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Title: Robert Bontine
Author: Andrews, C. C. (Christopher Columbus)
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Robert Bontine" ***


                           Robert Bontine



                         Enßlins Mark-Bände.

    In derselben Ausstattung wie der vorliegende Band erschienen
                        in demselben Verlage:

     =Band=

     =1: Leben.= Preisgekrönter Münchner Roman. Von C. Camill.
     =2: Theaterkinder.= Roman von L. Pany.
     =3: Der goldene Schatten.= Roman von L. T. Meade.
     =4: Gib mich frei!= Roman von H. Courths-Mahler.
     =5: Die Bettelmaid.= Roman von J. Fitzgerald Molloy.
     =6: Sein Recht.= Roman von E. Fischer-Markgraff.
     =7: Eigenart.= Roman von C. von Ende.
     =8: Auf eignen Füßen.= Roman von K. Krehmcke.
     =9: Soldatentöchter.= Offiziergeschichten von Christa Hoch.
     =10: Die Erbin.= Roman von H. Köhler.
     =11: Das Recht auf Glück.= Roman von H. Gréville.
     =12: Der Scharlachbuchstabe.= Roman von N. Hawthorne.
     =13: Jessika von Duden u. a. Novellen.= Von G. Genzmer.
     =14: Die goldene Stadt.= Roman von L. vom Vogelsberg.
     =15: Freie Menschen.= Roman von Thé von Rom.
     =16: Vom Baum der Erkenntnis.= Roman von H. Hessig.
     =17: Ebba Hüsing.= Roman von Willrath Dreesen.
     =18: Des Andern Ehre.= Roman von H. Courths-Mahler.
     =19: Sulamith.= Roman von A. und C. Askew.
     =20: Irrende Seelen.= Roman von V. Luzická.
     =21: Mandus Frixens erste Reise.= Von E. G. Seeliger.
     =22: Der Herzbruchhügel.= Roman von H. Vielé.
     =23: Die Kosaken.= Erzählung von Leo A. Tolstoj.
     =24: Viktoria.= Roman von G. von Mühlfeld.
     =25: Nordnordwest. -- Die beiden Friesen.= Zwei Inselgeschichten.
          Von Ewald Gerhard Seeliger.
     =26: Hilde Schott.= Roman von Adolf Gerstmann.
     =27: Waldasyl.= Roman von Johanna Klemm.
     =28: Was Gott zusammenfügt ...= Roman von H. Courths-Mahler.
     =29: Aus dämmernden Nächten.= Roman von Anny Wothe.
     =30: Kajus Rungholt.= Roman von Charlotte Niese.
     =31: Der verkaufte Kuß.= Roman von Alwin Römer.
     =32: Durch Sturm und Not.= Roman von J. Gräfin Baudissin.
     =33: Ich will vergelten.= Roman von Ellen Svala.
     =34: Haus Schottmüller.= Roman von August Niemann.
     =35: Robert Bontine.= Roman von C. Andrews.

     Vom 1. August 1914 an erscheinen in monatlichen Zwischenräumen:

     =36: Käthes Ehe.= Roman von H. Courths-Mahler.
     =37: Herbstgewitter.= Roman von Anna Behrens.
     =38: Das arme Glück.= Roman von L. vom Vogelsberg.
     =39: Die Karsteins.= Roman von H. Lang-Anton.
     =40: Von fremden Ufern.= Roman von Anny Wothe.

                  _Die Sammlung wird fortgesetzt_.

       _Preis jedes Bandes_: 1 Mark oder 1 Krone 20 Heller
               oder 1 Fr. 35 Centimes oder 60 Kopeken.

              _Zu beziehen durch alle Buchhandlungen._

              _Verlangen Sie ~Enßlins~ Mark-Bände!_



                           Robert Bontine


                                Roman

                                 von

                             C. Andrews

             Autorisierte Übersetzung von Marie Schultz

                         1. bis 12. Tausend


                           [Illustration]

                 *       *       *       *       *

                             Reutlingen
              Enßlin & Laiblins Verlagsbuchhandlung



                         Nachdruck verboten.

                      Alle Rechte vorbehalten.

                   Übersetzungsrecht vorbehalten.

                       ==Printed in Germany==.



Inhaltsverzeichnis


                      Seite

    Kapitel    1.         5
    Kapitel    2.        21
    Kapitel    3.        35
    Kapitel    4.        48
    Kapitel    5.        59
    Kapitel    6.        71
    Kapitel    7.        83
    Kapitel    8.        91
    Kapitel    9.       101
    Kapitel   10.       113
    Kapitel   11.       126
    Kapitel   12.       138
    Kapitel   13.       152
    Kapitel   14.       165
    Kapitel   15.       175
    Kapitel   16.       189
    Kapitel   17.       203
    Kapitel   18.       213
    Kapitel   19.       224
    Kapitel   20.       240
    Kapitel   21.       256
    Kapitel   22.       265
    Kapitel   23.       283
    Kapitel   24.       298
    Kapitel   25.       309



1.


Es schien, als ob das Gewitter sich in wenigen Minuten zusammengezogen
hätte. Den ganzen Tag war das Wetter wunderschön gewesen, warm und
sonnig. Es war schwer zu entscheiden, ob der Himmel oder das Meer
tiefer blau sei, -- an ersterem zeigte sich kaum ein Wölkchen, auf der
Meeresfläche kaum eine schaumgekrönte Welle. Dann war plötzlich die
Sonne verschwunden, große, schwarze Wolkenbänke schoben sich über die
zackigen Bergkuppen, hinter denen sie versanken, und See und Himmel
waren grau. Ein fahler Blitz zuckte am Horizont auf, ein dumpfes
Donnerrollen unterbrach die schwüle Stille, und schwere Regentropfen
begannen zu fallen. Sie rauschten schneller und schneller hernieder,
und der Wind erhob sich in heulenden Stößen, als freue er sich des
gestörten Friedens in der Natur.

»Das ist angenehm! Im Umkreis einer Meile allem Anschein nach keine
menschliche Behausung, und dabei ein Gewitter! Sehr angenehm in der
Tat!«

Bei diesen laut gesprochenen Worten blieb der, der sie sagte, stehen,
um den Kragen seines leichten Oberrockes in die Höhe zu schlagen. Auf
der breiten, ebenen Fläche, die sich vom Rande der Klippen herüberzog,
war kein lebendes Wesen außer ihm zu erblicken, noch irgendein
Gebäude, das ihm Obdach hätte gewähren können.

Er beugte den Kopf tiefer, als ihm der Wind den Regen ins Gesicht
trieb, und eilte schnelleren Schrittes auf dem unebenen Fußpfade, den
er seit einer Stunde verfolgt hatte, weiter. Aber sein Fuß zauderte
plötzlich, als ob der Donner, der über seinem Haupte krachte, ein Schuß
gewesen wäre, der unmittelbar an seinem Ohre abgefeuert worden.

»Kehren Sie um!« rief eine Stimme laut hinter ihm. »Sie finden weit
und breit kein Obdach und werden bis auf die Haut durchnäßt werden!
Hierher! Schnell!«

Der Angeredete wandte sich jäh um. Eine kleine Strecke hinter ihm,
ungefähr in der Mitte zwischen dem Fußweg und dem steil abfallenden
Rande der Klippe, stand eine weibliche Gestalt neben einigen hohen
Ginsterbüschen und Farnkraut. Als er einen Augenblick stehen blieb und
sie schier verwundert anstarrte, winkte sie ihm gebieterisch mit der
Hand.

»Schnell!« rief sie ungeduldig. »Ich werde sonst auch noch naß! Beeilen
Sie sich, der Regen wird bald noch schlimmer werden als jetzt.«

Er lief über den kurzen, schlüpfrigen Rasen, ihrem herrischen Befehle
folge gebend. Als er bei ihr anlangte, versank sie plötzlich und
verschwand unter dem nassen Gestrüpp.

»Kommen Sie herein!« klang es jetzt in dumpfem Tone aus der Tiefe
herauf. »Seien Sie vorsichtig -- es kommen drei Stufen. Aber fallen
können Sie nicht.«

Er schob die Blätter beiseite und folgte ihr. Ein Lichtschein, der
zu hell war, als daß er durch das Laub hätte fallen können, zeigte
ihm das kleine höhlenähnliche Loch in der Klippe, in das er auf diese
Weise Zutritt erlangt hatte, und die drei unebenen Felsstufen, neben
denen sie stand. Er war ein hochgewachsener Mann und mußte sich
deshalb bücken, um nicht gegen das niedrige Dach zu stoßen, während er
vorsichtig hinabstieg. Sie lachte.

»Es ist nicht sehr hübsch hier unten,« meinte sie, »aber es ist doch
dem Naßwerden vorzuziehen. Geben Sie mir lieber die Hand, sonst möchten
Sie straucheln -- der Boden ist so uneben. Warten Sie einen Augenblick!
Hören Sie nur, wie es regnet! Ich wußte, daß es noch schlimmer werden
würde.«

Sie hatte recht gehabt. Der Regen rauschte in Strömen herab und
prasselte auf den Felsen nieder. Aufhorchend wandte er seiner Gefährtin
das Gesicht zu, aber er konnte das ihre kaum in schwachen Umrissen
erkennen. Der helle Lichtschein, der von unten kam, fiel nur bis auf
die Hand, mit der sie die seinige ergriffen hatte.

»Kommen in dieser Gegend die Gewitter immer so plötzlich zum Ausbruch?«
fragte er.

»Sehr oft. Es ist das eine Spezialität von Rippondale. Aber ich kenne
die Vorboten und konnte deshalb Schutz suchen. Sie sahen mich nicht --
nicht eher?«

»Erst als Sie mich anriefen.«

»Das dachte ich mir; aber ich sah Sie und wartete am Eingang, um Sie
hereinzurufen, aber das erstemal hörten Sie mich nicht. Hierher!
Treten Sie dorthin, wohin ich trete, so werden Sie nicht ausgleiten.«

Ihre Hand, die kühl und naß vom Regen war, umschloß die seine, und
er schritt vorsichtig hinter ihr die schmale, abschüssige Senkung
hinunter, an der sie ihn entlangführte. Mit jedem Schritte wurde der
Lichtschein heller und das murmelnde Plätschern der Wellen am Fuße der
Klippe vernehmlicher. Nach einer Minute etwa ließ sie seine Hand los.

»Nicht weiter!« sprach sie ruhig. »Wie ich schon sagte, ist es kein
besonders anziehender Zufluchtsort, aber er ist mir schon oft von
Nutzen gewesen.«

Der abschüssige Gang mündete in eine natürliche Höhle, die sich so
groß wie ein kleines Zimmer in der Vorderwand der Klippe befand. Mit
einem belustigenden Blick in das Gesicht des Gefährten, das sie jetzt
erst deutlich sah, setzte sich das Mädchen gelassen auf einen flachen
Vorsprung der Felswand nieder, der groß und niedrig genug für den Zweck
war.

»Sie haben sich wohl gewundert, wohin ich Sie führte, nicht wahr?«
meinte sie.

Er schien ihre Frage nicht zu hören. Er hatte sich der Öffnung der
Höhle genähert und blickte nach unten. Eine dicht von Schlingpflanzen
überwucherte Felsplatte sprang etwa vier oder fünf Fuß vor, dann fiel
die Klippenwand senkrecht ins Meer hinunter. Ein Schauder überlief ihn,
als er auf die wogende Wasserfläche herniedersah, und er trat aus dem
Bereich des herabströmenden Regens zurück.

»Sie haben sich einen gefährlichen Zufluchtsort gewählt,« sagte er.
»Gefährlich?« gab sie zurück.

»Freilich. Im Falle eines Sturzes von hier oben --«

»O, eines Sturzes!«

Sie zuckte die Achseln. »Daran habe ich nie gedacht,« meinte sie
gleichgültig. »Ich werde doch nicht so nahe herangehen, daß ich
hinabstürzen könnte.«

»Absichtlich vermutlich nicht. Aber,« beharre er, »ein Sturz von hier
oben würde den Tod bedeuten.«

»Ganz ohne Zweifel. Aber dasselbe ließe sich bei vielen anderen Stellen
der Klippen behaupten. Die Felswände sind fast überall furchtbar steil.
Es ist schon die Rede davon gewesen, den Klippenpfad durch ein Geländer
zu schützen, glaube ich; aber der Plan ist wieder aufgegeben worden.
Vielleicht ist es auch kaum nötig, denn die Eingeborenen kennen jeden
Schritt und Tritt des Weges, und Fremde, wie Sie, sind eine seltene
Erscheinung.«

»Sie wissen also,« sagte er langsam, »daß ich hier fremd bin?«

»Freilich. Erstens kenne ich Sie nicht, zweitens fragten Sie mich, ob
unsere Gewitter sich immer so plötzlich zusammenzögen.«

»Und drittens -- wußte ich nichts von diesem Ihrem Zufluchtsort,«
ergänzte er.

»Das sagt nichts, denn wenige Leute kennen ihn, -- ich glaube, kaum
irgend jemand. Ich selbst habe ihn ganz zufällig entdeckt.«

»So?«

»Ja. Eines Tages hatte ich einen Hund bei mir, und er verschwand in
dem Ginstergebüsch, das den Eingang verdeckt. Er muß wohl die Stufen
herabgesprungen oder heruntergerutscht sein und konnte sich nicht
wieder herausfinden. Ich rief und wartete, und schließlich hörte ich
ihn bellen und leise winseln. Da fand ich das Loch und bahnte mir einen
Weg hinunter.«

»Und so entdeckten Sie die Höhle?«

»Ja, und ich rief Sie herein, weil ich wußte, daß Sie bis auf die Haut
durchnäßt sein würden, ehe Sie St. Mellions erreichten.«

»Ja, ich war auf dem Wege nach St. Mellions.«

Sie verriet durch ein leichtes Neigen des Kopfes, daß sie ihn gehört
habe, antwortete aber nicht. Sie wandte das Haupt und blickte in
den grauen Himmel, auf die graue See, den strömenden Regen und die
flammenden Blitze hinaus und gewährte ihm so Gelegenheit, sie ungestört
zu mustern.

