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Title: Aus Prager Gassen und Nächten
Author: Kisch, Egon Erwin
Language: German
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                               Aus Prager
                          Gassen und Nächten.


                                  Von
                           Egon Erwin Kisch.

                           Umschlagszeichnung
                           von Karl Kostial.

                            .. 2. Auflage ..


                                 1912.
                       Verlag von A. Haase, Prag,
                             Wien, Leipzig.


                Die in diesem Buche enthaltenen Skizzen
             wurden größtenteils 1910 und 1911 geschrieben.

                     Übersetzungsrecht vorbehalten.


                       Vom Autor erschien ferner:

         Vom Blütenzweig der Jugend               Leipzig 1902.
         Der freche Franz und andere Geschichten   Berlin 1906.


                K. u. k. Hofbuchdrucker A. Haase, Prag.



         Der Clamsche Garten                                  1
         Die Gemeindetruhe                                    6
         Verzehrungssteuer                                   10
         Floßfahrt                                           14
         Gäste der Polizei                                   23
         Café Kandelaber                                     27
         Geschichten vom Brückenkreuzer                      31
         Der Chef der Prager Detektivs                       35
         Der Mann mit der Straßenspritze                     39
         Eine Nacht im Asyl für Obdachlose                   43
         Das Lied vom Kanonier Jaburek                       52
         Die Erlaubnis zum Fußballspiel                      56
         Bei „Antouschek“, dem Wasenmeister                  59
         Razzia                                              65
         Die Zwangsarbeitsanstalt auf dem Hradschin          71
         Theatervorstellung der Korrigenden                  75
         Das Märchen vom Mistwagen                           80
         Weihnachtsmarkt                                     84
         Wie ich aus dem Rathause hinausgeworfen wurde       89
         Prager Ziehung                                      93
         Die Irren                                          101
         Volksküchen                                        106
         Ein tadelnder Ballbericht                          111
         Von Feilbietungen, Auktionshallen und vom Chabrus  115
         Die Verhaftung                                     125
         Drehorgelspieler                                   130
         Die Gifthütte                                      136
         Karl May in Prag                                   141
         Polizeimuseum                                      144
         Unter Statisten                                    151
         Der Dichter der Vagabunden                         158
         Arrestgebäude                                      166
         Alt-Prager Mensurlokale                            170
         Prags Erwachen                                     175
         In der Wärmestube                                  179



                          Der Clamsche Garten


Westend von Prag. Endstation der Elektrischen, die Smichow und
Koschiř durchquert.

Über dem Gittertor steht die Aufschrift „Klamovka“ mit so großen
Goldbuchstaben, daß jeder erkennen müßte, die hohe, von blütenschweren
Bäumen überdachte Mauer umschließe keine öffentlichen Anlagen, keinen
Privatpark. Es ist offenbar ein Wirtshausschild, das dringlich zum
Eingange lädt. Aber das Tor ist versperrt, und keine Klingel ist
vorhanden, die einen öffnenden Pförtner herbeizurufen vermöchte. Und
selbst wenn man in der abzweigenden Weißbergstraße das offenstehende
Seitentürchen entdecken, durch dieses eintreten und die Stiegen zum
Garten hinaufschreiten würde, so müßte man umkehren, denn ein Zettel
verwehrt strenge dem Fremden den Eintritt. Der abweisende Inhalt des
kleinen Zettels auf dem Seitentor kontrastiert mit der einladenden
Aufschrift der großen Tafel auf dem Haupttor. Sodaß man doch in Zweifel
gerät, ob hier ein Wirtshausgarten oder ein Herrschaftspark sei.

Beides oder keines von beiden. Früher haben Grafen und Gräfinnen hier im
Clamschen Garten auf schattigen Kieswegen lustwandelt. Aber später wurde
der gräfliche Park an einen bürgerlichen Gastwirt verkauft, und der
baute in der Mitte des Gartens ein Gasthaus mit einem Tanzsaal.

Nun aber wird hier auch nicht mehr getanzt. Seit heuer. Noch im vorigen
Jahr war die „Klamovka“ am Sonntag nachmittag ein Wallfahrtsort der
Dienstmädchen, der Burschen und Mädchen aus dem Volke, und oben im Saale
wurden bis spät in den Abend Quadrillen und Walzer getanzt, besonders
schlürfend der Sechsschrittwalzer, der im Volksmund „Na šest“ heißt,
dessen charakteristisches Merkzeichen die langgezogenen, langsamen
Schritte bei der Linksdrehung sind, und bei dem man in erheuchelter oder
echter Verzückung die Augen zu schließen hat. In den Pausen aber gingen
die Liebespaare, sich umschlungen haltend, hinunter in den Garten, in
dem die hohen Christusakazien, die duftenden Syringensträucher, die
schattigen Kastanienbäume, die silberglänzenden Rotbuchen, die dichten
Ahornsträucher und die verzweigten Hagedornbüsche in Blüte standen. Wenn
auch die Blütenpracht von den Liebespaaren wohl kaum eines Blickes
gewürdigt worden ist — der Einfluß des Milieus muß doch im
Unterbewußtsein seinen Nachhall geweckt haben, dem Frühling der Herzen
muß es doch inmitten des Frühlings der Natur am wohlsten gewesen sein.
Sonst wären die jungen Leute doch in nähere Sonntagstanzlokale gezogen,
wie in das Weinberger Bräuhaus, in das Gasthaus „Na Slovanech“ auf dem
Karlsplatz, wo der Wirtsgarten nur aus paar verkrüppelten Bäumen
besteht. Doch dort war’s nie so voll wie in der „Klamovka“.

Zwölf Jahre tanzte man hier. Am Anfang schien es, als wolle sich das
entlegene Tanzlokal nicht einbürgern, und der alte Hlavaček, der für
den Ankauf des Gartens und für die Aufführung des Wirtshausbaues sein
Vermögen verwendet hatte, schoß sich aus Verzweiflung eine Revolverkugel
ins Herz. Sein Sohn aber hatte mehr Glück und allsonntäglich war es voll
im Clamschen Garten.

Vor zwei Jahren aber haben die Barmherzigen Brüder den herrlichen Garten
gekauft, um in ihrem menschenfreundlichen Wirken keine Stockung
eintreten zu lassen, falls ihr jetziges Spitalsgebäude in der Josefstadt
als Opfer der Assanierung fallen würde. Von heuer ab bleibt das Gasthaus
unvermietet und das Gartentor steht geschlossen. So werden die
Nachfolger der Liebespaare, die sich hier im Garten ihrer Jugend
freuten, die bleichen Kranken sein, die humpelnd oder in Rollwägelchen
wehmütig den Glanz der Blumen betrachten und den Duft der Blüten atmen
werden. Es kann sein, daß vielleicht einmal ein alter Patient oder ein
krankes Mütterchen, den Garten betretend, schwermütig lächeln werden,
weil sie in diesem Garten, der nun ihr Krankenasyl sein soll, in der
schönsten Zeit ihres Lebens viel geweilt haben und seither nicht mehr.
So wird ihnen doppelt wehe ums Herz sein. Aber das Gefühl wird kein
bedauerndes sein. Denn auf der „Klamovka“ ging es nicht ausschweifend
zu, wie z. B. in einer unmittelbar benachbarten Gartenwirtschaft, welche
heuer als Erbe der „Klamovka“ die Koschiřer Jugend übernommen hat und
auf deren Usancen ein Mordprozeß des vergangenen Jahres ein böses Licht
warf. Auf der „Klamovka“ gab es nie eine „parta“, wie die Platten im
Prager Vorstadtjargon heißen. Hier hatte fast jedes Mädchen bloß einen
ständigen Tänzer, den Liebhaber. Wenn der gewechselt wurde, gab es
stumme Katastrophen.

So hat beispielsweise einmal ein Artillerie-Freiwilliger hier Unheil
angerichtet. Der hatte richtig kalkuliert, daß seine schmucke Uniform
ihm hier ein siegendes Liebesglück verschaffen müsse, und war in den
Clamschen Garten gefahren. Sein Eintritt in den Saal war eine Sensation.
Hierher, wo schon die Uniform eines Infanterie-Pferdewärters auf die
unbefangenen Mädchenherzen elektrisierend einwirkte, kam ein
Einjährig-Freiwilliger mit tadellosem Scheitel, blanken Lackkanonen,
silbernen Salonsporen, hellblauen Kammgarnhosen, dunkelbraunem
Waffenrock mit dem verschnürten Schützenzeichen und einem
vorschriftswidrigen Flitterstern auf dem feuerroten Kragen! Er kam in
den Saal und musterte die Paare kritischen Blickes. Dann wählte er sich
ein Mädel zum Tanz, ein Mädel, dem die Stammgäste prophezeiten, daß es
gar bald von der blonden Jarmila den von allen angestrebten Titel
„Hvězda Klamovky“, des Sterns des Clamschen Gartens, erben werde. Er
tanzte, tanzte wieder, und der junge Monteur, der bis zur Stunde der
Liebhaber der Kleinen gewesen war, der tanzte nicht. Der saß in dem
Saalteile, der durch Säulen vom Tanzsaale geschieden und für die
Biertische reserviert war. Als es 8 Uhr und gerade eine Tanzpause war,
ging er zu dem Mädel, das mit dem goldstrotzenden Galan promenierte.

„Komm’ nach Hause, Božena.“

„Ich will nicht.“

„Ich muß doch um 9 Uhr im Elektrizitätswerk sein. Sonst wirft man mich
hinaus.“

„Dann wird man dich eben hinauswerfen.“

„Du weißt doch, daß mein Vater beim Bürgermeister war, damit ich die
Stelle bekomme.“

„Ich halte dich nicht. Du kannst ja gehen.“

Den letzten Satz sprach sie schon davontanzend, denn die Musik hatte das
tschechische Volkslied begonnen, das an zwei blaue Augen die Frage
richtet, warum sie voll Tränen seien. Der Monteur empfindet das
Schmerzliche des letzten Satzes doppelt schmerzlich, weil es im Arme des
anderen gesagt worden ist. Er fühlt, daß das Mädel, indem sie ihn
abwies, dem anderen eine Liebeserklärung gemacht hat. Fühlt, daß sich
jetzt die zwei fester aneinander schmiegen und vielleicht über ihn, den
heimgeschickten Dritten lächeln. Der Bursch geht zu seinem Platz zurück
und ist blaß.

Allein fortgehen kann er nicht, trotzdem die Božena das behauptet
hat. Sonst geht das Mädel mit dem Kanonier nach Hause, und dann lächeln
die zwei nicht mehr, sondern sie lachen. Noch mehr Leute, die Stammgäste
der „Klamovka“ würden alle lachen über „křen“, den Wurzen, der ein
Mädel zum Tanz führt, damit dieses mit einem anderen nach Hause gehen
könne. So bleibt der junge Monteur sitzen bis 9 Uhr (die Stunde, zu der
er bei der Kontrolluhr im Elektrizitätswerk sein soll) längst vorbei
ist. Er sitzt blaß beim Bier und möchte sichs nicht anmerken lassen, wie
sehr ihm die Musik in das Herz schneidet, die seinem Mädel zum Tanz mit
einem anderen aufspielt. So wiederholt er sich die Worte, die ihm ein
Freund im Vorbeigehen tröstend zugerufen: „Was liegt an einem Mädel!“
Spät abend geht er mit der Božka nach Hause. Er weiß gar wohl, daß
sie sich für morgen ein Stelldichein mit dem Freiwilligen verabredet
hat, er weiß gar wohl, daß jetzt alles aus ist. Er hat aber wenigstens
die Blamage verhütet, er begleitet wenigstens das Mädel nach Hause, mit
dem er gekommen war. Mag es ihn immerhin seine Stellung gekostet haben!

Es war zum letztenmale, daß er mit Božka heimging. Es war zum
letztenmale, daß er auf der „Klamovka“ getanzt hat. Auch wenn das breite
Gittertor nicht verschlossen wäre, würde er nicht mehr hingehen. Er
verkehrt jetzt in anderen Lokalen. Fast täglich mit einem anderen Mädel.
Und wenn jetzt jemand seine Begleiterin verlangend mustert, dann muntert
er sie noch auf, den Blick zu erwidern. Er hat auch gar nichts dagegen,
wenn sie jetzt mit jemandem den ganzen Abend tanzt, ja selbst wenn sie
dann mit dem anderen nach Hause geht. Er fürchtet nicht mehr, als
„křen“ zu gelten. Er will nur Geld haben. „Was liegt an einem Mädel!“
Das Wort, mit dem er sich damals zu trösten versuchte, ist seine
Lebensmaxime geworden ...

Eine Pointe hat die Geschichte nicht. Es sei denn, man wollte es
vielleicht als Pointe ansehen, daß an manchen Abenden auch die Božka
(die ginge übrigens heute auch nicht mehr auf die „Klamovka“) zu seiner
Klientel zählt. Der Artillerie-Freiwillige tanzt aber schon lange nicht
mehr mit ihr.

Das war so einer von den kleinen Romanen, die im Clamschen Garten
begonnen haben. Sie stehen nirgends verzeichnet und jeder der Besucher
kannte nur einen solchen Roman. Und wenn man die Sehenswürdigkeit des
Gartens zeigt, so weist man auf das „Himmelchen“, einen runden,
entzückenden Kapellenbau, durch dessen sternförmige Öffnungen in der
Wölbung das Himmelslicht strahlt, so zeigt man den hübschen Eselsstall,
so zeigt man den aus Stein gemeißelten Pferdetrog, der auf einem mit
einem steinernen Zaumzeug gemeißelten Sockel steht und ein Denkmal für
des Grafen Clam-Gallas Schlachtroß „Cassil“ darstellt, so zeigt man den
Platz, auf dem Prinz Wilhelm von Auersperg an einem Maitage vor
vierunddreißig Jahren im Duell sein Leben ließ. Aber man zeigt nicht die
Sträucher, in denen mancher junge Mensch seinen Liebesgram ausgeweint
hat, man zeigt nicht die Stelle, von der aus der blasse Monteur seinem
davontanzenden Liebesglück nachblickte.



                           Die Gemeindetruhe


Die Einführung der Gemeindetruhe sei den Kommunalbehörden aller
Weltstädte ans Herz gelegt. Nicht etwa, daß diese Empfehlung meinem
ausgeprägten Lokalpatriotismus oder irgend einem anderen Gefühle
entspringen würde. Persönliche Beziehungen verknüpfen mich mit der
Gemeindetruhe nicht. Ich kann auch aus eigenem nichts über das Innere
dieses hermetisch verschlossenen Verkehrsmittels sagen. Aber es ist ganz
hübsch. So sagt mein Freund Franta Cuček, der in der Gemeindetruhe
geboren wurde, schon oft in ihr nach Hause gefahren ist und auch
mutmaßlich einst mittels dieses Vehikels in die „Pathologie“ geschafft
werden wird. Der kennt das „Etui“, wie er es in dem Tonfall der
tschechisch-französischen Verbrüderung ausspricht, in- und auswendig.
Von weitem und um die Ecke erkennt er, welche Nummer jene Truhe hat, die
da herangerasselt kommt, um irgend einen Gast unseres Stammlokales nach
Hause zu befördern. Ohne je den Zettel zu betrachten, der an der
Rückseite des Korbes baumelt und eine rote Ziffer — die Wagennummer —
trägt.

Daß Franta Cuček die Lenker des Gefährtes kennt, ist ganz natürlich.
Er steht mit allen auf Du und Du und sein „Serbus“ wird von dem
menschlichen Zweigespann mit gleicher Herzlichkeit erwidert. Aber diese
private Freundschaft hat natürlich nicht etwa zur Folge, daß Franta den
Lenkern bei der Ausübung ihrer Berufspflicht irgendwelche
Erleichterungen gewähren würde. Dienst ist Dienst. Es ist ein schöner
Zug im Leben Frantas, daß er einmal einem dieser Automedonten, dem Jaro
Roztopil, mit dem er selbst treu befreundet war, das linke Auge
ausgeschlagen hat, als dieser ihn in den Korb zu betten versuchte.
Trotzdem das linke Auge für jeden Menschen im Sommer nur eine unnötige
Mehrbelastung des Körpergewichtes darstellt, trotzdem das linke Auge zum
ehrsamen Gewerbe des Gemeindetruhenwärters nicht unbedingt erforderlich
ist und trotzdem Jaro Roztopil anläßlich dieser in Ausübung der
Berufspflicht erlittenen Wunde aus dem Stadtsäckel ein Schmerzensgeld
erhalten hat, lassen es seither die beiden Truhenmänner nicht mehr auf
die Betätigung von Frantas Unparteilichkeit im Dienste ankommen. Sobald
sie an den Ort kommen, auf welchen man sie begehrt, und sehen, daß
Franta Cuček zu ihrem Passagiere auserkoren ist, dann eilen sie mit
unheimlicher Schnelligkeit auf ihn zu und umklammern aus einem nicht in
die Augen springenden Grunde seine vier Gliedmaßen mit gußeiserner
Gewalt. Der eine hält Frantas rechten Arm und den rechten Fuß, dem
anderen ist die ehrenvolle Aufgabe zugewiesen, mit den linken Gliedmaßen
ein Gleiches zu tun. Oh, Franta Cuček wehrt sich noch immer nach
Leibeskräften, aber es hilft ihm nicht mehr viel. Er fällt, wie einst
Cäsar von Brutus Hand, von den Händen seiner Freunde. Er fällt in die
Truhe, ohne daß er im Kampfe mit seinen Widersachern siegreich geblieben
wäre. Sein einziger Erfolg ist höchstens, daß er manchmal einen Fuß aus
der Umklammerung der beiden befreit und einem von diesen durch einen
Tritt die Uniform beschmutzt hat.

Ach, die Uniform der Gemeindetruhenwärter! Wer kennte sie nicht, diese
Livree: Die fesche Bluse aus blauweißer Leinwand, der nur im Winter
durch ein einfaches braungestricktes Cachenez verhüllte Hals, die hohen
Kanonenstiefel und die Eishackerhosen, die Ledermütze von
undefinierbarer Farbe mit dem blechernen Wappen der königlichen
Hauptstadt darauf — gibt es etwas Einfacheres, etwas Schöneres? Ist das
nicht schöner als der blaue Frack, den man in Wien vor kurzem als
Festkleidung für die Magistratsfunktionäre bestimmt hat?

Übrigens sei erwähnt, daß die Chauffeure der Gemeindetruhe ihre Uniform
in Ehren tragen. Ihre Aufgabe ist schwer, aber sie erfüllen sie gut.
Nicht nur dann, wenn sie ihren Passagieren à la Franta beim Einsteigen
in die Karosserie behilflich sind, sondern auch beim Entladen des
Korbes. Dieses Entladen ist, da die Seitenwände des Korbes nicht
heruntergeklappt werden können, sondern fix sind, nicht so einfach, als
sich ein Laie auf dem Gebiete des modernen Verkehrswesens denken würde.
Aber das Problem wird dennoch auf findige Weise gelöst. Indem man die
Truhe zu einem Tobogan umwertet. Wenn nämlich die Truhe an ihrem
Endziele, dem Hof des Arrestgebäudes angelangt ist, so wird sie derart
aufgestellt, daß der Korb windschief auf den Rädern ruht und die Füße
des Etui-Inhaltes nach unten zu gerichtet sind. Nun klappen die aurigae
den Deckel auf, heben die Beine ihres Pflegebefohlenen in die Höhe und
schieben dessen Rumpf längs der schiefen Ebene so weit hinab, bis die
Beine des Passagiers über die untere Wand des Korbes ragen. Dann tritt
man auf die Füße des Korbinsassen, diese senken sich zu Boden, und der
Passagier steht vertikal auf Mutter Erde. Ein sichernder Druck auf den
Rücken hindert ihn an dem Rückfall in das Vehikel.

In noch zarterer Weise ist man jenen Passagieren beim Aussteigen
behilflich, deren Reiseziel nicht der Hof des Polizeigefangenhauses,
sondern der Flur des Krankenhauses ist. Denn auch solche gibt es. Wenn
jemand auf der Straße überfahren wird und mit gebrochenem Schenkel
daliegt, wenn jemand von Krämpfen oder von Blutsturz befallen wird, so
holt ihn, wenn ihn nicht inzwischen der Teufel geholt hat, nach sehr
geraumer Zeit die Gemeindetruhe ab und führt ihn ins Spital, wo er in
den meisten Fällen noch lebend ankommt. Das ist das einzige, was Franta
Cuček gegen die Gemeindetruhe einzuwenden hat. Das ist auch wirklich
ein Mißbrauch dieses Vehikels. Wie kommen jene Leute, die Zeit und Geld
für Alkohol geopfert und sich so mühselig das Anrecht auf die
unentgeltliche Beförderung in diesem städtischen Fahrzeuge erworben
haben, dazu, dieses Recht mit jedem ixbeliebigen auf der Straße ganz
unabsichtlich und ganz zufällig erkrankten Menschen zu teilen? Geradezu
unappetitlich ist das! Aber das ist der einzige Fehler des Etuis und
dieser Fehler vermag die Liebe Cučeks zu seinem Fahrzeug nicht zu
erschüttern. Und wenn er auch immer wieder von seinen Ausflügen per
Schub nach Prag zurückbefördert wird — er empfindet es nicht
unangenehm. Denn Prag ist die angestammte Heimat der Gemeindetruhe.

Ja, anderswo gibt es so etwas nicht. Man läßt zwar auch in anderen
Städten die Leichen, die Bierleichen und die prosaisch Erkrankten nicht
unbemerkt bis zu ihrer Auferstehung auf der Straße liegen. Aber in den
anderen Weltstädten gibt es Räderbahren, bei denen die beiden Holme
verschiebbar und die Füße der Bahre (nicht, wie in Prag, die des
Kranken) umgeklappt werden können. Die Bahre dieser Transportmittel
ausländischer Provenienz wird am Endziel der Reise einfach vom
Rädergestell abgehoben — ein ungeheurer Nachteil, weil die Prager
Entlade-Prozedur „System Rutschbahn“ dadurch unmöglich wird. Auch
besitzen die auswärtigen Bahnen keinen Deckel, sondern ein zum Abknöpfen
eingerichtetes Plantuch, das dem Kranken das Hinausblicken auf die
Straße gestattet, aber es den Passanten verwehrt, das Gesicht des
Patienten zu sehen. Daß dies eine Verletzung der Gleichberechtigung ist,
liegt klar auf der Hand. Aber was kann man auch von einer Truhe
verlangen, die keine Truhe ist!

Es gibt eben nur ein Prag, es gibt eben nur eine Gattung von
Gemeindetruhen. Nur schade, daß es nur den breiteren Volksschichten
möglich ist, dieses ebenso vornehme, wie praktische Straßenfahrzeug zu
benützen. Warum könnte man nicht die Droschken und Fiaker durch
Gemeindetruhen erster und zweiter Güte ersetzen? Sogar zu Gummiradlern
könnte man die Gemeindetruhen umgestalten. Auf dem Josefsplatze stehen
die Automobildroschken unbenützt. Würde man hier nicht auf dieser Stelle
(vor dem Repräsentationshaus) einen Standplatz für Gemeindetruhen mit
mehr Erfolg errichten können? Ich glaube nicht, daß ein Einheimischer
oder ein zufälliger Fremder der Versuchung widerstehen könnte, wenn ihm
aus dem Munde von Etui-Chauffeuren die einladenden Rufe entgegenschallen
würden: „Gemeindetruhe gefällig?“, „Fahr’n m’r Euer Gnad’n?“ und
„Einsteigen, meine Herrschaften, einsteigen!“



                           Verzehrungssteuer


„L’octroi, s’il vous plaît.“

Der städtische Verzehrungssteuerbeamte am Bahnhofsausgang in Paris
spricht diesen höflichen Satz in höflichem Ton, fast entschuldigend. So
höflich, daß in dem Fremden gar nicht die Befürchtung wachgerufen wird,
er werde jetzt Koffer und Kolli öffnen und nach Nahrungsmitteln und
Getränken durchsuchen lassen müssen. Den Fremden aber, der dennoch auf
die Vermutung kommen würde, daß die höfliche Frage bitterbös gemeint
sei, beruhigt der Baedeker vollkommen: „Die Kontrolle, die auf dem
Bahnhof stattfindet, erledigt sich für die Fremden in der Regel durch
die Erklärung, daß man nichts Steuerpflichtiges bei sich führe.“

Prag ist, wie hier ausdrücklich festgestellt sei, nicht Paris. In Prag
darf der Fremde — wenn einen solchen vielleicht widrige Winde von der
Route des internationalen Fremdenverkehres in unsere gastliche Stadt
verschlagen würden — den Bahnhof ungehindert verlassen. Die höfliche
Vorstellung des Oktroi-Beamten bleibt dem Ankommenden erspart. Aber wenn
er ahnungslos, den Koffer in der Hand, dem Hotel zustrebt, muß er sich
über den Mann entsetzen, der mit einer Harpune in der Rechten, in
kriegerischer Uniform, an irgend einer Wegkreuzung aus dem Hinterhalte
auf ihn zuspringt und ihm in einer Weise Halt gebietet, die selbst den
Marschall Vorwärts zum Stehen gezwungen hätte.

Und mit dem bloßen Schrecken kommt man nicht davon. Der Koffer muß
geöffnet werden, auch wenn der Reisende tausendmal beteuern würde, daß
er den Kofferschlüssel nicht bei sich trage, da diesen seine Frau in
ihrer Handtasche schon tags vorher nach Prag genommen habe, auch wenn er
zehntausendmal beeiden und durch Zeugen erhärten würde, daß der Koffer
weder einen Apfel, noch ein Kognakfläschchen, sondern bloß Wäsche und
nichts als Wäsche enthalte. Der Prager Baedeker müßte bemerken, daß die
Bediensteten der Verzehrungssteuer hier in ihrem Pflichteifer vor keiner
Mühe — des Fremden zurückschrecken. Im Prager Baedeker könnte dem
Reisenden empfohlen werden, sich auf empirischem Wege von dem
Pflichteifer der Akzise-Bediensteten zu überzeugen. Zum Beispiel so: Man
lege eine Zündhölzchenschachtel, die man vorher mit Spagat kreuz und
quer verbunden und hernach vierfach versiegelt hat, auf die offene
Handfläche und versuche, sich aus der Parkstraße durch den gegenüber dem
Staatsbahnhofe gelegenen Eingang in den Stadtpark zu begeben. Auf die
forschende Frage des Akzisaken erwidere man, man kenne den Inhalt der
Schachtel nicht. Ein alter Onkel habe sie dem Überbringer mit dem
strikten Auftrag anvertraut, sie erst nach seinem Tode zu öffnen. Der
Verkehrsbedienstete wird unnachsichtlich den Schachtelträger entweder zu
dem Akzisgebäude an der Ecke der Bolzanogasse oder zu jenem gegenüber
dem Neuen deutschen Theater weisen, wo sich das Frage- und Antwortspiel
wiederholen und nachher die verdächtige Schachtel geöffnet werden wird.
Man weide sich sodann an dem Gesichte der Beamten beim Anblick der in
der Schachtel befindlichen Zündhölzchen.

Viel leichter ist es, ein lebendes Schwein an dem uniformierten Argus
vorbeizuschaffen, als eine Streichhölzchenschachtel. Das lehrt die
Geschichte jener Wette, die vor etlichen Jahren in einem Gasthause in
Dejwitz geschlossen und damals viel besprochen worden ist: Ein Dejwitzer
Fleischhauer hatte mit einem Gastwirte gewettet, daß er ohne Wagen mit
einem großen lebenden Schwein die Tor-Akzise des Bruskatores passieren
werde. Der Fleischhauer erklärte das Schwein und 40 Kronen, der Wirt den
Kaufpreis für das Schwein und zwei Hektoliter Bier als Einsatz. Der
Fleischer stand auf und ging in seinen Laden. Hier packte er seinen
großen Hund, band ihm das Maul zu und steckte ihn in einen
mächtigen Sack. Dann ging er zum Bruskator. Auf die Frage des
Verzehrungssteuer-Bediensteten erwiderte er, scheinbar ein Lachen
verbeißend: Er trage seinen Fleischerhund, der Anzeichen von Tollwut
zeige, zum Tierarzt. Der Torwächter schenkte dieser plumpen Ausrede kein
Gehör und band den Sack auf. Im selben Augenblicke sprang der
eingesackte Hund, der vielleicht auch die Befürchtung seines Herrn
verstanden hatte, aus dem Sacke und jagte mit Riesensätzen zurück, den
heimischen Fleischtöpfen zu.

„Sie sind daran Schuld. Das größte Unglück kann jetzt geschehen!“ Diese
Worte schrie der Fleischer dem pflichttreuen Bediensteten, der vor dem
Bruskator, wie das bekannte Haustier vor dem neugemalten Haustor stand,
erregt zu und rannte dem „tollen“ Hunde nach. Zu Hause band der
Fleischer seinem größten Schwein den Rüssel zu und steckte es in den
Sack. Dann ging er in das Gasthaus, in dem die Zeugen der Wette
versammelt waren. Er zeigte ihnen den Inhalt des Sackes, nahm diesen
huckepack auf den Rücken und forderte die Gesellschaft auf, ihm
unauffällig in beträchtlicher Distanz zu folgen. Beim Bruskator warf er
dem noch immer bestürzten Akzismann einen verachtungsvollen Blick zu und
sprach kein Wort. Der Wächter erst recht nicht. So ging der Fleischer
ruhig über die Verzehrungssteuerlinie und am Abend wurde bei
Schweinsbraten und bei zwei Hektolitern Bier das Schwein des
Fleischhauers jubelnd erörtert.

Nicht nur von Schwein, sondern auch von Pech wissen die Bewohner der
Oktroi-Häuschen ein trauriges Liedchen zu singen. War da einmal in Prag
ein junger Schauspieler — heute wirkt er in Hamburg — dessen
Spezialität die Darstellung von Paralytikern war. Der hatte einst den
Entschluß gefaßt, den Wächtern einen Schabernack zu spielen. Mit einem
großen Paket unter dem Arm, in respektvoller Entfernung von einer
eingeweihten Freundesschar gefolgt, versuchte er es, sich an dem
Verzehrungssteuerkontrollor unterhalb des Belvedere vorbeizuschleichen.
Dieser aber packte den ertappten Schmuggler, und dieser begann sofort zu
winseln und den Paralytiker zu spielen. „Hab’ ich ein Pech, hab’ ich ein
Pech,“ wiederholte er schluchzend, und auf die Frage nach dem Inhalt
seines Pakets hatte er keine andere Antwort. Bis es dem Bediensteten zu
bunt wurde, er den Deckel des Pakets aufhob und mit schnellem Griff in
das Innere fuhr. Über und über mit Pech bedeckt war seine Hand, als er
sie herauszog. „Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß ich Pech hab’,“ sagte
der Paralytiker, der plötzlich wieder normal geworden war, und lächelte
infam und schadenfroh darüber, daß auch einmal ein anderer „Pech gehabt“
hatte.

Ein übler Streich, der in den Tagen des Hagenbeckschen Besuches der
Aktualität nicht entbehrt, wurde vor wenigen Jahren dem Manne gespielt,
der am Ende des Wenzelsplatzes auf Nahrungsmittelschmuggler zu warten
hat. An einem Winterabend, gegen 9 Uhr fuhr ein Möbelwagen aus der Stadt
Weinberge gegen Prag. Auf Anruf des Akzisbediensteten ließ der Kutscher
die Pferde stoppen. Als aber der Mann seines Amtes walten wollte, trat
ein Herr, der den Wagen begleitete, auf ihn zu und bat, dies möge
unterlassen werden, da der Inhalt nicht ungeldpflichtig sei und eine
Überraschung darstelle. Der Verzehrungssteuer war aber unerbittlich und
nach längerem Hin- und Herreden öffnete er selbst die Türe des
Möbelwagens. In demselben Augenblick sprangen aus diesem Wölfe, Bären,
Löwen, Tiger und Leoparden mit ohrenbetäubendem Gebrüll heraus. Der
biedere Wächter sprang entsetzt zurück und streckte seine einzige Waffe,
den Bratspieß, mit dem er ansonsten friedlich unter die Sitze der
Equipagen und Straßenbahnwaggons, in die Rückenkörbe der Weiber und in
die Heu- oder Kohlenladung der Lastwagen zu stochern pflegte, abwehrend
von sich. Aber der Gebrauch der Waffe war nicht nötig, denn die Bestien
kehrten nach kaum einer Minute wieder zurück — es war eine
Künstlergesellschaft, die als Menagerie zu einem Maskenball nach Prag
fuhr. Der Verzehrungssteuerbedienstete atmete hörbar auf.

Auf verschiedene Weise wurden die Leute geprellt, denen die Aufgabe
obliegt, für die Lebensmittelteuerung zu sorgen. Sie waren nicht nur die
Zielscheibe von Scherzen und Wetten, sondern auch von vielen
Schmugglertricks. Aber die gelungensten dieser Gaunerstreiche sind nicht
bekannt. Weil sie eben gelungen sind.



                               Floßfahrt


                                       _Wittenberg_, den 1. Juli 1910.

In Prag hatte unser Floß fünf Tage lang Haft halten müssen. Mit schweren
Ketten gefesselt lag es im Smichower Floßhafen. In den Gegenden am
Oberlauf der Moldau, an der Maltsch und der Luschnitz ließ es nicht ab
zu regnen, und auf der Moldau war Hochwasser. Wegen der Gefährlichkeit
und wegen der Anordnungen der Strompolizei — oder eigentlich nur wegen
dieser — durfte man nicht abfahren. Aber dann sank der Moldauspiegel
auf 60 Zentimeter über der Normale — die Grenze des Erlaubten. So
fuhren wir.

Das Floß war prachtvoll. Keine dünnen Stöcke, wie sie hauptsächlich von
der Sazawa her geflößt werden, sondern breite Riesenstämme. „Eine
Salon-Prahme“, hatte mir Herr Max Winterberg versichert, als er meine
ihm erstaunliche Bitte, auf einem Floß der Firma „Löwy u. Winterberg“
bis nach Sachsen fahren zu dürfen, in liebenswürdiger Weise erfüllt
hatte. Majestätisch schwammen die Balken dahin, ein breites Stück der
Moldau erfüllend. Doch schon hinter der Palackybrücke, unter welcher der
Mauteinnehmer zu unserem Floß gerudert kam, um die Zahl der Holztafeln
zu kontrollieren, nahmen wir eine schmälere Formation an. Es hieß
„Einzeln abfallen“, denn das Schittkauer Wehr war in der Nähe, und
dessen Floßschleuse ist eng. Während wir bisher mit zwei nebeneinander
befestigten Holztafeln gefahren waren, mußte jetzt die linke Floßhälfte
losgelöst und rückwärts befestigt werden.

Floßführer und Floßknechte arbeiteten fieberhaft. Der Vorderteil des
Floßes wurde durch einen mächtigen Überlegbaum an der nächstfolgenden
Tafel befestigt, damit er von der Gewalt der Wassermassen der Schleuse
nicht zu tief gerissen werde. Die Durchschlagsstämme, welche je zwölf
Balken zu einer Tafel verbinden, wurden scharf darauf angesehen, ob sie
nicht schadhaft geworden seien. Die Bindwieden, die Weidenbänder, welche
die dreizehn Tafeln des Floßes aneinander festhalten, wurden mit Wasser
besprengt, damit sie nicht zu spröde seien und von der Wucht des
Schleusenwassers nicht zersprengt würden. Die Flößer bohrten mit Energie
und Schwung die harpunenartigen Staaken tief in den Moldaugrund und
schritten, sich mit dem ganzen Körper gegen die eingebohrte Stange
stemmend, rüstig vorwärts, wobei sie natürlich immer an derselben Stelle
blieben, da sich das Floß mit gleicher Schnelligkeit in
entgegengesetzter Richtung bewegte. An den Rudern war man beschäftigt,
die Prahme in die Verlängerung der Schleuse zu bringen — keine leichte
Arbeit, denn das Schittkauer Wehr ist schief gegen den Stromstrich
gelegen, weshalb auch die Kanalisierungskommission seine Demolierung und
die Errichtung eines neuen Wehres in der Höhe der Schittkauer Mühle
projektiert. Das Wehr teilt sich überdies gegen das linke Moldauufer in
zwei Arme und das Floß, das mit Mühe richtig in die erste Schleuse
eingefahren ist, muß wenige Meter hinterher, inmitten der Gewalt der
Schleusenströmung schon in die zweite einlenken. Die Vorsichtsmaßregeln,
die der alte Steuermann Vrabec und seine beiden nicht jüngeren Flößer
Kolenský und Konečny — die aus drei Leuten bestehende Bemannung des
Floßes war zusammen 182 Jahre alt — getroffen hatten, verfehlten ihre
Wirkung nicht: Trotzdem die Stämme krachend an den Schleusenrand
stießen, kamen die schwimmenden Balken unversehrt durch Strömung und
Gischt, und lenkten, die Schützeninsel links liegen lassend, zum
Altstädter Wehr ein.

Beim „Frantischek“ erhielten wir Vorspann. Der Remorqueur „Austria“, der
die Ehre hat, der erste Dampfer im Weichbilde Prags zu sein, schleppte
uns nun bis zum Neumühl-Wehr unterhalb der Karlsbrücke — dem letzten
Wehr alter Konstruktion, das bis zur Mündung zu passieren ist. Bisher
waren die einzelnen Tafeln des Floßes nur lose aneinander geknüpft
gewesen, sodaß, unmittelbar nach Passieren der Schleuse, der Vorderteil
schon gegen die Moldaumitte gesteuert werden konnte, ohne daß die noch
vor oder innerhalb der Schleuse befindlichen Floßteile aus ihrer
Fahrtrichtung gebracht worden wären. Nachdem das Neumühlwehr durchfahren
war, wurde dem Floß durch Anspannen der Bindwieden eine steife Formation
gegeben. Die Schleuse des neuen Nadelwehres bei der Hetzinsel ist
nämlich lang, und es ist streng erforderlich, daß der rückwärtige Teil
des Floßes die gleiche Richtung habe, wie die ersten Tafeln.

In Holleschowitz wurde Halt gemacht. Die Schregge, ein um einen festen
Punkt drehbarer Riesenbalken, wurde von zwei Flößern senkrecht
aufgestellt, und die Spitze bohrte sich tief in den Moldaugrund ein.
Ächzend blieb das Floß stehen. Nun ging es auf den hier in breiter Reihe
verankerten anderen Flößen ans Land, in das Wirtshaus „Baštecký“. Das
war mit Flößern dicht gefüllt. Gesprächsthema: Zwei Prahmen seien in der
Hetzinsel-Schleuse auseinander gegangen und die Bemannung, die selbst in
Gefahr geschwebt habe, müsse nun den ganzen Tag arbeiten, die Stämme
wieder zu ordnen und zu binden. Die Erregung ist allgemein. Darüber, daß
die Schleuse schlecht sei, sind alle einig. Auch gegen die Ansicht, daß
die deshalb an die Statthalterei gerichtete Eingabe ohne Erfolg bleiben
werde, erhebt sich kein Widerspruch. Aber über die Art der
Abwehrmaßregeln kann man sich nicht einigen.

„Wir sollten einfach erklären, daß wir nicht durchfahren,“ meint
aufgeregt ein junger Flößerbursch.

„Dann fahren einfach andere durch!“ erwidert ihm ruhig ein Steuermann.

„Wir sollten uns auf andere Sachen kaprizieren, so lange die Schleuse
nicht gebessert wird,“ meint da ein blutjunger Bursch — der
jüngste Steuermann auf der Moldau. Der Sprosse eines Podskaler
Flößergeschlechts. Sein Vater ist Floßtransporteur in der Kanzlei einer
großen Prager Holzfirma, drei seiner Brüder sind Steuermänner, ein
vierter, der gleichfalls Floßführer war, hat vor Jahren den Flößertod im
Helmschen Wehr gefunden. „Wir sollten die Flöße ausmessen. Und wenn
eines länger ist als 130 Meter, sollten wir nicht darauf fahren — so
wie es das Gesetz vorschreibt.“

„Das ist unmöglich,“ wirft ein alter Flößer ein. „Man kann doch die
Stämme nicht abschneiden, wenn sie um einen Meter länger sind!“

„So müßte eben eine Tafel weniger angekoppelt werden,“ meint der junge
Floßführer.

„Na, dann legt man sie eben als Fracht auf die Prahme, und du bist
gerade dort, wo du warst. Im übrigen würde sich das Ausmessen der Flöße
nur gegen die Holzhändler richten, und die haben mit der Schleuse nichts
zu tun.“

Der junge Steuermann läßt nicht locker: „Wenn sich die Holzhändler der
Sache annehmen würden, würde schnell Abhilfe geschaffen werden.“

„Schmarrn!“, belehrt ihn der Alte. „Die Holzhändler haben sich gegen die
ganze Moldaukanalisierung eingesetzt, welche die Flößerei fast ruiniert
hat. Und was hat’s ihnen genützt?“

Jetzt ist das Fragen an mir: „Wieso hat die Kanalisierung dem
Floßtransport geschadet?“

„Weil sie die ganze Moldau verschandelt hat. Ist denn das noch ein Fluß?
Gibt es denn noch unterhalb Prags eine Strömung? Lauter gestautes
Wasser, lauter Tümpel. Jede Weile muß man sich von Remorqueuren ans
Gängelband nehmen lassen. Von Holleschowitz bis Troja, von der Selzer
Dynamitfabrik bis Kletzan, von Žalow bis Libschitz, von Libschitz
nach Miřowitz, von da nach Wranian, von hier nach Hořin, dann nach
Beřkowitz, dann nach Wegstädtl müssen wir uns von den Remorqueuren
ins Schlepptau nehmen lassen. Lauter Vorspann, lauter blöde Schleusen.
Gott sei Dank, daß das Land kein Geld hat. Sonst hätten sie uns auch
schon in Leitmeritz und Raudnitz solche Hürden errichtet. Lauter
Wehrmeister, lauter Kontrolle ...“

„Nicht einmal ein Mädel kann man sich mitnehmen,“ brummt ein junger
Flößer, ein „Podskalák“ von reinstem Wasser, der sich eine Schmachtlocke
so tief über das rechte Auge gekämmt hat, daß er auf diesem fast blind
sein muß.

„Na, du nimmst dir ein Mädel auf jeden Fall mit! Und wenn du es unter
dem Floß vor dem Wehrmeister verstecken müßtest.“ So ruft man lachend
dem „Don Juan von der Wasserkante“ zur Antwort, und selbstgefällig
streichelt das Wassergigerl seine Stirnlocke.

Dann ergreift mein Steuermann das Wort: „Früher wars eine Kunst zu
flößen. Wenn man sich nicht auskannte, saß man flugs auf dem Trockenen.
Im Jahre 1872 flößte ich mit zwei anderen jungen Burschen am alten
Buchta vorüber. Der Buchta, das war ein guter Steuermann. Jetzt ist er
schon lang tot. Damals war er auf einer Sandbank stecken geblieben und
mußte Wasser stauen, um die Prahme flott zu kriegen. Als wir
vorbeischwammen, schimpfte der Alte: Verfluchte Buben! Wir alten Esel
bleiben stecken und die fahren glatt vorbei!“

Wenn jetzt der Steuermann nur hinzugefügt hätte, daß ein solches
Auffahren auf Sand heute nicht mehr vorkommen könne, so hätte er den
Anschein zu erwecken vermocht, er habe die Geschichte vom alten Buchta
nur erzählt, um zu zeigen, wie damals selbst der erfahrenste Steuermann
eine böse Fahrtunterbrechung erleiden konnte. Aber der Erzähler hat
darauf verzichtet. Offen rühmt er sich des Buchtaschen Zitates, dessen
Datum er sich durch 38 Jahre gemerkt, in denen er etwa 1200 Floßfahrten
unternommen. Der Fluch des alten Buchta ist dem alten Vrabec ein
kostbares Vermächtnis.

Ein Bediensteter der Schiffahrtsgesellschaft kommt jetzt in das Gasthaus
und meldet, daß der Remorqueur, der andere Flöße bis Troja gezogen hat,
eben zurückkehrt. Man bricht auf und bald schwimmt das Floß wieder
talwärts.

Im Karolinentaler Hafen werden je vier Flöße zu einem Schleppzuge, dem
„Transport“, rangiert. Die beiden vorderen Prahmen werden mit zwei
Seilen an den Schleppdampfer gebunden und die vier Flöße mit einander
verknüpft. Jetzt ist für die Flößer Zeit zur Rast. Nur hie und da muß an
den Vorderrudern gearbeitet werden, damit man bei scharfen Biegungen des
Flusses nicht an das Ufer anrenne. Im übrigen wird jetzt bloß für das
eigene Wohl gesorgt. Steuermann und Flößer setzen sich auf die
Holzladung, die auf dem Floße ruht, und stecken ihr Pfeifchen in Brand.
Einer der Flößer richtet den Feuerherd her. Rasenstücke, die aus Prag
mitgenommen worden sind, werden auf der Holzladung hoch aufgeschüttet
und reichlich mit Wasser begossen. Dann klatscht der „Hafner“ mit der
flachen Rückseite einer Schaufel das Erdreich glatt, wobei dem anderen
Flößer einige andere Kotpatzen in das Gesicht fliegen, was von diesem
mit unvergleichlich prachtvollen Schimpfworten (Made in Podskal)
quittiert wird. Nun wird ein Stück von einem Rundbalken abgesägt, klein
gehackt, und bald flackert ein lustiges Herdfeuer über den Wassern. Die
irdenen Kochgefäße hat einer der an vielen Stellen heranrudernden
Marketender den Flößersleuten gegen ein stattliches Stück Buchenholz
eingetauscht. Jetzt brodelt Kaffee in den Gefäßen, dem ein verteufelt
starkes Quantum Rum beigemengt wird. Dann wird gejaust. Um die Fahrt
braucht man sich nicht zu sorgen.

Das gestaute Wasser ist still und unbeweglich. Lautlos fährt das
Vierfloß durch diesen Teich, und nur sein Vorderrand wird von leichten
Wellen umspült, die der vorauseilende Remorqueur verursacht. Fast
scheint es, als ob dadurch, daß dem Flusse die Strömung genommen wurde,
auch die Uferlandschaft ihrer Romantik verlustig gegangen wäre. Es fehlt
den Bäumen, deren Zweige auf das Wasser überhängen, es fehlt den
Sträuchern, welche die beiden Flußränder umrahmen, ein strömendes, an
das Ufer plätscherndes Wasser. Die ganze üppige Landschaft sieht
eintönig drein. Die Balken des Floßes schaukeln nicht, man spaziert auf
ihnen wie auf einem Parkettboden.

Um so mächtiger wirkt der Kontrast, wenn man durch die Schleusen fährt.
Etwa zweihundert Schritt vor dem Wehr wendet sich der Dampfer mit einem
schrillen Pfiff, die vier Flöße des Transports knüpfen sich von einander
und vom Remorqueur los, und fahren einzeln — eine Distanz von 400
Metern einhaltend — durch die Schleusen. Das ist ein Nervenkitzel. Man
möchte aufjauchzen während dieser Fahrt. Die Wellen schlagen hoch über
die Balken und peitschen das lodernde Herdfeuer, ohne es verlöschen zu
können, in das Geräusch der aus der Höhe zurückklatschenden Wogen mischt
sich das dumpfe Krachen der Randbalken der Floßtafeln, die in
ohnmächtiger Wut gegen die Steinwände des künstlichen Hohlweges Sturm
laufen und jeden Augenblick die Prahme zu zerschellen drohen. Einzelne
Balken sind durch das darüber schlagende Wasser verdeckt und es scheint,
daß die Binden entzweigegangen, das Floß in seine Bestandteile zerrissen
worden sei. Die Plattform der Prahme, die erste Floßtafel, ist
vollständig unter den schäumenden Wassermassen vergraben, trotzdem ein
am zweiten Floßgliede befestigter Mastbaum sie krampfhaft in die Höhe
zerrt. In der Mitte der zweiten Floßtafel steht der Steuermann, auf
deren rechtem und linkem Rande die beiden Gehilfen. Und wenn das Ende
der Schleuse nahe ist und die Vordertafel aus dem Wasser emportaucht,
dann rennen die drei in wilder Hast, der Wogen nicht achtend, die hoch
über ihre Wasserstiefel schlagen, zu den Steuerrudern. Es gilt nach
innen zu lenken, sonst würde die Gewalt des Schleusenwassers die
schwanke Prahme auf die Uferböschung treiben. Kaum ist das Wehr
passiert, so glätten sich die Wasser, die Balken ordnen sich wieder
parallel und an das Toben des Elementes, in dessen Mitte man sich eben
befunden, erinnert nur noch ein Blick nach rückwärts: Das nächste Floß
saust kämpfend die Schleuse hinab ...

Hinter jeder Schleuse sammeln sich die vier Flöße des Transportes
wieder, ein anderer Remorqueur wird vorgespannt, und es geht bis zum
nächsten Wehr.

In Jedibab, einem von Gott und Menschen verlassenen Nest, machten wir
Nachtquartier. Das Dörfchen liegt nicht einmal am Ufer, und man hat von
diesem noch gute 20 Minuten auf schlechten Wegen zu gehen. Aber Jedibab
hat das Glück 33 Kilometer von Prag gelegen und derjenige bewohnte Punkt
zu sein, welcher dem Nadelwehr von Wranian am nächsten liegt. Die Flöße
kommen nachts hier an, und da sie die Kammerschleuse nicht mehr
passieren können, so wandert die Bemannung in das Dorf, das auf diese
Weise zu einem gar nicht zu verachtenden Fremdenverkehr gekommen ist.
Man aß hier in der Schenke ein Stück warmen Brotes und trank ein
ebensolches Bier. Dann wurden Strohsäcke ins Wirtslokal geschafft und
man ging schlafen. Draußen peitschte ein scharfer Regen die
Fensterscheiben. Das nahmen die Flößer mit schadenfrohem Lachen zur
Kenntnis, denn einer von ihnen, der erklärt hatte, es falle ihm nicht
ein, das teuere Hotellogis (in Jedibab beträgt der Preis für das
Nachtlager 8 Heller, in einigen anderen Stationen wird nichts berechnet)
zu bezahlen, war draußen am Floße über Nacht geblieben. Die anderen
malten sich schon aus, wie sie ihn am Morgen uzen wollten. Aber dazu kam
es nicht. Als um ¼2 Uhr nachts aufgestanden und die Weiterreise
angetreten wurde, goß der Himmel noch immerfort Wassermassen auf das
Floß, das oben bald ebenso feucht war, wie unten. Die Balken waren naß
und glatt, bei jedem Schritte, den man machte, rutschte der Fuß aus und
man fiel in das tote Wasser zwischen den einzelnen Balken und Tafeln.
Finstere Wolken, die wie schwarze Berge aussahen, schienen wenige
Schritte vor dem Floße zu liegen und den ganzen Strom zu verstellen. Das
Floß fuhr weiter, aber da sich die Distanz zwischen ihm und den
schwarzen Bergen durch Stunden nicht verringerte und die Ufer in dem
Nebel nicht erkennbar waren, so sah es aus, als ob sich die Prahme nicht
von der Stelle rühre, als ob sie mit einer unsichtbaren Schregge
festgehalten würde.

Dabei knurrte der Magen. Im Jedibaber Restaurant haben wir früh weder
Kaffee noch Brot bekommen und an ein Feueranmachen auf dem Floße war in
dem gießenden Regen nicht zu denken. Proviant hatten wir nicht und kein
einziger schwimmender Marketenderwagen ließ sich blicken. Wenn ein
Gasthaus von der Ferne sichtbar wurde, dann brüllte der alte Flößer
Kolenský mit heiserer Stimme, der die Verzweiflung eine furchtbare
Gewalt lieh, sein „Pivo“ über Wasser und Land. Immer heiserer, immer
verzweifelter klang sein Sehnsuchtsschrei, und als er hinter der
Sprachgrenze, von Liboch und von Wegstädtl an, nach „Bier“ zu schreien
begann, tönte sein Ruf wie der Todesschrei eines verwundeten Hirsches.
Die Leute an den Ufern vernahmen das Flehen und eilten mitleidsvoll in
das Gasthaus, wo der Wirt ein Paar Gläser einschenkte und in den Kahn
einstieg, um zum Floße zu rudern. So sehr er sich aber auch beeilen
mochte — die Strömung war schneller und unser Floß war schon vorbei,
als er herankam. Der Wirt wartete in der Mitte des Stromes und bot dann
seine Biere der Bemannung der nächsten Flöße — unseres schwamm als das
erste — zum Kaufe an. Diese konnte natürlich nicht in jedem Orte Bier
trinken und am Abend erzählten uns die Flößer in der Schenke, wie die
Wirte auf den Booten geflucht, als ihnen das mit so viel
Eindringlichkeit bestellte Bier auf dem Halse blieb. Was aber können die
Flüche aller Wirte gegen jeden einzelnen Fluch bedeuten, den der
durstige Kolenský jedesmal ausstieß, wenn er sah, wie das von ihm
bestellte Bier den „Nachfahrern“ angeboten wurde!

Ein Anlegen des Floßes während der Fahrt — sei es wegen Sturmes,
Regengusses oder Hagelschlags, sei es infolge Hungers oder selbst
Durstes — gibt es nicht. Nur wenn der Flößer Feierabend machen muß,
weil es ihm die Vorschrift anordnet und weil er die Ufer nicht mehr
erkennt, hält er an. Er weiß, daß ihm die Reise als solche sehr gut
bezahlt wird (so erhält z. B. der Steuermann für die 2½ Tage währende
Fahrt nach Mittelgrund 59 K.), daß er aber auch an den Tagen, an denen
er sich auf keinem Holztransport befindet, daß er auch in den vier
Wintermonaten von seinen Reisehonoraren zehren muß. Er muß trachten, von
seiner Fahrt so bald es möglich zurück zu sein, um einen neuen
Holztransport zugewiesen zu erhalten. Das ist der oberste Grundsatz des
Flößers, und trotz des verzweifelten Durstes fiel es dem alten Kolenský
nicht ein, ein Anlegen des Floßes zu verlangen. Erst um 7 Uhr abends
nahmen wir, die wir um ¼2 Uhr nachts aufgebrochen waren, in Birnai,
einem Dorfe oberhalb Aussigs, unser Frühstück (einige Bierquargel) ein.

Um 1 Uhr nachts brachen wir wieder auf. Die Nacht, durch die wir
glitten, war dunkel, aber die machtvollen Zacken der Uferberge waren
sichtbar. Drohend und schwarz schob sich der zerklüftete Workotsch in
das nächtliche Elbtal hinein, rechts blickte der Schreckenstein noch
düsterer als sonst übers Land. Es war ein Anblick, den selten ein
Tourist zu genießen Gelegenheit hat, vom Niveau des Wassers die
wechselnden Schattenrisse des Elbpanoramas zu bestaunen. Eine Reise
durch eine Silhouettenlandschaft. Wenige Stunden später wurden auch die
Hänge der Uferlandschaften sichtbar, allerdings nur in dem bizarren
Rahmen der Nebelrisse. Als wir hinter Tetschen das Elbesandsteingebirge
erblickten, war schon die Morgensonne mit glänzendem Leuchten
aufgegangen und bestrahlte die Elbfluten und die seltsamen Felsgebilde
an den Ufern. Das ruhig dahingleitende Floß war wohl ein besonders
geeignetes Beobachtungsniveau für die Schönheit der Landschaft.

Ich bin auf der Elbe weitergefahren. Noch immer — jetzt bin ich in
Magdeburg — ist, wenn man von der stellenweisen Remorquage absieht, die
Elbströmung die einzige treibende Kraft für das Fahrzeug, dessen
Passagier ich bin. Auf meiner Fahrt habe ich manches herrliche Bild auf
den Elbufern gesehen, aber noch nichts hat die Pracht der Landschaft zu
übertreffen vermocht, die sich in der Heimat, von Leitmeritz bis über
die Grenzen des Nachbarlandes bis zur Bastei nächst Wehlen breitet.



