
Wir kennen die Erdenmenschheit nun schon zur Genüge, um einzusehen, daß
diese Idee völlig sinnlos sei.

Die Kulturstufe der führenden Erdenvölker ist etwa die gleiche, wie die
unserer Vorfahren zur Zeit der großen Kanalbauten gewesen ist. Auf der
Erde herrscht das Kapital, und es gibt ein Proletariat, das für den
Sozialismus kämpft. Deshalb könnte man glauben, daß der Augenblick jener
Umwälzung nicht mehr ferne sei, die die organisierte Gewalt vernichtet
und die Möglichkeit einer freien und raschen Entwicklung des Lebens
gibt. Doch besitzt der Erdenkapitalismus eine wichtige Eigenheit, die
die Sache völlig verändert.

Einerseits ist die ganze Erdenwelt in politische und nationale Teile
gespalten, so daß der Kampf um den Sozialismus nicht als einheitlicher
vollkommener Prozeß einer Riesengesellschaft vor sich geht, sondern eine
ganze Reihe selbständiger, eigenartiger Prozesse darstellt, geführt in
den verschiedenen Staaten der Gesellschaft, die durch ihre staatliche
Organisation, durch die Sprache und die Rasse getrennt sind. Andrerseits
ist auf der Erde die Form des Klassenkampfes weit gröber und
mechanischer, als dies bei uns der Fall gewesen ist, und die gleichsam
materielle Kraft, verkörpert durch das stehende Heer und die bewaffneten
Aufstände, spielt dabei eine große Rolle.

Aus allen diesen Umständen ergibt sich, daß die Frage der sozialen
Revolution eine unbestimmbare ist: voraussichtlich wird es nicht eine,
sondern verschiedene soziale Revolutionen geben, in den verschiedenen
Ländern und zu verschiedenen Zeiten. Ja, diese Revolutionen werden sogar
einen verschiedenen Charakter haben, sowie einen unsicheren, nicht
festzustellenden Ausgang. Die herrschenden Klassen verfügen über die
Armee und eine hochentwickelte Kriegstechnik und vermögen daher in
gewissen Fällen dem aufständischen Proletariat eine vernichtende
Niederlage beizubringen, die in den großen Reichen den Kampf für den
Sozialismus auf zehn Jahre zurückwirft. Derartige Fälle finden wir
bereits in den Schriften der Erde erwähnt. Außerdem wird die Lage jener
Länder, in denen der Sozialismus triumphiert hat, die einer Insel sein,
umgeben von ihr feindlichen kapitalistischen Staaten, zum Teil sogar von
Staaten, die noch nicht die Phase des Kapitalismus erreicht haben. Um
ihre Herrschaft bangend, werden die besitzenden Klassen der nicht
sozialistischen Länder alle Anstrengungen machen, um diese Insel zu
zerstören, sie werden unaufhörlich kriegerische Ueberfälle gegen sie
organisieren und sogar bei den sozialistischen Nationen genügend
Verbündete finden, die, den früheren besitzenden Klassen angehörend, zu
jedem Verrat bereit sind. Das Ergebnis dieser Kämpfe ist schwer
vorauszusagen. Aber selbst dort, wo sich der Sozialismus kräftigt und wo
er siegreich vordringt, wird sein Charakter auf viele Jahre hinaus
getrübt werden, durch Terror, Kampf, sowie durch einen unvermeidlichen
barbarischen Patriotismus. Dieser Sozialismus steht dem unseren äußerst
fern.

Unsere Pflicht wäre demnach, falls wir an dem ersten Plan festhalten,
ausschließlich für den beschleunigten Sieg des Sozialismus zu wirken.
Welche Mittel stehen uns hierfür zur Verfügung? Wir vermögen den
Erdenmenschen unsere Technik zu geben, unsere Wissenschaft, unser Wissen
um die Beherrschung der Natur, sowie unsere Kultur, die mit den
wirtschaftlichen und politischen Formen der Erde im schroffsten
Widerspruch steht. Wir können auch das sozialistische Proletariat bei
seinem revolutionären Umsturz unterstützen und ihm helfen, den
Widerstand der übrigen Klassen zu brechen. Ueber andere Mittel verfügen
wir nicht. Werden aber diese beiden zum Ziel führen? Wir wissen heute
bereits genug von der Erde, um diese Frage mit einem endgültigen Nein
beantworten zu können.

Was würden die Erdenmenschen mit unserem technischen Wissen und unseren
Methoden anfangen?

Vor allem würden sich deren die _besitzenden_ Klassen aller Länder
bemächtigen. Dies wäre unvermeidlich, weil sich ja in ihren Händen alle
Produktionsmittel befinden und weil ihnen neunzig- bis hunderttausend
Gelehrte und Ingenieure zu Diensten stehen; das aber bedeutete, daß
ihnen alle _Möglichkeiten_ der neuen Industrie gehörten. Sie jedoch
würden diese nur insofern ausnützen, als es für sie vorteilhaft wäre und
ihre Macht über die Massen stärkt. Noch eines: jene gewaltigen neuen
Zerstörungsmittel, die ihnen auf diese Art in die Hände fielen, würden
sie zur Erdrosselung des sozialistischen Proletariats verwenden. Sie
würden es verfolgen, würden eine Provokation in grandiosem Maßstab
organisieren, um das Proletariat so rasch wie möglich zum offenen Kampf
zu zwingen und in diesem Ringen dessen beste und klügste Kräfte zu
morden, falls es diesem nicht gelänge, seinerseits bessere Kampfmethoden
zu finden. Derart würde unsere Einmischung in die Angelegenheiten der
Erde bloß der Reaktion von oben einen Antrieb geben und ihr zu gleicher
Zeit Waffen von ungeheurer Gewalt in die Hände spielen. Das aber würde
zumindest auf zehn Jahre den Fortschritt des Sozialismus hemmen.

Und was würden wir erreichen, wenn wir das sozialistische Proletariat
gegen seine Feinde unterstützten?

Angenommen, und dies ist keineswegs gewiß, daß es sich mit uns
verbündet. Die ersten Siege würden leicht errungen werden. Aber dann?
Die unvermeidliche Entwicklung des Patriotismus bei den anderen Klassen
würde sich gegen uns und gegen die Sozialisten der Erde wenden ... Das
Proletariat aber stellt noch in den meisten Ländern der Erde die
Minderheit dar, die Mehrheit hingegen besteht aus den in ihrer
Entwicklung zurückgebliebenen Kleinbürgern, aus dunklen, unwissenden
Menschen. Diese gegen das Proletariat zu verhetzen, wird den
Großkapitalisten und deren Söldlingen, den Beamten und Lehrern, nur
allzu leicht fallen. Umsomehr, als diese Massen, die dem Wesen nach
konservativ, häufig sogar reaktionär sind, eine krankhafte Angst vor dem
raschen Fortschritt empfinden. Das Proletariat sieht sich also auf allen
Seiten von erbosten, erbarmungslosen Feinden umgeben, die größere
Entwicklung des Proletariats verstärkt nur noch diese Feindseligkeit, es
befindet sich in der gleichen furchtbaren Lage, in der sich unsere
Kolonisten zwischen den Völkern der Erde befinden würden. Es wird zu
zahllosen verräterischen Ueberfällen kommen, die Stellung des
Proletariats in der Gesellschaft wird um so schwieriger sein, als es die
Erneuerung der Gesellschaft durchführen muß. Und auch in diesem Falle
wird unsere Einmischung die soziale Umwälzung verzögern, statt sie zu
beschleunigen.

Die Zeit der Umwälzung ist demnach nicht zu bestimmen, und es hängt
nicht von uns ab, sie früher herbeizuführen. Jedenfalls können wir nicht
so lange warten. Im Verlauf von dreißig Jahren zeigt sich bei uns eine
Vermehrung der Einwohner um fünfzehn bis zwanzig Millionen, die sich in
jedem folgenden Jahr auf zwanzig bis fünfundzwanzig Millionen steigern
wird. Es gilt daher, _schon früher_ die Kolonisation zu organisieren,
denn sonst werden uns die Kräfte und Mittel hierzu mangeln und wir
werden unser Unternehmen nicht im richtigen Maßstab durchführen können.

Uebrigens ist es auch äußerst ungewiß, ob wir uns mit den
sozialistischen Staaten der Erde, falls sich solche unerwartet bilden
sollten, zu verständigen vermögen. Wie bereits gesagt: ihr Sozialismus
ist noch lange nicht _unser Sozialismus_.

Die Jahrhunderte nationaler Unterdrückung, verstärkt durch die für uns
unbegreiflich rohen und blutigen Kriege, können nicht spurlos
vorübergehen, -- sie werden ihre psychologischen Spuren bei den
Erdbewohnern auf lange Zeit hinterlassen. Und wir wissen gar nicht, wie
viel Barbarei und Wildheit die Erdensozialisten mit sich in die neue
Gesellschaft hinübernehmen werden.

Wir haben vor Augen ein Beispiel, das uns klar ersichtlich beweist, wie
fern selbst die Psychologie des besten Vertreters der Erdenmenschheit
der unseren steht. Von unserer letzten Expedition brachten wir einen
Erdensozialisten mit, einen Mann, der sich in seiner Umgebung durch
Geisteskraft und körperliche Gesundheit auszeichnete. Und was ereignete
sich? Unser ganzes Leben erschien ihm dermaßen fremd, stand so sehr im
Widerspruch zu seinem Organismus, daß er in kürzester Zeit von einer
schweren psychischen Krankheit befallen wurde.

Dies ereignete sich bei einem der Besten, den Menni selbst ausgewählt
hatte; was können wir da von den übrigen erwarten?

Derart geraten wir in ein Dilemma: entweder wir müssen auf unserem
Planeten die Vermehrung beschränken, was mit einer Schwächung unserer
ganzen Lebensentwicklung gleichbedeutend wäre, oder aber wir müssen die
Erde kolonisieren, was die Ausrottung der ganzen Erdenmenschheit
bedingt.

Ich rede von der Ausrottung der ganzen Erdenmenschheit, weil wir auch
bei deren sozialistischen Avantgarde keine Ausnahmen gelten lassen
dürfen. Wir verfügen ja auch nicht über die technische Möglichkeit,
diese Avantgarde aus der übrigen Masse auszuscheiden, deren
unbedeutenden Teil sie darstellt. Aber selbst wenn es uns gelänge, die
Sozialisten zu schonen, so würden diese gegen uns einen unerbittlich
grausamen Krieg beginnen, sich selbst zur völligen Vernichtung
aufopfern, weil sie sich niemals mit dem Töten von hundert Millionen
Menschen abfinden könnten, die ihnen gleichen, und die mit ihnen durch
viele, häufig äußerst enge lebendige Bande verknüpft waren. Beim
Zusammenprall der beiden Welten gibt es kein Kompromiß.

Wir müssen die Wahl treffen. Und ich sage: wir haben bloß eine Wahl.

Das höhere Leben darf nicht dem niedern geopfert werden. Unter den
Erdenmenschen gibt es kaum etliche Millionen, die bewußte Stufen zu dem
wahrhaft menschlichen Leben sind. Um dieser Zellenwesen willen dürfen
wir nicht auf die Geburt von zehn, ja vielleicht von hundert Millionen
Wesen unserer Welt verzichten, Wesen, die in unvergleichlich höherem
Sinn des Wortes Menschen sind. Unser Vorgehen wird keineswegs grausam
sein, denn wir vermögen die Ausrottung der Erdenmenschen auf eine weit
weniger schmerzliche Art zu bewerkstelligen, als sie dies untereinander
zu tun gewohnt sind.