Sie war über Mittelgröße, ohne doch groß zu sein; ihre kaum voll
entwickelte Gestalt war biegsam und anmutig; ihr dunkles Sergekleid war
so schlicht und einfach, wie ein Kleid nur sein konnte. Dem Beobachter
fiel das dicke, lockige kastanienbraune Haar auf, die Schwärze der
Brauen und der langen, gebogenen Wimpern, das dunkle, bläulich
schimmernde Grau der großen, glänzenden irischen Augen, die schneeige
Weiße ihrer Haut und der schöngeschwungene kleine herrische Mund.

Sein Urteil lautete, daß sie schön, daß sie sicherlich stolz und
wahrscheinlich von heftigem Temperamente war, und er zerbrach sich
den Kopf darüber, wer sie wohl sein möge. Hätte sie ihn angeschaut,
wozu sie keine Neigung zu verspüren schien, so würde sie einen Mann
gesehen haben, der dreißig Jahre alt sein mochte, dessen sehnige,
aufrechte Gestalt auf große Energie und Kraft schließen ließ, dessen
sonnengebräunte Haut einen wunderlichen Gegensatz zu seinen blonden
Haaren und seinem spitzgeschnittenen Vollbart bildete, dessen Züge
weder besonders hübsch noch besonders unschön waren, und dessen Äußeres
durch die festgeschlossenen Lippen und ein Paar ruhigblickende, kalte
blaue Augen nicht anziehender wurde.

Er seinerseits hatte schnell genug wahrgenommen, daß sie ohne allen
Zweifel eine Dame sei, obgleich ihm der Schnitt ihres Kleides das nicht
verriet. Sie ihrerseits war durchaus nicht sicher, ob sie ihn für einen
Gentleman halten solle. Eine gewisse kurze Brüskheit des Benehmens,
-- zu unbewußt, um als ungezogen zu gelten, -- war den Männern nicht
eigen, mit denen täglich zu verkehren ihr Los war. --

Der Donner krachte, die Blitze zuckten, der Regen rauschte hernieder
und füllte die Pause aus, die beiden schnell peinlich zu werden anfing.
Das junge Mädchen machte eine unruhige Bewegung; sie wollte nicht
verraten, daß sie sich der verstohlenen Musterung des Fremden bewußt
sei. Sie nahm den Matrosenhut ab, der die losen kastanienbraunen
Löckchen, die sich auf ihrer weißen Stirn ringelten, verdeckt hatte.

»Es ist unerträglich warm!« meinte sie ungeduldig. »Und dabei sind wir
erst in der ersten Hälfte des Juni. Mitte August ist es sonst nicht
schlimmer!«

»Und ich habe Mitte August Frost erlebt,« gab der Mann ruhig zurück.

»Frost?« Sie warf ihm einen schnellen, ungläubig fragenden Blick zu.
»Aber nicht in diesem Teile Englands,« erklärte sie sehr entschieden.

»Überhaupt nicht in England. Ich spreche von Australien.«

»O!« Sie musterte ihn wieder mit ehrlichem Interesse. »Daher kommen Sie
also?«

»Ich bin vor drei Tagen gelandet.«

Er begegnete ihrem Blicke und lachte matt.

»Es war ein merkwürdiges Gefühl -- ich werde es niemals vergessen: mir
war zumute, als sei ich aus den Wolken auf die Erde niedergefallen.«

»Weil Ihnen alles so fremd vorkam?«

»Wohl zum Teil, aber mehr noch, weil es in dem ganzen Lande kein Wesen
gibt, das ich kenne.«

»O!«

Die Worte machten ihre schnell gefaßte Vermutung zunichte.

»Sie haben also keine Verwandten hier?«

»Ich habe nirgends Verwandte, -- die ich kenne.« Er stockte seltsam in
der Mitte des Satzes, und sein Lächeln war verschwunden. »Sie glaubten
vermutlich, ich ginge nach St. Mellions, um sie aufzusuchen?«

»Nein, denn wenn irgend jemand in St. Mellions einen Verwandten in
Australien hätte, so würde ich davon gehört haben. Aber da Ihnen ganz
England neu ist, so ist es eigentlich wunderlich, daß Sie sich zuerst
einen so weltentlegenen Winkel ausgesucht haben. Ich fürchte, Sie ahnen
nicht, wie langweilig es hier ist.«

»Das glaube ich gern. Aber ich hatte keine Wahl in der Sache.«

»So?« Unwillkürlich blickte sie ihn wieder neugierig an. »Dann sind Sie
nicht zu Ihrem Vergnügen hergekommen?«

»Zu meinem Vergnügen!« Er lachte bitter. »Nein -- in Geschäften!«

Sein Ton war so schroff und abweisend, daß sie ihr Gesicht fast
beleidigt abwandte und verstummte. Sie blickte wieder in das graue
Landschaftsbild und den Regen hinaus und nagte verstimmt an der Lippe.

Der andere, der sich seines Vergehens anscheinend nicht bewußt war, hub
wieder an:

»Da Sie hier so gut Bescheid wissen, können Sie mir vielleicht sagen,
wie weit es noch bis St. Mellions ist?«

»Ungefähr eine Viertelstunde.«

Sie sprach sehr kurz zu ihm.

»Weiter nicht? Und doch konnte ich keine Spur von Häusern erblicken.«

»Das liegt an der Beschaffenheit des Bodens.« Vielleicht hatte er sie
gar nicht beleidigen wollen. Bei dieser Erwägung wurde sie wieder
fast liebenswürdig und setzte ihm auseinander, daß das Dorf in einer
Talmulde läge.

»Der Ort ist hoffentlich nicht so klein, daß er kein Wirtshaus hat?«

»Nein -- sogar zwei.«

Sie blickte wieder seewärts und fuhr in verändertem Tone fort: »Wir
werden nicht mehr lange gefangengehalten werden: die Wolken teilen
sich, der Regen wird gleich vorüber sein.«

Sie hatte recht, denn wenige Minuten später schien die Sonne, und Meer
und Himmel waren blau. Wie sie ihm in die Höhle vorangegangen war, so
übernahm sie auch jetzt wieder die Führung den abschüssigen Gang und
die drei Felsenstufen hinauf, durch das dichte Ginstergestrüpp, das den
Eingang verbarg, bis sie wieder auf der Klippe oben standen. Hier nahm
der Fremde ernst den Hut ab und verneigte sich vor ihr. Sie hatte ihm
diesmal nicht die Hand gegeben.

»Noch einmal tausend Dank,« sprach er. »Sie gehen, -- entschuldigen
Sie, -- nicht denselben Weg wie ich?«

»Nein.«

Sie lächelte, und in ihren grauen Augen blitzte es schelmisch auf.
»Dorthin führt mein Weg,« sagte sie leichthin und deutete schräg über
die Halde auf eine dichte Baumgruppe, »und Sie können den Ihren nicht
verfehlen. Geradeaus! Adieu!«

»Einen Augenblick, bitte! Ich fürchte, ich habe einen Verstoß begangen.
Wenn das der Fall ist, so müssen Sie das, bitte, meinem Leben in
Australien zugute halten. Ich habe Ihre Güte angenommen und müßte Ihnen
sicherlich meinen Namen nennen.«

»Das steht ganz in Ihrem Belieben,« antwortete sie lächelnd.

»Dann will ich es tun. Ich heiße Everard Leath.«

»Danke, Herr Leath.«

Daß er ihr seinen Namen genannt hatte, in der Hoffnung, sie werde
jetzt ein gleiches tun, wußte sie sehr wohl, bereitete ihm aber aus
Schelmerei eine Enttäuschung.

»Ich will Ihnen auch etwas sagen. Es gibt zwei Wirtshäuser in St.
Mellions. Gehen Sie nicht in den Schwarzen Adler -- die Schlafzimmer
sind dort feucht. Begeben Sie sich in die Chichester Arms, die den
gewissenhaftesten Eigentümer und die beste aller Wirtinnen haben.«

»Vielen Dank. Ich werde Ihren Rat befolgen.«

Wohl wissend, daß sie ihn hatte abblitzen lassen, machte er noch einen
Versuch -- diesmal einen direkten. -- »Wollen Sie Ihrer Freundlichkeit
nicht die Krone aufsetzen, indem Sie mich wissen lassen, wem ich zu
Dank verpflichtet bin?«

»Wie ich heiße, meinen Sie? O ja! Es ist nur natürlich, daß Sie das
gerne wissen möchten -- freilich!«

Sie entfernte sich bei diesen Worten immer weiter und raffte geschickt
ihre Röcke zusammen, damit sie das regenfeuchte Gras nicht streiften.
»Nun, wenn Sie nach den Chichester Arms kommen, so fragen Sie nur Ihre
Wirtin.«

Sie huschte über den blitzenden Rasen fast so leicht und schnell wie
ein Vogel dahin und blickte sich mit hellem Lachen noch einmal um.
Everard Leath schaute ihr einen Augenblick nach, zuckte dann die
Achseln, lachte kurz auf und schlug die Richtung nach St. Mellions ein.

Der Abhang, den er hinabsteigen mußte, war so steil, daß der einsame
Wanderer fast in die Schornsteine des Dorfes hinabsehen konnte. Er
ließ sich von einem Manne im Arbeitskittel, der Wasser aus einem
Brunnen schöpfte, zurechtweisen und betrat bald die niedere Gaststube
der Chichester Arms.

Die rosige und behäbige Wirtsfrau, die eilfertig zu seinem Empfange
herbeikam, führte ihn in ein kleines sauberes Wohnzimmer mit
getäfelten Wänden und einer Holzdecke, einem Paar blitzblanker
Butzenscheibenfenster, einer Fülle leuchtendroter Geranienstöcke und
riesigen kissenbedeckten Windsorstühlen.

Er hatte sich kalten Aufschnitt und Tee bestellt, und nachdem er sich
in einem fünfeckigen Schlafzimmer von dem Reisestaub gesäubert hatte,
setzte er sich und wartete darauf.

Als er mit der müßigen Neugier, die einem Menschen, der sich an einem
fremden Orte befindet, natürlich ist, aus einem der Fenster schaute,
sah er einen etwa achtzehnjährigen blonden Burschen vors Haus reiten.
Mit schnell erwachtem Interesse in den Zügen wandte er sich an das
Mädchen, das gerade die letzten Schüsseln hereinbrachte und auf seinen
Tisch stellte, mit der Frage:

»Wissen Sie, wer das ist?«

»Das, gnädiger Herr?«

Das Mädchen steckte ihr blühendes Gesicht durch die Geranien und
erhielt sofort einen fröhlichen Gruß von dem Reiter.

»O freilich -- das ist Herr Roy!«

»Ah!« Ein Lächeln überflog Leaths ernste Züge. »Das sagt mir nicht
viel. Wer mag Herr Roy sein?«

»Er ist Sir Jaspers Sohn, gnädiger Herr. Er ist sein Einziger.
Außerdem ist noch Fräulein Cäcilie da.«

»Wie heißt Sir Jasper weiter?«

»Sir Jasper Mortlake, Herr.«

Das Mädchen blickte ihn verwundert an. Jemand, der Sir Jasper nicht
kannte, war augenscheinlich in ihren Augen ein Phänomen.

»Sie haben doch sicherlich von ihm gehört?« meinte sie in fast
vorwurfsvollem Ton.

»Nein -- niemals. Gehört ihm dies Haus?«

»Ach nein, gnädiger Herr! Der Schwarze Adler ist seines. Unser Herr ist
Herr Chichester. Wünschen Sie sonst noch etwas?«

Leath hatte weiter keine Wünsche und begann sein Mahl, aber nicht ehe
er Roy Mortlake hatte davonreiten sehen und seiner Reitkunst im stillen
Beifall gezollt hatte.

Später, als er in einem der großen Stühle saß und seine Zigarre
rauchte, klopfte es, und seine rührige Wirtin trat ein, um sich zu
erkundigen, ob es ihm geschmeckt habe und wo sie sein Gepäck abholen
lassen könne, worauf er ihr sagte, daß es am Bahnhofe in Market
Beverley stände.

»Wie weit ist es von hier bis dahin?« fragte er.

»Das kommt auf den Weg an, den Sie einschlagen, gnädiger Herr. Oben auf
den Klippen entlang mögen es wohl anderthalb Meilen sein.«

»Den Weg bin ich gekommen.«

Ein plötzlicher Gedanke kam der Wirtin.

»Wenn Sie zu Fuß von Market Beverley gewandert sind, gnädiger Herr, so
müssen Sie von dem Gewitter überrascht worden sein!« rief sie.

»Freilich, dort oben auf der Halde. Ah, dabei fällt mir ein, mir ist
aufgetragen, Ihnen eine Frage vorzulegen, Frau Buckstone.«

»Eine Frage? Mir, gnädiger Herr?«

»Ja, -- von einer Dame, die mir als rettender Engel erschien und mich
vor dem Naßwerden bewahrt hat. Es war ordentlich ein Abenteuer.«

Er schilderte in aller Kürze und in belustigtem Tone sein Erlebnis.

