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Title: Idole des Zwanzigsten Jahrhunderts. VIII. Moral ohne Religion - Religiös-wissenschaftliche Vorträge
Author: Cohausz, Otto
Language: German
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    Idole des Zwanzigsten
    Jahrhunderts.

    Religiös-wissenschaftliche Vorträge
    von Otto Cohausz S. J.

    VIII. Moral ohne Religion.

    [Illustration]

    Göbel & Scherer [H. Klemmer], Verlagsbuchhandlung
    Würzburg 1912.



Mit Erlaubnis der Ordensobern.


        ~Nihil obstat.~

    ~Wirciburgi~, 12. Januar 1912.

        ~Dr.~ Hergenröther, ~Canonicus~.


        ~Imprimatur.~

    Würzburg, den 13. Januar 1912.

        Heßdörfer, ~vic. general.~

            Kraus.



Moral ohne Religion.


Die _religiösen_ Werte hat die »Moderne« zum Teil verworfen, der
_moralischen_ kann sie nicht entraten, denn der tugendhafte Mensch
bleibt ja ihr Ideal; da die »Götter für sie tot sind«, soll der
»Übermensch leben«. Um den tugendhaften Menschen heranzubilden, bedarf
sie aber der Tugendlehre. Wohl lehrt auch das Christentum Tugend und
Moral. Aber das steht ja einmal bei den Neueren fest, daß Christliches
sie nicht mehr beglücken kann. Darum sucht man nach neuen ethischen
Gesetzen.

So uneinig man nun auch in der Aufstellung neuer moralischer Werte sein
mag, in einem Punkte trifft man zusammen: darin, daß eine reinliche
Trennung von Moral und Religion vorgenommen werden muß.

Gott ist der christlichen Moral Kern und Stern; er ist die letzte Norm
der christlichen Moral, er ihr letzter Verpflichtungsgrund und ihre
allein durchschlagende Werbekraft. Nach allen drei Beziehungen soll
Gott ausgeschaltet und die neue Ethik auf sich selbst gestellt werden.
Unmögliche Forderungen!

[Illustration]



I. Gott allein ist die letzte Norm der Moral.


Auf die Frage: warum ist etwas gut, z. B. die Heiligung des Sabbats
und die Ehrfurcht vor den Eltern, und warum ist etwas, z. B.
Unzucht und Diebstahl, schlecht? antwortet der Christ wohl zuerst:
weil Sabbatheiligung und Elternliebe von Gott geboten und weil
Unzucht und Diebstahl von ihm verboten wurden. Sein nächstliegendes
Unterscheidungsmerkmal findet er also in den »Zehn Geboten«. Er geht
darin sicher; denn, was Gott geboten, kann nicht sittlich schlecht, und
was er verboten, nicht sittlich gut sein. Diese Norm ist zwar nicht
die letzte objektive, wie später gezeigt werden wird, aber doch die
praktisch brauchbarste, weil nächstliegende.

Die Moderne will dieses Kriterium, weil es in einem »Fremdwillen« und
auf »religiösen Verpflichtungen« beruht, nicht gelten lassen. »O, meine
Brüder, zerbrecht mir die alten Tafeln!« so hat einer der Gewaltigsten
gesprochen (Nietzsche, Zarathustra »Von alten und neuen Tafeln«), und
abermals klirren die Trümmer des Gottesdokumentes am Felsen. Moses
zerbrach die zwei Tafeln, weil sie ihm für das sündige Volk zu heilig
schienen, die Moderne entledigt sich ihrer, weil sie ihr sittlich nicht
hoch genug stehen.

Aber was will sie denn an ihre Stelle setzen? Wonach soll denn unsere
Zeit entscheiden, was gut und was bös ist?

Chaotisch fluten die Antworten auf diese Frage durcheinander. »Sittlich
gut ist«, sagt uns der Prophet des Übermenschen, »was den Willen zur
Macht fördert«, und »sittlich gut ist«, sagt uns im Gegenteil ein
Schopenhauer, »was aus Mitgefühl mit andern hervorgeht«. »Sittlich gut
ist«, sagt uns ein Kant, »was aus reinem Pflichtgefühl hervorgeht«,
und »sittlich gut ist«, sagt ein ~De la Mettrie~, »nur das und alles
das, was mit Lust und aus Lust verrichtet wird«. »Sittlich gut ist«,
sagt ein Reid, »was am gesunden Menschenverstand gemessen wird«, und
»sittlich gut«, sagt ein Shaftesbury, »ist das, was mit dem ~moral
sense~ übereinstimmt«. »Sittlich gut«, nennt der gestrenge Fichte das,
»was das Ich vervollkommnet«, und »sittlich gut« nennt der zynische
Helvetius alles das, »was den Sinnenkitzel fördert«. »Sittlich gut«
ist dem Egoisten Stirner alles, »was das Ich hebt, unbekümmert um das
Wohlergehen anderer«, und als »sittlich gut« bezeichnete ein John
Stuart Mill, ein Laas, ein Lotze nur das, »was das größtmöglichste
Glück der größtmöglichsten Zahl hervorzaubert, unbekümmert um
das Schicksal des einzelnen«. »Sittlich gut« handelt nach Wundt
und Paulsen, »wer immer auf Steigerung der Kultur hindrängt«,
»sittlich gut« handelt nach Eduard von Hartmann, »wer zur schnellen
Weltvernichtung beiträgt«.

So setzt der eine anstelle des Dekalogs das eigene Ich, der andere die
Gesamtheit, der eine die Lust, der andere den Schmerz, der eine den
trockenen Verstand, der andere das ewig schwankende, unstet tosende
Gefühl. »Man braucht nur«, sagt Förster (Autorität und Freiheit,
S. 46 ff.), »an die Fülle widerstreitender Theorien in der sexuellen
Reformliteratur zu denken, um vorauszusehen, daß es künftig auf dem
Gebiet einer konsequent weltlichen Laienethik noch unvergleichlich mehr
Meinungsverschiedenheiten geben wird als auf dem Gebiete des religiösen
Glaubens ... Wir lernen heute anschaulich kennen, was aus Ethik und
Religion wird, wenn »die Menschen sie machen«, das unerlöste Individuum
kommt darin so gründlich zu Wort, daß von Religion und Ethik nicht viel
übrig bleibt«. Und es bleibt, um mit R. Eucken (Geistige Strömungen
der Gegenwart, S. 324) zu reden, »nur die Tatsache festzustellen, daß
unsere Zeit überhaupt einer ihre innersten Bedürfnisse befriedigenden
Moral entbehrt ...« und daß ein »solcher Mangel an der eigenen Moral
die Kraft der Moral in unserer Zeit herabsetzt«, -- eine Tatsache, die
allerdings nicht sehr zu Gunsten der von den Zehngeboten losgelösten
neuen Moral spricht.

Diese vom sichern Fundament des Zweitafelgesetzes losgelöste Moral muß
Unsicherheit und Verwirrung in alle Kreise tragen. Sie ist ja nicht
eine rein theoretische Wissenschaft, sondern eine Lebensnorm.

Der _einzelne_ will zu einer moralischen Größe sich heranbilden; wie
kann er es? Will er, mit Kant dem kategorischen Imperativ folgend,
etwa auf eine Neigungsheirat verzichten, dann ruft ihm ein Helvetius
zu: Du handelst unmoralisch; denn schlecht ist es, der Lust nicht zu
folgen, und geht er mit Helvetius der Neigung nach, dann erhebt der
Weise von Königsberg energisch Einsprache gegen sein Tun. Öffnet er,
von Schopenhauers Mitleidstheorien beeinflußt, den Notleidenden seine
Börse, dann schleudert Nietzsche ihm das Anathem entgegen, weil es
unmoralisch sei, das Schwache zu stützen, und glaubt er nun Nietzsche,
dann hat er Schopenhauer zum Gegner. So kommt er nie zum Handeln;
denn wer will ihm sagen, welche von den sich bekämpfenden Lehren die
wahre ist? Alle bieten dieselbe Gewähr, weil alle den Köpfen einzelner
entspringen.