                           Gäste der Polizei


„Departement für die öffentliche Sicherheit.“ So steht es auf dem
Torschild. Aber das ist ungenau, unpräzis. Sagt zu viel, also zu wenig.
Denn in das Gebiet der öffentlichen Sicherheit gehören auch Baubehörden,
Schieneninspektionen, Feuerwehren, Rettungsstationen, Kesselprüfungen,
Automobilvorschriften, Kutscherschulen und viele andere Dinge, mit denen
das Sicherheitsdepartement nichts zu tun hat. Immerhin bleiben ihm noch
mehr als genug Agenden. Und auf die Art dieser Agenden weist viel
deutlicher als die Aufschrift auf dem Schilde das Relief hin, das über
dem Tore prangt und eine Zusammenstellung dreier Symbole zeigt: Das
Richtbeil, das Fascesbündel und die Wage der Themis. Nun wird zwar hier
im Departement das Richtbeil nicht geschwungen, die Themis hat hier noch
nicht ihre wägende Tätigkeit zu entfalten und die Fasces, das Sinnbild
der strafenden Gewalt über Tod und Leben, dürfte eigentlich erst die
nächsthöhere Instanz, der Gerichtshof, mit voller Berechtigung im Wappen
führen. Jedoch das Sicherheitsdepartement ist Agentie und Werbeamt, und
wenn es durch seine Beamten und Detektivs nicht das Menschenmaterial
herbeischaffen würde, so könnten sich die symbolischen Manipulationen
mit Richtbeil, Fasces und Wage im allgemeinen nur auf die kleinen
Gauner, die genügsamen Dorfdiebe und die armen Landstreicher erstrecken,
welche die Gendarmerie dem Landesgerichte überantwortet.

Übrigens ist es die Verbrecherwelt nicht allein, auf die sich die
Tätigkeit des Sicherheitsdepartements erstreckt. Mit allerhand Anliegen
kommt man in diese Räume. Da ist ein ehrsamer Handwerksmann, der sich
seit einigen Tagen durch die Amtslokalitäten schleicht. Auf seinem Wege
muß er durch das Zimmer der Detektivs. Die kennen den wackeren Bürger
und schütteln die Köpfe: Wie der in den letzten Tagen gealtert ist! Der
Ankömmling geht zu dem Beamten, der die Vermißten und Wiedergefundenen
in Evidenz führt. Dieser, ein junger Polizeikonzeptspraktikant, kennt
schon des Alten Begehr und hat diesem schon einigemale den Bescheid
gegeben, daß man von dem Aufenthalte seines Sohnes, der nach mißglückter
Prüfung nicht mehr nach Hause zurückgekehrt ist, noch immer nichts
wisse. Heute aber ist die Nachricht da, eine Hiobspost: Die Leiche des
jungen Mannes ist aus der Moldau gezogen worden. Der junge
Polizeipraktikant spielt verlegen mit dem Bleistift. Wie soll er dem
Alten die furchtbare Botschaft beibringen. Er nötigt ihn, sich zu
setzen. Da weiß der bedauernswerte Handwerksmann schon alles.

„Tot?“, stößt er hervor. Und bald hält er das Telegramm in Händen, das
im Lapidarstil die Bestätigung der ärgsten Befürchtungen des Vaters
birgt.

„Tot“, schluchzt der Alte, „tot! Und ich bin schuld. Ich habe ihn
studieren lassen, damit er’s besser hat, wie ich! Tot!“

Am gegenüberliegenden Tisch wird ein Fall von grundverschiedener Natur
verhandelt, aber auch etwas, was mit der öffentlichen Sicherheit gar
wenig zu tun hat, auch etwas Unkriminalistisches im Kriminaldepartement.
An den Grenzen des Polizeirayons ist ein Weib aufgelesen worden, das
kaum viel mehr als einen Meter groß, taubstumm, irrsinnig und halbblind
ist und nun apathisch bei dem Tische des Kommissärs steht. Dieser hat
auf den ersten Blick gesehen, daß aus der Alten über ihre Identität und
Heimatszuständigkeit nichts herauszubekommen ist, und so setzt er sich
resigniert und schreibt zuerst einen kurzen Begleitakt an das
Taubstummeninstitut, wohin die Arme zunächst gebracht werden muß, damit
man dort versuche, mittels Zeichensprache ihr irgendwelche Angaben zu
entlocken. Aber im Taubstummeninstitut wird man die Alte nicht
behalten, weil sie irrsinnig ist, ebensowenig wie man sie in der
Landesirrenanstalt aufnehmen wird, weil sie taubstumm ist. Und so muß
ein zweiter Akt an den Magistrat abgesandt werden, der aus dem
Tschechischen ins Amtsdeutsch übersetzt, folgendermaßen lautet:
„Inliegend beschriebene, unbekannte Taubstumme wird zur Unterbringung in
das Gemeindearresthaus bis zur Feststellung ihrer Heimatszuständigkeit
in Empfehlung gebracht.“ Und dann muß die Beschreibung, die polizeiliche
Photographie, die Stilisierung der Notiz für den „Polizei-Anzeiger“
erfolgen. Unwillig brummt der Kommissär in den Bart: „Wenn nur die
Gemeindevorsteher in die Bluse solcher Kretins den Namen der
Heimatsgemeinde einnähen ließen, dann könnte man solche arme Leute
gleich per Schub nach Hause befördern, und alle diese Scherereien,
Schreibereien und Suchereien wären erspart!“ Ja, wenn! Aber das tun die
Gemeindevorsteher wohlweislich nicht, denn jeden Tag, der mit den
Recherchen verloren geht, hat die Gemeinde an Erhaltungskosten für den
lästigen Dorftrottel erspart!

Die Expediträume des Sicherheitsdepartements beherbergen gleichfalls
eine Gruppe unkriminalistischer Gäste. Fünf oder sechs Männer und eine
junge Frau stehen dort beisammen. Jeder hält eine Harfe in der Hand und
die gibt alles an — Legitimation, Heimatsort, Leidensgeschichte und
Begehr. Aus dem Harfenistenstädtchen Nechanitz sind sie, von wo die
böhmischen Wandermusikanten stammen, und ihre Schicksale sind die ewig
alten: Vom Impresario engagiert, ausgebeutet und ohne Entlohnung
verlassen, von den österreichischen Auslandsbehörden nach Prag
einwaggoniert, kommen sie ins Sicherheitsdepartement der Polizei, um
eine Reiseunterstützung zu erbitten. Jeder erhält eine Eisenbahnkarte
von Prag nach Königgrätz oder den Fahrpreis von K 4.40 auf die Hand. Und
von Königgrätz gehen sie zu Fuß ins Heimatsstädtchen und leben hier, bis
sie wieder ein Impresario engagiert, ausbeutet, ohne Entlohnung verläßt
... ad infinitum.

Selbst im anthropometrischen Kabinett kann man oft unkriminelle Leute
sehen, obzwar dieses, wie schon aus dem Namen und der daraus zu
deduzierenden Bestimmung ersichtlich ist, nur für die Rückfälligkeit,
beziehungsweise die zu befürchtende Rückfälligkeit der hier gemessenen
Verbrecher eingerichtet ist, und obzwar hier schon das Milieu, und die
Einrichtungsstücke darauf deuten, welche Beachtung man den Inhaftaten
zollt. Mit Kopfzirkeln, Ohrmessern, Meßkreuzen, Sitzhöhenmaßen,
Narbenmaßen, Fingerdruckkissen und dem übrigen Instrumentarium der
beiden Bertillons wird man doch nicht die Personaleigentümlichkeiten
bedauernswerter Bettler, harmloser Kretins und unterstützungsbedürftiger
Musikanten auf der Meßkarte verewigen! Gewiß nicht. Man braucht aber
auch nicht zu glauben, daß jedes halbwegs ehrliche Gesicht, das man hier
auf Ohren-, Nasenlänge und Pupillennuance mißt, gleich das Wort von der
„Verbrecherphysiognomie“ Lügen straft. Gar viele Abdrücke von
Finger-Papillarzügen, die in die Meßkarten-Registratur einverleibt
worden sind, müssen nie wieder hervorgeholt werden. Und der im
anthropometrischen Kabinett tätige Beamte hat schon von seinen Klienten,
besonders jenen, die im jugendlichen Übermut entgleisten, das Wort
gehört:

„Meine Maße werden Sie nie mehr brauchen!“

Das verrät, schon nach dem Tonfall, Selbstmordabsicht. Aber der Beamte
hat da einen alten Kniff. Er mißversteht absichtlich.

„Nun, es freut mich zu hören,“ bemerkt er wohlwollend, „daß Sie von nun
an alle derartigen Entgleisungen vermeiden wollen. Denn wenn Sie noch
ein zweites Mal hierher kommen, dann sind Sie für Ihr ganzes Leben als
Verbrecher gebrandmarkt.“

„Das bin ich schon,“ lautet die stereotype Antwort, „jetzt kommt es in
die Zeitungen, alle Leute erfahren es ...“

„Nun, wenn Sie mir Ihr Ehrenwort geben, daß Sie von jetzt ab ein
ehrlicher Mensch sein wollen, dann verspreche ich Ihnen, mich dafür
einzusetzen, daß Ihr Name nicht in die Zeitung kommt. Einmal ist
keinmal! Ihr Ehrenwort?“

Gar mancher gibt hier im anthropometrischen Kabinett das ehrenwörtliche
Versprechen. Und mancher hält es auch.

Wenn dann wirklich nach ein paar Jahren ein solcher junger Mann als
ehrlicher, tüchtiger Mensch in das Sicherheitsdepartement kommt, um sich
dafür zu bedanken, daß man ihn einst so vom Selbstmord abgehalten, dann
ist das auch ein unkriminalistischer Besuch bei der Kriminalpolizei. Der
einzige freilich, den man dort gerne sieht.



                            Café Kandelaber


Der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an, wenn ich so um fünf Uhr früh
beim Café Kandelaber mein Frühstück verzehre. Es ist zwar ein famoser
Trunk, der 80gradige, mit angenehm im Magen flammendem Rum vermengte
Tee, der hier kredenzt wird — aber er bleibt doch nur ein Frühstück,
ein verteufelt kategorischer Schlußpunkt nach einer schönen, kaum
begonnenen Nacht. Das ist es, was mich grollen macht. Ich bin bös auf
die ganze Welt. Es ist aber auch wirklich zu arg mit ihren
Einrichtungen. Jedes Schulkind weiß z. B., daß der Erfinder der
Dampfmaschine James Watt hieß. Weil dieser beim Brodeln eines Teekessels
auf die Idee kam, die Dampfmaschine zu erfinden. Auch schon etwas? Ein
anderer Erfinder, der wohl beim Vorbeifahren einer Dampfmaschine, sei es
einer Lokomotive oder einer Lokomobile auf die Idee kam, sie als
Teekessel zu verwerten, ist keinem Schulkinde bekannt, seinen Namen
meldet kein Lied, kein Heldenbuch. Und doch ist die Verwendung der
Lokomotive als Teekessel — das „Café Kandelaber“ — eine Erfindung, die
Hunderten von müden Pilgern im nächtlichen Prag die Wohltat eines
aufpulvernden, wärmenden Trankes gewährt. Der Name eines solchen
Wohltäters wird in der Weltgeschichte nicht verzeichnet! Ich muß meinen
Groll hinunterspülen.

„Frau Jemelka, noch einen Achtziggradigen, Zwanzigprozentigen um fünf,
etwas zum Aufweichen und zwei Retten.“

Frau Jemelka stellt ein Glas unter die Mündung des Messingrohres, dreht
den Hahn nach rechts und läßt die Essenz in mein Glas rinnen, in welches
nun das heiße Wasser kommt. Dann sucht sie mir eine Mohnbuchte zum
„Aufweichen“ aus und gibt mir zwei „Sport“. Sie weiß ganz gut, daß mit
der Bestellung der Retten — so wird der Ausdruck „Zigaretten“ in
vorgerückter Nachtstunde abgekürzt — nur „Sport“ gemeint sein können,
damit die Zeche die runde Summe von 20 Hellern ausmache.

Jawohl, bloß zwanzig Heller! Man zeige mir, bitte, ein Kaffeehaus, wo
für dieses Geld ein warmes Frühstück mit Mehlspeise und Zigaretten
erhältlich ist. Dabei habe ich noch die feinere Teesorte, die um 10
Heller — nobel muß die Welt zugrunde gehen! — getrunken und „Sport“,
statt der billigen und hier bedeutend stärker verlangten „Drama“
geraucht.

Frau Jemelka steckt das Zwanzighellerstück in eine Blechbüchse, die ihr
als feuer- und einbruchssichere Kassa dient. Zwölf Prozent gehören der
„Cafetiere“, die nicht selbständige Unternehmerin ist, sondern eine
Angestellte der Kleinschen Likörfabrik vom „Roten Stern“ in
Karolinental. Das fahrbare Teehaus ist Eigentum der Kleinschen Fabrik
und diese liefert die Essenz, die Tee, Rum und Zucker enthält. Den Erlös
der verkauften Quanten, abzüglich der Provision von zwölf Prozent, muß
Frau Jemelka abführen.

Keine Angst, die gesetzte, ins Pragerische transponierte Geisha kommt
trotz alledem auf ihre Kosten. Das ambulante Teehaus, das manchen
nächtlichen Passanten nährt, nährt auch seinen Mann. Im Winter kommen
die Bettmeider frierend zu dem Teeverschleiß, um sich an dem behaglichen
Koksofen zu wärmen, im Sommer aber gibt es zahllose Menschen, welche den
im Einkehrhaus „U valšu“ zu entrichtenden Logierpreis von 20 Hellern
als eine überflüssige Ausgabe betrachten, und lieber in der lauen Luft
der Gassen umherspazieren. Die statten dann dem „Café Kandelaber“
längere Besuche ab und geben oft dreimal so viel Geld aus, als das
Nachtquartier kosten würde.

Außerdem haben die Kandelaber-Cafetiers noch ganz gute Nebeneinkünfte.
Wenn irgend ein Neuling kommt — an der Frage nach dem Preise eines
Glases Tee ist er erkennbar — dann wird ihm statt der feinen, der 10
Heller-Essenz, die 8 Heller-Essenz gereicht, aber das Greenhorn muß den
teuereren Preis bezahlen. Oder wird der Hahn des Kesselrohres
zurückgedreht, bevor das vorschriftsmäßige Quantum der Essenz
herausgeronnen ist. Wehe aber, wenn der Teemann eine solche Manipulation
bei einem gewiegten Bummler in Anwendung bringen wollte! Der weiß ganz
genau, daß der rechte der beiden durch ein festes Schloß vor
Verfälschung oder Verwässerung durch den Kandelaberwirt geschützte
Kessel die teure, der linke Kessel die billige Essenz birgt, und der
wacht mit Argusaugen darüber, daß kein Tröpfchen der vorgeschriebenen
Essenzmenge im Rohre des Kessels bleibe. Der würde für einen
Übervorteilungsversuch Worte finden, die selbst in dem Milieu des Café
Kandelaber ihre Wirkung nicht verfehlen würden.

„Café Kandelaber.“ Eigentlich haben die gastlichen Lokomotiven, die in
der Nacht an den Straßenecken Station machen, offiziell einen anderen
Namen. „Ambulance heißer Getränke“ steht mit goldenen Lettern auf der
Wagenfront. Aber der Ausdruck hat sich nicht eingebürgert. Er trifft
auch nicht mehr so recht zu. Freilich ist das Teehaus ambulant, und um
die neunte Abendstunde kann man das nicht mehr ungewohnte, darum aber
nicht minder seltsame Schauspiel genießen, eine Lokomotive mit einer
vorgespannten Dogge durch die Straßen fahren zu sehen. Dann aber bezieht
sie ihren Standplatz, den sie jahraus, jahrein innehat, der Hund kuscht
sich zwischen den Rädern, und Wagen und Hund rühren sich bis zum
Morgengrauen nicht von der Stelle. Früher, vor etwa dreißig Jahren, war
das anders. Da fuhr der Teemann durch die Straßen und machte nur auf
Anruf eines hungrigen oder durstigen Passanten Halt. Dieses Geschäft,
das nur auf dem Zufall einer solchen Begegnung aufgebaut war, rentierte
sich nicht. So zogen sich denn die Kandelaber-Cafetiers resigniert an
die Ecken der Gassen oder an die Kandelaber der Plätze zurück. Und siehe
da! Kaum hatte sich der Planet in einen Fixstern verwandelt, so war er
schon beliebt. Da der Berg nicht mehr zum Mohammed kam, da kamen die
Mohammedaner zum Berg. Der Ausdruck „Café Kandelaber“, dessen beide
Worte so prächtig mit einander kontrastierten, wurde populär und er ist
dieser Erfrischungsstelle bis zum heutigen Tage geblieben, obwohl jetzt
eine Verwechslung möglich wäre, da sich ein findiger Wirt für sein
Nachtkaffeehaus in der Karlsgasse, dessen Stammgäste sich aus denselben
Gesellschaftsschichten rekrutieren, aus denen die Gäste der fahrbaren
Teehäuser stammen, den Namen „Café Kandelaber“ behördlich protokollieren
ließ.

Von da ab erfreuten sich die fahrbaren Teehäuser steten Zuspruchs. Die
Droschkenkutscher des nahen „Staffels“ und der gleichfalls dicht
benachbarte Würstelmann polemisierten und pokulierten, bis längst das
Licht auf der Höhe des städtischen Kandelabers verlöscht und die
Wagenlaterne des „Kaffeehauses“ angezündet war. Zu ihnen gesellten sich
Nachtvögel verschiedener Gattungen und blieben auch keine kürzere Zeit
stehen. Der Teewagen auf dem Altstädter Ring erfreute sich einer so
außerordentlichen Beliebtheit, daß sie dem Wirte sogar verhängnisvoll
wurde. Hier strömten nämlich zu der Zeit, als noch die Josefstadt
nicht assaniert und voll von niedrigen Beiseln war, nach der
Gasthaus-Sperrstunde verschiedene Leute zusammen, die hier ihre Affären
der Liebe, des Alkohols und des Verbrechens fortsetzten. Das ging gar
nicht leise und gar nicht ohne blutige Raufhändel ab. Das „Café
Kandelaber“ war fast täglich in den Rapporten des Altstädter
Polizeikommissariates erwähnt und schließlich verbot man dem Wirt diesen
Standplatz. Er durfte den Ring überhaupt nicht mehr passieren und erst
als die dunkelsten Häuser der Josefsstadt dem Erdboden gleichgemacht
worden waren, durfte er wieder in das gelobte Land einziehen. In der
letzten Zeit wird diese Geschichte in den Kreisen der „Kandelaber“-Gäste
besonders oft besprochen. Man glaubt, daß durch dieses seinerzeitige
Platzverbot ein Präzedenzfall vorhanden ist, der dem Teemann vom
Josefsplatz verhängnisvoll werden kann: Man werde ihm diesen Platz
verbieten, damit er dem Repräsentationshaus keine Konkurrenz mache.

Es ist fünf Uhr geworden. Schon graut der Tag und dem Leser. Ich muß
meine sachlichen Erwägungen schließen, wenn ich noch rechtzeitig zum
Five-o’clock-tea ins „Café Kandelaber“ kommen will.



                     Geschichten vom Brückenkreuzer


Man kann freilich von einer Brücke nicht verlangen, daß sie außer einem
Fluß auch noch die sozialen Gegensätze überbrücken soll. Aber die Prager
neuen Brücken verschärfen diese Gegensätze noch, denn die Armen haben
jetzt oft einen nahen Weg vor sich und müssen doch — um den
Brückenkreuzer zu ersparen — den Umweg über die älteste Brücke, die
unentgeltliche Karlsbrücke, machen. Durch die Prager Brücken werden zwar
die Stadtteile verbunden, aber die Bewohner dieser Stadtteile haben
keine Ursache dafür verbunden zu sein. Denn der Brückenkreuzer ist eine
Unbequemlichkeit für die Reichen, eine empfindliche Ausgabe für die
Armen. Jedesmal, wenn man in Prag eine Brücke schlägt, so schlägt man
dem modernen Verkehrswesen ein Schnippchen und die Logik aufs Haupt,
indem man je ein Mauthäuschen an die Brückenenden setzt.

Das Vergnügen, in den verschiedenartig duftenden Anlagen des Stadtparkes
und auf dem von Alpinisten sehr geschätzten Pflaster der Prager Straßen
zu promenieren, hat man ganz umsonst. Aber die Notwendigkeit über eine
Brücke zu gehen, die muß man bezahlen. Obwohl das Prager Pflaster noch
teurer ist als die Prager Brücken. Von der Verkehrshemmung, welche die
Einhebung der Brückenmaut bedeutet, gar nicht zu reden. Man stelle sich
vor, daß auf der Weidendammer oder auf der Potsdamer Brücke in Berlin
jeder Passant stehen bleiben, jedes Auto stoppen müßte, um zwei oder
fünf Pfennige zu bezahlen. Auch der gemütliche Wiener würde wohl
verteufelt ungemütlich werden, wenn er sein „letztes Kranl“ wechseln
müßte, um über die Aspernbrücke gehen zu dürfen.

Aber es wird uns doch ein Äquivalent für die Entrichtung des
Brückenzolls geboten. Das sind die Straßenbilder und die Geschichten,
die sich auf diese Institution gründen, und um die uns jede andere Stadt
beneiden muß. Hier fleht ein Bettelweib mit weithin hörbarem Weinen die
Gnade des Brückentyrannen an, dort nimmt ein kleines Kindermädchen den
ihr anvertrauten fünf Jahre alten Bengel keuchend auf den Arm, hier
schlängelt sich ein Gamin zwischen zwei Straßenbahnwagen auf die Brücke,
dort springt ein Prager „Pepík“ vor dem Mauthäuschen auf die
Elektrische, um jenseits des Häuschens wieder abzuspringen — alles, um
zwei Heller zu ersparen.

Auch andere Typen und Geschichten sind bekannt. Ein
Einjährig-Freiwilliger hat den Brückenkreuzer prinzipiell — „ich lasse
mir nichts schenken“ — bezahlt, trotzdem ihn die Uniform zu freiem
Eintritt berechtigte. Von dem Jungtürken, der es absolut nicht verstehen
konnte, wie ein fremder Mann auf offener Brücke von ihm ein Bakschisch
zu verlangen wage, und dem schließlich eine hundertköpfige Menschenmenge
zu Hilfe kam, war im November des vorigen Jahres in allen Blättern zu
lesen. Der uralte Ulk des Defilees im Gänsemarsch ist bei den Bewohnern
des Mauthäuschens gar nicht beliebt, weil sich diese die Mühe nehmen
müssen, die Teilnehmer des Zuges, für die der Letzte zahlen soll, genau
zu zählen. Zum Glück läuft der zahlungspflichtige Letzte gewöhnlich
davon, so daß ein Rechenfehler ohnedies gleichgültig ist. Es gibt viel
solcher Scherze.

                   *       *       *       *       *

Rückte da neulich ein Marsjünger in Zivilkleidern, nur an der keck über
dem linken Ohre baumelnden Mütze als k. u. k. Infanterist kenntlich, vom
Ernteurlaub nach Prag ein. An dem Smichower Ufer streckte ihm der
Zöllner begehrlich seine Hand entgegen. Der Urlauber aber verweigerte
die Zahlung des Tributs. Er sei Soldat und als solcher brauche er keinen
Kreuzer zu zahlen. Der Mauteinnehmer wies auf die Zivilmontur des
Widerspenstigen, dieser legitimierte sich mit seinem Urlaubsschein als
Angehöriger der Armee. Da die Frequenz auf der Brücke gerade sehr groß
war, so hatte sich bereits ein stattliches Häuflein von Zuschauern um
die streitenden Parteien geschart. Nun konnte der Zöllner erst recht
nicht nachgeben, wenn er nicht sein Ansehen einbüßen wollte. Aber auch
dem Krieger kam es nicht in den Sinn, der Klügere zu sein, und er
bestand auf seinem Schein. Wer weiß, welche Dimensionen der Rechtsstritt
genommen hätte, wenn nicht zufällig ein Einjährig-Freiwilliger des Weges
gekommen wäre, der in hilfsbereiter Weise für seinen Fahnenbruder zwei
Heller auf das Opferbrett der Stadtgemeinde niederlegte? Der also
losgekaufte Urlauber aber setzte seinen Weg nicht sogleich fort, sondern
eilte in die genau gegenüber dem Mauthäuschen auf der Brücke gelegene
Tabaktrafik. Er kaufte sich für die ersparten zwei Heller zwei
„Drama“-Zigaretten und zog, die eine „Drama“ zufrieden im Munde haltend,
die andere kokett hinter dem Ohre, unter dem Lachen des Publikums so
stolz über die Brücke, wie einst im Mittelalter siegreiche Belagerer
über die endlich heruntergelassene Zugbrücke in die Burg des Feindes
gezogen waren.

                   *       *       *       *       *

Einmal hatte einer meiner Couleurbrüder zur endlichen Bezahlung seiner
Schulden 200 Kronen erhalten. Kaum hatte er uns von diesem
sensationellen Ereignis auf unserer Bude, die sich in dem Gasthaus auf
der Judeninsel befand, in Kenntnis gesetzt, als wir auch schon
beschlossen, damit dem Brückenmann der Franzensbrücke einen Streich zu
spielen. Zehn Bursche wurden je mit einer Zwanzigkronennote beteilt,
selbstverständlich erst nachdem sie sich „auf Grand-Cerevis“ — die
Eidesformel beim Biertisch — verpflichtet hatten, sie wieder
zurückzustellen. Nun ging es dem Mauthause zu. Der erste von uns reichte
dem Zöllner die Banknote und dieser gab murrend 19 Kronen 98 Heller
zurück. Dann kam der zweite, und gleichzeitig streckten acht andere
Hände dem Mauteinnehmer die Banknoten zu. Der gute Mann war entsetzt.
„Es könnte doch einer für alle Herren zahlen,“ wandte er ein. „Wir
kennen einander ja gar nicht,“ war unsere Antwort. Nun wollte uns der
Einnehmer mit großmütiger Gebärde die Entrichtung erlassen. Aber wir
wollten uns keinesfalls unserer Prager Bürgerpflicht begeben, wollten
den Stadtsäckel nicht schädigen. Schließlich machte Meister Zöllner dem
Konflikt ein Ende, indem er sich in seine Hütte verkroch. Da mußten wir
denn doch von dannen, ohne unserer Bürgerpflicht Genüge getan zu haben.
Wahrscheinlich hat sich der Zöllner darüber ins Fäustchen gelacht. Wir
aber lachten laut.

                   *       *       *       *       *

Einmal zogen wir aus der „Quelle“ in Bubentsch nächtlicherweile nach
Prag. Als wir zum Kleinseitner Brückenkopf des Kettenstegs kamen,
schlief der Zöllner bereits den Schlaf des Gerechten und an seinem
Fenster war der Holzladen heruntergelassen, denn drüben am andern Ufer
versah der andere Mauteinnehmer — wie allnächtlich — für ihn den
Dienst. Schon wollten wir weckend an die Bude klopfen, als uns ein üppig
gelaunter Kommilitone davon abhielt. Er legte still einen Kreuzer auf
das Brett vor dem geschlossenen Schalter und befahl uns, ihm in einer
Distanz von einigen Schritten über die Brücke zu folgen. Bei der
Josefstädter Brückenmündung trat ihm der Zerberus mit heischender Hand
entgegen. Unser Freund tat sehr erstaunt. Er werde doch nicht zweimal
zahlen, man zahle doch nur beim Betreten der Brücke und das habe er
getan.

„Das ist eine Lüge,“ erklärte der Brückenhüter, „drüben ist ja
geschlossen. Sie müssen hier bezahlen.“

„Ob drüben geschlossen ist, geht mich nichts an. Darauf habe ich nicht
geachtet. Ich habe drüben bezahlt, wie ich immer beim Betreten der
Brücke zahle.“

Der Zöllner rief die heilige Hermandad herbei. Der Wachmann kam und mein
Freund verlangte die Sicherstellung des Mauteinnehmers, da er von diesem
durch das Wort „Lüge“ beleidigt worden sei. Der Zöllner leugnete nicht.

„Der Herr hat behauptet, drüben gezahlt zu haben und das ist eine Lüge!“

Unser Freund verlangte nun erregt, der Wachmann möge konstatieren, ob
der Kreuzer wirklich drüben liege. Dies werde bei der Verhandlung in der
Ehrenbeleidigungsklage das wichtigste Moment sein. Das sah der Wachmann
ein und war bereit mit unserem Freunde auf das jenseitige Ende der
Brücke zu gehen. Der Zöllner, der eine eventuelle Beeinflussung des
Polizisten vermeiden wollte, sperrte seine Bude und ging mit. Wir
hinterdrein. Als der Zug wieder glücklich auf der anderen Seite war,
erblickte man das künftige Corpus delicti: Der Kreuzer lag friedlich auf
dem Schalterbrett. Mit majestätischer Handbewegung wies unser Freund auf
ihn. Der Brückner war geschlagen. Schon wollte er mit mißmutiger Gebärde
den Kreuzer an sich nehmen, als unser Kommilitone herzusprang und ihn
einsteckte.

„Über eine Brücke, auf der man die Passanten derart behandelt, gehe ich
nicht. Wir gehen über die Elisabethbrücke.“ Und zum verdutzt dastehenden
Zöllner gewandt, fügte er hinzu: „Auf diese Weise treiben sie alle ihre
Kundschaften der Konkurrenz in die Arme.“



                     Der Chef der Prager Detektivs


„Der alte Lederer“, der Chef der Prager Polizeidetektivs, hat gestern,
am 30. März 1909, im Sicherheitsdepartement sein Pensionierungsgesuch
geschrieben, heute übergibt er es und morgen macht er schon keinen
Dienst mehr. Zum erstenmale seit 38 Jahren. (Von den Krankheitszeiten
abgesehen, die er im letzten Jahre zu bestehen hatte.) Nun hat er
ausgedient und geht in den Ruhestand. Die Kunde wird bei allen, die ihn
kennen — und die Zahl derer, die ihn kennen, ist immens — Interesse
erwecken; mit Bedauern sehen ihn wohl nur wenige aus dem Amte scheiden.
Er war bestgehaßt. Ein Bann, analog jenem, der vor Jahrhunderten den
Henker umsponnen, hat auch ihn, den „Spitzel“, den „Spion“, den
„Schnüffler“ umgeben. Dergleichen Charakterisierungsworte gebrauchte man
immer, wenn man in der Nacht einen Begleiter auf den alten Lederer
aufmerksam machte, wenn dieser, Stock und Hände auf dem Rücken haltend,
mit gebückter Haltung und patrouillierenden Augen über das Trottoir
wandelte. In den Spelunken hatte man ärgere Namen für ihn. Aber noch
keiner hat es gewagt, sie ihm ins Gesicht zu schleudern. Man hatte vor
dem Alten Respekt.

Revertenten und berufsmäßige Nachtwandlerinnen verschwanden, sobald sie
ihn von der Ferne sahen, mit größtmöglicher Akzeleration um die Ecke.
Und wenn er so gegen vier oder fünf Uhr früh in die Schenke „Zum Kranz“,
„Bei den 3 Sternchen“, im „Goldenen Zweier“, „Zur Schokolade“, „Beim
Frosch“ oder „Beim Banzett“ erschien, dann sprangen die auf den Tischen,
auf den Bänken oder auf dem Fußboden schlafenden Stammgäste beiderlei
Geschlechtes flugs auf, als ob der kommandierende General eine
Wachmannschaft beim Kartenspiel erwischt hätte. Die schlaftrunkenen
Augen der Nächtlinge blickten scheu auf den Gefürchteten und mit
heuchlerischer Devotion scholl ihm allerseits ein „Ruku líbám,
milostpane“ (Küss’ die Hand, gnä’ Herr) entgegen. Alle kannten ihn. Aber
auch er kannte alle. Sein Blick durchschnitt das rauchgeschwängerte
Lokal. Schon hat er einen erspäht, der aus Prag für immer ausgewiesen
ist. Er winkt ihm und ohne ein Wort der Widerrede zu dulden, nimmt er
den Liebhaber Prags bis zum nächsten Wachposten mit. Oder er schaut
jemanden an, den er nie zuvor gesehen: „Sie sind der R. S.!“ Aus den
Worten eines Steckbriefes hat er sich das Bild des R. S. konstruiert und
nun den Gesuchten erkannt. Das war seine Spezialität, Spürsinn oder
Routine?

Aber die Unbeliebtheit in den Verbrecherkreisen hätte ihm in den Kreisen
der gesetzmäßig lebenden Bürgerschaft Sympathie gesichert, wenn sich der
Detektivinspektor Lederer nicht aus beruflicher Pflicht auch in ein
Gebiet hätte einmischen müssen, in welches eine Einmengung spürender
Behörden mit vielem Rechte von der Allgemeinheit sehr angefeindet wird:
Das Gebiet der Politik. Für diese Idiosynkrasie gegen „Spitzeltum“ in
der Politik hat der alte Lederer am meisten leiden müssen. Erst während
der letzten Grabenkrawalle ist er in der Nähe des Spinka von einer
Gruppe tschechisch-nationaler Sozialisten erkannt und bedroht worden,
die Sozialdemokraten haben gegen ihn Gerichtsprozesse angestrengt und
sogar von deutscher Seite ist der eifrige Geheimpolizist einmal weidlich
durchgeprügelt worden. Noch dazu auf reichsdeutschem Boden. Das war am
Sonntag, den 12. Juli 1897. Die österreichischen Behörden hatten den
Egerer Volkstag verboten, aber damit nichts erreicht. Denn die
Teilnehmer zogen in hellen Scharen nach dem nahen bayrischen Städtchen
Waldsassen, um hier — von keinem „landesfürstlichen Kommissär“ gehört
und gestört — zu beraten und zu beschließen. Aber man hatte „oben“ um
so größeres Interesse an der Versammlung jenseits der schwarz-gelben
Grenzpfähle und — so zog Herr Lederer mit einer Kornblume im Knopfloch,
als unentwegter Alldeutscher gleichfalls nach Waldsassen. Aber er wurde
erkannt, und er, der was erfahren wollte, hat nur Schlimmes erfahren.
Auch sonst hat er zahlreiche Reisen in politischer Spürmission
unternommen, aber er muß hiebei von einem Mißgeschick à la Waldsassen
verschont geblieben sein, denn nur der eine tragikomische Fall ist
bekannt geworden. U. a. hat Inspektor Lederer bei Kaiserreisen in der
ganzen Österreichisch-ungarischen Monarchie als Auge des Gesetzes
fungiert und ist spähend auf den Spuren Wilhelm des Redseligen, King
Edwards und Milans des weiland Lebenslustigen gewandelt. Sogar ein
Sonnen- oder Löwenorden wurde ihm verliehen, zum Dank dafür, daß er den
Beherrscher des Perserreiches vor eventuellem Mißgeschick behütete.

Bei der Ausmittlung von Verbrechern hat er gute Dienste geleistet.
Freilich von moderner Kriminalistik, von Daktyloskopie und
Anthropometrie, von Kopfzirkeln, Meßkreuzen, Narbenmaßen und dem übrigen
Instrumentarium der beiden Bertillons verstand er ebensowenig wie seine
Klienten von Ehrlichkeit. Aber er erkannte seine Prager, Weinberger und
Žižkower Einbrecher an der Art, wie der Einbruch ausgeführt war.
Und verstand sie zu finden. Besonders in der Josefstadt, die vor ihrer
Assanation das Heim der Prager Kamorra gewesen war, kannte sich Lederer
— er war dort jahrelang Polizei-Wachkommandant gewesen — in jedem
Schlupfwinkel aus und jeden einzelnen Bewohner und jede einzelne
Bewohnerin der zahllosen Beisel mit Namen.

Aber auch in besserem Milieu ließ den Detektivinspektor sein Spürsinn
nicht im Stich. Da ließ er sich auch durch Eleganz und weltmännisches
Auftreten nicht blüffen. So hat er aufs Geratewohl einmal im Kaffeehaus
einen gutgekleideten Herrn nur deshalb festgenommen, weil er
champagnisierte und freizahlte. Der Herr protestierte. Aber der alte
Lederer ließ sich nicht irre machen. Im Sicherheitsdepartement wollte
man ihn schon ausschimpfen, daß er jemanden grundlos festgenommen habe.
Man forschte aber nach der Provenienz des Geldes und da stellte sich
heraus, daß der Arretierte ein eigenes Telegraphenamt in Nusle
inszeniert, aus diesem Geld angewiesen hatte und beheben ließ. Der Name
dieses Mannes ist seither in der Geschichte des Postbetruges Europas
geläufig: Plocek.

„Ich hab’ gleich gesehen, daß der das Geld nicht schwer verdient hat,“
sagte der alte Lederer, als er die Prämie für seinen Fang ausbezahlt
erhielt.

Er war bei allen Morden der letzten Jahre zur Stelle: beim Mord am
Omladinisten Mrwa, an der Juwelierin Gollerstepper, an den Mädchen Hruza
und Klima im Polnaer Walde, am Hotelier Wolf, am Liebespaar
Takacz-Hanzely zu Krtsch, am Schulmädchen Smrček, am Portier des
Gewerbemuseums Schaněl, am Gefangenaufseher Kaucky und an der
neuvermählten Frau Novotny in der Böhmerwaldgasse. Immer machte er sich
als einer der ersten auf die Suche. Manchmal mit Glück, manchmal mit
Unglück. Sein Name war in den Berichten über Prager Kriminalfälle
stereotyp. Darum geziemt es sich, das heutige Datum als das des Tages zu
registrieren, da der alte Lederer aufhört, seines Amtes zu walten.



                    Der Mann mit der Straßenspritze


Wenn es regnet, ist es naß. Besonders in Prag. Hier werden nämlich bei
Regen die Straßen besprengt. Manchmal während des Regens, manchmal nach
und manchmal vor dem Regen. In den beiden erstgenannten Fällen müßte man
nichts besonderes erblicken, weil man ja zu der Vermutung kommen kann,
der bekannte Satz, daß Feuchtigkeit des Erdbodens Regen zur Folge habe,
sei auch in der Umkehrung richtig. Aber daß man in Prag auch vor dem
Regen die Straßen besprengt, ist interessant. Es kommt ja auch nur
selten vor. Dann ist es aber umso interessanter.

Der Mann, dem die ehrenvolle Aufgabe obliegt, die Bazillen des Prager
Straßenstaubes mit den Bazillen des Prager Wassers in fruchtbaren
Zuchtverkehr zu bringen, ist näherer Beachtung wert. Sie wird ihm auch
zuteil. Dort, wo der Spritzenmann ist, dort ist auch die Straßenjugend.
Die kennt die Prager Spritzenschläuche ganz genau und weiß, daß sie
feine Löcher haben, durch die beim Spritzen hohe Wasserstrahlen in die
Luft steigen. Diese kleinen Löcher lassen sich bequem mit einem Finger
zuhalten und wenn man diesen wegzieht, so spritzt der dünne Strahl mit
verdoppelter Gewalt in die Höhe oder auf einen Passanten. Ja, das
Spritzen ist eine Lust für die jeunesse dorée der Straße. Aber auch
ältere Passanten, die ohnedies schon um der sengenden Sonnenglut willen,
sich nicht der Eile befleißigen wollen und die — die Abneigung der
Muhme Mephistos gegen das Staubschlucken teilend — lieber auf
besprengtem Pfade weiterwandeln wollen, bleiben stehen und schauen dem
Mann mit der Straßenspritze zu. Schon die Vorbereitungen, die dieser
trifft, wirken erfrischend. Ich glaube, dieses Straßenbild wäre ein
famoser Stoff für eine Pantomime. Sie wäre abendfüllend.

I. Akt. (Eine schmutzige Straße.) Leute treten auf, die sich den Schweiß
aus dem Gesichte wischen und dann die Taschentücher auswinden. Plötzlich
malt sich Begeisterung in ihren Zügen und freudigen Antlitzes weisen sie
in die rechte Kulisse. Aus dieser kommen zunächst barfüßige Knaben und
Mädchen mit Jubel und Tanz. Dann rollt ein Handwagen heran, der ein
großes Faß trägt. Der Wagen wird von einem Spritzenmann geschoben, ein
zweiter geht neben dem Wagen. Der Spritzenmann rekognosziert das
Terrain. Fragend blickt er seinen Genossen an. „Soll man hier spritzen?“
Die Antwort scheint eine verneinende Gegenfrage zu sein: „No, soll man
hier spritzen?“ Aber Passanten und Straßenjugend drängen sich an die
beiden Begleiter des Fasses heran und bitten flehentlich um einen
Gespritzten für das Straßenpflaster. Die beiden nicken Gewährung und
senken den Vorderteil des Wagens zur Erde. Die Zuschauer (auf der Bühne)
treten scheu zurück. Die Spritzenleute beginnen je eine Tabakspfeife
anzuzünden. Der Vorhang fällt langsam.

II. Akt. (Spielt eine halbe Stunde später. Personen: Wie im ersten Akt.)
Die Spritzenleute vollenden das Anzünden der Tabakspfeife. Sie nehmen
ein T-förmiges Eiseninstrument, das wie ein jugendlicher Galgen aussieht
und halb Schraubenschlüssel, halb Pfropfenzieher ist, vom Faßwagen und
heben mit der einen Zacke dieses Werkzeuges den Deckel des Hydranten in
die Höhe. Ein süßer Geruch steigt aus den Tiefen empor. (Das Orchester
spielt: „Das duftet nach Trèfle incarnat“ aus „Graf von Luxemburg“.) Der
Duft erfüllt das Theater. Die Zuschauer (auf der Bühne) verschwinden im
Hintergrund. Die Zuschauer (im Zuschauerraum) auch. Der Vorhang fällt
rasch.

III. Akt. Aus dem Faß wird durch dessen obere Öffnung ein Metallrohr
herabgenommen, das im Sonnenglanze glitzert, wie das Rheingold in der
Komischen Oper zu Wesseli-Mezimosti. Am Ende des Rohres hängt ein
Elefantenrüssel; aber es ist gar kein Elefantenrüssel, sondern ein
Spritzenschlauch. Das andere Ende des Rohres wird irgendwo in dem
Abgrund befestigt, aus dem die bereits beschriebenen unbeschreiblichen
Düfte steigen. Damit das T-Instrument sich nicht zurückgesetzt fühle,
schraubt man es gleichfalls an den Hydranten. Die Zuschauer denken nun
wie Schiller: Wohl, nun kann der Guß beginnen. Aber damit ist’s noch
nichts. Dem einen Spritzenmann ist das Feuer der Tabakspfeife
ausgegangen und er bemüht sich nun, ein Zündholz an einem Teile seiner
Hose anzuzünden. Der Vorhang fällt diskret.

IV. Akt. Die Pfeife brennt. Einer der beiden Spritzenleute kurbelt den
Miniaturgalgen, der andere packt den Spritzenschlauch, dessen Mündung
das Straßenpflaster zärtlich küßt. Wasserströme, welche die neue
hechtgraue Felduniform tragen, strömen durch den Schlauch und verwandeln
die Gegend um den Hydranten in eine romantische Meereslandschaft. Ein
schmuckes Dienstmädchen, einen Korb mit Eßwaren unter dem Arme, kommt
des Weges und lächelt den Wassermann an, der den Schlauch hält. Ein
Strahl der Freude zuckt über sein Gesicht und ein Strahl Wasser über das
ihre. Der Spritzenmann hat nämlich in seiner freudigen Erregung die mit
dem Schlauch bewehrte Hand erhoben. Auch die Eßwaren sind angenehm
besprengt worden und der Korb sieht aus wie ein volles Lavoir. Das
Mädchen schimpft. Die Spritzenmänner bleiben ihr die Antwort nicht
schuldig und gebrauchen einige Ausdrücke ... (Der Vorhang fällt über
Anordnung der Zensurbehörde sehr rasch.)

V. Akt. Es wird fortgespritzt. Alle Passanten erhalten eine Dusche
gratis. Hier erhält ein hellgelber Herrenüberzieher eine schön braune
Glasur, dort wird einem Panamahut Gelegenheit geboten, zu erweisen, ob
er wirklich wasserdicht ist. Mit Wilhelm Tell-artiger Sicherheit lenkt
der schlichte Bedienstete der Prager Kommune sein feuchtes Geschoß gegen
die wandelnden Ziele. Oft weiß er mit ein- und demselben Strahl mehreren
Ahnungslosen etwas von dem erfrischenden Naß der Moldau zuteil werden zu
lassen. Längst hat sich die Straße in das Schwarze Meer verwandelt —
der Spritzenmann arbeitet weiter, als gälte es den Kanal trocken zu
legen. Da fängt es zu regnen an. (Man verwende den Platzregen aus „Das
Weiße Rößl.“) Die Spritzenmänner freuen sich höchlichst, denn im Regen
ist die Arbeit viel angenehmer. Sie lassen aus dem Schlauche Wasser in
das Faß des Wagens laufen, damit sie mit Hilfe der bekannten Holzkannen
auch jene Straßenteile besprengen können, zu denen der Spritzenstrahl
nicht gelangen kann; wenn der Regen diese Stellen näßt, so gilt das
nicht. Das Faß ist bald gefüllt und nun kommt der Deckel wieder auf den
Hydranten, Röhre, Schlauch und Schraubenschlüssel wieder auf den Wagen.
Es regnet weiter — besonders faule Äpfel und Eier aus dem
Zuschauerraum. Der Vorhang fällt mit wolkenbruchartiger Geschwindigkeit.

Auf Hofbühnen und anderen großen Theatern kann man statt des Faßwagens
fahrbare Riesenspulen verwenden, um die sich der Spritzenschlauch
ringelt; die Aufführung verliert dadurch nicht an Lokalkolorit, da man
solche Spulen beim Besprengen der Prager Hauptstraßen verwendet. Anderer
Requisiten bedarf mein Mimodrama nicht. Trotzdem mir die Tantiemen ganz
gut zustatten kämen, sage ich den Theaterdirektoren ganz offen: Das
Stück braucht nicht sofort aufgeführt zu werden, denn der Stoff bleibt
dauernd aktuell. In Prag wurde seit jeher die Straßenbesprengung so
betrieben und wird auch weiter so betrieben werden. In den fünfziger
Jahren des vorigen Jahrhundertes haben diese Arbeit Leute besorgt,
welche von Feuerwehrmännern auf der Straße ad hoc engagiert worden waren
und unter deren Aufsicht spritzen mußten. Daß diese Leute die Sache
nicht mit jener virtuosen Sicherheit, nicht mit jener genialen
Schlauchtechnik betreiben konnten wie das wohlorganisierte städtische
Spritzenkorps von heute, liegt klar auf der Hand. Ist das nicht
Fortschritt genug? Ein Mehr wäre von Übel, hieße die Tradition
verleugnen. Und die Stadt Prag hält auf Tradition. Strahlend war früher
die Straßenbesprengung, strahlend soll sie auch in Zukunft sein. Das ist
eine Beruhigung für mich. Kann doch meine Pantomime nie veralten, wenn
die Männer, die spritzen, nie selbst „gespritzt“ werden.



                   Eine Nacht im Asyl für Obdachlose


Eine Minute von der Elisabethstraße entfernt, in der alltäglich Fiaker,
Automobile, Straßenbahnwagen, Equipagen und Droschken nach dem
Baumgarten hinausfahren, zweigt von der Klemensgasse die Neumühlgasse
ab. Sie ist keine Verkehrsstraße; vier scharfe Ecken bildend, kehrt sie
zur Klemensgasse zurück. Hier ist nichts mehr von Promenade, nichts mehr
von Luxusfuhrwerken zu merken. Nur wenige Passanten bevölkern sie.
Abends jedoch sammeln sich hier Gruppen von Menschen an, die des
Augenblickes harren, wo sich das Tor des Hauses Nr. 11 eröffnet, auf dem
in großen schwarzen Lettern die Worte „Útulna — Asyl“ stehen.

In diesem Haus, das Eigentum des Prager Asylvereines für Obdachlose ist,
habe ich gestern übernachtet. Bei einem Freunde, der in der nahen
Sametzgasse wohnt, hatte ich mich vorher in full dress geworfen. Den
Rock, den ich anhatte, hatte voriges Jahr unser Dienstmädchen einem
Bettler geschenkt, aber dieser hatte die Annahme des Geschenkes unter
schweren Beleidigungen abgelehnt. Wenn in dem Hut, den ich aufgesetzt
hatte, noch die Firmabezeichnung erkenntlich wäre, könnte man ihn als
famoses Mittel für Erpressungen verwenden: Der Hutmacher würde jeden
Betrag bezahlen, um diese seinen Namen tragende Schmach aus der Welt zu
schaffen. Der Rock hatte zwar keine Fasson, aber dafür hatte er auch
keine Farbe und Löcher, auf die jede Regimentsfahne stolz sein könnte.
Die Risse der Stiefel waren durch die in sanften Wellenlinien
hinabfallenden roten Socken teilweise verdeckt. Die Hosen — reden wir
nicht davon.

So ging ich, in den wahrlich nicht verwöhnten Gassen des Petersviertels
peinlichstes Aufsehen erregend, zum Asylhaus. Hier waren schon Gruppen
von Obdachlosen angesammelt. Einige saßen auf dem Geländer, das die
schmalen Anlagen der Klemenskirche umfriedet, andere auf den Stufen am
rückwärtigen Kircheneingang. Etliche standen vor dem Eingang eines
Gasthauses in der Klemensgasse, wieder andere an die Häuser der
Neumühlgasse gelehnt. Auch Frauen waren darunter. Im ganzen etwa 70
Leute. Ein Doppelposten der Polizei hielt Wache.

In der Gruppe, in der ich mich anstellte, war ein fünfzehnjähriger
Bauarbeiter, der gerade von seiner Fußwanderung aus Triest in Prag
eingetroffen war. Dann ein Prager Geschäftsdiener, elternlos und ohne
Verwandte, der ohne Stellung war. Vor anderthalb Tagen hatte er bei
einem ehemaligen Kollegen eine Suppe bekommen, seither hatte er
überhaupt nichts gegessen. Unter anderen Umständen hätte ich diese
Angabe vielleicht skeptisch aufgenommen. Aber hier konnte ich nicht
daran zweifeln. Was für ein Interesse hätte er gehabt, die Kollegen, die
gleich ihm arg im Bruch waren, zu belügen? Erwarten konnte er von ihnen
ja nichts. Ich versprach ihm meine Suppenportion für den Fall, als ich,
trotzdem ich kein Dienstbuch habe, in das Asyl eingelassen würde. Ich
hätte einen verdorbenen Magen und könne nichts essen. Seither wich der
Bursche nicht von meiner Seite, damit er in das gleiche Zimmer mit mir
komme. Seine einzige Sorge, die er fortwährend zu mir äußerte, war die:
„Ob man dich nur ohne Büchel hineinlassen wird?“ Von Zeit zu Zeit kamen
Besuche zu unserer Gruppe. Leute, die Arbeiter suchten. In meinem Leben
habe ich nicht so viele Engagementsanträge erhalten, wie vorgestern.
„Bist du ein Müllergehilfe?“ fragte mich ein wohlgenährter Herr, der auf
unsere Gruppe zugetreten war. Nein, ich sei kein Müllergehilfe. Damit
aber gab sich der Herr noch nicht zufrieden: „Willst du nicht in der
Mühle arbeiten?“ Ich müsse morgen abreisen, sagte ich und der Vertrag
war nun endgültig gescheitert.

Von den übrigen Aktionen, die nichts geringeres zum Zwecke hatten, als
meine wertvolle Arbeitskraft für verschiedene Unternehmungen, wie einen
Brückenbau, eine Schneiderwerkstätte etc. zu gewinnen, sei noch eine
erwähnt. Ein Bäckergehilfe kam zu mir: „Du bist ein Bäcker?“ Wieder
verneinte ich. „Das macht nichts,“ sagte jener. „Du könntest heute
nachts bei uns in der Werkstätte statt meiner arbeiten. Mein Mädel ist
heute früh nach Prag gekommen und ich möchte gern mit ihr ausgehen. Du
brauchst nicht viel zu machen, nur soll der Alte nicht merken, daß einer
fehlt. Ich gebe zwanzig Kreuzer.“ Ich erklärte, daß ich ablehnen müsse.
Ich hätte schon drei Nächte nicht geschlafen.

Die Arbeitgeber waren nicht die einzigen Personen, die um unsere Gunst
warben. Zwei Frauen traten auf einzelne von uns zu und boten uns
privates Logis an. Mich forderten sie nicht auf; ich sah sehr schäbig
aus. Aber auch bei den anderen hatten sie kein Glück, da ihre Forderung
zu hoch war. Je zwei hätten in einem Bette schlafen und jeder dreißig
Heller zahlen sollen. Ein jüngerer Wanderbursche ließ sich in
Unterhandlungen ein, aber ein erfahrenerer Genosse zog ihn zurück.
„Unsinn! Im Asyl schläfst du allein im Bett, zahlst keinen Heller und
kriegst noch zweimal Suppe.“ Da mußte denn die Wohnungsvermieterin
wieder abziehen.

Wir standen von ¾6 Uhr abends bis 7 Uhr. Dann wurde das Tor geöffnet,
entweder weil der Hausvater sehen wollte, wieviel Leute draußen seien,
oder weil irgend ein Angestellter des Asyls eingelassen wurde. Das
Öffnen des Tores war das Signal zur Vergatterung vor diesem. In weitem
Bogen drängte sich die Schar der Obdachlosen. Die Frauen wurden in die
erste Reihe gelassen. An sie schlossen sich, auf Anordnung eines alten
Kunden, zunächst die Leute, die schon tags vorher die Gastfreundschaft
des Prager Asylvereines genossen hatten. In den nächsten Reihen standen
die Obdachsuchenden, welche die Bestätigung ihrer Genossenschaft darüber
in Händen hatten, daß sie stellungslos und „auf der Walz“ in Prag seien.
Dann kamen diejenigen, die durch ihr Arbeitsbuch den Nachweis ihrer
Arbeitslosigkeit führen konnten und deshalb das Anrecht auf Annahme in
das Obdach der Obdachlosen besaßen. Zuletzt die Schar jener Burschen,
die zwar stellungslos waren, aber schon zwei oder drei Tage im Asyl
genächtigt hatten; sie wußten wohl, daß sie kaum wieder Einlaß finden
würden und berieten, wo sie im Falle ihrer Abweisung nächtigen würden.
Die einen schwärmten von einer sehr schönen Scheuer in Žižkow, die
anderen waren entschieden für den Stall eines Prager Einkehrhauses, wo
es allerdings drei Kreuzer Quartiergeld koste, wieder andere
propagierten eine Exkursion in den Kinskygarten oder den Karlspark.

Auch die drei anderen Schichten — jetzt waren auch die Obdachlosen,
diese untersten Repräsentanten der menschlichen Gesellschaft in
Gesellschaftsschichten geteilt — debattierten eifrig. Ein Alter, mit
schwarzem Bart und Havelock, führte das große Wort. Das Thema der
Debatte war nichts geringeres, als — die Frage der Landtagstätigkeit.
Es war die finanzpolitische Seite, welche diese in Lumpen gekleideten
Menschen am meisten interessierte. In der Naturalverpflegsstation hatte
man ihnen den Mangel verschiedener Gegenstände mit der Finanznot
begründet, und deshalb waren viele für die Flottmachung des Landtages,
aber einzelne waren dagegen, indem sie erklärten, wenn die Regulierung
der Landstraßen wieder in vollem Maße aufgenommen werde, dann gäbe es
wieder lauter Schikanen von seiten der Wegmeister.