»Sie weigerte sich, mir ihren Namen zu nennen, und sagte mir, ich
möchte mich an Sie wenden, wenn ich ihn wissen wolle,« schloß er
lächelnd, »und fort war sie.«

»War sie hübsch, gnädiger Herr?«

»Hübsch? Freilich -- mehr als das. Aber wer war es? Können Sie es sich
denken?«

»O ja, gnädiger Herr!« Die Wirtin lächelte ebenfalls. »Darüber kann
kaum ein Zweifel sein. Das war natürlich die Gräfin Florence.«

»Gräfin Florence?« Leath wiederholte den Namen mit erstauntem Blick.
»Was? Ist die junge Dame verheiratet?«

»O nein. Gräfin Florence Esmond ist die Tochter eines Grafen drüben
in Irland, der starb, als sie ein ganz kleines Ding war. Sie ist Sir
Jasper Mortlakes Nichte -- und wohnt meistens bei ihnen in Turret
Court. Sie haben das Schloß vielleicht bemerkt, gnädiger Herr? Es liegt
an der anderen Seite der Halde, etwa dreiviertel Stunden von hier.«

»Nein, es ist mir nicht aufgefallen,« antwortete Leath und griff wieder
nach seiner Zigarre.

»Das war also Gräfin Florence Esmond!« sprach er halblaut und
gedankenvoll vor sich hin, als die geschäftige Wirtin den Tisch
abgeräumt und ihn allein gelassen hatte. »Ein merkwürdiger,
ungewöhnlicher Name. Eines Grafen Tochter und lebt in Turret Court.«

Er lachte rauh auf, als er aufstand und durch eines der Erkerfenster in
den dunkelblauen Abendhimmel hinausblickte. »Es ist ein Glück, daß ich
etwas anderes als Narrenpossen im Kopfe habe, sonst könnten mir jene
grauen Augen gefährlich werden, fürchte ich!«

Aber er hatte etwas anderes im Kopfe, das ihn beschäftigte, und sein
Antlitz wurde düsterer und strenger, als er darüber nachsann. Nicht an
Florences graue Augen, noch an die hellbraunen Locken auf ihrer weißen
Stirn, noch an ihre schöngeschweiften roten Lippen dachte er. Er begann
in dem engen Raume hin und her zu schreiten und beim Gehen vor sich
hinzumurmeln.

»Was wohl das Ende sein wird? Wird überhaupt ein Ende kommen? Jetzt, wo
ich hier bin, steigen zum erstenmal Zweifel in mir auf, ob -- wenn ich
nicht mein Wort verpfändet hätte -- es nicht verständiger gewesen wäre,
ich hätte alles gehen lassen, wie es wollte, und niemals diesen Ort
betreten? Mein Plan sah Tausende von Meilen von hier nicht so verwegen,
nicht so hoffnungslos aus, wie er mich jetzt dünkt. Soll ich ihn
aufgeben, trotz meines gegebenen Wortes wieder gehen?«

Seine Augen flammten plötzlich auf; er ballte seine kräftige Hand.
»Bah! Welche Feigheit ist das auf einmal! Ihn aufgeben! Ich will der
Wolke gedenken, die meine Jugend verdüstert hat, des Sterbebettes,
an dem ich vereinsamt stand, meiner acht Jahre einsamer Arbeit und
schweren Ringens, und will nicht den Mut sinken lassen, noch ehe meine
Arbeit anfängt!«

Er blieb stehen, um wieder aus dem Fenster zu starren. »Nun, der erste
Schritt ist getan. Ich bin hier in Mellions, dessen Name mir fast von
meiner Kindheit an vertraut und verhaßt ist. Aber um wieviel näher bin
ich jetzt wohl meinem Ziele -- wieviel näher daran, Robert Bontine zu
finden?«



2.


Das sogenannte getäfelte Zimmer in Turret Court hatte verschiedene
Vorzüge, die es erklärlich machten, daß es der Lieblingsaufenthalt
der Damen der Familie war. Die bemalten, in die Wände eingefügten
Holzplatten waren hervorragende Kunstwerke; die bis auf den Boden
hinabgehenden Glastüren führten auf eine von Schlinggewächsen berankte
Veranda, vor der sich gleich einem grünen Sammetteppich ein herrlicher,
von prangenden Blumenbeeten und üppigem Gesträuch eingefaßter Rasen
ausbreitete, und von der man überdies eine wundervolle Aussicht über
die Heide nach den zackigen Bergkuppen hinüber und auf das ferne Meer
genoß. Turret Court lag hoch, so hoch, daß man von dort das Tal, in
dessen grünem Schoße St. Mellions lag, sehen konnte.

Das Zimmer enthielt den einzigen Lehnstuhl im ganzen Hause, in dem die
sanfte Lady Agathe behauptete, ein behagliches Mittagsschläfchen halten
zu können, und ferner das Klavier, zu dessen Klängen ihre Tochter
immer am besten singen konnte. Der größte Vorzug aber von allen war,
wie Gräfin Florence mehr als einmal kühn ausgesprochen hatte, daß
Sir Jasper seine Schwelle höchstens zwölfmal im Jahre überschritt.
Indessen nur Roy pflichtete ihr darin offen bei, denn Sir Jasper war
kein angenehmer Mann, und sowohl seine sanfte Frau wie sein hübsches
Töchterchen waren viel zu bange vor ihm, um einzugestehen, daß sie sich
vor ihm fürchteten.

An dem heutigen sonnigen Morgen war er nicht in der Nähe des getäfelten
Zimmers, sonst hätte dort nicht so heiteres Behagen geherrscht. Lady
Agathe saß an einer der offenen Glastüren in dem Stuhle, den sie so
hoch hielt, und las in einem Roman, dessen Gewicht fast zu groß für
ihre zarten weißen Hände zu sein schien. Sie war eine schlanke, blasse,
blonde Frau, die einst hübsch gewesen war, von jener blonden, rosig
angehauchten Schönheit, die meistens so früh verblüht. Ihre zierliche
Gestalt und das schmale, feine Antlitz mit den sanften Augen hatten
noch etwas Mädchenhaftes, obgleich sie schon zwei oder drei Jahre
über die Vierzig hinaus war. Sanft und gutherzig, ohne je eine eigene
Meinung zu haben, und keinesweges gescheit, war sie doch in jedem Zoll
die vornehme Dame, wie es von der Tochter eines der ältesten irischen
Grafengeschlechter zu erwarten war. Das Geschlecht der Mortlakes auf
Turret Court sei sehr alt, aber doch nichts gegen die Esmonds von
Ballancloona, pflegte Lady Agathe bisweilen mit unschuldiger Eitelkeit
zu sagen; nicht um die Welt hätte sie eingestanden, was ihre innerste
Überzeugung war, -- daß es eine ziemliche Herablassung von ihr gewesen
war, die Frau ihres Mannes zu werden. Ihre Hauptbeschäftigung und
Freude war es, Romane zu lesen oder dem Geplauder ihrer beiden jungen
Gefährtinnen zu lauschen, die in bequemen Schaukelstühlen auf der
Veranda saßen. In ihren weißen Kleidern sahen die beiden Mädchen
schneeiggefiederten Vögeln nicht unähnlich.

Florences graue Augen blitzten schelmisch, während sie ihre Cousine
ansah, aber es leuchtete auch tiefe, leidenschaftliche Zuneigung aus
ihnen. Diejenigen, die Florence Esmond am besten kannten, pflegten
zu sagen, daß, wenn sie kein Geheimnis daraus machte, Sir Jasper
Mortlake, ihren Vormund, beinahe zu hassen, sie seine Frau und Tochter
vergötterte und den jungen Roy kaum weniger liebte. Die Behauptung war
nicht sehr übertrieben, denn es entsprach des Mädchens innerster Natur,
heiß zu lieben, wo es überhaupt liebte.

Cäcilie -- im Familienkreis stets Cis genannt -- war ein sehr hübsches
Mädchen, -- in der ganzen Grafschaft waren die Mortlakes wegen ihrer
Schönheit berühmt, -- klein und zart gebaut, mit goldblondem Haar und
lichtbraunen Augen und mit vollendet schönen und zarten Farben. -- Dem
Aussehen nach schien sie weit jünger als ihre größere Cousine mit ihrer
stolzen, entschlossenen Haltung, ihrem schlanken Hals und Nacken und
dem hochmütig getragenen braunen Köpfchen; aber der Altersunterschied
zwischen ihnen betrug in Wirklichkeit nur wenige Wochen. Beide hatten
im vergangenen Winter ihren zweiundzwanzigsten Geburtstag gefeiert.

Während sie so plaudernd dasaßen, sagte Florence: »Wie viele Torheiten
habe ich mir im Leben schon zuschulden kommen lassen, die dir nicht
einmal eingefallen wären, du gutes kleines Ding! Ich tue freilich
in Sack und Asche Buße, das ist wahr, aber was nützt das? Und ach,
was noch schlimmer ist, wie zahllose werde ich voraussichtlich noch
begehen.«

»Das möchte die Herzogin auch wissen,« meinte Cäcilie lächelnd.

»Die Herzogin! O!« Florences fröhlicher Mund wurde ernst; sie setzte
sich aufrecht in ihrem Stuhle hin. »Liebes Herz, -- dabei fällt mir
ein, -- wie du weißt, hatte ich heute morgen Kopfweh und frühstückte
oben. Mit einer Tasse Tee überreichte mir meine ahnungslose Jungfer
eine Bombe. Die Herzogin hat geschrieben.«

»Florence!« Cis sah entsetzt aus. »Sie verlangt nach dir?«

»Allerdings. Auf zwei Briefbogen überhäufte sie mich mit Vorwürfen,
daß ich sie mitten in der Saison im Stich gelassen, besonders nach
der Mühe, die sie sich um meine Toilette gegeben habe; der dritte
meldet mir, daß sie sich gar nicht wohl fühle, und daß der Doktor ihr
anempfohlen, ohne Aufschub nach Pontresina abzureisen, und der vierte
befiehlt mir, heute über acht Tage in London mit ihr zusammenzutreffen
und bereit zu sein, sie zu begleiten.«

»O Florence! Welch eine schreckliche Enttäuschung! Du sagtest, du
wolltest den ganzen Sommer bei uns bleiben, und jetzt sollen wir dich
verlieren!«

Cis’ schöne Augen füllten sich mit Tränen. Ihre Cousine erhob sich
lachend, küßte sie und strich ihr mit der weißen Hand über den blonden
Kopf.

»Nein, das sollt ihr nicht, du liebes Gänschen! Ich habe schon
geschrieben, um Ihrer Durchlaucht respektvoll zu melden, daß ich sie
nicht begleiten werde.«

»Wie lieb von dir! Aber ich fürchte, sie wird furchtbar böse werden.«

»Sie beabsichtigt, ein Vierteljahr fern von England zu bleiben,« gab
Florence gelassen zur Antwort. »Bis sie zurückkommt, wird sie es
überwunden haben.«

»Das will ich um deinetwillen hoffen.« Fräulein Mortlake empfand ein
gut Teil Angst und Scham vor Ihrer Durchlaucht der verwitweten Herzogin
von Dunbar, da sie ein schüchternes kleines Geschöpf war, und sah fast
ebenso ängstlich aus, als hätte sie selbst gewagt, der hochgeborenen
Dame Trotz zu bieten.

»Ich möchte, sie teilte sich nicht mit meinem Vater in die
Vormundschaft über dich, Florence,« sprach sie. »Ein Vormund ist genug.«

»Liebste, ich bin oft der Meinung, daß einer schon zu viel ist.«
Florence setzte sich wieder in ihren Stuhl, verschränkte die Hände
im Nacken unter dem vollen, lose verschlungenen Knoten ihres
kastanienbraunen Haares und fuhr langsam fort: »Es ist recht lästig,
das muß ich zugeben. Aber siehst du, die Herzogin hat bei mir Gevatter
gestanden, und so hätte sie es wohl nicht gern gesehen, wenn sie
übergangen worden wäre. Und mein Vater mag wohl der Ansicht gewesen
sein, daß Frauen nicht viel von Geschäften verstünden. Er hielt es
im Interesse meiner Angelegenheiten für besser, ihr einen männlichen
Vormund an die Seite zu stellen, und da war es natürlich, daß seine
Wahl auf Sir Jasper, den Mann seiner einzigen Schwester, fiel. Ihre
Durchlaucht waren unbedingt froh, mich los zu sein, und jetzt, seitdem
ich mündig bin, kann ich überhaupt tun, was mir beliebt -- was meinen
Aufenthalt betrifft wenigstens.«

Der Ton ließ darauf schließen, daß die Sprecherin in anderer Hinsicht
nicht tun könne, was ihr beliebte.

»Hast du -- hast du es der Herzogin erzählt, Florence?« fragte Cis,
anscheinend ganz ohne allen Zusammenhang, mit gedämpfter Stimme.

»Nein, mein Herz. Ich beschloß, damit noch zu warten. Teils weil ich
der Ansicht war, mein Brief sei sowieso schon hinreichend, um ihr
auf die Nerven zu fallen, -- von der Laune, in die er sie versetzen
wird, gar nicht zu reden. Teils weil ich es für möglich hielt, sie
könne ihren Doktor samt seinen Verordnungen und Pontresina ganz und
gar vergessen und in höchsteigener Person hier auf der Bildfläche
erscheinen, um ihre Ansicht kundzutun. Ihre Ansichten sind mir
gewöhnlich langweilig.«

Sie brach geflissentlich von dem Gegenstande ab und fragte: »Wo ist Roy
heute morgen, Cis?«

»Ausgeritten, glaube ich. Nein, ich weiß es sogar bestimmt. Er sagte
beim ersten Frühstück, er wolle nach Arborfield hinüberreiten.«

»Und Harry zum zweiten Frühstück mitbringen!« setzte Florence
gleichmütig hinzu. »Weshalb sprichst du nicht zu Ende, Cis?«

Sie lachte, während sie in das Porzellangesichtchen schaute, dessen
zarte Farbe dunkler wurde.

