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Title: Die Kegelschnitte Gottes - Die Horus-Romane. Erster Roman.
Author: Diner, Helen, Galahad, Sir, Eckstein-Diener, Bertha
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Die Kegelschnitte Gottes - Die Horus-Romane. Erster Roman." ***


made available by the HathiTrust Digital Library.



                        Die Kegelschnitte Gottes



                            Die Horus-Romane
                                  von
                              Sir Galahad


                             Erster Roman:
                        Die Kegelschnitte Gottes


                         Albert Langen, München
                                  1921



                        Die Kegelschnitte Gottes


                                 Roman
                                  von
                              Sir Galahad

                           1. bis 10. Tausend


                         Albert Langen, München
                                  1921


                Copyright 1920 by Albert Langen, Munich

          Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechts,
                     auch für Rußland, vorbehalten


                            Ein Verzeichnis
                               der früher
                                  von

                              Sir Galahad

                     verfaßten und herausgegebenen
                           Werke findet sich
                               am Schluß
                             dieses Buches.



_An das Publikum._ Du führst einen Namen und brauchst keinen Beweis
deines Daseins, du findest Glauben und tust keine Zeichen, denselben zu
verdienen. Du erhältst Ehre und hast weder Begriff noch Gefühl davon.
Wir wissen, daß es keine Götzen in der Welt gibt. Ein Mensch bist du
auch nicht; doch mußt du ein menschlich Bild sein, das der Aberglaube
vergöttert hat. Es fehlt dir nicht an Augen und Ohren, die aber nicht
sehen, nicht hören; und das künstliche Auge, das du machst, das
künstliche Ohr, das du pflanzest, ist gleich den Deinigen blind und
taub, du mußt alles wissen und lernst nichts. Du mußt alles richten und
verstehst nichts. Du dichtest, hast zu schaffen, bist über Feld oder
schläfst vielleicht, wenn deine Priester laut rufen und du ihnen mit
Feuer antworten solltest. Dir werden täglich Opfer gebracht, die andre
auf deine Rechnung verzehren, um aus deinen starken Mahlzeiten dein
Leben wahrscheinlich zu machen. So ekel du bist, nimmst du doch mit
allem fürlieb, wenn man nur nicht leer vor dir erscheint ... weil du
Züge menschlicher Unwissenheit und Neugierde an deinem Gesichte trägst
... was die Wirkungen deiner Mahlzeiten anbetrifft, so lernte bei einem
ähnlichen Gefühl derselben Vespasian zuerst das Glück deines Namens
kennen und soll auf einem Stuhl, der nicht sein Thron war, ausgerufen
haben: _Uti puto, deus fio._

                                                 _Johann Georg Hamann_



                              Erstes Buch


Der reife Schlaf fließt auseinander.

Immer lichter schimmern selige Schichten dem Bewußtsein zu. -- Dort oben
kreist, noch wolkig, das Dasein: Grünes und Gezwitscher. Hebt, was
seinen Rand berührt, herauf in gleitenden Erdentag und geordnetes
Wegeneinander.

Doch auch der zeitlose Abgrund bleibt beständig -- samtene Nächte tief
unter den Wirbeln --, und hintüberstürzend läßt sich's nach Willen in
ihn zurücksterben: in lautlose Schwärze.

                   *       *       *       *       *

Nach einem dunklen Klumpen Ewigkeit rötet sich abermals die Zeit an den
gewölbten Lidern. Ein Niederpressen, und wieder ist der ganze Kopf
voller Sterne da; geschlängelte Goldfäden dazwischen und Wirbel bunter
Atome.

Doch bananenfarbne Glorie lockt und lockt in die sanfte Geburt des
Erwachens. Etwas steigt auf -- stößt durch letzte Schimmerschichten --
ist ein _Ich_ und ruht in einem wunderguten Eck; jedes Glied zum Besten
und ganz still, ja nicht zu stören, was der Muskelgeist im Unbewußten
prächtig geordnet. -- Wonne läuft von einem zum andern. Dort um das Ohr
besonders, wo das Kissen eiderdaunig am Hals zergeht, staut sich ein
kleines Privatparadies animalischer Seligkeit. Das Linnen ist eine laue
Wolke über den Beinen und schwebt. -- Unter ihm schwelen noch alle
Wunder der Nacht: der Ichverlöscherin.

Aus lichten Gebärden und dunklen Trieben wirkt sie das Zwiegespinst
allen Erdenglücks: verküßte Glieder jenseits von Ich und Du. Die Grenzen
der Körper zergangen, Blütenweiches ineinandergegossen, Muskelwellen und
Täler sich rhythmisch streifend; Duft -- Hauch -- Haar zu einem Frühling
gemischt.

Allmählich aber in den Reigen blinder Sinne mengt es sich scheu, heiß,
sehnsüchtig auch, wie ein Kind, das andere nicht mitspielen lassen: Das
Schauen will sein Teil:

Horus hat die goldenen Knabenaugen aufgeschlagen. Das Ich und Du fällt
auseinander. Unerbittlich nah, wie es nur Wesen in der Liebe sind, sieht
er das holde Gespiel gleich einem Schleier leicht auf sich ruhen.
Geisterhaft fein gebaut, vorweiblich edel in der Vollkommenheit ihrer
dreizehn Jahre. --

Und er erschauerte ihrer Schöne.

Weise menschliche Bräuche des Tropenlandes, in denen der Knabe aufwuchs,
hatten sie an den Grenzen der Kindheit zueinander gelegt. So blühten sie
mit dem allmählichen Zentrieren der Sinne in die Ehe hinein; nach
wonnig-langem Aneinanderhinbeben noch herbverschlossener Lust. Ohne
Eheeinbruch: roh und frech. Horus Elcho löste sich tierweich von dem
Liebesgespiel, hauchte hinknieend die Silberhalme der Schenkel hinauf
zur noch verschlossenen Quelle des Lebens unter dem glatten jungen
Frühlingshügel. Sie duftete nach den zartesten Harzen der Welt. Ein
Falter aus atmendem Brokat, angelockt, ließ sich nieder mit gebreiteten
Farben. Entrollte umständlich eine brünette, haardünne Spirale und
begann starren Auges zu saugen aus diesem ganz unbegreiflichen Kelch.
Dann stieg er lautlos auf in seinen einzigen, großen Lichttag.

Des Knaben Hände sehnten sich, das schlafende Kindergesicht wie einen
Kelch zum Mund zu führen, mit den Lippen die befiederten Wimpern zu
heben: dann schnitten sie flügelhaft weit in die Schläfen, und man sah
lebendige Kerne in wunderbar wagrechten Schalen voll flüssiger Magie.
Oder es waren klare Bergseen in der Form eines Fisches, leicht gebogen
ruhend, wo aus bläulichem Tal der durchsichtige Nasenfelsen
unbegreiflich edel steigt. Und auf einmal warf man alle Bilder weg, um
nur »Auge« zu fühlen -- nichts als: Auge. Man sah auch, daß der Schwung
der Braue verströmte und eigentlich etwas Unendliches war ... man sah
... man sah; der Segen des Sehens an diesem jungen Liebeskörper war ohne
Ende.

Doch feine Hemmung hielt: nie einen Schlaf zerbrechen -- nie einen Traum
ermorden und Jene vielleicht, die drüben in ihm sind.

Er berührt einen Hebel an der Brüstung aus rosigem Granit, die das
Halbrund der offenen Schlafterrasse umläuft. Lautlos dreht sich eine
Metallkuppel -- wie der Sektor einer Sternwarte -- schließt den Raum,
auf daß die Sonne, der gelbe Tageslöwe, nicht ihren Schlaf bespringe,
ruhiges Ausschwingen des Unbewußten in der Elfenschale störe.

Dann steigt er hinab zu den Bäderhallen. Nur an der Schwelle hat sich
der Knabe noch einmal sanft zurückgewandt über seine Schulter, die hart
ist und geschwungen wie eines Falken Fittich.

Torflügel aus lichtem Erz glitten in mächtigen Angeln zurück, und zum
Ausgehen bereit, schritt Horus die Terrasse des südlichen Parks hinab.
Es war noch früh. Mit schleppenden Schleiern kam zarter Tag herauf, doch
in den Palmen hingen noch streitlustige Sterne: Falmahaud, Sirra,
Antares: der Gegenmars.

Es war die Frühe vor den Morgennebeln und alles blasser Kristall. Da
kamen durch die reine Weite her drei Wesen herangeflogen: Wettläufer.
Strahlengrade Glieder, sprunggestreckt, schienen den Raum nach rückwärts
zu treiben; Wehen war um sie, Gefunkel von Spiel und Frühe. Hellfarbig
die Sarongs, bloß ihr Haar, das um der Mittleren Haupt als silbriger
Schleierhelm stand.

»Agai -- Sigiria«. -- Doch sie flogen winkend weiter. Nur die Läuferin
mit dem silbrigen Helm bog ab, Horus entgegen, der sie an der Treppe
auffing. Es war seine Mutter. Er verbeugte sich. Küßte ihre Hände; erst
deren Rücken, dann die Innengeburt jedes Fingers. Linde liefen seine
Lippen die azurnen Aderfäden hinauf zum Ellenbogen. Dann ließ er
ehrerbietig los -- trat zurück -- Licht im Blick, verneigte sich ein
zweites Mal. Ganz tief.

Stets war es ein kleines Fest, Lady Elcho am Morgen zu treffen, oft
blieb sie bis Mittag unsichtbar: nach späten Stunden in Laboratorium und
Bibliothek, klaren Nächten auf der Sternwarte oder vor der großen Orgel
allein. Erschien sie aber, gehörten alle Stunden ihm, bis der
Mittagdämon mit bleierner Rüstung jedes Lebendige in den Schatten
niederdrückt. Dann schweiften beide über die Tropeninsel, nach Laune den
Träger der Bewegung wählend: vom Rolls-Royce bis zu Rama-Krishna, dem
alten Reitelefanten. War es sehr früh, die Straßen blank, schien es dem
Knaben Lust am Volant -- als Herr des Raumes -- Kokosplantagen an sich
vorbei zu peitschen, Blöcke blauer Lichtungen: alles, was Zäune hat,
Grenze ist, und, sein Schicksal zwischen den Fingerspitzen, vorzustürzen
ins herzzersprengende Nichts. -- Oder sie ritten auf Pferden durch alle
Farben; übergrellt vom phantastischen Grün der Reisfelder: dem
zitternden Smaragd -- durch Kakaopflanzungen, Dörfer. Und hier war es
gerade, daß Begrenztes wieder, Enges, Einzelnes unermeßlich werden
konnte: der Brunnenrand, ein lichtes Tier, Paradiesesaugen brauner
Kinder.

Stand aber die Sonne hoch, trug Rama-Krishna sie auf schlingernden
Pneumatiksäulen in den Dämmer der Wildernis: Ceylons Reservat. Hoher
Urwald, Freistatt aller Tiere; an Ausmaß einem deutschen Bundesstaate
gleich und dem Fußgänger undurchdringlich wie haushoher Filz.

Flach auf des Elefanten Rücken liegend, um von den Luftwurzeln nicht
herabgefegt zu werden, getürmten Pflanzenozean über sich, erzählten sie
einander ihre Träume, und das leiseste Tier, mächtigster Beschützer
zugleich, drang immer tiefer in das dumpfdunkle Abenteuer -- den
lautlosen Tumult -- berstend vor Leben und duftend nach Brunst und Tod.

War es gar Frühling nach den Monsunen, dann brach wohl Rama-Krishna nach
solchem Ritt aus dem Dschungl hervor, anzuschauen wie einer jener
Elefantenfürsten des Hitopadéça: »dahinstürmend gleich einer
Wetterwolke, schwefelgelb vom Staub der Banjanblüten, mit honigfarbnen
Stoßzähnen, und um den Duft des Brunstsaftes, der ihm aus den
Schläfenhöhlen quoll, kreiste ein Schwarm wilder Bienen.«

An diesem Morgen aber begab es sich anders. Der Sinn stand ihnen nach
Weite und Maß zugleich, nach beweglichem, mancherlei Möglichkeiten
umspannendem Tun. So flirrten sie auf Rädern in die schönste
Tropenstunde hinein, jene, die beide polare Klarheiten scheidet. Aus
weißer Seide war die Welt. Mit hängenden Flatterschlägen strebten
Schwärme fliegender Hunde -- schwer wie Hammel -- den Dickichten zu, um
in höchsten Wipfeln zu zackichten Säcken gefaltet, an einer Kralle
aufgehängt, schlafend im Winde zu wehen.

Wallen und Brauen war es einer noch wolkig-flüssigen Welt. Wie wenn aus
Gischt und Licht das Lebendige sich eben zeugte. Noch unbegrenzt.
Unverloren. Früh, sanft und ungeheuer. Aus verdunsteten Opalen gebären
sich haarige Schäfte. Aus dem Nirgends kommen Luftwurzeln gehangen,
saftgetränkt: Gelegenheitsorgane des Nichts. Durch niedre Regenbogen
fahren beschweifte Vögel, leuchten auf -- vergehen. Nebelgroß treibt ein
Büffelhaupt aus schwarzen Nüstern seine Sonderwolken in den goldnen
Dunst.

Und durch alles hindurch, über alles hinweg: Wissen um die Sonne. Daß
sie wirkt, teilt, ordnet, die Luft dünn und schließlich fein werden muß
wie Geist, und daß der letzte Rest des Chaos nur mehr als Tau-Franse in
den Wimpern hängen wird.

Sie gleiten hügelab durch steigerndes Licht in weichgewelltes Land. Ein
Streifen Löwenozean zergeht am Horizont. Vom unbändigen Grün bis an den
Straßenrand gespült, klammern sich dort braune Dörfer an dem leblosen
Strich fest; verteidigen sich mit Äxten und Spaten gegen den immer
wieder anschwellenden Wald. Zahme Arbeitselefanten stehen als runzlige
Ballons überall herum, lassen uralte Stämme unter gespannten Rüsseln
knacken, schichten sie dann säuberlich lotrecht und wagrecht, ganz
allein, mit weisem Wiegen des Hauptes und vielem Flappen der Ohren. Dann
tritt man hinter sich, prüft das Werk und reibt unterdes mit lieben
kleinen Verlegenheitsbewegungen ein Hinterbein am andern, wo
zwischendurch das pauvre Schweineschwänzchen töricht hängt. Man ist auch
sonst genau: Schlag zwölf die Mittagspause -- und jeder der großen
Professionisten läßt aus schon erhobnem Rüssel sein Stück Holz wieder
fallen, alles liegen und stehen läßt er, geht einfach weg zum Lunch aus
Reis und Zuckerrohr.

Die Straße herauf wandeln neben großäugigen Tieren Männer aus dem Blut
der Sonne, schmale Frauenakte dazwischen -- in einen einzigen
farbigleuchtenden Schleier geschlagen. Kommen näher -- sind Greisinnen;
das Antlitz verfurcht, eingewelkt die winzigen, weitgespannten
Kinderbrüstchen, so zart aber blieben die Lineamente -- oder sind es
Glied gewordene Gebärden? --, daß im wechselnden Sonnenstand der
Lebensalter auch letzter, schräger Strahl reinen Kontur zeichnet, das
Wunder geschieht und eine Greisin lieblich ist. Über nackten
Männerschultern schwanken an Stangen Messingeimer oder Bananenbüschel,
grellgelb und schwer. Wagschalen an diesem höchst edlen Menschenmaß. Es
scheint das Maß zu sein »dieser ganzen in Namen und Gestalten
auseinandergetretenen Welt, die der Brahman als Zauberer aus sich
heraussetzt, wie der Träumer den Traum«.

An einer Stelle der Straße biegt der Wandelzug von Mensch und Tier in
eine Kurve aus: Büffelgespanne, Reitelefanten, Rikshaw-kulis,
Bananenträger, alles dämpft den Tritt. Es bildet sich eine stehende
Welle von Rücksicht. Mitten im Weg liegt ein schlafender Hund.

Auf der feuchten Erde schweben viele Geisterspuren bloßer Füße;
Zehenfächer mit leichter Ferse, vom unsichtbaren Bogen überspannt. Da
und dort ein Blumenring, den Frauenfesseln abgestreift.

Unbeirrbar flirren die Räder hindurch.

Weiße Zebus: Gazellenrinder. Sie springen ab und hin, die helle
Tierstirn in die Arme zu nehmen, den haarigen Stern mit seinen zottigen
Radien zu streicheln -- wie ein lauer Champignon fühlt sich der sanfte
Schnüffel an -- sie versinken in herrliche Geschöpfaugen. Dann führen
Seitenpfade wieder leicht bergauf; grasbewachsene Dämme geleiten
zwischen Wasserspiegeln der Reisfelder in das Überhangene der Haine.

Quer über Damm liegt ein alter schwarzer Wasserbüffel. Mit ihm
verhandeln ist nicht leicht. Von Argumenten hält er wenig in seinem
ungeheuren Schädel voll Wut. Doch volle zwanzig Sekunden braucht es,
bevor er selber weiß, wie bös er ist. Die beiden ducken sich zu
schnellster Fahrt. Knapp hintereinander sausen sie über den basaltnen
Rücken weg.

»Flohzeug -- -- damisches -- -- damisches -- -- damisches! Solchen Unfug
mit einem ernsten und anständigen Vieh treiben -- -- ich werd' euch!«
Furchtbar steht er auf. Da flitzen schon die zwei blanken Insekten um
eine Biegung ins Nichts.

Wo der Fluß im »Tal der nephritgrünen Wolke« sanft geworden, erwarteten
sie die Fähre. Mit ihnen ein bunter Trupp; der wuchs an hennaroten Zehen
als tiefe Farbeninsel vom Ufer verkehrt ins goldne Wasser hinab. In den
dunklen Spiegel blühte es herunter: aus weißem Lendentuch braunsamtne
Muskelkelche, arisch klare Züge, überzüchtet fast, und, feuchter als die
Flut, Augen von der Farbe des Paradieses. Aus Körben zittert es hell,
Mangos, Ananas, safrangelbe Reiskuchen tropfen unten wehend ab ins
Nichts wie Wasser von Riemen.

Ein dünner Afghane hockte abseits. Splitternackt. Fädelte sich seine
Hose ein. Zwanzig Meter war sie weit. Benützte statt der Nadel gleich
einen jungen Bambusschößling, in dessen Spalt das Durchzugsband geklemmt
war. Die Hose selbst lag als gestrandeter Ballon über die Landschaft
gebreitet. Seine goldne Spitzmütze mit grünen Zauberzeichen auf
Rabenlocken, saß er: ein vazierender Magier im Negligé.

                   *       *       *       *       *

Nun öffnete sich der wartende Kreis den Ankommenden; in ohnegleicher
Anmut. Tamils, Singalesen, Bengali, Rhajputen: es waren die Ärmsten der
Armen. Die Typen rein, dank der Kastentrennung unvermischt, unverkötert.
Standen da in golddunkler Allbegabung und feinstem Wissen um den Eros:
wie der schmale Kopf über den glatten Haarknoten stieg, der Sarong das
Antilopenhafte zeichnete, eine Spange, ein Nichts an Linie war von
gepflegtester Sinnlichkeit. Und die dankbare Natur achtete im Alter ihre
schlanke Anmut, weil ja auch sie Süße und Wert des Daseins zu achten
vermocht. An diesem abgelegenen Küstenstrich des östlichen Reservats
hatten wohl noch die Wenigsten weiße Menschen gesehen, oder gar
einherreiten auf glimmernden Skeletten. Doch in unverlierbarer,
blutgewordener Gesittung behielt Jedes die zufällige Stellung des
Augenblicks bei, führte in leichten Lauten die Wechselrede weiter,
wandte nicht einmal, ängstlich sich selbst zügelnd, die Augen ab -- ganz
des eigenen Taktes sicher. Keine Gebärde, kein Blick, nur
unaussprechliche Freundlichkeit nahm die Andersartigen auf.

Horus stand neben einem hochgewachsenen Rhajputen. Sonderbar ziehender
Rhythmus, von dem er sich klare Rechenschaft nicht gegeben, hatte ihn
hingeleitet, wiewohl merkbarer Abstand diesen von den übrigen schied.

Er war glatt, faltenlos wie Diorit. Breit in den Schultern, aus
schmalsten Lenden wuchs sein Torso zum Dreieck aus dunklem Stein.

Paramahansa nach den Sektenmalen: vier Stücke lachsfarbenen Tuches, das
fünfte um die Schläfen, der Rudrakshabeere am Hals -- das Auge aus Asche
im Herzen der Stirn. Einer, der weder an Feuer, noch Geld, noch irgend
Metall rührt -- nichts genießt, was aus Arbeit stammt.

Lässig und doch strahlengerad an Haupt und Rücken stand er, das Profil
dem Knaben zugekehrt. Da fühlte Horus, wie der Rhythmus seiner Pulse
sich zu verändern -- anders zu schwingen begann. Wußte, es hing an dem
wunderbar langen, doch unhörbaren Atem des andern. Ihm war: Hände aus
Hauch griffen an sein Herz, stellten es nach einer andern Sternenstunde.
Die Wellenlänge seines Wesens schien sich zu wandeln -- weiter schwang
die Amplitude seines Ich, bis es riß -- die Zeit zerriß -- bis es
unbegreiflich stark, wehrlos und geborgen sich ausblühend in ein neues
Maß ergoß. Und ein silbern unirdisches Erinnern ward groß in ihm, daß es
schon immer so gewesen -- heute -- in der Freiheit des Tiefschlafs, als
sie im Spiegelbilde eines Morgentraumes kindlich und sanft verzerrt
zerging.

Dann begann der lange, wunderschöne Atem ihn langsam wieder
zurückzuspülen in sein eignes Maß.

Als wäre er in eine Froschkehle gestürzt, so zappelnd und klein tickte
das jetzt. Dumpf, kurz. --

Sehr allmählich schmolz alles ins Gewohnte wieder. Der Rhajpute hatte
sich ihm nun zugekehrt, unfaßbaren, ortlosen Blicks. Nur das Aschenauge
sah einen Augenblick auf ihn.

Er fühlte: wie eine Flaumfeder herangesogen, hatte er einen Atemzug
lang, solang ein einziger Ein- und Aushauch währt, an einem Wesen andern
Ranges teilgehabt. Wußte zugleich: das blieb. Unverlierbar irgendwie.
Ließ ihn stark -- wehrlos und geborgen zurück.

Die Fähre legte an. Trug die Wartenden ans andre Ufer. Der Rhajpute aber
ging zurück ins »Tal der nephritgrünen Wolke«, ohne sich umzusehen.

                   *       *       *       *       *

Auf grasiger, leicht abfallender Höhe, unter dem breiten
Tempelblütenbaum -- vor Weite und Meer -- sprang ein Sonnenrausch sie
an. Betäubung, Bezauberung des Lichts. Lachend fielen sie einander in
die Arme. Begannen zu ringen; geballt, verschlungen, aufschnellend und
gespannt. Ein Umeinandergleiten wie von Echsen, Aufgebäumtes und
Kauerndes auch, Raubzeug im Ansprung: gepflegte Kunst japanischer
Samurais. Es endete wie immer: bis hart an den Sieg ließ der so viel
Stärkere die Gegnerin kommen, glitt, fast am Boden schon, mit stets
erneuten Varianten unter ihr durch, hob die Leichte auf, gab ihr einen
Kuß -- warf sie dann auf beide Schultern weit ins Gras.

Vor wenig Jahren noch, auf einer Reise in Japan, als sie auf dicken
Kokosmatten bei dem gelben Lehrer Griff und Gegengriff geübt, wußte er
es anders. Dann eine Periode des Gleichgewichts -- und jetzt! Ruchlos
war der Siegestanz. Eine Schnur greiser Papageien, aus ihren
Betrachtungen aufgestöbert und außerdem in der Mauser, traten vor Ekel
von Bein zu Bein. Mißbilligten alles über Hornbrillen herab, schimpften
mit dicken Zungen in einer uralten heiligen Gaunersprache. Flatterten
schließlich fluchend davon.

Horus warf sich neben seine Mutter in den Schatten des Riesenbaumes.
Sanfte Rührung dessen, der vom Beschützten zum Beschützer wird, allein
durch die Magie der Zeit, griff an sein Herz.

Unheimlicher, verborgener ist nichts, als dies gespenstige Kontinuum,
wenn es den Schwerpunkt unmerklich vom Schöpfer hinüberspült in das
Geschaffene. Von der Gebärerin in das Geborene. Zu geisterhaftem,
unzerreißbarem System sie schließend, in dem das eine schwillt, steigt,
strahlend wird, indes das andre langsam scheidend sich verdunkelt und
schließlich, ganz erloschen, nur mehr von reflektiertem Leben
nachglänzt. War der Tag auch nur zu denken, da er in anderm noch, als
bloßem Muskelspiel: als Persönlichkeit, der Mächtigere bliebe?

Sie hatten von je eine Art stiller Übereinkunft geschlossen, den großen
Unterschied, den Leben und ungemeines Schicksal der Älteren schuf,
diesen ganzen Fond unendlich überlegenen Wissens und Verstehens, in der
Regel beiseite zu setzen. Den Knaben gleichsam »mit Vorgabe« spielen zu
lassen. Er wußte es wohl, war sich's aber nicht immer bewußt. Doch kurze
Trennung -- noch so kleiner Anlaß -- Umkehr des Gewohnten, und wieder
wirkte der ergreifende Zauber dieser wissenden Güte auf ihn wie ein
Schauer von Glück.

Als er vorhin die Überwundne von der Erde abgelöst, die Schleierschlanke
über sich gehalten, das war ein Grenzenloses gewesen, einen Herzschlag
lang. Jubelnd -- tröstend:

»Du bist ja in mir. Und aus meinem Blut will ich dich weitergeben, und
im Fernsten, wo die Lebenskette in Unfaßbares mündet, soll noch dein
liebes Wesen sein.«

In der Stille sang das Licht. Schmeichelte zwischen den weißen
Tempelblüten herab auf Schulter und Haar: ein heißes Händchen am Ende
des weltenlangen Strahls. Er hätte das Händchen nehmen und küssen mögen.
In ihm war das dumpfe goldne Bienensummen des Glücks. Auf seinen nackten
Armen schwankten schwerelose Blätterschatten: schwimmende Gespenster von
Edelsteinen, unirdische Opale aus Aladins Fruchtschalen, und an ihrem
Aberglanz schien sein eigner Leib durchleuchtend wie belebter Beryll.

Riesige Varane zickzackten umher: bekrönte Drachenprinzen,
Neurastheniker. Erschraken maßlos, standen still, steifen Hauptes, und
während die Pigmentporen sich langsam öffneten, bis alle
Regenbogenfarben ihrer Körper vor lauter Feigheit zu Erdbraun verebbt
waren, tickten die butterweichen Kehlen wie die Unruhe in der Uhr. --
Geraume Zeit verstrich. Da sagte er, ohne sich zu rühren:

»Heut nacht hat sich ein großer Falke wirklich reizend gegen mich
benommen.«

-- -- »?« -- --

»Er sah zu, wie ich mit einer Quadriga von Kolibris über unsrem
Golfplatz aufzukreuzen versuchte, und bewies mir mit Hilfe kolossaler
Differentialgleichungen, wie wenig Sinn das hätte. Er selbst aber sei
gern bereit, mich mitzunehmen. Nur, vorher -- darauf müsse er bestehen
-- sei ein Probeflug nötig. Womöglich auf einem Eisvogel.

Ein vermietbarer Eisvogel war sofort zur Stelle. Dort, wo das
Türkisblaue ist, legte ich mich auf die Flügel. Er schoß schräg herab,
ritzte den Weiher dann so steil an Bethelranken vorbei zu
Arekapalmenhöhe, daß mir das Licht ins Herz schnitt. Der Falke
kommandierte. Das Weibchen des Eisvogels saß neben ihm, und
zwischendurch erklärte er ihr das Ganze.

»Aber es gibt Sie doch gar nicht hier,« fuhr ich plötzlich mein Flugzeug
an; »Eisvögel auf Ceylon!«

Es war ein dummer Wortwitz, aber er schien sichtlich betreten. Ich
lenkte ein:

»Aber von mir aus können Sie ruhig hier vorkommen.«

Er murmelte etwas von »verdammter Ornithologie«, versuchte es aber
englisch auszusprechen, verwickelte sich rastlos im Akzent, wurde immer
böser und schließlich so voll Trotz, daß er schwebend die Erde unter
sich durchrotieren ließ, um an sein korrektes Vorkommen zu gelangen.
Dreimal verpaßte er es, als es unter ihm durchsauste. Das wurde dem
Falken zu dumm, und er nahm mich zu sich herüber. Es war ein
braunseidner Falke, wie er auf unsren chinesischen Holzschnitten in
Rhododendronwipfeln spitzgefiedert steht.

Von dort schweifte er mit mir auf. Wie ich so gebreitet lag im staubigen
Zimtduft der großen Federn, schlossen sich meine Schultern genau dem
Schwung seiner Flügel an. Meine Arme begrenzten sie als lichte Säume. In
den gespreizten Federfingern war eine schwingende Kraft. Ich trug mich
selbst durch die anstürmende Bläue. Auch im Herzen war ich ihm und in
den goldnen Augen. Nur die Gedanken blieben mein. Ich genoß den Raum wie
eine Symphonie der Richtungen. Leer von Dingen, mit nichts als diesem
unirdischen Äthersturm unter den Flügeln, ließ ich mich in einer
wundervollen Kurve, die der Wille meines Blutes schrieb, in den oberen
Lichttrichter hinaufsinken. Den Sonnenkern im Auge.

Was mir dort geschah, war so schön, daß ich es nicht mehr weiß.

Mir ist nur, als wäre die Spitze meines Herzens leuchtend geworden und
mit ihm die Adern an meinem Haupt. Und von der hundertundersten Ader
ging ein Strahl hinaus -- bis in den Herzkern der Welt, um den alle
Ströme und Wirbel treiben. Nach zeitlosen Wonnen kam ich mir zurück aus
Ader und Strahl. Lag wieder als Körper in braunseidenen Schwingen und
sagte schwer von Abschied:

»Pardon, ich muß jetzt aufwachen.«

»Schade,« meinte der Falke, -- »recht schade. Ich dachte, wir wollten im
Westen landen, aber« -- er schien nachdenklich -- »vielleicht wäre es
Ihrer Mutter nicht recht gewesen.«

Ich wollte verneinen -- ihn zum Weiterfliegen bewegen: da floß der reife
Schlaf auseinander.«

»Nicht recht gewesen.« Sachte belustigt horchte er den Traumworten nach.
War doch, so lange er denken konnte, jedes Schöne, jedes Geschenk seiner
Mutter für ihn aus eben diesem geheimnisvollen Westen, über den
Löwenozean, hergekommen.

Nur Gargi nicht: sein Liebesgespiel.

[Lebendiges nie.]

Aber all die glitzernden Zwitter aus Zweck und Zahl: Räder --
Rolls-Royce -- Jacht, jedes wieder bedient von einem Stab wundervoller
Werkzeuge. Durch das ganze Haus pulste dann Jubel; Erasmus van Roy
verließ Bücher und Instrumente, er und der japanische Monteur des Hauses
begannen zu zerlegen, zu erklären, bis der junge Besitzer den neuen
Ankömmling wie seinen Leib beherrschte, im Gleiten der Achsen war wie in
sich selbst: Lenker und in Wahrheit Herr.

Quer durch das Bilderspiel ging eine Stimme, sehr gepflegt, leicht
gebrochen:

»Wärt ihr weitergeflogen, wir hätten uns im Westen treffen können: Bei
Tag wirft man mich zwar ins Gras; heut nacht aber hab' ich im größten
Zirkus Londons einen Elefanten im Diu-Diuzu besiegt. Schon bei der
Ankunft in Charing-croß war alles voll Plakate. Peinlichst berührt, sah
ich an allen Wänden, in Überlebensgröße den Elefanten und mich -- mich
und den Elefanten. Buchmacher liefen umher. Legten Wetten. Ich floh in
ein geschlossenes Cab. Sauste ganz draußen immer rund um London herum in
der Hoffnung, sie fänden mich nicht. Sie fanden mich aber. Kein Sträuben
half.

Schwarz war alles vor Menschen, und inmitten der Arena stand schon der
Elefant und krempelte sich die Ärmel auf. -- Es begann wie der XXII.
Gesang der Ilias: Achilleus und Hektor. Doch wie ich das drittemal um
den Zirkus lief, kam mir der »große Drachengriff« wieder, von dem doch
Jamagata uns immer zu sagen pflegte: »_And then you finish your man_ --
dann beenden Sie Ihren Mann«. Nun, ich beendete meinen verblüfften
Elefanten. Packte seinen Rüssel und schloß ihn im »großen Drachengriff«
wie in einem Schraubstock fest. Führte ihn gebändigt dreimal um die
Arena unter dem Jubel der zehntausend entzückten Zuschauer.«

Auf einmal fühlte Horus sich von rückwärts sanft umarmt -- hochgezogen
und plötzlich im »großen Drachengriff« zu seinem Rade geleitet.

Erheitert fuhren sie heimwärts.

                   *       *       *       *       *

Das Haus der Elchos war von köstlicher Glätte.

Zwischen diesen Menschen, ihrem Wohnen, allen Dingen, die sie berührten,
war jene adlig verwandte Lauterkeit, Reine und Noblesse, die _aus der
Knappheit aller Begrenzungslinien ersteht_.

Wie sie selbst in jeder Gebärde stets die eleganteste Lösung der
Gleichung »Mensch« darzustellen nicht müde wurden, so mußte auch der
bescheidenste Gegenstand, der hier geduldet wurde, restlose Lösung
seines Sinns verkörpern -- bis in die letzte Linie hinein.

Neue Formen waren lediglich neuen Bedürfnissen entsprungen, wie die
Kurve des Türgriffs nachgegossen dem Druck der Hand.

Dieses Heim enthielt keinen läßlichen Gegenstand. Jeder unerläßliche
aber hatte den Charme gewachsener, doch nicht _unmittelbar_ gewachsener
Dinge: als hätte die Natur dies alles durch das Medium eines Lieblings
schaffen lassen wollen, der aus reineren Gesetzen schöpft als sie. Das
Ding aus Zweck -- Zahl -- letzter Geisteszucht, hier berührte es sich
wieder, ein Lebendiges höherer Ordnung, mit dem Organischen, das gleich
ihm nie _gewollt_, nur _geworden_ wirkt.

In diesem Heim gab es kein Kompromiß. Jedes Problem mußte restlos, wenn
auch einmalig und höchst persönlich gelöst werden. Sonst völliger
Verzicht. Und alles ward hier wieder zum Problem, denn jede Frage wurde
neu gestellt.

Von den Fundamenten auf.

Schon in der beglückend reinen Kurve, mit der fugenlos die Wände aus der
Decke in den Marmorboden übergingen, der nachzugleiten pausenlose
körperliche Wonne schuf.

Jeder Raum, geschlossen durch die Synthesis von Einordnung und
Eigenleben der Dinge, wirkte als ein Monolith. Kein Gegenstand griff,
optisch zudringlich, hinüber in das Gebiet der Bewohner, und die
Reizfülle, die Anmut, mit der das Leblose im Dienen ganz sich darbot,
verlieh ihm etwas Genienhaftes, wie aus Märchen her. Dinge, die ihren
Herrn erraten -- weiser sich benehmen, als er in seinem Alltag,
sind sie doch Geisteskinder seiner höchsten Stunde; aus
Phantastisch-Schöpferischem und dem Regulativ technischer Klarheit in
wägendem Gefühl ans Licht getrieben. Wissen um die Struktur, um das
Geheim- und Kristalleben der Materie; Marmoräderung, Holzflader, Reflex
oder Biegsamkeit der Erze und Erden: dieser Komplex von
Geist-Zucht-Wissen-Können ...; die Gleichung all dieses: ein Torsturz --
eine Fensterbank -- ein Leuchtkörper.

Etwas vom Stil der Atriden.

Von der mächtigen bronzenen Milde Chinas auch.

Doch wiedergekehrt aus den Jahrtausenden in Abgeschliffenheit,
Vertiefung, Beseeltheit und Präzision. Wie hindurchgegangen durch das
Wesen der Newton, Lagrange, Helmholtz und Poncelet. Wiedergeboren aus
einem höchst geistigen Äther: aus der gleichen Mühsal, Tapferkeit und
Kraft, die den Bug einer Jacht, Kurve des Klüvers, der Wanten, einer
Helice -- Nieten am Dampfkessel -- Drill des Rohres herausgeschliffen
aus dem Amorphen.

Ähnlich all diesem. Artverwandt. Mit dem _geschwisterlichen Zug jener
Elite der Dinge, deren Mutter die Echtheit ist_.

Atridenstil an Glätte, Fugenlosigkeit und Größe. Ihm unendlich überlegen
an Problemstellung -- Lösung -- Erfüllung -- auch an später Einfachheit,
die letzte Verwöhntheit ist.

                   *       *       *       *       *

Horus genoß diesen idealen Wohnleib und die Continuität seiner Stimmung
von je wie das vertraute Gefüge eigner Glieder: natürlich und leicht
erregt zugleich. Doch schien ihm vollkommene Gestaltung eines Wohnleibes
zu den von selbst verständlichen Formen abendländischer Lebenshaltung zu
gehören. In Struktur und Bestandteilen zum mindesten ebenso
herübergesandt vom Genius der weißen Rasse wie reine Typen edler
Mechanik: Werkzeug, Maschine, Instrument.

»Der Bau«. -- Immer wieder war das Wort aufgestiegen dort im ganz
Frühen, wo das Ich noch nicht recht zusammenhängt. Kein lückenloses
Geschehen bleibt. Immer nur einzelnes aus dem Vagen ragt: eine rosa
Torte -- ein Klang, groß wie die Welt -- das Gesicht der Katze als
furchtbarer Magnet.

Zwischendurch aber war immer das Wort »Bau« gewesen. Im Bungalow Tische,
auf Reißbretter gespannt knisternde Bögen, groß wie Leinentücher, Mama
mit wunderbar eckig-graden Geräten dran herabstreifend. Lärm, Leute,
Lasten. Zu Wagen, zu Schiff. Dann geht man fort aus dem Bungalow in ein
Großes, Lichtes, Liebes. Der »Bau«, was immer er gewesen sein mag, ist
plötzlich weg, das Wort erloschen. Erst viel später weiß man langsam
irgendwie, das Große, Lichte, Liebe sei eben der verschwundene »Bau«.

Vieles kam wohl erst später hinzu. Hing mit günstigen Kopra- und
Teeernten, oder steigendem Ertrag der Graphitminen zusammen: so der
Riesenrefraktor für Erasmus van Roy, das Laboratorium, der
Instrumentensaal. Vielleicht waren noch Räume unvollendet. Er kannte
nicht alle, hatte viele freiwillig nie betreten, wie manche Gemächer der
Meditation. Denn jedem Bewohner des Hauses, auch ihm, auch Gargi seinem
Liebesgespiel, war, östlicher Sitte gemäß, ein Raum zu eigen, den
niemand als nur er betrat. Mit seinen Strahlen ganz erfüllt, lebendig
von dem Fluidum seiner tiefsten Stunde: dem »kef« des Orientalen.

Die Gemächer der Meditation hatten weder Schloß noch Riegel.

                   *       *       *       *       *

Hoher Mittag. Nach seinem solitären indischen Lunch schritt Horus durch
die Bibliothek. Der mannigfache Raum ging über in Terrassen aus
durchscheinendem Onyx. Auf ihnen breitete Weiches sich rundum hin -- vor
Luft und Meer -- bereit, ein Buch im Niedergleiten aufzufangen, denn:
der diesen Raum ersonnen, hatte wohl gewußt: im Freien liest man nicht,
man hebt ein Schönes aus dem Buch und träumt ihm nach, bis es im Blauen
groß wird und zergeht.

Luftmüde kehrte er in den Zentralraum zurück, der von Büchern ganz
umgrenzt war. Schräg floß aus hochgelegenem breiten Fenster das Goldne
nieder; ließ die gestuften Tafeln der ungeheuren Mahagonitische
aufduften wie Tiefland. Es leuchtete von Geist und Stille. Ihn aber zog
es zu ganz beschatteter Versunkenheit. Aus dem Niedren tat es sich auf
wie Grotten: taube Alkoven, wo tief in Pfühlen die Körper ausgelöscht
sind und die Gedanken sich befruchten, indes ein klar und zartes Licht
als Hochzeitsfackel leuchtet.

Ein kultivierter Europäer hätte gar bald in dieser erlesenen Bibliothek
etwas höchst Sonderbares entdeckt und in wachsender Betroffenheit die
hartnäckige, ja manische Konsequenz seiner Durchführung bestaunt.
Lückenlos stand als seelisches Riesenwerk das Ethos Asiens da. Wie es,
hochaufgerichtet in den lebendigen Körpern seiner Rassen, noch in die
Gebärde seines letzten ärmsten Sohnes ein Unbeschreibliches an weiser
Anmut gießt.

Da waren die Veden, Upanishaden, Bhagavad-Gita, Gajatri und Upnekhad.
Auch die Sutras mit dem Kama-Sutra. Die sieben großen Philosophensysteme
Indiens, gekrönt mit dem Vedanta, verströmend im Buddhismus. Chinas
Religion des »guten Bürgers«: das Wu-king Con-fu-tses. Lao-Tsu, das Buch
vom quellenden Urgrund, die unvergleichliche chinesische Lyrik. Überdies
fast der gesamte Formen- und Geistesinhalt Ägyptens, Kretas, Babylons,
Persiens.

Auch Europas?

Hier begann das Sonderbare. Während die Großen im Reich der
Naturwissenschaften in Originalen und einer Vollständigkeit, die jener
des Britischen Museums wenig nachgab, vertreten waren; während Neues und
Neuestes unaufhörlich in Fachschriften zuströmte, enthielt dieser
offenbar tiefdurchdachte Geisterbau keine Zeile, aus der auf Geschichte,
Religion, soziale Zustände Europas hätte geschlossen werden können: auf
Sexualbräuche, Sitten, Jus. Die Unnaturwissenschaften fehlten gänzlich.

Die Existenz des Christentums war ignoriert und aus den großen
Philosophen jene Teile ausgeschieden, die es -- wenn auch in
antithetischer Form -- streiften. Auch das meiste aus den Werken der
Dichter entfiel: Faust, die historische Mordfolge Shakespeares; nur wo
Oberon Herrscher, Ariel Diener, Böhmen eine Insel war, das blieb. Es
blieben auch Schillers ästhetische Schriften, Lessings Laokoon, denn
hier wurde Zeitlich-Gegenständliches durch divine Behandlung aus
passagerer Umwelt ins Durchscheinend-Verklärte gehoben.

Auch das Süßeste des Minnesanges blieb, als dem Weltwesen der Liebe
zugehörig. Außer Globen, Stern- und Weltatlanten gab es auch
Spezialkarten Europas: Geographie, geologischen Aufbau, Städte, Kanal-
und Eisenbahnnetz erläuternd. Da aber jegliche Historie fehlte, konnten
die abgegrenzten Flecke: England, Deutschland, Frankreich, Spanien,
ebensogut die vereinigten Republiken von Europa, die Provinzen des
Großmoguls der Schweiz: Fürsprech Brüstli, als den Aktienbesitz eines
Wallstreettrusts bedeuten.

In die Bibliothek mündete der Orgelsaal, mit Flügel und
Streichinstrumenten, enthielt auch die Musikliteratur, mit Ausnahme
jener Opernauszüge, deren Text in die geächtete Zone ragte.

Bildhafte Darstellungen hörten mit dem Ägyptisch-Griechischen auf. Auch
in der Baukunst. Das Letzte: der Parthenon. Aus sämtlichen europäischen
Büchern waren die Porträts ihrer Verfasser sorgfältig entfernt.

Erwuchs hier ein begabtes junges Wesen, so war ihm eine Umwelt bereitet
aus europäischer Wissenschaft, Technik und Musik, Asiens mystischem
Ethos und allen freien, daher gepflegten Liebesformen des Gesamtorients
als Morgengabe.

                   *       *       *       *       *

Tief in seinen Bücherschluf geschmiegt, rosenquarzgedämpftes Licht zu
Häupten, griff Horus nach einem Band Pascal. Er war seltsam erregt
heute. Alle Nerven lagen wehend wie in einem flüssigen Medium, das
hinstrebte nach zwei Polen: dem Traum und dem Rhajputen. Wollte sich
sammeln, beruhigen, oder falls das mißlang, die Erregung, wie oft schon,
zu einem Stachel machen, ihn ins Geistige zu treiben -- dorthin, wo die
großen Zusammenhänge waren in dieser ganzen rätselhaften Raum-Zeit-Welt,
zu denen ihn seit früher Kindheit heilige Gier immer wieder unter
Schauern trieb.

Erinnerte sich dabei eines Ausspruchs, den Erasmus unlängst halb im
Scherz getan:

»Die meisten Menschen bleiben dumm, weil sie feig, nicht weil sie
unintelligent sind; es fehlt ihnen einfach der Mut, so lange zu denken,
bis es weh tut! Doch dort kommen erst die Einblicke und Ausblicke.«

Seine Jugend war der Räude des Alltags fast ganz entrückt.

All den elenden Köterleiden, die in den schmierigen Augenblick
herabzerren von einer Spanne zur andern. So blieb seine Seele feinhäutig
und wach für die fruchtbare Qual der großen Fragen aller Kreatur, die
ins Ewige ziehen. Denn nur zwei Wege tiefster Erschütterung gibt es, auf
daß der Mensch außer sich gerate und über sich hinaus: den Weg der Qual
und den Weg der Freude. Qual aber ist, je nach der sensitiven Stufe des
Gequälten: für einen Heloten auch hundert Peitschenhiebe am eigenen Leib
noch kaum, -- für Gotama Buddha war schon ferne Ahnung, daß es auf Erden
etwas wie Alter und Siechtum gäbe, Leids genug und erschütterte ihn in
die Vollendung hinein.

Horus hatte längst -- nicht nur aus van Roys Worten -- auch traumhaft
erahnt: »das Wesen aller Dinge sei die Zahl.«

Wenn dann aus dem dreifachen Reich der Natur das Mannigfaltige
hervorbrach, ihm die Sinne sprengen wollte, trat er zurück in die reinen
Raumgebilde des Geistes: Schemata alles Erschaffenen und alles
Erschaffbaren. Vor denen -- wie ihn gelehrt worden war -- der pauvre
Klumpen dieses Kosmos ganz ohne Importanz wird, versinkt, sind sie doch
tiefer und weiter als er. Denn die Gesetze der Mathematik gelten für
jede mögliche Natur, für alle physikalischen Universen, die Riemann
sämtlich vorausberechnet hat, und von denen das Eine -- Unsre, nichts
als ein Spezialfall ist. Nicht aber gelten die Gesetze der Physik für
Gegenden der Mathematik, denn: wo immer in der Natur eine _bestimmte_
Zahl erscheint, gleichsam als _Ursaite_ angeschlagen wird, da muß auch
der gleiche Ton erklingen, muß gleiche Farbe, Gestalt und chemisches
Geschehen sie begleiten. Die Zahlen und ihre Beziehungen sind Traversen
der Welt, jenseits der Erscheinungen; wer in ihnen, ist in
geheimnisvoller Weise auch im Baumeister aller Welten. Und van Roys
Worte kamen ihm wieder:

»Was sind die kindischen und kläglichen Wunder aller Religionen,
verglichen mit dem einen mathematischen Wunder der »harmonischen
Teilung«, in Geometrie und Natur: dies Zueinanderstehen von Zahlen, aus
dem die Proportionen der Musik und die Kegelschnitte sich gleicherweise
erzeugen. -- Das geisterhafte Schema, nach dem die Welt klingt und die
Gestirne sich bewegen.«

»Wo sonst ist ein Erahnen so herzerschütternd großartig für das
Hereinragen eines Außerweltlichen -- geheimnisvoll Ordnenden. Wer da
innen ist, durch den gehen die Fäden der erschaffenden Gesetze, der
hängt gleichsam im ewigen Fadenkreuz und rührt an Grenzen des
Unzerstörbaren.«

Da war es dem Knaben Horus oft, als ob ganz große Gedanken, die im
Unvergänglichen dahinwehen, außen am Rand seines Erfassens
vorüberstrichen, knapp an der dunklen Monade vorbei. Nur ein Weniges
noch an sehnender Kraft, und er müsse ihrer mächtig werden, sie
hereinziehen in das passagere Ich. Doch dies Vorüberstreichen schon
rührte mit einem klar und magischen Glück an sein großpochendes Herz.

Daß er gerade heute Pascal zur Hand genommen? Vielleicht um des Wunders
willen, daß dieser -- ein Kind von sechs Jahren -- mit einem Stäbchen im
Sande spielend, die ganze Euklidische Geometrie aus sich entwickelt
hatte. Mit winziger Kinderfaust dies Wissen von zwei Jahrtausenden
erspielte, wie andre Steinchen halten. Horus schlug jene weltberühmte
Abhandlung auf, von dem Halbwüchsigen -- kaum älter, als er selbst jetzt
war -- der Akademie von Paris überreicht. Und er begann zu lesen:

»Über die Kegelschnitte«.

Doch die leuchtende Geometrie, der ätherische Glanzraum Pascals, schien
ihm heute in eisige Phantastik seherhaft entrückt. Wo war in dieser
Kristallwelt Durchdringung mit dem Warmen, das in ihm schlug: ein
Vogelherz in harter Hand? Er ließ den Band sinken, blickte auf. Am
andern Ende des Raumes war eine einfache Gestalt. Unnachahmliche
Bescheidenheit lag als stiller Ring um sie.

Ein irgend Etwas an Haupt und Haltung ließ Horus fühlen, er störe nicht.
Sei erwartet und willkommen. Drüben dann, in den weiten _easy-chair_
hineingeschmiegt neben den alten Freund, erkannte er, daß dieser nicht,
wie er zuerst geglaubt, ein Buch, sondern ein aufgeschlagenes Manuskript
in den Händen hielt. Und Horus las:

»Die Hyperbel hat mir von jeher etwas Gespenstiges gehabt, ohne daß ich
mir einen Grund davon anzugeben wußte. Ich fand ihn indes nachher in
einer symbolischen Beziehung, die sich ihr unterlegen läßt, und ich bin
überzeugt, daß alle, die sich unterlegen lassen, in dem ähnlichen
Charakter zusammentreffen. Man muß sie aber gleich in bezug auf die
übrigen Linien betrachten.

_Der Kreis symbolisiert mir die Eigenliebe_: den Egoismus.

_Die Ellipse das Ideal der Liebesfreundschaft._

_Die Parabel das der Liebe gegen das Unendliche, Göttliche._

_Die Hyperbel das Ideal des bittersten Hasses._

Der Brennpunkt in jeder der angeführten Linien stelle eine Seele vor;
die Strahlen, die von da nach dem Umkreis gehen, die Bestrebungen dieser
Seele, wiefern sie nach außen (durch Handlungen) wirksam sind, und die
Richtung der zurückgebrochenen Strahlen den Zweck, zu welchem die
Bestrebungen auf das Äußere gingen. -- Ich kann z. B. nach außen
handeln, teils um meinetwillen, teils um eines andern willen. Wenn die
Strahlen also, die von dem Brennpunkt ausgehen, die aktiven Bestrebungen
der Seele vorstellen, so müssen umgekehrt -- wenn wir das Symbol treu
verfolgen wollen -- die Strahlen, die von der Peripherie in den
Brennpunkt fallen, die Gefühle und Empfindungen vorstellen, welche die
Seele passiv von außen in sich aufnimmt. Wird daher ein Strahl, der von
einem Brennpunkt an die Peripherie fiel, in einen andern Brennpunkt
zurückgebrochen, so sind des letzteren Gefühle -- nach dem Symbol --
durch Bestrebungen oder Handlungen des ersten Brennpunktes veranlaßt
worden.

_Der absolute Egoist_ handelt nur um seinetwillen. Er läßt nur Strahlen
gegen die Peripherie ausgehen, damit angemessne Gefühle in _seine_ Seele
durch die Rückwirkung kommen; er ist ganz in sich abgeschlossen. Was er
auch tun mag, davon hat nichts auf eine Seele außer ihm Bezug. Der
Strahl, der aus dem Mittelpunkt des Kreises kommt, wird ewig wieder in
ihn zurückgebrochen.

Die _Ellipse_ läßt sich als ein Kreis mit in zwei Brennpunkten
auseinandergetretenen Mittelpunkten betrachten.

Eine Seele hat sich in zwei gespalten, und beide existieren nur mit- und
durcheinander; jeder ist die Seele eines Freundes; jede wirkt nur, um in
der andern angemessene Gefühle und Empfindungen zu erregen, denn welcher
Strahl auch von dem einen Brennpunkt an die äußere Peripherie fällt, der
nimmt seine Richtung nach dem andern Brennpunkt zu. Was der eine nur
denkt und hat, das gießt er in des andern Seele aus. Um die Außenwelt
bekümmern sich beide nur, insofern sie mittelst ihrer in bezug
aufeinander wirken können; beider Gefühle ergänzen einander stets: _alle
gebrochenen Ellipsenradien sind gleich der großen Achse_, die beide
Brennpunkt-Seelen zunächst verbindet. _Sie können jede einzeln nichts
denken, nichts fühlen, was nicht mit des andern Gefühlen und
Bestrebungen zusammenstimmte, daß es dieses Band darstellte_: das Ideal
der Liebesfreundschaft hat viel schönere Symbole -- wohl kaum ein
wahreres.

Nehmt die _Hyperbel_: beide Liebende sind durch einen ungeheuren Haß
gespalten worden! Der eine hat sich von dem andern abgekehrt, _jeder
reißt seinen Brennpunkt heraus_, hält ihn für sich fest und mag mit dem
andern nichts zu schaffen haben. Sie fliehen sich in Ewigkeit -- Nein,
_sie sind noch aneinander gebunden_, aber durch die Bande des
feindseligsten Hasses. Ihre Gesinnungen beben divergierend vor einander
zurück bis ins Unendliche, aber doch bleiben sie hadernd einander
gegenüberstehen, und daß jedes Gedanken nur von des andern Seele
zurückfahren, sieht man daraus, daß die Divergenz der Strahlen ihr
Zentrum in dem gegenüberliegenden Brennpunkt findet. -- _Was in der
Ellipse das Band war: die große Achse ist in der Hyperbel in den
Gegensatz übergegangen, und alle Strahlen, die von einem Brennpunkt in
den andern fallen könnten, sind sich nur in der Differenz gleich._

_Die Parabel_ ist ein erhabenes Symbol der _Liebe zu einem Ideal, zum
Übersinnlichen, zu jedem Großen und Schönen, was nur in der
Unendlichkeit erreichbar, der Seele vorschwebt: alle Strahlen, die der
Brennpunkt der Parabel aussendet, laufen in gleichförmiger Richtung nach
dem andern Brennpunkt, der in der Unendlichkeit liegt_; alle
Bestrebungen und Gedanken sind nur _dahin_ gerichtet. _Umgekehrt kann
kein Strahl in die Seele fallen, der nicht vom Unendlichen ausgegangen
wäre._ Alle Gefühle beziehen sich auf dieses.

                   *       *       *       *       *

Eine Liebe zum _absolut Infernalischen_ -- etwa im Gegensatz zur
Parabel, dem absolut Idealen gibt es nicht: _ja, das Symbol für sie ist
sogar unmöglich_! (y² = [sqrt](-px)) Es müßte eine Parabel sein, die
sich vom Brennpunkt, der in der Unendlichkeit läge, abkehrte und seinem
Gegensatz zueilte, aber die Mathematik zeigt, daß es ein solches Symbol
gar nicht geben kann.

_Noch Schlimmeres als der absolute Egoismus_ ist also, soweit unsre
Denkformen reichen, nicht vorstellbar. Er und sein Symbol: der Kreis,
bilden den geometrisch größten Gegensatz zur Parabel, den der Geist zu
bilden vermag.

Wie die Selbstliebe alles auf sich zurückbezieht, so ist alles, was die
Parabel tut, ohne allen Bezug auf sich, _denn der Strahl hat erst in die
Unendlichkeit zu laufen, ehe er zum Brennpunkt wiederkehren kann_; daher
ist die Parabel zugleich das Symbol der Tugend, welche nur dadurch, daß
sie für das All gewirkt hat, für sich und auf sich zurückwirken will,
und das Symbol der Tugend fällt mit dem Symbol der Liebe gegen das
Unendliche zusammen.

Denkt man sich einen unendlich großen Kreis, der das All befaßt, so ist
-- wie sich Extreme stets berühren und im Unendlich-Großen all unsre
Symbole ineinander laufen -- _dieser_ Kreis zugleich das Symbol des
absoluten Egoismus und der absolutesten Liebe gegen andre: _ein
Göttliches als Mittelpunkt des Allkreises kann sich nur selbst lieben,
insofern außer ihm nichts ist_, denn die Peripherie: die Welt gehört ihm
wesentlich _als Körper zu_. Aber indem er sich selbst liebt, liebt er
zugleich alles, was es gibt. Die Liebe gegen seine Geschöpfe ist ihm
Selbsterhaltungstrieb und er mag nur sich erhalten, indem er alle seine
Geschöpfe: Teile des unendlichen Körpers, erhält.«

Das Manuskript brach ab.

»Laß es mir,« bat Horus, und da er des andern Zögern fühlte: »es ist
wohl sehr kostbar,« -- dann dringender: »Nur für kurze Zeit; nur das
über die Parabel.«

In ihn brauste der Traum zurück und das Traumlicht in jede Ader seines
Hauptes, doch das war nur wie leichtes Zerrbild und heller Hauch,
herausgeatmet aus dem reinen Mund des Hochschlafs. Nun floß es zusammen
mit der Klarheit, in der sein Herz schwamm, als es der Rhajpute einen
Pulsschlag lang nach einer andern Sternenstunde eingestellt.

Was jenseits jedes Wortes, jeder menschlichen Verständigung geschienen,
kam nun aus gespenstigen Tiefen, als geisterhafte Beziehung reiner
Lineargebilde zurück. Das ranzige Wort »Symbol« wurde stark und
schrecklich neu. So blendend, als wenn man einen Ätherstrom durch beide
Lungen breit in sich hineinreißt, so steigernd riß ein Dunkles jetzt in
ihm entzwei.

»Behalte es ganz,« sagte Erasmus; »vergiß auch die Ellipse nicht.«

                   *       *       *       *       *

Als der Tag sich schon leicht zu neigen begann, waren Horus und Gargi
auf der Schillerfalterjagd. Nach den Monsunen, gegen Abend -- im
schrägen Strahl ist das seltene Geschöpf zu sehen, wo tief in tropischen
Hainen Feuchtes spiegelnd steht.

Bei jedem Schritt bricht eine Wolke warmer Narden aus brünstiger Erde.
Stachlichte Früchte, schwer wie Säcke, hocken blattlos an Stämmen.
Drüben schießen Jukkapalmen hinauf in die Freiheit. Bersten als Raketen
in Büscheln von Leuchtkugeln auseinander. Dann wird es dunkelgrün,
dicht, still. Tollgeformte Vögel auf behaarten Ästen zieht ein
ungeschlachtes Horn im Kopf vornüber. In wahnsinnige Stellungen verhext,
stieren sie dann aus kahlen Augenkreisen überquer ins Leere.

Auf hohen, sehnigen Beinen schleichen die beiden durch schlingerndes
Grün: Bethel und Pfefferranken, dann längs des Wassers eine Schlucht
hinan, bis wo auf kreisrunder Lichtung Klares rieselnd auseinandertritt,
um feuchte, schiefrige Platten. Kauern heran, fahren flach nieder wie
ausgegossen vor der Sonne; kein Schatten darf auf das Braun-Graue
fallen, das sich eben aus der Luft dort niederläßt.

Köpfe schief, Augen wie Phosphorbänder, tasten sie nach richtigem
Blickpunkt. Jetzt ein schräger Strahl, und das Braun-Graue geht in
weißem Feuer auf als brennender Brillant, bricht in blendendem Äther
über seine Ränder, wird zu einem kleinen Strahlensee, der auf sechs
abgeknickten Fadenbeinchen sitzt, und während die atmenden Flügel sich
glätten, gehen Adern aus Juwelenfarben durch sie hin. Zwei Lichtketten
rinnen über die spiraligen Fühler: Antennen der Liebe, endend in einem
großen Tropfen Licht.

Es sitzt und zittert. Spannung in den Flügeln steigt und steigt; zu tief
erregendem Vibrieren ohne Pause: samtnem Elfenbrausen an. Da fährt ein
zweiter kleiner Strahlensee im Gleitflug nieder zum ersten, und eine
zarte Mythe hebt an: von Wesen, bei denen die Liebe zu einer Inkarnation
für sich geworden. Wesen nur aus Organen der Wonne: ganz Auge, Flügel,
Taster, Geschlecht. Keine Vorkehrungen mehr im Körper für diffamierende
Funktionen: Kampf -- Fraß. In einem Krampf von Stille, um Geschöpfe, die
in der Liebe sind, ja nicht zu stören, schauen die Kinder das
Weitergeben des Lebensfunkens in den atmenden Edelsteinen.

Unten im Tal saßen sie dann am Rand eines winzigen Beckens. An einem
jener kleinen, brunnentiefen Trichter, wie sie der Fluß ausspült
zwischen Felsen, deren Spiegel glatt sind und wo im Glasigen die Fische
fließen. Gargis Füßchen spielten mit Staubgefäßen des rosenroten Lotos,
der als Porzellan auf grünen Tafeln steht. Durchbrachen dann den lauen
Smaragd und ließen sich schwimmend vom Strom dem Hause zutreiben; ließen
sich fließen -- tauchten -- bildeten, eins ins andre verschlungen,
seltsame Doppelwesen oder formten, die Beine verspreizt, aus ihren fast
brüderlichen Körpern eine Art Kanu: Bug und Heck die Köpfe, Riemen die
Arme.

Bei der »Höhle der weißen Träume« suchten sie das Ufer, wateten durch
Seichtes, Gargi voraus. Im schrägen Strahl blühten die beispiellosen
Farben ihres Sonnenblutes auf: über grünlichem Dunkel ein silbriger
Samt. Gleißend von dem Gleichen wie Panther und Orchis: dem, was von
tief innen heraus zu Leben verbrannt magisch aus Fellen und Kelchen
bricht.

Das selige Silber rann an ihr nieder, die Lustfurche des Rückens hinab,
in der ein Wellchen sich brach. Lanzendünn blitzten die geisterfeinen
Hüften.

Halb Fee, halb Knabe schien sie im Schaumschleier aus Licht und Wasser,
leicht wie Schaum. Sie küßte zum Abschied die abfallenden Wassergewänder
-- das Verrieselnde von den Schultern, den glatten Kinderbrüstchen.
Erschauerte einen Moment schmal und möwenhaft, warf dem Wind die Arme um
den Hals und flog den Strand entlang.

Gut war das: die aus sich selbst bewegten Sprunggelenke spüren, ein
Lebendes, Laufendes sein, das gehoben von Blut zwischen Himmel und
Gestein dahinfliegt, die sich nicht bewegen können. Und hinter sich das
andre laufende Leben. -- Gut war das.

Denn ein Entflammter flog ihr nach.

Lange vermag ein wohlgebornes junges Wesen ohne Sexualität zu sein, wenn
es die Liebkosung hat. Nur in nächtlich einsam eingesperrter Pubertät
schwillt der primäre Trieb zu manisch-hündisch-hämischer Besessenheit:
armselig, eintönig und roh. Ein Elend den Frauen, an denen er sich
später vielleicht ehelich -- jedenfalls weihelos entlädt.

Horus, frühzeitig einem holden Bettgespiel gesellt, stillte seine warme,
junge Sehnsucht von je in feinerer Mannigfaltigkeit.

Das Leben war ihm -- auch abgesehen vom Nur-Erotischen -- so angefüllt
mit Sinnenwonnen, daß er spät zur Zentrierung der Einen kam. So
verweilte sich Eros lange auf allen Gliedern. War im Ozean der
Tastempfindungen, irisierte vielgestaltig über die kleinsten Muskeln
hin, die -- winzige Zentren der Wollust -- sich in zarten Schauern
erlösten, und Liebe blieb ein süßer Grenzfall am Rande kühner
Zärtlichkeiten.

Wird aber eines Tages der innre Lenker wach -- wach über alles --, sieht
er sich von der ersten Stunde Gebieter über ein erlesenes Heer von
Wonnen: dem Gefolge im Märchen, das lang vor seinem Herrn erwachen soll,
den Traumbann abtun, sich schmücken, festlich bereiten, dienend zur
Stelle sein, wo es am Schönsten wird: bei seines Prinzen Auferstehen.

Als der Knabe Gargi den Strand hinauffliegen sah, in der jungen
Herrlichkeit eines Pfeils, vom Bogen der Spannungen entsandt, trieb ihn
erst reine Beutelust ihr nach, auch das Glück, von ganz nah die
Sprungsehnen in den langen Kniekehlen spielen zu sehen, dort wo die Haut
fast unirdisch wird.

Doch Reiz ist Schönheit in Bewegung. Sein Blut riß ihn über den Blick
hinaus, begann nach den Flammen ihrer Anmut zu schwingen, wie am Morgen
nach dem Atem des Rhajputen. Groß und unruhig wurde die Luft. Schwüle
strich ihm um die Flanken. Schwoll durchs Adernetz. Sie halten --
umschlingen -- tragen -- beißen, es war nichts, aus taumelndem
Bewußtsein schrak er auf mit dem manischen Drang, ihre Stimme zu küssen,
ihr Fliehen, ihr Leben: dort ganz dort. Auch ihm nur mit der Essenz
seines Lebens erreichbar.

Vor ihm her strahlte sein Begehren. Leckte hinüber in ihr fliehendes
Blut. Stahldunkel vor Gewalt, schoß es über sie hinaus. Da wurde sie zu
einer einzigen flirrenden Linie der Flucht und genoß die Härte ihres
kindlichen Schoßes.

Die Frau will die Erwartung -- der Mann die Erfüllung. Lief wie sie noch
nie gelaufen. Spürte an der Bestürzung ihres Herzens seine wachsende
Nähe. Auf einem neuen Schauder kam er heran. Ihre Adern keuchten das
weibliche: noch nicht -- noch nicht. Ein manischer, wahndunkler Trieb:
immer den gleichen Abstand zwischen sich und der Erfüllung wahren. Sei
es um den Preis der Erfüllung selbst.

Nicht enden sollte die berauschende Angst.

Nie mehr enden die pulsende Not.

Und Freude an der Not.

Überhangen bleiben mit allen süßen Möglichkeiten.

Dauern in einem Weltenbrennpunkt unaufhörlichen Begehrtseins.

Lief wie sie noch nie gelaufen. Konnte nicht mehr. Brach zusammen mit
geschlossenen Augen. Klammerte sich an die Wonne ihrer Angst. Preßte die
spiegelnden Gazellenbeine herb aneinander -- -- zu _einem_ langen Pfad
der Verführung.

Ein Dämon der Inbrunst, war er über ihr. Sekunden perlten wie
Champagnertropfen auf.

Dann: hart, langsam, gnadelos stemmte sich sein Knie auf ihre
blaßgepreßten Schenkel. Der Block aus Bronze trieb die Zitternden ohne
Schonung auseinander -- so weit es ihm beliebte. Und gab sie frei. Leer,
kühl strich Luft um ihren versiegelten Schoß. Nur über dem Haupt duftete
noch das Glück seiner lebendigen Nähe. War sie verschmäht? Besiegt und
dann verschmäht? »Er will seinen Willen, nicht mich,« fuhr es durch sie
hin. Es war nicht mehr zu ertragen.

Das Herz schlug ihr die Augen auf. Sah ihn nah. Wimper an Wimper
besprangen sie die goldbeschwingten Panther seiner Augen. Neigten ganz
in sie hinein voll Verheißung und Geduld.

Da flog sie an ihm auf wie ein angewehtes Blatt. Barg das wunderbar
junge Haupt im alten Mantel seiner Zärtlichkeit. Er hatte ihr die letzte
Süße geschenkt: Erleiden der Gewalt genießen lassen ohne Demütigung.

Seine Hände kamen. Widerstandslos nun, in wartendem Aufruhr, ließ sie
sich an ihm entlangführen. Über seine dröhnend harte Violinenbrust
langsam abgleiten, hineinreißen in die Höhle seines Leibes --
hineinsaugen in eine Schale von Kraft.

Sie stürzen ineinander.

Horchend hingegeben dem geheimen Rhythmus, mit dem die Essenzen des
Lebens in ihren tiefen Kelchen -- kraft so vieler Liebkosungen --
einander wunderbar entgegenfluten. Gesteilt -- getürmt.

Sie verströmen in die verborgene Mond- und Sonnenspringflut: die
Gezeiten des Eros.

Lang durch sie hin geht die selige Wehe.

                   *       *       *       *       *

Zur Stunde der Krähe, Tau im Haar, waren sie heimgekehrt. In wonniger
Ermattung entschlummert, hoch oben auf der Terrasse aus rosigem Granit.

Inmitten der Nacht tauchte Horus aus dem Tiefschlaf. Heiß vor
Wirklichkeit, ganz glücklich, wach zu sein -- _da_ zu sein.

War auch Gargi wach? Trunken taumelte sein Gesicht dem ihren zu. Vor dem
Lichtjubel seiner Seele kreisten die riesigen Opale ihrer Augen, deren
Wimpern wagrecht in die Schläfen schnitten, dem kindlichen Haupt etwas
Durchleuchtetes gaben.

Sie erhoben sich vom weiten Lager, schritten -- zu einem Wesen
geschlossen -- bis an die Brüstung, die das Halbrund der offenen
Schlafterrasse umlief.

Dem Garten enthoben sich die Farben der Nacht. Über Blüten und Wegen
stand strahlende Materie der Finsternis. Griffen tastend in Blumen,
lehnten sich weit hinaus in den veilchenhaften Samt des oberen Abgrunds,
aus dem Gestirne gehangen kamen, groß, frei schwebend: Kitalphar --
Archanar -- die Beteigeuze. Der Raum sog die Seelen an. Es war so schön,
daß man nicht denken konnte -- kaum fühlen -- nur schauen.

Ihre Hände öffneten sich dem Astralschein: magnetischem Puls kosmischer
Zentren. Die schlanken Finger streckten sich -- Antennen -- feinste
Sender und Empfänger dem Äther und seinen namenlosen, unirdischen, alles
lenkenden Wirbeln entgegen.

                   *       *       *       *       *

Fern aus dem Dschungl kamen, in Pausen, die Weltlaute reißender Liebe;
schwimmend in einer Stummheit: Gepfauche auf Tatzen der Unrast --
Brautgebrüll -- Zischen -- aus dem Ganz-schwarzen ein Blutschrei, kühn
wie die Not.

Mitten inne zwischen Dschungl und Sternen stand, in machtvollem Aufriß,
ruhend in seinen klaren Achsen, mit Toren aus lichtem Erz -- das Haus
der Elchos: Kristallform eines höheren Lebens.

Freiheit der Wildnis stieg an ihm auf mit tausend grünen Adern, zerbarst
in Kelche, ward oben Duft am reinen Raum aus Zucht und Zartheit: dem
kindlichen Ehegemach in rosigem Granit, dessen Kuppel wie der Sektor
einer Sternwarte sich auftat in die bodenlos selbstblühenden Sterne.

                   *       *       *       *       *

Diana Elcho hatte an Gargis durchscheinendem Körperchen seit dem
Frühlingslauf zur »Höhle der weißen Träume« neue, heißere Male entdeckt:
»die getigerte Wolke« -- »das Korallenband« -- »zackichte Krone« --
»Perlmuschel« geheißen, in Indiens lächelnder und gönnender Sprache, die
erlesene Liebkosungen in heiligen Schriften vermerkt.

Ohne Wort, ohne indiskrete Miene, wie von selbst und ganz einfach
stellte sich alles auf die hohe Zeit der beiden Kinder ein. Frei von
gierendem Wohlwollen. Auch das Haus: der Raumkristall wandte ihnen eine
neue Facette zu.

Sie hatten bisher nicht alle Räume gekannt. Außer dem Halbrund aus
rosigem Granit standen ihnen jetzt drei Schlafgemächer offen. Zwei
einsame: licht, frei, glatt, -- fast leer. In der Mitte ein Gemeinsames,
das ohne Fenster war; eckenlos zu einer Ellipse geschlossen. Ozonisierte
und durchduftete Luft erneuerte sich unmerklich in ihm. Es war nichts
als ein immenses, hingebreitetes Pfühl -- nur verschieden überhöht und
durchtieft.

Linde Kurven aus dunkelglühenden Samten, schräge Lichter und Spiegel, da
und dort, klarer wie Tag, eine Pore im Kelch der Liane rügend, oder mit
einem Griff zu opalisierenden Nebeln verschleierbar -- warteten. In
Andacht. Ganz der Nacktheit und ihren Festen geweiht.

Denn Erotik des Auges: die feinste, holdeste, ist die verletzlichste
auch. Immer echt unter Gräsern und Sternen: im zartweiten Nebel von
Leben als Liebesumschlingung sein geballterer Kern.

Doch im Alltagsraum: Schon an der schutzlosen Haut beginnt die Fremde.
Kein sinnlicher Zauberkreis hält da dicht. Kalt schaut ein Fenster zu.
Möbel leiern hölzerne Litaneien taktlos weiter:

»Wasch dich,« -- »setz dich.«

Halbwesen, Unwägbare, tasten sich liebeleer herein in einen tiefen
Schauder, verzerren ein leidenschaftlich in sich Geschlossenes zu
ungewollter Exhibition. Daß im Liebesraum kein Ding, von Alltagstun noch
trächtig -- niederträchtig, die hohe Tugend der Wollust beflecke, hat
das Fundament aller menschlichen Lebenshaltung zu sein.

Vom Kopf bis zu den Füßen in die »fließenden Wasser von Bengalen«
eingehüllt, betraten sie die samtne Tiefe, und die berühmten Musseline
zitterten als plissierter Nebel um ihre Körper und um die Füße als
lockiger Schaum. Fließen die »Wasser von Bengalen« über ein schlagendes
Herz, Beben einer Schulter, alles was pulst, verborgen schauert, nehmen
sie da und tragen es herauf an den Schimmer ihrer Oberfläche. Wie im
geheimnisvollen, hellen Bad, beim roten Schein der Dunkelkammer, ein
Bild aus blinder Platte gehoben wird und sichtbar. Ganz scheu steht es
dann -- rührend und groß auf einmal.

Auch alle Liebesspiele kannte das Gewand und spielte mit. Warf seidne
Arme um den Hals bei stürmischem Nahen, floh weich in die Senkung einer
Achsel, wehte dann wieder als Flügel dahin, listig mit entwendetem Duft
beladen. Endlich gab es sich besiegt, hing vielleicht noch schmal an
einem Knie, fiel auf einmal wie Asche in sich zusammen und war überhaupt
nicht mehr der Rede wert. Die befreiten klaren Körper: Frühlingsäste im
japanisch Leeren aber nahm der ganze Raum voll Inbrunst in seine samtnen
Arme. Selbst das weite, gönnende Hochzeitsgewand.

In ihm meißelten sie ihre eignen Statuen unter dem anklingenden Rhythmus
der großen Gewalt.

Dann, nach Stunden, aufschauernd aus Umarmungen an den Grenzen des
Lebens, erblickten sie sich selbst, erblickten ehrfürchtig, was Shiva,
der Herr der Glieder, sich aus dem edelsten, dem lebenden Material
herausgeglüht, auf daß es -- ungleich dem sparsamen Werk der Kunst --
gleich wieder zu noch heißerem Leben, noch wilderer Anmut zergehen möge.

»Das sind wir.« -- »So viel ist uns anvertraut.«

Glätte jedes Muskels, Feinheit jeder Phalanx, das Wunder des Knies,
alles hatte plötzlich einen Wert ohnegleichen. Nur weil es so, gerade
so, konnte der Gott es bespielen. Hoch über aller Eitelkeit beugten sie
sich -- heiß vor Verantwortung -- Hüter zu sein von lauter Dingen ohne
Preis. Dem Einmaligen, Heiligen, Unwiederbringlichen, das ein lebender
Körper ist: Statue, die nie erstarren darf, weichglühender Kelch von
Murano, dem edler Atem Tag und Nacht, von innen heraus, die immer leise
schwankende, feine Form bewahren muß.

Jeder unreine Bissen, ein häßlicher Gedanke, eine unvornehme Geste droht
schon ihn zu mindern, seine Einzigkeit zu trüben. Denn Vollendung ist
freigewählte, unaufhörliche, lückenlose Zucht. So fühlten sie. Und das
Licht, das Gewissen des Körpers, lächelte ihnen dabei zu. Und es
lächelte sogar die Zeit, denn vom Anfang dieser Erkenntnis war sie noch
einen weiten Weg mit ihnen, statt gegen sie.

Der Tag begann seine Form zu verlieren, weil die roten Wogen der Nächte
über seine Ränder spülten, so daß letzter Schauer des Erinnerns mit dem
ersten der Erwartung am hohen Mittag zusammenfloß. Noch viel zu viel
Bedrängnis in der Entzückung. Hoch über dem Glück laufen ihre unerhörten
Spannungen hin -- zu Glück werden sie erst in der Erinnerung verblassen.

Menschen schienen zu nah und grell. Sie gingen zu Tieren und Musik.
Beide Begleiter des Dionysos, des Herrn der Wollust, dem die Flöte
heilig ist und der Astragalos: das Sprunggelenk des Panthers. Und das
aus tiefen Gründen. Oft balgten sie sich stundenlang, wie große junge
Katzen, mit dem Pantherbaby herum, das, ein Findling vom Rand des
Dschungls, von der Leonberger Hündin gesäugt wurde. Das setzte sich
manchmal, mitten im Spiel -- kein Mensch wußte warum -- plötzlich
tiefernst geworden, auf seinen runden Schwanz und versuchte in den
Zenith hineinzubeißen. Da mußte man es auf die trocken glimmernde
Granulierung der Nase küssen, trotz seines empörten Protestes. Um den
moosigen Mund lag das Hold-Fremdweltliche noch: Verschlafenheit alles
ganz Jungen. Durch die Wolke von Milch und Babytum aber strich schon
fahler Dunst walddurchstreichender Flanken, und die wunderbar blauen
Augen, in denen das künftige Gelb in Goldkörnern schwamm, besprangen
königlich alle Dinge, kraft ihres leuchtenden Rechts.

Solche Arme voll allersaftigsten Zuckerrohrs hatte Rama-Krishna in
seiner hundertzwanzigjährigen Erfahrung noch nicht erlebt, als jetzt
täglich, von vier jungen Händen gereicht, in seiner dummen
Säuglingslefze verschwanden.

Er nahm es als karmische Fügung: man frägt nicht viel und lutscht. Leise
schaukelnd. Seine beborsteten Augen, geäderte Billardbälle, weichen
vorbei, immer ins Leere, nur die Rüsselspitze, hellfühlend, äugt nach
mehr.

Vor siebzig Jahren war er Buddhist geworden, damals, als das Malheur mit
der Herde passierte. Die »Affäre« war zwar ohnehin verjährt, aber auch
so -- nein, er hatte sich durchaus nichts vorzuwerfen.

Wie etwa mit Benedek bei Königgrätz Anno 66 war es gewesen. Alle hatten
das auch anerkannt und sich wirklich reizend benommen. Durchaus würdig.
Keine Vorwürfe: »wären Sie nicht« ... »und hätten Sie doch nicht« ...
»und sehen Sie, das kommt davon ...!« -- Nein, nicht einmal die Kühe
hatten gekeift. Wie hätte er auch wissen sollen, daß der neue Vize-Roy,
so einer von den fahlen Affen mit dem komischen Geruch, einen Kraal:
Einfangen wilder Elefanten in heimtückisch kaschierter Umzäunung,
anzusehen gewünscht?

Monate der Qual waren das gewesen: immer gescheucht, abgetrieben vom
Wasser; wo man nur eine Quelle roch, fielen Schüsse, und Feuerbrände
jagten die verdurstende Herde weiter. Die armen Babys, zum Schutze unter
den Müttern laufend, wie unter einem galoppierenden Säulenportikus,
waren schon ganz eingeschnurrt, mit verdorrenden Rüsselchen die
saftlosen Brüste sehnsüchtig drückend. Da -- endlich eine Nacht des
Friedens, der Ruhe, auf dicht umhegter Lichtung Wasser. Einen Augenblick
zauderte er: der Führer. Alles roch so verdächtig nach fahlen Affen
rundum. Wäre er umgekehrt, die Herde hätte vielleicht noch gehorcht.
Aber so--o--o-- viel Wasser! Bis zum Bauch. Man war schließlich auch nur
ein Elefant. Röchelnd vor Gier stürzte er sich hinein. Ihm nach die
schwere, graugebuckelte Wolke.

Da schwang wie ein Tor der schmale Eingang der Lichtung zu, sie war
nichts gewesen als umzäuntes Gehege, und ein Kranz von Geschrei stand
plötzlich um sie auf, von Fackeln und Raketen, daß man an die elenden,
mit Lianen umschnürten Pflöcke nicht herankönne, sie zu zersplittern.

Da hatte er noch einen Rüssel voll Wasser geschluckt -- auf die fünf
Minuten kam es auch nicht mehr an --, dann alles hinaus ins Zentrum der
Lichtung beordert. Babys und Kühe in die Mitte, die Bullen ringsum:
Rücken an Rücken, Stoßzähne und Rüssel nach außen geschlossen, zu einem
verzweifelten Kreis. So erwarteten sie den letzten Kampf; in Disziplin
und Selbstachtung. Die ganze Nacht stand man. Nichts geschah. Dann am
Morgen geschah: eine Gemeinheit. Auf Gongs, Schüsse, Feuer, war man
gefaßt gewesen, doch es kamen -- Elefanten. In hoffärtigem Zug, und
jeder trug auf seinem Haupt als Krone einen fahlen Affen mit Schlinge
und Seil.

Sprachen durch die Rüssel in einem völlig vertrottelten Slang von
»Kulturfortstrom« -- »Gliedpersönlichkeit« -- »individualistischer
Irrlehre«. Schließlich blieben es aber die alten Hauer, mit denen sie
erst die Schwächsten gewaltsam aus der Phalanx drängten, und die alte
Hundsgemeinheit, mit der sie zuließen, daß ehrlich Kämpfenden von dem
fahlen Affen oben hinterrücks eine Schlinge ums Bein geworfen wurde.
Sofort packten die eignen Entartgenossen dann den Strick, schleppten den
wehrlos Gewordenen zur Fesselung an den nächsten Baum.

Qualvoll schnitten die Riemen ins Fleisch. Tag und Nacht. Nie mehr ganz
heilten die Wunden. Nach vierundzwanzig Stunden waren erste
Bestechungsversuche genaht: Ananas, Kokosnüsse, Zuckerrohr. Aber die
Bande hatte alles wieder an den Schädel retour gefeuert bekommen, daß es
nur so krachte. Später freilich, wenn niemand hersah, hatte man wohl
sachte -- sachte mit dem Rüssel hinter sich getastet nach einer Ananas,
sie im Kernschatten des geblähten Ohres zum Mund geführt, dabei aber
möglichst umdüstert nach der andern Seite gestarrt. Ja -- viel
durchgemacht in diesen Tagen.

Später, als Rama-Krishna genug vom Leben verlernt hatte, um »gelehrig«
zu werden, trat er in den englischen Staatsdienst: ins Colonial Service
mit Pensionsberechtigung nach dem hundertachtzigsten Jahr. Damit war es
zwar wieder nichts, seitdem er zu Elchos gekommen, aber dafür galt man
hier mehr als Freund und Ratgeber des Hauses.

»Liebes, großes Rüsselschwein, so sieh einem doch einmal in die Augen,«
und Gargi versuchte, durch Rama-Krishnas Sehfeld gleitend, seinen
kurzsichtigen Blick zu fangen. Es schlug fehl. Da berührte eine
schwebende Spitze ihre Schulter: die zweifingrige Rüsselmuschel, aus der
es satt und lau duftete, wie aus einem Riesenfaß voll Met. Es war eine
Liebkosung von überraschend zarter Weisheit, verklärtem Hedonismus. Aus
flaumiger Nähe, die keusch das Berühren ins Ätherische hob, küßte er
Arabesken aus Hauch über ihre Haut. Gargi verstand. Machte die
Kinderarme knochenlos und muskelhaft geschmeidig, wie das Wunder des
grauen Nasenarms vor ihr. Nun begann es in den Lüften: schwebendes Spiel
dreier Schlangenkurven. Jede an jede funktionell gebunden, einander nie
berührend, schufen sie reizende Raumgebilde aus unwägbarer, reueloser
Lust.

Kurzsichtig oder nicht kurzsichtig, nein, mit so einem Rüssel ist
niemand zu bedauern, und eine Elefantenkuh sein, muß auch seine Meriten
haben.

                   *       *       *       *       *

Es kam naturgemäß die Zeit, wo zwei Körper der schöpferischen Phantasie
nicht mehr genügen konnten. Auf einem Eiland von Frühling,
ineinandergeschlossen zu einem Block von Glück, waren sie bisher
gewesen. Unter ihnen trieb das Leben, daß sie wie auf Kelchen standen --
blühte an ihren Gewändern hinauf bis zu verstreuten Sternen im Haar. Um
sie keine Welt mehr, nur Gold.

Schritten sie jetzt Hand in Hand dahin, zuckte es allenthalben im Äther
rundum auf. Frohe Flammen, die langhin durch ihre azurnen Adern gingen,
leckten hinüber in andre Wesen, und Freudenfeuer grüßten zurück: liebe
Helfer für die strahlenden Zwei. Ein körperlicher Liebeszauber ging von
ihrem jungen Wandel aus, Entzücken für Menschen, befähigt, Empfinden
sogleich in lebendige Anmut umzusetzen, und die, welcher Kaste immer
zugehörig, der Essenz des Daseins mit so weisem Brauche zu huldigen
gewohnt waren, daß vor jeder bindenden Vereinigung von Mann und Frau,
_Er_ -- _Ihr_ eine Banane, _Sie_ -- _Ihm_ einen Mango sendet; als Maß
ihrer erotischen Wesenskerne. Ob sie zur Erfassung und Erfüllung für
einander geschaffen.

In den westlichen Zimtgärten begegnete ihnen einmal eine Straßenkehrerin
von solchem Wohllaut der Gliederung, daß sie trunken innehielten. Sonne
fiel durch einen krokusgelben Sarong, in dem die Nahende als Docht in
der Flamme stand. Sie schien fast ohne Schwere. Nur so viel der Last,
als Kraft bedarf für ihre allerbesten Spiele. Unter den Sohlen ward ihr
der Staub zu tragendem Sperlingsgefieder. Aus der Schmalheit ihrer Kniee
ging sie auf Flaum dahin, im Klingen der Choorees: der Kupferspangen;
nach rechts und links die Blätter von den Wegen fegend. Ihres Füßchens
Ferse hinterließ keine sichtbare Spur; die erbsengroßen Mulden der vier
Zehen -- die kleinste berührte den Boden nie -- aber waren so rührend
abgetieft, so vollkommen gerundet, daß Horus niederkniete, die Innigkeit
des Abdrucks mit dem Finger zu umlaufen. Und ihrer immer mehr wurden es:
bei jedem Schritt fiel wieder so ein Feenhusch auf den Sand. Aus ihren
Abständen, in den Raum hinauf, ersann man dann des Dreiecks süßen
Scheitel sich hinzu, aus dem der Schritt entsprang.

Eine zahme Antilope ging ihr nach, in geschwisterlichem Anstand. Der
sternigen Stirn des zarten Tiers entstieg klirrendes Gehörn.
Messingamulette spielten um die Männlichkeit des sanften Hauptes, um
eine Tönung höher abgestimmt als der Herrin dumpfere Kupferfesseln.

Es wollte Abend werden. Inne hielt die junge Frau, breitete ein dunkel-
und weißgeflecktes Fell der Axishindin, wie einen privaten, kleinen
Sternenhimmel, neben dem Brunnen aus. Begann in der Haltung der
Sandalenbinderin am Parthenon den Staub von sich zu baden. Dann -- einen
Fuß noch gesteilter auf dem Brunnenrand -- lag der Schenkel als Sehne
dem Abdomenbogen an, der edeleingewölbt, sichelförmig hoch darüber
hinging.

Und des Phidias selige Kore verplumpte, ward unmöglich daneben.

Tiefer beugte sich die Badende. Erfrischte eine Kette aus Tempelblüten,
die lang vom Halse niederfiel, neben der hanfenen Schnur. Die Luft war
von silbriger Feuchtigkeit. Steigernder Geruch lebendigen Zimtes,
heraufgerissen durch Wurzel und Stamm, bis er lanzettscharf aus
Blattspitzen brach, trieb kühne Abkehr jeglicher Erdenschwere durchs
Blut. Als brauchte man nur blaue Adern ausspannen, um vibrierend an
doldenüberstürzten Wipfeln sausend still zu stehen, wie die Honigvögel
dort oben, wenn sie mit langen, gekreuzten Nagelscheren aus Gold tief
hineingriffen in flammichtes, grelles, malvenkühles Geschlecht, daß
duffer Fruchtstaub aufflog.

Nun wandte das Wesen am Brunnen auf sanftem Hals den diademgestirnten
Kopf: aus ihrem Haarknoten, der auf dem langen Nacken schwamm, lockten
sich winzige Flocken frei, umstanden als Fest und Feier die fünfkantige
Stirn. Nun hatte sie das kindliche Paar aus dem Hause der »Beleberin der
Herzen«, wie Diana Elcho bei den Eingeborenen hieß, erkannt.

Wie um eine Kostbarkeit bat Gargi um den Besen. Ging denn das an, aus
einem Ding niedrigster Verrichtung ein Instrument solcher Anmut zu
machen, solcher Augenweide?

Und die Diademgestirnte zeigte es: von Schulter zu Fingerspitze müsse es
laufen, sei eigentlich nichts anderes als Freude, so fein fühlen zu
können, daß die Enden des Besens immer nur Blätter träfen -- nie Sand.
Kein Körnchen dürfe auffliegen. Wie der ganze Körper mitschwingen müsse
und etwas an sich haben von der Kunst des Rutengängers; auch sei es
rätlich, seine Besen selbst zu binden. Fertiggekaufte taugten nichts.
Gargi ward einer versprochen aus Pisangrippen mit federndem Bambusstiel.
Dann sei es viel leichter. Denn es ergab sich, daß es nichts weniger als
leicht war. Freilich, einfach Schmutz fliegen machen, rechts und links,
das konnte jeder. Das war Sklavenfrohn. Dann sah man aber auch anders
aus dabei.

Sie ruhten am Brunnen. Nun wandte die Diademgestirnte dunkle Augenblüten
in klaren Schalen Horus zu. Sah ihn zum ersten Mal an. Ganz groß, ganz
tief. Gönnenden Wissens voll. Er überküßte sie: mit aufreizenden und
wieder beruhigenden Küssen. Plötzlich ganz neuen, niegewußten, während
Gargi, die holden Füße der Fremden im Schoß, mit ihnen spielte, als wäre
jede Zehe ein kleines Feenweibchen, auf Seidenkissen zur Liebkosung
bereit. Nun legte er die Diademgestirnte auf seine Arme. Den linken ganz
umspült von ihren Sprunggelenken und Gargis Glieder wie Schleier über
seinen Rücken fließend, riß es ihn nach vor; den Kopf in der Fremden
Schoß gewühlt, daß sein leichtes Haar wie eine Anemone auseinanderfiel,
warfen seine Zähne Anker in der ewigen Bucht. Wo aber dies sein Haar
warm im Nacken auseinanderfiel, entstand zwischen zwei gebräunten Sehnen
aus betörender Männlichkeit eine winzig harte Mulde. Flaum silberte in
ihr. Dort trafen sich in einem kleinen Gruß die zärtlich entrückten
Hände beider Frauen.

Als ein ungemeines Glück empfanden sie die mächtige Potenz dieser
immediaten Annäherung. Noch scheu, ganz steil heraufgerissen werden in
Intimität mit Überspringung aller Zwischenstufen, nur der des Taktes
nicht. Denn irgendwie blieb jene ehrfürchtige, diskrete Distanz, mit der
man Fremdheit ehrt -- auf die sie Anspruch hat -- die blieb bestehen.
Auf unbegreifliche, nur dem Takt begreifliche Weise standen noch Formen
und Schalen makellos. Nur war aus jeder dieser gesitteten
Menschenschalen deren tiefster Kern unwiderstehlich hinübergewallt in
die geheimnisvolle Dimension der Wonne. Auch dort gesetzlos nicht -- nur
anders eben.

Dann nahmen sie die Diademgestirnte in ihre Mitte -- Schwertlilien ihrer
Schenkel spielten dahin -- führten sie dem Hause zu: den Bäderhallen des
Erdgeschosses, den Ruheräumen. Nur in die samtnen Wände führten sie auch
diese nicht. Keinen von all den heißen Knaben- und Frauenkörpern, die
durch ihre Arme gingen und die sie erkannten: im einzigen Sinn, da
Erkenntnis zwischen Sterblichen für einen Augenblick möglich ist oder --
scheint.

                   *       *       *       *       *

Kamen oft in dieser Zeit zu Ganapati Sastriar: dem Märchenerzähler.
Immer wieder gut, wie im Schatten der Weltesche, ruhte sich's in seiner
machtvoll-breiten Unzüchtigkeit.

Hockend am Fuß seiner Träume, erzählte er. Verkaufte Früchte dazwischen.
Aß, was er nicht verkaufte, selber. Lebte doppelt: vom Erlös und
Nicht-Erlös zugleich. War so dick, weil er immer im Schatten saß. Kein
Sonnenstrahl durfte ihm das Fruchtfleisch der Bananen wieder aus den
Poren ziehen. Schien aus einem süßen, prallen Stoff gemacht. Manchmal
blieb ein kleines, nacktes Kind stehen, steckte den Finger an ihn,
meinend, er schwitze Zuckerharz gleich einer Palme; klimperte dann
enttäuscht mit seinem Aramudhi, dem Lendenamulett, zwischen den Beinen
davon. War Ganapatis Mehlsack: die Brotfrucht, weg -- der Mango auch --,
nicht die dünnste Ananas für ihn übrig geblieben, pries sein Mund jene
asketischen Bräuche, vor deren Macht alle Götter zittern, dann sprühten
aus seinem Schlund ungeheuerliche Kasteiungen der Sadhus, wie Kraft aus
einem Krater, bis die drei Reiche erbebten vor seinem Mangel an Obst ...
Oder seine Lippen funkelten von Dhruva, dem Polarstern:

»Der König Uttanapada hatte zwei Frauen, von jeder einen Sohn. Einst saß
der König auf dem Throne, auf seinem einen Knie das Kind der
Lieblingskönigin Suruchi. Das sah Dhruva, sein zweites Kind, und voll
Sehnsucht nach gleicher Zärtlichkeit, versuchte es des Königs andres
Knie zu erklettern. Doch die Lieblingsfrau wies es mit höhnischen Worten
zurück. Scham schlug in sein kleines Herz gleich dem einsilbigen Blitz,
stumm ging es hinaus, hielt die Tröstungen seiner Mutter von sich ab und
sprach in seiner großen Empörung:

>Ich will aus mir selbst so hohen Rang erreichen, daß des Königs Thron
und sein Knie und auf seinem Knie mein Bruder Uttama tief unter mir
liegen sollen, und das für immer, nur erreichbar ihrem Gebet; ob ich
gleich nicht von Suruchi, der Lieblingsfrau, geboren bin, sondern von
dir, und du, meine Mutter, sollst meine Herrlichkeit schauen.<

Dann ging dieses Kind von fünf Jahren aus der Stadt bis in den Dschungl.
Dort saßen sieben Munis auf schwarzen Antilopenfellen; von ihnen erbat
es Rat.

>Prinz, die Kraft deines Willens ist über uns,< sprachen sie und neigten
sich ihm. >Wir müssen dir den Weg zum Ziele zeigen: er ist in dir. Tue
alle äußeren Eindrücke, tue Sonne, Mond und Sterne von dir ab, tue den
jungen Frühling aus deinem Herzen, die äsenden Antilopen aus deinen
Augen, die süßen Gräser von deinen Lippen, die singenden Erze von deinen
Ohren. Lösche alles aus und für immer. Die furchtbare Leere aber lege um
dich wie einen Gürtel, bis du entworden. Dann versenke dich in das Eine
Tag und Nacht: das »Seiende«, in dem die Welt ist. Presse dein
Bewußtsein des »Seienden« hinab, bis wo am Grund der Wirbelsäule,
dreieckig zusammengerollt, Kundalini wartet: die schlummernde Gottkraft
in allen Wesen. Auf sie laß die nach innen gedrehten Sinne wie ein
Brennglas glühen, versenkt jetzt alle in das Eine, das »Seiende«, bis
Kundalini sich aufzurollen beginnt und durch die Wirbelsäule steigt und
steigt ... Hat sie endlich den tausendblättrigen Lotos im Haupt berührt,
so zwingst du das Seiende, du selbst zu sein, aus ihm heraus aufs neue
zu werden, was immer du willst. A. U. M.<

Dhruva zog sich an die Ufer des Jumna zurück, tat, wie ihm die Munis
geheißen. Tag und Nacht, ohne Nahrung, ohne Schlaf vibrierte sein
ungeheurer Wille einwärts gewandt in ihm, erweckte Kundalini,
verwandelnd seinen Leib, daß er durchsichtig ward wie ein Schatten und
Vishnu zwang, in ihm offenbar zu werden. Als aber das geschah, ward er
auf einmal so schwer, daß die Erde das Gewicht des winzigen
Asketenschattens nicht mehr zu tragen vermochte.

Verstört suchten die unteren Götter auf jegliche Art Dhruva aus seinen
Devotionen zu reißen. Umsonst. Da flehten sie zu Vishnu um Hilfe:

>O Vasudeva,< klagten sie, >wie der Mond Tag um Tag an seiner Scheibe
wächst, so wächst dieses unbezwingliche Kind, kraft seines Willens, in
übermenschliche Macht hinein. Wir wissen nicht, wonach er strebt: ist es
der Thron Indras, die Herrschaft der Sonne, oder sind es die Schätze der
Tiefe, die ihn reizen. Erbarme dich, Herr, nimm den Alp von uns, mache,
daß der Sohn des Uttanapada abläßt von seinem Tun.< Da stieg Vishnu in
Person herab, mit Dhruva zu verhandeln und gewährte des Asketenkindes
Wunsch: für immer so hoch zu stehen, daß nur Gebete ihn erreichen, indem
er Dhruva zum Polarstern des sichtbaren Universums erhob.«

Manchmal wieder ward Ganapati Sastriar flammicht ritterlich in seinen
Fasten, erzählte den strahlenden Haß der Prinzessin Amva von Benares:

»Um Bhishma zu vernichten, hatte sich die holde Tochter des Königs von
Kaçi jahrelang den furchtbarsten Kasteiungen unterworfen, bis ihre Macht
groß genug geworden, um dem Gott Mahadeva das Versprechen abzuzwingen:
nach ihrem Tode solle sie ungesäumt als Krieger wiedergeboren werden,
der den unbesiegbaren Bhishma schlüge. Mit dem Wort des Gottes ging die
Lotosfüßige an die Ufer des Yamuna, häufte und entzündete einen
Holzstoß, bestieg ihn sodann im Angesicht aller großen Rishis mit dem
Ruf: >Zu Bhishmas Vernichtung<.

Doch die Flammen bogen rundum aus vor ihr, daß sie unversehrt im
feurigen Kelche stand, und es kräuselten sich die Lippen des Rauches und
sprachen: >Oh, Lotosfüßige, wir wollen so Holdes nicht vernichten.<

Da ließ die Prinzessin den reinen Haß aus ihrem Herzen flammen,
entzündete eins ihrer Glieder nach dem andern an ihm und verbrannte
aschelos wie ein Diamant. Stürzte ungesäumt ihre Seele in den härtesten
Schoß, tauchte aus ihm als junger Kriegsheld, unter dessen gnadelosen
Händen der sterbende Bhishma noch einmal in das Auge der Amva von
Benares sah.«

Keine Scheibe der Horcher heute. Sie waren enttäuscht. Dann getröstet:
»Oh, er macht >neti Karm<, da wird abends seine Nase neu sein und seine
Kehle freundlich.« -- Aus jedem Nasenloch hing dem Märchenerzähler ein
gedrehtes Seil von ungesponnener Baumwolle; die andern gewachsten Enden,
innen bis zur Nasenwurzel hinauf und hintüber durch den Rachen gezogen,
kamen wieder beim Mund heraus. Wie Zügel hielt er alle vier in Fäusten,
zog sie ab und auf, her und hin. Stunden dauerte die Reinigung.

Abends erzählte er wieder, um ihn die Scheibe der Horcher wie das Blatt
um den Lotos: »Die Episode der tausend Jahre«:

»Unübersehbare Zeiträume schon hatte die Rivalenschaft in der Askese
zwischen dem Kshatriyakönig Vismavitra und dem Brahmanen Vasishta
gewährt. Schließlich hatte der furchtbare Kshatriya elf unerhörten
Kasteiungen durch elf Jahrtausende obgelegen, aber immer noch hatte er
die Brahmanenschaft, deren er zum Endsieg über Vasishta bedurfte, nicht
zu erringen vermocht, seine Macht aber war bereits ins Unermeßliche
gewachsen. So beschloß er, seinem Gegner wenigstens zum Tort, einen
gewissen Trisanka, den die Priesterschaft in Bann getan, wie er da war
in seinem menschlichen Fleische, unter die Himmlischen zu erheben.

Diese verweigerten seine Aufnahme. Da drohte Vismavitra in seiner Wut
einen zweiten Indra zu machen -- oder die Welt ganz ohne Indra zu lassen
-- ja, er begann bereits vor den erstaunten Göttern neue Gestirne und
Sternkonstellationen aus sich herauszuschleudern. Da gaben die
Entsetzten nach. Doch immer noch nicht zufrieden, kehrte der
unermüdliche König auf den Himalaya zurück, um in der Triebkraft seiner
furchtbaren Devotionen fortzufahren. Da erkannte Brahma, so könne das
unmöglich weiter gehen, und er sandte nach Menaka, der allerbesten
seiner Nymphen, sie möge den Meisterasketen ablenken und sein Karma zu
beflecken suchen, auf daß der bedrohliche Berg seiner Verdienste
dahinschmelze in Lust. Menaka erbat hundert Jahre Frist, um noch schöner
zu werden, denn ob sie gleich allen ohne Fehl dünkte, erwuchs ihr eben
aus der eignen Vollendung auch wieder um so höheres Wissen um neue
Vollkommenheit.

Als die Goldgliedrige -- endlich mit sich selbst zufrieden -- vor
Vismavitra erschien, verließ er sogleich alles, um mit ihr der
sechsundsiebzig Arten des Liebesgenusses zu pflegen. Bald war ihre Liebe
die des Hengstes mit der Gazelle: jene die Sehnen der Knie von rückwärts
im Sprung Genießende. Oder es war die Bespringende des Löwen -- die des
Marders mit der Schlange -- auch die der Schlingranken, Vögel und
Dämonen. Doch niemals des Hasen mit der Elefantenkuh, weil diese Art der
Liebe unter allen Umständen zu vermeiden ist.«

An dieser Stelle legte sich Ganapati Sastriar breit in die Sielen der
Erzählung. Er hatte ausschweifende Gebilde aus elastisch dehnbarem oder
auch herb stoßkräftigem Stoff ersonnen -- nur spannenlange Zauberwesen,
mit denen er die Vorgänge zwischen der Nymphe und dem König zu erläutern
pflegte. Doch ließ er sie dazwischen oft lange ruhen, um von den
wunderbaren Gesprächen der beiden zwischen der Liebe zu berichten. Denn
ist eine Frau weise, dann schmeckt ihre Weisheit süßer als die Brahmas,
weil der Speise ihrer Weisheit noch die entflammende Drogue »Anmut«
beigemengt ist. Das wußte auch der große Sankara Acharya, denn er
unterbrach eigens einmal seine Inkarnation, um auf kurze Zeit den toten
Körper des Königs Amru zu bewohnen und solchermaßen vorübergehend der
Königswitwe Gatte zu werden, damit er in den Stand gesetzt würde, aus
eigner Erfahrung mit Madana, der Frau eines Brahmanen, Zwiesprache auch
über Liebesdinge pflegen zu können, dem einzigen Wesen, das er an weiser
Rede nie zu besiegen vermocht.

»Du warst vorhin bei der neunundsechzigsten Art der Nymphe Menaka, den
Sonnenschirm des Liebesgottes aufzuspannen,« sagte Gargi.

Und Ganapati ging über zur siebzigsten und einundsiebzigsten ... »Nach
der sechsundsiebzigsten aber waren tausend Jahre in Liebesekstase
vergangen. Da verabschiedete Vismavitra die Nymphe sehr freundlich und
sprach zu ihr: >Sage Brahma, ich danke ihm, daß er mir nur vom
Allerbesten, was er besaß, gesandt, wohl wissend, daß einzig du,
Goldgliedrige, mich von meinem Ziele abzulenken die Macht besitzen
könntest.<

Dann gab er ihr noch bis zum Rand des Mondes das Geleit, empfahl sich
ehrerbietig, kehrte um, setzte sich wieder auf den Himalaya und begann
neue Reihen noch nicht dagewesener Kasteiungen, so daß die Berge
anfingen, davon zu glühen. Hielt seinen Atem an die tausend Jahre lang.
Da stieg Rauch aus seinem Haupt zur großen Konsternation der drei
Welten, denn alle Regionen fingen an durcheinander zu stürzen, kein
Licht schien irgendwo mehr, und die Götter flohen in Angst zum Herrn der
drei Welten:

>Hilf, Mahadeva! Denn es hält sonst der Entsetzliche den Atem an, bis
dieser an Länge gleich geworden dem Ein- und Aushauch Parabrahms, der
die Schöpfung ist. Dann vermag der Entsetzliche mit einem Einhauch die
Schöpfung und alle Götter in sich zu saugen und eine neue Schöpfung mit
neuen Göttern im Aushauch aus sich zu stoßen.<«

Da aber drehte Ganapati Sastriar plötzlich auf dem Absatz der Erzählung
wieder um, denn er hatte noch eine vortreffliche Zärtlichkeit der Nymphe
Menaka in der »Episode der tausend Jahre« zu schildern vergessen.

                   *       *       *       *       *

Eines Tages zog Gargi sich von ihrem jungen Gatten zurück. Verlangte
nach der Sitte indischer Damen von Stand an einer bestimmten Wende des
Blutes nach abgesonderten Frauengemächern, die der Herr des Hauses bei
Tage nie und auch des Nachts unangemeldet nicht betritt. Wo sie in Ferne
und Geheimnis sich jedesmal für den Entbehrten bereitet, wie für einen
fremden Gott. Pfauenäugiges Nachtgeschöpf am Zaubergewirk aus Trieben
und Hemmungen: Bauherrin -- Dichterin -- Bildnerin am ohnegleichen Werk
hoch über aller Wissenschaft und Kunst: Liebe. Des Nebeneinander
entratend um des Ineinander willen. Sie durften sich ja jede steigernde
und edle Künstlichkeit gestatten, ohne Furcht vor Entfremdung, Dank
ihrer Kinderehe, die lang vor dem Zentrieren der Sinne sie zu
Nachtgeschwistern versiegelt.

Denn es ist gewiß, daß unabhängig vom Nur-Geschlechtlichen, durch
Schlafvermischung allein, aus einem tieferen Eros her ein Etwas kommt:
unerforscht, verhangen mit Geheimnis, und doch, gewaltiger wie Umarmung,
mächtiger wie Tag und Tat, die Wesenskerne der Bewußtlosen ineinander zu
ketten vermag zu einem dunklen Zwiegeschöpf. Hat sich dieses erst einmal
gebildet und fährt das Schwert eines Schicksals dann hindurch: bis zum
Tode gehen die Entzweiten herum, wie mit einem Schnitt durch die
Persönlichkeit, ja aus dem Schnitt heraus blutet neue Bindung: ein Band
aus hartem Blut, stärker als Leidenschaft -- länger als Gewöhnung.

Ohne dürren Instanzenweg der Überlegung, von dem die köstliche Glätte
ihrer Stirn nichts wußte, hatte Gargi die Zeit ihrer Entrückung gewählt.
Sie, nicht Horus, auch Diana Elcho nicht. Denn sie war eine asiatische
Dame, somit für die Essenz des Lebens gebildet -- nur für sie.

Wenn man will, ein rein weibliches Dasein.

Verstände sich darunter:

Generationenlang nie einer Trägheit nachgegeben haben und nie einer
Gier. Um der Anmut willen viel getan haben an zarter Mühsal. Viel
gelassen, um des Geschmackes willen.

Vom fünfzehnten Lebensjahre bis zum Tod nie zu-, nie abnehmen im Dienst
geschmeidiger Glätte und nie eine derbe Speise berühren im Dienst des
Duftes.

Mit einem durch Jahrhunderte geklärten und durchglühten Blut die
Sehergabe des Schoßes erwerben. Als Hüterin des köstlichen Potentials zu
entgleiten verstehen ohne Entfremdung, auf daß die süßen Wasser der
Sehnsucht sich wieder sammeln.

Wissen, wie jener unentrinnbare Haß der Übernähe zu lösen, damit auch
die Qual noch ihre Stelle unter den Seligkeiten finde. Die Abstürze
kennen, zwischen: Liebe -- Erotik -- Orgiasmus -- Ehe. Über sie alle hin
mit fragilem Arm die kühne, junge Brücke schlagen, an deren Ende schon
die Hand den Gefährten mit warmem Druck erwartet, und auf dem
Frühlingszweig des Armes jubelt noch sein Kuß.

In den seltenen, vielgliedrigen Festen des Blutes nach Ergänzungen
suchen, die sie selbst nicht bieten kann. Mit und an ihnen sich
abschatten oder entflammen. Die Liebe über den Geliebten stellen, damit
das Weltenkunstwerk des Entzückens sich vollende. Und erkannt haben, daß
ein Eros, der dieses Namens wert, auf jedem Instrumente anders spielt,
und daß die Flöte nichts der Geige raubt.

Ein rein weibliches Dasein: an der Feinheit der Polygamie frei --
großartig -- taktvoll -- und weise geworden.

                   *       *       *       *       *

Im zweiten Jahr nach dem Frühlingslauf zur »Höhle der weißen Träume« sah
Horus nur einmal seine Frau bei Tag. Es kam so:

Diana Elcho lag flach auf dem Bauch in der Halle und spielte mit dem
Spektrum.

Pendelte den Wasserspiegel im halbgefüllten Kelchglas linde vor sich auf
und ab. In ätherischen Kanten schlug die Sonnenpyramide hindurch, schlug
ihre winzige Farbengarbe auf die Hand der Frau. Ein Cabochon am kleinen
Finger daneben verschleimte -- ward unmöglich. Nur ein Edelstein: Licht,
schon verunreinigt durch Erden. Sie streifte ihn ab. Auch die Hand nicht
hell genug. Sie suchte nach anderer Foliierung. Wollte den Sonnenbruch
ins schmerzhaft Herrliche heben. Papier -- Seide -- Porzellan? Suchte
passives Weiß, nicht spiegelnd, nicht körnig, nur gleich und rein. Über
Alabaster endlich wuchs -- wie von flüssigen Brillanten getragen -- das
winzige Band zu solcher Intensität in einen Paroxysmus des Glanzes
hinein, der betäubte. Sie spürte ihr Herz.

Die anderen kamen, kauerten herum, spielten schauend mit. Ein kleines
Insekt aus der Luft knallte seine Chitindeckel zu, schlenderte zu Fuß
verblüfft durch die flimmernde Wandelbahn von Purpur nach Violett; an
der unstofflichen Wonne des Gelb lutschte es ein wenig. Sie nickte ihm
zu, sah auf:

»Gut haben's die Ganzkleinen. Schönes ist immer so groß für sie. Ihnen
wachsen fugenlose Häuser aus elastischem, leuchtendem, duftendem Stoff,
mir sieben Jahre Mühen, bis sich nur das Furnier der Bibliothekslambris
restlos schloß. Der da aber geht gar in den sieben ersten >Taten des
Lichts< spazieren. -- Wir sind zu groß. Reines reicht kaum für den
kleinen Finger; der Rest tunkt schon wieder rundum in den Sudel.«

Und dann bekam Diana Elcho langsam ihr großgewordenes Kindergesicht.