Das Weltenleben ist einheitlich. Es bedeutet daher keinen Verlust, wenn
sich auf der Erde anstelle des noch fernen, halb barbarischen
Sozialismus schon heute _unser_ Sozialismus verwirklicht, das
unvergleichlich harmonischere Leben mit seiner ununterbrochenen,
unbesieglichen Entwicklung.«

(Sternis Rede folgte tiefe Stille. Schließlich wurde sie von Menni
durchbrochen, der Anhänger einer anderen Ansicht aufforderte, sich zu
äußern. Netti ergriff das Wort.)


                                 Netti

»Das Weltenleben ist einheitlich, sprach Sterni. Und was schlug er uns
vor?

Einen einzigartigen Typus dieses Lebens auf ewig zu vernichten,
auszurotten, einen Typus, den wir niemals wiederbeleben, noch ersetzen
können.

Hundert Millionen Jahre lebte der schöne Planet, lebte sein besonderes
eigenes Leben, war anders als die übrigen ... Aus den mächtigen
Elementen ging das Bewußtsein hervor, erhob sich im grausamen und harten
Kampf von den niedersten Stufen zu den höchsten, bis zu der uns nahen,
verwandten _menschlichen Form_. Diese Form ist nicht _die gleiche_ wie
die unsere, wurde beeinflußt von der Geschichte einer anderen Natur,
eines anderen Kampfes; sie birgt in sich andere Gewalten, andere
Widersprüche, andere Entwicklungsmöglichkeiten. Nun brach die Epoche an,
da sich die Möglichkeit einer Vereinigung der beiden großen Lebenslinien
ergibt. Welche Mannigfaltigkeit, welche erhabene Harmonie könnte sich
aus dieser Vereinigung entfalten! Und nun wird uns gesagt: das
Weltenleben ist einheitlich, deshalb sollen wir es nicht vereinigen --
sondern zerstören.

Als Sterni bewies, wie sehr sich die Erdenmenschen, deren Geschichte und
Sitten, sowie deren Psychologie von der unseren unterscheiden,
widerlegte er selbst seine Ideen weit mehr, als ich dies zu tun vermag.
Glichen die Erdenmenschen uns in allem, ausgenommen in ihrer
Entwicklungsstufe, wären sie das, was unsere Vorfahren zur Zeit unseres
Kapitalismus gewesen sind, dann könnte ich Sterni zustimmen: die
niederen Stufen müssen den höheren, die Schwachen den Starken geopfert
werden. Aber die Erdenmenschen sind etwas anderes; sie sind nicht nur
von niedrigerer Kultur und schwächer als wir, sie sind auch anders als
wir. Wollten wir sie beseitigen, so würden wir sie nicht in der
Entwicklung der Welt ersetzen, sondern bloß auf mechanische Art jene
Leere ausfüllen, die wir in der herrschenden Form des Lebens verursacht
hätten.

Der grundlegende Unterschied zwischen den Erdenmenschen und uns liegt
nicht in der grausamen und barbarischen Kultur der Erde. Barbarei und
Grausamkeit sind nur vorübergehende Erscheinungen jener allgemeinen
_Verschwendung_ im Entwicklungsprozeß, durch die sich das ganze
Erdenleben kennzeichnet. Dort erscheint der Kampf ums Dasein energischer
und mühevoller, das Ringen mit der Natur nimmt vielartigere Formen an
und die Entwicklung fordert weit mehr Opfer. Und dies kann auch gar
nicht anders sein; denn die Erde erhält vom Quell alles Lebens, der
Sonne, achtmal mehr Lichtenergien als unser Planet. Deshalb entwickeln
und verbreiten sich dort so viele Leben, eine so große Verschiedenheit
der Formen, aus denen sich gewaltige Widersprüche ergeben, so viele
schmerzliche Hemmungen, deren Schlichtung gar oft scheitert. Im
Pflanzen- und Tierreich herrschte erbitterter Kampf, das Leben und der
Tod dieser Arten aber ergaben neue, vollendetere und harmonischere,
synthetischere Typen. Dies ist auch im Reich der Menschen der Fall.

Wenn wir unsere Geschichte mit jener der Erdenmenschen vergleichen, so
erscheint erstere erstaunlich einfach, frei von Irrtümern, und fast
schematisch richtig. Der ruhige, friedliche Uebergang vom Kapitalismus
zum Sozialismus, das Verschwinden der Kleinbürger, das stufenweise sich
entwickelnde Proletariat, all dies geschah ohne Schwanken und
Zusammenstöße auf dem ganzen Planeten, der zu einer politischen Einheit
verbunden war. Freilich wurde gekämpft, doch verstand ein Mensch den
anderen, das Proletariat blickte nicht allzuweit voraus, die Bourgeoisie
war in ihrer Reaktion nicht utopisch, die verschiedenen Epochen und
gesellschaftlichen Formen vermischten sich nicht derart stark wie auf
der Erde, wo in einem hoch kapitalistischen Land bisweilen das Einsetzen
einer feudalen Reaktion möglich ist, und wo eine zahlreiche
Bauernschaft, die sich kulturell in einer ganz anderen historischen
Periode befindet, häufig den oberen Klassen als Werkzeug zur Abwürgung
des Proletariats dient. Wir gingen einen ebenen, glatten Weg, erreichten
vor einigen Generationen jenen Aufbau, der alle Kräfte der
sozialistischen Entwicklung entbindet und vereinigt.

Unsere Erdenbrüder hingegen mußten einen anderen Weg gehen, einen
dornenvollen Weg voller Krümmungen und Klüfte. Wenigen von uns ist
bekannt, und keiner von uns vermag sich klar vorzustellen, bis zu
welcher Stufe die Kunst des Menschenschindens selbst bei den
kultiviertesten Völkern der Erde gediehen war, keiner von uns kennt
genau die politisch organisierte Herrschaft der oberen Klassen,
ausgedrückt in Kirche und Staat. Und was ist das Ergebnis? Eine
Verlangsamung der Entwicklung? Nein, wir haben keinen Grund, dies zu
behaupten, denn von den ersten Stadien des Kapitalismus entwickelte sich
im Wirrsal und in den grausamen Kämpfen der verschiedensten Arten das
proletarische Bewußtsein nicht langsamer, sondern schneller als bei uns,
-- wo die Wandlung stufenweise und ruhiger vor sich ging. Die Härte und
Erbarmungslosigkeit des Kampfes aber erzeugte in den Kämpfern eine
derartige Fülle an Energie und Leidenschaft, einen solchen Heldenmut und
eine so gewaltige Leidenskraft, wie sie der aussichtsreichere und weit
weniger tragische Kampf unserer Vorfahren gar nicht kennt. Bei diesem
Typus des Erdenlebens sind die Menschen nicht niedriger, sondern höher
als wir, wenngleich wir, deren Kultur älter ist, auf einer viel höheren
Stufe stehen.

Die Erdenmenschen sind gespalten, die verschiedenen Rassen und Nationen
eng verwachsen mit ihren Ländern und historischen Traditionen, sie reden
verschiedene Sprachen, und ein gegenseitiges tiefgreifendes
Nichtverstehen kennzeichnet alle ihre Verhältnisse ... All das trifft zu
und es ist auch wahr, daß die allgemeinmenschliche Vereinigung, die sich
mit großer Anstrengung einen Weg über alle Grenzen bahnt, bei unseren
Erdenbrüdern weit später verwirklicht werden wird, als dies bei uns der
Fall war. Betrachten Sie aber die Ursache und werten Sie deren Folgen.
Die Spaltung wurde verursacht durch die Größe der Erdenwelt, den
Reichtum und die Mannigfaltigkeit ihrer Natur. Das führte zu den
verschiedensten Auffassungen über das Weltall. Ist aber all dies etwa
der Beweis, daß die Erdenmenschheit niederer und nicht höher steht als
unsere Welt in den analogen Epochen der Geschichte?

Schon die rein mechanische Verschiedenheit der Sprachen, in denen die
Menschen reden, unterstützte die Entwicklung des Denkens, befreite den
Begriff von der plumpen Herrschaft des Wortes. Vergleichen Sie die
Philosophie der Erdenmenschen mit jener unserer kapitalistischen Ahnen.
Die Philosophie der Erde ist nicht nur weit vielseitiger, sondern auch
weit feiner, sie geht nicht nur von einem bei weitem komplizierteren
Material aus, sondern ihre Analyse ist, in den besten Schulen, eine viel
tiefgründigere, die weit richtiger die Verbindung der Tatsachen und
Begriffe darstellt. Selbstverständlich ist jede Philosophie der Ausdruck
der Schwäche und der fehlerhaften Erkenntnis, hervorgerufen durch
mangelhafte wissenschaftliche Entwicklung; der Versuch, ein
einheitliches Bild des Seins zu geben, ist ein unbeschriebenes Blatt der
wissenschaftlichen Erfahrung, deshalb wird auch von der Erde die
Philosophie verschwinden, wie dies bei uns mit dem wissenschaftlichen
Monismus geschah. Betrachten Sie aber, wie viele philosophische
Voraussetzungen, gegeben von den ersten Denkern und Kämpfern bereits in
groben Umrissen die Entdeckungen unserer Wissenschaft voraussehen -- so
zum Beispiel fast alle sozialwissenschaftlichen Philosophien. Es ist
klar, daß eine Rasse, die unsere Ahnen in der Schaffung einer
Philosophie übertraf, auch imstande sein wird, diese in der Schaffung
einer Wissenschaft zu übertreffen.

Und Sterni will diese Menschen aus der Liste der Gerechten streichen
mitsamt den bewußten Sozialisten, die sich unter ihnen befinden; er will
sie nach ihren niedersten Widersprüchen beurteilen, nicht aber nach
jenen Kräften, die zur gegebenen Zeit diese Widersprüche ausgleichen
werden. Er will auf ewig diesen stürmischen, aber schönen Ozean des
Lebens austrocknen.

Fest und entschlossen müssen wir ihm die Antwort geben: _niemals_!

Wir müssen unseren künftigen Bund mit der Erdenmenschheit vorbereiten.
Freilich können wir den Uebergang zu einer freien Welt nur wenig
beschleunigen, aber auch das Wenige, was wir zu leisten vermögen, sind
wir zu tun verpflichtet. Und wenn es uns nicht gelang, den ersten
Abgesandten der Erde vor unnötigen Leiden und Krankheiten zu bewahren,
-- so gereicht dies keineswegs zu unserer Ehre. Zum Glück wird er bald
hergestellt sein, und selbst wenn ihn der allzu rasche Uebergang in ein
ihm fremdes Leben tötete, so hat er immerhin viel für den künftigen Bund
der beiden Welten geleistet.