»Wie rot du wirst, Kind, obgleich du schon seit drei Monaten verlobt
bist! Vielleicht ist es doch ganz nett, einen Harry zu haben. Weißt du,
ich denke mitunter, wie mir das wohl gefallen würde.«

»Florence!« Cis richtete ihre kleine Gestalt mit der würdigen Miene,
die sie mitunter annahm, empor. »Wie kannst du jetzt nur so etwas noch
sagen, wo du --«

»Wo ich noch nie verliebt gewesen und moralisch davon überzeugt bin,
daß ich es nie sein werde!« beendete Florence munter den Satz. »Ganz
recht, mein Herz,« fuhr sie fort, »es geziemt mir gewiß nicht, mich in
sentimentalen Erwägungen zu ergehen. In Zukunft will ich mich benehmen,
wie es sich gehört, und dich und Harry nur aus dem angemessenen
überlegenen und unpersönlichen Gesichtspunkte betrachten. Und darin
kann ich gleich anfangen, mich zu üben, denn da sind sie schon.«

Zwei junge Leute kamen von den Stallgebäuden her quer über den Rasen --
der blonde, glattwangige, langaufgeschossene Roy Mortlake, dessen Sitz
zu Pferde Everard Leath vor drei Tagen vom Erkerfenster der Chichester
Arms aus bewundert hatte, und Harry Wentworth, der Sohn und Erbe des
Barons Charteries von Arborfield, dessen Verlobungsring Cis seit drei
Monaten trug. Er war ein hübscher Mensch mit lebhaften Augen, der
aussah, als ob er des noch reizenderen Errötens, mit dem sein Bräutchen
ihn begrüßte, würdig sei.

Sie wanderten sogleich miteinander davon, Cis’ goldblonder Kopf wurde
sorgfältig mit einem Sonnenschirm beschützt, und Roy setzte sich auf
eine Stufe der Verandatreppe neben Florences Schaukelstuhl. Lady Agathe
hatte die Ankömmlinge nur mit einem freundlichen Lächeln begrüßt, sich
aber nicht weiter stören lassen, sondern in ihrem Roman weitergelesen.

»Flo,« -- Roy liebte es, Gräfin Florences Namen so abzukürzen, -- »ich
habe Chichester gesehen -- Hallo! Zum Kuckuck auch!«

Bei diesem Ausruf fuhr Roy von seinem niederen Sitze empor. Sir Jasper
riß plötzlich die Tür auf und betrat das Zimmer, zur schreckensvollen
Bestürzung seiner Frau und seines Sohnes und zu Florences grenzenlosem
Erstaunen, da er sonst, wie gesagt, nie in diesem Raume erschien.

Er sah -- wenigstens auf den ersten Blick -- nicht so aus wie
jemand, dessen plötzliches Erscheinen geeignet war, eine Störung zu
verursachen. Wie alle Mortlakes sah er sehr gut aus. Cis’ hübsches
rosiges Gesichtchen hatte nicht regelmäßigere Umrisse und Züge als
das seine. Man hätte es fast allzu regelmäßig, zu glatt, zu farblos
und ruhig nennen können. An seinem letzten Geburtstage war er
sechsundfünfzig gewesen, aber er sah bei weitem nicht so alt aus. Sein
blondes Haar war von jener hellen Farbe, die die grauen Fäden nicht
hervortreten läßt, sein Antlitz zeigte wenig Falten, seine grauen Augen
waren klar und glänzend; daß er nur einen großen Schnurrbart trug
und Wangen und Kinn glattrasiert waren, ließ ihn noch jugendlicher
erscheinen, und seine hohe, aufrecht getragene Gestalt bewegte sich mit
einem leichten, ungezwungenen Anstande, der auf einen viel jüngeren
Mann hätte schließen lassen.

Ja -- Sir Jasper Mortlake, der Besitzer von Turret Court, war
entschieden ein schöner und auf den ersten Blick ein anziehender Mann
für fast jeden. Nur bei einem zweiten Blick gewahrten Leute, die sich
auf Physiognomik verstanden, daß seine grauen Augen ebenso eisig kalt
und strenge wie glänzend waren, daß die schmalen, schöngeschnittenen
Lippen sich gewöhnlich fest aufeinanderpreßten, und daß die Umrisse des
Oberkiefers und Kinns auf erbarmungslose Härte deuteten.

Es gab indessen eine Menge Menschen, deren Augen hierfür blind
blieben, ebenso wie ihre Ohren taub gegen die Tatsache waren, daß
seine langsame, klare, wohlbeherrschte Stimme einen unerbittlichen
scharfen Klang hatte. Diese Leute pflegten Sir Jasper für einen sehr
netten Mann und Lady Agathe für eine sehr glückliche Frau zu erklären,
eine Ansicht, der zu widersprechen Lady Agathe selbst nie im Traume
eingefallen sein würde.

Sie fuhr jetzt aus ihrem Stuhle auf und ließ ihren Roman fallen,
während ein ängstliches Beben ihre zarte Gestalt durchlief. Roy
schlich sich die Verandatreppe hinab, augenscheinlich darauf bedacht,
sich womöglich ungesehen aus dem Staube zu machen. Florence gab ihrem
Schaukelstuhle einen Ruck und blickte ihren Vormund mit fragenden
Augen an. Ihr jagte er nie einen Schrecken ein, hatte es nie getan
seit der Zeit, wo sie ein übermütiges, dreizehnjähriges Mädchen in
kurzen Kleidern gewesen und er ihr Vormund geworden war. Das war
vielleicht ein Grund, weshalb er fast immer höflich und mitunter fast
liebenswürdig gegen sie war, obgleich ein anderer Grund in der Tatsache
zu finden sein mochte, daß, wenn sie es abgelehnt hätte, wenigstens
die Hälfte des Jahres unter seinem Dache zu verbringen, tausend Pfund
Sterling jährlich weniger in die Tasche des Barons geflossen sein
würden. Es wurde gemeiniglich angenommen, daß Turret Court fast so alt
sei wie die Berge, die hinter ihm emporragten, aber an irdischen Gütern
hatte das Geschlecht der Mortlakes nie Überfluß besessen.

»Ist -- kann ich -- wünschest du irgend etwas, Jasper?« stammelte Lady
Agathe ängstlich hervor.

»Danke -- nein. Bitte, laß dich nicht stören.« Der Baron warf einen
verächtlichen Blick auf den hingefallenen Roman; für die harmlosen
Bände, die das Hauptinteresse und Vergnügen seiner Gattin ausmachten,
hatte er eine unsägliche Verachtung.

»Ich glaubte, Roy wäre hier,« setzte er, sich umblickend, hinzu.

»Das ist er auch.«

Florence übernahm die Antwort und deutete nickend auf Roys
verschwindende Gestalt, wofür ihr ein vorwurfsvoller und entrüsteter
Blick wurde. »Wolltest du etwas von ihm, Onkel Jasper?«

Niemand außer ihr hätte es gewagt, die Frage zu stellen, oder würde sie
gestellt haben, ohne eine beißend sarkastische Antwort zu erhalten. Sir
Jasper trat an die offene Glastür.

»Ja, danke, meine Liebe.« Er rief seinem Sohne zu: »Roy, du hast nichts
zu tun, -- du kannst nach St. Mellions reiten und einen Brief von mir
mitnehmen.«

»Was, jetzt, Vater?« Roys Gesicht wurde zusehends länger, als er sehr
gegen seinen Willen kehrtmachte. »Ich komme gerade eben mit Wentworth
aus Arborfield zurück,« sagte er in einem so mißvergnügten Tone, wie er
nur anzuschlagen wagte, »und die Sonne scheint so furchtbar heiß -- es
ist der reine Backofen. Hat es nicht bis nach dem Frühstück Zeit?«

»Es hat nicht bis nach dem Frühstück Zeit. Ich bedaure unendlich, deine
kostbare Muße in Anspruch nehmen zu müssen,« antwortete der Baron mit
schneidendem Hohn. »Unglücklicherweise habe ich nicht Lust, meine
Geschäfte warten zu lassen, bis es dir beliebt, sie zu erledigen. Du
wirst Herrn Sherriff das Billett bringen und --«

»Herrn Sherriff?« fiel ihm Florence ins Wort. »Der liebe alte Mann --
ich habe ihn seit einer Woche nicht gesehen! Und dabei ist er nicht
wohl! Wie schändlich! Das muß ich wieder gutmachen.«

Sie sprang auf und sagte mit einer entlassenden Handbewegung: »Schon
gut, Roy, du kannst davonlaufen und spielen. Ich will dein Briefchen
besorgen, Onkel Jasper.«

»Liebes Herz, es ist so heiß! Und du mußt doch erst frühstücken,« wagte
ihre Tante milde einzuwenden, während sie ihren Roman aufnahm.

»Nein, das brauche ich nicht. Ich werde mich bei Herrn Sherriff zu
Gast laden. Er wird das gern sehen, und ich werde ihn aufheitern. Und
außerdem muß ich wirklich im Pfarrhause vorsprechen und mich nach dem
Datum des Basars erkundigen. Wenn wir uns nicht sputen, so werden Cis
und ich das Regiment Puppen dafür nicht rechtzeitig fertig angezogen
bekommen. Das Billett, bitte, Onkel Jasper, und ist noch irgend etwas
dabei zu bestellen?«

Es war nur noch auszurichten, daß der Überbringerin des Briefes eine
Antwort mitzugeben sei. Sir Jasper erteilte diese Weisung, sagte seinem
Mündel ein paar sehr förmliche Dankesworte und ging hinaus. Florence
pfiff ein paar Takte des ›Hausgespenstes‹ vor sich hin, schlug ihrer
Tante das Buch wieder auf, gab ihr einen Abschiedskuß und lief auf den
Rasen hinaus.

»Roy, lauf nach dem Stall hinüber -- tu’s mir zuliebe, und laß
Jakob mir Orange Lily satteln. Aber er selbst braucht sich nicht
fertigzumachen, denn ich habe keine Lust, ihn hinter mir zu haben.«

Sie richtete ihre lustigen Augen auf das Brautpaar und klopfte
ihrer Cousine leicht auf die schöne Wange. »Finden Sie nicht, daß
Cis gut aussieht, Herr Wentworth? Wissen Sie wohl, daß sie einen
demoralisierenden Einfluß auf mich ausübt? Wenn ich sie ansehe, so bin
ich wirklich fast geneigt, mich zu verlieben.«

»Nun, ich glaubte, der Schritt wäre schon getan, Gräfin Florence!« gab
Harry Wentworth lachend zurück.

»Das glaubten Sie? Von mir? Du meine Güte, wie kommen Sie nur auf
solchen Gedanken? Liege ich nachts wach und kann nicht schlafen?
Verliere ich den Appetit? Werde ich rot? Härme und gräme ich mich? Nun,
was sagt ihr beide?«

»Ich sehe wenigstens keines dieser Symptome,« meinte Harry.

»Das werden Sie auch nie, so wahr ich eine Esmond von Ballancloona bin!
Lebt wohl! Ich werde Herrn Sherriff von euch grüßen und ihm einen Kuß
geben, um ihm meine Liebe zu bezeigen. Ich verliebt! Wirklich, Harry,
ich schäme mich Ihrer! Liebe! Wie ist einem denn zumute, wenn sie sich
unserer bemächtigt hat?«

Sie eilte leichtfüßig über den Rasen dem Hause zu, und ihre Stimme
tönte fröhlich zu ihnen herüber, während sie munter vor sich
hinträllerte:

    »Mein Herz, ich will dich fragen,
    Was ist denn Liebe, sag?
    Zwei Seelen und ein Gedanke,
    Zwei Herzen und ein Schlag.« --

»Ist sie nicht ein liebes Geschöpf?« sagte Cis mit zärtlicher
Bewunderung und drückte Harrys Arm liebevoll an sich.

»Sie ist auf alle Fälle ein Original.« Er lachte. »Und sie ist außerdem
verteufelt hübsch. Das steht fest. Ich finde, sie wird jedesmal, daß ich
sie sehe, hübscher. Trotzdem, Cis, bin ich ganz ungemein froh, daß ich
sie nicht heiraten soll, weißt du. In der Tat, ich beneide einen
gewissen Jemand, den wir beide nennen könnten, nicht sonderlich.«

»Florence ist viel zu gut für jenen gewissen Jemand,« erklärte Cis.

»Das bestreite ich nicht. Ich bin nur froh, daß ich es nicht bin. Welch
wunderlicher Einfall veranlaßte sie nur, solche Reden zu führen? Aus
dem, was du mir gesagt hast, schloß ich, daß es eine ganz abgemachte
Sache sei.«

»Das ist es auch. Wenigstens glaube ich es.«

»Weiß Sir Jasper darum?«

»O ja! Aber die Herzogin noch nicht.«

»Und dann spricht deine gräfliche Cousine so? Nette Aussichten!« Harry
zuckte die Achseln und lachte. »Ja, ich wiederhole, ich bin von Herzen
froh, daß ich nicht in der Haut eines gewissen Jemand stecke.«

»Ach,« meinte Cis und schüttelte in sinnendem Widerspruch den hübschen
Kopf, »es ist leicht, so zu reden! Ich würde es wohl ebenso machen, wenn
ich du wäre. Aber du verstehst Florence nicht.«



3.