Das neuerliche Öffnen des Tores machte diesen hochpolitischen Erwägungen
ein Ende. Man ließ die Frauen — größtenteils beschäftigungslose Feld-
und Fabriksarbeiterinnen — ein und schloß wieder. Dann, nach etwa zehn
Minuten die Männer. Ein Asylbediensteter rief die Gruppe aus. Einzeln
wurde man eingelassen, jeder mußte sich legitimieren. Bei der Gruppe
„Arbeitsbücher“ fand auch ich mich ein.

„Wo hast du dein Arbeitsbuch?“, fragte mich der Mann an der Pforte.

„Ich habe keines,“ war meine Antwort. „Ich komme aus Reichenberg und
wollte ins Spital. Aber man hat mich nicht aufgenommen, weil überfüllt
ist.“

„Warum fährst du nicht zurück?“

„Ich habe kein Geld. Auf der Polizei werden sie mir ein Rückreisebillett
geben. Aber erst morgen. Nachmittag wird nicht amtiert, und da haben sie
mich hergeschickt.“

„Wer hat dir das gesagt, daß du hergehen sollst?“

„Der Offizial S...“ Ich nannte den Namen des Beamten, der die
Reiseunterstützungen aushändigt, und dies genügte, um den Auguren von
der Richtigkeit meiner Aussage zu überzeugen. Aber er hatte noch eine
Besorgnis:

„Weshalb wolltest du ins Krankenhaus?“

„Ich habe Herzschwäche.“

Er sah mir forschend ins Gesicht, ob ich wirklich krank sei. Nun aber
war ich — welche ein Zufall! — ausnahmsweise, ganz ausnahmsweise in
der vorigen Nacht „auf dem Flam“ gewesen und war blaß. Da ließ er mich
denn aus Mitleid ein. „Ein Neuer!“, rief er einem anderen Bediensteten
zu, der auf der anderen Seite des Tores stand und Protokoll führte. Ich
gesellte mich zu den anderen Obdachlosen, die sich im Hausflur drängten.
Der Asylbedienstete wandte sich nun an die, die draußen harrten. „Ist
noch jemand, der noch nicht zwei Nächte hier war?“ Keine Antwort. „Gute
Nacht, hochgeehrte Herren,“ mit diesem ironischen Gruß schloß er das
große Tor. Nun stellte sich ein Angestellter des Asyls auf die erste
Stufe der Wendeltreppe und ordnete an:

„Stiefel abputzen, Hemdkragen öffnen, paarweise antreten!“

Geräuschvoll wurde diesem Befehle Folge geleistet und vom ersten Stock
erscholl die zweite Order:

„Die beiden ersten herauf!“

Nach etwa einer Minute: „Die beiden nächsten herauf.“ Und so fort. Oben
wurden alle eingehend nach Ungeziefer untersucht. Von Zeit zu Zeit hörte
man von oben Schimpfen und Protestieren, und dann kam immer ein
Obdachloser wieder die Treppe herunter: Man hatte bei ihm das Gesuchte
gefunden ... Das Tor öffnete sich und der Paria ward entlassen. Ich war
mit dem hungernden Handlungsdiener im Paar. Man fand nichts bei mir, und
meiner Aufnahme stand nichts im Wege. Man wies mir ein Bett an.

In einem kleinen Zimmer, in dem vier Betten standen, wurde ich
einquartiert. Meine Zimmergenossen zogen ihre Stiefel aus und nahmen je
ein Paar der harten Lederpantoffeln, die auf dem Eisenofen lagen. Ich
zog gleichfalls die „Batschkoren“ an, setzte mich aber dabei auf das
Bett. Das war ein Fehler, denn ein zufällig in das Zimmer tretender
Angestellter des Hauses fragte mich sofort, ob ich eigentlich glaube,
daß ich im Spital sei. Ich vermutete, daß dies eine rhetorische Frage
sei, und beantwortete sie nicht. Damit gab sich der Asylbedienstete
nicht zufrieden.

„Du bist aber ein Häuschen“ (hajzl), meinte er. Was er damit sagen
wollte, weiß ich nicht, aber ich vermute, daß dies ein Schimpfwort
gewesen sei, da er gleich darauf die Mitteilung hinzufügte, daß ich ein
„Bastard“ (parchant) sei. Diese Angabe ist unrichtig; doch der
Asylbedienstete konnte sich ja irren. Wieso er aber von mir behaupten
konnte, daß ich ein „Lausbub“ (všivák) sei, während doch die
unmittelbar vorhergegangene Untersuchung vollständig negativ verlaufen
war, ist mir unverständlich. Trotzdem habe ich es unterlassen, den
Asylmann zu kontrahieren. Für einen künftigen Ehrenrat, der mich
eventuell dafür zur Verantwortung ziehen würde, daß ich grundlose
Beschuldigungen nicht mit der ritterlichen Forderung durch die Waffe
beantwortet habe, sei gleich vorweg bemerkt, daß meine Kartellträger in
das Asylhaus überhaupt nicht eingelassen worden wären, da man eines
Arbeitsbuches oder des Nachweises einer Gewerbeausübung unbedingt zum
Eintritte bedarf.

Der Asylbedienstete, dessen Groll ich mir zugezogen hatte, kam nach
einer Pause von etwa zehn Minuten wieder in unser Zimmer. Diesmal war
seine Mission viel sympathischer. Er legte jedem von uns ein Stück Brot
auf das Bett und bestimmte dann zwei von uns zum Holen der Suppe. Ich —
war ich doch sein Feind! — war einer von den zweien. So ging ich denn
mit meinem Arbeitsgenossen die Stiegen hinunter in den ebenerdig
gelegenen Küchenraum. Hier stand ein Holztablett für uns bereit, das mit
fünf gefüllten Blechtassen beladen war: die Suppe. Wir beförderten die
Ladung in unser Zimmer. In den Blechtassen stak kein Silberlöffel,
sondern bloß ein schlichter Zinnlöffel, was wohl der Grund dafür gewesen
sein mag, daß jeder meiner Zimmergenossen den Gebrauch des Löffels
verschmähte und den Inhalt direkt aus der Schale trank. Ich verkostete
einen Löffel und erfüllte dann das Versprechen, dem hungrigen
Handlungsdiener meine Suppenportion zu schenken, leichten Herzens.
Leichten Herzens, weil mich die ungewohnte Auftischung des Kuverts
beeinflußt hatte. Den anderen aber schmeckte die Suppe ganz famos, wie
an ihren behaglichen Mienen zu erkennen war.

Ich benützte die Souperpause, um in den Räumen des Asyls Umschau zu
halten. Einzelne Zimmer waren doppelt so groß wie das unsrige und
beherbergten dementsprechend die doppelte Anzahl von Betten. Im ganzen
sind in den beiden Stockwerken, die für die Männer bestimmt sind, 78
Betten untergebracht. Es sind eiserne Kavalets, die einen Strohsack,
einen Roßhaar-Kopfpolster, eine benähte Drillichdecke und ein ziemlich
reines Leintuch enthalten. Überhaupt herrschte auf den Wänden und
Fußböden der Schlafsäle, auf den Gängen, Stiegen und auf der die ganze
Front umgebenden Pawlatsche eine peinliche Sauberkeit — kein Wunder bei
der eisernen Disziplin, über die ich kurz vorher in so energischer Weise
belehrt worden war.

Als die Suppe verzehrt und die Holztasse samt den Suppennäpfen unter
meiner Mitwirkung wieder in die Küche getragen worden war, setzten wir
uns auf die Stühle, und es begann die Konversation. Schon die Art des
Bekanntwerdens war eine viel bessere, als sie in der Gesellschaft üblich
ist. In den Salons geschieht die Vorstellung durch eigene Initiative,
sie ist aufdringlich, jeder gleichgültige Mensch stellt sich jedem
gleichgültigen Menschen vor und nennt seinen gleichgültigen Namen, der
überhaupt nicht verstanden wird. Im Asyl fragt einer den anderen: „Was
für einen Beruf hast du?“ Mit der Antwort ist alles Wissenswerte über
den Schlafgenossen gegeben. Nach dem Namen wird nicht gefragt. Namen
sind Schall und Rauch.

Ich erfuhr, daß mein Bettnachbar zur Linken ein Kanalräumer,
beziehungsweise ein Kutscher sei, der nur in den letzten vierzehn Tagen
mangels anderer Beschäftigung der Prager Gemeinde nächtlicherweile beim
Entleeren der Kanäle behilflich gewesen, aber gerade tags vorher wegen
allzu großer Trunkenheit im Dienst entlassen worden war. Er war übrigens
nicht bös darüber: „Länger als vierzehn Tage bin ich ohnedies seit zehn
Jahren in keiner Stadt gewesen.“

Das Bett zu meiner Rechten hatte mein neuer Freund, der Handlungsdiener
inne, links von dem Kanalräumer war ein Zuckerbäckergehilfe aus Hartburg
bei Graz, der von dort geradewegs zu Fuß nach Prag gekommen war. Bei
diesem kam ich durch ungeschickte Beantwortung seiner Fragen in den
Verdacht ein Protz zu sein. Er fragte mich nämlich, ob ich schon in
Hamburg gewesen sei und ich bejahte.

„Wie ist’s dort im Asyl?“

Ich mußte wahrheitsgemäß antworten, daß ich dies nicht wisse. Ich hätte
bei einem Freunde geschlafen, sagte ich.

„Und wie weit ist es von hier?“

„Zu Fuß?“, schlüpfte mir als Gegenfrage aus dem Mund und das war dumm.

„Willst mi eppa pflanzen?“, fuhr er mich bös an. „I wer doch net im
Fiaker hinfahren!“

Zum Glück machte der Kanalräumer, der sich auch Jahre lang in
Deutschland herumgetrieben hatte und nicht nur deutsch, sondern auch
italienisch — der Verkehr mit den italienischen Erdarbeitern brachte
das mit sich — verstand, weiteren Angriffen des steirischen
Zuckerbäckers gegen mich ein Ende. Er teilte ihm mit, daß er von Prag
nach Hamburg etwa zwölf Tage zu gehen habe, wenn er täglich fünfzig
Kilometer zurücklege. In Hamburg gebe es zwei Asyle, er möge aber nicht
in das Polizeiasyl gehen, denn dort werde jeder Kunde photographiert.
Auch im Asyl der Magdeburger Arbeiterkolonie möge er sich nicht
aufhalten; dort müsse man vor der Aufnahme das Arbeitsbuch abgeben und
müsse Holz sägen und hacken, „ärger wie im Arbeitshaus.“ Dann gab der
Kanalräumer dem Zuckerbäcker noch einige geographische Ratschläge. Er
beschrieb ihm den Weg, den er einschlagen müsse, um vier Heller Überfuhr
zu ersparen, und nannte ihm die Straßen, auf denen gute Zwetschken zu
erhaschen seien. Auch über die Schubverhältnisse, über die Handhabung
des Vagabundagesetzes und über die Naturalverpflegsstationen und die
Herbergen in den einzelnen Orten sagte er dem Zuckerbäcker manch
kräftiges Wörtlein.

Während des Gespräches zog der Kanalräumer wiederholt ein Fläschchen aus
der Tasche und stärkte sich. Schließlich war der Schnaps alle.

„Hol’s der Teufel, daß man hier kein Bier kriegt,“ brummte der
Kanalräumer wütend.

„Ich wär’ wieder froh, wenn ich rauchen könnte,“ sagte ich, um etwas zu
sagen.

„Hast du denn ein Stückchen Zigarette?“ meinte jener mit lauerndem
Blick. „Ich würde mich draußen einsperren und rauchen.“

Ich brach in der Tasche eine „Sport“ in die Hälfte und reichte meinem
Schlafgenossen eine Hälfte. Der hatte sie kaum in der Hand, als sich
schon der Zuckerbäckergehilfe an ihn herandrängte und ihn flehentlich
bat: „Schenk mir ein Stückel.“ Da wurde denn die halbe Zigarette redlich
geteilt.

Um 9 Uhr verlosch das Gaslicht. Ich benützte die Dunkelheit, um mich in
Kleidern auf das Bett zu werfen. Während der Nacht schloß ich kein Auge.
Rechts neben mir schnarchte der postenlose Geschäftsdiener wie ein
Lokalbahnzug, links neben mir stieß der Kanalräumer in seinem
alkoholschweren Schlaf wüste Drohungen gegen irgend ein Mädel aus, von
dem er träumte. Aus dem Nebenzimmer drang in Intervallen von je zwei
Minuten ein Husten herein, als ob der Mann zu ersticken drohe. Es
dauerte lange, lange bevor es sechs Uhr wurde. Endlich aber schrillte
eine Glocke: Reveille. Alles kleidete sich an und machte das Bett
zurecht. Bald darauf kam der Aufseher und besah das Werk kritischen
Auges. Hier fand er die Decke zu wenig geglättet, dort war das Leintuch
unten zusammengefaltet, statt unterhalb des Kopfpolsters. Schließlich
verließ er uns, um auch die Nachbarräume mit seiner Inspektion zu
beehren. Als er wiederkam, legte er jedem von uns einen „Pandur“, einen
runden Wecken, auf das Bett und wir durften wieder Suppe holen.

Nach einer halben Stunde ertönte ein lauter Ruf des Asylvaters:
„Magazin!“ Das war das Aviso für die Obdachlosen, sich um den bis dahin
versperrten Schrank zu scharen und daraus die Ranzen und Kofferchen in
Empfang zu nehmen, die sie hierher in Verwahrung gegeben hatten. Um 7
Uhr wurde das Tor geöffnet und der Strom der Obdachlosen mündete wieder
in die Stadt. Der Doppelposten der Polizei stand wieder da und schaute
uns mißtrauisch an.

Die meisten der Obdachlosen begaben sich zunächst in die
Arbeitsvermittlungsanstalt im „Alten Gericht“, dann in jene von
Žižkow. Ohne das Visum dieser beiden Institute finden sie anderswo
weder eine Genossenschaftsunterstützung, noch Aufnahme im Asyl. Ich
schlich mich wieder in das Haus in der Sametzgasse, in dem mein Freund
wohnte. Der Hausbesorger und die Hausbewohner, die mir begegneten,
blickten mir mit unverhohlenem Mißtrauen nach, bis mir die Wohnungstüre
geöffnet wurde. Nun restaurierte ich mich so weit, um kein Refus von
seiten eines Droschkenkutschers erwarten zu müssen und fuhr dann nach
Hause. Hier angekommen, telephonierte ich ins Bureau, daß ich wegen
Unwohlseins fernbleiben müsse. Ich gedachte einen langen Schlaf zu tun.
Vorher habe ich aber noch gründlich gebadet — eine Tatsache, die zwar
selbstverständlich ist, die ich hier aber im Interesse meiner nicht
obdachlosen Bekannten doch hier besonders registrieren will.



                     Das Lied vom Kanonier Jaburek


An den Korridorwänden in den Kasernen hängen Schlachtenbilder, Porträts
ruhmreicher Feldherren, Gedenktafeln für gefallene Soldaten des
Regiments. Alles in schönen Rahmen. Dann hängt noch in jedem
Kompagniegang ein „Verzeichnis der Gastlokale, deren Besuch der
Mannschaft untersagt ist“. Diese Tafeln haben den schönsten Rahmen. Mit
Recht. Denn in Friedenszeiten kann der Soldat seinen kriegerischen Sinn
und seine persönliche Tapferkeit nirgends so gut erweisen, wie in den
Wirtshäusern. Und in den „Gastlokalen, deren Besuch der Mannschaft
untersagt ist“, wurde eben dieser kriegerische Sinn und diese
persönliche Tapferkeit ruhmreich erprobt. Also ist es nur löblich, daß
dieses Verzeichnis der Kriegsschauplätze und Schlachtfelder kostbar
eingerahmt wird.

Die Schlachten werden manchmal gegen Zivilisten geführt. Diese sind aber
verächtliche Gegner. Sie haben keine Waffen. Man wirft die Kerle einfach
hinaus, und gut ist’s.

Ernster ist es schon, wenn sich zwei Teile unserer Armee, jener, der dem
Reichskriegsminister, und jener, der dem Landesverteidigungsminister
untersteht, wacker bekriegen. Wer nie einen Fernkampf der Biergläser,
oder einen Nahkampf der Ohrfeigen mitgemacht hat, der sich zwischen den
Angehörigen der Landwehr und jenen des Heeres entsponnen hat, der kennt
Euch nicht, Ihr himmlischen Mächte, die Ihr von Zeit zu Zeit die
Militärbehörden veranlaßt, das Verzeichnis der verbotenen Gastlokale um
eine neue Nummer zu bereichern.

Ob es nun bei Trunk oder Tanz ist — immer kommt die Rivalität zwischen
den Teilen der Wehrmacht zum Ausdruck, immer ist diese in zwei Gruppen
gespalten. Ja, selbst wenn eines jener Soldatenlieder, deren Absingung
im Felde die Offiziere nur nach Gewaltmärschen nachsichtig und
stillschweigend dulden, im Wirtshause angestimmt wird, stört die
friedliche Gruppe durch ein anderes Lied die Harmonie der Stimmen. Nur
eine Ausnahme gibt es: Das Lied vom Kanonier Jaburek. Zu dessen Gesang
vereinigen sich Landwehrmänner mit Heeressoldaten, die Träger der
schwarzen mit jenen der grauen Mützen, Infanteristen und
Sanitätssoldaten, die Soldaten, die Wunden schlagen, und die Soldaten,
die Wunden lindern, die Pioniere, die im Kriege Bauten errichten, und
die Artilleristen, die im Kriege Bauten zerstören. Es ist ein
hochheiliger Kantus.

Die einmütige Ehrung, die dem Liede zuteil wird, ist ein Beweis von Sinn
für kriegerische Heldentaten. Denn der Kanonier Jaburek, über dessen
Persönlichkeit leider weder das deutsche, nach das tschechische
Konversationlexikon etwas zu verzeichnen wissen, ist ein Mann, gegen den
die anderen Helden der Kriegsgeschichte aller Zeiten und Völker ein
Nichts darstellen. Der vielbesungene Leonidas zum Beispiel hat bei der
Verteidigung des Engpasses von Thermopylae — wie ein zeitgenössisches
Marterl meldet — nicht anders gehandelt, als „wie das Gesetz es
befahl“. Aber der Kanonier Jaburek! Wo steht im Wehrgesetz geschrieben,
daß jemand, dem der Kopf wegfliegt, sich noch entschuldigen muß, daß er
seine Hände nicht salutierend an den Kopf legen könne, wo steht im
Exerzierreglement, daß jemand ... aber dem Liede sei nicht vorgegriffen.

Die Epopöe hat siebzehn vierzeilige Strophen und ist in
tschechisch-deutscher Sprache abgefaßt. Eigentlich ist sie tschechisch,
aber sie ist von militärischen Ausdrücken, wie „Feuerwerkr“, „Kmán“
(Gemeiner), Lunte, „meldovati“ und deutschen Flüchen derart durchsetzt,
daß vom Tschechischen nicht viel übrig bleibt. Komponist und Textdichter
des Liedes sind, wie jene des Liedes „Prinz Eugen, der edle Ritter“,
nicht bekannt. Das Lied vom Kanonier Jaburek behandelt — wie vielleicht
schon der Name erraten läßt — die Geschichte des Kanoniers Jaburek.
Dieser hat in der Königgrätzer Schlacht im dichtesten Kugelregen,
während sich Gemeine, Chargen, Offiziere, Pferde und Kanoniere (man
beachte die Reihenfolge dieser Rangsliste) in ihrem Blute wälzten,
seinen Heldenmut bewährt:

   „Bei der Kanone dort
   Stand er und lud in einem fort,
   Bei der Kanone dort
   Stand er und lud noch fort.“

Jedesmal wenn eine seiner zwei Zentner schweren Kanonenkugeln in die
preußischen Reihen einschlägt, hört man auf der Gegenseite auf Jaburek
fluchen. Aber dieser schießt weiter. Der General, der von Jabureks
tapferem Verhalten gehört hat, eilt herbei und bietet diesem einen Trunk
aus seiner Feldflasche an. Aber der Kanonier weist die freundliche
Aufforderung mit der noch freundlicheren Aufforderung ab, der General
möge seine Spassetln für sich behalten, ihm auf den Buckel steigen und
ihn weiter schießen lassen:

   „Bei der Kanone dort
   Stand er und lud in einem fort etc.“

Der Held schießt wie ein Wahnsinniger und zertrümmert ein feindliches
Regiment. Kronprinz Friedrich von Preußen reitet vorbei und sieht den
Recken — oder, um mit den Worten des Liedes zu sprechen:

   „V tom ho viděl kronprinc Friedrich:
   Her je den Kerl erschieß ich.“

Der Kronprinz selbst feuert gegen Jaburek, und die ganze preußische
Armee erwählt sich das gleiche Ziel, um sich beim Kronprinzen
einzuschmeicheln. Eine Kartätsche fliegt dem Artilleristen durch den
Mund in den Magen, aber der Getroffene nimmt sie schnell wieder heraus
und schießt ruhig weiter. Eine gegnerische Petarde reißt dem Schützen
beide Arme ab, doch er zieht schnell seine hohen Stiefel aus und schießt
mit den Füßen weiter. Schon aber kommt, von einem preußischen
Freiwilligen („prajský frajbilik“) gefeuert, ein Shrapnell herangeflogen
und reißt Jabureks Kopf ab. Der Kopf fliegt am General vorbei und meldet
diesem im Vorübergehen, daß er nicht salutieren könne. Aber Jaburek
selbst steht noch immer bei der Kanone dort und ladet in einem fort.
Endlich wird seiner Aufopferung eine Grenze gesetzt: Der Feind schießt
auf seine im Fluge befindlichen Geschosse, und diese fallen in die
eigenen Reihen zurück. Da gibt Jaburek das Laden auf (bei dieser Strophe
soll der Refrain entfallen), er packt seine Kanone und eilt aus der
Schußlinie. Dafür aber — für die Rettung der Kanone nämlich — wird er
geadelt und heißt von da ab „Edler von die Jaburek“. Er hat jetzt den
Adelsstand, und über das Fehlen seines Kopfes tröstet er sich mit dem
Bewußtsein, daß — das Lied schließt sehr gehässig — die kopflosen
Adeligen angeblich doppelt geachtet seien. Auf seinem Wappen stehen die
Worte:

   „Bei der Kanone dort
   Stand er und lud in einem fort,
   Bei der Kanone dort
   Stand er und lud noch fort.“

Dieses ist das Lied vom Kanonier Jaburek, dessen Namen die
Kriegsgeschichte verschweigt. Aber sein Ruhm lebt im zechenden
Soldatenkreise weiter, und jedesmal wenn das Lied den Refrain „laden“
bringt, nehmen die Sänger dem tapferen Recken zu Ehren eine stärkende
Ladung zu sich. Und das Lied hat siebzehn Strophen.



                     Die Erlaubnis zum Fußballspiel


Mein kleiner Bruder kam gestern aus dem Gymnasium nach Hause.

„Heute ist uns erlaubt worden, in einen Fußballklub einzutreten.“

So, so. Ich habe diesen Beschluß des Landesschulrates schon gekannt.
Aber doch ... Das, was da den Gymnasiasten aus dem schwarzen Buche
vorgelesen worden ist, war der Epilog für eine Zeit, die erfüllt war von
einem monomanen Fanatismus der Jugend, für eine Zeit, deren Bedeutung
längst über den Rahmen der Sportrubrik hinausgewachsen ist. Die
Regierungszeit des Fußballs ist beendet. Le roi est mort.

Man darf jetzt in einen Fußballklub eintreten. Wer uns vor fünfzehn
Jahren gesagt hätte, daß einmal eine solche Erlaubnis kommen werde, dem
hätten wir nicht zu glauben vermocht. Auf das Fußballspielen standen
damals alle Todesstrafen, die die Schule zu fällen hat: Strenges Prüfen,
Karzer, Repetieren. Selbst bei den Jugendspielen mußten wir, die wir an
zehrendem „Ballfieber“, an der „englischen Krankheit“ litten, uns beim
Barlaufspiel und beim Passatschlagen langweilen, und erst als wir dann
alle von den Jugendspielen wegblieben, erlaubte man uns für jeden
Spieltag ein knapp bemessenes Fußballwettspiel.

Wehe dem, dessen Zugehörigkeit zu einem Klub man in der Schule in
Erfahrung brachte. Und doch: Wir spielten fast alle. Was bedeuteten die
ärgsten Strafen gegenüber dem Vergnügen zweimal je fünfunddreißig
Minuten der Gelegenheit nachjagen zu dürfen, ein Goal zu schießen.
Freilich man ließ alle möglichen Vorsichtsmaßregeln walten. In der
Zeitung waren oft alle zweiundzwanzig Spieler und der Schiedsrichter
eines Wettkampfes nur mit Pseudonymen angekündigt, zum Spielfelde wählte
man die äußersten Ränder der Kaiserwiese, des Dejwitzer Exerzierfeldes
und des Invalidenplatzes (der Teil, der hart an die Heinesche Besitzung
grenzt, war immer von Schülermannschaften bevölkert), um vor den Blicken
eines vielleicht patrouillierenden Professors möglichst gedeckt zu sein,
und die Mannschaftsitzungen fanden in den verstecktesten Spelunken der
Kleinseite, auf dem Belvedere, von Dejwitz und Karolinental statt. Nicht
die Angst vor den Professoren allein, auch allerhand Unbequemlichkeiten
hatten die Mittelschüler zu bestehen, die im vorigen Jahrhundert, um die
Mitte seines letzten Dezenniums dem Sporte oblagen. Zum Eintritt in die
bestehenden Vereine, die einen eigenen Sportplatz hatten, reichten weder
der Mut (nicht der Mut gegenüber der Schule, sondern der Mut gegenüber
den maßgebenden Faktoren des Klubs), noch die Geldmittel. So mußte man
denn den Wahlspruch „Mein Feld ist die Welt“ beherzigen und auf den
unverbauten Flächen Prags die Balltechnik üben. Da warf man sich denn
schon zu Hause in Dreßhemd, Stulpen, Schienbeinschützer und Dreßhosen,
zog darüber die Straßentoilette an, und stapfte, trotz sengender
Sonnenglut, in der doppelten Kleidung auf die Kneippwiese, auf den
Invalidenplatz, nach Dejwitz aufs Exerzierfeld, auf die Holleschowitzer
Heide, in den Canalschen Garten. Dort zog man die Straßenkleider aus und
warf sie auf zwei Haufen aufeinander, die in einer Breite von sechs
Metern von einander entfernt waren; die Kleiderhaufen bildeten die
Goalstangen. Die Anschaffung des Fußballes, sowie die Reparaturen seiner
irdischen Hülle und seiner leider auch nicht unsterblichen Seele wurden
aus den vereinigten Taschengeldern der Elf bestritten, und wenn man sich
vom Schuster fünf feste Lederstöpsel auf die Stiefelsohlen nageln ließ,
so konnte man schon in dem Wahne leben, ein Paar englischer Treter sein
eigen zu nennen. Man bedurfte keiner Goalnetze, keiner Querpfosten, man
bedurfte keiner Ankleidekabinen und keiner verschließbaren
Utensilienkästen, manchmal auch keines Unparteiischen und keines
Goalrichters, ebensowenig wie man der Erlaubnis der Professoren
bedurfte. Man spielte.

Dafür kannten einen die Schüler der ganzen Anstalt, und mit
scheuer, schrankenloser Bewunderung schauten die Schüler zu den
Fußballkapazitäten der nächsthöheren Klasse auf. Und wenn solch einer
der „erstklassigen Menschen“ im Schulhofe oder auf dem Korridor eine
Orangenschale in die Höhe „kickte“, dann ging ein Murmeln der
Anerkennung durch die Reihen. Wenn der Sekundaner irgend eines
Gymnasiums den Tertianer irgend einer Realschule kennen lernte — was
war da der Gegenstand des Gesprächs? Die Namen der Großen im
Fußballreich, mit denen der Untergymnasiast derselben Anstalt
anzugehören die Ehre hatte. Was Wunder, daß der Ehrgeiz nach solchem
Ruhm das Fußballfieber noch mehr entfachte, daß zu Hause und in der
Schule mit allen Gegenständen „gedribbelt“, „kombiniert“ und „geshootet“
wurde, die nicht niet- und nagelfest waren. Die Professoren teilten
allerdings weder die Liebe zum Fußballspiel, noch das Verständnis für
die Leistungen seiner Jünger. Sie haßten das „rohe Spiel“ und dieser Haß
zeitigte oft die komischesten Blüten. Wenn in irgend einer Klasse
wirklich irgend ein schwerblütiger Junge saß, der beim Fußballspiel
nicht mittat, dann konnte man mit tödlicher Sicherheit darauf rechnen,
daß er bei den Professoren in den Verdacht geraten werde, ein Vorkämpfer
des Fußballsportes zu sein. Und ein Turnlehrer, der es besonders scharf
aufs Fußballspielen abgesehen hatte, warf in der Besprechung eines
Jugendspiel-Wettspieles dem besten Stürmer vor, daß er beim Laufen eine
schlechte — Körperhaltung einnehme. Natürlich wurden solche Kritiken
ebenso belacht, wie der Vorschlag eines sonst ganz intelligenten
Schulpädagogen, man möge, um Füße und Hände in gleichem Maße
auszubilden, mitten im Fußballwettspiel nach jedem Goal Hantelübungen
einführen ... Seit dieser Kinderzeit des Fußballsportes sind fünfzehn
Jahre verstrichen. Mancher der einstigen Märtyrer in Fußballdreß gehört
heute dem Lehrkörper einer Mittelschule an, und so ist doch ein
sportfreundlicher Erlaß herausgekommen.

Weshalb aber der Nekrolog? Fängt denn nicht erst jetzt, da die letzte
Hürde genommen ist, die Renaissance des Fußballsportes an? Mit nichten.
Gerade jetzt, da der fußballspielenden Jugend auch der letzte Hauch des
Märtyrertums genommen ist, da nicht mehr der romantische Reiz des
Verbotenen besteht, da man gewissermaßen unter der Patronanz der Schule
ein Endback oder ein Forward sein darf, gerade jetzt wird die Jugend
aufhören, mit ungeteilter Begeisterung bei der Sache zu sein. Die
Sportliebe war nur eine Ingredienz.

Und wenn nun auch noch ein Erlaß des Landesschulrates herausgegeben
werden sollte, der den Gymnasiasten und Realschülern gestattet,
Studentenverbindungen zu bilden, dann verbrenne ich das
grün-silbern-blaue Band unserer Pennälerblase und sage endgültig meiner
Jugendzeit ade.



                   Bei „Antouschek“, dem Wasenmeister


Genau eine halbe Stunde, nachdem es einem widerwärtig geworden ist, die
endlose Beneschstraße in Pankratz zu durchschreiten, zweigen die
Telephonstangen nach rechts ab, und man hat ihnen zu folgen. In der
Třebizskygasse sieht man zum höchsten Erstaunen, daß die Gegenden,
die man vorher durchschritten hat, höchstentwickelte Großstadt waren. Im
Verhältnis nämlich. Auf einem Feldweg geht es weiter gegen Dworetz. Der
Schnee ist weiß wie das Kleid einer Kranzeljungfer; wenn er doch auch
kniefrei wäre! Auch die Volants sind von stilwidriger Färbung: Braune
Spuren der Wagenräder, die den Schnee in Kot verwandelt haben.

Schließlich kommt man zu einem Bildstock, dem man ganz deutlich ansieht,
daß er vor Jahren grün angestrichen war. In einer blauen Nische steht
eine winzige, mit Gold bemalte Nepomukstatue. Rechts und links vom
Bildstock stehen Häuser. Links ein kleines, verfallenes Anwesen, rechts
eine Reihe von langen Gebäuden, an die sich eine Umfriedung schließt.
Man würde diese Besitzung für ein Bauerngut halten können, aber der
breite Schlot dementiert diese Vermutung. Aber auch eine Fabrik ist es
nicht. Das Hundegebell, das herausdringt, verkündet, daß hier die Prager
Abdeckerei, die thermochemische Vernichtungsstation ist.

Im Hofe drinnen steht ein Bursche. Hohe Stiefel und ein am Rocke
befestigtes blaues Emailschild mit der Umschrift „Kontumaz- und
thermochemische Station“ und sein Aussehen sind die Abzeichen seiner
Würde: Man hat einen jener Meister des Lassowurfes vor sich, die ihre
Kunst nicht in der Prärie des wilden Westens, sondern in den Straßen
Prags, nicht an Büffeln, sondern an Hunden ausüben. Ich frage den
Schinderknecht nach seinem Herrn und bald stehe ich vor Herrn Rudolf
Nešvara, dem Wasenmeister von Prag. „Antouschek“ nennt ihn der
Volksmund, seitdem vor sechzig Jahren der Gehilfe eines seiner Vorgänger
im Amte, der Anton Schek dadurch populär geworden war, weil sein
Familienname gleichzeitig die tschechische Diminutiv-Endung ist.
Ich trage Herrn Antouschek-Nešvara mein Begehr vor, die
Vernichtungsstation besichtigen zu dürfen, und wir treten bald einen
Rundgang durch die Gebäude an.

Zuerst öffnet Herr Nešvara die Türe zum langgestreckten Hundestall,
in dem vierzig Boxe für Hunde sind. Ein wütendes Gekläff geht an:
Morituri te salutant! Sie sind alle „morituri“, die schönen
stichelhaarigen Foxe, die eleganten Windspiele, die putzigen Pudel
hinter den schwedischen Gardinen. Drei Tage waren sie in
„Untersuchungshaft“ in der Aufbewahrungs-, der Kontumaz-Station für
eingefangene Hunde untergebracht, die sich auf der Taborer Reichsstraße
zwischen den beiden unbeschreiblich schönen Wyschehrader Toren befindet,
und hier hätten sie ihre Besitzer binnen drei Tagen durch Entrichtung
der Geldstrafe auslösen können. Das haben diese aber nicht getan und nun
sind die Hunde dem Tode geweiht. Vielleicht bellen sie so wütend, weil
die treuen Viecher über die Untreue der Herren erbittert sind,
vielleicht bellen sie so wütend, weil sie wissen, daß sie eines
unverschuldeten Todes sterben müssen, vielleicht bellen sie so wütend,
weil sie sich über den Unverstand der Menschen ärgern, welche diese
schönen Exemplare der Hunderasse zwecklos hinrichten, statt sie zu
verkaufen. Morgen müssen sie sterben. Ein aus unmittelbarer Nähe
abgegebener Schuß aus dem Stutzen und der vom Menschen verlassene
Genosse des Menschen wälzt sich in seinem Blute, oder — bei den
kleineren Hunden wird es so gemacht — ein Beilhieb auf den Kopf und ein
Hundeleben hat geendet. Man glaubt einen wehmütigen Ton in dem
erbitterten Bellen und Winseln und Knurren und Kläffen mitklingen zu
hören.

Wir verlassen den traurigen Hundekerker. Draußen im Hofe springen einige
Hunde, darunter ein prächtiger reinrassiger Bernhardiner, namens
„Cyrano“, liebkosend an Herrn Nešvara hinauf. Sie sind von diesem
begnadigt worden und gehören zum Personale der Prager Fronerei.
Schmeichelnd schmiegen sie sich an das Knie ihres Herrn, den Henker
ihrer Stammesgenossen. Solidaritätsgefühl mit ihren eingekerkerten oder
justifizierten Kameraden scheinen sie also nicht zu kennen, diese Hunde.

Der Rundgang wird fortgesetzt, er führt jetzt in die Räume, die dem
Zwecke der Anstalt, der gefahr- und geruchlosen Vernichtung der
Tierkadaver dienen. Wir betreten zunächst den Seziersaal, wo die Kadaver
enthäutet und wie die täglich hierher kommenden Konfiskate der
Schlachtbank und der Markthalle zerstückelt werden. Die Stücke werden
dann durch ein in der Wand angebrachtes Mannsloch in einen Apparat
geworfen, der im angrenzenden Maschinensaale an der Wand steht. Dieser
Apparat ist der sogenannte Kafilldesinfektor, der vom Antwerpener
Schlachthausdirektor de la Croix erfunden und von der Firma „Rietschel &
Henneberg“ in Berlin im Jahre 1882 zum erstenmale in Deutschland
hergestellt worden ist. Der Bruder des Herrn Nešvara ist hier am
Werke. Er scheint der technische Leiter des Unternehmens zu sein. Wenn
der Apparat gefüllt ist, verschließt er ihn hermetisch und leitet
hernach zwischen die doppelten Wände des Behälters Dampf von fünf
Atmosphären. Dadurch findet eine Trocknung der Fleischteile statt, und
die durch den Siebboden ablaufende Flüssigkeit wird durch den im
Rezipienten sich entwickelnden Dampf in einen zweiten Zylinder gedrückt.
Nun wird der Apparat durch sechs Stunden einer Temperatur von
hundertfünfzig Grad ausgesetzt, worauf man durch den Dampf alle noch
vorhandene Flüssigkeit und das ausgeschiedene Fett in den Rezipienten
drückt. Aus diesen gelangt das Fett in den rechts vom Kafilldesinfektor
stehenden Fettabscheide-Apparat, während das Leimwasser in den auf der
linken Seite des Desinfektors stehenden Verdichtungsapparat strömt. Der
nun fast trockene und geruchlose Inhalt wird nun in eine riesige
Maschine gebracht, die in der Mitte des Seziersaales steht: Den
Podewilsschen Trockentrommelmühl-Apparat, in dem die Fleischreste zu
„Tierkörpermehl,“ einem feinen Pulver zermahlen werden, das einer
Kunstdüngerfabrik in Pankratz verkauft wird. Die größeren Knochen werden
in einem anderen Apparate zu Knochenmehl — gleichfalls ein Düngemittel
— zermahlen. Eine hydraulische Presse, die unter einem Drucke von
vierhundert Atmosphären das Tierkörpermehl zu runden Kuchen zu pressen
vermag, steht außer Betrieb. Während in Deutschland diese
Tierkörpermehl-Kuchen als Futtermittel stark verwendet werden,
vermochten sie sich in Prag trotz ihres großen Proteïn-Gehaltes nicht
einzubürgern. Außerdem stehen im Maschinensaal ein mächtiger Ventilator,
Trockenapparate und Schöpfpumpen in Betrieb.

An den Maschinensaal schließt sich der Kesselraum mit der 6 H. P.
starken Dampfmaschine und einem Dampfkessel von zwölf Meter Heizfläche.
Hinter dem Kesselraum befindet sich das Fettmagazin, in dem große Fässer
voll Tierfett stehen. Auf einer schmalen Stiege gelangt man in den
Trockenraum für Häute und das Magazin für Tierkörpermehl — weite
Bodenräume, in deren Mitte der breite, rote Schlot den Dachstuhl
durchbricht. Auf der Erde liegen braune Berge, die wie aufgeschichtete
Ackerkrume aussehen, und Tierkörpermehl sind. In einer Ecke ist ein
gelbes Pulver, das Knochenmehl aufgeschüttet. In einer anderen liegen
Knochen. Wenn man sie angreift, dann zerbröckeln sie in der Hand. Sie
sind entfettet, entleimt, sterilisiert.

Der Rundgang ist beendet und Herr Nešvara lädt mich in seine Wohnung
ein. Wir kommen durch ein Zimmer, in dem sein jüngstes Söhnchen auf der
Erde mit einem Hunde spielt — das billigste Spielzeug dortzulande. Dann
sprechen wir vom Fach. Herr Nešvara kennt die Geschichte des Prager
Abdeckereiwesens ganz genau, ist sie doch zum Teile seine eigene
Familiengeschichte. Sein Großvater, der noch in den städtischen Urkunden
nicht „Nešvara“ sondern „Neschwara“ hieß, und sein Vater waren
Wasenmeister, seinen ältesten Sohn, der Sekundaner ist, will Herr
Nešvara Tierarzneikunde studieren lassen. Dem Abdeckergewerbe ist
längst die „Anrüchigkeit“ genommen, die vor Jahrhunderten seinen
Angehörigen die Heirat mit ehrbaren Mädchen, den Eintritt in die Zünfte,
in den Militärstand, die Zuweisung von Ehrenstellen verbot und die
Erblichkeit dieses Berufes anordnete, aber freiwillig erbt sich dieses
seltsame Handwerk noch heute vom Vater auf den Sohn fort.

Herr Nešvara kennt die Geschichte seiner Vorgänger auch über seine
eigene Ahnenreihe hinaus. Aus einer Schublade holt er ein vergilbtes
Dokument hervor: Den Freibrief, mittels welchem Maria Theresia den
Schindern und deren Freiknechten gestatte, eine Ehe mit einem
bürgerlichen Mädchen einzugehen, allerdings unter der Bedingung, daß
diese Männer vorher ihrem Gewerbe entsagen mußten. Das muß ein
hochwichtiger Akt gewesen sein, anno dazumal, denn er ist vom Fürsten
Karl Egon Fürstenberg und „ad mandatum Sacro-Caesarea Regineque
Majestatis ex Consilio Regii Gubernii“ von Johannes Arnvers gezeichnet.

Das Amt des Schinders wurde in Prag vom Scharfrichter versehen, man
stellte die Vernichtung der zum Tode geweihten Menschen jener der
„abgestandenen“ Tiere gleich. Im Jahre 1860 wurde der Henkersdienst
verstaatlicht, die Abdeckerei aber nicht. Die Konzession zur Ausübung
des Wasenmeistergewerbes erhielt für die am rechten Moldauufer gelegenen
Teile Prags A. Nešvara, der Großvater des heutigen Inhabers, für das
linke Ufer J. Jeřábek, dessen Amt heute ein ehemaliger Wachmann
namens Josef Černy in der Kontumazstation Tejnka bei Břewnow
ausübt. Die Nešvaras haben früher ihr Gewerbe in der Salnitergasse
beim Rudolphinum ausgeübt, an der Stelle, wo heute das tschechische
akademische Gymnasium steht. Herr Nešvara erzählt von Medizinern, die
in seiner Jugendzeit in diese Wasenmeisterei kamen, um hier verschiedene
Experimente an den Tieren zu machen. „Unsere häufigsten Besucher von
damals sind heute Professoren an der deutschen medizinischen Fakultät,“
fügt Herr Nešvara hinzu. Meine Frage, ob die Tiere eventuell zu
Vivisektionszwecken an die Universitätsinstitute abgetreten werden,
verneinte Herr Nešvara. Nur bei besonders interessanten Fällen von
Tiererkrankungen bitten sich die physiologischen Institute das Materiale
aus, wenn sie nicht selbst solches haben. Aber das kommt fast nie vor.

Dann beginnt Herr Nešvara auf sein Geschäft zu schimpfen. Er habe die
thermochemische Vernichtungsstation nach reichsdeutschem Muster mit
einem Aufwande von 50.000 Kronen so errichtet, daß nicht nur die
hygienische Vernichtung aller Kadaver, sondern auch deren Verarbeitung
möglich sei. Er habe sich aber verspekuliert. Das Materiale sei gering,
die Verwendungsmöglichkeit noch weit geringer. Von der Geldstrafe, die
für ausgelöste Hunde entrichtet werde, bekomme er ein Drittel, etwa
dreitausend Kronen im Jahr. Davon könne er die Betriebsspesen nicht
decken. An die Vernichtung der Kadaver — darunter jährlich etwa tausend
Hunde — müsse er jedes Jahr einen Betrag von dreißigtausend Kronen
daraufzahlen und bemühe sich daher seit neun Jahren um die Zuweisung
einer Subvention von der Stadtgemeinde. Seine Gesuche werden aber ohne
Motivierung abgelehnt. Auch sein Antrag, daß man, so wie dies in anderen
Städten geschah, den Maulkorbzwang abschaffen und bloß jene Hunde
abfangen und vernichten möge, welche ohne Hundmarke herumlaufen, habe
keinen Erfolg gehabt. Die Verwertung der Hundekadaver lohne sich nicht
und Pferde, welche ein ergiebiges Verwertungsmaterial bilden, werden
seit dem Aufschwunge des Pferdeselchergewerbes fast niemals mehr
hergebracht. So sei die Abdeckerei buchstäblich auf den Hund gekommen.

„Ja, warum üben Sie denn Ihr Gewerbe aus, wenn Sie wirklich so viel
zusetzen müssen?“, ist meine Frage.

„Ich werde es auch aufgeben. Mir liegt schon der Antrag vor, das
Unternehmen in eine Farbenfabrik umzuwandeln, und das werde ich tun.“

Es fehlte noch, daß Herr Nešvara seiner Klage das Faustsche Wort
anfügen würde: „Es möchte kein Hund so länger leben“ und man müßte
diesem Fachmann sein Leid glauben. So aber weiß man nicht, ob er es mit
seinem Entschluß gar so ernst meint, ob wirklich dieses Institut bald
der Vergangenheit angehören soll, ob ein besseres oder ein schlechteres
nachfolgen, und wie in Zukunft dem Hundeleben in Prag ein Ende gemacht
werden wird.



                                 Razzia


_Vor der Streifung_, da geht’s ja hoch her. Da wird getanzt, gespielt,
getrunken, geschäkert, geraucht, gesungen, gestritten, geschrien,
geschimpft und gerauft, daß es eine Freude ist. Weiß der Teufel, wenn
der Herr Oberkommissär Protiwenski dabei wäre, er würde es gewiß nicht
übers Herz bringen, das Idyll mit rauher Hand stören zu lassen. Aber er
ist nicht dabei und er kann am Morgen, wenn er die Razzia anordnet, noch
nicht wissen, daß es am Abend in den heimzusuchenden Lokalen so lustig
sein wird.

„Die Detektivs ... (folgen etwa zwölf Namen) haben um halb 10 Uhr abends
gestellt zu sein.“ Das ist die Ordre, die jede Woche — die Wochentage
wechseln in zwangsloser Reihenfolge ab — mindestens einmal ergeht. Es
ist das Aviso zu der kombinierten Streifung, welche drei oder vier
Partien der Sicherheitsbeamten von verschiedenen Ausgängen aus gegen
einen gemeinsamen Treffpunkt unternehmen. Auf diese Weise bilden die
Polizeigruppen eine Kette, und keinem der lichtscheuen Individuen, die
aus einer Spelunke in die benachbarten wandeln, kann das Glück
widerfahren, daß er immer vor oder immer nach dem Erscheinen der
Streifung kommt und so den Fangarmen der Polizei entgeht. Außer diesen
kombinierten Streifungen gibt es auch noch Generalstreifungen, die
mindestens zweimal im Jahr unter Mitwirkung aller Polizeibeamten
vorgenommen werden, und kleine Streifungen in bestimmte Lokale, die zur
besonderen Beaufsichtigung allen Grund geboten haben. Immer werden die
Razzien nur von Beamten in Zivilkleidern und von Geheimpolizisten
vorgenommen, damit der nächtliche Spaziergang nicht zu großes Aufsehen
errege und das Erscheinen in den ominösen Gasthäusern, Schlupfwinkeln,
Massenquartieren und Branntweinschenken nicht vorzeitig avisiert werde.

Als noch die alten Häuser der Josefstadt standen, waren die Stätten des
Verbrechens und der Ansteckung dort konzentriert. Damals konnte man in
einem Hause oft mehr verdächtige und gesuchte Subjekte festnehmen, als
heute in etlichen Streifungen. Allerdings wurde dieser Vorteil durch das
opferwillige Wirken der Theresia Bartunek fast aufgehoben, von deren in
den achtziger Jahren entfalteten Tätigkeit die Verbrechergilde noch
heute dankbar schwärmt. Theresia stand oft nächtelang am Johannisplatz
in einem Versteck und wartete, bis aus der Türe des Kommissariates die
Beamten traten. Dann eilte sie — halb Läufer von Marathon, halb
Retterin des Kapitols — von einer Spelunke zur anderen, riß die Türe
auf und ließ den Warnungsruf „štrajfuňk“ ertönen ... Heute sind
die Nährböden des Lasters zerstreut. Kein Stadtteil, der frei von ihnen
wäre, kein Stadtteil, in den nicht Razzien unternommen werden müßten.

Kurz nach zehn Uhr abends öffnet sich das schwere Eisentor des
Sicherheitsdepartements in der Bartholomäusgasse. Etwa fünfzehn mit
Stöcken bewehrte Männer treten hinaus: Polizeibeamte und Detektivs. Es
bilden sich drei Gruppen: die eine zieht zur Postgasse hinunter und
wendet sich dann gegen die Obere Neustadt hin. Die beiden anderen
Gruppen schreiten zur Altstadt zu. Bei der Husgasse biegt die Altstädter
Partie ab und die Gruppe, welche die Untere Neustadt mit ihrem Besuche
beehren will, zieht durch die Perlgasse und über den Obstmarkt weiter.

Alsbald haben sie zu tun, allerdings nur mit einer belanglosen Klientel:
Es sind Passantinnen, welche die ihnen schon längst bekannten
Polizeibeamten mit einem grenzenlos ehrfürchtigen und wohl oft
heuchlerischen „Küß’ die Hand, gnädiger Herr“ begrüßen. Paßrevision. Man
sieht nach, ob in dem Dienstbuch des Mädchens das Datum des vergangenen
Montags eingetragen ist, und sie können ihren Weg fortsetzen. Manche
„gehen bloß zu ihrer Schwester“, aber da die mißtrauischen
Polizeibeamten aus verschiedenen Gründen dieser rührenden Schwesterliebe
absolut nicht glauben wollen, so muß die Dame statt zu ihrer Schwester
auf die Wachstube gehen. Eine wieder kann das Buch nicht finden, sie
habe es verlegt. Auch diese Buchverlegerin wird dem nächsten Wachmann
übergeben, der dem schönen Fräulein Arm und Geleite bis zum nächsten
Kommissariat anbietet. Sie wehrt sich: Sie sei weder Fräulein, weder
schön und könne ungeleitet nach Hause gehen. Aber das nützt ihr nichts.

Die Streifenden setzen ihren Weg fort. Die Wachposten auf der Straße
grüßen nicht; der Gruß würde das Inkognito der Zivilpolizisten lüften,
und ihr Nahen könnte leicht drahtlos an die interessierten Stellen
depeschiert werden. Endlich ist man vor einem Gasthaus, aus dem Jubel
und Lärm auf die Straße dringt. Plötzlich wird es drinnen still, jemand,
der gerade im Hausflur war, ist in das Lokal gestürmt und hat _das
Erscheinen der Streifung_ gemeldet. Jäh verstummt der Lärm. Paare, die
sich zärtlich verschlungen hielten und eben unzertrennliche Liebe
schworen, stieben auseinander und rennen, wie die Zecher, die gerade das
Glas zum Munde führen wollten, wie die Kartenspieler, die eben den
Eichel-Ober übertrumpfen wollten, den Ausgängen zu. Aber die sind
besetzt: Im Haupteingang steht der Beamte, an den Seiteneingängen
Detektivs. Die aufgeschreckten Gäste sehen, daß an ein Entkommen nicht
zu denken ist, und kehren wieder in den Saal zurück.

„Ganz untertänigster Diener, hohe Regierung,“ so tönt es devot von den
Lippen des Wirtes, der an den Beamten herantritt, ehrerbietig die
speckige Kappe zieht und sich im rechten Winkel verbeugt. Der Wirt hat
alle Ursache, mit den Polizeibeamten höflich zu sein, wenn diese auch
jetzt seine besten Gäste wegführen werden: Schon mehrere Male ist ihm
mit der Entziehung der Konzession gedroht worden und wieder hat vor
kurzem ein Gast seines Lokales einen anderen derart liebkost, daß am
nächsten Tage in den Zeitungen unter dem Titel „Eine tödliche Ohrfeige“
darüber berichtet wurde.

Der Beamte ignoriert den Gruß. Rundgang und Cercle beginnen. Ein Mädchen
sitzt nahe der Türe an einem Tisch, neben ihr ein Jüngling. Die beiden
markieren ein zärtliches Gespräch und scheinen sich um die Eintretenden
gar nicht zu kümmern. Sie haben verabredet, ein Brautpaar darzustellen.

„Was machen Sie hier?“ fragt der Beamte das Mädchen.

„Ich bitte, ich bin mit meinem Bräutigam hier.“ Fast beleidigt klingt
das. Und der Galan nickt eifrig Bestätigung.

„So, so, Fräulein Harlak, Sie haben wohl geglaubt, daß ich Sie nicht
erkennen werde, weil Sie jetzt ein Jahr in Brünn waren?“ Die Erkannte
wird blaß. Der Beamte wendet sich in strengem Ton an ihren Partner: „Das
ist also Ihre Braut?“

Der „Bräutigam“ hat jedoch „Spundus“ gekriegt und er verleugnet seine
Braut. Er schweigt. Da wird aber die Verratene, die kurz vorher noch so
zärtlich schien, sehr fuchtig:

„Was? Zehn Glas Bier hab’ ich Dir schon gezahlt und jetzt willst Du mich
nicht kennen. Du Hundekerl, Du ...“ Ein Wink des Beamten beendet den
Redeschwall der Jungfrau. Ein Detektiv führt sie zu dem neben der Türe
gelegenen Tisch, wo sich alle versammeln müssen, welche der Beförderung
in „Direktor Wejřiks Hotel“, das Polizeigefangenhaus, wert erachtet
werden.

Inzwischen hat der Beamte einem Manne seine Aufmerksamkeit zugewendet,
der allein an seinem Tisch sitzt. Fast die ganze Biertasse ist
schraffiert — jeder Strich bedeutet ein Glas, das der einsame Zecher
hinter die fehlende Binde gegossen hat. Beamter und Gast blicken
einander in die Augen und über beider Gesichter huscht ein Lächeln, das
zu sagen scheint: Sieh da, ein alter Bekannter!

„Guten Abend, Herr Kommissär,“ bricht der Zecher das Schweigen.

„Schönen guten Abend, Herr Lojsa,“ wünscht der Kriminalpolizist. „Was
machst Du denn hier?“

„Ich trinke,“ antwortet Lojsa naiv und treuherzig.

„So? Du weißt wohl nicht, daß jetzt schon zwölf Uhr ist, und daß Du
(Lojsa steht unter Polizeiaufsicht) um acht Uhr abends zu Hause sein
sollst?“

„Gnädiger Herr, ich habe jetzt zwei Tage Holz gehackt und da wollte ich
heute ...“

„Holz hast Du gehackt? Es wird wohl das Holz einer Wohnungstüre gewesen
sein. Der Kratochwil ist gestern wegen Einbruchs festgenommen worden und
hat gesagt, Du könntest sein Alibi nachweisen.“

„Ja, Herr Kommissär, das kann ich nachweisen!“

„Kannst Du? Umso besser.“ Und schon führt ein Polizist den stillen
Zecher zu dem Sammelplatz neben der Tür, wo schon Fräulein Harlak
Aufstellung genommen hat. Hier haben übrigens auch die Kellnerinnen des
Lokales Posto gefaßt, um von den „Auserwählten“ die Zeche
einzukassieren.

Der Polizeikommissär hat wieder einen alten Freund erspäht: „Kuželka,
Du hast doch Prag!“, ruft er ihn an. Das ist ein elliptischer Satz, das
Prädikat „verboten“ ist zu ergänzen. Aber jeder, der das Prager
Rotwälsch versteht, versteht auch dieses Satzfragment.

Revertent Kuželka will in einer langatmigen Rede dem Kommissär
auseinandersetzen, welch wichtige Angelegenheiten ihn nach Prag geführt
haben, während ihn in Wirklichkeit die schönen „Arbeitsgelegenheiten“
und der gleichgestimmte Freundeskreis wieder in die Landeshauptstadt
riefen, aus deren Polizeirayon er dauernd abgeschafft ist. Der Beamte
hört ihm einen Augenblick lang aufmerksam zu und scheint seinen
Argumenten voll beizustimmen. Dann sagt er freundlich zu Kuželka:

„Dorthin stell’ dich.“ Da weiß der erfahrene Kuželka, daß alle
weiteren Rekriminationen vergeblich sind und stellt sich zur Tür.