Unsere eigenen Schwierigkeiten und Gefahren müssen wir auf eine andere
Art besiegen. Neue wissenschaftliche Kräfte müssen sich mit der
chemischen Herstellung der Eiweißstoffe befassen und wir müssen, soweit
dies möglich ist, die Kolonisation der Venus vorbereiten. Gelingt es uns
nicht, diese Aufgabe in kürzester Zeit zu erfüllen, so müssen wir
vorübergehend die Vermehrung einschränken. Welcher vernünftige
Geburtshelfer opferte nicht das Leben des ungeborenen Kindes, um die
Frau zu retten? Auch wir müssen, wenn dies unvermeidlich wird, einen
Teil jenes Lebens opfern, das noch nicht ist, um das, wenn auch fremde
Leben zu retten, das schon besteht und sich entwickelt. Die Verbindung
der Welten wird dieses Opfer reichlich lohnen.

Die Einheitlichkeit des Lebens ist das höchste Ziel, und Liebe ist die
höchste Weisheit!«

(Tiefes Schweigen. Dann ergriff Menni das Wort.)


                                 Menni

»Ich beobachtete aufmerksam die Stimmung der Genossen und sehe nun, daß
die Mehrheit auf seiten Nettis ist. Das freut mich sehr, denn auch meine
Ansicht deckt sich ungefähr mit der ihren. Ich möchte nur noch eine
praktische Erläuterung hinzufügen, die mir äußerst wichtig erscheint. Es
besteht für den Fall, daß wir uns zu einer Massenkolonisation auf einem
anderen Planeten entschließen, die ernste Gefahr, daß unsere technischen
Mittel in kürzester Zeit nicht mehr ausreichen werden.

Wir vermögen zehntausend große Aetheroneffs herzustellen, und es kann
geschehen, daß es uns an den zur Fortbewegung nötigen Stoffen mangelt.
Jene radiumausstrahlende Materie, vermittels derer sich die Aetheroneffs
für gewöhnlich bewegen, müßte um das Hundertfache vermehrt werden.
Inzwischen aber versiegen die alten Lager, und neue werden immer
seltener entdeckt.

Sie müssen auch wissen, daß wir der radiumausstrahlenden Materie nicht
nur dazu bedürfen, um dem Aetheroneff seine ungeheure Geschwindigkeit zu
verleihen. Sie wissen ja, daß unsere ganze technische Chemie auf diesen
Stoffen beruht. Wir bedürfen ihrer auch zur Erzeugung der Minus-Materie,
ohne die sich unsere Aetheroneffs und unsere zahllosen Luftschiffe in
nutzlose schwerfällige Kisten verwandeln würden. Diesem unentbehrlichen
Gebrauch dürfen wir die Materie nicht entziehen.

Noch ärger ist, daß die einzige Möglichkeit, die Kolonisation zu
ersetzen, die Synthese des Eiweiß, aus dem gleichen Mangel an
radiumausstrahlenden Stoffen zur Unmöglichkeit wird. Eine technisch
leichte und entsprechende fabrikmäßige Herstellung der ungeheuer
komplizierten Synthese des Eiweiß ist undenkbar bei der alten Methode
der Synthese, einer äußerst komplizierten Methode. Sie wissen, daß es
uns bereits vor etlichen Jahren gelang, auf diesem Wege ein vorzügliches
Eiweiß herzustellen, aber nur in geringer Quantität und bei einem großen
Verlust an Energie und Zeit, so daß die ganze Arbeit ausschließlich eine
theoretische Bedeutung besaß. Die Massenproduktion des Eiweiß aus
unorganischen Stoffen ist nur möglich vermittels der raschen und
scharfen Umwandlung des chemischen Bestandes, der bei uns von einem
nicht stabilen Element zu einer stabilen Materie wird. Die erfolgreiche
Durchführung dieses Prozesses erfordert von zehntausend Arbeitern eine
Spezialforschung über die Gewinnung des Eiweiß, sowie Millionen von
neuen Experimenten. Demnach würde selbst im Fall eines Erfolges eine
ungeheure Vergeudung der Kollektivaktivität unvermeidlich sein, eine
Vergeudung, der wir nicht gewachsen sind.

Von diesem Gesichtspunkt aus gilt es, schleunigst die einzige für uns
wichtige Frage zu beantworten: vermögen wir neue Quellen der
radiumausstrahlenden Stoffe zu entdecken? Und wo sollen wir diese
suchen? Offensichtlich auf einem anderen Planeten, das heißt: entweder
auf der Erde oder auf der Venus. Meiner Ansicht nach muß der erste
Versuch unbedingt auf der Venus gemacht werden.

Was die Erde anbelangt, so können wir annehmen, daß sich auf ihr
reichliche Vorräte an radioaktiven Elementen befinden. Bei der Venus
hingegen ist diese _Tatsache bereits festgestellt_. Wo sich auf der Erde
diese Quellen befinden, ist uns unbekannt, denn jene, die von den
Erdengelehrten gefunden wurden, taugen nichts. Auf der Venus aber
entdeckte unsere Expedition sofort die bewußten Quellen. Außerdem
befinden sich diese ganz nahe der Erdoberfläche, sind leicht erreichbar,
so daß wir ihr Bestehen vermittels der Photographie feststellen konnten,
während sich jene der Erde, gleich den unseren, tief unter dem Erdboden
befinden. Wollten wir auf der Erde das Radium suchen, so müßten wir bis
in die Tiefen dringen, wie das auch auf unserem Planeten der Fall ist.
Dies aber bedeutete einen Verlust von vielleicht zehn Jahren, und es
bestünde auch noch die Gefahr, daß wir uns in der Wahl des Ortes geirrt
haben. Auf der Venus hingegen gilt es bloß, die bereits gefundenen Lager
auszubeuten, und dies kann ohne jegliche Verzögerung geschehen.

Deshalb halte ich es für unbedingt notwendig, unabhängig davon, wie wir
die Frage der Massenkolonisation lösen, sofort an eine teilweise,
vielleicht auch nur vorübergehende Kolonisation der Venus zu schreiten,
zu dem ausschließlichen Zweck, die dort befindliche radioaktive Materie
zu gewinnen.

Die uns von der Natur entgegengestellten Hindernisse sind freilich
ungeheuer groß, doch brauchen wir sie ja augenblicklich nicht völlig zu
überwinden. Es gilt nur, von einem kleinen Teil des Planeten Besitz zu
ergreifen. Wir müssen demnach eine große Expedition ausrüsten, die
nicht, wie die erste, Monate auf der Venus verbringt, sondern Jahre, und
deren Zweck es ist, das Radium zu gewinnen. Selbstverständlich muß zur
gleichen Zeit ein energischer Kampf wider die Natur geführt werden, das
Klima, wider die uns noch unbekannten Krankheiten, sowie gegen andere
Gefahren. Es wird viele Opfer geben, vielleicht wird auch nur ein
geringer Teil der Expedition heimkehren. Der Versuch jedoch muß gemacht
werden.

Als erstes Feld unserer Tätigkeit kommt die »Insel des glühenden
Sturmes« in Betracht. Ich habe deren Natur genau studiert und einen
detaillierten Plan unserer Tätigkeit ausgearbeitet. Wenn Sie, Genossen,
jetzt bereit sind, diesen zu beurteilen, so werde ich ihn sofort
vorlegen.«

(Niemand erhob Einwände, und Menni ging an die Erläuterung seines
Planes, der sich mit allen technischen Einzelheiten befaßte. Nach
Beendigung seiner Rede traten noch andere Redner auf, doch nahmen sie
alle Mennis Vorschlag an, besprachen nur die Details. Etliche zweifelten
an dem Erfolg der Expedition, alle aber waren damit einverstanden, daß
sie unternommen werde. Schließlich wurde die von Menni vorgeschlagene
Resolution angenommen.)


                                Der Mord

Die gewaltige Bestürzung, die mich übermannt hatte, verhinderte selbst
den Versuch, meine Gedanken zu sammeln. Ich fühlte bloß, daß ein kalter
Schmerz wie mit eisernen Fingern mein Herz zusammenpresse. Vor meinem
Bewußtsein erhoben sich mit halluzinierender Lebendigkeit Sternis
riesenhafte Gestalt, sein unerbittlich gelassenes Gesicht. Alles übrige
versank in schwerem, nächtlichem Chaos.

Wie ein Automat verließ ich die Bibliothek und bestieg mein Luftschiff.
Der durch den raschen Flug erzeugte kalte Wind hüllte mich wie ein
Mantel ein und erweckte in mir auf irgendeine Art einen neuen Gedanken,
einen Gedanken, der gleichsam in meinem Bewußtsein erstarrte und in mir
die Gewißheit hervorrief: eines müsse geschehen. Heimgekehrt, ging ich
daran, den Gedanken zu verwirklichen; all dies geschah schier
mechanisch, als handelte nicht ich, sondern ein anderer.

Ich schrieb dem Leiter des Fabrikrates, daß ich auf einige Zeit meine
Arbeit aufgebe. Enno sagte ich, wir müßten uns vorläufig trennen. Sie
blickte mich beunruhigt, forschend an, erblaßte, sprach jedoch kein
Wort. Bloß im Augenblick des Abschieds fragte sie, ob ich nicht Nella
sehen möchte. Ich verneinte und küßte Enno zum letzten Mal.

Dann versank ich in ein dumpfes, tödliches Grübeln. Kalter Gram ließ
mich erschaudern, zerriß meine Gedanken. Von Nettis und Mennis Reden war
mir bloß eine blasse, gleichgültige Erinnerung geblieben, als wären sie
etwas Unwichtiges, Uninteressantes. Nur ein einziges Mal durchzuckte
mein Gehirn die Erkenntnis: also deshalb verließ mich Netti, von dieser
Expedition hängt _alles_ ab. Hingegen hatte ich Sternis Worte und sogar
ganze Sätze seiner Rede getreu im Gedächtnis behalten: »Das
Unvermeidliche muß _begriffen_ werden ... einige Millionen Zellenwesen
... die völlige Ausrottung der Erdenmenschheit ... er wurde von einer
schweren psychischen Krankheit befallen ...« Doch vermochte ich weder
Zusammenhänge, noch einen Ausweg zu finden. Bisweilen erschien mir die
Ausrottung der Erdenmenschheit als eine bereits vollzogene Tatsache,
aber auf unklare, abstrakte Art. Mein Schmerz wurde größer, und in mir
erwachte der Gedanke, daß an dieser Ausrottung ich die Schuld trage.
Dann wieder sah ich ein, daß ja noch nichts geschehen war, vielleicht
niemals etwas derartiges geschehen würde. Aber selbst das vermochte
nicht meinen Kummer zu lindern. Ich konstatierte bei mir: »Alle werden
sterben ... auch Anna Nikolajewna ... und der Arbeiter Vania ... und
Netti, nein, Netti bleibt am Leben, sie ist ein Marsmensch ... sonst
aber werden alle sterben ... doch ist dies nicht grausam, denn sie
werden nicht leiden ... so sagte Sterni ... alle werden sterben, weil
ich erkrankte ... das bedeutet, daß ich daran die Schuld trage ...«
Zerrissene schwere Gedanken erstarrten in meinem Bewußtsein, kalt,
reglos. Und zugleich mit ihnen schien die Zeit stehen zu bleiben.

Auf mir wuchtete eine schwere, qualvolle, nicht abzuschüttelnde Last.
Die Gespenster befanden sich nicht außerhalb meiner selbst; in meiner
Seele hockte ein einziges, schwarzes Gespenst, und dieses Gespenst
bedeutete für mich _alles_. Ich sah kein Ende der Qual, war doch die
Zeit stehen geblieben.