Van Roy lächelte Horus in die Augen:

»Das wird ein Nachspiel geben.«

Sechs Monate später lud sie beide in den neuen Annex am südlichen Park.
Umplankt von freiwilliger Diskretion, war sein Inhalt Geheimnis
geblieben. Passierten das Atrium, glitten auf eine Rundbank in der
lichtlosen Apsis aus silbrig-finsterem Labrador. Die dreht sich mit
ihnen langsam hinein in ein alabasternes Riesenei: nur Raum, strahlender
Materie voll bis zum Rand. Wabernde Spektra, dick wie Wildbäche, stürzen
in ihn und lautlos zueinander, von äußeren Spiegelreflektoren durch
Prismenbänder längs der Wände rundum hereingebrochen in das
lebendigweiße Ei. Eiskalter Staub von süßem Wasser fängt die Spektra in
der Luft -- hält sie schwebend im Raum. Kühlt zugleich.

Doch es ist zuviel. Die Blicke werden hart, erstarren in einer
Lichttrance zu Stein. Der Reiz dieses leeren, beziehungslosen Glanzes
steigt zum Bersten an; schreit nach Zentrum -- nach Kern.

Da kommt aus dunkler Zwillingsapsis gegenüber die Erlösung. Durchsichtig
wie Libellenschatten. Zittert vor Sonne. Legt opalisierende Hände weich
vor sich auf die Farben, wie trinkende Vögel. Kommt auf langen, zarten
Schenkeln durch die fließenden Edelsteine gewandelt bis in die Mitte des
Raums: steht nacktklar im gewalttätigen Licht. Schräg schlagen
Flimmersäulen von Purpur bis Violett hart durch den feinen Körper, durch
Hals -- Herz -- die fingerdünnen Weichen hin: ein junger Büßer steht
gepfählt an ein geheimnisvolles, sehr wonniges Martyrium, das er auf
weißen Lidern trägt.

Dann weicht die Luststarre allmählich holder Ungeduld und magischem Sang
der Glieder. Was rhythmisch wechselnd von Strahl zu Strahl durch die
Farben gegangen, ist jetzt ein neues, ganz liebliches Gemüt -- dem Licht
nicht mehr entgegen. Es wiegt und spielt sich, löst sich ganz, zu
schwingen, heller wie Geist, in strahlendem Äther, wie die gleitende
Welle im Leib eines diaphanen Meergeschöpfs: Sylph vom fließenden Licht.

Es schaute der Knabe Adorant. Und die zerfallenen Hälften der Welt: die
voll feurigen Atems unten -- die zeitlos ätherische oben, schlossen sich
in ihm zu einer Vollendung. Denn was durch das Auge eingeht, wandert den
Weg der Entzückung ins Geschlecht -- den Weg der Entrücktheit zu Geist.
Im Auge aber sind sie eins.

Ein Etwas um Diana Elcho ließ Erasmus sich ihr zuneigen:

»Was ist, >Beleberin der Herzengebildet<: was von innen heraus ringsum ausgeblüht, sich planmäßig
Gestalt erzwang: Struktur. Im Gegensatz zu dem, was noch amorph
>ungebildet<: ein Haufen Schlauheiten -- Meinungen -- Instinkte --
Urteile bestenfalls. Erbmassen, durcheinanderkollernd wie Schrotkörner
in einem schlaffen Beutel, an den Schwanz eines kopfscheuen Affen
gehängt.

Nein, Bildung ist keine Angelegenheit des Großhirns, -- ist Puls, Haar,
Haut, Geschlecht -- das -- das.«

Und ehrfürchtig, fast zaghaft, fast ein wenig errötend, nahm sie, wie
etwas über die Maßen Köstliches, Gargi in ihre Arme, die lautlos in die
halbdunkle Apsis zurückgeflogen kam und mit Füßen -- schmal wie
Schwalben -- durch die Fesselringe in ihre Sandalen aus weißem
Antilopenleder. Bückte sich zugleich nach dem Stück silbergesäumter
Seide am Boden; drei, vier unbegreifliche Griffe: ein Sarong. Vor
Sekunden noch nacktklarer, halbdurchscheinender Sylph, stand Gargi nun:
ganz Dame wieder und bekleidet ohne Fehl.

                   *       *       *       *       *

»Die Erziehung eines Kindes hat _vor_ seiner Geburt vollendet zu sein.«
Diesem chinesischen Lieblingssprichwort treu, hatte Diana Elcho sich
zwar stets bemüht, ihrem Sohn die besten Lebensgelegenheiten zu
schaffen, es aber völlig ihm überlassen, wie er sie verwende.

Stets erreichbar, wenn er sie brauchte, war es gerade ihr Stolz als
Mutter, möglichst wenig gebraucht zu werden, es sei denn in bewußtlosem
Wohlgefühl organischer Nähe. So genossen beide gesegneter Freiheit
voreinander, die der älteren ermöglichte, ihr schwieriges und
vielfältiges Leben restlos auszuwirken.

»Denn,« -- hatte sie einmal zu Erasmus geäußert, -- »wer sich nur als
Durchgangsglied empfinden will, wird auch nur Durchgangsglieder
hervorbringen. Wer nicht den langen Atem hat, über die Elternschaft
hinaus an der Linie eigener Vollendung fortzuwirken, wer sich unter
irgendeinem Vorwand >aufgibt< -- >aufgeht< in seinen Kindern, wie er das
beschönigend nennt, belastet mit verschleiertem Bankrott die eigne
Nachkommenschaft. Wie der fette Alp auf Sindbads Rücken hocken seine
ranzigen Träume -- sein fauliges Versagen -- als ungetaner Lebensrest
auf ihrem frischen Dasein: seiner Seele totes Gewicht, weil er sich
ihnen ja >geopfert<. Nein, diesen Mütter- und Weibertrick macht ein
Mensch mit Selbstachtung nicht mit.«

Die besten Lebensbedingungen. Neben der Schöpfung des Hauses Elcho war
Gargi zu seiner ersten Frau zu gewinnen die schwierigste gewesen. Hatte
Hilfe gesucht bei der Rani von Travankor, der jahrelange Freundschaft
sie verband.

Die Rani zog die langen Augen schmal zu einem Phosphorband, dann mit
fernem Lachen in der Stimme, auf alles gefaßt: »Eine Brahmanin?« --

Die andre neigte »nein«. Wußte: es war unmöglich. Und wäre es selbst
denkbar gewesen, aus einer der vierundsechzig Stufen, in die -- nach
Reinheit des Blutes -- die Kaste zerfällt, Horus ein Wesen zu gatten,
ihr eigenes Gewissen hätte verwehrt, daß planvollere Blüte des
Menschentums, als ihrem Sohn zu sein vergönnt, durch ihn gemindert werde
an emotioneller Lebenshaltung; betrogen vielleicht um seine köstlichsten
Reaktionen: jenen nur an letzter Wechselwirkung entflammbaren, die nur
der von Schauern ganz erfüllte Weg ans Licht zu treiben vermag. --

Daß eine Kette zerriß von solcher Verzartung, Verdichtung, Verglutung
der Instinkte: Kette, der jede Generation in Selbstbezwingung bis in den
Schlaf hinein, an Wahl der Nahrung, in Atmung, Gedanken, Gebräuchen ein
Glied hinzugefügt, -- daß so etwas zerriß; ihr einziger Sohn war es
nicht wert. _Sie_ hatte zuviel Ehrfurcht davor. Es war zu kostbar: hatte
Jahrtausende gekostet.

Sagte leise: »Entsetzlich, zu denken, wieviel die Frau in der Liebe
riskiert.«

Die Rani sah den Weg des Worts zurück, daß er frei von Anmaßung, spürte
das Menschliche, wurde milder.

»Also eine Kshatriya? -- Suchen Sie -- als mein Gast --, man wird
sehen.«

Sie suchte inbrünstig und lang. Fand ein Wesen vom Typ der kindlichen
Prinzen auf persischem Elfenbein: unter Agraffen Augen der Antilope, den
grünlichen Libellenkörper dem seidnen Galoppsprung ihres Hengstes
unbegreiflich lind und kühn vermählt. -- Hingerissen, umfühlte,
umwitterte, verglich sie jetzt eignes Blut mit jenem. Erkannte, wie und
wodurch in seltenen Fällen sich der Spitzentypus Europas: das
Normannisch-Angelsächsische mit der Kshatriya-Kaste berührt.

Hier erst schien Ehe möglich: jene Anziehung, die sich aus den
Wesenskernen zweier Menschen immer wieder erneut. Polare Wesen, parallel
geboren, denen die »_lendemains_« erspart sind, weil sie gleichen
Ranges, und die purpurnen Nächte beschieden, weil sie Pole des
Ausdrucks. Denn jedes Geschöpf will ja soweit aus sich herauslieben wie
nur möglich, damit das Gefälle der Lust -- der Bogen der Spannungen
wachse, dann hineinstürzen in eine Erlösung ohnegleichen. »_Fall in
love_«: in die Liebe fallen; doch wer möchte in die Ehe fallen? Das
Wunder über allen Wundern; daß die ewigen Fremdlinge: Mann-Frau in
prästabilierter Harmonie die gleiche Lebenslinie wandern; wie
unverantwortlich, dieses fast perverse Wagnis einem schauerlichen,
vielleicht verspäteten Zufall auszuliefern. Nur Menschen, die in ihrem
Frühling sind -- fremdartig -- gleichkastig, mag vielleicht ein gütiger
Eros das Helle mit dem Heißen, Tag und Traum, Licht und Blut in einer
Schale reichen. Und wenn es mißlang! Sie haben von der Morgenröte im
Aufgang getrunken -- kein Gott kann ihnen das mehr rauben.

Entflammt jetzt, machte sie das Unmögliche möglich. Mutterrecht
erleichterte. Das war in diesen kleinen, von Mohammedanismus verschonten
Reichen Südindiens nie ganz erloschen. In Travankor erbte sich sogar die
Krone in weiblicher Linie fort, und lagen die Weltgeschäfte auch in des
Rajah Händen, Bräuche straffer wahren, oder leise lockern, einfach durch
innere Haltung, das wehte von der Rani aus wie Schleier, Rauch der Harze
aus ihren Gemächern, aus ihren Gärten Staub der Fontänen. Endlich
durften alle Abgründe als zur Not überbrückt gelten. Nach Kautelen,
Garantien aller Art: Bräuche, Erziehung, Lebenshaltung ordnend --
eventuelle Rückkehr auch. Als Gepränge und Zeremoniell der Scheinehe
vorbei waren, brachte sie Gargi -- zehnjährig -- heim.

Ihren Schoß erzog Agai, ihre Glieder Sigiria, die Tempeltänzerin,
Erasmus ihren Geist, und alles Diana Elcho. Hatte sie durchdrungen, bis
Seele durch jede Zelle wie Saft in Pflanzen stieg, jedes Gefäß
geschmeidig zu Geschmeide, bis alles Anmut geworden, Takt und Licht.
Hirn, Becken, Darm, Zehennägel, Atem, Stimme -- ebenbürtig eins dem
andern; zusammen freie Diener jenes Unbegreiflichen, nie zu Erklärenden,
nur zu Fühlenden: Harmonie, Persönlichkeit.

                   *       *       *       *       *

Agai, »die Gewalt der Brandung«, hatte jetzt ausgesorgt. Hockte gleißend
schwarz herum. Fletschte Wonne, beschenkt und stolz. Wartete auf ein
Schiff in die Heimat, von einer ganzen Mädchengeneration zwischen neun
und dreizehn dort im Schulhaus erwartet. Freute sich auf die Männer --
nach drei Jahren. Unter allen Tropenstämmen verstehen die Suaheliweiber
sich am besten auf die glühende Kunst: frei sein. Auf das Frauenrecht:
Mutter aus Wahl -- nicht Zwang, Herrin, nicht Sklavin der Generation.
Und das _durch Überhöhung, nicht Hemmung der Hingabe_.

Atmen des Schoßes. Das Schließen und Spannen, Entgegenschwellen dem noch
Unbekannten. Die verborgenen jungen Innenwände geschmeidig übend so zu
erstarken, daß zu den Gezeiten des Eros aus ihnen die Mondwelle sich der
Sonnenflut entgegenwerfe, sie -- _fort_- und überspüle an trunkener
Kraft. Nach jedem Liebesstrahl wie mit inneren Zauberzangen den
blumenglatten Ring zurückschließen in Unberührtheit.

Das alles hatte Agai, »die Gewalt der Brandung«, gelehrt.

Mit dem Frühlingslauf zur Höhle der weißen Träume endete ihr Amt. Sie
heulte und grinste Abschied -- leckte tierhaft hingegeben die Fersen
ihrer jungen Herrin, kniete dann auf und übergab einen erbsengroßen
Mondstein dem inneren Griff der geschmeidigen Schließkraft:

»Agai denken -- immer halten -- bei Tag.«

Gargis Arme kamen um ihren Hals geflogen: »Agai«.

Doch die dunklen Handflächen hoben sich nach außen gespreizt bis zur
gesenkten Stirn, wehrten ab, wie ein verkehrtes Gebet.

So schritt sie voll Würde in ihren Grenzen langsam hinter sich und durch
das Tor der Bäderhallen hinaus, über denen geschrieben stand:

»Welche Schmach, zu altern, zu sterben, ohne die ganze Herrlichkeit,
deren unser Körper fähig ist, kennen gelernt zu haben.«

Dann bog der Rolls-Royce mit Agai aus dem Park. Der japanische Chauffeur
brachte sie zwei Tage weit nach Trinkomali, der nächsten Anlege.

                   *       *       *       *       *

Kraftanlagen wurden nötig: eine Niederdruckturbine in die Mahaveliganga
-- eine Hochdruckturbine in den Wasserfall eingebaut. Genügten nicht.
Man schloß mit einer Firma in Jokohama ab. Gelbe Ingenieure kamen,
redeten aus Notizbüchern in Differentialgleichungen, überwachten später
die Montagen. Horus lebte nur noch im Maschinenhaus. Zum ersten Mal vor
dem Gehäuse der Dampfturbine, stand er wie unter Ätherrausch. Ein
Liniensturz, an Geschlossenheit unbekannt in der organischen Welt; von
einem geraderen Willen erschaffen als höhere Ordnung der Dinge. Ein
Liniensturz, erzwungen von dem Gaswesen in ihm und es bezwingend
zugleich. Aus Hunderten haardünner, metallner Schaufeln im Innern --
jede einzeln, jede anders voll Genie in den Druck geneigt, erfloß hier
ein neues Kurvengeschöpf; wie das Gesetz es befahl. Das Wort »Continuum«
kam aus dem Magischen herab -- ward Grenzfall von Schaufel zu Schaufel,
fast greifbar -- unbegreiflich.

Eine Ader auf der Stirn, stand er im Ozon des stillen Kraftsaales:
Hörselberg nüchterner Phantastik. Stummgeladne Weite, vibrierend von
Spannung, ließ seinen Speichel metallisch zittern, hob ihn an den Nieren
hoch -- durch alle Isolierung hin. Ein Rund aus riesigem Tod, der
draußen -- transformiert -- das Dasein leicht machte, hell, Mühsal
abnahm.

Ging dann wie abbittend hinüber zur alten Dampfmaschine. Konnte ganz
versinken in ihre achsenglatte Wucht -- das Anschwellen einer Nabe --
die Wunderform der Welle, wenn Reibung Fortbewegung ward.

Und wie schön, daß dies alles diente: dem Leben untergeordnet als Zweck,
wiewohl übergeordnet als Form.

Latentes brach jetzt aus, langhin vorbereitet durch Werkzeuge, Jacht,
Rolls-Royce. Er fieberte nach Schöpfung; nicht ohngefährlichem Wissen --
saloppem Verstehen, wie bisher. Selbst Schöpfer werden in dieser
reineren Nebenwelt aus Zweck und Zahl.

»Gut -- aber mindestens fünf Jahre Arbeit.« Van Roys Mund konnte sehr
hart werden. »Keine Edelspielerei, keine Rosinen aus dem Kuchen.« --
»Intuition --? So, da ginge es vielleicht rascher. Meinst du? -- Nun,
man kann Höhen erfliegen oder ersteigen. Erflieger kennen vier
Quadratfuß Gipfel. Ersteiger den ganzen Berg. Schritt um Schritt. Von
jeder Spanne Rechenschaft ablegen können -- _den Weg besitzen_ --
Möglichkeit, ihn immer wieder zu gehen, ist Wissenschaft. Gauß hat
einmal gestöhnt: >Das Resultat hab ich, wüßte ich nur schon, wie zu ihm
gelangen<. Kepler sah in einer Art Kristallvision sein drittes Gesetz:
sah die ersten fünf regelmäßigen Körper ineinander eingeschrieben als
die mittleren Planetenabstände von der Sonne: eine kosmische Beziehung
als Klumpen Stereometrie. Sehr schön, aber wertlos noch, ohne Beweis.
Ein abgerissener Tropfen Genialität im Leeren.«

»Nein, ich werde dir nichts schenken. Denn: bleibt irgendwo unten, auf
einem Seitenpfad, auch nur die kleinste Lücke, unvermutet aus der Höhe
wird eines Tages deine ganze Weisheit gerade in dieses Loch fallen, wann
es dir am wenigsten paßt; ja, dieses spezielle Loch wird plötzlich
überall vor dir sein, und du wirst aus allen Himmeln steigen müssen, es
zu stopfen -- oder ewig Dilettant bleiben.«

»Aber dann -- nach fünf Jahren -- werde ich auch vor weißen Meistern
bestehen können?« und erbleichte schon der eignen Ungerechtigkeit. Stand
ja hier vor einem weißen Meister. Große Namen unter Widmungen -- wüßte
er es sonst nicht -- zeugten dafür.

Erasmus schien belustigt. Dann, einen langen Weg in der Stimme: »Wenn
ich dich einmal auslasse, kannst du getrost deinen Dr.-Ing. in
Charlottenburg machen.«

                   *       *       *       *       *

Eines Tages stieg aus dem Drillbohrer eine Frage und wuchs in eine
wundervolle Vision:

Wie mögen Wesen aussehen, die das erdacht? Wenn bereits dies geringe
Werkzeug hier: etwas, das nichts als ein Loch in ein Stück Ding zu
machen hat, mich so mit Entzücken schlägt, wie erst die Herren solcher
Diener. Die weiße Rasse: wohl Wesen, wie aus Schnee und Gold, kühn,
arglos, wahr und anmutig. Ganz frei geworden an den gleitenden
Erzgeschöpfen ihres Haupts und ihrer Hände in ein ohnegleiches Cherubtum
hinein! Ihr Dasein eine ganze solche Welt. Arbeit: Schöpfung -- nicht
Erschöpfung mehr. Was ihn so hinausriß über sich, waren ja erst Abfälle
ihres Lebendigen -- leeres Gehäuse -- das wie Muschelschalen kam, an
seinen Strand gespült.

Oder diese Gelben mit ihren Notizbüchern: gleich Gesandten aus
Wunderländern, Märchenboten mit Kostbarkeit: da greift einer in die
Tasche, etwa nach dem Taschentuch, streut dabei zufällig ein Vergessenes
mit heraus, ein Dortiges, achtet's gering. Und wie da ein Staunen
anhebt, alles sich sammelt um das Niegesehene: so wenig wußte er ja
noch. Hatte allerdings damals ein bißchen gehofft, auch europäische
Ingenieure würden kommen. Das war wohl anmaßend gewesen; gerade ihm,
Horus Elcho, sollten weiße Herrn der Welt höchst persönlich ein
Kraftwerk bauen! Dazu waren Hilfs- und Schülervölker da. Auch mochten
ihrer wohl wenige sein. Der lebendigsten -- adeligsten Geschöpfe sind
immer wenige. Nur Träges wirft drauf los ohne Hemmung: Karnickel,
Schweine. Ihr Wurf die Beute aller. Wer durch Kühnheit und Weisheit
ungefährdet geworden im Äußeren, darf inneren Stimmen horchen, selten
zeugen -- in lebendigsten Augenblicken nur -- aus feinster Wahl.

Nicht ganz unebenbürtig fühlte er sich hierin der weißen Welt. In diesem
ihr ferner Sohn, kein Fremder. Wenn sie alle auch gewiß weit schöner, an
der hohen Luft ihres Lebens vollkommener geworden als er. Vielleicht war
höchste Sprosse hier unterste dort? Oder überhaupt alles ganz anders.
Anschauung fehlte eben.

Warum? wieso fehlte sie?

Stieß zum erstenmal gegen das Sonderbare in seiner Erziehung -- blieb
perplex.

Kannte nur Wissenschaft, Technik, Musik der weißen Rasse. Nicht ihre
Körper, noch den Geist ihrer Körper: Bräuche -- Sitten. Also nichts.
Warum? Schwieg dazu. Hatte zu oft die Köstlichkeit des Schweigens
erfahren. Ihm schien, er hätte durch die Unzartheit der Frage schon
volle Befriedigung aus der Antwort vertan. Hier lag ja offenbar ein
feiner, höchst komplexer Plan zum grunde; fragloser Einweihung allein
war volle Freiheit, Weite gesichert, nur sie befriedigte ganz, weil
nicht von vornherein in den Engpaß einer Frage gezwängt.

Und dann wurde er langsam sehr glücklich, denn er meinte verstanden zu
haben.

Hatte sich oft vor Gargis Augen, oder auch manchmal vor nichts
Besonderem: einem Zweig, eines Zweiges blauem Schatten, was man so
»nichts« nennt, in einen jungen Löwenwurf hineingeträumt, den eine dünne
Haut noch von der Lichtwelt trennt. Das saugt, tappt herum, atmet,
glaubt sich schon ganz geboren, und dies sei nun eben alles. Da reißt
die Eihaut des Auges, in unerhörte zweite Lichtgeburt. Und welche
Chance, daß unter allen Europäern gerade ihm -- als erwachtem Menschen
-- solch zweite Lichtgeburt in die weiße Welt sollte vorbehalten sein.
Durch seine Mutter. An allen Nerven überflutet werden, wie nur ein
Entblendeter überflutet werden mag, in den erster Sonnenaufgang
hereingebrochen kommt: diese ungeheure Freude hatte sie ihm gönnen
wollen, weise aufsparen für sein erwachtes Herz.

Wann? Bis er reif, würdig geworden. Fähig, es ganz zu genießen.

Arbeitete von nun an so, daß Erasmus meinte: »Vier Jahre nur --
vielleicht.«

Da suchte Horus nach einer Wendung, wiegte sich, funkelte in ihr --
wagte es schließlich doch -- sagte schüchtern, etwas zögernd, zum
erstenmal: »Wir -- wir Europäer.«

Dies ungeheure weiße Dasein, von ihm gebildet aus dem Hellsten, das er
kannte: hohen Violinen -- gleitendem Nickel; geisterhaft ging es immer
mit, durch alles Tun, ragte ätherisch herein; ihm straffte er sich
entgegen, durch jeden Alltag hin. Doch gab es Lieblingsstunden, da nahm
er es träumend vorweg, meinte sich ihm nah. Etwa an der Orgel als
brausender Gott: Demiurgos in Person, wenn er mit einem Griff den Wald
in der Hoboe erschuf, sumpfiges Grunzen der Büffel im Kontrafagott, und
zu diesen das schrille Silber stieß aus den flimmernden Registern.
Eisblaue Knabenstimmen dazwischen aus mutierendem Metall. Nun trat sein
Fuß mit dem Starrsinn seiner Ferse aus dem Tiefen wuchtendes Gesetz:
jenes, nach dem die Gestirne und die großen Herzen wandeln. Das stampfte
ins Silber hinauf, rüttelte an waldigen Schultern, bis alles umschwang
in die Doppelfuge seines Tierkreiswillens.

Jetzt durch alles hindurch, ließ er ein Wehen anheben auf der dritten
Klaviatur, schlingerndes Pfeifen, das zum »_grand jeu_« wuchs,
Klanggischt an die Wände warf, aus Ertönen Ergreifen machte -- den Raum
ergriff, wie jene grenzenlose Hand aus Hauch sein Herz, um es nach einer
andern Sternenstunde einzustellen. Ortlos, ein Scheinwerfer aus dem
Unendlichen, stand es wieder als Blick auf ihm -- brach ihn auf --
blühte ihn auseinander. Da wußte er sich im Sehfeld des Aschenauges --
stark, wehrlos und geborgen. --

Durch geschlagenes Glas fiel die Oktave des Lichts in den erschütterten
Raum, und nun vermeinte er Newton zu sehen -- als Kind, wie es zum
erstenmal in den Klang der großen Orgel tretend aufsah, glaubend, nur
aus der Farbenrose oben könnten diese Stimmen kommen.

Da neigte er sich dem kindlichen Schemen tief. Schloß die Orgel.

Nüchterner gestimmt, zog er zuweilen Resümees: was er wußte, erschloß
Neues daraus. Nach eigner Meinung sachlich kühl. Das war dann Reiz und
leichte Qual. Wie Streichen um den verhangenen Geburtstagstisch früher
Jahre. Hätte ja sogleich eine Ecke lüften können, das Auto nehmen und in
zwei Tagen Orte erreichen, wo -- er wußte es wohl -- Europäer lebten
oder durchreisten. Als verstreute Fremde in fremder Umwelt. Nein, so
nicht. Hatte vor einem Jahr noch weiße Ingenieure erhofft, ehe er diese
Feengabe seiner Mutter: diese lebenslang vorbereitete, köstlich
einzigartige Erschütterung, die seiner harrte, recht begriffen. Jetzt
nicht mehr. Blind bis zum Sonnenaufgang. Nur Vorfreude träumen, aus
Vorzeichen bauen, sich bereiten -- für _dort_.

Mit den vier großen Sprachen Europas war er von Kind auf vertraut.
Wundergefüge, aus unbegreiflich schwebendem Geist, wie alle Sprachen.
Doch Schößlinge nur, sogar weniger breit gewurzelt und fein in der Krone
wie der Mutterbaum: Sanskrit. Er konstatierte das gerne; bewies sich
Objektivität damit. Europäer redeten eben außerdem in neuen Sprachen --
über dem Wort: in Gleichungen und Musik. Euler, Beethoven waren ihre
Grammatiker. Auch er, Horus Elcho, sprach europäisch: vor dem Reißbrett
in der Gleichung der Lemniskate -- vor dem Cello im _Cis_-Moll-Quartett.

Ging dann in den Abgußsaal. Blieb nicht mehr vor den Ägyptern wie
früher; blieb vor dem zeitlich Letzten dort: den Griechen. Wenn die
weiße Rasse schon vor zweieinhalb Tausend Jahren -- in ihren Outsiders
-- so wohl geraten: in dieser kleinen hellenischen Provinz, die wie eine
Seeanemone ganz unten vom Rand des eigentlichen Kontinents abwehte; von
da in gerader Linie, ungehemmt, ansteigend, wie verfeinert, in Anmut
ganz gelöst mochte sie heute schon sein? Sich zu jenen verhalten wie
etwa eine Schwebekonstruktion zu einem Pfahlbau. Waren doch die
blumenäugigen jungen Rehmenschen Indiens an Linienblüte, Adel des
Aufrisses über den griechischen Kanon vielfach hinausgewachsen,
besonders die Frauen, und lebten doch noch erdgebunden nach alter Art.

Eigentlich nur hellenische Köpfe -- jene wenigen aus bester Zeit --
beglückten ihn echt, durch Unzerrissenheit, Wohllaut, mit dem sie in den
Leib hinüberlebten. -- In dieser schwierigen Süße, heimgekehrten späten
Schlichtheit Lysippscher Häupter sah er sie gerne wandeln: seine lieben
Herrn des gleitenden Erzes.

Konnten sie denn überhaupt noch das Weltwesen vor Jahrtausenden auch nur
begreifen, etwa ihrer homerischen Vorvettern, die noch Kriege geführt,
sich Spieße in den Leib gerannt, sie, deren kühne Not -- Siege -- Leiden
in transzendenten Schlachten, auf Geisterpfaden sich erfüllten! Auf dem
wundervollen Abenteurerweg der Physik, dem verwegensten Weg! Eroberer,
die das Heranschleichen kannten, gespanntesten Sinns, zitternd und eisig
zugleich, der Erscheinung den Lasso überzuwerfen, um sie als Strahlen,
Kräfte, Elemente umzugießen in Ungeheuer aus gebändigtem Geist.

Wie ihre Frauen wohl aussehen mochten? Gewiß Gargis Linien in den Farben
Diana Elchos.

Ihr Wesen: aus dem der Pallas und Nausikaa gemischt.

Und das alles stand ihm noch bevor; das alles aber hatte er auch einer
Frau zu bieten, die ihm angehörte. Dachte froh bei sich: »Und sie weiß
noch gar nicht, was ihr da blüht.« Sagte zeither auch zu Gargi: »Wir --
wir Europäer.«

                   *       *       *       *       *

Am Anfang seiner technischen Ekstase, verbohrt in Exzentergetriebe,
Turbogenitoren, Ventilsteuerungen, konnte sich Horus oft erbosen,
schlenderte er mit Erasmus durch die Pettah. Nicht über die edlen Maße
ihrer epischen Menschen -- das mochte hingehen. Auch war er mit ihnen
allen in einer Art dauernder Liebeshellsichtigkeit, sorglos, ohne
manischen Zwang der Lustvollendung, dank seiner Kinderehe. Der gleichsam
genießende Gang des Schikari Aditja gefiel ihm in seinen Augen, wie das
Geruhsame in Ganapati Sastriar, zu dem er immer noch gerne ging. Doch
die Dinge -- die Geräte, das gehörte sich nicht.

»Warum ist so ein dummer alter Brunnenrand so schön, wie kommt er dazu?«

»Nur weil er so alt ist,« tröstete Erasmus, der sofort wußte, um was es
ging. »Dinge, beschlafen von der Zeit, zerbrechen in ihren Armen oder
gebären eine Art Vollendung.

Diese dunkle Glätte an Bolzen, alten Stalltüren, an Trögen,
Brunnenrändern: warme Griffe -- Tiermäuler ohne Zahl haben sie
ausgekurvt ins Endgültige. Vielleicht scheinen uns die wenigen antiken
Torsi so edel, weil die Zeit -- ein unbestechlicher Kritiker --
unerbittlich entfernte, was gegen den Geist des Materials. Was daran
überhaupt abbrechen konnte, war eben falsch. Der verbesserte, endgültige
Kontur: der Ewige ist, was wir bedauernd >nur< einen Torso nennen.«

»Dann vermag aber die Zeit doch lediglich weg zu nehmen?«

»Allerdings. Darum vermöchte sie allein wohl nie, durch bloßes
Abschleifen, die Vollkommenheit einer Helice zu erzeugen, weil ihr hiezu
das Konstruktive fehlt. Aktive Schönheit der bloß passiven gegenüber.
Diese wird primär von innen heraus vollendet, -- sekundär, von außen
hinein -- jene. Echt aber sind sie beide. Und wie echt zu echt stets
paßt, so deiner Mutter Haus, bei aller Verschiedenheit im Konstruktiven,
zu dieser Pettah -- zu diesen Brunnen, Trögen, Türen, Bolzen.«

Horus erstaunte. »Ja, gibt es denn auch auf der Welt >unechtes< Gerät?
-- Wo? Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Etwas eigens für etwas
machen, zu dem es nicht taugt. Ungeratene Geräte!«

Er lachte. War's aber im übrigen zufrieden. Gab nun im Vorübergehen
Brunnenrändern ab und zu einen aufmunternden Klaps in die läuternde Zeit
hinein, sich ja fleißig von ihr aussparen zu lassen, da ihnen nun einmal
das Glück versagt geblieben, aus dem Geist europäischer Technik
entsprungen zu sein.

Erasmus aber sagte schnell etwas Falsches -- etwas ganz und gar Banales;
hatte schon zu viel besser gewußt heute. War auch je und je auf der Hut
gewesen, sein Axiom zu verraten, auf welche Art ein Mensch das Höchste
aus sich zu ziehen vermöge: mindestens zwei, von einander so weit wie
möglich abliegende Wissenschaften betreiben und dazwischen versuchen, in
_einem_ Sport der _erste_ zu werden. Er ließ Horus selbst darauf
verfallen.

»Du hast immer einen so wunderbar durchbluteten Geist,« meinte dieser
eines Tages. Er war ins Laboratorium gekommen, Erasmus zum Bade
abzuholen. »Woher das kommen mag?« Er hatte ihn in vorzüglicher Stimmung
getroffen.

»Weiß nicht. Vielleicht, weil ich faul bin. Ich ruhe mich immer so schön
frisch aus: vom einen beim andern.« Sie liebten beide, wo es anging,
kindliche Diktion. Schätzten den Charme gepflegten Vorsichhinblödelns
zuweilen.

»Und dazwischen schwimmst du wie toll, besser sogar wie Aditja -- so gut
wie die allerbesten Krokodile. Aber das wird es eben sein: erst da
denken -- dann ganz wo anders und dazwischen gar nicht -- nur leben, die
Nerven entlang das letzte herausholen für etwas, das so vornehm ist,
keinen Zweck mehr zu brauchen.«

Eifervoll entwickelte er nun alle Vorzüge polarer Interessen rechts und
links von einem Sport. Da Erasmus zu zweifeln schien: »Du glaubst mir
nicht -- an mir selbst will ich es dir beweisen.«

Nach einem halben Jahre kam er dann und klagte ein wenig:

»Es scheint mir manchmal, als gebe es gar keine >weit
auseinanderliegenden< Gebiete. Ich wenigstens kann keine finden. Immer
dort, wo es wirklich interessant wird oder wichtig, scheinen sie zu
konvergieren, und im Ganzaufregenden, da schneiden sie sich sogar.«

»Schade,« meinte Erasmus, »also ist der Kosmos zu pauvre geraten, als
daß man im Auf und Ab an ihm einen -- wie hieß es -- >gutdurchbluteten
Geist< bekommen könnte. Somit fällt die ganze schöne Theorie dahin.«

»Aber du selbst bist doch gegen deinen Willen mein lebender Beweis, und
ich werde noch der deine werden. »Diesen senilen Starrsinn aber,« -- --
er kniff ein Auge ein, -- »muß man brechen.«

                   *       *       *       *       *

Unentstellt -- wie ein kühnes Tier, eine Gazelle aufkniet hinter der
entgleitenden Geburt -- so schloß sich Gargi hinter ihrem Sohn. Jetzt
achtzehnjährig. Doch schon am Morgen ihrer Mädchenschaft hatte sie zu
ringen begonnen um diese neue Jungfräulichkeit, jenseits des Kindes.

Ihr und aller indischen Damen scheinendes Ziel: jene Sultana Mumtaz i
mahal, die ihrem Gatten mit jedem Knaben sich selbst als Mädchen
wiederschenkte. Und Schah Dschehan wertet es weit höher als eine
gewonnene Schlacht, denn hier ward durch Zucht, List, Mühsal, Mut,
Hingabe das Glück zurück erobert, -- enthauptet sogar die Zeit, von dem
zarten und zähen Willen, der aus jeder Geburt sich eine neue
Unberührtheit für seinen Herrn erzwang. Sieben. Die Achte wurde ihr Grab
-- und: der Tadj-mahal. Denn in seinen Kuppeln standen leuchtend die
sieben harten Marmorkelche ihrer Jungfrauschaften wieder auf. Nicht als
Bauwerk zu werten, noch Kunst: der Tadj-mahal ist die Sehnsucht des
Mannes nach dem Kelch des Glücks.

Und so groß war Schah Dschehans Sehnsucht nach der Heimat dieses
Kelches, daß er durch Blumen und Flammen seines immer erneuten Harems
hindurch ging wie ein Schwert, dreiundzwanzig Jahre lang, und nicht müde
wurde, die Weiße des weißesten Marmors zu prüfen, gegen das Gold und
Grün der Lasuren, ob sie seine Weiße erhöhten. Ließ plötzlich die Flanke
eines Berges auseinanderreißen in der Hoffnung, seine Tiefe sei heller
noch, ähnlicher im Adergang.

Die eckigen Wasser aber, in denen alle Weiße sich spiegeln sollte, ließ
er noch auf ihrem Grund mit geschmolzenem Silber ausgießen, und aus
seiner unzerstörbaren Sehnsucht preßte er die Erinnerung an ihren Duft,
ließ das Geheimste aus den Korollen und die Drüsen aus den feurigsten
Tieren reißen, und manchmal meinte er, das Laue in der Luft sei es und
warf die Arme darum, bis endlich -- endlich die Alchymisten Arabiens,
die Sanjassins Hindostans aus dem Fruchtfleisch der ganzen Welt es ihm
erpreßten.

Da stieg die Essenz des Duftes als sieben Quellen aus dem
Spiegelbild des Marmorkelches in den eckigen Silberwassern. Weiße
Nachtigallenmännchen, deren Flügel in Netzen aus Rubinen lagen, tranken
Trunkenheit daraus, daß ihnen der fließende Duft klingend aus den heißen
Herzchen barst zum Preis der sieben Jungfrauschaften, die sieben süße
Kinder waren.

Das ist zu Agra das Grab der Mumtaz i mahal: das Grab der Krondame. Als
es vollendet war, ging Schah Dschehan noch einmal ein in ihren tiefsten
Kelch, und das für immer. Seine Asche ergoß sich ihr.

                   *       *       *       *       *

Im siebenten Jahr nach dem Frühlingslauf zur »Höhle der weißen Träume«
brachte Horus aus China eine zweite Gattin mit, als seine erste legitime
Nebenfrau. Seine Mutter, Gargi und er hatten die Regenzeit zu einem
Besuch jener südchinesischen Provinz benutzt, deren Statthalter damals
vorübergehend Lady Dianas alter Freund Li-Hung-Tschang war.

Wieder ostwärts, auch diesmal, statt nach Westen! Seit der weiße Kult
von Horus Besitz ergriffen, war es schier zum Staunen, wie Hindernisse
förmlich aus dem Nirgends her sich niederschlugen wider seinen Wunsch.
Nicht von Menschen kommend. Warum auch? Wo alles ihm so wohl wollte --
insonderheit seiner Mutter keine Mühe je zu groß, kein Preis zu hoch
erschienen, galt es etwa Beschaffung eines neuen Instruments für ihn aus
Glasgow, aus Jena. Wie edler, körperhafter Gruß der weißen Rasse, war
jedes durch das Medium ihrer großen Liebe in seine ehrfürchtigen Hände
überliefert worden. Nun aber, als Schüler von Erasmus längst entlassen,
als Mitarbeiter -- Ebenbürtiger, fühlte auch er sich würdig, nach dieser
weisen, planvoll steigernden Gewöhnung, die Klarheit solch einer ganzen
Welt zu atmen.

Stillschweigend schien all das ja längst geordnet -- beschlossen. Einmal
aber hatten technische Verbesserungen am Graphitwerk: seine Erfindung,
die halbe Regenzeit verschlungen -- andre Jahreszeiten kamen wegen der
wichtigen Kopra- und Teeernte nicht in Betracht -- dann wieder war
unbegreiflicherweise fast in letzter Stunde ein schwerer Schraubendefekt
an der Jacht entstanden. Jetzt diese Einladung Lis!

Gargi hatten die Tänze der Königsfrauen erst nach Siam gezogen:
zartschultriger Kult perverser Cherubim mit Schlangen und Ranken. Die
äußern Behelfe: Stachelhelm, rieselnde Schnüre, irre klirrendes Metall,
von Silberflöten durchküßt, wurden ihr Gastgeschenk. Dann verließen sie
das Land der grünlichen Frauenblüten; nicht zum wenigsten bereichert um
je ein Pärchen Tempel- und Palastkatzen: den zweierlei siamesischen
Spielarten; silberbraun beide mit saphirblauen Augen, Tiere, die sich
halten wie ägyptische Götter und einfach sind wie ein ganz großes
Kunstwerk.

Wie immer auf Diana Elchos Reisen, wurden alle Hafenstädte gemieden, in
denen ein entraßtes Esperanto des Vordergrundlebens den Lack hätte
zerkreischen können um diese Porzellan- und Seidenwelt. In entlegener
Bucht warf die Jacht Anker. Riksha-Kulis, Reit- und Tragtiere geleiteten
die bald Vertrauten in das schwerfällig-milde Reich des
Mitten-Innestehens, und seines Herzens Spruch!

   »Mach süß ihre Speise
   Und schön ihre Kleidung,
   Freundlich ihre Wohnung
   Und fröhlich ihre Sitten.«

Gern als Gäste in Häusern, die Lis Empfehlungsbriefe auf langen
Seidenblättern ihnen öffneten, lernten sie die Verschlingungen des
treuherzigen Drachens: Höflichkeit. Er sperrt sein Maul auf, und die
Zeit fällt hinein -- gar nicht abzusehen, bis wohin.

So übten sie die Zeremonie des Reichens und Empfangens -- Kult des
Grußes, des Dankes und des Abschieds. Versuchten sich auch bald in den
Lauten der großgewordnen Herzenssprache: glattgeschliffene Jade- und
Onyxkugeln rollen lose ihre Silben, jede eine runde Anschauung: größten
Inhalts, bei geringster Oberfläche; ebenso reibungslos gegen einander
verschiebbar und sich verschiebend, wie die wimmelnden blauen Menschen
selbst, von deren Lippen sie fallen. Daß diese Menschen glattrasiert an
Körper und Köpfen sind, bis in Nase und Ohren hinein, scheint irgendwie
auch seelisch keinerlei Widerborstigkeit aufkommen zu lassen. Gibt ihnen
etwas Keglig-Spiegelndes, läßt eben noch freies Durcheinandergleiten zu.
Stellte dagegen einer dem andern ein Bein, würde irgendwo etwas
verfahren, verspreizt, verquert -- China müßte sofort zu einem kompakten
Leuteblock verfilzen. So aber gleitet das fast haßlos umeinander, in
starken Bahnen einer Zivilisation der Übervölkerung:

»Sie scheint nur zwei Imperative zu kennen« -- meinte eines Tages Diana
Elcho -- »diskret sein und ausweichen. Dieses verbürgt ein friedlich
wechselndes Geschehen überhaupt. Wichtiger aber scheint mir jenes:
Diskretion allein garantiert da dem Einzelnen die unerläßliche
Einsamkeit, muß wenigstens versuchen, ihm Ersatz zu sein für kostbare
Raumtiefe, gefressen von der Art.«

Noch nie hatte Horus so ein Gewimmel gesehen. Menschen, wie sie im
fließenden Wasser warmer Quellen schliefen, einen Stein als Kissen unter
dem Kopf, einen zweiten auf dem Bauch, um nicht bewußtlos ins Tiefe
gespült zu werden; Menschen, die nicht wagten, mit ihren schlafenden
Leibern Erde brachzulegen, auf der Reis wachsen konnte.

Hatte beobachtet, wie im Morgengrauen unbegreiflich arme Menschen aus
Kanälen herausgekrochen waren, rotblinzelnd ins Licht, eine halbzerkaute
Ratte zwischen den Zähnen. Die gleichen rattenblutigen Lippen aber
klangen bald von einem reinen, kindlich frohen, überaus gepflegten Gruß,
weil auch sie von dem duftenden Geist des Li-tai-po und Thu-fu
geschmeckt hatten und skandierend seine edlen Maße über regengelbe
Ströme hinsangen, wo halbnackte, vor Kälte zitternde Kulis, den
kupfernen Fahrlohn ins Ohr geklemmt, Antwort gaben in Perlmutterworten
sehnsüchtiger Kaiserinnen, wenn sie Fächerdüfte dem Sohn des Himmels in
den Thronsaal senden. --

Und immer noch schossen Melonenköpfchen in allen Größen -- blanke
Mausaugen drin -- in die kargen Spatien zwischen den sanften Großen --
ihre Mühsal zu mehren -- die Welt zuzuleben, alle Natur in sprossende
Chinesen umzusetzen. Horus hätte abwinken mögen: »Schon gut -- genug.
Dem Ahnenkult ein einziger Sohn.« Warum übte diese sinnenreiche Rasse,
im Sexuellen vielerfahren, nicht, was primitiven Stämmen Afrikas weder
Geheimnis noch Problem? Warum speiste nicht auch hier das lebendige
Wasser im uralten Zier- und Wundergarten des Geschlechts samenlose
Feuerlilien, die seinen Strahl zu glühendem Duft verbrennen?

Doch eines Abends unterlag auch er dem Charme der Paganinis: der Kinder.

Tief im Innern des »südlichen Blütenlandes« war ein Fest: Teebuden,
Bücherstände, Shuo-Shu-Tis: Geschichtenerzähler. Massen stauten sich,
Sandalenklappern verstummte, Feuerwerk begann. Horus überragte fast um
Kopfeshöhe die kürzeren Südchinesen. Da stahlen sich geräuschlos von
Frauenhüften, Männerhänden, eins nach dem andern kleine Wesen, schlossen
um den Fremden lautlos einen Kreis. Berührten ihn nicht. Belästigten ihn
in keiner Weise. Die Mündchen, klein wie Knopflöcher, blieben
geschlossen. Doch eine freundlich unentrinnbare Suggestion ging von dem
Babykranz aus: etwas, weit zwingender, weil taktvoller als Worte. Etwas,
das unmittelbar zeigte, wie dunkel und ganz zugemauert von Hosen es da
unten bei einem selbst war, während um den Kopf des älteren Bruders oben
Feuerräder schnurrten, Leuchtkugeln ihm nur so aus beiden Ohren
spritzten: violett aus dem linken -- golden aus dem rechten; Preis dem
großen älteren Bruder.

Der ältere Bruder hielt sich wacker, nach eigner Wertung erstaunlich gut
sogar. Dann mit eins zog es ihn -- Gegner oder nicht Gegner der
Übervölkerung -- zu seinem heiteren Erstaunen tief herab, wie man zu
einem zärtlichen Kätzchen sich niederbeugen muß, und er hob den
kürzesten dieser komischen Kegel sich auf den Kopf, einen zweiten auf
die rechte Schulter, einen dritten auf den rechten Arm. Freiwillig trat
der erste -- nach einigen Minuten Höhenrausch -- den Abstieg vom
Gipfelkopf, diesmal über linke Schulter und Hüfte an, damit andre von
rechts nachrücken könnten. Und es begann ein Continuum von Paganinis
pyramidenförmig über den großen Bruder hinzuziehen. Eirunde, immer
wechselnde Köpfchen säumten ihm den Kontur. Eine Bergprozession
gelblicher Lampions, jeder mit zwei schwarzen Lichtern drin und einem
Knopfloch. Das krönende Paganini oben aber hielt stets die seidenglatten
Beinchen so, daß dem gastfreundlichen Kopf ja nichts von dem großen
Funkel im Himmel verdeckt würde; sah auch manchmal selbst nach dem
Rechten, umspannte das fremde Lotosgesicht mit seinen kleinen Händen, um
es besonders grünen unter den stürzenden Leuchtkugeln zart entlang zu
führen.

Eine Art gedämpfter Vertraulichkeit begann sich aus der ganzen Situation
zu entwickeln. Aus Knopflöchern hüpften Kugelsilben, um vieles heller,
komischerweise um die Hälfte kleiner als bei Erwachsenen, doch
herübergelebt aus gleicher Höflichkeit des Herzens. Liebes und Tiefes:
weltgültiger Anstand in der Freiheit stand um diese Babypyramide wie ein
junges, bezauberndes Fluidum. Versuchten die Frauen später aus ihm
herauszuschmeicheln, was die Kleinen zu dem großen Kopf gesprochen,
wurde er nur ausgelassen, spitzbübisch und unbändig heiter; schwur,
einzig Rama-Krishna -- weil er so schon alles wisse -- dürfe auch das
noch erfahren.

                   *       *       *       *       *

Sprache, Schriftzeichen, Schmuck: zu diesen dreien vermochte Horus vom
ersten Tag ehrfürchtig das große _Du_ zu sagen. Nicht daß er an Bauten,
Bronzen, Keramik deren Echtheit verkannt hätte, ihren Anspruch auf Stil
-- das ist: die Dinge aus ihrem Herzen heraus mit neuen Namen nennen.

Doch seelisch an den Pythagoräern, geistig an Newton und Lagrange,
optisch am Haus Elcho erzogen, sah er in jeder planlosen
Weitschweifigkeit, Gewölle von Zufall an den Dingen mit Recht einen
Mangel an kritischem Ideal: jenem, so heiß, so ernst vor Leben, daß es
nicht Ruhe finden kann, bis auch der letzte Gegenstand, den es
erschafft, zu einer neuen Reduktion der ganzen Welt auf wenige, gerade
für ihn entscheidende Linien und Flächen geworden. So war er es gewohnt:
jeden Türgriff, jede Sohlbank, jeden Leuchtkörper werten zu dürfen mit
der Härte ganz großer Liebe -- von heimlicher Surrogatempfindung frei,
in jubelnder Sicherheit restlos beglückt zu bleiben. Bis zu den
kritischen Spaziergängen mit Erasmus in der Pettah hatte er all das
unbewußt in seinen wachsenden Organismus aufgenommen, an solchem Maß
natürlich sich geformt. Von da ab genoß er seinen Wohnleib auch geistig,
wie etwan ein Mensch durch anatomisches Studium seinen Körper ein
zweites Mal zum Geschenk erhält.

Am besten besprachen solche Dinge sich immer mit Lady Diana. Beider
Wesenskerne waren so verwandt, und doch lag, durch Altersunterschied,
auch wieder genug schöpferische Zeit zwischen ihnen, daß sie hoffen
durften, fast aus jeder Diskussion irgendwie belebt hervorzugehen. Hat
es doch stets nur Sinn und Zweck, mit jemandem, der gleicher Ansicht
ist, zu diskutieren; auch da ergeben sich antagonistischer Kanten noch
übergenug, aus ihnen lebendige Funken zu schlagen. Polemiken aber aus
unharmonischer Empfindung heraus oder gar verschiedener
Unterscheidungskraft für Echtheit degenerieren, werden bitter, lang und
steril.

Er resümierte: »Chinesische Gegenstände sind mir zu geschwätzig. Dinge
des Gebrauchs haben nur gefragt und in ihrer Fachsprache zu antworten.
Da ruhe ich in einem Kissennest. Nicht daß es vom »ruhen machen« nichts
verstände, aber statt vollauf damit beschäftigt zu sein, mir das Sitzen
zum Nirvana zu machen, erzählt so ein Polster nebenher meiner rechten
Schulter eine lange Geschichte in Blau und Gelb von einem Fuchsdämon und
einer Drachentochter; mag ich dazu aufgelegt sein oder nicht. Schon um
acht Uhr früh. Schon beim Frühstück. Form ist hier oft nur versteinerte
Laune und Schöpfung: phantastisch-träges Hinzufügen.«

»Weglassen ist aber auch noch nicht Vollendung,« meinte Diana Elcho, »da
hat Erasmus recht. Das wäre leere Einfachheit, nicht jene aus
verdichtetem Leben, deren Anblick allein, wie mir scheinen will,
Beruhigung im Endgültigen gibt. Es ist, als habe diese schwierige
Schlichtheit etwas von den ewigen Ideen auf sich herabzuzwingen
vermocht, weil sie erst einmal unbeirrbar, phrasenlos und rein den Zweck
zum Grund sich gab. Der war ihr Fundament: Isolator gegen schlammige
Saloppheit -- versandetes Ohngefähr. Erst auf dieses reinliche Piedestal
kann ein Geheimnisvolles, das wir >Schönheit< nennen, sich dann senken.«

Li-Hung-Tschangs großes, glattes Gesicht hatte höflich aufmerksam
zugehört. Nun ließ er -- in graue Seide gehüllt, mit Mandarinenketten
umschnürt -- zwei gewölbte Bronzegefäße aus der T'ang-Dynastie
hereintragen, Lady Elcho zum Geschenk.

Sie zitterte vor Freude. Etwas von der Leere des tönenden Erzes aus der
neunten Symphonie war an ihnen. Einem schauend Entrückten mochte
scheinen, als könnten hier -- nur hier -- aus dem dunklen Adel dieser
Mulden die tauben, unfaßbar außerweltlichen Nebengeräusche des ersten
Satzes fahl heraufgezuckt sein, aus einem verhangenen Drüben.

Horus war hingerissen wie nur vor den wenigen Sienit- und
Liparit-Gefäßen der Pyramidenkönige, deren Abbilder er kannte. Nun erst
fiel ihm auf, wie sehr der großartige alte Chinesenkopf vor ihm
eigentlich selbst dem eines Pharao glich. Dasselbe flächenhafte Lächeln,
breitabrollend von dem Monolithgesicht. Einfach wie ein Dioritgott saß
er da, flache Hände auf den Knien, freute sich der Freude seiner Gäste.

»Heute abend wird er mir die Hand reichen,« dachte Horus.

Es war einer der sichern, täglich wiederkehrenden Genüsse, die
fernrassige große Hand ebenbürtig auf die seine zukommen zu sehen, nach
europäischer Sitte, Horus zu Ehren, -- Lis Finger zu spüren und die
übertriebene Wölbung seiner vollkommen geschliffenen Nägel mit den
halbkreisförmig gezüchteten Perlmuttermonden, deren Bett das
ungebrochene weiße Häutchen elastisch, losgelöst und rein umlief.

Dieser sichern, täglich wiederkehrenden Genüsse aber gab es noch mehr.
Zur Stunde der Krähe klangen jenseits der Kamelbuckelbrücke, im Pavillon
aus Flötenholz und aus Lasur, des Vorhangs gläserne Falten auseinander,
und Lis jüngste Nebenfrau erschien, für ihn und die Gäste den Tee zu
bereiten.

Hieß Jü-Chuan: »geflügelte Perle«. War erst vor wenigen Monaten an die
Stelle einer Dame getreten, die Li mit unerbittlicher Höflichkeit
zurückgeschickt, weil sie nicht nur absichtlich den Tee verdorben,
sondern -- es waren seine eignen Worte --: »ihn behandelt hatte, als
wäre er der Schwanz des Hauses statt sein Kopf«. Die Teebereitung ging
stets mit dem ganzen Zeremoniell der Meister aus der Sung-Schule vor
sich. »Geflügelte Perle« brachte in den Pavillon eine Privatregion mit,
in der nichts zu Boden fallen konnte, das Menschenohr geborgen war vor
Scherben und Gekreisch. Ein Zaubervogel mit wohlfrisiertem Damenkopf in
Perlengehängen, schlüpfte sie, zutraulich getragen durch ein Dickicht
von Hin und Her, machte sich schmal wie eine Meise oder spannte auf
einmal feierliche Flügel im Teeduft; erfüllte den Raum mit Wehen und
Weiche.

Sprach die Vogelfee, fielen aus ihrer Kehle Silben als Regen von
Pfirsichblütenblättern -- jedes mit einem Jaspistropfen beschwert -- in
Herzen hinein. An sie wandte sich stets der Hausherr, kam die Rede auf
Dichter und Philosophen, und mit kleinen flächenhaften Bewegungen, ohne
je aus unsichtbarem Rahmen zu treten, begleitete sie dann ihre Worte,
den zitronenblassen Kopf ein wenig schief. Wenn aber die heiße Blume
vollendet vor jedem in einem Doppeltäßchen stand, jeder, die
blaulazurnen Ränder gegen einander verschiebend, aus dem Spalt den
ersten Schluck getan, verbeugte sich die Vogelfee dreimal, sank in sich
selbst nieder, wie in ein Nest von Seide, und sang.

Ließ dabei überaus vorsichtig von den Libellenflügeln ihrer Nägel zehn
Goldhülsen gleiten -- barg sie in der Schale von Prasem. Nun erst begann
mit geblähter Kehle in ihrem Arm ein dickes braunes Instrument zu singen
wie ein Nachtigallenmännchen. Eine Grille -- ihr winziger Bambuskäfig
hing an einer Scharlachschnur in den Nebel von Teeduft -- geigte mit.
Überzüchtete Tiere, pagodenhaft hochgestellte Fische mit goldenen
Krötengesichtern zogen indeß lange rote Fäden hinter sich durch Wasser,
das sich kuglig aus dem Kristall der Schalen bog, mündeten, naiv und
weise lasterhaft, irgendwo wieder in den Dienst des Geschlechts.

Menschenhäupter und Träume aber schwebten über den ruhenden Körpern in
einer zweiten, verklärten Heimatwolke, gewoben aus dem Arom von Quitten,
Opium, Sandelholz und Ingwer.

Immer häufiger baute die Vogelfee ihr Seidennest inmitten des fremden
jungen Paares. Als die Zeit der Abreise gekommen war, hatte Li seine Ehe
bereits in aller Ruhe gelöst, und Jü-Chuan war, nach Erfüllung der
Bräuche, Horus Elchos legitime Nebenfrau geworden. Aus einer weiten
Milde her waren nur wenige, wohltuend menschliche Verständigungen
zwischen den Beteiligten getauscht worden. Dieser große chinesische Herr
war Verschwender in allem Glanz des Menschentums, doch sparsam an
überflüssigem Weh.

»Meine Ärmel wären mir nicht mehr getrocknet in meinem Leid, hätte das
erhabene Lotosgesicht das südliche Blütenland verlassen ohne Jü-Chuan,«
sagte die Vogelfee zu ihrem neuen Gatten.

Er war erregt in seiner tiefsten Lebensneugierde. Beugte sich gerührt zu
der lieblichen Form, die ihm die Essenz des Seltsamen der großen Rasse
bieten wollte, -- so berauschend fremd von einem Liebeswirbel ihm in den
Schoß geflogen kam, mit kleinen Zügen, eingeritzt in die Schale eines
Taubeneis, nur mit hellen Wimpern zu bestreicheln.

»Bangt dir nicht, mit einem Fremden so in die Ferne zu gehen, seidnes
Wesen? Was weißt du denn von mir?«

Ihr ganzer junger Körper war sanftes Erstaunen. Vor Erstaunen fielen die
Schleppen ihrer Ärmel in Trichtern zurück von Vorderarmen: rund und
durchsichtig, als wären es Röhrenknöchelchen ganz leichter Vögel.

»Da mein älterer Bruder schön, klug und gebildet ist, wie sollte er da
nicht auch gütig, gerecht und vertrauenswürdig sein? -- Jü-Chuans Dank
--« sie wurde ernst und bebte ein wenig; dann mit geheimnisvoll
wollüstiger Verwöhntheit ohnegleichen:

»Ich will meinen älteren Bruder das >Geheimnis des Fußes< lehren und
meine ältere Schwester >das Geheimnis der Blume Lan<.«

                   *       *       *       *       *

So kam »geflügelte Perle« in das Haus der Elchos.

Wie jede chinesische Dame mit Dichtern und Philosophen aus drei
Jahrtausenden ihrer Rasse blutvertraut, zeigte sie sich beglückt, all
diese in der Bibliothek des neuen Heims wieder zu finden. Neben
Übersetzungen auch in der Ursprache.

Horus und Gargi kannten nur erstere. Sie baten:

»Lehr' uns die Kugelsprache. Doch nicht nur die hölzernen der Kulis,
auch die aus Onyx und Elfenbein reihe auf für uns.«

Nun hob Jü-Chuans Vogelkehle aus jeder Silbe den inneren Lautwert,
bestimmt, die Schwebungen des Herzens aufzufangen, und aus der Tusche
ihres Pinsels kroch über Seide zugleich wie ein Geschöpf das Schriftbild
aus, halb Raupe halb Kristall, in breiten Kurven, doch unsichtbar umeckt
von solch konziser Kraft, daß sich das Leere rundum an ihm kantig stößt
und wie ein Würfel steht. Nicht Urnen, Dämonen und Drachen, Chinas
Plastik ist die Schrift. Erst Bild und Klang, verzweigt mit Rhythmus und
Grammatik, faßt diese Sprache ganz; man muß sie sehen, um sie ganz zu
hören, weil in ihr alle Künste sind und Geist geworden.

Wenn solchermaßen die seidne Vogelfee aufflog in einen tönenden
Märchenbaum und aus der Krone seiner Weisheit sang, dann, nicht wie ein
Gatte und Liebender nur, gern wie ein Schüler auch, wie ein Vater und
Bruder, empfand Horus zu ihr.

Überaus leicht faßlich erschien Jü-Chuan, an chinesischem Maß gemessen,
was die beiden andern als Tausch und Dank zu bieten hatten, doch etwas
primitiv, um nicht zu sagen tölpicht auch. Nur die Chöre der
griechischen Tragiker fanden Gunst vor ihrem winzigen Ohr, das als
Quittenblüte am Lack der Haare saß. Nur hier war das Biegsame, das, zart
und aderreich wie Geist, in unirdischen Lungen flutet, rot von Leben und
stark nach Gesetz.

Gern verglichen sie die »Religion des guten Bürgers« oder das »Tao« mit
Gotama Buddhas achtfachem Pfad und dem Vedanta.

Hier gab Jü-Chuan meist neidlos zu, daß »Sanskrita« mit Recht »die
Vollendete« heiße, denn wo andre Zungen immer nur wieder hilflos das
Wort »Seele« vor sich hin zu stammeln vermögen, steigt hier aus tieferer
Versunkenheit die Fülle.

»Es ist an dem,« meinte Horus, »daß die Inder sich als eine lebendige
Siebenfaltigkeit zu empfinden gelernt haben, an der jede Stufe fast
kontinuierlich in die andre überleitet, wenn auch nur Ahnungen zu ihren
drei letzten führen, mehr als Richtlinien, in denen die innere
Entwicklung zu gehen hat.

Außen und zuerst ist nur ein aus Nahrung bestehendes Selbst. In diesem
steckt wie in einer Kapsel das »Odemartige«, in diesem das Emotionelle:
Liebe und Haß erzeugende, dann das manas- oder erkenntnisartige Selbst.
In diesem endlich als Innerstes die drei Stufen des wonneartigen Selbst,
von dem es heißt: »Fürwahr, dies ist die Essenz. Denn wer die Essenz
erlangt hat, den erfüllet Wonne. Wer möchte atmen und wer leben, wenn in
dem Weltenraum nicht diese Wonne wäre. Denn wann einer in diesem
Unsichtbaren, Unkörperlichen, Unaussprechlichen, Unergründlichen den
Standort findet, dann ist er zum Frieden eingegangen. Wenn er hingegen
in ihm -- wie in den vier ersten noch eine Höhlung -- ein andres
annimmt, dann hat er den Unfrieden. Es ist der Unfriede, der sich weise
dünkt.«

»Ist dieses >wonneartige Selbst< ein Teil der Weltseele?«

Er stand auf, nahm ein Buch. Oft gebraucht, schlug es an rechter Stelle
auseinander.

»Nein, geflügelte Perle, es heißt, das Innerste jedes Menschen sei nicht
eine Emanation, ein Teil des >Brahman<: der Weltseele, sondern voll und
ganz dieses selbst. Wer das erkannt hat, für den gibt es weder mehr eine
Wanderung der Seele, noch eine Erlösung. Er ist schon erlöst, wenn
Erlöstsein bedeutet: _Befreiung von der Notwendigkeit des Wahns, immer
und immer wieder zu sterben_.« Und er las weiter: »Das Fortbestehen der
Welt und des eignen Leibes erscheint ihm nur noch als eine Illusion,
deren Schein er nicht heben, die ihn aber auch nicht weiter täuschen
kann ...«

Des Lesenden Stimme wurde tief und ganz ruhig: »... bis nach Dahinfallen
des Leibes er nicht wie die andern auszieht, sondern bleibt, wo er ist,
was er ist und ewig war: das gestaltlose Prinzip alles Gestalteten, das
seiner Natur nach ewige, reine, freie Brahman.«

»Dann haben eure Saddhus und Büßer,« meinte Jü-Chuan, »wiewohl sie
Beherrscher innerer Kräfte zu sein vorgeben, das >wonneartige< Selbst
noch nicht gefunden, denn die Sage geht, >sie strebten ihren Leib zu
vertausendfachen, um in den einen Gestalten die Sinnendinge zu genießen
und zugleich in den andern ungeheuern Kasteiungen obzuliegen_tat twam asi_<: das bist du, die
Befreiung vom Kerker des Ich, nicht in der Essenz, sondern noch in der
äußern Illusion. Dieses Ringen der Meisterasketen mit den Göttern um
Macht, daß Vismavitra droht, einen neuen Indra zu schaffen, es spielt
sich alles noch im Schein ab. Sich vertausendfachend, will der Jogi das
ganze Weltgespinst der Maja zugleich sein, leiden und genießen, alle
_Dus_ in seinem _Ich_ vereinen. Versucht auch den schmerzlichen Druck
jener Kette, die Karma heißt, dadurch zu verteilen.«

»Was ist Karma?«

»Von jedem Geschöpf sei wohl anzunehmen, meint hier der Vedanta, daß es
in einem früheren Dasein viele Werke angehäuft habe, die zu
_erwünschten_ und _unerwünschten_ Früchten gereift. Der ganzen Welt
Geschehen in jedem Augenblick sind eben diese Früchte. Das ist Karma. Da
nun der Jogi in die machtvoll erweiterte Schale seines Ich die Herben
und die Süßen vieler Leben zugleich preßt, stumpft er mit der Süße der
einen bittres Gift der andern, das sonst vielleicht unvermischt auf ein
blindes, kleines Einzelleben gefallen wäre und es ganz zerfressen hätte,
wie ein Tropfen Säure eine Ameise. >Joga< scheint mir in manchem ein
mystisches Dju-Djuzu: Jongleur-Trick, sich den karmischen Druck zu
erleichtern. Vom wahren Wissen aber steht: >es verbrennt die Werke und
den Samen der Werke<.«

»Welches sind die Vorbedingungen für das Studium des Vedanta?«

Etwas befremdet sah er sie an: »Natürlich die gleichen wie beim >Tao<
eures Lao-Tsu, oder dem achtfachen Pfad des Gotama Buddha: _Verzicht auf
Genuß des Lohnes hier und im Jenseits_.«

Sie schwiegen. Dann bekam er sein glitzerndes, ganz junges
Spitzbubengesicht. Neigte sich zur winzigen Quittenblüte im Lack:

»Die geflügelte Perle möchte nichts übereilen. Erst wer sich völlig
ausgeliebt -- ausgehaßt, ausgeglaubt -- ausgezweifelt, kann den Weg des
Vedanta beschreiten.« -- Dann mit einem fast väterlichen Wohlmeinen:
»den Morgen seiner Inkarnationen genießen, dann als Grihasdha das Amt
der Generation auf sich nehmen, erst das letzte Drittel des Lebens dem
eignen >Brahman< weihen: mit Mantel und Schale in den Wald gehen, ein
golden Geschlechtsloser, vollkommen Erwachter, Leidverlöschter. So
befiehlt der Vedanta.«

»Befiehlt?« -- Aus dem Lotossitz, in dem sie wie ein zarter Buddha
gekauert, erhob sich Gargi, die Hände im Schoß. Erhob sich aus sich
selbst, wie ein wachsender Halm. Stand vor ihm. Sie hatte manchmal eine
Art, vor Menschen zu stehen, das Haupt zu neigen oder ein klein wenig zu
schütteln, wenn sie nicht ganz einverstanden war, mit geschlossenen
Lidern, die lächelten. Um das zu sehen, widersprach er ihr bisweilen.

»Der Vedanta befiehlt nie, er belehrt nur.« Sie zögerte. »Seine Worte
sind wohl viel zu groß für meinen Mund, doch möchte ich ihren Sinn nicht
meinem kleinen Zufallsausdruck überliefert sehen. Ich glaube, es heißt
dort: >Der Vedanta befiehlt nicht, er belehrt nur: ähnlich wie bei
Belehrung über eine Sache dadurch, daß man sie dem Auge nahebringt.
Darum werden alle Imperative, auf die Erkenntnis des Brahman angewendet,
ebenso stumpf wie ein Messer, mit dem man Steine schneiden will. Denn
das ist unser Schmuck und Stolz, daß nach Erkenntnis des Brahman alles
_Tun-Sollen_ aufhört, sowie alles _Getan-Haben_<.

Wer in sein wahres Selbst einziehen will: das Seiende, Unzerstörbare,
muß seine guten und bösen Taten draußen lassen.«

»Seine guten und bösen Taten draußen lassen, wie schön. Meine ältere
Schwester soll weiter sprechen,« bat Jü-Chuan.

Und Gargi fuhr fort; so einfach, als kämen ihr eigne Worte, doch in
jener unnachahmlichen Haltung wie zuvor.

»Weise und ohne Falsch und frei von Begier in dem Gewoge steht er als
Schauender und ohne Zweiten, er, dessen Welt das Brahman ist.

Wahrlich, dieses große, ungeborne Selbst, das ist unter den
Lebensorganen jener aus Erkenntnis bestehende selbstleuchtende Geist.
Hier im Herzen inwendig ist ein Raum, darin liegt er, der Herr des
Weltalls -- der Gebieter des Weltalls -- er wird nicht höher durch gute
Werke, er wird nicht geringer durch böse Werke; er ist der Herr des
Weltalls, er ist der Gebieter der Wesen, er ist der Hüter der Wesen, er
ist die Brücke, welche diese Welten auseinanderhält, daß sie nicht
verfließen.

_Wer solches weiß, den überwältigt beides nicht, ob er darum, weil er im
Leibe war, das Böse getan hat, oder ob er das Gute getan hat._

Ihn brennet nicht, was er getan und nicht getan hat.«

»Wie aber verbreitet sich das Gute in der Welt der Sinne: des Scheins,
die doch seiner noch bedarf, haben die Erleuchteten es längst
vergessen?« frug Jü-Chuan.

»Dadurch, daß sie sind. Wie beim Mangobaum, den man der Früchte wegen
pflanzt, Schatten und Wohlgeruch daneben herauskommen, so kommen bei
Entfaltung der Seele die nützlichen Zwecke in der Körperwelt daneben
heraus.«

                   *       *       *       *       *

Die jungen Frauen hatten die Bibliothek verlassen. Horus zögerte noch.
Ihn drängte, ein paar Bücher an ihren Ort zurückzustellen. Wie
barbarisch abgehackte kleine Glieder kamen sie ihm vor, so quer und
verloren hingestreut, und der lebendige Leib der Wand verstümmelt ohne
sie.

Wie er so lieb mit ihnen hantierte, über das Korn des Leders, die
braunen Rücken, gewölbt vor Klugheit, strich: getastetes Plaudern, bis
jedes wieder in seinem Häuschen stand, fiel ihm von ohngefähr an
entlegener Stelle ein unbekanntes Buch in die Hände. Verwunderlich
schien das keineswegs. Erasmusens und seiner Mutter Interessen waren
zahlreich und verschieden genug, um ihn selbst noch kaum berührt zu
haben. Er öffnete es eigentlich auch nur, weil es so schwarz, dick und
auf dem Rücken ohne Titel war. Durchblätterte mechanisch lange, dünne,
engbedruckte Seiten. Erstaunlich bösartige, ja flegelhafte Sentenzen
stießen allerorten wie unsaubre Fäuste nach ihm: »Der Herr wird dich
schlagen mit Feigwarzen, mit Grind und Krätze, daß du nicht kannst heil
werden.«

Er staunte: »Ich weiß zwar nicht, was Feigwarzen sind, aber es wird
schon danach sein.«

»Der Herr wird dir die Pestilenz ...« nein, weiter --

»Der Herr wird dich schlagen mit Darre, Fieber, Hitze, Brand, Dürre,
hitziger Luft und Gelbsucht und wird dich verfolgen, bis er dich
umbringe ...«

Instinktiv hielt er das Buch weiter von sich ab, als zum Lesen unbedingt
erforderlich.

»Verflucht wird sein die Frucht deines Leibes, die Frucht deines Rindes,
die Frucht deiner Schafe verflucht ...« Eine ganze Seite lang. Aber wozu
der ganze Gallenerguß? -- »Der Herr wird unter dich senden Unfall,
Unruhe, Unglück, bis du vertilget werdest und bald untergehest, um
deines bösen Wesens willen _und daß du mich verlassen hast_.« --

Ja, hörte denn dieses offenbar senile Keifen nicht mehr auf? Wer war
überhaupt dieser dubiose »_Herr_?«

»Und des _Herrn_ Zorn ergrimmte zur selbigen Zeit, und er schwur und
sprach: >... ich, der _Herr_, dein _Gott_, bin ein eifriger Gott<.«

Wie? -- Ein _Gott_? -- Mit schlechten Manieren, der fluchte -- _bad
language_ gebrauchte? -- Es gab also einmal irgendwo eine Barbarenhorde,
die sich ihren Gott so vorgestellt? -- Wie aber war es denn, wenn sie
ihn nicht »verließen«, ihm »folgten«? Das mußte doch auch bisweilen
vorkommen. Er suchte und fand. Nun ward es ethisch aber noch bedeutend
anrüchiger:

»Wenn dich der Herr, dein Gott, bringen wird in das Land und geschworen
hat, dir zu geben: große und feine Städte, die du nicht gebauet und
Häuser alles Guten voll, die du nicht gefüllet hast, und ausgehauene
Brunnen, die du nicht ausgehauen hast, und Weinberge und Ölberge, die du
nicht gepflanzt hast ...«

»Ah -- da staun' ich,« dachte Horus belustigt.

»Und sie führeten das Heer wie der >Herr< geboten und erwürgeten alles,
was männlich war. Dazu die Könige der Midianiter erwürgeten sie samt
ihren Erschlagenen und nahmen gefangen die Weiber der Midianiter und
ihre Kinder. All ihr Vieh, all ihre Habe, all ihre Güter raubeten sie
und verbrannten ihre Städte, all ihrer Wohnung und alle Zeltdörfer. _Und
nahmen allen Raub und alles, was zu nehmen war_: Mensch und Vieh. Darum
bringen wir dem >Herrn< Geschenke, was ein jeglicher gefunden hat an
goldnem Gerät, Spangen, Ohrringen ... _Denn die Kriegsleute hatten
geraubet ein jeglicher für sich_ ... und brachten's zur Hütte des
Stiftes zum Gedächtnis ... vor dem >Herrn<.«

So?

Völker aber, die ihre schönen Städte selber bauen konnten, belegte diese
kleine Zuchthäusler-Tribus regelmäßig in wegwerfender Weise mit einer
Art verächtlichem Sammelnamen: »_Heiden_«. -- Horus amüsierte sich. Also
dann waren Con-fu-tse, Pythagoras, Buddha alles »Heiden«, von denen es
da hieß: »Also sollt ihr an ihnen tun: Ihre Altäre sollt ihr zerreißen,
ihre Säulen zerbrechen, ihre Haine abhauen ...«

Welch gewalttätige Borniertheit, Anmaßung, Bosheit und Intoleranz!

Gelegentlich schien der »Herr« wieder eitel einen guten Eindruck auf
diese »Heiden« zu machen. Als er -- zum wievielten Mal, war nicht
ersichtlich -- drohte, sein Volk um den versprochenen Länderraub
endgültig zu prellen, überlistete ihn einer durch die Erwägung, es wäre
doch blamabel vor den »Heiden«; die würden sich am Ende darob mokieren.
Das leuchtete dem Gott ein. Horus las nur so mit den Blickspitzen,
machte Stichproben. War denn hier keine Spur von Natursinn? Entzücken an
edlen Tieren und der beseelten Landschaft? Darum diese dürre, klägliche
Angst; das Sich-als-lebendige-Welle-fühlen, das fehlte eben. Nie wurde
hier die Schönheit der Welt zum Gottesbeweis, immer nur Krätze oder wie
hieß das andre? Richtig: Feigwarzen.

Da war ein auserwählter König: David. Von dem stand: »Er führete aus der
Stadt sehr viel Raubes, und das Volk drinnen führete er heraus und
zerteilete sie mit Sägen und eisernen Dreschwagen und Keilen.« Als er
später eine Volkszählung vornahm, schien das dem Gott aus rätselhaften
Gründen nicht recht, wiewohl er selbst dergleichen doch wiederholt
selbst anbefohlen. Zur >Strafe< sollte nun der König wählen: Teuerung,
Flucht vor dem Schwert seiner Feinde oder Pestilenz im Volk.

Traun, er möchte gehorsamst um Pestilenz für sein Volk gebeten haben.
»Da ließ der >Herr< Pestilenz in Israel kommen, daß siebenzigtausend
Mann fielen.« -- Völlig Unschuldige also, an der Sache Unbeteiligte.
Gleich darauf sahen Gott wie König auch ein, das Ganze habe keinen
rechten Sinn gehabt. Über den Mord an den siebenzigtausend regte sich
aber keiner der beiden weiter auf.

Da ekelte es Horus zwar, aber lachen mußte er doch.

Gegen Ende des Buches machten die Leute einen ziemlich reduzierten
Eindruck. Ein einziger kleiner Anführer schien ausschließlich das Wort
zu haben. Auch die Diktion hatte sich erheblich vermindert, die alte
Barbarei, doch quasi um ein Stockwerk tiefer. Kleineres Keifen hub an:

»Und des Menschen Sohn wird seine Engel senden und die Bösen von den
Gerechten scheiden und werden sie in den Feuerofen werfen, da wird sein
Heulen und Zähneklappern.« -- Dann wieder: »Ihr Schlangen und
Ottergezücht, wie wollt ihr der ewigen Verdammnis entrinnen.« -- Ja,
eigentlich wo immer man es aufschlug: »Wer aber ärgert einen dieser
Geringsten einen, die an mich glauben, dem wäre besser, daß ein
Mühlstein an seinen Hals gehänget und er ersäufet würde im Meer, wo es
am tiefsten ist.«

Komisch. Der junge Mann behauptete von sich, er sei »sanftmütig und von
Herzen demütig!« -- Dann umblätternd: »Und wird sagen zu denen zur
Linken: gehet hin von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das
bereitet ist den Teufeln und seinen Engeln ... und sie werden in die
ewige Pein gehen, aber die Gerechten in das ewige Leben.« -- Er schlug
ein paar Seiten zurück. Schon wieder: »Da wird sein Heulen und
Zähneklappern.« Jetzt zum fünften Mal. Er gähnte.

Ein Welterlöser, ein Gottessohn mit dem Leitmotiv: »Na wartet, ich
werd's dem Vater sagen!« Eben immer noch die gleiche, schlechte
Kinderstube. »Es scheint in der Familie zu liegen,« dachte Horus.

»Wehe dir, Bethsaida. Wären solche Taten zu Tyrus und Sidon geschehen,
als bei euch, sie hätten vorzeiten im Sack und in der Asche Buße getan.
Doch ich sage euch: es wird Tyrus und Sidon erträglicher gehen am
Jüngsten Gerichte, denn euch ... und du, Kapernaum, die du bist erhoben
an den Himmel, du wirst bis in die Hölle hinuntergestoßen werden ... Und
wo euch jemand nicht annehmen wird ... so gehet heraus von demselben
Hause oder Stadt ... wahrlich, ich sage euch, dem Land der Sodomer wird
es erträglicher gehen am Jüngsten Gericht, denn solcher Stadt.«

Nicht annehmen -- warum? Ja richtig: gerade vorhin hatten sich ja alle
gesitteten Leute mit Recht beschwert, daß diese Rowdies sich nicht
einmal vor dem Essen die Hände wuschen.

»Strafe -- Verdammnis -- Sühne -- Sünde -- ewige Pein.« -- Er griff sich
an den Kopf. Dieser ganze pauvre-brutale Vorstellungskomplex war ihm
bisher an Religionen gänzlich unbekannt. Als Symbol gewertet aber schien
das alles ausschließlich dem Niveau kretinisierter Sechsjähriger
angemessen, wobei noch sehr zu fragen war, ob nicht gerade Kindern
solche Zuchthäuslersymbolik unter allen Umständen fernzuhalten wäre.
»Steinzeitbarbaren eben.« Das tröstete. Mitten inne diesem kindischen
Gekeif stand ab und zu etwas wie ein Druckfehler: »_Liebe_«. Ja,
wahrhaftig. Liebe wie Geifer vor dem Mund.

»Ich aber sage euch: liebet eure Feinde ... denn so ihr liebet, die euch
lieben, _was werdet ihr für Lohn haben_? Tun nicht dasselbe auch die
Zöllner?«

-- -- Also auch hier -- selbst hier noch das ehrwürdige Wort! Alt und
süß wie die Welt! Allen Söhnen der Sonne eingeboren mit dem ersten
Hauch. Da stand es: Sturmbock in Vordersätzen -- als Kontraimitation der
Zöllner -- oder gar prostituiert mit »_Lohn_«? War das noch Liebe? Alles
Warmblühende, Taumelnde, Sternenkühne dahin, als wäre das ewige Wort in
einen Mülleimer gefallen, aus dem Bucklige mit schiefen Fingern einander
damit bewürfen. Seine klare Keuschheit war irgendwie dahin, das von
selbst Verständliche: somit Anmut -- Weite -- Würde. Selbstgefällig,
aufgeblasen, mit Protzerei, ja Schadenfreude fletschte es seine Zähne,
dieses: »Liebet eure Feinde«. Ausschließlich um strahlende Sieger zu
belästigen, wie es schien: »So -- jetzt habt ihr auch nichts davon.« --
Liebe als Antithese: aggressiv statt schöpferisch.

»_Louche_,« -- fühlte er, »schlechthin _louche_.« Und wie kam es, daß
hier immer nur vom »Nächsten« -- vom »Feind« als Objekt der Liebe die
Rede war? Wo blieben Tiere als Ebenbürtige? Wo Blumen, Wellen, Sonnen?
Wenn Erkenntnis das Ich aus seinen Rändern reißt ins grenzenlose
_Tat-twam-asi_; wenn in die wogende Fläche des Geistes: den Träger der
ganzen Erscheinungswelt, die Iche stürzen und sich erkennend zergehen:
was soll da klein und futil herausgeeinzelt der »Nächste«, der »Feind«?
Das Wort ist sinnlos geworden. Welche Präpotenz dieses kleinen
Volkslehrers, dauernd so zu tun, als habe er die Liebe erfunden.
Überdies: Kein Wort vermeidet doch ein Mensch von Feingefühl so sehr wie
eben dieses. Er spricht es nicht -- schweigt es aus. An ihm wird die
Zunge ein dunkler Vorhang voll Scheu. Doch hieß es nicht irgendwo in
einem grotesken Sprichwort: »Wer keinen Schnaps hat, spricht wenigstens
von ihm.«

»Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die _Heiden_.«

»Heiden«. Also immer noch die alte Arroganz aus Ignoranz. --

Nun, der Mann schien selbst nicht eben wenig zu sprechen. Da waren
Dutzende der ermüdendsten Tautologien: Gleichnisse, unanschaulich aus
dem ewigen Mangel an Natursinn, einige dezidiert verunglückt: »Das
Himmelreich als das Größte unter dem Kohl ...« -- Auch eine Predigt war
da: gegen die Bildung, wie es schien. Überhaupt komisch, diese Wut gegen
alles Wohlgeratene; dieser Hang zur Kontraimitation mit gehässiger
Tendenz: »Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöhet werden. Viele werden
die Letzten sein, die die Ersten sind, und die Ersten sein, die die
Letzten sind.« Keine schöpferische Idee. Nur aggressiv: »Ihr sollt nicht
glauben, daß ich kommen sei, Frieden zu senden auf die Erde. Ich bin
nicht kommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert.«

»Und weiter sage ich euch: es ist leichter, daß ein Kamel durch ein
Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher ins Reich Gottes komme.«

Was hatte denn Armut oder Reichtum: äußere Zustände mit dem mystischen
Aufbrechen der Lotusse in den Ganglien zu tun? Diese allein durften doch
das »Reich Gottes« heißen, sofern es für Erwachsene Sinn haben sollte.

Doch genug. Noch immer peinlichen Befremdens voll, schob er das Buch an
seinen alten Platz. Schloß dann die Augen -- hob das Haupt zurück in die
goldne Wolke des Vedanta:

»Hier im Herzen inwendig ist ein Raum, darin liegt er, der Herr des
Weltalls, der Gebieter des Weltalls: er wird nicht höher durch gute
Werke, er wird nicht geringer durch böse Werke. Denn das ist unser
Schmuck und Stolz, daß nach Erkenntnis der Seele als Brahman alles
_Tun-Sollen_ aufhört, sowie alles _Getan-Haben_.«

»Wer in sein wahres Selbst einziehen will das >Seiende<, Unzerstörbare,
muß seine _guten und bösen Taten draußen lassen_.«

»Weise und ohne Falsch und frei von Begier in dem Gewoge, steht er als
Schauender und ohne Zweiten, er, dessen Welt das Brahman ist.«

»Ihn brennet nicht, was er getan und nicht getan.«

Die lange Welle des großen Atems -- wie so oft -- ging wieder durch ihn,
und rein, als etwas, das irdisch nur dem lebendigen Glockenbrausen in
einem Bienenschwarme sich vergleicht: unantastbares, geflügeltes Glück
aus Glocken und duftendem Gold.

Wusch die Hände. Während der Strahl über seine glänzenden Nägel sprühte,
kam noch einmal unangenehm das Staunen zurück:

»Ethnographie in Ehren. Aber ist es denn wirklich nötig, den
Privatfetischismus jeder kleinen Barbarenrotte, die je gelebt, zu
registrieren und zu bewahren?«

Und dann vergaß er es. Denn er wollte mit den Frauen noch unter die
Frühlingsgestirne in den Garten spielen gehen.

                   *       *       *       *       *

Vor dem letzten Rasthaus schwingen im Mondlicht die schlafenden
Elefanten.

Durch den Silbernebel der vier ragenden Massen geht lautlos ein
Riesenrhythmus lebendigen Traums. Schwereloses Schlingern und Rollen vor
und zurück, die Tonnenflanken und das gehöckerte Haupt hinauf; von
Kautschuksäulen elastisch aufgefangen -- wieder rückgeleitet zu dem
stillen Herzen, das voller Sanftmut mitten inne steht.

Jenseits der kleinen Lichtung schwingen noch leise die Luftwurzeln der
Banjanbäume mit, aufgeweht vom Wind der Fächer-Ohren, wenn sie um die
geschlossenen Augen streichen. Ewig wache Rüssel aber umtasten wie in
leiser Orgiastik die silberne Schwerelosigkeit der Nacht. Da reckt
Rama-Krishna den seinen weit -- mit dem schönen Schwung eines weisenden
Frauenarms. Steht still. Hat träumend die Herrin erfühlt. Und die zu
Tragende erwartend, bricht er lautlos in ein mächtiges Knie -- das andre
zart gespreizt und vorgeneigter Schulter --: leichte Leiter für die
leichte Last, die er so manche Tage nun schon über Land getragen; und
endlich hier herauf die duftenden Terrassen bis unter den Gipfelkopf des
heiligen Bergs.

Daß es jetzt zu steil würde für ihn, zu schmal für seinen Bauch, daß er
und die andern Reitelefanten bei dem Mahaut mit dem Ankus zurückbleiben
sollten, das konnte er nicht wissen, wiewohl er ein Weiser war unter den
Weisen.

Gargi, die ihn so dienen -- knien sah, schlang die Arme um seinen Hals,
steckte ihm ein Lianensträußchen hinter den Ohrenfächer, ein langes
Zuckerrohr aber in die ganz und gar dumme Säuglingslefze. --

Dankend schmeichelt die Rüsselspitze -- wie eine Hand voll Geist -- um
ihre unbegreiflich edeln Arme. Ein Wink heißt Rama-Krishna sich in die
Höhe richten, dann nimmt der Banjanschleier die Herrin auf; Luftwurzeln
rinnen hinter der Diaphanen zusammen. Nur vom Zuckerrohr, dem saftsüßen,
ist noch ein Stückchen da. Und wie es zergeht, zergeht auch die
Persönlichkeit, an der die Welle des großen grauen Traums sich brach.
Wieder einfallend in den Riesenrhythmus lebendigen Schlafes, schwingen
im Mondlicht die vier wartenden Elefanten.

Zwischen drei Fackeln steht der Schikari Aditja. Zwei brodeln grün
aufwärts in die Mangroven. Drunter hängt sein weißer Turban: eine
phantastische Ampel im Schwarzen über schwebenden Elfenbeinäpfeln: den
Augen. Der dritten schräggesenkter Schein beleckt einen Klumpen
metallner Eheringe an den Wurzeln seiner ausdrucksvollen Zehen. Jeder
Ring ein ineinandergeflochtenes winziges Paar: das Männchen Messing, das
Weibchen Silber. Jedes eine neue Liebesverschlingung; alle von
grandioser, übermenschlicher Unanständigkeit. Zwischen Turbanampel oben,
Zehenringen unten ahnt man, als Schweifendes, den sehnigen Jägerkörper
aus verdichteter Nacht.

Sie steigen ins Steile -- jeder mit seiner Leuchte; der Schikari voraus
auf trocken schmalen Sohlen, fegt Flammen ins obere Dunkel, aus dem,
treibt Hunger sein Eingeweide, der Panther sich zuweilen auch auf
Menschen niedertropfen läßt. In Pausen stößt aus Aditjas Kehle etwas wie
gezischter Vogelschrei: verwildertes, gleichsam bewaldetes: heiii -- --
heiiiiii! Damit die Giftwesen unten rechtzeitig zur Seite schmelzen
können, was durchaus in ihrem eignen Interesse gelegen ist. Denn wozu
schwer nachzuschaffenden Betriebsstoff an Beute verschwenden, bei der
ein so dickes Ende nachkommt, daß an gedeihliches Verdauen doch nicht zu
denken ist. Kein realer Fond in der Unternehmung. Mit steigender Höhe
wird der Boden härter, Aditjas »heiiii« schütterer, bis es ganz
erlischt.

Stille hängt -- ein schwarzer Kessel -- über den Dschungl gestülpt.
Lautloses Schicksal geht suchend durch die Finsternis mit
phosphoreszierenden Lichtern. Niemand schläft, niemand gibt Laut. Nur
dumme Papageien dösen irgendwo oben vor sich hin. Manchmal ratscht ein
Halbwüchsiger aus seinem Angsttraum eine Formel herunter, oder ein ganz
Alter, der es an der Leber hat, versucht mit dem Nachbar unzeitgemäße
Betrachtungen: dann ein Hacken Horn auf Horn. Und immer muß er recht
behalten. Auch gegen die Wildkatze. Unten räumt man ihm schon den Bauch
aus, und oben spricht er noch. Endlich ist sie im Menü so weit, beißt
ihm das letzte Argument in die Kehle zurück, und alles atmet auf.

Wieder steigt Stille im Dschungl bis zum Bersten. Schweifende Formen
entschälen sich dem Dunkel, schmelzen zurück, treten ins Blut;
einbezogen, zugehörig wird der Mensch auf göttlichem Umweg Tier.

Kleine, harte, vielgestaltete Herzen klopfen nach innen hinauf in die
gesteigerte Stunde des Lebens vor dem Tod. Wollüstiger Irrsinn der
Angst, Seherschaft der Angst, seidne Pracht des Sprunges und der Flucht:
Kuß, Biß, Hunger, Mord, Liebe, geballt wieder zu einziger, zitternder
Intensität. Täter und Leider: Genießer beide. Worte erhalten Ursinn
zurück als wilde Krone: Gegen--stand, Hingerissenheit -- Besessenheit.

Es lauert aus den Nieren der Dinge.

Unter dem Gipfelkopf rasten sie, vogelhaft eingehüllt in Grün. Pflanzen
lecken ihre Hände mit fleischigen Zungen. Irgendwo aus einem
Felseninnern kommt dunkles Dröhnen, vage Erregung vieler Körper. Als
zitterten Metalle und Menschen im Berg. Aditjas spitze Ohren zucken auf,
wie bei einem träumenden Schakal. Dann, sein flimmerndes Gebiß
entblößend:

»Rhodias Sahib. Es ist die Nacht der Shivatänze.«

Horus erhob sich, angesogen von ziehendem Tumult. Fühlte sich nicht
gehen, eher gleiten als Nadel ins magnetische Feld. -- Ließ es
geschehen. Denn es lag im Gefüge seines Karma, an nichts vorbei, durch
alles hindurch zu streben aus einer hochgemuten Art heraus, denn: Gargi
und das Haus Elcho hielten ihn, zwei Polen gleich, blanker Sohle zu
schlendern durch die Willkür jedes Sudels.

Bog Schlingranken vom Eingang. Ihre Laternenblüten, weich wie
Kinderhaut, bestäubten ihm Schulter und Brust. Trat ein. Die Gongwelle
schlug ihn fast um. Fackeln in Ringen atmeten gelbwehendes Messing über
die Felsenwände. Doch blieben dort und da quecksilberne Lachen von
Nacht, in die des Jasmins wächserne Ketten als Senkblei verschwanden.
Ihr Duft überredete gleich einer Frau. Mit den Armen schwamm er
hindurch.

Fiebrig Männliches aus geröstetem Hanf traf seinen Atem. Bläulicher
Aasgestank stieß von irgendwo in den Ritus. Auch das Saure von Metall,
anliegend Menschenkörpern. Wie Meer gekrümmte Rücken wogten ringförmig
um ein Piedestal. Ring in Ring, Welle hinter Welle: ölig -- nackt. Die
Gesichter unsichtbar, bodenwärts zugekehrt einem Zentrum: Shiva.
Schneeweiß, entrückt, ascheübergossen hockte der Gott. Neben ihm sein
Stier Nandi. Vorn, aufgereckt aus Palmenmark: Durga, die fischäugige
Gattin. Durch ihren herrlichen Tigermund geht querhin ein wagrechtes
Schwert voll Blut.

Horus fühlte einen Atem aufrecht neben sich. Mit hochausgeschnittenen
Zügen, ein schöner Ephebe, wohl Fremdling so wie er in dieser Höhle, sah
auf die gierbereiten Rücken aus Augen, blauschwarzer Gedanken voll. In
Sehnsucht und Verachtung. Jetzt stiegen die Gongs zu einem Taifun. Auf
seiner Spitze brach ein Riß durch die Rückenwellen, als wirbelten
Trichter aus Fleisch: jeder zweite konzentrische Ring warf sich um seine
Achse herum. Rücken sog sich nun an Rücken fest, zu einem obszönen
Bogen. Obszön, denn es war kein wählendes Auge an ihm. Jeder Mund verbiß
sich in einen Mund, der nicht zum Leibe gehörte, mit dem er in blinde
Vermischung fiel. Hanf, Jasmin, Aasgestank trieben durch die Nüstern
Unzucht miteinander. Eine Pause, und aufgetrieben von metallenem Geheul,
warfen die verfleischten Ringe sich aufs neue blind herum. -- Aus dem
Schweif des Auges erkannte Horus, daß der schöne Knabe mit den
hochausgeschnittenen Zügen nicht mehr an seiner Seite war. -- Jetzt,
inmitten der Orgie, sah er auch die Köpfe der _outcasts_: der
kastenlosen Rhodias. In rassigen Tierkörpern allerhand rasselose
Menschengesichter, schlechte Nasen, schief, flach -- noch von keinem
edlen Atem hochgewölbt. _Outcasts_ eben, die das züchtende Joch der
Kaste auf sich zu nehmen unfähig geblieben.

Mit kalter Schulter drehte er dem Ausgang zu. Unerregt, kaum angeekelt,
so fern diesen in seinem klaren Blut. Ein Queres vor dem Eingang ließ
ihn stocken. Da lag der schöne, leidend stolze Knabe der Schlingranke
vermählt. Erlöste sich in einen ihrer fleischig zarten Kelche, indes
sie: eine androgyn Geliebte, aus drei Blüten sich ihm in Mund und Hände
als golden-mildes Mehl ergoß. Sanft -- fast andächtig stieg er über ihn
hinweg.

Feiner Schauder der Frühe erhob sich gipfelwärts. Kleiner, intensiver
wurden alle Dinge hier oben. Greller, herber. Gerannen zu Klumpen
Herzblut an den Rhododendren. Nur Deodar-Zedern stiegen noch hoch auf,
und abgeplattet im Himmel lagen die ringförmigen Federsterne der
Araukarien.

Es roch nach der Essenz Gottes.

Leichte Schritte lebten auf, verdichteten sich aus allen Richtungen der
Pyramidenspitze des heiligen Berges zu. Ein Pilgertag. Stimmen silberten
in Lachen, das ein tönendes Lächeln war. Aus Büschen streifte ein
Nachtpfauenauge hervor oder das Samtgesicht einer Frau. Von überall
feine Wesen, ein Kind auf der Hüfte, waren die ganze Nacht gestiegen und
doch wie unbeschwert auf ihrem Sandalenfächer, der nach den Zehen
wunderbar abgestuft, die erste übertrieben von den übrigen schied, so
daß Spitze, Ballen und Innengeburt der Ferse eine Gerade zu bilden
gezwungen waren. Neben Schmäle von Schenkel und Knie das Geheimnis
tropischen Frauengangs.

Noch ein paar Sprünge aus dem Moosigen ins Kahle und in den Tag. Denn
schon trug hier oben die süße Brust der kleinen Vögel des Nestes Rundung
entbunden durch die Luft.

Da erschuf sich mit Eins riesenhaft aus dem Leeren ein saphirner Kegel
-- hing durchsichtig: wie geisterhafter, tiefblauer Kristall, an zwanzig
Vollmonde groß, frei im Raum; den ganzen westlichen Himmel erfüllend.
Blendend, beängstigend und unbegreiflich, als hätte ein sehr aparter und
eigenholder Djinn geruht, sich einen Leib aus Äther und aus Stahl zu
bauen. Schwebte ohne Ort -- hart, doch unirdisch, fast mit Händen
greifbar und auch wieder an den Grenzen der Erdatmosphäre zugleich;
stahlblauer aus-sich-selber-seiender Gott.

Bis, wie von Glanz befiedert, ein Büschel goldner Pfeile von der
schwirrenden Sonnensehne her quer durch die Welt brach -- und in seinen
Leib. Da, nach rückwärts auseinander weichend in immer weiteren,
eisgraueren, durchsichtigeren Kegeln, schwand er, bis der letzte so groß
war wie das Nichts.

Leicht aufschauernd sah Horus in das zerplatzte Juwel. Es war nur der
Schatten des Gipfels gewesen, auf dem er selber stand, von der östlichen
Sonne in seinem Rücken auf eine trübe Dunstbank geworfen, die jetzt
zerrann. Nicht mehr fasziniert von dem westlichen Phänomen, merkte er
sich auf einmal abgekehrt, arrhythmisch, in seiner Blickrichtung allein,
denn alle andern neigten dem Lichte zu.

Da wandte sich auch er. Und im Augenblick des Querstands sah er die
Menschen, alle flimmernd vor Aufgang, wie noch nie. Sah die ätherischen
Lichtbündel von drüben in ihnen endend als Figur. Fühlte: so stehen
können in freier Ehrfurcht ist alles. Ununterjocht von seinen Gliedern,
in Gewändern edel und belebt. Begriff die _Ränder der Dinge_, begriff:
wie sich etwas gegen alles andere, gegen das Gestaltlose abgrenzt, macht
seine Berechtigung aus, da liegen Wert und Unwert der Persönlichkeit;
und zu dem der Kontur jedes Wesens redet, der ist lebendig geworden an
seinen Augen, der geht den Weg des Auges in das ewige Licht.

Sah Männer -- Frauen -- Kinder: jedes in geheimnisvoller Sonnenschrift
mit dem Ende des Strahls auf ein Stirnblatt von Stoff geschrieben. -- In
freier Würde, nobler Folgsamkeit gegen ein hoch über seine Einsicht
hinausragendes Kräftespiel, glitt jedes an die gewiesene Stelle: reiner
Buchstabe, gehorsam seinem Ort, auf daß mit seinem Leib das verborgene
Wort aus unerschöpflicher Tiefe her sich bilde; auch jederzeit bereit,
weggelöscht zu werden von der Tafel jener großen Sonnenschrift.

Ohne würdeloses Zappeln. Denn er hatte sie sterben sehen, diese Wesen
aus dem Blut der Sonne -- wie oft: in Pest und Hungersnot. Wie sie die
edelbewahrte Persönlichkeit, den wundervollen Kontur verließen, um
lächelnd im Tod alles andre wieder werden zu können, und doch wuchsen
ihnen kühne Paradiese hinter den schmalen Stirnen, und aus ihrer Mitte
traten Gewaltige heraus, auf deren Wink die Zeit gerann -- zitternd
stand -- oder zerfiel.

Er sah in diesem Sonnenaufgang an ihnen das tropisch schwerelose Mühen
und Sterben als untrennbares Kontinuum gelebt. Sah in das wallende
Gespinst aus Laubkronen, Vogelflug, Sonne, Küssen, Quellen, Atem den
leuchtenden Todesfaden geschlungen: Ariadnefaden in die Freiheit;
jederzeit wieder alles sein zu können: Blume, Tier, Licht. -- -- --

Wahn des Tuns fiel ab von ihm:

»Vielleicht ist Arbeit Sünde.« -- Der mit dem Aschenauge: sein
verborgner Führer, wußte es gut: nichts berühren, was aus Arbeit stammt.
Nur dort leben, wo die schöpferischen Wellen vieles Lebendigen durch uns
gehen, das magische Fluidum aller freien Geschöpfe uns erfüllt und trägt
wie zeugender Äther. Verwoben all diesen war er mit dem Blutnetz seiner
ganzen wundervollen Jugend. Wußte es wie noch nie in diesen Tagen des
Abschieds, da er reif und frei, auf festlich erhöhtem Deck, endlich
hinübergleiten sollte zu den Wesen wie aus Schnee und Gold, in ihre
weiße Welt.

Einen Augenblick sprang sein Herz an das Gitter des Entschlusses. Doch
er hielt. Würde -- mußte halten, auch bei anderm Abschied noch: Erasmus.

Die Elefanten drehten heim. Da warf er sich aus dem Palankin von Gargis
Seite flach nach vor -- nichts mehr vom Abschied sehen -- preßte das
Gesicht zwischen die Stirnbuckel Rama-Krishnas, verging dort im Geruch
von Met und Sand. Wie Tafft rauschten die zerfransten Ohren auf. Im
luftigen Wiegen des Elefantenganges kamen und fielen rhythmisch in ihn
die Jahre vor seiner Mutter Tod. Waren ein unaufhörliches Fest gewesen,
als fühle jede Stunde sich gedrungen, ihre ganze Wahrheit auszujubeln.
Fließende Steigerung, klarer Rausch schien auszugehen von den silbrig
erweiterten Augen -- dem Schatten verhohlenen Drogengeruchs um die
Nasenflügel der Nicht-Kranken, Nichts-Leidenden, nur immer Zarteren, als
verwehe sie in Dekoktionen von Halmen und Gräsern, zwischen Ausbrüchen
ihrer kindlich frohen, burschikosen, purzelbäumigen Lustigkeit. Es war
etwas so Menschliches: dies Über-allem-Stehen, gab ihr den
zeitlos-alterlosen Charme: -- hatte ihn gegeben. Nun lag ihre Asche im
Fundament des Riesenrefraktors eingeurnt.

Langsam stieg er zum Kuppelraum und seinem Flügel auf, den Erasmus
selten mehr verließ, seit dort, über Diana Elchos zerfallenem Herzen,
das große Auge in den Raum wuchs.

Wie lang so eine Wendeltreppe war: ein ganzes Leben lang. Er stieg sehr
still, denn viel kam er zu bitten. Ihm war, als zertrete er Geist mit
jedem Schritt.

Kam, den großen Freund niederzuzerren aus dem Reich, wo man, der niedren
Sorgen frei, »vermittelst eines unzerstörbaren Erzgefäßes aus den fünf
Brunnen schöpft.« -- Auch hemmte ihn Erinnerung an etwas in van Roys
Gesicht vor seiner Mutter Tod. So, als wöge ihn dieser mit den
Augenschalen, ob er »es« wert. Irgendeinen verborgenen Preis wert, --
vielleicht war es Einbildung gewesen? Die Herzlichkeit im Geistigen
hatte niemals nachgelassen -- Erasmus zog sich nur auf ein großes,
jahrelanges Werk zurück. Duldete außer Gargi niemanden um sich. --

Horus trat ein. Etwas wie Glas und Schnee lag in dem stillen Kopf über
der elastischen Gestalt. Sterngraue Augen sahen in seine goldnen. Sahen
den Abschied. Er frug nicht, wie lang.

»Sei meinem Kind, was du mir warst. Solange ich fort bin.«

Erasmus wies um sich: »Ich habe noch so viel zu tun und vielleicht nicht
mehr viel Zeit.«

»Sei Gargis Sohn, sei meiner Mutter Enkel, was du mir warst.«

»Geht Gargi mit dir?« -- Sah die Augenbrauen des Erstaunens, winkte
lachend ab. Dann resigniert: »Es soll geschehen -- ich werde alles tun,
so gut ich es nur irgend weiß und kann.«

Noch hatte er an Gargi nicht die Zumutung gestellt, um seinetwillen ihr
Kind so lange allein zu lassen. Besonders, da Jü-Chuan, von der er
Liebe, doch niemals Kinder so fremder Rasse sich gewünscht, nach China
heimgekehrt war, um eines Jugendfreundes erste Frau und Mutter seiner
Erben zu werden. --

Da nahm sie die Pein des Wortes von ihm. Dem ungeheuren weißen Dasein
endlich so nah, war er in seliger Versunkenheit zu den Kraftanlagen,
dann durchs Haus der Elchos gewandert, vom Orgel- bis zum Statuensaal.
Blieb, das Wesen der Pallas und Nausikaa im Blute, wie grüßend vor einer
Kore stehen: »Bald werde ich dich leben spüren.«

Da rührte ihn eine Stimme an -- ganz zart:

»Darf ich sie suchen helfen?«

Er beugte sich über ihre lange Hand: »Meine liebe Gazelle.«



                              Zweites Buch


Europa nahte.

Durch schweren Nebel pflügte sich die Jacht Marseille entgegen. Nur
draußen vor Aden hatte sie Kohlen eingenommen. Orient zum letztenmal.

Wie losgelöste Stücke rotbrünstiger Klippen, waren ihr von der
Steilküste nubische Knaben entgegengesprungen in eine kobaltblaue See;
zwischen den Lippen Dolche und auf ihre feuerfarbnen Schöpfe
festgebunden Amphoren aus buntem Strohgeflecht, gefüllt mit lieblich
freien Dingen handwerklichen Spiels. -- Man hatte die Knaben beschenkt,
doch nicht jäh entlassen, so dankten ihre Körper durch Tanz auf der
Violinenbrust des Decks; warfen aus blanken Gliedern empfangene Freude
den Spendern zurück.

In der Reeling spiegelten sich, metallisch ins Messing gewölbt, breite
Nilaugen, wie nasse Kastanien braun und weiß, und Hennarot schroffer
Schöpfe.

Ganz nah um das Schiff stürzen pausenlos, in goldbraunen Ellipsen die
Falken von Aden. Ihre schrägen, jähen, stets geschlossenen Kurven
scheinen ein neuer, rotierender, geisterhafter Körper im Raum, als
dessen milchweißes Herz die Jacht steht. Geruch durchsonnten Gefieders
steigt und sinkt mit ihnen: paradiesisches Zimt, verbrannt auf
Flügelaltären hundertfach.

Schwingt am Seil des Lichts einer der großen Körper schräg um den Bug,
dann -- auf Armesabstand -- wendet der Blau-Bekrönte aus göttlichen
Schultern heraus ruhevoll das Haupt. Sieht lidlosen Auges golden in das
Auge der Menschen.

Dann steht sein Flug und in ihm die Zeit. An einem Faden Licht hängt er
vom Scheitelpunkt der Ewigkeit herab, mit gebreiteten Schwingen aus
stillem, schwerelosem Stein.

So also: hellgesäumt, sich myrtenblättrig überlappend steigt das
Gefieder auf von Hals zu Haube. Zweihundert Federchen -- dreihundert --
dreihundertvierzig. Nein, nur genau. Noch einmal zählen. -- Da schlägt
ein Augenlid die Zeit. Schwächlich, menschlich.

Hochmütig und befremdet ab kehrt sich der starke Vogelblick. Schräg ins
Geschehen schlagen wieder Schwingen und verschwinden.

Die Flugbahn eines mächtigen Sperbers war immer wieder vor dem Bugspriet
knapp an Gargi vorbeigestrichen, die, von mondsteinfarbnen Schleiern
umweht, ungeblendet im fließenden Licht stand. Jedesmal in Herznähe
wandte sich der große Vogel, sah grell in den unbegreiflich sanften Samt
ihrer Augen. Sie rief ihn an. Bog das nächste Mal ganz sich ihm
entgegen; warf ihren Schleier nach seinem Hals. Das erschrockene Tier
hackte zu, durchstieß mit Schnabel und Kopf das dünne Gespinst, und so,
umwallt von dem Schleier der Frau, stieg es und trug ihn, sich steiler
und steiler schraubend, immer neue Sphären aufreißend, in einen
lotrechten Trichter von Licht.

Sie sah ihm nach, verzückt zurückgeworfen. Hochgereckt zum Flug: auf
federndem Zehenfächer ein befiederter Pfeil.

Da griffen gewalttätige Hände von rückwärts um sie.

»Man streut Mythen aus!«

Hart und geschickt senkten sich zärtliche Fangzähne um die Knöchelchen
ihres langen Nackens. Dann -- sanft schnurrend -- eine Pranke auf der
Beute, löste Horus seinen Biß aus dem Schmelz von Gargis Haut. Dort
blieb die zweiunddreißigzackige »Perlmuschel«: sein Privatsiegel.

Im Roten Meer ließ er sich den Kapitän kommen:

»Sie vertreten mich, bis der Kanal passiert ist. Port-Said, Suez, nur
den nötigsten Aufenthalt. Sind wir im offenen Mittelmeer, so melden Sie
es in meine Kajüte. Dann täglich das Logbuch, sonst nichts bis
Marseille.«

Der Japaner nahm die Papiere, verbeugte sich. Er aber schritt --
ehrfürchtig fast -- die leichtgedrehte Treppe abwärts. -- Der
Geburtsweg! Treibt es mich das nächste Mal aus diesem milchweißen Bauch,
ist es in unerhörtes zweites Leben hinein, wie es wenig Sterblichen
vergönnt. Dann reißt mir die Eihaut des Auges vor der weißen Welt. Ganz
und auf einmal. Kein gottverbotenes: »allmählich« für mich -- -- ho ho,
nicht für mich.

Er schlug den Blick zurück: jugendwärts; küßte mit den Wimpern die
Erinnerung, Diana Elcho. Wand sich genießend langsam die Treppe hinein,
wie in eine Schraubenmutter. Von Holz zu Holz, dem starken, reinen,
messinggesäumten, sank er; aus seinem Herzen aber stieg es noch immer
wie ein Faden Licht, hing ihn an den innersten Trichter Gold, den
unbeirrbar aufkreisend der Sperber, von Gargis Schleier umwallt,
lotrecht über ihm in den Scheitelpunkt der Bläue eingekerbt. Als letztes
Bild aus dem früheren Dasein wollte er dies hinübernehmen mit sich in
die neue Verkörperung.

Versiegelte dann seine Sinne für alles Droben und Draußen, sammelte sich
in Ehrerbietung der ungeheuren, weißen Freude entgegen. Das Werk für
diese äußersten Tage lag längst bereit. Er schlug es auf: A. Einstein,
»Zur Elektrodynamik bewegter Körper.«

                   *       *       *       *       *

Die Maschine stand.

Ächzen der Taue von einem starren Drüben. Die Eingeweide der Jacht
schoben sich schief. Noch ein paar Schraubenwirbel nach rückwärts. Sie
lag Europa an. Die Schenkel hatte er sich auf den Stuhl niedergepreßt,
mit Griffen wie Klammern, diese letzte halbe Stunde, jetzt flog er
hinauf, sprang hinüber: alles zu erleben mit ausgebreiteten Armen.

Stand in Europa.

Fühlte sich an diesen liebeeröffneten Armen beiderseits gepackt. Fahler
Gestank nach toter Haut unter schweren Stoffen traf ihn aus den Ärmeln
zweier Geschöpfe heraus. Sonst staken sie bis zum Kleinhirn fest in
hartem, schmutzigdunklem Gewebe und vielen Metallknöpfen an der Leber.
Auf dem Kopf stand ihnen ein zweiter Kopf aus finsterem Blech mit Schild
und einer Nummer.

»Halt -- verboten. Erst die Hafenpolizei, -- zurück!«

Irgendwo schlug es Mittag. Da barst über der Erde ein Geheul, johlend
vor böser Länge -- klagender Wut. Es war wie das hoffnungslose, tote
Geheul, mit dem ein Unding sich selbst bejammert.

Ganze Beete von Sirenen vomierten ihre schrillen Trichter in eine Wunde
aus widerwilliger Luft. Die Arme sanken ihm. Er blickte auf. Dunkle
Schwaden schwimmenden Kotes hingen in der Atmosphäre. Die Technik
benützte den Himmel als Kloake der Zivilisation. Kanalisierte ihre
Exkremente verkehrt in ihn hinauf -- reduzierte sein Blau zur Latrine.