Das Frage- und Antwort-Spiel geht weiter. Der Polizeibeamte läßt sich
Arbeitsnachweise zeigen und erkundigt sich nach dem Obdach der Gäste.
Manchmal fallen die Antworten befriedigend aus, manchmal aber endet das
Spiel mit dem Wink gegen den Formierungsplatz bei der Türe. Alle Gäste
sind verhört worden. Da wendet sich der Beamte zu dem Billardbrett und
stöbert mit seinem Stock unter die Wachsleinwand, die das Billardbrett
bis zum Boden bedeckt. Unten ist jemand. Das hat der Beamte ohnedies
gewußt und wollte nur den Zeitpunkt der Entdeckung möglichst lange
hinausschieben, damit der dort Versteckte schon die Hoffnung schöpfe,
die Polizei überlistet zu haben. Aber als die Person auf seine
Aufforderung hin hervorkriecht, ist der Beamte des Kriminalbureaus doch
überrascht:

„Die tolle Andula! Wie kommst Du denn her? Um vier Uhr hat Dich der
Polizist über die Rayonsgrenze hinausgeführt, und jetzt bist Du wieder
hier!“

„Zu Fuß, gnädiger Herr, bin ich wieder zurückgegangen. Ich glaube, daß
ich früher hier war, als der Polizist auf dem Kommissariat. So bin ich
gelaufen. Meine ganzen Lackschuhe sind kaput. Neun Gulden haben sie
gekostet. Und jetzt werde ich wieder eingesperrt.“

Das Mädel, ein siebzehnjähriger Fratz, der verderbter ist, als die
ältesten Kolleginnen, verzieht schmollend das Gesichtchen, das nicht
unschön genannt werden kann.

Der Polizeibeamte sagt seinen Refrain: „Stell’ Dich dorthin.“ Dann
kommandiert er den Ausgehobenen „rechts um, Marsch“, der Wirt zieht noch
devoter sein Käppi, draußen übernehmen uniformierte Polizisten die
Eskorte. Weiter geht die Razzia.

_Nach der Streifung_ ist in den Lokalen die ganze Stimmung verflogen.
Der spärliche Rest der Gäste zahlt seine Zeche, und wenn ein
Polizeiorgan die Flüche hören würde, die der vorher so devote Wirt jetzt
gegen die Behörden ausstößt, so würde es diesem wohl nicht gut ergehen.

Um halb 2 Uhr nachts treffen die Partien der Sicherheitsleute, wie
verabredet, beim Pulverturm zusammen. Die einzelnen Beamten erstatten
dem Rangshöchsten Bericht über die Vorkommnisse, die Detektivs werden
nach Hause entlassen. Die Razzia ist beendet, der Boden der Großstadt
wieder einmal gekehrt worden. Vierundfünfzig Verhaftete. In der
Aufnahmskanzlei des Polizeigefangenhauses werden ihre Personalien
aufgenommen, die Taschen untersucht, Zellen angewiesen.

Am nächsten Tage werden Akten geschrieben, ärztliche Untersuchungen
vorgenommen. Die Verhafteten werden nun in den bekannten grünen Karossen
in das Strafgericht, in das Bezirksgericht, in das Allgemeine
Krankenhaus oder in die „Fišpanka“, das städtische Arbeitshaus,
befördert. Da gibt es dann Requirierungen und Erhebungen, die
Heimatszuständigkeit muß ermittelt, der Schubkostenersatz verlangt,
Convoyanten für die abzuschiebenden Personen beordert werden und was
dergleichen schöne Schreibereien mehr sind.

Was Wunder, daß dann die betroffenen Beamten mehr als die Prager
Verbrecher und Vagabunden über die Prager Streifzüge der Polizei
schimpfen!



               Die Zwangsarbeitsanstalt auf dem Hradschin


Das rote Riesenhaus, das neben dem Garnisonsfilialspital breitspurig
dasteht und die Lorettogasse verstellt, beherbergt gar seltsames Volk.
Die Häftlinge der Strafanstalten sind unschuldige Waisenknaben gegen die
Gäste dieser Anstalt, welche — ausdrücklich wird das hervorgehoben —
durchaus keinen Strafzweck verfolgt. In den Strafhäusern gibt es Diebe,
Betrüger, Raubmörder aus Not, Raubmörder aus Überlegung,
Affektsverbrecher, die vielleicht ein zweites- oder ein drittesmal das
Verbrechen nicht mehr verüben würden. In der Zwangsarbeitsanstalt wohnen
nur Individuen, deren Strafliste ganz beträchtliche Dimensionen
angenommen hat. Die Quantität der Strafen, nicht die Qualität
entscheidet. Manche der Zwänglinge haben über hundert Strafen
aufzuweisen, und wenn einer oder der andere auch ein mehrfach
vorbestrafter Dieb oder Mörder ist, so ist er das nur nebenbei, und
diese Bagatelle hat mit seiner Detention im Arbeitshause gar nichts oder
nur wenig zu tun.

Die dreihundertdreißig braungekleideten Bewohner der
Landeszwangsarbeitsanstalt sind aus harmloseren Gründen hier. Die
Reichsgesetzblätter Nr. 89 und 90 vom Jahre 1885 haben die Errichtung
der Zwangsarbeitsanstalten bloß zur Vermeidung von Vagabundage und
Bettelei verfügt. Die Anstalten sollen einerseits ein Prohibitivmittel
gegen das Landstreichertum, gegen die Belästigung durch Vagabunden und
für die Verhütung von Verbrechen sein — ein Zweck, der wohl erfüllt
wird. Aber andererseits sollen auch die hierher kommenden arbeitsscheuen
Individuen gebessert, zur Arbeit erzogen werden. Damit ist es nichts.
Siebzig Prozent bleiben ungebessert. Und die restlichen dreißig Prozent
sind auch zum Teile als dubios zu buchen, denn wenn auch keine
Mitteilung von einer Gerichtsstrafe eines oder des anderen Entlassenen
eintrifft, wer bürgt dafür, daß nicht der biedere Landstreicher in der
Zelle irgend eines Bezirksgerichtes unter falschem Namen Obdach gefunden
hat? In den Besserungsanstalten für Jugendliche sind gute Resultate
aufzuweisen. Aber in die Prager Anstalt kommen nur Leute im Alter von
achtzehn bis fünfzig Jahren und die können sich an seßhafte Lebensweise
nicht mehr gewöhnen. Der Staub der Landstraße ist ihnen Lebenselement
geworden, die Mühen der Fußwanderung und die Chikanen der Gendarmen
fechten sie nicht mehr an, ein wilder Reisewahn hat sie gepackt, sie
wandern von Ort zu Ort, der Schubwagen ist ihnen eine feine
Reisegelegenheit, das Arrest ein famoses, warmes Obdach. Arbeiten —
wozu? Wer weiß, ob sie nicht recht haben.

Gar mancher von ihnen hat Haus und Hof verlassen, um arm durch die Welt
zu flanieren, viele lassen den Lohn in den Händen ihres Arbeitsgebers
zurück, sie schleichen sich — vom Reisefieber plötzlich gepackt — bei
Nacht und Nebel aus dem Hof und wandern auf Straßen und Feldrainen
geldlos ins Weite. Was man braucht, kann man erbetteln, kann man
stehlen. Gelegenheit zum Diebstahl ist immer da, Häuser, Ställe und
Scheuern stehen offen. Und doch: Die Zahl derer, die in ihren
hundertzwanzig Vorstrafen kein einziges Diebstahlsdelikt aufzuweisen
haben, ist nicht gering. Ihre Liste ist einförmig. Immer kehren nur die
§§ 1 und 2 des Vagabundagegesetzes wieder. Ehrliche Vagabunden. Sie sind
auch durch die wiederholte Detention in Zwangsarbeitsanstalten nicht zu
bessern und — nicht zu verderben.

Denn auch die Gefahr des schlechten Einflusses ist nicht ausgeschaltet,
da in den Zwangsarbeitsanstalten die ehrlichen Vagabunden mit wiederholt
bestraften Schwerverbrechern beisammen sind. Wünschenswert wäre, wenn
für die Gewohnheitsverbrecher eigene Arbeitshäuser errichtet werden
würden, oder wenn man sie deportieren würde.

Immerhin wäre es ungerecht, wenn man nicht konstatieren wollte, daß auch
unter den gegebenen ungünstigen Verhältnissen jährlich eine ganz
respektable Zahl von Gebesserten die Anstalt verläßt. So zum Beispiel
ein lichtscheues Individuum, das vor Jahren an einem Raubmord in Prag
beteiligt gewesen war. Der Gerichtshof hatte ihm eine mehrjährige
Kerkerstrafe zuerkannt und sich außerdem für die Zulässigkeit seiner
Abgabe in eine Zwangsarbeitsanstalt ausgesprochen. Die „gemischte
Landeskommission“ bei der Statthalterei, welche die Aufnahme in die
Arbeitsanstalten verfügt, entschied sich für den Antrag des Gerichtes,
und so kam der Bursche nach längerer Haft in Pankratz in die
Zwangsarbeitsanstalt auf dem Hradschin. Hier benahm er sich so korrekt,
daß man nach einem Jahre zu seiner bedingten Entlassung schritt, d. h.
ihm eine Anstellung besorgte und ihn außerhalb der Anstalt wohnen läßt,
trotzdem er noch in deren Stand gehört, und von dieser, wenn er sich
nicht bewähren würde, jederzeit eingezogen werden kann. Aber er bewährt
sich. In der Schneiderwerkstätte, in der er als Lehrling arbeitet, hat
nur der Meister, nicht aber auch seine „älteren“, aber halb so alten
Arbeitskollegen eine Ahnung von seinem Vorleben. Der Verein zum Wohle
entlassener Sträflinge zahlt ihm die Wohnung, Kleidung und einen Zuschuß
von wöchentlich zwei Kronen für Wäsche und Nachtmahl gibt ihm die
Anstalt, die übrige Kost erhält er von seinem Meister. Er arbeitet
überaus strebsam, und der einstige Raubmörder freut sich schon darauf,
bald Geselle werden und sich sein Brot ehrlich selbst verdienen zu
können.

Mag sein, daß man sich irrt, und daß der Bursche wieder zur alten
Lebensweise zurückkehrt, wenn er dem Auge der Anstaltsleiter entrückt
ist. Denn eigentlich sind alle Zwänglinge während der Zeit ihrer
Internierung fleißig und folgsam. Sie arbeiten an den Handwebstühlen, an
der Erzeugung von Papiersäcken, in den Tapezierer-, Schuster-,
Schlosser- und Tischlerwerkstätten, in der Korbflechterei und im
Anstaltsgarten, in der Küche und auf den Gängen, in den Arbeitskolonien
auf den Feldern und Stallungen der kaiserlichen Güter in Litowitz,
Hostiwitz, Rot-Aujezd und Tachlowitz, der Privatgüter zu Dubetsch,
Kletzan, Biechowitz und Radigau, sie planieren und regulieren den
Erdboden beim Bau der Landesirrenanstalt in Bohnitz und verrichten in
der Kadettenschule, in der Strakaschen Akademie, im Palais Toskana und
in der Landesfindelanstalt verschiedene Handlangerdienste. Sie arbeiten,
weil sie von den anderen abgesondert werden würden, wenn sie das nicht
täten. Strafen oder ein anderer Zwang zur Arbeit werden in der
Zwangsarbeitsanstalt nicht angewendet. Dessen bedarf es umso weniger,
als die Zwänglinge am Lohn ihrer Arbeit partizipieren. Sie sind in drei
Klassen eingeteilt. Acht Monate bleiben sie in der dritten, der letzten
Gehaltsklasse, in der sie zwanzig Prozent von ihrem Verdienst erhalten,
der Rest fließt dem Anstaltsfonde zu. Nach Ablauf der acht Monate rücken
sie in die zweite Klasse vor, in der sie fünfundzwanzig Prozent behalten
dürfen, nach weiteren acht Monaten in die erste Klasse, in der dreißig
Prozent ihres Arbeitsertrages ihr eigen sind. Einen Teil dieser
Dienstprämie darf der Zwängling zur Aufbesserung seiner Kost verwenden.
Das Nachtmahl ist wohlweislich schon so frugal bemessen, daß es einer
solchen Aufbesserung dringend bedarf — ein Ansporn zur Arbeit. Der Rest
der Verdienstesprämie wird dem Korrigenden aufbewahrt und oft erhält
dieser nach Ablauf seiner Internierung — diese währt mindestens zwei
und höchstens drei Jahre — einen ersparten Betrag von hundert Kronen
ausgehändigt.

Die Hoffnung auf die Aushändigung des Verdienstes kann manchen nicht vor
dem Entweichen abhalten. Aus dem Anstaltsgebäude selbst kann wohl
niemand flüchten, denn die Gittertüren auf den Korridoren und die
dichtgekreuzten Eisenstäbe in den Fenstern haben aus dem alten Palast
der Trauttmansdorffs, aus diesem stillen Kleinseitner Patriziergebäude,
in dessen Garten vor drei Jahrhunderten Tycho de Brahe seine erste
Sternwarte errichtet hatte, einen Käfig gemacht. Aber draußen in den
Arbeitskolonien, wo die Sonne zur Wanderschaft lädt, wo das rote
Wirtshausschild so freundlich zum langentbehrten Schnapsgenuß
auffordert, wo ein Hügel dem Zwängling zeigt, daß kein Aufseher in der
Nähe und die Welt so groß ist, da packt den Vagabunden die alte
Leidenschaft, da vergißt er, daß ihn seine Kleidung stigmatisiert, da
vergißt er, daß ihm die Flucht arg bekommen wird, da vergißt er, daß er
für jede Strafe zwei Monate länger in der verhaßten Anstalt bleiben muß,
da vergißt er, daß in der Zwangsarbeitsanstalt auch Pfähle sind, an die
man strafweise angebunden wird.

Dort in der Ecke der Korbflechterwerkstätte sitzt so ein Bursche, der
erst vor kurzem entwichen und wieder eingebracht worden ist. Direktor
Tilšer geht vorbei und fragt auch ihn, wieviel er heute gearbeitet
habe. Die Antwort wird in kaum verständlichem Tone geknurrt. Und aus den
Augen des Gefragten kommt ein wilder Blick des Hasses, eine Botschaft
jener Gefühle, die vor kurzem die Revolte der Korrigenden in Bohnitz
entfacht und ein Menschenleben gekostet haben.



                   Theatervorstellung der Korrigenden


In dieser historischen Woche, in der aus Anlaß des Regierungsjubiläums
so viele Veranstaltungen „Fürs Kind“ stattfanden, gab es auch eine,
deren Arrangeure ihre Veranstaltung als Selbstzweck betrachteten. Kein
„Anlaß“, kein „wohltätiger Zweck“. Und wer war es, der diese Ehrlichkeit
bewies? Die Korrigenden in der Landeszwangsarbeitsanstalt auf dem
Hradschin.

Am Donnerstag um halb 3 Uhr nachmittags fand oben eine
Theatervorstellung statt. Direktor Tilšer hatte mir nach Erscheinen
eines Artikels, den ich über Bewohner und Einrichtungen der Hradschiner
Zwangsarbeitsanstalt veröffentlicht hatte, die Einladung zu dieser
Vorstellung gesandt, damit ich „bei dieser Gelegenheit auch die
lichteren Seiten des Anstaltslebens kennen lernen“ möge. So kam ich
hinauf.

Im Hofe waren die Zwänglinge. Aber nur wenige promenierten, nur wenige
vergnügten sich am Kegelspiel. Die meisten drängten sich vor dem breiten
Tor, das sich nun bald öffnen sollte, um die Theaterbesucher in das Haus
zu lassen. Sie drängten sich und zwängten sich, wie die Leute an den
Kassen zu den Maifestspielen. Aber sie benahmen sich doch wie Menschen
dabei, und wenn ein Besucher kam, machten sie willfährig Platz.

Gespielt wurde im Korbflechtersaale. Der war sorgfältig adaptiert. An
der einen Breitseite stand festgezimmert die Bühne.

Vor Jahren wurden aus dem Dekorationsmagazine des Deutschen
Landestheaters durch dessen Intendanten, weiland Abg. Dr. Ludwig
Schlesinger, der Zwangsarbeitsanstalt mehrere Flächen kassierter
Kulissenleinwand überwiesen. Aus einem dieser Stücke war der Vorhang
geschnitten und mit Lyra, Lorbeer und Maske bemalt worden. Oben das
Landeswappen und einige naive Landschaften. Irgend eines Korrigenden
Werk. Vor der Bühne brennen zwei halbverdeckte Gaslampen — die einzige
Beleuchtung des langen Saales. So nimmt sich der Zuschauerraum gar
seltsam aus. An zweihundert Zuschauer mit dumpfen Gesichtern und
scharfen Blicken. Einige haben die braunen Flanelljacken anbehalten,
andere sitzen in den schmutzigweißen Zwilchkleidern auf den Bänken da.
Das sind fast die einzigen Toilettenunterschiede im Publikum. An der
Wand stehen die Aufseher in Uniformen als Logenschließer. Vor die
Bankreihen, auf denen die Korrigenden sitzen, sind zwei Reihen von
Stühlen gestellt, die sonst in den Wachzimmern verteilt sind: Die
Fauteuils für die Gäste. Denn auch Gäste sind da. Einige Frauen und
Kinder von Aufsehern, sowie von Landwehrfeldwebeln und Oberfeuerwerkern
aus der Nachbarschaft. Vor den Fauteuilreihen bedecken ausrangierte
Bettdecken aus den Schlafsälen die Steinfliesen — Teppiche.

Heute ist deutsche Theatervorstellung, „Deutsches Landestheater“ wie die
Zwänglinge sagen. Das „Tschechische Nationaltheater“ hat eine Woche
vorher gespielt. Aber das Publikum ist zweisprachig. Wenn auch mancher
kein Wort von dem versteht, was da oben auf der Bühne gesprochen wird,
so freut er sich doch der Kleider und des Gehabens seiner deutschen
Kollegen auf dem Podium.

In einer Nische neben der Bühne sitzt das Orchester. Vier Mann. Der
Kapellmeister fehlt dem „Deutschen Landestheater“ ... Die Musikanten
dirigieren selbst. Der Primgeiger ist ein alter, gebückter Mann mit
einer Brille, der krampfhaft in sein Notenblatt blickt. Der zweite
Violinist hat blondes, aufwärts gekämmtes Haar und einen stattlichen
Schnauzbart: er ist ein ehemaliger Musikfeldwebel, der von Stufe zu
Stufe gesunken ist, und nicht zum erstenmale dem Orchesterpersonale der
Hradschiner Zwangsarbeitsanstalt angehört. Neben ihm spielt ein etwa
vierzigjähriger Mann die Flöte; sein schwarzes, gescheiteltes Haar ist
tief in die Stirne gekämmt — der Typ des „šumař“, des böhmischen
Dorfmusikanten. Der vierte und letzte in dieser Kapelle ist der
Harfenist. Sein Instrument hat er sich während seiner Detention, in den
Mußestunden, die ihm nach seinen Taglöhnerarbeiten beim Bau der
Bohnitzer Landesirrenanstalt geblieben sind, selbst angefertigt, und er
beherrscht das Instrument ganz famos, trotzdem er nie Harfespielen
gelernt hat. Sie sind Tausendsassas, diese Gegner der Arbeit.

Gegenüber an der Wand lehnt ein Feuerwehrmann. Bei näherer Betrachtung
merkt man aber, daß es gar kein Feuerwehrmann ist, sondern ein
Korrigend, der den Feuerwehrmann spielt, weil eben ein solcher zu jeder
anständigen Theatervorstellung gehört. Der Mann hat blankgeputzte
Röhrenstiefel, einen sauber gewaschenen Zwillichanzug, einen
Feuerwehrhelm — aus Pappendeckel und einen Gürtel aus dem gleichen
feuersicheren Material. Er ist von seiner Rolle ganz durchdrungen und
sein Blick schweift fortwährend durch den Saal, inspizierend und
Bewunderung heischend.

Man spielt heute, laut dem autographierten Programm, das auch die Namen
der Darsteller nennt, drei Einakter. Zunächst das „Versprechen hinter’m
Herd“. Hinter der Bühne wird geläutet, die Musik bricht jäh ab, der
Souffleur kriecht coram publico in einen in der Korbflechterei
hergestellten Strandkorb, dessen offene Seite der Bühne zugewendet ist.
Der Vorhang hebt sich bis etwa zur halben Bühnenhöhe. Dann kann er nicht
weiter. Aber der Darsteller des „Freiherrn von Strietzow“ legt selbst
Hand an, ein Ruck und der Vorhang ist ganz oben. Die Erwartungen, die
man nach dieser vielversprechenden Leistung des „Baron Strietzow“ an
diesen knüpft, werden leider nicht erfüllt. Dieser Schauspieler hat kein
Gefühl für das Parodistische, das in dieser Rolle des Berliner
Salontirolers liegt. Er redet nicht „berlinerisch“, sondern den Dialekt,
den man in seinem Heimatsorte Georgswalde bei Schluckenau spricht. Sein
Kostüm ist schon aus technischen Gründen kein karikiertes, kein
gigerlhaftes, und so maßt er sich auch nicht das Recht an, anders zu
sein, wie die übrigen Darsteller, die echte Tiroler sein sollen. Sogar
wenn er aus seinem Notizbuch einen verstümmelten „Nationalgesang“
vorträgt, singt er ihn wie ein Schnadahüpfel. Er trägt ihn vor, so gut
er eben kann, und würde es unverständlich finden, daß ein Schauspieler
absichtlich patzen soll.

Grandios ist der Darsteller des Wirtes und Wilddiebes Quantner. Sein Lob
wäre nur in Superlativen zu singen. Wenn er sich räuspert, wenn er sich
schneuzt, wenn er sich seine Pfeife ansteckt, wenn er sich nach
herzhaftem Trunk mit der Zunge den Bart reinigt, wie er sein
Versprechen, daß alles, was hinter’m Herde liegt, des Dirndls Eigentum
sein soll, langsam und schwerfällig auf das Papier kritzelt, ist er von
einer Echtheit, wie sie kein Berufsschauspieler aufzubringen vermag. Und
wie er dann mit geballter Faust auf seinen unfolgsamen Sohn zustürzt —
das kann kein Mime kopieren, das muß von klein auf gelernt sein. Da sich
die Biographie dieses vortrefflichen Schauspielers in keinem
Bühnenlexikon vorfindet, sei erwähnt, daß „Quantner“, ein etwa
fünfzigjähriger Mann, schon zum viertenmale im hiesigen Arbeitshaus
deteniert ist. Nach seiner Freilassung treibt es ihn immer wieder in die
Alpen, wo er im Sommer und Winter umhervagiert. Aber auch auf den
Bergen, wo angeblich die Freiheit wohnt, gibt es Gendarmen, und die
bewirken es, daß er immer wieder nach Prag, zum Schauspielerberuf,
zurück muß. Nach der Überzeugungstreue, mit der er den Wilddieb auf der
Bühne verkörpert, könnte man schließen, daß er dieses Handwerk auch
außerhalb der Bühne auszuüben gewohnt ist. Wie dem auch sei: Erwischt
wurde er wegen dieses Deliktes noch nicht, denn unter seinen achtzehn
Vorstrafen finden sich nur solche wegen Landstreicherei, Diebstahls,
Vagabundage u. dgl.

Das „Nandl“, die brave Bauerndirn, spielt ein jüngerer Korrigend. Er
sieht ganz reizend aus und beherrscht seine Rolle vortrefflich. Den Sohn
des Quantner und Geliebten der Nandl spielt gleichfalls ein junger
Bursch. Er war noch vor kurzem in der Arbeitsanstalt für Jugendliche in
Grulich interniert, hat sich aber nicht dauernd gebessert, obwohl er
dort brav und fleißig gewesen war. Gleich nach seiner Entlassung hatte
er seine Kleider verkauft und sich einer umherziehenden Zigeunertruppe
angeschlossen. Aus der Hradschiner Anstalt, in die er dann gebracht
worden ist, ist er entwichen, als er zur Arbeitsleistung in die
Findelanstalt beordert worden ist. Sein Spiel ist gedrückt. Er geht fast
fortwährend im Hintergrund der Bühne auf und ab und bringt seine Sätze
halb zaghaft, halb mürrisch hervor. Das wirkt sehr gut, denn er gibt ja
einen unglücklichen Liebhaber.

Das Stück ist aus. Das Publikum klatscht stürmisch und die Darsteller
machen ungelenke Komplimente. Der Vorhang fällt. Herr Direktor Tilšer
willfahrt in liebenswürdiger Weise meinem Wunsche, die Bühne von
rückwärts besichtigen zu dürfen. Man stellt die Kulissen zum nächsten
Stücke auf. Der Protagonist, der „Quantner“, hockt auf der Schulter des
„Feuerwehrmannes“ und schlägt oben auf der Kulisse zwei Nägel ein. Auch
„Fräulein Nandel“ zimmert eifrig und keiner von den Akteuren ist müßig.
Die Anordnungen schwirren durcheinander: Einen Regisseur scheint es
nicht zu geben, und ein Aufseher darf nicht hierher. Die Künstler achten
streng auf die Wahrung ihrer Autonomie. Auf einem Tisch liegt ein dickes
Heft, auf dem von ungeschickter Hand mit Bleistift unorthographische
Sätze gekritzelt sind: Die Rolle.

Das zweite Lustspiel beginnt. Es heißt „Ein Zwiegespräch“ und der Witz
besteht darin, daß ein alter Sonderling einen Besucher für den
Aspiranten auf die Wärterstelle bei seiner Katze hält, während sich der
Fremde um die Hauslehrerstelle bei der Tochter des Privatiers bewirbt.
Den Hauslehrer spielte ein junger Bursch, ein wiederholt vorbestrafter
Einbrecher, ganz gut. Aber den größten Beifall hatte er, als er wie
unversehens an seinen Partner anstieß, und in einem prächtigen
Purzelbaum zu Boden stürzte. Ebenso bildete es im nächsten Stücke, dem
Lustspiel „Er muß taub sein“, den Höhepunkt der Handlung, als der von
seiner Taubheit geheilte Hausherr plötzlich die Beschimpfungen seines
Dieners vernimmt, und diesem einen Fußtritt in den Rücken versetzt, der
entschieden an anderer Stelle nach § 421 StG. geahndet worden wäre.
(Stürmischer Beifall.) In diesem letzten Stücke spielt übrigens auch ein
ehemaliger Bauzeichner, der sich ganz als Gentleman benimmt und seine
Mahlzeit in einer Weise verzehrt, die auch den höchsten Anforderungen
des guten Tones entspricht.

Zum Schluß der Vorstellung singen die Darsteller aller Stücke ein
weihevolles Abschiedslied „Gute Nacht“. Es ist ganz rührend, wie diese
wetterharten Feinde der menschlichen Gesellschaft den feierlichen,
kindlichen Choral anstimmen.

Alles ergießt sich in den Hof, um sich draußen die Tabakspfeife
anzuzünden. Nur die Akteure müssen hierbleiben. Sie haben die Kostüme
abzulegen und einzupacken, damit sie morgen der Maskenleihanstalt wieder
rückerstattet werden können, von der sie um den Preis von drei Kronen
ausgeliehen worden sind. Dies sind die ganzen Barauslagen: sie werden
aus den Zinsen des Depositenfonds und durch freie Spenden des Direktors
gedeckt. Dann muß die Bühne abgenommen, die Kulissen, der Vorhang und
der geflochtene Souffleurkasten wieder ins Magazin getragen werden.
Jetzt hört für die Schauspieler das Benefizium auf, am Abend eine Stunde
länger aufbleiben und die Rollen lernen zu dürfen; in dem Saal, in dem
sie heute akklamierte Künstler waren, müssen sie morgen auf den
Steinfliesen sitzen und Weidenruten zu Körben flechten. Für geraume Zeit
bleibt ihnen nur die Erinnerung an ihren Erfolg, an die „lichteren
Seiten des Anstaltslebens“.



                       Das Märchen vom Mistwagen


Es war einmal — so geht ein Grimmes Märchen — eine Stadt, die sehr,
sehr alt war. Das konnte man an den vielen altertümlichen Häusern und
Türmen sehen und an dem Schmutz, der überall in den Straßen, auf den
Plätzen, in den Häusern und selbst im Wasser des Stromes vorhanden war.
Während aber die altertümlichen Häuser und Türme den Machthabern dieser
Märchenstadt durchaus nicht heilig waren, war es der Unrat um so mehr.
So heilig war der, daß eine unverbürgte Sage ging, im Hause des weisen
Rates der Stadt sei am meisten Schmutz verborgen und seine Erhaltung
verschlinge jährlich viele Millionen Goldes.

Und draußen vor der Stadt, am Fuße eines Berges, auf dem Žižka,
der Einäugige, eine Schlacht gekämpft hatte, in einer Gegend, die nach
diesem Žižka benamset war, lebte ein Recke. Der war ein kühner
Kämpfer und ein mutiger Rufer im Streite, aber er war von unbezwingbarer
Habgier beseelt. Er hatte nicht genug an dem Schmutze, der in seiner
Behausung war, er wollte auch den Schmutz der anderen sein eigen nennen.
So fuhr er denn, um dieses Kleinod zu erringen, alltäglich auf seinem
hohen Streitwagen auf Beute aus.

Seine Farbe war grau. Grau war der Wagen, den er stehend lenkte, grau
war der Morgen, wenn er seinen Beutezug antrat, grau war die Kunde von
seines Vaters Nam’ und Art, und grau war der Inhalt der Kisten und
Kasten, deren Besitz er erstrebte. Statt eines Helmes trug der reisige
Held eine blaue Kappe, auf der das Wappen seines Heimatsortes prangte.
In diesem Wappenschilde sah man ein vergittertes Fenster, wie man ihrer
auch im städtischen Arresthause „Fišpanka“ mancherlei sieht, und in
dem Fenster sah man einen Arm, der gebogen war, wie der Arm eines
ritterlichen Mannes beim „Šlapák“-Tanze. Im Gegensatze zu den Hörigen
und Unfreien, die draußen vor der Stadt auf dem Pankratius-Hügel wohnten
und kurzgeschorenes Haar hatten, trug unser Ritter eine Locke in die
Stirn gekämmt, die sein linkes Auge verdeckte, so daß er aussah wie sein
Ahnherr Žižka. Das war das Zeichen, daß er kein Unfreier, sondern
ein „freier“ war. Keinen Marschallstab, kein Szepter trug er in seiner
Hand — nur eine Peitsche; wenn er aber die seinen mutigen Rössern um
die Ohren sausen ließ, so erdröhnte ein stärkerer Knall als jener des
Mörserschusses, der allmittäglich den Sklaven in dieser Stadt
verkündete, daß sie in ihrer Robottarbeit innehalten durften.

Vor seinem Wagen schritt ein Herold, der kündete das Nahen des Recken,
indem er eine Sturmglocke läutete.

Die Bürger wußten, was dieses schrille Läuten zu bedeuten habe, aber
niemand wagte es, mit dem Recken anzubinden, niemand wagte es, ihm die
Asche, den Kehricht und den Schmutz, diese so kostbaren Kleinodien
vorzuenthalten. So sandten sie ihre Jungfrauen hinab auf die Straße, auf
daß diese seinen kriegerischen Sinn betörten, und ihm selbst den Tribut
überantworten mögen.

Aber der Ritter war rauh und unbeugsam, und er hatte kein Auge für die
holden Mägdlein, die, malerisch gruppiert, seinen Wagen umstanden. Er
hatte nur Augen für die Schätze, die sie ihm in kostbar alten Kisten und
seltsam verbogenen Gefäßen darreichten. Mochte die Last, die so ein
schwaches Jungfräulein auf den hohen Wagen zu heben hatte, noch so
schwer sein, nie beugte er sich über seines Wagens Brüstung, um dem
schwachen Wesen behilflich zu sein. Nur beim Entleeren des Gefäßes griff
er selbst Hand an, der Habgierige, auf daß auch nichts von dem Inhalte
in der Opferschale zurückbleibe. Er begnügte sich nicht damit, daß ihm
die ehrsamen Bürger der Stadt ihre Opfergaben durch schöne Jungfrauen an
den Wagen bringen ließen, er verlangte auch, daß die Schätze gesalbt,
mit dem heiligen Wasser der Stadtbrunnen geweiht und besprengt seien.
Wehe aber, wenn ein Mädchen dies unterließ! Dann schalt und drohte er
grimmig, und manches Wort entfuhr ihm, das man selbst am Fuße des
Žižkaberges nicht allzuhäufig vernommen. Die trägen Mägde mußten
nochmals zurück in das Haus und neuerlich wiederkehren.

Aber er war schön in seinem Groll und manches Mägdlein unterließ es,
ihre Gabe zu besprengen, um in des kühnen Ritters Auge den Blitz des
Zornes zucken zu sehen. Andere aber vergaßen in ihrer heimlichen Liebe
zu dem Ritter, die Gabe zu nässen. Und wieder andere Mägde waren, wie
das damals vorzukommen pflegte, sehr faul und besprengten deshalb die
Asche nicht.

Nur eine Einzige vergaß niemals an ihre Pflicht. Das war ein Mädchen, so
brav und tugendhaft, wie es nur im Märchen vorkommen kann. Dieses fegte
sorgsam die Aschenreste der ganzen Wohnung zusammen und legte sie fein
säuberlich in eine alte Kohlenkiste zusammen, besprengte sie mit Wasser
und ließ sich durch die anderen Mägde, welche müßig und schwatzend auf
dem Gang umherstanden, nicht stören. Deshalb nannten sie die anderen:
„Aschenbrödel.“

Der sorgsame Eifer dieses Mädchens war dem Ritter nicht verborgen
geblieben. Sein Herz entflammte in jäher Liebessehnsucht zu der
minniglichen Maid, und er mußte dem Mädchen nachschauen, wenn er sein
Werk beendet hatte und wieder von dannen fahren mußte gegen Hrdlořez,
wo er in einer Senkgrube alle die Schätze verbarg, die er tagsüber
eingeheimset hatte. Und er begann das Aschenbrödel sichtlich
auszuzeichnen, er half ihr beim Aufladen des Schatzes, er lächelte ihr
von der Höhe seines Wagens freundlich zu.

Ist es da ein Wunder, daß das Aschenbrödel hoffärtig wurde, und daß es
beschloß, den Rittersmann, den sie selbst minniglich liebte, auf die
Probe zu stellen, wie weit seine Liebe gehe. Auch wollte sie den anderen
Mägden, die sie bislang aus ihres Herzens Grunde verachtet hatten, die
Liebe des Ritters beweisen. So fegte sie an einem schönen Herbsttage die
Asche wie sonst zusammen und häufte sie in die Kohlenkiste, aber sie
besprengte die duftige Gabe diesmal nicht mit Wasser.

Als sie hinunter kam vor des Hauses Pforte, wo schon die anderen
Jungfrauen auf ihres Ritters Ankunft harrten, da wurden diese schier
starr vor Staunen. Denn aus Aschenbrödels Kiste wirbelte beklemmender
Staub empor ...

Atemlos und begierig wartete man des Ritters. Dieser kam herbei und sein
Gefährt hielt. Mit zitternden Knien, bleich vor Erregung, kam
Aschenbrödel mit ihrer Truhe herbei — galt es doch heute die
Liebesprobe. Liebevoll neigte sich der Recke zu ihr, um ihr behilflich
zu sein, als er den Staub bemerkte, der aus der hölzernen Opferschale
des Mädchens emporstieg. Einen Augenblick sah man ihn zaudern. Sollte
er, um seiner Liebe willen, für heute die Mißachtung seiner Vorschrift
ungerügt hingehen lassen? Nein, sagte sein Rittersinn. Und mit
schmerzlichem Sinn verweigerte er die Annahme der Gabe. Er wandte sich
den anderen Mägden zu, welche ihr höhnisches Lachen nicht verbargen.

Aschenbrödel ging nicht in das Haus zurück. Sie stellte den
Kehrichtbehälter auf die Erde, setzte sich darauf, schlug die Hände vors
Gesicht und weinte bitterlich. Aber die Staubwolke, die aus dem Gefäße
hervorstieg, vermochte das Mädchen durch sein Körpergewicht nicht
zurückzuhalten, die Wolke hob Aschenbrödel in die Höhe, hüllte es ein
und entführte es in die Prager Luft, in der es bald den Blicken der
staunenden Mägde und des schier zu Eis erstarrten Recken entschwand.

Seither hat man nichts mehr von Aschenbrödel gesehen, nichts mehr von
Aschenbrödel gehört.

Aber der Ritter hat die Hoffnung nicht aufgegeben, daß das Mädchen doch
im Gleitflug irgendwo landen und wieder in die Stadt zurückkehren könne.
Und während längst in allen anderen Städten der Erde die staubfreie
Müllabfuhr mittels Kehrichtschächten, mittels verschlossener,
auswechselbarer Eisenkisten und mittels verschlossener Wagen eingeführt
worden ist, fährt unser Ritter noch heute auf seinem Streitwagen suchend
durch die Straßen jener Märchenstadt, läßt sich von den minniglichen
Mägdlein den Inhalt offener Kästen in den offenen Wagen schütten und
wird so fahren bis zum jüngsten Tag.



                            Weihnachtsmarkt


Unter dem Balkon des Altstädter Rathauses wurde an einem heißen Junitage
des Jahres 1621 an sechsundzwanzig böhmischen Adeligen ein furchtbares
Blutgericht vollzogen. Gegenüber, unter den Türmen der Teinkirche liegen
die Gebeine des Tycho, der gestorben ist, weil er an der Tafel seines
gekrönten Freundes das spanische Zeremoniell nicht verletzen und deshalb
ein plötzliches Unwohlsein mit Gewalt niederkämpfen wollte. Zwischen
diesen beiden Stätten breitet sich ein großer Platz, auf dem verhärmte
Menschen allabendlich, vor der Madonnenstatue kniend, inbrünstige Lieder
singen. Aber im Dezember, vom Sonntag vor Nikolo bis zum
Weihnachtsabend, wogt auf diesem Platze Weihnachtstreiben.

Und doch: Selbst im Jahrmarktskleide verliert der Ringplatz sein
sentimentales Gepräge nicht, und aus dem Lärm der Ausrufer, der
drängenden und gedrängten Menschenmassen, der Marktschreier und
Verkäufer dringen die Untertöne der Schwermut hervor. Es ist kein
Jahrmarkt. Zwar ist es vollzählig versammelt, das fahrende Volk, das
während der übrigen elf Monate die Bewohner der böhmischen Dörfer
beglückt, aber hier im Zentrum der Großstadt nehmen sich seine Waren und
Vergnügungen allzu armselig aus. Die Jahrhunderte mit ihren
Errungenschaften sind spurlos an ihnen vorübergegangen, und die Späße,
Schaustellungen, Buden und Verkaufsobjekte hätten samt und sonders auch
in den Zeiten kein Staunen erweckt, deren Ereignisse den Prager
Ringplatz zu einer historischen Stätte stempelten.

Parallel zur Front des Platzes, welche die Zeltnergasse verlängert,
läuft eine der Budenstraßen. Sie ist das Dorado der Spielwarenhändler.
Aber was sind das für Spielwaren, die hier feilgeboten werden? Keine
Miniaturautomobile oder Miniaturaeroplane, keine sprechenden Puppen und
singenden Kanarienvögel — nichts von raffinierten Kunstwerken für
Kinder der Reichen. Nur Zehnkreuzeruhren, nur Ballons auf dünner
Gummischnur, nur Holzpferde auf Rädern, papierene Tschakos und hölzerne
Säbel. Musikinstrumente überwiegen — wir sind im Heimatland der
böhmischen Musikanten. Kinderviolinen, denen selbst ein künftiger
Kubelik keine Töne zu entlocken vermöchte, Flöten, in die man von beiden
Seiten mit der gleichen nervenmarternden Wirkung blasen kann,
verschiedengestaltete Gummispezialitäten, die aufgeblasen werden, um mit
herzzerreißendem Gekreisch den fremden Odem wieder auszuhauchen,
Mundharmonikas, runde Mundpfeifen, mit denen man das Zwitschern der
Nachtigall wenn auch nicht nachahmen, so doch persiflieren kann u. dgl.
Dann die armseligen Nikolos, die aus einer unmöglichen Gipsmaske mit
langem weißen Bart bestehen, an die sich ein weißes Papiergewand
schließt, dann die Krampusse, die armen Teufel, die nicht Furcht
erregen, sondern nur Mitleid erwecken können, dann die Soldaten, die in
jeder besseren Kinderstube als untauglich erklärt oder superarbitriert
werden würden.

In einer anderen der hier entstandenen Straßen stehen die braunleinenen
Warenhäuser, deren Besitzer sich von dem Pumpernickel nähren, den andere
essen müssen. Lebkuchenherzen dominieren; sie weisen Inschriften aus
Tragantzucker auf, die ebenso geistvoll, wie schmackhaft sind. Auf den
Firmenschildern aus Wichsleinwand sind lauter vergrößerte Ehrenmedaillen
und Ordensauszeichnungen abgebildet. Es scheint also, daß in
Potentatenfamilien Pumpernickel leidenschaftlich geliebt wird und daß
die Monarchen bei freudigen Anlässen einander Lebkuchenherzen schenken.

Rote und schwarze Kegelchen stehen auf einem Verkaufsbrett:
Räucherkerzen. Die Erfindungen der Parfümindustrie haben diesen Artikel,
der beim Glimmen wie ein rauchender Vesuv aussieht, nicht aus der Welt
zu schaffen vermocht. Die moderne Technik der Papierindustrie wiederum
hat nichts mit den handgeschnittenen Papiersternen und den
zusammengeklebten Papierketten zu tun, welche in der benachbarten Bude
zur Verzierung der Weihnachtsbäume käuflich erworben werden können.

Überhaupt die Technik! Die Budenbesitzer haben die denkbar schlechteste
Erfahrung mit ihr gemacht. Vor einigen Jahren hatten sie z. B. den
Phonographen in den Dienst des Jahrmarktes und auf einen Tisch inmitten
der Budenstadt gestellt. Dieser Phonograph posaunte nicht — wie es die
anderen Phonographen tun — seine ganze Weisheit durch einen
Schalltrichter in die Welt hinaus, sondern er flüsterte sie durch dünne
Gummischläuche den besonderen Menschen ins Ohr, welche sich von den
anderen Passanten wohltuend durch die Entrichtung von drei Kreuzern
unterschieden. Die anderen Menschen aber konnten gar nichts hören, und
blickten daher staunend auf die neben ihnen stehenden Auserwählten,
deren Mienen eine unbändige Heiterkeit verrieten und deren Körper und
Füße in irgend einem Marschtakte zuckten. Ebenso unerklärlich war es den
Leuten, warum der Mensch, der sich wieder an einer anderen Stelle des
Weihnachtsmarktes in herzbewegenden Grimassen, schmerzhaften Ausrufen
und krampfhaften Körperzuckungen erging, die Halter der
Elektrisiermaschine nicht einfach loslasse ... Aber der Phonograph hat
sich auf dem Prager Jahrmarkt nicht rentiert, er war dort heuer nicht
mehr anzutreffen, und auch die Elektrisiermaschine sucht nur noch in den
Nachtlokalen der unteren Zehntausend ihren Erwerb.

Einen Augenblick könnte man doch glauben, die größten Wunder der Technik
seien vertreten. Wenn man nämlich den hochtrabenden Worten des Ausrufers
vor dem „Mechanischen Theater“ Glauben schenken würde, der im
nördlichsten Teile der Marktstadt seine Nachbarn, die Ausrufer der drei
Ringelspiele, der vier Schießbuden und des Panoptikums durch Ton und
Inhalt seiner Anpreisungen zu übertreffen sucht. Aber wenn man den
Lockungen des Mannes vom „Mechanischen Theater“ folgt, dann ist es mit
dem Glauben an irgend eine maschinelle Vorführung gründlich vorbei. Man
sieht ein großes Kinderspielzeug, das wohl irgend ein invalider Bergmann
in seinen Mußestunden mit geschickten Händen gefertigt hat. Es stellt
ein Bergwerk dar, und dessen Lebewesen werden durch eine im Hintergrunde
versteckte Kurbel bewegt. Durch diese dynamische Kraft bewegen sich die
Männchen — die „Panaken“, wie man in Prag sagt. Bergleute mit Hunten
fahren im Schachte auf und nieder, sie hacken Erz und sie trinken. Oben
bewegt sich der Leichenzug eines verunglückten Bergmannes. Zuerst der
Leichenwagen, dann die weinende Witwe mit den Kindern, dann der nach
allen Seiten grüßende Geistliche, dann die Schar absolut unmöglicher
Bergleute in Reih und Glied. Es ist zum Weinen. Auf beiden Seiten des
Budeninnern steht je eine Kulisse. Die eine stellt einen Seesturm, die
andere eine Karawane dar, und so vervollständigen sie beide die
Illusionen, daß man sich in einem Bergwerk befinde.

In den photographischen Ateliers werden Bilder hergestellt wie weiland
zur Zeit Daguerres, und die Kunstblumen, die man feilhält, sind so
ehrlich imitiert, daß kein Mensch sie für echte halten könnte. Während
längst andere Städte ihren Lunapark haben, in dem alle Errungenschaften
des Maschinenbaues zu irrsinnigen menschlichen Vergnügungen
ausgeschrotet sind, gibts auf dem Altstädter Weihnachtsmarkt noch immer
bloß Ringelspiele mit sichtbarem Handbetrieb. Und während man anderswo
in spiritistischen Seancen des Schicksals Tiefen zu erforschen droht,
läßt sich hier — allerdings mit der gleichen Wirkung — das Prager
Dienstmädchen von weißen Mäusen oder Kanarienvögeln die „Planeten“
ziehen, Zettel mit gedruckten Weissagungen und — allerdings entrichtet
man hiefür eine erhöhte Taxe — mit dem Bilde des Zukünftigen. Während
anderswo die Hygiene ängstlich für das Wohl des Menschen sorgt, reißt
hier der Fruchthändler mit schmutzigen Händen schmutzige Datteln von den
schmutzigen Waben und wickelt sie in schmutziges Papier. Auch „Niko
Petkovac“, der biedere Südslawe mit dem braunen Gesicht und der
Astrachanmütze, macht Geschäfte mit seinem „Sultansbrot“ und „türkischen
Honig“. Unten, an der Niklasstraße schon, feiert Kasperl, der von
Gottsched feierlich von der Bühne verbannte Kasperl, im Kampfe mit einem
Hündchen herrliche Triumphe.

Überhaupt: Der Markt übt seine Anziehungskraft aus. Die anderen
Marktfeste, die „Fidlovačka“, das Fest der Schusterinnung im Nusler
Tal, das „Strohsack“-Fest der Schneidergilde in Bubentsch, das
Mathäi-Fest in der Scharka, das Josefi-Fest auf dem Josefsplatz und das
„Ordens“-Fest im Stern sind teils abgeschafft, teils bedeutend
restringiert worden. Nur der Nikolo- und Weihnachtsmarkt, gerade das
Fest im Innern der Stadt, ist in der alten Form erhalten geblieben, und
steht jetzt ohne Konkurrenz da. Ob es nun Pietät ist, ob man der
Tradition huldigt, ob es zu den weltmännischen Neigungen mancher
Gesellschaftsklassen gehört, sich in Kirchweihfesten auszuleben — der
Markt ist voll von Menschen. Sie ziehen an den Dezembersonntagen in
bunten Scharen auf den Ring, in diese aus morschem Holz gezimmerte
Stadt, deren Gassenfronten aus verschlissener Leinwand sind. Aus allen
Vorstädten kommen die Menschen und drängen sich hier, die Handwerksleute
mit Weib und Kind, die bekannten Prager Lebeknaben aus den
Kolonialwarengeschäften und Werkstätten, Dienstmädchen, Fabriksmädel,
Ladenmamsells, Mädchen für alles und noch mehr. Alles was sonst in
Tanzlokalen der Vororte und auf den Schleifplätzen der Moldau die Liebe
sucht, ist im Dezember hier vereint. Der langhaarige Jüngling nähert
sich innig im Gedränge seiner Angebeteten. Oder er schleudert, wenn eine
Schöne in entgegengesetztem Menschenstrom vorbeikommt, ihr seinen
Papierball, dessen Gummischnur er in der Hand hält, als schüchternen
Annäherungsversuch wuchtig ins Gesicht. Das Mädchen quittiert mit
quietschendem Aufschrei, aber sie fühlt sich durch die gezollte
Aufmerksamkeit geehrt, und mißt ihren Anbeter mit einem Blick, in dem
Aufmunterung, Aufforderung, Leichtsinn und vielleicht ihr Schicksal
liegt.



             Wie ich aus dem Rathause hinausgeworfen wurde


Auf meinem Leben lastet eine Sünde, die ich nicht in das neue Jahrzehnt
hinüber nehmen will. So will ich durch aufrichtige Beichte diesen Alp
von meiner Seele abwälzen. Meinem Gedächtnis, dem vielleicht einzelne
Phasen des Verbrechens entschwunden oder verwischt sein könnten, kann
ich ja leicht nachhelfen. Ich brauche nur in der Universitätsbibliothek
in den gebundenen Exemplaren der tschechischen Zeitungen nachzuschlagen.
Darin steht die reine Wahrheit.

Dort ist meine Schande zum Studium und abschreckenden Beispiel für
künftige Geschlechter aufbewahrt. War doch der Vorfall ein bedeutsamer,
und ich glaube: Über den Prager Fenstersturz, der den dreißigjährigen
Krieg einleitete, wurde nicht so ausführlich berichtet, wie über meinen
Hinauswurf aus dem Altstädter Rathause.

Aus allen diesen Berichten geht hervor, daß ich mich damals im Prager
Rathause skandalös benommen habe. Und darf man sich denn im Prager
Rathaus skandalös benehmen? Hat man überhaupt schon gehört, daß sich
jemand im Prager Rathause skandalös benommen hätte? Nein, heute muß ich
unbedingt zugeben, daß man mich mit Recht hinausgeschmissen hat. Und es
war unverdiente Gnade, daß man mir eine ungeheure Strafmilderung
zugestand: Man hat mich nicht durch einen Hausknecht hinausgeworfen,
sondern man hat mich durch den Stadtverordneten Březnowsky
hinausexpedieren lassen.

Dieser hat mich durchaus nicht mit Glacéhandschuhen angefaßt, obwohl er
sich in seinen stillen Stunden mit deren Erzeugung beschäftigt. Er hat
es nicht getan, weil ich es nicht verdiente. Habe ich mich denn nicht,
laut Bericht des „Hlas Národa“, das einem alttschechischen
Stadtverordneten gehört und dem daher in Rathauskreisen eine gewisse
Authentizität zukommt, „sehr frech und wütend“ benommen? „Er versetzte,“
so heißt es in der Morgenausgabe dieses Blattes vom 10. November 1908 u.
a., „dem Stadtverordneten Vanha einen Stoß und mit dem Ausrufe ‚Ich
werde diese Diebshöhle schon beleuchten‘, sauste er blitzesschnell die
Stiegen hinunter“. Also bitte, man bedenke: Ich habe einem unserer
Stadtväter einen Stoß versetzt, und die ehrwürdige Ratsstube eine
Diebshöhle genannt. Weshalb bin ich eigentlich nicht geklagt worden! Wie
übel wäre es mir doch ergangen! Ein Leugnen hätte mir nichts geholfen,
denn auch das offizielle Rathausorgan, die „Nár. Listy“, erklärten in
aufgeregtem Tone, ich hätte die Drohung ausgestoßen, daß ich Diebstähle
(die tschechische Sprache kennt keinen bestimmten Artikel) aus dem
Rathause veröffentlichen werde. Auch den Stoß gegen den Stadtverordneten
Vanha registriert das Rathausorgan, und weiß sogar das interessante
Detail hinzuzufügen, daß ich den Stoß mit der Faust versetzt habe.

Der klerikale „Čech“ bedeckt den Rippenstoß mit dem Mantel der
Nächstenliebe. Er verschweigt ihn ganz, trotzdem sein Bericht sonst an
Ausführlichkeit durchaus nichts zu wünschen übrig läßt. Er schreibt u.
a.: „Als erster fand sich Redaktionsmitglied der „Bohemia“ „buršák“
Kisch ein, der durch seine Provokation auf dem Graben berüchtigt ist. Es
wurde ihm gesagt, daß es nicht angehe, in den Sitzungssaal des
Kollegiums das Redaktionsmitglied eines Blattes einzulassen, welches
alles, was aus Prag kommt, verdreht und beschimpft. Kisch aber machte
keine Miene, den Saal zu verlassen. Es traten also die Ordner hinzu und
führten ihn auf den Gang hinaus. Kisch schäumte, drohte und lehnte sich
auf, es blieb ihm aber nichts übrig, als zu suchen, wo der Zimmermann
das Loch gelassen hatte.“ Im weiteren Verlaufe des ausführlichen
Berichtes registriert das genannte Blatt die Tatsache, daß nach meiner
angedrohten Enthüllung über die Diebstähle im Prager Rathause „in dem
auf den Korridoren angesammelten Publikum Bewegung entstand“. So?

Solche Referate konnte das nationalsoziale „České slovo“ durch
Radikalismus nicht mehr übertrumpfen; damit es aber doch in seinem
Berichte mehr Stiefel habe, als die anderen Blätter, schrieb Georg
Střibrny, der damals noch nicht Abgeordneter war, man habe die
Stiefel hinausgetragen, in denen ich steckte.

Die Folgen meines Hinauswurfes spukten noch lange. Zuvörderst
veröffentlichte ein Mann, der davon lebt, daß andere sterben, ein
Partezettelagent, in allen tschechischen Blättern eine Erklärung: Er
heiße zwar ähnlich wie ich, aber sei nicht mit mir identisch. Ich kann
dies vollinhaltlich bestätigen, und um auch den Rest jeden Verdachtes
von dem Herrn abzuwenden, erkläre ich hiemit freiwillig, daß ich
überhaupt nicht mit ihm verwandt bin. Auf Ehrenwort.

Der gute Mann war nicht der einzige, der sich meiner schämte. Der
„Večerní List“ veröffentlichte unter dem Titel „Sie kann nichts für
ihren Namen“ folgende Erklärung: „Herr Egon Kisch, Redakteur der
„Bohemia“, ist nicht, wie allgemein verlautet, mein Neffe, und ich bin
überhaupt nicht mit ihm verwandt. Marie Kisch, Hausbesitzerin, Prag II,
Zderasgasse.“ Der „Čech“ reproduzierte diese harmlos scheinende
Erklärung am nächsten Morgen mit der Aufklärung, daß die Absenderin der
Zuschrift die Besitzerin eines verrufenen Hauses sei. Worauf dann ein
Weinberger Lokalblatt hämische Glossen darüber machte, wieso gerade das
klerikale Organ gewußt habe, daß das Haus ein verrufenes sei.

Ferner griff mich Abg. Myslivec im Parlamente an, und die Abgeordneten
sollen sich höchlichst darüber verwundert haben, daß man sich auch
unanständig benehmen könne.

Der „Illustrovaný kurýr,“ eine Zeitung, die sonst hauptsächlich
Momentphotographien vom Augenblicke der Mordverübung bringt,
reproduzierte am 3. November mein Bild. Dabei passierte dem
Bildredakteur eine Verwechslung, die in den Annalen dieser Zeitschrift
gewiß nicht allzuhäufig ist. Er muß in ein falsches Fach gegriffen
haben, und — wie es der Zufall oft will — es war wirklich mein Bild,
das er erwischte und das ins Blatt kam. Allerdings steht in dem Texte,
daß ich ein sehr mürrisches Gesicht mache. Aber gerade auf dieser
Photographie bin ich „bitte, recht freundlich“.