Der Gedanke an Selbstmord suchte mich heim, drang aber nicht völlig in
mein Bewußtsein. Der Selbstmord erschien mir nutzlos und öde, -- konnte
er denn meinen schwarzen Gram heilen? Ich vermochte nicht an den
Selbstmord zu glauben, weil ich den Glauben an mein Sein verloren hatte.
Qual, Kälte und Haß existierten, aber mein »Ich« verlor sich in ihnen,
wie etwas Richtiges, unsäglich Kleines. Es gab kein »Ich«.

Es kamen Augenblicke, da meine Stimmung so unerträglich war, daß in mir
der wilde Wunsch erwachte, mich auf meine ganze Umgebung zu stürzen, auf
Lebendiges und Totes, alles zu zerschlagen, zu zerreißen, zu vernichten,
damit davon auch nicht die geringste Spur zurückbleibe. Doch besaß ich
noch genügend Verstand, um zu wissen, daß dies sinnlos und kindisch
wäre; ich biß die Zähne zusammen und beherrschte mich.

Ohne Unterlaß umkreisten meine Gedanken Sterni; sein Bild haftete starr
in meinem Bewußtsein, war der Mittelpunkt aller Qualen und Leiden.
Allmählich, äußerst langsam, kristallisierte sich um diesen Mittelpunkt
ein Entschluß heraus, der immer klarer und fester ward: »Ich muß Sterni
sehen«. Weshalb, aus welchem Grund ich ihn sehen wollte, vermochte ich
nicht zu sagen. Ich wußte bloß, daß ich es tun müsse. Zugleich aber fiel
es mir qualvoll schwer, die auf mir lastende Starre und Unbeweglichkeit
zu durchbrechen, um meinen Entschluß auszuführen.

Ich begab mich in den großen Observatoriumssaal und sprach dort zu einem
der Arbeiter: »Ich muß Sterni sehen.« Der Genosse ging, um Sterni zu
rufen, kehrte nach wenigen Augenblicken zurück und erklärte, Sterni sei
eben mit der Prüfung eines Instrumentes beschäftigt, er werde in einer
Viertelstunde frei sein, und ich möge so lange in seinem Arbeitszimmer
warten.

Der Genosse führte mich ins Arbeitszimmer. Ich setzte mich in einen
Lehnstuhl vor den Schreibtisch und wartete. Der Raum war voll der
verschiedensten Apparate und Maschinen, von denen ich einige kannte,
während mir die anderen fremd waren. Meinem Lehnstuhl gegenüber ragte
ein Instrument mit einem schweren Metallstativ auf, an dessen Ende sich
drei Messer befanden. Auf dem Tisch lag ein offenes Buch über die Erde
und deren Bewohner. Ich begann mechanisch darin zu lesen, hielt aber
schon nach den ersten Zeilen inne und versank in ein dem früheren
ähnliches Grübeln. In meinem Inneren fühlte ich, zusammen mit der alten
Qual, eine unbezwingliche, fast krampfartige Erregung. So verging die
Zeit.

Auf dem Korridor wurden schwere Schritte vernehmbar, die Tür öffnete
sich, und Sterni betrat das Zimmer; auf seinen Zügen lag der
gewöhnliche, gelassen beschäftigte Ausdruck. Er setzte sich in den
Lehnstuhl auf der anderen Seite des Schreibtisches und blickte mich
fragend an. Ich schwieg. Er wartete noch einen Augenblick, wandte sich
dann an mich mit der Frage: »Womit kann ich Ihnen dienen?«

Ich verharrte noch immer stumm, starrte ihn an, als wäre er ein lebloser
Gegenstand. Er zuckte kaum merklich die Achseln und lehnte sich
abwartend im Lehnstuhl zurück.

»Nettis Mann ...« sprach ich schließlich halbbewußt, mit Anstrengung,
mehr zu mir selbst, als zu ihm.

»Ich war Nettis Mann«, verbesserte er mich gelassen. »Wir haben uns
bereits vor langer Zeit getrennt.«

»Die Ausrottung ... wird nicht ... grausam ...« stammelte ich, langsam
fast unbewußt jenen Gedanken Ausdruck verleihend, die mein Gehirn
durchwirbelten.

»Also darum handelt es sich«, meinte er ruhig. »Jetzt ist doch davon
nicht mehr die Rede. Es wurde, wie Sie ja wissen, ein völlig anderer
Beschluß gefaßt.«

»Ein anderer Beschluß ...«, wiederholte ich mechanisch.

»Was meinen damaligen Plan anbelangt«, fuhr Sterni fort, »so muß ich
zugeben, daß ich ihn noch nicht gänzlich aufgegeben habe. Doch bin ich
von seiner Richtigkeit nicht mehr so fest überzeugt.«

»Nicht mehr so fest ...« wiederholte ich abermals.

»Ihre Genesung und Ihre Teilnahme an unserer Gemeinschaftsarbeit haben
zum Teil meine Argumente widerlegt ...«

»Ausrottung ... zum Teil ...« murmelte ich, und das ganze von mir
empfundene Leid und Weh mochten wohl aus meiner unbewußten Ironie
klingen. Sterni erblaßte, schaute mich bekümmert an. Dann trat Schweigen
ein.

Jählings preßte die kalte Hand des Schmerzes mit übermächtiger,
ungeahnter Kraft mein Herz zusammen. Ich warf mich in den Lehnstuhl
zurück, um den in mir aufsteigenden wahnsinnigen Schrei zu unterdrücken.
Meine Finger umklammerten krampfhaft etwas Hartes, Kaltes. Ich fühlte in
der Hand eine schwere Waffe. Mein Kummer verwandelte sich in sinnlose
Verzweiflung. Ich schnellte vom Lehnstuhl empor und führte gegen Sterni
einen gewaltigen Schlag.

Eines der drei Messer fiel auf ihn nieder; ohne einen Laut stürzte er
zur Seite wie ein lebloser Körper.

Ich rannte auf den Korridor hinaus und sprach zum ersten mir begegnenden
Genossen: »Ich habe Sterni getötet.« Der Genosse erbleichte und eilte
ins Arbeitszimmer, doch mußte er sich wohl auf den ersten Blick
überzeugt haben, daß es hier keine Rettung mehr gebe, denn er kehrte
sofort zu mir zurück. Er führte mich in seine Stube, beauftragte einen
anderen Genossen, telephonisch einen Arzt zu berufen und sich dann zu
Sterni zu begeben. Wir blieben allein zurück. Anscheinend konnte er sich
nicht entschließen, mit mir zu sprechen. Ich selbst brach das Schweigen,
indem ich ihn fragte:

»Ist Enno hier?«

»Nein«, entgegnete er, »sie fuhr für einige Tage zu Nella.«

Wir schwiegen abermals, bis sich der Arzt einfand. Er versuchte mich
über das Vorgefallene zu befragen, doch erwiderte ich, ich wolle nichts
sagen. Dann brachte er mich in die nahegelegene Heilanstalt für
Geisteskranke.

Hier stellte man mir ein großes behagliches Zimmer zur Verfügung, und
ich wurde lange Zeit nicht belästigt. Etwas Besseres konnte ich mir gar
nicht wünschen.

Für mich erschien jetzt die Lage völlig geklärt. Ich hatte Sterni
getötet und dadurch alles vereitelt. Die Marsbewohner sahen nun an einem
lebendigen Beispiel, was sie von einer Annäherung an die Erdenmenschen
erwarten durften. Sie sahen, daß sogar jener, den sie für befähigt
gehalten hatten, ihr Leben zu teilen, ihnen nichts anderes zu bringen
vermocht hatte, als Gewalt und Tod. Sterni war tot, aber seine Idee
feierte ihre Auferstehung. Die letzte Hoffnung entschwand, die Erdenwelt
war verdammt. Und an all dem trug ich die Schuld.

Nach dem Mord kreisten diese Gedanken in meinem Gehirn, beherrschten es
zusammen mit der Erinnerung an meine Tat. Anfangs eignete der kalten
Gewißheit eine Art Beruhigung. Dann aber steigerten sich Qual und
Schmerz ins Grenzenlose.

Ich empfand gegen mich selbst die heftigste Abneigung. Fühlte mich als
Verräter an der ganzen Menschheit. Einen Augenblick lang empfand ich die
unklare leise Hoffnung, die Marsbewohner würden mich töten, doch
erkannte ich dann, ich müsse sie allzu sehr ekeln, und daß ihre
Verachtung für mich sie daran hindern würde. Freilich verbargen sie ihre
Abneigung gegen mich, dennoch bemerkte ich sie trotz all ihrer
Bemühungen genau.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit auf diese Art verstrich. Endlich betrat
der Arzt das Zimmer und teilte mir mit, ich solle mich auf die Rückkehr
nach der Erde vorbereiten. Ich glaubte, dies bedeute ein verschleiertes
Todesurteil, doch empfand ich keinen Wunsch, mich dagegen zu wehren. Bat
nur, mein Leichnam möge von allen Planeten so weit wie möglich geworfen
werden, damit ich diese nicht verunreinige.

Die Eindrücke der Rückreise sind äußerst unklar und verschwommen. In
meiner Umgebung sah ich keine bekannten Gesichter, sprach auch mit
niemandem. Mein Bewußtsein war zwar nicht getrübt, doch bemerkte ich
nichts von meiner Umgebung. Mir war alles einerlei.


                              Vierter Teil


                               Bei Werner

Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich mich plötzlich im Krankenhaus des
Doktor Werner, meines alten Genossen, befand. Es war das
Kreiskrankenhaus eines der nördlichen Gouvernements, das mir schon lange
aus Werners Briefen bekannt war. Das Gebäude befand sich einige Werst
von der Gouvernementsstadt entfernt, war äußerst schlecht geleitet,
stets überfüllt, hatte zum wirtschaftlichen Verwalter einen großen
Betrüger und verfügte über ein zahlenmäßig geringes, stark
überarbeitetes Personal. Doktor Werner sah sich gezwungen, zusammen mit
der äußerst liberalen Kreisverwaltung einen erbitterten Kampf gegen den
wirtschaftlichen Verwalter zu führen, gegen die von diesem äußerst
schlecht geleiteten Baracken, gegen den Bau der Kirche, den der
Verwalter um jeden Preis beendigen wollte, sowie um die angemessene
Entlohnung der Angestellten usw. Die Kranken starben aus Schwäche statt
zu gesunden, wurden infolge der schlechten Luft und ungenügenden Nahrung
von der Tuberkulose befallen. Werner selbst hätte natürlich schon längst
das Krankenhaus verlassen, würden ihn nicht ganz besondere, mit seiner
revolutionären Vergangenheit zusammenhängende Umstände dort festgehalten
haben.