»Diese Wirkung«, bemerkt Förster wiederum treffend (a. a. O. S. 47),
»machen sich die Gegner der religiösen Autorität auch nicht annähernd
klar ... Kann ich mich denn selbst erziehen, mich beherrschen und
enthalten, wenn alle sittlichen und religiösen Lehren nur individuelle
Hypothesen sind? Warum soll ich diesen Hypothesen mehr glauben
als meinen eigenen individuellen Einfällen? So mische ich mir aus
Gutem und Bösem, Wahrem und Falschem meine eigene Ethik, die mit
den Leidenschaften wechselt, welche in meiner Seele den Vorrang
gewinnen, und die den Zeitmoden folgt, die gerade im Schaufenster des
Buchhändlers mein Auge treffen. Vom Standpunkt des Pilatus: »Was ist
Wahrheit?« ist jedenfalls keine Charakterbildung möglich.«

In welch verzweifelte Situation die _Pädagogik_ durch diese neue
Moral versetzt wird, ist auch klar. Will man es dem einzelnen Lehrer
überlassen, sich eines der neuen Moralsysteme zu wählen und darnach
seine Schüler zu unterrichten, dann wird in der einen Schule bald die
luststeigernde Unsittlichkeit, in der andern die das Übermenschtum
fördernde Gewalttat, in einer dritten der das größtmöglichste Glück
der größtmöglichsten Zahl bewirkende Tyrannenmord als sittlich gut
verteidigt usw. und in der andern all das als verwerflich verurteilt.
Welch eine Generation würde da heranwachsen!

Will man aber den Lehrern eine bestimmte Norm vorschreiben, dann fragt
es sich wiederum: »Welche?« Und mit welchem Recht verwirft man die
anderen? Lehr_zwang_ wäre ja nach der Neuethik unmoralisch!

Nicht erfreulicher als auf dem Gebiet der Pädagogik würde sich das Bild
im _Gerichtswesen_ gestalten.

Man will einen Lustmörder verurteilen -- aber mit Helvetius wird er
beweisen, daß er eine eminent moralische Tat, weil luststeigernd,
beging; man will einen Hochstapler gefangen setzen -- aber mit Stirner
und Nietzsche wird er dartun, daß er durchaus richtig handelte, weil er
den »Willen zur Macht« betätigte; man will den Königsmörder belangen --
aber der Mob wird ihn als Märtyrer preisen weil er dem Volkswohl die
treffendsten Dienste erwies. Wie wäre eine Rechtsprechung möglich?

Selbstbildung, Erziehung, Gesetzgebung und Rechtsprechung erfordern
gebieterisch eine einheitliche Norm für gut und bös -- die Neuethik
gibt sie nicht, damit ist ihre _praktische Unbrauchbarkeit_ erwiesen.

Aber auch die _theoretische Überlegung_ findet in den modernen
Moralsystemen, so manche unbestreitbare Wahrheit sie auch in sich
bergen mögen, ihr völliges Genügen nicht.

Ein so buntscheckiges Durcheinander die moralischen Normen der
Gegenwart auch dem Auge darbieten mögen, so lassen sich doch zwei
Hauptgruppen nicht übersehen: es gibt _subjektive Maßstäbe_ der
Sittlichkeit und _objektive_; subjektive, d. h. im Subjekt, im Menschen
liegende und objektive, d. h. aus den Dingen, die zum Menschen in
Beziehung stehen, sich ergebende.

Die subjektiven Moralprinzipien sind darin einig, daß sie die Gutheit
oder Schlechtigkeit einer Handlung aus der Übereinstimmung oder
Nichtübereinstimmung mit einem Sittenrichter _in uns_ herleiten, in der
näheren Bestimmung dieses Sittenrichters gehen sie aber auseinander.
Shaftesbury, Hutcheson, Jacobi, Schuppe, Höffding u. a. verlegen diesen
Sittenrichter in den moralischen Sinn, Ad. Smith und Schopenhauer
dagegen in das Mitgefühl, Herbert glaubt ihn im sittlichen Geschmack
entdeckt zu haben, Reid im gesunden Menschenverstand, Kant dagegen im
kategorischen Imperativ.

Nach der ersten Gruppe bedürfen wir also gar keiner langen
Untersuchungen über das, was erlaubt und was unerlaubt ist; ein
angeborener Instinkt -- der ~_moral sense_~ -- sagt es uns sofort;
aber zunächst ist es unbewiesen, daß ein solch moralisches Gefühl
besteht, und wenn es bestände, so bliebe stets noch die Frage offen:
Wie kommt es denn, daß diesem moralischen Sinn die einen Handlungen
gefallen und andere Unbehagen erwecken? Entweder sagt man: weil Gott
die Natur so eingerichtet hat -- dann kommt man auf die theistische
Ethik schließlich wieder hinaus; oder man sagt: weil der moralische
Sinn Lust empfindet bei guten Handlungen, Unlust bei bösen -- dann
verfällt man dem später zu würdigenden Hedonismus; oder man antwortet:
dem moralischen Sinn gefallen die einen Handlungen, weil sie das eigene
und fremde Wohlergehen fördern -- es mißfallen ihm andere, weil sie das
Gegenteil bewirken -- dann hat man wiederum die rein subjektive Norm
verlassen und sich aus seiner Verlegenheit an das Ufer des Eudämonismus
gerettet. Der ~moral sense~ versagt.

Ebenso Schopenhauers _Mitgefühl_. Denn, wenn nur das sittlich gut ist,
was aus Mitleid mit andern geschieht, dann ist schlecht jede Handlung
der Gerechtigkeit, Reinheit, Geduld, Mäßigkeit und Liebe -- wer wollte
das aber behaupten?

»Gut«, sagt Kant, »ist nur das, was aus _reinem Pflichtgefühl_
entspringt und dem kategorischen Imperativ entspricht.« Aber der
kategorische Imperativ ist eine willkürliche Annahme, und, wenn nur
das gut ist, was nicht aus Neigung, sondern nur der Pflicht willen
geschieht -- dann ist unsittlich die Tat der barmherzigen Schwester,
die aus Liebe sich dem Krankendienste weiht, unsittlich die Tat des
Kühnen, der aus Mitleid den Ertrinkenden aus den Fluten ans Land holt,
unsittlich die Tat des Heiligen, der aus Gottesliebe sein Ich gänzlich
opfert, dann war unsittlich die Tat des Gottessohnes, da er aus Liebe
zu uns sein Leben dahin gab. Ein solches Prinzip aufstellen, heißt das
Edelste, Erhabenste aus dem ethischen Gebiet verweisen und die größten
Helden der Menschheit zu Dämonen stempeln.

Das sah man ein, darum kehrte man zu den _objektiven_ Normen zurück;
man nannte sittlich gut entweder das Lustversprechende oder das
Nützliche oder das Fortschritt Verheißende und unterschied demnach den
ethischen _Hedonismus_, den _Utilitarismus_ und den _Progressismus_.
Aber auch diese reichen nicht aus.

Nicht der _Hedonismus_; denn, wenn das sittlich gut ist, was die Lust,
zumal die Sinnenlust fördert, dann ist gut Müßiggang und Schwelgerei,
Ehebruch und Lustmord, dann sind alle Laster zu Tugenden geworden und
ernste Tugenden, wie Entsagung, Reinheit, zu Lastern.

Will man ferner dem _Utilitarismus_ gemäß das, was nützlich ist, als
moralisch gut bezeichnen, so steht man vor der Alternative, entweder
alles, was irgendwie nützt, so zu werten, oder eine Auswahl zu
treffen. Alles, was irgendwie nützt, kann nicht moralisch gut sein;
denn der Raubmord nützt zum Gelderwerb, Ausschweifung, Rachsucht zur
Lusterregung, und doch wird es keinen ernsten Denker geben, der sie
nicht als verwerflich brandmarkt.

Man muß also unter dem Nützlichen eine Auswahl treffen, man kann nur
das als gut bezeichnen, was zu einem guten Zweck dient -- dann fragt es
sich aber: Wie kommt es, daß dieser Zweck ein guter, ein anderer ein
schlechter ist? So muß ich eine andere Norm zu Rate ziehen.

Fast dasselbe läßt sich von dem dritten System, dem _Progressismus_,
sagen. »Gut ist, was dem Fortschritt dient«; ja, ist aber jeder
Fortschritt gut? -- auch der Fortschritt des Übermenschen, der das
Herdenvolk mit Füßen tritt? Und worin besteht der Fortschritt? In
Steigerung der Wissenschaft oder in Anhäufung des Volksvermögens oder
in der Kunst? Und warum sind denn Wissenschaft, Volkswohl und Kunst
gut? Alle diese Maßstäbe sind zu dehnbar, zu unsicher.