Das Furchtbarste aber war: Es muß sich ein Ephialtes in der Nation
gefunden haben, denn über die Stadtverordnetensitzung, aus der ich cum
infamia exkludiert worden war, erschien ein ausführlicher Bericht in den
deutschen Blättern. Mit bangem Grausen, von grenzenlosem Entsetzen
gepackt, richtet der „Čech“ an die Nation am 12. November die
Gewissensfrage: „Wer hat wohl dem aus dem Rathause hinausexpedierten
Kisch mitgeteilt, was im Stadtverordnetenkollegium vorgegangen ist?“ Und
weiter: „Da ergibt sich eine Menge von Fragen und verdächtigen Umständen
...“

Auf diese „Menge von Fragen“ kam keine Antwort, diese „verdächtigen
Umstände“ erfuhren keine Aufhellung, und die Berichte über das Rathaus
erscheinen in den deutschen Blättern auch weiter mit gebührender
Ausführlichkeit. Von schwerwiegenden Folgen war also mein Ausflug aus
dem Rathaus für mich nicht begleitet. Aber das ändert nichts an der
Tatsache, daß ich mich empörend benommen habe. Ich habe die damalige
Rathauswirtschaft beleidigt und einem Stadtverordneten einen Rippenstoß
versetzt. Wie leicht hätte ich ihn verletzen können! Peccavi.



                             Prager Ziehung


Im Ziehungssaale der Lotterie strömen alle die Gefühle zusammen, die auf
den Pawlatschen und in den Waschküchen, auf dem Markte und in den
Fabriken, bei den Planetenziehern und bei den Kartenlegerinnen, in und
vor den Kollekturen in gewisperten Gesprächen des Aberglaubens und der
Mystik zum Vorschein kommen. Der Ziehungssaal der Lotterie ist
vielleicht der einzige Raum, in welchem eine Harmonie des
Einzelempfindens eine Massenstimmung bildet, die nicht das Produkt
momentaner Erregung ist. Die fremden Menschen, die sich hier drängen,
sind wohl, was die Herkunft, was den Charakter anlangt, von einander
grundverschieden. Herabgekommene, und solche sind da, in deren
Geschlecht seit Menschengedenken nur gerüchtweise bekannt war, daß es
irgendwo Wohlstand gebe. Die Gruppen sind schwer zu unterscheiden — das
Elend hat die Unterschiede ihrer Abstammung verwischt, die
Einleitungskapitel ihrer Lebensromane sind mit freiem Auge nicht lesbar.
Aber die laufenden Kapitel, die ihres gegenwärtigen Seins, stehen
deutlich in ihrer Anwesenheit, ihren Blicken, ihren Gesten, ihren
Worten, ihren Ausrufen geschrieben. An allen diesen Menschen zerrt eine
quälende Unzufriedenheit mit ihrem Schicksal, in allen diesen Menschen
zuckt als einzige Hoffnung die Hoffnung auf den Zufallsgewinn, aller
dieser Menschen Glauben ist der Aberglauben. Ihr Handeln beschränkt sich
auf das Abreißen des Marginales an den Kollekturen, auf das Auslegen von
Spielkarten, Träumen, Erscheinungen und Ereignissen, und auf deren
Transponierung in Ziffernwerte, auf den Ankauf von Riskonti und auf ihr
Erscheinen bei der öffentlichen Ziehung. Alle ihre Hoffnungen heißen
Terno und Ambo, Nominate und Extratto.

Prag teilt mit sieben Hauptstädten Österreichs die Ehre, der Schauplatz
einer öffentlichen Lotterieziehung zu sein, einen Sammelkanal für jene
Wissenschaft des Unverstandes zu besitzen, die sich unfruchtbar müht,
die wirren und unzusammenhängenden Traumgebilde mit nüchternen Ziffern
und Zahlen auszudrücken, die unklaren Wünsche und unklar ersehnten
Schicksale ziffermäßig zu werten, und die exakteste und klarste
Wissenschaft, die Mathematik in den Dienst waghalsigen Aberglaubens zu
stellen. In dem an der Ecke der Ziegengasse und des Ziegenplatzes
stehenden Ärarpalaste, der die Berghauptmannschaft und das Münzamt
beherbergt, ist auch das Lottoamt untergebracht. Alle vierzehn Tage —
immer am Mittwoch — findet hier die „Prager Ziehung“ statt, auf deren
Ergebnis tausende und abertausende aus allen Teilen des Reiches mit
hoffender Zuversicht harren. Die, die zur Ziehung kommen, sind
gewissermaßen eine Elite: Nicht alle jene, die ihr mühsam erworbenes Hab
an den Schaltern der Kollekturen entrichten, wissen, daß sie dabei sein
können, wenn sich ihr Los entscheidet. Aber die zur Ziehung kommen, das
sind die Gewohnheitsspieler, welche die staatliche Kontrolle
kontrollieren wollen, das sind die Vertreter des Verstandes in diesem
Reiche des Unverstandes, das sind die Menschen, die alles von dem Moment
der Ziehung erwarten und es nicht erwarten können, bis die Kollektanten
die fünf blauen Ziffern an ihren Läden affichieren.

Der Ziehungssaal steht im Hofe des Gebäudes. Schon um halb 2 Uhr
nachmittags bilden sich an den Ziehungstagen im Hofe debattierende
Gruppen. Weiber mit Kopftüchern sind da, Burschen, denen man ansieht,
daß sich der Großteil ihres Tagewerkes auf die Pflege ihrer „šístky“,
ihrer Sechserlocken, erstreckt, dann die Typen der Prager Straßen,
Bettler und Hausierer, Halbidioten und Trunkenbolde. Sechs Wachleute
halten hier Dienst.

Die Gespräche drehen sich durchwegs um Dinge, von denen sich unsere
Schulweisheit nichts träumen läßt. Die Debatten werden zwar ernst und
sachlich geführt, aber es kann eine Einigung nicht erzielt werden, was
wahrscheinlich darauf zurückzuführen ist, daß weder Unterausschüsse noch
Referentenkomitees eingesetzt werden. Eine Gruppe wird gänzlich von der
Frage beherrscht, ob „Verhaftung“ die Ziffer 79 bedeutet, wie das eine
der beiden tschechischen Traumbücher besagt, oder die Ziffer 88 — die
Ansicht des anderen Traumbuches. Frau Kratochvil vom Obstmarkt und Frau
Lenovsky aus der Markthalle haben nämlich in der Nacht von Sonntag auf
Montag den gleichen Traum gehabt: der Markthelfer Jaro Krejsa sei
arretiert worden. Kaum hatte sich in den Kreisen der Halledamen das
Gerücht von dieser Duplizität der Träume herumgesprochen, als die
Polizei wirklich den Jaro Krejsa, diesen Lumpen, wegen Diebstahls
verhaftete. 79 oder 88, das ist hier die Frage.

Auch in einer anderen Gruppe sind Traumbücher aufgeschlagen. Aber es
handelt sich beileibe nicht um simple Traumdeutungen, sondern um
mathematisch-kabbalistisch-astrologische Berechnungen höheren Grades.
Das Traumbuch, das — so sagt das Titelblatt — „von Madame Lenormand
nach besten Quellen und untrüglichen Erfahrungen altägyptischer Priester
und persischer Magier“ zusammengestellt ist, enthält auch eine Fülle von
tabellarischen Systemen und saturnalischen Quadraten, nach denen die
Amben und die Ternen zusammenzustellen sind. Die Grundlage bilden die
Ziffern, die bei den letzten Ziehungen in Brünn, Wien, Innsbruck,
Lemberg, Linz, Prag und Triest Treffer brachten. Das sind die
Intelligenzspieler. Sie verachten und belächeln jene Lotteriespieler,
die ihr Glück dem Zufall anvertrauen, die sich von den an den
Kollekturen ausgehängten Marginalenummern, den sogenannten „trhačky“
(Abreißzetteln), einen beliebigen auswählen oder gar sich willenlos der
Prophezeiung des Kollektanten unterwerfen, indem sie einfach die Ziffern
setzen, die auf einer schwarzen Tafel im Innern der Kollektur als
besonders empfehlenswert aufgeschrieben sind und „Kabbala“ genannt
werden.

Die Gruppe der verachtenden Intelligenzspieler wird wieder von einer
Gruppe verachtet, die über alle anderen erhaben ist. Nicht bloß, weil
sie die drei Stufen besetzt hält, die zu dem Saaleingang führen, sondern
weil sie alle die Manipulationen und Berechnungen als hellen Unsinn
erkennen.

„Die blöden Weiber,“ sagt der eine, der mit höhnischem Lächeln ein
Gespräch der benachbarten Weibergruppe zugehört hat, „sie glauben, daß
man die Einer der bei der letzten Ziehung herausgekommenen Zahlen zur
ersten Ziffer addieren muß. _Subtrahieren_ muß man sie.“

Diese Übergescheiten spielen auf Sieg und nicht wie die anderen auf
Platz. In der Prager Lotteriesprache heißt dieser Turfausdruck „Na Ruf“
und bedeutet, daß die gesetzte Ziffer an eine bestimmte Stelle, z. B.
als dritte, gezogen und ausgerufen werden muß. Sie können sich diese
Vorausbestimmung schon leisten, denn nach ihren präzisen Berechnungen
müssen sie ja gewinnen. Sie sind auch gar nicht aufgeregt und spötteln
über die Aufregung der anderen. Wenn man sie aber fragen wollte, warum
sie denn dann hierhergekommen seien und warum sie sich unmittelbar an
der Türe anstellten, dann würden sie wohl die Antwort schuldig bleiben.

Vom Turme der Jakobskirche tönen zwei Glockenschläge. Alles drängt sich
zur gläsernen Eingangstüre, durch die jetzt im Innern des Saales der
Amtsdiener sichtbar wird. Der sperrt die Türe auf und alles strömt in
den Ziehungssaal.

Wie im Hofe, so stehen auch im Ziehungssaale Polizisten, Acht an der
Zahl. Vier von ihnen bilden an der kaum acht Meter langen Barriere,
welche den für das Publikum reservierten Raum der Breite nach abgrenzt,
einen Kordon. Reelle Geschäfte pflegen im allgemeinen polizeilichen
Schutzes nicht zu bedürfen. Aber das macht die Leute nicht stutzig, die
sich durch die Türe aus dem Hofe in den Saal ergießen.

Die Wachleute sind nicht die einzige Sicherheitsvorkehrung, durch die
sich das Lottoamt vor seinen Kundschaften schützt. Die Distanz wird
gewahrt. Zwischen der Barriere und dem Podium ist ein etwa zwei Meter
breiter Zwischenraum und längs des Podiums zieht sich neuerlich ein
Geländer.

Überdies bemüht sich die Verwaltung, durch Beobachtung allerhand
strenger Kautelen darzutun, daß das Lotto schon an sich ein so
lukratives Geschäft ist, daß es nicht auch zu seiner Durchführung einer
Düpierung des Publikums oder gar eines Schwindels bedarf. Als noch das
alte Lottoamt bestand, war das Podium sehr erhöht und das Publikum
konnte den Beamten nicht genau kontrollieren. Da gab es denn arge
Verdächtigungen.

„Aha! Seht Ihr den Kerl? Die richtigen Nummern legt er auf den Tisch und
seine eigenen Nummern gibt er in die Kapseln!“

Solche und ähnliche Rufe wurden gegen den Finanzrat laut, der oben am
Tische saß. Überhaupt das alte Lottoamt! Die bejahrten Kundschaften Frau
Fortunas wissen davon sehr viel übles zu berichten. Damals war noch der
„langnasige Hausmeister“. War das ein Lumpenkerl! Der drehte und drehte
das Glücksrad wie er es brauchte. Wenn er achtmal drehte, dann kamen die
kleinen Nummern heraus, wenn er siebenmal drehte, die großen.

Und erst die Waisenknaben! Das waren ausgesuchte Lausbuben. Die hatten
die Nummern schon im Gefühl und wer sie am besten bezahlte, dem taten
sie den Gefallen und zogen sein Terno.

Ja, und die Soldaten! Das war auch ein Schwindel. Früher bildeten
nämlich Soldaten das Spalier an der Barriere. Wenn nun die Herren vom
Lottoamt wollten, dann bestellten sie sich die Jäger, die kleinen
Soldaten. Natürlich wurden dann immer die kleinen Nummern gezogen. Aber
wenn man die Ziehung großer Nummern beabsichtigte, dann bestellte man
die größten Soldaten vom Infanterieregiment Teuchert-Kauffmann, daß
diese das Herz der mannstollen Frau Fortuna beeinflussen mögen. War es
da nicht berechtigt, daß man die 88er-Infanteristen mit unverhohlenem
Unwillen empfing, wenn man gerade die kleinen Nummern gesetzt hatte?

Heute ist’s anders. Es kommen keine Soldaten mehr, sondern Wachleute,
der langnasige Hausmeister ist einem Amtsdiener mit einer indifferenten
Nase gewichen und das Podium ist so niedrig, daß man den Beamten gehörig
auf die Finger schauen kann. An dem Tische auf dem Podium sitzen drei
Beamte. Einer in Uniform, zwei in Zivil. Der eine sitzt in der Mitte des
Tisches, sein Gesicht ist dem Publikum zugewendet. Die beiden anderen
sitzen zu seinen Seiten und zeigen dem Publikum nur ihr Profil. Einer
von ihnen hat eine Kassette vor sich, in der die Nummern 1 bis 90 fein
säuberlich geordnet liegen. Er entnimmt die erste Nummer und reicht sie
einem vierten Beamten, dem Assistenten, der — mit dem Rücken zum
Publikum gekehrt — bei dem Tische steht. Der Assistent steckt den
Zettel zunächst dem uniformierten Beisitzer zu, der diesen mit
ostentativ scharfen Blick betrachtet. Dann reicht der Assistent den
Zettel dem in der Mitte des Tisches sitzenden Finanzrat und verkündet
dabei laut:

„Jedna — Eins.“

Der Finanzrat kontrolliert neuerlich, ob sich der Inhalt des
Papierstreifens mit der ausgerufenen Nummer deckt, und legt dann den
Zettel in eine hagebuttenähnliche Holzkapsel. Diese Hülse schraubt er
mit feierlicher Langsamkeit zu und wirft sie dann in das zu seiner
Rechten stehende Glücksrad, dessen Seitenwände aus Glas sind und so den
kritischen und mißtrauischen Beobachtern den Einblick in das Innere
gewähren. Glück und Glas.

Mit den nächsten Nummern geht es ebenso. Die einzelnen Ziffern werden
von den Stammgästen mit allerhand Glossen und Reminiszenzen begleitet.
Jeder der Beteiligten konstatiert mit Befriedigung, daß auch seine
Nummer der Glastrommel einverleibt wurde: Der erste Schritt zum Terno
ist getan. Manche stoßen, wenn die Ziffer ihres Extratos in das
Glücksrad geworfen wird, inbrünstige Wünsche aus. Die Nennung der Zahlen
79 und 88, die durch die Verhaftung des Markthelfers Jaro Krejsa
besondere Aktualität gewonnen haben und im Vordergrunde des Interesses
stehen, wird allseitig mit beifälligem Gemurmel begrüßt. Der
Zettelvorrat in der Kassette des Beamten nimmt zusehends ab, was sich
von der Aufregung im Zuschauerraum nicht behaupten läßt. Im Gegenteil.
Sie steigt mit der Höhe der verkündeten Ziffern.

„Hned bude neunzig,“ prophezeit Frau Lenovsky.

Sie hat recht. Bald ruft der Assistent die „Neunzig“ aus und das
Glücksrad wird verschlossen. Der Amtsdiener schnallt einen Riemen um den
Messingmantel des Glücksrades. Einer der beiden Waisenknaben, die
bislang unbeachtet in einer Ecke des Podiums saßen, steigt auf den
Stuhl, der zwischen dem Rat und dem Rad steht. Auf einen Wink des
Finanzrates beginnt der Diener die Kurbel der Glastrommel zu drehen.
Einigemale nach rechts, einigemale nach links. Die hölzernen Hagebutten
springen klappernd in ihrem gläsernen Palaste hoch empor und hopsen
lustig durcheinander, als ob sie nicht wüßten, daß sich an sie ein
verzehrendes Hoffen und Sehnen der Leute da unten knüpfe. Und wieder ein
Wink des Finanzrates. Es klingelt, und das Rad steht still. Ein
Fensterchen in der Messingwand des Glücksrades wird geöffnet. Der
Waisenknabe streckt seinen rechten Arm in die Höhe. Der rechte Ärmel
seines grauen Zwilchmantels, den er soeben anstelle seines Rockes
angezogen hat, ist bei der Schulter abgeschnitten, das Hemd
hinaufgeschlagen, so daß der Arm nackt ist. Der Bub streckt die Finger
der Hand von sich, damit man sehe, daß er auch hier nichts verborgen
habe. Er macht das ganz putzig und lächelt dazu.

„Ein entzückender Junge,“ registriert Frau Lenovsky, „und was er für
zarte Fingerchen hat. Der zieht sicher etwas gutes.“

Inzwischen hat der also Belobte seinen Arm in Fortunas Rad versenkt,
eines der hölzernen Futterale herausgezogen und es einem Mitgliede des
Beamtenquartetts gereicht, der die Hülse auseinanderschraubt, den
Papierstreifen herausnimmt, entfaltet, betrachtet und dann seinen
Kollegen reicht. Einer von diesen schreibt die gezogene Nummer ins
Protokoll und der Assistent ruft in tschechischer und deutscher Sprache
in die atemlose Stille hinein:

„Erster Ausruf: Vier.“

Im Nu weicht die Ruhe einem Gemurmel des Entsetzens. Von den verehrten
Festgästen hat gerade auf „vier“ niemand gesetzt, wie sich aus den
Mienen der Enttäuschung und den Ausrufen der Bestürzung erkennen läßt.
Ein Marktweib findet die Lösung des Rätsels, wieso gerade der Vierer
gezogen wurde:

„Weil sie den Jaro Krejsa in den Vierer gebracht haben!“

Der „Vierer“ wird im Volksmunde das Departement IV der Polizeidirektion,
das Sicherheitsbureau, genannt. Wie Schuppen fällt es von der Leute
Augen. Daß man daran gar nicht gedacht habe! Jaros Verhaftung hatte
weder 79, noch 88 zu bedeuten, sondern 4. Natürlich!

„Vielleicht wird noch außerdem die Neunundsiebzig gezogen.“ An diese
Hoffnung versucht sich eine Dame der Halle zu klammern. Aber die alten
Stammgäste der „Tante Lotty“ belehren sie eines besseren.

„Wenn einmal eine kleine Nummer gezogen worden ist, dann kommen lauter
kleine Nummern.“

Der Assistent hat unmittelbar nach seinem Ausrufe den gezogenen Zettel
in die Menge geworfen. Ein junger Lebemann von der Podskaler Wasserkante
hat ihn erhascht und diesen Talisman eingesteckt. Das nächstemal wird er
auf „vier“ setzen.

Die Prozedur wiederholt sich. Beim zweiten Ausruf wird die Ziffer „81“
gezogen, was nicht ganz dem prophetischen Ausspruche entspricht, daß
heute nur kleine Nummern gezogen würden. Aber auf dieses Nichteintreffen
der Prophezeihung ist die Erregung der Gemüter nicht zurückzuführen, die
sich nach jedem Ausruf des Assistenten in den Ausrufen des Publikums
Luft macht. Die verlesenen Zettel werden abwechselnd in den
rechtsstehenden und in den linksstehenden Teil des Publikums und in
dessen Mitte geworfen. Die Papierstreifen sind das einzige, was Frau
Fortuna ihren Bewerbern aus dem Füllhorn beschert ... Der Verkündung der
letzten Nummer ist ein besonderer Sturm der Entrüstung gefolgt. Keiner
der Harrenden hat gewonnen. Was nützt es, wenn von den drei Nummern,
welche jene Frau gesetzt hat, eine gezogen wurde? Erst zwei gezogene
Nummern des Ternos, erst zwei gezogene Nummern des Ambosolos bedeuten
einen Gewinn. Was nützt es, wenn jenem Burschen die Ziffern eines
Extratos in verkehrter Reihenfolge herausgekommen sind? Mit Unwillen
werden die Marginalzettel, diese Dokumente trügerischer Träume und
falscher Deutungen, in kleine Stücke zerrissen.

„Seht Ihr den Galgenvogel,“ kreischt Frau Lenovsky den Waisenknaben an,
den sie vorher nicht genug zu loben wußte, und der sich jetzt mit
knabenhaftem Lächeln wieder seinen Rock statt des ärmellosen Amtskittels
anzieht. „Seht Ihr den Lumpenkerl, den Wechselbalg. Seht Ihr die
Diebsfinger? Zum Stehlen, da taugt er. Aber zu etwas Anständigem? Gott
weiß, wer sein Vater war!“

Das Unglücksrad wird versiegelt. Der Saal leert sich. Die Kollektanten
eilen in ihre Geschäfte, um dort die fünf roten Ziffern auszuhängen,
welche heute ausgelost worden sind. Noch früher aber als die
Kollektanten sind in deren Geschäften die Leute, die jetzt ihr Glück den
blauen Ziffern von Brünn anvertrauen. Die Hyperklugen aber eilen in
besondere Kollekturen, in jene in der Wassergasse, in der Myslikgasse,
auf dem Petersplatz und in der Schalengasse, wo man nicht bloß auf die
blauen und roten Gewinnziffern, sondern auch auf die goldenen der Wiener
Ziehung, auf die schwarzen von Linz und Triest und auf die grünen von
Graz setzen kann.

Sie werden auch dort den großen Reichtum nicht erringen, trotz aller
ihrer geometrisch-astrologisch-okkultistisch-kabbalistisch-
kryptographisch-arithmetischen Kombinationen. Grau, teurer Freund, ist
alle Theorie. Und graue Gewinnziffern gibt es nicht.



                               Die Irren


Sie gehen umher und laufen, sie drängen sich auf den Gängen, sie stehen
in Gruppen beisammen oder schauen aus den Fenstern in den beschneiten
Garten hinunter, den fünf Gassen der Oberen Neustadt begrenzen. Der eine
raucht eine Zigarette, ein anderer hält seine Pfeife, ein dritter die
Zigarre im Mund. Der eine trägt die graue Anstaltskleidung, der zweite
einen schwarzen Gehrock, der dritte einen tadellosen grauen
Straßenanzug. Hier springt mit wirrem Lallen, gesenktem Kopf, roten
Augen und schlenkernden Armen ein Patient vorüber, dort im offenen
Zimmer spielen zwei ruhige Männer eine Partie Schach — brillante
Spieler, sagt der Arzt.

Ein Herr reicht dem Arzt den Aufnahmsbogen eines neuen Patienten. Das
Nationale und die Anamnese sind aus dem tschechischen Rapport eines
Polizeiarztes ins Deutsche übertragen und fein säuberlich mit
Schreibmaschine geschrieben. Der Arzt vergleicht den Akt mit dem
Polizeirapport, der Überreicher steht wartend. „Auch ein Kranker,“ sagt
der Arzt französisch zu mir.

Ich sehe mir den Mann an. Er ist behäbig, sehr sorgfältig gekleidet, und
hat einen wohlgepflegten grauen Schnurrbart. Er geht weg, und der Arzt
sagt zu mir: „Der Mann hat vor einigen Jahren einen Prager
Stadtverordneten aus Rache auf der Straße erschossen. Das Verfahren
wurde eingestellt, da sich herausstellte, daß der Mörder
unzurechnungsfähig war. Jetzt versieht er bei uns Kanzlistendienste. Die
Übersetzung des tschechischen Polizeirapports und die Übertragung auf
der Schreibmaschine hat er selbst besorgt.“ Ich erinnere mich genau an
den Mord, der in Prag beispielloses Aufsehen hervorgerufen hat. Der
Mann, der geglaubt hatte, von dem Stadtverordneten verfolgt zu sein,
hatte zuerst in den Zeitungen gegen ihn geschrieben, und schließlich war
sein Haß so furchtbar ins Krankhafte gewachsen, daß er dem Feinde
auflauerte und ihn erschoß. Und jetzt sieht der Mann so ruhig, äußerlich
und innerlich so ausgeglichen aus.

Ein zweiter Patient: Doctor juris. Auch sein Name ist mir geläufig. Er
hat vor einigen Jahren an dem studentischen Leben Prags regen Anteil
genommen. Er spricht mit meinem Begleiter.

„Nun, Herr Doktor, sind Sie schon zu meiner Überzeugung gelangt, daß
Ihre Diagnose falsch ist?“

Es entspinnt sich ein Gespräch, in dessen Verlauf sich der Jurist als
Fachmann auf psychiatrischem Gebiet entpuppt. Er ist hierher gebracht
worden, weil er in Intervallen von etwa zwei Jahren gefährliche Anfälle
bekommt; er ist überzeugt, daß er mit Unrecht in der Irrenanstalt
zurückgehalten wird:

„Ich tröste mich aber. Auch Christus würde heutzutage nicht mehr
gekreuzigt werden; seine Widersacher würden ihn ins Irrenhaus sperren.“

Ein dritter Patient: hochelegant, brauner Straßenanzug von englischem
Schnitt, linierter Scheitel. Über dem rechten Auge trägt er eine
schwarze Binde. Er hat in Teplitz eine Kellnerin erschossen und sich
selbst durch einen Revolverschuß ins Auge verletzt. Sein Vater ist
Rektor in einer Stadt in Deutschland; er will von dem entarteten Sohn
nichts wissen. Der junge Mann ist der Freund des internierten Doktors.
Die beiden Geisteskranken sind Meister im Schachspiel, diesem Spiel, das
die größte Anspannung geistiger Kräfte verlangt.

Von einem anderen Patienten, einem Dégénéré supérieur, der früher
Photograph war, und mit Josef Kainz in regem Verkehr stand, liegt mir
eine Reihe herrlicher Gedichte vor, die er einem der klinischen Ärzte
eingehändigt hat und die seine Stimmung in der Irrenanstalt schildern.
Aus einem Sonettenzyklus „Die Irren“ sei folgendes Gedicht hier
veröffentlicht:

   „Dann sterben sie in weißgetünchten Zellen
   Noch einmal, da sie lange schon gestorben,
   So wie die grüne Frucht, die früh verdorben
   Sich noch vom Baume löst, um zu zerschellen.

   Vielleicht ist ihnen mancher Wunsch geworden,
   Eh’ sie die fahlen Augen endlich schließen:
   Ein süßes, schwelgerisches Traumgenießen
   Und Kampfgetön, wie ferner Wind von Norden.

   Sie schwinden dann, wie Glocken, die zerschlagen,
   Weil die metallne Mischung einst mißlungen,
   Da ihre Hüter in der Schenke lagen.

   In Harmonien und in Dämmerungen
   Von neuem Blühen und von neuen Tagen
   Ruht still ihr Staub, zu bess’rem Sein gezwungen.“

Der Dichter, der dieses singt, ist schwer krank. Er hat seine Mutter
töten wollen, weil er ihre Not nicht mehr mit ansehen konnte. Man denkt
wieder an Lombroso: Genio e follia.

Er ist nicht das einzige künstlerische Genie in der Irrenanstalt. Drüben
in der Frauenabteilung sitzt ein hübsches, braunes Mädel beim Fenster,
und zeichnet mit Bleistift das deutsche naturwissenschaftliche Institut.
Ich beginne mit ihr ein Gespräch. Aber die Kleine ist schnippisch; es
ist eine äußerliche Keckheit, die innere Zagheit und Schwäche verbergen
will. Das Mädchen will mir seine Zeichnung nicht zeigen.

„Sie verstehen ja doch nichts davon,“ lacht es.

Erst als der Doktor um das Bild ersucht, zeigt die Kranke es her. Es ist
mit natürlichem Geschick gemalt, viel Strichtechnik ist darin zu sehen,
und der gute Blick der Zeichnerin ist unverkennbar. Das Mädchen befaßt
sich viel mit Kunstgeschichte: früher war Manes, jetzt ist Aleš ihr
Lieblingsmaler. Die junge Malerin ist früher Köchin gewesen; der Tadel
über eine mißlungene Speise versetzte sie in Paroxysmus, sie entlief
ihrer Herrschaft, wollte sich ins Wasser stürzen, flüchtete dann in die
Wälder der Umgebung Prags und lief dort einige Tage umher, ohne zu essen
oder zu trinken. Entkräftet lag sie im Wald, als man sie fand. Jetzt
sieht sie gut aus, und malt. — Wir treten wieder auf den Gang hinaus.

„Herr X.,“ ruft der Arzt einen Mann an.

Der kommt herbei. „Wie geht’s?,“ fragt ihn der Doktor.

„Danke, jetzt hab’ ich ja wieder ein neues Ministerium zusammengestellt.
Sie setzen jetzt in den Zeitungen einen römischen Dreier zu meinem
Namen. Na, wir werden ja sehen, wie’s gehen wird.“

Der Mann, der herbeigekommen war, als der Arzt seinen wirklichen Namen
rief, glaubt Bienerth zu sein. Die Politik ist dem Armen zu Kopf
gestiegen.

Wir treten in ein Krankenzimmer. Ein alter Patient kommt auf uns zu, und
bittet ehrerbietig, ein Theaterstück aufsagen zu dürfen. Und nun spricht
er den Puppenspieler-Faust, die Stimme variierend, wenn neue Personen
auftreten. Er erzählt von den Taten des Doktor Faust, von seiner
Geistesbeschwörung und der Verschreibung seiner Seele an den Teufel, und
von den Wunderdingen, die er am Hofe des Kaisers vollbracht habe. Er
erzählt — bis wir ihm Einhalt gebieten. Ob er noch etwas tanzen dürfe,
fragt er bescheiden. So tanzt er denn, und hopst im Zimmer herum. Die
anderen Patienten betrachten seine Sprünge kaum, so wie sie früher nicht
auf seine Rezitation geachtet haben. Sie kennen diese letzten Reste der
Kunst, die der Alte — ein ehemaliger Marionettenspieler und
Schaubudenbesitzer — aus dem einstigen Beruf in seine Krankheitszeit
hinübergerettet hat.

Wir müssen noch eine andere Vorstellung über uns ergehen lassen. Ein
Irrsinniger, der nicht sprechen, sondern nur unverständliche Laute zu
stammeln vermag, hängt einen Hampelmann an einen Schrank, umhüllt sich
und einen anderen stummen Irren mit einem Laken, schlägt mit einem
Löffel dreimal an ein Wasserglas, und beginnt nun vor dem Hampelmann
verzückte Tänze und Körperschwingen zu exekutieren. Er singt dabei in
eintönigem Rhythmus irgendwelche Worte. Sein Genosse, der überhaupt sein
willenloses Werkzeug ist, hat nur die Aufgabe, die Bewegungen zu
kopieren, und tut es mit einem dumpf-begeisterten Lachen. Was aber in
dem Innern des Protagonisten vorgeht, des Irren, dem die Anbetung des
Hampelmannes etwas Primäres ist — wer weiß das zu sagen.

Noch trübere Bilder: Ein Kranker steht gebückt in seinem Bett und starrt
aus dem Fenster hinaus ins Leere. Eine Woche steht er schon so da, und
selbst wenn man ihm Speise einflößt, schaut er aus dem Fenster hinaus in
jene Richtung, in der sein Sehnsuchtsland liegt.

Ein ganz kleiner Junge, der sehr, sehr schwer krank ist, treibt in einem
Krankenzimmer seine Possen. Er ist der Liebling seiner alten
Zimmerkollegen, und sie vollführen alle seine Wünsche. Der Kleine ist
ein Adeliger, der Enkel eines Hofrates, der früher in Österreich eine
nicht unbeträchtliche Rolle gespielt hat. Die Töchter des Hofrates sind
tief gesunken, der kleine Enkel kam zunächst ins Waisenhaus und dann
hierher.

Dort im Bette in der Ecke verstummt plötzlich das Röcheln, das bislang
hörbar war. Der Arzt geht hin und leuchtet dem wachsbleichen Mann unter
das Augenlid. Die Irren sammeln sich rings um das Bett und stieren auf
den Alten. „Exitus,“ konstatiert der Arzt leise.



                              Volksküchen


Hiemit will ich einige grundlegende Details über Prager Volksküchen
veröffentlichen, auf daß sich der geneigte Leser, der — bei der
gegenwärtigen Nahrungsmittelteuerung kann man nicht wissen! — dort
Stammgast werden will, nicht so blamiere, wie ich bei meinem ersten
Besuche. So habe ich zum Beispiel in der Straße, in der sich die
Volksküche befindet, eine Gruppe von Verwahrlosten danach gefragt, wo
die Volksküche sei. Da musterte der eine meinen derangierten Anzug, und
weil er sich nicht vorstellen konnte, daß ich Lump zum erstenmale den
Weg in das Volksrestaurant gehe, und es mit meiner Frage ernst meine, so
lachte er:

„Wenn du nicht weißt, wo die Volksküche ist, so kannst du ja ins Hotel
„Blauer Stern“ essen gehen. Das ist am Graben.“ Und ein wüstes Gegröhle
der anderen lohnte den Witzbold und verhöhnte mich.

Ich fand aber den Eingang zur Volksküche doch, und drängte mich am
Schalter. Dort hatte ich Gelegenheit, mich zum zweitenmale zu blamieren.

„Was kostet eine Suppe?“ fragte ich einen Burschen, der sich neben mir
drängte.

„Zwei,“ antwortete der Lakonier.

„Zwei Sechser?“, fragte ich weiter.

„Sag gleich zwei Gulden,“ brummte der Gefragte. Dabei maß er mich mit
einem Blick, in dem sich die Verachtung über die Unbildung eines
Menschen, der nicht weiß, daß eine Suppe zwei Kreuzer koste, mit dem
Verdachte paarte, daß ich ihn uzen wolle.

Vor solchen Blamagen will ich den geschätzten Leser bewahren, und so sei
hier ein kurzes Vademekum für Volksküchenbesucher publiziert.

Es gibt in Prag sechs Volksküchen, die vom Volksküchenverein unterhalten
werden: Für die Alt- und Josefstadt in der Gemeindehofgasse, für die
Untere Neustadt in der Petersgasse, für den Wyschehrad in der
Wratislawgasse, für die Kleinseite auf dem Malteserplatz, und je eine
für Holleschowitz und für Lieben. Die Ausgaben in sämtlichen Küchen
betrugen im vergangenen Jahre 49.059 Kronen 34 Heller. Diesen steht als
Einnahme die Bezahlung der Speisen im Betrage von 35.518 Kronen 80
Heller gegenüber, so daß in den Küchen ein Defizit von 13.540 Kronen 54
Heller bestand und diese mit einem Schaden von 38 Prozent arbeiten.

Ich selbst pflege in den letzten neunundzwanzig Tagen jeden Monates sehr
häufig die Volksküche für die Alt- und Josefstadt zu frequentieren, und
von den 122.298 Portionen Suppe à 4 Heller, von den 111.026 Portionen
Mehlspeisen à 12 Heller, die im Vorjahre in dieser Speisehalle zur
Ausgabe gelangten, habe ich meinen geziemenden Teil verzehrt.

In einem der neuen Häuser, die auf der dem Gemeindehofe
gegenüberliegenden Rampe stehen, ist sie untergebracht, in einem
Parterrelokale — anscheinend zwei Geschäftsräume, die vereinigt wurden.
Auf den glatten Schamotteziegeln, mit denen der Fußboden belegt ist,
lagert allmittäglich dicker Kot, denn die Gäste sind von weither
gewandert, und sie reinigen ihre Stiefel vor dem Eintritt in das
Etablissement nicht. Der Türe gegenüber ist der Schalter zur
Speisenausgabe. Die Hungrigen drängen sich in langer Queue. Ihr Geld
halten die meisten abgezählt in der Hand, denn wer sich zulange am
Schalter zu schaffen macht, wird unbarmherzig zur Seite geschoben. Die
wenigsten bestellen ein ganzes Menu, denn dreißig Heller sind viel Geld.
Die meisten verlangen nur eine Suppe, das billigste in diesem
Restaurant. Vier Heller hat jeder. Manche nehmen zwei Suppenportionen,
mancher nimmt zur Suppe eine Mehlspeise. Fleisch ist wenig und teuer,
und so sind die Gäste der Volksküche größtenteils unfreiwillige
Vegetarianer. Die Küchenverwalterin Frau Schepkes nimmt die Bestellungen
und die Bezahlungen entgegen, und reicht die verlangten Speisen. Aus
einem Holzkistchen, das am Schalterbrett steht, nimmt sich jedermann
einen Zinnlöffel. Auch Messer und Gabel sind darin. Aber dessen bedürfen
die wenigsten, da sie ja kein Fleisch kaufen, und man die Mehlspeise mit
der Hand zum Munde führen kann. Tafelzeremoniell und Tischetikette gibts
hier nicht.

Jeder trägt sich seine Speisen selbst auf seinen Platz. Im Saale stehen
dreizehn Tische, drei links, zehn rechts vom Eingang. Sie sind so
schmal, das an ihren Breitseiten kein Sessel steht — es wäre kein Raum
für die Schüsseln einer hier sitzenden Person. An der Längsseite jedes
Tisches läßt eine etwa einen Meter lange Bank für zwei Esser Platz. Aber
das genügt nicht für die Schar der Kostgänger, es müssen sich mehrere
aneinanderdrängen, und außerdem sitzen an jeder Ecke des Tisches vier
Leute halb auf der Bank und halb in der Luft.

Gegen ¼1 Uhr mittags faßt ein Polizist im Saale Posto. Aber er hat nur
eine Ordnerfunktion, ist nur zur Hintanhaltung eventueller Exzesse da.
Nach Vagabunden und Revertenten fahndet er hier nicht — dieser
Zufluchtsort der Hungernden scheint stillschweigend als eine Art
exterritorialen Bodens betrachtet zu werden. Beim Eintritte des
Wachmannes ist ein hünenhaft gebauter Bursche, in Kleidung, Frisur und
Blick der Typus des Prager „Pepiks“, krampfhaft zusammengezuckt. Dann
schiebt er den Suppennapf, den er vor sich stehen hat, bedeutend nach
links, damit er beim Essen sein Gesicht von dem Polizisten abwenden
kann. Wohl nicht aus Abneigung gegen den Hüter des Gesetzes, sondern er
scheint eher seit seiner letzten Beichte vor dem Strafrichter eine neue
Sünde auf sich geladen zu haben. Aber bald fühlt unser Freund, daß der
schlenkernde Blick des Mannes mit der Hahnenfeder auf ihm haften bleibt.
So wendet er sich dem Wachmann zu. Aber der nickt nur lächelnd. Und
Pepik erwidert mit freundlichem Lächeln den Blick. Nach einer
Viertelstunde verläßt der Hüter des Gesetzes wieder den Saal.

„Diesem Kerl habe ich einmal vor „Reismann“ (das bekannte Tanzlokal in
der Kastulusgasse) den Rüssel zerschlagen,“ konstatiert jetzt der
Bursche laut. Lebhafte Heiterkeit, beifällige Zurufe.

„Und wieviel haben sie dir dafür gegeben?“ forscht ein Gründlicher.

„Sechs Wochen. Wegen öffentlicher Gewalttätigkeit. Während es doch eine
rein private Angelegenheit zwischen mir und ihm war.“ Neuerliches
Halloh.

Ein etwa vierzehnjähriger Bursch im blauen Arbeitshemd, der mit dem
Wortführer am selben Tisch sitzt, ist vielleicht der einzige, der dem
Gespräch nicht zugehört hat und der in das Beifallslachen nicht
einstimmt. Er hat das schwarze Heftchen einer tschechischen
Kriminalbibliothek aufgeschlagen vor sich liegen, und während er mit der
rechten Hand den Löffel mit Suppe mechanisch zum Munde führt, blättert
er mit der linken die Seiten um, deren Inhalt seine glänzenden Augen
verschlingen. Was rings um ihn vorgeht, weiß er nicht, er hat die
Erzählung des Renkontres von „Reismann“ nicht gehört. Der Junge, der
hier die ungesunde Nahrung der geistigen Volksküchen verschlingt, der
träumt wahrscheinlich davon, auch einst ein berühmter Räuber zu werden,
wie der Betyare Rosza Sandor war. Und wird doch nur ein Pepik werden,
wie sein Nachbar.

Es sind noch jüngere Burschen da. Schulkinder, deren Eltern in der
Arbeit sind und die sich um achtzehn Heller ihr Mittagsbrot kaufen. Sie
verschlingen gierig die stark gezwiebelte Graupensuppe und den
Mohnkuchen — ihre einzige Nahrung bis zum Abend, vielleicht bis zum
nächsten Mittag.

An Greisen fehlt es nicht im Raume. Altersschwache, müde Männer, denen
vielleicht sogar der Weg vom gegenüberliegenden Gemeindehof lang und
beschwerlich war. Daß sie von dort kommen, sieht man an ihrer Mütze, die
das Stadtwappen trägt. Straßenkehrer sind sie, sieche Angehörige Prags,
die eben nur zu einer ganz belanglosen Beschäftigung taugen: Zur
Straßenreinigung von Prag.

Ein greiser Bettler wankt gebückt vom Schalter zu einem Tisch. Mit der
rechten Hand stützt er den Stock auf, in der heftig zitternden Linken
trägt er den Suppennapf, aus dem die heiße Flüssigkeit auf die Erde
spritzt. Die Hälfte des Inhaltes ist verschüttet, als sich der Alte
endlich niedergelassen hat. Jetzt hebt er mit seiner zuckenden Hand den
Löffel, aber auf dem Wege vom Teller zum Munde geht wieder ein
beträchtlicher Teil der Nahrung verloren. Und schmerzvoll bedauernd
starrt der Alte auf die kleinen Lachen, die das teure Naß auf dem
ungedeckten Tisch und auf dem Boden bildet.

Das Mädchen, das von Zeit zu Zeit die leeren Teller und Bestecke von den
Tischen räumt, kommt auch zu mir und nimmt, da sie mich nicht mehr essen
sieht, meinen Suppennapf weg. Aber kaum hat sie hineingesehen, so stellt
sie mir ihn wieder hin. Wirklich, es sind noch etwa drei Löffel Suppe
darin!

„Sie können sich den Teller nehmen,“ sage ich. „Ich esse nicht mehr.“

Das Mädchen wundert sich über diese Verschwendung.



                       Ein tadelnder Ballbericht


Jawohl, ein tadelnder Ballbericht. Du traust, lieber Leser, deinen Augen
nicht, da du dieses liest. Du glaubst — auf langjährige Erfahrung
gestützt — es könne keinen Ballbericht geben, in dem nicht stünde, daß
das heutige Fest alle bisherigen und künftigen weit übertroffen habe,
daß ein Flor bezaubernd schöner und junger Damen in noch nicht
dagewesenen Toiletten, von einem Heer tanzlustiger Herren umschwärmt,
das Tanzbein geschwungen bis sogar dem Morgen graute, daß die Dekoration
den alten Ballsaal — ei, wer hätte das gedacht — zur höchlichsten
Überraschung in einen wahren Salon verwandelt hatte, daß Frau Disponent
Kanarienvogel in einer duftigen rosa Crêpe-de-Chine-Toilette mit achtzig
echten Maréchal-Niel-Rosen am Decolleté und Fräulein Kiki Chocholauschek
in ihrem bordeauxgrünen Satinkleidchen mit echten Elbekosteletzer
Spitzen wirklich entzückend ausgesehen haben, und daß sich auf der
Estrade diesmal wirklich alle hervorragenden Vertreter der hohen
Beamtenschaft, der Großindustrie und des Großhandels, Advokaten, Ärzte,
Offiziere u. dgl., sowie Herr Larmitzer, Bureauchef der
Kolonialwarenhandlung „Porges, Ladovička & Co.“ in der Eisengasse und
Herr Jarosch in Vertretung der Ortsgruppe Prag des Südwestböhmischen
Briefträgervereines ein Stelldichein gegeben haben etc. etc.

Und doch: Ich kenne einen tadelnden Ballbericht. Es ist allerdings schon
lange her, seit er in der Zeitung stand. Das Fest ist längst aus dem
Repertoire der Prager Faschingsveranstaltungen gestrichen und das
Gebäude, in dem es stattfand, kennen die heutigen Prager kaum vom
Hörensagen mehr. Man muß in den alten „Bohemia“-Bänden um fünfzig Jahre
zurückblättern, bevor man den seltsamen Rapport findet. Am 26. Jänner
1861 steht zu lesen:

   „Die Maskenbälle im Neustädter Theater wurden heuer nicht mit
   demselben Erfolge eröffnet, wie im vorigen Jahre. Der Besuch war
   bedeutend schwächer, die Logen blieben fast ganz leer und die
   Galerien waren nur spärlich besetzt. Etwas Hervorragendes machte
   sich unter den Masken nicht bemerklich. Da sah man außer den
   unvermeidlichen Dominos die alljährlich wiederkehrenden altdeutschen
   Krieger, Griechinnen, Türken, Bäuerinnen, Pierrots, Polinnen,
   Harlekins, Matrosen etc. Das täte jedoch der Redoute keinen Eintrag.
   Wenn nur die Masken gesprächiger gewesen wären. In dieser Beziehung
   zeigten sie jedoch mit einzelnen Ausnahmen eine sehr scheue
   Zurückhaltung.“

Am Abend des Tages, an dem ich dieses alte Referat entdeckt hatte, war
ich auf einem Maskenball. Nein, war das lustig! Auf was für Ideen doch
die jungen Leute kommen, man würde es gar nicht für möglich halten! Man
sah Dominos, Bäuerinnen und Pierretten, und einige besonders
Erfindungsreiche hatten sich als Jockeys und Zigeunerinnen verkleidet.
Und weil doch Schweigen Gold ist, so waren die Masken wahrhaft goldige
Leute, und wenn eine doch den Mund zu einer scherzhaften Bemerkung
auftat, so hätte man wünschen mögen, daß sie es nicht getan hätten: Sie
waren nämlich so raffiniert, sich nicht durch geistreiche und witzige
Bemerkungen zu verraten, sondern benützten die Maskenfreiheit kluger
Weise dazu, die Angesprochenen durch die ärgsten Gemeinplätze und
dümmsten Dummheiten famos zu verspotten.

Oben im Saale, ganz nahe an der Musikkapelle, während die absolvierten
Petschauer und Preßnitzer Musikschüler mit Todesverachtung die
Tschinellen aneinander schlugen und in die Flöten bliesen, schrieb ich
den Ballbericht. Ich ließ mich durch den Ton des Referates von 1861
nicht beeinflussen und lobte das Fest über den grünen Klee. „Es war ein
wahrhaft herrliches Repräsentationsfest des Prinzen Karneval ...“

Als ich meinen Artikel in die Redaktion geschickt hatte, trat ich wieder
in den Saal hinab, um dort zu gähnen. Das veranlaßte eine vorübergehende
Maske in spanischem Kostüm zu der Äußerung: „Na Kleiner, du langweilst
dich wohl?“ Diese geistsprühende Anrede, die Geistesgegenwart und die
scharfe Logik, die sich darin kundtat, daß sie aus meinem Gähnen darauf
geschlossen hatte, daß ich mich langweile, imponierten mir. Ich schmiß
mich der Spanierin an, wir kamen bald ins Gespräch, ich erzählte ihr von
dem tadelnden Ballberichte und war begeistert über die Summe richtiger
Folgerungen, die sie daran schloß:

„Was würde der gestrenge Ballkritiker von damals heute alles zu tadeln
haben,“ meinte sie. „Damals gab es gewiß noch nicht in den Bällen die
Unsitte, während eines Walzers eine tanzende Dame zur Fortsetzung des
Tanzes aufzufordern, sie dem Anderen förmlich aus der Hand zu reißen,
bevor noch dieser zu tanzen oder zu sprechen begonnen hat. Andererseits
konnte damals gewiß keine Dame am Arme eines Herrn den ganzen Abend
kleben bleiben oder gar als Mauerblümchen mit schmerzerfülltem Herzen
und von höhnischen Blicken gemustert, vor der Mama den ganzen Ballabend
stehen bleiben, für den sie so viel Geld an die Schneiderin, für Wagen
und Ballentree bezahlt hat. Damals forderte man eine Dame zum Tanze auf
und durfte mit ihr einen ganzen Walzer, aber nur einen Walzer tanzen.
Dann stellte man sie wieder zur Gardedame.“

Ich nickte Bestätigung. Die Spanierin aber fuhr fort: „Und die Herren!
Ist es nicht ein Skandal, daß sie kein Entree bezahlen, die Kosten des
Festes von den Damen bestreiten lassen und womöglich noch, wenn sie im
Komitee sind, den unverdienten Reingewinn dazu verwenden, Kavaliere zu
spielen? Dabei tanzen sie aber gar nicht. Blasiert und mit verschränkten
Armen stehen sie in der Herreninsel und machen hämische Bemerkungen über
den Ruf der armen, wehrlosen Mädchen. Nur wenn sie die bevorstehende
Veranstaltung eines Hausballes mit „famosem Fraß“ wittern — da sind sie
mit Feuereifer beim Tanz. Hab ich nicht recht?“

Ich erklärte, daß sie sogar sehr recht habe. Darauf begann sie über den
Vortanz zu schimpfen. „Vortanz — so ein Blödsinn. Die paar Mädel, deren
Väter Geld haben oder so tun, als wenn sie welches besäßen, und die
jungen Topfgucker in ihren Fracks schreiten da mit komischer Grandezza
die Stiegen hinab und tanzen dann mit möglichst verschrobener Figur den
Straußschen Walzer „An der schönen blauen Donau“. Die anderen Herren
aber, die Sterblichen, die werden inzwischen wie ein Stück Weideviehs
mit einem Stricke umbunden und dürfen aus dieser Umpferchung nicht
hinaus. Die Mädchen aber, die nicht des Vortanzes wert befunden wurden,
die dürfen bewundernd dem Göttertanze zuschauen.“

Ich bemerkte, daß das in der Tat lächerlich sei. Meine Dame aber fuhr
fort: „Noch ärger ist es mit den Damentoiletten.“

Ich erwiderte, daß ich diese nicht besichtigt habe. „Nein, nein,“ rief
sie entsetzt aus, „ich meine ja die Damenkleider. Früher ist ein Mädchen
in einem einfachen Kattunkleidchen zum Tanze gegangen und hat sich
fürstlich unterhalten. Jetzt aber muß sie ein Kleid um mindestens
hundertsechzig Kronen haben, damit die anderen Damen nicht die Nase
rümpfen. Denn den Herren ist doch das Kleid ganz egal, wenn nur die Dame
hübsch ist.“

Wir hatten inzwischen in einem lauschigen Winkel des Saales Platz
genommen und der eisige „Moët-Chandon“ erwärmte unsere Herzen. Ich
rückte näher an die Spanierin heran und begann zärtlich mit ihrer Hand
zu spielen. Sie aber fuhr in ihrem tadelnden Ballberichte fort: „Dazu
noch die Tänze von heutzutage. Immer nur Walzer, wieder Walzer und
wieder Walzer. Und wenn die Musik ausnahmsweise irgend ein
Promenadenstück spielt, so tanzt man — Walzer. Vor fünfzig Jahren, da
hat es wohl noch Quadrillen und Mazurka gegeben, aber heute — wer kann
heute bei diesen wilden Tänzen noch Grandezza und Liebreiz zeigen?“

„Du, meine schöne Maske! Du mußt mir deinen Liebreiz zeigen, du mußt
dich demaskieren,“ mit diesen ungestümen Worten machte ich meiner
verhaltenen Leidenschaft und Begeisterung Luft. So fein beobachtend, so
klug war sie, meine kleine Partnerin, so seltsam stach sie von den
übrigen jungen Mädchen ab, die im Glanze der Ballsaallichter, im Banne
des Ballfiebers, am Arme des Tänzers und im Zauber der Musik an alle die
kleinen Unzukömmlichkeiten, an den freien Eintritt der Herren, an den
Vortanz und das abwechslungsarme Repertoire von Tänzen gar nicht denken,
gar nicht denken wollen. Aber die spanische Tänzerin an meiner Seite,
die konnte ihr Beobachtungstalent, ihre kritische Begabung, ihren Sinn
für Vergleiche, ihr Taktgefühl auch im Maskentohuwabohu nicht verleugnen
— ein ideales, ein einziges Weib.

„Du mußt dich endlich demaskieren,“ flehte ich dringender, da sie sich
noch immer weigerte dies zu tun, „du mußt, du mußt.“

Da tat sie mir denn schließlich den Willen: Sie nahm die Maske ab und
ich konnte konstatieren, daß diese Spanierin wahrscheinlich an dem Feste
von 1861 teilgenommen hatte.



           Von Feilbietungen, Auktionshallen und vom Chabrus


Es wäre vielleicht eine belehrende Illustration zu manchen Vorträgen an
der Juristenfakultät und an der Handelsakademie, wenn die Hörer
veranlaßt werden würden, Exkursionen in die dunkelsten Gebiete des
volkswirtschaftlichen Lebens zu unternehmen, die Tätigkeit jener
Gewerbsleute und Händler zu betrachten, die weder konzessioniert noch
protokolliert sind, die auch zum großen Teile keine Steuern bezahlen.
Man könnte da manche Lücken in den Gesetzen entdecken, manchen
Geschäftskniff bestaunen, man könnte da vielleicht konstatieren, daß
manche Finanzoperationen, über deren nationalökonomischen Wert und über
deren Zulässigkeit an den Börsen und Hochschulen Amerikas gestritten
wird, hier im kleinen, ganz kleinen Maßstabe als selbstverständlich
praktiziert werden. Und wer weiß, ob die Trusts und die Kartelle der
armen Prager Trödler und Hausierer nicht besser organisiert sind als
jene der amerikanischen Multimillionäre?

Man kann die Gegenseitigkeitsgeschäfte dieser kleinen Leute, die sich in
einem beispiellos erbitterten Kampfe um den kleinsten Gewinst aufreiben
und die trotz ihrer Geschäftsschlauheit und ihrer raffinierten
Organisation im allgemeinen auf keinen grünen Zweig kommen, leicht
beobachten. Man kann unter irgend einem Vorwande in die
Partiewarengeschäfte und Trödlerläden, in die Handelcafés in der
Zeltnergasse und auf dem Ziegenplatz kommen, man kann aber auch den
öffentlichen Feilbietungen in der gerichtlichen Auktionshalle im
Landesgerichtsgebäude, den Pfänderversteigerungen im „K. k. Pfand- und
Leihamt“ in der Leihamtsgasse und in den zahlreichen privaten
Pfandleihanstalten beiwohnen und dort diese Börsenspekulanten in
Partiewaren in sinnfälliger Massenwirkung bei der Arbeit sehen.

                   *       *       *       *       *

Ein Kaffeehaus, hart an der Grenze der Alt- und Josefstadt. Die
Operationsbasis für die Geschäfte der Tandler und der „Šalváří“,
der Spezialisten in echten und falschen Juwelen. Es ist früh. Ein Gast
kommt herein:

„Adalbert, bring’ mir ein Schmalzbrot,“ ruft er dem Kellner zu.

„Schmalz ist nicht, aber harte Grieben kannst du haben,“ sagt der
Kellner. Die Brücke, die vom Gast zum Kellner führt, führt auch vom
Kellner zum Gast: Sie duzen einander.

„Also bring’ mir die Grieben, und das „Amtsblatt“ möchte ich haben.“

„Da liegt es doch,“ ruft der Kellner unwillig, und deutet auf die
Zeitung, die wirklich auf dem Sessel neben dem Neuangekommenen liegt.

Der aber ist neugierig, zu erfahren, wer schon früher das Amtsblatt
studiert hat. Und der Kellner erwidert, daß Karl Neuhof gerade
weggegangen ist.

„Und wohin?“ forscht der Gast mit einer durch die Konkurrenz begründeten
Neugier weiter.