Zurück eskortiert, stieg er noch einmal in den reinen Leib seiner Jacht
hinab, hinter den zwei Blechköpfigen drein. Jetzt nur kein Nachgrübeln,
was denn diese beiden unter Europäern zu suchen hatten, deren Rasse sie
doch nicht angehören konnten; lieber gut anschauen. Eigentlich war da
nur ein Streifen Haut im Nacken übrig; wo der harte Stoffring dran rieb,
hatte der eine ein aufbrechendes, der andre ein abheilendes Furunkel.
Sonst war rückwärts nichts Lebendiges an ihnen frei sichtbar.

                   *       *       *       *       *

Der Japaner hatte alles geordnet, man durfte da sein.

Diesmal schob sich draußen an Land ein amorpher Lebenshaufen umher.

Stumme Klumpen hatten sich von ihm gelöst und vor der neuen Jacht mit
ihrer rein asiatischen Bemannung gestaut -- in merkwürdig vag geballter
Mißgunst.

All diese Wesen schienen es noch zu keinem einheitlichen Körper gebracht
zu haben. Sahen irgendwie aus, als trüge jeder die ausrangierten
Gliedmaßen eines andern auf: fremde Beine in eignen Hosen, und diese
wieder unpaar. Sammler von Organteilen ebenso gemischter als
einwandvoller Provenienz. Auch an Kolorit: bräunlich, gelblich oft,
manchmal violettgesprenkelt, meist aber wie mit fahlem Eiter statt Blut
gefüllt, erschien die Haut.

Wer mochten diese mißfarbigen Barbaren sein?

Sie schienen sich ihres trüben Baues jedoch keineswegs bescheidentlich
bewußt, zergafften vielmehr mit hämischer Überheblichkeit das
rhythmische Arbeiten der gelben Matrosen. Als jetzt die beiden
morgenländischen Gestalten auf dem Landungssteg erschienen, brach der
Haufe, ohne ersichtlichen Grund, in ungezogenes Gebaren aus. Der Japaner
näherte sich, und hinter dem gelben Tarnhelm seiner Gesittung hervor:

»In Port-Said mir erlaubt, Nötiges für erhabene Ankunft besorgen. Sir
und Lady zu schönes Gewand. Risken Insult. Wenn aber insultiert worden,
Sir und Lady dafür eingesperrt.«

Dann mit kaum merkbarer Ironie vor des andern blanker Miene, die zu
fragen schien: »Was geht es Menschen an, wenn andere Menschen anders
gekleidet gehen?«

»In der erhabenen Heimat von Mob mißhandelt werden verboten -- für
Mißhandelten. In der erhabenen Heimat das heißen: öffentliches Ärgernis
erregen.«

Jetzt war er endlich ebenso töricht, kläglich und schmerzhaft gekleidet,
wie der amorphe Haufe drüben. Nun, im Inneren der weißen Welt konnte man
das ja alles wieder abtun. Um viele Weihestätten gab es üble Gasgürtel
von unbegreiflicher Pest; in unmenschlicher Vermummung mußte der Sucher:
der Zu-Prüfende, hindurch.

Unbeirrbar im Wohllaut seiner Pulse -- unangreifbar in seinem eignen
Kraftfeld schritt er -- Gargi auf den Armen seiner Seele -- in den Ring
aus fahler Mißzucht hinein.

Nur einmal zuckte es doch in ihm auf: irgendein Kerl, Fäuste in
Hosentaschen, hob auf gespreizten Fersen, mit vagem Hohn Gargi seinen
Geschlechtsteil entgegen, pfiff durch Lippen, an denen jeder räudige
Hund genagt:

»_Oh la la -- les petites fesses!_«

Die weiße Glorie ließ ihren Saum auf grauenhaft raffinierte Art behüten.

Hinter dem gestauten Haufen längs des Kais zappelten oder trollten andre
Massen aufgelöst nach allen Richtungen in gemörtelte Zeilen hinein,
deren einzelne Bauglieder nicht organisch -- nur durch eine Art zäher
Räude -- endlos aneinanderklebten.

Gegen das Zentrum der Stadt riß diese zähe Räude öfter zu Plätzen auf,
und dazwischen ragte groß aufgedonnertes Gerümpel, rattenhaft
angeknabbert von allerhand Stilen, und an ihm irgendwo ganz draußen
stand meist: _liberté -- fraternité -- égalité_. Auch ein Gasometer mit
Apollo kam. Den Eingeweiden des Gebäudes entquoll es figural.
Bruchbänder aus Marmor hielten das dann alles wieder leidlich um seinen
Bauch zusammen fest. Oft vor solchen Bauhaufen -- wohl an großen
Kreuzungen auch -- standen bekleidete Männer aus Bronze, denen
unbekleidete Frauen Kränze, Partituren, Pinsel und Wagen hinstreckten.
Oder das Auge erwischte, gerade noch, ehe sie auf dem Pflaster
zerschellen würden, über Postamenten metallne Gäule, sich ein
Eisenstäbchen in den Huf tretend und hinten auf etwas, halb
Stützschwanz, halb Kaskade, gebäumt. Von ihren Rücken herab schwangen
Wilde in Affenjacken Säbel gegen die elektrische Straßenbahn.

Nicht Luft, nicht Landschaft, noch gemörtelten Zeilen, Bauhaufen, noch
Verkehrsmitteln lebendig vermählt, lagen diese Bildwerke: Trümmer von
Stilen, als unverdaute Bronzebrocken im Straßendarm umher.

                   *       *       *       *       *

Und nirgends Europäer. Immer noch trollte es sich am Fuß der
aneinanderklebenden Räude in dieser sonderbar geballten Mißgunst,
keuchenden Freudlosigkeit. Immer noch staken Wesen bis zum Kleinhirn in
falschen Hülsen von der Farbe verwesenden Schmutzes, hatten, wenn auch
ohne Schild und Nummer, den doppelten Kopf: senkrecht über dem Kopf noch
einen. Dafür keine Zehen, keine Füße -- und darum keinen Gang; ja, sie
gingen ohne Gang in harten schwarzen Lederklumpen: Einhufer, doch unecht
auch als solche.

Das -- überall dazwischen -- sollte wohl »Frauen« vorstellen? Aber es
kam so verschieden vom Manne, wie von einem andern Ende der
Säugetierreihe, daher. Schien aus den verreckten Überresten aller Reiche
zusammengestoppelt, als hätte es sich auf dem Schindanger der Natur
ausstaffiert: tote Hinterteile zerfetzter Vögel staken auf dem
Doppelkopf, um den Hals hingen gegerbte Raubtiere mit Glasaugen und
Schnauzen aus Pappe. Kleidung behauptete Organe, die es doch zum Glück
gar nicht gab, oder nur ganz wo anders, und auch dort viel
unauffälliger. Ein hölzern übertriebener Versuch, niedre Lebensstufen zu
imitieren, auf denen das Weibchen derart ungetüm, verkehrt,
unwahrscheinlich und auffallend wirkt, wie einer andern Art zugehörig.
Für die Männchen höherer Organismen ist das dann nicht mehr nötig -- die
merken's schon so.

All diesen Überkleideten, ob Männer ob Frauen, war eins gemein: ihre
Körperteile schienen nicht recht ineinandergeschmolzen vermittelst jener
feinsten Übergänge, als welche allein das Ebenmaß zu wirken vermögen:
anmutbewegtes Leben. Jedes Glied hatte etwas an sich, als wäre es nach
einem doppelten Bruch irgendwo ein wenig verkehrt zusammengeheilt, wisse
nicht mehr in seligem Fluß durch Gewänder hindurchzuschwingen.

Doch auch zum Herdenrhythmus hatten diese Wesen es noch nicht gebracht.
Das überstieß sich unaufhörlich oder zuckte zurück vor Straßenbahnen,
Autobussen, Elektromobilen. Dieses anders bewegte Tote trieb seine
Rhythmen als Keile quer in den Puls der Menge hinein, streckte -- staute
-- zerriß ihn. Alle atmeten ja wie verstörte Frösche.

Zu Hause im großen Äther war das nie gewesen, doch hier schien
Lebendiges in seinem Kreislauf so verarmt, daß es sich masochistisch
duckte und wand, vergewaltigen ließ, oder floh vor dem fremden Tempo der
zugleich untoten und unlebendigen Zwitter. Daß Benzin dem Blut befahl!

Und da war etwas im Blick. In diesen verknoteten oder zerronnenen
Gesichtern war ein Blick: sauer und hölzern, der nicht sah. Als würde
die ganze Umwelt absichtlich in den gelben Fleck der Netzhaut gerückt.
Vielleicht um die Bauhaufen nicht sehen zu müssen, die räudigen Zeilen,
die verwickelten Bronzeklötze im Straßendarm, die trippelnden
Schindanger, sich selbst, oder die Kilometer unbegreiflich aggressiven
Krams, mit dem das gläserne Unterteil der Häuser ausgestopft war. Warum
das auch noch hinter Durchsichtiges rücken, statt in die Dunkelkammer?

Und dann lächelte er doch wieder durch Unbehagen hindurch, wie ein
Geburtstagskind, wenn es regnet.

Das war ja alles noch der üble Gasring -- die Schranke der Schrecken --,
nur unbeirrt weiter im eignen Kraftfeld schreiten, durch alles hindurch,
über alles hinweg, bis man zur weißen Rasse kam.

Es konnte nicht den ganzen großen Geburtstag verregnen. Und dann zuckte
er doch zusammen -- zum zweitenmal heute. Er hatte die Stellung der
Europäerin gesehen: Fäuste in die Hüften gestemmt, mit vorgetriebenem
Birnenbauch, Gekeif vomierend -- hemmungslos. Und der begeiferte Mann,
wiewohl furchtbar von Gebiß, mit von Saublut beschmiertem Schurz und
breitem Messer, schlich eingezogenen Gesäßes vom Grünkramladen weg.
Selbst seinem harten Ohr ward übel.

Fäuste in den Hüften: diese Megären-Stellung der Frau war Indien und
China unbekannt. Zorn erfand dort andere Gebärden.

Über das zerhackte Gezappel des Lebenshaufens floß es plötzlich als
großer Bronzeton Asiens hin -- Chinas. Oh, Glocken. Wie warm. Er sog die
tönende Welle tief in seinen Leib, ging ihr nach über einen Platz --
über Stufen -- durch ein braunes Tür-Kissen in den Duft von erkaltetem
Orient hinein und einen großüberkuppelten, menschenleeren Raum.
Flammicht verschroben war alles an ihm: schraubenförmige Säulen, als
wollten sie jeden Moment, wahnsinnig rotierend, sich in den Boden
einbohren und verschwinden, entließen oben Wolken aus steinigem Eiter;
aus allen Ecken quoll es, bauschte sich grau, mit grellen Papier-Rosen
behängt.

Gewesene Menschen schlurften die Nischen entlang, knicksten vor einem
schlechten, angenagelten Akt. Reste von Weibern waren in triefäugiges,
klangloses Plärren vor ihm versunken. Nein, versunken nicht: ihre
Rattenaugen funkelten dabei aus dem Halbdunkel ganz nüchtern gegen die
beiden freien und stillen Fremden. Er wischte sich die Schleimspur
dieser Blicke vom Gesicht.

Aus graumarmornem Schaum und winselnden Gebärden, aus schrägem Gehimmel
gemalter Posen, von überall kroch es flammicht um den schlechten,
angenagelten Akt.

Um ihn schienen die versteinerten Unluststoffe einer ganzen siechen Welt
zu Prunk geballt. Als hätte ein riesiger und bleicher Buckliger mit
schiefen Leichenfingern sich eine überladene Apotheose eigner
Dekrepidität an diesem Raum geschaffen. Doch warum waren die wonnigen
Glocken und Asias Duft gerade an diesen welken, eigensinnig
verschrobenen Ort für erloschene Menschen gebunden?

Am Tore suchte er nach einem Anhalt, wo er eigentlich gewesen, fand über
dem Portal etwas von »Jesu« oder »Jesuiten«. Es klang ihm wie fernes
Befremden ums Ohr. Hing das nicht mit dem Privatfetischismus jener
kleinen Barbarenhorde, den entlaufenen Sklaven der Ägypter und ihrem
seltsamen »Herrn«, zusammen, in deren Chronik er einmal geblättert?
Hatte so ähnlich nicht der kleine Volksführer mit seiner Predigt gegen
die Bildung, der so viel sprach und den »Heiden« Plappern vorwarf,
geheißen, jener, der sich auch noch gerühmt, Sohn des polternden »Herrn«
mit den schlechten Manieren zu sein.

Ach ja, wie hatte das doch geheißen: »Denen wäre besser ... Mühlstein um
den Hals, wo es am tiefsten ist ... ersäufen.« -- »Da wird sein Heulen
und Zähneklappern« ... »Und werden sie in den Feuerofen werfen« ...
»Denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig«.

Ja, ja, richtig. Also das gab es auch noch; nicht nur in historischen
Fachbibliotheken für ethnographische Kuriosa? Die aggressive kleine
Horde lebte demnach bis heute, hatte hier auf europäischem Boden sogar
eine Zweigniederlassung ihres barbarischen Fetischismus mit seiner Saat
von Bosheit, Anmaßung und Intoleranz.

Draußen auf der Treppe schwankte ein stoßender Klumpen Kinder hin und
her, hieb und spie gegen eine aufheulende rosa Masche. Unter der rosa
Masche kratzte und biß es zurück. Umsonst. Aus dem Zopf gerissen,
verschwand der grelle Fetzen in einer Schmutzlache. Aus viereckigen
Mäulern pfiff die Gemeinheit. Dann riß ein Bengel aus der Rotte ein
Holzgewehr an seinen grindigen Schädel, und sie spielten »totschießen«.

Vor einem Haus lehnte ein großer Wagen, leinenumspannt, »Möbeltransport«
stand darauf. Er war durch eine Nabelschnur von Dingen mit dem Leib des
Hauses verbunden. Wacklig, schief, freudlos und irrsinnig hing es aus
ihm heraus, stand noch: künstlicher Unrat, auf der Straße, bis unter das
Tor und eine falschgebogene Treppe hinauf.

Bis unter das Dach hörte man Schleppen und Poltern schwerer Gegenstände.
Damit ward nun die schiefe Räude vollgestopft. So sah es also da drinnen
aus -- und da drinnen lebten wirklich Leute mit solchen Sachen den
ganzen Tag zusammen.

Das Haus Elcho enthielt nicht den zehnten Teil Gerät, denn es war
erfüllt mit dem Wohllaut des dreifachen Raumes.

Und plötzlich vergaßen sie alles, stürzten zu dem Wagen hin, und Gargi
hing am Hals eines lebenden Wesens. Ein Pferd -- endlich ein Tier, etwas
Lebendiges; welche Erlösung! Xbeinig wie eine alte Kuh, aber das machte
gar nichts. Es war ein Geschöpf mit Geschöpfaugen, trug seine eignen
Glieder in edler Folgsamkeit und war schön in ihnen wie ein Gott. Und
dieser Wiesen- und Steppengott mußte geschändet werden, nur um solchen
Narrenkram von Ort zu Ort zu zerren? Eine grenzenlose Verlassenheit lag
um das einsame Pferd mitten in dem gemachten Wust, der mitsamt dem
angenagelten Akt, den Bronzeklötzen, Bauhaufen, und inklusive
»_fraternité -- égalité -- liberté_«, kein einziges Haar aus seinem
Schweife wert war.

Zucker -- Brot mit Salz! Vielleicht war das irgendwo aufzutreiben. Sie
suchten noch den Laden, da hieb schon eine Mißgeburt mit einem
Peitschenstiel dem Gott auf die Augen, schräg sprang der Möbelwagen über
das Pflaster los, verlor dabei hinterwärts ein kastenartiges Ding mit
Aufsatz, mehrfach profiliert, auf vier gedrechselten Beinen; auch dieses
Ding verlor wieder etwas aus seinem Innern; als es auf das Pflaster
schlug, schwang eine Tür an elenden Scharnieren, und ein topfartiges
Henkelgefäß, unbekannten Gebrauchs, doch unsagbar kläglich anzusehen,
zerbarst am Stein.

Die Mißgeburt zerriß deshalb dem Gott den Mund, daß er sich beinahe
überschlug und der Wagen ihm ans Kreuz fuhr, dann torkelte sie vom Bock
herab, holte langsam genießend weit aus und stieß ihren künstlichen
schwarzen Huf mit aller Kraft dem zitternden Gott in den Schoß.

Doch selbst das schien bei den übrigen in den gelben Fleck des Auges zu
fallen, während sie in diesem ewig verfließenden finstern Zustand
vorbeizogen, ausschließlich beschäftigt, einander vage zu stören. Das
dazwischen -- was »Frauen« vorstellen sollte -- hatte außerdem immer mit
dem doppelten Kopf zu tun: daß er stets in einem bestimmten Winkel über
dem ersten bleibe und so, denn das Wetter hatte sich verschlechtert, war
stürmisch geworden vor Morast. Nun setzte gar Schneeregen ein, und der
doppelte Kopf ward völlig ambulant. Die indischen Fremdlinge hatten erst
gemeint, er diene zum Schutz jenes Wellblechs, das statt Haar unter ihm
lag, nun aber spannte sich erst recht zum Schutz über den Schützer ein
Schirm. Der stand nun schon als vierter Wahnsinn über dem ersten im
Urkopf selber.

Jetzt endlich, nach Stunden, gab er alles auf, warf sich wund in den
harten Fußschachteln, voll leidenschaftlicher Müdigkeit, mit ganz
ausgeweidetem Herzen, in ein Auto, nannte sein Rasthaus. Dort war eitel
Beutelust im Frack. Die Fürstenappartements bereit, wie für einen
Rhadja. Funkspruch, Jacht, Dienerschaft hatten gewirkt. Der
Rasthaushälter schmolz herbei, gerann aber säuerlich, als Mr. Elcho
erklärte, den Nachtexpreß nach Paris nehmen zu wollen. -- Nein, danke,
er brauche nichts -- jetzt nur ein Bad, und, da sie schon bereitet
waren, die Fürstenappartements, bis der Zug ging.

Ganz still saß er später in dem grellerleuchteten Bazar des Irrsinns --
stundenlang still. Er hatte noch nie ein Tapetenmuster gesehen. Und dann
geschah es, daß er aufsprang, und es kam diese, eigentlich ganz
nebensächliche Entladung. Er begann nämlich an all den verklemmten
Schubfächern zu zerren, die unter Spiegeln und überall rechts und links
in allem Möglichen staken, rüttelte wie ein Besessener an ihnen, wie ein
Berserker, bis sie es aufgaben -- aufgingen -- Inhalt vomierten: lauter
Stückchen. Abgebrochenes. Leisten, Ecken, Aufsätze vom Leib des
Muttermöbels waren in ihnen aufbewahrt. -- Da klopfte es -- die
Rechnung. Eine Uhr schlug irgendwo Mitternacht. Der große Geburtstag war
eigentlich soeben aus.

Lange Illusionen aber kennen nicht Geburts-, nicht Sterbetag -- nur
Sterbejahre.

                   *       *       *       *       *

Den Sonnenaufgang feierten also auch die Europäer mit einer Devotion,
leiteten mit ihr den eignen Tag ein. Es wunderte ihn nicht, beruhigte
ihn vielmehr wieder.

Gleich am Morgen im Ritz sah er jeden einem mächtigen weißen Blatt voll
Schrift sich neigen und -- noch ehe er Tee eingoß -- ganz darin
versinken, wie in Gebet. Die Devotionalien selbst aber mußten -- das
gefiel ihm besonders -- immer leuchtend frisch gereicht werden.
Abgenütztere wiesen alle jedesmal mit Zeichen des Abscheus weit von
sich. Zweimal täglich, so um Sonnenauf- und Untergang herum, spielte
sich dieser Vorgang ab. Auch auf Straßen, in Cafés; war also wohl ein
verwandelter, dem Stadtleben angepaßter Naturkult: die großen Blätter
Sonnenhymnen, Gebete zum Seelenaufgang gleich dem: _o mani padme A. U.
M._, mit dem der Hindu seinen Tag beginnt. Sie lauteten in allen großen
Sprachen, wie es schien. Eine allgemein europäische Andacht somit.

Auch er ließ sich andern Tags im Ritz eine Morgenhymne reichen. Sie war
französisch: »_Le Matin_«. So hatte er denn richtig vermutet.

Und hub an:

»Von günstigen Winden gebläht, segelte das Ministerium munter von dannen
... doch ungeheure Erregung hat sich seit gestern des ritterlichen
französischen Volkes bemächtigt und droht ... falls nicht Frankreichs
berechtigte Interessen im nahen Orient ...

Der deutsche Harn:

Dem eminenten französischen Forscher M. Forest ist es gelungen, die
seelische Minderwertigkeit der deutschen Rasse auch chemisch
nachzuweisen. Der Deutsche, der nämlich dem subdiaphragmatischen Typus
angehört, einen Quadratschädel, kurze, grobe Hände und Plattfüße hat,
führt auch in seinem Blut mehr weiße und weniger rote Blutkörperchen als
der Franzose. Derart ist es kein Beispiel zivilisierter Nationen, das
ihn ändern kann, denn wie sollte dieses auf Hyperchesie und Bromhydrose,
die ihn kennzeichnen, und auf seinen außerordentlich toxinhaltigen Urin
Einfluß haben?«

Er überschlug ein paar Spalten.

»Gerichtssaal: Exbräutigam klagt auf Rückgabe des Hochzeitsgeschenkes:
eines neuen Gebisses für die Braut, weil diese die Verlobung gelöst. Die
Beklagte verweigert die Rückgabe mit dem Hinweis, das Gebiß sei ein
Geburtstagsgeschenk aus der Zeit vor der Verlobung. Letztere habe sie
aufgelöst, weil der Kläger mit der fünfzehnjährigen Nichte der Beklagten
... Das Gericht beschließt ... neue Zeugen ...

Bridge-Tee am Dienstag bei Mrs. Payn-Whitney ...

In dem reizenden Appartement der Rue X ... anwesend waren ...

Der Doppelmord in der Rue Cambon.

Grauenhafter Fall von Kindermißhandlung.

Kasseneinbruch ... Vergiftet aufgefunden ... Die Prostituierte Madeleine
B. ... Explosionskatastrophe.«

Er griff nach einem deutschen Blatt:

»Wenn auch das Ruder des Staatsschiffes in allzu nachgiebigen Händen ...
so wird doch der deutsche Aar ... wehe ... mit der tiefgehenden
Erregung des deutschen Volkes zu rechnen ... falls nicht die
berechtigten Interessen des Reiches im nahen Orient ... Schwere
Degenerationserscheinungen in der französischen Rasse ...
Geburtenrückgang.

Der Raubmord in Moabit ... Das Martyrium der kleinen Luise.
Kasseneinbruch ... Erhängt aufgefunden ... Die ledige Dienstmagd ...
Magazin in die Luft geflogen ...«

Er nahm ein Italienisches:

»Endlich mußte das Ministerium die Segel streichen ... die noble
lateinische Rasse ... in heiligem Egoismus ... tiefe Erregung ... falls
nicht Italiens berechtigte Interessen im nahen Orient ...

Wegen Urkundenfälschung verurteilt: Ein österreichischer
Staatsangehöriger. Der Fetthändler Kovacs mit zwei italienischen
Geschäftsfreunden forderte in einem Champagnerlokal der Galleria
Vittorio Emanuele weibliche Gesellschaft. Sie ließen die junge Artistin
Gilda Degrassi aus der Wohnung ihrer Mutter holen und verfielen während
des Gelages darauf, die Jungfräulichkeit des Mädchens zu versteigern.
Der Fetthändler Kovacs trug schließlich den Sieg mit 5000 Lire davon. Er
stellte auch gleich den Scheck aus und übergab ihn dem Mädchen. Damit
dieses aber »nachher« das Geld nicht beheben könne, fügte er dem Datum
eine falsche Jahreszahl bei. Das Mädchen bemerkte dies am nächsten
Morgen, korrigierte selbst die Zahl und behob das Geld, worauf Herr
Kovacs gegen sie die Anzeige wegen Urkundenfälschung erstattete ...

Vater, Mutter und vier Geschwister erstochen! ... Lustmord an der
sechsjährigen Emilia O. ... Bankraub per Automobil ... Mit
aufgeschnittenen Pulsadern fand man.

Kesselexplosion! ...«

Jetzt das große Englische:

»_The government's position ... unable ... great nation ..._

Der australische Tennischampion in London ... _Prime minister's Golf_
... Beethoven II, die Blüte englischen Pferdefleisches ... versagte ...
allen Freunden des edlen Rennsports ...

_King's bench division_: Lady Sarah Sackville gelingt es, zwei Ohrfeigen
ihrem Gatten nachzuweisen ... Zeugen sagen aus ... _his Lordship_ ...
_decree nisi_ ...

An einem Schweinsdarm im Hofe erhängt aufgefunden: Aus Furcht vor
Züchtigung versteckte sich der vierzehnjährige Schlächterssohn Harry S.
hinter einem Faß voll Därmen, und als Entdeckung drohte, griff er, in
Ermanglung eines Strickes, nach einem Darm und erhängte sich an einem
Nagel. Er hätte an diesem Morgen sein erstes Kalb schlachten sollen,
zeigte aber von je eine ganz krankhafte Abneigung gegen seinen künftigen
Beruf. Durch vernünftige Strenge hoffte der bedauernswerte Vater dieser
kindischen Verstocktheit (_stubbornness_) und Schwäche Herr zu werden.
>Ich wollte eben einen Mann aus ihm machen,< sagte er unserem
Berichterstatter, >wo käme die Nation hin ...<

Der Raubmord in Sussex.

Im Hydepark verhungert aufgefunden: ein alter Mann mit einem Zylinder
...

Deutsche Greuel an afrikanischen Eingebornen vor dem Reichstag ...
_stock exchange_ ... _liver pills_ ... _beecham's pills_ ...

In die Luft geflogen ...«

                   *       *       *       *       *

Sir Osmond Cadogan reichte ihm das »Echo de Paris« herüber.

»Vielleicht interessiert Sie dieser Artikel anläßlich der heutigen
Reprise in der >Renaissance< ... falls Sie die große Tragödin in dieser
Rolle noch nicht gesehen haben. Oh, es ist sehr wunderbar« ...

Dann versteifte sich der rosa Greis, stand steil und fassungslos. Was
war denn diesem goldäugigen Exoten auf einmal geschehen, dessen Allüren,
ihn gestern so getroffen, daß er eine Anknüpfung gesucht? Grüner Ekel
sah ihn ja da an, doch wieder viel zu groß, um noch persönliche
Beleidigung zu sein. Solche Leute von Übersee, trugen sie auch, wie
dieser, einen noch so guten Namen, letzte Kultur und Gesittung ließen
doch immer ein wenig zu wünschen übrig. Zur Beruhigung griff er
seinerseits nach der »Morning Post«, die jenem entfallen war. Bald
kehrte ihm altes Behagen zurück:

»Lady Sarah Sackville gelingt es, zwei Ohrfeigen ... An einem
Schweinsdarm im Hofe erhängt ... deutsche Greuel ... Golf ... _liver
pills_ ... In die Luft geflogen ...«

                   *       *       *       *       *

Abends fuhr er allein zur Vorstellung. _Place Vendôme_--_rue de la
paix_--_rue des petits champs_--_avenue_--_boulevard_ -- schiefes
Zick-Zack -- wieder _boulevard_: straßenlang aneinandergelehnte hilflose
Unfähigkeit, mit ihren Kilometern unbenützbar angequetschter Balkönchen,
holperte gesimseschief die Autoscheiben entlang. Der Träumer seines
weißen Traumes umformte -- hinter gesenkten Lidern -- mit seinem
Raumsinn indessen das Problem: Theater.

Er kannte bislang nur die antike, von Süden vereinfachte Lösung: ein
Ring aus kristallinischem Stein, geschlossen gegen das bröcklige,
pfützenweiche, amorphe »Draußen« und was dort sich abzappelte,
abschmatzte, anspie und verreckte, noch ohne Stern -- Achse --
Persönlichkeit -- Schicksal. Drinnen: konzentrische Marmorrillen, glatt,
nur schauender Augen voll, in einem Eierstab lebendiger Köpfe. Drüber:
offener Zenith, querdurch zuweilen Vogelflug, sich abbildend im Inneren
des Ringes als springender Schattenball oder dunkler Strich von nichts
zu nichts. Im innersten Ring ein kleiner Marmormond für sich: der Chor
-- Mittler zwischen Menge und Mensch. Auf der Bühne, durch Maske und
Kothurn entrückt, die dramatische Person: Verdichtung ins Ungemeine von
zehntausend Einzelleben, wie Blutwasser aus zehntausend roten Rosen über
Feuer erst zu einem Tropfen Essenz gerinnt. Und das Drama: da ballt sich
aus dem Leeren, in dem der Nichtige ungefährdet treibt, gegen den
starken Ungemeinen das Trikymion auf: die dreifachen Brecher des
Geschehens steilen sich ihm lautlos, wie einem Mond, entgegen.

Schon schwebt er über dem Ersten und in ein trügerisch gläsernes Tal.
Dann siegend über den Zweiten -- glatte Weite blaut auf einmal vor ihm
auf mit Glanz von Paradiesen; die Welt scheint auszusetzen, atemlos. Nur
Persönlichkeit und Schicksal bleiben brütend gegen einander überhangen.
Durch diese Pause im dramatischen Geschehen rast jetzt, als
Satyr-Zwischenspiel, das Chaos; metallne Phallusse klirren, aus rotem
Tieratem tauchen: elfenbeinerne Triangel, die leichten Schultern der
Flötenspieler. Mit Huf und Horn galoppiert es, noch leerer Trieb,
vorüber ins Leere.

Und abermals hebt das Drama an. Sammelt sich in seiner letzten Schwärze.
Des Trikymions dritter Becher steigt auf, gleichsam herangesogen von dem
Ungemeinen, das ihm entgegensteht, wird ein Turm -- ein Trichter -- ein
glasig verdauender Mund -- und der geheimnisvolle Spiegel, den eine
wundervolle Persönlichkeit durchbrochen, schließt sich wieder über ihr.

Das wußte er vom Drama, vom Haus des Dramas. Wie mochte es in Europa
sein? Bruchstücke von Werken, die er kannte, ließen Außerordentliches
hoffen. Doch vor allem: wie war das Raumproblem nordisch erfaßt, seine
Vielfalt von Zweck und Geist; schon die trivialen Erfordernisse:
Überkleider ablegen -- dann gleichsam die Glieder ablegen: jedes
störende Körpergefühl. Die Lösung all dieses mußte -- das eben ist ja
Architektonik -- gleich aus solcher Tiefe herkommen, daß sie sich wie
ein Monolith über alle Mannigfaltigkeit der Bedürfnisse zusammenschloß
zu organischer Einheit.

Der Wagen hielt. Nachher, in einen Bock aus gepreßtem Samt geklemmt, sah
er aber immer nur den Eisenhaken, eigentlich nichts als die beispiellose
Niedertracht dieses Eisenhakens vor sich, an dem, mit schmutzigem Strick
zusammengebündelt, sein Pelz jetzt draußen hing. Zwischen schiefen
Goldleisten aus Holz, rotem Papier als Damast, Tünche als Marmor, Marmor
als Schlagsahne hatten sich armselige Höhlungen aufgetan voll Eisenhaken
und abortfrauähnlichen Weibern. Letztere rissen ängstlich gestauten
Männerhaufen ringsum Kleidungsstücke aus den Armen. Frauen wimmerten
leise um einen geknickten Vogelsteiß auf durcheinandergeworfenen Hüten.

Dieser Haken aber verstörte, ja ängstigte ihn bis zur Übelkeit. Das
andere hatte doch reichlich Stoff zu Mißbrauch und Verderb gegeben. Mit
Holz, Marmor, Farbe, Stuck, Stein -- falsch verwendet -- ließ sich ja
immerhin etwas ausrichten. Aber dieser Haken: ein gebogenes Stück Eisen
mit einem Porzellanknopf, sonst nichts. Wie mit so wenig so viel
Gemeinheit erringen?

Vielleicht zerging der Haken, wenn man um sich sah. Das vorne schien ein
verwachsenes Rudiment antiken Chors: aus zwei ungelösten Eckproblemen
heraus wand sich ein mannsdicker Wurm und versuchte unter Krümmungen
seine eigenen Warzen aus rotem Plüsch zu verdauen. Hinter ihm, in
geschwungener Stuckbadewanne, saßen bekleidete Leute im Gehrock vor
Geigen. Faustdicke Symbole klatschten im Abstand von Froschsprüngen
durch alle Ränge bis zum Boden, wo sie sich in zwei formidablen Haufen
von Harfen, Masken, Schwänen und Fehlgeburten gestaut hatten. -- Ein
Musentempel. Merks, Cretin.

Säulen trugen nichts, der Logenring über ihnen war ja schon in sich
selbst geschlossen. Zum erstenmal im Leben sah er eine -- Halbsäule.
Welcher Plumpsinn, die nicht luftumspülte Kurve in eine Wand
hineinzupappen, mit deren Ecke sie zu einer üblen Figur zusammenfließen
mußte, wie ein grades Bein mit einem krummen. Ja, sahen denn die Leute
hier nicht? Sahen nicht, daß, wo Maße nicht stimmten, Bauglieder
fehlten, Fugen klafften, sich nur irrsinnig gewordener Dreck
beschwichtigend darüber pappte. Kein Quadratmeter Ruhe. Zum Schluß
geriet er auch noch ins Tapetenmuster der Logen, sprang über
kopfstehende Rhomben, immer hin und her, schließlich heraus, um beinahe,
am Fußboden, sich doch noch in einer plötzlichen Darmschlinge aus
Lorbeer zu fangen.

Langsam stieg leiser Wahnsinn in seine reinen Nerven.

Etwas mußte geschehen. Er warf den Kopf nach rückwärts und hinauf. Oben
war ein großes Loch gemalt: Sommerhimmel und Wolken. An einem Haken
mitten aus der blauen Luft kam ein viele Zentner schwerer Metall-Lüster
gehangen, als Strafgericht über alles.

Nun sausten mit einemmal die neun Musen in die Höhe, welche, bisher
straffgespannt, die Bühne verhangen hatten.

Hub das Drama an? Auf weißer Fläche -- groß wie der Bühnenrahmen --
hockte an Stelle der Mythologie jetzt ein etwa sieben Meter hoher Affe
und scheuerte sich mit gewaltiger Zahnbürste das Maul aus; der Schwanz
schrieb: _monkey puzzle toothbrush unequalled_. Blieb fünfzig Sekunden.
Flitzte ab, und es erschuf sich: »van Houtens Cacao is de beeste
gekoopste«. Flitzte ab und es ward Frankreichs Präsident: ein
erweiterter _épicier_, krummen Bratenrocks, mit Knien in den Hosen:
»_regardez cet homme_« -- stand vor seinem Bauch -- »_pas nécessaire
d'avoir l'air comme cela -- habits élégants complets depuis 49 frs chez
Gaston Mandelstamm_.« Flitzte ab und es erschuf sich ...

Ganz witzig, aber dazu war er ja nicht hergekommen. Er schloß die Augen.
Jetzt roch er den Europäer um sich her, seinen Porendunst: gestaute
Schärfe nach übel verdautem Fleisch; seit Marseille Grund für ihn,
Ansammlungen Weißer vorsichtig zu meiden. Daneben roch es noch auf
zwanzigerlei Art falsch nach Chemie, die Blume sein wollte. Trockenharte
Gerüche, im Laboratorium gezwungen, auf kurze Zeit zusammen Duft zu
sein, doch mit heimlichem Hang alsbald wieder in feindliche
Einzelgestänke auseinanderzufallen. Gleichsam durchzuriechen war das.

Jetzt verschlang -- aus dem Boden getrampelt -- eine Wolke morschen
Staubes alles, und Handschuhe knallten wie Ohrfeigen.

Horus schlug die goldenen Sperberaugen auf.

Im Bühnenrahmen stand eine Greisin in weißen Lederhosen, den Kopf voll
roter Wolle. Fingerdicker Ruß hing um die kahlen Augen, ein Klumpen
Saccharin zerging im Mund zu Lächeln, während sie Küsse um sich streute
mit verwesender Hand. Kokett schleifte das linke Bein nach.

Was war das?

Er erinnerte sich des erläuternden »Echo de Paris« in seiner Tasche,
entfaltete es. Richtig, die gefeierte Tragödin verfügte über ein neues
Kunstbein. Hier war es abgebildet, neben dem Abgeschnittenen, und dort
war der Stumpf; erst für sich, dann mit der Prothese, Bild des großen
Operateurs, wie er gerade operiert, Bild des großen Dichters, wie er
gerade dichtet. Es stand, wieviel die Operation gekostet, wieviel
dadurch der berühmten Tragödin an Spielhonorar pro Minute entgangen,
wieviel hinwiederum (pro Minute) die amerikanische Tournee eingebracht.
Dann kam der Genius Frankreichs. »Gloire« stand in den vier Ecken, und
eine Trikolore flatterte über alles mit Stumpf und Stiel.

Das Drama selbst handelte aber gar nicht von Kunstbeinen, sondern hieß
»_L'aiglon_«: der junge Adler. Die grauenhafte Greisin war der junge
Adler. Nun krähte sie gebrochen auf.

»_Oh les cloches d'or_«, und an drei verschiedenen Stellen des Parketts
rissen auf einen Wink kurze Männchen mit schwarzen Bärten begeistert an
ihren Adamsknorpeln; wieder knallten Handschuhe, und ganze Wolken weißen
Schmutzes stoben aus den Frauen. Man snobte Tobsucht und starrte
einander dabei, mit bösem Eis übergossen, roh und hart in die Kleider.

Nach einer Weile versuchte die grauenhafte Greisin schlimm zu sein -- so
recht bubenhaft und ein wenig pervers schlimm: spannte Glacéhöschen in
den Augpunkt, saß rittlings auf Stühlen herum, kapriolte schließlich
rasselnd über ein Sofa. Die Prothese knarrte, und das Publikum schrie:
»_vive la France_«.

Zum erstenmal drang ein Gefühl durch die Augen in ihn -- oder war es ein
Zustand -- etwas, für das er noch keinen Namen hatte, das, durch die
Augen eingeschlichen, ihn von innen würgte, das er hätte herausspeien
mögen aus diesen seinen Augen. Ekel vor dem Alter? Er fühlte sich doch
frei von jenem Männchendünkel, Wirkungen, weil sie von einer Frau kommen
sollten, ausschließlich nur mit einem Körperende werten zu wollen und
höhnisch gestimmt zu sein, blieb dieses stumpf; wußte: was begreift ein
Glücklicher vom Glück -- ein Gequälter schon von der Qual? Liegt ihre
funkelnde Essenz nicht vielmehr erst im Alter und auf der andern Seite
des Vergessens, bereit für eine welke Auserwählung, eine, die, über ein
langes Leben gebeugt, aus ihm erst den Rhythmus nachzuschöpfen vermöchte
etwa einer Kassandra, wenn sie vom geschleiften Ilion herab -- bekränzt
und fackelschwingend -- mit jauchzenden Flüchen in die Schändung getanzt
kommt; orphisch entrückt die Wirbel des Untergangs in das verhaßte
Königshaus hineintanzt.

Nein, am Alter lag es nicht.

Das eine Ohr der Tragödin begann jetzt zu tropfen. Ihre Kapriolen über
das Sofa nebst den restlichen Leibesübungen machten, daß Rötliches und
Fettiges von ihm absickerte. Unter dem abgemagerten Kopf hing ihr ein
Kuheuter zwischen Vatermördern herab. Gut. Doch was war mit dem
fettgewordenen Leib geschehen, das ihm dies Unmenschliche geben konnte?

Einen Kontur, wie ihn kein Gebrest, kein Geschwür, keine organische
Entartung je zustande brächte, denn diesem Leutnant wuchs -- stahlhart
-- eine schiefe Ebene vom Abdomen in den Raum hinaus, so, als hätte er
eine gespaltene Pyramide verschluckt, ohne sie richtig verdauen zu
können. In dies schräg abstehende Korsettgerüst vor dem Magen hatte man
nun von oben die Brüste hineinversenkt und verteilt, von unten
hinwiederum die Eingeweide hinaufgeschraubt; beides wohl um des
Knabenhaften willen.

Aber auch daran lag es nicht, das Namenlose.

Das dramatische Geschehen selbst wurde von Sekunde zu Sekunde alberner
-- jetzt war es neun, Ende vor zwölf stand auf dem Programm -- doch man
konnte ja weghören; schließlich blieb auch das futil.

Nein, es mußte wohl aus dieser Art kommen, wie sie sich vergaichten alle
auf der Bühne, aus dem, was sie da begingen mit ihren Gliedern, Rümpfen,
Mündern, Mienen. Anfangs hatte es ihn eine utrierte Zeichensprache für
taubstumme Idioten gedünkt, ehe er schließlich darauf verfallen, das
alles solle Empfindung vorstellen -- Bewegung gewordene Empfindung;
wirklich das, was auf andern Kontinenten atmende Geschöpfe tun, wenn sie
leben.

Hastig, passiv, unbehütet, hatte er es ohne Widerstand in sich
hineingeschaut, tief hineingelassen in seine klaren Nerven und ihres
mahnenden Unbehagens zu wenig geachtet. Herausbrechen hätte er es sollen
aus seinen unbefleckten Augen zu rechter Zeit. Jetzt begann in ihm leise
angespanntes Verschrobensein, dessen er sich nicht mehr recht zu
entledigen vermochte: wie wenn sonst manchmal eine Zehe in Krampf
verfällt, sich verkehrt nach unten durchbiegt wie eine gebäumte Raupe --
am ganzen Körper war das jetzt so.

Übel verstellt schien sein Herz. Atmen, wie machte man das -- Atmen?
Steifes Grauen kam langsam herauf, und Zelle um Zelle gerann an ihm zu
infernalisch ungekanntem Eis.

Schutzsuchend warf er seine fliehenden Augen in den halbdunklen
Menschenraum. Hier aber hing das Namenlose ganz -- im Bühnenspiel war
nur sein Abbild gewesen -- hier lauerte es herein, hier war dieses, was
schluckte, immer schluckte: Leben, Glieder, Haare, Steine, ganze
Marmorwände schluckte es -- alles was echt war, wirklich war.

Und dann: wie durch einen bösen Doppelspat gebrochen, verzerrt, kündete
sich wieder aus diesem Lauernden, Namenlosen heraus eine Art
infernalische Wandlung alles Seins an. Diese Wandlung selbst war noch
nicht da -- nur ihre Vorzeichen: Vorzeichen, dieses Vergaichte, das
einmal Rhythmus gewesen, dieses Zerbrochene mit abbröselnden Enden auf
Frauenköpfen, durch Brillantine wieder zu einem Scheinleben
mesmerisiert, dieses planlos Zerstückelte auf allen Körpern, das einst
edler Samt, holde Seide gewesen, nun aufgehört hatte als fließender
Stoff zu leben, ohne Gewand geworden zu sein. Aus all diesem: eisernen
Haken, Abortfrauen, verkritzeltem Marmor, der Greisin in Lederhosen, den
Blumen aus Chemie lauerte es herüber.

Ihm war auf einmal, als könne es nie wieder für ihn einen Wald geben --
Schwalben. Vogelflug!

In einem der ungelösten Eckprobleme war der Rest eines halb weggefegten
Spinnennetzes hängengeblieben und in ihm ein ausgesogner Fliegenbalg. An
diesen klammerte er das Bewußtsein. Unsäglich liebenswert schien ihm auf
einmal diese winzige Leiche; wie unverdiente Gnade traf ihn die Wahrheit
ihrer kleinen Form. Sie war das Einzige. Zerfiel sie jetzt, blieb er
fast ganz allein.

Er und die Prothese: weises, ehrliches Stahlgeschöpf, verdeckt zwar
durch alberne Maskerade, aber er wußte es doch da. Kunstbein und
Fliegenleiche, die beiden einzig Echten hier, schützten ihn vor dem
Namenlosen, wenn es durch den üblen Doppelspat entleibter, entherzter,
entseelter Dinge hereingebrochen kam, und vor dem in ein platzendes Aas
sich hineinzuretten Reinheit schien, reinliche Fäulnis.

Eine fahle, lange Angst begann ihn zu drosseln, jede Blutader einzeln in
ihm abzudrosseln wie einen Wasserhahn. Ersticken dürfen -- wie einem
wirklichen lebendigen Wesen zu ersticken vergönnt -- Wohltat mußte das
sein. Er betastete seinen Fuß: fremd, hart und so weit weg.

Doch hätte er nicht zu sagen vermocht, was es denn war, das Namenlose;
höchstens, was es nicht war: nicht Hohlform, ist sie doch Abdruck noch
eines Leibhaftigen, nicht Negativ, dem zum Grunde Positives liegt, auch
keine aufgeblasene Nichtigkeit, denn auch ihr, selbst ihr noch lebt ja
im Innersten verquollener Anmaßung ein Korn Sein.

Er schauerte zurück, wich hinter sein erschrockenes Herz, wich weg von
dem verjauchten Jetzt, wieder in die reine Frühe seines Morgentraumes
über dem nachtblauen Reich mit den kristallnen Achsen.

War damals unter den »Kegelschnitten Gottes« -- in dem Manuskript, das
ihm Erasmus gezeigt -- nicht etwas gewesen, ein von sich selbst
Abgekehrtes, aus sich Verstülptes Fünftes, bisher Unvorstellbares, weil
es im Gegensatz zur göttlichen Sucherin: Parabel, sich vom Brennpunkt
alles Seins abzukehren hätte, um seinem Gegensatze zuzueilen? Ein
schlichthin Infernalisches, dem selbst die Mathematik -- die über allem
Stehende -- das Symbol verweigert?

Ein _Unsein_. _Dieses_ Unsein.

Da brach er aus, zerbrach das üble Joch der Hoffnungslosigkeit, trat,
stieß, riß wie ein süperbes Tier sich einen Weg durch keifende Reihen,
an schiefen Goldleisten vorbei, hinaus unter die Sterne. Mit freiem
Haar, ohne Überrock ging er nach Hause. Noch einmal umkehren, seinen
Pelz, vom Eisenhaken herunter und mit schmierigem Strick umschnürt,
wieder aus den Händen der Abortfrau empfangen -- nein. Riß sich im Ritz
auch noch die restlichen Kleider herab, ballte alles zu einem Bündel,
warf es aus dem Fenster auf das rußige Glasdach des »Wintergartens«,
bürstete unter dem brennheißen Strahl im Badezimmer sich fast die Haut
vom Fleisch -- reinigte Kehle und Mundhöhle -- sog Unreines zu tiefst
aus den Lungen herauf -- stieß Frische hinab; in vier Spiegeln stand
sein blendender Körper.

Aber es wich nicht. Und ihm fiel ein: durch die Augen war er vergiftet
worden. Lehnte seinen Kopf an Gargis Tür -- lange. Riß sich zusammen,
klopfte, trat ein. In einem fernen, zarten Gewand des Ostens sah er sie
wie durch kannelierten Rauch. Sie kauerte auf Kissen und spielte ein
wunderschönes Spiel mit ihren Armen. Der Hals, weich auf die Luft
gelegt, trug über sich im Haupt eine Wage voll Köstlichkeit. Unter der
Stirnagraffe: dem Zünglein aus Rubinen, schwebten weit und wagrecht
Augenschalen voll flüssiger Magie.

Sein zerrütteter Kontur ließ sie aufgleiten, ihm zu.

»Geh auf und ab. -- So. Nimm ein Glas. -- Stell es wieder hin. -- Schlag
ein Buch auf. -- Blättre um.«

Auf dem Diwan sitzend, die Ellenbogen auf den Knien, die Schläfen in den
Fäusten, trank er jede Bewegung mit den Augen aus, bis zur Neige. Wie
ein Vergifteter Milch durch seine arme Kehle rinnen läßt, so schluckten
seine Lider. Und sein Blut ward süßer, denn ihr Verstehen war bei ihm;
erriet im voraus den Durst seiner armen Augen. Bald wurde sie Ärztin und
Arznei zugleich, verließ seine planlosen, aus hilfloser Angst in der
Irre tastenden Befehle, und nun sah er sie auf sich zukommen wie die
Genesung im März, mit der edlen Entschiedenheit eines Tieres und über
allem der Blumenmensch mit durchleuchtetem Haupt, und die Wahrheit ihrer
Gebärde ging durch ihn hindurch wie ein Schwert.

Vorsichtig zwischen seinen Füßen kauerte sie auf den Teppich nieder --
rührte ihn nicht an -- seine Haut und hinab die gewaltigen lichtlosen
Sinne brauchten sie jetzt nicht; am höchsten Sinn, aus dem die Welt
erfließt und die Vision, war er verunreinigt worden. Sie ruhte im
Lotossitz der arischen Asiaten in erlöster Ruhe, die alle Bewegung
erfahren hat, und das als Herr.

Etwas von Musik, Akrobatik, vegetativer Verklärung! Es war die Essenz
magischer Kraft. Langsam füllten sich die Augen des Mannes mit ihr.
Tränen kamen ihm, als er seine Hand erkannte -- wieder eine liebe Hand
haben und sie rühren können wie ein lebendiges Wesen. Das angespannte
Verschrobensein am ganzen Körper wich, ausgetrieben über die Ränder
seiner Glieder, wie über den Brunnenrand ölig Gestautes aus schmierigen
Lefzen verspritzt unter starkem Strahl. Schön wußte er sich wieder, wie
ein Marmorbecken, klaren Wassers voll.

Bis zum Morgengrauen blieb sein zarter Arzt zu seinen Füßen. Eine
beispiellose, eine unerhörte Sinnenkraft stand als unsichtbare Glocke um
die aufrecht kauernde Gestalt. In ihr waren die Knospen und Früchte
aller Bewegungen und das Magische ganz freier Tiere, das Rieseln der
Gräser und der Ströme, das war doch alles, alles nur für diese Mulde
zwischen Weiche und Schenkel da. Tausend Spannungen liefen an ihr hinab
und tausend Entzückungen stürzten über die jungfräulichen Schultern und
den Flaum der Wirbel. Endlich schlossen sich seine zögernden Augen, ganz
zaghaft, wie zur Probe. Er blieb rein. Da hob er den hammerschmalen Kopf
aus den Fäusten langsam hoch und weit zurück. Hell lagen die breiten
Lider in der gebräunten Haut, wie von innen durchlichtet, und langsam
floß wieder die alte Sonnigkeit in das starke Gesicht voll Geist.

Aus einem durchsichtigen Schlummer heraus, mit der lindgebrochenen
Stimme des Wunden, wenn königliches Morphium über seine Qual streicht,
bis sie zu schrumpfen beginnt -- schrumpft -- noch mehr -- jetzt nur
noch ein Stecknadelkopf ist -- dann -- fort, und wie er über diesem
»fort« erst ganz flach nur zu atmen wagt: mit der lindgebrochenen Stimme
solch eines Eben-Erlösten flüsterte er: »Wohl, wohltun.«

Das kunstlose Wort, unbeholfen und lauwarm wie der Körper eines ganz
kleinen Kindes, schien ihr die erlesenste Liebkosung, die sie je in ihm
erweckt.

                   *       *       *       *       *

Sie kamen wieder einmal von den beiden Vitrinen mit ägyptischer
Kleinkunst im Erdgeschoß des Louvre. Nach allen Leichenfeldern des
Ungeschmacks, inbrünstiger Barbarei, Monomanie oder Geziertheit
befreiten sie sich andachtvoll vor den zwei Dutzend Schalen,
Salbgefäßen, Schmuckstücken. Diese zeigten der Natur, kühn und lieb
zugleich, wie sie es etwa zu machen hätte, fühlte sie je das Bedürfnis
nach Schalen, Salbgefäßen, Schmuckstücken, denn sie waren vollkommen
ohne die Banalität des Nur-Schönen, kühn ohne die Kurzlebigkeit des
Originellen.

Heute hatten Horus und Gargi den Louvre durch ein anderes Tor verlassen
als sonst und gerieten da schon wieder in eine weitläufige Masse
gemischten Stils, die: »Louvre« hieß und erst von ihnen für einen
neueren Trakt gehalten worden war. Dieser schien sich jedoch eines viel
regeren Interesses zu erfreuen als die anderen. Er sog vor allem Frauen
aus den Straßen heraus und in seinen Leib, dem wieder bepapptes, totes,
schiefes, gemeines Gerümpel zu allen Poren herausbrach, hing und
flatterte.

Die Damen in seinem Bauch aber rissen einander behängte, bestickte,
verkritzelte Lappen aller Art mit verglasten Augen aus den Händen, wenn
bestimmte Zahlen darauf standen: etwa 29 Frs. 95. Also Frauen, gerade
Frauen: Trägerinnen des Lebens trugen diese toten Fehlgeburten
geschändeter Maschinen aus, in lauter Paketen hinaus, infizierten die
Welt damit. Und Maschinen: seine Halbgötter, dazu wurden hier die
herrlichen Stahlwesen mit den dampfenden Rüsseln mißbraucht? Statt das
Leben zu befreien, zwang man sie, unaufhörlich lebensfeindlichen Mist
aus sich herauszuschleudern, das Leben mit toten Mißgeburten
einzumauern, deren es nicht bedarf, die es hemmen, ersticken, eindorren,
vergaichen.

Er fiel von einer Abteilung, einem Bazar des Irrsinns in den andern:
Orfèvrerie, Galanterie, Bijouterie. »Aus was für Knollen im Hirn eitern
solche Sachen?« sann der Erschrockene.

»Wer ersinnt -- wer entwirft -- wer macht -- wer bestellt sie?«

Und leiser Verdacht durchschauerte ihn, eine allmächtige Horde
unsichtbarer Irrer unterjoche einen blinden Kontinent.

Bösartige Irre -- es gab keine andere Erklärung. Vor den ersten
Klavierbeinen und Kleiderständern hatte er gemeint, die Usurpatoren
seien irrsinnige Drechsler, die alle Drehbänke Europas an sich gerissen,
dann gewaltsame Glaser, Vergolder, Weber! Doch nein, das alles hatte
nichts Menschliches mehr, war von der überpersönlichen Infamie dieses
aus sich selbst verstülpten, unfaßlichen Unseins.

Sie suchten den Ausgang, gerieten in eine Abteilung: Wandschmuck. Wozu
ein sich selbst Erfüllendes, wie es die edlen Maße einer Wand sein
sollen »schmücken«? Die noblen, weiten, notwendigen Flächen verkleinern,
durch Ornament unterbrechen, immer wieder verkleinern -- man unterbricht
doch auch einen Sprechenden nicht, wozu den Wohllaut des dreifachen
Raumes unterbrechen, dessen Ganzheit eben ist, was er zu sagen hat. Und
ist er fehlerhaft, warum ihn mit einem zweiten Fehler bekleistern, statt
das Geld zur Ausmerzung des Ersten verwenden: Doppelschund statt
einfachen Anstandes. Warum immer das Pferd beim Schwanz aufzäumen?
Warum?

Am Anfang der Zeiten, schien es, hatten die Menschen nur das
Allernötigste -- jetzt, am Ende, nur das Allerunnötigste.

»Wie kommt es,« sann er, »daß jedes Ding in Europa, das für Luft,
Wasser, Eis, Dampf, Stein gehört, herrlich gerät, wie noch nie, alles
aber, was für diesen allmächtigen Herrn über Luft, Eis, Dampf, Stein
selbst gehört -- kläglich -- >unherrlich< wie noch nie?

Wie kommt es, daß, seit die Welt steht, die Leute es sich nicht so
freudlos, teuer, verkehrt und schlecht eingerichtet haben, wie diese
Europäer im goldenen Zeitalter der Technik?«

Auf die großartige Einseitigkeit einer mechanistischen Formenwelt wäre
er noch eher gefaßt gewesen, leichter bereit, auf sie resigniert sich
einzustellen, wiewohl auch die reinlichsten Einfamilienställe vor ihm
wie nichts gewesen, wären sie nicht von einer Seele für eine Seele
erbaut, darin sich zu entfalten. Doch nicht einmal das. Dafür dieses
zusammengelogene, heterogene, räudige oder aufgeblasene Gerümpel:
europäisches Stadtbild genannt! Keine Säule untadelig, kein Eckproblem
reinlich gelöst, ja das Problem nicht einmal empfunden, eine optische
Saloppheit an diesen hingesudelten Palastbuden, und hier -- das hier:
einer der tausend Speicher, mit dem sich das Draußen anfüllte.

Wenn er nur an diesen Schlafwagen von Marseille nach Paris dachte: der
Samt des Sitzes längsgestreift, die gepreßte Ledertapete in
Darmverschlingungen, braun gold, grün, am Vorhang eingewebt stehende
Rhomben, die Bodenbespannung innen in Karos, außen mit Blumenbordüre;
sinnlos alles, ruhelos wie ein Affenhinterteil.

Sahen denn die Menschen nicht, daß die Dinge alle nichts taugten, das,
worin sie wohnten, womit sie bekleidet waren, was sie aßen?

Jetzt war nur noch die Parfümerieabteilung zu überstehen, da hielt
Winifred Cadogan sie an:

»Oh bitte, Mr. Elcho, wie sagt man: Eau de Cologne auf französisch?«

Ach, man sagte auch auf französisch so. Wie, sie gingen schon. Ob sie
nicht einen Augenblick warten, dann mit ihr und _mommo_ zu Callot,
Cheruit, D'Oeillet fahren wollten? Um dort Geld ausgeben zu können,
müsse man eben manchmal hierher und sparen. Sie erlegte dabei
tugendstolz an der Hauptkasse 400 Frs. für einen üblen Turm von Dingen,
die weder Mensch noch Vieh zur Lust.

Ja richtig, eine Gesichtscreme brauche sie noch.

Die Verkäuferin frug, welche.

»Irgendeine, von einer guten Firma. Ja, auch einen Puder dazu. Ja, auch
ein Toilettewasser, ganz gleich welches, nur nach _sweet-pea_ müsse es
riechen. Ja, einen Lippenstift. Ja, Haarwasser, aber ein gutes, sie
verlasse sich da ganz auf die Verkäuferin.«

Über seinen ganzen Körper hin spürte er jetzt Gargis Erstaunen, dieses
Verschweben der wissenden Dame in mitleidige Ferne, und ärgerte sich,
daß er über die fremde Europäerin sich ärgerte. Was ging das schließlich
ihn an, wenn hier die mehresten Frauen faniert aussahen, mit einer
zersetzten Haut, von Metallen und Säuren schwammig angefressen?

Was ging das ihn an, daß sie nicht einmal die chemische Zusammensetzung
kannten von dem, was sie hineinrieben in das köstlichste,
verletzlichste, persönlichste Gebilde: die Haut. Zu faul, fahrig und
unwissend, die ihr allein wohltätigen Dekoktionen aus Harzen und Blüten
sorgfältig zu erproben, deren Bereitung selbst zu überwachen?

Was ging es ihn an, wenn sie, statt die Anmut aller Tiere, aller Ranken
und Wellen in sich zu bilden, auf daß der Mann an ihnen die ganze
Schöpfung auf einmal streicheln könne, vermeinten, den Liebreiz eines
Tieres zu ergattern, indem sie ihm das Fell über die Ohren zogen? Ja, es
ging ihn an:

»Pallas und Nausikaa« im Warenhause.

Die nächsten drei Wochen waren Gargis europäischer Ausstattung bei den
großen Coutüriers gewidmet, und er lernte mancherlei: daß die eine
Hälfte der Frauen immer die andere Hälfte verachtet, weil sie entweder
zu viel oder zu wenig tote Vögel auf dem Kopf hat. Daß eigener Wahn und
fremde Aktiengesellschaften mit ihrem ungeheuren Apparat die Europäerin
zwangen, jedes halbe Jahr Milliarden auszugeben, damit ja kein Stil an
ihr sich bilden könne, denn Stil braucht, wie alles Organische, zum
Entstehen -- Zeit. Mode: Todfeindin des Organischen, aber hatte zu
wechseln als das, was sie sein sollte: anregender Fausthieb auf die
Netzhaut für den optisch Impotenten, dem man alle drei Monate ganz
verdreht den Frauenkörper um die Sinne klatschen muß, auf daß er merke:
das sind Frauen. Fausthiebe aber bedürfen steter Erneuerung, um gespürt
zu werden.

Und er erkannte: außerhalb Europas, wo eigener Kontur gestattet, vermag
auch die Ärmste als Dame zu wirken, in Europa die Reichste -- kaum, denn
man kann wohl modelos -- uneingekleidet --, doch niemals
schlechtgekleidet eine Dame sein, die Eleganz Europas aber blieb stets
ein ungeheuer kostspieliges »trotzdem«: trotz Reihersteiß auf der Stirn,
-- immer irgendwo zu lang, irgendwo zu kurz, nicht allzu grotesk zu
wirken.

Für fünf, sechs erlesene Frauen hieß »elegant« sein, sich jeden schiefen
und toten Wahn gestatten können, wie ein Hindernis ihn nehmen, immer
noch scheußlicher, immer noch höher! Alles überwinden durch
unzerstörbare Rassigkeit der Anlage. Wenigen Frauen -- Zufallstreffern
aus Blutmischungen -- gelang es halbwegs. Sie balanzierten dann auf
einem schmalen Streifen Seligkeit ihre labile Auserwählung zwischen
Abstürzen ins Lächerliche dahin. Die aber in Europa solcherart elegant
sein wollten, konnten außerdem nichts anderes sein.

Lachend meinte er einmal zu Gargi: »Die Hälfte an Energie würde genügen,
einen neuen Indra zu machen, wie es der König Vismavitra konnte, hier
wird ein neuer Hut draus.«

Nein, er wunderte sich nicht mehr, daß Winifred Cadogan nie Muße und
Kraft gefunden, zu erkennen, »Eau de Cologne« sei französisch und
wirklich das, was sie ja immer schon »Eau de Cologne« genannt.

Er verdachte es ihr nicht. War zu sehr Mann dazu, orientalisch
empfindender Mann, wußte: jeder Defekt an der Frau ist nur Gradmesser
des erotischen Tiefstandes ihrer männlichen Umwelt.

Als Gargis Trousseau vollendet war, zogen sie sich fast ganz auf ihre
Zimmer zurück.

Es war ja alles voll gemeiner und irgendwie unreiner Personen und voller
Genüsse für Sträflinge auf Urlaub -- für zu früh Freigelassene oder zu
lange Eingesperrte. Das Ganze ein bengalisch beleuchtetes hündisches
Hinliebeln an jeden weiblichen Prellstein mit Tam-Tam-Begleitung; von
allem zu viel, nur von einem zu wenig: Takt.

»Sie scheinen extrem anspruchsvoll,« sagte Sir Osmond verwundert, »Paris
ist ja allerdings nicht mehr, was es war ... diese vielen Südamerikaner.
-- Kommen Sie doch lieber nach St. M., da finden Sie jetzt die besten
Leute von hier und drüben.«

                   *       *       *       *       *

Der 1912te Jahrestag der Geburt Christi: des europäischen Heilands.

Somit waren heute wieder die Trabrennen auf dem tiefgefrorenen See des
sehr mondänen Winterkurorts 1800 Meter über dem Meere eröffnet worden.

Horus hatte sich, seiner heimischen Gewohnheit treu, auf seinem
Appartement allein servieren lassen: Brot, Reis, Honig, Früchte und
Milch. Gargi, erregt, fast entzückt von dem milden Eis dieser neuen Luft
und hingegeben der ganzen, ihr so fremden Weiße der Welt, blieb in einen
Chinchillamantel gewickelt auf dem offenen Balkon allein. Ihr Gefährte
ging, sie nicht zu stören. Er wußte: nun würde sie zum erstenmal in
Europa die tiefen und heiligen Spiele ihres wundervollen Atems in der
Firnenstille erproben, sich mit der Kraft aller Sehnsucht bis ins
Innerste zu reinigen versuchen von der Minderung an Kaste, an der sie,
seit der Ankunft in Marseille, stumm litt.

Die Welt war wie ein Negativ. Alle Helle stieg aus dem Boden. Die Erde
erleuchtete sich selbst und das Firmament.

Er wanderte an dem schneegebeugten Campanile vorbei und immer auf
flaumigen Kristallen hinauf einen gläsernen Berg. Ihm fielen die schönen
Namen der neuentdeckten Metalle und seltenen Edelgase ein: Ytterbium,
Palladium, Thorium, Argon, Neon, Tantal, Praseodym. Praseodym; stumm
hörte er es sich noch einmal an, zwischen Mund und Ohr: das
Körnig-Kühne.

Manchmal löste sich eine weiße Last schwer aus den gebeugten Lärchen,
stäubte lautlos nieder in das ganz große Weiß, und der befreite Zweig
schwankte leise die Sternenbilder auf und ab.

Endlich kehrte er ins Astoria zurück. Das Gedränge in den
Gesellschaftsräumen ließ das Vestibül von Gästen leer, nur eine
kostspielig aussehende Dame schritt ruhig und ahnungslos zum Lift.
Hinter ihr drein, mit einverständlichem Gaunergegrinse gegen die
Portiersloge, macht der Zimmerkellner blitzhaft eine Geste von geradezu
infernalischer Gemeinheit, die jene Dame geschändet zurückläßt. Ein
Tritt mit den Augen gibt ihr den Rest. Seine gründreckige Fratze voll
Gier, Hohn, Schadenfreude bemerkt jetzt eine fremde Gegenwart, und alles
ebbt ins ölig-tückische zurück. War es überhaupt gewesen?

Er ging lautlos auf seinen Schneeschuhen weiter in die Garderobe. Einer
der Lungerknaben vertauscht mit affenartigem Geschick Börsenaufträge und
Rendezvous-Billets aus verschiedenen Überziehertaschen miteinander, zwei
gemauste Habannazigarren zwischen den vorderen Zahnlücken. Der Gast. In
einem Augenaufschlag die gleiche Wandlung wie vorhin: ein devotes
gedunsenes Kind aus Messingknöpfen hilft dem Herrn Pelz und Überschuhe
ablegen. Er ordnet die Frackkrawatte -- hinter seinem Rücken erscheint
im Spiegel phantomhaft wieder der andere Aspekt: angefressene Finger
prüfen, zynisch bis in jede Phalanx hinein, die Qualität seines
Mantelfutters.

Die gleichen Finger flechten ihn mit sadistischer Beschleunigung in die
Drehtür, als wärs aufs Rad, und er steht in der Hall. Aus ihr schlägt
die Grellhölle. 1500 Glühbirnen _à_ 75 Kerzen, alle just in Augenhöhe.
Überdies läuft noch jeder der imitierten Marmorsäulen um die falsche
Entasis ein metallener Serviettenring aus geschnörkelten Lichtspritzen.
Alle schießen sie mitten ins Gesicht.

_Keiner der oberen Vierhundert scheint das zu sehen_, wiewohl die
meisten blutige Fasern in Augäpfeln haben, die tränen.

Drei Orchester durchfetzen gleichzeitig die Luft. Hier in der Hall bei
dem großen Rotbefrackten zerrt eben das Fagott in der einen -- die
Geigen in der andern Ecke -- mit viel Tremolo oben und unten heftig an
je einem Bein des Themas, so daß es in der Mitte, gerade über dem Kopf
des Dirigenten mit einem Knall in den eigentlichen Puccini zerplatzt. Da
ertrinkt für einen Moment sogar das Arrageschrei der Amerikanerinnen.
Rechts hinein johlt ein pfiffig schleifender Foxtrott aus dem Tanzsaal
nebenan; was von links die Zigeunerkapelle aus dem Restaurant winselt,
ahnt keiner. Sie hat -- gleich den Stymphaliden -- schlichthin ins Essen
hineinzu ... musizieren.

Dem Entsetzten beginnt das Herz zu hinken in diesem hahnentrittigen
Trippelrhythmus, während lange Kakophoniefäden quer durchs Gehirn fatal
von Ohr zu Ohr ziehen.

_Keiner der oberen Vierhundert scheint es zu hören._

Aus den Fräcken italienischer Kellner, aus ihren Manschetten, wenn sie
Whisky-Soda servieren oder theatralische Viktualien, steigt der faulige
Geruch muffelnder Schlafkammern, in denen ihre ungepflegten Körper die
Servierdreß über verwesende Wolleibchen ziehen.

_Keiner der oberen Vierhundert scheint es zu riechen._

Horus hatte innerhalb der Aura eines Mittelmeerkulis den Atem angehalten
und versuchte nun wieder an anderer Stelle Luft zu schöpfen, sie war
jedoch in diesem gegen die äußere Reinheit mit allen Machtmitteln der
Mechanik abgedichteten Raum schon völlig verbraucht. Rotierende
Windmotore fegten nur immer die Lungenexkremente der einen den andern in
den Schlund.

_Keiner der oberen Vierhundert scheint es zu fühlen._

Es war nach dem gemeinsamen _X-mas-dinner_ zur Feier der »geistigen
Wiedergeburt des Menschen«, wie europäische Schriften behaupten:

      _Royal natives
      Consommé des rois étoilés
      Mignonettes de chez elles à la Nazareth
      Entrecôtes à la Sainte Vierge
      Délices de fois gras Getsémaneh
      Chapons à la Broche St. Jean
      Parfait des Mages
      --
      _Frivolités_.
      -- -- -- -- --_

Besonders Johannes der Evangelist war als Kapaun überaus fett gewesen.

In kleineren Sälen, für Privatgesellschaften reserviert, ging die
Theophagie noch weiter. Jemand, mit einem Banalitätstumor im Gehirn,
sprach irgendwo rastlos Toaste. Im Spielzimmer saßen gewesene Menschen
seit vorigem Mittwoch beim Bridge. Die große Hall aber füllten die
eigentlichen Ortswechsler von Beruf -- »die Auslagenarrangeure ihrer
selbst« -- krampfhaft bemüht, immer im Lichtkegel des Scheinwerfers zu
bleiben, von Florida bis Kairo. Eine irrende Horde, ewig im Umkleiden
begriffen; mit hundert Kilometer Stundengeschwindigkeit eilend von einem
Ort, wo sie nichts verloren -- zu dem andern, wo sie nichts zu suchen
hat.

Horus wäre gerne ganz in das wabernde Schmalz des Puccini geflüchtet,
als Schutz gegen die Qual der Triplekakophonie. Es stand aber eine
Phalanx dazwischen. Nicht zur eigentlichen Gesellschaft gehörig,
heraufgespien von den Trabrennen: aus allen Angeln gedrehte Lebekommis,
muskulöse Herren auf »esku« aus der Pariser Affenoase mitten in der
wilden Walachei, denen sehr schwarze Haare aus sehr weißen Manschetten
stachen, ethisch völlig ausgeweidete Semiten aller Gegenden und Zonen,
erfolgreiche balkanische Bandenführer im Smoking -- das Nationalkostüm,
größtenteils aus einem Nachthemd und zwei Pistolen bestehend, trugen nur
mehr ihre Könige bei Photographen, junge Börsenbrut, von Angesicht, als
habe eine Hausse in Trebern sie eben auf den Lebensmarkt geworfen, und
der Kaufherr aus Braila, dessen gerundete Handbewegungen immer noch die
Qualität der Schweinsbohnen liebevoll abzuwägen schienen, während seine
Äuglein wie Läuse über alles hinkrochen.

Da vorbei schien unmöglich. Wenn sie in ihrem kabbalistischen
Jobberslang von »Abstammung und geleistete Arbeit« sprechen für gutes
Abschneiden, und von »satteltief« sich unterhielten, ohne daß man je
sicher war: meinten sie ihre Rosse oder ihre Weiber -- _das_ vertrug er
noch nicht. Lieber an den amerikanischen Müttern vorbei, um die ganze
Hall herum.

Wie er so stand, versank ihm die Menge im Raum. Er fühlte für den
Augenblick nur dessen zudringliche Saloppheit, die noch so
unbeherrschten Machtmittel des Architektonischen am »Wohnleib« Hotel,
und sich darin als Transvestiten.

Der ganze bedrohliche Kasten war, wie alles »neueste«, im Gegensatz zum
räudigen Tragantstiel kleinerer Börsencoups der achtziger Jahre, ganz
auf Südamerika berechnet, somit auf den natürlichen Ungeschmack des
Romanen, zum Exzeß gesteigert durch Reichtum und Hitze: Stil des
Tropenkollers ausgebrochener Sträflinge und nachmaliger Präsidenten von
Republiken.

Gleich rechts vom Eingang saß schon einer: der alte Porphyrio Pães.
Sauer war es ihm geworden, endlich seine dreißig Millionen ins Trockene
zu bringen. Einmal war er der »Rebell« gewesen, dann wieder der andre;
ewig wechselnd. Oft auf der Flucht, hatte er sich schließlich aber doch
darauf verstanden, daß im kritischen Moment immer seine Gegner von ihm
abgeschnitten wurden »in Bezug auf die Köpfe«, wie es im spanischen
Satzbau gebräuchlich ist.

Neben ihm hingen Sir Osmond Cadogans Beine als Schwebebrücken über die
Hall zum fernen Kamin; der Verkehr wickelte sich unter ihnen klaglos ab.
Seine schimmernden Pumps, offenbar heliotropisch, suchten so automatisch
das Feuer, wie die Blüte das Licht. Er saß -- die Schultern auf dem
Sessel -- nur der rechtwinklig abgebogene Kopf stand einsam in die
Lehne hinauf und gab ihm das Aussehen eines sehr soignierten
Jahrmarktautomaten -- gleich würde er Lotterienummern zu spucken
anfangen. Der ganze Sitzvorgang war bei ihm gleichsam um ein Stockwerk
verlegt.

Die Hall barst von Stimmen. Unwillkürlich horchte Horus hin.

»Genia, waren wir schon in Rom?«

»Rom? -- _Oh mommo_, das war doch dort, wo wir die hübschen seidnen
Strümpfe zu 14 Frs. 75 gekauft haben,« und Genia Waanebeeker wechselte
zum Kamin, das kühle Gelee ihres Temperaments erzitterte leise, denn
dort zerfloß schon allzulange Linda Bordone neben dem schönen Archangelo
Cavadini.

14 Frs. 75, das ist doch 3 Dollar 5 Cent, oder verwechsle ich es wieder
mit Fahrenheit -- aber meine Liebe -- bei Debenham und Freebody bekommen
Sie doch _first class hosiery_ für _eleven six pence_, das ist nur 13
Frs. 90! -- überhaupt London: da haben Sie Harrod's und Jay's und
Selfridge -- und ... Aber ein Gegenchor stand auf: nein, es gibt nur ein
_place for shopping_: die _Galeries Lafayette_ -- die Transformationen
dort, die »_blouses_« und alles versank endgültig in dem Rachen des
großen Pofels.

Er war sehr begehrenswert, sehr anders, wie er im makellosen Abendanzug
durch den Saal schritt, sogar die Mütter tauchten einen Moment aus den
»_Galeries Lafayette_«, wo es am tiefsten ist, und berieselten ihn
gierig mit ihren Lorgnons.

Er fühlte: eine stilisierte Sehstörung in Brillanten an einer
byzantinischen Nabelschnur. Wie kann man etwas für jedes halbwegs
gesunde Empfinden so Beschämendes, wie einen Defekt am edelsten Sinn:
dem Auge, noch durch Edelmetalle und Steine unterstreichen -- wie kann
man sich mit einem Körperfehler schmücken? Da bemerkte er, angewidert
und belustigt zugleich, daß ja auch manche Lorgnons in Fingern ruhten,
die Ringe an Gichtknoten trugen.

»Warum hängen sich die alten Frauen in Europa nicht lieber einen Scheck
in gleicher Höhe um den Hals, wäre das nicht optisch erfreulicher, als
Perlen über häutige Hälse holpern zu lassen?« Und die traurige Frage
ward groß in ihm: »Werden die Menschen im Alter um so viel häßlicher
hier, weil sie sich selbst _ähnlicher_ werden?«

Getrennt von der kompakten Trabrennhorde trieb sich ein scheinbar
wildlebender Jobber: Drilling aus Roßtäuscher, Schmierenkomödiant und
Galopin ständig in der Nähe der Separées herum. Träufelten dann
Privatgesellschaften heraus und zerflossen in die Hall, versäumte es die
Gastgeberin fast nie, gerade diesen etwas von oben herab -- und doch
wieder ängstlich -- in ein Gespräch zu verwickeln. Als Horus vorbeiging,
stand eben eine Dame, nach dem Kanon des Öltanks gebaut, bei ihm:

»Prinz Strasyboulos Argyropoulos führte die Hosteß Mrs. Beermann aus
Chicago, die in einer höchst kleidsamen Kreation von Cheruit besonders
faszinierend aussah. -- Nein, schreiben Sie lieber: Der Marqueß of Kar
and Kinstone führte die Gastgeberin Mrs. Beermann aus Chicago, die ...«
Ganz am Ende kam noch eine Reihe wohlklingender Gäste.

»Kein Mr. Beermann -- keine Miß Beermann anwesend?« Der Drilling frug es
mit sardonischem Grinsen.

Sie zauderte. Sollte diese makellose Dinnerfassade durch weitere
Beermanns Abbruch leiden? »Nein,« entschied sie, »die Liste ist
vollständig; aber daß es sicher morgen im Herald erscheint.«

Und die so jäh dem Schoß ihrer Familie Entbundene versuchte sich mit
gnädigem Nicken zu entfernen.

Da sagte der Roßtäuscher von der andern Fakultät, dort wo sie schon an
Kunst und Literatur grenzt: »Bedaure, wir sind mit Notizen >aus der
Gesellschaft< für eine Woche komplett. Wir mußten schon Lady Cadogan
zurückstellen. >Lady Eveline,< sagte ich zu ihr, >es ist mir nicht
möglich, selbst einer so alten Freundin ...<.

»Ich werde Ihnen sofort Mr. Beermann schicken, um das zu regeln.«

Und Mrs. Beermann jagte ihren über das ganze Hotel ausgeronnenen Gästen
nach. Nur Mr. Beermann stand noch da und schielte zum Erschrecken in
seine eigene Brieftasche hinein. Mit Bedauern und Geringschätzung sah
Lizzie Beermann zu ihrem eisblonden Tischherrn hin, nun saß er wieder,
sichtlich befreit, bei seiner eigenen »_set_«. Wie eine verpflanzte
Blume war Lizzie zwischen den bleckenden Stiefeln, den Schlachthäusern
und goldenen Gebissen Chicagos syrisch ausgeblüht, litt und zersehnte
sich nach dem, »dessen Kehle süß und der ganz lieblich ist.«

Am Ende des Abends ergab sich aus dem Notizbuch des Drillings, daß der
Marqueß of Kar and Kinstone im ganzen acht Hostesses und Prinz
Strasyboulos Argyropoulos deren sieben heute zu Tisch geführt hatte.

Horus glitt an lungernden Baronen, an Epheben von den Aasfeldern der
Zivilisation vorbei, quer durch den Raum zum Kamin, wo Linda Bordone wie
hingeweht saß, neben dem schönen Archangelo Cavadini.

Die gebauschte Gaze ihres Kleides strebte in Flatterschlägen eines
jungen Huhnes an ihm hinauf:

»450000 Tausend bar, mehr kann ich von Onkel Barnabas nicht
herauspressen,« und sie versuchte in der trockenen Spannung dieses
eisigen Schlußschachers nach vier verpürschten Saisons ihrem armen
Stimmchen das arglose Zwitschernde zu wahren, zu dem jungfräuliches
Dahinblühen, eine noch aufrechte Forderung aus der verflossenen
Generation her, sie verpflichtete.

»Die Differenz ist ja nur 50000,« ihre hübsche zitternde Hand berührte
leicht seinen Arm.

Wie eine gereizte Maus ließ er seinen Bizeps unter ihren Fingern
aufschnellen. Dann fiel ihm ein, wie er das hier doch eigentlich gar
nicht mehr nötig gehabt hätte. Verschwendung. Aber er konnte es nun
einmal nicht lassen.

»500000 bar,« und seine Stimme war um so kälter und härter.

»Als angehender Politiker,« fuhr er fort, »wäre es überhaupt für mich
vorteilhafter, noch nicht gebunden zu sein -- aber sollte ich mich
entschließen -- wir, die wir für ein größeres Italien kämpfen, für den
Genius der Rasse ...«

»Ist denn Genia der Genius der Rasse,« zischte sie plötzlich kalt wie
Metall.

»O, wie töricht sind unsre Männer, immer auf diese Fremden
hereinzufallen. All ihr Geld brauchen sie für sich allein, der Mann darf
nicht einmal das Auto mitbenützen, und raucht er im Schlafzimmer eine
Zigarette, so lassen sie ihn verhaften.«

»Quadrupedescu hat gestern nacht beim Bakkarat Monseigneur 200000 Frs.
abgenommen,« meldete Genia Waanebeeker. Von den Raeburngirls lange
aufgehalten, denen ihre Eile verdächtig gewesen, hatte sie erst jetzt
den Kamin zu erreichen vermocht.

»Welch bezauberndes Kleid -- wo ist es her?« Und sie verschob dabei mit
zärtlicher Hand ein ganz klein wenig die Garnierung, die in Lindas
Rücken ein Feuermal verdecken sollte.

»Callot _soeurs_,« und Linda erhob sich, um in die Garderobe zu gehen.
Ohne Doppelspiegel konnte sie das im Rücken nicht richten, und ihr
Lächeln war auch schon ganz durchgewetzt. Einen Augenblick zischten sie
maskenlos gegeneinander an; das latent Megärenhafte, heraufgespien in
ihre jungen Gesichter: zwei fletschende Gorillaweibchen mit schleifenden
Vordergliedern unter Talkumpuder -- bekleidet von Callot _soeurs_.

Wie Linda hinausschritt, betrachtete Horus die gerühmte Toilette. Sie
schien ihm eine überaus verzwickte Angelegenheit: vorne schief,
rückwärts gewickelt, mit der halben linken Brust auf der rechten
Schulter und einer gestickten Geschwulst ohne ersichtliche
Existenzberechtigung um den Nabel; es sei denn, das Ganze stilisiere
einen verwachsenen Knaben im fünften Monat einer Gravidität.

»O, Callot« -- Genia sprach es Kéllo -- »ich gebe meinen untersten
Dollar bei Kéllo aus!« Daß auch Europäerinnen in Paris arbeiten ließen,
fand sie eigentlich anmaßend.

Sie trug den Kopf sehr hoch. Teils als Bürgerin der »_grandest nation of
the world_«, teils der leisen Drohung des mütterlichen Doppelkinns sich
bewußt. Sie mußte sich beeilen, ehe Linda zurückkam:

»Eine Rente; Kapital zahlt _dad_ nicht heraus, aber er ist eine Million
Dollar wert, und da _mommo_ sich sicher scheiden läßt, bin ich einzige
Erbin. _Dads_ Leber ist auch gar nicht in Ordnung.«

Archangelo wandte langsam die schweren Spiegeleieraugen nach der
Richtung, wo Josua Washington Waanebeeker, rosa und springlebendig,
Ohren und Hände vital behaart, nicht einmal Whisky, sondern das
bekömmliche Selters trank.

»600000 bar,« sagte er. »Wir, die Nachkommen des alten Rom -- die wir
für ein größeres Italien kämpfen -- für den Genius der Rasse ...«

Ihr Stolz bockte auf -- »Von einem Mann ohne Titel verlangen wir
Amerikanerinnen mit Recht, daß er sich selbst erhalten könne, übrigens
entspricht meine Rente kapitalisiert ...«

Horus ging weiter. Tief herauf aus der Gegend der Privatkomptoirs:
Apisgräbern mit Safes, drang »machtvoll dreischlündiges Bellen«.
Schüchtern schienen Beteuerungen, Beschwichtigungen ihren
Diplomatenschleim drüber streichen zu wollen. Elihu Lincoln Rosenbusch,
einer der gefährlichsten Aasgeier von Wallstreet, mit einem kalten
Cherubkopf, hatte eine Flasche Gingerale im Werte von sechzig Centimes
zu viel auf seiner Wochenrechnung gefunden.

Alle vier Direktoren hatte er sich daraufhin kommen lassen, sein eigener
Privatsekretär -- er hatte den Irrtum übersehen -- zerfloß in
Schlotterschweiß, und nun ging der Alte daran, gewaltige Abzüge
herauszuschinden. Dafür war er berühmt. Einer der wenigen so Reichen,
daß sein Name nur mehr in Anfangsbuchstaben in den _head lines_ der
Zeitungen zu erscheinen brauchte, gab sein als Sport betriebener Geiz in
persönlichen Ausgaben fast jede Woche den Journalisten Stoff zu
Überschriften:

»E. L. R. erwirbt eine rosa Unterhose bei Giles und Smallweed um zwei
Dollar 5 cent. Findet einen Webfehler, fordert Schadenersatz, gleicht
sich aus, indem er das Warenhaus übernimmt, verkauft die rosa Unterhose
in eigener Regie weiter, trägt nun wieder seine alte Gelbe auf.« Oder:

»E. L. R. verdient an der Instandhaltung seines Golfplatzes jährlich
7680 Pfund Hammelspeck! Schickt Gärtner und Mähmaschinen fort, läßt die
_greens_ von Schafherden kurzfressen.«

Pausierte denn der Schacherkrampf nie und nirgends? Und wo er nicht in
den Worten, da zog er sich unter der Haut hin, durch Blut, Herz, Hirn
und Traum. Dabei war ihm vieles aus diesen Gesprächen, noch mehr an den
Sprechern, unverständlich geblieben. Welchem Kulturkreis, Kasten gab es
ja nicht, wie er erfahren, konnten etwa diese beiden Mädchen angehören?
Er begriff es nicht. In Joshivara, der Luststraße Tokios, war er
gewesen, in den Freudenhäusern Ispahans -- kannte die Courtisanen von
Madura und Travankor. Aber die letzte Pariafrau des letzten
Hafenbordells Ostasiens hätte ihr erotisches Niveau nicht so gedrückt,
selbst um ihren Preis zu feilschen. Bei den freien Prostituierten
ordnete der Mittler oder eine Dienerin die pekuniäre Frage; in den
öffentlichen Häusern wurde gleich beim Eintritt schweigend ein Betrag
erhoben, dann erst erschien, unter Wahrung jeder Illusion, das Objekt
der Liebe selbst: ein höflicher, sanfter, zwitschernder Traum. Anders
hätte es die erotische Verwöhntheit eines Kuli nie ertragen.

War vielleicht das ganze Hotel ...? Doch nein, er erinnerte sich nicht,
auf seiner Wochenrechnung einen derartigen Posten gefunden zu haben.
Auch hätte es ja, den Reden nach, ein öffentliches Männerhaus sein
müssen, wie jenes, das er in Paris besucht.

Er fühlte wohl, daß da, rätselhaft noch in ihren letzten Ursachen, eine
Sexualnot ohne Gleichen schrie aus solcher Depravation. Die beiden
Frauen aber hatten auf alle Fälle aufgehört, es für ihn zu sein: Erreger
seiner schöpferischen Phantasie. Und dieser romanische Ephebe: wodurch
wurde dieses Männchen mit seinem eisig lümmelnden Gockeltum, das jede
asiatische Dame abgestoßen hätte, zu einem Wertgegenstand?

Er lief mit den Augen über Hall, Salons, Bar. Endlich in soviel Geiz,
Grelle und Gier das erste glückliche Gesicht. Der frohe Mann ruhte,
einem friedlichen Engerling gleich, hell und fett mit dem Ausdruck
verklärter Dankbarkeit gegen Gott und die Welt in einem _easy-chair_.
Sein einziges Kind war hier im See ertrunken, und so war es auch der
einzige Ort, den seine Gattin mied. Hier war er sicher. Überall anders
hin reiste sie nach, nahm mit stürmender Hand Freudenhäuser, in denen
sie seine Anwesenheit vermutete, überschüttete ihn dann mit tätlichen
Insulten, Ehebruchsklagen; scheiden ließ sie sich nicht. »Bis zum Tod«
war die Devise ihrer zähnefletschenden Treue.

»Margot -- Margot.«

Widerwillig löste sich ein leuchtendes Mädchen aus der Gruppe _College
boys_ auf Weihnachtsferien. Wie Enden des jäh abgerissenen Flirts wehte
es hinter ihr her. Die Knaben wachten auf aus ihrer Freude, empfanden
wieder die eigenen Bernhardinerpfoten überall um sich im Weg und wurden
knurrig.

»Jeder ein Shiva mit siebzehn Ellenbogen,« dachte Horus erheitert, dem
Plumpheit -- ungeschlachtes Wesen -- an Jugend etwas ganz Neues war.

»Margot -- Margot,« die wenig elegante Frauensperson in seiner Nähe
winkte das leuchtende Mädchen immer energischer zu sich. Dieses erlosch.
Man sah förmlich, wie das Glück in ihren Nerven stockte.

»Was ist denn wieder -- was störst du uns?«

»Sind das vielleicht Epouseure? Was treibst du dich mit solchen Buben
herum? Sind das Aussichten?«

Sie hatte, gereizt wie sie war, so wenig leise gesprochen, daß Horus
erst jetzt aus dem Bereich ihrer Worte herauskam. Dafür sah er Margot
Chenal mit ihrer ganz verzerrten Miene die Antwort nicht schuldig
bleiben.

In seinem Hotel zu Paris war ihm die auffallend rassige Südfranzösin
öfter mit dieser Frau, einer Tante aus Rouen, wie er erfuhr, auf der
Treppe begegnet oder im Lift, ohne daß die beiden jedoch Gäste des
Hotels gewesen wären. Sie verschwanden immer entweder in den Zimmern der
Mrs. Ralph Waldo Cushing, einer der Töchter Rosenbuschs, oder anderer,
sehr reicher Amerikanerinnen.

An dem Mädchen, dessen Temperament ihm imponierte und angenehm auffiel,
trotz etwas hilfloser Direktheit, war ihm zweierlei nicht entgangen: das
pauvre, schlechtgeschnittene Tailormade und die außerordentlich
eleganten Lackschuhe mit ihren kostbaren Schnallen. Immer das gleiche
Kostüm, immer verschiedene neue Schuhe. Nur mühsam schien dem Kind das
Gehen, und eine Falte des Unbehagens rann ihr dabei zum Kinn, und doch
stieg sie oft und oft die Treppen auf und ab, oder lief rund um die
Place Vendôme. Einmal erkannte er ein Paar besonders falsch gebauter
Sämisch-Leder-Pumps, die große Zehe lag in der Mitte des Schuhes, an
Mrs. Cushings Füßen wieder. Sie machte gar kein Hehl daraus. Es sei in
Newyork Sitte, sich diese immer etwas schmerzhafte Schuhpremiere zu
ersparen, die Chaussüre von jungen Personen, die man dafür bezahlte,
erst ein paarmal weichtragen zu lassen, es schonte doch sehr.

Hier war Margot Chenal ebenso kostspielig, reizlos und irrsinnig
gekleidet wie die übrigen, nur trug sie am Abend ausnahmslos das
gleiche, offenbar durch Alter reichlich geweitete Paar weicher
Seidenschuhe.

                   *       *       *       *       *

Bei Porphyrio Pães und Sir Osmond saß nun auch Dr. Hafis. Horus mochte
alle drei nicht ungern um ihres trockenen Witzes willen, und weil sie --
in Pausen -- von Geld sprachen. In der Hoffnung auf solch eine Pause
gesellte er sich ihnen zu.

Von Porphyrios Hals schlich eine brüchige Vene den kahlen Schädel
hinauf, bog rechtwinklig am Ohr ab und mündete auf dem Scheitel in eine
überhängende beerenschwere Warze. Beim Kauen oder Sprechen geriet die
Vene jedesmal in Bewegung wie eine Klingelschnur, und oben bei der Warze
entstand ein Moment atemloser Spannung: wird sie läuten?

Er sprach: »Peru hat Peruaner. Japan hat Japaner. Warum hat die Schweiz
keine Schweizer?«

»Es muß doch welche geben,« meinte Sir Osmond, »existiert da nicht ein
Präsident?«

»Wie heißt er?« Niemand wußte es. Der erste Nachtportier, der Barkeeper,
fünf Lungerknaben, der Manager, alles wurde gerufen. Keiner wußte, wie
der Präsident der Schweiz hieß.

»Sehen Sie wohl,« triumphierte Porphyrio, »es gibt so wenig einen
Präsidenten als ein Schweizervolk; dies haltlose Gerücht wird aus
Reklame oder Gott weiß weshalb von der >_International Alpenglühen
limited_< ausgestreut.«

Dr. Hafis meinte:

»In grauer Vorzeit muß es aber doch welche gegeben haben. Es werden eben
jene zwei fremden Leute aus Bronze sein, die in jeder Stadt des Landes
stehen. Entweder: ein Lackel im Nachthemd mit Eispickel in Kreuzform und
drunter liest man: Zwingli; oder: ein Greis mit Basedow belästigt ein
Kind: Pestalozzi. Welchen Zweck könnte es für die >_International
Alpenglühen limited_< haben, einen Lackel im Nachthemd und einen Greis
mit Basedow über das Land zu streuen? Sie erhöhen seinen Liebreiz nicht
und verzinsen sich nur ungenügend.«

Aber mit greisenhafter Starrköpfigkeit ritt Porphyrio seinen ersten
Einfall tot:

»Überhaupt ein europäischer Präsident,« knurrte er, »das hat ja bloß
drei Funktionen. Erstens: alle verbündeten Kaiser-, Königs- und
Fürstenkinder zu Weihnachten mit Puppen zu versorgen. Zweitens: in allen
zeitgenössischen Monstreskandalprozessen restlos verwickelt und auf das
Schwerste kompromittiert zu sein. Endlich mindestens einmal in der Woche
für das Kino bei strömendem Regen, mit triefendem Schirm und Zylinder,
hinter einem berühmten Leichenwagen herzustapfen. Das ist ein Präsident
-- in Europa,« fügte er mit der Miene eines Tigers, der ein Kipfel
ausspuckt, hinzu.

Archie Payne schlurfte, Fäuste in den Hosentaschen, herbei. Glatt
hinausgestrichen war das albinobleiche Haar aus dem eiskalten
Hexengesicht des Neunzehnjährigen. Er wäre der erfolgreichste Snob
Newyorks, also der Welt, geworden, hätte ihn seine explosive Frechheit
nicht zuweilen wieder betrüblich zurückgeworfen -- den restlos
Bedientenhaften, den Geist ihrer Umgebung stets mit der
Gewissenhaftigkeit von Chamäleons Widerspiegelnden, zum Gewinn.

Mit geheimnisvollem Sphinxlächeln raunte er den andern zu:

»Es gibt sogar noch heute lebende Schweizer, aber verraten Sie die armen
Dinger nicht.«

Er schien mit Bardenhänden in eine imaginäre Leier zu greifen und machte
Märchenaugen:

»Hark! In seltenen hellen Nächten -- um die Mitternachtsstunde -- da
kommt es bisweilen im Mondlicht hervorgehüpft und heißt etwas, das
klingt wie >Rüdisütli<. Doch schon stürzt sich die lauernde Horde der
Weltkommis mit Blitzlicht, Büchse und Selbstknipser, >hurra< aus dem
Hinterhalt brüllend, drauflos, und mit einem Pfeifen der Angst
verschwindet es, gleich dem Murmeltier, wieder hurtig im Gestein.«

»Nun versuchen Sie's doch einmal mit einem Schmetterlingsnetz oder einer
Zauberformel, Archie,« meinte Sir Osmond. »Ich zahle jeden Preis und den
doppelten für das lebende Exemplar.«

Der Marchese Strondoli wartete. Er wartete seit sieben. Jetzt war es
halb elf. Seit vier Uhr machten die beiden Friseure Schichtarbeit,
desgleichen die erste und die zweite Kammerfrau. Die strategische
Leitung lag in den behaarten Händen des zahmen Russen vom Moskauer
Ballett; Entwerfers der Kostüme und Garderobiers.

Im kleinen Drawingroom nebenan wartete auch die Gastgeberin: _her grace
of D._ mit den übrigen Gästen. Strondoli aber hatte jene Dame, auf die
alle warteten, in der Hall zu empfangen, als der erkorene Begleiter. --
Vermutete man mehr, so lehnte er geschmeichelt und kraftlos ab. So
einfach aber lagen die Dinge durchaus nicht.

Vor einer halben Stunde war gemeldet worden, sie stehe schon auf dem
Korridor. Auch daraufhin blieb er innerlich noch immer mit
untergeschlagenen Beinen sitzen -- wußte: _force majeure_, was einer
Dame im letzten Moment noch alles an Kosmetik einzufallen vermag.

Da bemerkte er im Spiegel das Fräulein Erika Unbehagen, Erzieherin im
Hause Beermann, eine Faust im Mund, sich käseweiß in die Wand des Foyers
einkrallen: nun war es Zeit.

Der gläsernen Keimzelle des Lift entstieg die Principessa Dango: »_la
princesse macabre_«. Der zahme Russe streute noch knieend den riesigen
Dogaressamantel aus Kolibrifedern hinter ihr aus; von viertausend
Vogelbälgen waren nur die rostgoldenen und rosigen Federchen eingestickt
in ihn. Einen schrägen Fächer aus denselben leuchtenden Leichen hielt
ihr starrer Arm hinter dem Haupt hoch, aus dem waberndes Henna
hervorbrach, zu einem Adlerhorst auseinander toupiert.

Sie schien ein Wesen aus zitterndem Silberdraht.

Blutige Binden von Rubinen lagen ihr um den bläulich harten Totenkopf,
und in Rubinen blutete es immer weiter über karfiolfarbene
Windelgewänder herab und bleiche Arme -- Herztropfen all der Kolibris --
bis nieder zu den Händen, an denen lilablasse gewölbte Nägel gleich
Magnolienblüten groß an kahlen Fingerzweigen ragten.

Sie wand sich vorwärts, als wäre sie erblindet von dem kobaltblauen
Pulver in den mächtigen Augenhöhlen. Prachtvoll schnitt in den fahlen
Kopf das Schwert ihres langen Mundes -- querhin durch Taubenblut
gezogen: der Hyänenprinzessin Mund, wie er ein viergeteiltes Reiskorn
bei Tag -- bei Nacht Leichen aus Juwelengewändern frißt.

Der Marchese war gezwungen, ihr den falschen Arm zu reichen, denn
hochaufgerichtet hielt sie noch immer mit der Linken den schrägen
Kolibrifächer über das wabernde Henna. Die Vision von Büßern stieg auf
-- den lebenslang Bewegungslosen an den Ufern des Ganges, und von
verdorrten Gliedern, in denen die Vögel nisten.

Sie wand sich in den Fesseln ihrer Exklusivität dahin zwischen Inseln
von gezischtem Schweigen; ein Kielwasser von Entsetzen, Bewunderung und
Mißgunst hinter sich lassend. Lorgnons beschlugen sich mit Rauhreif vom
todkalten Haß der Blicke, aber hier hieß es, sich ducken. Sie war eine
zu hohe und weltbekannte Mondäne. Europas Spießer, noch feucht vom
Brodem des Beisels, wären wohl nicht zu bändigen gewesen -- hätten eine
solche Erscheinung unter veitstanzähnlichen Symptomen niederzujohlen
versucht. Diese hier waren immerhin wenigstens schon Snobs.

»Hohe Rasse,« dachte Horus, »edel im Aufriß -- schade, daß der letzte
adelige Flügelschlag hinauf in schöpferische Vereinfachung offenbar
versagt hat. So bleibt es raffinierte Barbarei. Immerhin, ich will sie
kennen lernen.«

Sie interessierte ihn zu wenig, als daß seine Willkür hier ehrfürchtig
beiseite getreten wäre, die geheimnisvolle Bahn ja nicht zu kreuzen, in
der, nach tieferem Gesetz, jene sich begegnen sollen, die bestimmt sind,
einander bis zu einem bedeutsamen Grade Schicksal zu werden.

Ein _button-boy_ grinste eine Botschaft. Spuckte dabei die ihm
unverständlichen Fremdworte unter Ekelerscheinungen aus, nachdem er
ihnen den Sinn abgebissen -- alles zwischen Tür und Angel von Dummheit
und Frechheit -- bereit, bei strafferem Zugriff sofort in unzugängliche
Verblödung, gestützt auf einen natürlichen Kropf, zu versinken.

Endlich verstand Horus. Es handelte sich um eine spiritistische Séance
bei Lady Cadogan mit ganz erstaunlichen Resultaten unter strengster
wissenschaftlicher Kontrolle. Man bat ihn, hinaufzukommen, zur
Verstärkung des Kreises.

Oben, in einem zu Tode langweiligen Zimmer, war es hell und leer. Aus
dem geschlossenen Nebenraum -- er schien schwer von Menschen --
erschollen gedämpfte Fragen -- tropfende Buchstaben antworteten endlos.
Manchmal schienen die Fragen mit den Buchstaben unzufrieden, dann begann
es wieder von vorn. Schließlich schlich sich eine Stimme auf den Zehen
bis zur Tür und meldete breitgequetscht vor Rührung:

»Neieschte Nachricht aus der Hell: _Der_ Nero fangt ebe aan zu bereie.«

Friedolin Eisele, Präsident der Theosophischen Gesellschaft zu
Bopfingen, stand im Salon und zog Horus durch einen Spalt ins
verdunkelte Sitzungszimmer, aber auch dort flammte es jetzt auf; die
Herren verlangten eine Pause. Man rief nach Whisky-Soda.

Um den ovalen hölzernen Tisch des kleinen Raumes, Lady Cadogans
Ankleidezimmer, von dessen Fußboden der Teppich zurückgerollt worden
war, saßen Knie an Knie etwa acht bis zehn Personen. Eben fiel die
geschlossene Kette ihrer Hände, die bisher wie Polypen die Platte
umspannt gehalten, auseinander.

»Wir haben heute Tiefergreifendes erlebt,« begrüßte ihn die Hausfrau,
»es war direkt eine Eingebung von mir, _after dinner_ den heiligen Abend
noch der Geisterwelt zu widmen. Das mit Nero haben Sie ja schon von
unsrem lieben Adepten Eisele erfahren, aber auch ganze Schwärme andrer
Seelen verdrängen einander heute förmlich aus dem Tisch. Einer sprach so
komisch, wir dachten schon, es sei vielleicht Buddha. Darum ließ ich Sie
heraufbitten, uns sein Sanskrit oder Pali zu übersetzen -- denn,« fügte
sie zögernd hinzu, »vielleicht fällt ihm das Englische schwer.«

»Unsinn, Eveline,« verwies sie Muriel Hitchcock, sich die Nase pudernd.

»Wenn es doch Nero konnte und ohne einen einzigen orthographischen
Fehler zu klopfen, _the darling_, so rührend zerknirscht er auch war.
Habe ich nicht recht, Monseigneur?« wandte sie sich an den zwergischen
Franzosen ihr gegenüber.

Monseigneur aber hatte nicht zugehört; er versuchte so angestrengt, mit
Gloria Rawlinson, die gleich einer wunderschönen, nie angezündeten
Lampe, weiß und golden dastand, ein Gespräch in Fluß zu bringen, daß ihm
der Schweiß ausbrach. Er war vom Typ jener kleinen, instinktschwachen
Rattler; überall, wo es mondän zugeht, wandern auch sie von Schoß zu
Schoß, ohne daß man wüßte, wem eigentlich zur Lust sie gezüchtet werden.
Sein Adjutant: Aquetil du Perron, von Schädel halb Birne, halb Schaf,
massierte still seine weißverkrampften Finger und ließ sich von Winifred
Cadogan mit _petit Fours_ füttern. Madame Bavarowska, voll und wild,
siebenarmige Leuchter in den Ohren unter der Carmenfrisur, erzählte
unterdessen von einem sensitiven Kind, das sie einmal in der _society of
psychical research_ in London zur Beobachtung gehabt.

Sonst ein liebes Kind, aber -- wie Kinder schon einmal sind --
nachlässig eben, immer ließ es beim Spazierengehen seinen Astralkörper
hinten hinaushängen. Ununterbrochen hieß es da aufpassen und hinterdrein
sein, um ihn, wenn nötig, zurückstopfen zu können. In Oxfordstreet sei
es einmal deshalb fast zu einem Skandal gekommen, denn das Publikum --
in Astralkörpern wenig erfahren -- vermutete etwas Unsittliches und
bohrte die Regenschirme hinein.

Man beklagte den noch vielfach herrschenden Skeptizismus der Zeit, wo es
doch jedem Gebildeten offen stünde, durch Auflegen der Hände auf den
Tisch sich von dem persönlichen Fortleben nach dem Tode einwandfrei zu
überzeugen.

Friedolin Eisele widersprach, lobte gerade die wachsende Beseelung der
Zeit, und wie sie dem Wunder immer zugänglicher werde. Erschlug
schließlich jeden Widerspruch mit dem jubelnden Argument:

»Mer havve schogar scho myschtische Bankdirektore.«

Er glich dem freundlichen Seepapagei: ein kugelrunder Anfang, und dann
war es gleich ganz aus mit ihm -- gar der Rede nicht mehr wert. Ein
mystisches Furunkel aus gestanztem Blech wuchs in seiner Krawatte, und
auf dem Zeigefinger der Rechten trug er den Siegelring der Blavatzky als
einer der sechsundsiebzig, die sich rühmen, den echten von der großen
Adeptin eigenhändig auf dem Totenbett erhalten zu haben. Auf der Reise
zu einem Kongreß nach Bern war er -- Lady Cadogans Gast -- auf ein paar
Tage in dieses ihm fremde mondäne Milieu verschlagen worden.

Verklärt hingen der Gastgeberin waschblaue Seheraugen an ihm. Da er
geendet, wandte sie sich Horus zu:

»Und ist auch Ihnen, Mr. Elcho, der Sie zum erstenmal in Europa sind,
diese mystische Atmosphäre, diese wachsende Macht der Magie an unsrem
Kontinent aufgefallen?!«

»Bisher, offen gestanden, nur an Kellnern,« lächelte dieser, »die mir
als einzige in Europa über außernatürliche Kräfte zu verfügen scheinen,
vermögen sie doch, wie durch Fernwirkung, Messer, Löffel und Teller von
scheinbar ganz entfernten Tischen auf den Boden schmettern zu lassen.«

Man lachte oder entrüstete sich, beschloß aber, nun endlich die
unterbrochene Séance wieder aufzunehmen und räumte den Schnaps weg. Die
Lichter wurden gelöscht, alles rückte zusammen und umschloß aufs neue
mit gespreizten Händen von oben die Tischplatte, wobei die kleinen
Finger sich berühren mußten, um, wie Horus staunend erfuhr, jedem die
wissenschaftliche Kontrolle über den andern zu sichern, und somit
einwandfrei die Echtheit der Phänomene.

Und das alles im Zeitalter des »Nicholsonschen Versuchs« -- des
»Raumgitters« -- der »Berechnung des Strahlendrucks«! dachte der
Befremdete.

»In demselben Europa, dem meine ganze Sehnsucht und Begeisterung galt,
um seiner wissenschaftlichen Gewissenskraft willen; das unaufhörlich in
Tausenden von Publikationen, die seine Adelsbriefe sind, über die Erde
hin kündet von Genialität und göttlicher Verbissenheit ohnegleichen,
kündet von Hilfskonstruktionen, Präzisionsapparaten, Sicherungen und
Gegensicherungen, damit ein einziger Nebenversuch um ein weniges
verfeinert werde und sich einordne jenem lauteren, herben, lückenlosen
Geisterbau, der selbst nichts soll als einen neuen Annäherungswert an
das Geschehen ermöglichen -- und gerade durch diese Beschränkung an
Gewalt und Tiefe des Einblicks alle Intuition andrer Kulturen weit
hinter sich gelassen hat?«

Wie war solcher Abstand im Kritisch-Geistigen unter Menschen der
gleichen Rasse, der gleichen Zeit überhaupt erklärbar?

Durch das Fenster kam blaues Schneelicht und zeichnete jedes Einzelnen
Kontur mit einem Meßband aus vergastem Metall. Einige Minuten herrschte
erwartungsvolles Schweigen. Nun wollte jemand eine wandernde Flamme
unter dem Tisch bemerkt haben. Sie erwies sich jedoch als silbernes
Zigarettenetui, das du Perron mit den Füßen Monseigneur auf den Schoß
hinüber zu praktizieren versuchte. Diese triviale Auslegung des
Phänomens fand wenig Anklang. Man solle sich nie durch solch scheinbar
einfache Erklärungen beirren lassen.

Ursprünglich sei es doch eine Flamme gewesen. Der magische Kreis
ermangle eben noch der nötigen Kraft zu dauernden Materialisationen. Das
hätte das Flammengespenst gerade noch rechtzeitig gemerkt, um seinen
Rückzug auf scheinbar natürliche Weise durch das Zigarettenetui zu
decken, dessen Überreichung in diesem Moment durch magische Einwirkung
auf du Perrons Unterbewußtsein erfolgt sei. Nichts schien einfacher.

»_They are sooo smart_« -- sie sind ja so gerieben, bestätigte Lady
Eveline.

Also den Kreis verstärken: Monseigneur und Quadrupedescu, Glorias
Nachbarn, vertraten die Ansicht, intensiverer physischer Kontakt
zwischen den Teilnehmern würde die Phänomene wesentlich fördern. Doch
man heischte Ruhe, wartete wieder. -- Nun knackte die Platte deutlich.
Alles glimmerte vor Erregung, nur Muriel Hitchcock blieb ruhig, das
graue Papiergesicht voll Herablassung seitwärts einem Unsichtbaren
zugelehnt.

»Es ist Alastair. Ich spüre ihn schon die ganze Zeit hinter meinem
Sessel. Nie versäumt er eine Gelegenheit, mir nahe zu sein.«

Sie war aus Philadelphia, trotz wurmiger Haut hübsch, hypersmart, und
gab sich, da sie ein wenig hinkte, gern für eine etwas beschleunigte
Reinkarnation der Lavallière aus. Das mit Alastair aber ging, wie man
nun erfuhr, schon viel länger; seit sie eine wunderschöne griechische
Hetäre zu Alexandrien gewesen und er, als Säulenheiliger, aus
Leidenschaft zu ihr sein Gelübde gebrochen hatte und für sie gestorben
war. Durch diesen gewaltsam frühen Tod waren sie seitdem immer um eine
Drittel-Inkarnation auseinander -- _very trying indeed_ -- und konnten
sich nur mehr oder weniger durch Tischplatten hindurch angehören. Jetzt
wollte keine der Damen in Astralflirts zurückstehen. Eine Art makabren
Erotelns hub an, und es ergab sich, daß alle schon einmal wunderschöne
griechische Hetären gewesen. Madame Bavarowska aber schoß den Vogel ab
mit einer extra Fleißinkarnation als Pharaonentochter. Es bedarf wohl
der Erwähnung nicht, daß sie auch in dieser Gestalt von einem Liebreiz
war, der vielen zum Verhängnis werden sollte. Nun begannen die Damen zu
erörtern, was sie jedesmal angehabt, und die Sitzung drohte in einer
Modediskussion zu verenden; die Weiber zerschnatterten alles, als der
Tisch deutliche Zeichen von Ungeduld gab, Friedolin Eisele um Ruhe bat
und die Leitung der Séance wieder übernahm.

Es wurde mit dem Tisch vereinbart, ein Klopflaut bedeute -- »ja«, zwei
-- »nein«, damit man in zweifelhaften Fällen wisse, ob richtig
buchstabiert worden sei. Nun begann Eisele langsam immer wieder das
Alphabet herunterzusagen, wie Horus es schon vom Salon aus vernommen.
Der Buchstabe, bei dem es klopfte, galt, und so setzten sich mit der
Zeit Worte zusammen. Der Tisch war gerade bis _Mia_ gelangt und wollte
fließend weiterreden, da warf sich Madame Bavarowska mit einem Aufschrei
über ihn.

»Mia -- _c'est pour moi_ -- für mich, so heiße ich!«

»Sie heißen doch Natalie,« widersprach es aus grollender Runde.

»Aber Mia ist mein Kindername. Maman, bist du's? ... Sag, soll ich Rio
Tinto kaufen?«

Der Geist der Mutter bejahte.

»Zu welchem Kurs?« Der Geist der Mutter nannte einen exorbitant hohen.
Dann verschwand er. Der Tisch fing etwas Neues an. Bis dais kam er. Da
sprang wieder Madame Bavarowska vor und verteidigte ihn, wie eine greise
Leopardin ihr letztes Junges.