Mich ließen alle diese Reize des Krankenhauses kalt. Werner war ein
ausgezeichneter Genosse und zögerte nicht, mir seine Bequemlichkeit zu
opfern. Er überließ mir in der großen Wohnung, auf die er als erster
Arzt ein Anrecht besaß, zwei Stuben; in der anstoßenden dritten wohnte
ein junger Feldscher, in der vierten, die dem Schein nach der
Krankenpflege diente, verbarg sich ein verfolgter Genosse. Freilich
umgab mich keine besondere Behaglichkeit, und die Aufsicht, der ich
unterworfen war, dünkte mich trotz dem großen Taktgefühl des jungen
Genossen weit stärker ausgeprägt und fühlbarer, als auf dem Mars. Doch
war mir all dies völlig gleichgültig. Doktor Werner verabreichte mir
ebenso wie die Aerzte auf dem Mars fast keine Medizin, gab mir nur
bisweilen ein Schlafmittel ein und sorgte vor allem dafür, daß ich Ruhe
habe und mich wohl fühle. Allmorgendlich und allabendlich suchte er mich
nach dem Bad auf, das mir der fürsorgliche Genosse zu bereiten pflegte.
Doch dauerte sein Besuch stets nur wenige Minuten, und er beschränkte
sich auf die Frage, ob ich nichts brauche. In den langen Monaten meiner
Krankheit hatte ich mir das Sprechen fast abgewöhnt und begnügte mich
damit, nein zu sagen, oder aber überhaupt keine Antwort zu geben. Seine
Fürsorge jedoch störte mich, denn ich fühlte, daß ich eine derartige
Behandlung gar nicht verdiene und daß ich ihm dies eigentlich mitteilen
müßte. Schließlich gelang es mir auch mit Anstrengung aller Kräfte, ihm
zu bekennen, daß ich ein Mörder und Verräter sei und daß durch meine
Schuld die ganze Menschheit zugrunde gehen müsse. Er widersprach nicht,
lächelte bloß und kam von da an häufiger.

Allmählich übte die Umgebung auf mich eine heilsame Wirkung aus. Der
Schmerz krampfte mir weit weniger stark das Herz zusammen, die Qual
verblaßte, die Gedanken wurden beweglicher, ihre Färbung wurde heller.
Ich _begann das Zimmer zu verlassen_, im Garten und im Hain zu
spazieren. Irgendeiner der Genossen hielt sich immer in meiner Nähe auf;
das war peinlich, doch begriff ich sehr wohl, daß man einen Mörder nicht
frei umhergehen lassen könne. Bisweilen sprach ich auch mit den
Genossen, freilich nur über gleichgültige Dinge.

Es war zu Beginn des Frühlings, und die Wiedergeburt des Lebens ringsum
schwächte ein wenig das Qualvolle meiner Erinnerungen ab; das Zwitschern
der Vögel rief in mir eine gewisse traurige Beruhigung wach, erweckte
den Gedanken, daß wenigstens sie nicht vergehen würden, sondern weiter
leben, und daß nur die Menschen verloren seien. Einmal begegnete mir im
Hain ein Schwachsinniger, der sich unter Aufsicht aufs Feld zur Arbeit
begab. Er empfahl sich von mir mit außerordentlich stolzer Gebärde -- er
litt an Größenwahn, erklärte, er sei ein Gendarm, anscheinend die
höchste Macht, die er während seines Lebens in der Freiheit gekannt
hatte. Zum ersten Mal in meiner ganzen Krankheit mußte ich unwillkürlich
lachen. Ich fühlte, daß mich das Vaterland umgebe, und gleich dem Riesen
Antheus schöpfte ich, wenngleich äußerst langsam, neue Kraft aus der
Heimaterde.


                        War es -- war es nicht?

Als sich die Gedanken mehr meiner Umgebung zuwandten, verlangte es mich
zu wissen, ob Werner und den beiden anderen Genossen bekannt sei, was
sich mit mir ereignet und was ich getan hatte. Ich fragte Werner, wer
mich ins Krankenhaus gebracht habe? Er erwiderte, ich sei mit zwei ihm
unbekannten jungen Leuten gekommen, die nichts Genaues über meine
Krankheit zu berichten wußten. Sie erklärten, mir in der Hauptstadt
begegnet zu sein. Sie bemerkten, daß ich krank sei, hatten mich bereits
vor der Revolution gekannt und damals durch mich von Doktor Werner
gehört. Deshalb wandten sie sich nun an ihn. Sie reisten noch am
gleichen Tag ab. Bei Werner hatten sie den Eindruck anständiger junger
Menschen erweckt, an deren Worten nicht zu zweifeln war. Er selbst hatte
mich bereits seit etlichen Jahren aus dem Auge verloren und es war ihm
nicht gelungen, über mich Nachricht zu erhalten.

Ich wollte Werner über den von mir begangenen Mord berichten, doch fiel
mir dies furchtbar schwer. War doch die ganze Geschichte unsäglich
kompliziert, mit unzähligen Umständen verknüpft, die sie einem
leidenschaftslos beurteilenden Menschen äußerst seltsam erscheinen
lassen mußte. Ich erklärte Werner die Schwierigkeit und erhielt von ihm
die unerwartete Antwort:

»Das beste wäre es, Sie würden mir jetzt überhaupt nichts erzählen.
Derartiges ist Ihrer Genesung nicht förderlich. Ich will natürlich nicht
mit Ihnen streiten, doch vermag ich an Ihre ganze Geschichte nicht zu
glauben. Sie sind an Melancholie erkrankt, und diese Krankheit veranlaßt
die ehrbarsten anständigsten Menschen, sich allerlei nie begangener
Verbrechen zu zeihen. Das Gedächtnis unterstützt die Phantasie und
erzeugt trügerische, unwahre Erinnerungen. Sie werden mir dies erst dann
glauben, wenn Sie wieder hergestellt sind, deshalb ist es auch besser,
die Erzählung bis zu jenem Zeitpunkt hinauszuschieben.«

Hätte dieses Gespräch einige Monate früher stattgefunden, so hätte ich
zweifellos aus Werners Worten ein großes Mißtrauen und die Verachtung
meiner Person herausgelesen. Jetzt jedoch, da meine Seele bereits nach
Rast und Erholung suchte, faßte ich die ganze Sache anders auf. Es war
mir angenehm, daß mein Verbrechen den Genossen nicht bekannt sei und daß
die Tatsache angezweifelt werden könne. Ich begann von nun an immer
seltener an meine Tat zu denken.

Meine Genesung machte rasche Fortschritte, nur bisweilen übermannte mich
wieder die frühere Qual, doch dauerten diese Anfälle niemals lange.
Werner war offensichtlich mit mir zufrieden, ich wurde auch nicht mehr
so scharf beobachtet. Seiner Ansicht über meine »Phantasien« gedenkend,
bat ich ihn, mir einen typischen Fall meiner Krankheit zum Lesen zu
geben, den er im Krankenhaus beobachtet und niedergeschrieben hatte.
Zögernd und ungern erfüllte er meine Bitte. Er wählte aus den
verschiedensten Krankheitsgeschichten eine und gab sie mir.

In dieser Krankheitsgeschichte wurde der Fall eines Bauern erzählt, den
die Not aus einem entlegenen Dörfchen in eine der größten Fabriken der
Hauptstadt trieb. Das Leben der großen Stadt erschütterte offensichtlich
sein seelisches Gleichgewicht; den Worten seiner Frau zufolge war er
lange Zeit »völlig außer sich«. Dann verging dies, er lebte und
arbeitete wie alle übrigen. Als in der Fabrik ein Streik ausbrach, stand
er auf Seiten der Genossen. Der Streik war lange und hartnäckig, der
Bauer mußte mit Frau und Kindern Hunger leiden. Plötzlich begann er sich
zu grämen, machte sich Vorwürfe, weil er geheiratet und ein Kind gezeugt
habe und überhaupt »gottlos« lebe.

Dann begann er irre zu reden, wurde zuerst ins städtische Spital und von
dort in das Krankenhaus seines Heimatkreises gebracht. Er behauptete
steif und fest, daß er den Streik gebrochen und die Genossen verkauft
habe, sowie jenen »guten Ingenieur«, der im Geheimen den Streik
unterstützte, und der von der Regierung aufgehängt wurde. Zufällig
kannte ich genau die ganze Geschichte des Streiks -- ich arbeitete
damals in der Hauptstadt -- wußte genau, daß bei diesem Streik kein
Verrat vorgekommen, der »gute Ingenieur« nicht bloß nicht gehängt,
sondern nicht einmal verhaftet worden war. Die Krankheit des Arbeiters
endete mit seiner Genesung.

Diese Geschichte verlieh meinen Gedanken eine neue Färbung. In mir wurde
der Zweifel wach, ob ich tatsächlich den Mord begangen, oder aber ob,
wie Werner sagte, »die Phantasie der Melancholie« mein Gedächtnis
beeinflußt habe. Zu jener Zeit waren meine Erinnerungen an das Leben auf
dem Mars seltsam verworren und verblaßt, zusammenhanglos und
unvollständig, und wenngleich das Bild des Verbrechens klar in meinem
Gedächtnis haftete, so verlor es sich doch in den einfachen und scharfen
Eindrücken der Gegenwart. Bisweilen schüttelte ich den kleinlichen,
beruhigenden Zweifel ab, erkannte klar, daß alles _tatsächlich_ so
gewesen und daß es unmöglich sei, dies abzuleugnen. Dann aber kehrten
Zweifel und Sophismen zurück, halfen mir, meine Gedanken von der
Vergangenheit abzuwenden. Die Menschen glauben so gerne das, was ihnen
angenehm ist ... Und wenngleich in der Tiefe meiner Seele die Erkenntnis
lebte, daß diese Auffassung eine Lüge sei, so überließ ich mich ihr
dennoch freudig, wie man sich einem Glückstraum überläßt.

Heute glaube ich, daß meine Genesung ohne diese betrügerische
Autosuggestion nicht so rasch und so völlig erfolgt wäre.


                          Das Leben der Heimat

Werner hielt von mir sorgsam jeden Eindruck fern, der für meine
Gesundheit irgendwie »schädlich« hätte sein können. Er gestattete mir
nicht, mit ihm ins Krankenhaus zu gehen, und von den dort beherbergten
Geisteskranken durfte ich nur die unheilbar Schwachsinnigen und
Degenerierten beobachten, die frei umhergingen und sich mit
verschiedenen Arbeiten auf dem Feld, in Hain und Garten beschäftigten.
Ich muß gestehen, daß mich diese Fälle nicht sonderlich interessierten,
habe ich doch mein Lebtag alles Hoffnungslose, Nutzlose, für
Immer-Verurteilte gehaßt. Es verlangte mich weit mehr danach, akute
Fälle zu studieren, vor allem jene, bei denen die Hoffnung auf Genesung
bestand, die Melancholiker und die heiteren Maniaken. Werner versprach
mir, mich mit ihnen bekannt zu machen, sobald meine eigene Genesung
genügend Fortschritte gemacht habe; doch schob er es immer wieder von
neuem hinaus.

Noch mehr aber bemühte sich Werner, mich von dem politischen Leben der
Heimat zu isolieren. Anscheinend nahm er an, meine ganze Erkrankung
rühre von den furchtbaren Eindrücken der Revolution her. Er wollte nicht
glauben, daß ich mich die ganze Zeit über fern der Heimat befunden habe
und nicht einmal wußte, was sich hier ereignet hat. Er hielt meine
Unkenntnis der Lage für bloße Vergeßlichkeit und fand diese Tatsache sei
für mich und meine Gesundheit äußerst günstig. Er weigerte sich nicht
nur, mir etwas über die Vorfälle zu berichten, sondern verbot dies auch
meinen Wärtern; in der ganzen Wohnung war keine einzige Zeitung, keine
einzige Zeitschrift aus den letzten Jahren zu finden, er verbarg alle
derartigen Dinge in seinem Arbeitszimmer oder im Krankenhaus. Ich war
gezwungen, auf einer unbewohnten politischen Insel zu leben.