„Nach Žižkow zu irgend einer Feilbietung,“ verrät der Garçon.

Da wendet sich der Gast mit Grausen. Er spuckt aus: „Die
Werkstätteneinrichtung von Nechvátal! Schöne Sachen, was da zu kriegen
sind! Dort wird Neuhof kein Rothschild werden.“

Inzwischen hat sich Adalbert entfernt, und der Gast nimmt das „Amtsblatt
zur Prager Zeitung“ zur Hand, dieses zweisprachig gedruckte Blatt, in
dem der Amtsschimmel alltäglich die hohe Schule reitet. Aber unser
Freund interessiert sich weder für den Humor der Tatsache, daß der seit
„hundertsechzig Jahren abgängige Mathias Struck“ aufgefordert wird, sich
binnen sechs Wochen zu melden, widrigenfalls er todeserklärt wird, er
interessiert sich nicht für den Aufruf an die Erben „des mit
Hinterlassung eines Vermögens von 23⅓ Hellern ohne Hinterlassung
einer letztwilligen Anordnung verstorbenen konzessionierten
Drehorgelspielers Josef Horčička“, er beachtet auch die Rubriken
„Erledigungen“, „Konkursausschreibungen“, „Kundmachungen“,
„Proklamierung alter Satzposten“, „Anlegung neuer Grundbücher“,
„Amortisationen“, „Kuratelsverhängungen“ und „Erkenntnisse“ nicht, sein
Blick bleibt an der Rubrik „Feilbietungen“ haften, in der am Schluß nach
den langatmigen Ankündigungen der freihändigen Verkäufe von Realitäten,
Liegenschaften, Häusern, Mühlen und Fabriken, die Nachricht über
„Feilbietungsedikte“ stehen. Die liest er eifrig und schreibt in sein
Notizbuch mit den schwarzen Wichsleinwanddeckeln von Zeit zu Zeit etwas
ein. Nicht alles. Die Feilbietungen, die in der öffentlichen
Auktionshalle im Landesgericht abgehalten werden, braucht er nicht zu
vermerken, dort ist er ohnedies an jedem Freitag. Ebenso weiß er genau,
daß fast immer am Freitag nach dem Zehnten jedes Monates die
Versteigerung der verfallenden Pfänder des staatlichen Leihhauses
stattfindet. Was ihn aber interessiert, ist das Datum der Auktionen in
den acht privaten Pfandleihanstalten und Datum, Hausnummer und
Warengattung der Geschäfte und Wohnungen, in denen exekutive
Feilbietungen vorgenommen werden.

Während in dem Notizbuche Ziffern und Adressen verzeichnet werden, kommt
ein neuer Gast in das Café und setzt sich mit stummen Gruß zum ersten.
Der Angekommene zieht einen Karton mit Goldinuhren aus der Tasche —
Fabriksware, die wegen kleiner oder wegen großer Fehler nicht mit der
Firmamarke versehen und nur an Ramscher abgegeben wird. Der neue Gast
will die Uhren hier nicht verkaufen, er weist sie seinem Kollegen nur
zur Begutachtung vor.

„Sechs Kronen per Stück,“ schätzt der.

„Fünf,“ lächelt der andere, zufrieden darüber, daß sein Branchegenosse
die Uhren überschätzt hat, und ermutigt, zieht er nach und nach sein
ganzes Warenlager hervor: Ein Paar Brillantohrgehänge aus der
Westentasche, einen Similiring vom Finger, eine Damenuhr mit Rauten aus
der Hosentasche.

Inzwischen ist es neun Uhr geworden. Die beiden brechen auf.

„Wohin gehst du?“, fragt der zuerst Angekommene den andern.

„Ich geh’ ins Geschäft. Und du?“

„Ich geh’ zum General.“

So trennen sie sich. Der eine also geht „ins Geschäft“, was aber
durchaus nicht soviel bedeutet wie „ins Geschäftslokal“. Ein solches hat
er nicht. Er geht nur zu seinen Kundschaften, zu Tandlern,
Privatpersonen und Gästen der kleinen Kaffeehäuser, denen er seine
Schmucksachen aufschwatzt.

Der andere geht „zum General“, d. h. in das Landesgerichtsgebäude an der
Ecke des Obstmarktes und der Zeltnergasse, das so heißt, weil es früher
das Generalkommando von Prag war und als solches traurige Berühmtheit
erlangte, als am 12. Juni 1848 ein Schuß durch das Fenster die Gemahlin
des Feldmarschalls Alfred Fürsten Windischgraetz, Fürstin Maria Eleonore
Windischgraetz-Schwarzenberg (die Großmutter des jetzigen
Herrenhauspräsidenten Fürsten Alfred Windischgraetz), tötete. In den
ebenerdigen Räumen des alten Generalkommandogebäudes, die ehedem als
Wachzimmer und Stallungen verwendet wurden, ist heute außer dem
Depositenamt, seit dem Jahre 1900 auch die gerichtliche Auktionshalle
untergebracht. Die ist das Ziel des Kaffeehausbesuchers, der „zum
General“ geht.

Die Fachleute in Partiewaren und Gelegenheitskäufen behaupten, daß hier
nichts besonderes zu holen sei. Sie begründen es mit der Tatsache, daß
sich die in Geldnot befindlichen Leute absichtlich die für sie wertlosen
oder unbrauchbaren Mobilien pfänden lassen, um sie in der Auktionshalle
zu besseren Preisen loszuwerden. Wird bei der Lizitation nicht der Preis
geboten, den der Eigentümer den gepfändeten Sachen beimißt, so hat er —
vorausgesetzt, daß er pfiffig ist — noch immer Mittelchen genug, den
Preis in die Höhe zu lizitieren oder die Sachen selbst zu erstehen.

Um dieser und anderer Mittelchen willen, und weil dort hie und da doch
etwas Preiswertes zur Versteigerung gelangen könnte, sind doch
zahlreiche Fachmänner da. Vor allem die Mitglieder des „Chabrus“. Diese
Körperschaft wird man vergeblich in den Registern der Vereinspolizei
suchen und auch im Staatswörterbuche findet man diesen Namen nicht. Das
Wort „Chabrus“ ist eine Verstümmelung des hebräischen Ausdruckes
„Chawroßo“, d. i. Freundschaft. Und ursprünglich ist auch der „Chabrus“
eine geheime jüdische Einkaufsgenossenschaft und gleichzeitig eine Art
Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit gewesen, dem die Althändler und
Trödler des Ghettos angehörten. Als sich aber die Tore des Ghettos
öffneten, da wurde die Idee des Chabrus eine interkonfessionelle, und
mit der politischen Geschichte dieses Landes ist der Chabrus verknüpft,
den — — die ältesten Adelsgeschlechter Böhmens im Jahre 1872 gegründet
hatten. Das war nach dem Sturze des Ministeriums Hohenwart. Der Landtag
war aufgelöst worden, und zwischen den beiden Gruppen des
Großgrundbesitzes, die damals noch kein Wahlkompromiß hatten, entspann
sich ein heftiger Wahlkampf, der zugleich ein Kampf um die Majorität im
Landtag war. Da wurden denn Banken gegründet, um zur Wahl berechtigende
landtäfliche Güter zu kaufen, da traten die Besitzer zweier oder mehr
solcher Güter eines an dritte Personen ab, da gab es Güterkäufe und
Güterteilungen in Masse, beide Gruppen überboten einander, bis
schließlich die Verfassungstreuen den Sieg über die Konservativen
davontrugen. Aber manche Gesetzesbestimmung über die Wahlen in den
österreichischen Landtag wurde nach den Lehren geändert, die man aus dem
„Chabrus“ der Ära Auersperg gezogen hatte.

So nobel ist der Chabrus der Prager Kleinhändler freilich nicht. Er war
wohl ursprünglich eine Schutzorganisation für die eigenen Mitglieder,
die falliert hatten und deren Lager versteigert wurde. Ein anderer der
Genossenschaft erstand einfach die lizitierten Waren zum Mindestanbot,
der etwa nur ein Drittel des Schätzungswertes ausmachte, ohne daß er von
den anderen gesteigert worden wäre. Kam aber ein Unbeteiligter zur
Lizitation und beteiligte sich an dieser, so wurde er so in die Höhe
lizitiert, daß er entweder einen ganz famosen Preis für die Waren des
falliten Chabrus-Bruders zahlen mußte, oder die Lust an weiterer
Beteiligung verlor. Außerdem erschienen die Chabruser oft in so großen
Massen in den kleinen Geschäftslokalen, in denen die Lizitationen
stattfanden, daß ein „Unberufener“ gar nicht hinein konnte — ein
Manöver, das durch Errichtung der gerichtlichen Auktionshalle eine
wesentliche Einschränkung erfahren hat.

Im Laufe der Jahre erstreckte der Chabrus sein Tätigkeitsgebiet auch auf
Auktionen von Lagern, die nicht seinen Mitgliedern gehörten. Die Waren
wurden von der Kassa gekauft und dann im Kreise der Mitgliedschaft
weiter versteigert. Nutzen und Schaden trug die gemeinsame Kassa. Der
Chabrus verlor seine feste Struktur, er teilte sich nach den Branchen in
verschiedene Teile und büßte schließlich ganz den Charakter einer
einheitlichen Organisation ein. Heutzutage wird gewöhnlich nur ad hoc im
Lizitationslokale ein Chabrus gegründet und nur bei den
Pretiosenversteigerungen im k. k. Leihamte sind die beiden
Konkurrenz-Chabruse des Herrn Franz und des Herrn Široky der ruhende
Pol in der Erscheinungen Flucht.

In der gerichtlichen Feilbietungshalle sind auch die räumlichen
Verhältnisse schlecht. Der Lizitationsleiter steht nicht in der Mitte
der Längsseite, sondern der Breitseite des Saales. Also können sich nur
wenig Leute herandrängen, und die Mehrzahl sieht von der lizitierten
Ware nichts, trotzdem der Saal leicht ansteigend gebaut ist. Nur durch
das Gäßchen, das von Barrieren eingesäumt wird, und deren Eingang ein
Wachmann streng bewacht, kann man hie und da einen Blick nach den
Schätzen auf dem Auktionstische werfen.

Die Halle ist niedrig und der Geruch von Karbol und anderen Substanzen,
mit denen die gepfändeten Gegenstände desinfiziert worden sind, erfüllt
die Luft.

Da ist die Auktionshalle im staatlichen Versatzamte in der Leihamtsgasse
viel moderner und eleganter. Ein glasgedeckter Lichthof von kolossaler
Breite. Also kann sich alles in die Nähe des Lizitationsleiters drängen,
alles kann die zu versteigernden Sachen aus nächster Nähe betrachten,
alles kann sich mit absichtlich gewählten oder zufälligen Nachbarn über
die Umwertung aller Werte, die hier feilgeboten werden, unterhalten,
alles kann mitsteigern, mitstreiten, mitschreien ...

Der Schätzer wirft ein Paket auf den Tisch und der Ausrufer schreit
tschechisch in den Saal:

„Ein Havelock, vier Messer und eine Decke: 13 Kronen.“

„Zehn,“ ruft jemand aus dem Publikum.

„13 Kronen 10 Heller,“ registriert der Ausrufer, aber die Rufe „zehn“,
„zehn“ überhasten einander, so daß er den Stand der Anbote nicht laut
konstatieren kann. Und trotzdem die affischierte Lizitationsordnung
vorschreibt, daß er jedes Anbot in beiden Landessprachen wiederholen
soll, hat ihn wohl noch nie jemand ein deutsches Wort sprechen gehört.

„Zehn, zehn,“ tönt es von rechts nach links.

„Ich nehme ...“ ruft ein hier Einheimischer dazwischen. Die Worte „ich
nehme“ sind ein von der Lizitationsleitung anerkanntes Synonym für das
Wörtchen „zehn“.

Eine Frau hat es besonders auf dieses Paket abgesehen. Mit rasant
wachsender Schnelligkeit kreischt sie die Rufe „deset“, „deset“ (zehn)
dem Lizitationsleiter zu, niemand lizitiert mehr mit, und sie steigert
sich fortwährend selbst. Nur die Endsilbe „..set“ ist hörbar.

„Wieviel set (Hunderte) wollen Sie denn bezahlen?“ ruft ein Witzbold
dazwischen. Lachen. Da hält die Frau inne. Sie erwacht aus ihrem
Paroxysmus und merkt, daß sie zu teuer gekauft hat oder wenigstens mehr
bezahlen muß, als sie anfangs wollte. Bei ähnlichen Gefühlen ertappt man
sich vielleicht im Kasino von Monte Carlo.

Der Ausrufer erklärt: „Achtzehn Kronen und zwanzig Heller zum ersten,
zum zweiten und dritten Male“. Der Lizitationsleiter drückt auf die
Glocke. Der Diener legt das Paket mit Havelock, Messern und Decke auf
den Pult, vor die Frau, die es gekauft. Der Kassier füllt einen Zettel
mit dem erzielten Betrag und das Pare des Lizitationsprotokolls aus. Der
Schätzer reicht ihn der Frau. Diese bezahlt das Geld. Dann keift sie:

„Wo ist die Ware?“

„Hier liegt sie doch!“ antwortet der Schätzer. „Nehmen Sie Ihren Zwicker
ab, dann werden Sie sehen.“

Die Frau hat natürlich keinen Zwicker, und die Leute lachen. Stimmung:
Lustig. Sie flaut nicht einmal dann ab, als ein brauner Flanellstoff zur
Versteigerung ausgerufen wird, der von schäbiger Farbe ist:

„Den trägt man in Pankratz,“ lacht einer vom Auditorium, „nicht wahr,
Karl?“

Karl bleibt die Antwort nicht schuldig: „Ganz richtig. Du kannst ihn
ruhig kaufen.“

Das nächste Stück, das der Ausrufer in die Höhe hebt, erweckt scheues,
ehrfurchtsvolles Murmeln. Ein Beamtenmantel ist es, mit bordeauxroten
Passepoils. Selbst der Schätzer muß Hochachtung vor diesem Sinnbild der
Staatsgewalt empfunden haben, als es versetzt wurde. Er hat nicht
weniger als achtundzwanzig Kronen darauf geliehen, denn 28 K 40 h
(geliehenes Kapital + Interessen + Lizitationskosten) sind heute der
Ausrufspreis.

„Das ist ein Mantel von der Polizei,“ flüstert jemand einem andern zu.

Aber der andere weiß es besser, denn er steht sozusagen bei sich selbst
als agent provocateur in Diensten. Bei den Bummelkrawallen hat er
Polizisten gegen Exzedenten und Exzedenten gegen Deutsche gehetzt, und
stand einmal als Angeklagter, einmal als Kläger vor der Barre des
Strafgerichtes. Er ist Nationalsozialist und Sozialdemokrat, Stammgast
der Meetings und im Schwurgerichtssaal und niemals fehlt er bei
Auktionen. Er schreit mit, wenn sich zwei Personen darüber streiten, wer
von ihnen das Meistangebot getan hat, wem von ihnen das abschließende
Glockenzeichen galt. Er schreit empört, wenn sich jemand in das Gäßchen
stellt, das den Zugang zum Auktionsleiter bildet und freizubleiben hat.
Er schreit und hetzt — aber sonst beteiligt er sich an den Geschäften
nicht. Er braucht nur den Nervenkitzel. Doch kehren wir zu dem Gespräch
zurück:

„Der Mantel muß nicht von der Polizei sein,“ sagt der
Amateur-Lockspitzel, „der kann auch einem Statthaltereibeamten gehören.“

Der andere, ein kleiner tschechischer Trödler aus der Fabriksvorstadt
will das nicht glauben. „Alle Polizeibeamte haben doch solche dunkelrote
Aufschläge! Und zwei Behörden können doch nicht gleiche Farben haben.
Und es ist ein sehr feiner Mantel, der ist sicher von der Polizei!“

„Sie, Gescheiter!“, lacht der Fachmann. „Die Statthalterei ist doch mehr
wie die Polizei, das ist doch die höhere Instanz.“

Aber der kleine Trödler murrt nur ungläubig und unwillig: „Jo, jo, sagen
sie vielleicht auch noch, daß die Verzehrungssteuer mehr ist als die
Polizei!“ Dann dreht er sich um. Für ihn ist eben die Polizei das
höchste auf Erden. Nichts kann diesen frommen Glauben erschüttern, nicht
die Erklärung des Fachmannes, und nicht einmal die Tatsache, daß der
Mantel eines Polizeibeamten in der Leihanstalt versetzt wurde und
verfiel.

Rings um die Lizitationskommission führt ein langes Pult, an dem die
Kauflustigsten stehen. Sie sind entweder schon so früh gekommen, daß sie
einen Platz an der Brüstung erhaschten, oder haben sie sich durch
Energie und Beharrlichkeit vorgedrängt. Auf diesen Pult breitet der
Schätzer die Schätze. Fachmännisch wird alles untersucht und gegen das
Licht gehalten, damit man das Vorhandensein von Motten konstatieren
könne. Links vor der Quality street, die zum Auktionsleiter führt und
die ein Polizist bewacht, stehen zwei Chabrusgruppen. Jedes Pfandobjekt,
das ihnen vorgelegt wird, wird durchberaten, und die beiden
Chabrusmacher (an dem hinters Ohr gesteckten Bleistift und dem
aufgeschlagenen Notizbuche sind sie kenntlich) vermerken zunächst in
ihrer Gruppe die Kauflustigen und erkunden, bis zu welchem Betrage
Kauflust vorherrschen würde. Dann unterhandeln die beiden feindlichen
Chabrusgenerale, und erzielen nach langem Feilschen die Vereinbarung,
daß bei diesem Pfandobjekt nur die eine Chabrusgruppe, bei dem nächsten
nur die andere mitlizitieren wird. Wenn das Objekt erstanden ist, dann
wird — mitten im Saal — innerhalb der Chabrusgruppe leise
weiterlizitiert. Bei dieser Privatversteigerung sind bloß 5 Heller das
geringste Mehranbot. Von dem Betrag, um der bei dieser leisen Auktion
mehr erzielt wird, als bei der offiziellen, fallen zehn Prozent der
Kassa zu, und der ganze Nutzen bleibt innerhalb des Kreises.

Auch rückwärts im Saal gibt es verzeichnenswerte Gruppen. Ein armseliger
Kleiderhändler in Břewnow hat eben einen Riesenballen aus dem
Kommissionsraum geholt und breitet dessen Inhalt neugierig, ja
fieberhaft gespannt, auf einen Sessel. Zahlreiche Gaffer begutachten
gleichfalls die farblosen, formlosen Damenkostüme, die der biedere
Břewnower in zitternder Erregung einzeln aus dem Ballen nimmt und auf
die Sessellehne legt. Ein feister Konfektionär — Pelzkragen und
Goldzwicker zeichnen ihn aus — lächelt ironisch über den Schund. Dann
tritt er auf den Besitzer zu:

„Wieviel haben Sie dafür gegeben?“

„41 Kronen 10,“ sagt der andere kleinlaut und forscht ängstlich in dem
Gesichte des Fragestellers nach dessen Ansicht. „Es war ein Dutzend.“

„Für ein Dutzend? Das ist wirklich sehr billig, halb umsonst.“ Der mit
dem Pelzkragen sagt das ganz ernst. Aber als sich der Břewnower
Spekulant erleichtert nach den anderen Stücken des Ballens bückt, um die
weiteren Schönheiten des eben erstandenen Lagers auszubreiten, zuckt
über das Gesicht des behäbigen Fachmannes ein Lachen zu den Zuschauern
hinüber. Die nehmen es verständnisvoll, mit Kichern auf. Der dicke Herr
befühlt die Ware:

„Höchst moderne Fasson. Sehr feiner Stoff,“ frozzelt er im Tone höchster
Anerkennung, und das Publikum lacht. Lacht immer stärker.

Links vom Eingang, dicht am Ofen steht eine Arbeitersfrau mit einem
Säugling am Arm. Sie will in dem Lärm ihr Kind einwiegen. Zuhause kann
es vor Frost nicht schlafen. Das Leihamt, das die ganze Habe der Frau
verschlungen, muß ihr jetzt ein bißchen Wärme geben.



                             Die Verhaftung


Man schreibt mir, ich möge wieder eine journalistische Erinnerung zum
besten geben. Also gut.

Die Geschichte, die davon handelt, wie es einst vier Polizisten gelang,
mich durch ihr strategisches Talent zu verhaften, habe ich bislang aus
zwei Gründen nicht erzählt:

1. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, daß der Journalist nichts von den
Geheimnissen seiner Technik ausplaudern soll. So soll, zum Exempel, kein
Leser davon erfahren, daß die Nachrichten über Todesfälle besonderer
Männer von der Zeitung meist mit großen Schwierigkeiten rechtzeitig in
Erfahrung gebracht werden. Die meisten Portiers der Prager Palais, der
Ämter und öffentlichen Institute sind von den Redaktionen nachdrücklich
verständigt, eventuelle Todesfälle unverzüglich zu deren Kenntnis zu
bringen, und wenn irgend eine besondere Persönlichkeit schwer krank ist,
dann wird das Haus noch überdies bewacht, damit der Leser schon am
nächsten Morgen die traurige Neuheit erfahre.

2. Es wäre taktlos gewesen, einen Vorfall, der sich an eine solche
Überwachung knüpft, zu berichten, so lange der damals Überwachte noch am
Leben war.

Aber jetzt kann ich die Geschichte erzählen. An ungeschriebene Gesetze
halte ich mich ebensowenig, wie an geschriebene, und verrate daher ganz
offen das Geheimnis des Todesnachrichten-Dienstes; und auf die Gefahr
hin, daß manchen angesehenen Leser ein Gruseln überfällt, verrate ich
hiemit, daß schon mancher Mann derart überwacht wurde, der
glücklicherweise noch heute frisch und gesund in sein Amt spaziert.

                   *       *       *       *       *

Es ist schon etwelche Jahre her. Ich war erst vor kurzem zur Zeitung
gekommen und zu meinen wichtigsten Obliegenheiten gehörte es, mich im
Sicherheitsdepartement der Polizeidirektion danach zu erkundigen, ob
nicht irgendwer irgendwo wegen irgendeiner ungesetzlichen Tat in Haft
genommen worden sei. Da erfuhr ich denn von Bierröhrendiebstählen,
Heiratsschwindeleien und Betrugsaffären und wenn jemand jemanden
ermordet hatte, dann war’s ein schönes Leben, denn da hatte ich viel zu
schreiben. So ging ich zweimal täglich in das Sicherheitsbureau, vor dem
immer ein Polizist Wache steht. Die Wachleute kannten mich daher und
viele wußten auch bald, aus welchen Gründen ich die gefürchteten Räume
der Kriminalpolizei betrete. Aber die Polizisten, welche schon nach
kurzer Zeit von der Altstädter Wachstube auf andere Kommissariate
versetzt wurden, wußten das nicht.

Um jene Zeit war Direktor Angelo Neumann, kurz nach seiner Operation bei
Prof. Israel in Berlin, in Prag schwer erkrankt. Der damalige
Theatersekretär, der vor einigen Jahren in Wien verstorbene Karl
Rosenheim, hatte meinem unmittelbaren Vorgesetzten, dem gleichfalls
seither dahingeschiedenen Redakteur Hermann Katz mitgeteilt, daß es
schlecht um Angelo Neumann stehe. So erhielt ich denn den Auftrag noch
in der Nacht, unmittelbar vor Redaktionsschluß nach Angelo Neumanns
Wohnhaus zu sehen.

Um vier Uhr nachts ging ich hin. Innerhalb der Parterrefenster im
Eckhause der Bredauergasse und des Stadtparkes, wo Angelo Neumann seine
Wohnung innehatte, war es dunkel — es war also nichts Absonderliches
geschehen. Ich wandte mich, den Weg zurückzukehren, den ich gekommen
war. Da hörte ich hinter mir schwere, eilende Schritte. Ich schaute mich
um: Es waren zwei Polizisten, denen der nächtliche Passant, der in der
menschenleeren Gegend unmittelbar vor ihnen umgekehrt war, sehr
verdächtig schien. Anfangs machten sie Miene, mir nachzueilen, aber sie
erkannten bald, daß ich ihnen leicht entwischen könnte und änderten
daher ihre Taktik. Der eine Polizist begab sich auf das linke, der
andere auf das rechte Trottoir und nun nahmen sie, auf gleicher Höhe
eilend, die Verfolgung auf. Ich beschleunigte meinen Gang, da ich
kalkulierte: Wenn ich verhaftet werde, so kann ich morgen auf Grund des
Polizeirapportes wunderbar nachweisen, daß ich wirklich um vier Uhr
nachts meinen Auftrag vollführt habe. So eilte das nächtliche Dreieck
vorwärts: Ich in der Mitte der Fahrbahn voran, rechts hinter mir ein
uniformierter Verfolger, links von mir ein zweiter.

Die Distanz verringerte sich nicht. Die Wachleute strengten sich nicht
mehr an als ich und riefen mir kein Halt zu. Sie schienen einen Plan zu
haben. Nur dort, wo von der Bredauergasse die Olivagasse abzweigt,
vergrößerte der rechte Mann seine Eile, damit ich ihm nicht durch die
Seitengasse entwische. Aber ich ging den geraden Weg. Und bald verstand
ich den Plan: Knapp vor der Einmündung in die Heinrichsgasse ließen
meine Verfolger ihre Polizeipfeife ertönen. Und aus dem Dunkel der Nacht
tauchte jetzt auch vor mir ein Doppelposten auf. (Es war jener Posten,
der bei Nacht vor dem Hauptpostgebäude zu stehen hat und bloß einmal
nicht dort stand: Als Wasinski an dieser Stelle seinen Mord verübte.)
Ich war umzingelt und konnte nicht mehr entwischen. Wie triumphierend
ertönte hinter mir der tschechische Ruf: „Halt“.

Ich blieb stehen und die Polizisten näherten sich mir. „Was haben Sie
hier gemacht?“ fragte der eine.

„Ich bin spazieren gegangen,“ versetzte ich so kleinlaut, als ich
konnte. Die Wahrheit war ja Redaktionsgeheimnis und kümmerte die
Wachleute nichts.

„Schau, schau! Spazieren sind Sie gegangen,“ wunderte sich einer der
Polizisten. „Um vier Uhr nachts geht man spazieren?“

„Ja, ich komme aus der Arbeit und da bin ich noch etwas frische Luft
schöpfen gegangen,“ entschuldigte ich mich weitschweifig.

„Was sind Sie denn?“ fragte man mich weiter.

„Ich bin bei der Firma Haase angestellt,“ antwortete ich wahrheitsgemäß,
wenn auch nicht prägnant.

Der Fragesteller lachte siegreich auf: „Wie können Sie also jetzt aus
der Arbeit kommen! Bei Haase wird doch nachts nicht gearbeitet!“

Schon wollte ich etwas entgegnen, als zwei Augen des Gesetzes, die mich
bisher scharf angesehen hatten, noch näher an mich heranrückten. „Sie,“
so begann ihr Inhaber, „Sie, mir scheint, wir kennen einander schon.“
Und ohne meine Antwort, daß ich nicht die Ehre habe, abzuwarten, fuhr er
fort: „Waren Sie noch nie im Sicherheitsdepartement?“

„O ja,“ sagte ich, „ich war schon oft im Vierer.“

Das Wort „Vierer“ hatte eine tiefe Wirkung, denn nur den Eingeweihten,
hauptsächlich den Polizisten und den Verbrechern ist dieser Ausdruck für
das Sicherheitsbureau (das vierte Departement der Polizei) geläufig. Der
eine Polizist steckte eine Miene des Jubels auf, der zweite nickte
langsam mit dem Kopfe und der dritte verlieh geistesgegenwärtig der
allgemeinen Verblüffung beredten Ausdruck. Er führte aus:

„Ei, ei.“

Der vierte aber, der Besitzer jenes Augenpaares, das mich erkannt und
entlarvt hatte, wollte nunmehr auch beweisen, daß meine Agnoszierung
keine zufällige und seine Personalkenntnis des Sicherheitsbureaus
wirklich eine tiefgründige sei:

„Da kennen Sie wohl den Herrn Olič?“

„Freilich kenne ich den Herrn Regierungsrat,“ war meine Antwort.
(Olič, der vor drei Jahren als Hofrat in Pension ging, war damals
Departementschef.) Das Frage- und Antwortspiel ging weiter:

„Und Herrn Protiwenski?“

„Ja, den Herrn Oberkommissär kenne ich auch. Und den Herrn Oberkommissär
Lichtenstern und die Herren Kommissäre Knotek, Drašner, Vanásek und
Kubiček kenne ich ebenfalls.“

Ich glaubte mit dieser summarischen Aufzählung aller damaligen
Sicherheitsbeamten weiteren Fragen meines Peinigers die Spitze
abgebrochen zu haben, aber dieser war gründlicher als ich glaubte. Er
setzte das Verhör fort:

„Kennen Sie vielleicht den Herrn Wejřik?“

„Jawohl, auch den Herrn Arresthausverwalter kenne ich. Sehr gut sogar.“

„Das glaub’ ich,“ erscholl es jetzt — mein Schicksal schien besiegelt.
„Kommen Sie,“ sagte der eine Polizist zu mir und wandte sich nach der
Richtung, in der das Kommissariat Heuwagsplatz liegt.

Aber um unsere Gruppe hatte sich, trotz der späten Nachtstunde, eine
ganz beträchtliche Menschenansammlung gebildet. Es waren größtenteils
die Stammgäste des alten Einkehrhauses „u Rajtknechtu“, das an der
Stelle des heutigen Palace-Hotels stand. Die allnächtliche Blütezeit
dieses Gasthauses begann erst um zwei Uhr nachts, wenn die Setzer der
nahen Zeitungsunternehmungen mit ihrer Arbeit zu Ende waren und das
offizielle Eingangstor der Schenke gesperrt werden mußte. Diese
Stammgäste hatten nun davon gehört, daß draußen vier Polizisten mit der
Festnahme eines Verbrechers beschäftigt seien, waren hinausgeeilt und
hatten mit wachsendem Staunen meiner Einvernahme gelauscht. Als ich aber
abgeführt werden sollte, traten zwei Setzer, die mich kannten, den
Polizisten in den Weg:

„Herr Redakteur, sollen wir Sie vielleicht legitimieren?“

Aber das war nicht mehr nötig. Die Anrede machte die Polizisten stutzig
und langsam dämmerte ihnen der Zusammenhang zwischen den Begriffen
Nachtarbeit, Haase und Polizeikenntnis auf. Und gleichzeitig fiel ihnen
ein, daß ich sie als Bekannter der ihnen vorgesetzten Polizeibeamten vor
diesen schön blamieren könnte, wenn ich die Geschichte erzählte. Einer
der Wachleute starrte mich wütend an, kehrte mir dann verächtlich den
Rücken und ging von dannen. Ein zweiter aber verduftete blick- und
wortlos. Der dritte salutierte mit kleinlautender, entschuldigender
Miene. Der vierte aber brummte im schönsten Prager Deutsch:

„Da haben wir uns gegeben.“



                            Drehorgelspieler


Für jene Leser, welche den Titel dieses Feuilletons nicht verstehen
sollten, sei gleich vorweg bemerkt, daß „Drehorgel“ auf Pragerisch
„Flaschinett“ heißt. Für jene Leser aber, die deshalb die Frage stellen
würden, warum ich also nicht den allgemein verständlichen Ausdruck als
Titel gewählt habe, sei gleich vorweg bemerkt, daß sich Fremdwörter
immer sehr vornehm ausnehmen. Außerdem würde man eine Beschreibung des
in Rede stehenden Instruments im Lexikonbande 6 („Erdeessen bis
Franzèn“) weder unter dem Schlagworte „Flaschinett“ noch unter
„Folterwerkzeuge“ vorfinden. Man muß vielmehr den Band 5
(„Differenzgeschäfte bis Erde“) hernehmen und in diesem nicht die
Rubriken „Duldsamkeit“ oder „Darlehenschwindel“ nachschlagen, sondern
das Kennwort „Drehorgel“ suchen. Gleich nach „Drehkrankheit“ kommt es.

Das Wort „Flaschinett“ findet sich aber auch unter Chiffre „Drehorgel“
weder im Brockhaus noch im Meyer. Diesen Ausdruck muß man wieder im
Bande 6 sub „Flageolett“ nachsuchen, wo mitgeteilt wird, daß das
Flageolett oder Flaschenett — man beachte die falsche Orthographie der
Herren Brockhaus und Meyer — ein kleines Blasinstrument, der letzte
Sprosse der Familie der Schnabelflöten ist, und nur in Frankreich und
Belgien noch in Gebrauch steht. Nun wird mich jener am Anfang dieses
Feuilletons hinreichend charakterisierte Leser wieder mit der Frage
belästigen, wo da die Logik sei, wenn man in Prag ein Musikwerk mit dem
Namen einer im Aussterben begriffenen Seitenlinie der Schnabelflöten
bezeichnet. Kruzeihimmelfix, wozu braucht man denn bei einem Flaschinett
eine Logik! Dem Fragesteller aber wünsche ich, daß ihm während seines
heutigen Nachmittagsschläfchens ein Drehorgelspieler solange ein
Ständchen bringt, bis beide Plagegeister auf alle weiteren Chikanen
Verzicht leisten.

In Prag ist die Ansicht verbreitet, daß es ungefähr zwei- bis
dreitausend Drehorgelspieler gebe. Dem ist aber nicht so. Erwähnter
Irrtum dürfte darauf zurückzuführen sein, daß gewöhnlich zwei
Drehorgelspieler gleichzeitig in derselben Gasse konzertieren, was eine
Art zweihändigen Vierhändigspielens darstellt und die harmonischen
Wirkungen dieses Instrumentes erheblich erhöht. Besonders prächtig sind
diese musikalischen Effekte, wenn aus einem Leierkasten die Töne des
„Donna è mobile“ entquellen, während aus dem anderen beharrlich das
klassische Lied „O Emane“ — Heimatkunst! — hervorgekurbelt wird.
Dieses multiplizierte Auftreten von Drehorgelspielern in derselben Gasse
ist aber kein Beweis von deren großer Zahl, sondern es ist nur ein
ehrendes Dokument für das Vertrauen, das die Hofmusiker in die
Freigebigkeit der Bewohner dieser Gasse setzen.

Im Bureau III. a. der Prager Polizeidirektion, dem Departement für
öffentliche Belustigungen, welches ein sehr richtiger Wortwitz als
„Departement für öffentliche Belästigungen“ bezeichnet, erfährt man zum
atemlosen Staunen, daß es in Prag nur zweiundzwanzig Drehorgelspieler
gibt. Wenn man naiv ist, gibt man sich mit dieser Erklärung zufrieden,
und geht nach Hause, in der Meinung eine zufriedenstellende Auskunft
erhalten zu haben, da ja diesem Departement für öffentliche
Belustigungen natürlich auch die Konzessionserteilung und die Handhabung
der Vorschriften für Drehorgelspieler untersteht. Wenn man aber nicht
naiv ist, so begibt man sich in ein Departement, das mit der
Konzessionserteilung an Leierkastenmänner nichts zu tun hat, das
Departement, dem die Wahrung der öffentlichen Sicherheit und daher auch
das Drehorgelspielen untersteht. Allerdings nur insoweit, als es
unbefugt ausgeübt wird. Da erfährt man ganz andere Ziffern: Die Zahl der
nichtkonzessionierten Werkelmänner ist etwa dreimal so groß, wie die
behördlich autorisierten.

Und was für Exemplare sind darunter. Da sind zum Beispiel zwei Brüder,
welche ich hier Chwatal nennen will. Ihre Aktenfaszikel sind so groß,
daß zwei Zivilwachleute ausgesandt werden müssen, um sie aus der
Registratur zu holen. Der eine der Brüder hat allein vierhundertdreißig
Akten. Aus denen kann man die ganze Biographie Wenzel Chwatals
herauslesen. Als Kind hatte er einen sehr ernsten Beruf. Er sang an
jedem sechsten Jännertage, mit einer papiernen Goldkrone angetan, vor
den Wohnungstüren das Lied von den heiligen drei Königen. Den Rest des
Jahres scheint er sich über die Freigebigkeit der Wohnungsinhaber
orientiert zu haben, um sich dann als König nicht ein Refus zu holen.
Bei diesen Orientierungsgängen ist er, wie Wenzel Chwatals Akten künden,
wiederholt verhaftet worden und residierte dann für kurze Zeit im
Polizeiarrest. Als unser Wenzel herangewachsen war, entsagte er seinem
königlichen Berufe, aber der Musik blieb er treu. Er gründete mit einem
gleichgesinnten Manne, dem das Schicksal keine Füße beschert hatte, ein
Kompaniegeschäft. Sie liehen sich einen Leierkasten aus, den Chwatal auf
seinem rüstigen Leibe trug und dem er durch liebevolles Drehen der
Kurbel die herrlichsten Weisen entlockte, die im Busen eines
Flaschinetts schlummern. Der fußlose Kompagnon ging einsammeln. Später
verdroß es den unternehmungslustigen Chwatal, das sauer verdiente
Spielhonorar zu teilen, er engagierte ein billiges Bürschchen und
besorgte das Inkasso selbst. Das Geschäft florierte, und Wenzel Chwatal,
dessen einziger Schmuck bislang eine sorgsam gepflegte Stirnlocke
gewesen war, konnte sich eine Samtjacke kaufen. So, jetzt war er ein
Künstler. Aber die Wachleute haben eben kein Verständnis für wahre
Kunst. Die Banausen schreckten selbst vor der schönen Samtjacke nicht
zurück und fragten, durch die magischen Klänge herangelockt, den
Spieler, ob er eine Konzession habe. Das war eine herzlich alberne
Frage, denn die Bewilligung zum Spielen wird nur alten, vollkommen
erwerbsunfähigen Leuten erteilt. Und Chwatal war doch ein fescher Kerl,
nicht? So verneinte er des Wachmanns Frage, und folgte diesem zur
Polizei. Dort wurde nach seiner Einlieferung eine „Anhaltungs- und
Verhaftungsanzeige“ ausgefüllt, die fast jedesmal gleiche Worte trägt:
„Wenzel Chwatal, geboren in Prag am 7. November 1872, wurde wegen
unbefugten Drehorgelspielens angehalten und dem Polizeikommissariate
eingeliefert. — Corpus delicti: Eine Drehorgel. — Eigene Effekten:
Lederner Schutzriemen, Leibriemen, Spiegel, Kamm, Anhängetasche, drei
Zigaretten und 64 Heller Bargeld.“ Dann wurde Chwatal abgestraft und
diese Strafe auf einem zweiten Akt, dem sogenannten „Strafregisterblatt“
gebucht, auf den stereotyp geschrieben wurde: „Wenzel Chwatal wird der
Übertretung des Erlasses der k. k. Statthalterei für das Königreich
Böhmen vom 21. Juni 1889 schuldig erkannt und wird nach der kaiserlichen
Verordnung vom 20. April 1854, Z. 96 RGBl., zu einer Haft von 24 Stunden
verurteilt. Gegen diese Erkenntnis kann bei der Statthalterei oder der
k. k. Polizeidirektion binnen drei Tagen Berufung eingelegt werden.“
Aber dem Wenzel Chwatal fällt es gar nicht ein, Berufung einzulegen.
Auch das breite Rubrum, in welchem für „die Rechtfertigung oder das
Geständnis der Beschuldigten“ weitester Platz gelassen wird, füllt
Chwatal nur lakonisch aus: „Doznávám“ — „Ich bekenne mich schuldig.“
Auch Sokrates verschmähte die Verteidigung.

So steht es in den meisten Akten, und nur wenige lauten anders. So z. B.
die Beschwerde eines konzessionierten Harmonikaspielers, der sich durch
Chwatals Konkurrenz geschädigt fühlte. In dieser Beschwerde wird
ausgeführt, daß Chwatal bettle, aber gleichzeitig vier Liebschaften
unterhalte und allen vier Damen Wohnung, Kleidung und Nahrung bezahle.
Ob diese Erfordernisse für Chwatals Harem besonders große sind, steht
nicht in der Beschwerde des empörten Harmonikaspielers, und es ist
anzunehmen, daß der schöne Chwatal seine vier Verhältnisse eher unter
Einnahmen als unter Ausgaben buchen könnte. Wie dem auch sei: Chwatal
ist ein Lebemann. Das geht auch aus einer anderen Anzeige hervor: Eine
Frau — um den Ruf der Dame zu schonen, sei sie hier mit dem Decknamen
„Veronika Potvora“ bezeichnet — macht der Polizei davon Mitteilung, daß
Wenzel Chwatal ihre Tochter Philomena Potvora entführt habe. Dieser
Familienzwist scheint bald beigelegt worden zu sein, denn acht Tage
später meldet eine Note des Kommissariates Prag-Josefstadt, daß der
Drehorgelspieler und Vagant Wenzel Chwatal mit seiner Geliebten
Philomene Potvora aus seiner bisherigen Wohnung ausgezogen und zu Frau
Veronika Potvora, der Mutter seiner Geliebten, übersiedelt sei. Andere
Akten berichten davon, daß Chwatal sich seiner Verhaftung widersetzt,
bei seiner Arretierung gelacht habe. Und unter jedem Akte steht immer:
„Doznávám — Ich gestehe.“ So übte er weiter sein Handwerk aus und da
man ihm den Leierkasten nicht pfänden kann, weil dieser nicht sein
Eigentum ist, so wird man wohl noch viele Scherereien mit ihm haben.
Chwatal steht ja im schönsten Mannesalter. Einmal hat er um die
Konzession zum Drehen der Leierkastenkurbel angesucht, aber er bekam sie
nicht. „_Mir_ ist es Wurscht,“ meinte er überlegen.

Die Konzessionen für das Drehorgelspiel sind schwer zu erlangen. Früher
bekamen ausgediente, im Kriege blessierte Soldaten außer der
Kriegsmedaille auch die Bewilligung, Werkelmänner zu werden. Aber seit
dem letzten Kriege, den Österreich geführt hat, sind schon Jahrzehnte
verstrichen und die alten Invaliden aus Kriegsläuften sind meist längst
begraben. Ein wahres Glück, daß vor zwei Jahren die drohende
Kriegsgefahr glücklich abgewendet worden ist. Die schrecklichste Folge
des Krieges wäre wohl gewesen, daß neue Werkelmänner dekretiert worden
wären!

Die Blütezeit des Leierkastenspieles in Prag ist vorbei. Früher hat es
in Prag noch Savoyardenknaben gegeben, welche mit ihren
Miniatur-Drehorgeln, ihrer verschnürten Tracht und ihren gebräunten
Gesichtern Aufsehen und Mitleid wachriefen. Früher durften die
Werkelmänner ihr Instrument in der Mitte der Straße aufstellen, heute
sind nur die Höfe der Häuser ihr Rayon und in den neuen Häusern gibt es
gar keine Höfe. Früher durften die Drehorgelspieler von früh bis abend
werkeln und kamen oft in die Geschäfte betteln, bevor diese noch einen
Kreuzer verdient hatten; heute dürfen sie an Wochentagen nur von zwölf
Uhr mittags an, an Sonntagen bloß von vier Uhr nachmittags an bis zum
Einbruch der Dämmerung spielen. Immerhin scheint das Werkeln noch ein
lukratives Geschäft zu sein, wie voriges Jahr die Geschichte des
Raubmordes an dem Drehorgelspieler Janeček gelehrt hat, und wie die
zahllosen Gesuche um Konzessionsbewilligung beweisen, die im Departement
des Oberpolizeirates Peschka einlaufen. Ja, es kommen sogar Gesuche von
begüterten Gemeinden, man möge diesem oder jenem ihrer Ortsarmen die
Bewilligung zum Leierkastenspiel — in Prag gewähren.

Aber die Statthalterei hat nun verboten, daß für Prag neue Konzessionen
ausgestellt werden und auch die Bewilligungen für die zum Polizeirayon
gehörenden Vorstädte werden jetzt nur in den seltensten Fällen erteilt.
Und mögen es die Dienstmädchen, welche ihren letzten Kreuzer in den Hof
hinunterwerfen, um das Lied von der „Unglückseligen Armut“ da capo zu
hören, und mögen es die Vorstadtkinder, welche so gerne zu den
verstümmelten Klängen des Walzers aus der „Lustigen Witwe“ umherhopsen,
noch so bitter empfinden — die Drehorgel ist auf den Aussterbeetat
gesetzt. Das Flaschinett wird verschwinden wie jenes Blasinstrument,
dessen Namen es entlehnt hatte, es wird verschwinden, so wie es gelebt:
Sang- und klanglos.



                             Die Gifthütte


Dorthin, in die Teile Prags, die sich südlich von der Krankenhausgasse
und der Katharinagasse bis gegen Slup und Nusle hinunterziehen, kommen
die Prager selten. Es ist eine Stadt der Kranken, die sich hier breitet.
Die Institute der medizinischen Fakultät, Kranken- und Irrenhäuser
halten mit ihren Gärten den ganzen Komplex besetzt. Nur dort, wo die
Weinberggasse in die Apollinargasse mündet, scheint die Stadt der
Kranken aufzuhören, scheint ein Dorf zu beginnen. Ein freier Platz, der
nicht gepflastert ist, und auf dem große Kastanienbäume wachsen. In den
Ecken des Platzes wuchert üppiges Gras. Ein steinerner Heiliger, der
heilige Adalbert, blickt vom Piedestal seiner Säule friedlich auf die
Kinder hinab, die zu seinen Füßen mit Kugeln spielen. Da kommt eine
Schar von Mädchen, Hand in Hand, ohne Hut, mit weißen Schürzen des
Weges. Wer nicht weiß, daß es Wärterinnen sind, müßte glauben, sorglose
Dorfmädchen vor sich zu haben. Alte Männer sitzen vor den Häusern und
schmauchen behaglich ihre Pfeife. Und die Häuser sind einstöckig.

Das letzte Häuschen, das von der Adalbertssäule sichtbar ist, das
Häuschen, das an das Dorfkirchlein grenzt, ist das Dorfwirtshaus, wie
man aus der roten Aufschrift erkennt. Eigentlich sieht diese Hütte
selbst für ein Dorfeinkehrhaus zu schäbig, zu verwahrlost aus. Aber was
kann man auch für Ansprüche an das Gasthaus eines so gottverlassenen
Dörfchens stellen?

Mit der Illusion, in einem Dorf zu sein, ist es freilich aus, wenn man
sich in den Wirtsgarten setzt, hart an die niedrige Grenzmauer, und in
das Tal schaut, das sich unten in weitem Boden streckt. Nichts weniger
als ein ländliches Idyll. Dort oben starren hinter den Pankratzer
Feldern die trotzigen Mauern der Strafanstalt herüber, halbrechts recken
sich zu den Felsenhöhen des Wyschehrad die riesigen Festungswälle mit
den Kasematten hinauf, die Ferdinand von Saars schönster Novelle
Schauplatz sind. Oben auf der Höhe des Wyschehrad die Basilika mit dem
Kirchhof, auf dem die Tschechen alle die begraben, die sie für groß
halten. Unten im Sluper Tal die großen Institute der Fakultäten, dann
zwei Hotels, dann Zinskasernen, auf deren Hinterfronten mit riesigen
Lettern Firmenreklamen stehen. Überall rauchen Fabriksschlote. Und um
das Idyll vollends vergessen zu machen, wird der Blick durch ein
markerschütterndes Geschrei in den angrenzenden Garten gelenkt, wo
Wärterinnen eine Irre in eine Zwangsjacke zu pressen versuchen ...

Es ist die Kehrseite Prags, die man hier vom Gasthausgarten sieht. Das
Wirtshaus, das diesen Ausblick gewährt, heißt die „Gifthütte“. Wohl
nicht deshalb, weil es das andere Prag zeigt. Auch wegen des Bieres
führt es wohl seinen Namen nicht. Denn die Bezeichnung stammt schon von
altersher und das Bier wurde hier durchaus nicht in Dosen vertilgt, wie
sie bei Giftgenuß in Anwendung zu kommen pflegen. Vielleicht hieß es so,
weil hier besonders die Mediziner verkehrten, die mit Giften hantierten.
Ich weiß es nicht und auch die Chronik der Stadt Prag vermag über die
Herkunft dieses Namens keinen Aufschluß zu geben. Die Chronik der Stadt
Prag weiß über das Haus Numero Conscriptionis 446—II. überhaupt nichts
zu sagen, obwohl es doch im Wechsel der Zeiten so Sonderbares erlebt und
so mannigfache Gäste beherbergt hat, wie kaum ein zweites.

In vergilbten Auflagen des Lahrer Kommersbuches findet sich auch ein
Prager Studentenlied. Ein Doctor medicinae Keim hat es an einem Maiabend
des Jahres 1853, also zu einer Zeit ersonnen, da Deutschlands Musensöhne
zu Hunderten nach Prag zogen, wo auf der medizinischen Fakultät zum
ersten Male die Kunst gelehrt wurde, die Lungenentzündung ohne Aderlaß
zu behandeln. Die in diesem Liede ausgesprochene Sehnsucht

   „Auf den Windberg, auf den steiligen,
   Möcht’ ich zu den Jungfrau’n eiligen ...“

hat noch in späteren Studentengenerationen wiedergeklungen und
allabendlich „eiligten“ sie den steilen Windberg hinauf, um hier beim
„Jodoform-Kränzchen“ nicht zu fehlen,

   „Wo zum Tanz die hezká holka
   Nach dem Klang der munter’n Polka
   Den Primär am Bändchen führt.“

Das mit dem „Primär“ stimmte. Fast alle Primärärzte der Irrenanstalt und
die Assistenten der Kliniken tanzten hier unbekümmert um ihre ärztliche
Würde bis längst die Sonne das Nusler Tal vergoldete. Und wenn ein
Patient oder eine Patientin in einem der nahen medizinischen Institute
der ärztlichen Hilfe dringend bedurfte, dann war sie rasch zur Hand.
Brauchte man ja nur hinunter zum Gifthüttenball zu schicken. Von den
Tänzern der Jodoformkränzchen sind heute viele Hofräte, zwei sogar
wirken als Geheime Medizinalräte an Deutschlands hohen Schulen.

Was den Ausdruck „hezká holka“ anbelangt, so ist er im allgemeinen als
dichterischer Euphemismus aufzufassen. Die Damen rekrutierten sich aus
drei Gesellschaftsschichten: I. Den dienstfreien Wärterinnen der
medizinischen Institute; II. den Dienstmädchen der in den Instituten
wohnenden Professoren der philosophischen und der medizinischen Fakultät
und III. den Hörerinnen der Hebammenkurse, die alle vier Monate
abwechselnd in deutscher und tschechischer Sprache im nahen Gebärhause
abgehalten wurden. Die Ballgespräche waren medizinischen Geistes voll.
Die Wärterinnen berichteten ihren Vorgesetzten und Tänzern über
irgendein interessantes Symptom im Krankheitsverlauf eines Patienten der
Klinik, und den Professorenköchinnen flüsterte manchmal in vorgerückter
Stunde ein Tänzer die verschämte Bitte ins Ohr: „Fräulein, kochen Sie
morgen dem Professor ein feines Essen. Ich mache nachmittags Examen.“

Eine Spezialität der Jodoform-Kränzchen war die sechste Tour der
Quadrille. Sie zog sich bis tief in den Garten hinaus ...

Der Gründlichkeit halber sei auch erwähnt, daß außer den drei erwähnten
Damengattungen auch einmal eine vierte am Gifthüttenball vertreten war.
Das war so: Einige übermütige Mediziner hatten einem eben nach Prag
gekommenen Ordinarius erzählt, daß sich allabendlich ein großer Teil der
Medizinerschaft in einem nahen „Gifthütte“ benamsten Gasthause zum Tanze
versammle. Es sei zwar eine ganz ungezwungene Gesellschaft, aber wenn
der Herr Professor mit seinen Töchtern den Studenten die Ehre erweisen
wolle ... Der Herr Professor erwies den Studenten wirklich die Ehre und
kam am Abend mit seinen beiden Töchtern hin. Sprachlos blieb er in der
Tür stehen. So ungezwungen hatte er sich die Sache doch nicht gedacht:
die Herren in Hemdärmeln, die Damen in Schürzen und das Lokal, das einer
Verbrecherkneipe viel ähnlicher sah als einem Ballsaal! Aber als die
Herren Mediziner auf die beiden Professorentöchterlein zutraten und
höflich um ein Tänzchen baten, machten sie und der Herr Papa gute Miene
zum bösen Spiel und tanzten. Als später einmal eine der beiden
Professorentöchter als Professorsgattin nach Prag kam, hat sie ihr
Balldebüt in der „Gifthütte“ zum Besten gegeben und hinzugefügt, daß sie
sich seither bei keinem Ball so gut unterhalten habe, wie damals bei
diesem seltsamen „Medizinerkränzchen“. Wo sie doch die sechste
Quadrilletour gar nicht getanzt hatte!

Nicht so günstig wie das Professorentöchterlein hat über die
Jodoform-Kränzchen der 70er Jahre der damalige Pfarrer von
Sankt-Apollinar — diese Kirche ist nur durch die Kegelbahn vom
„Gifthütten“-Garten getrennt — gedacht. Der Pfarrer richtete an den
Regierungsrat Professor Weber von Ebenhof, den Bruder des damaligen
Statthalters, eine Zuschrift, die eine Philippika gegen die Bälle war
und in der Professor von Weber ersucht wurde, er möge den Hebammen den
Ballbesuch verbieten. Aber Regierungsrat Weber, der selbst in der
„Gifthütte“ im Hörerkreis seinen täglichen Frühschoppen trank, legte den
Ballbericht ad acta und erließ keinen Boykottbefehl.

Die alten Mediziner wissen allerhand solcher Scherze zu erzählen. Von
der Krönung der Gifthütten-Könige, von den Plakaten, die der König
affichieren ließ, von Wurstfesten und von Kegelabenden, von
medizinischen Dauersitzungen, die so lange währten, bis Frau Schuh
nichts mehr ankreiden wollte und von dem Beduinenknaben, den der
berühmte Afrikaforscher Dr. Glaser seinem in der „Gifthütte“ wohnenden
Bruder zur Pflege übergeben hatte und der bald der Liebling der
Apollinargasse war. Sie wissen auch davon zu erzählen, daß in der
„Gifthütte“ in der Zeit, da die Universität noch ungeteilt war,
tschechische Studenten mit deutschen Burschenschaftern und Corpsiers
manches feuchte Quodlibet gelöffelt haben. Aber dann begann sich das
Gift nationalen Hasses in die „Gifthütte“ zu verpflanzen, die deutschen
Mediziner blieben aus und die tschechischen, die sich nun untereinander
streiten mußten, bald auch. Dem Medizinerbeisel fehlten die Mediziner
und bloß das Beisel war geblieben. Der Wirt veranstaltete
Schrammelkonzerte, aber die lockten keine Katze in das Haus. Wiederholt
kam das Gasthaus unter den Hammer und wechselte seinen Besitzer. Heute
tanzen am Abend keine Professorentöchter mehr hier, sondern bloß die
Dämchen, die auf der nahen Walstatt den schweren Nachtkampf ums Dasein
führen müssen. In den neuen Kommersbüchern steht das Prager Lied nicht
mehr. Die letzten deutschen Stammgäste scheinen die „schweren Jungens“
aus Berlin gewesen zu sein, die von hier aus den Plan zur Befreiung
ihres in der Irrenanstalt befindlichen Komplizen ausführen wollten und
in der „Gifthütte“ festgenommen wurden.