»Daisy -- _c'est pour moi!_ der Kosename meines ersten Gatten für mich.
Bogumil, was hast du deiner Daisy zu sagen?«

Bogumil sagte einiges. Später, als es »pip« klopfte -- die Dame zum
drittenmal aufzuspringen und auch so zu heißen Miene machte, wurde es
Winifred Cadogan zu bunt. Sie gab dem Tisch mit dem Knie einen Stoß, daß
er gegen die Namenreiche flog, und nur das außerordentlich starke
_straight-front_ Mieder verhinderte ernstlicheren Schaden.

Madame Bavarowska war ganz entzückt:

»_Ça pèse -- ça pèse_ ... welche Kraft der Materialisationen, welch eine
Sitzung.«

Winifred platzte aus.

»Und da könnt ihr scherzen, _mais mes enfants_, nie wieder werdet ihr so
eine Séance erleben« ...

Der Tisch puffte weiter in sie hinein, bis endlich du Perron und
Quadrupedescu Winifreds Knie gebändigt hatten.

Der Beobachtungsgabe der übrigen schienen diese Vorgänge andauernd zu
entgehen.

Schließlich war man ja auch nur der Klopfphänomene: der harten kleinen
Schläge im Inneren der Platte, wegen da, die niemand mit Knieen und
Beinen hervorbringen konnte. Auf der Oberfläche des boxenden Tisches
aber spannten sich, weithin sichtbar, von kleinem Finger zu kleinem
Finger, immer noch die Hände aller Teilnehmer im blauen Schneelicht.

Mit der Zeit meldeten sich auch Goethe und Napoleon zu Wort. Ersterer
unterhielt sich auf das Angeregteste mit Lady Eveline über die
Verwerflichkeit des Dumpingsystems neudeutschen Handelsbrauchs, und so
wickelte sich der Verkehr zwischen Lebenden und Toten klaglos ab, bis
urplötzlich Verwirrung entstand -- geradezu heilloser Unfug.
Viertelstundenlang wurden immer tollere, sinnlosere Worte geklopft,
Fragen in einem bejaht und verneint, bis Eisele die Geduld verlor:

»Saumäßig schwätzet se daher,« fuhr er Napoleon an, den er heimlich im
Verdacht hatte. Es half. Die Antworten ebbten wieder ins Verständige
zurück. Was hatte sich ereignet? Horus war es bei dieser seiner ersten
Séance schon nach drei Minuten klar geworden, die Klopflaute müßten sich
durch Spannungen im Holze der Platte willkürlich erzeugen lassen:
gleichmäßiger, dauernder, geschickt verteilter Druck ruhender
Fingerspitzen den Flader entlang und dann wieder plötzliches Nachlassen
dieses Druckes, würden wohl genügen, um bei dem gewünschten Buchstaben
ein leises, kurzes Krachen zu erzwingen.

Nach einer Weile riskierte er diskret den Versuch. Der gelang sofort.
Nun war es ihm eine Erheiterung, dem Phänomen konstant die Pose zu
verpatzen; in jedes Wort irreparable Buchstaben hineinzuklopfen. Nach
Eiseles Zuruf hörte er auf. -- Die Methode war ergründet, jetzt hieß es
nur noch den eigentlichen Klopfer herausfinden, und ob sein Ziel
schlichthin idiotisches Gesellschaftsspiel in _after dinner_ Mystik
bedeutete oder Zweckhafteres vielleicht.

Die Damen -- sie hatten wohl in ihrem Leben noch nie einen Flader am
Holz bemerkt -- schieden allesamt von vornherein wegen geistiger und
manueller Minderwertigkeit aus, desgleichen Monseigneur. -- Friedolin
Eisele? Nein -- ein Rindvieh voll Lauterkeit. Es war eben ganz einfach
nicht mehr zu leugnen, Horus hatte eine Schwäche für ihn gefaßt, seit
Eisele nach der lauten Auseinandersetzung mit Napoleon noch leise leise,
nur Luchsohren vernehmbar, auf den Korsen den großen Fluch seiner Tribus
geschleudert:

»Daß di's Meisle beischt.«

Es dünkte ihn der herzigste Fluch, den er je gehört: das Ärgste, was ja
überhaupt passieren konnte, war, daß er eben in Erfüllung ging ...
schließlich schien das Malheur dann noch immer nicht gar so groß.

In die engere Wahl kamen somit du Perron, das Birnenschaf und
Quadrupedescu: Deponens von Clubmann und Hundedresseur.

Sensation! Im Tisch erschien Moltke, nannte den Namen eines osmanischen
Prinzen und prominenten Heerführers, der eben jetzt im Balkankriege
gegen Bulgarien im Felde stand. Aller Augen wandten sich Lady Cadogan
zu. Man wußte, daß sie, seine langjährige Freundin, auch ihn durch fast
unbegrenzten Einfluß zum Spiritismus zu bekehren vermocht. Totweiß über
den Tisch gelehnt, ganz benommen vor Stolz über die eigene Bedeutung,
harrte sie weiterer Botschaft. Warnung kam: wenn bestimmte Armeekorps,
ihre Nummern wurden genannt, die gegenwärtig für den soundsovielten
bestimmten Bewegungen ausführen würden, fiele Adrianopel in Feindeshand.

Ungeheure Erregung. Lady Eveline nahm jedem Teilnehmer das Wort
unverbrüchlichen Schweigens ab, ehe sie nach einem Telegrammformular
hinausstürzte, in der nur ihr und dem Prinzen bekannten Chiffrenschrift
das vom Geiste Moltkes ergangene Verbot unverzüglich zu drahten. Die
Sitzung fortzusetzen, fiel niemandem mehr ein.

Madame Bavarowska stieß plötzlich aus allen Körperöffnungen schwarze
Schleier aus, hatte ein Stück schwarzes Fließpapier -- kein Mensch wußte
woher -- vor sich auf den Tisch gebreitet und zog aus ihrer
juwelenbesetzten Goldtasche ein Paket Spielkarten von geradezu
phantastischem Schmutz.

Ob man sich weissagen lassen wolle? Den ekelerregenden Zustand der
Karten begründete sie durchaus plausibel damit, jene stammten aus einer
Kaperbeute ihrer Vorfahren mütterlicherseits, die alle berühmte
Seeräuber im Schwarzen Meer gewesen. Andre Familien behaupteten solches
zwar auch, von der ihren sei es aber dokumentarisch nachweisbar.

Horus entkam im allgemeinen Wirrwarr. Schon einen Augenblick vorher
hatte Quadrupedescu, sein blaurasiertes Lächeln wie mit Schmieröl
übergossen, den Clowntorso aus der Tür gedreht.

Horus beutelte sich: ein Glück für euch, daß Geistergrenzen fester
versiegelt sind, als _after-dinner_ Mystik sich träumen läßt. Welche
Astralhaie müßten im Kielwasser solchen Seelen folgen. Was müßte aus dem
Unsichtbaren her, solchem Ruf gehorchend, an der Schwelle einer Horde
lauern, die blind, taub, flirtend, gierend, gerade ihren christlichen
Schlangenfraß mit Whisky-Soda wieder aus allen Poren dampfen läßt?
Hielte die Schranke nicht, in die Hände welch ultravioletter Fallotten
würden diese Nekromanten nach dem Gesetz der Korrespondenz wohl fallen?

Und gedachte der vornehmen indischen Dame, deren Gatte zu sein er die
Ehre hatte, dort oben auf ihrem bestirnten Altan. Sein Herz ging aus zu
ihr und strebte zurückzukehren in die Heimat ihres Kusses, denn »es
drängt zum geliebten Wesen die Begierde, gerührt zu sein«.

                   *       *       *       *       *

Unten im Foyer bestieg eben die Principessa Dango wieder die gläserne
Keimzelle des Lift. Noch immer hielt ihr gereckter Arm den Fächer aus
leuchtenden Leichen über das wabernde Henna. Strondoli vervielfältigte
sich um sie in Brunstbewegungen. Alle Facetten seines Männchentums waren
in Rotation -- ganz schwindlig konnte einem dabei werden.

Sie sagte nichts als: »_Impossible_«.

»Um elf Ski-kjöring nach Sils. Bleiben kaum zwei Stunden Schlaf.
_Impossible._«

Strondoli riß die Uhr heraus. Beteuerte mit Blicken, Lippen, Haut, Haar,
wie früh es noch sei, indes sein markiger Arm das »elf Uhr«, ganz weit
draußen, platt an den Rand der Ewigkeit gestemmt hielt.

Vergebens. Rundum abgedichtet mit Durchsichtigem, entglitt sie am Draht
des Lift, der lose in seinem Nabel kreiste, durch den Plafond nach oben.

Der Marchese zog seinen edlen Leib ein -- wurde konkav vor Enttäuschung;
pfiff dem Boy und frug nach Mademoiselle Fifi.

Bei der Loge des Nachtportiers stand Quadrupedescu, übergab ein
dichtbeschriebenes Formular als dringend zu drahten. Auch diese Depesche
war, gleich der Lady Cadogans, chiffriert, bis auf zwei Worte:
Bestimmungsort und Adressat. Berne und irgend etwas ... de Bülgarie.
Also darum, nach verhüllenden Mätzchen, Präliminarien: Moltkes Geist
samt »Warnung«. Es hatte sich eben darum gehandelt, eine für Bulgarien
gefährliche Operation des türkischen Heeres zu verhindern, und das hatte
dieser geriebene Agent auf so primitive Weise erreicht, daß kaum ein
Botokudenpaar darauf hereingefallen wäre. Von solchen Vorgängen also
hingen europäischer Völker Schicksale im zwanzigsten Jahrhundert ab.

Morgen hieß es, bei Lady Eveline Moltkes Ansehen sanft untergraben,
nicht etwa sein Erscheinen leugnen, das hätte ihre Eitelkeit nie
zugegeben, nur einfach ihren Jingoismus gegen sein Deutschtum
aufstacheln. Vernunft: wenn zwei entgegengesetzte Dummheiten gerade
gleich stark sind. Ja, er hatte in diesen wenigen Wochen im dunkelsten
Europa schon viel gelernt.

Einen Blick noch warf er in die Grellhölle, wo die ruhelosen Barbaren,
von drei Orchestern durchbohrt, violettgesprenkelt vor Schnaps und schon
völlig verwildert, immer noch in ihrer eigenen Kohlensäure fatal
herumwateten.

Hier, von oben gesehen und durch die Rauchschichten hindurch, war das
Ganze einem infernalischen Aquarium nicht unähnlich.

Er dachte: vielleicht ist es hier wie mit den niederen Tiefseetieren:
nähme man plötzlich den ganzen ungeheuren Druck von ihren Sinnen, unter
dem sie zu leben gewohnt sind, hübe sie ins Leichte, Freie, in höheres
Element -- ob sie sich dann auch selber zu vomieren begännen ... auf
einmal die Gallenblase nach außen, und überhaupt alles vornüber
gestülpt?

Aber wozu leben sie unter diesem, alle Empfindung erschlagenden
Sinnendruck?

_Warum verwechselt der Europäer Grelle, Lärm und Gestank mit Freude?_

Ja warum?

Er hatte damit zum erstenmal an ein Grundproblem gerührt -- aber er
wußte es noch nicht.

                   *       *       *       *       *

Plötzlich war Europa herrlich.

Dieses »ausgefranste Hundeohr am Kontur Asiens« hatte eben die
beispiellose Chance, daß Schnee drauf fiel -- auf Barbarei und Irrsinn
über Nacht bestirnte Reinheit wuchs.

Horus, von Pitz Nair kommend, lag in seinem brennheißen japanischen Bad
-- neben sich Tee und knusprig nachbrodelnde Muffins -- in Händen ein
edles Buch, mit dem man durch tausend Reiche fliegen konnte -- vor sich
Schlaf, eine runde Nacht voll, ausgeflaumt wie ein Vogelnest -- die Wand
hinauf aber lehnte, ganz nah im Schmeichelkreis seiner Finger, die neue
_grande Passion_: Skier.

So ruhte er, ein köstlich zerbrochener Sieger am Fest des blauen Raumes,
und genoß: auf der Haut schäumende Nadeln -- im Herzen Ozon -- im Blut
Eis und Gefunkel. Lächelte gerührt den beiden gestreckten Schneeflügeln
aus schwingendem Hickoryholz zu: schwarzes Schneeschilf, weiß gerippt,
träumte an ihm seinen tiefen Tag zurück. Grüßte erst das entzückend
linsenförmige Anschwellen der Spitzen, durchlocht wie Ohrläppchen, nahm
jene klare, von der Bindung gekrönte Kantengruppe mit dem Finger in
seinem Organismus auf: Verschneidungskurve zwischen dem mechanisch
wirksamen Profil und der idealen Oberfläche des Skikörpers; so
vollkommen fast wie jene, die an der Helice der Nabe zuschwillt. Vom
Schneekiel, der Rinne an der Unterseite, in einem Myrtenblatt
verstrahlend, mochte man gar nicht erst sprechen, direkt einen neuen
Raumsinn schuf er in den Sohlen und war über Lob schlechtweg erhaben.

Jetzt fuhr er mit den Augen den Ski entlang, bis wo dies einfachste und
freieste Gerät sich aufbäumt und aus dem Planen löst nach oben. -- Sein
Herz schlug -- er glitt los zum Sprung; immer rascher hinein in ein
Vorwärts ohne jede Wahl. Hinein ins Ducken, Abschnellen, dann
Hinausgerissenwerden in den Raum. -- Dort endlos im Nichts hängen, im
Nichts Richtung halten müssen -- die Arme zu Propellern geworden -- das
Bewußtsein in den Sprunggelenken, ganz dem Aufprall entgegengespannt und
dem hirnwirbelnden Schuß. Das Unbegreifliche dieses Aufpralls, dieses
Schusses trieb dem Entrückten das Herz ins Hirn vor Blut und Eislust.
Seine Hände fand er an den Rand der Wanne wie an einen Starkstrom
hingekreuzigt, und kalte Sterne sprühten hinter seiner Stirn.

Erst in den mildernden Wellen des Geländes, als schon bremsende Hügel
dem Schuß in sein Rasen gefallen, vermochte er die duffen Finger der
Rundung des Emails abzureißen. -- Atem stürzte wieder in ihn, doch er
wußte noch nichts Rechtes mit ihm anzufangen; es donnerte sein Herz.

Bei Auto, Flugzeug, Motorboot -- immer ist noch etwas eingekeilt
zwischen Mensch und Schnelligkeit. Auf diesem Zwischengliede hockt er
dann: ein beherzter und recht lobenswerter Affe. Einzig auf
Schneeschuhen: veredelten Sohlen, sind sie endlich ganz allein
miteinander, die Geschwindigkeit und er. Schräg über sanfte Kristalle
stürzend, wird der Mensch da selbst zum Alpha und Omega der Bewegung --
auf diesen seinen zwei federnden Sohlen hinausschwingend über sich und
in ein neues Maß.

»Und da sagen die Leute so schlichthin: >Bretter<,« dachte Horus, »für
ihre verrotteten Klim-Bim-Gasometer und hingehudelten Prunkbaracken aber
erfinden sie Ehrfurchtnamen: >Musentempel< etwa oder >Palais<.«

Und Leute -- Leute trifft man da oben. Angeschossen kommen sie mit
verglasten Augen aus dem Nirgendwo: wasserdichte Flügelwesen, prachtvoll
ruppig, mit ungeheuren Eiszapfen an der Nase, und künden von firnen
Ruheplätzen, wo sie das kristallne Huhn mit dem Hammer gegessen und die
Suppe als Biskuit.

Geht man ihnen dann in ihre Passantenhotels nach, trifft man sie meist
schon aufgetaut zu kleinen Philistern vor einem Schweinsbraten sitzen,
die Seele nikotinisiert und dreier Vorstellungen nur mächtig: Windharsch
-- Pulverschnee -- feucht-salzig ... oder sie stoßen über Daumenknorpel
rechteckige Löcher in bandenlahme Billards und wollen es dann nicht
gewesen sein.

Da sind sie trübe wie Lachen zerschmelzenden Schnees. Null Grad ist ihre
kritische Temperatur -- eher etwas darunter.

Halben Weges wuchs dann diese Wächte dem Berg aus gläserner Flanke, war
aber unschwer zu umfahren gewesen. Schweizer Offiziere, die hier ihre
Übungen abhielten, hatten es soeben getan. Nur als Letzter -- der junge
Leutnant tauchte grade über ihr auf, unschlüssig-lüstern und
vorgeneigter Silhouette, bis auf das reglementmäßige Rhomboid aus grauem
Filz auf seinem Kopf; das bockte schräg nach hinten in den Äther und war
offenbar dagegen. -- Die andern Offiziere lachten und winkten ab. Von
hier unten, gegen der Wächte überstehend, sah man deutlich, sie hing ein
Stück frei in den Raum.

»Ischt ja wie's Schterbe,« sagte der junge Leutnant, dann glitt er los.

Das Rhomboid aus grauem Filz sollte aber recht behalten. Drei Sekunden
später saß es irgendwo -- -- schräg wie immer, doch ganz allein auf dem
Schnee, indem sein Besitzer sich einem Kopffüßler gleich gebärdete.

Doch oben über der Schneebrücke aus gestirnten Kristallen zuckte jetzt
eine zweite Silhouette aus dem Nirgends her: die Ganz-Weiße,
Lanzenkeusche, neigte sich langsam wie eine Rakete vom Zenith ihres
lichten Stiels.

Horus hielt den Atem des Erinnerns an. -- Nein, noch nicht, immer noch
nicht. Doch allzulange, allzu künstlich schon hatte er der Erscheinung
gewehrt; Berge, Leute, blaue Fröhlichkeit dazwischen gehäuft, damit ihr
Kommen daure -- denn ihr Dasein war nur ein Augenblick.

Nun brach sie -- ein Dämon der Anmut -- durch den süchtigen Geiz seiner
Vorfreude, hing über dem Sturzweg, halb Luft, halb Eis, stand
niederfahrend einen Augenblick als Sturm an seiner Schläfe, goß sich in
eine Kurve hinein -- war ganz unten auf dem Schneefeld, nur eine blanke
Nadel noch am Faden einer feinen Spur.

Hinter ihr nach glänzte der Weg.

Gargi aber hatte in auffliegendem Entzücken, in jenem lieblichen
Sich-Auslöschen an einer reinen Freude, die sie ganz enthielt, feierlich
-- fast priesterlich gesagt:

»Ein Elf von einem großen Stern.«

Unter den Schweizer Offizieren hieß es mürrisch anerkennend: »Die fremde
Dame«.

»Ein Elf von einem großen Stern.«

Gargi -- Gargi hatte das Wort gefunden. Er sprang auf ins Nebengemach zu
ihr, alles ihr mitzuteilen -- mit ihr zu teilen. Ein Läufer in
dampfenden Nebeln. Sein Torso gleißte. Lachend fielen sie einander in
die Arme. Tropfen stoben.

In dieser Nacht ward Gargi ganz zur Fee Peribanu. Das Orchis- und
Perihafte schöpfte sie ihm aus ihrer Duft gewordenen Tiefe.
Jaspisgeschöpfe mit Teeblütenfingern -- Götzen mit goldenen Nägeln der
Wollust -- umstanden sein Herz die ganze Nacht.

Wie, was androgyn-vollkommen, ausschwingt in weiterer Amplitude der
Anmut, so hätte Gargi hinschwingen können in dieser Nacht bis hinüber in
das Lanzenkeusche, Unumarmte: auch dort noch sie -- sie selbst auch dort
noch: des eignen Iches andrer, silberner Rand. Doch war es noch nicht an
der Zeit.

Hüterin des köstlichen Potentials, wahrte sie der Phantasie des Mannes
-- aufduftend als Asien in seinen Armen -- die Weite eines ganzen
Kontinents zum Reiz, an dessen Ende nicht mehr stand -- noch nicht mehr
stand -- als auf Kristallen eine blanke Nadel am Faden einer feinen
Spur.

                   *       *       *       *       *

        _Son Altesse Imperial le grand duc Wladimir Michailovics
                               et suite_

                 _La Princesse Helena Petrowna Karachan
                               et suite_

las er in der Liste des Astoria als neue Gäste. So sollte er Helena
Karachan begegnen, seiner Mutter Gespiel, jener einzigen Europäerin, von
der sie je gesprochen. Tochter aus der morganatischen Ehe eines
Großfürsten mit einer kaukasischen Prinzessin, hatte ein wilder und
prachtvoller Ernst einen Teil ihres Wesens zur Medizin hingerissen, sie
schon damals -- ganz jung -- zu einer der ersten Ärztinnen gemacht. Eine
Hobby, die man der großen Dame gerne nachsah, schränkte sie doch
hochdero Zeit für noch Bestürzenderes ein, denn gefaßt war man auf
alles.

Früh verwaist, galt sie von je als Lieblingsnichte eben jenes
Großfürsten Wladimir Michailovics, ihres Vaters einzigen Bruders.
Vordergrundsdaten. Eigentliches wußte er um sie aus einer Klangfarbe in
seiner Mutter Stimme: dem glücklichen, tiefübergoldeten Gong, der nur
Ebenbürtiges einzuschwingen pflegte -- so lebendig seinem Ohr, daß auf
diesen fast körperlichen Wellen die entblätterten, toten Züge
zurückkamen, sich aufrichten durften -- faserfein -- als ganzes Antlitz
wieder um diesen Kern von Klang, als Glockengesicht -- das silberzüngige
Orgelgesicht, wie er es im stillen für sich nannte.

Nun war Helena Karachan da, ein Wesen aus Diana Elchos ihm unbekannter,
früher Welt, und er sollte sie sehen. Eine kaukasische Prinzessin:
geschmeidedurchrieselte Flechten langniederfallend auf milchweiße
Fesseln, azurne Schleier und klare Knaben, die Türkise ihrem Weg
streuen.

Zum _dinner_ kam er ausnahmsweise in den Grillroom, schmeichelte für
diesmal sogar Gargis Widerstand, solchen gemeinsamen Anfängen der
Verdauungstätigkeit auch nur als Zuschauerin beizuwohnen, hinweg, ließ
sich ein Tischchen anweisen, an dem die Fürstin vorüber mußte, das auch
den Blick durch Glastüren in einen ihr reservierten kleinen Saal frei
ließ.

Nein, der Großfürst sei noch nicht eingetroffen, berichtete der _maître
d'hôtel_, vorerst die Prinzessin _et suite_.

Nun kam, zwischen aufgerissenen Flügeltüren, sie selbst.

Der schwabbelige schwarze Kaftan, durch den sich wilde Formen wälzten,
war glitschig von Bratensauce und Eigelb; darüber hing, bis zu den
Knien, eine Märchenkette nußgroßer Perlen von kaum abzuschätzendem Wert.
Die Füße staken in karierten Schlapfen.

Sie schob sich in merkwürdigen Kreissegmenten sehr schnell vorwärts,
offenbar hatte man die ungeheuren Schenkel bandagiert, um ein Wundreiben
zu verhindern. Von den Armen hingen ihr zwei Reticuls -- schwer wie
Rucksäcke -- der eine mit Konfekt, der andere mit Tabak gefüllt. Die
großen längsgerunzelten Ohren waren mit Antiphonen abgedichtet gegen
jeden Lärm, vor den Augen trug sie eine Autobrille mit gelben
Scheuklappen.

In ehrerbietigem Abstand folgte ein flohbraunes Lemurenmännchen, das
diese äußerlich erzwungene Distanz durch eine keineswegs fundierte
Familiarität den übrigen Anwesenden gegenüber ins betulich Zirkusmäßige
zu zerwitzeln offenkundig bestrebt war. Ein zweites Männchen, ebenfalls
von polnisch-semitischem Typ, begleitete seine Herrin nur bis zu ihrem
Separée und erhielt seinen Platz unter den übrigen Hotelgästen
angewiesen.

Doch auch an den Flohbraunen richtete die Fürstin während der Mahlzeit
kaum das Wort -- füllte die Pausen der Gänge, indem sie aus dem Rucksack
zur Rechten Bonbons verschlang, dem Rucksack zur Linken unaufhörlich
Tabak entnahm und zu Zigaretten drehte, die kaum angerauchten aber spie
sie sofort wieder weg.

Aß dann wie ein Oger. Mit tadellosen Bewegungen der langen, edel
gebliebenen Hände. Das Embonpoint der Fürstin schien nicht an ihrem
Kaftan enden zu wollen, war irgendwie ein respektloses -- ein
anarchisches Fett, evaporierte vielleicht heimlich, um sich, ganz weit
weg, plötzlich auf einer firnen angelsächsischen Hemdbrust mit einem
Klatsch niederzuschlagen; ganz gut zuzutrauen war ihm so etwas. Lag
dergleichen in der Luft? -- Bis zum vierten Tisch in der Runde, und
trotz Glastüren, begann der _maître d'hôtel_ immer wieder nervös über
Gabel und Messer zu fahren, als kröchen dort Ölflecke aus.

Nach dem _dinner_, unausgesetzt kauend und rauchend, ging sie ins
Spielzimmer. Der kleine polnische Jude wartete bereits vor
einem Schachbrett. Unterdessen war im großen Musiksaal ein
Wohltätigkeitskonzert ausgebrochen -- die Neujahresrechnungen der
Couturiers drohten. Irgend jemand plärrte bereits Patschuligebete von
Gounod.

Eine Lady Patroneß näherte sich mit dem irrsinnigen Pferdegrinsen
europäischer Gesittung dem Schachtisch: »Wollen Sie nicht zu unserem
Konzert kommen, Fürstin?«

»Ja, es ist entsetzlich, wieviel Dreck einem unaufhörlich in die Ohren
getutet wird.«

Und ohne auch nur aufzusehen, schob die Karachan mit hörbarem Knall ihr
Antiphon wieder in das Runzelohr:

»Manasse, Sie sind am Zug.«

Es waren ihre einzigen Worte an diesem Abend.

Wie man einem bockenden Nilpferd achselzuckend ausweicht: »_It's the
nature of the beast_,« so entfernte sich die Lady Patroneß.

An einem der nächsten Tage kam Manasse und forderte Horus zu einer
Partie Schach auf, wie er durchblicken ließ, auf Geheiß der Fürstin. Im
übrigen ignorierte sie ihn genau wie den Rest der Gesellschaft. Nur zu
markanten Persönlichkeiten -- Menschen mit etwas wie Köpfen: dem
vercherubten Aasgeier Elihu Lincoln Rosenbusch, auch Archie Payne, kam
regelmäßig Manasse, um sie dem Schach zu gewinnen, denn er war ein
faszinierender und außerordentlicher Lehrer.

Horus, der all seine Zeit auf Skiern verbrachte, hatte nach einigen
Partien weiteres Spiel abgelehnt. Da ließ sie ihn sich vorstellen.

»Ich habe die Freßsucht,« und auf den kleinen Lemur deutend, »das ist
mein Darmlakai -- oder heißt es Internist, kurz einer, der eine
Lebensrente dem einmaligen >großen Schnitt< am Patienten vorzieht.«

Der also Eingeführte rutschte nervös hin und her -- warf überquer
allerhand Angelhaken nach Einverständnis.

»So hat Manasse versagt, Sie einzufangen,« fuhr die Fürstin fort,
»schade, Sie sehen begabt aus. Wissen Sie denn noch nicht, daß bei
dieser heillosen Rasse eben alles zum Unheil ausschlagen muß -- auch die
Intelligenz -- vielmehr gerade diese. Da sperrt man sie noch am
sichersten ins Schach. Dort ist sie wenigstens unschädlich; eingekapselt
wie eine Trichine.«

Und Horus sah zum erstenmal, daß dies Gesicht als schmaler Docht in
seinem eigenen Talg stand, daß da vielleicht eine hohe Seele sich hinter
einem Sack voll Eingeweide verschanze, hinter Autobrillen und
Antiphonen, Tabak, Zynismus und Fraß.

Ihm schien, als wäre er hier zum erstenmal in Europa auf einen Menschen
gestoßen, zum mindesten auf menschliche Überreste. Doch woher solcher
Verfall -- solcher Ruin? Er fühlte: diese blutigen Fleischstücke, diese
Fisch- und Fettgerichte ohne Zahl -- eigentlich fraß sie an ihnen immer
nur wieder ihren Harm in sich hinein, wurde daran noch gelber, fetter
und böser. Manchmal schien sie am Ziel: alles in pausenlosem Speisebrei
breit animalisch zu ersticken. Litt dann augenscheinlich nicht mehr,
verdaute ihr Leid, nur die beispiellose Brutalität des Ausdrucks -- die
auserwählten Gemeinheiten der Worte bei dieser wahrhaft großen Dame --
lagen als erstarrte Schlacken einer einst feurig-flüssigen Qual immer
noch im stumpfen Heute herum.

Mit offener Verachtung gegen die ganze Gesellschaft einzelte sie nur
Horus heraus und Gargi, die sie Peribanu nannte, sprach aber auch mit
diesen beiden manchmal tagelang kein Wort. Nie war Diana Elchos erwähnt
worden, als wolle sie an nichts aus der Zeit ihrer jungen Höhe erinnert
werden. Doch wußte sie, wessen Sohn er war. Er sah es deutlich am gierig
gequälten Blick, der die Bewegungen entlangfuhr, in denen er seiner
Mutter glich. Einmal, bei einer weiten, impulsiven Wendung aus den
Schultern heraus, hatte die Fürstin, eine von Lorgnons starrende Umwelt
völlig ignorierend, jäh seinen Kopf gepackt und ihm zärtlich, zornig in
die Augen gesprochen:

»Nicht, Baby, nicht.«

Was sie, aus deren Herz das große Auge in den Raum wuchs, wohl empfunden
hätte bei diesem Wiedersehen. Verse kamen ihm von einem, der ihr an Wort
und Art wie ein früher kindlicher Bruder glich:

   »Die meine Gespielen waren, die sind träge und alt.«

Oft, nach tagelangem Schweigen, wieder ein Strom von Hohn: »Ich stehe
nämlich unter Kuratel: Freßsucht -- verminderte Zurechnungsfähigkeit.
Das bedeutet: zwei rechtskräftig bestellte Konsortien von Dieben,
eins in Petersburg, eins in Tiflis, mit den dazugehörigen
Paragraphenfallotten, versuchen, jedes gleich heftig, mein Geld auf die
Seite ... auf seine Seite zu bringen, so daß es gerade über mir schweben
bleibt. Krepieren darf ich nicht, sonst fällt das Vermögen aus ihren
vormundschaftlichen Klauen heraus, darum ist der Darmlakai offiziell
bestellt, die Diät zu überwachen -- verkauft mir das Pfund Konfekt zu
hundert Rubel und läßt sich mit der gleichen Summe bestechen für jeden
Extragang.«

Doch auch der Flohbraune, er hieß Sobelsohn, suchte Vertrauen:

»Was soll ich Ihnen sagen! Unausbleibliche Folgeerscheinungen eines vor
fünfzehn Jahren vorgenommenen operativen Eingriffs,« erläuterte er
sachlich anerkennend. »Totalexstirpation. Nu, Sie begreifen -- keine
Libido mehr, keine innere Sekretion -- der Gesamtausfall an Leben bei
einer so temperamentvollen« -- er grinste -- »so hochgespannten
Persönlichkeit, bei andern Frauen merkt mans oft kaum ... Unsere
Wissenschaft jedoch,« ein gockelhafter Rausch ließ seine Stimme sich
überkollern, »schreitet selbstredend so glänzend -- nu, so phänomenal
glänzend vorwärts, daß heute kein Fachmann mehr daran denken würde, im
Fall der Fürstin -- es handelte sich um eine relativ geringfügige Sache
-- gerade diesen Eingriff auch nur vorzuschlagen! Von Stufe zu Stufe
eilend, in rastlosem Forscherdrang, auf jeder gleich lichtvoll, gleich
bewundernswert ...«

Er schrak ein wenig zusammen, unter dem Taumel der Fachbalz war die
Fürstin unbemerkt herzugetreten.

»Pariser Hutmoden? Ach so, die chirurgischen. Unmöglich eine andere als
die momentan moderne Operation zu bekommen, lieber Elcho. Wie bei der
>Modiste< mit den Hüten. Wer den Schwachsinn des Augenblicks nicht
mitmachen will, wird von der Clique der Interessenten mit dem Bannstrahl
belegt.

»Nur daß man den vorjährigen Hut heuer nicht mehr zu tragen braucht, die
vorjährige Operation leider stets. So trägt die Weiberherde immer
eingeschnitten Marke und Datum des jeweiligen gynäkologischen Pferchs.
In jedem Dampfbad können sie an Art und Lagerung der Schnitte die
ärztlichen Moden der letzten Generationen studieren.

»Jahresringe der Wissenschaft am Bauch der Frau.

»Wir Alten tragen die machtvollen Spuren der Totalexstirpation, aus
Zeitläuften, wo man das fröhlich machte, ohne süßes Ahnen, daß
Gesamtverblödung, Schwund der Persönlichkeit erfolgen müssen. Kurz, was
jeder Vollsinnige sich eigentlich ohne Experiment hätte sagen können,
daß, wenn man einem Sexualwesen, wie der Frau, ihr zweites Ich, ihr
großes Ur-Ich ausreißt, dies ihr immerhin schaden dürfte. Darauf waren
sie aber dann besonders stolz, feierten es als höchsten
wissenschaftlichen Triumph, herausgefunden zu haben, ihre Operation
trage Ursach am Zugrundegehen des Patienten.«

Eine Zigarette nach der andern drehend, sprach sie wie im Fieber fort:

»Der vorletzte Wurf weist als Uniform der Verunstaltung den queren
Blinddarmschnitt auf, die ganz jungen Frauen aber erkennt man an der
Marke: Eierstockzisten. Da wird es wieder so zwanzig Jahre dauern, bis
an den feineren Karnickelreaktionen, Versuchen an temperamentvollen
Lurchen sich die desaströsen Folgen erweisen und Frauen in der Zeitung
lesen können, welche Sinne ihnen damals eigentlich weggesäbelt wurden.

»Die ganze Chirurgie lebt ja von Verstumpfung, Vergröberung, sinnlicher
Verarmung einer Menschheit, die gar nicht mehr von selber draufkommt,
daß eine Reaktion entfällt, schneidet man ihr Organteile heraus. So
haben es die Leute jahrzehntelang nicht gemerkt, wie sie zu Kretins
werden, entfernt man ihnen die ganze Schilddrüse, wie sie vergreisen, wo
die Generationsdrüsen fehlen. Begreifen Sie, Elcho: einfach nicht
_gemerkt_, welche Edelrasse! Erst an den Ratten hat sich dann der ganze
Betrieb als unhaltbar erwiesen; die drüben von der Biologie haben das
Geschäft verpatzt, eine Verlegung der Finanzoperationen nötig gemacht.

»Und ihr Internisten,« sie fauchte gegen Sobelsohn, »ihr seid die
Lanzettfischchen dieser Schwerthaie im Ozean der Verstumpfung. Da hat
man Eisen, Phosphor, Schwefel, organisierte Minerale, Verbindungen und
Aberverbindungen aller chemischen Elemente in einer Feinheit und
Variation im Körper, die organische Chemie noch lange nicht darzustellen
vermocht.

»In diesen zartesten Chemismus der Welt -- fein, daß an ihm subtilste
Reaktionsmethoden noch versagen, schüttet ihr nun -- damit ja nichts auf
dem Kehrichthaufen der Farbfabriken verkomme, deren Aktionäre ihr seid
-- eure Medikamente _relativ_ tonnenweise hinein, wo die Natur nur in
homöopathischen Dosen regulieren kann und soll. Da wird mit Hilfe eurer
scheinbar harmlosen Hydrogauner in Bädern und Sommerfrischen dem
Publikum erst einmal der Unfug der Unselbständigkeit angezüchtet. Daß
einer erst einen Arzt fragen muß, was er essen soll -- der es
ebensowenig weiß -- noch als Erwachsener seinen Leib: den Kern der Sinne
so wenig empfinden gelernt hat; so etwas war ja seit Anbeginn der
Kreatur noch nicht da -- außer vielleicht bei einigen Arten
degenerierter Raubameisen, die sich im Bau eigenes Geziefer halten
müssen, weil sie ihr Futter nicht mehr allein zu finden imstande sind.

»Hier mörtelt sich der Sonderschwindler, pardon: Spezialist, dem Gefüge
ein. Hier kommen die Alchimisten der Medizin zu Wort. Eigene Lehrstühle
werden errichtet zur Überleitung eines Gebrestes ins andere -- daß nur
nichts verloren gehe. Man muß es ihnen lassen: die Transmutation der
Krankheiten ist lückenlos gelungen. Fundament aber bleibt stets die
natürliche Schlechtrassigkeit; auf dieser wird durch falsche
Pubertätshygiene zuvörderst Bleichsucht gezüchtet, aus dieser durch
Überfütterung Fettsucht -- aus dieser im reifen Alter durch Sarkomdiät:
Diabetes. Dann sagen sie: Koma -- und kommen sich weise vor.

»Sterben aber darf einer noch lange nicht -- oh, das kostet noch
Tausende. Adrenalin, Theobromin, noch ein Stich in die arme zähe Haut
und noch eine Injektion.

»Schon will der letzte Atemzug in die Erlösung schlüpfen, da spießt ihn
wieder eine neue Spritze irgendwo auf.

»Daß die Leute einmal in Frieden sterben durften, wie vergessenes
Paradies klingt es ums Ohr. Aber auch in ihrer Krankheit dürfen sie
nicht Ruhe finden. Daß der gleiche Mensch sein Leben lang nur ein Leiden
habe -- es wird nicht gern gesehen. Verpatzt die Statistik. So treibt
man eine Krankheit mit einer andern aus, läßt ein Organ durch das andere
einschweinzen, und aus jeder Abteilung wird der Patient geheilt
entlassen.«

»Nu, was soll man denn tun mit ihm? Man muß doch lernen. An wem soll man
lernen? -- Die freie Wissenschaft wird doch noch probieren dürfen,«
ereiferte sich Sobelsohn.

»Gewiß -- was aber mich, die in eine falsche >Frühlingsmode< Gekommene,
empört, ist diese Bonzen- und Unfehlbarkeitspose für jeden Humbug des
Augenblicks. Muckt aber einer aus dem Pferch auf, habt ihr so
Abrakadabra-Worte wie: Eiweißzerfall -- und schlotternd bricht der
entsprungene Laie wieder ins Knie.«

Sie wurde infernalisch suav:

»Im übrigen verschließe auch ich mich den mancherlei Vorteilen des
Wechsels nicht: wer sich zum Beispiel eines Kindes entledigen will,
braucht nur ein ihm passendes Jahr abzuwarten, dann einen Kinderarzt
extremer Moderichtung -- irgendeinen rabiaten Eiweißianer oder
Blinddarmentzünder beliebiger Observanz -- kommen zu lassen und --
wirklich zu tun, was er vorschreibt.«

»Wie bringen Durchlaucht dann den immerhin vorhandenen Prozentsatz
lebender Kinder mit der Vorschrift, ärztliche Hilfe anzurufen, in
Einklang?«

»Durch die rettende Fahrlässigkeit des Dienst- und Pflegepersonals,
Sobelsohn. Sie vergessen, ich sagte ausdrücklich: tun -- tun müsse man,
was er vorschreibt. Ich, die in den Spitälern halb Europas gearbeitet
habe, kann Ihnen sagen, daß noch nie eine Anordnung genau so ausgeführt
wurde, wie der behandelnde Arzt geglaubt. Darum sind eure Statistiken
falsch. Fachbehandlung, gemildert durch Schlamperei.«

»Nu, und die Asepsis, Fürstin -- wollen Sie auch nörgeln an unsrer
Asepsis?«

»Nein, denn sie ersetzt den Juden den Katholizismus. Man muß das nur
gesehen haben, was ihr da treibt, ihr profanen Pfaffen des Leibes -- bei
einem der hohen Infektionsfeste: etwa Scharlach. Was da für ein
hieratisches Zeremoniell entfaltet wird: die weißen Weiberröcke der
zelebrierenden Ärzte -- das Lysolopfer -- der Bakterienexorzismus -- die
symbolischen Waschungen. Wie Ostern in Rom.«

»Ist Ihnen sonst noch was nicht recht an uns, Durchlaucht?«

»An euch.« -- Die Drehung ihrer Schulter war verächtlicher als je ein
Wort. --

»Über Mißbrauch und Verzerrung eines Amtes, euch zu Unrecht verliehen,
wer möchte da richten, wiewohl ihr's etwas reichlich treibt. Doch eine
Menschheit richtet sich selbst, die, instinkt-irr und salopp, das
oberste Amt der Art: das Amt des Arztes, so wenig achtet, daß sie
wahllos über ihr Schicksal hinwimmeln läßt, was Geschäft oder Drang oder
Zufall eben erst heraufgespien aus jeder Tiefe, hin zu Jus, oder
Schmieröl, oder Medizin oder Knoppernhandel: ungereinigt -- unerprobt.
Das oberste Amt der Art: das Amt des Arztes:

Aus Sinnenzartheit und Sinnenschärfe, aus Kraft, Anmut und Vitalität den
Erzengel der Erde erziehen, pflegen, hüten helfen, das dürfte nur nach
Proben, furchtbar und herrlich, in die Hände jener überantwortet werden,
die ringsum ausgeblüht in langen, edlen Mühen -- weisere, feinere,
lichtere Organe sich selbst errungen, als uns Armen vergönnt.«

Helena Karachan hatte die letzten Sätze fast ausschließlich an Horus
gerichtet, der, wie benommen von ihrem Schicksal, wie er es nun begriff,
erschüttert und schweigend allem weiteren gefolgt war. Nun schien es ihm
Zeit, in Leichteres unbemerkt zurückzulenken.

»In China,« lächelte er, »ist es Sitte, den Arzt nur so lange zu
honorieren, als man gesund bleibt.«

»Wie entzückend,« rief die Fürstin, »wie weise auch. So lernt er etwas
von Gesundheit verstehen -- bei uns versteht der Arzt im besten Fall
etwas von Krankheit.«

Sobelsohn aber hörte schon lange nicht mehr; vergnügt bis zu den
Weisheitszähnen, memorierte er das mit dem »Erzengel der Erde« und den
»lichteren Organen«. --

Spaß würde das geben mit den Kollegen bei der nächsten
Naturforscherversammlung. Für die »zwanglosen Zusammenkünfte« war es
gut, immer so Geschichtchen auf Lager zu haben, die großen Tiere lachten
dann -- wurden aufmerksam auf einen.

Was war das für ein Hallo gewesen das letztemal, als der kleine Fekete
Attila aus Budapest plötzlich gefragt hatte:

»Wollen Sie meinen Sohn sehen?«

Und aus der rechten Rocktasche ein kleines Einsiedeglas mit einem Embryo
in Spiritus hervorgezogen hatte.

Kaum schien das Gelächter abgeflaut:

»Wollen Sie meine Tochter sehen?«

Und nun war aus der linken Rocktasche die gleiche reizende Überraschung
gekommen. -- »Ein emsiges Bürschel.«

                   *       *       *       *       *

Es hatte schwer geschneit -- fast grau. Föhn über den Höhen wühlte böse
blaue Trichter in einen löwengelben Dunst: _danger of avalanches_ stand
auf breiten Tafeln in den Hallen der Hotels.

Genia Waanebeeker hatte die Scheidung ihrer Eltern flotter betrieben,
seit Linda Bordone durch Demütigungen aller Art dem Onkel in Bologna
doch noch die fehlenden 50000 zur Mitgift zu entwinden vermocht und nun
mit Archangelo Cavadini verlobt war. Genia störte das wenig. Er hatte
eine verrottete Art, die Hand zu geben, und eine perfide, sie um eine
Reitpeitsche zu ballen.

»Ich kaufe den Gauner,« entschied sie.

Eine böse Wärme war an ihr herabgehaucht aus der Haut dieses der
Amerikanerin neuen Typs: südliches Männchen, das auf Weibern lebt. Ihre
eminent praktischen Nerven -- wiewohl noch unerfahren -- rieten zum
Geschäft. Und Genia war fünfundzwanzig Jahre alt. -- Die _up-town_ und
_down-town clerks_ zu Hause: -- das wurde automatisch am _week-end_ aus
einem _city-block_: so einem Kubus dummer Kraft, herausgeschossen,
selbst ein kleinerer Kubus aus Homespun, endend in Stiefelkuben aus
Leder; gab die Pfote kunstlos wie ein Bernhardiner und nahm die
Reitpeitsche zum Reiten.

Heiratete man, blieb eigentlich alles gleich: Kleider, Hüte, der
jährliche »_trip to Paris_«, Haufen von Geld. Genia kam sich sehr ins
Ideale gehoben vor, daß ihr das nicht genüge. Nein, zum Geldverdienen
waren die Eltern da -- nicht nur _dad_, auch _mommo_ hatte noch
Verpflichtungen. Da war ein Jugendfreund in Minnesota. Genügend alt
jetzt und vermögend ... auch hatte sich der Gynäkologe ihrer Mutter, auf
Genias Erkundigung, durchaus beruhigend hinsichtlich etwa drohender
Geschwister geäußert. Selbst wenn _mommo_ so perfid hätte sein wollen.
Daß _dad_ nicht mehr heiratete, dafür mußte natürlich gesorgt werden;
Archangelo aber würde bei der einzigen Erbin zweier Vermögen sich schon
vorläufig mit einer Rente begnügen.

So hatte sie spielend, es war vor vier Tagen, eine Szene zwischen den
Eltern in Gang gebracht. Hoffentlich die letzte. Mit blutgesprenkeltem
Blick war _dad_ zum Telephon gestürzt -- hatte aus dem Dorf Giuseppe
Piatti bestellt -- sich in Skidreß geworfen, und war fort mit ihm. Erst
zur Hütte, dann irgendwo hinauf; sein Gepäck solle man nach Zürich an
die Adresse seines Anwalts schicken; direkt führe er nach der Tour
hinunter.

Heute war Tango-Tee im Palace. In der Frühe des Nachmittags stoben
Gerüchte auf, vor drei Tagen sei in der Suvrettagruppe eine Lawine
niedergegangen, Spuren führten in sie, aber nicht mehr heraus. Man
depeschierte an den Züricher Anwalt, bis jetzt war keine Antwort
eingetroffen, noch konnte man also zum Tango-Tee. Abends lastete dann
allerdings die ganze Verantwortung der Situation auf den beiden Frauen.
Genia war tief erregt:

»Du kannst doch nicht Crêpe tragen, solange die Leiche nicht gefunden
ist -- eine Woche kann man verschüttet in einer Lawine leben.«

»Ich will doch nur das Korrekte tun.« Mrs. Waanebeeker entrüstete sich
-- »aber man hat ja kein Beispiel. Nie noch war jemand aus unsrer
»_set_« verschüttet.«

»Dunkel, aber nicht Crêpe,« entschied Genia.

Bis tief in die Nacht hinein war ein Hin und Wieder auf den Korridoren.
Waanebeekers verhandelten mit der Rettungsexpedition. 30 Frs. pro Tag
und Mann? -- Das war ja horrend. Gut, fünf Mann sollten gehen.

Die Leute lachten. Die Lawine war durch die Talsohle gegangen, die
andere Bergseite hinauf -- hatte die Verunglückten vielleicht weit
mitgerissen -- auf zwei Kilometer, wenn nicht auf vier, mußte gegraben
werden.

»Also dann sieben Mann. Aber um Himmels willen, es gab doch noch Piattis
-- der Andrea würde sich doch nicht bezahlen lassen, feilschen, wo es
die Rettung seines Bruders galt. Piatti müsse noch gratis mit. Also mit
Piatti acht.«

Der nächste, ein kalter und klarer Tag, klang voll Schellen. Archie
Payne hatte zwanzig Schlitten bestellt zu einem Champagnerpicknick nach
der Unglücksstelle. Man würde auf der Lawine selbst frühstücken.

Es war eben eine jener Eingebungen, die ihn so populär machten. _The
right man in the right place._ Er triumphierte. Die Principessa Dango
fuhr in seinem Schlitten, sie, die ihm bisher kaum den Fuß gegeben --
geschweige die Hand. Zwei Schneeleoparden hatten sich um ihren Hals
verbissen, das Gesicht war ihr mit einer köstlichen, handgeklöppelten
Krätze aus Brabant bedeckt. Rankenwerk stieg aus der Nase, und Gruppen
kleinerer Tiere aus feinstem Zwirn überliefen die Wangen. Ein
Leopardenembryo saß als Toque im Henna. Archie fürchtete sich ein wenig,
er hatte sie noch nie so nahe gesehen, der Snob im Herzkästlein aber
strahlte ihm licht, denn Strondoli mußte ganz rückwärts zu Madame
Bavarowska steigen.

Gloria Rawlinson, wunderschön in weinroter Affenhaut, wie es dann im
»Herald« hieß, fuhr mit _her grace of D._ und Monseigneur. Auch die
Cadogans waren dabei, du Perron, die liebliche Margot, Quadrupedescu,
Muriel Hitchcock, die Raeburn-Girls. -- Horus war nicht dabei, wußte
nichts von dem Picknick, hatte sich in der Nacht der Rettungsexpedition
angeschlossen.

Die Damen Waanebeeker -- dunkel, doch nicht in Crêpe -- erwarteten
unterdes auf ihren Zimmern die Ankunft des Anwalts aus Zürich.

»_What a beautiful boy_,« sagte die Principessa Dango -- als Italienerin
von Rang sprach sie meist englisch, hob das neronische Einglas aus
Smaragd in die Richtung des pauvren Fadens der Rettungsmannschaft, die,
jetzt ganz nah, sich mit ihren Schaufeln in den Lawinenkegel einzuwühlen
versuchte; so aussichtslos für diese Wenigen, denn zerrissene Bäume und
Geröll mischten sich überdies den Schneemassen.

»_What a beautiful boy_,« wiederholte die _Princesse macabre_.

»O, Elcho -- -- hallo, Elcho!« und Archie winkte mit der Serviette --

»Principessa kennen ihn noch nicht? Berüchtigter Sklavenhändler aus dem
dunkelsten Osten oder so was. Eigne Jacht -- _first rate_. Gar nicht so
jung, wie er sich macht. Steht mit seiner Schwester oder Tochter in
Beziehungen, die das Gesetz nicht gerne sieht, gibt sie daher für seine
Gattin und indische Prinzessin aus, streicht sie auch olivenfarben an,
das verwischt die Ähnlichkeit. Sperrt sie im übrigen meist ein, mit
einem chinesischen Drachen als Wache, und gibt ihr nichts zu essen; die
arme Puppe hat noch kein geradegewachsenes europäisches _dinner_ zu
kosten bekommen.«

»Es ist etwas dran, sie sehen sich irgendwie ähnlich,« mischte sich _her
grace of D._ wohlig angeekelt ins Gespräch, »wie skandalös -- ein
Familienzug in den Bewegungen -- auch die leichten langen wagrechten
Augen, nur daß seine hell und ihre dunkel sind oder scheinen sollen,
wissen kann man es ja nicht genau, bei diesen lächerlichen Wimpern.«

»O, die Wimpern,« jubelte Archie. »Sir Osmond, erzählen Sie doch die
Geschichte mit den Wimpern.«

Der schmunzelte: »Keine Geschichte -- ein Wort höchstens. Nun, Sie
wissen ja, wie Madame Bavarowska ist -- scharmante Frau -- nur ein
bißchen Steinzeitpersonnage. Wir waren alle zusammen in dem gleichen
Hotel in Paris. Madame Bavarowska sitzt neben dieser jungen Prinzessin
oder Miß Elcho oder Mrs. Elcho, wie Sie lieber wollen. Plötzlich greift
sie nach diesen berühmten Wimpern -- zupft ein wenig daran, besieht ihre
Handschuhe auf Koholspuren, findet keine, fragt ägriert:

»Wie macht man das.«

Da sagt dieser väterliche oder brüderliche Geliebte ganz ernst -- ganz
sachlich:

»Angeklebte Fliegenbeine aus den _Galeries Lafayettes_ in Bagdad, das
laufende Meter zu einer Zecchine _six pence_.«

»Doch recht brav für so einen Wilden,« rühmte Archie -- jetzt ganz
Manager und Impresario.

»Und nichts war ihnen in Paris gut genug,« erinnerte Winifred Cadogan
Lady Eveline -- »weißt du noch, bei Callot, bei Cheruit, bei der Chanel.
Die Leute schwitzten Blut, wollten aber die große Bestellung auch nicht
verlieren -- alles mußte neu entworfen werden, kein Modell fand Gnade --
und man sollte doch meinen, solch asiatische Provinzler ließen sich
alles anhängen.

»Das Resultat war allerdings _stunning_. Der Manager von Martial &
Armand versicherte, käme der Mann wegen Inzest ins Kriminal, er
engagierte sie vom Fleck weg als Mannequin -- so hätte ihm noch niemand
seine >Creationen linear entwickelt< -- was immer das heißen mag.« --
Winifred hielt nichts von Fremdworten.

Die Principessa Dango aber reagierte nicht -- hörte nichts von diesem
indirekten Angriff, war doch schon in ihrer Gegenwart von andrer Eleganz
zu sprechen Sakrileg. Er war jetzt ganz nah -- in Greifweite ihrer
Augen. Taub für Zurufe und Einladungen, ignorierte er die ganze
Picknickpartie völlig, schien mit irgendwelchen Messungen beschäftigt.
Sie sah ihn hier zum erstenmal. Im Astoria war es schwer, in ihre
Merkwelt zu gelangen; am Abend, weil das kobaltblaue Pulver auf den
Lidern eine gewisse Starre der Blickrichtung forderte, nur was
unmittelbar im Sehfeld lag, konnte aufgenommen werden -- bei Tag, weil
der Einfallswinkel des Hutes stets größere Teile der Umwelt ausschloß.
Hier, in der Schlichtheit ihrer Schneeleoparden mit Brabanter Points,
war es unbehaglich frei und weit, voll neuer Gesichter auf einmal.

Warum begrüßte er niemanden -- welche Affektation -- gab nur mit dem Fuß
einem Champagnerkorb einen formidablen Tritt, der gerade im Wege stand.
Eigentlich war er auch gar nicht hergekommen, vielmehr das Picknick ihm
allmählich in sein Arbeitsfeld gerutscht. Erst hatte man sich an der
Stelle gelagert, wo die Spuren verschwanden, dann aber war jeder der
Damen alle paar Minuten gewesen, als vernehme sie irgendwo aus der Tiefe
Seufzer oder Gestöhne. Natürlich wanderten hierauf Flaschen und
Sandwichschüsseln den unheimlichen Lauten nach -- immer weiter auf die
schon konsolidierte Lawine hinauf.

Als Horus, wieder bei seinen Leuten, zur Schaufel griff, fühlte er etwas
wie eine entschuldigende Haltung hinter sich:

»Kann ich irgendwie von Nutzen sein?«

Er wandte sich und sah in Sir Osmonds Gesicht. Das alte englische
Herrengesicht, zwischen weißem Schnurrbart und weißem Haar, füllte sich
langsam mit einem hellen Rot.

»Eine reizende Eigenschaft angelsächsischer Epidermis,« dachte er. »Eine
Art prästabilierter Harmonie zwischen ihren Taten und Vasomotoren« --
und er gab ihm eine Hacke zu beliebigem Gebrauch.

Dann entstand Aufsehen: die Principessa Dango erklärte plötzlich, sie
wolle zur Rettungskolonne und schaufeln. Drei Schritte war sie schon
gegangen. Strondoli hinter ihr sagte nichts als:

»_Impossible._ Um zehn Uhr Kostümball im Carlton -- jetzt ist es halb
zwei, _impossible_,« dann geleitete er sie hinunter zum Schlitten.

Doch der Sensationen sollte kein Ende sein. Auf einmal bog um die
Talnase ein endloser Zug an Menschen und Vieh: Kolonnen von Pionieren --
hundert -- zweihundert -- fünfhundert Mann, Lastpferde daneben. Sie
behaupteten, erst die Vorhut zu sein -- Bergbauingenieure aus dem
Rheintal seien telegraphisch herauf beordert, noch heute Nacht würden
Schneepflüge eintreffen. Mürrisch fraß peinliche Anerkennung um sich. In
etwas gestörter Stimmung erfolgte der Aufbruch. Um zu glossieren, daß
nichts geschehe, war man doch all die Stunden heraufgefahren; wie kam
man jetzt dazu?

In der Hall des Astoria fand Archie Payne ein artfremdes Wesen, einen
Regenschirm mit ungeheurem Horngriff zwischen den Beinen. Es wartete
scheinbar auf den Omnibus zur Bahn. Archie lud es zu einem »_maiden's
blush_« in die Bar, denn er vermutete in ihm den Anwalt aus Zürich.

»Leicht zu liquidieren?« frug Payne, auch Cavadini war hinzugetreten.
»Man spricht von einer Million bar für jede der Damen?«

»Vorläufig keinen Cent,« und der Fürsprech strich mit dem Horngriff
seines Regenschirms den Schnaps im Schnurrbart glatt.

»Nicht -- einen -- Cent, ehe die Leiche gefunden und einwandfrei
agnosziert ist, sonst gilt er für das Gericht lediglich als verschollen,
und die Todeserklärung, nebst Freigabe des Vermögens, erfolgt erst nach
drei Jahren. Im Frühling aber, bei plötzlicher Schmelze und Hochwasser,
können die Reste leicht fortgeschwemmt werden ... es ist riskant.«

Archie, Fäuste in den Hosentaschen, warf sich hintüber und biß in den
Plafond vor Lust.

Am Abend hatten Waanebeekers ihre frühere Beliebtheit in vollem Umfang
wieder erlangt.

Um sieben, vor der Abreise des Fürsprechs, war es noch etwas peinlich
geworden. Die Wittib Piatti kam in jener unerträglichen Haltung
europäischer Mittel- und Unterschichten bei Schicksalsschlägen. Nicht
aus Mangel an Herz -- aus mangelndem Instinkt für natürliche Gesittung
fallen sie in jene greinende Kinogeste, die das echte Leid überlügt und
zwecklos entwürdigt. -- Flucht oder Brutalität -- ein drittes ist da
schwer.

Es ergab sich, daß die Wittib Piatti vor Schmerz zuvörderst nicht sitzen
konnte; sie schleifte ein wildfremdes Kind rastlos im Zimmer herum und
schüttelte es drohend gegen die Damen Waanebeeker, ließ hilflose Posen
mit erpresserischen abwechseln. Endlich kam es heraus: den Führerlohn
für die Tour wollte sie ausbezahlt haben.

»Den Ganzen?«

»Natürlich.«

Nun war Mrs. Waanebeeker oben auf:

Die Katastrophe hätte sich doch beim Aufstieg ereignet, die Spuren
zeigten es unwiderleglich ... also höchstens halbe Taxe, aber höchstens.
Hier gab ihr der Anwalt voll und ganz recht.

Die Witwe Piatti schäumte durch die Gänge, brach just vor der Bar
zusammen und mußte gelabt werden. Sie lag in einer Lache ihr
widerfahrenen Unrechts, und es wurde immer größer. Auf dem Heimweg
frischte sie auf; Mr. Waanebeeker hatte im Dorf schon die halbe Taxe als
Angabe vorausbezahlt -- davon aber konnten die im Hotel oben nichts
wissen.

                   *       *       *       *       *

In diesen Tagen und Nächten aß Helena Karachan zum Entsetzen. Ja -- auch
in den Nächten. Verweigerte ihre gewohnten Schlafdroguen. So saß sie bei
gelöschten Lampen im Mondlicht, den Kaftan aufgerissen und schlang in
Verzweiflung, bis fahles Frühlicht um die grauen Reste der Schüsseln
lag. Keine Stunde Ruhe mehr den müden, entstellten Organen, als wolle
sie sich von innen heraus zerreißen um jeden Preis.

Es war da nämlich noch eine Person vorhanden, die darauf sah, daß keine
Betäubungsmittel, gegen der Fürstin Willen, den Speisen beigemischt
würden: Ithnan, ihr georgischer Diener. Auf seiner ganzen Haut empfand
er jeden Wunsch der Herrin. Ließe sie ihm den Kopf abschlagen, Hände und
Füße dienten ihr noch nach. Manasse und Dr. Sobelsohn achtete er
unreinen Tieren gleich. Letzterer verdiente Unsummen in dieser Zeit,
ließ aber doch den Plan, sich ein zweites Konto in der Schweiz eröffnen
zu lassen, weise und resigniert fallen. Stand eben von früh auf dem
Boden der Tatsachen, seinem einzigen Heimatboden, wußte: bald versiegte
der Segen. Die Fürstin sollte geheilt werden.

»Geheilt?« frug Horus ungläubig-froh.

»Von der Freßsucht, ja -- dafür steh ich gut.«

»Warum ist es dann nicht längst geschehen?«

Er wurde erregt:

»Wie soll es geschehen sein, wo sie sich wehrt wie me ... närrisch,«
verbesserte er, »und bis jetzt mit Erfolg, -- Gewalt? -- Nu, ma scheut
vor Gewalt. Unter Kuratel? Gewiß Kuratel. Solang aber nicht unmittelbare
Lebensgefahr besteht, was hat man davon? Keine gesetzliche Handhabe.
Jetzt endlich, bei der fortschreitenden fettigen Degeneration aller
Organe, hat er ein Machtwort gesprochen, der Großfürst. Kommt herauf mit
einem berühmten Operateur aus Deutschland. Jener wird es machen auf
seiner Klinik. Aber erst soll die Kapazität sagen -- sie wird schon
sagen,« fügte er resigniert hinzu.

»Und warum ist denn die Fürstin so verzweifelt dagegen?«

»Nu, Sie kennen doch die Voreingenommenheit der hohen Frau gegen unsre
Wissenschaft -- rein pathologisch zu werten natürlich; wie soll man noch
auf ihre Meinung geben über Medizin, wo sie doch ganz degeneriert ist
durch die Totalexstirpation? Hätt' sie sich wenigstens den Eierstock von
einer Ratte einsetzen lassen, könnt man noch reden -- aber so! Sehen Sie
mich an; reg ich mich auf bei ihren Gehässigkeiten? Konträr! -- Objektiv
bleib ich als Fachmann. Nu, die Heilung: sind da Details, an denen der
Patient selbst sich manchmal ein bissele stößt. Die Fürstin, sie kennt
sich aus, man kann ihr da nichts vormachen, wie sonst aus Humanität
geschieht. Aber eine glänzende chirurgische Leistung -- ich sag ihnen
_glänzend_,« er wuchs immer höher, ein ferner Schein fiel auch auf ihn,
den schlichten Internisten.

»Sie sind Laie, also Ihnen populär gesagt: der Magen wird künstlich
verengert und gewisse Nervengruppen in der Weise gereizt, daß künftig
keinerlei Speise -- zu deren Aufnahme der pathologische Hang drängt --
mehr behalten wird, sondern unter dauerndem Ekelempfinden erbrochen; das
ist das Entscheidende,« fügte er triumphierend hinzu. »Der Patient ist
somit dauernd geheilt und wird von nun an künstlich ernährt.«

»Falls er es nicht vorzieht, sich zu erschießen.«

»Gegen das Erschießen haben wir allerdings noch keine Operation -- aber
es handelte sich doch um Freßsucht -- von der ist er geheilt.«

Verdruß mit den Laien. Gar nicht einlassen sollte man sich mit ihnen --
außerhalb der Ordination.

Nun sollte zur Stunde des _dinner_, gleichzeitig mit dem Großfürsten,
die Kapazität eintreffen -- Untersuchung und Gutachten blieben für den
nächsten Vormittag anberaumt. Die Fürstin war zum besten. In einer
heitren Wut an Grenzen ins Hell-Bacchantische. Sprach auch wieder, zum
erstenmal seit Tagen. Der schwarze Kaftan wurde vor aller Augen auf dem
Balkon mit Benzin gereinigt, die karierten Schlapfen geklopft; Ithnan
mußte sogar den Coiffeur des Hotels holen, mit dem sie lange
verhandelte. Er verließ ihr Appartement, eine Perle an der Krawatte. In
Kugelwellen ging Begeisterung vor dieser sonst so glättenden Personnage
her: »In der Tat, eine wahrhaft vornehme, eine durchaus seigneurale
Gönnerin;« da wisse man, wem man diene und wofür. Er schien wie in
Brillantine getaucht und ward nachmittags beim Rennen gesehen.

Lange vor Abend erschien -- ganz gegen ihre Gewohnheit -- Helena
Karachan in der Hall. Querhin, bis ans andre Ende, stieß ihre Stimme
lanzettscharf:

»Elcho, bringen Sie schnell Peribanu fort -- der Gynäkologe kommt und
findet sich hier ein, >interessierter Laie<, der gern ihren Uterus
genauer von innen besehen möchte -- legt er sie direkt auf die Bar.
Allerdings, jetzt vor dem _dinner_, mit leerem Magen, vielleicht geht es
nicht einmal letal aus.«

Sie hatte französisch, somit allgemein verständlich, gesprochen; wie
eine zweite Schicht im Saal stand die Luft plan in allen Lungen hoch.

Zum erstenmal verlor Sobelsohn an betulichem Gleichmut, versuchte fast,
sie aus der Hall zu drängen. Beim ersten Schritt schon hatte ihn Ithnan
am Genick, trug ihn mit spitzen Fingern hinaus bis in eine ferne
Besenkammer mit hoher Lichtluke, sperrte von innen ab und schwang sich
oben hinaus -- den Schlüssel zwischen den Zähnen. Sobelsohn hörte ihn
wie eine Echse von Gesims zu Gesims rascheln, dann, es war aus
Stockhöhe, einen dumpfen Sprung in den Schnee. Drei Minuten später stand
Ithnan mit gekreuzten Armen hinter seiner Herrin wie zuvor.

Sie saß nun neben Horus, Gargi hatte sich entfernt, während die übrigen
Damen fluchtbereit, doch hingegebenen Ohres die beiden umflatterten.

»Was, Sie kennen unsren Simon nicht, unsern Geheimrat und seinen letzten
Triumph? Durch alle illustrierten Zeitungen ging doch der Gelehrtenkopf
mit dem Denkerbart. Daß die Wissenschaft souverän sein und bleiben müsse
-- -- er hat es glorreich bewiesen. War da eine mechante Chose: durch
die Stadt, deren Frauenklinik er leitet, reiste jüngst ein Prinz. Der
wußte -- es regnete grade -- mit seinem Vormittag nichts Rechtes
anzufangen. Kino -- nischt, Museum -- Quatsch. Aber dem Lysolonkel
könnte telephoniert werden, man möchte gern wieder mal 'nen Damenbauch
von innen sehen. _Ça fait toujours plaisi-i-i-r._ Leider war keiner
parat. Der Gelehrte, geschmeichelt durch das wissenschaftliche Interesse
des hohen Herrn, pumpt behende einer Frau den Magen aus und läßt sie,
trotz ihres Sträubens, narkotisieren, in Erwartung irgendeines
Botokudenkreuzes für Kunst und Wissenschaft oder sonst eines mittleren
Hundssterns. Die Frau stirbt natürlich in der Narkose infolge des
flüchtig und ungenügend ausgepumpten Magens. Man hat vor Laparotomien,
wie sattsam bekannt, vierundzwanzig Stunden zu fasten.«

Horus war, sehr blaß, aufgefahren. »Sparen Sie mit ihren Emotionen,
Elcho, jetzt kommen doch erst die Pointen, die Hintergründe, die
weiteren Perspektiven.

»Weltfremde Angehörige der toten Frau verklagen die Kapazität, verklagen
einen europäischen Arzt, dem doch das Doktorat schon Freibrief ist für
-- wie heißt es doch drüben beim Jus, wenn's einer nicht gelernt hat? --
Richtig: für vorsätzliche schwere Körperverletzung mit Todeserfolg.

»Also, das war aussichtslos von vornherein. Es sterben ja auch sonst
Leute in der Narkose -- sozusagen selbständig -- und unmittelbare,
eindeutig nachweisbare Ursache des letalen Ausgangs ist ja immer >nur<
-- Herzschwäche.

»Aber da war ein andrer Punkt, in dem Richter und Geschworene,
verschüchtert in ihren wirren Hundeseelen, um Belehrung, Unterweisung
durch >Sachverständige< winselten. Und jetzt steht der ganze Schleim der
Clique auf aus den Kanälen: aus Akademien -- Universitäten -- Kliniken
und deckt die kriechende, verbrecherische Krapüle. Inkorrekt? -- Nicht
daß sie wüßten, vom Standpunkt der Wissenschaft sei durchaus nichts
dagegen einzuwenden, daß >interessierten Laien< die Anwesenheit bei
einer Operation gestattet werde.

»Begreifen Sie, Elcho. Wenn also ein beliebiger Schweinkerl die
Geschlechtsorgane einer bestimmten Dame, ohne ihr Wissen von innen und
praktisch mit Spiegeln erleuchtet sehen will, genügt es bei diesem
wunderschönen Brauch, sich als >interessierter Laie< zu gebärden.

»Statt nun die Kollegen des saubern Herrn, wenn sie als Zeugen solches
für ärztliche Usance erklären, schleunigst zu einem Bankwechsel
aufzufordern -- hopp, hinüber zum Angeklagten -- bricht die
instinktfremde Herde von Richter und Geschworenen auf den zuständigen
Körperteil zusammen: die Herren möchten doch nur entschuldigen, man
wisse in Fachdingen eben nicht so Bescheid -- kenne die Bräuche nicht
genügend ... aber nach so lichtvollen Ausführungen ... kurz: Freispruch
mit Speichelfluß. Die weltfremden Angehörigen aber fliegen wegen
Verleumdung ins Loch. Im Triumph kehrt der Edeling als Leiter in seine
Frauenklinik heim, wo hundert ihm geweihte Ehrenbäuche lorbeerumwunden
seiner harren.«

»Fürstin, verhält sich das so -- auch nur annähernd so?«

»Die Verhandlungsberichte -- im Stenogramm -- stehen Ihnen jederzeit zur
Verfügung, falls Sie den Zeitungsnotizen nicht trauen. --

»Das Frechste ist aber doch dieser Sachverständigenunfug mit Ausbeutung
der Stumpfheitskonjunktur durch die Medizinmänner. War es je noch
erhört, hatte ein Bock etwas ausgefressen, daß dann seine >Mitböcke< als
Sachverständige einzusetzen seien über den im Garten angerichteten
Schaden? Nein, über den werden wohl die Geschädigten gefälligst selbst
bestimmen. Nur die allergrößten Kälber liefern sich dem Metzger selber.«

»Aber die Männer. -- Sind denn europäische Männer so weit unter jedes
Vieh gefallen, daß der adelige Schauder, sich schützend vor die Quelle
des Lebens -- für die Quelle des Lebens -- zu stellen, ihre Herzen nicht
mehr treibt? -- Wie geborgen in der Männlichkeit, wie behütet ist die
Frau bei uns. Wohl kommen erotisch sadistische Verbrechen vor -- auch
Gewinnsüchtige, wie überall; erwischt man aber das Schwein, so wird es
in der Luft zerrissen. Den östlichen Menschen möchte ich sehen, der sich
das, was Sie mir hier erzählt haben, diesen schlechtrassigen Zynismus
von einer Fakultät als >korrekt<, als >wissenschaftliche Usance<
aufschwatzen ließe.«

Seit Marseille, seit ihm zum erstenmal das europäische Kotwesen durch
das Auge an die Seele gespritzt war, hatte er nicht dies deprimierende
Grauen mehr empfunden.

Die Fürstin grinste infernalisch: »Ja, das europäische Männchen. Für das
sind solche Dinge schlichthin begähnenswerte Banalität. Gott, denkt es
in seiner erotisch-ethischen Verstumpfung, ist's eben wieder einmal beim
Aufschlitzen schief gegangen, und trägts ansonsten mit der gleichen
Standhaftigkeit, die es bei verzweifelten Entbindungen an den Tag zu
legen pflegt -- alles gesteigerte Feingefühl für den eigenen Schnupfen
wahrend. Betrachtet sich eben hier ausschließlich als >interessierter
Laie<. In dieser Eigenschaft stellt es sich allerdings nicht ungern --
wie sagten Sie doch -- >vor die Quelle des Lebens<. Aber einen >adeligen
Schauder< dabei ...?« sie lachte, daß ihr die Zähne zitterten.

Orgiasmus an Verachtung trieb ihr Worte aus, von abstoßender und doch
wieder hinreißender Brutalität. Sie erinnerte ihn da irgendwie an
Ganapati Sastriar und die Weltesche seiner machtvoll-breiten
Unzüchtigkeit, wenn so der Geist: sein >guter Dschinn<, über ihn kam --
nur daß dieser ein Geist der Lust war, nicht der Empörung.

»Da gibt es nur Selbsthilfe der Frauen,« die Fürstin jauchzte förmlich
vor Hohn. »Die Gynäkologen boykottieren, bis jede Gepflogenheit, gegen
die >nur< wissenschaftlich nichts einzuwenden wäre, fällt.

»Aus ist's dann mit den Konsilien von drei Professoren und einem
Stückchen Traubenzucker für die Analyse. Nota: 10000 Frs. -- Mark -- Kr.
Im Abonnement 10% Rabatt. Nichts da. Schluß. Wir kehren zu den
treuherzigeren Praktiken weiserer Völker zurück. Uns alle können sie ja
dann doch nicht ins Zuchthaus sperren wegen lauteren Wettbewerbs.

»Denn darauf sah man in Sachverständigenkreisen von je und streng: der
>unerlaubte Eingriff<, der hatte auch unerlaubt zu bleiben. Sonst kamen
ja Höchstpreise, behördlich kontrollierte Tarife, fatale Beschränkungen
finanzieller Art. Da aber die Unterwerfung unter einen solch
barbarischen Paragraphen alljährlich für viele Hunderttausende von
Frauen den sozialen -- ökonomischen -- oder das Bitterste: erotischen
Ruin bedeuten mußte, war es Juristen im idealen Zusammenfluß mit
Medizinern stets ein Leichtes, ihn, als >dem sittlichen Empfinden des
gesamten Volkes entsprechend<, dauernd aufrecht zu erhalten -- und
freier Wucher treibt Früchte wie noch nie -- ab.«

Mit Möwenschrei und gebreiteten »Sorties« wandten sich die Frauen jetzt
im Gleitflug zur Flucht; die jungen Mädchen aber waren schon längst
nicht mehr zu halten gewesen, umdrängten Horus und die Fürstin, hätten
sich, allem zum Trotz, am liebsten großäugig zu ihren Füßen gelagert --
weit weg von der erquälten Naivität dieses zerdehnten Jahrzehnts.

Auf immer weg von einer Naivität, mit der sie hatten herumtasten müssen
an dem abweisenden Gehaben der »Epouseure« -- immer wieder hingetrieben
von säuerlichem Staunen -- gesteigerter Mißbilligung ihrer Lieben im
abgestandenen Heim. -- Nur weg -- gleichviel zu wem; nur es endlich
anders haben, anders machen dürfen, als in dieser verwesenden, übergaren
Mädchenstube neben dem krassen Elterngemach, an dem sie niedriger,
unzarter sich werden fühlten von Jahr zu Jahr in abscheulichem Wissen.
Hangend an Geräuschen. Ernüchtert ohne Rausch. Der Illusionen bar und
bar der Klarheit.

Horus begriff. In diesen hemmungslosen Sekunden taten sich ihre
Gesichter für ihn auf. Nicht geschlossene, strahlende Jungfräulichkeit,
von Wildernis geheiligt, stand ihnen als freies Blau im Blick, vielmehr
eine süßelose -- hartabgedrängte strich in grünschwarzer Furche am Auge
vorbei -- bettete es in gar üble Kissen der Einsamkeit.

Ihm ward leid um sie -- herzzersprengend leid, er fühlte: Welche
fahrlässige Roheit einer Gesellschaft, ihren Jungfrauen demütigendes
Herabsteigen in die sexuelle Arena aufzubürden, in deren nüchternem und
weihelosen Dunst sie aus jedem Mann den möglichen Gatten sich erwittern
müssen, in uneingestandenem, wie oft vergeblichem Versuch. Diese
Schamlosigkeit -- dies _Crude_ bleibt jungen Wesen im Osten erspart.

Ja, das ist wohl der Sinn unseres obersten Gesetzes aller Vaterpflicht:
zu sorgen, daß die Geschlechtsreife keines seiner Kinder unvermählt:
hilflos finde und bedränge. Nichts darf gezeugt werden, dem nicht
seinerseits das elementarste Recht der Kreatur: ebenbürtige Liebe,
verbürgt ist, und zu rechter Zeit.

Und Glück! Soweit Glück überhaupt vorherzusehen in diesem rätselvollsten
Chemismus, den erst das Letzte offenbart, hat es bei uns nicht, aller
menschlichen Voraussicht nach, mehr Chance durchzubrechen: in zwei
unlädierten jungen Wesen -- parallel geboren -- von hoch erotischer
Kultur, ist nur die sinnliche Feinheit des Knabe-Liebhabers reich genug,
erblich gepflegt genug, der kleinen Braut gerade das zu wecken, was sie
sucht: ein junger Prinz im ganzen Reich der Liebe, befähigt, ihr die
innere Heimat zu richten, wo sie will, denn alles ist ja sein.

Nur bei Rassen von ungepflegter Sinnlichkeit scheint für die Frau die
Wahl so wichtig -- der Irrtum eine Katastrophe.

»Freie Wahl.« Seit Cavadini Genia durch das Lasso ihrer Rente
geschlüpft, war diese Faselphrase öfter im Kreis um Miß Waanebeeker
aufgetaucht, und die jungen Damen taten dabei fern und wunschlos
unbekümmert.

Er überlegte. Wohl waren ihm noch wenig Orte bekannt, galt aber nicht
dieser als Zentrum internationaler Geselligkeit? Und doch: die gleiche
kleine »_set_« wie früher in Paris, und sie schien sich von London, von
Baden-Baden, von Kairo aus zu kennen; schwamm als winzige Blase von
Klima zu Klima mit geschlossenem Oberflächenhäutchen. In der schmalen
Spanne ihrer hohen Zeit -- kaum zwanzig bis dreißig Männer kamen für
diese Mädchen in Betracht. Von diesen zwanzig oder dreißig wollte die
eine Hälfte offenbar überhaupt keine Ehen, die andere Hälfte schied aus
pekuniären oder anderen -- ihm noch viel rätselhafteren -- Gründen aus.

Und das war die »große Welt«. Wie mochte es um individuelle Wahl erst in
kleineren Orten -- kleineren Verhältnissen bestellt sein.

Wenn Gargi solch lange Erniedrigung hätte leiden müssen, ehe sie seine
Arme fand -- wie eine Blasphemie wies er das schmutzige Bild ab. -- Und
gedachte des lieben Alters -- ihm verschmolzen: des besonnten und
bestirnten Märchens ihrer und seiner dreizehn Jahre, des nie zu
Vergessenden.

Keine Kinderehe! -- Ihm schauderte vor der Armut dieser Leute. Vor der
Verarmung an Leben, an Glück, insonderheit an Frauenglück.
Bedauernswerte Frauen, denen auch noch das Wunder jener wenigen Monde
sinnlos verwelken muß, da es jedem Wesen, in bescheidenem Maße
wenigstens, vergönnt ist -- reizend zu sein. Wie viel ging hier
unwiederbringlich -- ungenossen -- in Leere, zugrund: das Zarteste,
Holdeste.

Oder verwechselten diese weißen Barbaren Eheschluß mit Ehevollzug. --
Zuzutrauen war es ihnen schon. Kannten vielleicht überhaupt die Abstürze
zwischen Sinnlichkeit, Erotik, Sexualität, Zeugung und die schwebenden
Nervenbrücken über sie hin nur wenig oder roh. Anders konnte er sich die
eisige Verlegenheit schon beim ersten Wort, das jene Sitte seiner Heimat
streifte, nicht erklären. Und gar Sobelsohn. -- In ein ganz leises
Erinnern, mit Gargi halblaut getauscht, spie jüngst unaufgefordert sein
infernalisches Grinsen. Gefragt, was er damit meine, ward er streng, und
seine Stimme brodelte plötzlich im Schmalz der Würde:

»Die Wissenschaft brandmarkt das alles als der Rasse schädlich.«

Woher die Wissenschaft die Erfahrung habe, wenn es hier nie Sitte
gewesen?

Das gebe einem der gesunde Sinn. --

Was sich der >gesunde Sinn< denn eigentlich vorstelle unter >dem allem_Sguerdo suleijl_< haben gewiß nicht so hübsche, man soll
sie sich dort immer rasieren -- vorher.«

Nun wiesen die Stimmen aneinander auf dies und das hin; wurden heißer,
gieriger daran -- kaum liebevoller. Der Haß blieb in ihnen, nur kicherte
er jetzt und kam ganz nah, erlöste sich in Not und Verachtung.

»Hatte es nicht geklopft? Da, noch einmal!«

»Wer ist es,« zischte Gwen -- »ein Mann?«

»Mach auf!«

»Ja -- auf!«

Die Tür ächzte leise in den Angeln.

»Ich bin's,« sagte Linda Bordones mühsames Stimmchen.

»Ich sah Licht bei Ihnen, o, bitte, können wir nicht noch ein wenig
plaudern und ... und,« sie zögerte -- »zusammenbleiben?«

Linda stand da in voller Balltoilette. Die ganze Nacht hatte Cavadini
fast ausschließlich sich um sie gewunden, in ihren Nacken geatmet, dann
aber, kurz ehe er mit den andern nach >_Sguerdo suleijl_< ging, sich
jäh, wie durch einen Schnitt, aus der Verschmelzung mit ihr gelöst, und
ziemlich kühl angedeutet, er führe auf einige Zeit nach Paris, um den
Damen Waanebeeker bei der Ordnung ihrer Verlassenschaftsangelegenheiten
an die Hand zu gehen. Sie möge ihn nicht allzubald zurückerwarten und
indessen lieber mit dem Onkel nach Bologna heimkehren. Eine Szene im
Ballsaal, davor hatte ihr gegraut. Ein Handkuß, perfid und lang, dann
war er, höchst angeregt, verschwunden.

Seitdem fürchtete sie sich derart vor dem Alleinsein, daß sie durch das
Hotel gewandert war, bis zu diesen fremden englischen Mädchen. Hatte
erst an Winifred, ihre Zimmernachbarin, gedacht. Aber das kannte man.
Nach Tangonächten klang sofort stumpfer Schlafatem durch Winifreds Tür,
eine Flasche Kognak, heimlich, von ihrer Mutter _bridge-fond_
angeschafft, half ihr zu dieser sicheren Ruhe.

Hazel und Gwen waren unterdessen zu einem Doppelblock Wohlanständigkeit
erfroren.

»_Oh I beg your pardon_,« sie waren so erstaunt, so ins Mark erstaunt,
daß es die arme kleine Linda nur trieb, ins Niegewesene zu zergehen. Ein
paar vage Entschuldigungen und sie hastete zurück durch all diese
Korridore -- Röhren der Unrast, in die es aus den Komfortpferchen
mündete: verzerrte Kälte oder übelberatende Not und gieriges Bellen des
Stoffes -- Sattheit aus einigen -- aus keinem Glück.

Bei Hazel und Gwen löste sich der Haß der Übernähe nun in gemeinsame
Entrüstung.

Nein, diese _foreigners_ -- man konnte eigentlich als Lady nicht mit
ihnen verkehren -- nicht proper waren sie -- keine. Allein in der Nacht
im Hotel herumlaufen. Fremde Damen aus dem besten Schlaf wecken. Sicher
wollte sie wo anders hin und sich hier nur ein Alibi verschaffen. Nun,
_mommo_ würde Sorge tragen, daß man dieser verdächtigen Südländerin von
nun an allgemein mit gebührender Zurückhaltung begegne. Sie entrüsteten
sich bis zu Zärtlichkeiten, die erst das Frühlicht schied.

                   *       *       *       *       *

Lizzi Beermanns Zimmer stieß an das Gemach ihrer Eltern.

Sie preßte die Polster vor die Ohren. So -- so war man also entstanden.
So behäbig hingesudelt in eine träge Weite, gleich nach dem Disput über
die letzte Hutrechnung, und vor dem ersten Gähnen verdrossener Abkehr.

Da lag man, gedemütigt in seiner ungetanen Jugend, die es so ganz anders
wissen und wahrhaben wollte. Lag hilflos heiß auf planen, toten Laken;
in Empörung gegen ein weiheloses Nebenan.

Aufspringen hätte man mögen, Türen aufreißen, drauflosschreien:

»Da -- das ist der >Kinderschlaf< meiner dreiundzwanzig Jahre, an den
eure Faulheit zu glauben vorgibt. Ja ihr -- ihr, zu träg in euren salopp
gewordenen Körpern, um auch nur ein Glied selber zu straffen -- anregen
laßt ihr euch von dem Blut in unsren obszönen Tänzen, die wir am
Schnürchen machen dürfen. Dann fragt ihr: >Nun Kleine, gut unterhalten?
So, jetzt aber brav ins Bett<.« -- O, wie widerlich -- welch ein
verlogener Käfig, dieses ganze Leben. Aber ausbrechen? Nein, zu riskant.
Lieber behalf man sich noch bis zum korrekten Ende.

Manchmal gelang es wohl und man vergaß ganze Teile von sich -- sank dann
wie an eine fremde Wärme -- an sie hin. Da waren zum Beispiel die Arme:
ferne Gliederwesen, die frei spielen konnten, wo sie wollten. Aber Kopf
und Lippen blieben leider immer allein und zu weit weg von allem
Wesentlichen. Wie gut es die Raubtiere, überhaupt die Tiere hatten: von
nichts an sich waren sie getrennt; Kelch und Gegenkelch durch eine
wunderbar bewegliche Wirbelschnur biegsam verbunden. Schon als Kind
hatte man im Zoo immer davon träumen müssen, wenn »_miß_« vor den
Käfigen die Zahnformeln repetierte. Was sich da alles machen ließe.

Und die Träume gingen bald in Geschichten über -- etwas beschämende
Geschichten, an denen sich ein zweites, häßlicheres Ich mästete -- zu
vampirhaftem Leben erweckt von unbedenklicher Hand. Die arme junge Hand
wußte nicht, daß sie das Glück entwurzelte in ihrer Not. Wie es dann, am
Tag der Erfüllung, heimatlos sein würde am abgelenkten Quell.

Aber es waren in diesen gefährdenden Jahren eben immer wieder nur die
Zahnformeln repetiert worden, und etwa: wann und unter wem Sizilien an
das Haus Anjou gekommen -- dann noch etwas Eckiges mit einer Hypotenuse,
aber das hatte man nie recht verstanden.

Natürlich wußte man, das »andere« sei wohl improper. Es war aber
außerdem so viel »improper«, gar nicht zu leben wäre gewesen, hätte man
sich überall daran gekehrt. Wie also Sinn von Unsinn am »improper«
scheiden, da die Erklärung, erhielt man sie, ja doch gelogen war und
immer weithin sichtbar falsch.

                   *       *       *       *       *

»Oh wann -- wann wieder.«

Und im langen _saut-du-lit_ hing Margot abschiedtrunken mit gelösten
Gliedern um du Perrons Hals.

Dieses rührende und entzückende Bild bot sich zwischen Tür und Angel von
Mademoiselle Chenals Hofzimmerchen einem Trupp heimkehrender Herren, als
sie in der Dämmerung auf Zehenspitzen jäh um einen Korridor lugten. Von
der andern Seite hatte schon längst der Zimmerkellner verborgen geäugt,
der, so lange nicht nach ihm geschellt wurde, die göttliche Allgegenwart
»_love_« zu schlagen pflegte.

Ob die Herren von dem Bilde entzückt gewesen, war schwer festzustellen
-- gerührt wohl kaum, denn es gab einen ungeheuren Skandal. Ganze
angelsächsische Tribus erklärten abzuwandern mit ihrer Brut, mutete man
ihnen die Gesellschaft einer solchen Person noch weiter zu. Man sehe ja
so über manches hinweg, zum Beispiel -- und nun wurden alle erdenklichen
sexuellen Querstände nach der Variationsrechnung durchgeprobt --, aber
eine Tochter neben Töchtern. Das war zu viel. Die übrigen jungen Mädchen
indes blühten an diesem Tage argloser wie je in den Klubsesseln herum:
es war das reine Konzert-Blühen, sahen mit etwas umränderten Kinderaugen
süß und leer um sich.

Gegen Mittag ließ die Direktion Madame Chenal mitteilen, man bedaure
unendlich, aber durch ein fatales Versehen seien die Zimmer der Damen
telegraphisch an neue Gäste vergeben worden, auch habe man leider gar
nichts anderes für den Augenblick verfügbar, ob vielleicht an ein
anderes Haus telephoniert werden solle? Auf alle Fälle sei der
Gepäckschlitten um vier Uhr bereit.

Die darauffolgende Szene zwischen Margot und ihrer Tante schrie durchs
Mark des Hauses. Madame Chenal erbrach wie rasend nach einander alle
Opfer, die sie der Nichte von der Wiege an gebracht, und wie nun das
mühsam gesparte Geld für die Lancierung zu dieser kostspieligen Saison
hin sei, und alles Schmach und Ruin. Keine Heiratchance mehr. Und was
ihre bedauernswerte Mutter nur sagen würde, und nach Rouen könne sie
überhaupt nicht mehr zurück. Sie selbst ziehe jedenfalls ihre Hand von
der Deklassierten und enterbe sie.

Dann eine Atempause der Hoffnung. Madame Chenal ließ Aquetil du Perron
zu sich bitten und erklärte ihm, sie gehe wohl nicht fehl, wenn sie ihre
Nichte, nach dem Vorgefallenen, als mit ihm verlobt betrachte.

Du Perron wurde ganz Gentleman und so korrekt, daß einem das Atmen
verging. Er höre wohl nicht recht. Männer von seinen Grundsätzen und
seiner gesellschaftlichen Stellung pflegten wohl nicht eine junge
»Dame«, -- er lächelte Gänsefüßchen -- die sich nach einer Ballnacht
gleich einem quasi Fremden an den Hals werfe, zur Mutter ihrer Kinder zu
machen.

Und als Madame Chenal etwas von Vergewaltigung und gerichtlicher Klage
anfing, schnitt er ihr kurz das Wort ab:

»Ganz nach Belieben, er habe ja Zeugen genug dafür, ob der Abschied nach
Gewalt von seiner Seite ausgesehen -- oder eher anders herum.«

Tiefverschleiert schlichen sich die beiden Frauen durch einen
Seitenausgang des Hotels zu ihrem Schlitten, ignoriert von den
Hotelgästen. Dafür bildete das gesamte Personal, dem keine Abreise noch
je entgangen war, auf dieser ungewohnten _trace_ Spalier. Aus allen
Korridoren quollen _button boys_, sonst gewohnt, sich auf der Freitreppe
pompös zu entfalten. Dieses Spießrutenlaufen, bei dem die Verurteilten
noch jeden ihrer Quäler zu beschenken hatten aus der mageren Tasche --
es war zu viel. Endlich beim letzten Lungerknaben angelangt, brach aus
Margot -- der Beschimpften, Verhöhnten, Getretenen -- der erste Strahl
Menschenwürde. Als dieser glücklose allerletzte Lungerknabe, schon beim
Schlitten, nicht nur die Hand, sondern auch -- und gar nicht wenig --
die Zunge vorstreckte, klappte sie ihr zwei Frankstück in die Börse
zurück und gab ihm eine schallende Ohrfeige.

Aber eigentlich war dieser Skandal von weniger nachhaltiger Wirkung
gewesen, als man hätte meinen sollen, denn ein neues, tieferes Zittern
schwoll durch das Haus. Wie stets zur Zeit der Äquinoktien, war,
gleichsam über Nacht, die Hutbrunst ausgebrochen und die bewegten und
beunruhigten Frauen sammelten sich zum Zug nach Paris.

Schon vor Wochen war es Horus aufgefallen, daß die Neuangekommenen
merkwürdig anders gebaut zu sein schienen als die Winterfrauen,
besonders die Partie zwischen Schulter und Ellenbogen strebte offenbar
immer mehr dem Schenkel eines Schweines nachzueifern, und so wähnte, was
noch Frauenarme besaß, sich allzusehr im Nachteil. Und die Zeichen
mehrten sich. Letztarrivierte sahen schon so vollkommen verkehrt aus,
daß man ganz verzagt wurde.

Die Principessa Dango -- als Sturmvogel der _rue de la Paix_ -- war
längst fort mit ihren Hutkoffern: eine Art Löwenkäfigen mit Saugnäpfen,
letztere bestimmt Toques -- Cloches -- Canotiers: alles pneumatisch --
nadellos an den Innenwänden festzuhalten.

Als Elchos ihr Kupee bestiegen hatten, fiel Horus ein Herr auf, in
englischer Reisekappe, und an dem nagelneuen Überzieher Nähte, wie die
Nieten eines Dampfkessels. Wo hatte er den Mann schon gesehen? Eben
schob er jene kostspielig aussehende Französin in einen Waggon erster
Klasse, hinter der drein der Zimmerkellner am ersten Abend blitzschnell
eine Geste von geradezu infernalischer Gemeinheit gemacht.

Wo war der Dame sonstiger Gatte -- oder Begleiter? Glich nicht der Mann
in der englischen Reisekappe auffallend besagtem Zimmerkellner?
Wen-Kiün, Gargis Dienerin wußte Bescheid. Sie haßte den Zimmerkellner.

Ja, dieser »große Kerl Gauner« hatte beim Rennen gewonnen und der Master
der Dame hatte verloren. Und so war der Master ohne die Dame abgereist,
und ohne die Rechnung zu bezahlen. Und so hatte der Zimmerkellner die
Rechnung beglichen und die Dame für die Begleichung der Rechnung
behalten.

»Warum auch nicht,« sagte Horus zu Gargi, »hier, wo es keine Kasten
gibt: sondern nur _einen_ Pöbel mit verschieden viel Geld. Schließlich
in einem _easy-chair_ lümmeln, das bißchen Eßmanieren, die paar
Redensarten! Leicht ist es da, Herrenbräuche erfüllen; gälte es, einer
östlichen Teezeremonie gewachsen sein oder den Begrüßungsformalitäten
zweier chinesischer Kaufleute, das wäre etwas anderes, das müßte gelernt
werden. Aber europäischen Gentleman spielen -- welchen Könnens bedürfte
es da.«

Er lächelte Wen-Kiün zu in heiterer Erinnerung. Dieser Zimmerkellner war
der Chinesin Privatfeind. Einmal standen um den ganzen »Astoria«-Block
jene eigentümlichen Schnatterlaute, wie sie Chinesen in höchster
Aufregung eigen:

»Du verkehrt gezeugtes Schildkrötenei, die Hund is eine Gentleman, nur
noch nicht fertig. -- Du fertig und nie Gentleman.«

Der Zimmerkellner hatte auf zwei Hunde, die sich im Sonnenschein zu
paaren versuchten, wie das hier so Brauch, unter Zoten und Gelächter
losgeschlagen.

Von ihrem Master scharf zurechtgewiesen wegen solch unziemlichen
Fluches, hatte sie mit der Unbeirrbarkeit eines Kindes, das noch keine
Kompromisse anerkennt, gesagt, demütig, und doch wieder mütterlich ihm
überlegen an uralter Würde:

»Wir tüchtig im Unten Sein ... diese aber nirgends tüchtig.«

                   *       *       *       *       *

Die Gondel der Principessa Dango floß auf den _ponte della paglia_ zu.

Silberbrokat schleifte breit im Kanalschlamm hinterdrein. Faulende
Tomaten, ein paar Kohlblätter, zogen auf seinen harten Metallfäden mit.
Zwei hypnotisierte Barsois, mit Silberpuder bestreut, flankierten
steilen Profils die Principessa, schnitten, ihren unbegreiflichen Hut
zwischen sich, wahnsinnige Dreifalt ins Blaue.

Jetzt stieg sie langsam zwischen ihren lebendigen Wappentieren hindurch,
gegen den Dogenpalast an. Hinter dem Eckpfeiler mit dem betrunkenen Noah
lauerte es ihr entgegen, duckte sich, stürzte vor: Strondoli. Eine ewige
Sekunde wies der klotzige Browningfinger krachend auf die
Niederstürzende.

»Abdrehen!« schrie Archie Payne dem Mann am Apparat zu, und, Fäuste in
Hosentaschen, zur Principessa:

»_Oh! drat it_ ... was fällt denn Ihnen ein!« Keine Spur Snob-Devotion
lag mehr in seiner Stimme.

Mitten im Todeskampf hatte sie plötzlich das Lorgnon erhoben, ließ ihr
Sterben liegen, ging an Regisseur und Filmstab vorbei in eine Gruppe
Zuschauer hinein:

»_Beautiful boy._«

Und sie hielt Horus Elcho den Mund des Handschuhs zum Kusse hin.

»_Impossible._«

Schon führte Strondoli sie höflich-fest zurück. Aus Archies Stimme aber
pfiff nackt die Impresariopeitsche; die »_princesse macabre_« wurde
Schulden halber von ihm verfilmt: ihr Palazzo -- ihr grandioser
Totenkopf mit Toque -- ihre Windhunde -- ihr Foxtrott, alles war diesem
Raubepheben von Übersee hörig geworden, der in Schmieröl und Champagner
spekulierte, einen Rennstall, eine Bar in Verbindung mit einem
Kunstsalon betrieb, ein Filmunternehmen gegründet und nun unter der Hand
ihre Wechsel aufgekauft hatte.

Also schnell den Todeskampf noch einmal; die anschließende Szene, bei
der Lord Byron in Schwimmhosen aus zehn Meter Höhe per Kopf in den Kanal
zu springen hatte, drängte sehr, denn schon zog Ebbe die Wasser von der
Stadt zurück, wie wenn Speichel sich zurückzieht von einem entfleischten
gelben Gebiß, die geschwärzten Ringe der falschen Kronen auf
verfaulenden Wurzeln bloßlegt. Der schöne Archangelo, im Bademantel als
Lord Byron, erklärte, den Sprung heute kaum noch riskieren zu
können. Indessen umfeilschten er und Genia Waanebeeker bei dem
Antiquitätenhändler an der Ecke des San Sovino einen römischen
Sarkophag, den wollte er als Toilettetisch zum Rasieren und für seine
englischen Reiseflacons im neuen Heim verwenden. Halb St. M. wirkte hier
»im siebenfachen Mord an der Seufzerbrücke« mit. Seine Darsteller -- es
war Archies Clou für »drüben« -- sollten Mitglieder der
»Gesellschaft« sein. Taten auch jetzt untereinander sportlich-heiter,
amateurisch-unbeschwert, nach der eiskalten Wut, mit der jeder um den
Vertrag gerungen, Vorschüsse heraus, Vorteile hineingekniffen und seine
Fußangeln heimlich durchgenagt hatte.

Archie bereute. Diese Amateurverdiener, von kaufmännischen Usancen
völlig unbeschwert, hielten im Geschäftsverkehr einfach alles für
erlaubt, waren stumpf für Grade innerhalb merkantiler Unanständigkeit
und von uferloser Beutelust.

Zuweilen gab es ja Spaß, wenn etwa Gwen Raeburn ihm mit ihren hübschen
Beinen beinah die Schlafzimmertür einrannte, zu allem bereit, damit er
sie nur ja nicht mit Hazel gleich einkleide zu einem venezianischen
Pagenpaar.

Die Erschießung der Principessa Dango aber hätte sich auch besser in St.
Peter gemacht, während der Papst die Ostermesse zelebrierte. Wie bei dem
Schuß die Kardinäle gehüpft wären; _first rate_, so eine echte Panik.
Wenn man Glück hatte, gab's wirkliche Tote. Ein Fehler, daß er sich
nicht direkt mit dem heiligen Vater ins Einvernehmen gesetzt. Lord Byron
in Schwimmhosen konnte ebensogut von der Engelsbrücke springen.

Hätte ihm nur dieser goldäugige Sklavenhändler seine Reisefrau für die
Film-G. m. b. H. verkauft. Er hatte Gargi einmal in den »fließenden
Wassern von Bengalen« überrascht, wie sie mit ihren Armen spielte, die
-- zwei Schlangen -- aus ihr erwacht, fortglitten, Milch aus Schalen
tranken, dann aufgereckt, rosige Opale auf den schmalen Köpfen, ihren
bösen Schwebetanz begannen um eine zitternde junge Antilope, die ein
zarter Frauenschenkel war. Mit eins hatten all diese Zauberwesen sich
dann aufgerollt und dahin wie Wolke am Boden, die langsam steigt, sich
loslöst aufwärts in eine andre Dimension. Was Opale in Schlangenköpfen
gewesen, stand nun hoch, zwischen Schleiernebeln, zeitlos: ein Sternbild
über einer weiblichen Säule, gleich Rauch.

Tausend Prozent.

Auf was wartete dieser asiatische Wucherer denn noch? Dort schritt er
über die Piazetta -- schien immer über alles hier wegzuschreiten und
trat es doch nicht nieder dabei. Diese Höflichkeit gegen seine
Sklavenprinzessin! Kein Zweifel, entweder sie hatte das Geld oder wußte
eine ganz üble Schweinerei von ihm. Jetzt nahmen sie einander gar bei
den Fingerspitzen wie Kinder im Märchen. Perverse Sache.

                   *       *       *       *       *

Ja, sie gingen Hand in Hand, wie einst zur Schillerfalterjagd, auf
hohen, schlanken Beinen in die Goldhöhlen von San Marco hinein. Gargi um
Weniges voraus. Hier in der Insel von Byzanz, schwimmend auf gestohlenen
Säulen des Ostens, blühten wieder die unerhörten Farben ihres
Sonnenblutes auf, glänzend wie Blätter; über Silber ein grünlicher Samt.
Als Ampel, auf magischer Spur, leitete sie den Mann an hingekreuzigten
Tieren, toten Engeln und Goldadern entlang, in lieblichem Triumph einem
noch Dunklen zu -- vor Freude ernst. In der Apsis, hinter der
malachitnen Schlachtbank für das Meßopfer, hob sie den schweren
Ledervorhang -- ließ ihn schauen:

In den Raum der _pala d'oro_.

Durch seine enge Nacht hing leuchtend die morgenländische Altarplatte
aus Gold und aus Lazur. Gebuckelte Juwelenbeeren trieben blasig aus ihr
und um die erzenen Engel ihres Grundes. Auf diese Engel fiel von oben
Honigschein einer Kerze hoch aus der Hand eines neuen Wesens. Einer
Frau?

Es stand wie wehender Springbrunnen -- wie Lebenskraft fabelhaft
aufgeschossen zu einem einzigen verwegenen Strahl. In eine Natürlichkeit
kühneren Ranges hinauffließend -- schwerelos.

Der Elf von einem großen Stern.

Die blanke Nadel am Faden einer feinen Spur.

An dem Zittern der Wasser seines Lebens hatte er sie schon hinter dem
Ledervorhang erkannt, jetzt von rückwärts an den Sprunggelenken. Kühn
und scheu hielt sie die Kerze einem dunkelhäutigen, eher kleinen Mann --
wie beglückt, ihm so Schönes weisen zu können, und glich an Haltung ganz
jenen Cherubim aus Niello und Opal, die ihr wie fernes Geschwister
entgegen zu wandeln schienen aus dem goldmilden Grund. Des
dunkelhäutigen Mannes Blicke schwollen wie Beeren. Aufsaugend gingen sie
von jenen zu ihr, füllten sich mit dem Gewonnenen. Dann glitzernd,
schmeichelnd, leise:

»Mein _pala d'oro_-Wesen.«

Dann noch leiser, wie eine Inkantation, ein feuriges Gewebe, jedes Wort
kennerisch setzend und genießend:

»Mein nobles, langes, schlankes, schlangenanmutiges _pala d'oro_-Wesen.«

Horus ließ den Ledervorhang fallen. Schied sich diskret von dem
Stromkreis drinnen.

»Falsch,« fühlte er.

»Nicht _pala d'oro_-Wesen. Denn noch niemals konnte sie da sein. Ihr
Kanon erfließt aus einer kühneren Ordnung der Materie, aus eignem
eigensinnigem Gesetz. Erst seit der Planetengeist durch Schwebebrücken,
durch zart ragenden Stahl zu uns spricht, ist sie als Körper auch nur
möglich, die Weißeste der Weißen, die schlichthin Neue: St. Elmsfeuer
aus den Spitzen alles Bisherigen. Fern ragt sie auch über die Schönheit
weg, die noch nicht bis zu ihr gelangt, sie noch nicht einzuholen
vermocht.«

Und er blies wie reifen Löwenzahn das Wesen der Pallas und Nausikaa von
seiner Seele. Ganz Geburtstagskind wieder. Und tat -- als ein Wissender
-- jedes Wollen und jede Willkür von sich ab. Er würde sie nicht suchen;
hatte zuviel Ehrfurcht vor dem großen Finden. Das sollte vom Rang jener
Dinge sein, die hoch über Einsicht und Bestimmung des Einzelnen hinaus,
einem geheimnisvollen Kräftespiel überantwortet zu bleiben haben, oder
sie sind nichts. Nur den Vorhang berührte er noch einmal mit jeder Pore
seines Körpers und war irgendwie getrost. Hatte ja die Fee Peribanu zur
Lieblingsfrau, und eine Fee ist lauter Gabe und deshalb so überaus
mächtig, weil frei von Furcht, daß man ihr etwas raube; wer aber könnte
das, da sie ja selbst lauter Gabe ist?

                   *       *       *       *       *

Als Mittagssonnenstaub in den schmierigen kleinen Waggon auf der Strecke
nach Padua hereinbrannte, kam von nebenan eine Stimme. Die Stimme. Erst
wortlos leuchtend. Jünglinghafter Vogelton über einem dunkelerregten
Grunde. Auf eine Frage hin zitterte sie zu Klarheit, setzte Worte wie
Kristalle an; ward ein kleiner Bericht -- Alltagsvorgänge nach einer
Trennung -- vielleicht in einer deutschen Stadt -- Besuch eines »Zoo«.
Die Stimme griff Tiere heraus, ründete Bilder mit jener neuen
Kinderkraft am andern Ende des Wissens, wie sie Diana Elcho eigen
gewesen. Er horchte all seine Adern entlang. Ganz verspielte Worte kamen
getanzt auf seinem Blut, einten sich, flossen honigfarben dahin: ...
»und es war sommerlich warm zur Stunde der Löwenfütterung -- ganz sonnig
-- die lieben Großen draußen in ihrem dreigeteilten Raum. Die schöne,
starke Löwin schmachtete hinüber zu dem jungen afrikanischen Löwen mit
der etwas pauvren Hinterhand; aufrecht stand sie am Gitter, kratzte
kläglich und ununterbrochen. Da kam er ganz nah, legte und preßte sich
gegen die Drahtmaschen, so daß sie ihn wenigstens streicheln und ein
bißchen durchlecken konnte -- auch seine intimeren Teile -- und hub ein
gigantisches Geschnurre an, daß der Boden zitterte; prachtvolle
Sehnsuchtslaute dazwischen, daß einem das Herz schlug! Wenn man sich
dagegen so eine christliche Ehe vorstellt!

Das Publikum starrte verständnislos die seinem Instinkt so fremden
Vorgänge an. Von Mitgift war auch nichts zu sehen, so schwoll der
allgemeine Unwille: >Die grauslichen Bestien -- die Falschen!<

Und auch die rotznasige Brut echote schon zwischen Trenzen und
Nägelkauen zur Wonne der Alten:

>Die grauslichen Bestien -- die Falschen<.

Da ging ich.

Von rückwärts ins Raubtierhaus, wo auch Affen, Schildkröten und weiße
Mäuse sind. Mit mir trat der Wärter ein. Kaum witterten ihn die drei
Herrlichen draußen, kamen sie hereingestürzt. Der mittlere Löwe steht
still im Tor, zwischen seinen Beinen den untergehenden Sonnenball, und
die Mähne von rückwärts durchleuchtet, daß sie förmlich knistert vor
Gold.

Da hab' ich ihm alles abgebeten, auch das mit dem >Giletteapparat< zum
Geburtstag. Jetzt weiß ich ja erst, was eine Mähne sein kann und wie sie
gesehen gehört.

Ruhig hielt der Wärter seinen ganzen Arm in den Käfig. Da legte sich der
Herr der Mähne genau so auf den Rücken, streckte die Beine zum Himmel
und den Bauch unter die liebkosende Hand, wie unser kleines
rosenpfotiges Kätzchen seinerzeit in Chamonix -- gepriesen sei sein
Andenken.

Und dann zwängte der Wärter seine Wange durchs Gitter und der Herr der
Mähne leckte sie inbrünstig und schmiegte seine Wange daran ... und so
blieben die zwei.«

»Und so blieben die zwei.« Eine tiefsaugende Männerstimme fing die
Worte, trank sie nachschmeckend, schwoll warm am Gewonnenen -- schwieg
dann. Durch die Stille ging jene Umschichtung der Luft, als würden
nebenan lautlos Plätze getauscht, Lebendiges anders verteilt. Nun lag
einen Augenblick die dunkelhäutige Wange der Ganz-Weißen an. Wie mit
Seidenfäden eine gespannte Marionette, hing Horus am Drüben: wußte alles
durch den gebogenen Plüsch der Lehne -- durch Wand -- und wieder Lehne
strahlengrad hindurch.

In Padua riß der Schaffner einen Augenblick die Nebentür auf. Nun sah er
als Bild, was jedes Glied ihm einzeln längst ins Aug gesagt:
reiherschmal, ganz in silbergrau, saß sie langhin eingeritzt in ihre
Ecke, daß Raum blieb für die quergestreckte, schlummernde Gestalt, deren
Kopf in ihrem unfaßbar schmalen Schoß -- schmaler wie er -- gebettet
war. Ganz große, fremde Dame, trotz scheinbarer Formlosigkeit einer
Situation, der Hitze und Einsamkeit auch so das Befremdliche entzog,
doch mehr noch die geschlossen scheue Ferne, mit der die Mondstrahlen
ihrer Schenkel, die langen Hände in den grauen Schweden an diesem
Männerkopf vorüberflossen, als wäre er Statue und Stein. Nur ihre Züge
aus Eis und Honig waren unbehütet geblieben. Die einsamen Augen legten
sich über ihn, weideten götterfrei auf dem dunkelhäutigen
Greifengesicht, das sie betreuen durfte, voll rührend befiederter
Erwartung eines namenlosen Glücks.

Geisterhaft unhaltbarer Duft nie wiederkehrender Einzigkeit war um
diesen seligen Augenblick. Hellrunder Tropfen Gottes hing er aus allem
grauenhaft Verfließenden herausgeschöpft und leuchtend da. Durch ihn:
das Keusch-Einmalige seines wolkenlosen Glanzes hatte er: der Fremde,
mehr Teil an dieser Fremden als durch die Liebe des zwillingsbrüderlich
Geliebten eines ganzen Lebens.

Der großgewellte Greifenkopf in ihrem Schoß aber floß draußen in Schlaf
an dem ewigen Augenblick vorbei -- in sich versteint -- war nicht mit in
dem, was an ihm entstanden war.

Horus blieb auf dem porösen Bimsstein-Perron der kleinen Stadt zurück.
Abends würde sein Weg wieder die Schleife nach Süden ziehen. Nordwärts
an ihm vorbei fuhr der Wagen mit dem Elf von einem großen Stern.

In bitterem Bedauern ging die Fee Peribanu in Padua an den Giottos
vorbei. Nur sie hatte gesehen, daß zwischen den langen, spiegelnden
Lenden von edelster Enge ein Kind wuchs.

                   *       *       *       *       *

In Rom sagte der verblüffte Dr. Hafis, getroffen in seinem
Europäerdünkel:

»Man muß sich eben historisch einstellen auf Werke der Kunst.«

»Einstellen,« das hieß: sich immer ein bißchen wilder, oder schäbiger,
oder ungerechter, oder einfältiger gebärden müssen, als man wirklich
war.

Hieß: auf einer Seite ganz klein geduckt, sich auf der andern
gleichzeitig einen Buckel tolerieren.

Hieß: irgendwie Barbarei -- geleckten Kitsch -- prahlendes Ohngefähr,
wohlwollend übersehen zum Genuß.

Hieß: irgendwo besseres Wissen -- klarere Einsicht -- größeres Empfinden
trüben; nicht Distanz, eine Froschperspektive gewinnen, um schätzen zu
können, denn es gab hier nur partiellen Rausch.

Er fühlte: es ziemt mir nicht oder besser: es ziemt meiner grenzenlosen
Ehrfurcht vor der Kunst nicht, daß ich mich limitieren müsse -- in sie
kriechen -- statt mich zu recken in ihr Maß. Daß sie Stil werde durch
das, was fehlt: durch irgend Irrsinn, Unreife, Fetischismus oder Leere.
Nicht durch ungeheuren Runddruck der Vollendung, ihr nur eigner zarter
oder machtvoller Verdichtung der Welt. Stil: lediglich Überlappen nach
der einen oder Schrumpfen nach der andern Seite, und hätte doch
Erschütterung des Betrachtenden aus seinem Maß heraus zu sein, auf daß
er alle Kräfte überspannen müsse nach dem Unsäglichen hin, es ausblühend
rings zu umfassen.