Gräfin Florence ritt auf ihrem Lieblingspferde Orange Lily, einer
Goldfuchsstute, über die Halde und bog in den langsam abwärts führenden
Reitweg ein, der in die kleine, krumme Hauptstraße von St. Mellions
einmündete. Manche Mützen flogen von den Köpfen, manche Knickse wurden
beim Anblick der anmutigen Gestalt des bildhübschen, sonnigen Antlitzes
gemacht, das mit dem strahlendsten Lächeln für jeden Gruß dankte. Es
gab weder einen Mann, noch eine Frau, noch ein Kind im Orte, die sie
nicht kannten, und nur Roy nahm es an allgemeiner Beliebtheit im Dorfe
mit ihr auf.

Man hatte die sanfte, freundliche Lady Agathe und die hübsche Cäcilie
gern, -- wie sie es für ihre Herzensgüte und vielen Wohltaten auch
verdienten, -- aber nicht in demselben Grade und nicht nach derselben
Art wie Florence.

Sie ritt langsam an der alten, grauen Kirche und dem wohnlichen
Pfarrhause mit seinen Erkerfenstern vorbei, wandte sich dann rechts und
hielt vor einer niedrigen weißen Pforte, die sich inmitten einer hohen
Hecke befand, an. Sie beugte sich im Sattel vornüber, sie aufzuklinken,
und ritt in den dahinterliegenden Garten. Dort sprang sie mit solcher
Leichtigkeit und Behendigkeit vom Pferde, wie Roy es nur hätte tun
können, nahm Orange Lilys Zügel und ging den breiten Kiesweg hinauf,
der nach dem Hause führte.

Es war ein niedriges, kleines Gebäude, das anscheinend nur aus wenigen
Zimmern bestand und nur ein Stockwerk hatte. Aus roten Backsteinen
aufgeführt, von Schlinggewächsen bis an die niedrigen Schornsteine,
die vielen Türen und Fenster überwuchert, mit blühenden Blumen auf den
Simsen, mit Balkon und Veranda bot es einen überaus malerischen Anblick
dar. Gräfin Florence hatte oft erklärt, daß sie viel lieber im Bungalow
-- so hieß es -- wohnen möchte, als in Turret Court.

Sie setzte eine kleine silberne Pfeife, die an ihrer Uhrkette hing, an
die Lippen und ließ einen hellen Pfiff ertönen. In demselben Augenblick
erschien schlürfenden Ganges ein großer junger Mann, der beim Anblick
des jungen Mädchens einen riesigen Zeigefinger an sein strohgelbes Haar
legte, denn eine Mütze hatte er nicht auf.

»Guten Morgen, Joe,« sagte Florence in ihrer liebenswürdigen Weise und
dankte ihm mit ihrem reizenden Lächeln für seinen Gruß. Dann erkundigte
sie sich, ob Herr Sherriff zu Hause sei, und wies ihn an, Orange Lily
zu versorgen, ihr aber nicht zu viel Wasser zu geben, da sie bald
wieder heimreiten wolle. Darauf schritt sie über den samtweichen Rasen,
stieg die Verandatreppe hinan und blickte durch ein niedriges offenes
Fenster.

»Herr Sherriff, wissen Sie nicht, daß Sie an diesem wundervollen Tage
draußen im Sonnenschein sein sollten?«

»Gräfin Florence! Mein liebes Kind, welch eine Freude, Sie zu sehen!«

Der Herr, der diese Worte sprach, erhob sich schnell von einem mit
Büchern bestreuten Tische, an dem er saß, kam ans Fenster und nahm
die Hand, die ihm das junge Mädchen bot. Er war groß und hager, mit
breiten Schultern, und ging ein wenig gebückt. Er hatte ein stilles,
träumerisches, zerstreutes Wesen. Die meisten würden ihn für einen ganz
alten Mann gehalten haben, denn seine Stirn war gefurcht und sein Haar
wie sein langer Vollbart schneeweiß; nur die schöngeschwungenen Brauen
seiner dunklen Augen waren noch schwarz. Trotzdem zählte Matthias
Sherriff noch nicht sechzig, obwohl er gewöhnlich für volle zehn Jahre
älter gehalten wurde.

»Welch eine Freude, Sie zu sehen, liebes Kind! Wie hat mich der Klang
Ihrer Stimme erschreckt!« sagte er und beugte sich mit ritterlicher
Artigkeit und Höflichkeit über den kleinen hellbraunen Stulphandschuh.
Sir Jasper Mortlake, der sich so viel auf seine weltmännischen Formen
zugute tat, war kein so vollendeter Kavalier wie der Hausherr des
Bungalow, der auf nichts stolz war als auf seine geliebten Bücher.

»Habe ich Sie erschreckt? Das tut mir leid! Es war sehr unüberlegt von
mir, Sie so plötzlich anzureden. Soll ich hereinkommen, oder wollen Sie
meinen Rat befolgen und mit mir in den Garten gehen?« fragte Florence
lächelnd.

»Ihr Rat ist immer der beste. Ich will zu Ihnen kommen.«

Herr Sherriff stieg bei diesen Worten über die niedrige
Fensterbrüstung, zog einen Korbstuhl herbei, der im Schatten der
Veranda stand, und wartete, bis sie Platz genommen, ehe er sich einen
zweiten herbeiholte.

»Führt eine geschäftliche Angelegenheit Sie her, Gräfin, oder sind Sie
so freundlich, einem einsamen alten Manne einen Besuch zu machen?«

»Beides, Herr Sherriff.«

Sie setzte ihm auseinander, was sie hergeführt, und lud sich zum
Frühstück bei ihm ein; dabei zog sie Sir Jaspers Brief aus der Tasche
ihres Reitkleides. Herr Sherriff nahm ihn ihr ab, las ihn und schob ihn
wieder in den Umschlag.

»Die Sache ist sehr einfach, und ich glaubte, sie Sir Jasper vorige
Woche genügend erklärt zu haben. Wenn Sie gestatten, so werde ich Sie
mit ein paar Zeilen für ihn behelligen. Wie geht es allen in Turret
Court, Lady Agathe, Fräulein Cäcilie?«

»Meine Tante ist so wohl, wie sie überhaupt sein kann, und Cis ist
hübscher denn je. Sie und Harry Wentworth machen mich ganz sentimental
-- wirklich. Was wollte ich noch sagen? Ach ja! Roy ist sehr fidel und
Sir Jasper griesgrämlich. Ich bin, wie Sie mich vor sich sehen.«

»Und wie Sie hoffentlich bleiben werden. Besseres können Sie nicht tun,
liebes Kind.«

Der alte Herr blickte mit wohlwollendem, väterlichem Lächeln in das
liebreizende, strahlende Gesicht.

»Sie wollen hoffentlich nicht damit sagen, daß irgend etwas Besonderes
vorgefallen ist, was Sir Jasper verstimmt hat?«

»Du meine Güte, nein. Es ist eben nur sein chronisches Leiden!
Wenn ihm einmal wirklich etwas Widerwärtiges zustieße, so würde es
ihn vielleicht liebenswürdig machen -- wer weiß? Ich habe jetzt
angefangen, ›Das Hausgespenst‹ zu flöten, was der armen Agathe jedesmal
einen furchtbaren Schrecken einjagt! Als ob ihr Herr und Gemahl den
Gassenhauer kennte!«

»Das ist wohl kaum anzunehmen,« meinte Herr Sherriff lächelnd.

»Natürlich nicht. Trotzdem sah ich sie erzittern, wenn ich nur die
Lippen spitzte. Ich sollte es natürlich nicht tun, nicht wahr? Junge
Damen sollten niemals flöten. Da hat die arme Herzogin recht -- kommt
dort nicht jemand, Herr Sherriff?« unterbrach sie sich und horchte auf
näherkommende Schritte -- Schritte, die ihr ganz fremd waren.

Dann fuhr sie empor und rief in grenzenlosem Erstaunen: »Was, Sie sind
es? Hier?«

Es war Everard Leath, der um die Ecke der Veranda bog, und der bei
ihrem Anblick in ebenso großem Staunen stehen blieb.

Verwundert über ihr gegenseitiges Erkennen blickte Sherriff von einem
zum andern.

Leath sprach zuerst.

»Ich bitte um Entschuldigung, Gräfin Esmond. Ich hatte keine Ahnung
davon, daß Sie hier wären, und erwartete, Herrn Sherriff allein zu
finden.«

Er verbeugte sich und entfernte sich wieder. Florences graue Augen
richteten sich verwundert auf den Hausherrn.

»Wie in aller Welt kommt er hierher?« rief sie.

»Liebes Kind, erlauben Sie mir erst, Ihnen eine Frage vorzulegen: Wie
kommt es, daß Sie ihn kennen und er Sie?«

»Wie das kommt?« Sie lachte bei der Erinnerung hell auf. »Soll ich es
Ihnen erzählen?« meinte sie schelmisch in überlegendem Tone. »Ja, Sie
sollen es hören.«

Sie entwarf ihm darauf eine anschauliche und sehr drollige Schilderung,
wie es gekommen, daß Everard Leath in ihrem geheimen Schlupfwinkel in
der Klippenwand eine Zuflucht gefunden.

»Hat er Ihnen nichts davon erzählt?« fragte sie neugierig.

»Kein Sterbenswort.«

»Auch Sie gar nichts über mich gefragt?«

»Mein liebes Kind, Herr Leath hat Ihren Namen mir gegenüber gar nicht
in den Mund genommen! Ich hatte keine Ahnung davon, daß Sie ihm je
begegnet!«

»Höflich! Es nimmt mich sehr wunder, daß er sich überhaupt die Mühe
gegeben hat, herauszufinden, wer ich bin. Und jetzt zu meiner Frage,
bitte, Herr Sherriff. Wie kommt er hierher? Ich verstand von ihm, daß
er keine Seele in St. Mellions kenne.«

»Und das ist auch wahr, glaube ich. Ich habe seine Bekanntschaft auf
fast ebenso zwanglose Weise gemacht wie Sie. Als ich vor einigen
Abenden spazieren ging, überkam mich einer meiner unglücklichen
Schwächeanfälle. Ja, ohne ihn würde ich hingestürzt sein, denn ich
hatte das Bewußtsein fast gänzlich verloren.«

»O, wie mir das leid tut!« Das fröhliche, neugierige Gesicht des jungen
Mädchens wurde ernst. »Und er -- dieser Herr Leath -- brachte Sie nach
Hause, nicht wahr?«

»Ja, mein Kind -- als ich mich hinreichend erholt hatte, um ihm zu
sagen, wo ich wohnte, was ohne seine Kognakflasche wohl noch länger
gedauert haben würde. Natürlich kamen wir nachher ins Gespräch, und
ich erfuhr, daß er hier fremd, daß er aus Australien sei und in den
Chichester Arms abgestiegen wäre. Ich sagte ihm, daß er an einem
einsamen alten Mann ein gutes Werk tun würde, wenn er mir während
seines Aufenthalts in St. Mellions einen Teil seiner Zeit widmen wolle.
Er scheint sich auch einsam zu fühlen, denn er ist jeden Tag mehrere
Stunden bei mir gewesen. Gestern lud ich ihn für heute zu Tisch ein.
Ist diese Erklärung vollständig genug?«

»J--a.« Florence zog die Brauen zusammen. »Ausgenommen,« fuhr sie in
etwas pikiertem Tone fort, »daß ich nicht recht einsehe, weshalb Sie
einen völlig Fremden so gern haben sollten, Herr Sherriff.«

»Habe ich gesagt, daß ich ihn sehr gern habe, mein Kind?«

»Nein. Aber Sie tun es. Das sehe ich,« schmollte sie.

»Selbst wenn dem so wäre, so hat die Sache ihren Präzedenzfall. Vor
zehn Jahren zum Beispiel wurde ich einer jungen Dame vorgestellt, die
ich immer seither von Herzen liebgehabt habe.«

»Es ist so lieb von Ihnen, das zu sagen.« Mit einem reizenden Lächeln
legte sie zärtlich die Hand auf seinen Arm. »Aber gestehen Sie -- mögen
Sie diesen Herrn Leath leiden? Nun?«

»Ich gestehe, mein Herz, daß ich ihn sehr gern habe.«

»Und um nichts,« sagte Florence wieder schmollend, »aus keinem
besonderen Grunde.«

»Gerade ebensowenig Grund haben Sie, ihn nicht leiden zu mögen.«

»Mag ich ihn nicht leiden?« Sie lachte. »Ich fühle mich getroffen,«
setzte sie freimütig hinzu, »denn jetzt, wo ich darüber nachdenke,
glaube ich, daß dem so ist. Und doch kann ich nicht sagen, weshalb
eigentlich. Sein Benehmen war allerdings brüsk, aber ich glaube
nicht, daß das der Grund war. Aber wir können unseren Antipathien und
Sympathien nie auf den Grund kommen, nicht wahr?«

Sie blickte nachdenklich auf die Blumenbeete hinaus und zog die Stirn
wieder kraus. »Herr Sherriff!«

»Ich höre, liebes Kind.«

»Glauben Sie, daß er dauernd hier -- in St. Mellions -- bleiben wird?«

»Ja, wenigstens vorläufig. Das hat er mir gesagt.«

»Ja, ja, aber --« sie stockte. »Sie wissen wohl nicht, was ihn
hergeführt?«

»Darüber weiß ich ebensowenig wie Sie, mein Kind, gar nichts.«

»Vielleicht weiß ich doch etwas. Jedenfalls weiß ich, daß er nicht zum
Vergnügen, sondern in Geschäften gekommen ist. Das erzählte er mir, und
es war ihm Ernst damit.«

»So? Ich kann Ihnen nur die Versicherung geben, daß er mir nichts davon
gesagt hat.«

Wieder trat eine Pause ein. Sie blickte mit gerunzelter Stirn in den
Garten hinaus. Everard Leath beschäftigte sie merkwürdig.