                            Karl May in Prag


Der Prozeß hätte nicht kommen sollen. Zwar hat uns die moralische
Verurteilung Karl Mays heute nicht mehr so arg getroffen, da wir ja
jetzt seine Werke nicht mehr so heißhungrig verschlingen, aber unser
Bedauern ist ein reflexives: Wir malen uns aus, wie uns zur Zeit, da wir
noch in der Sekunda saßen, die Enthüllungen des Prozesses aus allen
Himmeln gerissen hätten. Wie wären wir entsetzt gewesen, wenn wir damals
aus den Gerichtssaalberichten ersehen hätten, daß er „Emmeh“ schnöde
verlassen habe, „Emmeh“, sein geliebtes Weib, dem er in den Wigwams der
Apachen und in den Zelten der Hammadil-Beduinen treu gewesen war und von
dessen Güte und Schönheit er den Mormonen und Mohammedanern mit
imponierender Liebe erzählte. Wie wären wir mißtrauisch geworden, wenn
wir erfahren hätten, daß der gute Idealist „Carpio“, mit dem sich unser
Lieblingsautor in den Wäldern des Erzgebirges harmlos und dichtend
herumgetrieben haben wollte, niemand anderer war, als ein
fahnenflüchtiger Soldat und Einbrecher, mit dem zusammen Karl May
räuberische Überfälle auf Marktweiber unternommen hatte.

Nein, nein, der Prozeß hätte nicht kommen sollen. Aber besser ist es,
daß er jetzt kam, als wenn er damals stattgefunden hätte. Nicht etwa
deshalb, weil er uns eine Illusion, eine Leidenschaft unserer Jugendzeit
geraubt hätte. Das hätten zehn solcher Gerichtsverhandlungen nicht
vermocht. Niemals hätten wir ihn preisgegeben. Im Gegenteil! Im
Bannkreis unserer Gymnasiasten-Romantik hätten wir es noch
überwältigender gefunden, wenn der Autor der Abenteuer wirklich ein
Abenteurer gewesen wäre. Wir hätten wahrscheinlich seine damaligen
Kämpfe gegen Gesetz und Recht als vielversprechenden Beginn zur Karriere
des Westmannes angesehen. Und wer weiß, ob nicht ein moralisch schwacher
Phantast unter uns hingegangen wäre und ein gleiches getan hätte.

Und was hätte es für Kämpfe mit unseren Eltern gekostet, wenn die aus
den Zeitungen erfahren hätten, daß unser Autor ein Dieb, ein korrupter
Mensch sei! Hatten sie ihn doch ohnedies mit scheelen Blicken angesehen
und uns seine Werke weggesperrt, wenn aus der Lehrerkonferenz ein
Tadelzettel unfrankiert nach Hause gesandt worden war. Sie hatten gar
wohl gewußt, daß unser mangelnder Fortschritt in der Schule vor allem
dem Umstande zuzuschreiben sei, daß wir Tag und Nacht mit unserem ganzen
Sinnen und Trachten den Spuren Old Shatterhands folgten, daß wir in
sehnenden Gedanken mit ihm vom wilden Westen Nordamerikas in den wilden
Osten Südeuropas reisten. Auf der Strecke von Bagdad nach Stambul waren
wir besser zu Hause, als in den Gebirgsketten der Alpen, deren Kenntnis
der Geographieprofessor von uns verlangte. In den Cordilleren, in
Ägypten, am Rio de la Plata, im Lande des Mahdi, im wilden Kurdistan, im
Reiche des silbernen Löwen kannten wir uns unvergleichlich
vortrefflicher aus, als in den im Reichsrate vertretenen Königreichen
und Ländern. Die Biographien Sam Hawkens, Old Wabbles, Old Deaths, Old
Surehands, Old Firehands, des „blau-roten Methusalem“, Hadschi Halef
Omars Ben Hadschi Abbas Ibn, des „roten Gentleman“ Winnetou,
Ikwehtsi’pas, des Utah-Häuptlings Tusahga-Saritsch kannten wir viel
detaillierter, als jene Schillers, Grillparzers, Lenaus. Mit der
Naturgeschichte der Prairie und der Sahara waren wir vertrauter, als mit
jener Pokornys, und die nur für den echten Araber aussprechbare und
deshalb als nationales Erkennungszeichen angewandte „Sure des Todes“
konnten wir fließender auswendig hersagen, als die „im Kanon der für den
Lehrplan der II. Mittelschulklasse vorgeschriebenen Gedichte“.

Das war fürwahr kein Wunder. Denn während der Unterrichtsstunden hatten
wir einen der Fehsenfeldschen May-Bände unter der Bank aufgeschlagen,
die Zehn Uhr-Pause opferten wir der Fortsetzung der Lektüre und der Weg
von der Schule nach Hause wurde im Schnellschritt zurückgelegt, weil man
daheim in dem Buche weiterlesen konnte. Allerdings mußte man dieses mit
den Deckeln des Putzkerschen Historischen Schulatlas maskieren, um bei
den Eltern den beruhigenden Glauben zu erwecken, daß man über ein
Lehrbuch gebeugt sei.

Praktisch wurde natürlich Karl May noch gründlicher geübt. Das
Belvedere-Plateau war damals noch nicht planiert und zur Seite der
Straße war ein etwa 4 Meter tiefer, breiter Straßengraben, dessen Hänge
von ausladenden Büschen bewachsen waren. So waren wir nach unten vor den
Blicken der Spaziergänger geschützt und konnten ungestört unseren
Kriegsrat abhalten, wobei wir aus irgend einer alten Tabakspfeife, die
wir mit Gras stopften, das Calumet rauchten — die Friedenspfeife. Wir
hatten jeder unseren Prärienamen, nur „Old Shatterhand“ durfte keiner
heißen: Das wäre Profanation, zu viel Ehre für den einen gewesen. Die
Namen der übrigen „Scouts“ waren aber durchwegs vertreten, auch waren
wir in Apachen und Commanchen eingeteilt. Da gab es heftige Kämpfe.
Manchmal siegten auch die Commanchen. Das war eigentlich nicht ganz im
Geiste unseres Autors, denn bei dem mußten immer seine Feinde
unterliegen. Er war ja — so beschrieb er sich selbst — unbesiegbar, er
allein hatte tausendmal Hunderte von Feinden im Schach gehalten. Daß er
doch nicht auch mit seinem Prozeßgegner fertig zu werden vermochte!

Im Oktober des Jahres 1898 war Karl May in Prag. Er führte gegen einen
tschechischen Verleger einen Stritt, weil ihm das angebotene
Zeilenhonorar für die tschechische Übersetzung seiner Bücher zu gering
war. Schließlich kam ein Vergleich zustande. Wir verschlangen alles, was
wir hierüber in der „Bohemia“ finden konnten, mit wahrem Heißhunger.
Denn, wenn es auch mit der kritiklosen Bewunderung längst vorbei war —
das Interesse für den Autor unserer Jugend war noch nicht erstorben. Wir
wollten diesen einmal von Angesicht zu Angesicht sehen. Wir ließen im
Hotel de Saxe, in dem er logierte, nachfragen, ob wir mit ihm sprechen
dürften. Er ließ uns vor und machte geheimnisvolle Andeutungen über ein
entsetzliches Ende, das Hadschi Halef genommen hatte, über eine
Goldgrube, die er im Llano Estacado entdeckt habe, aber deren Ausbeutung
sehr gefahrdrohend sei. Und dergleichen. Mir als dem Sprecher der
Schüler, hat er zum Andenken den dritten Band „Old Shurehands“
geschenkt, in dem sich sein Bild mit der Silberbüchse, dem Trapperhut,
den Ledermokasins und Henrys Revolver vorfindet. Auf die erste Seite
schrieb er einen Spruch und setzte seinen Namen darunter. Der Spruch ist
wirklich überaus schön. Er stammt von — Goethe.



                             Polizeimuseum


Verwittert, zerfallen, von Balken gestützt, hat bis zum Vorjahr der Turm
im Hofe des Polizeigebäudes auf die Gestalten herabgeschaut, die — ihm
ähnlich — auf ihren Krücken allmittäglich aus dem Arresthause in den
städtischen Schubwagen humpelten. Trotz der Stützbalken schien es, daß
der greise Turm jeden Augenblick zusammenstürzen könne. Man wollte ihn
daher demolieren, aber Rücksichten auf die Erhaltung dieses Denkmals
historischer Zeiten, in denen noch ein Wall die innere Stadt umgab,
haben die Ausführung dieser Absicht verwehrt. So mußte man den Turm
renovieren und heute steht der alte Bau freundlich und wohnlich da.

Hierher ist jetzt das von Oberkommissär Protivenski aus dem Nichts
geschaffene Polizeimuseum übersiedelt. „Polizei-Museum.“ Das klingt wie
ein Oxymoron. Die Musen, die neun Beschützerinnen der schönen Künste,
haben doch mit dem Handwerkszeug der Verbrechergilde nicht das Geringste
zu schaffen! Wohl. Aber die Tätigkeit, die im Dienste der Kultur und
Wissenschaft erfolgreich die Spuren der Verbrecher zu ermitteln strebt,
ist eine Kunst wie bald keine zweite. Das kann man nirgends so gut
erfahren, wie hier im Polizeimuseum, wo man atemlos darüber staunt, mit
welch genialem Raffinement, mit welchem Aufgebot von manueller und
geistiger Geschicklichkeit die Welt der Verbrecher jede neue
Errungenschaft menschlichen Schaffens ihren eigenen Zwecken dienstbar
macht.

Vor dem Eingang merkt man noch nichts davon, welche Instrumente der
Verbrecherwelt das Polizeimuseum birgt, denn über der Tür zum ersten
Museumsraum sind Studentensäbel und Korbschläger in so dekorativer Weise
angeordnet, daß man vermeinen würde, in eine Studentenbude zu treten,
wenn man nicht wüßte, daß es sich um polizeilich konfiszierte Waffen
handle. Immerhin eine freundliche Einführung für einen Raum, der
vorwiegend der Tätigkeit der _Einbrecher_ gewidmet ist.

Hier ist Papacostas Handwerkzeug untergebracht — der langjährige Clou
des Prager Polizeimuseums. Denn Papacosta und seine Komplizen Afendakis,
Maceo Stein und Perikles Slalio waren die ersten internationalen
Einbrecher, die mit „allem Komfort der Neuzeit ausgestattet“
Geldschränke knackten und nur in Prag wurde man ihres ganzen
Instrumentariums habhaft. Allerdings durch den Racheakt eines
benachteiligten Mitgliedes der Bande. Vom 6. April 1894 an, an welchem
Tage sie sich durch einen Einbruch in das an das Polizeikommissariat
Heuwagsplatz angrenzende Etablissement Franz Valenta ihre elektrischen
Bedarfsartikel verschafften, hatten sie ein halbes Jahr lang in kurzen
Intervallen große Einbruchdiebstähle in Prag unternommen, ohne daß man
eine Spur der Täter entdeckt hätte. Am 17. Dezember 1894 fand die
Inhaberin des Bankgeschäftes Ig. S. Weiner, als sie am Morgen in das
Geschäft kam, nicht nur zu ihrem Entsetzen Ladentüre und Kassen fast
ganz aufgesprengt vor, sondern es waren auch unzählige Einbruchsgeräte
auf dem Ladenpulte ausgebreitet: Die seither berühmte „Papacostasche
Maulstange“, der große Zentralbohrer, die sinnreiche Blendlaterne,
ein Ölfläschchen und etwa 40 Sperhaken — heute durchwegs
Ausstellungsobjekte des Museums. Die Einbrecher hatten damals
fluchtartig das Geschäft und auch am selben Tag Prag verlassen. Wie man
einige Monate später vor Gericht erfuhr, hatte Stalio, der den Aufpasser
vor der Ladentüre gemacht hatte, das Warnungssignal gegeben. Aus Rache,
weil er sich bei der Verteilung der Beute übervorteilt glaubte.

Heute sind die damals angestaunten Utensilien der Papacosta-Bande nicht
mehr die Glanzstücke des Polizeimuseums. Diese bilden nunmehr die
Instrumente einer anderen auswärtigen Verbrecherorganisation, die in
Prag ein blutiges Andenken hinterlassen hat, nämlich der Bande
Wasinskis. Mit Staunen sieht man z. B. die vier Meter lange Maulstange.
Man hat sie bei dem pockennarbigen Riesen Adamski gefunden, der in der
Weihnachtsnacht unmittelbar nach dem Morde festgenommen worden war. Wie
Adamski das vier Meter lange Instrument bei sich verbergen konnte? Nun,
der lange Hebel der aus Birmingham-Stahl gefertigten Stange ist
zusammenlegbar und so fest ineinanderfügbar, daß drei Männer mit aller
Gewalt sich dagegen zu stemmen vermögen, wenn die Eisenplatte der
„einbruchssicheren“ Kassen entzweigeschnitten werden soll. Natürlich
kann die Riesenschere erst dann eingesetzt werden, wenn die elektrische
Handbohrmaschine „Progreß“, deren Spannung 35 Volt beträgt, ihre Wirkung
getan hat.

In allen Ehren kann neben den Internationalen aus Griechenland und
Galizien auch ein heimischer Aussteller bestehen: Eduard Linhart, der an
einem Wintersonntag des Jahres 1908 den Kellerplafond der Karolinentaler
Vorschußkasse durchbrach und den Fußboden zerschnitt. Für diesen
mißglückten Einbruchsversuch hat Linhart nicht weniger als 8 Jahre
hinter den schwedischen Gardinen von Pankratz zuzubringen — eine harte
Strafe, die wohl vor allem darauf zurückzuführen ist, daß die corpora
delicti allzudeutlich von der Gefährlichkeit des Inkulpaten sprachen:
Ein Zentralbohrer mit Schraube ohne Ende, mit Kraftübertragung durch
Kurbeldrehung und einem Mundloch, den die „Goodel Pratt-Company“
hergestellt hat, eine feine „Fuchsschwanz“-Säge, ein Riesenhammer und
allerhand ähnliches.

Durch elegante Form fällt das Reisenecessaire auf, in welchem die
Kirchenräuber Kankovsky und Brünner ihre Einbruchswerkzeuge praktisch
angeordnet hatten. Auch weniger bekannte Einbrecher haben dem Museum
wertvolle Bereicherungen geliefert. Man sieht einen Gutaperchahandschuh,
den ein Einbrecher angezogen hatte, um keine Fingerspuren zu
hinterlassen und um an der elektrischen Leitung gefahrlos hantieren zu
können. Man sieht Schlüssel mit auswechselbarem Bart, bei denen sogar
jeder Bart auf zwei verschiedene Arten — normal und verkehrt —
eingesteckt werden kann. Man sieht Schlüssel, deren Stiel aus lauter
Schlüsselbärten besteht. Man sieht Hohlschlüssel für Patentschlösser.
Man sieht abgesägte amerikanische Vorhängschlösser, sieht, wie
Stecher-Schlösser einfach aus der Kassa herausgenommen werden, sieht
Brustgriffe für Bohrinstrumente, sieht Pechpflaster mit den Resten der
eingedrückten Fensterscheibe, an die sie angedrückt wurden, sieht
Nagelstöcke zum Aufkratzen des Fensterkittes, sieht Strickleitern und
stangenförmige hölzerne Kellerleitern mit Querleisten. Man sieht
„Krähenaugen“, die Frucht von Paris quadrifolia, welche die Einbrecher
den Wächterhunden vorwerfen, um diese zu vergiften. Auch eine
photographische Darstellung des Einbruches, den die Kirchenräuber Wainar
und Anton im Jahre 1904 in die Kapelle in Scharka unternahmen, ist hier
ausgestellt, um zu zeigen, wie man damals mit Hilfe der Daktyloskopie
bloß nach dem am Tatorte aufgefundenen Abdruck eines Handballens der
Täter habhaft wurde.

Die Requisiten, welche bei _Diebstählen_ in Anwendung kommen, sind
gleichfalls in diesem Raum vorhanden. Sehr elegant ist ein Spazierstock,
dem man es gar nicht ansieht, daß er zu einer Länge von drei Meter
auseinandergezogen werden kann. Ein praktisches Mittel zum Stehlen von
Gegenständen, die noch so weit vom offenen Fenster entfernt liegen
mögen. Diese Stöcke heißen im Rotwelsch „Disputierer“, weil in den
Gefängnissen die Häftlinge auf Latten, die sie irgendwo im Hofe
gestohlen haben, einander die „Kassiber“, die Verständigungsbriefe
zustecken, also mittels eines ähnlichen Instrumentes „disputieren“.

Das System, auf dem die Erfindung der „Betthaken“ beruht, ist ein
analoges. Das sind winzige Angelhaken, deren drei scharfe Zacken
ankerförmig angeordnet sind. Diese Haken werden an einer langen Schnur
befestigt, deren Ende der Dieb in der Hand behält. An dem Haken wird ein
Bleistück befestigt und nun das Instrument durch ein offenes Fenster in
einen Stall oder in eine Wohnung geschleudert. Die Zacken bohren sich
fest in eine Pferdedecke, ein Federbett, ein Kleidungsstück oder einen
Sack ein und dieses Objekt wird nun mit Hilfe der Schnur aus dem Fenster
auf die Straße gezogen. Fast bei jedem Zigeuner, der von der Gendarmerie
oder der Polizei festgenommen wird, findet man dieses Diebswerkzeug.

Auf Schiffsverladeplätzen, in den Güterwaggons und in Magazinen wird der
„Kaffeeläufer“ häufig verwendet: Ein einfaches Eisenrohr, das gut
zugespitzt ist. Der Dieb stößt es scharf in einen mit Ware gefüllten
Sack und der Reis, die Kaffeebohnen, das Mehl fließen aus diesem durch
das Rohr in den Schnappsack des Diebes, ohne daß die Plombe des
bestohlenen Sackes beschädigt würde.

Zu unauffälligem Fortschaffen der Diebsbeute ist der breite
Schmugglergürtel sehr zu empfehlen, in dessen Taschen die Beute
gleichmäßig verteilt werden kann, und an dessen Haken kompaktere
Gegenstände befestigt werden können. Natürlich arbeiten auch diese
Diebe, so wie ihre Kollegen vom Einbruchsfach, mit Glacéhandschuhen, die
zur Vermeidung von Fingerspuren dienen, mit Strickleitern u. dgl.

_Bomben_ und andere Explosivkörper mannigfaltiger Art füllen in diesem
Museumsraum zwei ganze Vitrinen. Ein respektables Exemplar ist die
Bombe, die in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts im Flur der
ehemaligen St. Wenzelsvorschußkasse in der Karlsgasse gefunden wurde und
die damals fast so viel Aufsehen erregte, wie ein Jahrzehnt später die
Enthüllungen über die Geschäftsgebarung in diesem Hause. Die Bombe
bestand aus einer mit Pulver gefüllten Kugelflasche, die mit einem
Gipsmantel umkleidet war. In dieser Gipshülle waren Eisennägel als
Sprengstoffe eingeschmolzen, die ganze Bombe war mit Eisendraht und
Fetzen umspannt.

Ferner befindet sich hier eine Höllenmaschine mit einem Wecker. Die
Höllenmaschine war mit Pulver und Halbblei gefüllt. Von furchtbarer
Wirkung wäre im Falle der Explosion ein oben und unten verkeiltes
Gasrohr gewesen, das mit Pulver gefüllt war, und oben ein Zündloch und
die Zündpfanne trug.

Eine Reminiszenz aus Prager Demonstrationstagen bildet der sogenannte
„Kanonenschuß“, ein Ledersäckchen, das mit Pulver gefüllt und mit
geleimtem Spagat zusammengebunden ist. Diese Apparate pflegen mit einem
geradezu ungeheuren Krach zu explodieren, ohne aber besonders gefährlich
zu sein. Zur Belehrung der Sicherheitswache sind hier Dynamitpatronen
und Dynamitballen in Originalpackung ausgestellt. Auch gestohlene
Militärsprengstoffe, Bomben in Tafelform, und „Frösche“, wie man sie in
Prager bewegten Tagen den Pferden der berittenen Wachmannschaft unter
die Füße zu werfen pflegt, fehlen in der Sammlung nicht.

Das Turmgemach im zweiten Stockwerke strotzt von Waffen. Am
unauffälligsten nehmen sich unter diesen wohl die Schießwaffen aus, die
zum _Wilddiebstahl_ gedient haben. Wirklich kann mit diesen Gewehren
jeder Wilderer ruhig das forschende Auge des Hegers passieren. Da ist z.
B. ein Spazierstock einfachster Form, dem man gar nicht ansieht, daß er
sich flugs in ein Zündnadelgewehr verwandeln läßt, dem nicht einmal der
Kolben fehlt. Leimruten, Schlageisen für Rehe, Drahtschlingen für
Rotwild, Strickschlingen für Hasen, Leimruten für Singvögel, Fangnetze
für Rebhühner, die man teils in Jagdrevieren abgenommen, teils bei
Wilddieben vorgefunden hat, befinden sich gleichfalls im Polizeimuseum.

Verbotene Waffen, wie Dolche, Stilets und Stockdegen füllen eine große
Vitrine. Die übrigen Waffen, die hier zu sehen sind, stammen teils von
Selbstmorden her, teils sind sie Reminiszenzen aus den _Mordaffären_ der
letzten Jahre. Von dem simpelsten Mordinstrument bis zum modernsten
fehlt keines. Hier ist der große Pflasterstein, mit dem am Josefitage
des Jahres 1896 Pravda und Outrata die Juwelierin Gollerstepper in deren
Laden in der Husgasse ermordet haben. Hier ist das Beil, mit welchem
1895 der Schuster Franz Červenka seiner Frau die Schädeldecke
zertrümmert hat. Große Blutflecken auf drei Steinen stammen aus der
Nacht des 2. April 1902, in welcher die Trainsoldaten Čučko,
Octovsky und Velek auf dem Belvedere den Franzensbader Hotelier Wolf
getötet haben, eine plastische Karte veranschaulicht den Tatort. Ein
Tuch war das Mordinstrument, mit dem der Musikant Ježek und sein
Freund Merta in Točna den Prager Werkelmann Janeček erwürgten.
Eine ganze Vitrine weist die Instrumente auf, mit denen das würdige
Ehepaar Valeš zu Krtsch das Liebespaar Takasz-Hanzely im Schlafe
umgebracht habe: Ein Jagdgewehr, ein Strick, ein Revolver, ein Beil. Ein
Revolver, der an der Wand hängt, war das Mordinstrument des wahnsinnigen
Stadtbediensteten Wurm, der an dem Stadtrat Parůžek furchtbare
Rache für seine Entlassung nahm. Auch der Browning, die modernste der
Schießwaffen, mußte in zwei Exemplaren Aufnahme im Prager Polizeimuseum
finden: Mit einem Browning hat Wasinski den Gefängniswärter Kaucky am
Weihnachtsabend 1907 erschossen, mit einem Browning tötete Boček am
Karsamstag 1908 den Detektiv Pětiletý und verletzte die Detektivs
Lukeš, Binder und Hladík.

An Bočeks Bluttat erinnert überdies die Totenmaske seines Opfers,
eine andere ist von dem im Nusler Tal von unbekannten Einbrechern
erschossenen Polizisten Bartoš abgenommen worden. Eine dritte
Totenmaske ist die eines Anarchisten, der in Prag wegen Mordes
justifiziert worden ist; in dem Gips ist die tiefe Strangulierungsfurche
erkennbar. Die älteste Mord-Reminiszenz, die sich im Polizeimuseum
befindet, ist ein vergilbter Steckbrief der Prager Stadthauptmannschaft
vom 1. Mai 1828. Er ist gegen zwei Fuhrleute aus der Umgebung Prags
gerichtet gewesen, die im Vogtlande die Familie eines Landmannes töteten
und beraubten. Der älteste Band des „Polizeianzeigers“ — die amtliche
Wochenschrift des Prager Sicherheitsdepartements — weist gleichfalls
schon vergilbte Blätter auf; die Leute, deren Steckbriefe in diesem
Buche gedruckt sind, haben wohl schon längst ihre Strafen gebüßt.
„Königl. Preußische Polizeidirekzion in Prag.“ Diese seltsame Inschrift
trägt eine Stampiglie, die aus der Prager Preußenzeit des Jahres 1866
stammt.

Verschiedenartig sind die Hilfsmittel der _Betrüger_. Wohl der genialste
Schwindel, dessen Schauplatz Prag war, ist die lukrative Gründung des
geheimen Telegraphenamtes durch Plocek und dessen Personal gewesen. Von
Ploceks Hand stammen raffinierte Postanweisungsfälschungen. Nicht minder
geschickt nachgeahmt sind Diplome, Totalisateur-Tickets und Dokumente,
Stampiglien und Marken, Orden und Medaillen. Die ganze Einrichtung einer
Münzfälscherwerkstätte und falsches Geld aller Sorten liegt zur Schau.
An der Wand hängt ein Phantasiesäbel — der „amerikanische Oberstabsarzt
Morocz“ hat ihn 1899 in Prag getragen, bevor er verhaftet, als der
langgesuchte Heiratsschwindler Theophil Lawczinski erkannt und an die
Schweiz zur Bestrafung ausgeliefert wurde. Plombierte und verschlossene
Pakete „russischen Tees“, die Sägespähne enthalten, magnetische Ringe,
elektrische Stühle und anderes aus dem Warenlager großindustrieller
Quacksalber, die präparierten „Glücks“-Spiele der Bauernfänger, die
Schmucksachen der Ringwerfer, die vor zwei Jahren in Prag reißend
abgesetzten Kassetten der „Elektrischen Amalisations-Werke in Berlin
SW“, welche einen Apparat zur Ersparung elektrischer Kraft enthalten
sollten, aber in Wirklichkeit leer waren, und vielerlei ähnliches sieht
man.

Das sind die Dinge, die der Museumsturm der Polizeidirektion
einschließt. Aus seinen spitzen Fenstern kann man in das
anthropometrische Kabinett im Hauptgebäude hinübersehen. Dort liegt man
der Tätigkeit ob, die zur Ausmittlung der Verbrecher und zur Verhütung
des Verbrechens dient, dort daktyloskopiert man und signalisiert man,
dort werden die portraits parlé und die Photographien des
Verbrecheralbums eingeordnet. Dort rüstet man, von dort aus kämpft man
gegen den Feind, der das Eigentum, die Ordnung und das Leben der
Menschen bedroht. Manches, was hier geleistet wird, entbehrt nicht des
verblüffenden Erfolges. Aber gegenüber steht hoch, trotzig und fest der
Turm, der Rüstzeug und Waffen des Feindes birgt.



                            Unter Statisten


Meine Tätigkeit als Statist wird von der Kritik in der hartnäckigsten
Weise ignoriert. Da ich aber nicht Willens bin, mir gefallen zu lassen,
daß meine Zugehörigkeit zur dramatischen Kunst in Böhmen und meine
Teilnahme an ihrem Aufschwunge von gehässigen Federn totgeschwiegen
wird, so will ich sie selbst hier für die Ewigkeit verzeichnen. Der
Beginn meiner Bühnenlaufbahn fällt in das vorige Jahrhundert. Wir gingen
als Mittelschüler oft statieren. Erstens war es interessant, das
Bühnentreiben aus nächster Nähe zu betrachten, zweitens war es ein
einträgliches Vergnügen, da wir das Geld, das wir von den Eltern zum
Theaterbesuch bekamen, für uns behalten konnten und drittens gab es
immer ein großes Gaudium. Bei der Aufführung der Oper „Die
Rosenthalerin“ hatten wir balgende Buben im Jahrmarktsgetümmel zu mimen
und prügelten einander dabei in erfreulicher Weise, bis wir Beulen an
den Köpfen und wunde Schienbeine hatten. In den „Hugenotten“, in denen
wir als Priester und Ministranten auftraten, zogen wir im dritten Akt
auf offener Bühne statt in die Kirche in das Wirtshaus.

Mit der Zeit wuchs unsere Bühnenroutine und unsere Courage zu
verschiedenen Streichen. Einer von diesen hat der Schlußwirkung eines
Theaterstückes starken Eintrag getan. Das war bei der Uraufführung des
Gottschallschen Bibeldramas „Rahab“ im Landestheater. Die Regie hatte
Gustav Burchard inne, der in irgend einem reichsdeutschen Dialekte die
Statisten zu beschimpfen pflegte, weshalb diese stets dazu bereit waren,
ihm irgend einen Tort anzutun. Als Darsteller der übrigen Rollen waren
Marie Immisch, Mizzi Bardi, Auguste Urfus und Emma Metz und die Herren
John, Moissi, Stiewe und Steil tätig. Wir Statisten — Söldner waren wir
— hatten während des Stückes nichts zu tun: Nur am Schlusse sollten wir
im blutigen Scheine der an allen Ecken angezündeten Stadt die Mauern
Jerichos besteigen und, unsere Schwerter und Hellebarden schwingend,
dartun, daß jede Gegenwehr der Bürgerschaft vergeblich sei. Natürlich
benützten wir die lange Zeit, die uns bis zum Schlusse des Dramas blieb,
dazu, um uns in der Handhabung der Hellebarden, Schwerter und Schilde zu
üben, bis Regisseur Burchard unseren Tournieren ein jähes Ende
bereitete. Schimpfend befahl er uns, alle Waffen hinter einer Kulisse
auf einem Haufen niederzulegen. Wir folgten, aber brüteten Rache. Die
gelang uns auch. Im letzten Akte machten sich zwei von uns auf, trugen
unbemerkt alle Lanzen und Schwerter von dannen und versteckten sie
zwischen zwei Kisten in der Nähe des Maschinenraumes. Knapp vor unserem
Auftreten rief uns Burchard zusammen und prägte uns ein: Wenn sich der
Feuerschein verbreitet habe, mögen wir unsere Waffen holen, sie mächtig
aneinanderschlagen, auf den Leitern die „Mauern“ erklimmen und oben
unsere Waffen drohend erheben. Als aber die Bärlappsamen entzündet
worden waren und wir unsere Waffen holen wollten, fanden wir sie nicht.
Burchard fluchte, schimpfte, drohte, schrie, aber das half ihm nichts.
Wir mußten wie Diebe auf die Mauern kriechen und stellten uns oben ganz
friedlich auf. Das war der Schlußeffekt des Dramas, und die Kritik war
am nächsten Tage einmütig in ihrem Urteil: die Bürgerschaft Jerichos
hätte sich gegen eine derart schäbige Einnahme ihrer Stadt erfolgreich
wehren können.

In der vorigen Woche habe ich nach längerer Pause meine „statistische“
Tätigkeit wieder aufgenommen. Ich debütierte in „Wallensteins Tod“. Auch
Kollege Devrient wirkte mit. Wir Statisten hatten Wallensteinsche
Soldaten zu spielen. Herr Kristoff, als Garderobier daran kenntlich, daß
er in seinen beiden Rockaufschlägen einige hundert Stecknadeln
eingesteckt hatte, (Sigmund Lautenburg hat einmal einen Garderobier
cäsarisch grollend mit den Worten entlassen: „Geben Sie Ihre Nadeln
ab!“) kommandierte, als wir in den Garderobensaal gekommen waren:

„Hosen, Stiefel und Röcke ausziehen, Westen anbehalten.“

Wir bekamen rot-gelb-blau gestreifte Strümpfe, gelbe Schuhe, braunrote
Pumphosen mit blauen Bändern am Knie, ein helles Wams, einen Brustlatz
aus Blech, einen Ledergürtel mit herabhängenden Patronen, einen Degen
und einen grauen Schlapphut. Während wir uns ankleideten, teilte der
kleine Herr Rosenzweig, dessen Geschlecht schon seit einem halben
Jahrhundert die Komparseriebeistellung für das deutsche Theater besorgt,
das Spielhonorar aus: Vierzig Heller per Person. Er selbst bekommt
sechzig Heller, die restlichen zwanzig sind sein Gewinn. Ein Statist,
der sich neben mir ankleidete, sagte auf Pragerisch zu mir:

„Nicht wahr, das ist nicht dasselbe Stück, wo der Löwe den Wallenstein
gespielt hat?“

Ich belehrte meinen Nachbar, indem ich ihm auseinandersetzte, daß
„Herbstmanöver“ und „Wallensteins Tod“ Kriegsdramen verschiedenen
Charakters seien, und daß der General Wallenstein nicht den gleichen
Chargengrad wie der Kadettoffizierstellvertreter Wallerstein bekleide.

Ein anderer Statist zog, bevor er sich auskleidete, einen Gummiknüttel
und einen Revolver aus der Tasche und legte die Waffen neben sich auf
die Bank.

„Wozu tragen Sie die Waffen mit sich?“, fragte ihn ein anderer.

„Die brauche ich zu meinem Beruf,“ sagt der Befragte.

„Was sind Sie denn?“

„Ich bin Detektiv der Polizeidirektion,“ wirft der Mann so gleichmütig
hin, als ob er wirklich das wäre, als was er sich ausgibt. Der
Garderobeinspektor des Theaters, Herr Fitzek, wendet sich interessiert
an den „Detektiv“ mit der Frage, ob es nicht einen Detektiv Fitzek in
Prag gebe. Der angebliche Polizeiagent verneint die Frage. Er habe
keinen Kollegen dieses Namens. Herr Fitzek erzählt daraufhin, sein Vater
habe ihm einmal in Wien gesagt, daß er in Prag einen Onkel bei der
Geheimpolizei habe. Der angebliche Detektiv wiederholt apodiktisch, daß
er in den fünf Jahren, in denen er Angestellter des k. k.
Sicherheitsbureaus sei, nie einen Fitzek kennen gelernt habe. Und dann
beginnt er — die Statisten haben sich um den Detektiv geschart — von
dem hervorragenden Anteil zu erzählen, den er an der Ausforschung der
Kriminalaffären der letzten fünf Jahre hatte. Er gehe oft statieren. Im
tschechischen Nationaltheater habe er neulich den gefährlichen Dieb
Burian dabei festgenommen, als er aus den Garderoben Portemonnaies
stahl. Die Statisten reißen respektvoll die Augen auf, gar als er einen
„Rapport“ aus der Tasche zieht, in dem er angibt, daß er gestern mit dem
Detektiv Batlička (dies ist tatsächlich der Name eines
Geheimpolizisten) eine Streifung unternommen habe. Alles bewundert den
Meisterdetektiv, an dem nur die Phantasie bewundernswert ist. Ich kenne
alle Geheimpolizisten. Er ist nicht darunter.

Inzwischen ist es sieben Uhr geworden und wir Statisten schleichen auf
die Bühne. Wir hören, wie Seni-Mandé und Wallenstein-Devrient
astrologische Weisheiten tauschen. Schließlich finden wir auch eine
Lücke in der Dekoration, durch die wir auf die Szene schauen können.
„Glückseliger Aspekt!“ Wallenstein hat diesen Ausruf getan und die
Kulissenschieber nehmen ihn als Stichwort, um uns von unserem Ausguck zu
vertreiben. Flüche, in denen sich Prager Bodenständigkeit mit gräßlichen
Verwünschungen paart, schleudern sie mit verhaltener Stimme uns, „dem
miserablen Komödiantengesindel“, „den verkleideten Affenpintschern“ ins
Gesicht. Aber auch unter uns sind Männer von gewandter Rede und sie
bleiben den „Wolkenschiebern“ und „Leinwandbaumeistern“ grobe Antwort
nicht schuldig. Zwischen Bühnenarbeitern und Figuranten herrscht seit
urdenklichen Zeiten Erbfeindschaft und in den ewigen Kämpfen bleiben die
Arbeiter immer Sieger. Denn sie sind Angehörige des Theaters, die
Komparsen nur Fremde. Und das technische Personale hat im Inspizienten
und im Regisseur mächtige Verbündete. Die jagen uns fort. Ich habe aber
von allen Komparseriekollegen die größte Sehnsucht, doch etwas von den
Vorgängen auf und hinter der Szene zu erhaschen, ich schleiche mich von
einer Kulisse zur anderen, von rechts, von der Zauberbude, in der der
Oberbeleuchter mit Apparaten und Knöpfen hantiert, bis an die äußerste
Linke, wo der Vorhangmeister das Steigen und Fallen des Vorhanges
regelt, und komme mit dem Regisseur Seipp und sogar mit Heinrich
Teweles, dann mit dem vorbeikommenden Theatersekretär Bertholdi und mit
mehreren Schauspielern in unsanfte Berührung. Lauter gute Bekannte —
keiner erkennt mich. Ein Schauspieler, mit dem ich in der vergangenen
Nacht bis viertel 7 Uhr früh Kognaksorten geprobt habe, beschimpft mich,
weil ich ihm im Wege stehe. Und eine Schauspielerin, die zwei Tage
vorher mit einer öffentlichen Vorlesung meiner Werke Erfolg hatte,
schiebt mich höchst unsanft beiseite. Nur Herr Reinhart, der den Buttler
gibt und selbst nicht zu erkennen ist, hat mich erkannt:

„Herr Redakteur, wie kommen Sie her?“

Ich bitte ihn um Stillschweigen, er sagt es mir zu, aber ich kann die
Folgen dieser Erkennungsszene nicht vermeiden. Ein kleiner Statist, der
neben mir steht, hat die Anrede gehört und fragt mich:

„Sie sind ein Redakteur?“

„Ja.“

„Da haben Sie ganz recht, daß Sie sich keinen Sitz kaufen. Was brauchen
Sie sich zu drängen! Und schade ums Geld ist es.“ Nach einer Weile fährt
er aber fort: „Herr Redakteur, bitte schön, wie können Sie die Szenen
kritisieren, die Sie nicht sehen?“

Da rücke ich denn mit der Wahrheit heraus: „Ich schreibe nicht über das
Stück, ich schreibe nur über die Statisten.“

„Über die Statisten? Das ist großartig. Da müssen Sie hineinschreiben,
daß ich eine prachtvolle Stimme habe. Wenn ich disponiert bin, singe ich
elfmal hintereinander das hohe C. Nur habe ich einen Herzfehler und kann
mich deshalb nicht zum Sänger ausbilden. Aber als Schauspieler bin ich
einmal aufgetreten. In Hirschberg.“

„Was haben Sie da gegeben?“

„Den Okelly in „Maria Stuart“. Keine leichte Rolle. Ich sollte hinter
einem Mauerstück auftauchen und den Mortimer warnen. Meinen Text kannte
ich glänzend. Einen Souffleur hätte ich gar nicht gebraucht. Aber ich
habe Pech gehabt. Der Garderobier hatte mir gesagt, ich brauche mich nur
bis zum Gürtel zu kostümieren. Aber als ich mich über das Versatzstück
beugte und mit voller Kraft schrie: „Flieht, Mortimer, flieht,“ kippte
das Versatzstück um und ich fiel auf die Bühne. Das Publikum lachte wie
wahnsinnig, denn ich hatte zu dem roten Wams meine graukarrierten
Straßenhosen an und die Hosenträger hingen herunter. Der Direktor war
wütend. Und bei der nächsten „Maria Stuart“ mußte ich wieder im Volk
stehen und „Rhabarber“ murmeln. Seit der Zeit bin ich nicht mehr als
Solist aufgetreten. Der Garderobier in Hirschberg ist schuld daran. Ich
habe wirklich sehr viel Talent. Sie müssen schreiben, daß ich sehr viel
Talent habe.“

Der kleine Statist mit dem großen Ehrgeiz weicht nicht mehr von meiner
Seite. Schließlich werden wir beide — über Auftrag des Inspizienten —
auf den Korridor geleitet und die Türe wird hinter uns geschlossen. Wir
müssen durch die Katakomben, die von schwachen, mit Drahtnetzen
umspannten Glühbirnen beleuchtet sind, wieder in die Garderobe hinab.

Während des dritten Aufzuges, kurz nach der Szene mit den Pappenheimern,
die von Chorherren dargestellt wird, läutet in unserer Garderobe die
elektrische Glocke: Man bedarf unser. Herr Kristoff wirft noch einen
musternden Blick auf unsere Uniformen, bessert hier und dort an unserer
Adjustierung und jagt uns dann hinauf in den Seitenraum der Bühne. Von
der Szene tönt uns das Wortgefecht zwischen Max Piccolomini und Max
Devrient entgegen. Wir stehen rechts von der Bühne und stellen die
Truppen dar, die ungeduldig die Freigabe des jungen Piccolomini
verlangen, den sie von Wallenstein gefangen glauben. Der Inspizient,
Herr Körner steht auf einem Sessel und hebt von Zeit zu Zeit die Hand.
Das ist ein Signal für uns: Jetzt ist’s Zeit zu lärmen!

Der einundzwanzigste Auftritt geht zu Ende, Wallenstein hat seine
Absicht wahr gemacht:

         „Ich zeige mich
   Vom Altan dem Rebellenheer, und schnell
   Bezähmt, gebt acht, kehrt der empörte Sinn
   Ins alte Bette des Gehorsams wieder.“

Wallenstein kommt zu uns heraus, wischt sich (dem Publikum ist er nicht
sichtbar) den Schweiß von der geschminkten Stirn, schneuzt sich
gleichmütig und schenkt uns, dem Rebellenheere, keine Beachtung. Ist es
dann ein Wunder, daß auch wir ihn mißachten und auf die freundliche
Aufforderung des Herrn Inspizienten „Vivat Ferdinandus!“ schreien?! Das
heißt: Alle schreien diese beiden Worte nicht. Vor mir z. B. steht ein
Tscheche, der in den allgemeinen Lärm nur mit einer freien tschechischen
Übersetzung des Wortes „Schmarren“ einstimmt.

„Um zwei Sechser werde ich doch nicht ganze Monologe aufsagen,“ bemerkt
er zu seinem Nachbar.

Nach und nach stürmen alle Statistengruppen in den Saal, der sich —
streng laut Regiebemerkung Schillers — unter Kriegsmusik allmählich mit
Bewaffneten zu füllen hat. Schließlich stehen wir alle im Hintergrund
der Szene. Einzelne von uns betrachten die Dekoration, andere mustern
die Thekla, andere starren forschend in den Zuschauerraum, der in
gähnender Dunkelheit vor uns daliegt und aus dem sich tausend
unsichtbare Augen auf uns heften. Wieder andere von uns suchen ihren
Blick abzuwenden, unerkannt zu bleiben. Jeder hat andere Wünsche. Max
Piccolomini aber schreit uns an:

   „Was wollt ihr? Kommt ihr, mich von hier hinweg
   Zu reißen? — O treibt mich nicht zur Verzweiflung
   Tut’s nicht! Ihr könntet es bereun.“

Wir würdigen den Mann gar keiner Antwort. Er aber glaubt, daß keine
Antwort auch eine Antwort sei, und brüllt uns zu:

   „Ihr habt gewählt zum eigenen Verderben,
   Wer mit mir geht, der sei bereit zu sterben.“

Dann rennt er ab, wir ihm im wilden Tumulte nach, nicht zu sterben,
sondern in unsere Garderoben. Wir haben ausgespielt und entledigen uns
unserer Rüstungen, in denen wir von halb 7 bis 10 Uhr abends bös
transpiriert haben und kleiden uns an. Einzeln verlassen wir die
Garderobe. Der „Meisterdetektiv“ mißt jeden von uns mit forschendem
Blick, daß es den Gemusterten eiskalt überläuft.

Der kleine Statist schärft mir noch beim Abschied ein:

„Vergessen Sie nicht hineinzuschreiben, daß ich eine prachtvolle Stimme
habe!“



                       Der Dichter der Vagabunden


„Die Vagabunden“ von Karl von Holtei waren eines der Lieblingsbücher
unserer Väter. Das Buch hatte Sympathien für die hungernd-fröhlichen
Jünger der Kunst und deren Lebensweise entfacht, denen im gleichen Jahr
Henri Murger den Namen Boheme gab, sie noch literarischer und noch
romantischer, sie ersehnenswert und bewundernswert machte. Karl von
Holtei war selbst ein Sprosse dieses in Frankreich von Murger geadelten
Geschlechtes, und wohl ein echter. Das zeigt z. B. die Widmung, die auf
der Titelseite des Vagabundenbuches steht: „Dem k. k. Hofrath und
Polizeidirektor in Prag Anton Frhr. von Paümann.“ Die Widmung ist
satirisch, ironisch und tendenziös. In ihr sagt der alte Holtei zu dem
Polizeigewaltigen, mit dem ihn übrigens von Graz her ein persönliches
Freundschaftsverhältnis verband: „Sie sind sonst immer hinter den
Vagabunden her, d’rum müssen Sie sich’s gefallen lassen, daß hier die
Vagabunden hinter Ihnen her sind.“ Doch konnte sich der Herr Baron
Paümann durch diese Widmung seines Freundes auch derart angesprochen
sehen: Du hetzest uns Vagabunden; sieh her, wie wenig wir’s verdienen,
wie wir fühlen, wie wir denken, wie wir sind ... Es war gewiß nicht bloß
ein Akt der Freundschaft von Holtei, wenn er einem Buch, das „Die
Vagabunden“ hieß, den Namen eines Polizeichefs voranstellte, denn er
hatte als Theaterdichter, Bühnenleiter, Theatersekretär, Schauspieler,
Rezitator und — not least — als fahrender Bohemien zeitlebens genug
von der Polizei zu leiden gehabt. Auch von der Prager.

Der im Jahre 1797 in Breslau als Sohn eines Husarenrittmeisters geborene
Karl von Holtei wuchs vater- und mutterlos auf. Seine Gymnasialstudien,
die schon ein verzehrender Drang zum Theater beherrschte, unterbrach er,
um Landmann werden zu können. Er zog als freiwilliger Jäger gegen
Napoleon zu Felde, bezog dann die Universität, wurde Burschenschafter
und während all dem verließ ihn nie die Sehnsucht Schauspieler zu
werden. Als „Mortimer“ betritt er in seiner Heimatstadt die Bretter.
Bald gibt es Streit, als fahrender Sänger und Deklamator zieht er ins
Weite. Heimgekehrt vermählt er sich mit der entzückenden Louise Rogée,
die als Schauspielerin die Breslauer bezaubert. Er wird Theatersekretär.
Neuer Streit und Kündigung. Das junge Künstlerpaar verläßt die Heimat
und wendet sich (man schreibt 1823) zunächst nach — Prag.

   „Ich erwählte mir Prag,“ schreibt Holtei in seiner
   Lebensgeschichte,[1] „und zwar deshalb, weil dies der einzige Ort
   war, von wo ich auf meine Anfrage (wegen Gastierens) keine Antwort
   empfangen ... Es war in der Abenddämmerung, als wir Prags Türme
   erblickten. Mich überkam dabei ein poetischer Schauer, und mit
   wehmütiger Begeisterung hub ich das Schenkendorfsche Lied auf
   Scharnhorsts Tod, in welchem er „die alte Stadt, wo Heil’ge von den
   Brücken sanken“ anredet, zu singen an. Wir gelangten in wahrhaft
   feierlicher Stimmung ans Tor, um durch einen verwünschten Zöllner in
   die niedrigste und ekelhafteste Prosa gezogen zu werden.“

Auch ein Fremder, der diese Stadt uneingeschränkt bewunderte und liebte,
bevor er mit dem ersten Bewohner in Berührung kam, um „in die niedrigste
und ekelhafteste Prosa gezogen zu werden!“

In Prag war damals Hans von Holbein Theaterdirektor. Wenn das Ständische
Theater auf dem Obstmarkt unter seiner Führung auch nicht die Blüte wie
unter Liebichs Leitung erreichte, stand es doch auf bedeutsamer Höhe,
auf der es nur von wenigen Hoftheatern übertroffen wurde. Unter seinem
Regime erhob sich die „böhmische Nachtigall“, Henriette Sontag, zu ihrem
die Welt erobernden Fluge, und er war der erste, der Seydelmanns
überragende Begabung anerkannte und wertete. Holbein empfing die
fahrenden Thespisjünger nicht sehr wohlwollend.

   „Er fertigte mich kurz und entschieden ab; vom Gastspiel war keine
   Rede, umsoweniger als eben der berühmte Bassist Fischer und der
   junge Sänger Eduard Devrient aus Berlin auftreten sollten. Da saßen
   wir nun in der großen wunderbaren Stadt, ohne Freund, ohne Rat, ohne
   Hoffnung — und wußten uns nicht zu helfen. Mitten in meiner Trübsal
   fiel mir ein, daß ein Mitarbeiter und Korrespondent der „Deutschen
   Blätter“,[2] W. A. Gerle, Professor am Konservatorium, hier weile.
   Diesen freundlichen Mann sucht’ ich auf, wurde durch ihn mit dem
   jungen, lebenslustigen Marsano, dem Verfasser hübscher Lustspiele,
   und durch diesen wieder mit all den fröhlichen Gesellen bekannt, die
   sich in der sogenannten Wolfsschlucht versammelten.“

Aber hatte Holtei auch keine Freunde und keine Hoffnung, so besaß er
doch etwas, was schon damals wichtiger war, als alles andere:
Protektion. Auf dem Paßbureau wies er sich, nachdem er kurz und
entschieden nach Breslau zurückgewiesen werden sollte, mit zwei Briefen
an den Oberstburggrafen von Böhmen, den Grafen Kolowrat, aus. Auf den
Rat des Beamten gab er die Briefe in dessen Palast ab, von wo sie den
Abwesenden nachgeschickt wurden. Nur wenige Tage des Wartens vergingen.
Da kommt er eines Tages nach Hause und findet bei seiner Frau den —
Theaterdirektor mit dem „Besetzungsbuche“. Frau von Holtei trat als
Lieschen in „Alpenröslein“, sowie mit ihrem Manne, der hier wieder die
Bühne betrat, in einigen seiner netten Singspiele auf und erntete
allabendlich stürmischen Beifall.[3]

Holtei schreibt von seinem Prager Auftreten in bemerkenswerter Weise:
„Ohne Gastrollen von Prag abreisen hieß gewissermaßen auch alle übrigen
deutschen Bühnen Luisen verschließen.“ Und auch als er in dem Beutel,
der ihm als Honorar überreicht wird, statt der vermeintlichen Goldstücke
nur Kupfermünzen findet und entdeckt, daß seine Einnahme nur 3 fl. 56
kr. W. W. beträgt, vermag das seiner guten Laune nicht Einbuße zu tun:
„Gleichviel! Wir hatten in Prag gespielt, die Bahn war gebrochen ...“

Nun durchwandert der Unstete Europa. Nahezu drei Jahrzehnte währen die
Irrfahrten, und die Aufzählung der äußeren Erlebnisse würde Bände
füllen. Von besonderem Interesse ist es, wie er durch einen Besuch bei
Madame Czegka in Leipzig, eine Gesangslehrerin von Weltruf, welche am
Prager Konservatorium Henriette Sontag zuerst unterrichtet hat, und
durch diplomatische Kunststücke Henriette Sontag für Berlin engagiert,
was anderen Theaterdirektoren und deren Abgesandten nicht gelang. In
Weimar wird Holtei mit Goethe gut Freund, und kommt besonders mit dessen
Sohn August in ein überaus herzliches Verhältnis. Mit Saphir kommt es
wegen dessen Krieges gegen die Sontag zum Bruch. Holtei wird
Zeitungsredakteur, schreibt eifrig und wird als erster Polensänger auch
für die Nachwelt lebendig. Noch heute gedenkt man des „tapferen
Lagienko“ und tönt das Mantellied „Schier dreißig Jahre bist du alt“. Er
heiratet zum zweitenmale (Louise ist 1825 gestorben), der alte
Schleiermacher traut ihn mit der Schauspielerin Julie Holzbecher. Er
spielt in seinem „Lorbeerbaum und Bettelstab“ und wird sehr berühmt. Im
Jahre 1850 wird er seßhaft. In Graz. Sein kundiger humorvoller
Biograph[4] meldet: „Und er kaufte sich einen Schreibtisch.“ Er
vollendet seine Selbstbiographie „Vierzig Jahre“, die als wichtige
Quelle deutschen Theater- und Literaturlebens von unschätzbarem Werte
ist. Er schreibt hier seine Landstreicherromane und Kriminalgeschichten,
von denen manches Buch wie „Christian Lammfell“ oder gar „Die
Vagabunden“ mit Unrecht vergessen ist.

Nach Prag ist Holtei wiederholt gekommen. Hatte er sich schon bei seiner
ersten Anwesenheit manchen lieben Freund wie Gerle und Marsano erworben,
hatte sich die wunderbare Stadt, die keinen unverzaubert aus ihrem Banne
entläßt, tief ins Herz geprägt, so verdichteten sich diese Eindrücke zu
einer poetischen Verherrlichung. Als dem Dichter nach dem Tode seiner
zweiten Gattin sein Theaterdirektorposten und der Aufenthalt in Riga
verleidet worden war, hatte Johann Hoffmann, ein Wiener Kind und
ehemaliger Tenor in Petersburg, diesen übernommen. Dieser Hoffmann
sollte nun im Jahre 1846 Nachfolger Stögers in Prag werden. Als er sich
nun an Holtei um ein Eröffnungsfestspiel wandte, konnte dieser dem
Freunde die Bitte nicht abschlagen, doch stellte er die Bedingung,
vorher einen Besuch in Prag zu machen, „die dortigen Theaterzustände,
die Stimmung des Publikums, den vorherrschenden Ton wieder kennen zu
lernen ...“ Auf Hoffmanns Einladung verbrachte Holtei die
Weihnachtsfeiertage in Prag. Fleißig ging er ins Theater und „wohnte
auch den böhmischen Vorstellungen bei, die mich vorzüglich im Gebiete
der Lokalposse interessierten“. Und dann ließ er den Zauber der Stadt
auf sich wirken. „Jene Abende, wo das Schauspielhaus geschlossen blieb,
namentlich den Weihnachts- und Silvesterabend brachte ich bis tief in
die Nacht hinein in den hohen, Ehrfurcht gebietenden Kirchen zu, den
katholischen Feierlichkeiten mit banger Aufmerksamkeit lauschend.“

Er lernt Frau Direktor Stöger, die Witwe des „genialen Direktors
Liebich“ kennen, dessen Persönlichkeit er feiert: „... daß die Prager
Bühne durch ihre einzelnen Talente, wie auch durch ihr geistig
geleitetes Zusammenwirken unter Liebichs Direktion eine der ersten, wo
nicht die erste in Deutschland war, ist allen Kennern unserer
Theatergeschichte bekannt, und war es auch mir.“ Und Holtei hat etwas
vom Theater verstanden. Mit Eindrücken wohl versehen, ging er nun an
deren Verarbeitung. Aber es kam nicht zur Aufführung. Es paßte Hoffmann
und den Prager Maßgebenden nicht. Vielmehr wurde das neueingerichtete
Theater am Ostermontage mit dem Festspiel „Die Weihe der Kunst“
eröffnet; der heimische Poet Hickel hatte die Worte geliefert, der
Konservatoriumsdirektor Kittl und Kapellmeister Skraup die Musik. Holtei
aber hat sein wenigstens originelles Stückchen im siebenten Bande seiner
Lebenserinnerungen abgedruckt.

Die Szene bildet das Theatergebäude. Thalia will den nordischen Fremden
— den neuen Direktor — in die Hallen seiner Bestimmung einführen. Der
alte Guardasoni, der erste ständische Impresario des Nostitz-Theaters,
unter dem die Oper geschmückt mit dem Namen Mozarts blühte, wird von den
Toten zitiert und gibt im welschen Deutsch dem neuen Mann sein Geleite.
Der Kastellan allerdings, der ihn ins Haus einführt, spricht einen
schwerer verständlichen Dialekt. Dieser Mischmasch sollte offenbar
Prager Deutsch vorstellen — aber es war nichts. Ebensowenig ist ihm
einmal der Versuch geglückt, in einem Gedichte „Der Böhme in Berlin“ das
berüchtigte „Behmisch-daitsch“ Prags festzulegen. Man urteile selbst:

   „Bei Prag ist große Bruck
   Ale ist prächtig!
   Steht heil’ger Nepomuk
   Auf Bruck bedächtig.