Näher kommt man der Wahrheit, wenn man den Fortschritt in die
_harmonische Ausbildung_ des Einzelmenschen und der Gesamtheit verlegt.
»Menschheit lebe so, wie es deiner Natur und Würde entspricht«, lautet
darum eine andere Formulierung des sittlichen Grundgesetzes. (Zeller.)

Einverstanden, wenn man die menschliche Natur in _ihrer ganzen
Eigenart_ und _all ihren Beziehungen_, d. h. als Teil des Ganzen
erfaßt. Seiner Natur nach ist der Mensch ein geistig-sinnliches Wesen,
der Geist aber steht höher als das sinnliche Element, darum hat der
Geist die Triebe zu regeln, zu lenken; der Mensch ist seiner Natur
nach Bruder vieler Brüder, darum hat er den Mitmenschen in allem
gerecht zu werden; der Mensch ist seiner Natur nach Geschöpf des einen
wahren Gottes, darum kann er Gott nicht übersehen, sonst handelt er
naturwidrig. Soweit die ihm gewordene Natur sich erstreckt, so weit
auch die auf der Natur fußende Pflicht.

Will der Mensch nun seiner _eigenen Würde_ gerecht werden, so hat er
sich vor dem Übergewicht des Sinnlichen zu hüten, er hat seine Triebe
nach dem Willen der geordneten Natur zu regeln, Eßtrieb und Trinklust,
sexuelle Neigung und Zornesempfinden, er hat also keusch, mäßig und
sanftmütig zu leben.

Will er der _sozialen_ Eigenart seiner Natur entsprechen, so hat er den
Urhebern seines Lebens, den Eltern, sich anzupassen, hat die höhere
Autorität des staatlichen Verbandes zu achten, hat er Eigentum und
Leben zu schonen und, weil aus dem ungerechten Begehren die unheilvolle
Tat aufflammt, auch innere Neigungen zu unterdrücken.

Will der Mensch aber nicht den wichtigsten Teil seiner natürlichen
Stellung übersehen, so hat er sich auch _dessen zu erinnern_, dem er
alles verdankt, seines Schöpfers, hat ihn anzuerkennen und seinen
Forderungen zu entsprechen.

Was will das aber alles anderes sagen als das: Du sollst keine fremden
Götter neben mir haben, gedenke, daß du den Sabbat heiligest, du sollst
Vater und Mutter ehren, du sollst nicht töten, nicht ehebrechen, lügen
und stehlen, du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib noch alles,
was sein ist? So führt die Unzulänglichkeit der modernen Moral ganz von
selbst zu den Forderungen zurück, die sie zu ersetzen versprach, zu den
Forderungen der zwei Tafeln Moses. Keine Ethik, die das menschliche
Leben vernunftgemäß zu ordnen gedenkt, wird an den zehn Geboten vorbei
und über sie hinauskommen. Nicht aus Willkür gab der Höchste diese
Gesetze, sondern weil er sah, daß ohne sie nur chaotische Anarchie die
Völker beherrschen wird.

[Illustration]



II. Gott allein ist der letzte Verpflichtungsgrund der Moral.


Zwanglos wie die Moderne sein will, sucht sie auch den Zwang aus
der Moral zu entfernen. Handeln aus Neigung, aus Achtung vor der
Persönlichkeit, nicht aus irgendwelchem Druck, das ist ihre
Lieblingsidee, eine Idee, die in gleicher Weise der Psychologie der
ethischen Ordnung wie ihrer Geschichte sich entgegenstellt.

Mit vollem Recht bemerkt Eucken dem gegenüber: »Unter Moral hatten
wir uns gewöhnt an die Anerkennung einer _willkürentzogenen_ Ordnung,
an _die Hochhaltung von Pflicht und Gewissen zu denken_. Was aber
der aesthetische Subjektivismus mit seiner »neuen Ethik« bietet, ist
nichts anderes als ein feinerer Epikuräismus, als ein Selbstgenuß des
Individuums, das sich von aller Hemmung frei weiß.« (A. a. O. S. 337)

Eine auch nur oberflächliche Analyse des ethischen Lebens der Völker
ergibt allerdings als unantastbares Wahrheitsgut die eine Tatsache, daß
das Sittengesetz nicht etwa ein »ich möchte von Dir« oder »ich rate
Dir«, sondern ein »ich _will_«, »Du sollst« gebieterisch ausspricht,
daß es auch gegen die Neigungen sich durchsetzt. »Gut im moralischen
Sinne«, sagt Paulsen (Syst. d. Ethik I⁸ S. 342), »ist ein Handeln,
dessen Motiv die Achtung vor der Pflicht ist. Die Erfüllung der
Pflicht liegt aber, wie es scheint, nicht eben in der Richtung des
natürlichen Willens. Im Gegenteil: Pflicht ist, wie die Wortbedeutung
es einschließt, was man nicht gern tut; was man aus Neigung tut, ist
nicht Pflicht ... zwischen Pflicht und Neigung ist Widerstreit; das
Pflichtgefühl tritt der Neigung entgegen, abnehmend oder antreibend vor
der Tat, strafend oder billigend nach der Tat. Das Gewissen stellt sich
im Selbstbewußtsein nicht als der Ausdruck des natürlichen Eigenwillens
dar, sondern eines _fremden_, eines _höheren Willens_, dem der eigene
Wille sich beugt oder wenigstens sich zu beugen eine innere Nötigung
fühlt: ein Sollen tritt in der Pflicht ... dem bloßen Wollen gegenüber.
Und aller eigentlich moralischer Wert scheint nun eben darauf zu
beruhen, daß das Wollen dem Sollen sich unterordnet.«

Und unter dem Druck dieses »Du sollst« steht die ganze Menschheit.
»Nun findet«, sagt Kant, »jeder Mensch in seiner Vernunft die Idee der
Pflicht und zittert beim Anhören ihrer ehernen Stimme, wenn sich in
ihm Neigungen regen, die ihn zum Ungehorsam gegen sie versuchen«. (Kl.
Schr. IV, 14.)

Die Geschichte und persönliche Erfahrung geben ihm Recht. »Ob wir
moralisch gut handeln wollen oder nicht, ist uns nicht freigestellt,
sondern das Sittengesetz zu beachten fühlen wir uns verpflichtet.«
In dem Satz sind alle Moralphilosophen einig, mögen sie nun zu den
Peripatetikern zählen oder zu den Stoikern, mögen sie mit Cicero
und Seneka in Rom doziert haben oder mit Fichte und Schleiermacher
in Berlin, mögen sie mit Darwin und Spenzer auf evolutionistischem
Standpunkt stehen oder mit Lotze, Laes, Ihering zum Prinzip des
Allgemeinwohles sich bekennen.

_Das Bewußtsein, verpflichtet zu sein, ist eine der allgemeinsten
Tatsachen der Menschheit._

Sie ist aber auch die _notwendigste_ Voraussetzung einer moralischen
Ordnung. Das »sittliche Handeln nur aus Neigung« mag sich in der
Theorie recht schön ausnehmen, aber »nur ein grenzenloser, man möchte
sagen, kindlich naiver Optimismus, den man liebenswürdig nennen möchte,
wenn er nicht mit seiner die Halbgebildeten bestechenden Flachheit
gefährlich wäre, kann wähnen, daß man dem Menschen nur schrankenlose
Freiheit zu gewähren brauche, um das ganze Leben zu seliger Harmonie zu
führen.« (Eucken a. a. O. S. 337.)

Nur zu wahr! Wie oft liegen Neigung und ethische Anforderung
miteinander in Konflikt! Man denke doch nur an die Kämpfe auf
sexuellem Gebiet! Was ist es, daß die Jugend noch von dem Genuß so
sehr lockender, aber verbotener Früchte fernhält, wenn nicht das eine:
Du _sollst_ enthaltsam sein? Und was ist es, daß Gatten und Gattin
trotz aufflammender entgegengesetzter Neigung zum häuslichen Herd
zurückdrängt, wenn nicht das eine: Du _darfst_ nicht untreu sein?
Was ist es, was den Kapitän zwingt, auf dem sinkenden Dampfer bis zu
allerletzt auszuhalten und so sich dem Tode zu weihen, wenn nicht
die Pflicht? Und was ist es, das beim Kriegsruf die ganze Mannschaft
des Landes trotz Gatten- und Vaterliebe ins Feuer treibt, wenn nicht
wiederum die Pflicht? »Die Pflicht ruft«, und alle Neigungen und
Sonderinteressen verschwinden. Nur sie bringt Halt und Festigkeit,
Einmütigkeit und Ordnung ins Leben.