»Man muß immerhin bedenken ...« Dr. Hafis machte die fade »_tout
comprendre_«-Geste des vor Wisserei Verblindeten.

»Ich >bedenke< ja gerade, was Sie, Herr Doktor, mir in diesen Wochen an
europäischer Kunstgeschichte zu lesen gaben, und darum sehe ich erst
recht das Menschenfresserische dieser Renaissance->Pracht< ein: ihre
optische Unreinlichkeit bei aller Reißbrettkälte, die billige Art, wie
Übergänge, Fugen, Ecken als Probleme einfach ignoriert werden: diese
ganze Kulissenreißerei an Sonnenuntergänge gelehnt; sehe ihre Palazzi
ein, als das, was sie sind: Parvenuebuden für soldateske Raubbankiers _à
la Medici_ -- optisch zu unerzogen, um sich ihre Künstler zu ziehen --
ohne Sinn für Heimkultur, und sich in ihren Wohnstätten eben begnügend
mit Menschenfresserprunk, weil sie ja nebenbei an einem Vormittag immer
noch drei Kardinäle zu vergiften hatten und einen Kaiser zu betrügen.«

»Durch Versailles, die Möbellager aller Louis im Louvre ging ich jüngst
noch fassungslos. Jetzt sehe ich auch den französischen Barock ein: Stil
der auf >Mätresse< erzogenen Hausmeisterstöchter. Die Herrenkaste, durch
Irrenbräuche, Raufhändel und Seuchen zu müd, um noch auf Wertungen zu
halten: Noblesse -- Gemeinheit, alles gleich. Ließ ihr Seigneurales
überklatschen vom Luxusbegriff der proletarischen Bettweibchen aus den
Kloaken, für die viel Überflüssiges haben -- >vornehm< sein bedeutet.

Das sehe ich alles ein. Was ich aber nicht einsehe, ist, daß
Privatdozenten daherkommen, Kunstkenner, Snobs und als >höfisch feine
Blüte< bestaunen, was Paradigma dafür, wie sich eine europäische
Straßendirne den Reichtum vorstellt. Eine europäische, wohlgemerkt, weil
-- und darunter leiden wir Asiaten hier am meisten -- der Akzent
_gepflegter_ Armut fehlt: Armut als selbständige, formenschöpferische
Qualität; so bleibt auch Reichtum in Europa immer nur eine glücklose
Blase über Seelenschmutz.«

Und da geschah es, daß Gargi auf einmal ein ganz klein wenig zu lächeln
begann und Horus überaus rot ward. Er hatte zum ersten Mal seit Jahren
wieder »wir Asiaten« gesagt, nicht mehr: »wir Europäer«.

Er lenkte ein:

»Meinen Sie bitte nicht, ich sei blind gegen die verzeichnete Anmut etwa
der >_dame à la Licorne_<, für den falschen Galoppsprung des Rappen auf
Carpaccios Drachenkampf, auch sehe ich, wie etwas, sie nennen es Gotik,
aus verworrenen Wurzeln seinen gigantischen Clownismus gegen den Geist
des Steins durchtrotzt, denn warum sollte einer verworrenen Seele nicht
auch gestattet sein, sich verworren auszudrücken? Sie hat ein Recht auf
die Fehler ihrer Echtheit. Was aber der Renaissance abgeht, ist diese
Inbrunst im Danebenhauen. Sie macht es mit dünnem Zirkel in Architektur,
in Plastik mit kaltem Muskel -- und in Malerei: nun, ich fürchte, in
wenig Wochen schon so gut zu sehen, daß ich einen echten Raffael nicht
mehr von seinem Öldruck werde unterscheiden können.

Wo eben in Europa die Verworrenheit endet, fängt schon der Gähnkrampf
an. Kann sich die Seele hier denn immer nur als Wahn betätigen? Pausiert
aber der Wahn, bleibt eine gewaltsame, unsolide und leere Freiheit
irgendwo am Grund der Lenden, wo bisher gehetztes Irrsein schwoll.

Nie noch sah ich hier den Finger des Geschlechts frei auf die Seele
weisen. Nie: Ethik von unten. Aus den Zellen der Generation geboren,
somit Basis der ganzen lebendigen Pyramide. Immer Glassturz aus der Höhe
über einer ewig rebellierenden Masse aus Blut und Gestank oder --
Hoffart, Leere und Langeweile.

Als hätten stets nur begabte Krüppel -- irgendwie zu lang Eingesperrte
und doch wieder zu früh Freigelassene -- alles Wichtige Europas, so auch
die Kunst in Händen gehabt.«

Gargi meinte:

»Doch auch bei uns, auch im Osten sind Tempel, Statuen, Bilder
barbarisch, unwert unsres Lebens.«

»Eures Lebens, ja -- glücklicherweise. Denn ihr braucht nicht Kunst zu
eurer Rechtfertigung. Braucht nichts aus euch hinauszustellen als
steinerne, hölzerne, ölige Sehnsuchtsprojektion. Übersteigert euch
selbst zum Kunstwerk, in euren ganz beseelten Körpern. Wenn ihr einander
einen Mango reicht, ist darin alles, was hier als Trümmer durch alle
Galerien liegt. In eurem Ruhen, Schreiten, Grüßen, Danken erzeugt sich
Unerschöpfliches: lebt sich Erlösung aus, denn in ihm ward das Geheimnis
des Zugleichbestehens von Freiheit und Notwendigkeit lebendig offenbar.
Indiens Kunst ist für seine untersten Schichten da, die Höchsten
bedürfen ihrer nicht mehr.«

Er sah Gargi wieder vor sich im Museum am Kapitol. Wie sie, belustigt
über gellend falsche Ergänzungen an Bildwerken, das leuchtend Wahre aus
ihrem Leib herausgeschöpft; den marmornen Moment der Statuen aufgerollt
hatte vor und zurück in ein Band Bewegtheit.

Und Krumbichler, der große Krumbichler vom archäologischen Institut, war
ihr sodann vorausgehumpelt zum kapitolinischen Wagenlenker. Hängend in
seinen Beinen, wie in unsichtbaren Krücken, wies die Autorität auf den
kühnen steinernen Spielfuß der Figur.

»Ei, meine Dame, wie käme aber diese Haltung zustande? Haben die
Kollegen und ich sie doch fürwahr, als dem Experiment nicht stichhaltig,
des öfteren erprobt. Überzeugen Sie sich selbst,« er schob eine Samtbank
dem Lenker parallel, »nun besteige ich den Streitwagen.«

Aus seinem Oberkörper, der bis in die Beine lief, hob er ein Restchen
Hose und schlich damit hinauf, der andre Zugstiefel strich indes die
Schleimspur einer Schnecke hinten nach durch die Luft.

»Sie sehen« -- Krumbichler äugte über die Brille an seinen Hosenknollen
abwärts, unsichtbare Zügel in Baumwollfäustlingen. Da aber beschlich ihn
Schwindel auf seinem Bänkchen und er kroch auf den Rockschößen eilig
erdwärts.

Es hatte wirklich keinen Moment mit dem Epheben oben übereingestimmt,
und man bestätigte es ihm gerne.

»Steigt man so auf,« er wies kopfschüttelnd auf diesen eigenholden
Spielfuß. »Steigt -- vielleicht nicht.« Gargi sammelte sich am Ende des
Saales. Ein Nebel von Gliedern schoß daher, wehte an Krumbichlers Nase
vorbei, landete hoch im Aufsprung, nachgegossen dem Marmor neben ihr.

Wie wollte so einer die Welt spüren: Zu Kunstwerk verdichtetes Stück
Welt, der nicht erst gelernt, seinen eignen Körper spüren. Daß er sich
überhaupt unter diesen Antiken ertrug! Erster Befähigungsnachweis hätte
doch -- der Selbstmord zu sein gehabt! Und das verwaltete hier oben in
baumwollenen Fäustlingen die Kunst ...

Unten die gutgegliederten Epheben, die Cavadinis, die Strondolis aber
sprangen lieber mit einem »_evoe_« und beiden Beinen in die
aufspritzende Senkgrube der Politik: Goldgrube der Advokaten. Ja, es war
ein Geschlecht von Advokaten, Politikern, Kommis und Chauffeuren, das da
den ganzen Tag aufgeregt lungerte in Kaffeehäusern, zwischen seinen
historischen Reißbrettkulissen, überspien mit dem Eintagspapier der
großen Rotationsverblödungspressen, aus dem alle bis in die Nacht hinein
mit eingespeichelten Brocken, vorgekauten Phrasen von Gier, Gräuel,
Lüge, Demagogie um sich warfen. Andre zogen wieder mit aufgeregten
Händen eine Schleimspur von Privat-Skandal von Tisch zu Tisch durch die
Saat gierig gesenkter Papierfetzen: wie Tintenfische, die einen dunklen
Schlamm um sich verbreiten, mit dem sie alles in der Runde bekleckern,
um dann selber darin spurlos zu verschwinden.

Fremde kamen und gingen. Die Männer bestellten jedes Getränk von Bier
bis Whisky; die Frauen sagten, sowie man hinhorchte: »oh Giorgione« oder
»oh Pinturicchio!«

Dann zog Archie Payne jedesmal den Hexenmund lang und die Knie bis zum
Kinn, blinzelte seinem Kunstkuli Dr. Hafis zu:

»In sechs Monaten werden sie alle nur mehr >oh Gecco Pintaccio< sagen.«

So hieß irgendein Nebenseiter dritten Ranges aus dem spanischen Barock,
in dem Archie momentan spekulierte. Bei Erweiterung seiner Newyorker Bar
in Verbindung mit dem Kunstsalon hatte seine eisig freche Unwissenheit
sich gerade mit dieser Marke -- warum wußte er selbst nicht -- stark
eingedeckt. Nun sollte von Europa aus die _hausse_ einsetzen und
beteiligte Fachkreise, Hafis an der Spitze, bereiteten sich, demnächst
den Gecco Pintaccio in seiner epochalen Bedeutung für den modernen
Expressionismus neu zu entdecken. Man schnupperte nur noch ein wenig in
der Peninsula herum, eventuell hier flottierende Werke rechtzeitig
aufzukaufen, damit der Ring geschlossen sei, ehe mit den ersten
Artikeln, Gegenartikeln, Polemiken, Hü und Hott des Metiers, die
Preistreiberei in dem aufgespeicherten Artikel einsetzen konnte.

                   *       *       *       *       *

Seit dem Erlebnis mit der grauenhaften Greisin in Lederhosen ging Horus
nur mehr zu Opern und genoß dort, geschlossenen Auges, das bisher in
Europa einzig zu Genießende: Musik. In der großen Galavorstellung hob er
nun einmal zu früh die Lider, als eben unter schmalzigen Sequenzen der
Vorhang: ein gemalter Frühling aus Blech, tangential zu den Bäuchen des
talgüberrieselten Heldenpaares niederging. Da kam ihm urplötzlich die
Einsicht, wie er hier unter Kolosseen, Kommis und Kulissen: draußen wie
drinnen, edle Zeit vertat.

Natürlich daran lag es. Er hatte sich einfach bisher in einer falschen
Schicht dahintreiben lassen, vermeinend, Hotels und Logen »ersten
Ranges« enthielten auch die korrespondierende Menschheit. Zwar was
anderwärts herumwimmelte, schien nicht eben besser -- optisch formal
noch unerfreulicher: doch wie man seine Illusionen liebt und deren
Minderung fast manisch ablehnt, so flog doch immer wieder all seine
weiße Sehnsucht, Liebe und Verehrung strahlengrade vor ihm her in ein
noch Unbekanntes, dem Schnee von Paradiesen zu. Überall, wo er noch
nicht gewesen, dahin warf er die Erwartung wie in ein Fort.

Wer solche Kleider, Möbel, Wände, Kellner, Tenöre, Kaufhäuser ertrug,
war etwas, das er einfach nicht wahr haben wollte als weiße Rasse.
Konnten es nicht vielleicht in Verfall geratene Ureinwohner sein, gleich
den Weddas auf Ceylon? Ausgebleichte, irgendwie herabgekommene Papuas,
die mit mechanistischen Abfällen der echten: wahrhaft Weißen,
instinktirr und kläglich herumhantierten wie ein Affe mit einem
Sextanten.

Die echten Europäer aber, die lichten Herrn der Welt, in lässig larger
Achtung vor den territorialen Rechten dieser Urbevölkerung, hatten sich
lächelnd unnahbare Wohnplätze geschaffen auf eine ihm, dem Fremden,
vielleicht noch nicht begreifliche Weise: am Ende gar mitten inne allem
Wust und totem Geheul?

Was war den Schöpfern der Weltgleichungen unmöglich?

Hatte er doch noch keinen Vertreter jener Gebiete getroffen, die er als
typisch »europäisch« anzusprechen gewohnt gewesen.

Ihr Wirken aber kannte er: _Wirklichkeit_ mußten sie also sein, diese
Geschöpfe wie aus Schnee und Gold in ihrem ohnegleichen Cherubtum; die
Sternenklaren, Bestirnten, Newtonhaften, die süperben Glücklichen, und
das Gefüge ihrer Glieder ebenbürtig den köstlich gleitenden Erzwesen
ihres Hirns und ihrer Hände. Irgendwo mußte es sie geben, dort
vielleicht, wohin der Elf von einem großen Stern entschwunden war.

So taumelte ihm das Herz doch wieder in seinen heißesten Lieblingstraum.
Gegen alle Vernunft. Trotz allem. Ja, gerade die singenden Bäuche, der
gemalte Frühling aus Blech, zwangen das Pendel seiner Stimmung,
zurückzufahren, daß es sich beinahe überschlug.

In diese verborgene Welt der Ganz-Weißen aber würden van Roys
weltgültiger Name, seine Empfehlungsschreiben dem Schüler, dem
bescheiden Nahenden, den Weg bereiten. Eine Persönlichkeit, frei, kühn,
bizarr, deren Primzahlengesetz, deren Knotenexperimente, die vierte
Raumdimension betreffend, ihn erst kürzlich entzückt hatten, zog ihn
dort vor allem an. Wie hatte er es nur ertragen können, diesen Besuch so
ins Unbestimmte zu verlegen für eine Zeit, wenn ihm Deutschland etwa
gerade in den Weg käme? Bei der Einheit und Höhe an Mensch und Ding, wie
sie ihm einst als Merkmal des ganzen Kontinentes vorgeschwebt, galt es
ja berauschend gleich, wem und was er zuerst begegnete.

Morgen würde er fahren. Und er fuhr. Gewiß, auch in Italien oder
Frankreich gab es Namen genug, zu denen es ihn mit dieser neuen Hoffnung
gezogen hätte, aber er schämte sich ein wenig seiner Aura. Wie, wenn das
wirklich nur kastenlose, verwilderte Ureinwohner, unter die er
ahnungslos geraten? Wäre es ihm etwa eingefallen, aus dem Körperdunst
von Rhodias kommend, einen Brahmin hoher Kaste aufzusuchen? Nicht, daß
etwa unliebenswürdiger oder gar verächtlicher Empfang gedroht hätte.
Ärgeres. Die höfliche und feierliche Gestalt mit hanfner Schnur auf
dunkelblasser Brust saß, tat, lächelte dann wie immer. Doch die Poren
der Persönlichkeit blieben zu. Man merkte das erst beim Sprechen.
Lieblichste Einfälle -- tot wie Steine plumpsten sie vom Mund einem
senkrecht vor die Füße -- und da blieben sie liegen. Zum Schluß saß man
oben auf einem Schotterhaufen eigner Weisheit mit ganz ausgeweidetem
Gehirn. Das verborgene Sonnengeflecht von Geschöpf zu Geschöpf, des
Fluidums magischer Faden, auf dem Worte als Weberschiffchen hin und her
fliegen, spann sich nicht an.

Eine Pause demnach und etwas wie reinlicher Zwischenraum.

Er nahm ein Auto, lenkte es selbst und fuhr mit Gargi und Wen-Kiün über
die Alpen. Das brachte ihn zum ersten Mal mit Europäern, außerhalb der
großen Städte, in Berührung.

Auf dem Brenner zwang eine Panne zu längerem, unfreiwilligem Aufenthalt
unter Eingeborenen. Es schien ein wilder Völkerstamm, im Besitz von vier
deutlich unterscheidbaren Lauten: »Hüüüaaahhh -- sell woll -- Sakra und
Teifffi.« Ersteres zur Verständigung mit dem Vieh. Zweites zur
Verständigung mit dem Fremdling. Drei und vier: orgiastische
Erregungszustände mit fetischistischem Einschlag andeutend.

Die ausgewachsenen Männchen trugen entwurzelte Fangzähne wilder Tiere an
Schnüren vor dem Nabel, und als Hauptschmuck grasgrüne Kegel, an denen
die ausgerissenen Rückenhaare einer kleinen Zweihuferart büschelförmig
angebracht waren. Die Lenden bedeckten gegerbte Felle der gleichen
Tierspezies. Die nackten Beine zeigten durchweg natürliche und dichte
Behaarung. Die heranwachsende Brut pflegte artfremde Geschöpfe aus dem
Hinterhalt unter aufgeregtem Geschnatter mit allerhand Unrat zu
bewerfen.

Doch richtig: noch über einen fünften Lautkomplex verfügte der Stamm.
Unmittelbar vor der Abreise sollten es die indischen Gäste erfahren.
Horus kurbelte bereits den Motor an, da schlurfte mit hängenden
Vordergliedmaßen, endend in schwarzen, zerquetschten Klauen, ein
halbwüchsiges Männchen vorbei und spie etwas aus: halb Kautabak, halb
»gelobt sei Jesus Christus« -- ging zwanzig Sekunden weiter -- duckte
sich und schmiß einen Stein. Die Bewegung, bei aller hämischen Wut, war
aber von so wasserbüffelhafter Langsamkeit -- bis eben das
Tief-tückische durch die Borke heraufbrach -- daß Horus unschwer das
spitze Stück Schotter vor seinem Ziel: Gargis Schläfe, mit erhobenem Arm
abzufangen vermochte.

Dann, als der Wagen mit dritter Geschwindigkeit den Grenzen dieser
Weideplätze zustrebte, bemerkte er, den schmerzenden Arm am Volant:

»Ob ein gewohnheitsmäßiger Zusammenhang zwischen Gruß und Steinwurf
besteht -- überhaupt noch eventuellen andern Stammeseigentümlichkeiten
nachzuspüren, bleibe unerschrockeneren Forschern bei einer künftigen
Durchquerung des dunkelsten Mitteleuropa vorbehalten.«



                              Drittes Buch


Fünf Eingänge hatte die Mietskaserne. »Aha, die unnahbaren Wohnplätze,«
er mußte lächeln. Im vierten Stock trug endlich die Tür einer Hofwohnung
den gesuchten Namen. Auf einer Visitenkarte an vier Reißnägeln in
Fraktur: Dr. Oskar Samossy, außerordentlicher Professor für Mathematik.
Eine Weibsperson öffnete. Sie war von jenem saloppen Kleidungsstück
umschlampt, das Europäerinnen für einen Kimono zu halten schienen, da
sie es also benannten. »Nein, nicht zu Hause; botanisieren sei der
Professor gegangen.«

Unter einem vermodernden Vogelnest aus Haar sahen vertrocknete
Holunderbeeren den Besucher frechverlegen an. Lockeres Fleisch der Arme
schaukelte mit, während das Weibsstück ein goldnes Kettenarmband
mechanisch die lange klebrige Hand auf und ab gleiten ließ.

Horus übergab seine Karte und Erasmussens Brief an den einstigen
Schüler, jetzt großen, ebenbürtigen Kollegen. Die Person öffnete den
»Kimono«, legte Karte nebst Kuvert horizontal vorn auf eine gelbliche,
rechteckig hinaufgepreßte Masse. Schloß die Tür. Grußlos, grob.

Innen mehrmaliges Aufstoßen des Besens, und unter dem Türspalt hervor
versuchte die grauporige Zungenspitze eines nassen Lappens etwas
Spülicht gegen den mutmaßlichen Standort des Besuchers zu spritzen.
Endlos stieg er wieder die idiotisch konstruierte Treppe hinab. An jedem
Absatz reckte ein Gasarm, von blecherner Blumenranke sadistisch unter
der Achsel gekitzelt, seinen zerfetzten Glühstrumpf durch ein
tulpenförmiges Glasgeschwür in die gefleckte Trübe des Zylinders.

Beim Eingang vertrat ein andres Weib mit einem Wasserkopf am
Schürzenband ihm jäh, aus einer Glastüre heraus, den Weg. Hinter ihr her
brach Brutwärme Kleinen-Leute Geruchs: nach eisernem Ofen, scharfen
Männersocken, süßlicher Säuglingswäsche. Im Türausschnitt erschien die
Lehne eines geschweiften, grünen Roßhaarsofas, ein Brautkranz unter
Glas, verstaubte Bierflaschen, eine Rute an rotem Band, die Mutter
Gottes und säuische Ansichtskarten fächerförmig über die Tapete
genagelt. Ein Jegliches stank für sich.

Das Weib geiferte: was er wolle, wen er suche. Sie sei die Bordiööös
Gattin. Habe auf Ordnung zu halten. Hätte gesehen, wie er am Gashahn
geschraubt. Jetzt sei der Strumpf zerrissen. Sie fordere Schadenersatz.
Der Wasserkopf am Schürzenband versuchte indes dem fremden Herrn auf die
Stiefel zu spucken, und der Geifernden grimmer Birnenbauch drohte schon
wieder neuen Wurf. Jetzt plärrte der Wasserkopf los, weil sein Speichel
im Gleitflug versagt hatte; tröstend wurde er an die keimende Hoffnung
gequetscht und Wutblicke schossen gegen den herzlosen Kinderfeind.

Der Kinderfeind blieb kalt. So verlegte sie sich aufs Winseln, begann
die Gebreste ihrer Familie herzuzählen, hielt Tor und Hand vor ihm
offen. Draußen traf den Enteilenden unerwartet ein Bild wie aus einer
Haschisch- oder Meskalwelt.

Etwas Eckiges kam die leere Vorstadtstraße herauf, eine Art
Gespensterheuschrecke im _frock-coat_. -- Das hagre Pferdeprofil von
einem ausgefressenen Ziegenbart umdreieckt, den Zylinder weit aus der
prachtvollen Stirn gestoßen, pendelte der große Körper daher. Aus seiner
Rechten schleiften etwa drei Meter Strick voll seltsamer Knoten im
Straßenschmutz nach -- »seine Knotenexperimente zum Beweis der vierten
Raumdimension« -- schoß es dem Beschauer durch den Sinn. Die Linke trug,
mit Riesenkraft über den viel zu engen Salonrock geschultert, eine junge
Tanne mit erdigem Wurzelballen. Um den Wipfel brauste ein Bienenschwarm.
Das Ganze bewegte sich unter einem Sturz undurchdringlicher
Geschlossenheit dahin. Diesen versunkenen Wandel mit der Trivialität
einer Ansprache stören, -- nein. Voll Achtung trat er zurück, vergnügt,
als wäre ihm eben ein Tarnhelm bedingungslos geschenkt worden; ließ den
Ahnungslosen an sich vorbei in die Zinskaserne biegen. Die junge Tanne
brauste durchs Tor, die Bienenpyramide gereizt ihr nach --.

»Und sticht den Wasserkopf an« -- dachte der »Kinderfeind«.
»Zuchthausstrafe auf jede weitere Lebendgeburt für eine Frau, die so
etwas aus sich herausgehudelt hat: Ein taktloses Kind schändet ja die
Welt mehr als tausend Verbrecher -- ein Dutzend davon, und die ganze
Rasse ist gerichtet.«

Andern Tags kam eine dringende Einladung, auf den weißen Rand einer
abgerissenen Zeitschrift gekritzelt.

»Gleich« stand zweimal unterstrichen und schnitt in teilweise erhaltene
Annoncen für Schmieröl und ein Berliner Bureau zur Vertiefung des
Familienlebens.

So machte er sich abermals auf den Weg quer durch die fremde Stadt.
Nicht mehr suchend, diesmal gemächlich schauend. An seinem Schritt
glitten zahllose Buch- und Kunstläden vorbei. Überall hinter Glas stand
auf Pappe: »Der schöne Mensch« -- »Schönheit des Ganges« -- »Rhythmische
Körperkultur« -- »Die Kultur des Wohnens« -- »Heimkultur« --
»Künstlerische Bekleidungskunst« -- Stil, Schönheit, Rhythmus -- wo man
hinsah aufs Papier. Dann wieder zahlreiche Glasscheiben, blechgolden,
schräg verkritzelt mit »Konditorei«. Dahinter alles voll käsiger
Frauengesichter unter irrsinnigen Hutgeschwüren, die von gehäuften
Tellern faden Kram in sich hineinstopften. Wie hieß doch all das Zeug?
Richtig: »Schillerlocken, gefüllter Bienenstich.«

»Einst Stier -- Schwan -- Goldregen. -- Hier müßte sich der Gott wohl zu
Schlagsahne wandeln, um einen begehrten Schoß erzittern zu machen,« sann
der Fremde belustigt.

Dann stieg er wieder am Windeldrachen vom grünen Kanapee vorbei die
idiotisch konstruierte Treppe hinauf. Fand diesmal die Tür nur
angelehnt. Schellte vergeblich, trat durch eine Küche, die nach Abort
stank, in den speckigen Arbeitsraum; nein, zwei Räume -- drei. Durch
alle drei lief ein schier endloser Papierstreifen. Stellenweise war er
mit Nadeln, Haarnadeln, Streichhölzchen und Zahnstochern immer wieder
angestückelt worden. Buchstaben, Zahlen, Zeichen bedeckten ihn: ein
Zaubernetz, über und über. Fern im dritten Zimmer lag Samossy in seinem
Salonrock flach auf dem Bauch, schrieb weiter an dieser einzigen,
ungeheuren Gleichung.

Entzückt und gerührt, mit einem heißen Gefühl von Heimat vor diesem
schmierigen, geflickten Band stand der Herr des Hauses Elcho zwischen
Abort- und Küchengeruch. Bog ein Knie, und mit aller Anspannung sich
sammelnd auf das Faszinierende zu seinen Füßen -- spontan hineingerissen
in seine Magie -- lag nun auch er, Raum und Zeit verloren, auf dem
Fußboden; einem geisterhaften Schema, nach dem die Welt geschah, über
Haarnadeln, Zahnstochern, Zündhölzchen hinweg zu folgen. Da nur
Resultate zu durchlaufen waren, fand er sich, ob nach Stunden oder
Minuten, blieb so ungewiß wie belanglos, neben Samossy. Nun verweilten
beide, parallel eingestellten Geistes, hingegeben an ein klareres Sein,
bis in der Dämmerung jeder Überblick erlosch.

Dann begrüßten sie einander. Samossy raste zum gedeckten Teetisch, sich
am Tischtuch enthusiastisch den Staub von den Fingern zu wischen.
Zerknüllte dabei, eh man's versah, mit affenartiger Behendigkeit alle
vier Ecken wie Papier. Sein Gebaren hatte etwas Gaulhaftes: ein
durchgegangener Klepper, wie er von hohem Schiefgalopp herab blindes
Feuer und erschrecklich weißen Wahn aus blutigen Augenbällen kegelt.

Des Gastes Aufmerksamkeit hatte er nach den ersten Bemerkungen gewonnen,
denn untrügliches Merkmal überlegener Menschen: sorgliche Wahl, flüssige
Placierung auch des scheinbar untergeordneten Wortes, war sein -- wenn
er wollte. Jetzt wollte er. Des Gastes Herz aber ging aus zu ihm, nach
der ruhigen Verbeugung seiner Stimme vor van Roys Werk und Wesen.
Dieses: seiner ersten Jünglingsjahre Erlebnis -- Begleiter seines ganzen
Mannesalters: Jenes.

Nach einer angenehmen Weile wandte sich das Gespräch, und der Gast
bemerkte beiläufig:

»Es scheint ein recht glückliches Land, dieses Deutschland. Nach
Annoncen, Inseraten, Plakaten ist ja hier alles zu haben gegen
Einsendung von fünfundsiebzig Pfennigen in Briefmarken an eine G. M. B.
H. oder sonst einen, mir unverständlichen Lautklumpen. Da bekommt man
>postwendend< die >Welträtsel< gelöst in Monismus, Schutzmarke: ein
Griff, ein Bett; den >Wälsungenring<, >völlig geruchlos<, oder
verwechsle ich das mit: >keine Schweißfüße mehr<. Auf Mystik scheinen
Rabattmarken zu gelten. Ihrer zehn -- >beigebogen in der Falte< -- was
immer das heißen mag, ergeben gratis: >das Bauchschnellen oder
Sonnengeflecht und Schicksal< von der Lichthortvertriebsgesellschaft.«
-- --

Hier drang vom Flur schmetternd das Siegfriedmotiv.

Samossy sprang auf. »Treudeutscher Männerpfiff, Sie entschuldigen,« und
seinem Gast wie einem Verschworenen zuzwinkernd, galoppierte er die
Gleichung entlang, bis zu deren Ursprung im ersten Zimmer. Dort blieb er
türmend über ihr, spreizbeinig wie der Koloß von Rhodos. Keinen Moment
zu früh. Man hörte es durch die Materie trampeln, und zwei Körper
prallten von Samossy ab; die Gleichung aber blieb heil.

»Höppla,« sagte der Eine.

»Da brat mir eener n'en Storch,« der andre.

Der mit dem Storch hatte viel Gesicht, aber nichts der Rede Wertes drin.
Nur ein Zwicker saß irgendwo hineingekniffen in den Speck. Der hingegen
»höppla« gerufen, der wallte: vom Haar bis zu den Hosen, über
Schillerkragen und lockichtem Bart zu beiden Seiten der slawischen
Knöpfchennase hinab. Ganz Bizeps und Sonnigkeit, entbot er den Gruß mit
Schlagring: »Professor Dallmeyer.« --

»Sogar Ordentlicher -- für Biologie,« ergänzte Samossy aus
infernalischen Nüstern.

Der mit dem Storch riß jetzt auf absonderliche Weise seinen Speck vor
dem Fremden zusammen, begann dabei mit dem Fuß am Boden zu scharren,
ähnlich den ältesten jener Huftiere, die sich notdürftig eben erst aus
der Mischgruppe oberhalb der Beuteltiere gelöst hatten:

»Hans Horst Krause.« Das Scharren klappte zu.

Beide barsten vor Fachklatsch. Es spritzte förmlich aus ihnen.

»Ob Samossy schon das Neueste in der >Affaire< des Kustos Pappla vom
Museum wisse?«

»Lassen Sie mich -- lassen Sie mich,« schrie Dallmeyer, als der feiste
Student ihm zuvorkommen wollte.

»Ein beispielloser Skandal. Bei--spiel--los.« Er rang jubelnd die Hände.

»Die reine Meteoritenbörse hat er eingerichtet. Das war ein Getäuschel
und Getue, angeblich fürs Museum Meteoriten gekauft, Preise in die Höhe
getrieben, dann wieder nach London verkauft; keine Sau hat sich mehr
ausgekannt. Aber direkt nachzuweisen ist ihm wieder nichts -- und wenn
auch -- ich bitte Sie, Schwiegersohn vom alten Mehmke: Präsident der
Akademie.«

Samossy wieherte bei dem Namen auf, als stäke ihm eine brennende Lunte
unter dem Schweif.

»Mehmke rast übrigens gegen Sie, seit der Geschichte in der
geographischen Gesellschaft neulich.«

»Also ist es wahr?« Krause verlor vor Interesse den Zwicker und blieb
völlig als Uhr ohne Zeiger übrig. »Onkel hat heuer als Rektor so viel zu
tun, konnte leider nicht dabei sein; ich weiß also noch gar nichts
Authentisches.«

Dallmeyer begönnerte:

»Natürlich ist es wahr. Nach zwei Stunden welken Blödsinns hat der Alte
endlich ausgekohlt, da spricht unser Professor hier dem berühmten
Ehrengast für die >lichtvollen Ausführungen< den Dank aus und schließt
wörtlich:

>Es ist mir zwar schon früher nicht unbekannt gewesen, daß Wasser bergab
fließe, ich freue mich aber aufrichtig, es nun von solcher Autorität
bestätigt zu hören.<«

Dallmeyer lachte mit schönem Tenor, wie er dem Manne wohl ansteht --
dann lauernd zu Samossy:

»Ich fürchte nur, werter Kollega, es wird Ihnen bei den nächsten
Akademiewahlen -- wieder -- schaden.«

Der bockte gereizt: »Der Alte hat rechtzeitig umzustehen, sein dritter
Schlagfluß mit doppelseitiger Lähmung ist längst fällig. -- Haben Sie
übrigens den Angriff gelesen? ...«

Das Wort Angriff schien eine magische Wirkung auszuüben. Sie steckten
die Köpfe zusammen und begannen aufgeregt zu schnattern. Angriff --
Polemik -- Angriff. Immer war eben einer erschienen oder im Begriff zu
erscheinen. Eifrig hockten sie, ganz eng, wie drei große alte Affen, die
zwischen sich immer einen ganz Kleinen lausen. Der ganz Kleine schien
die Wissenschaft. Samossy, mit allen Fakultäten gehetzt, stak
offensichtlich von Mittelpersisch bis zur Numismatik, von der
projektiven Geometrie bis zur oberen Trias in Intriguen, Tratsch und
Hetzereien. War das noch derselbe Mensch, grotesk aber groß: der wilde
Träumer mit den Knotenexperimenten, Herr der transzendenten Gleichung,
Entdecker des Primzahlengesetzes, und geiferte, trunken von Klatsch, mit
knochig boshaften Gebärden seiner Bordiööösgattin, während beide andern,
verhohlen lauernd, von jeder Injurie sich heimlich Notizen zu machen
schienen -- nicht ruhend -- bis der ganze Mann ein einziges
Gedankenfletschen war, aus dem spitze Argumente, gleich Reißzähnen, sich
in die Weiche jedes guten Namens gruben. Auf Personalien und Details
horchte Horus kaum hin, was ging ihn Privatgeifer zwischen Fachbarbaren
an; dazu hatte er nicht nach den »unnahbaren Wohnplätzen« der Ganzweißen
gestrebt.

Wie dieser Krause dasaß. Die speckig obszöne Talentlosigkeit, wenn so
ein Europäer nur einen Froschschenkel über den andern schlug.

»Fängt der auch noch an über Frauen zu reden, so geh ich,« dachte der
Beschauer. Nein, der Andre fing an.

»Wissen Sie schon, wo Margrinchen Mehmke sich jetzt kneifen läßt?«

»Vermutlich in die Waden,« grölte Samossy.

»Da hätte es doch korrekt heißen müssen: wohin --« feixte Krause
dazwischen. »Nein, bei ihm -- von ihm -- in seinem Institut; ist mit
sechs andern Jungfrauen von uns Chemikern weg, hinübergewechselt zur
Biologie.«

»Ja, seit dem Drüsenrummel weiß ich mir vor Frauenzimmern keinen Rat
mehr.« --

Dallmeyers befiederte Lockigkeit brauste auf, wie an einem zürnenden
Schwan.

»Jede will Hoden transplantieren -- egal -- den ganzen Tag. Der
Verbrauch an Ratten und männlichem Ungeziefer auf meiner Abteilung
steigt ins Ungemeßne. Und schlampig sind die Luder. Wird es ihnen zu
fad, oder winkt der Konditor, lassen sie ihre angeschnittenen
Versuchstiere herumfahren, wie eine Häkelei. Wär' nicht der
Laboratoriumsdiener, tagelang spazierten mir noch halbe Krebse durchs
Institut.« --

Er hielt mit einem Ruck; etwas so Starkes ging plötzlich von der
lebendigen Ruhe dieses schweigenden, eleganten Fremden aus: stumme
Reaktion des gesitteten Orientalen auf den ersten Einblick in die
Beziehung des Europäers zur Kreatur.

Der Ruck -- die Strahlenohrfeige hatte rundum eingeschlagen;
Klatschnebel zertropfte. Da saß ja, bisher ignoriert, ein ganz Fremder
zwischen ihnen. Das Hemmungslose gerann, ward tölpicht hölzern. Auch bei
Samossy; er hatte allzureißend Niveau verloren gehabt. Mit einem
ungeheuer schiefen Galoppsprung startete er jetzt die Konversation
falsch. Gab das Signalement seines Gastes, taktlos wie eine Behörde. Die
Andern aber atmeten auf. Nur so ein Hinterwäldler, von wo der Pfeffer
wächst. Na also -- wozu die Aufregung. Krause, ein Bein über das andere
geschlagen, begönnerte schon:

»Inder -- n'gutes, aber n'schlappes Volk. Nich forsch. Sollen erst mal
die lausigen Engländer rausschmeißen -- aber schlapp eben. Nee, so
Lotusonkels -- nich in die Lamaing.«

»Ihnen gesagt,« bestätigte der wallende Germane.

Zartfühlend sein, niemanden verletzen, war Horus wie Herzschlag -- doch
auch Anmaßung nicht zu dulden; und der Herr des Hauses Elcho sprach:

»Ich bin zwar nur der unwissende Bewohner einer wilden und abgelegenen
Gegend, aber gestatten Sie mir dennoch die Frage, warum Sie dieses
Rowdy-Dogma logischerweise nicht auch auf den Heiland Palästinas
anwenden; dem man hier so viel Tempel errichtet hat, ihm vorwerfen, daß
er kein Preisboxer war, sich nicht mit einem wohlgezielten >_undercut_<
die Kreuziger vom Halse gehalten hat.«

»Na nu, Christ sein heißt doch lediglich: kein Jude sein,« belehrte
Krause. »Es sind eben die zwei einzigen vom Staat anerkannten
Religionen. Was geht mich modernen Menschen der olle Mumpitz sonst an.«

»Schmonzes,« bekräftigte der wallende Germane.

»Warum erklären Sie sich dann nicht von jeder Religion frei?«

»Er meint konfessionslos,« jappte Dallmeyer und erschauerte bis ins
Gebein.

»Unmöglich, Verehrtester, das sind erst recht nur Juden. Auch schadet's
der Karriere. Im übrigen kann mir, als modernem Forscher, alles
transzendente Geschmuse restlos gestohlen werden. Kraft und Stoff, sonst
gibt's nichts für mich. Das einzig Sichere ist die Beobachtung der
Materie, die kümmert sich nur um reale Dinge und liefert daher
untrügliche Tatsachen. _Tat-Sachen_.« Sein Speichel ward groß in ihm.

»Was ist ein reales Ding, eine Tatsache?« frug Horus.

»Dieser Tisch.« Er nahm besagtes Stück Hausunrat gestreckten Armes, um
durch den Krach des Niederstellens dessen »Realität« sinnfällig zu
erhärten.

»Viechskerl,« dachte Horus, »so ist dir wirklich noch nicht einmal
aufgedämmert, was an Transzendentem alles nötig ist, damit ein
>Gegenstand< in der Anschauung möglich werde; das, was du, unpräziser
Analphabet: >reales Ding< nennst? Dein Tisch ist doch, wie alles
Ausgedehnte, eine dreifache Mannigfaltigkeit von Punkten, die erst in
der Anschauung restlos durchlaufen werden müssen, damit etwas über
dieses Mannigfaltige ausgesagt werden könne. Während aber z. B. eine
Tischkante durchlaufen wird, müssen die schon durchlaufenen Teile als
weiterexistierend hinzugedacht -- aus dem Fluß sinnlichen Geschehens --
herausgehoben werden. Der >Gegenstand< Tisch ist somit gar keine
>Beobachtungstatsache< -- sondern etwas zur Wahrnehmung lediglich
_Hinzugedachtes_: bedingt ein Nichtsinnliches, außerhalb der Zeit
Stehendes, an dem die Wahrnehmungen vorbeifließen, und in dem sie sich
räumlich erst ordnen. Was aber außerhalb Raum und Zeit steht, ist
notwendig als >transzendent< anzusprechen, da es niemals Objekt der
Erfahrung sein kann, ist das >Erkennende<, >nie erkannte Subjekt<. Nur
insoferne also der Tisch -- als ein Hinzugedachtes -- an diesem
Transzendenten teil hat, ist er Realität. -- Viechskerl! Die Grundfrage
nach der Möglichkeit aller Erkenntnis lautet demnach: wie ist Erfahrung
überhaupt möglich. Für mich jedoch lautet die Grundfrage:

»Mußten dazu süße Tiere zermartert werden, um dein Gesamtniveau zu
erreichen; _notabene_ hundertdreißig Jahre nach einem gewissen Kant? --
Viechskerl.«

Laut aber widersprach er nur soweit, als es die aufgeklärte Ignoranz des
Fachmannes zu ergründen galt.

Es ergab sich, daß auch Dallmeyers naturwissenschaftliche Bildung
hauptsächlich darin bestand, nichts von Philosophie zu wissen und daß er
stolz darauf war. Schon das Wort schien Schande. Er streifte es voll
mitleidigen Ekels ab wie eine halbtote Schmeißfliege.

Probleme gab es nur noch im Detail. »Geist« war eine störende
Nebenerscheinung der Materie, alles übrige »Schmonzes« und langweilte
ihn unsäglich.

»Beobachtungstatsachen -- Beobachtungstatsachen,« schrie er ein ums
andre Mal.

»Hab' ich aber das Bedürfnis nach dem endgültigen Überblick, lese ich:
Häckels >Welträtsel< oder: Machs >Analyse der Empfindungen<.
Denkökonomie ist die Hauptsache. Sich's vereinfachen.«

»Dann haben wir wohl zu wenig Gemeinsames für eine Diskussion,« meinte
Horus, um höflich zu Ende zu kommen.

»Denn ich wiederum mache gerne einen noch so halsbrecherischen Umweg,
schärft oder vertieft er mir die Einsicht nur um ein Weniges, und diese,
hoffentlich nur vorläufig letzte Einsicht besagt, daß die Welt den
Spezialfall aus zwei Scheingleichungen darstellt.«

»Nur keine Mathematik,« wehrte Dallmeyer beängstigt ab, »oder
mathematische Physik, da verliert man den Boden der Tatsachen. Der
Samossy ist auch schon halb meschugge mit seinen Knotenexperimenten.«

Und höchst ägriert über die Störung im Fachklatsch -- der Besuch hatte
doch so anregend begonnen -- entbot er wieder Gruß mit Schlagring.
Krause scharrte am Boden, knallte die Hufe zusammen, und die Türe schloß
sich hinter den beiden.

Aus Samossys weitem Roßhaupt begann es zu kichern. Es hatte das
unbegreiflich Irre des Pferdes in allen Zügen, bis zur nüsternen Nase,
wenn sie -- eine ganze Landschaft für sich -- weichgehöckert, aus Mulden
von großporigem Moos, überraschend Hauch ausstößt. Wenigstens ein ganzer
Gaul, statt dieses Dallmeyer, der -- slawische Knöpfchennase oben --
Pöbelbeine unten -- außenherum wallender Germane und innen ein Rindvieh
war.

Das knochige Kichern aber klang nicht angenehm, kam aus einem viel
engeren Wesen. Er grinste diabolisch und mit großeckiger Bewegung hinter
den beiden drein, wieder hinreißend in ihrer Art -- hub er an, genießend
zu pointieren:

»Mitnichten könnte erhofft werden, dem Halbgebildeten stünde ja annoch
frei, so sukzessive 3/4--4/5--9/10 ... schließlich ganz gebildet zu
werden. Daran aber hindert ihn die unausrottbare Arroganz eben dieser
verdächtigen Halbheit, ihr vages >weiß schon<, gierig träge Hast, nur
bedacht, in jeder Tiefe eigne Flachheit zu spiegeln, die edle Demut der
Unwissenheit verloren -- edle Demut des Wissens nie erworben hat. Da
aber so ein halbgebildeter Sensationsdeflorateur, so ein _all-round_
Kommis auch noch mühelos in alles dreinschnauzen will und die Welt von
seinesgleichen überfleußt, erstanden ihm, wie in prästabilierter
Harmonie, avancierte Oberlehrer und frohe Greise, denen man nicht gram
sein darf, denn sie sind bieder und wissen es wirklich nicht anders. Die
lieferten ihm Taschenphilosophien für Minderbemittelte, und weil er das
Fertigfabrikat stets neu liebt, lieferten sie ihm modernen
Schöpfungstratsch statt des Mosaischen. Schutzmarke: >ein Griff ein
Bett<, wie Sie vorhin sagten, denn er hat nicht eben viel Zeit für
dergleichen -- gerade ein Maul voll von allem genügt. Und weil er keine
Zeit hat, sind die Monistengreise und avancierten Oberlehrer immer
zugleich >Esperantisten<, um das >Unökonomische< auch in der lebenden
Sprache zu >bereinigen<.«

»Weg damit,« schnoddert begeistert der _all-round_ Kommis, der nur
Hauptsätze nebeneinander stellen kann und will, ohne feineres Bedürfnis
nach kausaler Überblickung durch Ko- und Subordination, denn: den
Spannbogen des Gedankens ermißt man an der Syntax. Hochcharakteristisch
nun, wie monistische Sonntagsprediger und avancierte Oberlehrer, weil
sie nicht einmal philosophisch den Begriff der Kausalität noch erfaßt,
und sich daher rühmen, ihn abgeschafft zu haben, gierig eine künstliche
Unbildungssprache propagieren, der alle Geisteswurzeln ausgerissen sind,
in der niemand je einen Gedanken weder zu fassen noch auszudrücken
vermöchte.

»Was ist ein Esperantist?«

»Einer, der sich eigens ein Idiom zusammenstellt, das keines zu sein
braucht. Einer, der freiwillig wieder weit hinter den Affen
retourmarschiert, denn dieser hat ja -- nach Garner -- schon Ansätze zu
etwas wie einer lebendigen Muttersprache: jenem mystischen Meer, in
dessen suggestiver Lösung Gedanken wachsen, wie glasklar fließende
Geschöpfe genialen Lebens. Zum Wachsenlassen aber hat der _all-round_
Kommis keine Zeit. Auch die Kofmich-Lautklumpen, deren Sie vorhin
schaudernd erwähnten, kommen davon, daß er eben nie Zeit hat.«

»Ja, um Himmels willen, warum hat er denn nie Zeit?«

»Weil er immer schnell noch einen übers Ohr hauen muß.«

»Sensationsdeflorateur -- Monist -- Esperantist -- _all-round_ Kommis:
doch letzten Endes Einer, der den Vertrieb schädlichen Schundes besorgt,
nicht? Einer, der das Leben mit falschem Schleim überziehen hilft? Doch
Dallmeyer, bei seiner stillen Gelehrtenlaufbahn, könnte wohl Zeit haben,
etwas zu lernen.«

Samossy johlte: »Stille Gelehrten-Laufbahn ist gut, wenn man mit
fünfunddreißig schon Ordinarius und kriechendes Mitglied der Akademie
sein will! In wieviel gewisse geheimrätliche Körperteile, glauben Sie,
muß man da nicht nur geschlüpft sein -- nein, in diesen Organteilen
direkt überwintert haben? >Stille Gelehrten-LaufbahnKnie beugt< nacheinander Faulheit, Wurstigkeit, Trotz, Wut,
Schlappheit und Ermattung überwindet, und aus dem Gefühl hilfloser
Ohnmacht und völliger Willenlosigkeit vor dem Vorgesetzten die Disziplin
hervorgehen läßt, so bietet bei uns der >Rest weg< dem Älteren vor dem
Jüngeren immer Gelegenheit, seine unbedingte Überlegenheit zu zeigen, zu
strafen, Abstand zu wahren, die Atmosphäre zu erhalten, die für das
ständige Erziehungswerk des Korps unbedingtes Erfordernis ist, wollen
wir nicht Klubs werden. Der >Rest weg< ist nicht immer, nicht bei jedem
angebracht, aber es muß über der Kneipe schweben ...«

War er denn irrsinnig?

Auch Samossy versah ihn mit Fachlektüre. »Vielleicht interessiert Sie
das,« -- es waren Korrekturfahnen zu Dallmeyers neuem Werk, einem
breitschultrigen Band über: Periodizität im Organischen. Dann nach einer
Woche, mit erwartungsvollen Nüstern: »Nun?«

»Der eigentlich beweisende: der mathematische Teil strotzt ja von
kindischen Fehlern.«

»Das Rindvieh,« jubelte Samossy ein ums andere Mal. »Und das Rindvieh
merkts nicht, die Fachkollegen merkens auch nicht und andre lesens
nicht. Also Niemand merkt's. Das ist der Segen der Spezialisierung.« Er
duckte sich zu einem Knäuel funkelnder Bosheit zusammen.

»Dieser Teil ist nämlich von mir, und kommt es schließlich heraus, ist
auf alle Fälle er der blamierte Europäer. Genannt hat er mich nicht als
Mitarbeiter, müßte also nachträglich eingestehen, er ließe sich seine
Bücher heimlich von Andern schreiben.«

Samossy spie Glück.

»So ein Mäuseschlächter, Drüsenkitzler, Vergifter kleiner Nagetiere.
Quirlt einen Frosch und wird Dozent. Sperrt einen Ratzen in einen
Labyrinthkäfig, schaut zu, um wieviel schneller das Vieh jedesmal
herausfindet, wird dafür Professor. Und das packt plötzlich der Raps
fürs Fundamentale; Eitelkeit ist ja doch die Hauptwelle im Betrieb, der
übrige Schwachsinn rotiert nur blind drum herum.

Na, da hab' ich ihn eben her--ein--ge--legt. Auch Freundchen Krause
werd' ich he--rein--le--gen beim Rigorosum. Weil der Alte in Remscheid
Klosettpapier verkauft, glaubt man sich reif fürs Doktorat der
organischen Chemie, und weil der Onkel gerade Rektor ist, glaubt man
sich bei mir im Nebenfach sicher.

Wie das bei den Vorlesungen zugeht, weiß ja jeder. Der Vortragende
schmiert vier Semester lang Zahlen an einer Tafel herunter, die man
mechanisch kopiert, sulzt dann Formeln in sich hinein, von deren
Konstruktion man keine Ahnung hat und die -- weil nur gemerkt und nicht
begriffen -- vier Tage nach dem Rigorosum durchs Hirn gefallen sind, wie
ein Pflasterstein durch Nebel. Der persönliche Erkenntnistrieb beruhigte
sich ja längst bei der Variante: ich saufe, darum bin ich. Aber
hereinlegen werd ich ihn, schmeißen werd ich ihn, den >Fernhintreffer
der Taktlosigkeit<.« Er feuerte hinten aus vor spastischem Wutglück.

Horus war so leid um ihn, herzzersprengend leid. Dann, um abzulenken,
auch in dem Wunsch, mit diesem Dennoch-Großen einmal andere
Geistesgebiete, als die seines Faches, zu berühren:

»Für all diese jungen Leute wäre es eben rätlicher, statt der
>Korpszeitung< lieber doch noch einmal: >Über Anmut und Würde< von
Schiller nachzulesen.«

Und erschrak. Bei dem Wort: Schiller hatte sich Samossys mächtiges
Gesicht auf einmal zu einem ganz kindischen Knoten hilflos diabolischen
Hasses zusammengeschnürt. Es war so entsetzlich, so unbegreiflich, so
schamlos und beschämend zugleich, daß der fremde Gast rasch die
Aschenschale umwarf, die ganze Situation damit umwarf; Trivialitäten
dazwischen warf, um nur ganz wo anders wieder beginnen zu können. Weg
von dem bösen Infantilismus, der grünen Wut, die unbegreiflicherweise
Schillers Name ausgelöst zu haben schien.

Da sagte Samossy unvermittelt, dranghaft:

»Kommen Sie mit über Pfingsten. Wir wollen auf einen hohen Berg steigen
und Zarathustra lesen.« Dann, hinterhältig, geheimnisvoll: »Man muß vom
Weibe loskommen.«

Horus erwärmte sich. Seit dem Abschied von Asien hatte er keinen
Sonnenaufgang auf einem Pilgergipfel mehr erlebt. Gut würde das tun.
Endlich wieder.

Sie trafen sich am Bahnhof. In Deutschland sein erster. Überall auf
Plakaten hingen, zwischen Ausrufungszeichen, an den Wänden lapidare
Beflegelungen des Publikums und andrer Wesen: --

»Wandervögel benehmt euch!« ... »Unterlaßt ... sonst ...!« »Keine
Kirschkerne ausspucken, sonst ...!« »Wer unbefugterweise ... der wird
nach Polizeiverordnung vom ...!« --

Lauter hingeschnauzte Imperative. So geleitet fuhren die Leute in ihre
Spiele und in ihre Muße hinein. Noch fuhren sie aber nicht. Barsche
Götzen mit Schirmmützen und lächerlich doppelt zugeknöpft, hinderten
vorläufig jeden, dort hinzukommen, wo er hin sollte und wollte.
Erbitterte Menschentrauben hingen um zwei vergitterte Löcher, wo in
Käfigen andre Götzen hockten und sich weigerten, Geld zu wechseln, oder
plötzlich das Milchglasfenster ihres Käfigs den gehetzten Massen vor der
Nase herunterknallten. War es endlich wieder offen, mußte jede zitternd
abgequetschte Menschenbeere sich ducken vor dem Käfigloch, als kröche
sie um Gnade; sie kaufte aber nur um ihr gutes Geld eine Fahrkarte, von
einem, den sie dafür selbst angestellt und bezahlt hatte.

Genau wie vor dem Postamt neulich, mit seinem Bücherpaket für Erasmus!
Auch dort vor einem Gitterkäfig die zuständige Sklaventraube: Männer mit
Krampfadern, Frauen, Angst um anbrennende Milch in den Augen,
Arbeitnehmer aller Grade, bei denen Qual marternder Langeweile mit
hämischer Genugtuung, ihre Brotgeber um so viel schöne Zeit zu prellen,
rang. Alle aber bekamen diese dunkelleere, geduckte Süchtigkeit im
Blick, traf er den Käfig.

Endlich mit seinem Paket dem Götzen im Loch gegenüber, war dieser ans
Gitter gefahren:

»Unvorschriftsmäßige Verschnürung.«

Also hieß es heimkehren, dann zurück, mit dem neuverschnürten Paket sich
wieder anstellen. Diesmal stocherte der unrasierte Götze vermittelst
einer Feder unter der schwarzen Nagelplatte des Mittelfingers mit dem
rändigen Ring -- äugte das Paket wie einen Todfeind, dann sich
erhellend, grob:

»Siegel fehlen.«

»Bitte wo und wie viele?«

Der Götze blähte sich violett auf:

»Hier ist kein Auskunftsbüro, glauben Sie, ich bin da, mich mit Ihnen
hinzustellen -- -- weiter.«

Er kam zurück mit drei Siegeln.

»Vier,« spie es aus dem Käfig.

Er kam mit vier. Aus dem Götzenloch triumphierte es:

»Die Schnurenden sind nicht mitversiegelt.«

Schräg stand schon die Sonne, doch dies mußte ausgefochten werden, und
er stürzte fort, zum fünften Mal wiederzukehren. Da winkte ihm ein alter
Herr mit einer Pfundnase heimlich in eine Ecke beim Papierkorb. Er
schien sie den ganzen Nachmittag nicht verlassen zu haben. -- »Psh --
Psh,« sein Speichel glänzte vor ihm her. Dann hinter einem Paravent aus
Wurstfingern:

»Da ham's,« er kramte eine Handvoll runder, gummierter
Pergamentplättchen mit verschiedenen Monogrammen aus der Tasche --.

»I schau Ihner scho n' ganzen Nomitto zu, und jetzt schau i no zu wie
>er< -- sein Daumen wies gegen das Loch -- >zerspringt< -- dös san nämli
Verschlußmarken« -- er klopfte auf die Plättchen -- »dö gelten statt
Siegel, wanns ihm no mo net recht is, glei hinpappen -- alleweil glei
hinpappen, da kann er fei nix machen.«

Er duckte hämisch gegen den Götzen. Der aber mußte den Vorgang gemerkt
haben, ließ bis auf zwei Vordermänner den neugerüsteten Feind an sich
herankommen, dann klappte das Milchglasfenster einfach zu. Die wartende
Masse ächzte vor Angst. »Abrechnen tut er,« raunte es ringsum, und
klägliche Blicke hingen sich an den Minutenzeiger, daß er nicht springe:
vier Fünfersprünge und das Postamt schloß. Der Zeiger schüttelte die
Augentraube ab und sprang zum ersten Mal. Das Milchglas rührte sich noch
immer nicht. Die Herde knurrte bekümmert vor sich hin, bis oben voll
geduckter Wut. Da wagte der Fremdling sich aus der Reihe, wand sich
fechterglatt zum leeren Nachbarschalter, streckte den Kopf durch das
Götzenloch und sah jenseits der niedren Zwischenwand den mit dem
rändigen Karneol am Mittelfinger sich noch immer die schwarzen
Nagelplatten ausstochern, während er einer kanariengelben Mitbeamteten
aus dem Abendblatt vorlas. Da riß ihm die Geduld. Gut: diesem Lande
Gast, hatte er sich seinen Bräuchen zu fügen, dies aber ging die Würde
des ganzen Planeten an. Mit geballter Faust drang er gegen das
Milchglasfenster vor, dem frechen Bureaukretin seinen albernen Scherben
zerschmeißen; es war das einzig Gegebene. Welche Erlösung für die
mißhandelte Herde, wenn es endlich geschah. Doch siehe da! Hatte er denn
den Weltuntergang angezettelt? Die meisten flohen sofort, beherzte
Männer voran, die früher am lautesten gemurrt.

»I muas nit von allm ham,« kreischte der heimliche Obstruktionist mit
den Verschlußmarken und weg war er. Eine Rotte erbitterter Weiber warf
sich indes mit Megärengebärden auf Horus, nicht mehr Angst um
angebrannte Milch gab es, keine Krampfadern, keine bespiene
Menschenwürde, nur einen, der ihnen allen zu Hilfe kam: der gemeinsame
Feind.

Ach so: sie liebten das also offenbar, bezahlten es eigens. »Pardon, ein
Mißverständnis.« Eben ganz wie in dem Masochistenbordell zu Paris. Sir
Osmond hatte ihn der Kuriosität halber einmal dort eingeführt --
Zuschauer beide -- denn manche Kunden wünschten ausdrücklich auch
Publikum zu dem etwas gewaltsamen Empfang, den sie sich bis auf jeden
Handgriff genau, brieflich und um schweres Geld vorausbestellt hatten.

An jenem Abend hatte sich nun, der Himmel mochte wissen wieso, ein
schlichter _outsider_ hierher verirrt. Offenbar fehl am Ort und durchaus
nicht im Bilde, war der brave Mann in heller Empörung einem Habitué zu
Hilfe geeilt, als dieser, seiner innersten Neigung nach, schon an der
Türe, nachdem er lange vergeblich gewartet, mit einer Flut von Injurien
durch eine Beamtete des Unternehmens empfangen worden war. Der in seinem
Vergnügen Bedrohte, an Ureigenstem verstört und gehemmt, zeterte nun
seinerseits los:

»Wo die Ordnung bleibe -- Wirtschaft --! Ob man meine, er zahle sein
Geld für nichts? _Sacré nom d'un petit chien marron!_ -- Wozu unterhalte
man denn sonst den ganzen Betrieb!«

Und nun begannen alle: Handelnde und Behandelte über den schlichten
_outsider_ herzufallen und warfen ihn die Treppe hinab. Sogar ein
Ölreisender in Pyjamas war, wie aus der Kanone geschossen, plötzlich
dabei und beteiligte sich unter Beteuerungen, daß er ganz normal sei,
aber sicher noch seinen Nachtzug nach Lyon versäumen werde, an dem
Strafgericht. Stürzte dann wieder zurück -- -- _fait vite -- fait vite_
-- rief es aus dem Zimmer, machte bei halboffener Türe ein paar Griffe
an seiner Dame, fuhr herein, heraus und in seine Kleider, fand
zwischendurch noch Zeit, sich bei der Direktion über »_cette grue_« zu
beschweren. Frechheit, während seiner Liebe habe sie einen Apfel vom
Nachtkästchen genommen, hineingebissen und die Kerne zum Plafond
gespuckt, wie um zu zeigen, auch sie wolle eben ein Vergnügen dabei
haben. Kränkend sei das! »Freche Hure«. Er spuckte aus und sauste mit
zwei Musterkoffern die Treppe hinab. Vielleicht hatte er vor dem Tor gar
den Hinausgeworfenen noch überholt und im Vorüberstürzen Zeit gefunden,
diesen über den Grund des Treppenflugs sexuell aufzuklären.

Ein Mißverständnis eben. Nein, Horus würde in deutschen Amtslokalen
nicht mehr »schlichten _outsider_« zu spielen versuchen. Staunte auch
nicht, als jetzt ein neues System teuflischer Netze den schäumenden
Haufen, knapp vor seinem Ziel: dem Bahnsteig, abfing, daß er davor zu
einem Block Unluststoffe gerann, dessen Lodenhülse unter dem Druck sich
durch die Gitterstäbe spannte als platzende Ballonhaut. Drei Zentimeter
jenseits, vor Himmel und Schienen, gähnten ein paar Götzen mit
Zwickzangen im Leeren, vor der leeren, längst bereiten Zugsgarnitur.

Samossy, in die Ecke getrieben, bis an den Hals im Pöbel, starrte dunkel
und süchtig hinüber. Hatte die Ohren zurückgelegt, spannte die
Stirnhaut, röchelte dumpf und eingespeichelt glücklich. Dann wie zu
schlechtem Gewissen erwachend:

»So ein moderner Verkehr hat doch etwas Imponierendes, diese musterhafte
Ordnung, daß alles so klappt.«

Und sank wieder in träumende Starre.

Im Block unter der Lodenhülse aber brodelte Ärgernis: unerzogene Mütter
trieben mit Püffen Anstand in ihre falschgebornen Kinder hinein, den
diese wieder schreiend erbrachen. Männer rissen sich immer wieder
viehisch Wege zu Büfett und Zeitungsstand. Den Raubmord von heute gierig
schwingend, den Raubmord von gestern achtlos um den Leberkäs gewickelt,
ritten sie dann, zurückgaloppierend, Schinkenstullen unter dem Rucksack
mürbe.

Jeder Ankömmling aber stieß auf wutgerundete Rücken der Abwehr. Wieviel
so üble Zweibeiner gab es denn noch, wie man selber einer war?
Fassungslose Empörung! Man konnte das eigne Zahlreichsein offenbar noch
nicht meistern, hatte sich schneller vermehrt als daß dem Einzelnen
seine persönliche Gleichung gestattet hätte, sich dieser Verdichtung
anzupassen.

Pöbeldichte ist das Infernalische hier, fühlte der Fremde; dieses
geistig und leiblich einander auf die Hufe spucken. Pöbeldichte, nicht
Menschendichte, denn diese schafft ja positive Qualitäten: etwa Chinas
Rücksicht und Diskretion, kann doch bei Übervölkerung die unersetzliche
Einsamkeit dem Einzelnen nur durch zarte und kultivierte Manieren der
Vielen gewährleistet werden. Er träumte sich zurück in das südliche
Blütenland, das »Land der Lebendigen«. Wieder stieg die Paganinipyramide
auf, doch diesmal trug sie ihn durch Stunden und über diese ganze Fahrt
hinweg, wie zum Dank für einst. Manchmal schrak er glücklich lächelnd
auf, wog seinen Reichtum: »Wieviel war meiner Jugend beschieden«. Auch
»geflügelte Perle« kam.

»Ich will dich das Geheimnis des Fußes lehren und meiner älteren
Schwester das Geheimnis der Blume Lan.«

Seidnes Wesen!

Sie hatte ihr Versprechen gehalten.

Aus der Zahnradbahn keuchte es jetzt, sich überrennend, dem Hotel unter
dem Gipfelkopf zu, einer im Kielschweiß des Andern, Kinder und Rucksäcke
schleiften nach. Im Tor schäumten Wirt und Pilgrime gegeneinander an.

»Zu fünft drei Betten -- ausgeschlossen, da sorcht ja schon die Behörde
jejen!«

»Aber Ludwig, ich bitte dich, Trude und Hans in einem Zimmer!«

»Bleibste in der Depandanxe -- nöch?«

»Na, denn nich.« -- Und auf einmal ließ man das ganze Übernachten
stehen, riß sich angstvoll um die Speisekarte -- zu reservieren, was zu
reservieren war. Familienväter bestanden auf fünf Kalbshaxen, Kinder
grölten nach Apfeltorte; es ging um Tod und Leben, als eine Person mit
angekettetem Kropf zwei graue Beete aus Krügen in den Männerarmen
hereintrug.

Auf einmal waren alle Mehmkes da, samt Töchtern, Schwiegersohn und Enkel
Fritz, von Krause flankiert. Dallmeyer blies schon Bierschaum in den
Ausschnitt von Margrinchens rosa taffet Bluse über dem Lodenrock.

Samossy, gänzlich verwildert, umwieherte indes die Kellnerin. Doch ihre
rotpunktierten Männerarme in den kalkharten Puffärmelchen waren jetzt
frei und schützten sie erfolgreich ringsherum.

Langsam mit dem Speisendunst ging die Stimmung ins Breite, Qualm
nikotinisierte den Verdruß. Schon war die Luft fast so dick wie zu
Hause, und nahrhaft von vergastem Fett.

Jetzt hieben ein paar Tatzen voll Töne in den Brodem. Ein
Auswendighämmerer begann Kraut und Rüben durcheinander zu hacken, riß
dem Klavier die Stockzähne aus, schmiß sie der Dulliöh-Stimmung in den
Rachen: aus einer Art Beethoven _cake walk_ schmalzte er in ein
Carmen-Meistersinger-Potpourri hinein, schlang diesem den Liebestod als
Boa um und markierte dem wiehernden Saal die Glocken aus Parsifal, mit
dem Gesäß auf der Klaviatur, landete dann mit einem Flohsprung mitten im
letzten Satz der Neunten Symphonie, boxte sich durch bis an die
Menschenstimme -- -- --:

   »Nee, so was Gemütliches, nee so was Gemütliches,
   Mir wackelt vor Lachen der Bauch,
   Na siehste, dir wackelt er auch.«

Und die Sonnenpilgrime fielen mit der zweiten Strophe des
Sensations-Schlagers der Saison ein:

»Vor Gericht zur Ehescheidung ist zur Sühne heut Termin.

Er in eleganter Kleidung, sie sehr schick, Hut voll Jasmin.

>Wollen Sie sich nicht vertragen?< fragt der Richter ehrfurchtsvoll.

Als sie grade ja woll'n sagen, schreit ein Weib: >Paul, bist wohl toll!

Laß die alte Zicke türmen!< >Was, Sie Mensch!< schreit darauf die Frau;

Nun geht's los mit Regenschirmen, alles schlägt ein'n Mordsradau.

Zähne, Zöpfe umherliegen und der Richter bietet Ruh.

Süße Schmeichelworte fliegen. Ekel, Lulatsch, alte Kuh!

Selbst der Richter kriegt zum Schluß im Gewühl eins auf die Nuß.

Nee, so was Gemütliches etc.«

Draußen -- draußen standen irgendwo Sterne -- groß und weit weg.

Um Morgengrauen barsten Wecker auf Tellern, kreischten spitze Trichter
hinein. Ein finstrer Knöchel kam von Tür zu Tür, zerklopfte durch Holz
hindurch Träume im Hirn. Das Hemmungslose der Aufstehgeräusche stand
plötzlich mitten in fremden Zimmern. Durch Korridore schlurfte es ohne
Kragen, in Hemd und Unterhosen. Wie ertrugen sie nur eine Tracht, die
tagtäglich durch dieses entwürdigende Stadium hindurch mußte?

»So mach doch vorwärts -- noch nicht fertig?« -- Dann wieder in
seltsamem Hedonismus: »Na, freu' Dich bis wir nach Haus kommen!« Türen
knallten; grün vom Fleisch und Bier der Nacht, stolperte es in karierten
Plaids durch die silberne Frühe. Ein Pfahl im Schotterhaufen und eine
Ansichtskartenbude markierten den Gipfel.

Jetzt war es so weit:

Ungezogenes Gebrüll verkündete das Herannahen der Sonne. Männer riefen:
»Na also!« Frauen: »Ach wie süß.« Jeder rief irgend etwas.

»Ja, so ein Sonnenaufgang bleibt doch ein Sonnenaufgang,« begann
Fräulein Mehmke -- dann ward es ihr bleich vor dem anämischen Hirn, sie
hätte gestern nicht so viel Schlagsahne zu den Birnen essen sollen.

Dallmeyer stieß indes aus den Wolken seines Bartes die ersten Töne von
Brünhildens Erwachen: »Heil dir, Sonne!«

Krause war dagegen:

»Nee, nee, lassen Se se lieber in alter Weise tönen.«

Und Margrinchen, die wieder funktionierte, ratschte weiter:

»In Brudersphären Wettgesang, und ihre vorgeschriebne Reise --«

»Reise« -- erinnerte sich Frau Geheimrat, im Rucksack kramend -- »hast
du am Ende das Reisebesteck vergessen? -- Vater braucht den
Pfropfenzieher.«

»Nun, Fritz, wie geht es weiter,« examinierte Mehmke, »in deinem >Goethe
für Jungens< hast du's ja beinahe unverkürzt.«

Aber Fritz maulte: »jetzt is Ferien.« Und er intonierte das
Lieblingslied von jung und alt:

   »Mariechen,
   Du süßes Viechen,
   Sie ist eine ne--te--te--te,
   Diva von der Oper--e--te--te--te.«

Da es ihm seine Mutter oben verwies, quäkte er es um so lauter etwas
weiter unten bei den Kühen, kam aber bald zurück, denn man leerte aus
den Rucksäcken Konserven in die Natur, die Fransen von Mehmkes Plaid
schwammen schon im Sardinenöl. Man kaute und schrieb zwischendurch
Ansichtskarten. Männer entfalteten markig das Abendblatt; weise diesem
zeitungslosen Sonnenaufgang entgegengespart. Es war voll der neuesten
Pariser Sensation: dem Hosenrock. Seit Wochen flossen die Gazetten aller
Parteirichtungen über von Bulletins. Würde er sich wirklich auch
außerhalb Frankreichs als Mode durchsetzen? Unmöglich ... bei keiner
anständigen Frau ... die Entrüstung war allgemein.

»Geiler, welscher Tand.« Dallmeyer röhrte auf germanisch.

Margrinchen zeigte ihm, wie mühelos ihr eigner Rock aufzuknöpfen sei:
entarteter Abkömmling eines verjährten Pariser Schlitzmodells, nur daß
sein planlos Affenhaftes hier ins stockend Barbarische geraten war.

»Echt weiblich und doch praktisch,« lobte Dallmeyer, »echt deutsch!«

»Auch malerisch,« ergänzte ihre verheiratete Schwester, die den gleichen
trug, und drapierte einen Batikschal über den Wettermantel und die
auseinander geronnenen Hüften.

Wer ohne Zeitung, hatte anders vorgesorgt für die langen Stunden hier
draußen, wo nichts los war: »Wollen wir n'en Skat dreschen?« Und aus
Handflächen sprangen karierte Blätter per Kopf auf gebreitete
Lodenflecke ringsum. Manchmal zorniges Grunzen: »Rindvieh dappigs, so
paß schon auf.« -- »Halts Mäu!«

Akademisch Gebildete spielten hier nicht Karten. Wußten, daß man in der
Natur natürlich zu sein und sich in ihr zu lagern hatte. So lagerten sie
erst angezogen, als Fremdkörper umher, begannen dann aber, als es wärmer
wurde, auf grauenhafte Weise Bekleidung von sich abzustoßen, unter
andauernd witzigen Bemerkungen über diesen Vorgang. Die Rhododendren
hingen schon voll Hosenträger, und das schlurfende Stadium von den
Korridoren war wieder erreicht; selbst halbe Akte tauchten vorübergehend
auf, verschwanden wieder: nein, es war allerdings kaum anzunehmen, daß
die Natur das zum sichtbarlich außen Tragen bestimmt haben sollte.

»Mal bißchen Natur kneipen.« Auf dem Rücken liegend, hob Krause das
Gesäß und klappte die Hufe in der Luft erlaubnisheischend gegen die
Damen zusammen. Oben die Sonne wiederkäuend, buk er unten die gelbliche
Riesensemmel seines Bauches gar, im eignen säuerlichen Speck. Der
Geheimrat kraute mit dem kleinen Fingernagel seine grauen Achselhaare:

»Was Samossy, dieser Intrigant wieder ausgeheckt habe -- ein Narr -- ein
gemeingefährlicher Narr, ob Dallmeyer den Angriff ...«

Aber Dallmeyer hatte die Stiefel ausgezogen und war längst
Jung-Siegfried; dahin rollten die Stücke des morschen Speers, an Notung
zerschellt. Keine Abfindung für die Schwarzalbin, jüdische Mitläuferin
und was ihr entsprossen. Seine männische Kraft sollte eine reine
Jungfrau erwecken ... nur wer durch das Feuer bricht ... als
korrespondierendes Mitglied mußte er heuer noch in die Akademie hinein.

Kein Gruß aus der Kreatur klang in diesem Äther. Kein aufjubelndes
Fluidum aus wilden, freien, vielgestaltigen Herzchen entzündete sein
zeugendes Netz. Leergescheucht auch er: ein übler Doppelspat, auch er,
durch den das Un-Sein hereingebrochen kam.

Kinder machten auf ein paar glücklose Kriechtiere Jagd, die nicht Beine
genug gehabt, sich rechtzeitig einzugraben. Fritz kroch umher, kratzte
aus dem Moos, was er an Fühlern und Flügeln erwischen konnte, brachte es
in seiner scheußlichen Gymnasiastenmütze Margrinchen. Sie sonderte die
männlichen Tiere aus, und er durfte sie in eine Glasflasche füllen,
während das Fräulein ihr biologisches Besteck auspackte.

»Unten nicht so zerquetschen,« mahnte sie, wenn seine Fingerstummel mit
den verkehrt eingesetzten Nägeln ihr eine Kreatur nach der andern
reichten. Dann sah er mit abstehenden Ohren zu, wie sie hineinschnitt.

»Immer fleißig,« schmeichelte Dallmeyer. Er war endgültig durch das
Feuer gebrochen und näherte sich bereits Margrinchen auf ihrem Fels:
»Immer eifrig bei unsrer Wissenschaft.«

Vom Hotel herauf schellte es jetzt Mittag. Sie warf das angeschnittene
Tier weg und begann ihre Frisur zu richten. Dallmeyer stöhnte in Stiefel
hinein, Krause suchte nach Hosenträgern -- Plaidfransen blieben an
Uhrketten hängen, rissen Geld und Karten ins Gras, alles knöpfte sich zu
-- stob abwärts zu Hauf.

In die lange, neue Stille hob sich aus Gebüsch mit eins ein
verschlafener Kopf, blinzelte ins Leere -- begriff dann. Maßloser
Schreck ging in seinen Zügen auf, er blickte wirr um sich, dann
schreiend:

»Ist es schon losgegangen?«

»Wenn Sie die _table d'hôte_ meinen, so glaube ich: ja.«

Der Europäer warf die Arme gen Himmel und wollte fortstürzen, da vertrat
ihm Horus den Weg, packte ihn vor der Brust:

»Was ist das jetzt eigentlich für ein Fest heute?«

»Na, Pfingsten doch.«

»Was ist das: Pfingsten?«

Dem Andern wurde ängstlich, er klammerte sich an seine Brieftasche:

»Die Ausgießung des Geistes natürlich, oder so was Ähnliches.« Riß sich
los und machte im Lauf kopfschüttelnd vage Gebärden vor dem Hirn, wie er
sie in irgendeinem verlogenen Theater gesehen.

Jetzt waren also endlich alle hinuntergeflossen, diese
Ohne-Hunger-Esser, zu ihren dicken Suppen, die ihnen wieder ausbrachen
als unmäßiger Schweiß, und der Gipfel tauchte frei empor; der getötete
Äther um ihn aber trug keine Seeligkeit mehr. -- Vielleicht das Moos? Er
bückte sich: Enzian sah ihm in die Augen herauf, dann ein kleines
Gelbes, das sehr keck schien, rötliche Röllchen rochen gut. Vielleicht
enthielt die Erde für ihn die antäische Stärkung eines Grußes.

Wie einst zwischen die aufrauschenden Ohren Rama-Krishnas, warf er sich
nach vorn, preßte das Gesicht ins Lebendige, fuhr auf und mit der Hand
an die Stirn: dort klebte quer eine Wursthaut. Worin lag er da? Eine
Bergwiese? -- ein Kehrichthaufen? -- ein Magengeschwür? -- ein
ungemachtes Bett? Zerwälzt ohne Wonne, in dem Frigidität, Geile und
Feigheit aneinandergeklebt hatten! -- War das noch Enzian oder schon ein
Tintenklex, roch die zerknüllte Stanniolkugel da oder das Kohlröschen?
Er suchte nach dem angeschnittenen Versuchstier der jungen Dame. Tötete
das sich Windende rasch, fest, ehrfürchtig.

Samossy kam erst knapp vor der Rückfahrt aus einer Tür zum Vorschein, an
der geschrieben stand:

»Nur für das Personal, Gästen ist der Eintritt nicht gestattet.« Beim
Abstieg rieb er äußerst animiert die knorpeligen Enden seiner langen
Finger aneinander, als wollte er Feuer aus ihnen schlagen, wieherte in
der Fistel:

»Ja -- ja, man muß vom Weibe loskommen.«

Die Kellnerin hatte ihm aus kalkharten Puffärmeln mit einer roten Pranke
nachgewunken, die kein goldnes Kettenarmband trug.

Zarathustra war ungelesen im Rucksack geblieben.

Abends entließ der Ostbahnhof die Ausflügler in fahle Vororte hinein.
Aus einem politischen Keller stank eben strukturloses Gewölle breit in
den Platz, jenem gleich, das im Hafen von Marseille, als Ballen von
Mißgunst, das rhythmische Arbeiten der asiatischen Bemannung mit
hämischer Überheblichkeit zu zergaffen versucht. Hier schien es in Fluß
geraten, in stumme, maßlose Geschwollenheit hinein. Sah man näher zu,
zerfiel es in einzelne, aus allen Angeln gedrehte graue Brocken, die
torkelnd neben ihren Stiefeln gingen. Weiber hakten sich in Männer,
reckten die abgebundenen Spitzbäuche, stampften auf kolossalen Füßen
eine namlos verlogene Degagiertheit einher. Junge, mit wilden
Papuafrisuren lachten wie aus Grammophonen. Allen stand käsiger Schweiß
aus Wurst und dicken Phrasen um die eingetriebene Nase und den
sackförmigen Mund.

Es waren die abstoßendsten Geschöpfe, die er je erblickt. Nicht so sehr
durch das Übelgeratene selbst, nein, durch eine beispiellose
Überheblichkeit weltgültigen Rüpeltums, mit der jeder gerade dies
Übelgeratene, wie eine hohe Rechnung präsentierend, an sich zur Schau
trug; Gesitteteren damit schadenfroh unter der Nase herumzufuchteln
nicht müde ward, als wäre er das Unmaß aller Dinge.

Auch hier wieder der typisch europäische Blick: er, der nicht sah, als
bliebe die ganze Umwelt dauernd in den gelben Fleck der Netzhaut
gerückt.

Auf dem andern Gehsteig kam jetzt eine einsame Frau dem Haufen entgegen,
strebte, dunkel gekleidet, unauffällig und still -- etwas eilig auch --
ihres Wegs.

Schon waren die Vorderbrocken blind über sie hinausgetappt: das
ausrangierte Schachrössel mit der roten Schleife an der Spitze, einer
der fanatischen Nasenbohrer aus der Russenecke im Café und ein kleiner
Herr mit Zwicker von außerordentlich semitischem Typus.

Da erspähten zwei Halbwüchsige die Einsame, vertraten ihr aus der Flanke
des Zugs heraus den Weg -- noch probeweise -- wie suchend vorerst,
tänzelten von Bein auf Bein -- endlich glaubten sie etwas gefunden zu
haben:

»Mir scheint gar, dös is a Hosenrock.«

Und der eine blähte hämisch vorn seinen Latz, ganz wie die Crapule in
Marseille vor Gargi getan. Der Unflat, der auf seinem Hals an Stelle des
Gesichtes saß, stank ihm dabei aus den Augen.

Der andre, gebückt, Zigarettenstummel im eckigen Maul, tat, als
inspiziere er streng von unten.

Die unscheinbare Frau hob sanfte Hände der Abwehr:

»Lassen Sie mich vorbei, bitte, ich muß nach Hause.«

Aber schon kreischte es rundum:

»A Hosenrock, a Hosenrock.«

Spitzbäuche und Papuafrisuren rissen die Mannsleute heran:

»A soa Weibstuck, a soa ganz ausg'schaamts, a soa Großkopfate!«

»A soa Madame.«

»Oin iebermietiger Adel und ein verrottetes Bürgertum« ... begann das
ausrangierte Schachrössel -- --

»Eiterbeule am Pestleib des Kapitalismus« ... fuchtelte der kleine
Leitjude. »Schamlose Provokation des klassenbewußten Proletariats ...
Genossen, setzt euch zur Wehr ... der gesunde Sinn des werktätigen
Volkes darf nicht dulden ...«

»Geiler welscher Tand,« röhrte es jetzt dazwischen aus dem wallenden
Dallmeyer-Schädel, den Häusern angeklemmt im Trupp der Ausflügler.

Nur helleingesehene Unmöglichkeit, sich dorthin durchzuboxen, hielt
Horus ab, sich gerade auf diesen reißend Verpöbelnden zu werfen, doch
auch seine Glieder waren eingekeilt zwischen Mauer und Mob.

Einen Moment duckte sich Stille im Raum. Bogenlampen flirrten hoch
darüber. Dann grellte ein Ton auf, dem sich in der ganzen Natur an
Gemeinheit nichts vergleicht. Der infernalische Ton eines johlenden
Europäerhaufens pfiff hinter dem hingespienen Zigarettenstummel drein,
zwischen Fingerstumpen hinausgegellt als onanierende Niedertracht.

»Der Hosenrock muaß aver ... übern Hintern gspannt, ghörat er ihr, der
Hosenrock.« Ein Stierkerl mit Wurstpratzen hatte es gebrüllt.
Temperamentlose Wut aus eiskaltem Schweinespeck gebar zuerst
Moralsadismus. Die Weiber heulten Triumph. Das wieherte, spie, trampelte
im Rudel heran um die weinende Frau. Unter gingen ihre Hilferufe im
Gegröle des Mob. Von der Welle aus Feigheit in Frechheit hinübergespült,
warfen sich die zwei Halbwüchsigen platt auf den Bauch, krochen ihr
unter den Rock, hoben ihn rechts und links mit den Köpfen hoch, zerrten
die Beine der Wimmernden auseinander, daß sie mit dem Gesicht platt in
den Kot fiel ... Mit haßkrummen Pfoten stürzten sich die Weiber über die
Liegende, rissen ihr die Kleider in die Höhe, die Hose auseinander ...
der russische Nasenbohrer fanatisierte die Herde rechts und links, wie
ein anspringender Hetzhund.

Vorn der kleine Leitjude kniff sich eilig einen zweiten Zwicker auf,
reckte feixend den Hals, um besser sehen zu können.

Eine Megäre heulte wehleidig auf: »A soa Kanalli.« Sie hatte sich an der
Hutnadel ihres Opfers geritzt.

»Volksgericht ... Volksgericht,« das ausrangierte Schachrössel zerriß
sich fast in der Luft, doch keiner scherte sich drum. Eine Blase grüner
Gier, schwoll die Pöbelgeile über ihrem Opfer, immer höher aufgetrieben
von den fanatisierenden Sprüngen des slawischen Nasenbohrers.

Auf einmal stach ein Polizeipfiff die Blase an, feig und flach fiel sie
zu einer Linse zusammen, gerann immer dünner, bis das Straßenpflaster
aus ihr aufstieg, in dem ganz allein, in Qual und namenloser Scham, sich
die gemobte Frau mit grellentblößtem Unterkörper wand.

Außer ihr fand die Wache eigentlich niemanden mehr zum Verhaften vor.
Zwei Polizisten führten die Halbohnmächtige ab, ein Dritter bückte sich
nach dem Hosenrock. Mit strenger Hand hielt er das »Ärgernis« in
sittlichem Ekel weithin von sich ab. Wies es anklagend rundum, begann
plötzlich zu gluren, zu grinsen, und alle rings im Kreise grinsten mit.
Man schlug sich auf die Schenkel vor Vergnügen.

Das war ja gar kein Hosenrock.

Auf die entleerte Straße schlich es sich jetzt hinter einem Häuserblock
schlacksig heran, alle Körperknochen eckig unter die engen Augen
gehäuft: der Hetzhund des Haufens warf sich platt nieder, windelweich
auf einmal. Begann das glitschige Frauenblut aus dem Straßenschmutz zu
saugen, umarmte das Pflaster, quetschte seine Seele wie einen
verschnapsten Schwamm über den Brei aus Blut und Kot, in greinendem
Gefasel, menschheitsduselnd aus.

Da stieß ihm Horus Elcho in sternblanker Wut den Fuß ins Rückgrat:

»Auf -- Schwein -- aufhören mit dem sentimentalen Dreck.«

»Bruderherz,« harnte es flennend naß von unten herauf -- »laß dich
umarmen, Bruderherz, wir sind ja alle gleich, mein Seelchen, -- alle,
alle gleiche Menschen.«

»Nein -- Gott sei Dank -- nein!«

Und der goldäugige Exote schritt auf den andern Gehsteig. Der Erdradius
war nicht so lang, als jetzt diese Vorstadtstraße breit war.

Viele Stunden lief er noch durch die milde Nacht, in den Anlagen Fluß
auf und ab, mit heißen Adern. Als schwefelige Blitze standen ihm die
Nervenfäden um das bewölkte Herz. Und dann trieb ihn Trotz
unwiderstehlich, ein Stück Maskerade seiner Zugehörigkeit zu dieser
weißen Köterrasse nach dem andern wegzuwerfen -- einfach weg ... Erst
die Fußschachteln in eine Wiese, den Rock ins Wasser, den albernen
Stoffkopf hing er an einen Strauch, kam zurück, drehte ihn um zu einem
Nest zwischen drei Astgabeln; vielleicht diente er so einem anständigen
Vogel zur Brutstatt -- tat es in vagem Trieb, süßes Leben als
Gegengewicht zu fördern.

Ins silberduffe Gras auf die Flanken gekauert, überdehnte er dann die
zehn Gliedspitzen wie ein gähnender Jaguar -- wehende Halme streichelten
den Stromkreis zu, leiteten das ausgetriebene Übel erdwärts, da löste es
sich über die makellose Riesenkugel hin auf.

So mochte es zwei Uhr geworden sein.

»Das gibts nicht da. Das ist Vagabundage, -- im Freien darf nicht
übernachtet werden.« Ein Ordnungsgötze voll Blech am Kopf türmte schwarz
und lotrecht in die Natur.

Langsam drehte er sich auf den Rücken, sah was zwischen ihm und dem
Polarstern stand, bekam einen gelachten Wutanfall.

»Also nur im Unfreien darf hier übernachtet werden? Jetzt sagen Sie, was
darf man in dieser europäischen Dreifalt von Schlachthaus, Irrenhaus und
Zuchthaus denn eigentlich? Leben verhunzen, was? Natur verhunzen! süße
Tiere zermartern! Pöbel züchten! Bosheit mästen! Moralsadismus treiben?
Kurz, auf jegliche Art ein Schweinkerl sein: das darf man. Will aber
einmal der Arme eine Nacht lang Sterne statt Wanzen über seinem Kopf
haben, so heißt ihr das Vagabundage. Oh eure Lügenworte. Eure
schiefgemaulten Lügenworte! Da laufen Asphaltstraßen, rein wie Schnitte
an einem Tortenüberguß durch eure glatte Welt. Was hilft's, sind sie
allesamt mit bürokretinistischem Sekret überzogen, nur im Härtegrad,
nach den Ländern wechselnd, von Eisenbeton zu _fromage de Brie_:
stinkender wenn weicher -- drückender wenn härter; lebensundurchlässig
alle.«

»Habt ihr denn so ganz des göttlichen Kontinents, aus dem ihr kamt,
vergessen? Seine jahrelangen Straßen sind staubig und trockenen
Büffelmistes voll, der in die Augen brennt. Über diesen Büffelmist aber
schreiten mit Mantel und Schale Hunderttausende in die Vergottung hinein
-- frei und unbefragt. Hier an dem weißen Rand ins Nirvana tut jeder das
herrlich züchtende Joch der Kaste von sich ab, das ihn herangeleitet,
steigt aus der tiefen Farbenmulde seiner Art und verbrennt zu Gott,
wandernd im Anhauch dieser freien Straßen.«

»Sie gehen jetzt mit,« sagte das Triefauge des Gesetzes, noch uneins, ob
das mit dem Büffelmist Amtsehrenbeleidigung oder nicht.

Im Polizeigebäude hingen an verwanzten Wänden schwachsinnige Zettel in
Rahmen herum: »wir wollen helfen, nicht strafen« -- »nach eignem Sinne
leben ist gemein« und ähnlicher Fibelschund.

Daß er Seidenwäsche aber keine Stiefel trug, rettete die Situation. Auch
das Pfingstfest.

»Nun ja, der Feiertag! total besoffen eben -- aber sonst ein feiner
Herr.« So ließ man den kuriosen Fang nach Abnahme seiner Personalien
gehen, machte ihn aber auf die Folgen eventueller doloser Irreführung
der Behörden aufmerksam.

Europa hatte nur eben probeweise ein paar Maschen ihres Jusgarns ein
bißchen um ihn zugezogen, so zum Spaß, nur um zu zeigen, was sie alles
konnte. Ließ ihn dann wieder laufen, -- weiter in gesenktem Netz, das
über die klebriggespannte Ballonhaut dieser ganzen aufgetriebenen Welt
schleppte.

Seit der »Hosenrock«-Episode begriff er mit eins den Geldkrampf aller.
Ihre schlotternde Angst. Das an eignem oder andrer Geld Kleben,
hemmungslos, zum Gemeinsten bereit, aber nur mitschwimmen dürfen im
Oberflächenhäutchen, sich mit Dreck dort anpappen -- oh, alles -- nur
nicht heruntergestürzt werden zu diesem aus seinem stinkenden Brodem
aufschnappenden Mob.

Schicksal eines Beutetiers war Adel und Wohltat dagegen.

Hier hieß arm sein ja nicht in veredelnde Einsamkeit wandern, mit
vollkommenen Tieren frei durch Flur und Licht spielen, die
Diademgestirnte zur Genossin haben, bei Ganapati Sastriar hocken, mit
dem Schikari schweifen, im sanften Gewimmel blauer Kulis unbelästigt
leben oder sterben, unbeschnüffelt von der taktlosen Tyrannei
behördlichen Humanitätsschnauzentums.

Ging es einem Hindu schlecht, umgab ihn immer noch Distinktion der
Gebärde, Zartsinn, Niveau der Kaste, durch die das Individuum mehr --
schon dem Typus nach mehr ist -- als es aus sich selbst zu sein
vermöchte. Arm sein hieß daher nur: Form der Gesittung tauschen.

In Europa aber hieß es, dank diesem sadistischen Wohnzwang, wirklich in
der Hölle sein: bis zum Tod eingesperrt leben mit Roheit, Bosheit,
Intoleranz und Gekeif, umlauert von hämischer Neugier. Hieß statt süßer
Kinder falschgeworfene, verzogene, gröhlende Mißgeburten haben,
hingesudelt im Fuseldunst, denn nie könnten klare Sinne den Ekel vor
erotisch so ungepflegten Weibern, wie sie dem Armen hier einzig zur
Verfügung stehen, überwinden.

Hier ohne Geld sein, hieß also für einen Menschen von nur
durchschnittlichem Feingefühl: Selbstmord. Nicht Entbehrungen der Armut,
des Niveaus der Mitarmen wegen. Denn so etwas wie einen entrassten
europäischen Mob, das hat ja die Welt noch nicht gesehen, hat es nie und
nirgends noch gegeben! Lag es an Löhnen? Lebenshaltung? Keine Spur. Gab
doch das Volk hier nebenbei für Alkohol und Tabak täglich mehr aus, als
ein Chinese für den Unterhalt einer ganzen Woche. Der kroch morgens aus
seinem Kanalloch, eine halbzerkaute Ratte zwischen den Zähnen und war
doch ein Wesen an Courtoisie und Herzenshaltung von den Höchsten seiner
Rasse, einem Li-Hung Tschang etwa, nicht gar zu sehr verschieden, übte
wie sie die Selbstzucht eines komplizierten Zeremoniells, lebte wie sie
das »Buch der Riten« und die »Religion des guten Bürgers«. Lag es an
psychischer Qual? Beweis, daß diese europäische Masse nicht wirklich
litt, war ihre Taktlosigkeit: erste Frucht des Leidens ist der Takt.

Eine unbegreifliche latente Bosheit bildete hier durch alle Schichten
hindurch Knoten, um gelegentlich an der Stelle geringsten Widerstandes
durchzubrechen: dem Sehen.

Aber warum sahen sie nicht? Warum waren alle am hellsten Sinn
verkümmert, aus dem die Liebe erfließt und die Vision? Konnten Hose von
Rock nicht unterscheiden, echt von unecht, Kunst von Kitsch, fielen und
legten einander rastlos wechselseitig optisch herein.

Gargi, die nie Fragende, hatte einmal schüchtern gemutmaßt.

»Ist es ein Gelübde?«

Meinte den ersten Backenzahn, den die meisten golden trugen, neben
vorderen Porzellankronen.

Nein, sie glaubten eben, man sehe das nicht, weil der Zahnarzt, der auch
nicht sah, es beteuerte. Ein Blick hätte das Gegenteil erwiesen, aber es
war eben kein Blick da. Anfangs konnte er in Paris immer wieder über die
schleierlose Roheit erschrecken, mit der Menschen in Sehweite
übereinander medisierten, vermeinend, das merke sich nicht, außer
Hörweite zu sein genüge. Lang hatte er gebraucht, um an solch optische
Verstumpfung faktisch glauben zu können. Alles was die Europäer in ihrer
Biologie von den niedren Tieren behaupteten, war wirklich ganz richtig
-- auf die Behaupter selbst angewendet. Reagierten auch so automatisch
mechanistisch, wie sie es den Amöben zuschrieben; auch _ihre_ Fundstelle
(das Heim) der einzig völlig reizlose Ort, wo sie ihr Futter fanden.

Hing mit dem flächlichen: oberflächlichen Sehen nicht auch die
Überschätzung des »Malerischen« hier zusammen? Welt der niederen Tiere,
die sich in verschieden belichtete Flecke auflöst; noch nicht
aufgestiegen in die dritte Dimension. Daher vor allem der Hang ihrer
überkleideten konturscheuen Weibchen zur palettenumschweinzten Aura.
Dieser ewige Kunstschwatz und in Bilderausstellungen Rennen _der
Europäerin_, was sie gar nichts anging, statt was sie unmittelbar
angehen sollte zu beherrschen: die Raumschöpfung des Heims. --
Schaukraft fehlte eben: Durchschauung des dreifältig Gefügten:
Architektur.

Ja, die Überschätzung des »Malerischen« lebte von zerronnenen Weibern.

Nur konturreine Maschinen waren hier auch zu würdigen Behausungen
gelangt. Er hatte sich die modernsten Architekturwerke kommen lassen, da
herrliche Bahnhöfe, Silos, Fabriken, Betriebsstätten gefunden, dabei
gedacht:

»Wäre ich eine Turbine, ließe ich mir mein Heim von Behrens einrichten.«
Auch Rösser und Exkremente hatten es gut. Ställe und Kanäle gelangen
manchmal wunderbar. Nur Menschenheime im Sinn und Rang des Hauses Elcho
fehlten, denn es fehlten die Menschen dazu. Langsam begann er die
Leistung seiner Mutter zu begreifen. Diese jahrelange, zähe, unbeirrbare
Treue zum Ideal. Das einzig im höchsten Sinne europäische Heim war am
Herzen des Dschungls erschaffen worden.

Welche Selbstverlöschung, ihn in diesem Werk Europa anbeten zu lassen,
statt sie. Wie weise lang hatte sie ihm die sprühenden Sporen dieser
Illusion bewahrt, die ihn hinaufgebäumt aus goldner Sinnenmulde in die
herbe Kraft lotrechter Geistigkeit.

Langsam drehte sich die ganze Kuppel an seiner Jugend Wunderbau in einen
neuen Aspekt hinein. Manche Absicht klärte sich, überraschend gelöst --
mehr noch blieb vieldeutig, doch war er ohne Ungeduld. Zog wie auf
Wolken über diesen Kontinent dahin, unangreifbar in seinem Kraftfeld:
fern, stark und unberührt als ein Schauender.

Seit der Hosenrock-Episode schnitt er Dallmeyer. Schämte sich zu sehr
für ihn. Saß denn bei so einem kastenlosen, durch ewige Bastardierung
Entzüchteten keine einzige Hemmung, keine einzige Qualität mehr
generationenfest? Hatte man so einen Mischkerl allein, war er meist ganz
leicht besserem Niveau zugänglich, schon seiner affenartigen
Charakterlosigkeit wegen, mimte unter der Hypnose eines Vornehmeren
Verständnis ohne Heuchelei, um sich dann, bei der ersten Probe, fiel
Einzelverantwortung weg, der Masse: »dem Vieh ohne Großhirn« gleich zu
benehmen. Das erklärte dieser furchtbaren Vibrionen der Verpöbelung
Virulenz und leichte Übertragbarkeit auf scheinbar Immune. Immer waren
eben hier die wichtigsten Dinge einem schauerlichen Zufall, einem
schamlosen Ungefähr ausgeliefert. Heiratete man etwa eine Frau, die
einem gefiel, wünschte sich gleiche Kinder, krochen vielleicht
Wechselbälge aus ihr, nicht von Hexen in der Wiege, von üblen Tanten im
Mutterleib vertauscht, weil der Typus nicht feststand, die Frau selbst
nur ein freundlicher Zufall war, aus einem _qui pro quo_ gemischter
Akzidenz zusammengewürfelt.

Natürlich hatten sie wieder aus ihrer torkelnden Planlosigkeit eine
wissenschaftliche Theorie gemacht. Samossy versuchte ihm einmal so einen
Humbug mit dem Ahnenverlust einzureden: da das Individuum die Summe
aller Eigenschaften und Erfahrungen seiner sämtlichen Vorfahren sei,
bedeute jede Inzucht: jeder Vater und Mutter gemeinsame Ahne eine
Verminderung des möglichen Eigenschafts- und Erfahrungskomplexes:
Mensch. Je heterogener daher an Stamm, Rasse, Kaste, Blut, Heimat, die
Vorfahren, desto reicher die Nachkommen.

Da hatte er nicht mehr an sich zu halten vermocht:

»Mein Gott, was für ein Verköterungsschwindel! Auf Stoßkraft und
Richtkraft der Erbmassen kommt es doch an, auf Qualität und Intensität,
nicht auf einen möglichst hohen Kehrichthaufen von Anlagen und
Erfahrungen, die, wenn nicht gleichgerichtet wie Eisenfeilspäne im
magnetischen Feld, einander hemmen, schwächen, aufheben, und das
Endglied ist dann schließlich nichts als eine ganz volle Null. Bei euren
Pferden und Hunden wißt ihr doch recht gut, worauf es ankommt, wollt ihr
hohe Geldpreise gewinnen aus gezüchteter Form und Leistung. Höchstens,
daß fremdes Blut bei gleicher Kaste möglicherweise vielseitige und doch
gleichgerichtete Erbmassen ergibt.«

Samossy hatte langsam das hilflos verschrobene Schülergesicht bekommen,
wieherte dann wie erwachend manisch in der Fistel:

»Vorfahren, was Vorfahren! Der einzig vernünftige Fundort der Spezies
Mensch ist doch die Drehlade. In einem Findelhaus aufwachsen!« Dann
schadenfroh geduckt sein Unvermitteltes:

»Man muß vom Weibe loskommen.«

Horus gedachte Lizzi Beermanns, der Raeburn _girls_, Margots; ihrer
weihelos beschnupperten und doch versperrten Körper, jahrelang
saumseligen Reflektanten von trägen Müttern hingeködert:

»Eltern haben ist ja höchstwahrscheinlich ein Unglück,« bemerkte er,
»keine haben aber ganz bestimmt eins. Auch soll ja das Heim eine Art
Placenta für das geborene Kind bedeuten.«

Sagte es eigentlich vorbei an dem hohen Vierziger da, dem Kinderlosen;
dieser Frage Brennen wohl zwiefach Fernen. Hatte er überhaupt
Anverwandte? Wer stand ihm nahe? Wer war ihm Freund? Fachfeinde überall.
Blieb das Weibstück mit dem Kettenarmband sein einzig menschlicher
Verkehr? Vor Gargis Erscheinung wurde er linkisch, voll gereizten
Unbehagens. Wußte mit ihr so wenig anzufangen wie ein Mandrill mit einer
Kamee. Da frug Krause eines Tages aus kondolenzbeflissenen Mundwinkeln:

»Wie geht es Ihrem Vater?«

Samossy machte eine frivol hoffnungslose Geste:

»Von Tag zu Tag besser.«

Krause, mit verkniffenem Zwicker, bekundete Freude. Man habe Fälle
gesehen, wo Wassersucht jahrelang fast stationär geblieben ... Das
Geschäftsjubiläum würde also doch in der elterlichen Villa gefeiert. Und
Horus erfuhr, daß dieser Vater Gründer einer seit fünfzig Jahren
bestehenden Kattunfabrik und offenbar sehr wohlhabend war. Er gedachte
jenes Armschwunges zwischen Abort- und Küchengeruch: »wohlbestallter
Professor? Das ist der Stall, den ich mir leisten kann.«

Nun kam polternd und verlegen auch an ihn die Einladung zu dieser Feier
im Vaterhaus.

»Man hat dort schon so viel von Ihnen gehört« -- dann halb
entschuldigend: »nicht durch mich.«

Er lauerte, schülerhaft geniert, gelangweilt und wieder ängstlich um ein
Ja. Schlug, als er es hatte, sein zerfahrenes Gewieher an und empfahl
sich.

Der Mann war unberechenbar. Doch machte das den Verkehr nur ermüdender,
nicht reicher, ließ nie schöpferische Kontinuität der Stimmung sich
entwickeln, es sei denn in seinem engsten Fach.

                   *       *       *       *       *

Man stand leer herum in der großen Backsteinvilla. Wartete auf das
Jubiläumsessen.

Manchmal beklopfte ein zugereister Geschäftsfreund, geneigten Ohres, mit
dem Zeigefingerknöchel prüfend den bronzenen »Lauscher« in der Ecke auf
Metallstärke hin, oder versuchte Signaturen unter Ölbildern zu
entziffern. Niemand saß. Unverrückbare Fauteuilarrangements hinter
Tischen waren von vornherein dagegen, nur zwei Rollstühle an den
Salonenden, um die wechselnde Gruppen sich stauten, schienen besetzt.

In dem einen ragte ein riesiger Greis aus Stein und Wasser.

Die Beine zu Blöcken geschwollen, trugen flach auf den Knien violette
Hände, schwer wie Porphyr. Bis an die Hüften war er zu einem mit Wasser
gefüllten Sarkophag geschlossen. Darüber kämpfte das harte alte
Bauernherz zäh um jeden Zentimeter Leben, gegen das innere Ertrinken an.
Ganz oben, aus blutigem Blauauge troff schon immer ein wenig
Feuchtigkeit über, sickerte die fahlen Wangenfalten herab. Er biß in
seinen weißen Bart vor barbarischem Starrsinn: da sein, nur da sein.
Fuhr manchmal aus den schauerlichen Vorgängen in sich auf, zu
wahnwitziger Eitelkeit über die eigne Zähe. Sah allen der Reihe nach in
die Augen, trotzig, lauernd, wie ein erliegender Gladiator, im Gefühl
drohend gesenkter Daumen ringsum.

War er vor Lebenswut hellhörig geworden an den schweren Birnenohren?

Seine blutigen Blauaugen drohten leuchtend hinüber zu dem andern
Rollstuhl am Ende des Saales.

»Oh, er ist schon kalt bis zu den Knien,« schmunzelte die greise Frau
mit ruhiger Genugtuung Horus Elcho zu.

Ein goldnes Kettenarmband klirrte erledigend an der ganz verkrümmten
Hand. Der restliche Körper hing: ein gerunzelter Strick, an den Enden
mit Gicht verknotet, im Sessel. Hinter ihr stand ein erloschener Mensch
mit geduckten Augen: der zweite Sohn und nunmehr Inhaber der Fabrik. Ihm
schien auch die zerpatschte Frau daneben mit den drei kleinen
Kindern anzugehören. Das älteste, einen schweren Bleichkopf im
Phantasie-Matrosenkostüm aus Satin, hielt sie zwischen den Schenkeln
aufgepflanzt, memorierte angstvoll etwas Gereimtes mit ihm und es zupfte
an seinen Nagelwurzeln. Jetzt hatte es zu tief geschält, heimlich
wischte der blutende Finger über den weißen Seidenslips.

Nun trollte sich Oskar Samossy, fast ebenso verdonnert wie das satinene
Kind, hinter den Greis aus Stein und Wasser. Und beide Brüder schoben
die elterlichen Rollstühle an die Têten der Speisezimmertafel.

Drei Menus wurden gereicht -- nacheinander. Das erste wie es der Gründer
der Fabrik anfangs gehabt: dicke Suppe, Erbswurst, Käse. Dazu Bier. Beim
zweiten, dem 25jährigen Bestand entsprechend, erschien schon Fisch,
Kalbsbraten mit Salat und eine süße Speise. Dazu leichter Mosel. Das
dritte endlich zeigte voll und ganz, was man sich der heutigen Bilanz
entsprechend leisten konnte, durfte und sollte. Begann mit Austern und
wollte schier kein Ende nehmen an _primeurs_ und durablen Weinen. Vom
sechsten Gang mit Champagner aufwärts, stand immer jemand auf, der nicht
stehen konnte, und sprach, ohne sprechen zu können: etwas, das man sich
wohl würdig, witzig oder feierlich zu denken hatte. Manchmal wurde
dazwischen »hoch« geschrien, manchmal nur am Ende. Männer erhoben sich
dabei halb. Frauen saßen ganz da; schienen einzig und ausschließlich zum
Sitzvorgang geschaffen. Die Schwüle stieg. Eine Dame lüftete ihr
Kollier.

»Perlen machen so heiß, besonders echte.«

Eben schloß ein Stehender:

»Nichts lobenswerter am Manne als recht reinliche Triebfedern.«

Über die Enden des Beifalls weg schnatterte es aus einer arroganten
kleinen Person laut in ihren Tischherrn hinein:

»Und denn is mal so'n schmieriger kleiner Jude gekommen und hat gefragt,
ob ich ihn heiraten will. Waschen Sie sich erst, hab' ich ihm gesagt.
Na, sehen Sie, _dort_ sitzt er -- das ist mein Mann.«

Der riesige Greis aus Stein und Wasser war unterdessen wieder ganz in
die schauerlichen Vorgänge seines Inneren versunken, wies mit Grauen
alles Getränk weit ab, würgte nur ein wenig Kaviar auf Zwieback
hinunter, lauerte ihm schweigend nach. Langsam stieg Triumph in den
blutigen Blaublick. Dann aber trieb die aufdrängende Flüssigkeitssäule
das Kaviarbrötchen aus dem erstorbenen Magen in den Schlund zurück.
Triumph im Aug oben zerfiel. Der Hausarzt näherte sich rasch -- eben
jener Mann, den die arrogante junge Person zu ihrem Gatten reduziert --
öffnete ihm rasch das Frackhemd, bohrte eine Spritze mit irgend etwas:
Kampfer oder Theobromin dem Aufstöhnenden unter die lederzähe Haut.
Dunst, Schnaps und Schwatz hatten den Vorgang nahezu vernebelt.

Eben stand Dallmeyer da, spann aus seinem Bart heraus einen
Phrasenstrang über das dreifache Festessen hin: wie der verehrte
Gastgeber hier, erfolgreicher Mann der Arbeit, Leuchte modernen
Handelsgeistes, unentwegt die Fahne des Idealismus hochgehalten, und
wiewohl selbst geistig und körperlich noch ungebrochen -- als
zärtlichster Vater dem einen Sohn den Fruchtgenuß seiner Lebensarbeit
überlassen: dem Nachfolger solcherart in selbstloser Weise ein frei
fröhliches Schaffen aus dem Vollen gönnend, seinen Erstgeborenen
hinwiederum auf das Großzügigste der hehren Forschung geweiht habe,
gleichsam mit dem Öl seiner Bilanzen das reine Licht der Wissenschaft
speisend. Und Dallmeyer schloß mit einem »Hoch« auf seinen genialen
Kollegen und der Hoffnung, daß dessen epochaler Bedeutung -- in engstem
Kreise längst neidlos anerkannt -- endlich auch offiziell die verdiente
Sanktion durch ein Ordinariat und Aufnahme in die geweihten Hallen der
Akademie zuteil werden möge.

Samossy sah ihn an und er verschluckte sich.

Der greise Riese war unterdessen an der Injektion aufgelebt, stieg aus
seinen Gebresten wieder empor, diesmal in eine Art erzieherischen
Tropenkollers. Schüttelte herrisch das Haupt bei der Wendung vom
»Fruchtgenuß« und »Gönnen aus dem Vollen«:

»Sind froh, wenn sie trocken Brot haben.«

Er sah gerührt über die eigne Härte auf die Familie seines Nachfolgers,
wie feindliche Erwachsene auf ein gedemütigtes Kind blicken. Und dann
hub dieser Memnonsblock auf einmal an in greisenhafter Geschwätzigkeit
zu tönen:

»Ja, der Idealismus« -- er konnte nur gradaus sprechen, doch galt es
wohl Horus Elcho, dem exotischen Ehrengast an seiner Seite -- »und dann
immer möglichst billig kaufen und teuer verkaufen, das habe er den
Jungens von früh gepredigt. Aber der Idealismus, der sei ihnen direkt
eingebläut worden, fast von der Wiege an. Schon im vierten Jahr habe der
Oskar die längsten Schillerschen Gedichte auswendig heruntersagen
müssen, wo es besonders edel zuging: die Bürgschaft, den Drachenkampf,
den Taucher. Ein einziges Steckenbleiben und er habe ihn jämmerlich
durchgehauen.

»Das Lied an die Freude, das konnte er sich lang halt gar nicht merken.«
Der Greis lebte in Erinnerungen auf.

»Da durfte er schon gar keine Hosen mehr dabei anhaben, drei spanische
Rohre sind für dieses einzige Gedicht draufgegangen. Mit fünf Jahren
konnte er dann auch schon die ganze Glocke. Eine vorzügliche Schulung
fürs Gedächtnis nebenbei, weil ja der Oskar ein berühmter Gelehrter
werden sollte, so habe er es schon bei der Geburt bestimmt. Leider sei
ja nur Mathematik draus geworden, darauf gebe er nicht viel, das
entziehe sich seiner Kontrolle. Chemie, große Erfindungen wären besser
gewesen. Philologie und so, das habe er von vornherein verboten.« Der
Greis hielt nichts von klassischer Bildung:

»Siebzig-Einundsiebzig war doch viel blutiger,« sagte er mit Tränen des
Stolzes im Aug.

»Wozu Griechen und Römer, wozu immer noch diese Lappalien bei Homer
lesen, das kann man ja gar nicht vergleichen mit unsern modernen
Schlachten.«

Zu Ende des dritten Menus wurde das satinene Kind vor den Großvater
aufgestellt, reichte linkisch eine Rolle hin, die in zackichte
Papierspitzen auslief: Glückwunsch stand vorn in verzitterter,
übergroßer Schülerkalligraphie.

»Gradstehen,« flüsterte die zerpatschte Frau.