   Möcht’ ich Land meines sehn,
   Möcht’ ich nach Böhmen gehn.
   Böhmisch, böhmisch,
   Böhmisch ist schön.“

Ebenso ist ihm in seinem Bühnenspiel die Einführung der kleinen
böhmischen Muse völlig vorbeigelungen. Er vermochte die Muse der
böhmischen Komödie nicht zu charakterisieren. Mit würdigen Worten
erscheint aber Hoffmanns besondere Schätzerin Euterpe:

   „Und vor jedem anderen Lande
   Blieb ich diesem Lande nah
   Schlang um dich die Blütenbande
   Immerdar, Bohemia.“

Unter dem Musengeleite betritt der Fremdling die Säulenhalle. Im Kreise
des gesamten Personales wendet er sich nun mit warmen Worten ans
Publikum, Prag möge ihm nicht Huld und Geduld versagen. Und Thalia
erwidert:

   „Sie wird es nicht. Sie wird aufricht’gem Streben
   Wie immer güt’ge Anerkennung geben.
   Erblicke sie, die wunderschöne Stadt,
   Die ihres Gleichen nicht auf Erden hat,
   Erblicke sie, der du dich froh geweiht
   Und stärke dich an ihrer Herrlichkeit.“

    (Der Hintergrund teilt und Prags voller Anblick entfaltet sich.)

Im Herbste 1853 erschien Holtei wieder in Prag und las unter großem
Beifall im Konviktsaale seinen Shakespeare. „Aber je gütiger ich
behandelt wurde, desto erkenntlicher muß ich sein.“ Und den Dank hat er
abgestattet. In Gutzkows Familienblatt „Unterhaltungen am häuslichen
Herd“[5] des Jahrgangs 1856 erschien an leitender Stelle: „Das
Kinderspital in Prag. Sendschreiben an den Herausgeber. Graz in
Steiermark. Juli 1856.“ Darin hat nun Holtei seinen Dank in würdigster
Weise abgetragen, indem er für diese Anstalt in ganz Deutschland
Stimmung zu machen versucht und uns zum andern ein treffliches Bild der
Prager Gesellschaft vor nun fünfundfünfzig Jahren gibt. In anschaulicher
Weise schildert er uns die Segnungen und Aufgaben des „Franz
Joseph-Kinderspitals“, das von Dr. Kratzmann im Jahre 1842 begründet
wurde, und dann in Dr. Löschner, dem unvergeßlichen Menschenfreunde,
seinen nimmermüden, zu jedem Opfer bereiten Leiter gefunden hat. Schon
vorher hat Holtei den Reinertrag seiner letzten Vorlesung am 23.
November — Schillers Demetrius, Goethes Egmont, Shakespeares Caesar —
dem Kinderspitale zugewiesen.

Interessant sind die Bemerkungen, die der schlesische Poet über seine
literarischen und gesellschaftlichen Beziehungen in Prag macht. Nächst
seinem Bekannten von Graz, dem Polizeidirektor Baron Paümann, „waren es
vor allem die Redaktoren der Zeitschrift „Bohemia“ und der unter dem
Titel „Album“ weit verbreiteten Romanbibliothek, die deren beider
liebevoll verhätschelter Mitarbeiter zu begrüßen Pflicht und Ehre
hatten. Freund Klutschak saß mit seinen Kindern vor einem Tisch
Kolatschen und Wuchteln — oh Himmel, wie priesen die Kleinen den
heiligen Wenzel!“ Holtei war am Wenzelstage in Prag angekommen. Bald war
er auch in eifriger literarischer Tätigkeit. „Daneben trat ich
allwöchentlich einmal vor’s Publikum als Vorleser, war Abend für Abend
in geselligen Kreisen, machte sogar verschiedene Ausflüge aufs Land in
benachbarte Schlösser. Der jugendliche Album-Vater Kober ließ sich’s
angelegen sein, mich dem Kreise der bei ihm häufig versammelten
Schriftsteller und Journalisten näher zu bringen ...“ Mit begeisterten
Worten rühmt er Prager Bildung und Geselligkeit. Besonders die Abende
bei dem berühmten Arzte Dr. Pitha und seiner anmutigen Gemahlin sind ihm
unvergeßlich. Den Gipfel seiner Begeisterung erreicht er aber bei den
Namen: Erwein Nostitz und Schloß Mieschitz. „Welch eine Familie! Welch
ein Hauswesen, welch ein Vorbild für Gastfreiheit im höchsten, reichsten
Maßstabe! ... So denke ich mir den Landaufenthalt der besten, großen
Familien in Alt-England.“ So preist er die vornehme Persönlichkeit und
das kunstsinnige Wirken dieses kunstbegeisterten und kunstfördernden
altböhmischen Kavaliers. (Graf Erwein Nostitz war der Großvater des
gegenwärtigen Grafen dieses Namens.) Soviel Gastfreundschaft macht dem
greisen Poeten, der doch auf seinen Fahrten viel gesehen und viel erlebt
hat, die Moldaustadt unvergeßlich. „Vor dreiunddreißig Jahren hatte ich
Prag zum ersten Male gesehen und in dieser Zwischenzeit jede Gelegenheit
benützt, die wundersame, alte, für mich immer neue Stadt, sei’s auch nur
als Durchreisender auf Stunden wieder zu besuchen.“ Und kommt er nicht
selbst, so sendet er seinen Dichtergruß. Unter der langen Reihe der
besten deutschen Namen, die die Prager Lese- und Redehalle der deutschen
Studenten unter ihren Herolden nennen darf, fehlt auch der Holteis
nicht. Zum Konzerte, das dieser Studentenverein im Jahre 1857 gab,
sandte der „Alte vom Berge“, wie man diesen Nestor deutscher Poeten —
er starb erst 1880 — später nannte, den Prolog, den Fräulein Rudloff
sprach. Mit schönen Worten verteidigt er das gesprochene Wort, die Muse
der Dichtung gegen die Musik. Er ruft die unsterblichen Genien der
deutschen Sprache, denen auch dieser Verein diene, zu Bürgen und Zeugen,
um dann den Wunsch zu sprechen:

   „Glückauf, glückauf! Du Stadt der Städte, Prag!
   Heil Böhmen dir, du schönes Land der Länder.
   Der Tonkunst alte Heimat willst nicht minder
   Du Heimat sein der Wissenschaft, der Dichtkunst!
   Glückauf! Heil sei mit dir und deiner Jugend.“

—————

[1] Vierzig Jahre. Berlin, 1844. S. 67 u. ff.

[2] Deutsche Blätter für Poesie, Literatur, Kunst und Theater,
herausgegeben von Karl Schall und Karl v. Holtei. 1. Heft. 2. Januar
1823.

[3] Teuber, Geschichte des Prager Theaters. 1888. III. — 64.

[4] Karl von Holtei. Eine Biographie. II. Prämie zu Kobers Album. 1856.
Prag und Leipzig. Der anonyme Verfasser ist Dr. O. Storch.

[5] Neue Folge. I. Band. Nr. 48, S. 753 u. ff.



                             Arrestgebäude


Die Albrechtskaserne in Smichow besteht aus vier Gebäuden, von denen
jedes auf der Hoffront mit großen Lettern eine der vier Aufschriften
trägt: „Westkaserne“, „Südkaserne“, „Stabsgebäude“ und „Nordkaserne“.

Darauf läßt es sich zurückführen, daß ein Infanterist auf die Frage,
welches die vier Weltgegenden seien, geantwortet hat:

„Nord, Süd, West und Stab.“

Das Stabsgebäude, das zu dieser falschen Antwort Anlaß gab, füllt nicht
die ganze Ostseite des Kasernenkarrees aus: An der Ecke der
Petřinergasse und der Königsstraße steht noch ein entzückendes,
quadratisches Häuschen: „Arrestgebäude“ ist oberhalb des Tores zu lesen.

Die Fenster sind vergittert und auf den Stufen, die zum Eingang
hinaufführen, steht oder sitzt ein Soldat mit grauen Aufschlägen,
Tschako und Patrontasche. Der Avisoposten. Er steht da, um das Nahen des
inspizierenden Offiziers schnell dem Gefreiten melden zu können, der
Wachkommandant ist.

In diesem Hause habe ich einige Monate lang das Zimmer gehütet. Lang,
lang ists her und vielleicht hat sich seither vieles geändert und es ist
nicht mehr so arg, wie es damals war. Dann hat dieses Feuilleton nur den
Charakter einer Reminiszenz, erzählt nur Gewesenes.

An dem kleinen Eckhause der Petřingasse und der Smichower
Königsstraße gehe ich nie ohne leisen Schauer vorbei. Ich habe in einem
meiner Bücher und in vielen Geschichten heiteres von meinen beim Militär
verübten Streichen erzählt. Aber die Strafen habe ich immer nur mit
kurzen Worten gestreift. Sonst wäre es schnell mit dem Humor vorbei
gewesen. Meine „Festungstid“ war die böseste Zeit meines Lebens.

Am Anfang kam ich nur zu „verschärftem Arrest“ in das vergitterte Haus.
Das heißt: Ich „durfte“ auf dem Sandberg mit den anderen Kameraden
exerzieren, „durfte“ an dem Unterrichte der Taktik, des Waffenwesens,
des Militärgeschäftsstils, des Heerwesens u. dgl. teilnehmen, aber wenn
um fünf Uhr abends die anderen nach Hause schlafen gehen konnten, dann
mußte ich ins Arrest. Später kam ich zur strengeren Strafe, zum
„strengen Arrest“ in das Nordost-Häuschen. Da machte ich die
Beschäftigung der anderen nicht mit und blieb von früh bis abends und
von abends bis früh im dunklen Loch.

In meiner Uniform konnte ich die Haft nicht antreten, denn die wäre
schnell kaput gewesen. Ich mußte von meinem Putzer dessen ärgste
Kommißuniform entlehnen, Kleider, die er aus Schamgefühl selbst zum
Exerzieren oder zum „Ritt“, d. i. zur Reinigung der Kompagnieräume nicht
angezogen hätte: Breite, schlotternde Hosen, eine farblose Bluse mit
verschiedenartig blauen Flicken und eine unsagbar große Mütze, die —
wie verlautete — auch als Ohrenschutz, als Kochgeschirr, als
Waschschüssel und zu anderen Manipulationen verwendet werden konnte.

In diesem Aufzuge marschierte ich über den Hof, aus dem Bereiche der
Freiwilligenschule in den Arrest. Drei Schritte hinter mir schritt der
Tagskorporal, der mich im Arrest abzuliefern hatte.

Im Wachzimmer des Arrestgebäudes mußten wir Halt machen und auf den
Stabsführer warten, der die Profoßendienste im Regiment versieht. Der
wurde herbeigeholt. Leibesvisitation. Das Taschentuch wird mir
abgenommen; ebenso muß ich mich der Schuhriemen entledigen. Der, der
Bänder an den Unterhosen hat, muß sich gefallen lassen, daß sie ihm
abgeschnitten werden. Alle diese Maßregeln haben prophylaktischen
Charakter: das Erhängen soll dem Häftling erschwert werden. Derjenige,
der nicht an Selbstmord dächte, könnte durch diese Vorkehrungen leicht
auf solche Gedanken kommen.

Der Stabsführer entfernt sich, ich werde in eine Zelle geleitet und die
zufallende Türe scheidet mich von der Welt. Das Rasseln des
Schlüsselbundes verklingt langsam auf dem Korridor.

Ein Blick und ich bin mit meinem neuen Heim vertraut. Vier kahle Mauern
und in der Ecke eine Holzpritsche. Sonst kein überflüssiger Komfort. Die
offenen Rolladen des unerreichbar hohen Fensters sieben das Tageslicht
zwölffach, bevor sie es zum Arrestanten lassen. Ein gräuliches
Halbdunkel, nicht Tag noch Nacht.

Lesen kann ich nicht, denn ich habe kein Buch. Schreiben kann ich nicht,
denn weder Feder noch Tinte, noch Bleistift, noch Papier wäre mir
gelassen worden. Rauchen kann ich nicht, denn ich habe keine Zigaretten.
Vom Sitzen auf der niedrigen Pritsche tun die hinaufgezogenen Füße weh,
vom Liegen auf der harten Pritsche der Rücken. Ans Schlafen ist nicht zu
denken. Kalt ist es auch.

So muß ich mir denn ein Surrogat suchen, zu dem man keiner Utensilien
bedarf: Ich zähle. Ich zähle bis hundert, bis tausend, bis
vierzigtausend. Ich bin gerade bei der Ziffer 40.015 angelangt, als mir
brennender Durst zum Bewußtsein kommt. Ich schlage auf meine Tür. Der
Posten, der draußen mit aufgepflanztem Bajonett auf und ab geht, kommt
herbei und fragt mich nach meinem Begehr. „Ich will trinken,“ erkläre
ich.

„Warte einen Augenblick,“ gibt mir der Infanterist zur Antwort.

Er drückt auf den Knopf der elektrischen Klingel, die zum
Wachkommandanten hinunterführt.

Nach kurzer Zeit hört man schwere Schritte: Der Gefreite-Wachkommandant
kommt die Treppe herauf, begleitet von einem Mann der Wache.

„Was wollen Sie?“ fragt er mich durch die verschlossene Türe.

„Ich will trinken,“ melde ich nochmals.

„Treten Sie zurück,“ befiehlt er mir und schaut durch das vergitterte
Guckloch, ob ich diesen Befehl befolgt habe.

Dann öffnet er und ich kann hinaustreten. Die Mündungen dreier Gewehre
sind auf mich gerichtet und bewegen sich in der Richtung eines jeden
Schrittes, den ich mache. Der Wachkommandant und sein Begleiter, sowie
der Korridorposten haben die linke Patronentasche offen, in der die
scharfen Wachpatronen stecken. Am Ende des Ganges, am Fensterbrett steht
ein großes Glas, wie man es gewöhnlich zum Einlegen von gedünstetem Obst
verwendet. Aus dem Konservenglas trinken alle Arrestanten. Darunter
steht eine Kanne, aus der ich mir eingieße. Während ich trinke, lassen
mich die Gewehrmündungen nicht aus dem Auge.

Zum zweitenmale kommt der Wachkommandant herauf, wenn es neun Uhr abends
ist und der Hornist vor dem Kasernentore die trüben Klänge der Retraite
bläst: dann bringt er mir die dünne Kavalettdecke, in die ich mich
einhülle und vergeblich zu schlafen versuche.

Dann bekomme ich gewöhnlich noch einen nächtlichen Besuch. Der
Kaserninspektionsoffizier kommt inspizieren. Er schaut sich forschend um
und schnuppert, ob in der Zelle kein Zigarettenrauch zu spüren ist. Dann
geht auch er.

Manchmal ist der Gefreite, der die Wache kommandiert, einer meiner
Bekannten und läßt mich, wenn der Kaserninspizierende das Arrestgebäude
verlassen hat, zu sich ins Wachzimmer hinunter. Unten brennt wenigstens
ein Lämpchen, die graphitfarbenen Wände des Ofens sind von ärarischer
Kohle in Glut versetzt und es sind Menschen da: die Wachsoldaten, die
Zigaretten hergeben, wenn man ihnen für den nächsten Tag zehnfache
Revanche verspricht. Auch die Arrestanten aus den anderen Zellen haben
sich — wenn der Wachkommandant kein Hasenfuß ist — hier ein
Stelldichein gegeben und spielen Karten.

Hier bin ich mit Peter Worostschuk bekannt geworden, der zwar beim 73.
Infanterieregiment in Karolinental diente, aber in den Arrest der
Albrechtskaserne gebracht worden war, weil der sicherer ist. Nach Ablauf
meiner Dienstzeit habe ich ihn noch zweimal getroffen: Einmal im
Sicherheitsbureau der Polizeidirektion und bald darauf im Strafgerichte
bei der Verhandlung, in der er wegen verursachten Meuchelmordes sieben
Jahre schweren Kerkers erhielt. Auch Wladimir Zajiček, mit dem ich
mich beim jeu im Arrestgebäude befreundet hatte, ist mir zweimal „im
Zivil“ begegnet. Einmal traf ich ihn in der Strafanstalt Pankratz, ein
zweites Mal vor drei Jahren bei den Bummelkrawallen auf dem Graben, wo
er mich herzlich begrüßte. Seither haben sich die Verhältnisse beruhigt
und der Beruf als „empörte Volksmenge“ nährt nicht mehr seinen Mann. Und
vor einigen Monaten habe ich denn gelesen, daß mein Genosse Zajiček
wieder für zehn Monate zu der ruhigen, sitzenden und beschaulichen
Lebensweise zurückkehren wird, die ihm seit seinem seinerzeitigen Sejour
im Smichower Arrestgebäude nichts fremdes mehr ist.



                        Alt-Prager Mensurlokale


In Prag ist es mit den Studentenmensuren wesentlich anders als auswärts.
Inmitten des nationalen Kampfes muß selbst dem krassesten Füchslein der
Gedanke aufdämmern, daß das Waffenspiel doch mehr als ein Spiel, daß es
Probe und Erziehungsmittel sein soll. Und trotzdem in Prag wohl keinem
Studenten Kodex, Komment und Couleurpolitik zum Lebensinhalt werden
kann, weil er sich vor ernstere Aufgaben gestellt sieht, wird hier seit
Jahrzehnten eifrig gefochten. Dabei aber erschwert der erwachende und
bald zur Herrschaft gelangte politische Haß die Zusammenkünfte der
deutschen Studenten. Von einem dunklen Schlupfwinkel zum anderen mußten
sie ziehen, von einem Ausflugsort zum andern, und wenn sich jemand der
Mühe unterzöge, nach den Mensurbüchern der Prager Korporationen eine
Liste der Paukböden zusammenzustellen, so würde dies nicht bloß ein
vielsagender Beitrag zur Geschichte des Farbenstudententums, sondern
auch eine bemerkenswerte Illustration zur politischen und kommunalen
Geschichte dieser Stadt sein.

Auf der Bastei, der breiten Umwallung, die von der Karlshofer Kirche zum
Korntor, von da zum Roßtor und weiter über das Pořitscher Tor hinaus
bis zur Moldau führte, stand einmal das „Café Bohemia“. In der
Hibernergasse, die freilich anders aussah, wie heute. Der Staatsbahnhof
war dort, wo er heute ist, und stand doch nicht in der Mitte der Stadt,
sondern an ihrer Peripherie. Um für seine Einrichtung Raum zu schaffen,
hatte ein Stück der Basteimauern fallen müssen. Rings umher aber stand
der Wall noch breit und hoch, und an schönen Frühlingstagen konnte man
geputzte Bewohner Alt-Prags die Serpentine hinaufstolzieren sehen, die
von der Hibernergasse aus auf die Bastei führte. Dort oben stand das
„Café Bohemia“, wo man einen guten Kaffee schlürfen und altvorzeitisch
große Kipfel dazu essen konnte, und einen endlos weiten Ausblick auf die
Wiesen und Felder gegen die Wiener Reichsstraße, auf jenes Gebiet genoß,
wo sich heute Žižkow und ein Teil von Weinberge breitet. Vom
Kaffeehause aus konnte man dann auf der Steinbrücke über den Bahnhof
hinweg längs der Florenzgasse bis zum Pořitscher Tore promenieren. Im
ersten Stock des Cafés war ein großer Saal, der manches
fröhlich-schlichte Kränzchen und manchen denkwürdigen Kommers sah, wie
jenen, der im Feber 1863 den Staatsminister Schmerling in Prag begrüßte.

Hier focht man am Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts
die ersten Mensuren. Nach dem unglückseligen Ausgang des lombardischen
Feldzuges versuchte man es in Österreich einmal statt des reaktionären
Regimes, das sich so schlecht bewährt hatte, zaghaft mit etwas
freiheitlicher Regierungskunst. Vielleicht wollte man die
österreichische Bevölkerung, die durch die in Italien erlittenen
Verluste und Mißerfolge verbittert war, einigermaßen entschädigen, indem
man ihr mehr Bewegungsfreiheit gewährte. Die Studenten, deren
Organisationsbestrebungen im Jahre 1849 hinter Kerkermauern begraben
worden waren, nützten jetzt den günstigen Wind. Das im Sommer 1859 im
Gasthause „Zum Hopfenstock“ an der Ecke der Wasser- und Hopfenstockgasse
errichtete „Bierherzogtum Lichtenhain unter Thus I.“ war der Beginn
fröhlicher studentischer Vereinigung; die schwarzen Seidenkappen, welche
die „Tabularotundisten“ 1860 in ihrem Kneiplokale „Zum Kleeblatt“ (Ecke
Teingasse und Fleischmarkt) und bald auch auf der Straße trugen, waren
der Anbeginn des Farbentragens. Nicht lange darauf stellten sich die
Anfänge des Mensurwesens ein. Bernhard Stall, ein junger frischer
Westfale, der in Bonn aktiv gewesen war, wandelte die „Tabula rotunda“
in die Verbindung „Rugia“ um, und die schlug bald mit der „Franconia“
Partien. Kein Lied, kein Heldenbuch meldet die Namen der ersten Kämpen.

Die erste Mensur, über die noch Aufzeichnungen vorhanden sind, ist
zwischen den Mitgliedern zweier heute noch bestehenden Burschenschaften
am 6. Juni 1861 ausgetragen worden. Zwischen einem Mitglied der
„Carolina“, die bislang in einem anderen Basteilokale, im Café
Schubert zwischen Roßtor und Korntor (etwa dort, wo heute die
Čelakovskyanlagen sind), mit stumpfen Klingen und in Körben gepaukt
hatte, und einem Aktiven der „Albia“ auf deren Bude. Die Mensurbücher
melden hierüber: „Paukanten: Bursche Artur Liberda (Carolinae) und
Bursche Johann Tröger (Albiae); Sekundanten Ernst Hauer (Albiae) und
Karl Rösch (Carolinae); Unparteiischer Julius Zuleger (Franko-Arminae).
Mensur zweiten Grades. Liberda abgeführt; zwei Nadelstiche.“

Das Lokal, das der Schauplatz dieser Mensur und nachher ungezählter
anderer war, war wohl das herrlichste und romantischeste, das man sich
denken kann. Es war das in der Karlshofergasse stehende Lustschlößchen
„Amerika“, dieses kleine Wunder Kilian Dienzenhoferschen Baukunst. In
diesem Gebäude, über dessen Verwendung sich die Stadtgemeinde Prag jetzt
den Kopf zerbrochen hat, war in den sechziger und noch in den siebziger
Jahren eine freundliche Gastwirtschaft, und der Wirt hatte zwei
entzückende Töchter, die ganz vortrefflich in den Rahmen des
Lustschlößchens paßten. Hier hatte die „Albia“ ihre Bude, und hier wurde
lange geschlagen. Man glaubte wirklich in einen Rittersaal zu festlichem
Turnei gekommen zu sein. Und wenn’s einem der Paukanten etwas zaghaft
zumute wurde, dann flößte ihm wohl der lächelnd ermunternde Blick der
bunten Gestalten neuen Mut ein, die Johann Ferdinand Schors Meisterhand
anderthalb Jahrhunderte vorher an die Wand gemalt hatte.

Die technischen Korps „Frankonia“ und „Suevia“ fochten inzwischen in dem
Brettergasthaus „Smetanka“ auf den freien Gründen zwischen Žižkow
und Weinberge, und die „Austria“ pflegte ihre Waffengänge im einstigen
Gasthaus Eggenberg auszutragen, das hinter dem Aujezder Tor auf einer
Anhöhe vor dem Kinskygarten stand.

Die Waffe, deren man sich bediente, war eine Prager Erfindung, die unter
dem Namen „Prager Waffe“ — im Studentenjargon „Prager Plempe“ — an
Deutschlands hohen Schulen als Eigentümlichkeit der Prager Studenten
bekannt war. Sie war nicht Säbel, noch Schläger, sondern beides. Der
alte ständische Fechtmeister in Prag, Maitre Le Gros, lehrte nämlich nur
das Säbelfechten, und so mußte man eine Kombination des Säbels mit dem
studentischen Schläger erfinden, und versah den Säbelgriff mit der
geraden Schlägerklinge. Siebzehn Jahre focht man mit diesem Unikum. In
dem alten Paukbuch des akademischen Korps „Austria“ (Seite 102 und 103)
ist über die erste Schlägermensur in Prag folgende Aufzeichnung zu
finden: „Anerkennungshatz des akademischen Korps „Moldavia“ (Prag) auf
Korbschläger in den D. C.-Verband. Erste Mensuren nach dem Prager
Paukkomment auf Korbschläger. — Mensur auf Korbschläger 15 Minuten
gefochten am 8. Juni 1877 im Gasthause Eggenberg zwischen Herrn Phil.
Kand. Josef Neuwirth, „Austriae“-Prag und „Saxoniae“-Wien (der jetzige
Hofrat und Professor der technischen Hochschule in Wien) und Herrn Med.
Stud. Rudolf Eckstein, „Moldaviae“-Prag. Als Sekundanten fungierten Jur.
Ludwig Stümmer („Moldaviae“) und Med. Karl Renn („Austriae“), als
Unparteiischer MUC. Alois Pessina („Austriae“) und als Paukarzt MUC.
Karl Zoerkler („Austria“). Die Mensur endete unentschieden. Die erste
burschenschaftliche Schlägermensur fand am 2. April 1880 in dem Gasthaus
„Zur slawischen Linde“ in der Inselgasse (heute Smetanagasse) statt:
Eduard Gerson von der „Alemannia“ focht sie mit dem Prager „Teutonen“
und Wiener „Alben“ Paul von Portheim, der jung verstorben ist und dessen
posthume Gedichtsammlung „Silentium“ Bewunderung erweckte.“

Es gibt und gab wenige Gasthäuser im Weichbilde und in der Umgebung
Prags, in denen nicht blitzende Schläger die mit Kolophoniumduft und
Blutgeruch geschwängerte Luft sausend durchfahren hätten, in denen nicht
schallende Eisenhiebe auf Klingen und Körbe gerasselt wären. Eine
Zeitlang — so in der Zeit um die Kuchelbader Schlacht — gab es arge
Persekutionen. Die Tschechen fanden Lust daran, die „Salamander“ — das
war der damalige Ausdruck für das heutige „buršák“ — bei der Polizei
zu vernadern, die Polizei witterte wieder in den geheimen
Zusammenkünften der Studenten politische Konspirationen. So zogen die
wehrhaften Mannen aus den Toren Prags „in die Wüste“ hinaus, und in den
vergilbten Mensurbüchern stehen auswärtige Gasthausnamen zu lesen, so
„Zum kleinen Prokop“ in Nusle, „Karl IV.“ in Wrschowitz, das „Mäuseloch“
in Straschnitz, „Bellevue“ in Nusle, „Georg von Podiebrad“ in
Koschiř, der Pavillon im Paradiesgarten, die „Nusler Mühle“ u. dgl.
Aber die Polizei fand alle diese Schlupfwinkel nach und nach heraus, und
wenn auch mancher Polizeibeamte bei der Aushebung mit verräterischem
Wohlgefallen und verdächtiger Fachkenntnis das Pfeifen der Mensurspeere
probierte — was half das, er mußte doch die schönen Waffen
konfiszieren. Der Chef des Sicherheitsdepartements hat die Türen des
Polizeimuseums mit saisierten Schlägern und Säbeln sehr geschickt
dekoriert ...

Von der Romantik des „Schipkapasses“, der als Sanatorium für Verwundete
beliebt war und auf dem einmal eine Kuh bei einem Pistolenduell
ritterlich verletzt wurde, und von den Schicksalen des Zimmermannschen
Paukbodens „Vaclavbude“ hat Karl Hans Strobl in seinen Prager Romanen
meisterliche Bilder gemalt. Es gibt gar viele einstige Prager Studenten,
die ähnliche Erlebnisse und Reminiszenzen von anderen Prager
Fechtlokalen aufzufrischen vermöchten. Zumindest hat jedem dieser Lokale
die Veränderung der Stadt und ihrer Häuser eine Geschichte gegeben. Der
Schreiber dieses hat u. a. selbst in einer längst der Assanation zum
Opfer gefallenen Spelunke in der Zigeunergasse der alten Judenstadt
gegen den Obmann des völkischen Lese- und Redevereins „Germania“, in
einem noblen deutschen Hotel der Unteren Neustadt gegen einen Herrn, der
heute im tschechisch-politischen Leben eine Rolle spielt, und gegen
einen zionistischen Arzt — in einem verfallenen Klostertrakt gefochten.
Ob heute noch Mensuren geschlagen werden, und wo — das möchten Sie
gerne wissen, Herr Polizeirat!



                             Prags Erwachen


„Schon wieder ist’s Tag geworden.“ Man registriert dieses Faktum, wenn
man die Türe schließt und auf die Straße tritt. Da drinnen spielen die
Zigeuner den Rakoszy-Marsch zum Abschied, aber die aufpeitschenden
Zimbaltöne dringen nur gedämpft heraus und haben in der Morgenluft ihre
faszinierende Wirkung eingebüßt. Man knöpft sich fröstelnd den Rock zu,
entzündet die letzte „Prinzesas“ und ist der Sonne gram, die schon
wieder einmal über dem Wysotschaner Firmament aufgestiegen ist, bevor
man noch zu Hause im Bette liegt. Man flucht über das teuflische
Raffinement der Nachtlokalbesitzer, die in den sonst so verschwenderisch
ausgestatteten Räumen keine Uhr anbringen. Man flucht auf Wein, Gesang
und Weib. Man verflucht sich selbst.

Beim „Spinka“ bleibt man stehen. Die ersten Elektrischen fahren auf,
immer in einer Richtung von der Remise kommend, so schnell, daß man
denken könnte, man wäre in Berlin oder sonst in einer Großstadt. Aber
bekanntlich wird das Tempo immer langsamer und erst um Elfe abends, auf
dem Wege zur Remise, erlangen die Waggons wieder Schnelligkeit. Vom
oberen Wenzelsplatz kündigen große Staubwolken das Herannahen der
Hygieia an, den stattlichen Zug Prager Straßenkehrer mit dem Zeichen
ihrer Macht, dem Kehrbesen. Sonst ist der Platz menschenleer, auf den
sich die Prager sonst so viel einbilden, weil er die einzige Stelle ist,
auf der sich hie und da das Großstadtgetriebe ent- und abwickelt, und
weil er einen Inselperron hat wie der Potsdamerplatz. Auch das
Kandelaber-Grandcafé fehlt schon beim „Spinka“. Die Cafétiere ist Punkt
4 Uhr mit ihrem geräderten Teehaus zur städtischen Sparkassa
übersiedelt, wo sie den Marktweibern, den Fuhrleuten, deren
Helfershelfern und den mächtigen Marktpolizisten einen heißen
Morgentrunk kredenzt. Auch der Standplatz der Droschken ist verwaist.
Nur der Polizist steht Tag und Nacht da; mißmutig wartet er mit heißem
Sehnen auf den Missetäter oder mit noch viel heißerem auf die Ablösung.
Höflich salutierend legt er die Hand an seinen Chanteclerhut, aber mit
dieser Höflichkeit kontrastiert ein unterdrücktes Lächeln, das zu sagen
scheint: „Du unverbesserlicher Flamender! Unsereiner wäre glücklich,
schlafen zu können und muß Nächte aufbleiben, der da könnte schlafen und
will nicht.“ Ich muß ihm doch wenigstens zeigen, daß ich nüchtern bin.

„Na, was war los während der Nacht?“

„Nichts, Besonderes gar nichts. Am Leonhardiplatz haben’s einen beinahe
erstochen. Wie er heißt, weiß ich nicht, 712 war dort. Dann war eine
Rauferei beim „Silbernen Dreier“ und dann haben wir eine „Dame“ wegen
schlechter Buchführung verhaftet.“

„Guten Morgen.“

Weiter geht der einsame Weg. Aus den Nachtlokalen tönt noch Musik,
ersterbend. Mehreremale muß Halt gemacht werden, denn alle Leute, die
man trifft, sind Bekannte. Da begrüßt einem der alte Fiala in seinem
alten, abgetragenen Havelock, der nächtliche Wetterprophet. Um zwei
Kreuzer prophezeit er den Gästen das schönste Wetter, um drei Kreuzer
gibt er es sogar schriftlich; sein Stolz ist, daß er den Zusammenstoß
des Halleyschen Kometen mit der Erde und ihren Untergang mit derselben
Bestimmtheit vorausgesagt hatte, wie die Sternwarte der
Harvard-Universität. Die alte Frau da mit der alten Seidenmantille, die
wohl auch einstens bessere Tage gesehen, spielt den Gästen in einer
Weinstube auf der oberen Neustadt bis früh zum Tanz auf; sie hat eine
Familie zu ernähren und weiß nicht, ob der Erlös der Nacht ausreichen
wird, aber sie darf sich ihre Besorgnis nicht anmerken lassen und muß
das belebende Lied von den „Honey boys“ immer wieder mit Lust und Verve
spielen, muß immer wieder ihre Zündhölzchenkunststücke zum Besten geben
und muß immer wieder den Pommery trinken, den ihr splendide Gäste
widmen. Dort kommt mir mit militärischer Pünktlichkeit im Laufschritt
ein Einjährig-Freiwilliger entgegen. Vor drei Stunden da habe ich ihn
noch tanzend in einem vornehmen Etablissement gesehen. Aber welch eine
Metamorphose hat er durchgemacht! Mitten in all dem Glanz und Flitter da
hatte er blitzende Lackschuhe, elegante hellblaue Kammgarnhosen mit
Strupfen, einen tiefdunklen Waffenrock mit hohem Kragen und strahlenden
Silbersternen und eine Mütze — die Vorschriftswidrigkeit selber. Jetzt
aber ist der Glanz der Sterne verblichen, der der Schuhe verblaßt, der
Kragen zusammengeschrumpft, die Mütze die Vorschrift selber, die Uniform
hat ihre Buntheit eingebüßt und ist grau und fad wie der Morgennebel und
wie der Staub, der in dichten Schwaden aus dem Besen der Straßenkehrer
emporwächst. Und der Blick des Marsjüngers, der um zwei Uhr nachts so
stolz und sieghaft war, ist jetzt müde und neidisch, wie eben der Blick
eines Soldaten sein kann, der nach durchjubelter Nacht zum Exerzieren
auf den Sandberg eilt und einen Zechkumpan trifft, der jetzt ruhig
schlafen geht. Dort kommt ein anderer Bekannter. Ein alter
Detektivinspektor, schon lange im Ruhestande. Aber er kann nicht
schlafen. An vierzig Jahre hat er gefahndet und inspiziert — nun kann
er das Nachtwachen nicht mehr lassen und geht die ganze Nacht spazieren.
Ein Gummiradler kommt vorüber. Die Direktrice der „Roten Mühle“ fährt
nach Hause. Gleich hinter dem Gummilutscher rollt ein schweres Gefährt
durch die Gasse: Die Kanalräumer haben ihr nächtliches Tagewerk beendet.

Es ist die Stunde des Schichtwechsels. Ein Teil der Stadt geht schlafen,
ein Teil der Stadt erwacht. Noch ist nicht Frühstückszeit und schon
leiht die Sorge um den Mittagstisch den Gassen das Gepräge. Eine lange
Kette von Landwagen — die Retterinnen des Kapitols sind ihre Passagiere
—, Hundegespanne mit Gurkenladung, riesige Streifwagen mit Kohlköpfen
und Salat, die weißen Wagen der Dampfmolkereien, Bauersleute mit
gemüsebeladenen Schubkarren, alte Weiber mit Schwämmen, Erdbeeren und
anderen Waldfrüchten eilen der Altstadt zu. Sie bringen dem „Bauche von
Prag“ ihre Opfergaben. Die Weiber, die seit dem Abend unter den Lauben
des Kohlmarktes auf dem Straßenpflaster zusammengekauert oder lang
ausgestreckt geschlafen haben, stellen sich längs des Trottoirs hinter
ihren Körben auf, in denen Obst und Pilze sind. Sie suchen die Ware in
der Zeit von 4 Uhr bis 7 Uhr früh loszuwerden, da sie innerhalb dieses
Zeitraumes noch keine Marktgebühr zu entrichten haben. Deshalb ist in
diesen drei Stunden die Ware billiger und die armen Leute, die
Gemüsegroßhändler und die Zwischenhändler decken schon jetzt ihren
Bedarf.

Auf dem Altstädter Ring ist um diese Zeit Markt. Rings um die
Marienstatue scheint die Wagenburg eines Hussitenlagers errichtet zu
sein. An hundert Gemüsewagen stehen hier mit vorgespannten Pferden und
lassen drei Straßen frei, in denen sich das Kaufgetriebe abspielt. Es
sind fast durchwegs Gemüsehändler, die einkaufen. Nur an der letzten
Wagenreihe, die der Teinkirche am nächsten ist, drängen sich auch
Frauen. Hier werden Kartoffeln feilgeboten und die Frauen des Volkes
müssen einkaufen, bevor in den Preis die Marktgebühr einbezogen wird.
Punkt 7 Uhr rollen die letzten Wagen davon, der Platz wird gefegt und
die Prager, die erst jetzt erwachen und über den Ring gehen, haben
jahraus, jahrein keine Ahnung, daß hier vor kurzem Jahrmarktstreiben
herrschte.

Um diese Zeit neigt sich auch das wogende Leben, das von 3 Uhr morgens
ab in den Kaffeehäusern und Suppenstuben der Galligasse und der
Rittergasse herrschte, seinem Ende zu. Hier sitzen die Damen der Halle
im Lokale, in dessen Mitte, ganz wie im Orient, der Herd steht, und
besprechen bei einer Tasse Kaffee, die 20 Heller kostet, und bei einer
Buchte um 6 Heller die österreichische Agrarpolitik und ihre Einwirkung
auf die Fleischteuerung. Vergleichsziffern aus alten, besseren Zeiten
illustrieren diese politischen und wirtschaftlichen Enunziationen.
Manchmal ißt man vielleicht auch eine „drštková polévka“ dazu, was
laut Ranks Wörterbuch deutsch „Kuttelflecksuppe“ heißt. Na ja, Ranks
Wörterbuch ist eben kein Kochbuch, und so kann darin nicht verzeichnet
sein, welche Fülle geheimnisvoller Ingredienzien eine kommune
Kuttelflecksuppe zu einer Prager „drštková“ stempelt. Die
Schnapsbutiken sind voll von Leuten, die sich aus den zahllosen Fäßchen
Arzneien gegen Mattigkeit und Nervosität kredenzen lassen. Die Gassen
beleben sich immer mehr. Bäckerjungen, Fleischergehilfen, die auf dem
Rade aus der Holleschowitzer Zentralschlachtbank in den Laden fahren,
Nachtwächter, Plakatankleber und Zeitungsausträgerinnen sind die
Passanten.

Schon wird der Posten eingezogen, der während der Nacht im „Alten
Gericht“ die Kasse des Steueramtes bewacht hatte. Wenige Minuten später
ziehe ich die Glocke meines Hauses. Während der Hausmeister herbeikommt,
um sein letztes Sperrsechserl einzuheimsen und dann das Haustor schon
offen zu lassen, zieht der in Phantasieuniform gekleidete Bedienstete
der „Wach- und Schließ-Gesellschaft“ seine Uhr und richtet sie. Er weiß:
Wenn ich nach Hause gehe, ist’s Punkt 6 Uhr. Und da gibt es noch
Menschen, die behaupten, ich führe keinen regelmäßigen Lebenswandel!



                           In der Wärmestube


Am Sonntag vor Weihnachten traf ich in der Kleinseitner Brückengasse den
Detektiv Wünsch, einen der intelligentesten, aber auch der
unglücklichsten Zivilwachleute der Polizeidirektion. Er war seinerzeit
bei der Aufdeckung des Doppelmordes in Krtsch, als man die Leichen des
Takacz und der Hansely im Keller ausgrub, mit einer Schaufel geritzt und
von Leichengift infiziert worden; viele Monate hatte er zwischen Leben
und Tod geschwebt. Und jetzt war er wieder krank. Er kam gerade aus der
Apotheke. „Meine Lunge ist kaput,“ flüsterte er. Das Sprechen machte ihm
Mühe. „Ich werde es nicht mehr lange machen ...“

Ich versuchte ihm das auszureden. „Sie werden noch erwarten können, bis
Sie Inspektor werden,“ meinte ich lächelnd, „Sie werden doch dem Staat
nicht die Inspektorspension schenken!“ Detektiv Wünsch machte eine
abwehrende Handbewegung: „Lassen wir das Thema, ich weiß das besser.“
Dann sagte er:

„Herr Kisch, dieser Tage habe ich mich so an Sie erinnert. Wissen Sie,
wohin Sie einmal gehen sollten? In die Wärmestube. Dort könnten Sie
Studien machen. Dort haben Sie alle unsere Kerle ...“ Mit dem Ausdruck
„unsere Kerle“ meinte er die im Sicherheitsbureau bekannten Falloten.
Als ich mich für das Thema zu interessieren begann, fuhr Wünsch fort:

„Sie können sich bei mir umkleiden. Ich wohne in der Nähe, unter der
Karlsbrücke, Lužickygasse 10. Dort werde ich Sie anziehen, daß Sie
wie ein echter Verbrecher aussehen werden. Von meiner Wohnung aus
brauchen Sie dann nur eine Minute in Ihren Fetzen zu gehen, und schon
sind Sie in der Wärmestube.“

Ich versprach bald zu kommen und schon am Neujahrssonntag klopfte ich an
seine Tür, um die Exkursion anzutreten. Mir öffnete eine Frau.

„Bitte, wohnt hier der Herr Wünsch?“ fragte ich.

„Herr Wünsch wohnt schon in Wolschan draußen,“ wurde mir zur Antwort.
Ich glaubte, falsch verstanden zu haben. Aber man bestätigte mir die
Nachricht, die mich — schon weil sie mir so unerwartet kam — bodenlos
schmerzlich berührte: Herr Wünsch war während der Weihnachtsfeiertage
gestorben.

                   *       *       *       *       *

Er konnte also nicht meine Equipierung mehr besorgen, mir keine
besonderen Tips für die Stammgäste in der Wärmestube in seiner
Nachbarschaft geben. Aber ich beherzigte seinen Rat. In der Filiale der
Leichenbestattungsanstalt Fuchs auf der Kampa-Insel warf ich mich in
full dress. Nicht in die Fetzen, die ich auf meiner Floßfahrt nach
Magdeburg, bei meinem Besuch im Asyl für Obdachlose und bei ähnlichen
Streifzügen getragen hatte. Diesmal kam ich nicht als Arbeiter, sondern
als obdachloser Müßiggänger, als herabgekommenes Subjekt. Ich glich in
meinem, einst ganz elegant gewesenen, aber jetzt schon ganz
fadenscheinigen Überzieher, meinen zerfransten Nankinghosen, meinem
verbogenen und beschmutzten Kragen — eine Krawatte hatte ich nicht —
ungefähr dem Baron in Maxim Gorkis „Nachtasyl“, den hier in Prag Hans
Waßmann gespielt hat.

Und nun, da ich mich des Schutzes gegen den Winter entledigt hatte,
spürte ich, kaum daß ich auf der Straße war, was es heißt, der Gewalt
des Frostes wehrlos preisgegeben zu sein. Von der Čertovka her, dem
Moldauarm, der die Kampa umfließt, mischte sich schwere Feuchtigkeit in
die eisigkalte Luft, und die dicken Schwaden, welche rings um den
brennenden Gaslaternen sichtbar waren, erweckten den Anschein, als ob
die frierende Luft sich an die Lichter herandränge, um sich zu wärmen.

Nach kurzem, aber kaltem Wege war ich in der Wärmestube. Sie ist in
einem niedrigen Gebäude in der Belvederegasse untergebracht, das an den
Landesschulrat anschließt. Rechts ist der Eingang in die Abteilung für
Frauen, links in die für Männer. Durch diesen ging ich, durchschritt
einen kurzen Korridor und war dann vor einer Glastüre. Ich öffne und bin
in der Wärmestube. An dreißig Menschen wenden sich ruckartig gegen den
Ankömmling, ich fühle mich von ebensovielen Augenpaaren scharf,
durchdringend und verdächtigend gemustert. Ich tue als ob ich das nicht
beachte und suche mir ein Plätzchen. Das ist nicht so einfach. Das
Zimmer ist klein, und die dreißig Menschen sitzen dicht an einander
geschmiegt auf den Bänken, welche an den beiden Längswänden und parallel
zu diesen in der Saalmitte, sowie an einer Breitseite aufgestellt
stehen. Die der Tür gegenüberliegende Breitwand des Raumes ist frei;
hier ist der Eingang in die Küche und der Schalter, an dem man zu Mittag
eine Suppe und Brot bekommt. Schließlich schaffe ich mir doch einen
Sitzplatz: Zwischen zwei Schlafenden ist eine Handbreit der Bank
freigeblieben, und ich, indem ich den einen Schläfer beiseite schiebe —
er rückt mechanisch weiter — kann mich niedersetzen. Ich sinke, Apathie
heuchelnd, in mich zusammen, und die Blicke der Leute rutschen wieder
von mir ab, und die Gespräche, die während meiner Installation verstummt
waren, werden wieder fortgesetzt.

Nun erst schaue ich mich um. Da sitzen sie, die wehrlosen Feinde des
Frostes, da sitzen sie in ihrer einzigen Zufluchtstätte. Aber auch hier,
wo sie der Gegner nicht fassen kann, legen sie ihre schwache Wehr nicht
ab. Alle haben ihre zerschlissenen Winterröcke und ihre Hüte anbehalten,
alle haben ihre Rockkragen aufgeschlagen, fast alle haben Tücher um ihre
Ohren geschlungen. Der eine hat Pulswärmer an — zwei Tuchmuster oder
Strumpfteile, die mit Spagat am Handgelenk festgebunden sind. Alle
sitzen zusammengekauert und aneinandergeschmiegt da. Besonders dicht ist
die Reihe in der Ecke, an dem Eisenofen. Die Zunächstsitzenden halten
ihre Hände an den graphitartig glänzenden Ofen, als wollten sie in der
kurzen Spanne Zeit ein möglichst großes Quantum Wärme in sich aufnehmen.

Armselige Gestalten! Es ist ein grau in grau gemaltes Bild, das man hier
im Lichte der einen Gasflamme sieht. Aber nach und nach unterscheidet
man die Grundfarben, erkennt, daß hier zwei Gruppen menschlichen Elends
vertreten sind: Arbeitsnot und Verbrechen. Man erkennt das aus den
Gesprächen, man sieht es den Menschen an. Einer hat seinen Stiefel
ausgezogen und bindet mit schmerzverzerrter Miene einen schmutzigen
Fußlappen um seinen über und über blutigen Fuß. Ein anderer, ein junger
Bursch, der ein rotes Tuch nicht ohne Koketterie um den Hals gebunden
trägt, legt einen Taschenspiegel auf sein Knie und kämmt seinen ohnedies
bewunderungswürdig tadellosen Scheitel. Ein alter Mann blättert
verzweifelt in seinem Arbeitsbuch — er sucht wahrscheinlich, ob er bei
seiner Stellungssuche in Prag nicht einen einstigen Dienstgeber
vergessen hat.

Alle fluchen dem Winter. Daß es heuer keinen Schnee in den Straßen zu
schaufeln, kein Eis auf der Moldau zu hacken gibt. Die anderen — und es
läßt sich nicht verschweigen, daß diese in der Mehrzahl sind — fluchen
den Polizeibezirksleitern und Bezirksrichtern, die so streng sind, im
Winter milde zu sein.

„Voriges Jahr hab’ ich im Sommer in Deutschbrod drei Wochen wegen
Bettelei bekommen, und vorige Woche hat mir der Schuft nur
vierundzwanzig Stunden gegeben,“ schimpft einer. Ein anderer lacht
wieder:

„Mich hat vorgestern in Smichow der Kommissär gefragt, ob ich mir nicht
Arbeit suchen wolle. Da hab’ ich gesagt, ich werde jetzt Hopfen pflücken
gehen.“ Alle lachen. Dann wendet sich der Spaßvogel zu dem Burschen mit
dem roten Schlips:

„Wer wird denn jetzt Fahnenträger bei den Ausflügen der Sträflinge sein,
wenn du ihnen untreu geworden bist.“ Neuerliches Halloh. Aber der
Verspottete frisiert sich ruhig weiter:

„Ich hab’s erledigt. Aber du wirst erst anfangen.“

Dann wird der Strafvollzug in den einzelnen Gerichten Böhmens und
Mährens einer vergleichenden Erörterung unterzogen. Der eine lobt sich
seine Salonzelle in Mährisch-Budwitz, der andere schimpft auf sein
Gerichtsquartier in einer südböhmischen Stadt. Auch das Schubwesen und
die Behandlung in den einzelnen Schubstationen werden fachlich
besprochen, und es gibt keinen Mißstand, der nicht auf Grund reicher
Erfahrungen vollkommen aufgedeckt worden wäre. Man sollte die Stammgäste
der Wärmestuben bei Enquêten in Justizangelegenheiten heranziehen. Sie
sind ja die Hauptbeteiligten, und wären zweifelsohne die
bestinformierten Experten.

Einer, der das große Wort führt und viel von Weibern und Pferden erzählt
— allerdings von solchen, die nicht edler Rasse sind — hat mich ins
Auge gefaßt:

„Gehst du heut’ ins Asyl?“

Ich verneine. Erst am nächsten Donnerstag sei der Monat um, seitdem ich
dort war, also könne ich erst nächste Woche wieder hingehen. Dann
versinke ich wieder in Schweigen. Aber der Kerl gibt nicht locker.

„Du bist ein Schneider, nicht wahr?“ fragt er mich.

„Ich bin Handlungsgehilfe,“ ist meine Antwort.

„Du handelst wohl mit alten Hadern,“ sagt er und weist auf meinen
derangierten Anzug. Ein lautes Lachen geht los.

„Nun ja, jeder kann nicht so elegant herumlaufen wie du,“ gebe ich ihm
zurück und habe jetzt die Lacher auf meiner Seite. „Der hat dir einen
flek (Trumpf) gegeben,“ ruft ein junger Bursch meinem Widersacher zu.
Ich habe in Ehren bestanden.

Einige holen aus ihrer Tasche ein Stück des Brotes hervor, das ihnen zu
Mittag verabreicht worden ist und beginnen zu kauen. Von Zeit zu Zeit
steht ein Bursche auf und langt nach der Wasserkanne, die auf einer
Konsole steht. Dann gießt er sich Wasser in einen Blechtopf, der mit
einer Kette an die Wand befestigt ist. Mein Nachbar, der inzwischen
erwacht ist, trinkt den Topf viermal leer. Dann wischt er sich den Mund
ab und sagt: „Brr, wenn ich nur heute vier Kreuzer auftreiben könnte. So
ein Gläschen Kornschnaps könnte nichts schaden.“

Der Bursch mit dem roten Scarf hat andere Gelüste. Er steckt sich eine
halbe „Drama“ in den Mund und entfernt sich mit einem Schnalzen aus der
Wärmestube: „Jetzt wird fein geraucht.“ Nach fünf Minuten ist er wieder
da.

Um halb 6 Uhr vergattern sich die Leute, die in das Nachtasyl schlafen
gehen und verlassen das Lokal. Für die Zurückbleibenden gibt es nur
einen Gesprächsstoff: das Nachtquartier. Der Eine rühmt sich, daß ihm
seine Geliebte heute Obdach gewähren werde, der Andere weiß sich eine
feine Scheuer in der Nähe des Baumgartens, ein Dritter erzählt von einem
angenehm warmen Ziegelofen in Koschiř.

„Du meinst die Ziegelei Kudela?“ wird er gefragt.

„Das weiß ich nicht. Ich schlafe schon seit vier Jahren im Winter dort,
aber ich weiß gar nicht wie die Ziegelei heißt.“

Um sechs Uhr rasselt der kleine blonde Mann, der durch eine blaue
Schürze, einen sauberen Anzug und ein Käppi als der Aufsichtsmann der
Wärmestube kenntlich ist und der bislang ruhig an einer Ecke der Bank
gesessen ist, ostentativ mit einem Schlüsselbund. Das ist die Mahnung
zum Aufbruch. Alles steht auf, jeder geht noch zum Ofen, als ob er etwas
Wärme als Wegzehrung mitnehmen wollte. Dann geht es hinaus. Hinter uns
wird die Türe gesperrt. Der Schlafbursche der Ziegelei wendet sich auf
dem Korridor an mich.

„Komm’ mit mir nach Koschiř schlafen.“

„Warum denn? Bist du dort allein?“

„Allein! Es sind gewöhnlich vierzig dort. Größtenteils Drahtbinder.“

„Also weshalb willst du, daß ich mitgehe?“

„Na, der Weg ist weit, und zu zweit geht sichs besser. Komm’ mit!“

„Ein andermal. Heute werde ich noch bei einem Freunde schlafen.“

Dann treten wir auf die Straße hinaus. Es ist schon dunkel, und
jauchzend umpfeift der kalte Wind die zusammengeduckten Jammergestalten,
die sich für eine knappe Zeitspanne vor ihm versteckt gehalten hatten,
die ihm aber nun wieder willenlos preisgegeben sind, für eine lange
Winternacht.


                     Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
Änderungen, teilweise unter Zuhilfenahme anderer Auflagen, sind hier
aufgeführt (vorher/nachher):

   [S. 5]:
   ... steinernen Zaunzeug gemeißelten Sockel steht und ein Denkmal ...
   ... steinernen Zaumzeug gemeißelten Sockel steht und ein Denkmal ...

   [S. 8]:
   ... und mit gebrochenen Schenkel daliegt, wenn jemand von ...
   ... und mit gebrochenem Schenkel daliegt, wenn jemand von ...

   [S. 24]:
   ... mißglückter Prüfung mit mehr nach Hause zurückgekehrt ist,
       noch ...
   ... mißglückter Prüfung nicht mehr nach Hause zurückgekehrt ist,
       noch ...

   [S. 36]:
   ... Aber die Unbeliebtheit in den Verbrecherkreisen hätte ihn ...
   ... Aber die Unbeliebtheit in den Verbrecherkreisen hätte ihm ...

   [S. 80]:
   ... altertümlichen Häusern und Türmen sehen und an den Schmutz, ...
   ... altertümlichen Häusern und Türmen sehen und an dem Schmutz, ...

   [S. 87]:
   ... auf den Altstädter Weihnachtsmarkt noch immer bloß
       Ringelspiele ...
   ... auf dem Altstädter Weihnachtsmarkt noch immer bloß
       Ringelspiele ...

   [S. 87]:
   ... die „Planeten“ ziehen, Zetteln mit gedruckten Weissagungen ...
   ... die „Planeten“ ziehen, Zettel mit gedruckten Weissagungen ...

   [S. 88]:
   ... vorbeikommt, ihr seinen Papierball, deren Gummischnur ...
   ... vorbeikommt, ihr seinen Papierball, dessen Gummischnur ...

   [S. 97]:
   ... die Nummer 1 bis 90 fein säuberlich geordnet liegen. Er
       entnimmt ...
   ... die Nummern 1 bis 90 fein säuberlich geordnet liegen. Er
       entnimmt ...

   [S. 114]:
   ... Beobachtungstalent, ihre kritische Begabung, ihr Sinn für
       Vergleiche, ...
   ... Beobachtungstalent, ihre kritische Begabung, ihren Sinn für
       Vergleiche, ...

   [S. 130]:
   ... auf Pragerisch „Flaschinett“ heißt. Für jene Leser, aber die
       deshalb die ...
   ... auf Pragerisch „Flaschinett“ heißt. Für jene Leser aber, die
       deshalb die ...

   [S. 137]:
   ... „Auf den Windberg, auf dem steiligen, ...
   ... „Auf den Windberg, auf den steiligen, ...

   [S. 173]:
   ... posthume Gedichtsammlung „Silentium“ Bewunderung erweckte. ...
   ... posthume Gedichtsammlung „Silentium“ Bewunderung erweckte.“ ...

   [S. 179]:
   ... in ihren Fetzen zu gehen, und schon sind Sie in der
       Wärmestube.“ ...
   ... in Ihren Fetzen zu gehen, und schon sind Sie in der
       Wärmestube.“ ...





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