»Herr Sherriff, glauben Sie, daß er arm ist?«

»Herr Leath? Arm, wie ich bin, sicherlich nicht,« meinte der alte Mann
lächelnd, »auch glaube ich nicht, daß er so reich ist wie Sie. Zwischen
diesen beiden Extremen liegt eine weite Kluft, wie Sie wissen.«

»Ich bin viel zu reich -- es ist einfach lächerlich! Also Sie glauben,
daß er viel Geld hat?«

»In bescheidenem Maße -- ja. Im Laufe unserer gestrigen Unterhaltung
deutete er an, daß er bis vor etwa einem Jahre mit bitterer Armut
gekämpft habe, wo ein Umschwung in seinen Verhältnissen eingetreten
sei.«

»Welcher Art wohl?« meinte Florence neugierig.

»Ich verstand so viel, daß er mit Minen zu tun gehabt -- ich bin zu
unwissend in solchen Dingen, um zu sagen, auf welche Weise. Das ist die
Glocke, die mich zum Mittagessen ruft. Habe ich Sie recht verstanden,
wollten Sie mir die Ehre antun, es als Ihr Gabelfrühstück anzusehen,
liebes Kind?«

»Ja, wenn Sie mich haben wollen,« antwortete Florence, munter ihren
Ernst abstreifend, und dabei nahm sie seinen Arm, was er so gern sah,
und ging mit ihm aus der Veranda und durch eine offene Glastür, die in
ein hübsches kleines Speisezimmer führte, in dem der ovale Tisch schon
für drei Personen gedeckt war.

Everard Leath trat bald nach ihnen ins Zimmer und machte so die
Gesellschaft vollständig. Daß er überrascht war, sie noch dort zu
treffen, und daß ihn das ein wenig aus der Fassung brachte, sah
Florence sofort. Dessenungeachtet gefiel es ihr, liebenswürdig gegen
ihn zu sein, und sie lächelte ihm zu, als er sich ihr gegenüber
niederließ.

»Sie haben also Frau Buckstone gefragt, Herr Leath?« fragte sie in
leichtem Tone.

Er verneigte sich, denn er verstand sie gleich.

»Ja, Gräfin.«

»Und sie stellte meine Person fest?«

»Sofort.«

»Wirklich? Sie müssen mich sehr anschaulich geschildert haben.«

»Im Gegenteil, ich fand, daß es nicht nötig war, Sie überhaupt zu
schildern.«

»So? Vermutlich, weil sie fand, daß mein Benehmen mir ›ganz ähnlich‹
sähe.«

»Da Sie mich darnach fragen, so glaube ich, daß es sich so verhielt.«

»Sie ist mir eine liebe alte Frau, aber ich fürchte, daß sie ebenso
entsetzt über mich ist, wie die Herzogin selbst. Und Sie haben Ihres
kleinen Abenteuers nie gegen Herrn Sherriff erwähnt?«

»Ich wußte nicht, daß Sie Herrn Sherriff kannten, und ich hielt mich
nicht für berechtigt, einem Fremden von Ihnen oder Ihrer Freundlichkeit
zu reden.«

Er war ein wenig steif und gezwungen in seinem Benehmen, obgleich man
ihn kaum hätte verlegen nennen können. Florence dachte im stillen, daß
sein Leben in Australien ihm wahrscheinlich nur selten Gelegenheit zu
vertrautem und leichtem Verkehr mit ihrem Geschlechte gewährt hätte.
Aber sie empfand auch, als sie das Gespräch abbrach, weil das kleine
Dienstmädchen geschickt das kalte Geflügel und den Salat herumreichte,
daß er ein Zartgefühl und eine Zurückhaltung gezeigt, die sie weder von
ihm erwartet noch ihm zugetraut hatte.

Diese Empfindung stimmte sie freundlich gegen ihn, und sie blieb
bei dem nun folgenden Gespräch in der heitersten, liebenswürdigsten
Stimmung. Die Unterhaltung drehte sich größtenteils um Australien,
aber, obwohl Leath durchaus nicht zu beredt war und seinen
charakteristischen, trockenen Ernst nicht leugnete, war ihr doch
sowohl der Gesprächsstoff wie seine Art und Weise neu genug, um sie
sehr zu interessieren und ihr viele wißbegierige und eifrige Fragen zu
entlocken. Als sie endlich, überrascht darüber, wie schnell die Zeit
vergangen war, aufstand und erklärte, daß sie fort müsse, war es mit
einer leisen Regung des Unmuts, weil sie über den Mann selbst so wenig
wie je wußte. Alles, was er erzählt und was sie aus ihm herausgebracht
hatte, war so ganz und gar unpersönlich gewesen.

»Haben Sie angefangen herauszufinden, daß ich Ihnen nur die Wahrheit
über St. Mellions gesagt habe, Herr Leath?«

Sie warf die Frage nachlässig hin, nur um etwas zu sagen, als sie
in der Veranda stand und zusah, wie ihre Fuchsstute auf und nieder
geführt wurde. Drinnen an seinem mit Büchern bedeckten Tische schrieb
Sherriff den Brief, den sie Sir Jasper mitnehmen sollte. Leath war ihr
hinausgefolgt; wie sie vermutete, um sie aufs Pferd zu heben.

»Wie meinen Sie?« sagte er fragend.

»Ich glaube, ich sagte Ihnen, daß es ein langweiliges kleines Nest sei.
Finden Sie das etwa nicht?«

»Es mag langweilig sein, aber nicht langweilig genug, um mich von hier
fortzutreiben.«

Sie errötete. Es klang, als ob er ihre unausgesprochene Neugier erraten
habe.

»Sie denken doch sicherlich nicht daran, sich hier niederzulassen?«

»Ich kann es nicht sagen, Gräfin. Für den Augenblick bin ich noch zu
keinem festen Entschlusse gelangt -- das heißt über meinen künftigen
Aufenthaltsort.«

»Wirklich? Wissen Sie noch nicht einmal, ob Sie nach Australien
zurückkehren werden?«

»Noch nicht einmal das, obgleich es sehr wahrscheinlich ist, daß ich
dorthin zurückkehren werde. Aber Familienbande fesseln mich an keinen
Teil der Welt, und ich kann folglich tun, wie mir beliebt.«

»O!« sagte Florence, »ich denke, wenn Sie zum Beispiel eine Frau hätten
--«

»Das habe ich allerdings nicht.«

Ihr Blick hatte die Pause zu einer Frage gemacht.

»-- so würde sie möglicherweise Australien nicht gern mit England
vertauschen.«

»Wahrscheinlich nicht. Aber meine Frau existiert nicht, Gräfin. Wie ich
sagte, stehe ich ganz allein in der Welt -- schon seit acht Jahren.«

Seine gelassene kalte Stimme wurde nicht weicher oder bewegt bei
diesen Worten, und das Antlitz, in das sie schaute, gab ihr keine
Ermutigung zu dem teilnehmenden Blick oder der freundlichen Frage, die
sie sich sonst vielleicht erlaubt haben würde, obgleich er ihr fast
noch ein Fremder war. Sie wandte sich, um Herrn Sherriff das Briefchen
abzunehmen, und ärgerte sich über sich selbst, daß sie sich hatte
verleiten lassen, ihm so viel Interesse zu bezeigen. Der Mann und seine
Angelegenheiten gingen sie, Florence Esmond, allerdings gar nichts an.
Er hatte etwas Strenges und Kraftvolles an sich, eine Kälte, die sie
abstieß.

In ihrem Benehmen gegen ihn lag jetzt keine Liebenswürdigkeit mehr,
und die Verbeugung, die sie ihm machte, nachdem er sie in den Sattel
gehoben, war so kalt, wie eine Verbeugung nur sein konnte. Aber sie
drehte sich um und warf Herrn Sherriff mit ihrer behandschuhten Rechten
eine zärtliche Kußhand zu, ehe sie aus dem Garten des Bungalow ritt.
Sie wollte ihren alten Freund und Liebling nicht schlecht behandeln,
weil er törichterweise so großes Gefallen an Everard Leath zu finden
schien.



4.


Das Mittagessen in Turret Court war vorüber. Es wurde stets früh
gespeist, denn Sir Jasper war magenleidend, und das Mahl war immer ein
auserlesenes. Für Lady Agathe war es die qualvollste Stunde des Tages,
denn der Hausherr ließ es selten zu, daß die Mahlzeit für irgend jemand
angenehm verlief, und am wenigsten naturgemäß für sie. Jetzt hatte er
sich in die Bibliothek zurückgezogen, einen Raum, in dem er geruhte,
den größten Teil seiner Zeit zuzubringen, und die übrigen begaben sich
in den Salon, überaus froh, ihn los zu sein.

Lady Agathe saß in dem bequemen Sessel mit einem anderen Bande des
Romans, in den sie sich am Morgen schon vertieft hatte. Roy hatte seine
langen Gliedmaßen der Länge nach auf dem Sofa ausgestreckt, gab sich
Mühe, einzuschlafen, und stöhnte bisweilen über die Hitze; draußen auf
der Terrasse gingen Cis und ihr Verlobter langsam auf und nieder; ein
Spitzentuch verhüllte den goldblonden Kopf und den Hals des jungen
Mädchens. Dicht an einem Fenster, bequem zurückgelehnt in einem ihrer
Lieblingsschaukelstühle, die Hände hinter dem kastanienbraunen Haar
verschlungen, lag Florence in ihrem langen weißen Kleide -- sie trug im
Hause gern übermäßig lange Schleppen -- im Gespräch mit der einzigen
noch anwesenden Persönlichkeit.

Das war ein Herr, dessen Gesellschaftsanzug tadellos saß, der eine
gute Figur sowie eine angenehme Stimme hatte, und dessen Gesicht
geradezu schön war. Das einzige, was man an seinem Äußeren und
seiner Persönlichkeit hätte aussetzen können, wäre gewesen, daß er
älter aussah als er war. Seine schönen Züge waren unbeweglich, -- er
hatte fast gar kein Mienenspiel, -- seine Gestalt hatte eine gewisse
Behäbigkeit, seine Bewegungen waren schwerfällig und langsam, seine
Redeweise eintönig und ernst; seinem Alter nach erst in der Blüte der
Jahre, hatte er seine Jugend doch schon eingebüßt: mit achtunddreißig
war er entschieden ein Mann mittleren Alters. In seinen ruhigen braunen
Augen lag kaum ein Glanz, während er die hin und her schaukelnde,
anmutige Gestalt des Mädchens betrachtete und das angeregte, lebhafte
Antlitz sich gegenüber sah.

»Ich wußte, daß ich dir etwas sagen wollte, was mir mindestens ein
halbes dutzendmal wieder entfallen ist,« sagte Florence schaukelnd.
»Heute morgen bekam ich einen Brief von der Herzogin.«

»Von der Herzogin? So?«

»Ja.«

Sie erzählte ihm dann kurz den Inhalt des Schreibens, und daß sie es
abgelehnt, ihre Patin nach der Schweiz zu begleiten.

»Da du der Herzogin geschrieben hast, so ergriffst du vermutlich die
Gelegenheit, sie von unserer Verlobung in Kenntnis zu setzen?« fragte
Talbot Chichester zögernd.

»O! Von unserer Verlobung?« Florence zog die Hände unter dem Kopf fort
und verschränkte sie im Schoß. »Nein,« sagte sie ruhig, »um dir die
Wahrheit zu gestehen, das habe ich nicht getan. Ich habe natürlich
daran gedacht, aber ich kam zu dem Entschlusse, daß es viel besser
ist, damit zu warten, bis sie glücklich in Pontresina ist und ihren
Ärger darüber, daß ich nicht mit ihr gehe, überwunden hat.« Sie lachte
schelmisch.

»Aber ich bin nicht derselben Ansicht,« erwiderte Chichester ernst;
das Lächeln, mit dem er auf ihr Lachen geantwortet, war nur sehr matt.
»Die Stellung, die Ihre Durchlaucht dir gegenüber einnimmt, erheischt
es von mir, daß ich sie von unserer Verlobung unterrichte und ihre
Einwilligung in unsere Heirat erbitte, wie ich es bei Sir Jasper tat.
Ich wollte es sofort tun, aber du schienst es vorzuziehen, es selbst zu
übernehmen, obgleich ich gestehen muß, daß ich den Grund nicht recht
begriff.«

»Einen Grund hatte es nicht; es war eine Laune von mir, es ihr selbst
zu erzählen -- warum, weiß ich nicht.«

»Natürlich fügte ich mich, da es dein Wunsch war,« fuhr Chichester
fort, »es ist freilich wahr, daß es in gewissem Sinne nur eine Form
ist, aber ich finde doch, es müßte geschehen.«

»Nur eine Form? O, du glaubst also nicht, daß sie etwas dagegen haben
wird?« fragte Florence wieder.

»Dagegen?«

Herr Chichester setzte sich in seinem Stuhle aufrecht. Sein Ton wurde
würdevoller, er fühlte, daß das, was Florence sagte, abgeschmackt sei.
War nicht die Familie Chichester auf Highmount sogar noch älter als das
Geschlecht der Mortlakes, und reich genug, um ihnen ihren ganzen Besitz
drei- oder viermal abzukaufen?