Nun begann es, Nagelwurzeln zupfend, den Hymnus: »An die Freude«
aufzusagen. Angst rann ihm die Beine hinab unter dem blaublutigen
Tyrannenblick des Alten. Einmal stotterte es, stockte ganz. Gierige
Härte trat lauernd in das alte Steingesicht dort oben, gleichzeitig hob
drüben die greise Gattin im Rollstuhl ihren Krückstock, als wolle sie
ihn dem Manne hinüberreichen, dabei klirrte das goldne Kettenarmband,
und sie schob es die ganz vergichtete Hand auf und ab. Es war nur ein
Augenblick gewesen, wie aus uralter Gewohnheit heraus. Dann schrak sie
zur Wirklichkeit zurück: ein Enkel -- große Gesellschaft! Auch ratschte
das satinene Kind schon wieder weiter. Horus aber hatte diese Sekunde
lang, inmitten der Tafel zwischen den Rollstühlen, Oskar Samossys
Gesicht geschaut: das Gleiche wie damals, als Schillers Name zum ersten
Mal zufällig fiel: ein ganz kindischer Knoten hilflos diabolischen
Hasses und doch vager Süchtigkeit voll.

Es war entsetzlich. Schamlos und beschämend. Der Goldäugige ließ eine
Gabel fallen, bückte sich weg, tauchte fort aus dem Augenblick, bis die
Gesichter oben wieder neu geworden waren. Hatte begriffen.

Gleich nach aufgehobener Tafel wollte er gehen. Im Rauchzimmer hielt ihn
Dallmeyer an, vor öliger Schnapssüße hemmungslos:

»Was hat der alte Gauner gemurmelt, wie ich das mit dem >zärtlichsten
Vater< und >Schöpfen aus dem Vollen< gesagt habe, Sie saßen ja neben
ihm?«

»Etwas recht Unverständliches. Klang wie: >sind froh, wenn sie trocken
Brot haben<.«

Dallmeyer quetschte die Importen im Kistchen der Reihe nach wählerisch
durch:

»Recht verständlich für den Eingeweihten, Verehrtester. Der Schnorrer
von Sohn hat wirklich nicht Brot auf Hosen. Die Butter vom Brot hat sich
der Alte selber reserviert; ihm das Inventar viel zu teuer angehängt,
vorher fast das ganze Betriebskapital aus dem Geschäft herausgezogen,
schließlich sich noch ein skandalös hohes Fixum jährlich ausbedungen, so
daß der Nachfolger seit Übernahme der Fabrik abhängiger von ihm ist als
je zuvor. Ab und zu, wenn er ihn die Kinder durchhauen läßt, darf er
sich für sechs Hemden Kattun aus dem eignen Betrieb nehmen.«

»Warum ist der Sohn auf solche Bedingungen eingegangen?«

»Weil er ihn erst ein Leben lang mit dieser Nachfolgerschaft
hingehalten, ihn verhindert hat, sich rechtzeitig eine andre Existenz zu
gründen. Soll er jetzt mit fünfundvierzig und drei kleinen Kindern in
der Fremde von vorn anfangen? Überdies droht dann noch Enterbung.
Schließlich hat er sich gedacht: ein jährliches Fixum bei _der_
Wassersucht? Warum nicht? Aber das alte Luder ist ja zählebig wie ein
Krokodil.

Den meschuggenen Oskar hat er wieder anders am Hosenbund. Nährte in ihm
von früh auf die Illusion, der väterliche Wohlstand gestatte es ihm,
sich ohne Rücksicht auf den Mammon einer reinen Gelehrtenlaufbahn zu
widmen, die ja auch der Ehrsucht des Alten schmeichelt. Jetzt läßt er
ihn täglich seine Abhängigkeit fühlen, gibt ihm Taschengeld wie einem
Primaner. Dabei -- haben Sie bemerkt -- grüßen sich die Brüder kaum,
weil der Alte den einen immer glauben macht, er setze ihn auf den
Pflichtteil zugunsten des andern. Famose Deckung übrigens, dieser
Enterbungsschwindel für unsern Primzahler, um von seinem Frauenzimmer
nicht zum Altar geschleppt zu werden. Die hütet sich jetzt, ehe der Sarg
vom Alten nicht zweimal abgesperrt und der Schlüssel an ihrem
Kettenarmband hängt -- neben meinem verehrten Kollegen von der vierten
Dimension, der schon lang dort zappelt. Betamte Goite.«

Dallmeyer war stolz auf jeden neuen Jargonausdruck, den niemand
verstand.

»Warum handelt dieser Greis eigentlich so bestialisch an seinen
Kindern?«

»Bestialisch? Der hält das für Ethik, Reckentum und Idealismus, und sich
für ein musterhaftes Familienoberhaupt alten Schlages. Edelpatriarch:
vor Weisheit streng, schirmt in verrotteten Zeitläuften Zucht und Sitte.
Rauhe Schale, nobler Kern ... eh schon wissen. Jede Schäbigkeit
geschieht aus Pflichtgefühl, denn er ist noch eitler als er geizig ist;
Bauernklotz mit Schillerphrasen. Immer abwechselnd stolz und neidisch,
daß es seine Söhne besser haben sollen als er.«

Dallmeyer leerte noch einen Likör und steckte eine frische Importe an.
Horus staunte über solch ungewohnten Geist. Was Dallmeyer sprach, war
immer teils klug, teils albern: klug was er über andre, albern was er
selber meinte.

Man verabschiedete sich vom Herrn des Hauses. Dallmeyer wieder ganz
Biederkeit, hielt eine lockichte Rede, schloß mit der Hoffnung, man
werde sich in diesen gastlichen Räumen noch zum seltenen Fest der
diamantenen Hochzeit treffen.

Der Greis aus Stein und Wasser schüttelte stiller Genugtuung voll das
Haupt, dann mit erledigender Geste hinüber zu der Greisin zwischen
Gichtknoten:

»Oh sie ist schon kalt bis zu den Knien.«

Oben troff wieder ein wenig Feuchtigkeit aus dem Auge über, sickerte die
fahlen Wangenfalten hinab.

Es war das Letzte, was Horus Elcho von ihm sah. Eine Woche später schoß
Oskar Samossy eines Abends aus der Telephonzelle des Cafés. Schrie auf
nach einem Auto, er, der fanatische Renner.

Wie damals auf der Straße frug Krause:

»Wie geht es Ihrem Vater?«

»Mein Vater stirbt.« Dann schlotternd: »Er darf nicht sterben, sonst bin
ich verloren.«

Nichts glich der frivol hoffnungslosen Geste damals: »Von Tag zu Tag
besser.«

Am nächsten Morgen fuhren Elchos nach England zu Sir Osmond und Lady
Cadogan.

                   *       *       *       *       *

Sie gingen im milchblauen englischen Juli auf den Waldwiesen des
Hydepark. Die milde Riesenaue gepflegter Freiheit um sie schien angenehm
leer zu blühen, und barg noch vielerlei Leben. Ab und zu am Horizont,
auf einem Sessel, steht ein Herr mit verdorrtem Zylinder und redet, um
ihn die Scheibe der Horcher wie das Blatt um den Lotos. Einer erläutert
das Gesundbeten -- dem andern dünkt es im Patentamt faul. Carson läßt
sich zu oft photographieren, und regiert wird man schon miserabel.
Unbelästigt aber weiden die Schafe ringsum, und zwischendurch führt die
Hundheit ein ganz glückseliges Leben für sich. Jeder darf sprechen.
Keiner muß zuhören. Niemand ist an der Leine. Nicht einmal der Mensch.
Vor dem Schilderhaus steht, siegellackrot, ein Mann der Garde. Das
prachtvoll überflüssige Geschöpf trägt einen ausgestopften Bison auf dem
Kopf, eine Sperrkette vor dem Gesicht, Edelmetall an der Leber und
starrt von Gerät, vermutlich erbeutet in der Schlacht bei Hastings. Der
praktisch Denkende hat das Gefühl: man kann den Mann ruhig mit einem
Taschenmesser langsam abschneiden, er ist ganz wehrlos vor
Uniformierung. Aber schade drum.

Plötzlich ließ es Gargi wie Schwalbenflügel über ihre Augen stürzen, sah
zur Seite und begann zu laufen ... Er lachte:

»Keine Angst. Gar nicht so arg, mein Nervifein!«

Es waren die harmlosen vier dorischen Säulen am _Serpentine lake_. Sie
hatte sich gewöhnt, drohten irgendwo Säulen, gar nicht erst hinsehen,
rasch die Wimpern gesenkt und laufen. Denn wie an fein und freistehender
Persönlichkeit geringer Fehl bereits schwerer erträglich ist, körperlich
betrübt, so ließ Gestörtes an diesen empfindlichsten Baugliedern: den
Säulen -- eine zu tief sitzende Entasis etwa -- ihr schon das Blut im
Becken stocken. Beiläufig hatten sie erfahren, daß, um dieses Resultat
zu erreichen, auf jeder Akademie vier Semester lang die _moduli_ aller
Säulenordnungen durchzuzeichnen, obligatorisch war. Nun, diese da
wirkten wenigstens nicht aggressiv. Das meiste schien ja relativ
harmloser hier. Nie so schlecht, wie das schlechteste in Paris, nie so
gut wie bestes in Deutschland. Entweder die Architekten hatten zu keiner
Zeit ganz übel gehaust oder ein klimatischer Überzug: dämpfende
Berußung, verschmolz brutales Gebäu, beließ seinem Detail die Wohltat
des Zweifels, seinem Kontur dauernd die Vorteile der Dämmerung, indes
der Beschauer sich animalisch der Sonne freute und der vielen
Wiesenzungen, die in der Stadt herumleckten, mit Schafen, Teichen und
Blumen obendrauf.

Kurz, man konnte wieder ein wenig um sich schauen, wenn auch lieber
ungenau.

»_At His Majesties_« -- in Coventgarden -- im »Globe« saßen sie in einem
Parkett von Leuten, die glichen Göttern, nein -- Gipsabgüssen von
Göttern, saßen an festlichen Tafeln neben der erfreulich lotrecht
stilisierten Dame des Hauses, wenn sie auf den Schwingen ihrer Anmut
über den Abgrund ihrer Interesselosigkeit hinwegglitt.

In Wroxton Abbey, Sir Osmonds Landsitz, hätten sie sich, über ein
_weekend_, beinahe in einen entzückenden Jüngling verliebt, der an Höhe,
Schlanke, Weiße dem »Elf von einem großen Stern« ganz leise glich. Die
kühnen Beine in rostfarbenen _breeches_, blond gegen die feurigen Tulpen
ringsum, schritt er die Terrasse hinab, auf der Eichkätzchen von der
Farbe seines _homespun_ spielten. Sah in die jubelnde Frühe hinauf, über
die zwitschernden Büsche der Wieseninsel hin und sagte ... ja was sagte
da dieser vornehme Ephebe, angestrahlt von der Glorie der Welt, wie
feierte er das Fest des Daseins? Was empfand er? Sie horchten gespannt!
Er sagte:

»_What a fine day, lets go out and kill something_«[1].

   [1] Welch herrlicher Tag, gehen wir etwas umbringen.

Andern Morgens: dem Sonntag dozierte ein schwarzrockiger Engländer aus
einem dicken schwarzen Buch:

»Eure Furcht und Schrecken sei über alle Tiere auf Erden und über alle
Vögel über dem Himmel.«

An diesem Morgen hatte man sich zwei Stunden lang in ein kellerkaltes
Backsteingehäuse von zweckloser Nüchternheit gesetzt. Kern der
fanatischen und eisigen Vorgänge dort, war ein für seinen Gliederbau
fremdgekleideter Engländer, der zweitausend Jahr alte obskure
Familienangelegenheiten einer kleinen semitischen Horde zu denen der
Menschheit zu machen vorgab. Er donnerte Gebote aus seinem schwarzen
Buch in die Anwesenden hinein, dessen ungeschlachten Ton Horus sofort
wiedererkannte. Also auch hier? Wie kam dieser besseren Kreisen
Angehörige dazu, auf einmal vor Damen so zu reden:

»Laß dich nicht gelüsten deines Nächsten Weibes ... noch seines Ochsen,
noch seines Esels, noch alles was dein Nächster hat.«

Gargi machte eine Gebärde, sich zu entfernen, bittend rührte er an ihr
Kleid. Sah sich um. Keine Dame wahrte Selbstachtung: ging demonstrativ.
Lady Eveline allerdings schien eingenickt; bis drei Uhr früh waren zwei
gewöhnliche Spirits und ein Boddhisatwa in ihrem Tisch gesessen. Auch
andre mochten nicht ganz klaren Sinnes sein, der Tangonacht wegen.
Dieser, seinem Körperbau so fremdgekleidete Angelsachse dort oben aber
hatte doch sicher irgendeine humanistische Schule besucht, vielleicht
sogar die Universität. Dennoch sprach er vom Privatfetischismus jener
fernen Barbarentributs wie dazugehörig. Wußte offenbar jeden Tag genau,
was der »Herr« wollte und was er nicht wollte. Behauptete, daß die Tiere
keine Seele hätten, wandte sich gegen den Götzendienst der »Heiden«, der
dem Herrn ein Gräuel sei, und empfahl seinen Zuhörern, rastlos
Missionare auszurüsten, um ihre Seelen vor der ewigen Verdammnis zu
retten. Also immer noch die alte Arroganz aus Ignoranz! Vor dieser
Verdammnis aber schienen nicht einmal jene ganz sicher, die Vater und
Sohn in den Gebäuden mit den geschraubten Säulen dienten; nur in den
Backsteingehäusen mit gar nichts drin war man, nach des Schwätzenden
Versicherung, vor der Hölle so gut wie geborgen. Sein Gesicht: dieses
starkknochige, nüchtern anständige _matter of fact_ Gesicht, bekam einen
unbeschreiblichen Ausdruck innen harter, außen geölter Verschrobenheit.

Lieder, die alle mitsangen, waren inhaltlich ungefähr der Predigt
gleich. Und diese erfreulich weltgültig lebenden Menschen, an
Wochentagen von allen Kulturen der Erde umspült, leierten nun
zweitausend Jahre alten jüdischen, von Juden doch selbst verschmähten
Nonsens nach.

Als alles vorbei war, schienen sie unsäglich befriedigt, sich zwei
Stunden lang unbehaglich gefühlt zu haben, vermieden aber, über das
Vorgefallene zu sprechen und so sprach auch er nicht über diesen, der
restlichen Lebensführung fremden Zwischenfall. Vielleicht war es heuer
wieder Mode, gleich dem Humpelrock oder Gecco Pintaccio, von dessen
flammichten Skeletten unter braunen Teetassenaugen Dr. Hafis die ganze
Saison in Konferenzen himmelte, als sei alle Kunst vor und nachher
Affenschande. War heuer vielleicht sogar Polizeiverordnung, dieser
Sonntagsvormittagsbrauch? Hatte Dallmeyer nicht etwas von Konfession und
Karriere gesagt? Diese Europäer legten sich ja unbegreifliche Zwänge
auf. Durften sie in einer Sommernacht nicht unter Sternen schlafen,
warum sollten sie es nicht einmal in der Woche, vormittag von neun bis
elf in einem kalten Backsteingehäuse müssen? In Piccadilly war er Hazel
Raeburn begegnet, einen verkehrten Brotkorb mit Bindbändern unterm Kinn,
die große Trommel schlagend und in einem Zug Gleichgekleideter durch
London marschierend. Alle gellten im Falsett etwas hinaus. Verse:

   »O Herre nimm mich Hund beim Ohr
   Wirf mir den Gnadenknochen vor
   Und schmeiß mich Sündenlümmel
   In deinen Freudenhimmel.«

Hazel hatte erklärt, dies spreche am reinsten zu Herz und Seele des
niedren Volkes und ziehe es aus stumpfer Verworfenheit ans Licht. Damen
der ersten Gesellschaft seien bei der Heilsarmee, und nun ginge sie
definitiv anders gekleidet als Gwen. Hier geschah es also eines
Blusenschnittes wegen. Kompliziert aber harmlos.

Sonntagnachmittag beim _high tea_ in Wroxton Abbey warf Sir Osmond einen
chokierten Blick aus der »_Morning post_«:

»Furchtbar die Enthüllungen im Parlament über Deutsch-Ostafrika. Diese
Greuel an wehrlosen Eingeborenen.«

Man sah einander voll Unwillen tief und edel in die Augen.

»Sind denn Kupferminen gefunden worden?« --

Dr. Hafis, der einzige Deutsche, betrachtete interessiert seine Nägel.
»Oder Silber? Richtig, _beg your pardon_, Kupfer, das war ja bei den
Kongogreueln.«

»_I do not quite grasp_ ... ich verstehe nicht ganz.« Sir Osmond
versteifte sich rosenfarben. Hafis gähnte ein wenig.

»Nun, ich meine das seit fünf Jahrhunderten Übliche: gehört das Land mit
dem Kupfer noch Eingebornen, dann erwacht das christlich-angelsächsische
Gewissen, und ihr schickt so lange Missionare hin, um ihre Seelen zu
retten, bis die armen _natives_ sich schließlich Luft machen; laßt auf
diese Art die Greuel an den Missionaren begehen und steckt, um die
Missionare zu schützen, das Land mit dem Kupfer ein. Oder das Land mit
dem Kupfer ist schon früher von andern Weißen gestohlen worden, dann
laßt ihr wieder von diesen Andern die Greuel an den Eingebornen begehen
und steckt diesmal das Land mit dem Kupfer aus Gewissenhaftigkeit ein,
um die Eingeborenen zu schützen. Als es aber Gold war, da mußten
dreißigtausend wehrlose Burenfrauen und Kinder dran glauben -- an euer
Gewissen.«

»In Südafrika ist auch die Blüte Englands gefallen.«

»Ohne jedoch die rechtmäßigen Besitzer des Landes besiegen zu können. Da
machtet ihr sie mürbe, indem ihr die Frauen und Kinder von den Farmen
fingt, in verseuchte Konzentrationslager pferchtet und die Totenlisten
jeden Tag den Gegnern in die Schützengräben schicktet. Nach dem
dreißigsten Tausend gaben's dann die Buren auf, gegen ein so mächtiges
Gewissen anzukämpfen.«

Mit allen war jetzt eine wunderbare Wandlung vorgegangen. Sir Osmond sah
direkt verklärt aus:

»Wir hatten eben die moralische und religiöse Pflicht, uns der
verlassenen Frauen und Kinder auf den Farmen anzunehmen. Dort mit der
schwarzen Dienerschaft allein, wie leicht hätten Ungehörigkeiten -- ja
unsittliche Attentate vorkommen können. Darum wollte sie die englische
Regierung in ihrem eignen Schutz wissen.«

»Und das gründlich -- im Grab.«

Dann aber gab Hafis es auf. Da war nicht anzukommen gegen die Pathologie
tugendsamer Litanei ringsum. Alle glichen mit Eins dem Schwarzrockigen
am Morgen. Auch Sir Osmonds anständiges _matter of fact_ Gesicht hatte
den gleichen, unbeschreiblichen Ausdruck innen harter, außen öliger
Verschrobenheit angenommen. Diese Leute waren unbesiegbar durch eine
Art, statt rein und gradaus zu lügen, die Wahrheit aus ihrem
ursprünglichen Bett unmerklich in Nebenkanäle abzulenken und so
versickern zu lassen.

Die kurze Verzauberung war bereits abgefallen. Auf der Rückfahrt nach
London, vorbei an den Kilometern von Lebertran- und Liverpill-Annoncen,
die an Pfählen aus dem Grasigen stachen, sah er schon wieder. Auch die
seelische Hartleibigkeit dieser Rasse. Ging durch die männlichen
Stadtteile, deren Läden Hosenträger beherrschen und der klägliche
Kragenknopf: alles dem üblen Mittelstadium der Bekleidung Dienende, sah,
wie hölzern die hellbehaarten Hände dieser Männer waren, wie schwer die
Kiefer mit stumpfen Zungen. Gut gepflegt wuchs ihr Gebein, abseits vom
Geist. Schienen zu riesigen, über die Welt reichenden Verbänden:
_football_, _cricket_, _hockey_ geschlossen, mit dem fanatischen Ziel,
ausschließlich das falsche Körperende zu entwickeln.

Durch die weiblichen Stadtteile, voll allen Narrenkrams der Welt, liefen
Streifen wahrer Eleganz, schmal wie _bondstreet_. Auf ihnen sah er Damen
den Autos entsteigen, schon auf dem Trittbrett, beim ersten Schritt, die
Maschen ihrer Seidenstrümpfe zu weißen Leitern reißen, und wie sie
gingen, neue kaufen, erneuend ihren mühevollen Liebreiz ohne Rast, in
edlem Irrsinn. Sah auch, wie schmal der Streifen ihrer Anmut war.
Gipsabgüsse der Vornehmheit auch sie, nicht genial variabel aus
innersten Sicherungen heraus. Damen, mehr durch ihr Lassen, als ihr Tun.
Feine Röhren weißen Zimtes, duftend ohne Saft. Die breiten Klassen,
stolz darauf, urteilslos zu sein, waren ja reich genug, sich nur
Weltgültiges kommen zu lassen. Da gab's keine Blamage. Indische Dichter
als Nobelpreisträger, alles, was große goldne Medaillen hatte: Gelehrte,
Meisterboxer, Poloponies. Applaudierten frenetisch fremdartigen
Wellenzügen rings um das harte Ohr, wenn sie berühmten Dirigenten unter
den beschwörenden Armen aufrauschten. Vor diesem tauben Gejubel konnte
Hafis in uferlose Wut geraten, zitierte dann mit Vorliebe Carlyle, der
gesagt haben sollte, wie im großen ganzen das englische Publikum mit
seiner ansteckenden Begeisterung ihn an nichts so sehr erinnere, wie an
die Cadaraner Säue:

»Zuerst wühlen und grunzen sie ruhig und suchen nach Erdnüssen oder
andrer Nahrung zu Unterhalt und Sättigung. Dann fährt plötzlich der
Teufel in sie, werden unruhig, jagen davon und stürzen in einen Abgrund
von Raserei, Verwirrung und bodenloser Verstörtheit.« --

Nein, für ihren alten Reichtum waren sie nicht kultiviert genug. Nichts
von überwältigender Vollendung. Kein Edelsitz, trotz seiner gehäuften
Werte, den ein unbeugsamer Geschmack, glühend bis ins Letzte, ans Licht
getrieben. Und doch erschien ihm die Anglomanie als eine
Pubertätserscheinung des besseren Continentalen begreiflich. Haderte er
von nun ab mit der weißen Rasse, immer wieder wurde sie unmerklich zu
diesen hier, denn nur sie waren annähernd weiß und rassig, nur in ihnen
war Europäertum zu etwas wie Gestalt geworden, etwas, woran man sich
wenigstens halten konnte, war es einem nicht recht.

Auf dem Horst dieser Kalkklippen hatte sich immerhin ein Typus gebildet
oder -- erhalten, und waren seine Schwingen auch unbegreiflich hölzern,
leblos und unbefiedert, hoben sie doch auf ihrer Kraft wie von selbst
sogar die unbeträchtliche Persönlichkeit hoch über die eigene Grenze
hinaus, wie aus seinem Gestrüpp dem Zaunkönig auf einem tragenden Adler
der Aufflug in die Himmel gelingt.

Ende September traf in Wroxton Abbey ein schiefes Gekritzel ein: Samossy
meldete der Eltern Tod, erbat sich Horus Elcho zum Trauzeugen. Nannte
das Datum. Kein Name. Kein Wort weiter.

                   *       *       *       *       *

Er kam am Abend vor der Hochzeit an. Stieg wieder endlos die idiotisch
konstruierte Treppe zur alten Wohnung hinauf. Fand sie halb ausgeräumt.
Ein Bett auf Bücherkisten improvisiert. Ein Lavoir voller Kragenknöpfe,
die eiserne Kasse offen und mit Schmutzwäsche angestopft. Am
Schreibtisch, dem einzigen restlichen Möbel, Oskar Samossy selbst. Rings
im Kranz standen, wie Spielzeughunde, Schemel voll Schriften und an
Leinen, um nach Bedarf herangeschlittelt zu werden.

In der Luft eine wilde Stille. Hindurch schnitt der großeckige Arm.
Dann, ohne aufzusehen, in einem neuen tieferen entgifteten Ton:

»Bis zur dreimillionsten Primzahl hat es gestimmt. Nach der
Dreimillionundersten nicht mehr.«

Der Angeredete verbeugte sich in seiner Stimme: ohne Mitgefühl oder
jovialen Protest.

»Ihr Gesetz wurde empirisch gefunden -- seine Allgemeingültigkeit haben
Sie selbst ja nie behauptet. Die neue Grenze innerhalb der es Geltung
hat, präzisiert nur, mindert nicht seinen Wert. Wer hat es übrigens über
die dreimillionste Primzahl hinaus verfolgt?«

»Ich selbst. Immer suchte ich nach einer deduktiven Fassung. Seine
schäbige Empirie ließ mir nie Ruhe. Nun erfuhr ich, dieser Arbeit sei --
als erster -- der Preis aus der neuen >Samossy<-Stiftung zugedacht --
Vater hat nämlich meinen Bruder und mich auf den Pflichtteil gesetzt,
den Stamm seines Vermögens aus schwachsinniger Eitelkeit der Akademie
der Wissenschaft vermacht, damit eine Schenkung seinen Namen trage, --
uns bleibt fast nur das Haus. Da packte mich wieder das Mißtrauen. Ich
prüfte über die dreimillionste Primzahl hinaus und habe das vernichtende
Resultat sofort rechtzeitig publiziert.«

Nun verneigte sich der Hörer auch im Körper:

»Und wer wird jetzt der erste Preisträger sein?«

»Dallmeyer für seine >Periodizität im Organischen<. Er hat Margrinchen
Mehmke geheiratet. Ist jetzt korrespondierendes Mitglied der Akademie.«

Die neue Stimme blieb tief und entgiftet.

»Es macht nichts -- nichts macht mehr etwas. Ich habe zeither ein neues
Gesetz gefunden: das Endgültige. Aus ihm aber folgt ...«

Und nun verließ er jene vage und lückenhafte Sprache, die zum Feilschen,
Rechtsprechen, Dichten ausreicht, begann in der geheimen Zauberzunge aus
Phantastik und Präzision zu reden, »in der das Buch der Natur abgefaßt
ist«.

Nach Stunden kehrten sie wieder. Noch durchwellt von dem pausenlosen
Blitz höchster Anspannung, trug Horus in sich belichtet alle
Verzweigungen dieses Geisterbaus an den Grenzen des Faßbaren. Einen
Augenblick lang schien ihm daneben alle Kunst, Musik -- selbst das
Schreiben der Neunten Symphonie hübsche, doch recht unerhebliche
Beschäftigung. So entrückt lag er in der klaren Brunst des Geistes.

Schwieg lange. Schwieg sich wieder zurück zur Welt: der empfundenen
Zahl: der tönenden, strahlenden, geschmeckten, allumarmten Zahl. Sagte
in der Leutesprache:

»So ist durch Sie Minkovskys berühmtes Wort erfüllt: >Die Geringachtung
der reinen Zahlentheorie wird aufhören, wenn man erkannt haben wird, daß
zum Beispiel chemische Eigenschaften mit Teilbarkeitseigenschaften
ganzer Zahlen zusammenhängen: der Schmelzpunkt eines Körpers von
Zahlenwerten abhängt.< Dank Ihnen ordnet sich uns das dreifache Reich
der wirren Dinge nach unerhört kühner Einsicht neu: je nachdem der
>spielende Gott< aus seinem Würfelbecher >grad< oder >ungrad< wirft,
wird eine andre Natur.«

Samossy lächelte:

»Die Ägypter meinten, die Genien der Welt wären mit Hilfe der magischen
Zahlen des Pythagoras imstande, einander anzuziehen: durch mannigfaltige
Kategorien von Weltketten. Vielleicht ist mein Primzahlengesetz solch
eine Weltkette aus magischen Zahlkonstellationen.«

Sie sprachen und schwiegen. Die Stimmung dieser ganzen Nacht war von
einer außerordentlichen und zarten Schönheit, die auf der Brücke
gegenseitiger Ehrerbietung hin und wieder ging, geweiht mit vollkommener
Weihung.

Das Fletschende des durchgegangenen Kleppers: »aller Starrsinnigkeit
Freund, glasaugig und rauh um die Ohren«, das war alles von Samossy wie
abgefallen ... Des Plato edles Roß: die erinnernd sich neubefiedernde
Seele allein stieg und stieg, auf dem Rücken der Himmel stehend und zu
dem wahrhaft Seienden das Haupt emporgerichtet.

Dann schloß Samossy einen Augenblick die Lider, lehnte sich vor und bat,
die Stirn entspannt in ungewohnter Milde:

»Erzählen Sie mir von dem Kristallei, in dem Sie ausgebrütet wurden.«

Und Horus erzählte: vom Haus der Elchos. Von Menschen, Tieren und Liebe
... Und zum Dank für diese Nacht manches von Erasmussens letzten
Arbeiten. Sollte er ihm auch von dem Führer sprechen, der nicht stets im
Fleische war? Von dem Aschenauge, unter dessen Blick sein Wesen
rhythmisch wechselnd eintreten durfte in immer neue schwingende Zahlen?
Ihm andeuten, was es hieß, im Leib dieses Schwingenden sein und durch
die Farben gehen? Doch nein, da war eine Grenze.

Das Licht wurde fad. Jene Schemel voller Schriften ringsum, die
Spielzeughunden glichen, ließen auf einmal in der Dämmerung ihre Leinen
hangen, wie über etwas ertappt.

Morgen. Wirklich am selben Morgen noch würde sich dieser Hirnstern in
eine so schmutzige, unwürdige Hand gefangen geben. War diesem Gelehrten
nirgends gelehrt worden, auf eine edle und mannigfaltige Weise nicht nur
zu denken, auch zu lieben? Ja, ein Hirnstern. An dem hing nun der übrige
Geschmackskrüppel: der Sinnenkrüppel.

Nur das Gehirn war ihm davongewachsen.

Er selbst blieb zurück, eingeschrumpft, eingegeilt zum Fetischisten, den
Seim des Glücks an einziger armer Ekelstelle suchend, mit kläglich
verknotetem Gesicht, voll Scham, Sucht und Wut, statt mit des mächtigen
Eros ewigem Antlitz.

Zögernd stand der Gast auf.

»Bleibt es dabei -- heute?«

»Ja, ja, um zehn.«

Das Wiehern in der Fistel kam Samossy wie ein Schluchzen wieder. Dann
hämisch geheimnisvoll und jetzt so unsäglich deplacirt:

»Man muß vom Weibe loskommen.«

Gleich darauf mit ruhigen Augen:

»Aber mein Primzahlengesetz ist gefunden.«

»Soll ich Sie abholen? Treffen wir uns hier oben?«

»Nein -- nein -- gleich unten im Hof.«

Um zehn Uhr kam er vorgefahren. Sah es sich aufregen, gegen den Hof
laufen, dort eine Linse bilden. Auf dem Pflaster lag Samossy
zerschmettert. Der Hirnstern freiwillig aus seiner Schale geschlagen zu
einem Brei aus Blut und Kot. Das Gesicht, weißäugig, glich auf einmal
jenem zu Schiefgalopp gepeitschten Gaul in Marseille: dem armen
geschändeten Gott.

Ringsum mißbilligte man die Tat. Mit untrüglichem Instinkt nahm das Volk
gegen die Größe Partei. Lüsterne drängten, der Braut zu telephonieren:
in die Villa vor der Stadt oder aufs Standesamt? Die Portiersgattin
wiegte den grimmen Birnenbauch:

»Soa stattliche Person, ihre ganzen guten Jahr bei dem großkopfatn
Narr'n falirn und jetzt war dös for nix gwen. A soa ganz Ausgschamter.«

Der Wasserkopf am Schürzenband hatte die bläulichen, hingespritzten
Hirnstückchen an der Mauer bemerkt, nahm von dem trübe zittrigen
Schleim, begann ihn sich an den eignen Schädel zu schmieren, der blaß
war und weich wie ein Froschbauch.

Das Weib schrie auf:

»A soa Sauhaufen.«

»Und wer muß' wegputzen? I.«

                   *       *       *       *       *

Es war in Wien.

Gleich nach der Ankunft sollte Gargi ihren Gatten im Restaurant des
Hotels erwarten, das als mittägiger Treffpunkt angesehener
Persönlichkeiten aus Beamtentum und Adel galt; letzterer pflegte auch
hier abzusteigen. Es ergab sich, daß statt der Waschvorrichtungen in
jedem Zimmer Weihwasserkessel eingebaut waren.

Der Speisesaal, ein weißlich-grauer, stellenweise geplatzter Darm aus
Stuck, in dem vergoldete Putten mit durchgewetzten Nasen, staubiges
Barockobst und andern trübseligen Kram gestreckten Armes von sich
abzuhalten suchten, schien mäßig voll.

Als Gargi ungemein und fremd -- in der fernen Tadellosigkeit ihrer
Bondstreet- und Darjeeling-Atmosphäre an der Tür erschien, brach alles
jäh ab: Schmatzen, lautes Verhandeln mit den Kellnern. -- Man starrte,
vagen Hohnes voll, aber noch unsicher. Da stand eine Stimme laut und
vernehmlich in der Stille auf: »Wo is denn die auskummen?«

Der Bann war gebrochen. Weithinschallend setzte Austausch der Ansichten
über jedes Detail an Körper und Haltung der Einsam-Fremden ein. Die von
der Statthalterei streckten in den Falten brüchige Lackstiefeletten ein
wenig in den Weg, wo sie vorüber mußte -- andre, ironisch höflich
ausweichend, markierten durch plötzlich übertriebene Schmalheit Furcht
vor Berührung. Aus einer Gruppe zerronnener Frauen starrte der einzige
Mann der Gesellschaft, da sie vorbeiging, ihr schamlos ins Gesicht.
Seine Begleiterinnen lauerten, dann -- in der Fremden Rücken irgendein
erotisch-abfälliges Wort, das ähnlich wie: »Nix zum Anhalten« klang.

Jetzt wieherte es befreit hinter ihr auf, spritzte förmlich tief aus
erlöster Galle. Nein, Gott sei dank, der Trottel hatte also nichts
bemerkt, oder es galt eben auch nichts bei Männern: dies Reinumrissene,
Schmal-klare, vor dem sie alle sich einen Augenblick bedroht gefühlt in
ihrem schwammigen Bestand.

Gargi, um die Marter abzukürzen, ging auf das erste freie Tischchen zu,
doch des Kellners erotischer Typus: die Vally Feschak aus der
»_quo-vadis_«-Bar und Tochter der Abortfrau, war eben ganz anders und so
drehte er blitzschnell den Stuhl um: »beseeezt biede«. Beim zweiten,
beim dritten Tisch das Gleiche. Alles blickte gespannt auf den beliebten
Hofrat und Feuilletonisten. In seinem Ressort hatte er sich einen
geachteten Namen erworben, als Vorkämpfer einer Verordnung, die
Briefkästen zwischen neun Uhr abends und sechs Uhr früh abzusperren. Im
Nebenberuf goß er aus der Sulze seines Hirns in Förmchen erstarrte _hors
d'oeuvres_ als Extrafraß für Sonntagsleser. --

Infolge des vorhergegangenen Doppelfeiertages aber war der Witzbold
ausgeronnen.

Nichts kam heraus.

Der Saal war reichlich durchsetzt mit entrassten Semiten. Durch
slowakische oder lokale Schutzfärbung schienen sie bereits stark an
Virulenz und Beweglichkeit eingebüßt zu haben, während hinwiederum die
stagnierenden Unarten der neuen Umwelt durch sie abgerundet und wärmer
belebt wurden.

Über dem Ganzen lag etwas von der Schamlosigkeit typisch europäischen
Familienlebens: dieses pausenlosen Beieinander in hemdärmliger
Geringschätzung. Fremde gab es hier offenbar keine -- oder doch? War das
nicht der Herr aus Braila, dessen gerundete Handbewegungen immer noch
liebevoll die Qualität der Schweinsbohnen abzuwägen schienen, indes
seine Äuglein wie Läuse über alles hinkrochen? -- Der war da.

Nun hatte er Gargi Elcho erkannt, zog höflich das Dessertmesser aus dem
Schlund und erhob sich, ihr Platz zu machen. Der Kellner, er hatte nicht
mehr Zeit gefunden, sein »beseezt biede« herzumeckern, beeilte sich, ihr
alle Speisereste vom Tisch in den Schoß zu wedeln und verkündete mit
Genugtuung, daß Rindfleisch aus sei und Schlußbraten auch nur mehr ganz
vom Schluß. Gargi bestellte Reis und Früchte, jedoch so leise, daß der
Kellner erst von Tisch zu Tisch es melden mußte. Hierauf ging das noch
immer lauernde Grinsen kugelwellig ins Hämische über. -- Nebenan, in
einer Art Ehrenecke, wurde plötzlich ostentativ französisch gesprochen.
Vielleicht hielt man die Fremde für eine exotische Pariserin und wollte
nicht verstanden werden. Denn es war das ein gar skurriles Französisch:
Kreuzung aus Ollendorf und dem spanischen Erbfolgekrieg -- untermischt
mit »Jalousie« und »Lavoir« -- lauter Bezeichnungen, seit zwei
Jahrhunderten keinem Franzosen mehr geläufig.

Der andern Ecke gab ein Rennhabitué aus Ungarn viveres Kolorit. Er aß
schon mit den Händen, stahl aber offenbar noch mit allen vieren.

Neben ihm stülpte ein bestialischer Herr mit roten Streifen längs der
Hosen Spargel ganz tief in das Vorderende seines Verdauungstraktes --
einen Augenblick schien es, als vomiere er -- dann aber taten sich die
Kinnbacken seines Antlitzes auf und nur ein Gewölle von Spargel, an
seltsam singenden Fäden, entzog sich wieder dem Schlund. Noch eine
kleine Nachgeburt aus Schleim -- und mit der nächsten Spargelstange fing
alles wieder von vorn an.

Gargi schräg gegenüber saßen drei Personen. Das fast beinlose,
madenförmige Geschöpf, hineingeknallt in eine braune, reichlich mit
Flöhen gesprenkelte Sache: Foulard genannt und den obligaten Reihersteiß
auf der Stirn, hatte nur einmal den großen Krötenblick auf Gargi
geheftet, wandte dann den Kopf mit jener empörten Gleichgültigkeit ab,
die durch unfreie Haltung ihr Gegenteil verrät. Unter dem Tisch preßten
die Badeschwämme ihrer Knie die Hose eines ganz verfaulten
Oberleutnants. Der schluckte oben Schnaps in seinen Leib. Über dem
seltsam rotierenden Mund ließ das kälberne Schnurrbärtchen die verwesten
Hauer frei. Auch das Nasenbein fehlte fast ganz. Dazwischen saß der
Bourgeois-Mann, ein rülpsendes Neutrum, und zahlte alles.

Er entfernte sich für einen Augenblick, da steckte der Oberleutnant die
ganze Schachtel Zigaretten wortlos ein. Das Weib aber war am Ende ihrer
Hemmungen ... konnte einfach nicht mehr; den Kopf schief, stieß sie ihn
zärtlich an und nach der Fremden blinzelnd:

»Sag' megst du mit der da?«

Der gänzlich verfaulte Oberleutnant schüttelte sich von oben bis unten.
Sie girrte entzückt, und noch einmal mußte er sich schütteln und zeigen,
wie er es mit »der da« nicht möchte.

Gargi bestellte eine deutsche Zeitung, um anzudeuten, sie verstehe die
Sprache.

Doch unbeirrt fuhr die »Fesche« fort:

»Das G'stell und no so aufgedonnert dazu!«

Gargi trug ein schwarzes Trotteur von Creed, kleine schwarze Toque und
war völlig schmucklos.

Die reichlich mit Flöhen gesprenkelte Mondäne vermochte eben
außerordentlichen Stil zwangsläufig nur als außerordentliche Bekleidung
zu empfinden, da ihr ungebildeter Körper noch der Anschauung entriet:
Eleganz sei eine Funktion des Skeletts.

Nun brachte der Kellner das Bestellte. Es war wie ein Signal. Dumpf
diffuses Lauern im ganzen Raum, salopp nur und obenhin von Geschnatter
unterbrochen, hing sich jetzt vampirhaft an jede ihrer Bewegungen,
hockte als vierzigerlei Grinsen auf jedem Bissen, ging mit vom Teller --
auf die Gabel -- durch die Luft -- bis in den Mund. Wenn sie eine Frucht
teilte, zum Glas griff, instinktiv gierend danach die Unbefangenheit,
die schwierige Schlichtheit dieser Ungemeinen zu stören. Vielleicht ließ
sie dann die Gabel fallen, verschluckte sich, irgend etwas Positives
geschah, an dem man das dumpfe Unbehagen rächen konnte. Man würde dann
so tun, als berste man vor Lachen und zugleich, als ersticke man aus
Wohlerzogenheit dieses Lachen, das einem gar nicht kam, doch keineswegs
so vollständig, als daß nicht die Fremde in ihrer Blöße es durchhöre;
daß es sie treffe und beschäme. Selbst der Stumpfsinnigste bekam
plumperdings eine Art zweiten Gesichts, ging es gegen das, was ihn in
seiner Herzensfäule störte. Die meisten waren ja optisch zu ungeschult,
um an dieser geisterfeinen, stillen Dame sich über das Edel-Fremde in
Bau und Haltung Rechenschaft zu geben. Nur ein vag unbehagliches
Erinnern kam sie an, von Sälen in Museen, wo man durch mußte, um zu den
Doppelsternen im Baedeker zu kommen. Man lief da immer sehr rasch, denn
erstens war man nicht verpflichtet und dann sah es übertrieben aus, fad
und steif. Nun -- in Stein und Bronze, und weil's weit weg und lang her
war, mochte das hingehen, aber in Wirklichkeit; wie ungemütlich:

»Das fehlert, daß des einreißen tät, da hätt ma ja nit einmal mehr seine
Ruh beim Essen,« war so der Nukleus, um den gallertige Rachgier Blasen
trieb.

Zwei Bürger, Gargis Nachbarn zur Linken, der eine mit einer Pfundnase,
der andre mit einem Abdomen auf Flaschen abzuziehen, brüteten seit ihrem
Eintritt in dumpfer Wut -- Biergischt im Bart -- vor sich hin.
Abreagieren mußten sie sich, so ging das nicht weiter. Es fiel ihnen
aber gar nichts ein, genau wie dem ausgeronnenen Witzbold. Endlich, als
Gargi in nie gesehener Anmut eine Orange zerteilte, gebar die Wolke den
Blitz.

Der mit der Pfundnase hatte eine _trouvaille_ gemacht.

»Die wer mer scho außi lahnen.«

Zwinkerte er rundumher -- nahm den Mund voll und blies ihr tief den
beizenden Stank seiner »Virginia« in beide Augen. Es war der Gemeinderat
Pogatschnigg, Ehrenpräsident des Vereins zur Hebung des Fremdenverkehrs.

Gargi rief vor sich hin das Pantherbaby und die Diademgestirnte,
Ganapati Sastriar, Erasmus, die Welt der Elchos und den Palast von
Travankor, und der Anstand der Gebärde im letzten Bettler ihrer Heimat
half noch den Schutzwall um sie schließen, daß nichts aus der gerotteten
Jauche dieser Entrassten in sie dringe. Wie Lanzen starrten ihre
Nervenenden um sie aus -- ganz aktiv -- Schützer der Kaste. Doch welch
grauenhafte Anspannung all diese Monate, seit Marseille; immer in einen
Block von »Selbst« geschlossen -- belagert von Gemeinheit, nie
verströmend an ein Ebenbürtiges ausruhen dürfen: arglos, müd und froh --
im großen Ihresgleichen.

Jetzt regte sich, zum erstenmal, auch etwas gegen den Gefährten in ihr.
Wie durfte er eine indische Dame, an der Gesittung Asias erwachsen, in
solche Mißzucht zerren?

Da war er selbst -- -- hatte mit einem Blick die Situation erfaßt und
seine Haltung ließ kaum einen Zweifel, daß er in gradliniger Betätigung
zu blendenden Handgreiflichkeiten ohne Verzug überzugehen gewillt war.
Sein Gesicht sah aus wie eine konzentrierte und höchst vermeidenswerte
Tracht Prügel. Alles verebbte in Unschuld; treuherzig sah man einander
in die Augen, und aggressive Zudringlichkeit flaute sichtbarlich ins
Unterwürfige ab. Er staunte. Hier gedieh offenbar eine besondere
Spielart europäischen Rüpeltums: das Knieweiche; immer feig bereit bei
festem Zugriff als »Gemütlichkeit« wieder ins Verantwortungslose zu
zerrinnen. Ein verwester Käse, den eine scharfe Klinge trifft.

Nun wuchs aus dem Plüschläufer plötzlich der Hoteldirektor heraus -- in
kriechendem Salonrock und weißer Atlasbinde -- letztere immer neu aus
dem alten Brautkleid seiner Frau geschnitten, und verteilte in falscher
Hausväterlichkeit die Mittagsration Banalitäten von Tisch zu Tisch.
Horus Elcho wisperte er so ungefragt als wichtig zu, die Herrschaften in
der Ehrenecke seien ihre fürstliche Gnaden die Durchlaucht W. und ihre
Gesellschaft -- der melierte Herr in der Pepitahose neben der Fürstin,
Exzellenz Graf X., lenke die äußere Politik des Landes. Am Tisch der
Durchlaucht meldete er wieder, die Fremden da, die Neuen, hätten
chinesische Dienerschaft mit und kämen gar aus Indien. Die »Fesche«
atmete herablassend auf:

»Na also -- a Murl is.«

In der Ehrenecke war man indes vom Französischen endgültig abgekommen,
nachdem das Wort »Kokotte« wiederholt und deutlich gefallen. Offenbar
sollte damit gemeint sein, was in Paris »_femme entretenue_« heißt. Nun
wandte sich das mit Kose- und Eigennamen reichlich durchsetzte Gespräch
irgendeinem alpinen Jagdunfall zu:

»Und wie er aus die Wänd scho beinah heraust war,« berichtete die
melierte Exzellenz, »is a Steindl wie eine Erbsen oder wia Haselnuß von
ganz oben kommen, das hat 'n am Kopf erwischt und aus war's.«

»Aber geh, Ferdi, plausch nicht,« tadelte die Durchlaucht und wiegte den
winzigen Straußenkopf.

»A so a kleins Steindl kann do net an Menschen erschlagen!«

»Na, wanns von so hoch kommt.«

»Was is da für a Unterschied -- -- was sein das wieder für neumodische
Sachen.«

Der Minister sammelte sich in seiner letzten Erkenntnis vom Theresianum
her:

»Wann's von weit fallt, nachher wird's schwerer, a jed's mal,« fügte er,
nachdenklich geworden, hinzu. Doch die andern drängten, daß man das
wissenschaftliche Gebiet endlich verlasse, um zu leichteren
Gesprächsthemen zurückzukehren.

»Hast scho g'hört -- -- der Rudi hat an H-Hahn g'schossen?«

»Ah geh, der Rudi hat an H-Hahn g'schossen -- jetzt außer der Zeit.«

»Ja, hast net g'hört, Mittwoch hat ern g'schossen.«

Horus stand auf, nach Wen-Kiün zu sehen, ob man ihr ungeschälten Reis
gebracht und Fisch, wie er bestellt. Kaum war Gargi allein, als wieder
ein Schnuppern begann, saloppes Zusammenrotten, um den Moment der
Wehrlosigkeit einer Dame nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Jene
»Fesche«, die Gargis Rasse mit so tiefer Einsicht vermerkt, stand eben
auf, mit ihren Begleitern den Darm des Saales durch einen perforierten
Appendix zu verlassen. Gedrängt -- gleichsam hingespült von allem
Abschaum -- vielleicht auch nicht mehr ganz nüchtern, murmelte der
gänzlich verfaulte Oberleutnant im Vorübergehen Gargi ins Gesicht:

»Sie gefollen mir aber schon garrrrr nicht.«

»Behalten Sie Ihre erotische Meinung für sich, nach der Sie nicht
gefragt worden sind und entschuldigen Sie sich augenblicklich bei der
Dame« -- Horus stand vor ihm. »Wird's ... drei Sekunden gebe ich Ihnen
Zeit.«

Sollte er nicht doch lieber kneifen? Aber schon hatte es sich hinten an
den Fremden herangeschlichen -- die gesamte _jeunesse dorée_ des Lokals
-- und eine Traube von Ministerialbeamten hing plötzlich an seinen Armen
-- hielt ihn von rückwärts fest. Nun riß der Krieger seinen Säbel
heraus, schrie etwas von beleidigter Ehre, rief alle zu Zeugen auf und
machte sich unter den anfeuernden Rufen von Damen und Herren daran,
einen völlig Wehrlosen mit blanker Waffe zusammenzuhauen.

Leider wies es sich, daß eine lediglich an Ohrfeigen erzogene Jugend
intelligenteren Formen der Brutalität gegenüber versagt. Durch eine
ungeahnte Drehung aus Schulter und Hüfte des Gefesselten barst die trübe
Traube, kollerte abgerebelt beerenweise auseinander. Ein Griff, und die
Rechte des Oberleutnants lag krumm geschlossen auf dessen Rücken. Quer
durch den ganzen Saal flog der Säbel -- gerade in den Spucknapf, wo er
als zuständige Waffe zitternd stecken blieb. Und dann -- der Unterkörper
seines Gegners lag in einem Leg-Lock festgeschraubt -- ganz langsam,
ganz ruhig in dem Panzer seiner Wut, tastete sich Horus an diesem
krummgeschlossenen rechten Arm entlang -- verschob ihn erst ein Weniges
in den Gelenken und immer mehr -- -- Der Krieger winselte um Gnade, dann
mit einem kurzen Ruck, brach er dem halb Ohnmächtigen den Knochen, knapp
über dem Ellenbogen, ab. Überlegte: sollte er ihm zu mehr
offensichtlicher Erinnerung das Nasenbein eintreiben? Aber das hatte ja
bereits sein Vorleben klaglos besorgt. Ließ also die Arme sinken und
wartete ruhig auf seine Verhaftung. Wußte: Notwehr hatte er weit
überschritten und sich schwerer Körperverletzung schuldig gemacht. Gewiß
verständigte schon der bestialische Herr mit den rotgestreiften Hosen
die Polizei, denn er war -- kaum flog der Säbel in den Spucknapf -- zwei
Spargel im Mund, in der Flaggengala seiner Serviette mit Linksgalopp zur
Tür hinaus.

Doch nichts geschah. Und seltsam -- hub da nicht ein Wedeln an, als wäre
es an ihm -- als lägen Gnaden in seiner Hand? Der Hofrat fand zuerst
Worte:

»Bittsi, bittsi, Sie wern do nicht eine Anzeige machen.«

Und der Hoteldirektor meldete: Exzellenz Novotny von Eichensieg lasse
auf ein paar Worte ins Nebenzimmer bitten.

»I hab von nix was g'sehn,« begrüßte ihn der Feldherr.

»Wie bitte?«

»No ich meine halt, Sie werden doch nicht einen verdienstvollen Offizier
um seine Karriere bringen am End!«

»Davon kann keine Rede sein -- es ist ein einfacher Bruch und in sechs
Wochen ohne Folgen geheilt.«

»Aber nein, aber nein« unterbrach die Exzellenz ungeduldig, »net wegn em
Armbruch -- ich meine die Velöötzung -- sondern do weils ihn ihm brochen
haben, wird er g'spritzt -- verabschiedet, vastehn S'!«

»Aber wenn nur Sie die Anzeig net machen täten -- mir ham nix g'sehn.
Nacha geht sie sie no gut aus.«

»Und hätte ihr >verdienter Offizier< mich, den Waffenlosen, obendrein
niedergemacht, weil er vorher meine Lieblingsfrau angeflegelt, wäre es
dann, nach Ihrer Ansicht, auch noch >gut ausgegangenHurenaquarium< vorbei, bis in
die neueste Zeit. In der Allerneuesten möchten sie zwar auch noch,
trauen sich aber nicht mehr so recht, feiern dafür Kuschorgien. Wedeln
erst einmal zur Sicherheit jeden Kitsch an.«

Der Kleine litt an Kitschpsychose. Sonne, Frühling, Blumen, Melodien:
alles was ihm wirklich gefiel, hatte er im Verdacht und wandte sich
schaudernd ab. Mied auch das elterliche Palais, wartete noch auf
Endgültiges, lebte bis dahin in der Pension, gleich seiner Schwester,
jener sozialen Vorkämpferin mit den hinten und unzeitgemäß zu
erschließenden Blusen. Doch verkehrten die Geschwister kaum, schämten
sich einer des andern noch mehr als ihres Vaters, der, dem innersten
Ring der Bank- und Börsenhaie zugehörig, dafür bekannt war, selbst dort
die schmutzigsten, größten und anrüchigsten Brocken anstandslos zu
schnappen. Beide Kinder gaben sein Geld unter Märtyrerallüren für einen
Marstall von Steckenpferden aus. Betrachteten das wie eine Art Aufgabe,
als solche auch zu werten und zu würdigen, nur daß einer des andern
Methode übel fand. Er ertrug ihre vergröbernden Versammlungsgesten nicht
-- die schrille Stimme. Nannte sie: »Pöbelsklavin«. Sie ihn einen »aus
der Zwiebel gezogenen Narziß.«

Er sagte: »Cäsarenwahn des Mob züchtet ihr, statt ihm zu sagen: anders
werden, zuerst und vor allem um Gottes willen anders werden, dazu wollen
wir euch helfen, aber da flögt ihr schön aus euren Mandaten heraus,« und
er zitierte:

»In diesen Zeiten war die Menschheit irre geworden durch Leute, mit
denen ich nicht rechten will. Sie stellten sich der Masse gleich, um sie
zu beherrschen, sie begünstigten das Gemeine als ihnen selbst gemäß, und
alles Höhere ward als anmaßend verrufen.« -- »Jeder ein Kretin oder ein
Schuft, der anderer Ansicht ist als ihr.«

»Wir sind eben der Fortschritt,« sagte sie, »somit richtet sich jeder
selbst, der nicht für den Marxismus ist.«

»Du vergißt, das hebräische Wort: »Fortschritt« wirkt nicht auf jeden
wie ein Fetisch.«

»Snob,« sagte sie und verlor jede Selbstbeherrschung, »verächtlicher
Snob.«

Horus nahm ihn in Schutz:

»Die andern hier sind noch nicht einmal das: ich würde sogar Kurse für
_snobs_ einführen. Erst scheinen wollen, was man nicht ist: ein Weg
vielleicht, dereinst zu sein, was man scheint.«

»Ach was: Schein, -- Sein, alles erst einmal in die große Arbeitsarmee
eingereiht, dann hören sich diese Faxen von selbst auf,« rief sie grob.

Er sah ihr mit solch warmem Wohlwollen in die Augen, nicht ohne Respekt
und voll Humor. Sie konnte nicht widerstehen, wollte die Worte zu diesem
Gesicht wissen:

»Legen Sie los, Sonnenprinz.«

»Arbeit? Was ist Arbeit? Der chinesische Weise Schun saß die größte Zeit
seines Lebens unbeweglich nach Süden gewandt und lächelte. Da blieben
die Jahreszeiten in ihren Grenzen, alle Gatten liebten einander, der
Sohn des Himmels wurde erleuchtet und -- alle Beamteten pflichttreu und
unbestechlich.«

Wäre dieser kleine Doktor Eskenasi nur nicht so maßlos feig gewesen.
Seinem Lebensüberdruß hielt panischer Schreck vor dem Tod die Wage. Die
Jahre waren ihm pausenlose, fressende Angst, das Sonnensystem geriete
auf seinem Flug durch unbekannte Welträume doch einmal unversehens in
eine riesige Wasserstoffblase und dadurch in Brand. Jedes Wissensgebiet
erschloß immer neue Gefahren. Endlich hatte er sich ganz auf die
Malerei, als relativ unbedrohlich, zurückgezogen, fühlte sich: der
zweidimensional Organisierte, hier unter Blinden, die gut hörten, schon
als König; stieg manchmal sogar in die dritte Dimension auf und sagte
dann: Palladiesk oder Brunellescesk. Angst, die ihn nie ganz verließ,
nahm in der Kunst die Form der Kitschpsychose an, um manchmal an ganz
unvorgesehener Stelle auszuschwären.

»Wäre der Durchschnitt: was man so in Kaffeehäusern und Gesellschaften
trifft, wie dieser Herr von Goethe, den ich jetzt lese, ließe sichs in
Europa leben,« bemerkte Horus eines Tages, von der Farbenlehre
aufsehend.

Eskenasi hob angeekelte Hände der Abwehr. War er beleidigt? Versöhnend
frug Horus dem Kleinen in die Augen:

»Wäre das denn wirklich so viel verlangt? Ich meine natürlich als
menschliche Persönlichkeit, von dichterischer Spezialbegabung abgesehen:
ein heller älterer Herr von durabler Einsicht, weil das Auge ihr
geleuchtet, mit gepflegten Umgangsformen, allem Wertvollen offen, leider
mathematisch und musikalisch wenig begabt. Alles in allem: ein
Vollsinniger. Einer, der Raum und Zeit hatte, ein ganzer Mensch zu sein,
daher vielleicht das Aufsehen hier.«

Eskenasi drängte offensichtlich vom Thema Goethe ab:

»Die Wirtschaft kann sich das heute nicht mehr leisten, oder wie ein
sehr Kluger jüngst schrieb: »An einem ganzen Menschen hätte sie zuviel
Lagerverlust.«

»Ach so, ich verstehe: ein linker Hirnlappen, ein Paar Pratzen, jedes
für sich, fügt sich besser, weil pausenlos, dem Betrieb ein. Bleibt die
Frage: ist das Leben für die Wirtschaft oder die Wirtschaft für das
Leben da? Mich amüsierte immer, wenn in Deutschland solch linker
Hirnlappen, war er zumal technisch verkollert, sich glühend wünschte,
ein Großer früherer Zeiten, am liebsten Goethe, weil er den für einen
Monisten hält, kehrte wieder, er aber sei ihm Führer, vergönne dem alten
Herrn den Anblick, wie herrlich weit man's gebracht. Wie er dann schon
beim Aussteigen am Gleisdreieck zu Berlin anfinge, den Faust
umzuarbeiten, ihn gleich im ersten Teil Wasserbauingenieur werden ließe,
statt erst am Schluß des zweiten.«

»Bitte nichts vom Faust,« wehrte Eskenasi ab, mit einem Gesicht, ganz
wie Samossy, das arme geniale Roßwesen, bei Schillers Namen.

»Dieser Schluß« -- er wand sich vor Ekel -- »wie ein schlechtes
Barocktriptychon komponiert: rechts und links als bewegliche Flügel die
süßlich gedrehten, himmelnden Patres, erträglich nur der quere Durstrahl
durch das Ganze: neige Du Ohnegleiche ... gnädig meinem _Glück_.«

»Glück ist gut -- wenigstens dort >lustig im Fleck<, wie wir Maler
sagen.«

»Aber die fürchterlichen Putten ringsum: >fröhlich im Ringverein<. Diese
Engelriege, wie vom Turnvater Jahn einstudiert ... bitte, lassen wir
das. Dazu ist mir der Barock zu heilig, ja ich habe in letzter Zeit
Grund anzunehmen, daß sich in ihm das überhaupt Höchste, vielleicht das
Endgültige manifestiert habe.«

Er schwieg geheimnisvoll. Verkündete dann ein paar Tage später seine
Abreise nach Spanien.

Und nach einer Pause, da niemand frug:

»Ja, es sei für immer. Er übersiedle. Und zwar nach St. Esteban de
Molar, dem Geburtsort des Gecco Pintaccio. Schon begännen die wenigen
über Europa verstreuten Eingeweihten ihren Pilgerzug vor das Jugendwerk
des Erleuchteten: den kleinen Fresko im Ziegenstall hinter des Meisters
Wohnhäuschen. All das gehöre seltsamerweise einem Amerikaner: Mr. Payne.
Nur durch Vermittlung und Protektion des begeisterten Gecco Pintaccio
Entdeckers und Apostels Dr. Hafis sei es ihm, Eskenasi, dennoch
gelungen, das Häuschen auf vorläufig ein Jahr zu mieten, allerdings zum
Preis seiner Hitzinger Villa, doch mit dem Recht, die Stunde von neun
bis zehn ganz allein im Ziegenstall verbringen zu dürfen, dann erst
beginne die öffentliche Besichtigung. Gleich gehobener Stimmung wie er,
sah die Schwester einem neuen Aufenthalt entgegen: dem Landesgericht;
hatte es endlich erreicht, ernst genommen und wegen Aufwiegelung zu zwei
Monaten Arrest verurteilt zu werden. Nämlichen Tags verschwanden beide.
Der Exclusive jedoch nicht allein. Er nahm zur Weihestätte die Vally
Feschak von der _quo vadis_-Bar, Tochter der Abortfrau und Typ des
Speisenträgers aus dem Stadthotel mit. So war er für Horus gerichtet,
denn im feineren Menschen decken sich ästhetisches und sexuelles Ideal.
Same und Seele erstrahlen von dem gleichen Eros.

Doch warum zögerte er selbst noch hier: gerade mitten im
Verköterungsherd Europas? Wartete. Gerade am Ort geringster
Wahrscheinlichkeit erwartete er, treu einem ernsten, süßen und sehr
geheimnisvollen Gesetz, dem Folgsamen hold. Und im Erfühlen dieses
Gesetzes wußte er sich verstanden und gestützt.

Auch aus Gargis Einschlafen hatte es unlängst glücklich, wie in eine
wachsende Nähe hineingeflüstert:

»Dann nehmen wir den >Elf von einem großen Stern< nach Haus und führen
ihn in unsere samtenen Wände.«

Oft ging er, die Ringstraße: diesen Kranz übel gegründeter Erhebungen,
von dem Tempel mit jonischen Säulen als Rauchfängen, bis zur Gotik für
Gemeinderäte, ängstlich meidend, auf den stillen Josephsplatz, vor des
Fischer von Erlach Bibliothek. Wie ihm schien, einem der schönsten
Profanbauten der weißen Welt.

Barg sich dann halb hinter einem fetten Palast im trächtigen Kuhstil mit
vier Renaissance-Trampeln als Karyatiden, um ungestört schauen zu
können. Denn er hatte bemerkt: das Natürlichste: in der Stadt die Stadt
anzusehen, fiel hier peinlich auf. Ihre Bewohner, ausschließlich damit
beschäftigt, einander erst entgegen -- dann an -- dann nachzustarren,
sammelten sich alsobald im Kreis, stierten eine Weile mit hinauf, frugen
schließlich ägrirt, wo der ausgeflogene Kanarienvogel denn säße.

Dort aber stand er in Deckung vor dem wimmelnden Heute. Gegenüber der
stumme Platz einer verschwundenen Menschheit, mit dem segnenden
Reiterbild in steilem Empire, nicht eben gut, doch echt in seinen
Fehlern. Dahinter stieg, unvergleichlich an Maß und Adel männlicher
Anmut, des großen Saales steinerne Schale. Sein inneres Rund, wie leise
hindurchgeatmet durch des Sockels breite Kantigkeit, hatte etwas vom
Tier und vom Kristall.

Oben die fein verdrückte Kuppel. Er liebte Kuppeln, das Dreifache
weisend in schwierigem und edlem Schwung, irgendwie verwandt dem
Broncereifen der Ekliptik auf wundersamen Weltmodellen Tycho de Brahes
oder auch einem überpersönlichen Haupt vergleichbar, durch das sich der
Geist des dreifachen Raumes Gestalt erwölbt.

Als er diesmal den menschenarmen Platz betrat, sahen die Näherkommenden
alle aus, als wäre ihnen etwas passiert. Verlegener Hohn in der Haltung;
die ganze Atmosphäre wie um Gargis Erscheinung, ersten Tags im
Speisesaal, nur noch manierloser, aggressiver. Gargi hier? Doch nein! Er
ließ sie ja an diesem Ort nicht mehr allein ausgehen, seit vor ihm zwei
junge »Herren« auf der Straße -- gleichsam als Promenadespiel --
einander die möglichst niedrige Summe jeweils zugerufen, die jeder für
den Geschlechtsakt mit den ihm entgegenwandelnden Mädchen und Frauen
anzulegen sich bemüßigt fühlte. Das tiefste Angebot teilten sie sich
dann immer grinsend, von den zehn Fingern pantomimisch unterstützt, über
die Köpfe der Ahnungslosen hinweg, mit.

Die Principessa Dango? Wohl kaum. Als Archies Hörige war sie momentan am
Tempelhofer Feld in einem Gecco Pintaccio-Film prostituiert.

Doch wozu die Lügen um sein Herz. An dem strahlenden Schauder wußte er,
was -- nicht weiße -- noch schwarze -- einzig die rote Magie intensiv
wünschender Sehnsucht ihm, nach so vielen Monaten da zu erscheinen
zwang. Es stand: eine lichte, leicht noch nachschwingende Lanze, wie in
einer Steilrechten heruntergezückt, aus klarerer Heimat, ohne das
Weichbild dieser Stadt auch nur berührt zu haben. Hob kritisch beglückt
das Profil dem andern, steinernen entgegen, dort wo der Eckbau aus
Pylonenbreite in einer höfisch feinen Kurve der Vollendung sich
verjüngte.

Ganz langsam genießend kam er heran auf erhöhten Sinnen, seinem
gewohnten Standort zu, unmittelbar hinter dem ihren. Selbst jetzt hätte
er dieses ernste, holde und sehr geheimnisvolle Gesetz nicht
durchbrechen, sich ihr in Willkür auch nicht um einen Schritt nähern
mögen. Gerade deshalb war sie nun auf seinen Weg gestellt worden, in so
viel verheißungsvollerer, weil freigeborner Weise »zufällig«, somit aus
reinster Notwendigkeit.

Ganz in die Erblickung gestürzt, beobachtete er noch mit dem
erleuchteten Saum seiner Sinne amüsiert den ganzen ranzigen Aufruhr: die
mannigfachen Schreckphänomene aller Unreingegliederten dem Niegeschauten
gegenüber. Hier, wo der Mob viel höher heraufreichte wie irgendwo
anders, glaubte jeder Vorüberkommende sich berechtigt, durch Haltung,
Miene oder erkünstelten Naturlaut eine Meinung, um die er nicht gefragt
worden war, der Dame kund zu tun.

Frauen versuchten, voll höhnischem Mitleid zu erschrecken, zwinkerten um
Solidarität hinüber zu wildfremden, achselzuckenden Männern. Andre, mit
Kindern an der Hand, ermunterten diese, die nicht recht wußten weshalb,
sich kichernd umzudrehen. »Pfuitterdeixel« pfiff ein ganz ausgekegelter
Schlosserlehrling mit O-Beinen, Überbeinen und Plattfüßen, in die Luft.
Er nickte ihm zu: »So recht Crapüle, hätte sie bei Deinesgleichen
Succzes, müßte sie sich doch erschießen«. Gleich bei jener ersten Szene
im Restaurant hatte er ja für immer begriffen: nichts haßt und fürchtet
der Kötermensch so sehr, wie den Stilbildner, der durch sein bloßes
Dasein etwas zu fordern scheint, eine Anstrengung, das Niveau zu ändern.
Weder Bescheidenheit noch Diskretion retten da den Ungemeinen. Erst wird
man ihn mit boshafter Herablassung niederzugrinsen, dann mit aggressiver
Infamie von sich abzutun versuchen, denn als »schön« vermag der optisch
Ungebildete nur den eigenen Komparativ zu begreifen, lediglich was einer
zum größeren Grade als er selbst besitzt. Das in der Linie des leicht
Erreichbaren gelegene allein gefällt ihm, sodaß im Wohlgefallen noch
Faulheit und persönliche Eitelkeit befriedigenden Platz finden. Erst der
sich selbst Erziehende, welcher Art er auch sein möge, wird Fremdes:
daher Befremdendes sogleich optisch »vom Blatt zu lesen« und zu werten
vermögen.

Jetzt war er hinter ihr, auf seinem gewohnten Platz. Sie stand
abgeschirmt mit unvergleichlich lässiger Verachtung. Schaute. »Die
Wellen dieser zappelnden Gemeinheit sind viel zu kurz, um ihre langen
Wogenzüge zu stören,« fühlte der Entzückte, »können garnicht an diesen
hohen Sender mit strahlender Antenne rühren.«

Sein Männerschatten beugte sich über. Da rief sie sich wie in eine
bedrohte Festung zurück. Das unverweslich Herbe an ihr, diese steigernde
Dissonanz des Reizes, vereiste sofort ins Abschreckende, absichtlich
Abstoßende. Hochgemutes gerann zu Hochmut. Das war ihm neu! Eine Kultur
des Hasses, kundig und erlesen.

»Kristallumpanzerte« fühlte er. »Ganz Weiße. Fremdeste der Fremden
hier.«

Sie einfach vom Trottoir wegheben, ganz in Zartheit wickeln und
hintragen, wo er der Herr war. Ihr Wesen und ihr Ort trafen ihn wie eine
Blasphemie von Gott aus; mindestens wie ein schwer zu verantwortender
_faux pas_ himmlischerseits. In des Schattens Haltung lag jetzt so viel
Diskretion, wie er jede Berührung mit dem ihren mied, daß sie sich halb
wandte. Die einsamen Sternsaphire sahen ihn zum erstenmal an. In Padua
hatten sie durch ihn hindurch in die Erwartung des Glücks geschaut.
Sahen jetzt statt eines Überlästigen, statt eines pöbelnden Männchens
einen Menschen vor sich: einen brüderlichen Gentleman. Geschwisterlich
gleichgerichtet, Seite an Seite flog von nun an ihr Genießen alle Linien
des Baus entlang; einen Augenblick verschmolzen die Schattenkerne in
Eins. Wann dieses Schauen auch zu klingen begonnen, wem zuerst Worte
sich geformt, wußte er nie. Es waren Worte von jener scheuen, weil
tiefsten Vertraulichkeit, die wie aus einem Abgrund der Zeiten herauf-,
herübergetastet kommt in eine erste Begegnung voll seltener,
unbegreiflicher Anziehung; lustvoll und furchteinflößend zugleich. Die
Worte selbst? Das Geheimnis ihres Reizes? Daß einer vom andern alles
vorauszusetzen schien: alles Wissen und alle Erkenntnis und daß es doch
wie nichts war, kaum mit juwelenen Händen gestreift, um ganz draußen nur
die Spitzen der Persönlichkeiten im Licht miteinander spielen zu lassen.

Jetzt wandte sie sich ganz, prüfte mit den Wimpern durch die Luft hin
die Knabenglätte seiner großen Züge, das starke Kinn aus Stein.
Verwundert, als wäre sie gewohnt, nur in durchackerten Gesichtern Saat
von Geist aufgegangen zu sehen.

Die gelähmte Zeit stand wie ein ins Unerträgliche gespannter Bogen
ausgestrahlt um ihn. So ganz nah, war sie von verwegener überwältigender
Vollendung. Nicht nur ausgespart aus einer saloppen Umwelt. Der
niegesehene Typus, jene neue Schlankheitsgrenze, hatte auch neue Gesetze
der Anmut erfordert und erschaffen. Welch zähe Treue zum Ideal war hier
bis in die letzten Lineamente offenbart. Hingerissen und sachlich
zugleich, ingenieurhaft beinahe fühlte er dieser neuen Anmut: dieser
Natürlichkeit höherer Ordnung nach. Ihre gepflegte Wahrheit kam aus
einer solch adeligen Tiefe her, daß jede Bewegung sie ganz enthielt.
Etwas von Tier und Seraph und gleitendem Erz.

»Alle Städte, durch die sie geht, müßte man vor ihr niederlegen,« dachte
er. »Denn keine paßt noch zu ihr. Sie aber ist im Recht.«

War seine Musterung indiskret geworden? Sie schrak auf aus holdem und
tiefem Vertrauen. Verherbte wieder. Schlüpfte in einen schwarzen Block
Abwehr.

Indessen hatte sich ein loser Halbkranz von Gaffern gebildet. Eine
düstre Kuh mit Plattfüßen mißbilligte beide Erscheinungen. Andre
starrten des Fischer von Erlach Meisterbau auf den entflogenen
Kanarienvogel hin an. Ungeratenheit, die sich dreist machte. Noch einmal
grüßten ihn die einsamen Sternsaphire ganz flüchtig, und die hohe
Silhouette schwankend vor Schlauheit entwich in eine Nebengasse. Er sah
den kühnen Gang ihrer göttlichen Beine durch das Kleid hindurchspiegeln,
dann sog der braune Rüssel eines Durchhauses sie ein.

Gleichen Abends reiste er ab. Wußte: hier führte kein Weg mehr näher
heran zum

»Elf von einem großen Stern«.



                              Viertes Buch


Zur Zeit als Horus ins Haus der Elchos zog, erwuchs auf der andern Seite
der Erde ein kleines Mädchen gleichen Alters in einem sonderbaren
Gebäude: halb Palais, halb Fabrik.

Täglich Punkt zwei bog die wenig stilvolle Equipage um das grasige
Viereck im asphaltierten Innenhof, an den Statuen und dem alten Nußbaum
vorbei, der Gärtner öffnete weite Torflügel unter der gewölbten
Einfahrt, und man fuhr bis vier spazieren. Papa und Mama im Fond. Immer
denselben Weg: erst durch ratternde Vorstadtstraßen voll anrüchiger
Kramläden und Klaviergehacke, dann um den Ring herum. Die Beinchen
reichten nicht bis zum Wagenboden und schliefen einem immer ein in den
kleinen Prunellestiefeln. Baumeln durfte man nicht, reden meist auch
nicht. Oben redeten die Eltern diese endlosen, gereizten
Erwachsenensachen, bei denen man nicht stören sollte, obwohl es doch
immer dasselbe war und so überflüssig. Manchmal hob Papa den Hut schräg
weg und Mama nickte mit einem süßschiefen und entzückten Gesicht, wie
sie es zu Hause nie hatte. Dann mußte man auch nicken und mit dem Mund
knicksen, meist ohne Ahnung, wer die Leute gewesen, denn Besuch kam fast
nie ins Haus.

Alles war fader, als es sich sagen läßt. Bis auf die Ecke mit der
Ballonfrau. Da wurde man innen voll aufreizender Kugelchen. Bekam man
ihn? Und wenn ... rot oder blau? Leider machte die Ballonfrau auch immer
so einen Freundlichkeitskrampf im Gesicht, wie Mama beim Grüßen, während
sie einem mit Händen voll gemeiner Fingernägel die leise aufwärts
ziehende Kugel ums Handgelenk band. Plärrte dabei:

»Nein, a soa schöns blond's Kind!«

»Aber recht eigensinnig und unfolgsam« pflegte Mama zu erwidern, »gerade
heute sollte sie gar nichts bekommen.«

Meist log Mama. An Ballontagen war zufällig nie das Kleinste passiert.
Der Ballon aber war ein Wunder, obwohl er schlecht roch; denn er blieb
aufrecht oben am Faden, während sonst alles unten an Fäden hing. Hatte
auch am Bauch ein komisch verrunzeltes, herausgestülptes Knöpfchen, vor
dem einem ein wenig ekelte, wie ein Schwein. Ein fliegendes Gasschwein
ohne Flügel.

Jetzt begann die große Versuchung: heimlich die Schnur vom Handgelenk
gleiten lassen, damit der Ballon frei hinauf könne, immer schneller und
kleiner würde, schließlich wie eine Traubenbeere mit Schwanz. War er
aber auch ganz weg, hinter ihm, das Loch im Himmel blieb noch lange,
indes man Bestürzung heucheln mußte und gezankt wurde wegen der
Unachtsamkeit. Es schien: Geschenke gehörten einem doch nicht recht. Nie
durfte man mit ihnen Lustiges tun, meist nicht einmal sagen, was man tun
möchte. Sie war im sechsten Jahr -- eben bog der Wagen wieder einmal ins
Tor heim -- da vergaß das kleine Mädchen mit dem Mund zu knicksen,
während Papa den Hut schief weg zog und Mama das Gesicht, denn: etwas
Überwältigendes war geschehen und viel zu groß für Angst:

Sie wußte nicht mehr, wo sie aufhörte.

Da war die Hand; ihre Hand mit dem aufrechten Ballonfaden. Flöge jetzt
die Hand mit dem Ballon davon, durfte dann der Ballon zur Hand »ich«
sagen oder die alleine Hand zu sich selber ich?

Wer ist Ich? fühlte das Kind. Sah über den Rand der Frage in ein
Bodenloses. Streifte den Handschuh ab, spannte und entspannte jedes
dünne Fingerwesen, ließ es tun -- empfinden ...

»Wo fange ich an -- wo ende ich?« staunte immer weiter. Rann noch einmal
mit allem Gefühl vom Herzen in die Körperspitzen, wollte ins
Grenzenlose, konnte nicht weiter, war von diesem Augenblick an bewußt
mit der Welt in Ich und Nicht-Ich zerfallen, das Wunder Dasein hatte
fragende Augen aufgeschlagen, die sich erst im Tode schließen. Das
Fremdlinghafte war da; für immer. Mit ihm: Persönlichkeit, Einsamkeit
und Sehnsucht.

Das wußte aber die winzige Philosophin noch nicht. Vorerst ging alles in
Staunen auf. Probleme spannten helle spitze Flügel, wollten durch sie
hindurchbrechen, pfeilrecht und silbrig, die junge Seele erfüllen und
tragen.

»Warum hast du nicht gegrüßt? Was wird die Frau Regierungsrat Dostal
denken.«

Papas Augen und Stimme rissen durch den dünnhäutigen Kinderkörper
hindurch. Die gestockte Zeit begann auf einmal heftig zu laufen. Der
Wagen fuhr weiter durchs Tor. Alle Dinge taten wieder und man schrak auf
in einem Abgrund von Verworfenheit, saß bestürzt mit einem Bums mitten
in unübersehbaren Folgen: hatte zu grüßen vergessen. Das Herz schlug
breit wie ein Fächer durch die ganze Brust.

»Weil du immer deine Hand angeschaut hast. Immer muß sie sich bewundern,
der eitle Fratz,« sagte Mama.

»Fratz,« das war wie ein verzerrter Blitz und kreischte obendrein.

»Aber ich hab' ja gar nicht ... bewundert,« wollte das Kind beteuern.

»Lüg nicht, ich hab' es doch selbst gesehen.«

»Ja, aber ...« man stammelte, suchte gierig das mit dem »Ich« und
»Nicht-Ich« zu erklären.

»Wirst du endlich still sein und nicht fortwährend nachmaulen.« Papa
machte seine aufgerissenen Glasaugen aus ungeheurer Macht, vor denen man
immer sehr erschrak.

Noch einmal setzte das Kind zum Sprechen ein, wurde hilflos, gab es auf,
denn am Vordersitz hub jetzt jenes aufgedonnerte Entsetzen an und
didaktische »_pour la galerie_«-Reden, dem die kleinen Kinder ihre große
Erwachsenenverachtung verdanken.

»So eine abscheuliche Rechthaberei, dieser Eigensinn, wo sie das alles
nur her haben mag, von uns doch nicht.«

Und Papa wandte sich in seiner schlanken Länge Mama zu, schüttelte dabei
edel und gebrochen den Kopf.

»Von mir gewiß nicht,« himmelte Mama mit ganz verzuckerten Augenlidern,
und beider Eltern linde Vollkommenheiten sahen einander schwergeprüft
an.

Dem verworfenen blonden Wechselbalg am Rücksitz ballte sich das kleine
Herz zur Faust. Alle echte Beschämung war weg:

»Vielleicht bin ich wirklich nicht ihr richtiges Kind? Welch Glück!« Und
den Gedanken weitertrotzend:

»Meine echte Mama trägt keinen Bauch unterm Korsett und mein wirklicher
Papa ... nun aussehen tut er vielleicht wie Papa, aber er schreit gewiß
nicht so häßlich in der Fabrik herum. Die Katze und das Reh nehm ich
natürlich mit in mein Königreich, sonst aber niemand. Da stehen dann
Papa und Mama voll Reue am Haustor und flehen. Aber erst ganz zum Schluß
dreh ich aus dem Wagen heraus ein wenig den Kopf und sag: >Später einmal
-- vielleicht<.«

Sie lächelte in das Königreich hinauf.

»Der Ballon,« sagte Mama empört und hatte zwei hängende kleine
Schrotsäcke in den Mundecken, alles Verzuckerte war auf einmal fort,
»man sollte ihn ihr wirklich zur Strafe wegnehmen.«

Papa zog sein Taschenmesser, durchschnitt die Schnur. Wundergrad stieg
der Ballon bis über den Rauchfang. Dann drehten ihm Krallen aus Gas den
Hals um, er duckte sich, wutschte weg, schräg packte ihn ein Wirbel --
sie hob entzückt die Hände, fühlte an ihren Rändern wieder das Problem
eigenen Aufhörens. Dunkle Angst und Verantwortung, so ein ganz alleines
Ich zu sein unter lauter fragwürdigem Draußen, überwältigten plötzlich
das Kind. Es brach in Tränen aus.

»Das kommt davon, wenn man vorlaut ist,« sagte Papa, dann tröstend:
»aber vielleicht gibt es morgen einen neuen Ballon, den binden wir dann
so fest, daß er gewiß nicht wieder fortfliegt.«

Voll Mitleid mit so viel dickhäutiger Begriffstützigkeit sahen die
jungen Sternsaphire sich diesen desolaten Erwachsenen an, der obendrein
ein Papa war.

Großen konnte man ja überhaupt nichts erklären, sie aber auch nichts
fragen; wenigstens nichts »Eigentliches«. Mama sah dann aus starrgrauen
Augen meist zur Seite, tat, als tauche sie eben aus einer überaus
wichtigen Erwachsenensache auf, in die sie sofort wieder zurück müsse,
nickte flüchtig und falsch zerstreut:

»Ja, ja, schon gut, aber halt dich grad.«

Papa ließ sich gern fragen, doch nie durfte man weiter wollen als er
selber wußte, nannte die Frage dann albern und wurde heftig. Als ganz
kleines Kind hatte sie einmal stolz von ihm gesagt: »der Papa weiß
alles.« Diese vierjährige Voreiligkeit sollte sich bitter rächen. Er
hatte nachsichtig und doch wieder ehrgeizig dazu geschmunzelt, sich in
seine riesige Rübezahlhöhe gereckt, so mit einer Haltung, als wünsche
er, dies möge dauern. Darum tat man auch viel später noch oft so, ließ
es hingehen, hörte widerspruchslos zu, redete er mit herrischen
Bewegungen vag daneben, hatte man aus Versehen nach einem »Eigentlichen«
gefragt. Er roch ja doch so vertraut und gut, mit den graublonden
weichen Wellen draußen über der Stirn voll trotziger Löwenfalten, und
man küßte ihn fieberhaft gern, obgleich er jähzornig schrie und einen
viereckigen Daumen hatte; überhaupt lang nicht so mit allem in Ordnung
war, wie etwa Butz, die Katze, und Iblis, das Reh. Aber das waren ja die
wenigsten. Bei den andern ließ sich stets ein »noch« hinzudenken.

Was für ein »noch?« Sie grübelte: »noch schöner? Nein noch _nocher_,
ganz einfach.«

Da war zum Beispiel das Matterhorn. Alle hatten im Sommer davor so
überwältigt getan. -- War man aber schon ein Berg, hatte man doch
eigentlich _noch_ steiler zu sein, _noch_ höher, mit _noch_ eckigerer
Schulter, und mit einer solchen Eisnase hinaufzustoßen durchs Blaue, daß
es in Sprünge zerkrachte wie ein Glasdach.

Die Dinge waren eben irgendwie faul und nie bis zu ihren eigenen Enden
gegangen. Das hatte aber durchaus nicht immer etwas mit »groß sein« zu
tun ... Butz und Iblis waren klein und doch bis in ihre Enden gekommen
und ganz rundherum wunderbar, daß man nie satt an ihnen wurde vor
Zärtlichkeit und Entzücken.

Das also war das »_Noch-nocher_«. Außerdem gab es das »Eigentliche«. Von
dem aber mochte erst recht keiner was hören; auch ein paar Jahre später
die Lehrer nicht. Versuchte man es zu begreifen, hieß es, man sei
begriffstützig und halte die Fleißigen nur auf. Lange weigerte sie sich
einzusehen, warum eine Flaumfeder und ein Bleistück im leeren Raum
gleich schnell fallen sollten. Das Gerede mit dem Luftwiderstand war
doch nur Nebenschein, tief drinnen aber lag ein Unbegreifliches. Überall
lag ein Unbegreifliches tief drinnen: das »_Eigentliche_« eben. Wie im
Ich und Nicht-Ich.

Auch magische Worte gab es, wie »Masse« und »Substanz.« Sie erregten
einen oft so, daß man den Kopf in die Waschschüssel stecken mußte,
führten aber doch nur zu Konflikten, bis man es gleich den andern
Kindern weghatte, Lernen von Verstehen zu trennen, alles so glatt zu
wissen wie die albernste Gans; es auch nicht mehr beanstandete, daß die
Welt Dienstag und Samstag von zehn bis elf in »Naturgeschichte«
Jahrmillionen zur Entwicklung brauchte, und auf ihr aus einem
Schleimpatzen, einfach durch »Überleben des Passendsten« einmal etwas
wie ein Elefant wurde, ein andermal etwas, das die Neunte Symphonie
schrieb oder den Tristan, je nachdem; während wieder alles, einmal der
Woche von drei bis vier, beim Religionsunterricht, in sechs Tagen
gemacht worden war, von einer heftigen älteren Persönlichkeit ganz
plötzlich und ohne jede ersichtliche Veranlassung.

Als Kind eines eingewanderten deutschen Patriziers fanden die
Religionsstunden, im Gegensatz zu dem gemeinsamen katholischen
Unterricht der Schule, privat bei dem evangelischen Pfarrer statt. Man
landete dort wie auf einer Insel von Gespreiztheit und durchgesessenem
Plüsch, ohne recht zu wissen warum, schon allein durch die Art, wie Mama
devot, verschroben und leer »Hochwürden« sagte. Dann gab es Verse
auswendig zu lernen:

   Das Wort, sie sollen lassen stahn
   Und keinen Dank dazu haben.
   Er ist bei uns wohl auf dem Plan
   Mit seinem Geist und Gaben ...

Sie hatte das nie begriffen. Da nicht, aber auch niemals später. Doch
wozu diesen Greis, der so schon einen Stockschnupfen mit rotgewürfeltem
Taschentuch hatte und einem -- ließ man ihn in Ruhe -- automatisch »sehr
gut« gab, durch Fragen entfesseln. Außerdem gehörte er ja zu den Leuten,
die sterben. Schon als kleines Kind hatte sich diese Idee bei ihr
festgesetzt: nur Leute, die zur Kirche gehen, sterben. So alte Weiber
eben, die immer im Weihrauch lungern, mit Kerzen und Geplärr bei
Leichenbegängnissen herumschlurfen. Ein gut und gradgebornes Wesen
stirbt nicht. Wie könnte etwa Iblis, das Rehli sterben? Höchstens
haaren. Dann bekam es eben ein noch glänzenderes Fell, und man grub das
Gesicht noch lieber hinein, wenn man, die Arme um seinen Hals, mit ihm
aus der Heukammer in den Garten sprang, bis unter die Fichtengruppe beim
Neptunbassin, wo Iblis seine lackschwarze Nase in die Leberblümchen
steckte, sie rupfte und fraß.

Und gar Butz! Wie könnte Butz je auch nur so wässrig aufdunsen oder
knotig vertrocknen wie Begräbnisweiber? Sie warf sich flach auf den
Boden und betete Butz an. Es war eine lichte und festliche Andacht:
lebendige Adoration, steigender als Fieber, tiefer als Schlaf, mit der
alle bewunderte Bewegung in den eigenen Körper herübergesogen wurde.
Denn sie hatte entdeckt: war man auch ein ganz alleines Ich, vermochte
man doch Dinge in sich hereinzulieben nach Wahl, denn da war eine Welt
von außen nach innen und eine von innen heraus; durch den feinhäutigen,
zartherzigen Kinderkörper osmosierten sie hindurch und man meinte,
einmal müßten sie sich zueinander küssen.

Jetzt war Butz dran, hereingeliebt zu werden. Bald hatte der Kater den
Schwanz um sich getan, saß mitten in ihm wie ein Turm mit Ringmauer, sah
ganz oben aus zwei grünen Scheinwerfern in Lichtkegeln um sich; bald
strich er, schmäler wie sein Schnurrbart, durch Türspalten, schwanzhoch,
lässig und einsam. Oder man nahm ihn auf den Schoß, streichelte sich die
Herrlichkeiten seines Lebens hinein.

Andern Tags ergab es sich dann richtig, daß man den deutschen Aufsatz
total vergessen hatte mit seinen zwei Themen zur Wahl: »Hausmütterchen,
der Sonnenstrahl im Elternhaus« oder »Kleopatra« (Richtlinie: schade,
daß in einem so schönen Körper nicht eine ebenso schöne Seele wohnte)
und auch in der Geschichtsstunde dem Faktum, daß durch Margarete
Maultasch Tirol an das Erzhaus gefallen war, eher fremd, um nicht zu
sagen lieblos, gegenüberstand.

Bald hieß es: »dieses ewige Herumschmieren mit den Tieren im Garten muß
aufhören. Es lenkt zu sehr ab.« Schien ein System: bei allem Erhabenen,
Hinreißenden, Holden, es verbieten unter der Devise: »es lenkt ab«.

»Unverstand in idealem Zusammenfluß mit Malevolenz,« wie sie ein paar
Jahre später diese Bestrebungen innerlich zusammenfaßte. Zeigte man
Freude an etwas, ward es zu Erpressungen ausgenutzt, seine Entziehung
angedroht; verbarg man deshalb seine Neigungen, hieß es: »pfui, ein Kind
und schon so blasiert.«

»Warum spielst du nicht mit dem schönen, teuren Spielzeug?« frug Mama.
»Andre Kinder wären froh und dankbar ...«

Hinter diesem schönen, teuren Spielzeug aber lauerte endlos und
heimtückisch das Aufräumen. Gar noch zum Schluß, wenn man jedes Stück
schon so satt hatte. Butz und Iblis bekam man nie satt, und sie räumten
sich selber auf. Oh, nur rasch groß sein, erwachsen sein, frei sein.
Nicht mehr bis in seine Spiele hinein gezwungen werden, die verkappte
Plage waren! Diese Großen aber sagten:

»Sei froh, daß du noch ein Kind bist, immer sorglos und glücklich.«

Und wie war das mit der Margarete Maultasch, he? Und das früher: nicht
mit den eingeschlafenen Beinen baumeln und nur gefragt reden dürfen? Und
gar jenes andre, von dem man nicht sprechen mochte, nein, lieber
sterben! Jenes: in der hohlen Nacht schiefgekauert vor Grauen, ganz
allein im Schwarzen liegen, wenn es sich in den Ecken ballt ohne
Gegenstand und man es anfleht, nur nichts zu werden! Wo man die
übermüden Augen immer wieder aufreißt, denn sie sind das letzte, mit dem
man das in den Ecken noch bändigen kann. Ist man aber eben eingenickt,
sofort wieder zitternd heraus müssen im Winterdunkel, mit Nebel im
Magen, um übel vor Hast zur Schule zu stürzen, übernächtig in
Angstschweiß ... jeden Tag und jeden Tag, Jahr um Jahr.

Selber wußten sie allerdings kümmerlich wenig anzufangen mit der
unermeßlichen Macht und Wonne ihrer Erwachsenheit, diese Wesen,
überzogen mit Trübe, Zähe und Verdruß. Taten immer so, als täten sie:
unausdenkbar Wichtiges. Dabei war es gar nichts. Lauter schäbige, träge,
unreine, störende, überflüssige Dinge. Warum wedelte Mama, zerzaust und
verzerrt, mit einem widerlichen Lappen in der Hand, den halben Tag
zwischen den Möbeln herum, wo doch das Stubenmädchen und der Diener dazu
da waren? Eine böse und schweißige Märtyrerin des schönen Hauses, statt
lieber durch die weiten, hellen Räume oder den Garten zu galoppieren und
Reif zu schlagen. Warum hieß es »Ernst des Lebens«, wenn Papa am
Kontorofen lehnte, die Zeitung las und rauchte, während genau dasselbe
vor dem Speisezimmerofen getan »Erholung« hieß?

Einmal geschah etwas zum Zittern Ekles. Nie zu Vergessendes: während die
Köchin appetitlich dasaß, in grünweißer Schüssel reizende rote
Radieschen wusch, griff Mama mit ihrer Hand -- der eigenen nackten Hand
-- griff sie ganz von selber, ohne daß sie doch mußte, einem blutigen
Hühnerkadaver von unten in den klaffenden Steiß hinein, ganz tief bis in
die violetten, stankgeschwollenen Eingeweide, riß an den glitschigen,
daß sie herausspritzten. Oh, wie es dann unter ihren Nägeln aussah!

Das Kind ballte die Fäuste. »Wer das über sich bringt, ist keine Dame
mehr.« Und fast weinend vor empörter Reinlichkeit: »nein, lieber
verhungern.« Papa war dabei gewesen, hatte es auch gesehen und doch
begann er ihr nach Tisch mit jener reuigen Gedrücktheit schmatzend die
Hände abzuküssen, wie immer, wenn sie zerlechzt dasaß und in schweißiger
Überbürdung schwelgte, denn beide schätzten Szenen sehr. Seither war er
für seine kleine Tochter nie mehr derselbe, war irgendwie herabgekommen.
Sie fühlte dunkel: es gibt Hände zum Hühnerausnehmen und Hände zum
Küssen. Beides, nein! Schmiegte sich von nun an seltener in seine Arme
und aß Hühner überhaupt nicht mehr, erbrach sich schweigend immer
wieder, wenn man sie dazu zwingen wollte. Hatte Mama etwas geahnt? Sich
hinter Papa gesteckt? Plötzlich hieß es:

»Du bist jetzt groß genug, es wäre Zeit, der armen Mama ein bißchen in
Haus und Küche an die Hand zu gehen.«

Sie fühlte die schmutzige Schlinge. Mit zusammengebissenen Zähnen,
gefrorenen Mord im Gesicht:

»Dazu sind die vier Dienstleute da, überdies Gärtners und Portiersfrau.«

Man nahm ihr die Geige weg, verbot Latein und Griechisch, die sie privat
betrieb. Auftritt über Auftritt. Mama stülpte polternd Keller und
Bodengerümpel um, sank dann erschöpft in Sessel, rückte eine
ausgearbeitete rechte Hand mit zerbrochenem Zeigefingernagel anklagend
in den Augpunkt töchterlichen Mitleids, während Papa dräuendes Düster
aus knochenüberhangenen Augen hervorschoß, bis schließlich alles zu
einem latenten Dauervorwurf gerann.

Oh, wie sie Szenen haßte! Szenen deckten ja alles auf, und es hieß doch
schon so genug vertuschen, damit es nicht herauskam, wie minder sich die
Großen benahmen. Das aber sollte nie offenbar werden. Lieber warf sie
sich mit ausgebreiteten Unarten rechtzeitig dazwischen, um eine
auftauchende Hemmungslosigkeit, unvornehmes Gehaben der Eltern vor
Fremden ins Erklärliche zu rücken. Fühlte sich irgendwie für diese
Eltern verantwortlich aus ihrem Tiefsten heraus: dem Drang nach
Reinheit. Wollte wie aus klarem Bade gestiegen sein. Setzte sich darum
oft vor sich selber knirschend ins Unrecht; keineswegs aus Liebe oder
Güte. Von letzterer hielt sie vorläufig nicht viel. War noch zu jung,
vertrug die Dummheit nicht, die vom Guten zweiten Ranges ausstrahlt,
verwechselte Güte noch mit Sentimentalität.

Einmal galt es, nicht nur Unrecht --, bitterer noch: das Odium des
Ungeschmacks fälschlich auf sich zu nehmen. Es war am zwölften
Geburtstag, als Mama das mit der neuen Zimmereinrichtung verdrehte.

»Du kannst sie dir selbst wählen, heuer zum Geschenk,« hieß es.

Kühne Pläne wurden geschmiedet. In der Tanzstunde riet die gedunsene
Valerie:

»Nimm Eiche mit Gobelins.«

»Nein, blaue Seide mit weißem Lack, auch ein Bidet aus weißem Lack mit
Goldknöpfen dazu,« drängte Olga, die den finnigen Teint hatte vom vielen
Käseessen.

Das beneidete Geburtstagskind aber hüllte sich in seliges Geheimnis:
»nein, etwas ganz Neues, ganz anderes, ihr sollt sehen. Und zu mir
passen muß es wie das Haus zum Schneck.«

Mama sah die Entwürfe. Ja, aber auf dem Boden liege noch ein bedruckter
Kreton, der müsse für die Möbel verwendet werden, auch zwei
Vorzimmerschränke sollten herein. Schließlich ergab es sich, daß alles
schon bestimmt war, lauter vorhandene Reste. Nur die Form der
Sesselgestelle unter dem scheußlichen Blümchenkreton blieb ihrer freien
Wahl überlassen. Sie hörte gar nicht mehr zu, was der Tapezierer
schwatzte. Aus. Kein Kompromiß. Mochten sie machen, was sie wollten.
Alles oder nichts ... natürlich wurde es dann immer »nichts«.

Zum Geburtstag kamen die aus der Tanzstunde mit Buketts, rümpften die
Nasen. Jetzt Zähne zusammen und Kopf hoch; dann leichthin:

»So sei es gerade recht, so müsse es sein.«

Und sie warf sich vor diesen Kreton, vor diese Vorzimmerschränke, als
wären es elterliche Mängel.

Abends aber hieß es in ihre verdunkelte und freudlose Miene hinein:

»Nicht einmal bedankt hast du dich noch bei der armen Mama und hat doch
solche Mühe gehabt mit deinem neuen Zimmer, hat sogar da wieder alles
allein machen müssen.«

Samstag von fünf bis sieben war Tanzstunde im Institut Crombée-Wokurka.
Schon die Ankunft im Vorraum, ein kleiner Triumphzug für jede der sechs
Eliteschülerinnen. Vom Salonschreibtisch, vor den verschlossenen grünen
Läden, erhob sich im Gaslicht Madame Crombée-Wokurka, und unter der
Mahagoniperücke fletschte ihr wunderbar falsches Gebiß schmeichelhaft
Willkomm. An der Tür des Tanzsaales aber stand Monsieur Crombée-Wokurka
selbst und seine Beflissenheit teilte vor einem die hopsende Plebs auf
dem Weg zur kleinen Privatgarderobe der Auserlesenen. Er schwebte dahin
wie der Ballon ihrer Babytage, denn sein Bauch schien lauter Luft. Aus
ihm hingen die Beine herab mit krummen Lackschuhen als Gondeln. Ein
leichter Auftrieb nur, ein Zephir, und er stiege zum Plafond, dort
entlang zu bumsen, noch immer mit den Füßen trillernd.

In der Garderobe aßen die sechs Bevorzugten dann selbstherrlich Orangen
und Bonbons, indes das Anfängervolk draußen in seinen Niederungen
schwitzte, bis man es für gut befand, zu erscheinen und die hohe
Paradeschule anhub: unechte Sachen auf der großen Zehe, ein kastrierter
Fandango, dann Polnisches, Russisches, Schottisches, Indisches,
Lappländisches, Dionysisches für den Mittelstand.

Und doch war jeder dieser Samstage ein kleines Fest bis zum Tag des
Skandals mit der Frau Binder um Ernas willen. Schon zu Hause mußte sich
Dunkles und Empörendes bei Binders abgespielt haben, denn von den
Schwestern kam Erna, die halberwachsene, die nußbraune, sonnige, ganz
verweint an, während Mimi, das kleine Aas, triumphierend die Mutter
umschwänzelte. Später ein Streit um ein Paar Tanzschuhe, Mimi, weil im
Unrecht, quietscht um Hilfe, lügt während der Tanzpause alles
heimtückisch und verdreht der Mutter vor; die schleift Erna aus dem
Kranz der Tänzerinnen, ohrfeigt sie klatschend unter Gekreisch vor aller
Welt, Erna, zerschluchzend in Scham, stürzt zur Garderobe, gräbt den
Kopf in den Diwan, riegelt sich ein.

Mitten unter beschwichtigenden Müttern sitzt roh und feig das
Binderweib. Oh, wie war diese Person widerlich! Als risse sie den ganzen
Tag fanatisch Eingeweide aus Hühnersteißen. Und das sollte Macht haben
über menschliche Wesen?

»Sag' Erna, sie hat herauszukommen -- sofort hat sie herauszukommen,
bring sie her, hörst du, Sibyl?«

Eine Verbeugung, ein lässiges Gehen. Dann wiederkehrend, eine zweite
tadellose Verbeugung. Dann eisklar vor Empörung -- über alle angeborne
Scheu begafftes Zentrum zu sein, hinweg -- in die verlegene Stille
hinein:

»Erna wird erst kommen, bis Sie, gnädige Frau, sich anständig betragen.«

Zu Hause erzählte sie, noch ganz im roten Nebel gerechten Zornes das
Geschehene.

Da verschrob sich auf einmal wieder alles in dieser unberechenbaren
Erwachsenenwelt, und sie saß -- wie damals im Wagen -- bestürzt mit
einem Bums selber in unabsehbaren Folgen: in einem Abgrund eigener
Verworfenheit.

Man schlug die Hände zusammen. »Nächsten Samstag wirst du öffentlich in
der Tanzstunde Frau Binder um Verzeihung bitten.«

»Aber Erna war im Recht, wir waren im Recht.«

»Ganz gleich, ein Kind wie du hat sich kein Urteil anzumaßen.«

Also Erwachsene durften sich unkritisiert Kindern gegenüber das
Gemeinste erfrechen! Nicht nur, daß man nie Recht bekam, hieß es auch
noch sich knirschend, mit gesträubten Nerven gegen besseres Gewissen
demütigen, denn tat man es nicht, wurden die Eltern schreiend und
würdelos; das mußte jedoch um jeden Preis verhindert werden.

Sie wünschte Frau Binder oder sich bis Ende nächster Woche glühend den
Tod. Oder ging vielleicht die Welt rechtzeitig unter. Jetzt blieb nur
noch ein Tag -- eine Nacht -- ein halber Tag. Schließlich die Hinfahrt.
Stürzte doch ein Pferd! Bräche der Wagen! Gasse um Gasse, Eck um Eck
kroch der Moment tödlicher Schmach heran. Schon die Treppe! Kaltgrünes
Eis stieg das Mark hinauf, bittre Wasser quollen im Mund. Jetzt noch
drei -- zwei -- eine Stufe; das Vorzimmer. Noch ein Hirnblitz Hoffnung:
vielleicht fehlten Binders heute? Nein, dort standen schon die
Galoschen. Keine Rettung -- aus.

Die Qual dieses Samstags verseuchte alle die früheren, frohen -- alle
ferneren auch.

Aber konnte denn das schon das Leben sein? Diese unharmonischen Brocken,
aufgereiht an einem Faden Angst. Sie gewöhnte sich, alles als unwirklich
zu empfinden, als Fehler und irrer Vorhalt nur: lebte wie von einer
fernen Küste her, ganz in Silberdämpfen der Phantasie. Lernte sich auch
immer reiner und herber abgrenzen gegen das Vorläufige. Züchtete sich
ausschließlich dem Eigentlichen entgegen. Es hatte doch auch sein Gutes,
so ein ganz alleines Ich zu sein, nur aus sich selbst heraus
veränderbar. Da schloß man sich zu und liebte bloß nach Wahl herein.

Zum Beispiel einen Barsoi.

Beim ersten Anblick des unvergleichlichen Tieres, das fremd und
resigniert hinter seinem wiener Herrn schritt, geriet sie in tagelanges
Entzücken, bekam feuchte Augen vor der Harfe dieses Leibes, dem
durchscheinende Rippen gleich Saiten anlagen, ruhte auch nicht, bis sie
die eingezogenen Flanken des russischen Windspiels am eignen Körper
lebendig besaß. Eine Übung war dazu besonders gut: auf dem Rücken
liegend, den Leib sichelförmig einsaugen, und in die Mulde das Gefäß mit
den Goldfischen ausgießen. Konnten die Fische dann in dieser
Beckenschale, ohne Grund zu berühren, flossenschlagend umherschwimmen,
war es in Ordnung und ergab am aufrechten Körper den heißerliebten
Kontur! Wenn nicht, änderte sie Nahrung, Bewegung, Atem, bis es wieder
ging. Eine Kontrollübung, nichts weiter.

Einmal bekamen die aus der Tanzstunde es zu sehen.

»Du bist übertrieben,« hieß es.

War etwas halbwegs wie es sein sollte, nannten sie es immer übertrieben.

»Du bist eine eitle Egoistin« und Olga, die trotz finniger Haut vom
Fettkäse nicht lassen mochte, blähte sich: »Man muß für andre leben. Ich
werde für die Idee der Menschheit auf den Barrikaden kämpfen.«

Sie probierte vor dem Spiegel eine Jakobinermütze aus rotem Seidenpapier
...

»Und überhaupt kommt es auf die Seele an.«

Sibyl, die Jüngste, zog sich scheu und völlig unüberzeugt in sich selbst
zurück. Fühlte tastend: weil Olga zu schwach und faul ist, vom Käs zu
lassen, drückt sie sich an sich selber vorbei ins Gemeinwohl. Weil sie
nicht die Kraft hat, die Menschheit zuerst einmal am eignen Leib zu
vervollkommnen. Eine Watschelgans bleiben und darauflos beglücken, wie
billig; Seele? Eine saubre Seele, die noch nicht einmal imstande ist,
sich eine reine Haut, edle Glieder zu machen.

»Ich glaube auch gar nicht, daß es den Männern gefällt,« sagte die
gedunsene Valerie.

Wollte sie denn damit gefallen? Nein, in Ordnung sein, ganz einfach: wie
geputzte Zähne, polierte Nägel haben. Wozu deshalb Aufsehen und Getue?
Merkte eigentlich immer erst an dem dumpf rindhaften Glotzen ringsum
ganz jäh, wie wenig man dem nachfrage, was ihr wie Lebensluft: leicht
und unentbehrlich.

Und verstummte dann meist; aus einem großen jungen Nebel von Scheu
heraus, beinahe Scham. Mußte denn wirklich jede Wahrheit, die einem
durch und durch ging, immer erst noch oben in diesem negligablen
Schälchen Großhirn zu Argumenten gerinnen, damit sie gelte?

Waren Diskussionen nicht entweder vergeblich oder überflüssig? Spürte
irgendwie beweislos, gleich einem Axiom: »so lang in meinen eignen
Weichen noch ein Gran Fett, also: Träges und Gemeines sitzt, ist es
einfach eine Frechheit, die Bürde der Selbstvollendung in Form von
Gemeinwohl von sich abtun zu wollen.«

Seit dem Malheur mit dem deutschen Aufsatz war es mit den »ablenkenden«
Spielen im Garten bei Butz und Iblis ziemlich aus.

»Das schickt sich nicht mehr für ein so großes Mädchen,« hieß es,
»dieses Herumkugeln auf der Erde mit den Tieren.«

Niemand aber konnte sie hindern, dafür täglich beim Durchfahren des
Hofes die Schultern des bronzenen »Eidechsentöters«, den Papa in der
Fabrik hatte nachgießen lassen, inbrünstig in sich hereinzulieben. Das
Jünglingsfreie, Feenfreie dieser Schultern, wie eines geflügelten
Wesens, glänzte ihr jedesmal ins Herz, bis sie es auf geheimnisvolle
Weise mitversponnen in ihr Blutnetz, durch eine Art von nun an das Haupt
zu tragen, sich zu recken, wenn sie laut Pindar vor sich hinsprach.

Aber eigentlich war auch das noch nichts. Genau wie das Matterhorn
konnte alles immer doch noch besser sein, sogar in seiner eignen Linie
und: »in mir muß es besser werden« ward zur Mission. Die harfenden
Flanken des Windspiels, das Ruhen der Katze, das Äugen des Rehs, die
Flügelschultern des praxitelischen Knaben; alles nur zu durchlernende
Stadien, Mittel, um selbst das »Noch-nocher« zu werden. Hieß »leben«
denn nicht einfach die Verpflichtung, eine neue Vollkommenheit in sich
körperlich zu machen?

_Alle seine Ideale direkt in die Materie zu säen!_

Sich wie ein köstliches einmaliges Gefäß zu halten, dessen Schale nicht
verbeult, dessen magischer Inhalt nie verunreinigt werden durfte.

Weit und breit tat's ja keiner sonst, und um Himmels willen: endlich
mußte doch etwas geschehen. So ward dieses junge Wesen, da es um sich
keinen Idealtypus ausgebildet vorfand, gezwungen, die eigne
Persönlichkeit überwertig werden zu lassen, beinah weinend manchmal in
seines Herzens Andrang.

Die Eltern aber saßen Tag um Tag nach Tisch bei ihrem ewigen stumpfen
Schach. Herausschreien hätte man sie mögen aus ihrem Schach.

»Ich, ich, ich bin noch ein unlädiertes Exemplar! Un--lä--diert --, hört
ihr! Noch ist nichts verdorben! Nicht helfen, oh Gott, nur hindern sollt
ihr mich wenigstens nicht! Bitte, bitte nicht!«

Alles in ihr bäumte sich auf gegen die freudlose Routine, die verfaulten
und schauerlichen Kindereien der Erwachsenenwelt. Wie war das Alter
widerlich und verächtlich. Ohne Selbststrenge in seinem mürben Fleisch!
Ein Weltbeben -- würde doch der Sirius einmal explodieren -- mitten in
den schwarzen Kaffee und mitten hinein ins Schach!

Die Eltern sahen immer ratloser diesem Giraffen- und Windspielwesen zu,
das kerzengrad, erbittert, stumm und über die Maßen wunderbar von ihnen
wegwuchs. Es selbst aber ward jammervoll herum geworfen zwischen
Schwachmut und Hochmut. Denn nichts ersehnt ja ein feinerer Mensch
inbrünstiger, als nur Ebenbürtiges um sich zu haben; mehr noch: sich
hinbreiten dürfen vor etwas, das besser ist als er. Glücklich nur in
einer Welt, die ihn zum guten Durchschnitt reduzierte. Denn der sinnlich
Wohlgeratene mag auch nur wieder Wohlgeratenes um sich dulden, anderes
tut ihm zu weh in seinen Augen. Wer dagegen die Inferiorität seiner
Umwelt mit befriedigter Eitelkeit, statt mit Qual und Scham konstatiert,
gehört ihr selber zu, und ein Überlegenes solange hämisch umlauern, bis
man glücklich einen Fehler, eine Lächerlichkeit, eine Schwäche daran
entdeckt zu haben meint, ist untrügliches Pöbelmerkmal.

So wehrte sie sich qualvoll immer wieder, ihr Anderssein als Höhersein
werten zu müssen. Vielleicht war alles falsch? Vielleicht ließ es sich
doch noch abgewöhnen, oder ein Schleier wuchs einem vor den Augen, den
allzu klaren, man sah nicht mehr wie kalt, unrein und träge die Welt
ringsum war.

Erst vor der Wahrheit ihres vierzehnjährigen Aktes sank jeder Zweifel
dahin. Hohe zarte Beine wuchsen aus allen Kleidern heraus, hoben sie
höher, immer höher über Morast und Mob, lange Schenkel spiegelten durch
die Scheußlichkeit aller Moden hindurch. Voll Ehrfurcht stand sie im
Springbrunnen ihrer Glieder: dem hüftenlosen Strahl aus Milch und
Silber. Wo er an den Flügelschultern in die Arme niederfloß, dort oben
spielten in ihm zwei winzig harte Kiesel, von paradiesischen Wassern
hochgeschliffen. Das Mädchen-Kind aber trank sich, berauschte sich mit
zitternden Wimpern an diesem verwegenen, makellosen Strahl, zu dem es
»ich« sagen durfte.

Und war von nun an nicht mehr gemein zu kriegen.

Aber warum, um Himmels willen, sollte man denn nicht so, ganz so, durch
die Welt jubeln und alle rufen und ihnen diese ungeheure Freude
immerwährend in ihre Augen schenken? Nicht einmal Papa sah es richtig
und Mama verstand ja nichts davon.

Damals erweckte sie die erste grenzenlose Hingebung und beging die erste
_überflüssige_ Infamie.