Anfangs, da es mich einzig und allein nach Ruhe und Stille verlangte,
erschien mir diese Lage sehr angenehm. Später jedoch, als meine Kräfte
zunahmen, wurde es mir in der Austernschale zu eng; ich stellte an meine
Gefährten allerlei Fragen, die sie, dem Gebot des Arztes gehorchend,
nicht beantworteten. Ich ärgerte und langweilte mich. Versuchte, meine
politische Quarantäne zu durchbrechen, Werner davon zu überzeugen, daß
ich gesund genug sei, um Zeitungen lesen zu dürfen. Vergeblich; Werner
erklärte, es wäre verfrüht, und er selbst werde beurteilen, wann es an
der Zeit sei, meine geistige Diät abzuändern.

Nun nahm ich zur List meine Zuflucht. Es galt, in meiner Umgebung einen
Spießgesellen zu finden, der seiner Freiheit nicht beraubt war. Den
Feldscher für mich zu gewinnen, wäre äußerst schwierig gewesen: er hatte
eine übertrieben hohe Auffassung von seiner Berufspflicht. Deshalb
wandte ich mich an den anderen Krankenpfleger, den Genossen Wladimir.
Bei ihm stieß ich auf keinen großen Widerstand.

Wladimir war früher Arbeiter gewesen. Fast noch ein unwissender Knabe,
hatte er sich den Revolutionären angeschlossen, war aber jetzt bereits
ein erfahrener Soldat. Zur Zeit eines gewaltigen Pogroms, als eine
Unzahl Genossen unter den Kugeln gefallen und in den Flammen der
Feuersbrunst zugrundegegangen waren, hatte er sich einen Weg durch die
Menge der Pogromisten gebahnt, etliche derselben erschossen und war
durch einen glücklichen Zufall mit heiler Haut davongekommen. Dann lebte
er lange Zeit illegal in verschiedenen Städten und Dörfern, widmete sich
der bescheidenen aber gefährlichen Aufgabe, Literatur und Waffen zu
transportieren. Schließlich, als ihm schon der Boden unter den Füßen
brannte, sah er sich gezwungen, bei Werner ein Versteck zu suchen. Diese
Einzelheiten erfuhr ich selbstverständlich erst später. Doch bemerkte
ich gleich zu Anfang, daß der junge Mann unter seiner geringen Bildung
litt und daß es ihn, dem die frühere wissenschaftliche Disziplin fehlte,
viel Mühe kostete, sich selbst weiterzubilden. Ich begann mich mit ihm
zu beschäftigen, wir kamen gut vorwärts, und ich gewann auf ewig sein
Herz. Später fiel es mir leichter, mich meinem Ziel zu nähern: Wladimir
hielt nur wenig von medizinischen Anordnungen und wir zettelten eine
kleine Verschwörung an, um Doktor Werners Strenge zu paralysieren.
Wladimirs Erzählungen, die Zeitungen, Zeitschriften und politischen
Broschüren, die er mir zusteckte, gaben mir gar bald ein Bild vom Leben
der Heimat während meiner Abwesenheit.

Die Revolution war nicht glatt vor sich gegangen, hatte sich qualvoll
lange hingezogen. Das aus seiner Stumpfheit erwachende Proletariat hatte
anfangs, dank unerwarteter Angriffe, große Siege errungen, doch wurde es
im entscheidenden Augenblick von den Bauernmassen im Stich gelassen, und
die vereinigten Kräfte der Reaktion brachten ihm furchtbare Niederlagen
bei. Während es für einen neuen Kampf Kräfte sammelte und die Nachhut
der bäuerlichen Revolutionäre erwartete, wurden zwischen den
Großgrundbesitzern und der Bourgeoisie Verhandlungen angebahnt, die ein
gemeinsames Vorgehen und die Erdrosselung der Revolution bezweckten.
Diese Absichten nahmen die Form einer parlamentarischen Komödie an; sie
endeten infolge der unversöhnlichen Haltung der Agrarier-Reaktionäre mit
einem Mißerfolg. Das Spielzeug-Parlament berief seine Mitglieder ein,
jagte sie dann, eines nach dem anderen, auf die gröbste Weise wieder
fort. Die Bourgeoisie, erschöpft von den Stürmen der Revolution,
erschreckt durch die ersten selbstbewußten energischen Angriffe des
Proletariats, ging immer weiter nach rechts. Die Bauernschaft, in ihren
Massen revolutionär gesinnt, machte sich rasch die politische Erfahrung
zu eigen; die Flammen zahlloser Feuersbrünste erhellten den von ihr
eingeschlagenen Weg des Kampfes. Die alte Macht versuchte auf blutigste
Art die bäuerliche Erhebung abzuwürgen, wollte zu gleicher Zeit die
Bauernschaft durch Verteilung von Grund und Boden versöhnen, doch
geschah letzteres auf eine so geizige, schmutzige Art, das es völlig
ergebnislos blieb. Tagtäglich ereigneten sich auf allen Seiten, von
allen Parteien und Gruppen unternommene Ueberfälle. Im Lande wütete ein
noch nie dagewesener, in keinem Reiche der Erde je geahnter Terror, oben
und unten.

Das Land ging einem neuen entscheidenden Kampf entgegen. Doch war dieser
Weg so lang und so voller Schwanken und Zweifeln, daß viele von
Erschöpfung und sogar von Verzweiflung übermannt wurden. Die radikale
Intelligenz, die am Kampf teilnahm, vor allem die Sympathisierenden,
gingen fast vollständig ins Lager der Feinde über. Freilich bedauerte
das niemand. Aber sogar unter meinen einstigen Genossen entstanden
Verzagtheit und Hoffnungslosigkeit. Diese Tatsache bewies mir klar, wie
schwer und kraftraubend das revolutionäre Leben dieser Zeit gewesen war.
Ich selbst, ein ausgeruhter Mensch, der sich der Vorrevolutionszeit und
des Anfangs des Kampfes erinnerte, ohne jedoch die Härte der späteren
Niederlagen erlitten zu haben, sah klar das sinnlose Untergraben der
Revolution, sah, wie sehr sich alles in diesen Jahren verändert habe,
wie viele neue Elemente des Kampfes hinzugekommen waren, wie unmöglich
es war, das Gleichgewicht herzustellen. Die neue Woge der Revolution
mußte kommen und war schon nahe.

Es gab bloß eine Möglichkeit: warten. Ich ahnte, wie qualvoll schwer
unter diesen Umständen die Arbeit der Genossen sein mußte. Mich selbst
verlangte es nicht, allzu rasch wieder an die Arbeit zu gehen. Und dies
unabhängig von Werners Ansichten; ich fand, es sei klüger, Kräfte zu
sammeln, um sie erst dann anzuwenden, wenn sie wieder ihre ganze Stärke
erreicht hatten.

Auf unseren langen Spaziergängen im Hain erwogen wir, Wladimir und ich,
die Aussichten und Bedingungen des bevorstehenden Kampfes. Die heroisch
naiven Träume und Pläne meines Gefährten erschütterten mich zutiefst, er
schien mir ein edles, liebes Kind, dem ein schlichter, anspruchslos
schöner Kämpfertod bevorstand, erhaben und einfach, wie sein ganzes
junges Leben gewesen. Der Weg der Revolution wird mit edlen Opfern
bezeichnet, und schönes Blut färbt die proletarische Fahne.

Aber nicht nur Wladimir kam mir wie ein Kind vor. Selbst Werner, dieser
alte Revolutionär, erschien mir weit naiver und kindlicher, als ich
früher geglaubt hatte -- und das gleiche Gefühl empfand ich auch anderen
Genossen, ja sogar etlichen unserer Führer gegenüber ... Alle jene
Menschen, die ich auf der Erde gekannt hatte, machten auf mich den
Eindruck halbkindlicher, noch nicht völlig erwachsener Wesen, die das
Leben in sich und ringsum nur unklar zu erfassen vermögen, die äußeren
und inneren Gewalten gehorchen. In dieser Empfindung war kein Tropfen
von Selbstüberhebung, oder Verachtung, sondern tiefe Zuneigung und
brüderliches Interesse für diese embryonalen Geschöpfe, die Kinder einer
jungen Menschheit.


                           Der Briefumschlag

Die glühende Sommersonne schien das Eis, in dem das Leben des Landes
erstarrt war, zu schmelzen. Es erwachte, und die Morgenröte neuer Stürme
zeigte sich am Horizont. Aus der Tiefe drang von neuem dumpfes Murren.
Diese Sonne, dieses Erwachen erwärmten meine Seele, steigerten meine
Kräfte; ich fühlte, bald würde ich gesünder sein, als ich es je zuvor
gewesen.

In dieser Stimmung unklarer Lebensfreude wollte ich nicht mehr an die
Vergangenheit denken. Das Bewußtsein, ich sei von der ganzen Welt, von
allen vergessen, tat mir wohl ... Für die Genossen wollte ich erst zu
einer Zeit auferstehen, da es keinem mehr einfallen würde, mich über die
Jahre meiner Abwesenheit zu befragen, es für derartiges kein Interesse
geben und meine Vergangenheit in den stürmischen Wogen einer neuen Flut
versunken sein werde. Bemerkte ich jedoch Tatsachen, die diese meine
Hoffnung als zweifelhaft erscheinen ließen, so erfaßten mich Erregung
und Unruhe, sowie eine sinnlose Feindseligkeit gegen jene, die sich noch
an mich erinnern konnten.

An einem Sommerabend fand sich Werner bei der Rückkehr aus dem
Krankenhaus nicht, wie gewöhnlich, im Garten ein, um sich zu erholen --
er bedurfte dieser Erholung, denn der Rundgang durchs Krankenhaus
ermüdete ihn sehr, -- sondern suchte mich auf und begann mich
ausführlich über mein Befinden zu befragen. Mir schien, als strenge er
sich an, meine Antworten im Gedächtnis zu behalten. Das war etwas
ungewöhnliches, und ich glaubte, er habe vielleicht durch einen Zufall
meine kleine Verschwörung entdeckt. Doch merkte ich bald, daß er
keinerlei Verdacht hege. Dann verließ er die Stube und begab sich in
sein Arbeitszimmer. Erst eine halbe Stunde später sah ich durchs
Fenster, daß er in seiner dunklen Lieblingsallee spazieren ging. Ich
konnte nicht umhin, diese Kleinigkeiten zu beobachten, gab es ja in
meiner Umgebung keinerlei große Vorfälle und Ereignisse. Nachdem ich
verschiedene Vermutungen verworfen hatte, kam ich zu der
allerwahrscheinlichsten Lösung, Werner wolle vielleicht auf eine
besondere Aufforderung hin jemandem über meine Gesundheit einen Bericht
schreiben. Die Post wurde ihm allmorgendlich in sein Arbeitszimmer
gebracht, -- vielleicht hatte er heute einen Brief erhalten, der sich
nach mir erkundigte.

Von wem war dieser Brief, was bezweckte er? Ich mußte dies unbedingt
erfahren, um meine Seelenruhe wiederzufinden. Werner selbst zu befragen,
wäre vergeblich gewesen -- er schien einen besonderen Grund zu haben,
mir den Brief zu verheimlichen, hätte sonst von selbst darüber
gesprochen. Ob vielleicht Wladimir etwas wußte? Aber es erwies sich, daß
auch ihm nichts bekannt war. Ich überlegte, auf welche Art und Weise ich
die Wahrheit erfahren könnte.