Das Pflichtbewußtsein _existiert überall_ und es ist _notwendig
überall_. Das sind also zwei Tatsachen, an denen nicht gerüttelt werden
kann.

Wie aber kam das Sollen ins menschliche Wollen? »O Pflicht«, ruft Kant
aus, »der du nichts Beliebtes und, was Einschmeichelung mit sich führt,
in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst und ... ein Gesetz
aufstellst ..., vor dem alle Neigungen verstummen ..., welches ist der
deiner würdige Ursprung?« (Kr. d. pr. V. I T. 1 B. III. Reclam, S. 105.)

Das Christentum beantwortete diese Frage mit dem Hinweis auf Sinais
Höhen. Gott war es, der dort an den Menschen herantrat und ihm
sein »Ich bin der Herr dein Gott, du sollst ... du sollst nicht«
wiederum einschärfte. Gott der Urheber der Verpflichtung, das ist
allerdings eine Erklärung, die allseits befriedigen muß; denn wo
eine Verpflichtung ist, da muß zunächst ein Verpflichtender sein.
Forderungen werden im Sittengesetz an den Menschen gestellt, nicht
nur Ratschläge gegeben; wo Forderungen laut werden, muß aber ein
_mit Recht_ Fordernder sein. Gesetze sind die ethischen _Normen_,
nicht _Wunschäußerungen_; wo Gesetze gegeben werden, darf aber der
Gesetzgeber nicht fehlen; Gesetzgeber, Fordernder, Verpflichter kann
aber nur eine _über dem Verpflichteten stehende Macht_ sein.

Nun sehen wir, daß das Sittengesetz über dem Einzelindividuum wie
über der Gesamtheit steht; denn die Gesamtmenschheit weiß sich an
dasselbe gebunden. Darum muß die _Ursache der Verpflichtung über die
Gesamtmenschheit erhaben_ sein. Die blinde, notwendig wirkende Natur
kann aber denkende Menschen nicht verpflichten, so bleibt nur die eine
Lösung: _die Pflicht stammt von dem, der Urheber, Herr der Menschheit
ist, von Gott_.

Diesen Schluß sucht die Neuethik zu umgehen. Sie beruft sich zum Teil
mit Kant auf die Autonomie des Menschen, auf die Selbstgesetzgebung.
»Der Wille gibt sich selbst Gesetz« (Kant, Grundl. z. Met. d. S.,
S. 134). »Alle Sittlichkeit ist gleichbedeutend ... mit der freien
Übereinstimmung mit dem eigenen Gesetz«. (Lipps, Die eth. Grundfragen,
S. 107). »Wahrhaft moralisch ist allein die innere, die autonome
Verpflichtung. Der Gute stellt sich freiwillig in den Dienst des
Guten ..., er wird nicht von außen her verpflichtet, er selbst ist der
Verpflichtende zugleich und der Verpflichtete« (A. Adickes, Zeitschr.
für Philos. CXVI 23--24) -- das ist die Sprache der Moderne. Kein
Wunder, daß sie die christliche Ethik, die Unterwerfung unter einen
höheren Willen Gottes und seiner Weltvertreter predigt, als unsittlich
brandmarkt.

Die Hauptanklage der »Autonomen« gegen die Heteronomie
(Fremdgesetzlichkeit) der christlichen Moral geht dahin, daß sie zu
_wenig sittlich_ sei, denn sittlich sei nur, was aus dem eigenen Innern
quelle. Es sei ebenso widersinnig, meint Ed. von Hartmann, durch
Heteronomie sittlich, als durch fremdes Essen fett werden zu wollen
(bei Cathrein, Moralphil. I, S. 251). »Sittlich in vollem Sinne ist
der noch nicht, der nicht selbst seinen Willen betätigt, sondern einem
fremden Willen sich beugt«, bemerkt Dorner (Das menschliche Handeln,
S. 272).

Wenn diese Aussprüche berechtigt wären, dann müßte man nicht nur
die Unterwerfung des Willens unter Gottes Gesetz und kirchliche
Autorität, sondern mit demselben Recht auch jede Unterwerfung unter
das Staatsgesetz, unter Elterngebot, überhaupt unter jede Autorität
verdammen, denn hier gelten die gleichen Voraussetzungen. Autonomie
führt zur Anarchie! Wer sieht aber nicht ein, daß damit ein geordnetes
menschliches Gemeinschaftsleben gänzlich unmöglich gemacht wird?
Jahrtausende hat die Menschheit diese Heteronomie als erste sittliche
Forderung betrachtet und jetzt plötzlich soll sie in Unsittlichkeit
verkehrt werden?

Und warum denn? Sie ist Fremdgesetzlichkeit, sie berührt das eigene
Innere so wenig. Ed. v. Hartmann braucht das Bild vom fremden Essen,
ein Bild, das die Nichtigkeit der gegnerischen Anklage sofort offen
legt. Vom fremden Essen wirst du nicht erstarken, das ist wahr -- wie
aber, wenn ein anderer dir Brot reicht und du selbst es dir zubereitest
und verspeisest, wirst du dann nicht gesunden? Und das ist unser
Standpunkt. Gott tritt an uns heran und reicht uns das Seelenbrot
seines Gesetzes, meinetwegen das Gebot: Gedenke, daß du den Sabbat
heiligest. Ich vernehme das inhaltreiche Wort, ich sage mir, Gott,
dein Schöpfer und Herr gebietet; für dich als Geschöpf Gottes ist
es geziemend, dich deinem Herrn zu unterwerfen, du bist es deiner
Würde, Natur und Stellung schuldig -- und darum erfasse ich das Gebot,
ich mach es mir zu eigen, ich entschließe mich frei, das Gesetz zu
beobachten, weil ich diesen Gehorsam als sittlich gefordert erkenne. Es
geht also der Unterwerfung ein innerer durchaus ethischer Prozeß voraus.

Das Motiv meiner Unterwerfung ist die Erwägung, daß ich als Geschöpf
allen sittlichen Beziehungen gerecht werden muß, besonders auch den
Beziehungen zu dem, der mir alles gab, meinen Urgrund. Das ist sittlich
-- unsittlich ist aber gerade die Selbstgesetzgebung, die sich Gott und
seiner Autorität nicht fügen will, sie bedeutet Aufruhr! Aufruhr ward
nie als sittliche Tat gebucht.

Diese Autonomie ist außerdem, von anderem ganz abgesehen, gar nicht
geeignet, die Tatsache des allgemeinen Pflichtbewußtseins zu erklären.
Verpflichten kann doch nur jemand, der über mir steht. Ich kann mir
vornehmen, etwas zu tun, verpflichten kann ich mich nur einem höheren
gegenüber, nicht mir selbst. Zudem finden wir uns als Verpflichtete
vor, wir schaffen die Verpflichtung nicht, der Eigenwille ist
Vollstrecker des Gesetzes, nicht Gesetzgeber.

Von der Unhaltbarkeit der individualistischen Selbstgesetzgebung
überzeugt, verlegen andere Ethiker unserer Zeit den Ursprung der
Verpflichtung in die _Gesamtmenschheit_. »Er, der autoritative
Charakter der Pflicht«, meint Paulsen (a. a. O. S. 345), »kommt aus dem
Verhältnis des einzelnen zu dem sozialen Ganzen, als dessen abhängiges
Glied er sich weiß. In dem _Willen des sozialen Ganzen_, das sich in
Sitte und Recht objektiviert, stellt sich ihm ein überlegener ... Wille
gegenüber: er fühlt sich gebunden durch die Normen, die ihm durch Sitte
und Recht vorgezeichnet sind.«

Anstatt des Eigenwillens repräsentiert also der in Sitte und Recht
ausgesprochene Gesamtwille den Gesetzgeber.