»Meine liebe Florence,« meinte er nachsichtig, »das ist sicherlich eine
ziemlich überflüssige Frage! Wir sind nicht von Adel, das ist freilich
wahr, -- wir haben die Ehre immer abgelehnt, -- aber in jeder anderen
Hinsicht ist es kaum möglich, daß die Herzogin etwas gegen mich als
Bewerber um deine Hand einzuwenden haben könnte. Du kannst das nicht
für wahrscheinlich halten.«

»Ich durchaus nicht!« sagte Florence fröhlich. »Ich glaube nicht, daß
sie etwas dagegen haben wird; weshalb, wie du sagst, sollte sie das?
Ich wollte nur gern wissen, wie du darüber dächtest.«

»Du gibst mir also die Erlaubnis, ihr binnen kurzem zu schreiben?«

»Ja. Sobald sie in Pontresina ist. Ich will ihr mit derselben Post
schreiben, damit sie erfährt, daß ich an deinem bisherigen Schweigen
schuld bin.«

»Danke! Das ist alles, was ich wissen wollte.« Florence nickte leicht
und wandte ihr Gesicht dem Fenster zu. Vielleicht verbarg sie ein
unterdrücktes Gähnen hinter der weißen Hand, die sie sich vor den Mund
hielt. Ein Plauderstündchen mit Talbot Chichester, obgleich er ihr
Verlobter war, wirkte nicht sehr belebend auf sie.

Cis und Harry kamen am Fenster vorbei; die Hand des jungen Mädchens
ruhte auf dem Arm ihres Verlobten; seine Lippen waren dicht an ihrem
kleinen Ohre, während er ihr Worte zuflüsterte, die niemand anders
verstehen konnte. Florences rote Lippen zuckten eigentümlich bei
dem Gedanken, Chichester könne so gehen, so flüstern -- der Einfall
belustigte sie. Er hatte es nie getan oder zu tun versucht, weder vor
seinem Heiratsantrag noch nachher. Als sie ihm ihr Jawort gab, hatte
sie sich gesagt, daß sein großer Vorzug sei, daß er niemals versucht,
ihr den Hof zu machen. Andere hatten das getan, und sie hatte das
unendlich langweilig gefunden und gleich im Keime erstickt. Talbot
Chichester hatte sich solcher Schwäche niemals schuldig gemacht, und
sie hatte versprochen, ihn zu heiraten.

Cis und Harry gingen wieder vorüber. Herr Chichester saß noch immer
stumm da. Florence schaute in den tiefstehenden Mond; das Schweigen
dauerte fort. Roy, der seine fruchtlosen Bemühungen, einzuschlafen,
aufgab, stand vom Sofa auf und schlenderte auf das Paar am Fenster zu.
Florences Verlobung mit dem ›alten Chichester‹, die er anfangs durchaus
nicht hatte glauben wollen und mit unbändigem Gelächter aufgenommen
hatte, war dem Jüngling noch immer unendlich komisch. Da es ihm jetzt
vorkam, als sähe Florence gelangweilt aus, warf er sich in einen Stuhl
und machte endgültig den Versuch, die Unterhaltung wieder in Gang zu
bringen.

»Wie schauderhaft heiß es ist!« sagte er mit einem Gähnen. »Finden
Sie das nicht auch, Chichester? Ich habe mich von meinem Morgenritt
nach Arborfield noch nicht erholt. Die Sonnenglut auf der Halde war
furchtbar. Du hast auch eine gute Dosis davon bekommen, nicht wahr,
Flo?«

»Ich?« Florence hatte an einer Feder ihres großen gelben Fächers
gezupft und ihn nicht gehört -- ihre Augen schauten noch träumerisch
in die tiefstehende, lichte Mondscheibe, die am dunkelvioletten
Abendhimmel glänzte.

»Ich?« sagte sie, sich besinnend, »wovon sprichst du, Roy?«

»Ich sage, du mußt es auf der Halde heute morgen sehr heiß gefunden
haben, nicht wahr? Wie ging’s dem alten Sherriff? Sie müssen wissen,
Chichester, ich behaupte immer, daß Florence in Sherriff verliebt ist.
Wenn man es sich recht überlegt, so ist es doch eigentlich ein starkes
Stück, daß sie solchem jungen, munteren Hagestolz Besuche macht!
Wundere mich oft darüber, daß er in solch gottverlassenem Neste bleibt
und die liebenswürdige Laune unseres Alten erträgt.«

»Er ist arm, glaube ich,« meinte Chichester gelassen. »Was er von Sir
Jasper erhält, kommt zweifelsohne in Betracht bei ihm.«

»Das ist’s vielleicht. Aber der Pfarrer behauptet, -- die beiden sind
nämlich dicke Freunde, -- daß, wenn Sherriff sich vor Jahren in London
niedergelassen hatte, er sich dort durch seine Schriften längst einen
Namen gemacht haben würde. Ich muß gestehen, ich begreife es nicht,
wie ein Mensch hier in St. Mellions weitervegetieren kann, wenn sich
ihm eine Möglichkeit bietet, fortzukommen.«

»Herr Sherriff ist alt, Roy,« meinte Florence sanft, »und steht ganz
allein in der Welt. Mit seinen Büchern und Blumen ist er hier ebenso
glücklich, glaube ich, wie er anderswo sein würde.«

»Na, er hätte sich wohl längst aus dem Staube gemacht, wenn das nicht
der Fall gewesen wäre,« gab Roy zu. Er gähnte wieder in beängstigender
Weise. »Da wir gerade von Leuten reden, die hier an der Scholle kleben,
fällt mir ein,« fuhr er mit tränenden Augen fort, »wer ist der Mensch
bei Mutter Buckstone?«

»In den Chichester Arms?«

Talbot Chichester stellte diese Frage.

»Ja. Ein ziemlich ansehnlicher Kerl -- sonnverbrannt -- erinnert mich
an jemand, den ich gesehen habe,« fuhr Roy unzusammenhängend fort.
»Gestern sprach ich mit ihm, oder er mit mir -- ich weiß nicht mehr
recht, wie es war -- als ich hinüberritt, um zu sehen, ob mir der alte
Buckstone das Öl für mein Rad besorgt hätte. Er wohnt dort, sagte er.
Wunderlicher Geschmack! Wer es wohl sein mag? Sie wissen es nicht etwa,
Chichester?«

»Ich bekümmere mich allerdings nicht um jeden, der in den Chichester
Arms absteigt.« Der Redende blickte belustigt. »Ich wußte überhaupt
nicht, daß dort jemand wohne. Vermutlich ein auf einer Fußtour
begriffener Londoner.«

Roy schüttelte den Kopf.

»Das glaube ich nicht. Nicht das Genre -- hat nicht den Londoner
Dialekt -- versteht zu viel von Pferden, um ein Großstädter zu sein.
Kommt wohl aus dem Auslande. Wenn ich ihn wiedersehe, will ich ihn mal
danach fragen.«

»Laß das nur! Es ist überflüssig. Was seinen Namen anbetrifft, so heißt
er Everard Leath und kommt aus Australien. Wer er ist, weiß ich nicht,
und was er will, das weiß er hoffentlich selbst.«

»Er hat es dir doch nicht etwa erzählt?«

»Mein lieber Junge, verzeih, das hat er getan.«

»Nun, das ist famos!« Roy riß die Augen noch weiter auf und lachte. »Du
warst immer das wunderlichste Mädchen unter der Sonne. Wo in aller Welt
hast du den Menschen gesehen?«

»Soll ich’s dir sagen?«

Sie setzte sich aufrecht und heftete lächelnd ihre schelmisch
blitzenden Augen auf das verwunderte und fragende Antlitz ihres
Bräutigams. »Ja -- wir sind heute abend alle sehr langweilig, und
deshalb will ich es tun.«

Harry und Cis waren vor dem Fenster stehen geblieben, und sie winkte
ihnen lustig, hereinzukommen. Und vor diesem nicht wenig erstaunten
Publikum erzählte sie harmlos plaudernd ihre Begegnung mit Everard
Leath.

Nach manchen vorwurfsvollen Worten über den Leichtsinn der schönen
Cousine schlenderten Cis und Harry davon, und Roy, noch immer gähnend,
folgte ihnen. Florence blickte den dreien nach, bis sie verschwanden,
und schaute dann mit einem Lächeln zu ihrem Verlobten empor, der aber
keinen freundlichen Blick für sie hatte, denn sein Antlitz war ernst,
fast finster. Sie sah ihn mit immer größer werdenden Augen und fest
aufeinandergepreßten Lippen an und berührte dann leise seinen Arm.

»Was ist denn los?«

»Los?«

»Ja, du siehst auf einmal unheimlich ernst aus. Vielleicht, weil
ich sagte, ich wollte Roy meine Höhle zeigen, und dir nicht anbot,
mitzugehen? Sei nur recht artig, dann sollst du nächstens auch einmal
hin. So!«

In ihren Augen blitzte es wieder schalkhaft auf. Sie sprach, als gelte
es, ein verdrießliches Kind zu beschwichtigen. Die meisten Männer, die
in sie verliebt gewesen, würden sie unwiderstehlich gefunden haben.
Chichester blieb ebenso ernst wie vorher. Er nahm die Hand, mit der sie
ihm den Arm gestreichelt hatte. Dann begann er in seiner gehaltenen
Weise ihr Vorwürfe über ihr unverantwortlich unvorsichtiges Benehmen
gegen den Unbekannten zu machen.

»Du darfst deine eigene Stellung und Würde nicht vergessen,« schloß er.

»Und doch bin ich so stolz, wie es kein Mensch ahnt,« meinte das junge
Mädchen sinnend, als spräche sie zu sich selbst. Sie blickte ihn wieder
an.

»Du magst recht haben,« fuhr sie dann fort. »Ich vergesse meine Würde
wohl mitunter. Weißt du, es ist mir gar nicht eingefallen, daß die
einzig richtige Handlungsweise gewesen wäre, den Menschen naß werden
zu lassen. Welch ein Glück, daß du so etwas nie tun könntest.«

Herr Chichester ging jeglicher Sinn für Humor ab -- er war so unendlich
mit sich selbst zufrieden. Er lächelte und ließ ihre Hand los.

Florence verbarg ein Lächeln, als sie sich nach dem Fenster wandte.

Nach wenigen Minuten hatte Chichester Turret Court verlassen. Florence
stand allein am Fenster und blickte in den Mond, wie sie vorher getan
hatte, als Cis zärtlich den Arm um sie legte.

»Fehlt dir etwas, Florence? Du -- du siehst so ernst aus, mein Herz!«

»So?«

Liebkosend fuhr Florence mit der Hand über Cis’ goldblondes Haar. »Ich
sann wohl über mein unschickliches Benehmen nach.«

»O,« meinte Cis verständnisvoll, »du meinst gegen jenen Menschen in der
Höhle! Nun, ich muß sagen, daß es ziemlich leichtsinnig von dir war,
Liebste, aber natürlich hast du es nicht überlegt. Das habe ich auch
zu Harry gesagt. Es ist schade, daß du in Chichesters Gegenwart davon
gesprochen hast. Ich glaube, die Sache gefiel ihm nicht.«

»Ganz und gar nicht. Das sagte er mir.«

Cis blickte in das schöne, gedankenvolle Antlitz, dessen gewöhnlich
strahlender Ausdruck einem nachdenklichen Ernst gewichen war, und nahm
plötzlich all ihren Mut zusammen.

»Florence, werde nicht böse, aber ich habe dich schon so oft etwas
fragen wollen. Ich kann es gar nicht begreifen -- er ist so ernst
und steif und kalt -- in jeder Beziehung so verschieden von dir -- es
wundert mich, weshalb du Herrn Chichester dein Jawort gegeben.«

»Mich auch,« gab Florence zerstreut zurück, »mich auch!«

Diese Antwort hatte Cis jedenfalls nicht erwartet. Sie blickte sich
halb entsetzt, halb bestürzt um. Sie antwortete nicht, da sie bange
war, näher auf das Thema einzugehen, sah aber die Cousine im Mondschein
ungewiß von der Seite an. Als sie wieder sprach, war es in anderem Tone.

»Florence!«

»Nun, mein Schatz?«

»Wie ist dieser Herr Leath? Alt?«

»Alt? Nein. Ungefähr dreißig sollte ich denken.«

»O, ganz jung! Und hübsch?«

»Nein -- und häßlich auch nicht. Ganz gewöhnlich.«

»Und ist er nett, Florence?«

»Wer?«

»Nun, Herr Leath!«

»Nett? Nein -- unausstehlich!« sagte Florence schroff. »Ich bin
schrecklich müde und muß zu Bette gehen. Gute Nacht, mein Herz!«



5.


Unter der schattigen Veranda des Bungalow, wo Gräfin Florence gesessen
und mit dem freundlichen alten Hausherrn geplaudert hatte, standen
wieder die beiden bequemen Korbstühle; Herr Sherriff saß in dem
einen, Everard Leath in dem anderen. Die Blumenbeete draußen lagen im
hellen Morgensonnenschein. Leath war vor einer halben Stunde zu einem
Plauderstündchen gekommen. Obgleich er noch nicht vierzehn Tage in St.
Mellions weilte, war die Zuneigung des Alten, von der er zu Florence
gesprochen, täglich gewachsen. Er hatte ihm gerade gesagt, wie große
Freude ihm, dem einsamen Manne, der Verkehr mit Leath gewähre, da er
außer dem Pfarrer kaum je einen Besuch hatte, obwohl ihm die guten
Leute ringsum, denen er manchen kleinen Dienst hatte erzeigen können,
alle freundlich gewogen seien.