In drei Zimmern, voll geretteten Strandgutes aus Lebensschiffbrüchen,
wohnte _Madame Paola Swoboda née comtesse de Noailles »leçons de
conversation et littérature française«_. Ölige Korkzieherlöckchen hingen
ihr, gleich der Kaiserin Josephine, in die alternde Stirn. Aus dieser
wieder hing an einem dünnen Stiel mit Zwicker eine gedunsene Nase herab.
Groß, würfelförmig und unendlich einsam saß sie den ganzen Tag vor der
einen Seite des Löschblattes. Auf der andern saß jede Stunde ein andrer
Frischling dieser verachteten Tribus und zergrunzte die adorable Sprache
Racines und Molières. Auf das Löschblatt selbst aber malte während der
Lektion die schmale alte Hand mit dem Rotstift unaufhörlich Schnörkel,
wie aus einer bessern Welt. Ganz aus dieser besseren Welt
herübergerettet schien nur der kleine Finger mit dem wunderbar
geschliffenen Nagel. Sie hielt ihn immer ängstlich weggestreckt vom
Vierten und seinem Doppelreif der Witwenschaft, nach einem
österreichischen Leutnant Swoboda aus Greislerblut. Eine romantische
Seebad- und Entführungsgeschichte. Epilog: »_leçons de conversation et
littérature française_,« den ganzen Tag. Nur die Stunden vor und nach
Sibyls Lektion blieben leer. Ein kleines Fest der Distanz zu Ehren der
Lieblingin. Kein andrer Schüler durfte ihr Kommen kreuzen. Das bedeutete
acht Stunden entgangenen Honorars pro Woche. Aber was machte es, saß nur
dort wieder das Zauberkind mit den Zykadenbeinen und man durfte aus
seinem Mund die eigne geliebte Sprache hören. Eine Blume, ein Bonbon
bezeichneten stets die Stelle, wo weiterzulesen war. Später zerbrach sie
sich ihren lieben alten Kopf, immer seltenere Proben der angebeteten
Kultur aufzustöbern und war glücklich, wenn etwas davon, so so -- la la
vor dem hellen Giraffenkitz ihr gegenüber Gnade fand.

Dieses nahm der Madame Swoboda dafür ganz _en passant_ den lieben Gott
weg und schenkte ihr zu Weihnachten, an seiner statt, einen leider ganz
verlausten Papagei. Die alte Comtesse hatte ihr Leben lang den lieben
Gott geliebt und Papageien gehaßt. Nun gab sie klaglos Gott dahin, weil
die Lieblingin sich einmal mißbilligend über die Unsterblichkeit
geäußert und schloß das ganz verlauste Paperl mit Entzücken in ihr
großes, zartes, brennendes Herz. Blusterte sich »Coco«, während der
Stunde auf ihrer Schulter hockend, auf, streifte sein Brustflaum nur
ihre Wange, traten ihr schon Tränen der Zärtlichkeit in die Augen:
»_chérie adorée_«, und sie berührte sein Köpfchen mit den Lippen.

Eines Tages traf Sibyl die Französin recht niedergeschlagen. Eine
Todesnachricht.

»_Mon oncle, qui était toujours si bon pour moi._«

Nun entfiel der monatliche Zuschuß aus Paris. Zwar war sie im Testament
bedacht worden, doch bis alles erledigt, konnte der Sommer vergehen, man
saß da in der heißen Stadt, konnte ohne Bargeld nicht aufs Land, trotz
der Erbschaft.

»Wie unangenehm,« sagte Mama, »nun ja, wenn du dein Erspartes dafür
hergeben willst? Ich werde es ihr anbieten, als käme es von Papa und
mir.«

Im Herbst war noch immer nichts erledigt. Madame Swoboda erbot sich, das
Darlehen in Form von Lektionen abzutragen. Die Eltern nahmen an, wiewohl
es Sibyls Taschengeld gewesen. Immer bedrückter wurde es in den drei
Zimmern. Die Miterben hatten das Legat angefochten. Advokaten fraßen den
Rest. Malheur mit Schülern kam dazu. Noch einmal half Sibyl heimlich aus
mit allem was sie hatte. Heimlich, denn daheim war Panikstimmung. Das
bürgerliche Gespenst des Angepumptwerdens ging schlotternd im Hause um.
Papa stand wie vor einem Abgrund, bewegte stumme Lippen gegen einen
unsichtbaren Belästiger, schüttelte dabei geniert und sauer das Haupt.
Bei Mama war es direkt ein kopfloses Grauen, ganz wie im Theater, um vor
Schluß rechtzeitig die Garderobe zu erreichen. Noch bei offener Szene
drängte sie da, wie eine Gejagte, zum Aufbruch. Von der Mitte des
letzten Aktes an war an sorgloses Zuhören nie mehr zu denken.

Einer eventuellen neuerlichen Bitte um ein Darlehen vorzubeugen, wurden
die französischen Stunden abgebrochen; Vorwand: eine Reise. Wie vom
sinkenden Stein die fliehenden Wellenringe, zog es sich jetzt von Madame
Swoboda zurück. Warum eigentlich? Diese tolle und bedrohliche
Erwachsenenwelt war immer voll solcher Sachen. Einmal gab Papa etwas wie
eine vernichtende Erklärung dafür ab.

»Sie muß schon vorher vom Kapital gezehrt haben.«

Das klang wie: »seine eigne Großmutter gefressen haben«. Oder wie die
Sünde wider den Heiligen Geist: auf alle Fälle das einzig wahrhaft
Unsühnbare je und je.

Dennoch -- dieser Abbruch schien zu unanständig -- schickte Sibyl nach
einem halben Jahr ein paar höflich liebe Zeilen, versprach einen Besuch,
verschob ihn dann immer wieder unter der latenten Suggestion, vergaß
schließlich ganz. Nach Monaten kam ein Weheschrei:

_»chérie adorée,_

_pourquoi me faire autant souffrir? Quel supplice que cette attente!«_

Aus Scham zögerte sie nun erst recht. Scheute diesmal das Aufgebauschte
der ganzen Situation. Wieder nach einem halben Jahr war _Madame Paola
Swoboda née comtesse de Noailles_ still, arm, einsam gestorben.

Die erste _überflüssige_ Infamie. Das kam davon, ließ man sich von
Erwachsenen auch nur halbwegs in etwas wie Beeinflußbarkeit
hineindupieren und überhaupt: »vom Kapital zehren« konnte gar nicht so
wie etwa »die Großmutter auffressen« sein, gleichen Jahres tratschten es
die Leute in der Sommerfrische doch auch von Papa. Allerdings war das
Mamas Tun. Frucht ihrer zitternden Andeutungen von dubiosen
Bergwerksunternehmungen. Gedrückt und machtlos schlich sie dahin: eine
hilflose Frau eben, mitgerissen in den Ruin des halsstarrigen Gatten.

»Ich darf ja nicht klagen,« klagte sie der Tochter -- dann bitter: »es
ist ja _sein_ Geld.« Rächte sich so, halb unbewußt, durch Kleinheitswahn
für die peinliche Überlegenheit des erfolgreichen Gefährten, statt die
Vorteile seines Arriviertseins froh mitzugenießen. Meisterin nur in
_einer_ ehelichen Kunst: »_l'art d'être martyre_.«

Ja, er hatte wirklich Verluste gehabt, Bruchteile seines jährlichen
Einkommens betragend, ließ es aber aus Ärger oder Schwäche schweigend
zu, daß reine Sparorgien anhuben. Sibyl angesteckt, getraute sich kaum
mehr zu essen. Es war ein stillschweigender Ehrgeiz zwischen Mutter und
Tochter ausgebrochen, die Rechnung im Restaurant täglich zu verringern,
auf ein lächerliches Minimum zu reduzieren; schließlich aß man nur mehr
jeden zweiten Tag zu Abend. Die Sommergäste stutzten. In gleichen
ängstlichen Wellenkreisen, wie vor Madame Swoboda, wich es jetzt vor
ihnen zurück.

»Sie fürchten sich, wir könnten sie um Geld angehen,« und Mama rang die
Hände im Schoß, mit der Miene verschlagenen Jammers. Dann begann sie zu
weinen.

Dieselben Leute waren später ehrfürchtig erstaunt, in der Stadt,
anläßlich eines Blumenkorsos, in ein Privatpalais mit großem Park und
angrenzender Fabrik geladen zu werden, mit Stallungen, Wagen und
Dienerschaft. Auch Sibyl schöpfte wieder Mut: »das alles gehört doch
Papa.«

Die Mutter, in der Not der fast ertappten Hysterischen, tat
geheimnisvoll. Dann schadenfroh flüsternd:

»Im Haus ist doch der Schwamm.«

Der Schwamm! Sibyl meinte förmlich zu sehen, wie ihr Heim aufrechten
Leibes verweste, eines schönen Tages aus den Grundmauern heraus zu
stinkendem Brei zerfiel, vor dem man ratlos auf der Straße saß.

Durch den großen Organismus dieses Haushalts lief immer Geiz in
Krampfadern. Im Licht von vierzig Glühlampen ward am Zündhölzchen
gespart. Wunderliche Hemmungen im Hausherrn selbst. Starre, Schwäche,
Wahn, ihm anhaftend aus enger Jugend, lag dem allem zum Grunde. Ein Kuß,
ein Scherz, anmutiger Spott hätten diese Restbestände vielleicht
lächelnd aufgelöst, so aber verbreiterte sie das karikierende
Märtyrertum seiner Frau wie mit Scheinwerfern über das gemeinsame Leben.
Schon stumme Duldung einer Ersparnis wurde zu stummem Befehl umgedeutet,
dem man mit leidender Beflissenheit zuvorkam, wie um weit Ärgeres auf
diese Weise eben noch abzuwenden. Seine intimsten Irrwege fand er
solcherart immer schon vor seiner Nase zu Chausseen ausgebaut; was
Wunder, daß er sie mechanisch weiterging.

Einer alten nordischen Stadt entstammend, war er als Erster aus der
Geschlechterkette von Gelehrten, Staatsbeamten, Ärzten, erobernd
herausgetreten, in der Fremde die langgezüchteten Fähigkeiten lukrativ
als Erfinder und Unternehmer zu verwerten. Kulturell Patrizier,
materiell Parvenü, blieb der reine Ruf seines Blutes der Kargheit
zugewandt, sein starkes künstlerisches Sehnen aber brach sich am
Weltpovel dieser ganz von Gott verlassenen siebziger und achtziger
Jahre. So schnellte er auch aus Trotz zuweilen wieder in die Kargheit
zurück.

Ein jähzorniger, steckengebliebener Weltherr, dessen mächtiger
nordischer Same durch den nichtigen Leib seiner hübschen Frau
hindurchgeschlagen hatte, als wäre sie Nur-Gefäß, um in einem einzigen
Kind geheimnisvoll sehnsüchtig sich selbst zu »überzeugen«. Oder rührte
die Entstehung dieses Wesens schon an das Geheimnis, wo die Natur
plötzlich zu »springen« anhebt: _fecit saltus_. Das Beispiellose aus
sich heraufwirft in einer _generatio spontanea_ als neue Art, wie es im
Reich der Pflanze sich zu offenbaren beginnt? Maßlos für dieses
Spätgeborne war seine Eitelkeit, seine Liebe und sein Unverstand.
Gewaltsam, instinktirr, barbarisch und sentimental dilettierte er an ihm
herum. Entfachte Diskussionen, um seinen Stolz in dem leuchtend frischen
Hirn zu sonnen, zugleich mit seiner Tyrannei, denn nahm die Polemik eine
andre Wendung als er vorausbestimmt, oder ward er gar selbst in die Enge
getrieben, verbot er seiner Tochter einfach den Mund, und um so
heftiger, je hohler der formale Vorwand:

»Genug -- kein Wort mehr -- ein junges Mädchen hat sich nicht so
apodiktisch zu äußern, das wirkt unbescheiden und abstoßend.«

Wie sie als Kind nicht hatte weiterfragen sollen als er wußte, so jetzt
nicht weiterwissen als er frug. Empört tat sie unter so unfairen
Bedingungen nicht mehr mit, lehnte Diskussionen schweigend ab, oder gab
ausweichende Antworten. Nun verfiel er darauf, sie bei Tisch, wo Flucht
schwieriger war, systematisch so lange zu reizen durch hämische Angriffe
auf große moderne Geister, die er nicht kannte, aber mißbilligte, bis
sie in zitternde Worte ausbrechend, sich wieder fangen ließ; denn hier
war das ja anders als mit denen in der Tanzstunde; Papa wollte man nicht
so ohne weiters aufgeben, wenigstens nichts unversucht lassen, ihn doch
noch zu heben, zu entwickeln. Hätte es nur nicht immer gerade bei dieser
barbarischen, gemeinsamen Esserei sein müssen, mit ihren trivialen
Vorwänden zum Unterbrechen:

»Die Leber vielleicht etwas brauner rösten, das nächste Mal ...« oder:

»Nimm noch von der Paradeissauce.«

So trieb dieses verhaßte, nichtige Erwachsenengewäsch stets Keile quer
in die Gedankenrichtung hinein: gerade wenn man mit glühenden Ohren im
Kühnsten und Herrlichsten gewesen.

Reitstunden begannen. Der Pferderücken wurde Ziel ihrer noch diffusen
jungen Sinne. Ein Gefühl kam sie da an von Göttlichkeit, wenn ihr
liebkosender Wille allein, ohne Hilfen durch Ferse oder Hand, übersprang
als schäumender Galopp in die große fremde Kreatur, die zitterte, bis
das Fell der Kruppe zu glänzen begann wie reife Kastanien. Und der Sturm
des Sprunges erst. Wie war das schön! Sein triumphierendes Arom nach
Tier, Lohe, Leder, Hürde, nach verdichtetem Frühlingswind.

Man grinste: »Reiten! Natürlich. Will sich einen Grafen fangen, die
kalte Streberin!« Der Stallmeister verschwor sich, seit der Kaiserin
Elisabeth sei so etwas an Begabung nicht dagewesen, drang auf hohe
Schule, gab sein Bestes. Der väterlichen Eitelkeit jedoch genügten ein
Dutzend Ausritte pro Saison, um in den großen Alleen angestarrt zu
werden. Weitere Abonnements wollten erbettelt sein, gaben ihm dann das
Recht, war er gerade schlechter Laune, zu rohen Anspielungen, die Kosten
und dubiose Rentabilität einer Tochter betreffend. Da kam es wieder über
sie wie am zwölften Geburtstag bei der Zimmereinrichtung: alles oder
nichts. Kein Kompromiß. Und gab das Reiten auf. »Undankbar und
unbescheiden« nannte es Papa.

»Man sieht Fräulein ja gar nicht mehr zu Pferd?« frugen die Herren aus
dem Tattersall, freudig Unrat witternd.

»Es langweilt mich,« log sie, dem Weinen nah, um Papas Schäbigkeit zu
decken, preßte die Nägel dabei ins Fleisch vor Schmach.

Man schüttelte die Köpfe:

»Nein, was dieser Backfisch schon blasiert ist!«

»Und wie unerträglich affektiert,« ergänzten die Damen. »Schauen Sie
sich nur diese Bewegungen an.«

Und man schnitt mit triumphierendem Daumen längliche Biskuits von
idealer Schlichtheit in die Luft. Optimisten meinten zwar: »vielleicht
wächst sich das noch aus.« Hielten sich mehr an Milch und Silber der
siebzehnjährigen Blondheit, denn wiewohl sie abfällig gereizte Erregung
auszulösen begann, gab man nichts verloren. Vielleicht ließ sich dieses
unbequeme Phänomen, tat man ihm schön, doch noch meuchlings --
schmeichlings -- zu dem degradieren, was hier gefiel, oder das
Unfixierte an ihm war wenigstens noch herunterzuretten ins Rasselose.

Fern wie ein Birkenwipfel sah das Mädchen-Kind über das alles hinweg,
dachte nur erstaunt:

»Wozu ernähren sich eigentlich die Leute? Schade um alle die Engel von
Kälbern, den herzigen Salat, von den Radieschen ganz zu schweigen. Das
ist doch wie es liegt und steht bei weitem erfreulicher als der
Zellhaufen: Regierungsrätin Dostal, oder Herr von W., oder Frau Dr. K.,
in den es sich dann umsetzen muß.«

Eines Tages erschienen ein paar Herren in Hof und Stall. Besichtigten
alles, vermaßen alles; in der Mitte ein Ausgemergelter mit Geierschnabel
und schöngebogenen, harten Krallen: Pferdegraf und Käufer der Realität.
Zimmer, Statuen, Garten kümmerten ihn wenig, schlief und aß ja doch mit
den Roßknechten im Heu. Aber ging es aus, im Hof die Viererzüge zu
wenden, deren er vierzig hielt? Darum drehte sich alles. Ja, es ging
aus. Mama schlich, die Faust an den Mund gepreßt, herum.

»Wenn er nur nicht dahinterkommt, daß der Schwamm im Haus ist.«

Nach Monaten noch konnte sie ganze Nachmittage unter Angst setzen, von
Schadenersatzprozessen schwärmen, denn: »Schwamm bräche Kauf.« Ihre
ewigen Klagen über Kosten und Mühsal so großen Haushaltes hatten
schließlich den Gatten vermocht, sich von dem geliebten Barockschlößchen
Hildebrandts zu trennen. Nun konnte ihre Tyrannei der Schwäche den
überragenden Mann und das viel zu herrliche Kind in eine Mietwohnung
ducken. Schwammersatz würde sich schon finden lassen.

Sibyl, in verkrampften Nächten, gab sich zum ersten Mal ganz der Onanie
des Leidens hin. Kein Eigenheim: also kein Reh, keine Katze, keinen
Garten: keinen Fleck Leben mehr! Man grinste:

»Jetzt ist es wenigstens aus mit der ewigen Tierschinderei. Soll ja da
eine ganze Menagerie gewesen sein.«

»Was, Sie wissen nicht? -- Aber das ist doch stadtbekannt. Ins Wasser
geworfen, gepeitscht, gebraten hat sie die armen Kreaturen ...
häuserweit war's ja zu hören ... und auch sonst noch ... Die Frau
Regierungsrat Dostal, die doch danebenwohnt, hat erzählt ... na, ich
sag' Ihnen ... mit dem großen Hund ... Sie verstehen.« Die Herren
zwinkerten. Die Damen konnten es gar nicht fassen, ließen es sich denn
auch immer wieder erklären und sinnfällig dartun.

Papa brummte, es wäre ihr ja freigestanden, weiter hier zu wohnen, als
Herrin sogar. Der neue Besitzer hatte sie zu Pferd gesehen.

Da hob das Mädchen-Kind, statt aller Antwort, nur ein ganz klein wenig
die Brauen, im unbesieglichen Hochmut einer Siebzehnjährigkeit, die sich
nur von der Phantasie bespringen läßt. Dieser Roßmensch? Der fuhr mit
seinen Viererzügen doch irgendwo ganz draußen, vor dem Leben herum!
Gehörte noch gar nicht zum »Eigentlichen«, ein fehler und irrer Vorhalt,
wie das Übrige.

Ihr unruhig schlafendes Blut aber träumte davon, alles Würdige zu
umarmen: Götter, Tiere, Ideen, Taten. Einer Dreieinigkeit aus Dionysos,
Buddha und Newton hob es sich springrot entgegen, mit Hilfe des alten
»Noch-nocher« aus der Babyzeit: noch höher, geschmeidiger, weiser,
glühender, reiner werden. Dieser Trieb nach Reinheit, bis in die
entlegenste Minute hinein, begann ihr etwas von einem jungen Gralsritter
zu verleihen. Von diesem lichten Doppelgänger kam ein beflügeltes
Schreiten, eine Schwerelosigkeit an den Grenzen der Flamme, des
Schleiers, der Welle. Auch im Straßenschmutz sollte der Saum des Schuhs
noch ohne Makel bleiben.

Doch sie war so ein ganz alleines Ich -- nicht hilflos -- aber ohne
Hilfe und begann daher allmählich aus jenem vollkommenen Zustand der
Gnade zu fallen, als welcher allein das reine Befolgen des Instinktes
ist; wollte jetzt wissen, warum sie recht hatte, suchte nach Gründen,
letzten Endes also nach einem Rechthaben vor der Welt, somit leicht
angesudelt.

Es war eine Philosophie der Schlankheit, die sie sich da zurecht gelegt
hatte: Das Wesen des Lebens sei Bewegung. Bewußte, aus Innervationen
erfließende Bewegung, im Gegensatz zum Toten, das sich nicht bewegen
könne ... Demnach müsse alles Dichte, was der Durchflutung mit Geist
entgegenstehe, als fehl empfunden werden, vollendet hingegen jener Kanon
der Glieder, der die leichtest zum Ziel strebende Bewegung ermögliche
... also Langbeinigkeit, Schlankheit (größte Übersetzung bei kleinster
Speichendicke) ... Das Lebendigste, jenes, in dem der Geist als Anmut
schwinge, wie im Wimpel der formgewordene Wind. Fett sei demnach eine
schwere Erkrankung oder ein Charakterfehler. Im Wohlgeratnen müsse es
unaufhörlich restlos zu Temperament verbrannt werden.

Nicht aus ihm, nicht aus wucherndem Bindegewebe wollte sie bestehen,
sondern aus Tausenden winziger Herzchen: den Muskeln, deren jedes das
Leben wirkt.

Der ganze Körper eine Herzprovinz!

Man grinste nicht mehr. Von nun an war sie irgendwie eine dauernd
Angeklagte, begann wie Scheidewasser auf ihre Umwelt zu wirken: wer
etwas Schönes hatte, mußte es ihr geben, der Gemeine sein Gemeinstes an
ihr auslassen.

Mit gezückten Operngläsern setzte man sich vor diesem anhebenden Leben
zurecht, wie im Theater vor einer Skandalpremière, hielt auf alle Fälle
das Schamgefühl parat, in der Hoffnung, es gröblich verletzt zu finden.

Das Mädchen-Kind begriff nicht. Vor ihr war immer zwinkernde
Beflissenheit, drehte sie den Rücken, flog es wie feige Bestien ans
Gitter, sie fühlte das mit einer Art empörter Bestürzung, bekam etwas
Steiniges und wäre so gern weich, sonnig und höflich gewesen.

                   *       *       *       *       *

Mama hatte keinen rechten Schwammersatz finden können. Suchte endlich in
sich selbst, stöberte eine beginnende Stoffwechselerkrankung dort auf
und begann sie mit Hingebung auszubauen.

Das Leben wurde zur Bühne der Dekrepidität.

Unkontrollierbare Schmerzen brachten Gatten und Tochter um den Schlaf
ihrer Nächte. Die freie Hand über einen Stock verkrümmt, hing sie sich
im schnellfüßigen, bewegungshungrigen Mann fest, machte ihn durch die
gähnenden Gärten der Kurorte schleichen bis er, psychisch hilflos wie
ein Bernhardiner und voll Engelsgeduld, sich jedes normalen Lebenstempos
zu schämen gelernt. Auf der andern Seite trug Sibyl mit hängenden
Flügelschultern Plaid und Luftkissen. Plötzlich klagte es vorwurfsvoll
durch die wehleidige Öde:

»Heitre uns auf. Jugend ist zum Aufheitern da.«

Besonders hinfällig gestaltete sich stets der Eintritt in Speisesäle,
mit Stehpausen aus verbissenem Schmerz. Scharf grün blieb ihr Blick
dabei auf jede Miene des Gatten zentriert -- wehe wenn er zuckte. Dann
weinte sie oben der Tochter vor:

»Er geniert sich. Es ist ihm peinlich, mit einer Leidenden gesehen zu
werden.«

Hinter dem Rücken des Einen verleumdete sie den Andern. Kam es heraus,
steckte sie sich hinter den Arzt: »Was, einer Kranken Vorwürfe.« Stets
schlau bedacht, beides zu genießen: die Rechte der Vollsinnigen zugleich
mit allen Vorteilen der Unverantwortlichkeit. Die Nachteile blieben den
andern. Über jeder lebendigen Regung hing als Damoklesschwert die
Herzlosigkeit, und nie hätte der Mann es wagen dürfen, sich der
unappetitlichen Fron des ehelichen Schlafgemachs zu entziehen, in dem
seit Jahr und Tag für ihn weder Ehe noch Schlaf war.

Sie kannte Sibyls Haß und Verachtung für Frau Binder, seit der
erzwungenen Abbitte im Tanzinstitut, und es gelang ihr unschwer, sich in
die manische Überzeugung hineinzusteigern, nur im Hause Binder könne sie
gesunden. Man solle die edeln, gütigen Menschen um Gottes willen
anflehen, sie auf ein paar Monate als Gast aufzunehmen -- mit Sibyl
natürlich -- ohne ihr einziges Kind ginge sie zugrund. Dieses knirschte
vor Verzweiflung, solch bornierten und anmaßenden Spießern zu
Dankbarkeit verpflichtet zu werden für alle Zeit, sie, die von
niemandem, den sie nicht mochte, auch nur eine Handreichung annahm, oder
das Odium des Muttermordes auf sich laden!

Das alles geschah weniger aus Boshaftigkeit, als um der eignen Person
gesteigerte Bedeutung zu erschleichen. Da sich die Effekte abstumpften,
griff sie mit der Zeit naturgemäß zu immer bedenklicheren Mitteln, ihre
Lieben in Angst und Friedlosigkeit aufgescheucht zu halten. Schließlich
blieb nur noch die Todeskoketterie wirksam übrig. Eines Tages sagte sie
Datum, Stunde und Minute ihres Hinscheidens genau voraus, arrangierte
das Szenarium, wies jedem seine Funktion zu. Sibyl wurde, als die Zeit
kam, mit einem Batisttüchlein hinter den Lehnsessel postiert, ihr den
Todesschweiß von der Stirn zu wischen, doch eben im Begriff, sich in ein
wohlgeratenes Herzkrämpfchen hinaufzusentimentalisieren, ergab es sich,
daß man heimtückischerweise die Uhren falsch gestellt, sie um ihre
Todesstunde geprellt hatte.

Endlich eines Nachts versuchte sie es mit Veronal. Sah schon die »_scène
à faire_« vor sich: andern Tags die zwei Bösen, Freien, zerknirscht vor
dem Bett ins Knie gebrochen und sich selbst von den herbeigeeilten
Ärzten gestützt, noch schwach aber unendlich rührend, die Lippen
bewegen:

»Ich wollte fort. Ich bin euch ja doch nur zur Last.« Und ohne Worte,
nur mit stummem Blick, um die Übeltäter vor dem Personal zu schonen: »So
weit habt ihr es glücklich mit eurer Herzlosigkeit gebracht.«

Sie vergriff sich aber in der Dosis -- nahm genug. Der Vorhang hob sich
nicht wieder.

                   *       *       *       *       *

Es war nach dem Trauerjahr, bei einer großen Teegesellschaft. Da trat
ein Mensch zur Tür herein. Niemand kannte ihn. Um niemanden kümmerte er
sich. Ging pfeilrecht mit nachtwandlerischem Lächeln auf Sibyl zu und
blieb vor ihr stehen. Nicht wie einer, der etwas zu sagen, sondern zu
hören kommt.

Er war jung, gradhaarig, schmächtig, doch von der verdrechselten
Knorrigkeit van Eyckscher Engel, wie mit einem trotzigen Feigenblatt
geboren. Aus der Haut einer Hostie sahen Augen des Illuminaten. Das
Zahnbein war schlecht. Der Anzug unauffällig korrekt.

Johannes der Täufer im _frock coat_? Aber sie war verschüchtert, ja,
erschüttert von dieser zähen Gradheit. Angelus: der Bote fiel ihr ein.
Frug schließlich, als er unbekümmert weiter schwieg:

»Was kann ich für Sie tun?«

»Es wäre eher an mir, so zu fragen, da ich zu Ihnen entboten bin.«

Er sprach herbe schlesische Mundart. Die Silben kollerten als kleines
Urgestein aus seinem jungen Mund, der dabei eckig anzusehen wurde.
Dieser Fremdling stand da -- wie aufgetaucht -- beladen mit den
Morgengaben einer unbekannten Tiefe vor ihr, als sei sie die einzig
lebendige Seele in der ganzen Welt. Er klärte nichts auf. Manches ergab
sich, erriet sich, andres blieb: ein dunkler Reiz. Sie sprachen durch
Stunden. Die Leute ringsum zogen am Rand ihrer Sinne in einem ganz
andern Medium dahin, wie in den Wasserwürfeln der Aquarien bewegter
Schleim zieht. Er machte sie spüren, sie sei behütet, irgendwie
auserkoren, von geistigen Führern erwartet. Er, deren Bote und Mittler
nur. Worte wie Sterne fielen auf sie nieder, von herber dunkler Glorie.
Sie fing ein Jegliches mit dem Herzen auf, denn ihr Hunger nach Seele
war sehr groß.

Gabriel Gruner hieß der Fremde -- nein: der Bote.

Wieder schossen die Silberdämpfe der Phantasie auf. In Tag- und
Nachtträumen warf sie sich hinein. So gab es doch eine magische Brücke
ins »_Eigentliche_«! Gab Schlüssel, die Reich auf Reich erschließen
durch verborgene Kräfte im Menschinnersten selbst!

Mit seinen Holzschnittgebärden, mehr als mit Worten, hatte Gabriel
Gruner an all das gerührt. Wie von fern, unnahbar der Rede, mystische
Übungen angedeutet, die den Körper so von innen heraus verwandeln
sollten, daß lebendige Zeichen am Fleische sich bildeten: Marksteine
gleichsam auf der Vergottung Pfad. »Und sehen sein Angesicht, _und sein
Name wird an ihren Stirnen sein_.«

Nie hatte sie Bibelworte so sprechen gehört. Seine Art ragte wie ein
Magnetberg herein in den seichten Aufkläricht, die passive Intelligenz,
den Unernst ringsum. Da sagte einer dies, der andre das -- keiner sah
aus wie das, was er sagte.

Endlich ein Ausweg. Loszukommen aus dem Leben ohne Tod. Ohne das heilige
junge Gebilde zertrümmern zu müssen, das sie behüten durfte, und dessen
Kniekehlen ihr verehrungswürdiger schienen als das Himmelreich.

Doch in welch eine Existenz war es gefallen. So voll Sonnigkeit sein und
immer hinter innerlicher chinesischer Mauer, immer aus Notwehr in die
Isolierzelle des Niveaus gesperrt bleiben müssen. Nur mit
zusammengebissenen Zähnen war es eben noch zu ertragen gewesen. Aber
konnte man denn anders? Läßt sich in kaltem Eiter atmen? Wo alle ihre
verfaulten Jugendwünsche wie petrefakte Fötusse in sich herumschleppten,
boshaft geworden an ihren feig verhaltenen Früchten! Fliehen mit dem
geretteten jungen Seelenleib aus solcher Welt. Wie leicht mußte es sein,
ganz auf sie verzichten.

Und Sibyl nahm sich Gott vor, mit Überspringung aller Zwischenstufen.

Sprang Gott an wie eine junge Löwin. Bei IHM würde man endlich in
Reinheit geborgen sein, denn: »Da wird nicht hineingehen irgendein
Gemeines und das da Gräuel tut und Lüge, sondern die geschrieben sind in
das Lebensbuch des Lammes.«

Eigentlich wäre ihr ein andres Tier und Kraftsymbol lieber gewesen. Nun
also gut: »Lammes.«

Hätte auch gerne den Boten befragt, warum das innere Wort, als welches
die geistige Wiedergeburt des Menschen wirkt, trägt und vollendet,
gerade hebräisch sein müsse? Dem fremden Buch einer fremden Rasse in
fremden Gleichnissen entschöpft? Flottierte der verborgene Geist nicht
frei und ward je nach der Menschenart anders in jeder offenbar? Doch
klang das nicht wieder trivial, roh, vorlaut, undankbar? Endlich
bewundern, vertrauen, gehorchen dürfen, wie war das schön. Sie forschte
auch nicht, als eines Tages der Bote geheimnisvoll verschwand, wie er
gekommen. Fühlte ja förmlich den Ort der mystischen Bruderschaft:
deutsche Herbe, Enge, Handwerk, Wald, dort in Gabriel Gruners
schlesischer Grenzheimat, wo der Vater Organist gewesen.

»Man muß den Schild der Armut über die Schätze des inneren Lebens
halten,« war alles, was er von sich gesagt.

Das gab es also wirklich! Auf demselben Gestirn mit Gasrechnungen, Ex-
und Import, Hundesteuer und Leitartikeln.

Brief über Brief kam voll Weisungen für die jüngste Jüngerin. Es war ein
Werben ohne Werbung. Aus verborgenem Licht schlug sich ein Regenbogen
von ihm zu ihr. Seine manische Sicherheit war frei von Anmaßung, denn
hinter ihm stand mehr als Sterblichkeit, und das süße große Du brach
ihnen aus gemeinsamer Jüngerschaft als seine erste Knospe auf.

»Mein geschwisterlich Gemahl im Geiste -- zeitlos atmen mit Dir,«
schrieb er einmal.

Noch andre Briefe kamen. An Papa. Mit Insinuationen. Das Auftauchen
dieses Fremden war nicht unbemerkt geblieben. Eines Tages fand sie ihre
Korrespondenz erbrochen; die widerlichste Szene folgte. Denn es ist eine
indezente Wahrheit, daß die hoffnungslose Eifersucht von Vater zu
Tochter, weil körperlich rein, um so gewissenloser mit allen psychischen
Begleiterscheinungen der Ausschweifung, als da sind: Gewalt, Arglist,
Betrug, Wortbruch, Verrat, in Form von _Elternpflicht_ sich auszutoben
sucht. Das jungfräuliche Kind steht nun empört, begreift nicht, weil
kein grimmes Glück die Kette der infamen Nervenspiele je durchstößt und
ihnen Sinn gibt.

Der junge Nebenbuhler wiederum kommt heil nur an dem leidenden Vatertier
vorbei, befriedigt er maßlos dessen Eitelkeit, da wird es resigniert
satt und still.

Über Sibyl aber ergoß sich nun eine ganze Marlittiade: wie Papa
vermeint, eines Tages müsse ein Goethe, der zugleich Vanderbilt,
englischer Herzog und französischer Botschafter, in einem Auto aus den
Wolken fallen als sein Schwiegersohn. Die Tochter mochte bis dahin auf
Eis liegen oder sonstwie Neutrum sein, wie es gerade für ihn am
bequemsten schien.

Jetzt, bei der ersten Abweichung von diesem naiven Programm, beging er
gleich das Allertörichteste: drohte, da sie minderjährig, mit der
Polizei. Zurückbringen würde er sie lassen im Fall einer Heirat und den
Mann wegen Entführung verhaften. Trieb Sibyls Selbstachtung damit in ein
_fait accompli_ hinein, wo bisher nur immateriell jungfräulicher Rausch
gewesen.

All dies unwiederbringlich Zarte, das Edle, Einzige, Innige, alle
Keuschheit erster Liebwerdung hing jetzt: ein abgehäuteter Seraph wie
zwischen ausgespreizten Viehkadavern in einem Schlächterladen in seinen
cruden Worten. Da sammelte sie sich in ihrer Trauer und Empörung,
schwang sich wie eine Lanze -- und traf -- traf -- traf --, den
Menschen, den Vater, den Mann. Sagte, was sie nie gewußt, hellsichtig
vor leuchtend intelligentem Haß, in Worten von leiser, blanker,
tödlicher Mißachtung.

Und weinte und weinte dann auf ihrem Bett, fassungslos entsetzt über die
Schöpferkraft des Hasses.

Zwei Jahre lang wechselten Vater und Tochter kein Wort. Am Tag ihrer
Großjährigkeit ging sie aus dem Haus und ließ sich mit Gabriel Gruner
trauen, war so erschüttert dabei, daß sie ihr eignes »Ja« überhörte, es
später nochmals stammelte, taumelnd von dem cherubinischen
Hochzeitsflug: dem Flügel an Flügel durch die anwachsende Glorie
fließen, ohne Trennung, ohne Tod, lotrecht auf den Fluten des Strahls --
bis zu Gott. Das sollte die Ehe sein.

                   *       *       *       *       *

Ihre scheuen Knabenkörper kannten einander kaum.

Schwarzgekleidet bis zum Hals saß Gabriel in der Sonne und sagte:

»Es fehlt dir an Demut.«

Seine Macht war sehr groß; ging aus von der verborgenen Morgengabe
hinter dieser breiten, bleichen Stirn. Sobald er sprach, lag ihre Seele
quer über seinen Knien und die flutende Empfindung spülte jede Vision
herauf, deren er bedurfte.

Bei diesem Wort: Demut aber stockte die schöpferische Hingabe. Langsam
stand sie auf, wie ganz wo anders. Ihr Gesicht schwebte in die Höhe,
kantig wie ein Windenkelch und plötzlich von heidnischer Eleganz.

»Demut!« Das Wort mußte doch jedem Menschen mit Selbstachtung irgendwie
widerstehen. Ja: hätte er »Ehrfurcht« gesagt, das wäre etwas anderes
gewesen. Demut ist Ducken, Ehrfurcht sich aufrecken zu Gott.

»Gut, gut, man weiß schon: »wir sind allzumal Sünder und sollen nicht
wider den Stachel löcken.« Und ich sage mindestens drei Lügen an einem
einzigen Vormittag und verunreinige sie auch noch mit Wahrheit, daß es
einen Sudel gibt, und da ist kein heiligster Augenblick, in dem ich
nicht auch ein klein wenig an meine Frisur gedacht und kein
Erkenntnisrausch, den das Wort »Jause« nicht ganz freundlich
unterbrochen und da _ist_ kein geliebtester Mensch, dessen Tod ich nicht
spielerisch ausgekostet und durchprobiert hätte. Aber das schießt alles
wie Sternschnuppen rechts und links vorbei. Innen steh' ich _ohne
Demut_, bis in die Seelenspitzen aufgereckt in Sehnsucht nach dem
Reinsten, und so sehr kann ich wollen, daß mein Herz aus der Brust
greift und es sich nimmt.«

Sie hatte die ganze Zeit geschwiegen. Gabriel Gruner bekam seine manisch
hellseherische Knorrigkeit:

»Man darf nie etwas _wollen_. Wer nicht mehr will, zu dem kommt alles.«

»Dann braucht er es nicht mehr,« sagten die zwei störrischen
Sternsaphire oben in dem kantigen Windenkelch von heidnischer Eleganz.

»Nur solang ich mich danach zermartre, brauch' ich's. Nur solang
jahrelange herzzersprengende Sehnsucht sich, fahl vor Ungeduld, an
unsichtbaren Widerständen schluchzend zerstört: da mitten hinein hat die
Erfüllung zu brechen oder sie ist nichts.«

Etwas Taubes war in seine Haltung gekommen. Das, was sie »das
Feigenblatt vor dem Kopf« nannte. Als wiche zur Strafe ihrer Störrigkeit
die verborgene Verheißung hinter seiner Stirn weit von ihr zurück.

Nein, nur das nicht. Sie warf sich ihm nach. Gab alles Eigen-Sein,
überhaupt alles Sein auf, übte Demut und versuchte die Sehnsucht zu
verlernen.

                   *       *       *       *       *

Der geistige Führer war ein Doppelwesen. Hieß Scheible und Radinger.

Jeder für sich war nichts. Stiller, ländlicher Handwerker in
schlesischem Walddorf. Zusammen bildeten sie ein magisches Zwiegeschöpf,
dem Seherschaft eignete, inneres Schauen, Führertum. Ob ihre Körper
dabei räumlich getrennt, blieb belanglos.

Im Alltag war Radinger: der Schreiner am Dorfplatz, weitaus der
Bedeutendere: von intelligenter, schlichter Großartigkeit, dem
Selbstporträt Dürers ähnlich, doch mystisch ohne Schöpferkraft. Das »in
den Geist kommen« hub stets in Scheible an, einem alten Flickschuster,
von kläglicher Wortarmut, unbeholfen, auch bresthaft. Nur wenn diesen
kleinen Greis -- in seiner Werkstatt oben am Kirchenhügel, die er selten
verließ -- Starre und Traum befiel; wenn er, gleichsam horchend über den
kreißenden Geistkeim in sich gebeugt, dasaß, dann begann es aus Radinger
in Sturzgeburten zu reden, als das »innere Wort«. Das »innere Wort« gab
auch jedem Schüler den ihm eignen Geistnamen. Das Lebendigdenken dieses
»wahren Namens« sollte allmählich den Leib, den »alten Namen« verwandeln
zu Geist. Angeblich unverkennbare Anzeichen äußerer Art am Körper: wie
Wundmale, Linien, Buchstaben begleiteten diesen verborgenen Werdegang.
Markierungen auf dem inneren Pfad, vor jedem neuen Gipfel und Ausblick.
Diese Vorgänge durch Übungen wecken, ihr Kommen voraussagen, den Schüler
rechtzeitig lehren, wie er sie auswirke, durchlebe, überschreite, war
des mystischen Führers Mission.

Geistnamen, Vorzeichen, Zustände, alles war eng christlich an Symbol und
Diktion. Ging in den Sielen der Apokalypse.

Die kleine Gemeinde hatte sich hermetisch rein zu erhalten gewußt vor
dem alles wissenden Schnüffel des Zeitgeistes. Da gab's kein
Dranhinriechen, kein Hinterbein zu flüchtiger chemischer Analyse
dranheben, so einfach zwischendurch, im Galopp von Prellstein zu
Prellstein.

In den vierzig Jahren seiner gemeinsamen Bahn hatte das innere
Doppelgestirn kaum acht bis zehn Trabanten aufgenommen in seinen Wandel.
Als Ersten Gabriel Gruners toten Vater: den Organisten. Ein alter Stich
zeigte ihn von jenem grobkörnigen und süßstarrsinnigen Schlag, der als
Herrnhuter, böhmische Brüder, Rosenkreuzer, Albingenser, Europa von je
seine bockbeinige Elite gegeben.

Sibyl hatte das magische Doppelwesen noch nicht zu Gesicht bekommen,
wußte nicht einmal seinen Ort, war Jüngerin durch Gabriels Mittlerschaft
allein. Ungeheure Abweisung wehrte von vornherein jeder Frage, noch ehe
eigener Takt sie verbot.

Ab und zu tropfte Einer aus dem geheimen Kreis herein, verwirrte sich ob
ihrer Erscheinung, noch mehr als er entdeckte, wo sie schon hielt oder
man fuhr plötzlich fünfzehn Stunden an einen ganz obskuren Ort, traf die
Brüder einen Abend lang -- fuhr wieder auseinander. Dabei wurde kaum
gesprochen, das lagerte um den Tisch eines beliebigen Kaffeehauses, kühl
und schwer wie Schlangen und verdaute Seele. Alle hatten etwas lind
Versinkendes: Schiffe mit zu viel Tiefgang, schon die kleinste Welle
überspülte sie. Dann wieder fing einer was an: eine Fabrik, ein Studium,
eine Kunst. Nie wurde was Rechtes draus. Von Fehlschlag zu Fehlschlag
nickten sie einander saturiert mit steinharter Genugtuung zu. Hatten ein
Lächeln des Ekels für siegreich Unbeschwertes. Immer hing aller
Mißerfolg mit dem »inneren« Wort zusammen. Statt nun praktische Ziele
ganz zu lassen, bohrten sie doch immer wieder weiter, halbherzig und
sauer ahndevoll.

Gabriel Gruner war Quartalsasket.

Sein Geistname Matthias, als welcher nachträglich den Aposteln
zugeordnet, mit ihnen ausgestreut ward in die Welt, gab symbolisch
Veranlassung genug, sich plötzlich in Geselligkeit zu stürzen, die
Geselligkeit ihrer Geburtsstadt noch obendrein. Gerade hier war es ihm
gewiesen zu wohnen. Ganz in die Nähe zogen sie aufs Land. Blinkende und
kleinliche Sachen trug er ins Nest.

Daran nahm sie kein Teil. Alles oder nichts. Entweder Herzog oder
Anachoret. Mayfair oder die Wüste Gobi. Zu Palast oder Steinhöhle konnte
sie »Heim« sagen -- zu einer Sommerwohnung nie.

Doch war das alles nicht leer und gleich? Hatte sie, Sibyl, sich nicht
Gott vorgenommen mit Überspringung aller Zwischenstufen?

Sah sich manchmal ameisenklein, hierhin, dorthin rennen, in Vorortzüge
krabbeln, und stieg dabei, inwendig riesengroß, in einen tiefen Bronnen,
sah über sein erlöstes Rund noch einmal zurück nach dem fremden
Flohzeug: sie selbst, das vielleicht gerade um seinen Platz rang, in der
rollenden Streichholzschachtel auf ihrem steifen Stahl-Faden zum
Spinnennetz Stadt. Was das Ameisige dort Klägliches trieb, war
belanglos. Ihr Körper hob sich indes wie ein Gefäß wieder aus der Fülle
des inneren Bronnens, und als solches blieb sein Umriß ihr teuer wie nur
je.

Als ein Kind die mondweiße Mulde zwischen den Barsoiflanken beulig zu
heben begann, nahm sie selbst stets genau soviel ab, als die Frucht
schwoll, sog die feinen, harten Sehnen straff ein, ohne Erlahmen, von
Willen übergossen.

»O das kommt schon von selbst wieder in Ordnung,« sagten überlegene
Mütter, bei denen es offensichtlich doch nicht wieder in Ordnung
gekommen.

Von Monat zu Monat hoben sich zudringliche Lorgnons höher in der
gestielten Erwartung: endlich, endlich »normal«.

Nein, die noble Mulde füllte sich nur eben aus. Ein planer Spiegel blieb
die Grenze.

Die Lorgnons bebten entrüstet:

»Es ist nicht natürlich.«

Sie hob die Brauen stumm, leicht belästigt. Dachte:

»Hat man je gehört, daß eine Löwin vor dem Wurf die Figur verliert?
Nein, nur das Mutterschwein. Ist ausschließlich dieses »natürlich«. Ihr,
die nicht laufen, springen, tauchen, klettern könnt -- nichts von der
Natur könnt ihr, wie sie als Knüppel mißbrauchen, um jeden edeln
Aufstieg niederzuhalten.«

Schon liefen anonym Anzeigen wegen verbotenen Eingriffs bei Gericht ein,
da trieb ein Wirbel von Wehen das Ausgetragene springlebendig aus.

»Den Schild der Armut über die Schätze des inneren Lebens halten.«

Jeden Morgen gab Gabriel zehn Kronen für den Haushalt, um elf schon
mußte das Mädchen ihm von dem Geld eine Schachtel Zigaretten zu acht
Kronen holen. Sie lernte Bögen gehen um Eckladen, von Endsummen in
Einkaufbüchern wegschauen, erst auf den zweiten, dritten Blick sich
nahewagen, vor dem Kohlenmann in den Platzregen entweichen. Dabei
glaubte man sie reich, den ländlichen Taubenschlag eine Inseparablelaune
der einzigen Tochter aus vermögendem Haus. Sibyl merkte, wie alles sie
langsam abzutreiben versuchte vom pfeilrechten Stolz, und blieben
Geldfragen zwischen den Gatten auch ignoriert, zuweilen glitten Gabriels
Augen des Illuminaten in der Haut einer Hostie doch so wartend erstaunt
über sie hin. Wenn er nur nicht anfing, den Zauber nicht bräche.
Überwand sich schließlich aus Angst, er könne es doch noch fordern, kam
ihm zuvor, ging zu dem alten Familienanwalt, der sie als Kind auf dem
Arm getragen:

Aber natürlich. Das kleine Vermögen mütterlicherseits war seit der
Großjährigkeit fällig. Man würde die Herausgabe brieflich von Papa
verlangen. Da kam er auch schon gekrochen, die starren Glasaugen aus
ungeheurer Macht würdelos vor Einsamkeit. Aber es war zu viel, es war zu
viel gewesen. Das, was man fieberhaft gern geküßt, mit den graublonden
Wellen über der Stirn voll trotziger Falten, lag längst mitverkohlt im
hellichten Haßstrahl von damals.

Was blieb: ein fremder alter Mann -- sonst nichts.

»Komm mit,« bat Gabriel, aus monatelangen Versunkenheiten aufschreckend
zu seinem periodischen Anfall wahllosen Menschenhungers, und wies eine
Einladungskarte.

»Ich kenne diese Hersons doch gar nicht. Übrigens, welch ein Name, -- so
heißt man doch nicht ganz von selber?« Weder deutsch, noch englisch ist
es.

»Dein hellsichtiger Hochmut! Immerhin, der Sprößling vom alten Leiser
Herschsohn ist bereits in Eton erzogen: Gelehrter, Sportsmann,
Weltmensch, gegenwärtig Professor in Cambridge -- kann noch Vizekönig
von Indien werden.«

»So,« sagte Sibyl. »_Dieser_ Ralph Herson.«

Der alte Bankier begrüßte jeden, ganz fahrig vor Glück.

»Mein Sohn ist zu Besuch!« Und zitterte. Saß sonst mit einem schwarzen
Seidenkäppchen auf dem Eierschädel und verachtete alle seine Gäste. »Wer
schon zu mir kommt ...« Spitzte höchstens ein Ohr, fiel irgendwo das
Wort »Million«.

In der Bibliothek staute es sich heute interessiert, alle horchten,
einer sprach: ein dunkler großgewellter Greifenkopf auf eher kleinem,
überaus wohl gebautem Körper. Warmes Wogen ging in die Luft über von
diesem Haar, durch das ein weißer Strähn, wie der Montmorencys silberte.
Die Augen, gleich braunen Beeren, von denen das eine größer war,
spannten sich in ewig wacher Vitalität.

Sibyl erschien in der Tür und es geschah wie immer: alles wandte sich
und starrte. Auch aus dem Schwarm um Ralph Herson stieß es sich jetzt
ab, und wie ein gesträubter Kometenschwanz ihr zu.

Einen Augenblick standen er und sie, von Augen umklammert an den zwei
Enden eines leeren Luftstrahls. Man sah sein Herz im Halse. Dann war es,
als nehme er seine ganze magnetische Vergangenheit zusammen, würfe sie
über die Frau. Sie stand, mit seinem Fluidum übergossen. Es flutete an
ihr hinauf, drang, zurückgewiesen, nicht ein, rann ab. Er senkte die
mächtigen braunen Augen wie bestürzt, bewußt knabenhaft, dozierte
weiter, ignorierte sie. Zog später Gabriel sehr höflich ins Gespräch,
verneigte sich nur stumm vor ihr. Ließ alle Übrigen, lud das Paar zu
sich in den ersten Stock, zeigte seine naturwissenschaftlichen
Sammlungen, seine Bilder, das photographische Atelier. Bat kommen,
Aufnahmen machen zu dürfen. Entzündete den großen Gaskamin, rückte
Klubsessel, Kissen, arrogant und demütig zugleich, gab nicht Ruhe, bis
er es endlich erreicht hatte:

Die jungen Sternsaphire sahen ihn an, prüfend und groß.

Er senkte den Kopf, den Wohllaut der Schultern. Hatte eine Art hinter
blinden Lidern die Augen erst mit Wärme sich füllen zu lassen, dann warf
er die zwei Schalen voll schwebender Minerale dem andern mitten ins
Gesicht. Vor Sibyl aber ließ er es. Hob die Lider nicht mehr -- leerte
quasi seine ganze Macht vor ihr auf einen Gebetsteppich aus.

Nach korrekter Pause machte er seinen Gegenbesuch auf dem Lande, machte
Meisteraufnahmen, ordnete Gewänder, demolierte die Wohnung, unter der
schwarzen Schabracke des Stativs ein moderner fünfbeiniger Centaur.
Schickte Separata seiner Arbeiten, trug seine überlegene Sinnlichkeit
wie eine wabernde Toga, zeigte Menschen-, besonders Frauenmißachtung,
zitternd vor Anspruch, unterstrich den Unarier, den Ungermanen, zielte
wunderbar ebenmäßig gebaut auf ägyptisch-griechisch »_made in England_«.

Sein engeres Fach war das Tierexperiment. Er arbeitete gerade am
lebenden Vogelauge, hatte nebenbei einen Python unter dem Messer, von
Hunden, Katzen, Fröschen, weißen Mäusen zu schweigen, alles provisorisch
in einem Pavillon des väterlichen Gartens untergebracht. Er lud sie zu
einem besonders interessanten Versuch ein, wurde abgewiesen. Nahm es als
Weibchenpose einer großen Fee. Sie hatten heftige Diskussionen. Sibyl
leidenschaftlich, ging aus sich heraus. Er provozierte, genoß es als
erlesenes Extraexperiment.

Sie blieb im Garten, angeekelt.

»Heil aus gemarterten Tieren muß letzten Endes Unheil sein. Ihr
Vivisektoren vergeßt, daß Äskulap der Sohn Apollons ist. Fördert die
Hartfühligkeit, wie kann da der delphische Mensch gedeihen: Einer,
dessen Leib so sensitiv geworden, daß ihn schon ein Lorbeerblatt, in der
hohlen Hand gehalten, hellwissend macht und heil. Lorbeermenschen
brauchen wir!«

Er widersprach, hochfahrend gereizt, und unterwarf sich im selben Atem.
Wer rede vom »Heilen«, das interessiere ihn nicht, aber ohne
Sinnesphysiologie gäbe es kein Verständnis der tiefsten Dinge. Dazu sei
die Vivisektion eine praktisch unentbehrliche Technik, genau wie die
chemische Analyse, die ein Anhänger der Allbeseeltheit -- er schüttelte
sich vor Ekel bei dem Wort Seele, -- dann allerdings auch unterlassen
müßte. Er persönlich gebe zwar das Tierexperiment endgültig auf, sobald
sein großes vergleichendes Werk vollendet. Laienhafte Sentimentalität
dagegen wirke lächerlich. Nie hätten es Tiere in der Natur so gut,
gingen so human zugrunde, würden so behandelt und gepflegt wie
Versuchsexemplare vor und zwischen den Experimenten. Sie möge sich
persönlich überzeugen, wie die Tiere an ihm hingen. Er pfiff. Aus dem
Pavillon brach Freudengewinsel. Ein verbundener Köter kam
herausgekrochen, leckte seine Hände. Er streichelte, wie das Schicksal
streichelt:

»Nächste Woche kommt er wieder dran, aber er weiß es nicht -- das ist
die Hauptsache. Nur ich weiß es voraus.«

Er lächelte, gab dem Geschöpf, das ihn wedelnd umhinkte, einen
Leckerbissen. Dann reiste er ab.

In einem großen Kuvert des Nizzaer Tennisklubs kamen als Überraschung
Meisteraufnahmen von Baby und Gabriel -- keine von ihr. Ein Brief dabei,
zwölf enggeschriebene Seiten. Sie las kaum die erste. Er schrieb von den
Bildern, freue sich, daß ihr die früheren einiges Vergnügen bereitet.
Noch mehr freue ihn, da er sie über Phrasen erhaben halte, der Wunsch
eines Wiedersehens.

Und weiter:

»Ich darf Ihnen wohl aus so großer Entfernung und ohne die Bitte um
Geheimnis sagen, wie sehr gerne ich Sie gewonnen habe. Es ist gewiß
nichts Seltenes, daß man Ihnen das sagt oder andeutet, aber es ist etwas
außerordentlich Seltenes, daß ich das jemandem sage, daß ich es sagen
kann. Ja, ich habe es wie hier, ohne den leisesten egoistischen Anklang,
noch nie einer Frau gesagt.

Ihr ganzes Wesen, Ihre psychische Eigenart, Ihre noble Persönlichkeit,
viel mehr noch als selbst Ihre Erscheinung -- dies alles sprach mich
gleich das erste Mal so an, daß ich fast zu allem >ja< sagen mußte. So
oft ich mit Ihnen beisammen war, gewannen Sie, während die meisten
Frauen rasch verlieren. Wo mich andere hundertmal verletzt hätten -- ich
meine natürlich sich selbst verletzend, ihr eigenes Bild trübend, --
haben Sie mich nicht mehr als vielleicht zweimal verletzt. Ich hätte das
gar nicht für möglich gehalten.

Sie haben mich arm und reich gemacht. Reich, weil ich meine ganze
Vorstellung von der Frau erhöhen konnte, weil ich erfuhr, daß es doch
Wesen voll Anmut und Noblesse gibt, die meinem klar geahnten Ideale
nahekommen; arm, weil ich, seit ich Sie kenne, noch anspruchsvoller
geworden bin. Weil ich die Frauen jetzt an Ihnen, nicht mehr bloß an
einer abstrakten Sehnsucht messe, und kaum je eine finden werde, die
Ihnen als meine Frau vorzustellen mich auch nicht in einem verborgenen
Winkel meines labyrinthischen Inneren genieren wird.«

»Labyrinthischen Inneren« -- da brach sie ab und lachte. Ohne Bosheit,
aber unbändig wie ein Bub. Nein, dieses »labyrinthisch«. Wie
geschmacklos!

Nächsten Tags nahm sie den Brief doch noch einmal auf, wog ihn in der
Hand, las diesmal nur die letzte Seite:

»Es fällt mir schwer, Ihre und Ihres Herrn Gemahls Gesellschaft zu
missen. Ich bin Geselligkeit liebend und bedürftig, aber ich finde sehr
schwer Menschen, mit denen ich auftauen, mit denen ich freundlich sein
kann -- ich bin es überaus gerne -- oder die mir sogar Funken entlocken
können. Ich danke Ihnen manche Anregung und freue mich, sie zu erwidern.
Am schönsten wäre es, wenn wir uns einmal in England oder in Italien
oder im Hochgebirge treffen, miteinander Sport treiben oder Kunst
genießen könnten. Ich mußte immer allein oder mit gleichgültigen
Menschen reiten oder reisen oder bergsteigen -- vielleicht habe ich auch
einmal die Freude, Sie beide als meine Gäste zu sehen, im Süden, wo ich
mir ein Heim zu bauen gedenke.«

Sie antwortete kaum. Doch durch Monate, über Länder und Meere her kam es
»hochachtungsvoll« herbeigeströmt. Einmal auf Briefpapier der _British
Association_, einmal mit dem Abdruck einer Gemme aus Syrakus. Dann
wieder eine Anfrage, ob er ihr aus Paris etwas besorgen könne.

Sie antwortete gar nicht.

Nun schrieb er:

»Wenn ich jemanden gern habe, ehre ich seine Freiheit -- wenn Sie just
einmal keine Lust hätten, mich auf der Straße zu grüßen, ich würde
nichts anderes denken, als eben dies.«

»Was will der seichte Jude!« sagte Gabriel, mit der ganzen knorrigen
Hoffart des Reformationspatriziers, als beim Frühstück immer die gleiche
vergrößerte Schrift bewußt und wohlerwogen den Spiegel exotischer
Kuverts plastisch durchmaß. Papier, Schriftbild, Verschlußmarke: ein
zusammenstilisiertes Kunstwerk, stets variiert, doch gleicher
Grundkraft, so daß sie sich gewöhnte, es um sich zu dulden als
ästhetischen Genuß. Ein warmer Schauer von lauter viereckigen
Ausschnittchen einer weiten und gepflegten Erde. Alles, was sie gelassen
in Sehnsucht nach noch nicht dagewesener Überhöhung -- im Spitzentrieb
nach Äußerstem.

Dann sank eins ums andere aus dem Schwarm dahin in den Papierkorb, sah
ihr von dort doch noch in die Augen -- hartnäckig durch Wohlgestalt.

Auch sein Schweigen war Kotau.

»Ich hatte Ihnen aus Bonn und Heidelberg geschrieben, fand kein Ende,
vielmehr, es gewann nicht die Form, in der ich Ihnen Geschriebenes gern
sehe. So ließ ich's ganz.«

Also keine »labyrinthischen« Innereien mehr!

Um das Rätsel ihrer Ehe: dieser magischen Starre eines geschlossenen
Systems, glatt gegen Angriff, strich er mit eingezogener Hinterhand,
leise fauchend. Wagte keine Frage.

Alle Probleme des Wissens erörterte er mit ihr als Macht zu Macht. --
Versuchte, sie zur Detailforschung herüberzuziehen, weg von den großen
Grenzgebieten. Doch als Beweis, wie er auch hier zu Haus, verfaßte er
eine Broschüre über »Scheinprobleme« mit Anpöbelung aller mächtigen
Geister von je bis ehegestern. Schrieb dazu:

»Wollen Sie diese kleine Studie als Ihnen gewidmet betrachten. Sie haben
mir immer so wohl getan, daß ich Ihnen stets nur Angenehmes erweisen
möchte. Mögen Sie dieses bescheidene Zeichen einer außerordentlichen
Verehrung freundlich und freundschaftlich aufnehmen.«

Sie lehnte die Widmung ab, übte höflich schonungslos Kritik an dem
Dilettantismus der Arbeit. Geübter, intensiver im letzten Zusammensehen,
denn dies war ihr eigenstes Gebiet.

Er ging über die sachlichen Einwürfe hinweg, nahm es persönlich, wenn
auch als milder Psychiater, schob alles auf Rassenunterschiede.

»Ich bin sehr schwer zu beleidigen,« lief seine linde Entgegnung, »habe
aber natürlich nicht länger als zwei Minuten -- nicht zwischen den
Zeilen gelesen -- Absicht merken lassen und doch nicht merken lassen,
das geht eben nicht, aber es hätte mich gefreut, wie alles, was Sie
erhöht, wenn es auf so feine Art geschehen wäre, daß man ganz im Zweifel
hätte bleiben müssen, ob eine verletzende Absicht vorlag. Das war Ihnen
wieder nicht wichtig genug! Sie sind offenbar enorm reich! Ich ganz
Alter vermag sogar die Frische solch scharfer Urteile zu genießen, die,
wie fast alles, was von Ihnen ausgeht, eine besondere Anmut haben. Es
erinnert an Jugend und Überschwang, fast Schnurspringen. Aber ich wittre
etwas anderes dahinter, was neben der metaphysischen Narrheit -- oder
milder: Überflüssigkeit -- in den allermeisten Ariern steckt, nämlich
eine gewisse Not und Sorge, eine privilegierte Fasson der Erkenntnis und
Seligkeit zu besitzen. Solchen paßt ein vorurteilsloser
Standpunktwechsel nicht, sie häufen Scheinprobleme in Physik, Chemie,
Biologie, umnebeln sich mit philosophischem Schwulst, der den einzigen
Vorteil hat, daß ihn kein normaler Mensch versteht und man in ihm >unter
sich< ist. In dieser arischen Intoleranz, diesem Bonzentum und
Parteinehmen aber liegt etwas Armes, und es stimmt mir nicht zu ihren
sonstigen Weiten. Mein Wesen ist zu sehr Vernunft, praktischer
Idealismus und Güte -- Güte und noch einmal Güte >bedingungslos<.«

Immer, wenn er etwas Schönes sagte, was sehr rein, sehr vernünftig
klang, zog sich ihr durch den Reiz ein leiser Widerwille, als hätte er
so Richtiges zu sagen noch kein Recht.

Und diese dreimal hochgehaltene »Güte«! Als schwenke er sie -- ein
Gelegenheitskauf -- frisch von der Auktion. Sie bohrte weiter:

»Zeigt die Begeisterung, mit der er von >bedingungsloser Güte< spricht,
nicht gerade, daß ihm jede praktische Erfahrung in der Materie fehlt?
Mir scheint, wer wahrhaft gütig, -- noch traf ich keinen -- ist es
knirschend, abgewandten Gesichts, _weil er nicht anders kann_, trotz
infamster Erfahrung, denn das ganze Maß menschlicher Gemeinheit kennt
nur er, weil nur an ihm die Feigheit ganz sich loszulassen wagt.«

In diesen Monaten sumste es durch alle Türritzen in ihre siebzehnfach
verriegelte Zurückgezogenheit: Geschmeiß, die Rüssel naß vom Aas allen
Tratsches, der hinter ihm herstank. Nun rächten sich Gabriels Anfälle
von Leutegier: flüchtige Vorstellung einst mit einem Nicken quittiert,
ward zum Vorwand stürmischer Begrüßungen an Straßenecken, und nach drei
Sätzen fiel der Name des Berühmten -- Berüchtigten. Ungute Damen
verwandelten sich in mütterliche Freundinnen, Lebekommis in ethische
Warner. Man übergruselte sich gegenseitig mit Andeutungen der
Wollüstlingslaunen dieses Verderbers der Jugend. Mütter beteuerten, ihre
jungen Söhne nicht in seine Nähe zu lassen, ihre jungen Töchter aber
warfen sie ihm alle nach, denn er war die große Partie.

»Rein de Thier mißt mer zusperren vor den Damen,« sagte der alte Leiser
Herschsohn, ganz angeregt, und rückte sein schwarzes Käppchen -- sehnte
sich nach einer Schwiegertochter, nach Enkeln.

War er wieder im Lande, sah Sibyl es sofort. Selbst die entferntesten
Cousinen der Clique erschienen plötzlich mit Sportmützen aus Pardelfell,
hielten Regenschirme wie Tirsusse, und schaute man hin, wandten sie sich
ins Profil, mit einem fragwürdigen und grausamen Lächeln.

Sibyl amüsierte sich: der Arme -- welch ein Evoe-Kitsch -- das verdient
er denn doch nicht. Zu ihr und Gabriel kam er stets am letzten Tag vor
einer unaufschiebbaren Abreise, versäumte zwar den Zug, fuhr aber doch
mit dem übernächsten. Ritt rauh, arrogant, störrisch seine Steckenpferde
vor: Philosophie des Standpunktwechsels, Zuchtwahl, Eugenetik;
gewaltsam, unpersönlich und heftig. Als Baby Charmion hereinkam, brach
er ab, vor diesem Arielwesen beugte sich das zerrissene Greifengesicht
andächtig über die rosigen Füßchen. Dann wieder brutal dozierend.

Jede phänomenale Frau müßte von Staats wegen mit sechs -- sieben
auserwählten Männern Kinder bekommen. Welch ein Versuchsmaterial das
ergebe.

»Und wenn sie nicht will?«

Ein unbeschreiblicher Ausdruck von Übermut, Grausamkeit, Verspieltheit,
Wollust rann aus den Augenecken über das schöne Gesicht, und von seinen
eigenen, dunklen, magischen, unerhörten Strahlen gehoben, mit einer
glücklichen, brechenden Knabenstimme:

»Dann wird sie angebunden.«

Beim Abschied in die laue Sommernacht hinaus, vermied er sorgsam ihre
Hand. Verbeugte sich nur bös und tief. Dann tonlos vor Erbitterung: »Sie
sitzen hier in diesem Nest und die ganze Welt dürstet.«

Um Weihnachten, Gabriel war in Schlesien, ließ eine Dame sich melden.
Ralph Hersons Empfehlungsbrief lag eine Visitenkarte bei: Lady Tatjana
de Walden war unter weißem, dekorativem Wappengetier zu lesen.

Gleich darauf stand eine Frau im Zimmer, exotisch, robust, resolut und
unfrei zugleich, die Arme voll Blumen, ein großes Kuvert in der Hand.
Schaute und schaute in fast tierhafter Spannung mit schönen, grauen
Augen unter allzu neugelbem Haar. Keine Engländerin. Das sah auch Sibyls
großgewordene Kindlichkeit. Keine Fremde, eine Überfremdete nur. Sie
sprach in vorsichtig ausgelaugtem Deutsch, das zu dem urwüchsigen Umriß
der Gestalt nicht passen wollte. Über das angenehme, etwas breite
Slavengesicht rann manische Devotion. An was erinnerte nur das? Richtig,
Manege. An alles, was zu erhobener Dompteur-Peitsche auf Hinterbeinen
steht. Die Dame war mit umständlich vereinfachter Eleganz gekleidet --
sah aber doch aus, als hätte sie früher einen Ring am Mittelfinger
getragen.

Als der Gast unter stürmischen Erscheinungen von Glück und Entzücken
Abschied genommen, öffnete Sibyl das große Kuvert. Ihr eigen Bild: in
Dutzenden von Auffassungen. Ein kleines darunter, leicht getönt. Wieder
sie: mit bloßen Füßen, und über die trocken hellen Halme ihrer Glieder
stürzte als bananenfarbener Regen alles Haar.

Mit dem Haar vermischte es sich: seine unverkennbare Schrift, doch so
blaß, daß völliges Übersehen möglich blieb.

   »Wer ist sie, der ich sie vergleiche,
   Die schöne Freudenreiche?
   Das müssen die Sirenen sein,
   Die wie mit dem Magnetenstein
   Die Herzen ziehn in ihren Bann.«

                   *       *       *       *       *

   »So zog Yseult viel Herzen an,
   Die sich vor der Sehnsucht Leid
   Sicher fühlten und gefeit.«

Die Dame kam, verschrieb wappenreiches Briefpapier, schickte Blumen,
verhätschelte Charmion. Und aus ihr sprach immer ein anderer. In ganzen
Schnüren von Sätzen kamen seine Worte. Erschrocken stockte sie, hatte
sich auch nur ein Adjektiv verschoben -- fing noch einmal an, bis es
originalgetreu saß. Diese Hörige schien resolut, zäh, schlau, doch alles
Eigenwüchsige war ausgetrieben, nur die Vitalität hatte er ihr belassen,
seiner eignen zur Verstärkung, wie es schien.

Als sie abgereist, schauerte ein Regen von Papier hintennach, wie
blinkende Schnitzelchen aus einem Reklameballon. Auf einer der Karten
stand:

»Dank, Dank, für alle Lebenssteigerung, die Sie, einfach durch ihr Sein,
mir gespendet haben. Hoffentlich sind Sie so zufrieden und glücklich,
wie Sie scheinen, und nur das Gute erfüllt sich, das in diesen
vornehmsten aller schönen Hände für den Kundigen geschrieben steht. Und
wenn Sie doch einmal einer Brangäne bedürfen, so rufen Sie mich.«

Von nun an unterschrieb sie sich nur mehr: »Brangäne.«

Ralph Herson selbst hatte während der Episode Tatjana geschwiegen. Nun
schrieb er wieder:

»Lady de Walden dankt mir in einem begreiflich überschwenglichen Brief,
daß ich ihr zu Ihnen, der früher nur aus Bildern Gekannten und danach
schon Verehrten, einen Weg gebahnt. Es ist mir immer erfreulich und eine
Art Ziel der Lebenskunst, wenn ich mit einem Schlag mehreren Angenehmes
erweisen oder nützen kann, und so hoffe ich, daß auch Ihnen die
Begegnung erfreulich war.«

Nein, ein Ende machen. Es war zu viel, dieses ruhelose Ineinanderspielen
von Händen, dieser vorgeschobene Posten in glühendem Spionagedienst,
dieser neue Trabant und Zwischenträger, Konduktor und Strahlenleiter und
Wärmevermittler. Es war zu viel. Ein widerwilliges Herzklopfen befiel
ihre Selbstachtung beim Kontakt mit dieser »Lady«, bei der alles
fragwürdig bis auf das Sklaventum. So also dörrte er einem die Würde aus
-- dieser Samum. Entwurzelte Menschenzungen, dieser Vivisektor, pflanzte
Papageienzungen dafür, auf daß sie einzig seinen Ton verstärkten. Nein,
genug.

Da depeschierte er aus Genua:

»Lady de W. ist schwer, vielleicht lebensgefährlich erkrankt, ein paar
freundliche Zeilen von Ihnen, die sie so grenzenlos und heimlich liebt,
würden ihr im Innersten wohltun. Wenn irgend etwas Gemeinsames zwischen
uns ist, erfüllen Sie meine Bitte, von der die Kranke natürlich nichts
weiß, und senden Sie ihr, durch mich, einen Gruß. Es gibt Arzneien, die
nicht in der Apotheke zu kaufen sind.«

Sibyl dachte an Madame Swobodas Liebe und Ende, an ihre erste
_überflüssige_ Infamie ... und schrieb. Auch hatte sie die Frau gern,
ihre Kraft und Treue.

Er jubelte.

»Ich wußte, daß ich nicht vergeblich bitten würde, daß auch Sie der
Liebe haben. Die arme Lady T. lag eine Woche zwischen Leben und Tod,
trotz Morphium schlaflos in entsetzlichsten Schmerzen. Doch wenn Sie
gesehen hätten, welche Freude ihr der Brief der >besten Ärztin<, mit den
gewissen langhebelbeinigen schlanken Zügen, bereitet hat! Ich danke
Ihnen aufs innigste, daß Sie mir diese erlesene Mitfreude ermöglicht
haben, der Brief trug gewiß zur Besserung bei. Ich wußte übrigens nicht,
daß der Verkehr abgebrochen war. Warum, warum überflüssiges Leid
zufügen? Ich habe allerdings die Empfindung, daß Sie eben noch nicht
traurigste Erlebnisse hinter und unter sich haben, ja, daß das Leben
noch nicht einmal sehr große Schwierigkeiten, Hemmungen, Enttäuschungen
für Sie hatte. Das ist ein kleiner Defaut und läßt Sie vielleicht auch
Verläßlichkeit, Treue, alles positiv Erfreuliche, nicht so sehr
schätzen, wie Narbenbedeckte. Es gibt Ihnen aber andererseits etwas
Erhabenes, Heiteres, Unberührtes, das ungemein edel, sonnig und
erfreulich wirkt.

Möge Ihnen dies noch recht lange, ja für immer erhalten bleiben! Ich
würde geradezu leiden, wenn Ihnen irgend etwas geschehe.«

So war sie wieder im Garn der Güte, denn auch die Rekonvaleszentin
brauchte noch »Arznei«. Und was als Antwort zurückströmte: stumm
eingesagt klang es von einem unhörbaren Mund. Schon diese Schrift! Als
hätte er ihr vorzeiten jeden Buchstaben einzeln mit der Wurzel
ausgerissen, um ihn frisch hineinzustecken in ein Schriftbild von seinen
Gnaden; jetzt hing das Ganze steil hintüber, einer Frau gleich, die
hinter dem Rücken etwas zu verbergen sucht.

                   *       *       *       *       *

»Es nimmt dich auf,« sagte Gabriel nach seiner Rückkehr, ganz
durchsichtig in den Zügen vor Ergriffenheit.

»Als erste Frau. Du wirst erwartet. Jetzt hebt erst unsere wahre
Hochzeit an, denn nichts kann uns mehr trennen.«

Immer noch, seit dem ersten Tag, ging sie mit Gabriel die inneren Gänge
ihrer Verbundenheit. Bisher war er Mittler gewesen für die Weisungen des
Zwiegeschöpfs an sie. Nun sollte endlich ein wichtiger geistiger Vorgang
dem Stadium der Reife sehr nahe sein, sich auch von innen her in einem
Zeichen körperlicher Art auswirken: als Meilenstein am Weg. So war es
angesagt worden.

Noch am Abend wollte Sibyl reisen, taumelte vor Erregung wie im Traume
durch den Tag. Es flimmerte ihr so vor dem Herzen, daß sie sogar von der
Leiter glitt. Kam da auf der Jagd nach einem Koffer eine uralte Tasche
aus des toten Organisten Nachlaß vom Bord herunter, traf ihre Schulter,
sie verlor das Gleichgewicht und stürzte, gerade mit dem Handgelenk, auf
ein seltsam graviertes Petschaft, das aus der verblichenen Tasche
gerollt war. Der scharfe Steinschnitt grub in ihr Fleisch ein weinrotes
Mal. Rasch wand sie ihr Taschentuch darum. Gut, daß Gabriel nicht dabei
gewesen, er liebte nicht Gegenstände seines Vaters profan ins Licht
gestreut. Nun, es war ja nichts Böses geschehen, die kleine Quetschung
gewiß in einer Woche vergessen und heil.

Am zweiten Abend kam Scheible in den Geist. Saß halbstarr auf dem
Strohsessel seiner dämmrigen Werkstatt -- ferne schwebten die schönen
Augen mit den Greisenringen in dem kleinen Gesicht. Knotige Hände, im
Gegensatz zum blutlosen Schädel, mahagonibraun, lagen mit ihren
eingewachsenen Rillen Pechs im grünen Schusterschurz. An der Wand, breit
wie ein Baß, ragte Radinger mit seinen Holzschnittschultern. Gleich
einem Block füllte Ruhe den Raum, bis auf des Schreiners unaufhörlich
zitternden Kopf. Die südlich fremden Mandelaugen lagen geschlossen darin
und man ahnte sie hinter den Lidern nach oben gebrochen wie einer
empfangenden Frau. Der Mund war leer und wartete.

Sibyl saß auf der Ofenbank, sah Scheible ins träumende Auge. Zuweilen
spannte und erweiterte sich die Greisenpupille, dann begann es aus
Radinger zu murmeln, biblisch Klagendes oder Verzücktes, das sie nur vag
verstand, ihr auch nicht galt. Etwa nach einer Stunde stützte sie den
Ellenbogen aufs Knie, den müden Kopf in die Hand. Der Ärmel glitt
zurück. Das Aufwachsen ihres lichten Armes ins Dunkle mochte Scheibles
schwebenden Blick gefangen haben. Er sprang über, blieb wie ein
Bläuling, ehe er sich auf eine Blume niederläßt, über dem Blutmal an
Sibyls Gelenk in der Luft stehen, dann sog er sich langsam dran fest,
und Freude brach aus Radingers dunkelgerundetem Munde: das Doppelwesen
sprach die Quetschung an als das erwartete Zeichen. Sprach mit ihr von
Dingen, die sie nun wissen sollte und nicht wußte, da doch das innere
Leben zu dem Male fehlte.

Langsam kroch die grauenhafte Entdeckung sie an, vereiste ihre
Haarwurzeln:

Das »innere Wort« hatte geirrt. Wo Irren nicht möglich sein durfte, oder
es sank herab zu -- -- Hysterie.

War das Doppelwesen auseinandergefallen, ganz gleich was dann zwei
knorrig liebe, kreuzbrave, tiefgläubige und gütige Handwerker, ganz
gleich, was sie da: Wachblinde, zu wissen vermeinten -- doch als innerer
Doppelstern! Hier Täuschung und der ganze Weg war falsch _oder konnte
falsch sein_. Sie wartete in Todesangst, wie ein Verurteilter auf Gnade.
Nichts Erlösendes kam. Das Murmeln hörte langsam auf. Starre wich von
Scheible, von Radinger das Wort.

Im elenden kleinen Gastzimmer der Dorfherberge starrte sie vernichtet
auf die leicht verschwimmende blaurote Stelle an ihrem silbrigen Arm.

Zwei Möglichkeiten gab es: Diese Quetschung glich äußerlich, sei es
durch Zufall, sei es, weil die Sigille des alten Gruner wirklich jenes
Zeichen darstellen sollte, dem wahren Mal, dann war der Irrtum für ihr
Vertrauen tödlich, denn der Führer hatte _mit innerem Gesicht das
Wachstum ihrer Seele zu sehen_: das Mal von innen an ihr zu sehen, nie
durfte äußerer Stoß in die Haut ihn täuschen. Oder: und es war die
letzte Hoffnung: das Zwiegeschöpf hatte tiefer in ihr gelesen, als sie
selbst noch wußte. Das Zeichen war schon auf dem Wege sich zu bilden,
die innere Knospe nur noch nicht ins Bewußtsein aufgesprungen. Nichts
als eine leichte Verschiebung in der Zeit hatte stattgefunden und durfte
es, denn das Geistwesen »sieht die Zeit wie durch ein Rohr: alles auf
einem Haufen!«

Bald mußte es sich entscheiden, ob das echte Mal erschiene, das die
Seher vorgeahnt.

Noch ein Drittes gab es: aber darauf ließe sie sich nicht mehr ein: Das
»_credo quia absurdum_«. Nein, hatte man einen Bund geschlossen und sein
Teil des Paktes gehalten, so hatte sich auch der Drüben anständig zu
benehmen, und wär's der liebe Gott. Alles oder nichts. Und gab's einen
Weg solch absoluter Demut, ihr Weg konnte es nicht sein, war sie nicht
schon weit genug abgekommen von sich selbst?

Und _Hysterie_, ihr Kinderschreck, sollte wie die Jugend, so das ganze
Leben an einer fremden Gehirnkrankheit zugrunde gehen.

War es nicht, als setzten die Brüder dieser mystischen Gemeinde sich in
ein skurriles Geistesgefängnis, des perversen Ehrgeizes voll, daß ihnen
alles fehlschlüge und einer dumpfen Hoffart gegen jedes Unbeschwerte,
durch Freiheit Siegreiche.

Und man erfror vor Bedeutsamkeit bei ihnen.

Wo aber blieb jetzt der Sinn ihrer Ehe?

Nicht mehr Gabriels »geschwisterlich Gemahl im Geiste.«

Sie wartete mit aller Inbrunst auf das verspätete Zeichen des Lebens. Es
blieb aus. Suchte an des Mannes Schulter um Rat.

Er glaubte ihr nicht. Daß ES geirrt haben könnte, schien ihm
unausdenkbare Blasphemie, sie wolle ihn anstecken, vergiften, mit ihrem
Zweifel die Saat, gesät in Geschlechtern, verrotten in seinem Blut.

Da kam -- an Bord der »Titania« geschrieben -- viele hundert Seiten
lang, ein Brief Ralph Hersons.

Wie brennende Schiffe trieben glühende Wortgruppen ihr entgegen und
vorbei, abgelöst von irisierenden Wirbeln der Verheißung, rosig und
leise dahinrotierend in dem endlosen Strom der Anbetung. Eine
schmerzhaft konzentrierte Noblesse der Sprache, auch der Gesinnung wohl.
Denn wie hätte es schon zu Beweisen, zu Taten äußerster Treue kommen
können, so lang sie ihr Leben ihm nicht anvertraut. Nun schrie es aus
ihm »in heiligster Not«:

»Wollten Sie meine Frau werden? Ich gehöre nicht zu jenen, die solches
Wort leicht auf der Zunge führen -- Sie sind die Erste und Einzige, an
die ich je solche Aufforderung gerichtet« -- dann Prinzessin Augenweide
... und nun bot er ihr alles, was ein Mann einer Frau nur bieten kann.
Und es kamen hunderte Bilder der Inbrunst, und sein verzücktes,
verzweifeltes Begehren rann als maßlose Erhöhung durch ihr Blut.

Da ward ein solcher Brand nach Blüte in ihr, daß sie, nackt hingeworfen,
alle diese Blätter über sich gelegt, mit jeder Pore, mit dem ganzen
Sonnengeflecht die magischen und dunkel duftenden Ausströmungen der
breiten Männerschrift in sich trank.

Der Brief schloß:

»Ein Kind von Ihnen wäre die Krönung meines Lebens -- eine Tochter gar,
die Ihnen gliche an märchenhafter Anmut -- ich glaube, da würde ich toll
vor Glück. Doch wüßte ich selbst, Sie könnten nie mehr Kinder haben,
auch dann wäre mir Ihre bloße Nähe schon so wertvoll, daß ich nichts
unversucht ließe, Sie zur Frau zu gewinnen. Nur hinter Ihnen hergehen
dürfen ist mehr als jede Andere umarmen.«

Sie erbat Bedenkzeit. Das Beste von ihr war noch drüben in jener Ehe,
die doch bis zu Gott hätte reichen sollen. Hatte aus ihrem
Phantasiekörper sich ein Abbild Gabriels geschaffen in einer strahlenden
Materie in den lichtesten Stoffen der Welt. Dieses Ikon konnte nicht so
schnell verwesen. Sie hatte es noch nicht ausgeliebt -- ausgeglaubt.
Alles kam von den zwei Jahren der Verzögerung, und daß man die
Erwachsene hatte einsperren dürfen in Minderjährigkeit. Jetzt hätte sich
das Ikon bereits reif und leidlos aufgelöst gehabt. Wieder überstrahlte
sie der erste große Haß gegen Papas verbrecherische Torheit.

Als sie Gabriel von Trennung sprach, vermochte er es nicht zu fassen,
hielt alles für Wahn. Flehte: »Versuche es wenigstens noch ein Jahr mit
mir.«

»Begeisterung ist keine Heringsware, die man einpökelt für mehrere
Jahre,« feixte Ralph Herson.

»Zeit: das Kostbarste vergeuden.« Gleich müsse sie fort. Drang auf
rascheste Scheidung. Er als Engländer liebe klare Verhältnisse. Nicht
einmal sehen wolle er sie vorher. Lady Tatjana tauchte wieder auf, trug
Sturm hin und her, schluchzte, beschwor. Ein Wortbruch -- Sibyl hatte
ihr Wort noch gar nicht gegeben -- wäre ärger als Mord.

Aber gerade diese Lady Tatjana ließ sie auf einmal wieder tief zögern.
Nein, es ging nicht.

Wem es gefiel, mochte der in freier Liebe leben, natürliche Kinder
Unnatürlichen vorziehen. Nie hatte sie den Beziehungen der beiden
nachgeforscht. Aber es ging nicht, der früheren Bediensteten im
elterlichen Haus einen Scheinmann, seinem eignen Kind einen fremden
Vater zu kaufen: einen verhungerten kleinen Beamteten, der es billig tat
und Edler von Walden hieß. Es ging nicht, diese Frau dann -- sie hieß
Leopoldine Sedlacek -- nach vertuschenden Reisen, mit vertuschtem
Dialekt, vertuschter Schrift, unecht-wahr, als »Lady« Tatjana de Walden
einer Dame ins Haus zu schicken. Diese Fakten waren aus der
Gerichtssaalnotiz einer Provinzzeitung ersichtlich -- mit Rotstift
gerahmt, ihr zugeschickt -- denn der kleine Beamtete klagte endlich auf
Zahlung der bedungenen Heiratssumme, ein paar Tausende im Ganzen. Man
hatte ihn auch noch bei dem Handel zu übervorteilen gesucht, seinen
Anspruch juristisch bestritten, weil solch ein Vertrag gegen die »guten
Sitten« verstoße. Den schönen Namen aber war die Dame andererseits nicht
mehr herzugeben gewillt.

Sibyl verschwieg ihr Wissen, aus Scham für beide. Auch hätte er, sofort
Edelanarchist und nur auf das Wesenhafte eingestellt, befremdet
aufgeschaut:

»Das ist doch alles nur äußerlich.«

Schließlich: Jemandem die Brieftasche ziehen, war dann auch nur
»äußerlich«, stak sie in der äußeren Rocktasche.

Ein edler Schwätzerkniff.

Sie zögerte tief -- schloß dann die Augen in der nächtlichen Fieberkurve
der Sehnsucht, ließ die geliebten dunkelsaugenden Strahlen über sich
ein. Und alles war wieder gut.

Da drohte er mit -- Heirat. Stellte ihr ein befristetes Ultimatum von
drei Wochen. Jetzt solle sie sehen -- jedes junge Mädchen könne er haben
bis dahin. War es erwachende Reaktions-Prüflust des Vivisektors?

»Es gebe auch Leute, die man peitschen müsse, um sie zum Reagieren zu
bringen,« ließ er sagen.

Sibyl wurde zu Eis und Honig -- wünschte viel Glück. Poldi Tatjana, die
arme Hörige, irrte mit Botschaft zwischen ihnen hin und her, widerrief
Drohungen, die sie tags zuvor gestammelt:

Nur kein Mißverstehen: da sie noch zögere, sei der Plan einer
Zwischenheirat aufgetaucht, gerade ihretwillen, ihr Außerordentliches zu
bieten. Der alte Leiser habe dem Sohn das halbe Vermögen -- sofort
zahlbar -- als Prämie gesetzt für eine ihm genehme Ehe. Ralph war nicht
mehr so jung, wie die eigenwillige Bronze seines Körpers es wahrhaben
wollte, schon den zäheren Vierzig nah. Also Scheinehe, Scheidung, die
junge Dame erhielt Freiheit und Mitgift zurück und man war unabhängig im
größten Stil; die ersten Jahre sollten ja ein unaufhörliches Fest sein,
ein goldenes Gewitter, eine Lebenserhöhung, wie sie wenig Sterblichen
vergönnt.

Andern Tags war wieder Minotauros Pose: er brauche, rein physiologisch,
alle drei Monate eine Jungfrau -- dies sei die letzte Ration, ehe er
sich einer _fairy-queen_ verbände.

»Also war die junge Wegzehrung wohl schon gefunden?«

»So halb.« Die Hörige, beflissen, ging in die Falle, zeigte weitgehende
Bilder, die sie »im Auftrag« von dem Fräulein gemacht.

Drei Wochen auf den Tag heiratete er. Schrieb am _lendemain_ »der großen
schlanken Ehestifterin« einen seiner perfiden, verworfenen, verbotenen,
ersehnten Briefe, als wäre nichts verändert. Dann reiste das junge Paar.

Und es war keine Ruhe.

Die Hörige, im Kielwasser der Lustfahrt, schmeichelte, flehte, klagte:

»Ahnen Sie nicht, spüren Sie nicht, wie nötig jetzt ein paar Zeilen von
Ihnen wären? Ich fürchte, Sie haben noch immer keine Ahnung von der
ungeheuren Liebe, die er für Sie empfindet. _Fancy -- -- -- come!_«

Dann wieder:

»Er hätte Ihnen so viel zu sagen. Aber wollen Sie denn hören? Sie haben
ihm ja die Schleusen gesperrt. Vesta! Wie walten Sie des heiligen
Feuers?«

Manches klang diktiert:

»Der Trotz, mit dem er diese törichte Scheinehe einging, ist mir beinah
unheimlich. Es ist so komisch, die Menschen ihm dazu >Glück< wünschen zu
hören. Es tut mir in der Seele weh, daß ihm nur Mesalliancen beschieden
sein sollen. Ich liebe ihn und gönne ihm die einzige Erfüllung, die für
ihn möglich ist. Oh, werden -- werden Sie kommen?«

Immer lagen Kuverts mit verstellter Schrift bei und die Mahnung, nur
diese zu benützen, denn:

»Die junge Frau hat keine Ahnung von Ralphs Stellung zu Ihnen, er hat
noch kein Wort mit ihr darüber gesprochen.«

»Mein Gott, wie komm' ich zu diesem Schmutz?« Und Sibyl zerriß die
falschen Kuverts bis auf eins, steckte die Schnitzel in dieses letzte --
das schickte sie ihm zurück.

Doch auch in ihrer Ehe mochte sie nicht bleiben unter falschem Stern.
Die Glut dieses Mannes hatte sie ruhelos gemacht, einsam und unfrei.
Gabriel bewilligte die Probetrennung, hielt es für mystischen Urlaub
nur. Behielt Charmion als Pfand. Das Arielewesen sollte nicht leiden,
von nichts wissen, nicht in Heimlosigkeit gezerrt werden. Damit es sich
ihr nicht entfremde, kam sie in Pausen immer wieder zu ihm. Bestimmte
die Hälfte ihres kleinen Depots für seine Pflege.

»_Notre Dame du wagon-lit._« Ahasvera jetzt. Sie war beinah arm. Und
lieber noch jeden Tag eine andere Fremde als »Heim« nennen müssen, war
unter ihrer Art.

Arbeitete bei Kocher in Bern, bei van t'Hoff in Berlin, lernte den
Skisprung bei Sarnström in Dalarne, hörte Bergson in Paris. Kam aber aus
Europa nicht hinaus, um Charmions willen.

Das Glättende und ortlos Weltgültige im Stil war jetzt über die so sehr
kindlichen Spitzen ihres Wesens geschmolzen, aber ihre innere Fremdheit
wuchs. Der Vorfrühling ihrer Glieder blieb fixiert, duftete nach Birken
und Erdbeeren. Es war da nichts zu ändern, nur Übergänge auszugießen, zu
feilen, zu veredeln. Welchen Sinn hätte denn das Älterwerden je gehabt,
wenn nicht: Schönheitsfehler verbessern und überhaupt etwas dazu lernen.
Wie ein Virtuose auf Urlaub übte sie auf dem stummen Wunderinstrument
ihres Körpers. Alles oder nichts, auch hier. »Narzissa« hatte Ralph
Hersons wissendes Begehren sie einmal genannt.

Und es war keine Ruhe. --

Über Länder und Meere her rann das Gefälle seiner stechenden Wärme in
einer heißen Linie auf sie zu und hetzte ihr Herz. Ein Buch kam, ihm
einst geliehen. An ihrem Geburtstag, unbekannt woher, ein Päckchen mit
seiner Schrift, darin retourniert ihr Hochzeitsgeschenk an seine Frau.
Dann wieder ein andermal hatte sich die Hörige bei Papa eingeschlichen,
die Dienstleute bestochen, um Nachricht. Sie fühlte Spione um sich.
Gerüchte zerstäubten vor ihrem Weg: die junge Frau ein Jahr nach der
Hochzeit tot. Hatte sich in einem schottischen See ertränkt.

Er, das Opfer von Erpressungen, wolle Cambridge verlassen.

Es war keine Ruhe.

Aber warum gerade dieser? Was gab ihm solch brennende Macht?

Sie ließ das wissende Haupt sinken.

Sein Erbteil: Die purpurne Wärme Asiens. Sie ließ sich sinken:

»_Sweet Prince of darkness._«

Aus Olympia zwang sie ein Telegramm zurück. Papa war tot, sie selbst nun
wohlhabend, fast reich. Tratsch trieb das Erbe zu Millionen auf.

Da brach er durch die Schranken. Der Anlaß war hinlänglich -- ja
korrekt. Kondolierte vom ligurischen Strand, wo er sich angekauft. Und
siehe! Auch Lady Tatjana wieselte wieder über den Weg, wo immer man
ging. Schließlich geschah es vor des alten Anwalts Haus, der die
Verlassenschaft führte, daß die Hörige, einen Affront riskierend, herzu
trat, ihr Beileid auszusprechen. Unter der Mache aber leuchteten die
grauen Augen froh und echt -- wie erlöst. Sie redete nur von ihm -- in
seinen eigenen Sätzen und, wie Sibyl dies einst gewidert, so rührte
gerade dieser Zug sie jetzt. Dachte auch über manches milder. Die
unbestechliche Kinderhärte von ja und nein, dies Kompromißlose! Weil es
ihr eigenes Maß, mußten ihm deshalb andere standhalten? Sie ließ das
Haupt sinken:

_Sweet Prince of darkness._

Prinz Augenlust.

Sinn der Erde.

»Wie, sie wolle auf ein paar Wochen nach Spanien?«

Wie gut sich das träfe, da könne man vielleicht gemeinsam bis Genua
fahren, und die Hörige sprach von dem Heim, das Ralph Herson im Begriff
war, sich am Meer zu bauen. In den nächsten Tagen träfe er übrigens zum
Besuche seines Vaters hier ein.

Beim Abschied warf Sibyl noch halb unbewußt hin:

»Und -- das, wie die unglückliche junge Frau zugrund ging (dachte dabei:
durch _ihn_ zugrund ging), ist es schon überwunden?«

»O, er hat ihr längst verziehen,« sagte die Hörige pathetisch, »er ist
ja so gütig.«

Dieser nachgesprochene Satz war schuld, daß Ralph Hersons Besuch nur in
der Hotelhalle und mit den äußersten Enden der Höflichkeit angenommen
wurde. So großäugig natürlich, so geistig gelächelt, so sehr leidlose
Anmut war alles um Sibyl, daß die Magie in seine ungleichen Augen tief
zurücktrat und alle kauernde Freude dazu. Er blieb und blieb. Ging
zögernd, fast mutlos endlich, als sie den Lift bestiegen. Drehte, schon
an der Tür, doch noch um, -- war in vier Sprüngen wieder am
Aufzugschacht -- horchte in ihn wie in leere, letzte Erwartung;
vielleicht, um ihren Schritt über der Stufe oben zu spüren. Der Lift
hielt falsch, etwas zu hoch, dann wieder zu tief. Da hörte er lotrecht
über sich die mädchenhafte Damenstimme sagen:

»Aber Sie fahren mich ja hinab, statt hinauf.«

Ein vogelheller Jubelton --. Eine gerührte Erlösung -- ein beispielloses
Entzücken: eine Hymne der Hingabe -- an den Liftboy.

Ralph Herson neigte den großgewellten Greifenkopf. Zog die Luft ein in
einem endlosen Atemzug, ging ganz langsam ins Schreibzimmer, entnahm der
Brieftasche vor dem Herzen die eigens für ihn gebaute Feder von
niegesehener Breite, verschrieb die halbe Nacht und den ganzen Vorrat an
Hotelpapier. Faltete es. Sammelte sich noch zu den starken und kühnen
Zügen der Adresse, wie zu einem Weitsprung. Hielt. Es blitzte in dem
Geäder seiner Schläfe. Kleine Verstöße, die er begangen, kamen ihm
peinlich wieder: ein deplaziertes Wort, eine rauh gereizte Bewegung,
wegstrecken des kleinen Fingers von der Teetasse.

Gutmachen sofort! noch mehr: vorbeugen. Er entbreitete noch einmal das
ganze Pfauenrad der Verzückung, schrieb darunter:

»Meine liebe Zauberin! Lächeln Sie über mich? Doch bin ich mit Ihnen,
ist stets die Hälfte meines Geistes in Adoration verloren -- Du kennst
mich nicht, mein besseres Teil. Die Schüchternheit vor Dir -- vielleicht
die Letzte, die mir im Leben geblieben -- läßt mich dann trivialer,
törichter, rauher erscheinen, als mir wirklich zu Mut ist, ja ich suche
manchmal nach irgendeiner albernen Bemerkung, manierlosen Geste, um die
wirkliche Bewegung zu verbergen.«

                   *       *       *       *       *

Als sie kam, fuhr er ihr doch zur letzten Station entgegen, wider alle
Verträge. Sprang vom Rad, lief die bremsende Expreßkette entlang, die
Arme voll blühender Zweige, warf sie durchs Fenster, dunkle
Strahlenbündel hintennach.

»Dem liebsten Gast!«

Sprang aufs Rad zurück. Der Montmorency-Strähn auf seinem Kopf silberte
im Sonnenstaub.

Dann fraß ihn Oleander- und Lorbeergebüsch weg.

»Abrasieren sollte man die alberne Gegend,« dachte sie.

»Nichts sieht man.«

Und die Sternsaphire leuchteten.

Sein Gast? Nein. Stieg in einer kleinen Pension neben seiner Besitzung
ab.

Am Morgen holte er sie, zeigte ihr das provisorische Haus -- die Stelle
des künftigen. Kaufte immer noch Gut auf Gut, Ufer und Hügel mit Wein.

Die weltgültigen Anreden der Fremdheit: »Gnädige Frau« -- »Herr
Professor«, tanzten auf dem Äther und Kokainrausch ihres gemessenen
Nebeneinander. Jedes genoß sie als Verheißung:

So viel liegt noch vor uns.

Nur einmal, als er Baupläne erläuternd, von dem Hügel niederwies auf
seinen Grund, da hielt er an im Sachlichen und Klugen. Und in die lange
Pause brach es leis, mühsam, gerührt und rührend:

»So im stillen habe ich mir doch immer gedacht, daß Du einmal hier
wohnen wirst.«

Die nächsten Tage ließ er sie büßen. Ward sie an seinem verzehrenden
Werben warm, winkte er ab mit zärtlichem Hohn, posierte Vorsicht --
gebranntes Kind.

»Ja, wenn ich so was sagte, das wäre was anderes. Ich verspreche nicht
-- ich _halte_.«

Einmal brach er los:

»Verehrter Energievampir. Zeitvampir! Zeit, das Kostbarste! Jahre hast
du mich gekostet: Jahre der Sehnsucht und Leere.«

An einem Hauch Humor über ihre abgewandte Wange hin sah er, sie rechne
nach, womit er diese Leere minotauroshaft und auch ansonsten recht
vergnüglich ausgefüllt.

»Aber verlieben konnt' ich mich nie mehr, seit damals.«

Am Abend lag ein Blatt in ihrem Zimmer:

   »... und dachte: sieh, zu andern,
   Laß Dein Begehren wandern
   Und liebe, was sich lieben läßt.
   Da hielt ihn stets die Schlinge fest.
   Oft prüft er sorgsam Herz und Sinn,
   Als spürt er eine Wandlung drin;
   Doch fand er stets darinne,
   _Isolden_ und die Minne.«

Sie saßen in tiefen Stühlen, unterm Mond, auf der Terrasse seines alten
Landhauses.

Die Ruhe ihrer Posen trog. Ruhe gab's nicht bei ihm. Zeitvergeudung!
Zirkus im Hirn war angesagt.

Im roten Frack festlicher Hatz stand er: Kenner, Liebhaber, Käufer,
Dompteur, Publikum: alles in Einem. Ohne Peitsche, nur auf Zungenschlag
ließ er sie getürmte Hürden nehmen, höher -- höher, oder, indes billiger
Erdenlärm schwieg, oben im Raum durch Trapeze stürzen und schwingen.

Seine stolze Wut nach Probe ihres Wissens, Erfassens, Durchdringens,
Beherrschens, war ohne Maß. Nichts von Literatur, Kunst, Musik: dem
Weiberschwatz. Er preßte sie ins Letzte, Ernsteste vor, drehte dann zäh
wieder zurück ins Detail, verlangte einen Griff voll Fachwissen hier,
einen dort. Genoß dabei das Luftgebäude ihres Tons in An- und Abklang,
das Unsägliche am gepflegten Menschen, das um seine Worte ist. Erschöpft
endlich vom bloßen Prüfen, Fragen, Hören, Folgen, fiel seine Gier die
bessere Beute an, die langerlechzte. Bot ihr Champagner -- er selbst,
aus Angst um seine prachtvolle Konstitution, trank nie -- doch am Andern
schätzte er die rosenhafte Steigerung im Weine, und über alles den Griff
der Grazie um den Kelch.

Sein zahmes Eichkätzchen, aus dem Schlaf geschreckt, hopste hinten auf
den Stuhl, lief über Sibyl herab und nestelte in ihrem miederlosen
Schoß; angenehm erstaunt. Sie bog das Bein ein wenig, legte eine Nuß
aufs Knie, hob die schlanken Arme wie schneeige Äste, Früchte in den
Fingerzweigen. Auf und ab, über sie hin schoß das fuchsrote Büschel den
schwarzen Seidenstamm hinauf, entlang die nackten, schmelzend weißen
Zweige und wieder zum Schoß zurück.

»Bist du am Ende Ratatöskr?« frug sie den Kleinen, »der von der
Weltesche? Ist das wahr, daß du, dasselbe Wesen, oben Gutes, unten Böses
sagst?« Es spitzte pfiffig das winzige Gesicht, lief an ihr, die
aufstand, empor, und hinüber auf den Arm des Mannes, der sich ihm
entgegenwarf.

Sein Schweif fegte ihre Haut zusammen.

Sie standen überschwemmt von ihrem Blut. Dann küßten seine Fingerspitzen
sich, in streichelnden Bändern ganz langsam ihre Arme entlang, zu den
Flügelschultern hin. Verweilten auf kleinen Inseln der Lust, umspielten
die zwei winzigen Glockenblüten, die Brüste, rannen die Wege des
Eichhorns entlang.

Sie stand nackt unter der zergehenden Seide.

Die Endchen der freien Rippen zwischen den Fingern, bog er in die glatte
Sichel der Weichen ein. Da wurden beide Hände flach, bedeckten in einem
rasenden Genießen den ganzen schleierschmalen Leib. Er stürzte in die
Knie. Da lag der ersehnte dunkle Kopf endlich zum Greifen nah vor ihr.
Sie hielt die Hände darüber, wagte nicht, ihn zu berühren, als ob er
Flamme wäre. Trank seinen Nardenduft, vor Erregung fast besinnungslos.
Und wieder flossen die küssenden Bänder seiner Finger, diesmal von den
Fersenspitzen weise aufwärts, die edellangen, seidenschwarzen zitternden
Beine in den Silberschuhen hinauf.

»Meine Zauberrappen,« stammelte er -- »aber eigentlich sind es Schimmel,
und einmal werden wir sie ausschirren.«

Von der Schmalheit der Knie kam er nicht los. Da bog sie ein wenig das
Bein. Er verstand. Die Fingerbänder rannen jetzt mit ihren kleinsten
Muskeln um die Wette hinauf, stürzten in die Kniekehlen, umspannten hart
die wundervollen Sprungsehnen, breit und rein wie Dolche.

»Zehntausend Entzückungen -- -- wie -- wie soll ich dich genießen --
ausgenießen!«

Dann taumelte er auf -- stürzte fort, Tatjana aus dem Schlaf zu reißen:

»Das ist ja gar kein Wesen wie wir, was das für Knöchelchen hat, mein
Hermelin vom Mars. Solche Lieblichkeit bei solcher Größe.« Und er raste
sich aus.

Etwas ruhiger kam er zurück -- brachte sie, die zitterte, nach Haus, wie
sie gebeten. Sie begriff, daß er alles aufsparen wollte für das, was sie
»Noch-nocher« nannte, und war stolz auf ihn in aller Qual. Stumm glitten
sie nebeneinander über den Wiesenpfad. Vor dem Tor in der Mauer riß er
plötzlich die Arme auseinander -- weit, hing in ihnen wie gekreuzigt.

»Alles, was mir je geschehen, war nichts gegen das, was du mir damals
angetan, als du nicht kamst, aber in diesen drei Tagen hast du alles
gutgemacht -- ja, es ist tausendmal aufgewogen und ich bin nur
Dankbarkeit.«

Und wieder von diesen nur ihm eigenen magischen, unerhörten Strahlen
gehoben, mit einer glücklich, heiseren brechenden Knabenstimme:

»_I love you immensely._«

Da ließ sie ihre Hände durch die Flammen fallen und umfaßte den
silberdunklen Kopf.

Es war zwei Uhr nachts, unter einsamen Sternen. Und sie hatten sich noch
nicht ein einziges Mal geküßt.

Das war also der »berüchtigte Wüstling« und »Materialist«, ihm hatte sie
so lang mißtraut -- seiner Rasse wegen.

Scham tropfte aus den jubelnden Sternsaphiren.

Noch ein böser Vorhalt kam: ihr schien in den nächsten Tagen, als miede
er geflissentlich ihre Lippen -- gewisse Berührungen. An ihrem Staunen
zuckte er dann jedesmal hämisch und häßlich vorbei. Einmal, Gesicht an
Gesicht, nahm er ihre Arme sich vom Hals, dann brutal:

»Kann ich dich denn so küssen, wie ich möchte? Was sich mir in solcher
Weise bietet, muß ich dagegen nicht das größte Mißtrauen haben?«

Es war nur wie Auf- und Abtauchen im Strom endloser Anbetung gewesen.
Sie wußte kaum, was sie gehört. Begriff es erst allein in ihrem Zimmer
ganz.

Ihr -- _das_. Er konnte glauben, daß sie -- nicht nur widerlich
verseucht, auch noch hierher gekommen, um ... ihn ...

Das kam davon: sie kannte doch seine offene Geringschätzung der Frau.
»Ich, als Orientale,« pflegte er zu sagen, und erhob damit jede
Privatroheit zur »Weisheit des Ostens«. Der Kult ihrer Persönlichkeit:
eine dünne Schicht Laune nur, die sie von der großen Weiberverachtung --
so lang's ihm paßte, notdürftig schied.

»Und wie war das gewesen, das andere? Was sich mir solcherweise
_bietet_: anbietet.«

»Mein Gott, in welchen Schmutz bin ich geraten!«

Sie warf alles in die Koffer, frug nach dem nächsten Expreß -- er ging
erst in zwei Stunden, verlangte die Rechnung. Rache war es,
heimtückische Rache, weil sie ihn damals abgewiesen. Hierher
geschmeichelt war sie worden, aufgespart für diese Schmach.

»Brangäne« erschien mit Botschaft, sah die Koffer, eroberte das
Telephon, beweinte, beschwor das Mißverständnis ... hielt die Fliehende
... bis die Tür aufflog.

Der letzte Verbrecher habe noch das Recht, vorher gehört zu werden. Er
bitte von vornherein um Vergebung, wiewohl er nicht wisse, worin er
gefehlt.

Ein Wink und Brangäne verschwand.

Ach so. Das. Habe er geirrt? Niemand könnte dann seliger sein wie er.
Sie selbst -- so großes Kind wie Dame, wisse vielleicht nicht einmal,
was ihr unbehütet geschehen. Daß sie, ohne ersichtlichen Grund und ohne
doch zu ihm zu kommen, plötzlich ihren Gatten verlassen, habe bei ihm
Verdacht -- Pardon: Sorge erregt -- -- aber nein, vor diesen
feindseligen Koffern könne er nicht sprechen, und er gab dem nächsten
einen Tritt.

So galoppierten sie spazieren, den Weg des ersten Morgens hinan.

Er leugnete gar nichts. Wurde einfach vorurteilsloser Naturforscher. Ob
sie, leider sehr unpraktisch erzogen, ahne, wie viel namenloses
sexuelles Elend es gerade für die Vornehmsten gebe. Da sei Vorsicht
nicht beleidigend, sondern einfach praktischer Idealismus. Doch mit
einem Lachen -- einem klaren Wort von ihr, wäre alles abgetan gewesen.

Ja, er kam so sehr ins Recht, daß sie nur beschämt gestehen konnte, sie
sei es eben noch nicht recht gewohnt, weil bisher in Gesellschaft ihre
Tischherren gerade diese Frage nie an sie gestellt. Und ließ den Kopf
hängen.

Ein erstes, leichtes Funkeln von Humor erlöste ihre Seele schon. Und
schließlich: nachdem sie durch Gabriel in eine Sackgasse des himmlischen
Jerusalem geraten, nun zurücktastend, bei diesem hier den Sinn der Erde
suchte, durfte sie sich gehaben, erwies er sich gröber, rauher, als der
sterile Ätherpfad.

Da schrak sie noch einmal zusammen.

»Ja, aber das mit dem sich _anbieten_,« und trotz aller Anstrengung
brach die Stimme doch.

Er konnte sich nicht fassen vor entzückter Heiterkeit. Er -- er hätte
das gesagt, der seit Jahren zum Monomanen geworden -- an ihr.

Und plötzlich ernst: ja doch, er habe so was gesagt: daß sich ihm eine
solche Erfüllung doch noch biete. ... Mißtrauen gegen das Schicksal habe
er gemeint, einfach Furcht, weil es doch noch nicht erlaubt sein könne,
so glücklich zu sein.

Dann mit Bitterkeit: Also gerade im Zartesten, im Bescheidenen werde er
verdächtigt.

Schließlich voll Trotz: »Warum soll nur ich immer der Rowdy sein? Weil
man in England Erpressungen an mir versucht und meinen Namen durch die
Schandpresse gezerrt hat? Jetzt glaubt man mir alles zumuten zu dürfen.«

Sie standen auf dem Hügel, er wies ihr, wie am ersten Tag, seinen
Besitz:

»Und wo das doch alles für dich ist. Und wo ich dir so lieb sage: _I
love you immensely_ ... und wo ...«

Dann aber wurde er verschlagen und schmunzelte das Feinste:

»Gnädige Frau müssen ein sehr schlechtes Gewissen mir gegenüber haben.
Aber, ich stehe turmhoch über Ressentiments. Fast bin ich froh über
dieses kleine Mißverständnis, das dich -- verzeih -- Tränen gekostet
hat, denn ich habe daraus ersehen, daß du doch endlich wenigstens zu
ahnen beginnst, _was dir da blüht_.«

Vor dem alten Landhaus irrte die Hörige wie gejagt. Beim Anblick der
beiden lebte sie auf. Er nickte ihr leicht zu:

»Ich habe das Reh wieder eingefangen und zurückgebracht.«

Am Abend erschien Sibyl noch einmal in Schwarz und Silber, und diesmal
wurden die Rappen ausgeschirrt.

Sechzehn Stunden lang küßten sie einander, ohne Pause, ohne Schlaf.
Tatjana, vermeinend, ein Unglück sei geschehen, störte sie endlich auf.
Aber immer noch war ein Schwert zwischen ihnen gelegen.

Jetzt hieß es, die Abendrobe verhüllt, in geborgten Schuhen in die
Pension zurück -- am hellichten Nachmittag. Das erste Renkontre mit der
»Welt«.

Ein rasendes Gebelle und Gekläff war plötzlich ausgebrochen in dem
abgesperrten Raum unter Ralph Hersons biologischen Versuchstieren. Im
schneeweißen Sezierkittel kam er pfeifend angelaufen. Dann mit
spitzbübischem Gefunkel:

»Aufregung im Hundekotter, das Weibchen ist da.«

Und er sah mit Experimentier-Prüflust zu, wie sie es aufnehme.

Sibyl beeilte sich, Versuchskarnickel zu sein, gab eine so heitere und
dabei verblüffende Antwort, daß er, in ruheloser Gier, sofort wieder den
Hirnzirkus eröffnen wollte. In der Pension aber lag schon ein festlicher
Brief für sie bereit und er begann:

   »Wann wird uns beiden
   Je wieder hier auf Erden,
   Solch süße Stunde werden!
   Vergesset mein um keine Not,
   Süße, herrliche Isot.«

Andern Tags reiste sie -- seufzend in die so lang vermiedene üble Stadt.
Nun hoffentlich zum letzten Mal. Es hieß sofort ihre Ehe lösen, Ralph
Herson Taten zeigen -- diesmal. Ihr einstiges Schwanken gutmachen, denn
er glaubte ihr noch nicht. Dieser Zustand war unwürdig, immer mußte ein
Schwert zwischen ihnen liegen, ehe sie frei. Alles oder nichts, wie gut
sie ihn begriff. Wie stolz es sie machte.