Aber Sitte und Sittengesetz sind doch zwei ganz verschiedene Größen,
die Sitte z. B. dreimal im Tag zu essen, _kann_ ich beobachten,
wenn ich will; das Gesetz, den Tag des Herrn zu heiligen, _muß_ ich
beobachten, wenn ich auch nicht will. Die Sitte lockt, die Sittlichkeit
verpflichtet. Wie will mich die Gesamtheit zu dem verpflichten, im
Gewissen verpflichten? Zwingen könnte sie mich, verpflichten nicht.
Und wenn die Verpflichtung nur dem Gesamtwillen entstammte, wie wollte
man es denn erklären, daß auch, wenn eine Gesamtheit, wie in einem
Räuberstaat, andere Sitten schafft, doch das Gewissen sich regt? Das
Gewissen sagt uns, daß wir alle einem über der Menschheit Stehenden
verpflichtet sind. Oder glaubt man, wenn einmal der Gesamtwille den
Mord erlaubte, daß das Gewissen den Mord rechtfertigte? Die Gesamtheit
weiß, daß das Sittengesetz ihr entrückt ist, es steht über der
Gesamtheit, auch die höchsten Spitzen der Gesamtheit sehen sich einem
Höheren gegenüber gebunden -- die Verpflichtung stammt also nicht
von der Gesamtheit, sonst könnte sie ja auch einmal sich zu Raub und
Unzucht verpflichten, wer will das zugeben?

Das Gleiche läßt sich sagen von all den modernen Versuchen, die
Pflicht empirisch zu begründen. Man sah, sagt man uns, daß gewisse
Handlungen Nutzen und Freude für den einzelnen und die Gesamtheit,
andere Schaden und Unlust brachten. Man gewöhnte sich allmählich an
ein diesen Unterschieden entsprechendes Handeln und so auch daran,
in diesem Handeln eine Schranke, eine Pflicht zu erblicken. Es wäre
demnach die Pflicht nur ein Kollektivbewußtsein von der Nützlichkeit
und Schädlichkeit gewisser Handlungen.

Aber die Forderungen des Sittengesetzes sind absolut. Auch wenn
Unlust oder Schaden folgt, hat der Mensch sittlich gut zu handeln.
Sittlichkeit ist nicht Krämergeist. Ein anderes ist der Rat: Halte
Diät, wenn du gesund bleiben willst, ein anderes das Gebot: Sei ehrlich!

Angewöhnung bedingt noch keine Verpflichtung, und wenn Verpflichtung
nur Angewöhnung wäre, so würde daraus folgen, daß auch das zur
Gewohnheit gewordene Schlechte einmal verpflichten könnte. Wie man die
Sache auch wenden mag, die Gesamtheit genügt zur gänzlichen Erklärung
der Pflicht nicht. Nur ein über der Gesamtheit stehendes Etwas kann
allein den letzten Grund für die allgemeine Tatsache der Verpflichtung
abgeben.

Es bleiben also an sich nur zwei Möglichkeiten: die Natur oder der
Schöpfer der Natur. Die Natur als geistloses, unfreies Etwas ist gewiß
auch zur Lösung unserer Frage nicht geeignet. Wir werden also wiederum
zur christlichen Theorie zurückgedrängt: Gott ist der Gesetzgeber, der
da sprach »Du sollst«, »Du sollst nicht.«

[Illustration]



III. Gott ist die allein durchschlagende Werbekraft der Moral.


Moralische Vorschriften darlegen, genügt nicht zum moralischen Handeln;
gegen diese Vorschriften bäumen im Herzen des Menschen zu viele
Sonderinteressen und Leidenschaften sich auf. »Das Fleisch gelüstet
wider den Geist«. Es muß zur _Darlegung_ der ethischen Normen ein
_Anreiz_ oder Antrieb zur Beobachtung dieser Normen hinzutreten. Darin
sind christliche und moderne Ethik einig.

Die christliche Moral nun findet diesen Antrieb zur Beobachtung des
Gesetzes Gottes in dem in Aussicht gestellten Lohn oder Zorn Gottes.
Der »Modernen« aber erscheint ein solches Vorgehen zu wenig edel,
zu »lohnsüchtig«, zu »egoistisch«, dabei zu unwirksam und unwahr.
»Gesinnungsmoral, nicht Erfolgsmoral«, ist ihre Parole, und mit dem
Deutschen Freidenkerbund hält sie »Bildung, Kenntnisse, gutes Beispiel
und materielles Wohlergehen für bessere Erziehungsmittel als das Drohen
oder Locken mit der Vergeltung in einem erträumten ewigen Leben«.
(Freidenkerflugblatt Würzburg 6. III. 1910.)

Drei Einwendungen werden also gegen den Hinweis der christlichen Moral
auf das Jenseits erhoben: er sei zu wenig edel, zu wenig wahr und zu
wenig wirksam.

1. Ein sittliches Handeln aus Ewigkeitsrücksichten soll zu wenig _edel_
sein, zu lohnsüchtig, zu egoistisch. Prüfen wir. --

Das Handeln aus _Furcht_ vor Gott und seinen ewigen Strafen scheint
zunächst keine wahre Sittlichkeit bewirken zu können. Aber ist denn
ein Handeln aus Furcht wirklich menschenunwürdig und unedel? Wenn im
Theater plötzlich ein Brand ausbricht und alles, aus Furcht umzukommen,
flüchtet, wenn ein kalter Ost weht und man aus Furcht vor Erkältung
sich einhüllt, wenn das Kind sich dem Ufer des Stromes naht und
nun aus Furcht von der warnenden Mutter zurückgerufen wird, will
man da behaupten, daß diese Handlungen alle unsittlich seien? Wenn
sie unsittlich sind, dann müßten sie und derartige Taten überhaupt
alle verboten werden; denn Unsittliches darf die Menschheit nicht
dulden. Das wird niemand aber fordern können; denn diese Handlungen
gehen aus einem durchaus einwandfreien Motiv hervor, dem _Motiv der
Selbsterhaltung_. Selbsterhaltung ist aber einer der grundlegendsten
moralischen Pflichten.

Wenn es aber gut und notwendig ist, sich schon vor _zeitlichem_ Übel
zu schützen, dann ist es gewiß sittlich gut und notwendig, sich vor
einer Qual zu bewahren, die _ewig_ dauert und vor einem Verlust, den
alle irdischen Dinge nicht aufwiegen können. Sagt doch auch Christus:
»Fürchtet nicht diejenigen, welche den Leib töten, die Seele aber nicht
töten können, fürchtet vielmehr denjenigen, der Leib und Seele ins
höllische Verderben stürzen kann.« Wir fürchten ja nicht nur knechtisch
die _Strafe_, sondern _das Böse_, die Sünde selbst, allerdings _wegen
der Strafe_, wir fürchten den _Zorn Gottes_, »die Furcht Gottes aber
ist der Anfang der Weisheit«, also durchaus gut. Darum sagt auch die
Schrift: »Fürchte Gott und halte seine Gebote, das ist der ganze
Mensch«.

Wenn ferner die _Hoffnung_ auf den Lohn im Himmel uns antreiben soll,
das Gesetz zu beobachten, dann kann hierin auch durchaus nichts
Tadelnswertes gefunden werden. Der Mensch ist ja seiner Natur nach zur
Erlangung des vollkommenen Glückes vorherbestimmt, ebenso wie das Auge
zum Sehen, das Ohr zum Hören. _Die Anlagen naturgemäß entfalten kann
doch nicht unsittlich sein._ Wenn die katholische Askese Ehelosigkeit,
freiwillige Armut rät, dann erhebt man gegen sie den Vorwurf, daß sie
unsittlich handle, indem sie der Natur ihre Rechte verweigere, und
hier, wo die katholische Moral dem natürlichen Grundtrieb nach vollem
Glück gerecht werden will, da ist sie »unsittlich« oder nicht erhaben
genug!

Hoffnung ist eine der Haupttriebkräfte des menschlichen Lebens.
Hoffnung auf Sieg verleiht dem Soldaten Ausdauer, Hoffnung auf
Entdeckung ferner Länder treibt den Nordpolfahrer in eisige Regionen,
Hoffnung auf Gewinn beseelt den geschäftlichen Unternehmer sowohl
wie den Landmann und niemanden fällt es ein, all das als unrecht zu
brandmarken -- er würde ja sonst dem ganzen menschlichen Leben seine
Schwungkraft rauben -- warum soll es nun plötzlich unerlaubt sein, aus
Hoffnung auf ein ewiges, alles Irdische weit überragendes Glück zu
handeln?