Wladimir war zu jedem Dienst bereit. Meine Neugierde erschien ihm völlig
berechtigt, Werners geheimnisvolles Wesen hingegen fand er unbegründet.
Er scheute sich nicht, Werners Zimmer einer wahren Durchsuchung zu
unterziehen, desgleichen das medizinische Kabinett, doch fand er nichts
Interessantes.

»Entweder hat er den Brief eingesteckt«, meinte Wladimir, »oder aber
zerrissen und fortgeworfen.«

»Wohin wirft er gewöhnlich die zerrissenen Briefe und Papiere?« fragte
ich.

»In den Korb, der unter dem Tisch seines Arbeitszimmers steht.«

»Gut, bringen Sie mir alle Papiere, die Sie im Korb finden.« Wladimir
ging und kehrte eiligst zurück.

»Es sind gar keine Papiere im Korb«, erklärte er. »Doch fand ich diesen
Briefumschlag, den er, dem Stempel nach, heute erhalten haben muß.«

Ich griff nach dem Umschlag und betrachtete die Aufschrift. Plötzlich
schien unter meinen Füßen die Erde zu versinken, und die Wände drohten
über mir einzustürzen ...

Es war Nettis Schrift!


                              Der Abschluß

Aus dem Chaos der Erinnerungen und Gedanken, in dem meine Seele versank,
als ich sah, daß sich Netti auf der Erde befinde und nicht mit mir
zusammentreffen wolle, erhob sich nur das Endergebnis klar und deutlich.
Dies kristallisierte sich gleichsam von selbst heraus, ohne irgendeinen
logischen Prozeß, und stand über jedem Zweifel. Doch vermochte ich mich
damit nicht abzufinden. Ich wollte meine Tat mir und anderen gegenüber
begründen. Vor allem aber konnte ich mich nicht in den Gedanken finden,
daß Netti meine Tat nicht begreifen, sie für einen bloßen Ausbruch des
Gefühls halten könnte, obschon sie doch eine logische Notwendigkeit
gewesen war, die sich unvermeidlich aus meiner ganzen Geschichte
entwickelt hatte.

Es galt also, vor allen folgerichtig meine Geschichte zu erzählen, um
der Genossen, um meiner, um Nettis willen ... Deshalb wurde dieses
Manuskript geschrieben. Werner, der es als erster lesen wird -- am Tage
nach Wladimirs und meiner Flucht -- möge für dessen Veröffentlichung
sorgen, -- selbstverständlich muß er die nötigen, durch unsere
konspirative Tätigkeit bedingten Abänderungen vornehmen. Das ist meine
einzige Bitte. Ich bedaure sehr, daß ich ihm nicht zum Abschied die Hand
drücken kann ...

Während ich an diesen Erinnerungen schrieb, erhob sich die Vergangenheit
immer heller und klarer vor mir, das Chaos verwandelte sich in
Gewißheit, die von mir gespielte Rolle, sowie meine Lage zeichneten sich
scharf in meinem Bewußtsein ab. Mit gesundem Verstand und klarer
Erinnerung vermag ich alles zum Abschluß zu führen ...

Zweifellos überstieg die mir gestellte Aufgabe meine Kräfte. Worin aber
ist die Ursache meines Mißerfolges zu suchen? Und wie ist der Irrtum zu
erklären, den sich Mennis durchdringender, hoher Verstand bei meiner
Wahl zu schulden kommen ließ?

Ich entsann mich eines Gespräches, das ich mit Menni über meine Wahl
geführt hatte. Es war zu jener glücklichen Zeit gewesen, als Nettis
Liebe in mir den unbegrenzten Glauben an meine Kraft erweckt hatte.

»Wie kam es, Menni«, fragte ich, »daß Sie aus der großen Menge
verschiedenartigster Menschen unseres Landes, deren Bekanntschaft Sie
während Ihres Aufenthaltes auf der Erde gemacht hatten, gerade mich für
den geeignetsten Vertreter der Erde gehalten haben?«

»Die Auswahl war nicht besonders groß«, entgegnete er. »Sie mußte im
Rahmen der Vertreter des wissenschaftlich-revolutionären Sozialismus
getroffen werden, denn alle anderen Weltanschauungen standen der unseren
noch weit ferner.«

»Mag sein. Wäre es aber nicht viel leichter gewesen, unter den
Proletariern, die die Basis und die Kraft unserer Bewegung bedeuten, das
richtige zu finden?«

»Ja, es wäre richtiger gewesen, dort zu suchen. Aber ... ich hätte bei
ihnen nicht das gefunden, was mir unentbehrlich schien: die umfassende,
vielseitige Bildung, die höchste Stufe Ihrer Kultur. Diese Tatsache
lenkte mein Suchen nach der anderen Seite.«

So sprach Menni. Seine Annahme bewahrheitete sich nicht. Bedeutet dies,
daß er überhaupt keinen Erdenmenschen hätte mitnehmen dürfen, daß der
Unterschied zwischen den beiden Kulturen ein unüberbrückbarer Abgrund
ist, über den der _Einzelne_ nicht hinüberzugelangen, und den bloß die
Gesellschaft zu besiegen vermag? Das zu glauben, wäre für mich
persönlich ein großer Trost, doch zweifle ich ernstlich daran. Ich
glaube vielmehr, daß sich Menni in jener Ansicht, die unsere
Arbeitergenossen betrifft, geirrt habe.

Wodurch erlitt ich Schiffbruch?

Die erste Ursache war vielleicht der Umstand, daß sich eine Unmenge
Eindrücke des fremden Lebens auf meinen Geist stürzte, daß deren
Reichhaltigkeit mein Bewußtsein überflutete und die Ufer verwischte. Mit
Nettis Hilfe überlebte ich die Krise und fand mich wieder zurecht. Aber
war nicht diese Krise selbst die Folge jener erhöhten Empfindsamkeit,
jener verfeinerten Wahrnehmung, die rein geistig arbeitenden Menschen
eigen ist? Würde vielleicht einer primitiveren, etwas weniger
komplizierten, widerstandsfähigeren und einfacheren Natur alles leichter
gefallen, und für sie der rasche Uebergang weniger schmerzlich gewesen
sein? Vielleicht wäre es für den mindergebildeten Proletarier weniger
schwer gewesen, sich in ein neues, höheres Dasein zu finden, freilich
hätte er weit mehr Neues lernen müssen, doch wäre in seinem Fall nicht
nötig gewesen, so viel Altes zu verlernen, und gerade dies ist das
schwerste ... Mir scheint, daß ich in dieser Hinsicht recht habe und daß
sich in Mennis Berechnung ein Fehler eingeschlichen hatte, indem er dem
Kulturniveau mehr Bedeutung beimaß, als der kulturellen
Entwicklungskraft.

Ferner wurden meine Seelenkräfte von dem _Charakter_ jener Kultur
zermalmt, an die ich mich mit meinem ganzen Wesen anzupassen versuchte.
Ihre Erhabenheit erdrückte mich, die Tiefgründigkeit ihrer sozialen
Bande, die Reinheit und Durchsichtigkeit der Verhältnisse zwischen
Mensch und Mensch. Sternis Rede, die auf etwas plumpe Art die
Unermeßlichkeit der zwei Lebenstypen beleuchtete, war bloß die
Veranlassung, der letzte Anstoß, der mich in die Untiefe stürzte, an
deren Rand mich mit elementarer, unbezwinglicher Kraft der Widerspruch
zwischen meinem Innenleben und dem ganzen sozialen Milieu, in der
Fabrik, der Familie, der Gesellschaft, unter Freunden getrieben hatte.
Und abermals muß ich fragen, ob diese Widersprüche nicht gerade bei mir
doppelt so stark und scharf fühlbar wurden, bei mir, dem revolutionären
Intellektuellen, der neun Zehntel seiner Arbeit entweder in der
Einsamkeit verrichtet hatte, oder zumindest unter Bedingungen, die ihn
von seinen auf einer anderen Bildungsstufe stehenden Mitarbeitern
absonderten? Bei mir, dessen Persönlichkeit sich von den anderen
_abgesondert_ hatte? Würden sich diese Widersprüche nicht weit schwächer
bei einem Menschen ausgewirkt haben, der neun Zehntel seines
Arbeitslebens auf primitive, undifferenzierte Art verbracht, sich aber
stets in einem Kameradenkreis aufgehalten hatte, mit diesem durch eine
grobe, aber tatsächliche Gleichheit verbunden? Mir schien, daß dem so
sei, und daß Menni seinen Versuch in anderer Richtung wiederholen müßte
...

Zwischen den beiden von mir erlittenen Schiffbrüchen hatte es eine Zeit
der Entschlossenheit und der männlichen Tatkraft im Kampfe gegeben. Das,
was damals meine Kraft aufrecht erhielt, half mir auch heute ohne ein
Gefühl allzu großer Demütigung den Abschluß zu machen: Nettis Liebe.

Freilich war Nettis Liebe ein edler und liebevoller Irrtum gewesen,
dennoch war eine solche Liebe _möglich_; diese Tatsache konnte durch
nichts und niemanden weggeleugnet und verändert werden. Für uns
bedeutete sie eine Bürgschaft für die tatsächliche Annäherung der beiden
Welten, und für ihre künftige Verschmelzung zu einer einzigen, ungeahnt
schönen und starken Welt.

Und ich selbst ... Für mich gibt es keinen Abschluß. Für das neue Leben
war ich nicht geeignet, nach dem alten verlangt es mich nicht mehr. Ich
gehöre ihm nicht mehr an, weder den Gedanken, noch den Gefühlen nach. Es
gibt nur einen Ausweg.

Die Zeit ist vorüber. Mein Spießgeselle erwartet mich im Garten; eben
hörte ich sein Signal. Morgen werden wir bereits fern von hier sein, auf
dem Wege dorthin, wo das Leben brodelt und die Ufer überflutet, wo es
leicht sein wird, die mir so verhaßte Grenze zwischen Vergangenheit und
Zukunft zu verwischen. Leb wohl, Werner, guter, alter Genosse.

Gegrüßt seiest du, neues strahlendes Leben, und auch du, dessen
leuchtende Erscheinung: meine Netti!



     Aus einem Brief des Doktor Werner an den Schriftsteller Mirski


                   (Der Brief trägt kein Datum; diese Unterlassung ist
                    offenbar durch Werners Zerstreutheit verschuldet.)

                   *       *       *       *       *

Die Kanonade war bereits seit langem verstummt, und noch immer wurden
neue und neue Verwundete gebracht. Die meisten davon waren Milizleute
und nicht Soldaten, oder friedliche Einwohner, darunter auch viele
Frauen und sogar Kinder: vor den Schrapnellen sind alle gleich. In mein
nahe dem Schlachtfeld gelegenes Krankenhaus wurden vor allem Milizleute
und Soldaten eingebracht. Die von den Granaten und Schrapnellen
verursachten furchtbaren Verwundungen machten sogar auf mich, den alten
Arzt, der seit Jahren nicht mehr chirurgisch gearbeitet hat, einen
tiefen Eindruck. Doch erhob sich aus dem Grauen triumphierend der
leuchtende Gedanke: Sieg!