»Zeit, Zeit, das Kostbarste, wieviel meines Lebens wirst du noch
vergeuden?« hatte er gesagt. »Hätte ich dich doch mit fünfzehn Jahren
gekannt, mit dir wäre ich sofort sogar eine katholische Ehe eingegangen,
hätte ja gewußt, daß mir nie jemand besser gefallen könne, und besäße
dich jetzt schon zum zweiten Mal in einem neuen großen, kleinen
Mädchen.«

»Willst du denn ein Baby von mir?«

»Eins ist doch gar kein Ausdruck. Sechs will ich von dir haben --
vorläufig.«

                   *       *       *       *       *

»Wie lang dauert eine Scheidung?« frug sie den alten Familienanwalt.

»Ein Jahr. -- Ist gar kein Hindernis (aber das gibt's ja nicht) und
schiebt man gewaltig an, ein halbes -- vielleicht.«

Sie erschrak. Wußte, sehr weltfremd, in diesen Dingen nicht Bescheid.

»Welche Gründe übrigens? Falls Sie nicht auf Ehebruch besonderen Wert
legen, der allerdings das Sicherste und Schmutzigste -- auch Billigste
ist, bleibt nur >unüberwindliche< Abneigung. Die muß aber bewiesen
werden. Ich hoffe, Ihr Mann hat Sie vor möglichst vielen, einwandfreien
Zeugen wiederholt angespuckt, blaugeprügelt -- ärztliches Attest
erwünscht -- und mit den unflätigsten Ausdrücken belegt, >Hure< ist gut.
Auch alle Komposita mit Sau ... Also bringen Sie mir das Material.«

»Niemals, wir sind doch zivilisierte Menschen.«

»Das Gesetz hat nichts mit dem zivilisierten Menschen zu tun.«

»Wenn aber zwei mündige Leute auseinander gehen wollen ohne Aufsehen,
brauchen sie da nicht bloß ihren gemeinsamen Entschluß irgendeiner
Behörde zu melden, und die Sache ist erledigt? Das Gericht hätte doch
nur gefragt zu intervenieren, wenn es sich eben um Schlichtung von
Streitigkeiten handelt, kurzum zu _helfen_, sollte man meinen.«

»Meinen _Sie_,« sagte der Alte.

»Auch bin ich schon zwei Jahre von meinem Mann getrennt.«

Da belebte er sich. »Nie dazwischen in seinem Haus gewesen?«

»Ja, doch nur um meines kleinen Mädchens willen, damit dem Kind das
Wissen um den Konflikt erspart bleibe.«

»Schade,« sagte der Alte, »sehr töricht.«

»Aber« -- Sibyl war außer sich -- »wenn drei Menschen ihre privatesten
Privatangelegenheiten ordnen wollen: anständig, reinlich und ohne die
einzige köstliche Spanne Glücks dabei zu versäumen -- --«

»Ausgeschlossen,« sagte der alte Anwalt, denn er war mosaischen
Glaubens.

Sie schüttelte seinen ranzigen Jargon ab:

»Wenn also eine Frau in Yokohama von jemandem ein Kind bekommt, deren
Mann in Berlin ist, und der in Yokohama, sowie die Frau bezeugen es
beide, und der Yokohamaer will sein Kind haben und anerkennen, während
der Mann in Berlin keinen Wert drauf legt -- ist es dann automatisch
durch Fernverkehr doch sein Kind -- auf Jus?«

»Natürlich. Außer, der Gatte klagt auf Ehebruch, und dann wird im
laufenden Verfahren schon ganz von selber eine großmächtige Schweinerei
draus.«

»Welch prächtige Einrichtung,« sagte Sibyl.

»Nun, dies eine Mal nur -- dann mein Leben lang nichts mehr von
Gerichten.«

Da setzte Dr. Lederer einen zweiten Zwicker auf, um sie mitleidig
anzustarren.

»Jeder Tag ist verloren ohne Liebe,« hatte er beim Abschied gesagt. Sie
ging auf alles ein, nahm die Schuld »böswilligen« Verlassens auf sich,
trat durch Schenkung einen Teil des väterlichen Erbes an Charmion ab,
Ralph Hersons Frau würde es entbehren können. Ihm Zeit ersparen war
wichtiger. Gabriel, fanatisch und bigott verwildert, stellte immer
bösere Bedingungen, nicht um sie erfüllt, um die Scheidung abgebrochen
zu sehen. Ihm schien seine Frau, der gefallene Morgenstern -- ein
brünstig gewordener Seraph. Nur um Charmion rang sie mit ihm. Einen Teil
des Jahres mußte ihr das Kind verbleiben. Er ging darauf ein mit einer
Klausel: so lang ihr Wandel einwandfrei. _Das_ ließ sich unterschreiben.

Ralph Herson traf sie in Paris, Venedig, Rom. Sein Heim mochte sie nicht
als Gast, erst als Dame des Hauses wieder betreten. Warum er sich nicht
lieber in England einen Landsitz errichte, als am ligurischen Strand?

Er wehrte erschrocken ab: »Unter solchen Gesetzen leben.«

Sie dachte an Wildes Schicksal, gab ihm recht.

Auch war das Land so wundervoll, auf dem er zu bauen gedachte.

»Ich hätte dich gerne gleich in ein fertiges Haus gesetzt, doch auch so
ist es gut, nun magst du mitbestimmen.«

Hatte Bilder, Bronzen, edle Stoffe in vielen Jahren vorausgesammelt. Die
alte Landvilla war vollgeräumt wie ein Museum.

»Daß ich jetzt nicht nach meiner innersten Art schenken kann,« sagte er
einmal trotzig, als sie durch die juwelene _Rue de la paix_ gingen --
»es demütigt mich. Da ich aber das schönste lebende Material
verschmerzen mußte, verrannte ich eben meine Mittel in Totes --, und so
wird es am Ende von mir heißen, daß ich geizig bin.

Wie -- wie soll ich dich jetzt würdig genießen?«

Nun, so weit es an ihr lag, sollte auch der anspruchvollste aller
Sinnenprinzen nichts zu vermissen finden. Sie bot ihm jenes letzte
Zusammenspiel der Tadellosigkeit zu allen Stunden, das nur in Nerven
anspannender Mühsal, um ein Vermögen bei den ganz großen Couturiers,
erreichbar ist -- für Wenigste. Fuhr manchmal eigens über den Kanal, um
ein _tea gown_, einen Hut. Schade, daß ihre Mittel nicht so unbegrenzt.
Doch nur ein einziges Mal versuchte sie zu sparen.

Es war in Rom. Am nächsten Abend sollte er eintreffen, ein
Märchengewand, von Fortuny, lag schon bereit, da sah sie ihren
Kontoauszug durch -- und erschrak. Scheidung, Schenkung, Reisen, der
vielfältige Luxus, den er als Ästhet brauchte zum Genuß, hatten mehr
verschlungen, als sie geahnt. Was für Schuhe zu dem graugoldenen
Nebelgewebe morgen? Roter Saffian, geschnabelt, und im Schnabel oben
hängend, eine schwarze Perle. Der Kontoauszug. Sie seufzte, und
verzichtete weise, doch bedrückt, auf die schwarze Perle.

Nach Stunden erschöpfender Pflege war sie pünktlich zur Minute -- er
liebte Warten nicht -- im großen Vestibul: dem Treffpunkt. Wartete. Ging
auf und ab. Ging ans Klavier. Spielte. Nacheinander gespannt, erregt,
beflügelt, besorgt, enttäuscht, leer und namenlos zermartert. Drehte
endlich mutlos der Treppe zu. Da kam er, verschlagen und selig, hinter
einem Pfeiler hervor:

»Ich habe mir gedacht: erst schau' ich, macht sie ein gar zu böses
Gesicht, schleich' ich mich wieder weg.«

Hatte unbemerkt in ihrer _Art_ zu warten geschwelgt, und wie man ihn
vermißte.

Sie umflammend, nahm er oben im Schlafgemach das Saffianschiffchen am
Ende des feinen Seidenbeines an sein Herz, küßte die rote Spitze.

»Wäre ich reich, hier hinge morgen eine schwarze Perle -- riesengroß.«

Dies: »wäre ich reich«, scherzend nannte sie es: seine irreale,
hypothetische Periode. Doch das Festliche des Wiedersehens war für
diesmal verdorben. Der nächste Kontoauszug blieb uneröffnet. Das Sparen
hatte er ihr somit abgewöhnt und gründlich.

Wie sie ihn begriff, in der Ganzheit ihres Herzens, daß er den Anspruch
höher trieb und höher: in die Grenzen des Unmöglichen hinein und, wenn
ihr die Erfüllung doch gelang, wie war er voller Dankbarkeit:

»Endlich, ohne Surrogatempfindung lieben können, welche Erlösung.
Wieviel Enttäuschungen habe ich schon an Frauen erlebt.«

Der Kult ihrer Persönlichkeit steigerte seine Härte gegen alle Anderen.
Gern übertrieb er dann den Physiologen durch Kraßheit der Diktion:

»Jede Frau sollte man eigentlich, hat sie ihr Erstgebornes abgestillt,
erschlagen, als für den Mann erotisch nicht mehr brauchbar und
überflüssig für das Kind. Güte, Rücksicht, Großmut, Treue: alles
Männerart, ob eine Frau einen wahrhaft liebt, weiß man ja erst, bis sie
sich für einen umgebracht hat.«

Sibyl grübelte:

»Hat er das wohl auch seiner achtzehnjährigen Frau, der schwer
hysterischen, gesagt, eh' sie ins Wasser ging?«

Da ihnen die letzte Erlösung versagt war, übertrieben sie die periphere
Lust. Glitt er nach endlos verküßten Nächten aus ihren Gliedern auf,
stand ihm, dem Mann -- ganz Rom -- Paris -- Venedig zur Erfüllung frei.
Sie: die Dame, lag da, mit hilflos aufgewühlten Adern ohne Frieden, ohne
Schlaf -- nur Arbeit noch vor sich. Da warteten Werke seines engsten
Faches neben dem Bett. Sie griff danach. Nichts gab es zwischen Himmel
und Erde, über das er nicht plötzlich mit ihr zu sprechen begehrt. Dann
schrak sie auf zum Morgenritt mit ihm, zu Dauerläufen durch
Ausstellungen, Museen. Tage preßte er in Stunden -- klagte: wir haben
Jahre versäumt. Sein schnellstes Tempo ging er neben ihr: zur Probe,
denn über alles beglückte ihn, was er die höherwesige Anmut ihres Ganges
nannte, und dies auf Erden unbekannte Gleiten im kleinsten Schritt.
Schlief er bei Tag, hieß es: sich umkleiden von Kopf zu Fuß, nach dem
sechsfältigen Fächer täglicher Mondänität die Linien wechseln.

Als Physiologe studierte er den auserlesenen Organismus seiner Dame
stolz, wie wenig Nahrung sie bedürfe -- welch guter Motor sie sei --,
wollte die Grenzen ergründen. Sie wußte kaum mehr, wie sie leben sollte.

Seine Gier, sie auszukosten, war ohne Maß.

Man trennte sich am Bahnhof. Nach letztem Abschied sank die Zerliebte
tief erschöpft in ihr Kupee. Endlich Frieden, seliges Nachgenießen ohne
getürmten Anspruch, Qual der Hast. Da ging die Tür. Heimlich war er
mitgefahren, stand stürmisch, in Erwartung einer Freude -- die nicht
kam, in ihr erblaßtes Gesicht. Ein Augenblick Verstimmung nur, dann flog
die echte Sonnigkeit drin auf.

Er scherzte:

»Du bist mich noch nicht los.«

Um seine Miene aber lag gekränkte Männcheneitelkeit. Dann aber war's ihm
wieder recht, erhöhte irgendwie den Wert der eigenen Glut und paßte in
das Liebesspiel der beiden.

Sie spielten Faun und weiße Prinzessin, Pan, der die Pranken um den
Mondstrahl schlägt. Er wollte jenen Schmelz an ihr aus Eis und Honig,
und daß es mit dem Eis begänne. So überflog er seinen eigenen Brand,
blieb alleiniger Herr des Feuers. Ihre Wärme, ihre Liebe aber neckte er
hinweg:

»Du wirst doch nicht etwa ein Herz -- so ein ganz gemeines irdisches
Herz vortäuschen wollen, das, womit wir Menschen lieben. Auf den Mangel
dieses Organs habe ich immer das entzückende Untergewicht meiner großen
Fee geschoben.«

Er korrespondierte mit ihren Füßen, mit jedem Glied.

Seine Briefe schwollen jetzt zu Broschüren an, kamen zusammengeheftet
und mit der Maschine geschrieben. Sie vermißte den stilisierten
Eigensinn seiner breiten Feder. Damit, aus dem Papierkorb heraus, hatte
es ja begonnen. Ihr war: geliebte Schrift in die Augen empfangen, sei
ein sublimer Eros, und sagte es ihm auch.

Er bat: »Ich habe dir doch unaufhörlich Zehntausenderlei zu sagen -- und
endlich darf ich auch -- die Feder ist viel zu langsam.«

Sie einigten sich. Den Inhalt gab sie der Mechanik preis, Nachschrift
(eine mindestens) und Kuvert sollten der lebendigen Hand verbleiben.

Dafür bat er sich leihweise all seine Briefe aus, von jenem frühen, mit
dem Antrag angefangen, damit er sie kopiere, fürs Archiv -- um einst zu
sehen, »wie alles ward.« Wollte alles besitzen, was sich auf ihr
gemeinsames Schicksal bezog.

                   *       *       *       *       *

Das »laufende Verfahren« zog indes seine Schleimspur durch die Monde.
Versöhnungsversuche, Verhandlungen, bei denen maßlos angeödete Leute in
schwarzen Babykleidern schamlose Dinge fragen mußten, die sie nichts
angingen, um Antworten zu erhalten, die notgedrungen Lügen waren. Es
hieß »Erhärtung des Tatbestandes.«

Seit die Scheidung im Gang, wollte Ralph Herson nicht mehr ohne sie
sein, fuhr einfach mit.

»Jetzt kann nichts mehr geschehen, vor einer Ehebruchsklage deines
Mannes bin ich sicher.«

Angenehm war es ihr nicht, hetzte er sie hier, von allen gekannt, an
seiner Seite durch die Straßen der Stadt.

Man klebte förmlich vor geblicktem Schmutz.

Ralph Herson staunte, wieder ganz Edelanarchist, über solch kleinliche
Scheu bei einer so großen Dame. War auch sonst schwarz gelaunt und von
wahnwitzig gereizter Höflichkeit. Sie befragte Tatjana.

Es sei um der Besitzungen bei Genua willen. Eben böte sich Gelegenheit,
den Grund aufs Wertvollste zu arrondieren. Dann wäre man auf viele
Kilometer im Umkreis für alle Zeit gesichert vor Fabriken, Lärm und
Unflat. Doch müsse Ralph ihretwegen jetzt seine flüssigen Mittel für den
neuen Bau bereit halten. Sibyl ließ sich die Summe nennen, bot sie ihm
-- war es doch für ihr künftiges Heim -- diskret, fast _en passant_, als
Darlehen an. Er brauste auf. Nach gutem Zureden ging es aber dann doch.
Solche Gelegenheit kam ja nicht wieder. Er trug ihr einen Schuldschein
an, die ganze Summe nach zehn Jahren rückzahlbar, die Zinsen zu jedem
Quartal fällig.

Sie setzten es zusammen auf und lachten sehr.

Es ergab sich, daß der Millionärssohn in diesen Dingen ein
weltabgeschiedener Gelehrter war, und gestand das auch freimütig zu. Da
ihn dergleichen ekle, regle stets der Prokurist des Hauses Herschsohn
alles Geldliche für ihn. Und so vergaß er denn auch richtig das mit den
Zinsen hineinzunehmen. Sie mochte ihn nicht mahnen. War es nicht gleich?
Die Flüssigmachung der Summe gelang nicht ganz leicht. Sie mußte
Effekten ungünstig verkaufen, andere belehnen lassen, denn er brauchte
die Summe gleich.

Rührend, wie chronisch er wieder sparte, an kleinsten Dingen, der große
Herr, der Forscher und Ästhet, als wären sie von Belang. In Venedig
hatte er mit dem Gondolier um eine halbe Lira einen Auftritt. Mitten im
Kreis der Gaffer ließ er seine Dame stehen. In einer Wallung Zorn,
Verachtung fast, griff sie bereits zur Tasche, dem Schiffer ein
Geldstück hinzuwerfen und ihres Wegs zu ziehen. Da schoß ihr die Scham
ins Gesicht.

»Es ist für mich -- für unser Heim.«

Und wartete geduldig im Kreis der Gaffer, bis Fahrgast und Führer sich
auf fünf Soldi geeint.

                   *       *       *       *       *

Endlich kam der letzte Verhandlungstag. Die Erniedrigung schien
ausgelitten. Sibyl atmete schon auf, da stand plötzlich wieder ein neuer
Jude da und sagte, er sei Ehebandsvertreter und von Staats wegen
bestellt, auf alle Fälle dagegen zu sein. Nichts war ihm recht, nichts
ließ er gelten. An »unüberwindliche Abneigung« glaubte er so wenig, wie
an böswilliges Verlassen. Riet im Gegenteil den anwesenden Parteien
dringend zu neuerlichem Geschlechtsverkehr, von dem er sich viel
erhoffe. Während sein eingespeicheltes Wohlwollen bewies, wie doch
selbst so gewissenhaft geführte Verhandlungen gar nichts Trennendes
zutage gefördert, das zu einer Scheidung berechtige, streifte Sibyl ganz
langsam den Handschuh ab, betrachtete, Tiefes sinnend, die kleine Narbe
am Gelenk, sah dem Ehebandsvertreter dann plötzlich mit solcher Kraft
des Hohnes in den Mund, daß er zwar noch alberner wurde, von den
dösenden Richtern jedoch nur ein Probejahr verlangte, statt zwei. Es
nützte ihm aber nichts. Die Ehe wurde getrennt.

Also frei. Sie dankte ihrem Anwalt, sprach ihm, zum ersten Mal, von
neuer Bindung.

»Ausgeschlossen,« sagte der Alte -- »erst in sechs Monaten -- als Frau.
Nur der Mann kann sofort wieder heiraten.«

Da verlor sie zum ersten Mal den Mut, stammelte:

»Und wann -- wann dürfte sie ein Kind ...«

Der Alte kam ihr zu Hilfe, hatte dieses hohe, zartfremde Wesen lieb
gewonnen, das da hilflos in seiner Kanzlei sich die Flügel zerstieß, und
dem er als Baby einst das schmale Goldhaupt geküßt.

»Kommt das Kind ein Jahr nach erfolgter Scheidung zur Welt, gehört es
der Ehe nicht mehr an, kann aber ohne weiteres durch eine andere Heirat
legitimiert werden, die allerdings erst sechs Monate nach erfolgter
Scheidung geschlossen werden darf.«

Sibyl war ganz perplex über die klare Antwort. Mochte der Inhalt auch
Unsinn sein, man wußte wirklich, woran man war.

Wie zart, wie gut von Ralph Herson, daß er nie frug. Die ganze
rechtliche Kloake vornehm ignorierte, durch die sie gemußt, um ans
andere Ufer hinüber zu kommen, zu ihm, wie er gewünscht.

»Mein Wunderwesen vermag so wonnevoll leicht aus diesem trivialen Leben
zu entgleiten,« sagte er nur.

Und nach einer Pause:

»Daß wir sofort nach deines Vaters Tod uns wiederfanden, es ist, als
hätte er dich irgendwie mir sterbend anvertraut, daß dir nur nichts
geschehe.«

Sie sprachen nie von Täglichkeiten. Gewiß wußte er gleich ihr juristisch
Bescheid. War die peinliche Wartezeit um, erledigte man eines
Vormittages obenhin und möglichst in der Stille, was der Gesittung und
der Kaste zukam.

So strichen noch drei Monate unter Qualen an den Grenzen der Erlösung
hin, die heilige erste Flamme sollte erschaffen dürfen, nicht in
Halbheit erstickt, verschwälen.

»Dir will ich meine _ganze_ Liebe und meine _ganze_ Zärtlichkeit auf
einmal geben.«

Und ging aus ihren Armen zu Gleichgültigen. Konnte sie denn ein Jahr
Askese von ihm verlangen -- ja, nur wünschen?

Doch nun. Immer öfter, tiefer, sahen die mächtigen braunen Augen in ihr
Herz und klagten:

»Begeisterung ist keine Heringsware, die man einpökelt für mehrere
Jahre.«

Und die silberne Locke auf dem dunklen Greifenkopf im Spiegel
angeseufzt, hieß:

»Ich bin nicht mehr so jung, wer weiß, wann die mächtige Flamme
erlischt.«

Sollte noch mehr Leben und Glück vergeudet werden, um einer leeren
Formalität willen, die ja in wenig Monaten nach Belieben nachzuholen
war?

Und so geschah es. Manisch, brutal, nur einem Zwecke zu. Sie dachte:

»Daß er mich nicht nachher noch an den Füßen aufhängt, wie die
Tartarenkhane ihre Weiber, ist alles.«

Er vertröstete: »_Dann_, ist das große Ziel erreicht, alle Orgien der
Welt.«

Sie war wie eine Gefangene. Und doch tat er, als glaube er ihr das Kind
nicht. Nur ein einziges Mal hatte sie davon gesprochen, wie eine Frau
die Sekunde wisse, wann es in ihr um einen neuen Kern zu kreisen
begänne, als _du_ im _ich_. Wie das Empfinden da gleichsam blitzhaft
zucke, her und hin, mit erstem Gruß und Gegengruß.

»Hysterische Faxen,« hatte er gelacht, »mir, als Physiologen, macht man
nichts weis. Sicher sind erst die Herztöne.«

Nun würde sie schweigen bis zu den Herztönen. Fuhr trotzig zu Charmion,
das Kind mit sich in die Berge zu nehmen, verschmachtet nach Freiheit
und Bewegung. Glitt auf Skiern ins Blaue über Wächten -- da es ja doch
nur »hysterische Faxen« waren. Auch hatte er noch etwas gesagt, das sie
verdroß und trotzig machte.

»Ich bin nicht mehr jung. Vom eugenetischen Standpunkt aus hätte ich
eigentlich mit einer Sechzehnjährigen zeugen sollen.«

Sie hatte gelacht: »Recht aneifernd für mich.«

»Seine schöne Offenheit,« fuhr Tatjana demütig dazwischen, »wie
wunderbar objektiv er immer ist.«

Die Frau hatte ein hündisches Geschick, alle peinlichen Tatsachen um ihn
zu verwedeln. So ertrug er -- voll Sehnsucht nach Ebenbürtigkeit -- doch
kein freies Wort mehr, nur kritiklose Unterwerfung, unbewußt gewohnt,
seine Umgebung ausschließlich von dem Gesichtspunkt zu wählen, sich
ungestört überschätzen zu können.

An die »Krönung seines Lebens« schien er wirklich noch immer nicht zu
glauben, hätte er sonst von ihr, in diesem Zustand, Geld verlangt?

Natürlich nicht »verlangt«, eben nur angefragt, ob man nicht für ihren
Baderaum jetzt einen Marmorblock kaufen solle -- in Carrara sei ihm ein
besonders schöner preiswert angeboten -- käme sie aus den Bergen zurück,
führe man zur Besichtigung hin. Auf alle Fälle möchte er die Summe als
Scheck schon jetzt haben.

Sibyl wußte nicht so ganz genau, was ein Scheck sei, schämte sich, tief
schüchtern, zu fragen, fürchtete Spott. Begriff nur, daß es sofort bares
Geld bedeute, sagte nun zwar ja, später aber fiel ihr ein, er brauche
die Summe ja nicht gleich, so könne sie neuerliche Belehnungszinsen bei
ihrer Bank indessen sparen. Hatte Angst davor, seit dem letzten Mal.
Diese ewigen Belehnungen zehrten zuviel auf, und Ralph hatte ja in
seinem Schuldschein die Zinsen vergessen, so trug sie alle Lasten für
ihn allein.

Ein bitteres Schreiben flog ihr in die Berge nach. »Geld«, als Wort, kam
natürlich nicht vor. Er umschrieb es:

»Dein Benehmen gegen mich verschlechtert sich rapid. Du hältst
Abmachungen nicht und bringst mich dadurch in peinliche Abhängigkeit.
Hättest Du Deine Zusicherung aus irgendeinem Grund nicht halten können,
es spielte gar keine Rolle, was wäre Finanzielles zwischen uns, nur in
der Nicht-Mitteilung erblicke ich eine äußerst verletzende
Geringschätzung meiner Person, um so weniger erträglich an jemandem, den
man so sehr um guten Benehmens willen liebt, die ganze Natur hat sich da
gleichsam so >gut benommen<. Und all das -- mir, der ich Dir eine Liebe
entgegenbringe, wie sie nur noch im Märchen vorkommt.«

Ihn an die vergessenen Zinsen gemahnen: den wahren Grund des Aufschubs
-- niemals. So schickte sie zwar sofort die ganze Summe, doch
kommentarlos, nahm lieber den Schein der Rücksichtslosigkeit auf sich,
sein Gentlemantum zu schonen.

Wäre nur die erdenschwere Pein der nächsten Monate schon vorbei. Wie
würde der Ästhet Entstellung ertragen? Was anderen fast verborgen, war
für sein an Vollendung verwöhntes Auge bereits degoutant. Nie durfte der
Vater Herschsohn nach Genua kommen, alte Leute duldete er nicht um sich,
sein Kind mit Tatjana wuchs in Instituten auf, weil es unschön
ausgefallen war. Das leichteste Unwohlsein schon galt als Schande.
Welcher Jammer, als sie einmal die Spitze eines Fingernagels brach.
Andern Tags kam er halb scherzend mit einem Formular von Lloyds
angelaufen: »Wie Paderewski jeden Finger, so laß ich jetzt jeden deiner
Fingernägel versichern.«

Oben kritzelte er etwas mit Bleistift, unten mußte sie wahrhaftig mit
Tinte unterschreiben.

Man fuhr nach Carrara, nach San Gimignano, nach Ravenna, man fuhr, man
fuhr ... Endlich war selbst er, der Unermüdliche, müde und die Zeit
ihres freiwilligen Exils von seinem -- ihrem Heim zu Ende.

Nur mehr wenige Wochen dort, als sein Gast, ein »gravider Gast«
allerdings, dann: Dame des Hauses. Alles Falsche, Schiefe, der Kaste
unwert, war überwunden.

Endlich ein Heim haben. Sie fühlte, wie sich Tränen in ihr erzeugten,
während der staubige, kleine Waggon gegen Padua holperte. In ihrem Schoß
lag der dunkelhäutige Greifenkopf, den sie betreuen durfte, in tiefem
Schlaf. Götterfrei weidete ihr Auge auf ihm in befiederter Erwartung
eines namenlosen Glücks. In einem dichten Lichte schwamm ihr Herz.
Ergriffen sah sie auf. Da, gleichsam geformt aus diesem Glück, zogen vor
dem großen Glaswagen zwei wundervolle Menschenangesichte langsam und
lautlos an ihr vorbei, wie eine ungeheure Erweiterung der eigenen Seele.

                   *       *       *       *       *

Die Versuchstiere waren fort aus der alten Landvilla, als sie ankamen.
Wie lieb. Sie dankte ihm.

»Ich sagte dir ja vor Jahren schon, eine Zeit käme, wo ich das
Tierexperiment zeitweise entbehren könnte.«

Hinter seinem breitweggerollten Mund lagen die schöngesetzten Zähne fest
aufeinander.

Sibyl war morgens beim Arzt gewesen, hatte sich die Herztöne bestätigen
lassen, nun waren es keine »hysterischen Faxen« mehr. Nachmittags fuhr
er in die Stadt zu seinem Anwalt. Kam spät nachts zurück. Ließ sie zu
einer Unterredung in sein Arbeitszimmer bitten. Er liebte Form. Schon im
Nachtgewand, kleidete sie sich nochmals sorgfältig an, wie zu einem
kleinen intimen Souper, trat ein. Er rückte einen Klubsessel beflissen
zum Schreibtisch, das undurchdringliche Gesicht lässig neugierig
gespannt über der kerzensteifen Hemdbrust. Nahm dann eine frische Feder,
prüfte die Spitze, legte sie ihr hin wie zu einer kommenden
Unterschrift, entfaltete ein Dokument. Begann zu lesen. Es war ein
Ehekontrakt.

Nein, eigentlich mehr ein Scheidungskontrakt. Ihr Vermögen und ihr
künftiges Kind verblieben auf alle Fälle ihm, während er das Recht haben
sollte, sie jederzeit entschädigungslos auf die Straße zu werfen. So
ungefähr klang der verschleierte Sinn hindurch.

Sie saß ganz still. Alle Wirbel begannen zu zittern. Tief innen zuckte
sein Kind.

Er erläuterte:

»Es war recht schwierig, das in rechtsgültige Formen zu bringen. Nach
diesen lächerlichen gynäkokratischen Ehegesetzen, denen ich mich niemals
unterwerfe, hätte ja meine Frau bei einer Trennung den Anspruch auf den
vierten Teil meines Vermögens. Gegen solche juristische Attentate auf
meine materielle Freiheit muß ich mich zu schützen suchen, und mit etwas
gutem Willen und einem guten Advokaten läßt sich viel machen, also bitte
zu unterschreiben. Es ist das wie ein Sicherheitsgürtel, ehe man sich
auf hohe See begibt. Gerade weil du ja hoch über den selbstischen
Interessen der gemeinen Weibchen stehst, liegt deiner Unterschrift
nichts im Wege.«

»Vielleicht die Selbstachtung,« sagte sie leise.

Es waren zwei Dokumente. Im ersten mußte sie ihm eine phantastische
Summe, viel größer, als ihr tatsächliches Vermögen, als Mitgift
zubringen. Das zweite, weit vorausdatiert, enthielt das Geständnis eines
Ehebruches -- aber, da verstand sie schon nicht mehr ganz -- offenbar
irgendeiner Infamie, die sie völlig in seine Hand geben sollte. Ob das
alles wirklich rechtsgültig -- ob es auch nur möglich, was ging es sie
an. Ihr Gehirn stotterte nur in einem fort:

»Die ersten Herztöne seines Kindes benützt er zu Erpressungen.«

»Zu Erpressungen, die Not, in die er mich durch Vertrauensmißbrauch
gebracht.«

»Wie eine Alimentenjägerin behandelt er mich. Aus Angst vor dem
gesetzlich vorgeschriebenen Mindestmaß an Anstand.«

»Mein Gott, nur heraus aus diesem Schmutz.«

Dann stieg langsam eine ungeheure Empörung in einer Welle von Rot auf.
Sie erhob sich, ging zur Tür. Wenn nur die Stimme jetzt noch hielt, ohne
zu brechen:

»Jemand, mit dem man erst einen Vertrag schließen muß, -- mit _dem_
schließt man auch keinen Vertrag mehr. Wie den Möbel-, den
Marmorlieferanten, versuchen Sie nun auch der >Kinderlieferantin<
nachträglich Abzüge zu machen? Einen Märchenprinzen glaubte ich zu
finden und finde -- Leiser Herschsohns Nachfolger.«

»Ganz wie gnädige Frau wünschen. Ich möchte nur konstatiert wissen, daß
_ich_ die Eheschließung wollte, die Sie -- in der beleidigendsten Form
-- abgelehnt haben. Für weitere Konsequenzen bin ich demnach nicht mehr
verantwortlich.«

Sie wollte an ihm vorbei. Er vertrat ihr die Tür. Seine ungleichen Augen
genossen die Situation. Dann mit wohlwollender Tücke:

»Nun, vielleicht wäre die Klausel mit dem Kinde unnötig gewesen, es
verbleibt mir ja auch so. Wenn du dich um dieses Künftige so wenig
kümmerst, wie um Charmion -- das genügt mir vollkommen.«

Auch das noch. Für ihn, um ihm andere schenken zu können, hatte sie
unter bittersten Kämpfen auf das Arielwesen zum Teil verzichten müssen.
Selbst daraus wurde ihr noch der Strick gedreht.

                   *       *       *       *       *

Menschenscheu, ganz allein, irrte sie von Stadt zu Stadt. Sprach durch
Monate kaum ein Wort. Mied Seen, Brücken, Felsen. Einmal, in Madrid, war
im Hotel nur noch ein hochgelegenes Zimmer frei.

»Nicht im vierten Stock, ich will nicht an dieser Bestie zugrunde
gehen.« Ganz laut geschrien hatte sie es wohl, die Leute schienen so
verdutzt.

Nein, diesen Triumph befriedigter Eitelkeit sollte er nicht haben.

Ballten sich in ihr die kleinen Gliedmaßen und schlugen nach oben aus,
gegen das Herz, begann sie zu rennen. Ins Freie. Hielt das Bewußtsein
mit aller Kraft noch auf Armeslänge von sich ab. Stetig umkreiste es sie
in unsichtbaren Sprüngen nach ihrer Kehle. Sie zählte krampfhaft, immer
noch bis zehn, und dann noch bis fünf, um es wegzuhalten. Plötzlich, ein
Moment inneren Erlahmens: da sprang es ihr an die Gurgel. Sie spürte den
stinkenden Hyänenatem der Schmach. Ihre Wirbel zitterten vor Wut.

Im Gral ihres Wesens kreißte also die Jauche eines Wucherers. Was
Niggergier in sie hineingespien durch Vertrauensmißbrauch ohnegleichen,
sollte sich Leben ermästen dürfen durch sie.

Mutterinstinkt! Über nichts wurde wohl so ausdauernd, feig, schamlos
gelogen, und gar von niemandem so heuchlerisch, wie vom Mann.

Das könnte ihm gefallen, den viehischen Bruttrieb als »heilige Pflicht«
ausplärren: als weibliche »_Natur_.«

In der _Natur_ kann eine Löwin ihre Jungen auffressen oder liegen
lassen, ohne daß die Vormundschaftsbehörde sich einmischt, sie vor die
Wahl Ächtung oder Zuchthaus stellt. Das ist Natur: frei sein, zu
gebären, frei das Geborene zu vernichten.

Wie, jeder Instinkt sollte sich veredeln, erhöhen dürfen, und nur die
Schwangere wahllos, bestialisch bleiben müssen? Wahlloser Muttertrieb so
verächtlich wie wahlloser Geschlechtstrieb! Wie aber könnte die Ärmste
echt von falsch erkennen, ehe sie den Mann »erkannt«. Da erst fällt die
Maske. Erst da weiß sie, was sie empfängt.

Das Gesetz. »Wer sich Infamem beugt, wird selbst infam.« Nein, dies Kind
würde sterben, ausgestoßen werden -- reuelos, sie selbst aber leben,
jetzt gerade.

Und dann schlug sie das Gesicht in die Hände und hoffte, daß ihr das
Herz bräche.

Wie sie crude geworden war. Wie sie sich verrohen fühlte in dieser
Hölle. Wo war die Zartheit, wo die Scheu? Wo das reine und kühne junge
Wesen, dem selbst im Straßenschmutz der Saum des Schuhs noch ohne Makel
blieb? Das Ärgste am Unglück war nicht, daß es unglücklich, daß es so
schamlos machte.

Und nun begann das Pendel langsam zurückzuschwingen aus dem höchsten
Haß. Sie litt so sehr, daß sie nach ihrem eigenen Unrecht suchte.

Zwei, drei, vier Stimmen erhoben eine bebende Litanei: rechtfertigend,
beschwörend, ringend, hadernd:

»Du Philosophin, du neunmal Weise. Es wird ein Mensch doch nicht
plötzlich zur Bestie, zum Verbrecher?«

»Nein, denn er war es stets, läßt nur die Maske fallen, sobald nichts
mehr herauszuschinden ist.«

»Bedenke, er war Erpressungen ausgesetzt. Verfolgungswahn, nichts
weiter. Er ist krank. Kann man nicht auch einen Kranken sehr lieb
haben?«

»Krank? Ein recht gesunder Wucherer. Selbst aus Erpressungen, an ihm
begangen, versteht er es noch Vorteile zu ziehen, markiert
Verfolgungswahn, um seinen einfachsten Verpflichtungen heuchlerisch sich
zu entziehen.«

»Und weiß nicht jede Pore deiner Haut von Liebe, wie sie nur im Märchen
vorkommt?«

»Ja, solang' es nur Vergnügen war. Zu einem Tee im Ritz reicht die
Liebe, falls die Dame ihren _beau jour_ hat und -- den Tee bezahlt.«

»Weißt du denn wirklich, was er wollte in dieser schrecklichen Nacht?
Hast du dich verhört am Ende? Warum nicht in Ruhe und Geduld den
Kontrakt bei Tag noch einmal prüfen?«

»Aufs Nichtprüfen war es ja angelegt. Selbst um den ehrlichen
Heiratsschwindel hat er sich noch herumzuschwindeln gewußt. Ist es nicht
gerade meine Qualität, nicht pfiffig zu sein? Klugheit zu verachten? Oft
genug schlich er sich mit Nachschlüsseln der Konversation in mein
Innerstes ein, um _das_ zu wissen.«

»Warum darfst nur du unklug sein, nicht auch er? Vergriff er sich nicht
lediglich im Mittel? Durch deine Rechtlosigkeit solltest du ihm sicherer
sein. Hat je eine Frau gezürnt, weil man sie angekettet, um sie besser
küssen zu können.«

»Welch ein Arzt und Physiologe, der es nicht besser weiß, als eine
gravide Frau zu beunruhigen? Anketten? Er läßt dich doch hilflos
monatelang umherirren -- ganz allein. Ist es nicht, als sehe man ruhig
zu, wie ein Fieberkranker aus dem Fenster springt, und denkt dabei: ist
er unten heil gelandet, wird er später schon wieder einmal
depeschieren.«

Ach nein, alles hoffnungslos, und sie warf die Stimmen wieder in sich
zurück.

Dann eine Pause bitterster Verliebtheit. Was war die ganze alberne Ethik
gegen das Wehen seiner Haare im Wind!

Und nur einmal ist das da, in allen Ewigkeiten. Wenn ich an dem Kind
sterbe, sehe ich das nie wieder. Wertlos alle Seelenwanderung für die
Liebende. Denn steht er auf und hat nur ein Haar auf seinem Kopf anders
wehen, so ist alles wie nichts.

Da schrieb sie ihm. Eine Zeile bloß:

»So hast Du mir in solcher Zeit kein einziges liebes Wort zu sagen?«

Keine Antwort. Plötzlich stürzte sie über seine Briefe her, ein Koffer
voll, der sie nie verließ. Wählte nur mit der Maschine geschriebene. Ein
unerträglicher Verdacht war in ihr aufgestiegen. Hatte seine schlaue und
lachende Stimme nicht einmal zu Tatjana gesagt:

»Eigentlich sollte man dem Empfänger nur den Durchschlag schicken, so
behält man das Original, das Ursprünglichere, Wertvollere für sich, und
der Andere merkt es ja nicht.«

Sie prüfte genau. Ja, es waren Durchschläge. Und vernichtete nun alle:
Blatt um Blatt.

Der berühmte Gynäkologe in Berlin sagte ihr nichts Neues.

Nach Charmions Geburt, als Fachleute dazukamen, war irgendein schwerer
Kunstfehler begangen worden, weitere Kinder mußte das Messer ans Licht
bringen, sonst starben sie ungeboren.

Das Schicksal gab ihr somit alles noch einmal in die Hand. Sie brauchte
nur -- nichts zu tun. Sich nicht rechtzeitig der Operation unterziehen;
wer konnte sie zwingen? -- und die Schmach war tot. Auf ganz korrekte
Weise tot.

Eine Nacht lang rang sie nach Gerechtigkeit. Das Todesurteil über diesen
Bastard zu verhängen, war ihr gutes Recht. Ja. Doch hat eine gravide
Frau ein Urteil? Eine arme belastete Irre nur ist sie, mit verdrängten
Nerven; ein Wesen mit verschobenem Kern. Wie, wenn sie erwachte, vom
Druck befreit und die bös verzerrte Welt, die durch das Doppelich
Gebrochene, war wieder eins und heil. Alles wieder gut, und jenseits der
Nachtmahr stand der geliebte Mann, frei von Schuld, und zwischen ihnen
lag das vernichtete Kind. Es war nicht auszudenken. Sie spornte sich an
die Tat heran, wie an eine Hürde. Ein Bravourstück ihres alten
»Noch-Nocher«. Sie mußte hinüber. Aber um Gottes willen rasch. Hinüber
in die Gewißheit.

Auf seiner Klinik hatte sie eine letzte Unterredung mit dem Geheimrat.
Beschwor ihn, sie nicht zu schonen, aber das Kind müsse leben, um jeden
Preis. Stürzend durch die stechende Süße des Chloroforms, noch aus dem
Abgrund herauf, lispelte sie durch das Zählen hindurch immer wieder:
Telegramm, Telegramm. Hatte Auftrag gegeben, während sie noch bewußtlos,
Ralph Herson sofort die Geburt des Kindes zu melden.

Lange war nichts. Vielleicht ein Jahrhundert. Dann wurde sie zur Erde,
und ein Bergwerk voller Stollen hämmerte und zerriß dumpf ihr Inneres,
riß durch alles durch und plötzlich rotierten vierzig Rasiermesser in
ihr, Arzt und Wärterin hielten Arme und Beine. Nach vier grauenvollen
Tagen und Nächten war die erste Frage nach der Post. Nein, nichts da. Ob
sie das Kind sehen wolle, es sei ein so schöner Knabe.

Nein, die Post.

In der Klinik sprach man von nichts anderem. Diese fremdlinghafte Dame.
Ganz allein. Flehte um die Operation und wollte dann nicht einmal ihr
Kind sehen. Frug nur immer um ein Telegramm. Acht Tage, vierzehn Tage.
Der Geheimrat stand vor einem Rätsel. Medizinisch ging alles bei dieser
Vitalität ans Wunderbare grenzend gut, und die Patientin wurde immer
elender. Aß nicht, schlief nicht, verfiel. Nach drei Wochen hieß es, ein
Herr sei da, ließe diesen Brief übergeben, warte auf Antwort.

Sie schickte die Pflegerin fort. Legte die Wange auf den Brief und
schloß die bebenden Augen. Streichelte ihn lange, öffnete endlich
andächtig den Umschlag.

»Geehrte gnädige Frau,« stand mit Bleistift, flüchtig gekritzelt. »Ich
halte wohl eine Besprechung jetzt nicht für unbedingt notwendig und um
so weniger dringlich, als ich selbst in hohem Grade der Erholung
bedürftig bin. Eines ist aber doch vielleicht wichtig, und zwar eine
unterzeichnete Erklärung Ihrerseits, daß alle nötigen Schritte getan
werden, um _mir_ die Vormundschaft über Ihr durch Kaiserschnitt von
Geheimrat C. zur Welt gebrachtes Kind zu übertragen, ferner Ihres
Einverständnisses damit, daß alle Abmachungen über Unterhalt,
Aufenthalt, Aufzucht des Kindes zwischen uns, ohne Prozesse oder
Geltendmachung rechtlicher Ansprüche Ihrerseits spätestens in zwei
Monaten getroffen werden.

                                                      Hochachtungsvoll
                                                        Ralph Herson.«

Kein liebes Wort. Keine Blume.

Sie klingelte und ließ ihn hinauswerfen.

Als er am nächsten Tag um eine Unterredung ersuchte, schickte sie eine
Zeile hinaus:

»Nur noch durch den Advokaten.«

Und war dann lange Zeit schwer krank.

Oh, warum, warum hatte sie ihn nicht wenigstens angeschaut in der
Klinik. Dann ihm die Tür weisen, aber erst sehen, wie es heller wird im
Zimmer, wenn er hereinkommt. Nur eine Minute ihn sehen. Monate ließe
sich's wieder davon zehren.

Sie versuchte zu reisen. Umsonst. Jede Person Plage, jeder Ort Pest,
wertlos jeder Weg, der nicht zu ihm führt.

Manchmal packte sie die Wut des Gradgewachsenen, den man
krummgeschlossen hat. Es war ja nicht mehr Liebe, war Besessenheit,
hatte er doch nicht geruht, bis jedes Stückchen seiner Haut
unentrinnbare Macht der Erinnerung über sie gewonnen.

Nach zwei Monaten schrieb der alte Lederer, ein Dr. Kosches als
Vertreter Ralph Hersons habe angefragt, ob und wann Verhandlungen über
das Kind stattfänden. Also noch einmal in Tratsch und Schmutz dieser
Stadt zurück. Immer noch besser als in andrer einem fremden Anwalt die
Situation, in die sie gezerrt worden, erzählen müssen.

»Was wollen Sie?« frug der Alte.

Sibyl saß mit Blut übergossen da.

»Haben Sie nicht sogar Vermögen bei der Sache zugesetzt?« Er schüttelte
den Kopf. »Vor allem heißt es schauen, das irgendwie herauszukriegen.«

Sie beschwor ihn, nichts davon zu erwähnen. Welch ein Niveau!

»Mag er es behalten! Auch nichts von seinem Geld oder seiner Person will
ich, das er mir nicht aus freien Stücken bietet, aber ich verlange Eines
als mein Recht: die meiner Kaste gebührende Form. Man kann jemanden
auffordern, gemeinsam eine Reise dritter Klasse zu machen. Gut -- dann
weiß er es im voraus, kann mitfahren oder wegbleiben. Nicht aber geht
es, jemanden in den Salonwagen zu laden, um ihn dann, ist der Zug in
voller Fahrt, nachträglich in den Viehwagen zu stoßen. Ich verlange eine
Scheinehe mit sofortiger Scheidung. Ist das Soziale erst in Ordnung,
kann alles Menschliche wieder anheben oder zu Ende sein. Nach der
Scheidung stehen wir aufs neue frei, >herrlich wie am ersten Tag<
einander gegenüber.«

»Nebbich,« sagte der Alte und begann eine Art Schlangentanz um seine
Klientin zu vollführen.

»_Ich_ sag' Ihnen: Heirat um jeden Preis, welche Bedingungen die
Gegenseite immer stellen mag, sonst verlieren Sie Ihre kleine Tochter --
völlig, wegen der Klausel vom >makellosen Wandel<. Kommt die Geschichte
mit dem unehelichen Kinde heraus, hat ihr früherer Gatte das Gesetz für
sich -- ich höre, er wartet nur darauf. Also Achtung.«

Sie verließ ihr Hotelzimmer kaum mehr, ging erst in der Dunkelheit, Luft
zu schöpfen, so sehr war ihr die neue Schmach ins Mark gefahren. Nur
jetzt niemandem begegnen, mit niemandem sprechen müssen. Eines Tages
schrillte das Telephon: Dr. Lederer erwarte beide Parteien in der
Kanzlei um vier.

Nein, nein, erst morgen, noch eine Gnadenfrist! Jetzt war es Mittag.
Schon um vier! Sie stand wie eine Gerichtete. Weinen wallte auf. Mit
einem Schwung des Körpers warf sie sich flach auf den Rücken, daß ja
nicht Tränen in die Augen stiegen, das Weiße trübend. Lag dann still und
wartete. Kannte die geheimnisvolle Transfiguration durch die erregenden
Ströme der Erwartung, wußte, wie sich Haut, Aug', Duft, Haar wandelten,
sich bereiteten; die letzten Stunden vor jeder Begegnung etwas
Blumenhaftes, Durchscheinendes bekamen, das für ihn sich erschuf und mit
ihm ging.

Aber was anziehen? Jede Modelinie war scheußlich oder entzückend, je
nach der freiwilligen Einstellung auf sie, und in zeitlosem Gewand
erschien man nicht in Advokaturskanzleien. Dieses Wetter dazu: einmal
Regen, einmal Sonne -- immer Sturm. Endlich schien wirklich nichts mehr
auszusetzen, und völlig erschöpft, noch schwach von der Operation, ließ
sich die Überreizte in einen Stuhl sinken, aufs Bett wagte sie nicht,
des Hutes wegen, und fürchtete sich so, und wollte nicht fort, in das
Lauernde hinaus. Doch auch hier im Sessel, mitsamt dem Sessel, zerrte
sie ja die Zeit ebenso stetig und unerbittlich dem Schicksalsaugenblick
entgegen.

Wie gut, daß die Kanzlei im dritten Stock lag. Jetzt noch zwei Treppen
Gnade. Eine. Jetzt noch Stufen. Anläuten. Woher kannte sie dieses grüne
Eis im Rücken so genau? Von der Abbitte im Tanzinstitut Wokurka-Crombée.
Schon einmal durchlitten, also. Irgendwie wurde es viel leichter
dadurch. Aus Dr. Lederers Privatzimmer kamen Stimmen -- die seine. Sie
lehnte den Kopf an die Tür. Einen Augenblick war alles Harmonie,
Klarheit, Süße. Leuchtend trat sie ein, ganz Sicherheit und Anmut. Die
Herren sprangen auf, man wurde also doch noch als Dame behandelt. Sie
hatte noch so gar keine Erfahrung im Deklassiertsein. In einem
Augenblick hatte er ihre Erscheinung ganz überschaut; wohin er auf sie
blickte, war's, als würden köstliche Früchte gestreut. Die Luft um ihn
zitterte wie über einer Flamme. Dann senkte er die Lider, die sich
wölbten von gesammeltem Triumph.

Gleich zwei Advokaten hatte er sich mitgebracht. Außer dem süßflüssigen
Dr. Kosches einen, der aussah, als sei er wieder aus Amerika
zurückgekommen. Ein gerupfter Nackthalsgeier, Norman Bleiweiß mit Namen.

Es ergab sich, daß alles ein Mißverständnis gewesen und er, Ralph
Herson, den Eindruck habe gewinnen müssen, genarrt und verlassen worden
zu sein, nachdem er sich in exorbitante Ausgaben für das künftige Heim
gestürzt. Als milder Psychiater sehe er zwar manche Entschuldigung, das
Vertrauen aber -- ja, das müsse erst wieder verdient werden. Die
bedingungslose Abtretung seines Kindes sei er gern bereit als erstes
Zeichen beginnender Einsicht gelten zu lassen.

Sie saß zurückgelehnt und schwieg. Jetzt schoß ihr feurige Scham durch
die Haut: Dr. Lederer hatte das Wort Heirat fallen lassen. Oh, in ein
Mauseloch kriechen, noch lieber in seine Arme kriechen und ihn anflehen:
»Schau, ohne dich kann ich schwer leben, ohne Selbstachtung aber doch
gar nicht -- mach' ein Ende; keine Verhandlungen mehr.« Und es fiel ihr
ein, daß sie noch nie im Leben, an einer Schulter gelöst, hatte ruhen
dürfen -- in ihm ließ sich nie ruhen, so wenig wie in Gabriel.

Da kam seine verschlagene Stimme und log:

»Ich will nicht lügen. Erst Ehe, dann Scheidung aus >unüberwindlicher
Abneigung< -- aber ich scheine doch -- ganz im Gegenteil -- eine
unüberwindliche _Neigung_ für Frau Sibyl zu haben.«

Und streichelte lange ihren Namen und ließ ihn nur ungern.

Um eines Wortspiels willen sollte sie also für ihr Leben deklassiert
bleiben. Als ob er nicht um ihre verzweifelte Situation wüßte. Welcher
Hohn! Und weiter:

Ihm läge es ob, die Dame vor einer Mesalliance zu bewahren, und das sei
die Eheschließung mit ihm: einem Juden, offenbar in ihren Augen, da sie
dieselbe doch absichtlich verhindert habe, als er ihr den Ehekontrakt
zur Unterschrift gereicht.

Sie saß ganz still, gesenkten Hauptes, trank seinen Umriß ohne
hinzusehen und jede Pore schrie:

»Weiß er denn nicht: man ist eine Frau, man geht fort, weil einem das
Fortgehen die Seele bricht und man bleiben will, und man ist eine Säule
Stolz, weil man zerbrochen sein will, man zürnt, weil man lieb sein
will, man leidet Jammer, Haß, Qual, weil man noch mehr geküßt sein will;
noch besser gehalten, in noch härteren, lieberen Armen. Fester. Und
spüren, tief in die Nüstern einziehen das, wo man hingehört. Er aber
läßt es geschehen, daß meine gerechte Empörung mich wegträgt von ihm,
und braucht nur einen Schritt zu machen und alle Stacheln schließen
sich, und mein Herz ist eine wilde Rose der Lust und will nichts sein,
als Haut unter seiner Hand. Er aber tut, als wäre Haß Haß und glaubt mir
-- der Heuchler. Doch lieber sterben, als es ihm sagen und die heiligen
Spielregeln der Liebe brechen. Das ist das unbestechliche Erz an mir,
denn ich bin eine Frau.«

Jetzt hörte sie seine kühle Infamie ganz zu Dr. Lederer sich wenden,
vertraulich, als wären die Herren unter sich:

»Ich bin, wie Sie sich denken können, schon öfter in ähnlicher Situation
gewesen, nun, da pflege ich mich jedesmal von den Damen einfach auf
Alimente verklagen zu lassen und der Fall ist für mich erledigt.«

Da sie aufspringen wollte zur Tür, kamen schon seine dämpfenden Arme,
wie eines Dirigenten, sein flehendes Lächeln über sie, als sei diese
ganze Kanzlei doch lediglich eine Liebhaberbühne, auf der die Heldin so
obenhin, von Pausen und höfischen Scherzen unterbrochen, gerade eine
Griseldisrolle probte. Die Geste erinnerte auch, daß sie dabei durch
edle Haltung des Zuschauers Schönheitsgefühl zu befriedigen habe. Ja, er
verlangte unbedingt Anmut während der Vivisektion, alles, was eben ein
Kaninchen doch nicht zu bieten imstande war. »Charmion, Charmion,« sagte
sie sich, wie man ein Pferd abklopft.

Die »Verhandlungen« zogen sich durch Wochen ohne Resultat hin. Seine
Advokaten brauten einen zählebigen Brei von Mißverständnissen, in den
sie immer wieder zurückgestoßen wurde vom klaren Ufer der Tatsachen. Und
hätte man ernstlich verhandelt, jede menschliche Beziehung wäre ja dann
zu Ende gewesen, so mußte es schon deshalb vages Gerede bleiben:
Schmollerei zwischen Verliebten, die ihre Stelldicheine aus fragwürdiger
Laune in Advokaturskanzleien verlegt hatten. Für Sibyl ein kostspieliger
Treffpunkt, diese stundenlangen Sitzungen, bei denen sie selbst nur ab
und zu erschien, nicht für Ralph Herson, denn es ergab sich, daß er den
beiden Anwälten ein jährliches Pauschale zur Ordnung all seiner
Angelegenheiten seit langem ausgesetzt. Norman Bleiweiß war für Bilanz
und Steuersachen, der süßflüssige Dr. Kosches fürs Private.

Und nie ließ er sie zur Überlegenheit der Verzweiflung kommen, trieb sie
immer wieder in schwächende Hoffnung, und auch so sehr war dies in ihr,
dies zu höchst Menschliche: dies _Über-Allem-Stehen_, daß sie auf
Augenblicke sogar hinüberlächeln konnte, zu seinem genießenden Skalpell.

Endlich eines Tages sah Sibyl die Erlösung knapp vor sich und schlich
ihr nach. Da war ein entfernter Vetter Ralph Hersons, Winkeladvokat und
völlig deklassiert. Hatte eine ähnliche Art um Augen und Lippen, wenn
ihm was gefiel, nur wie mit ranzigem Schmalz übergossen. Der sollte die
Marter der Verzauberung brechen helfen. Sibyl, in einem alten
Regenmantel versteckt, kroch um Straßenecken hinterdrein zur schmierigen
Spelunke, wo er verkehrte. Sah stundenlang in leidender Schadenfreude
zu, wie das entgötterte Abbild des _andern_, gütig und gerissen die
Kellnerin unter einspeichelnden Worten in den Arm zu kneifen versuchte,
bis eines Tages eine furchtbare Entdeckung kam: der schmutzige
Winkeladvokat verschönte sich, blühte in den _andern_ hinauf, statt daß
jener zu ihm zerfiele. Sie schauderte: »Mein Gott, ich bin verloren.«

Zwischendurch fuhr man spazieren, als wäre nichts geschehen. Ralph kam,
holte sie ab, sonniger, inbrünstiger als je, wie beglückt, wieder
sprechen zu können mit ihr. So blieb alles in der Schwebe. Sie ließ es
geschehen, barg lieber das Haupt im Schoß der Ungewißheit, denn wenn
eine übergroße Liebe unter infernalischen Schmerzen ausgetrieben werden
soll aus den Sinnen, wo allein die große Liebe wohnt, entstehen
Wehenpausen: linde Inseln aus Frieden zwischen der zerreißenden Not.

Sie lebte fast ein wenig auf, wagte sich wieder hinaus und sah in diesen
milden Pausen zuweilen, wie große fremde Vögel, zwei wundervolle
Menschen ihre Straße ziehen: Herr und Dame von nie gesehener Art.
Zufällig immer vor ihr -- die Gesichter sah sie nicht, wußte sie schon
aus Halshaltung, Kopf- und Ohransatz, verlangte nicht mehr, ganz erfüllt
von dem Guß des Ganges allein. Nachlaufen dürfen, zwischen sie hinein,
sie überflügelnd, einen Arm um jeden legen, mitziehen, in diesen Guß des
Ganges geschlossen. Wie sich das fühlen müßte: als Durklang gefügt sein,
in die reine Quint der beiden?

Dann schrak sie auf. Wieder ein ganz alleines Ich unter lauter
fragwürdigem Draußen, wie einst als Kind.

Plötzlich brach er die Verhandlungen ab. Ein Telegramm riefe ihn nach
Hause. Übergab alles seinen Vertretern. Dr. Kosches und Dr. Bleiweiß
baten dringend um eine private Unterredung. Sie waren menschlichen
Wohlwollens voll und bedauerten aufrichtig den -- Pardon -- falschen
Stolz der gnädigen Frau. Alles wäre längst zu allgemeiner Zufriedenheit
geordnet, hätte sie der Gegenpartei das Kind bedingungslos überlassen.
Wenn sie Professor Herson doch nachreiste, mit diesem gewiß sehr
erfreulichen Wesen überraschte! Er warte ja nur auf die goldene Brücke
zur völligen Versöhnung.

Also gut, war nur das Schachern zu Ende, lieber den letzten Trumpf aus
der Hand geben: das Kind.

Die kleine Pension am ligurischen Strand lag finster, als sie tief
nachts mit Baby und Amme aus Berlin ankam. Sie hatte »Brangäne«
brieflich in ihr Kommen eingeweiht, wollte hier im Verborgenen die
Überraschung vorbereiten. Nein, Zimmer seien nicht reserviert. Erst nach
zwei Tagen erschien Tatjana, triefend vor Entschuldigungen, bat um
Geduld: Der Hausherr sei krank zu Bett, sie würde täglich kommen,
Bericht erstatten. Kam nicht. Am dritten Abend brach die Gefolterte aus,
hingetrieben auf den breiten Schwingen eines schwarzen Windes nach dem
alten Landhaus, wo sie ihm verfallen war. Schlich im Mondlicht über den
blühenden Grund voll Öl und Wein, von ihrem Vermögen erworben, wie eine
Diebin von Baum zu Baum. Waren die Hunde los? Drückte auf die geheime
Feder der linken Seitentür. Stand zitternd im Park. Ein einziges gelbes
Fensterauge hing voll in der fahlen Mauer. Die Hunde, wenn die Hunde sie
als Einschleicherin entlarvten!

Das Haus zog wie ein Magnetberg.

Lotrecht unter dem einsamen Licht warf sie sich mit ausgebreiteten Armen
gegen die Wand.

Da drinnen lag er, wer weiß wie krank. Der Mörtel blätterte ab unter dem
Druck ihrer Stirn. Quer -- ein Sprung im Welthirn -- klaffte oben die
Milchstraße durchs Dunkel. Leichter, grünlicher Nebel: Mehltau des
Mondes hing auf der Luft, knochenhell schlich Kies auf krummen Wegen des
Gartens. Plötzlich stand das Krankenzimmer voller Lärm, mitten im
Mondschweigen. Rasend schnelles Schnattern hub an. Seine Stimme, doch
ganz anders als sonst, wie aus dem Körper eines Hundskopfaffen heraus.
Weibliches Lachen dazu, wie von einer gekitzelten Nonne. »Brangäne?«
Johlend irres Lachen, als kitzle das zotenfreche Affengeschnatter sie zu
Tode. Unten -- die Hingekreuzigte -- verstand kein Wort. Galt das ihr?
Machte man sich lustig über sie? Doch so infernalisch, so mit geheimer
Verworfenheit vollgekichert war dieses obszöne Schnattern, daß ihr vor
Grauen Glied um Glied abzufrieren begann.

Und es hörte nicht auf dort oben.

Endlich entstand an ihrem Daumenballen wieder ein Fleckchen warmes
Fleisch. Dandy, die große Bulldogge, hatte es mit seinem Ledermaul ins
Leben zurückgeleckt, sah mit weichen, weisen Krötenaugen hinauf, wie ein
Freund, in ihr ganz zerstörtes Gesicht. Jetzt erst konnte sie flüchten.

Mitten in die fiebrige Abreise des Morgens schlenderte »Brangäne«;
machte erschrockene Augen:

»Ja, was sei denn geschehen, ja, was?«

Ja, was? Jetzt, im nüchternen Tagblau, durch das der Briefträger
daherkam, vor Rock und Bluse dieser robusten Vermittlerin, verkroch sich
der Hundskopfaffen- und Nonnenspuk der Nacht. Also bleiben, die
Überraschung vorbereiten.

In der Mitte seines Geburtstags legte Sibyl dem in der Hängematte seines
Parkes Schlummernden von rückwärts das Baby auf den Schoß. Feig
schreiend stob er weg, wie vor einem Browninglauf, sah dann nichts als
Größe und Süße in ihrem Gesicht und fing sich wieder ein. Tat nur allzu
programmäßig erfreut jetzt. Tatjana hatte sie also doch verraten, alles
war abgekartet, man sah es an Blick und Gegenblick der beiden.

Sofort entkleidete er das Kind, nahm den Zollstab, das Hörrohr. Maß den
Schädel, prüfte die Genitalien, die Pupillen, das Herz. Das Kleine sah
aus vielen Wimpern groß und dunkelblau zu ihm auf, kupferhäutig wie ein
Indianerprinz unter goldenem Flaum.

»Es ist fehlerlos. Hat deine unvergleichliche Anmut ins Männliche
übertragen. Welch richtiger Instinkt, dich zur Aufzucht zu verwenden.«

Er nickte, offenbar gewillt, die lebende Ware franko mit Zustellung zu
übernehmen. Behielt sie gleich im Haus. Sibyl zog ins Hotel. Vom Neubau
stand sonderbarerweise noch immer kein Stein, in der alten Landvilla
aber mußte erst Platz geschaffen werden. Auch kam die Zeit des Jahres,
da ihr Charmion gehörte; da war kein Tag zu verlieren, mochte geschehen,
was wollte. Man hatte sich geeinigt, nach ihrer Rückkehr die
Eheformalitäten zu erfüllen, bis dahin sollte das Baby bei ihm im
Verborgenen bleiben -- diskret. Er tat peinlich erstaunt über diese
Scheu, als kennte er die sozialen und rechtlichen Folgen für sie nicht.
--

»Was kümmert das einen freien, modernen Menschen.«

Und er hob die Schultern. Preßte sie in diesen Tagen aus bis in die
Sinnenspitzen. Seine wissenden Hände, seine raffinierten Gluten
überströmten sie, seine Blicke aus bösem Samt liefen brennend ihren
zarten Schenkeln nach, doch hinter seiner Stirn blieb er für sich. Ward
sie unter seinen Liebkosungen zu schön, glatt wie das Licht, duftend
nach Birken und Erdbeeren in dem langen Glück ihrer Haare, zog er sich
hart, feig, lauernd zurück -- nie erster Regung folgend.

Sein Mund war voller Küsse, die er dann boshaft wieder zerbiß. Aus Angst
vor der eigenen Hingabe klügelte er unmöglichen Anspruch aus, in der
Hoffnung, enttäuscht zu werden. So jagten sie hutlos durch Salzgischt
und Mittagsglast, aber wehe, hatte die Linie des Lichts dann Grenzen
gebrannt auf Milch und Silber des abendlichen Ausschnitts. Im
Gesellschaftskleid -- er liebte Förmlich-Festliches am Abend, -- führte
er sie nach dem Diner noch in die Dunkelheit hinaus, Wege voll Gestrüpp,
durch Dornenhecken und boshaft dann ins Lampenlicht zurück. Ein Fleck,
ein Riß, und triumphierend angewidert sah er diskret zur Seite.

Kam sie korrekt in Juchtenstiefeln die steinigen Wege daher, vermißte er
das offene Spiel der feinen Fesseln, kam sie in Schuhen, wars nicht
Stil.

Bei einem alten, schwerhörigen Bauer blieb er stundenlang, ließ alle
Rede mit dem beinahe Tauben ihr, damit die weiche, gepflegte
Vogelstimme, zum Schreien gezwungen, hier ihren Reiz verlöre.

Sie trug es, wie man mit dem Gefährten auch schlechte Zeiten trägt. Die
Zeit der Wahl lag lang schon hinter ihr.

Nie ging er mit bis zum Hotel; kam es in Sehweite, nahm er Abschied.
Endlich in ihr Staunen hinein, gereizt, daß sie ihn nicht von selbst
begriff:

»Der Portier sieht mich bereits ein wenig sonderbar an -- deinetwegen.
Unter diesen Philistern muß man vorsichtig sein.«

Sie lachte ein wenig traurig:

»Und wie war das mit den freien, modernen Menschen?«

»Oh, du bist frei.« Sie dachte: ja, vogelfrei. »Ich aber, als
Grundbesitzer hier, bin von der öffentlichen Meinung in hohem Grade
abhängig, brauche auch den Sindaco für allerhand Konzessionen.«

Wie praktisch, als Sturmbock gegen Weltdummheit und Bosheit benutzte er
allein die Frau, ließ sich den Preis für seine Ideale von ihr bezahlen.

                   *       *       *       *       *

Zwei blaugoldene Wochen verspielte sie mit Charmion am Gardasee, gab dem
Kinde ein pausenloses Fest. Ganz für sich blieben die beiden, begafft
nur von morgens bis nachts, in dem einzigen Hotel des Orts von Kaum- und
Halbbekannten, denn die Welt ist unerträglich eng.

Da kam eines Tages aus Genua ein Dokument zur Unterschrift, darin Ralph
Herson die Vormundschaft und sonstigen Rechte an dem Kind übertragen
wurden.

Sie staunte. In wenig Wochen der legitime Vater, was brauchte er noch
dies?

Legte es nachsinnend beiseite, wiewohl die Unterschrift als dringend für
ein nahes Datum gefordert war.

Einige Tage darauf, zur Teestunde, machte der Postbote wie immer seinen
Gang von Tisch zu Tisch auf der Terrasse und reichte ihr ein Telegramm.
Sibyl sah vom »Dschungl-book« auf, das Charmion immer wieder hören
wollte, prüfte den Inhalt des kurzen Klebestreifens -- man starrte wie
immer zu ihrem Tisch herüber -- steckte ihn ruhig ein, las laut dem
Kinde das Kapitel zu Ende, schickte es auf den Spielplatz, lachte ihm
nach, ging schwingend über die Terrasse ins Hotel, in ihr Zimmer, fiel
in einem Herzkrampf aufs Bett. Die Depesche lief:

»Amme und Kind nach Gardasee unterwegs.«

Weder Strecke noch Zug bestimmt, so daß sie hätte entgegenfahren, die
Ankunft verhindern können. Und Charmion hier, von der sie bisher mit
übermenschlicher Kraft diesen ganzen Schmutz weggehalten! Ihr seinen
Bastard mit Amme heimtückisch herschicken, welch namenlose Niedertracht.

Ein nasses Tuch auf dem Herzen, kroch sie zur Klingel. Sofort das
Motorboot. Warf alles in die Koffer, floh zwanzig Minuten später mit
Charmion über den See, ohne eine Adresse zurückzulassen, dann mit einem
Zug in die Schweiz hinauf, und weiter bis an den Kanal. Mochte da hinten
im Hotel geschehen, was wollte.

Seit diesem Tag spürte sie ihr Herz.

Der lädierte Köter fiel ihr ein, der seine tückisch-streichelnde Hand
geleckt, nicht wissend, wann er wieder »dran käme«.

Dann lanzenhart im Schwung des Hasses:

»Nein.«

Der alte Lederer hockte, wie immer, im Bureau, setzte seinen zweiten
Zwicker auf, um besser reden zu können.

Ralph Herson war auf einen Tag nur erschienen, hatte erklärt: er, als
gütige und vornehme Natur, sei tief erschrocken über solche
Gewissenlosigkeit einer Mutter, ihren Säugling in unverantwortlicher
Weise an fremdem Ort einfach im Stich zu lassen. Das stoße natürlich
alle Vereinbarungen um. Gehe er, aus Ritterlichkeit, vielleicht doch
noch auf eine Scheinehe mit Scheidung ein, verlange er als
Sicherstellung, als Kaution gleichsam, zweimalhunderttausend Franken.
Danach aber werde Frau Sibyl, die sich leichtsinnigerweise bei ihrer
Trennung von Gabriel Gruner einer allzu großen Summe entäußert, wohl
kaum mehr in der Lage sein, ein Heim zu erwerben und einzurichten.
Unsicheren Verhältnissen könne er aber, als gewissenhafter Vater, ein
Kind, das er so lange ersehnt, nicht preisgeben. Daher müsse es ganz und
gar ihm verbleiben.

Warum er denn annehme, eine Frau werde plötzlich ihre Stellung materiell
ausbeuten, die sich doch bisher stets selbstlos gegen ihn gezeigt, ja,
bedeutende Geldopfer auf sich genommen?

O gerade deshalb, das gebe ihr dann eben einen Schein von Recht und
überdies: Frau Sibyl pflege, wie er sich persönlich oft zu überzeugen
Gelegenheit gehabt, enorme Summen unbedenklich für erlesen kostbare
Gewänder auszugeben. »Die Kosten der Verschwendungssucht solch
verwöhnter Dame zu riskieren, scheue er sich und baue deshalb vor durch
die Kaution.«

Dr. Lederer sah zu seiner Klientin auf, sie lachte so irr:

»Besitzen Sie noch so viel Geld wie er verlangt?«

»Nein, ich bin ruiniert.«

So hatte er sie geschickt und planmäßig an eine Stelle im Schicksal
gebracht, wo jeder Versuch einer Tat zu Skandal, Ruin oder -- Verbrechen
leitet, zu einem: sich überall an blinden Mauern die Stirn
zerschmettern, die Knöchel blutig und schmutzig schlagen, wo das ganze
Leben grau und rot wird vor Schmach bei jeder Bewegung, der
Schlamm-Geysir nur gebannt bleibt durch regloses Stillhalten,
Atemanhalten und Sichausplündern lassen; denn eine Dame kann nicht durch
Gerichtssaal und Zeitungen zerren lassen, was ihr geschlechtlich
geschehen. Sie ist das Wehrloseste der Welt, noch der Feigste darf sich
beruhigt an ihr vergreifen; bezahlen muß sie ihn noch, damit er die ihr
angetanen Infamien nicht bekannt mache.

So brauchte ein Ralph Herson nur die flottierende Niedertracht in Sitte,
Meinung und Brauch für sich arbeiten zu lassen, und jeder
Cerebralsadismus, jede Profitgier ward automatisch und ohne Risiko
befriedigt, wenn nur frech genug, schamlos genug zu Ende geführt.

Doch wie, wenn er sich diesmal irrte? Wenn sie ihm einen
Schadenersatz-Prozeß machte? Allen Ekel vor Maul und Ohr der
Öffentlichkeit überwand, um ihn an der einzigen Stelle tödlich zu
treffen, wo er verwundbar: mitten in die Brieftasche hinein.

Der alte Lederer schüttelte den Kopf.

»Haben Sie Beweise? Liebesbriefe -- wenn schon. Lauter Ekstase, kein
positiver Inhalt, und der Schuldschein ist zwar unvorteilhaft, aber
unanfechtbar, er behält Ihr Geld. Also: Prozeß zweifelhaft,
Schadenersatz sicher gleich Null. Sie bleiben ruiniert und er -- kaum
geschädigt. Ja, in England, dort wäre es freilich anders, dort hätte er
es sich auch wohlweislich überlegt. Da ruiniert ein >_breach of promise
case_< den Mann.«

Dies also war der echte Grund seiner Übersiedlung aus Cambridge, daher
die Flucht vor britischem Recht.

»So ist juristisch nichts zu machen?«

»Nichts, was einer Sühne gleich käme, denn wann hätte ein Gauner nicht
das Gesetz für sich.«

Sie ging. Lahm vor Ekel. Auf der Straße, in einer Gruppe Leute, hob eine
Frau das Lorgnon, frug:

»Was, die kennen Sie nicht?« rief einer aus dem Kreis: »Ich werde Ihnen
gleich ihre Geschichte erzählen,« und Tratschgeifer troff ihm schon aus
dem Mund.

Fern und leicht, das Gesicht hoch wie ein Windenkelch, schritt sie knapp
an der Gruppe vorbei, und in den längst ausgefressenen Bahnen der
Empörung jagte ein Verzweiflungskrampf den andern durch ihr Hirn.

Jetzt schlug ein Haßstrahl leuchtend seine Kraft hindurch: die
Zwillingskraft der Liebe, doch mächtiger als sie, weil frei vom Wahn des
Glücks. In diesem Haßstrahl erhellt, sah die Zerstörte, zum ersten Male,
Leiser Herschsohns Nachfolger als neuen Typus -- unzähliger Variationen
fähig:

_Den Lebenswucherer._

Nicht mehr mit schmierigem Seinesgleichen nur um Geld -- o nein, -- als
physisch Hinaufgepflegter auch noch mit seinen Generationszellen
wuchernd, die Kalorien seiner Händedrücke berechnend: Geist, Schönheit,
Kultur, _Liebe_: alles bereits ein Fremdwort für Wucher!

Seine _Güte_: daß er den Schaden, den er zufügt, leicht vergißt.

Seine _Treue_: wenn ihm in der Zwischenzeit begangener Verrat weniger
Vergnügen macht, als er glaubt beanspruchen zu können.

Seine _Großmut_: besten Falles eine unterlassene Infamie.

Ohne innere Not allen fremden Werten durch Gentleman-Mimikri falsch
verbunden, hatte er in Büchern gelesen von Noblesse, von Vornehmheit,
schaffte sich die Worte an, fing sich mit ihnen fremde Taten ein, die
ihm den Preis der neuerworbenen Ideale dann bezahlen mußten, denn keine
Bindung galt für ihn, der stets auch anders konnte als Entraßter; sich
beim »soll« in den weltfremden Gelehrten wandeln, beim »haben« behende
in den Wucherer zurück.

Hatte sich nebst seinen Bronzen, Bildern, Büchern auch eine uneheliche
Kindersammlung angelegt, als millionenfache Verzinsung einer einzigen
investierten Zelle. Spesen: ein paar gut angewärmte Briefe, die ihn zu
nichts verpflichteten, weil er durch seine Advokaten längst belehrt
worden, wie ein Betrug, der im Geschäftsverkehr zwei Jahre Zuchthaus
kostet, in Form von -- _Liebe_, straflos bleibt.

Ein _Zu-früh-Freigelassener_ auch, mit allen seinen Merkmalen, als da
sind: Gier, Geiz, Mißtrauen und -- Grausamkeit, wo sie ohne eigenes
Risiko zu befriedigen: am sichersten somit an der graviden Dame, hat man
sie vorsichtshalber erst durch Scheidung, Schmach und Schmutz getrennt
von ihrem schützenden Milieu. Erfreulicher für den Ästheten jedenfalls,
als der Geschäftsverkehr mit seinesgleichen, für den Gelehrten so
spannend wie der Tierversuch, und lukrativer obendrein, da man vom
Adler, dem gefesselten, ehe ihm die Augen ausgeschnitten werden, kein
Geld entlehnen kann.

Nun glaubte er sich frei von ihr, nachdem er ja in diesem Jahr den
ganzen Tierkreis seiner Perfidien durchlaufen. Somit bereit:

»Zu neuen Taten teurer Helde.«

Doch siehe: auf dem Kursblatt seiner Emotionen notierte sie noch immer
»pari« wie es schien, und die Verfolgte spürte seinen namenlosen Haß,
ja, sein Entsetzen, lieben zu müssen, wo nichts mehr herauszuschinden
blieb, denn: Mittel war ihm jede Kreatur.

Was aber gab ihm solche Macht?

Die purpurne Wärme Asiens: sein Erbe. Unter erotischen Schwerblütlern,
mit niederem Wissen um den Körper, in einem Ozean lauer Geilheit, schoß
dieser Menschenhai umher nach Beute, und alles Liebesreiche, Blühende
fiel ihm voll Inbrunst zu.

In Schönheit glühen: auf dieser Sehnsucht aller Kreatur kam er
dahergeschlichen, hinter den strahlenden Gaben seines Maules.

_Der absolute Egoist._

Unschädlich machen! Mitsamt seiner Zutreiberin, mit der ganzen Brut --
alles unschädlich machen -- sofort.

Doch erst quitt sein, nichts ihm schulden. Und für jede Mahlzeit, je in
seinem Haus genommen, für jeden Tag in seinem Haus verbracht, und für
die erste Liebesnacht insonderheit, schickte sie die angemessene Summe
an das Bankhaus Herschsohn. Raffte dann in irrer Trunkenheit ihr letztes
Geld zusammen, -- es reichte eben für die Reise, -- und fuhr zu ihm.

Als Chauffeur verkleidet, zwei Revolver in den Ledertaschen, klingelte
sie am Tor des alten Landhauses.

Eine fremde Person kam herausgeschlurft:

Alles verreist.

Der Herr und Mylady, auch das neue Kind seien fort. Nach Madeira,
vielleicht auch Tunis, jedenfalls auf lange.

In ihren muffigen Gasthof zurückgekehrt, warf sie das Fenster auf. Es
verspreizte sich, Anstrich blätterte ab. Vor ihr stieg, reich und frei,
das herrliche Land, sein Eigentum, so weit man sah.

Da riß der allzu überspannte Wille jäh und traf das Herz. Also
entflohen, unerreichbar weit; denn wie das Gesetz den Gauner schützt, so
diesen wieder sein Raub, der ihm Freizügigkeit des Reichtums gibt -- dem
Opfer nimmt.

Sie kroch in die entwürdigende Verlassenheit des Fremdenbettes.

Lag so eine ewige Nacht.

Diese Nacht trat langsam, wie ein drehender Absatz, etwas in ihr aus,
ohne das kein Mensch weder leben will noch kann. Etwas, das
niedergeknüppelt doch -- wie oft -- verharrt. Nicht größer zuweilen, als
im Riesendom ein gasblauer Stecknadelkopf, doch gespeist mit heimlichem
Herzhauch, der von Gott kommt oder ganz aus seiner Nähe: Hoffnung.

Eben noch, in steigernder Gewalttat, waren Vernichtung und Hoffnung
einander nicht feind gewesen. Auf unbegreifliche Art hätte aus dem
blauen Stecknadelkopf heraus gerade dann aller Äther noch einmal
aufflammen können zu Glorie, weil in dem Blick des Sterbenden vielleicht
etwas erschienen wäre, um darzutun: Auch dies sei nur ein armer,
irrender Mensch.

Diesem Ende hatte sie heimlich zugehofft. Nun war der blaue Nadelkopf
erloschen.

Und es ward grau. Oder war das öde Blei auf den Augen schon wieder Tag?
So einer, der sich nicht aufknien kann aus dem Fahlen. An der übel
grünlichen Kälte bis in die Herzkammern hinein erkannte sie: jetzt müsse
der tiefste Stand des Blutes sein. Jene heillose halbe Stunde, ganz grün
von verwester Nacht, wo die zähen Greise es aufgeben und sich strecken.
Im Stuhl die müde Schwester nickt dazu.

Mühsam, widerwillig hob sie die zerquälten Lider. Herein schnitt das
grenzenlos gemeine Hotelloch. Im Fensterviereck stand als grauer
Pflasterstein die Luft.

Sibyl hielt den Atem an. Ließ das Verfaulte aus der Nacht in allen Adern
sich zu Klumpen der Zersetzung stocken.

Wartete.

Da kam, erst schwach, weit herauf eine Straße ohne Anfang, Holpern eines
Karrens, und auf ihm festgebunden ein Geheul.

Kein Schritt, kein Huf von etwas, das den Karren zog. Es fehlte wohl ein
Rad. Der Karren hinkte.

Immer näher kam das liegende Geheul. Ein gemartertes Tier? Ein Kind?
Eine Frau? Kein Erkennungszeichen mehr: die Qual hatte jede Form
zerbrochen. Was vielleicht einst Merkmal gewesen: Klage, Empörung,
Angst, war längst matt herabgeglitten auf die Straße ohne Anfang.

Jetzt war es da. Gerade unter dem Fenster. Da schwoll das Geheul zu
einem Laut von so hemmungsloser Erniedrigung, daß das Graue aus der Luft
an ihm gerann.

Ein gemartertes Tier? Ein Kind? Eine Frau?

Oder Schauer gereizter Ermattung, die sich aus Klang ein Gleichnis
schufen? Sie würde es nie erfahren. Lag festgefroren an das Bett -- die
Brust bis oben voll bleicher Herzen im Kampf.

Langsam knirschte der Karren seinen schauerlichen Bogen vom Zenith des
Fensters hinunter, wieder eine Straße ohne Ende, über der langhin das
verblassende Geheul stand. -- Fern und immer noch.

Sie erhob sich, um zu sterben. Tastete, in allen Knöcheln zerbrochen,
nach der Waffe. Etwas klirrte. Das Graue schwand.

Endlich ganz schwarz.

                   *       *       *       *       *

Aus der tiefen Nacht, auf der andern Seite der Zeit, trieb es sie
langsam wieder zurück.

Der Tod schmolz ab, doch sie grub sich mit allen Fingern in ihn ein,
wollte nicht mehr weg aus dem linden Schwarz.

»Genug« war ihr erstes Wort. Dann brachen, angesogen von einer tiefen
Wonne um sie her, die Lider auf. Über ihrem Gesicht schwebten zwei
wagrechte Augen aus unbegreiflich sanftem Samt, deren Wimpern flügelhaft
bis in die Schläfen schnitten.

»Wie gut« und die Zurückgeholte ließ sich von nun an leben, ohne
Widerstand.

Zwei Augenpaare waren es, die abwechselnd über ihr kreisten: wie große,
fremde Vögel und bebrüteten ihr Herz.

War es der Ort, wo man die unerfüllten Wünsche lebte? In scheuer und
tiefer Vertraulichkeit legte sie eines Tages um jeden einen Arm: als
Durklang gefügt in die reine Quint der beiden. Wußte ihre Namen nicht,
nichts -- frug nicht einmal, wie es gekommen, wie ihre Spur verfolgt,
wie sie gefunden worden war. Lag hier selig und vollendet eingefügt als
kühne Liebesstufe zwischen ihnen: frauenweicher als der Freund --
jünglingherber als die Freundin, dies köstlich fremde Damenwesen, am
ganzen Körper so vollkommen, wie es der Ringfinger ganz junger Mädchen
zuweilen ist.

So einfach, so natürlich schien alles, als hätte sie es immer schon
gewußt, daß sie dazugehöre, seit jenem ersten Mal, da, einer
ungeheuren Erweiterung der eignen Seele gleich, zwei wundervolle
Menschenangesichter durch ihre einzige Sekunde Glück gezogen kamen, als
sie den fremden Mann im Schoß gehabt, bis zu der Stunde, die wie Gold,
weil der warme Schatten des brüderlichen Gentleman den ihren fand und
ehrte. Die Haltung seines Schattens hatte alles offenbart.

Dazwischen aber war ein fremder Mann in ihrem Schoß gewesen: Der
_Lebenswucherer -- der absolute Egoist_.

Empörung überbebte in Stürzen der Erinnerung ihr aufgescheuchtes Blut.

»Mein Elf von einem großen Stern« -- Gargis entsetzte Zärtlichkeit
umschlang das vor Haß grau gewordene Gesicht.

»Gazellenfee, wie könntest du begreifen, was Unbeschütztsein heißt.«

Dann löste sich der Krampf der Einsamkeit zum ersten Mal, und Sibyl
sprach -- deutete an, nur herb, schamdurchblutet, was ihr geschehen.

Eines Tages breitete Horus sehr zart, sehr ernst ein Manuskript über
ihren Schoß: jenes, das Erasmus dem Knaben in der Bibliothek gegeben, am
Tag des Traumes und der Schillerfalterjagd, als sein Leben einschwang
für immer in die beiden Bahnen: _Ellipse_ und _Parabel_ der
Kegelschnitte Gottes.

Vor ihrem Lager hingekniet, legte er sie ganz in die Stärke seiner
Hände, sprach: »Alles ist darin: West und Ost -- Ihr und Wir.«

Und sie las, wie einstmals er:

_Der Kreis symbolisiert mir die Eigenliebe_: den Egoismus.

_Die Ellipse das Ideal der Liebesfreundschaft._

_Die Parabel das der Liebe gegen das Unendliche, Göttliche._

_Die Hyperbel das Ideal des bittersten Hasses._

Der Brennpunkt in jeder der angeführten Linien stelle eine Seele vor;
die Strahlen, die von da nach dem Umkreis gehen, die Bestrebungen dieser
Seele, wiefern sie nach außen (durch Handlungen) wirksam sind, und die
Richtung der zurückgebrochenen Strahlen den Zweck, zu welchem die
Bestrebungen auf das Äußere gingen. -- Ich kann z. B. nach außen
handeln, teils um meinetwillen, teils um eines andern willen. Wenn die
Strahlen also, die von dem Brennpunkt ausgehen, die aktiven Bestrebungen
der Seele vorstellen, so müssen umgekehrt -- wenn wir das Symbol treu
verfolgen wollen -- die Strahlen, die von der Peripherie in den
Brennpunkt fallen, die Gefühle und Empfindungen vorstellen, welche die
Seele passiv von außen in sich aufnimmt. Wird daher ein Strahl, der von
einem Brennpunkt an die Peripherie fiel, in einen andern Brennpunkt
zurückgebrochen, so sind des letzteren Gefühle -- nach dem Symbol --
durch Bestrebungen oder Handlungen des ersten Brennpunktes veranlaßt
worden.

_Der absolute Egoist_ handelt nur um seinetwillen. Er läßt nur Strahlen
gegen die Peripherie ausgehen, damit angemessene Gefühle in _seine_
Seele durch die Rückwirkung kommen; er ist ganz in sich abgeschlossen.
Was er auch tun mag, davon hat nichts auf eine Seele außer ihm Bezug.
Der Strahl, der aus dem Mittelpunkt des Kreises kommt, wird ewig wieder
in ihn zurückgebrochen.

Die _Ellipse_ läßt sich als ein Kreis mit in zwei Brennpunkten
auseinandergetretenen Mittelpunkten betrachten.

Eine Seele hat sich in zwei gespalten, und beide existieren nur mit- und
durcheinander; jeder ist die Seele eines Freundes; jede wirkt nur, um in
der andern angemessene Gefühle und Empfindungen zu erregen, denn welcher
Strahl auch von dem einen Brennpunkt an die äußere Peripherie fällt, der
nimmt seine Richtung nach dem andern Brennpunkt zu. Was der eine nur
denkt und hat, das gießt er in des andern Seele aus. Um die Außenwelt
bekümmern sich beide nur, insofern sie mittels ihrer in bezug
aufeinander wirken können; beider Gefühle ergänzen einander stets: _alle
gebrochenen Ellipsenradien sind gleich der großen Achse_, die beide
Brennpunkt-Seelen zunächst verbindet. _Sie können jede einzeln nichts
denken, nichts fühlen, was nicht mit des andern Gefühlen und
Bestrebungen zusammenstimmte, daß es dieses Band darstellte_: das Ideal
der Liebesfreundschaft hat viel schönere Symbole -- wohl kaum ein
wahreres.

Nehmt die _Hyperbel_: beide Liebende sind durch einen ungeheuren Haß
gespalten worden! Der eine hat sich von dem andern abgekehrt, _jeder
reißt seinen Brennpunkt heraus_, hält ihn für sich fest und mag mit dem
andern nichts zu schaffen haben. Sie fliehen sich in Ewigkeit -- nein,
_sie sind noch aneinander gebunden_, aber durch die Bande des
feindseligsten Hasses. Ihre Gesinnungen beben divergierend voreinander
zurück bis ins Unendliche, aber doch bleiben sie hadernd einander
gegenüberstehen, und daß jedes Gedanken nur von des andern Seele
zurückfahren, sieht man daraus, daß die Divergenz der Strahlen ihr
Zentrum in dem gegenüberliegenden Brennpunkt findet. -- _Was in der
Ellipse das Band war: die große Achse ist in der Hyperbel in den
Gegensatz übergegangen und alle Strahlen, die von einem Brennpunkt in
den andern fallen könnten, sind sich nur in der Differenz gleich._

_Die Parabel_ ist ein erhabenes Symbol der _Liebe zu einem Ideal, zum
Übersinnlichen, zu jedem Großen und Schönen, was nur in der
Unendlichkeit erreichbar, der Seele vorschwebt: alle Strahlen, die der
Brennpunkt der Parabel aussendet, laufen in gleichförmiger Richtung nach
dem andern Brennpunkt, der in der Unendlichkeit liegt_; alle
Bestrebungen und Gedanken sind nur _dahin_ gerichtet. _Umgekehrt kann
kein Strahl in die Seele fallen, der nicht vom Unendlichen ausgegangen
wäre._ Alle Gefühle beziehen sich auf dieses.

Sie ließ den Kopf an seiner Schulter ruhen, dann mit verdunkeltem
Gesicht:

»Der _Kreis_ und die _Hyperbel_; so bin ich immer noch durch einen
achsengraden Strahl von Haß mit ihm verbunden.«

»Haßt du ihn noch?«

»Bis zum Tod, ich -- ihn, er -- mich.«

»Du warst wie tot, dies ist eine neue Wiederverkörperung, und alle
Bindung gelöst. Du ziehst in unsere Bahnen hinüber als meine Frau, und
mit meinem Haupt zwischen den Füßen frage ich:

»Willst du das sein?«

Zweifelnd sah sie auf Gargi:

»Bist du ein Europäer?«

Er hob die Schulter nur:

»Nein, ich bin Asiate, gehorche den Sitten Asiens, in wenig Wochen
zergeht der ganze Irrenkerker hier, ganz klein und schmutzig, an unserem
Horizont für immer. Und jedes Jahr nur kreuzt meine Jacht herüber und
bringt dir Charmion mit.«

Sie atmete auf, zu glücklich -- müd, um viel zu fragen.

Sobald der Lungenschuß verheilt war, fuhr Horus mit Sibyl nach England,
ließ sich dort so rasch wie möglich trauen, dann kehrten sie auf den
Kontinent zurück.

In Hamburg lag schon die milchweiße Jacht unter Dampf bereit.

Sie eilten über den Kai, Horus und Gargi, am Ende ihres weißen Traums.

Zwischen sich, eingeschlossen in ihres Ganges morgenländischen Guß,
entführten sie den »Elf von einem großen Stern« in seine neue Heimat.

Ringsum barsten Beete von Sirenen, vomierten üble Trichter von Geheul in
eine widerwillige Luft, gleich einem Unding, das sich selbst bejammert.
Schneller schritten sie dahin, fast laufend schon, und wie Horus, im
Andrang seines Herzens bei der Ankunft von Bord gesprungen war, so
breitete er jetzt, den Landungssteg schon unter sich, die Arme weit der
süßen Freiheit Asiens zu -- und -- fühlte sich gepackt an diesen
liebesoffenen Armen, zurückgehalten, wie das erstemal.

Zwei Polizisten standen da. Blech vor dem Hirn. Und an dem einzigen
Streifen freier Haut, dort wo der harte Kragen rieb, hatte der eine ein
aufbrechendes, der andere ein abheilendes Furunkel im Nacken.

»Halt.«

Ein Dritter in Zivil trat vor, wies seine Karte:

»Sie sind verhaftet wegen Bigamie. Die Frauensperson da auch.«

Er streckte die Hand nach Sibyl. Sie riß ihre Waffe heraus, von der sie
sich nicht mehr getrennt, traf diesmal gleich das Herz. Glitt still in
sich zusammen.

Horus, herumgeworfen, brüllte auf, daß die Sirenen schwiegen, bäumte
sich los; rechts und links traf sein erbarmungsloser Schlag. Dann nahm
er die unvergleichliche geliebte Form aus Gargis Arm und fühlte sie an
seiner Schulter sterben.

Die armen Sternsaphire wurden blind. Ein langer Strähn bananenfarbenen
Haars durchschnitt, gleich einem bleichen Säbelhieb, das ganz verirrte
Gesicht; bei aller Kühne wie eines übermüdeten, zu Tod gehetzten Kindes.

                   *       *       *       *       *

Die Kaution war, dringender Fluchtgefahr wegen, vom Gericht abgelehnt
worden. Er blieb in Haft, wehrte sich verzweifelt, pochend auf sein
Indertum, begriff nicht.

»Sie mußten doch wissen, daß Monogamie in Europa herrscht,« mahnte sein
Verteidiger und schüttelte den Kopf.

Da lachte er zum erstenmal seit Sibyls Tod.

»Ein Jahr bin ich jetzt hier und hab' sie nie gesehen. Wußte bisher nur,
daß bei den Weddas, dem beinah ausgestorbenen Affenurvolk Ceylons, das
nicht bis fünf zu zählen vermag, etwas wie Monogamie, Gesetz und Zwang
besteht. Wie hätte ich bei der berühmten weißen Rasse darauf verfallen
sollen? Nun erst verstehe ich den Größenwahn, den Zynismus, die
widerliche Arroganz des weißen Männchens gegen alle Frauen ganz. Die
Gnade und Affaire, wen er mit seiner einen, einzigen, kostbaren Hand
beglückt, umkrochen von den überzähligen Weibern. Welche Schmach der
Europäerin, daß sie das duldet, ihm Macht gibt, so viele ihrer
Schwestern notwendig zu erniedrigen, dies Wettwimmeln der Eierchen um
das Sperma: welche Perversion der Natur!«

»Doch was geht all das mich -- was geht einen gesitteten Asiaten dieser
Qualstall an, in dem bösartige Irre einander dafür bezahlen, sich
gegenseitig in infernalischen Netzen Hirn, Kehle, Gedärm und Geschlecht
abzuschnüren? Wie bin ich in die Gefangenschaft weißer Barbaren geraten?
Wirklich durch nichts, als eine einzige Tat natürlichen Anstandes
allein?«

»Monogamie ist die größte ethische Errungenschaft des Christentums,«
sagte der Verteidiger gekränkt in seiner tiefsten Rasseneitelkeit, denn
er war Jude.

»So habt ihr es sogar dahin gebracht, das klare Urfeuer eurer Lenden
stinkend zu machen? So ordnet sich bei euch Geschlechtsverkehr nicht
nach Physiologie, Medizin, Bevölkerungszahl des Augenblicks --, nein,
nach irgendeinem Hokus-Pokus, viel tausend Jahre alt? So bedroht euer
Staat -- wie immer man es machen möge -- in der Liebe den einen oder
anderen Teil mit schwersten Strafen: durch Einehe, den Mann mit
lebenslangem Sexualkerker, ohne Ehe, die Frau mit Ächtung, Verlust der
Kaste und Ruin? So bringt Europa es richtig fertig, all seine passager
entstandenen Wahnsinne noch zu verewigen, ohne daß gegenteiliger
Blödsinn sich etwa aufhöbe -- welch ein Wunder wider die Natur.«

Bis zur Verhandlung glaubte er es doch nicht recht, wußte es noch immer
nicht, wie ihm geschah.

Dann saßen eines Tages fünf beisammen und hielten wirklich über ihn
Gericht, Barette auf den Glatzen.

Dem einen ragten Knöpfelschuhe, dem anderen Schnürstiefel, dem dritten
das Ende eines Sockens unter priesterlichem, unreinlich wallendem Gewand
hervor. Dann stand ein sechster auf: der Staatsanwalt. Begann ein
langes, trostloses Geschwätz von der Verletzung ethischen und sittlichen
Gefühls, als höchsten Gütern der Kultur. An allen Wänden hingen Zettel:
das freie Ausspucken ist untersagt.

Erst ganz am Ende, als sein Verteidiger sich erheben wollte, da fuhr
auch er empor:

»Nein, ich; Sie schweigen.«

Sibyl zu Tod gehetzt, und da saß Gargi: seine liebe Gazelle »als
Zeugin,« von Fragen geschändet für ihn -- durch ihn. Nun wuchs er klar
über die Empörung und stand auf. Höflich, ruhig war seine Stimme, wie
eines Wägenden und Richtenden.

»Ich bin ein Fremder und kenne nun die grauenhafte Not, in die ein
Mensch auf diesem Kontinent geraten kann, wenn er ein Recht begeht.

Ich bin Asiate und daher gewohnt, wohl jeder Frau, die ich besitze und
die mir teuer, Ehre, Würde und Geborgenheit zu bieten bis zum Tod.

Ahnte nicht, daß man nur gegen eine einzige hier sich gut benehmen
dürfe, wohl aber gegen alle wie ein Schuft.

Doch war's nicht dies -- ich stünde doch als Angeklagter hier, denn
irgend etwas Würdiges, Natürliches und Wahres, das hätte ich sicherlich
einmal begangen, da ich kein Europäer bin.

Ethisches und sittliches Gefühl soll meine Tat verletzt haben?

Was weiß Europa von Gefühl? Von Sittlichkeit? Nie noch war einer Rasse
Sinn und Maß des Schicklichen so sehr entfallen, besteht sie doch aus
Wesen, deren Blut seit zwei Jahrtausenden verlernt, aus freien, holden,
heilen und verwöhnten Sinnen sich dieses Maß selbst aufzubauen in
Notwendigkeit und Harmonie.

So kam der Pöbel durch Europa in die Welt:

_Pöbel_: was Hemmungen nur kennt aus Zwang, nicht Wahl, was sich vor
nichts und niemandem zusammennimmt, wenn es nicht muß. Es scheint -- vor
vielen hundert Jahren nahm sich der Europäer noch Sonntag vormittag, so
zwischen zehn und elf, vor einem fremden Judengott zusammen. Adel und
Bürgertum nahmen sich vor ihren Herrschern zusammen, der _vornehme
Mensch_ aber, der nimmt sich vor sich selbst zusammen: also immer.

Doch hier! Wohl nirgends noch hab' ich solch geile, kalte, rüpelhafte
Brunst gesehen, jetzt da der Zwang gefallen, wie in dem tausendjährig
ungepflegten Eros von Europa. Endlich ausgebrochen aus dem fremden
Pferch, gröhlt die verkommene Sinnlichkeit durch eure weiße Welt wie
eine tollgewordene Mißgeburt, der jedes Edelmaß abhanden kam, denn alles
will gepflegt, geehrt, geheiligt sein, damit es hold und herrlich werde.
Da tragen eure trägen Weiber Kind auf Kind in ihren kalten Bäuchen aus,
die Welt mit Unlustfrüchten überfüllend, weil sie noch nicht einmal
gelernt, was jede Negerfrau vermag.

Und neben dem verworfenen Ungeschick der Leiber wächst das verworfene
Geschick der Hirne auf, belebt der Stahl sich zur Maschine.

Was _Hochgezüchteten_ in ihren Sinnen Erlösung geworden von aller
Erdenlast: die Mechanisierung der Welt, reißt den erblindeten,
instinktirren, amorphen Lebenshaufen unters Rad, statt ihn in Freiheit
auf den Lenkersitz zu heben.

Diesen Erhobenen zu finden kam ich her. Ihn suchte ich: den Menschen
hinter seinem Werk. _Das Wesen wie aus Schnee und Gold, kühn, arglos,
wahr und anmutig._

Doch _eure_ Werke sind nur Sehnsuchtsprojektionen eurer Mängel:

Weil ihr armselig seid, reißt ihr den letzten Reichtum dem Planeten aus
den Eingeweiden.

Weil innerlich ohne Harmonie, schuft ihr -- nach außen -- euch Musik.

Weil ohne Phantasie, laßt ihr in blechernen Waggons, in Ruß und Dampf,
euch kalt, blasiert und frech, zu allen Märchen dieser Erde rasseln.

Euer verarmter Kreislauf pulst in hundertpferdigen Motoren.

Euer _Minus_ setzt ihr mit umgekehrten Vorzeichen aus euch heraus, als
vielgerühmte Technik, Kunst und Wissenschaft.

Was ihr erschuft: Prothesen sind es nur, darunter, vollgeeitert, schwärt
ein brandiger Stumpf: ihr selbst.

Habt immer eure Münder voll Geist und Theorie, ihr ethischen Barbaren;
sinnt neuer Staatsform nach. Wie wenn ein Rudel von Hyänen sich Paladine
oder Republikaner, Monarchisten, Sozialisten, Kommunisten nennen mag:
immer der gleiche Hyänenhaufen, der die platzende Gier seiner blauen
Eingeweide mit neuen Namen nennt.

Doch weil kein Wesen völlig ohne Wahrheit existieren kann, habt ihr sie
-- sie unwirksam zu machen -- in eure Wissenschaft gesperrt.

Dort lebt Europas letzter Wahrheitsdrang sich in zerwühlten Hirnen,
bloßgelegten Nerven gefesselter Geschöpfe, stets »objektiv« und für den
Sucher schmerzlos aus.

Das eingefangene Opfer zahlt den Preis -- nicht er.

So übt ihr alle Infamien frei:

Forensische Verlogenheit gestattet sie euch gegen Menschen, und gegen
Tiere euer Wahrheitsdurst.

Was tun?

Demütig zu edlen Tieren -- nein, erst zu den plumpsten viehischesten
Tieren in die Lehre gehen; sie anschauen, erst nur die Wahrheit ihrer
Form erschauen. Auf dem Weg des _reinen Auges_ wieder Gehen -- Liegen --
Ruhen -- Atmen -- sich Bewegen lernen: _Sehen_ und durch das _Sehen_ --
_Leben_.

Erst wenn ihr die verworfene Behendigkeit aus euren schiefgezüchteten
Gehirnen ausgetrieben, für die ihr noch nicht reif, dann kommt zu
fragen, ob man euch wieder aufnimmt in den Ring beseelter Wesen, nicht
mehr gehaßt, verachtet, gemieden wie Pestilenz von allem, was da atmet.«

Nur auf wenige Minuten zog der Gerichtshof sich zurück. Das Urteil
lautete:

Fünf Jahre Gefängnis wegen Bigamie.

Der Verurteilte verbeugte sich tief:

»In diesem Wahrspruch grüße ich den Bankerott Europas.«

Bewährungsfrist ward abgelehnt. So nahmen denn die Gatten Abschied
voneinander.

Allen Glanz des Menschentums sammelte Gargi in die Onyxampel ihres
schmalen Antlitzes und in den unbegreiflich sanften Samt der Augen:

»Mein süßer Herr, was habe ich für dich zu tun, so lang du fort bist?«

»Flieh, und warte auf mich zu Hause zwischen Dschungl und Sternen. Ich
komme wieder. Ich werde nicht zugrunde gehen. Leben will ich und helfen
mit Hirn, Herz und Händen, mit allem Geld, das ich besitze und aller
Kraft, bis der Planet gereinigt ist von dieser weißen Pest.«

Da reichte sie ihm einen Brief:

»Erasmus gab ihn mir für dich von deiner Mutter.«

»Meinem Sohn in Europa, blieb er länger als ein Jahr,« stand auf dem
Umschlag. -- Nur wenige Zeilen darin. Er trank die lieben Züge wie ein
Elixier. Diana Elcho schrieb:

»Ein Unglück muß geschehen sein, wenn Du dies liest. Freiwillig bliebst
Du nicht so lang. Haben sie mein Sonnenkind gefangen in einem bösen
Netz? Verzeih, wenn ich geirrt, Dich vor Europa ungewarnt zu lassen.
Dich warnen aber hieß, Dich zum Empörten machen, zum Belasteten,
Getrübten. Die Einzigkeit Deiner Jugend schien mir eben dies: die
Unbeschwertheit, daß Dein Bewußtsein unbesudelt blieb. So rettete ich
Dir das Beste Deiner Rasse: Technik, Wissenschaft, Musik an Asiens Herz
hinüber. Weil Du aus ihrem Werk an Wesen glaubtest, wie aus Schnee und
Gold, kühn, arglos, wahr und anmutig, so wurdest Du dem Bildnis gleich.
-- Vor der Enttäuschung hielt ich Dich dann jahrelang zurück, hütete Dir
Deinen weißen, so fruchtbaren Traum, wie ich gehofft, für immer. Ließ
mich langsam sterben, damit _Du bliebest_. War alles doch umsonst?
Nicht, daß ich Dir das Leid ersparen wollte! O nein, nur alle Kraft
wollte ich Dir sparen für die sublime Zeit des Leids, damit Du
ungebrochen, unverbittert, siegreich auf seiner fernen, großen, süßen
Seite durchbrächst ans Licht.

Verzeih, wenn ich geirrt.«

Er küßte einzeln jede Zeile:

»Nein, nein, du warst im Recht.«

Stark, frei, sonniger als je ließ Horus Elcho sich wie im Triumph nach
seiner Zelle bringen.

                   *       *       *       *       *

Er, den Sibyl im Haßstrahl als Lebenswucherer gesehen, saß am
ligurischen Strand in seinem Landhaus und rechnete ab.

Lloyds hatten die Versicherungssumme wieder glatt ausbezahlt, wiewohl
Selbstmord vorlag: ein überaus kulanter Betrieb. Den ungeheuren
Grundbesitz hatte er an ein Hotelkonsortium sehr günstig verkauft. Es
war eine seiner glücklichsten Terrainspekulationen gewesen.

Nur das von Sibyls Geld erworbene Land behielt er.

»Ich trenne mich zu schwer davon. Wieviel Erinnerungen an die Frau, der
ich Jahre meines Lebens geopfert.«

»Brangäne« wedelte zu ihm auf:

»Du hast ja so viel Pietät.«

Sie blieb, was immer geschah. War geblieben als Haushälterin, Maitresse,
uneheliche Mutter, Zutreiberin, Komplize. Wartete, schlau und zäh, bis
er ermüdete, und doch vielleicht noch ihre Stunde kam.

Er machte eine milde, bedauernde Bewegung mit der Hand.

»Ein Wesen, das mir so lange nahe stand: Ich mußte die Behörden
verständigen, zu verhindern suchen, daß sie verschleppt werde, in einen
asiatischen Harem. Daß eine Dame so weit sinken konnte?«

Dann, mit großen, braunen Augen, gerührt:

»Ich aber hab' ihr längst verziehen.«

»Brangäne« nickte verzückt:

»Du bist ja so gütig.«


          _Anmerkung_: Das Zitat Seite 35-39 stammt von
          Theodor Fechner. Dem Vedanta Entnommenes folgt
          Prof. Paul Deussens Übertragung aus dem Urtext.


                              Sir Galahad


                          Im Palast des Minos
                      Mit 12 Tafeln und einem Plan
                               2. Auflage

   _Zeiten und Völker, Stuttgart_: Keine leichte Lektüre, dafür aber
   gehaltvoll und von tiefgründigem Wissen zeugend ist das Buch von
   Sir Galahad »Im Palast des Minos«. Von den Ausgrabungen Arthur
   Evans zu Knossos auf Kreta und den dabei gemachten Funden
   ausgehend, schildert das treffliche, mit 12 Autotypietafeln und 1
   Plane des Palastes zu Knossos ausgestattete Buch des
   kunstsinnigen, namentlich auch auf dem Gebiete der Keramik
   wohlerfahrenen Autors, das Reich des Königs Minos in solch
   anziehender und mit einer Fülle tiefer Gedanken verwobener Weise,
   daß wir im textlichen Teile gern noch auf das bedeutsame Werk
   zurückkommen werden.


                            Von Sir Galahad
              bearbeitet und aus dem Englischen übersetzt:


                            Prentice Mulford


                         Der Unfug des Sterbens
                          Essays. 75. Auflage


                          Der Unfug des Lebens
                          Essays. 30. Auflage


                          Das Ende des Unfugs
                    Ausgewählte Essays. 15. Auflage

                    Albert Langen, Verlag in München


                  Druck von Hesse & Becker in Leipzig
                  Einbände von E. A. Enders in Leipzig


                     Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
Änderungen, teilweise unter Zuhilfenahme anderer Auflagen, sind hier
aufgeführt (vorher/nachher):

   [S. 19]:
   ... wehrt, an einem Wesen andern Ranges teilgehabt. ...
   ... währt, an einem Wesen andern Ranges teilgehabt. ...

   [S. 113]:
   ... »Lohn«. War das noch Liebe? Alles Warmblühende, ...
   ... »Lohn«? War das noch Liebe? Alles Warmblühende, ...

   [S. 125]:
   ... rief und frei, auf festlich erhöhtem Deck, endlich
       hinübergleiten ...
   ... reif und frei, auf festlich erhöhtem Deck, endlich
       hinübergleiten ...

   [S. 125]:
   ... Jahre von seiner Mutter Tod. Waren ein unaufhörliches ...
   ... Jahre vor seiner Mutter Tod. Waren ein unaufhörliches ...

   [S. 160]:
   ... Gegensatze zuzueilen. Ein schlichthin Infernalisches, dem ...
   ... Gegensatze zuzueilen? Ein schlichthin Infernalisches, dem ...

   [S. 160]:
   ... Symbol verweigert. ...
   ... Symbol verweigert? ...

   [S. 184]:
   ... »Sind das vielleicht Epouseure. Was treibst du dich ...
   ... »Sind das vielleicht Epouseure? Was treibst du dich ...

   [S. 184]:
   ... mit solchen Buben herum. Sind das Aussichten?« ...
   ... mit solchen Buben herum? Sind das Aussichten?« ...

   [S. 226]:
   ... erstenmal. Im Astoria war es schwer, in ihre Menkwelt ...
   ... erstenmal. Im Astoria war es schwer, in ihre Merkwelt ...

   [S. 228]:
   ... heraufgefahren; wie kam man jetzt dazu. ...
   ... heraufgefahren; wie kam man jetzt dazu? ...

   [S. 239]:
   ... Geselligkeit. Und doch: die gleiche kleine »set« wie früher ...
   ... Geselligkeit? Und doch: die gleiche kleine »set« wie früher ...

   [S. 285]:
   ... Gegenartikeln, Polemiken, Hüt und Hot des Metiers, ...
   ... Gegenartikeln, Polemiken, Hü und Hott des Metiers, ...

   [S. 353]:
   ... an seinen Kindern.« ...
   ... an seinen Kindern?« ...

   [S. 366]:
   ... in immer neue schwingende Zahlen. Ihm andeuten, was ...
   ... in immer neue schwingende Zahlen? Ihm andeuten, was ...

   [S. 366]:
   ... die Farben gehen. Doch nein, da war eine Grenze. ...
   ... die Farben gehen? Doch nein, da war eine Grenze. ...

   [S. 391]:
   ... sich der Geist der dreifachen Raumes Gestalt erwölbt. ...
   ... sich der Geist des dreifachen Raumes Gestalt erwölbt. ...

   [S. 395]:
   ... War seine Musterung indiskret geworden. Sie schrak ...
   ... War seine Musterung indiskret geworden? Sie schrak ...

   [S. 421]:
   ... Nagel. Sie hielt ihn immer ängstlich weggesteckt ...
   ... Nagel. Sie hielt ihn immer ängstlich weggestreckt ...

   [S. 436]:
   ... verbogene Kräfte im Menschinnersten selbst! ...
   ... verborgene Kräfte im Menschinnersten selbst! ...

   [S. 444]:
   ... Doch war das alles nicht leer und gleich. Hatte sie, ...
   ... Doch war das alles nicht leer und gleich? Hatte sie, ...

   [S. 454]:
   ... es persönlich, wenn auch als milder Psychiater, schon ...
   ... es persönlich, wenn auch als milder Psychiater, schob ...

   [S. 466]:
   ... Verzögerung, und daß man die Erwachsenen hatte einsperren ...
   ... Verzögerung, und daß man die Erwachsene hatte einsperren ...

   [S. 470]:
   ... Berlin, lernte den Skisprung bei Sarnström in Dalverne, ...
   ... Berlin, lernte den Skisprung bei Sarnström in Dalarne, ...

   [S. 525]:
   ... Eine fremde Person kam herausgeschrurft: ...
   ... Eine fremde Person kam herausgeschlurft: ...





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Die Kegelschnitte Gottes - Die Horus-Romane. Erster Roman." ***

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