Zudem weiß doch jeder Christ, daß das Himmelsglück im Wesentlichen
_im Besitze Gottes_ besteht. Nach Gott verlangen wir, und um Gott zu
erlangen, arbeiten wir! _Gott ist aber ein viel edleres Motiv, als alle
Tugend um ihrer selbst willen erstrebt._ Unser Motiv ist um Himmelshöhe
erhaben über alles, was die Neuethik uns in Aussicht stellen kann.

Handelt ferner christliche Moral nur aus Furcht und Hoffnung oder
empfiehlt sie nicht das: »Du sollst den Herrn Deinen Gott _lieben_
aus Deiner ganzen Seele, aus Deinem ganzen Gemüte« als das erste und
größte Gebot? Und blieb die Mahnung erfolglos? Wo finde ich denn
so viele Seelen, die ohne eigenen Nutzen, rein aus Liebe zu Gott,
wohltätige Stiftungen machten, ihr Vermögen den Armen schenkten, sich
ganz dem Herrn weihten? »Er hat mich geliebt und sich dahingegeben«.
Dieser Gedanke erfaßte einen Paulus bis ins Innerste, und es hielt
ihn nicht, bis er alles geopfert und alles für Christus gewonnen. Und
diesen Hochgesang christlichen Tugendstrebens nehmen die nachfolgenden
Geschlechter auf; ihn sangen die Chöre Gottgeweihter in ihrer einsamen
Wüste; ihn die Heldenschar der Märtyrer in der Arena; er ward zum
Leitmotiv all' der Millionen von Heiligen und Bekennern der Kirche.

Nichts Kleines ist also das Motiv des christlichen Tugendstrebens,
sondern Gott; Gott, der zürnende, schreckt vom Bösen ab; Gott, der
beglückende, lockt zum Gebotenen an; Gott, der liebende, zieht die
Seele mit Gewalt, alle irdischen Bande abzustreifen, Schwingen
zu nehmen gleich dem Adler und ihm, dem Höchsten, zuzueilen. Ein
Beweggrund, wie er erhabener gar nicht gedacht werden kann!

2. Aber ist das Ewigkeitsstreben auch genügend _begründet_? Man spricht
vom Drohen und Locken mit einem »_erträumten_ Jenseits«.

Die Antwort hierauf ist bereits erfolgt: im ersten Heft dieser
Serie von Vorträgen wurde erwiesen, daß es einen überweltlichen,
persönlichen Gott gibt, im vierten, daß die Menschheit nach dem Tode
weiterleben muß. Damit ist Lohn und Strafe im Jenseits gegeben.

Jeder Gesetzgeber verhängt Strafen auf die Übertretung seiner Gesetze
und er muß es; denn wie wäre es sonst möglich, seinen Worten Nachdruck
zu verleihen?

Die Macht irdischer Gesetzgeber reicht nur bis zu ihrem Tode. Gott, die
ewige Macht, aber umfaßt wie die Sonne am Himmel die diesseitige und
jenseitige Hemisphäre. Gott ist in der Ewigkeit, der Mensch lebt weiter
in der Ewigkeit, darum ist eine Belohnung oder Bestrafung im Jenseits
auf jeden Fall möglich. Wer könnte das leugnen?

Sie ist mehr als möglich, sie ist gewiß. Wenn Gott Gesetze gibt und der
Mensch sie übertritt, dann kann und darf Gott sich das nicht bieten
lassen. Er muß strafen.

»Aber«, sagt man, »hienieden findet die Tugend ihren Lohn, das Laster
seine Strafe.«

Nicht leugnen will ich, daß das oft der Fall ist, aber immer? Wo
finden denn die vielen Blinden, Lahmen, Kriegsinvaliden, die vielen
gedrückten Gattinnen, gemarterten Kinder, ihrer Ehre und ihres Vermögen
grausam Beraubten hienieden ihren Lohn? Und finden all die Hochstapler,
Mädchenhändler, Verführer, Tyrannen hienieden ihre Strafe? Sagt nicht
der Volksmund: »Die kleinen Diebe hängt man, die großen läßt man
laufen?« Und vernimmt man nicht oft genug die Klage, daß den Gottlosen
hienieden alles nach Wunsch geht, während das redliche Bemühen der
Guten von stetem Mißerfolg begleitet ist? Gewiß ist es, daß nur ein
Teil der Bösen hier seine Strafe findet, nur ein Teil der Guten
hienieden einen Lohn; wäre es denn gerecht von Gott, wenn die andern
leer ausgingen? Und wäre es mit seiner Heiligkeit vereinbar, daß er das
Gottwidrige überhaupt nicht verfolgte?

Doch abgesehen von alledem: man übersieht bei diesem Einwand ganz und
gar, daß Lohn und Strafe nicht nur da sind, die _geschehene Tat_ zu
berichtigen, sondern vor allem, _auf die noch zu geschehenden_ Taten
im Sinne der sittlichen Ordnung einzuwirken. Die Sanktion des Gesetzes
soll in erster Linie zur Beobachtung des Gesetzes antreiben, nicht den
Durchbruch des Gesetzes wieder gut machen.

Wer immer das Recht besitzt, Befehle und Gesetze zu erlassen, muß auch
die Macht haben, seinen Willen durchzusetzen. Wie könnte ein Vater
seine Kinderschar, ein Lehrer seine Schule, ein Feldherr seine Truppen,
ein König seine Untertanen regieren, wenn jene alle den Befehlen
ungestraft trotzen könnten?

Wie wird nun der Nachdruck auf Befehl und Gesetz gelegt? Doch wohl
durch Hinweis auf Lohn oder Strafe. Vater und Lehrer drohen mit der
Rute, Feldherr und König mit Arrest und Tod!

Selbstverständlich, daß auch der König der Könige, Gott, seine Kerker
wie seine Kronen zur Verfügung hat. Gottes Sanktion muß nun einer
doppelten Anforderung gerecht werden, sie muß einerseits _genügende
Motive_ für das sittliche Handeln abgeben und darf dabei doch
anderseits _die Freiheit_ des Menschen nicht aufheben; denn mit der
Freiheit wäre ja die Möglichkeit, sittlich sich zu betätigen, überhaupt
genommen.

Selbstverständlich ist es auch, daß nur _ewige_ Güter und _ewige_
Strafen als Sanktion ausreichen; denn das Sittengesetz ist unter allen
Umständen verpflichtend -- nie darfst du die Unwahrheit sagen, nie
einen Ehebruch verüben. Die sittlichen Imperative sind kategorische
Weisungen. Sittengesetze sind absolute Gesetze.

Wenn ich aber das Sittengesetz _unter allen Umständen_ zu beobachten
habe, dann kann es vorkommen, daß ich _eher alles Irdische_, mein
Ansehen, mein Vermögen, mein Leben preisgeben muß, als nur _einer_
Übertretung der Gebote Gottes mich schuldig zu machen. Wie oft waren
und werden nicht Menschen in diese Lage versetzt! Denken wir an Thomas
Morus, an die Märtyrer aller Zeiten, an die katholischen Beamten zur
Zeit des Kulturkampfes!

Wären nun die auf Übertretung des göttlichen Gesetzes stehenden Strafen
leichter als irdische Verluste -- dann könnte ja der Mensch in solchen
Lagen sagen: Gut, dann wähle ich lieber das Leben und verachte das
Gesetz und seine viel geringere Strafe.

Es müssen also die auf Gottes Gesetz stehenden Belohnungen oder Strafen
höher sein als alles Irdische. Höher als das Irdische steht nur das
Jenseitige; so weist uns die Logik auf eine jenseitige Sanktion des
Sittengesetzes hin.

Die jenseitige Strafe aber muß eine _ewige_ sein. Warum nicht?
_Ungerecht soll es sein_, eine kurz dauernde Sünde ewig zu strafen?
Aber richtet sich denn die Dauer der Strafe nach der _Dauer_ der
Sünde und nicht vielmehr nach ihrer _Bedeutung_? Nur einen Augenblick
dauert die Tat des Anarchisten, der eine Bombe in einen königlichen
Hochzeitszug hineinschleudert, soll er nur einen Augenblick bestraft
werden?