Es war unser erster großer Sieg im gegenwärtigen Ringen, war ein
entscheidender Sieg. Die Wagschale senkte sich nach der anderen Seite.
Ein furchtbares Gericht hub an. Hier wird es keine Gnade, sondern
Gerechtigkeit geben. Schon längst war die Zeit reif ...

Auf den Straßen Blut und Trümmer. Feuersbrünste und der Rauch der
Kanonade hatten die Sonne blutrot gefärbt. Doch erschien sie unserem
Auge nicht böse und zornig, sondern freudenvoll. In der Seele klang ein
Kampflied, eine Siegeshymne.

                   *       *       *       *       *

Leonid wurde gegen Mittag ins Krankenhaus gebracht. Er hatte eine
gefährliche Wunde in der Brust und einige leichte Verletzungen, fast nur
Schrammen. Er hatte sich zur Nachtzeit mit dem fünften Grenadierregiment
in jenen Teil der Stadt begeben, der sich in den Händen der Regierung
befand. Der Kampf endete damit, daß einige verzweifelte Ueberfälle
Schrecken und Demoralisation hervorriefen. Leonid selbst hatte diesen
Plan entworfen und dessen Ausführung geleitet. Er hatte in früheren
Jahren viel in dieser Stadt gearbeitet und kannte alle Winkel und
Verstecke, konnte deshalb dieses tollkühne Unternehmen besser
durchführen als jeder andere. Der Führer der Miliz, der zuerst gegen den
Plan gewesen war, stimmte schließlich zu. Es gelang Leonid, mit seinen
Granaten bis zu einer der feindlichen Batterien vorzudringen und etliche
Kisten mit Munition zu zerschmettern. Während der durch die Explosion
entstandenen Panik gelang es den Unseren, die feindlichen Waffen zu
zerstören, sowie die Batterien. Dabei erhielt Leonid einige leichte
Verwundungen. Beim Rückzug gelangten die Unseren in die Reihen der
feindlichen Dragoner. Leonid übergab das Kommando Wladimir, der sein
Adjutant war, schlich sich selbst mit den beiden letzten Granaten zum
nächsten Tor, hielt sich im Hinterhalt, bis es den anderen gelungen war,
sich zurückzuziehen. Er ließ die feindlichen Reihen zum Teil an sich
vorüberschreiten, warf dann die erste Granate gegen einen Offizier, die
zweite in die nächste Gruppe der Dragoner. Die ganzen Reihen flüchteten
eiligst; die Unseren kehrten zurück und fanden Leonid schwer verletzt
neben seinen Granaten. Sie brachten ihn noch vor dem Morgengrauen in
unsere Linien und übergaben ihn mir.

Es gelang mir, den Granatsplitter zu entfernen, doch waren die Lungen
verletzt und Leonid befand sich in einem kritischen Zustand. Ich brachte
den Kranken so gut wie möglich unter, freilich konnte ich ihm nicht das
geben, dessen er am meisten bedurfte: die völlige Ruhe, die ihm so sehr
not tat. Am Morgen begann die Schlacht von neuem, ihr Dröhnen drang bis
zu uns. Die unruhige Erwartung des Ausgangs der Schlacht verstärkte
Leonids Fieber. Als noch weitere Verwundete eingebracht wurden,
steigerte sich seine Erregung, und ich war gezwungen, vor sein Bett
einen Wandschirm zu stellen, damit er die fremden Wunden nicht sehe.

                   *       *       *       *       *

Nach etwa vier Stunden ging der Kampf bereits seinem Ende zu, und der
Ausgang war klar ersichtlich. Ich war mit der Unterbringung der
Verwundeten beschäftigt. Da wurde mir die Karte jener Frau gebracht, die
sich vor einigen Wochen schriftlich nach Leonids Befinden erkundigt und
mich nach Leonids Flucht aufgesucht hatte. Ich sandte sie damals mit
einem Empfehlungsschreiben zu Ihnen, damit sie in Leonids Manuskript
Einsicht nehme. Sie war zweifellos eine Genossin und anscheinend
Aerztin. Deshalb führte ich sie in mein Zimmer. Sie trug auch heute wie
damals einen dichten schwarzen Schleier, der ihre Züge völlig verdeckte.

»Ist Leonid bei Ihnen?« fragte sie, ohne mich zu begrüßen.

»Ja«, erwiderte ich, »doch darf er sich keiner Aufregung aussetzen;
wenngleich seine Verwundung eine ernste ist, so hoffe ich dennoch, ihn
heilen zu können.«

Sie stellte hastig eine Reihe von Fragen an mich, die den Zustand des
Verwundeten betrafen. Dann erklärte sie, ihn sehen zu wollen.

»Wird das Wiedersehen ihn nicht aufregen?« fragte ich.

»Zweifellos«, lautete die Antwort. »Doch wird ihm diese Aufregung weit
mehr nützlich als schädlich sein. Dafür kann ich Ihnen bürgen.«

Ihre Stimme klang entschlossen und sicher. Ich fühlte, daß sie genau
wisse, was sie sage und konnte ihre Bitte nicht abschlagen. Wir begaben
uns in jenen Raum, wo Leonid lag und ich zeigte mit einer Gebärde, sie
möge sich hinter den Wandschirm begeben. Ich selbst verharrte in der
Nähe, am Bett eines anderen Schwerverwundeten, um den ich mich bemühte.
Es verlangte mich danach, das Gespräch der Frau mit Leonid zu
erlauschen, um eingreifen zu können, sobald dies notwendig wurde.

Während sie sich hinter den Schirm begab, hob sie ein wenig den
Schleier. Ich erblickte ihre Silhouette durch das undichte Gewebe des
Schirms und sah, wie sie sich zu dem Verwundeten niederbeugte.

»Die Maske ...« ertönte Leonids schwache Stimme.

»Deine Netti«, entgegnete sie. Und in diesen leise, melodisch
gesprochenen Worten lag so viel Liebe und Zärtlichkeit, daß mein altes
Herz erbebte, erfaßt von schmerzlich freudigen Gefühlen.

Die Frau machte eine scharfe hastige Gebärde, fast, als wollte sie ihren
Kragen lösen, nahm dann Hut und Schleier ab und beugte sich noch näher
zu Leonid nieder. Einen Augenblick herrschte tiefes Schweigen.

»Das bedeutet wohl, daß ich sterbe?« fragte Leonid leise.

»Nein, Lenni, das ganze Leben liegt vor uns. Deine Wunde ist nicht
tödlich, ist nicht einmal gefährlich.«

»Und der Mord?« rief er schmerzlich erregt.

»Das war eine Krankheit, mein Lenni. Sei ruhig, diese tödliche Wunde
wird niemals zwischen uns stehen, auch nicht auf dem Wege zu unserem
erhabenen gemeinsamen Ziel. Wir werden das Ziel erreichen, mein Lenni
...«

Ein leises Stöhnen löste sich aus seiner Brust, doch war es kein
Schmerzenston. Ich verließ das Zimmer; mein Patient hatte mir bereits
alles verraten, was ich zu wissen verlangte. Es hätte keinen Sinn
gehabt, weiter zu lauschen. Einige Minuten später erschien die
Unbekannte abermals in Hut und Schleier bei mir.

»Ich nehme Leonid mit«, sprach sie. »Er wünscht dies selbst, und die
Bedingungen für seine Genesung sind bei mir günstiger als hier; Sie
können ganz unbesorgt sein. Zwei Genossen warten unten, werden Leonid zu
mir schaffen. Lassen Sie uns, bitte, eine Tragbahre zur Verfügung
stellen.«

Ich hatte keine Ursache, mich zu weigern: in unserem Spital waren die
Bedingungen tatsächlich keineswegs glänzend. Ich fragte die Unbekannte
nach ihrer Adresse, -- sie wohnte ganz nahe von hier. Ich beschloß, am
folgenden Tag hinzugehen und Leonid zu besuchen. Zwei Arbeiter
erschienen und trugen Leonid vorsichtig auf einer Bahre fort.

                   *       *       *       *       *

PS. geschrieben am folgenden Tag.

Leonid und Netti sind spurlos verschwunden. Ich war eben in ihrer
Wohnung: die Türen waren geöffnet, die Zimmer leer. Im großen Saal stand
ein ungeheures Fenster sperrangelweit offen, auf dem Tisch lag ein an
mich gerichteter Brief. Mit zitternder Hand waren bloß einige wenige
Worte geschrieben:

                              »Grüße an die Genossen. Auf Wiedersehen.
                                                          Ihr Leonid.«

Seltsam, ich fühle keinerlei Unruhe und Sorge. Diese Tage haben mich zu
Tode erschöpft; ich sah viel Blut, sah viele Leiden, die ich nicht zu
lindern vermochte, erblickte Bilder der Zerstörung und des Untergangs;
dennoch herrschen in meiner Seele Freude und Licht.

Das Aergste liegt hinter uns. Noch harrt unser ein langer und schwerer
Kampf, aber vor uns leuchtet der Sieg ... Und der neue Kampf wird
leichter sein.


                                 Ende.



                           Inhaltsverzeichnis


                                                                   Seite

   Dr. Werner an den Schriftsteller Mirski                             5

   Leonids Manuskript

   Erster Teil
   Der Bruch                                                           9
   Die Aufforderung                                                   14
   Die Nacht                                                          20
   Die Erklärung                                                      24
   Die Abfahrt                                                        28
   Der Aetheroneff                                                    33
   Die Menschen                                                       38
   Die Annäherung                                                     45
   Vergangenes                                                        51
   Die Ankunft                                                        61

   Zweiter Teil
   Bei Menni                                                          64
   In der Fabrik                                                      69
   Das Haus der Kinder                                                77
   Das Kunstmuseum                                                    86
   Im Krankenhaus                                                     97
   Arbeit und Gespenster                                             103
   Netti                                                             111

   Dritter Teil
   Glück                                                             116
   Trennung                                                          117
   Die Kleiderfabrik                                                 120
   Enno                                                              125
   Bei Nella                                                         129
   Auf der Suche                                                     136
   Sterni                                                            140
   Netti                                                             151
   Menni                                                             156
   Der Mord                                                          159

   Vierter Teil
   Bei Werner                                                        165
   War es -- war es nicht                                            167
   Das Leben der Heimat                                              170
   Der Briefumschlag                                                 174
   Der Abschluß                                                      176

   Aus einem Brief des Doktor Werner an den Schriftsteller Mirski    181


                     Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):

   [S. 15]:
   ... daß sie diesen Voraussetzungen größere Bedeutung beimessen, ...
   ... daß Sie diesen Voraussetzungen größere Bedeutung beimessen, ...

   [S. 18]:
   ... ich sie später bekannt machen werde.« ...
   ... ich Sie später bekannt machen werde.« ...

   [S. 23]:
   ... Menni befestigte die Gondel an einen eigens dazu bestimmten ...
   ... Menni befestigte die Gondel an einem eigens dazu bestimmten ...

   [S. 104]:
   ... war eine ungeheuer große. Welchen gewaltigen Nutzen konnte ...
   ... war eine ungeheuer große. Welcher gewaltige Nutzen konnte ...

   [S. 130]:
   ... über die ihm unverständlichen technischen Ausdrücke, die ...
   ... über die ihr unverständlichen technischen Ausdrücke, die ...

   [S. 136]:
   ... haben würde, mich für lange Zeit auf dem tiefen, durch
       Sandbänken ...
   ... haben würde, mich für lange Zeit auf dem tiefen, durch
       Sandbänke ...





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