Die Größe des Frevels ist ausschlaggebend, nicht die Dauer. Die schwere
Sünde ist ein _unendlich großer_ Frevel. Die Größe einer beleidigenden
Tat richtet sich ja u. a. besonders nach dem Abstand zwischen dem
Beleidiger und dem Beleidigten. Nennt ein Rekrut einen Mitrekruten
»Lügner«, so wird ihm das bald verziehen; hält er dasselbe Wort seinem
Hauptmann entgegen, wird er schwerer bestraft; würde er seinen obersten
Kriegsherrn mit dem gleichen Schimpfwort bedenken, so würde er des
Majestätsverbrechens angeklagt und noch schwerer zu büßen haben.
Und doch ist die Tat, an sich betrachtet, die gleiche, der Abstand
entscheidet über ihre Bedeutung.

Der Abstand zwischen dem gesetzgebenden Gott und dem
gesetzübertretenden Menschen ist aber unendlich, darum schließt die
Sünde eine unendliche Bosheit in sich, die unendliche Bosheit verlangt
eine unendliche Strafe und, da diese dem Maß nach nicht unendlich sein
kann, muß sie der Dauer nach ohne Ende sich ausdehnen.

_Unbarmherzig_ soll die ewige Strafe sein? Aber hat der Übertreter des
Gesetzes sie nicht selbst gewollt? Er konnte das Gesetz beobachten,
Gott hatte ihm genügende Mittel gegeben, hatte ihn gemahnt und gewarnt,
hatte ihm alles vorausgesagt, und wenn er nun dem Sünder die mit
offenem Blick und freiem Willen heraufbeschworene Strafe zuteil werden
läßt, dann soll das unbarmherzig sein? Ein König fordert den Vasallen
zum Feldzug auf, sagt ihm: Wenn du mir folgst, ist ein Fürstentum dein,
wenn nicht, ein Kerker. Wenn nun der Vasall eigenmächtig das Fürstentum
ablehnt, ist es unbarmherzig vom König, wenn er es ihm _nie_ zuteil
werden läßt? In der schweren Sünde verzichtet der Mensch auf Gott und
seinen Himmel; wer will nun Gott anklagen, daß er ihm beides nicht
gibt? Gott gab dir zwei Arme; wenn du einen freventlich abhaust, wie
willst du Gott belangen, daß er dir keinen neuen wachsen läßt? Wer aber
Gott im Jenseits verloren hat das Licht verloren, Schönheit, Glück und
Frieden, das ist ja einer der wesentlichen Bestandteile der ewigen
Verbannung.

Gerade weil Gott gütig und barmherzig ist, darum muß er mit einer
ewigen Strafe und dem Verlust einer ewigen Belohnung drohen, Gott muß
die _Menschen vor einander_ schützen. Durch Mord, Diebstahl, Ehebruch,
Gewalttat werden Menschen, zumal die Guten, geschädigt. Darf Gott nun
solchen Greueln untätig zuschauen? Müßten dann nicht alle Edlen sich
empören, daß Gott sie rücksichtslos den Launen der Bösen überließe?
»Sage mir«, bemerkt treffend der hl. Chrysostomus »wenn jemand alle
Lasterhaften aller Arten versammelte, sie mit Schwertern bewaffnete und
dann befähle, die ganze Stadt zu durchlaufen und jeden ihnen in die
Hände Fallenden niederzumetzeln, wäre das menschlicher? ... Wenn aber
ein anderer alle jene Lasterhaften bände, einkerkerte, wäre das nicht
eine menschenfreundliche Tat? Wende das auf das Gesetz an ...«. (16.
Säul. Hom.)

In der Tat, mit seinem Gesetz und seiner Drohung fesselte Gott alle
bösen Leidenschaften mit einem starken Band; wer die Strafe nimmt,
entfesselt alle Leidenschaften und läßt sie wie eine wilde Meute auf
die Menschheit los. Wo bleibt da Sicherheit, wo Ruhe und Ordnung?

Wer ferner alles aufbietet, um der Menschheit zu ihrem wahren Glück
zu verhelfen, der handelt gewiß gut und edel. Tut Gott das nicht auch
mit seiner Drohung? »Nicht weniger als das Himmelreich«, sagt derselbe
Kirchenlehrer, »offenbart die Androhung der Hölle seine (Gottes) Güte.
Und wie? Wenn er mit der Hölle nicht drohte, ... so würden nicht viele
des Himmelreiches teilhaftig werden; denn das Versprechen von Gütern
ruft nicht so erfolgreich die Mehrzahl zur Tugend auf als die Androhung
von Übeln« (7. Säul. Hom. 2).

Nur zu wahr. Beides: Versprechen des Himmels und Drohung mit der Hölle
führt zu Gott. Gott ist aber das einzige Glück des Menschen; ist nun
die Drohung mit der Hölle nicht ein Ausfluß der Barmherzigkeit des
Herrn?

Aber für den Übeltäter selbst ist die Strafe zu groß. Gott könnte ihn
ja _vernichten_. Ja, er könnte es, wenn er nur allmächtig, nicht auch
allweise und allheilig wäre.

Das Eine ist doch gewiß, Gott muß auf Anerkennung seiner Autorität
bestehen. Ein Gott, der sich alles gefallen ließe, würde uns nicht
gefallen. Wenn nun der Mensch der Vernichtung anheimfiele, würde er
sich dann um Gott überhaupt kümmern, dann, wenn heftige Leidenschaft
ihn drängt? Er würde hintreten können und sagen: »Gott gebiete nur,
drohe nur, ich entgehe Dir doch.« Der Gedanke an das Nichts würde nicht
von der Sünde abschrecken, sondern sie eher befürworten.

Gott muß aber darauf bestehen, daß der Mensch sich ihm unterwirft, ihn
anerkennt; erkennt er die Güte nicht an, dann muß die Gerechtigkeit ihn
dazu zwingen -- aber nur eine ewige Strafe ist dazu imstande, dann, wie
gesagt, würde der Sünder mit dem »ich entgehe Gott schließlich doch«
sich in seinem gesetzwidrigen Verhalten bestärken.

»Aber Hoffnung auf den Himmel und Furcht vor der Hölle schrecken auch
nicht immer von der Sünde ab.« Abschrecken tun sie stets, ganz die
Sünde hindern nicht, mit seinem freien Willen kann sich der Mensch über
alles hinwegsetzen; es handelt sich aber hier nicht um die Frage, ob
die ewige Sanktion tatsächlich jede Sünde _unmöglich_ macht, sondern ob
sie -- _vorausgesetzt, daß die Freiheit des Willens gewahrt bleibt_ --
_fähig_ ist, von der Sünde abzuhalten. Sie ist es.

Und nur sie, die Freidenker, betrachten allerdings Bildung, Kenntnisse,
gutes Beispiel und materielles Wohlergehen für bessere Erziehungsmittel.

Wir wollen nicht leugnen, daß manche von diesen Faktoren auch Einfluß
auf das sittliche Verhalten haben können, leugnen müssen wir, daß sie
aus sich _genügend_ sind, es _unter allen Umständen_ zu sichern.

Reichen denn Bildung und Kenntnisse aus? Dann müßten ja die obersten
Kreise gerade die reinsten, demütigsten, treuesten, wahrhaftigsten
sein. Ist das der Fall? Man denke an unsere letzten Prozesse -- an das
alte Rom!

Und materielles Wohlergehen soll ein Antrieb zur Beobachtung des
Sittengesetzes sein? Aber liegen diese beiden denn nicht oft genug
mit einander im Streit? Wenn materielles Wohlergehen eine genügende
Sanktion der Ethik wäre, dann müßten Börsenbarone und Erpresser ja
zugleich die größten Heiligen sein.

Wer weiß nicht, daß trotz aller Kenntnisse, Erfolge und Bildung der
Mensch im Ansturm der Leidenschaften einer festeren Sicherung bedarf?
Erhöhte Kenntnisse ohne erhöhte innere Festigkeit sind, um einen
Ausdruck Försters zu gebrauchen, eine besser gearbeitete Laterne in
der Hand des Diebes. Und daß nicht erhöhte »Kultur« eine erhöhte
Sittlichkeit bedingt, besagt die Geschichte der alten wie heutigen
Völker zur Genüge. (Vergleiche den Vortrag II). Die heutige Bildung
sanktioniert die ethischen Gesetze nicht, sondern bildet sie nach
Belieben um. Die Moral ist ja nach Paul Heyse nichts weiter als die
Quintessenz dessen, was in einem Zeitalter für anständig gehalten wird.
Heldennaturen springen über die Schranken hinweg. (Briefe an Frau ~Tout
le Monde~ 111.)

Unsere Zeit besitzt ja Kulturgüter, Mammon, Kunst, Bildung,
Ehrengerichte in Menge -- ist sie darum moralisch hochstehend? Was
sagen die 180000 Kinder, die in Deutschland allein jährlich, mit
dem Brandmal der Sünde bezeichnet, das Dasein betreten? Was die in
die Hunderttausende, vielleicht 1½ Millionen zählenden Dienerinnen
der Unzucht, was die jährlich in Deutschland verurteilten 55000
jugendlichen Verbrecher, was die 196000 Geschlechtskranken, die
im Jahre 1900 in den öffentlichen Krankenhäusern Deutschlands
gepflegt wurden, von den 30--40% geschlechtskranken Soldaten und
33--69% Studenten gar nicht zu reden? Was soll ich sagen von
den erschreckend um sich greifenden Perversitäten, dem weißen
Sklavenhandel, der Engelmacherei, dem Rückgang der Geburten? Was
von den Schönheitsabenden, den obszönen Tänzen? Ist doch die Klage
allgemein: So kann es nicht weiter gehen! Woher nun der Jammer? Die
Bildung, weltliche Kultur, nahm doch zu! Ja, aber die Religion mit
ihren Ewigkeitsgedanken nahm ab, die Welt vergaß das Schriftwerk:
»Denk, o Mensch, an deine letzten Dinge, und du wirst in Ewigkeit nicht
sündigen!«

Nicht alle hat die Religion vom Bösen abgeschreckt; aber wer wollte es
leugnen, daß sie allein es war, die auf die Massen aller Zeiten den
sittigendsten Einfluß ausübte? Die Furcht vor den Göttern oder Gott
war es, die in allen Gesetzbüchern anklingt und dem Leben Halt bot.
Habe ich keinen Himmel zu hoffen, keinen Gott zu fürchten, auf kein
Weiterleben nach dem Tode zu rechnen, was soll mich dann abhalten, mich
hienieden ganz auszuleben und durchzusetzen?

Man gibt vor, der Menschheit einen Dienst erweisen zu wollen, indem
man sie von der Angst vor der Hölle befreit. Ja, man läßt alle
Leidenschaften von der Kette los und hetzt sie auf die Menschheit,
man richtet wieder ein Henkermahl an, wie zur Zeit der französischen
Revolution; ist das eine Wohltat? Man löscht das Licht aus, das die
unheimlichste Klippe aufdeckt, man verschließt dem Menschen den Weg
zum wahren Glück, ist das eine Wohltat? Man reißt die Warnungstafel
am Abgrund, die Barrieren an der Bahn nieder, den Totenkopf an der
Giftflasche herunter -- um dem Menschen die Furcht zu nehmen; ist das
wirklich weise und edel gehandelt?

Wenn es eine Hölle gibt, da sollte es menschenfreundlich sein, diesen
Abgrund zu verdecken und alle auf den Weg zu locken, dessen Abschluß
Verderben ist? Dann war auch die Tat des Rattenfängers von Hameln der
menschenfreundlichsten eine. Nein, das ist grausam. Menschenfreundlich
ist es von der christlichen Ethik, wenn sie sich den im Sinnesrausch
dahin Tollenden mit der roten Signallampe entgegenstellt und ein
unerbittliches »Halt, nicht weiter!« zuruft.

Wer verurteilt nicht den grausamen Nero, der seiner eigenen Mutter eine
herrliche Barke baute, sie eines Abends auf das Schiff lockte und auf
hoher See eine verborgene Falltür öffnete, so daß die Mutter in den
Wogen versank? Handelt die Diesseitsethik nicht grausamer? Sie stattet
der Menschheit ein bequemes, sehr bequemes Schiff zur Fahrt des Lebens
aus, sie musiziert und tanzt -- aber das Schiff birgt eine unheimliche
Gefahr in sich: die Falltür, und sie heißt Tod -- und das Ende --
_Ewigkeit_. Ist es nicht grausam, darüber hinwegzutäuschen?

Wohl mag die Moderne die Ewigkeitsgedanken als lästig abweisen, die
Ewigkeit selbst bleibt. Auch sie mag sich das Wort gesagt sein lassen,
das einer der Makkabäischen Märtyrer zum gottvergessenen Antiochus
sprach: »Du, Ruchloser, rühmst dich umsonst deiner Bosheit und
deines Übermutes, denn noch nicht bist du entflohen dem Gerichte des
allmächtigen und allwissenden Gottes«.

Ja, vielem mag die Moderne entfliehen, sie mag entfliehen der Kirche,
mag entfliehen dem weltlichen Gerichte, mag entfliehen den Vorwürfen
des eigenen Gewissens, einem ist sie noch nicht entflohen: dem Gerichte
des allmächtigen und allwissenden Gottes, und dem entgeht sie nicht.
Furchtbar aber ist es, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.

So führt die Sanktion der Ethik wiederum auf Gott zurück, Gott ist der
Ursprung der Ethik. Gott die Norm, Gott der letzte Halt. Moral ohne
Gott ist ein Leib ohne Seele.

»Eine Spinne«, so erzählt der Dichter Jörgensen, »ließ sich an einem
Faden herunter von einem Ast; nun eilte sie hin und her und spann
ihr kunstvolles Netz. Lange lebte sie gesichert in ihrer Behausung;
da stieß sie auf ihren kleinen Rundreisen eines Tages wieder auf den
ersten Faden. Sie hatte seine Bedeutung vergessen und -- biß ihn ab --
und ihr ganzes Haus stürzte zusammen.«

Von Gott kam die Menschheit, und um den Gottesgedanken baute sie ihr
geistiges und ethisches Gebäude -- sie zerstört den ersten Faden,
und mit ihm sinkt ihr ganzes Haus in Trümmer. Der Ethik letztes Wort
lautet: »Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst keine fremden Götter
neben mir haben.«

[Illustration]



Schlusswort.


In Babylon war es. Hell strahlten die Lichter des Königspalastes ins
Dunkel hinaus. Im Innern sah man den Herrscher Belisar an festlich
geschmückter Tafel, um ihn in goldstrotzender Uniform die Großen des
Reiches, die Königin mit ihrem Hofstaat in rauschenden Gewändern.
Man aß und trank, spielte und tanzte. Und als der Wein das Blut in
Wallung gebracht, da erreichte der Frevel seinen Höhepunkt. Belisar
ließ sich die aus dem Heiligtum in Sion geraubten hl. Gefäße bringen,
ließ sie mit perlendem Wein füllen und reichte sie seinen Gästen. Und
sie tranken alle daraus und jeder pries seinen Götzen. Da erschien eine
geheimnisvolle Hand und schrieb an die Wand: Mane, Thekel, Phares.

Man erblaßte, die Kniee schlotterten. Ein Signal ertönt, Rufe werden
laut, Krieger stürzen mit gezücktem Schwert in den Saal, morden König
und Königin, Feldherren und Hofdamen und, wo vor einigen Minuten noch
Gotteslästerung und Weltlust ihr frivoles Spiel trieben -- da sah man
jetzt Blut, Leichen -- Tod.

Ein Babel ist unsere Zeit; ein festliches Bankett hat sie bereitet.
Nicht genug der Sündenlust und des Frevels früherer Zeiten, benutzt sie
heute noch die religiösen Überlieferungen zu ihrem gottlosen Spiel.
Jeder preist seine Götter und höhnt den Höchsten. Zahllos sind die
Idole des Jahrhunderts. -- Mag sie höhnen, kommen wird auch für sie
die schreibende Hand, die unter Sternensturz und Himmelsdonnern in
Flammenschrift an den Horizont die Worte setzt: Mane, Thekel, Phares.
Kommen wird Christus auf den Wolken, und die falschen Götter werden
stürzen. »Dann«, hat er zu den Guten gesagt, »erhebet euer Haupt, dann
naht eure Erlösung«. Wir lassen es uns gesagt sein. Mag die Moderne
sich den Idolen zuwenden, uns gilt als Leitstern das Wort: »Fürchte
Gott und halte seine Gebote, das ist der ganze Mensch.«

[Illustration]


Buchdruckerei Paul Scheiner, Würzburg.



    Weitere Anmerkungen zur Transkription


    Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.
    Die Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht. Die
    Antiqua-Auszeichnungen der Titelseite und Kapitelüberschriften
    wurde entfernt.

    Korrekturen:

    S. 18: Tadelswertes → Tadelnswertes
      durchaus nichts {Tadelnswertes} gefunden





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