»Sie sehen aber doch Gräfin Esmond mitunter?«

»Gräfin Florence? Das ist wahr. Im Augenblick war ich undankbar genug,
sie fast zu vergessen. Sie kommt öfter, als man es in Turret Court gern
sieht, glaube ich. Aber seit der Zeit, daß sie kurze Kleider trug, hat
sie mich liebgehabt, und was mich anbetrifft, so könnte ich kaum mehr
von ihr halten, wenn sie meine Tochter wäre.«

»Sie ist eine Waise, wenn ich recht verstanden habe?«

»Ja -- sie verlor beide Eltern, als sie ein Kind war.«

»Und Sir Jasper Mortlake ist ihr Vormund?«

»Nur einer ihrer Vormünder. Er teilt sich in die Vormundschaft mit
ihrer Patin, der verwitweten Herzogin von Dunbar.«

»O, eine Herzogin!« Leath lachte und pfiff vor sich hin. »Gewöhnlich
genügt doch ein Vormund, mein’ ich -- weshalb sind hier denn zwei?«

»Das kann ich wirklich nicht sagen. Aber bei dem großen Vermögen, das
ihr eines Tages gehören wird, hielt ihr Vater es wahrscheinlich für --«

»Vermögen?« fiel ihm Leath in verwundertem Tone ins Wort. Er lachte
wieder. »Wie viele andere Leute, habe auch ich bisher irische
Grafenkronen für gleichbedeutend mit dem Bankerott gehalten. War der
verstorbene Graf denn eine Ausnahme?«

»Durchaus nicht, er war sehr arm. Gräfin Florence wird ihr großes
Vermögen ihrer Mutter verdanken, die eine amerikanische Erbin war.«

»Ich verstehe, Sie sagen ›wird verdanken‹. Ist sie denn noch nicht
mündig?«

»Schon seit einem Jahre. Aber sie gelangt nicht in den Besitz
ihres Vermögens, ehe sie dreißig Jahre zählt, es sei denn, -- was
wahrscheinlich der Fall sein wird, -- daß sie sich in der Zwischenzeit
verheiratet.«

»Jedenfalls wird es der Fall sein. Dann fällt es also ihr zu?«

»Es fällt ihr zu, wenn sie mit Einwilligung eines oder ihrer beiden
Vormünder heiratet; schließt sie eine Ehe ohne diese Einwilligung, so
fällt das ganze an verschiedene milde Stiftungen.«

»Das ist ein wunderlicher Vorbehalt!« Leath zog die Stirn in Falten.
»Wie mag das gekommen sein?«

»Ich weiß das nicht recht,« antwortete Sherriff zögernd. »Es ist
seltsam, wie Sie sagen. Die einzige Erklärung, die ich dafür habe
finden können, ist die, daß ihre Mutter wahrscheinlich nicht allzu
glücklich in ihrer Ehe war. Es war ein offenes Geheimnis, daß der Graf
seine Frau nur ihres Geldes wegen geheiratet hatte.«

»Und die letztwillige Verfügung der Gräfin sollte ihre Tochter
wahrscheinlich vor einer ähnlichen Erfahrung bewahren,« bemerkte Leath
nachdenklich.

»Vermutlich. Weder Sir Jasper noch die alte Herzogin würden zugeben,
daß das Mädchen eine unüberlegte Heirat mit einem Glücksjäger einginge.
Sollte sie bis zu ihrem dreißigsten Jahre unverehelicht bleiben,
so mag die Gräfin sie wohl für alt genug gehalten haben, um ihre
Interessen ohne Beistand wahren zu können. Es wundert Sie wohl, daß
nur die Zustimmung eines Vormundes notwendig ist? Ich machte dieselbe
Bemerkung, als Gräfin Florence, von der ich das Ganze weiß, mir die
Sache erzählte. Sie lachte und sagte, daß die Herzogin und Sir Jasper
niemals einer Ansicht wären und selten zusammenkämen, ohne sich zu
zanken, und daß, wenn sie nicht heiraten sollte, ehe sie sich über den
Bräutigam geeinigt hätten, wenig Aussicht dafür vorhanden sei, daß sie
in den nächsten Jahren unter die Haube kommen würde.«

Sherriff, der gewöhnlich nicht so beredt war, griff jetzt wieder nach
seiner Pfeife und begann sie aufs neue zu füllen.

»Sie ist wohl noch nicht verlobt?«

»Gräfin Florence? Nein -- meines Wissens nicht. Und wenn ich sage,
meines Wissens nicht, so heißt das, überhaupt nicht,« meinte der alte
Herr lächelnd, »denn andernfalls würde sie es mir anvertraut haben,
davon bin ich überzeugt. Nein -- verlobt ist sie nicht. Ich muß
gestehen, daß mich das aufrichtig freut; in dieser Gegend wenigstens
kenne ich niemand, als dessen Frau ich sie sehen möchte. Wenn mich
nicht alles trügt, so hat sie ein Herz, das heiß und innig lieben kann,
und dieses Herzens sind nur wenige Männer wert.«

»Sie hat es wohl nicht eilig damit?« fragte Leath langsam.

»Mit dem Heiraten? Nein -- ich glaube nicht. Im Gegenteil. Auch Sir
Jasper nicht. Sie verbringt fast das ganze Jahr in Turret Court -- sie
hängt sehr an Lady Agathe und Fräulein Mortlake, und ihre Heirat würde
eine Mindereinnahme von tausend Pfund Sterling jährlich für Jasper
bedeuten. Und ich bin, wie Sie wohl schon wissen, eine Art Verwalter
des Gutes -- ich weiß, daß ihm der Verlust nicht angenehm sein würde.
Die Mortlakes sind nicht allzu wohlhabend.«

»Es hat mich gewundert,« hub Leath stockend an, »daß Sie Lust zu dem
Posten haben. Nach dem, was ich mir aus den Reden der guten Leute
hier zusammengereimt habe, scheint es mir nicht leicht, mit Sir Jasper
auszukommen.«

»Nun,« antwortete der alte Mann mit großer Milde, während er seine
Pfeife schmauchte, »das mag im allgemeinen schon so sein. Sir Jasper
ist sehr rechthaberisch und oft sehr schlechter Laune, aber mein Gehalt
bildet einen willkommenen Zuschuß zu meinem geringen Einkommen. Und
ich habe wirklich kein Recht, mich über Sir Jasper zu beklagen. Er
behandelt mich auf alle Fälle ebenso gut, wenn nicht besser als andere.«

»Ich fürchte, das sagt nicht viel.«

Leath blickte mit einem halb zornigen Lächeln in das schöne alte
Antlitz, das so sanft und gelassen war. »Nach allem, was ich über ihn
hörte, befremdet es mich, daß ein Mann mit Ihren Fähigkeiten sich in
eine untergeordnete Stellung einem solchen Menschen gegenüber begeben
konnte. Sie nehmen mir meine Offenherzigkeit doch nicht übel?«

»Nein, nein,« sagte der andere hastig mit wehmütigem Lächeln und
blickte in den Garten hinaus; die Hand, die die Pfeife hielt, zitterte
auf seinem Knie. Dann erzählte er mit leiser Stimme, daß er vor langen
Jahren -- mehr als dreißig -- einen bitteren Kummer gehabt, der sein
ganzes Leben verdüstert, der allen Ehrgeiz, alles Streben in ihm
ertödet, der ihn vor der Zeit alt gemacht habe.

»Hier, fern von der Welt, im stillen Kreislauf meiner Pflichten,
in meinem Garten bei meinen Büchern bin ich so glücklich, wie ich
überhaupt je wieder werden kann. Doch genug davon, und genug von mir.
Lassen Sie’s gut sein,« schloß er.

Er legte die Hand über die Augen und saß ein Weilchen so da. Leath, in
dessen Gesicht ein ungewohnter sanfter, weicher Ausdruck getreten war,
blickte rücksichtsvoll von ihm fort auf den Rasen hinaus. Als Sherriff
wieder zu sprechen anhub, war es mit seiner gewohnten Ruhe und in einem
anderen Tone.

»Es freut mich, daß wir zufällig auf Sir Jasper zu reden kamen,« sagte
er, »denn dabei fällt mir ein, was ich sonst vergessen härte, -- daß
ich ihm einen Brief schicken muß, und zwar so bald wie möglich. Joe muß
sogleich damit fort.«

Leath erhob sich, um Joe herbeizurufen, aber es stellte sich heraus,
daß dieser mit einem Auftrage nach Lychet Hook geschickt worden, und
zwar von dem Hausherrn selbst, was diesem ganz entfallen. Er erklärte
nun, den Brief selbst nach Turret Court bringen zu müssen, aber Leath
legte ihm die Hand auf die Schulter, drückte ihn sanft in seinen Stuhl
zurück und erbot sich, nach Turret Court zu gehen, das er sich schon
längst gern einmal habe ansehen wollen, solange er in der Gegend bleibe.

Sherriff, der recht gut wußte, daß ihm die Hitze auf der Halde zu
viel werden würde, erhob nur eine schwache Einsprache, die Leath mit
einem Kopfnicken abwehrte, den Briefumschlag in die Tasche schob und
ins Haus ging, um seinen Hut zu holen. Als er im nächsten Augenblick
zurückkehrte, sah er, daß der alte Herr aufgestanden war und mit
bekümmertem Ausdruck auf seine bunten Blumenbeete schaute. Auf seinen
unwillkürlich fragenden Blick wandte Sherriff sich um und legte ihm
die Hand auf die Schulter. Beide waren hochgewachsene Männer, und ihre
Augen befanden sich ungefähr in derselben Höhe.

»Wir kennen uns noch nicht lange, Leath, aber ich glaube, ich sage
nicht zuviel, wenn ich behaupte, daß ich Sie sehr liebgewonnen habe.
Sie sprachen eben davon, daß Sie sich Turret Court gern einmal
ansehen wollten, solange Sie hier in der Gegend wären. Ich hoffe, das
soll nicht heißen, daß Sie daran denken, St. Mellions zu verlassen?
Wenigstens jetzt noch nicht?«

»Ich weiß nicht. Ich bin noch zu keinem Entschlusse gelangt. Ich bin
entmutigt -- ich kann noch nicht sagen, was ich tun werde -- was das
beste sein würde.«

Erst nach einer sonderbar langen Pause gab er diese Antwort, mit einer
seltsamen festen Entschiedenheit, so abgebrochen und ohne Zusammenhang
die kurzen Sätze auch hervorgestoßen wurden. Sherriff sah bestürzt aus,
sagte aber nichts. Leath, der sein Zartgefühl, das keine Frage stellte,
verstand, fuhr langsam fort, als wäge er jeden Satz sorgfältig, ehe er
ihn aussprach:

»Ich bin hierhergekommen, um, wie ich versprochen und seit meinen
Knabenjahren beabsichtigt habe, eine bestimmte Angelegenheit zu
erledigen. Sie dürfen es mir nicht übelnehmen, wenn ich Ihnen nichts
Näheres darüber sage. Mein Entschluß, es zu tun, steht unwiderruflich
fest, und doch bin ich schwach genug, mich fast entmutigt zu fühlen,
weil ich bisher keinen Zoll breit weitergekommen bin: ich hätte, wie es
scheint, ebensogut in Australien bleiben können, wie hierherzukommen,
und doch ist dieser Ort -- St. Mellions -- der einzige Ausgangspunkt
für meine Nachforschungen, den ich kenne. Heute morgen, als ich die
Sache überdachte, hielt ich es fast für verständiger, anderswo nach
einer Spur zu suchen, die mich vielleicht hierher zurückführen würde.
Ich bin noch unentschlossen, ob ich gehen oder bleiben werde. Aber ich
glaube, ich werde gehen.«

»Das tut mir leid zu hören.«

Sherriff mit seinem angeborenen Takte nahm das, was ihm gesagt worden,
hin, ohne eine Frage zu stellen.

»Ob Sie nun bleiben oder gehen,« sprach er ruhig, »hoffentlich werden
Sie nicht vergessen, daß es jedenfalls einen Fleck Erde gibt, wo ein
Freund und ein herzliches Willkommen stets Ihrer warten.«

»Das werde ich nicht vergessen.« Seine kraftvolle Rechte umschloß fest
die zarte Hand des Alten. »Außer Ihnen kenne ich niemand auf der Welt,
den ich kenne, der mir eine Freundeshand entgegenstrecken würde, außer
Ihrem Dach keines, das mir ein Obdach gewähren würde, ohne daß ich
dafür bezahlte.«

       *       *       *       *       *

Der Weg über die Halde von St. Mellions nach Turret Court war lang,
und in der Glut der Junisonne war es ein sehr heißer Weg, aber Leath,
der an sehr viel heißere und längere Märsche gewohnt war, legte ihn
schnell und leicht zurück.

Am großen Einfahrtstor angekommen, blieb er zögernd stehen und schritt
dann auf eine nur angeklinkte Pforte in der hohen roten Mauer zu,
durch die er eintrat und gemächlich den Weg nach dem Hause einschlug.
Ehe er hundert Meter zurückgelegt hatte, blieb er stehen. In geringer
Entfernung von ihm, mit verschlungenen Armen, nach junger Mädchen Art,
in lebhaftem Geplauder, schlenderten zwei Damen dahin; in der einen
erkannte er sofort die junge Gräfin, während er die andere für Fräulein
Mortlake hielt. Als er stehen blieb, drehte die erstere zufällig den
Kopf seitwärts und erkannte ihn ebenso schnell, wie er sie erkannt
hatte. Der Ausruf des Staunens, der ihr entfuhr, so leise er auch war,
veranlaßte Cis, sich ebenfalls umzuwenden.

»Wer ist das, Florence?« fragte sie verwundert.

»Jener Mensch.«

»Welcher Mensch?«

»Leath.«

»O!« Cis blickte sich wieder um. »O, das ist er also?« sagte sie mit
Interesse. »Was mag er nur wollen?«

»Das kann uns kaum interessieren. Laß uns nicht stehenbleiben, mein
Herz! Wir tun, als hätten wir ihn nicht gesehen!«

»Warum denn?« widersetzte sich Cis. »Er sieht sehr nett aus, finde
ich,« flüsterte sie, »und ich bin davon überzeugt, daß er weiß, --
wissen muß, -- daß wir ihn gesehen haben. Sei so gut, Florence, und
stelle ihn mir vor. Da kommt er. Jetzt mußt du mich ihm vorstellen!«

Leath schritt nach kurzem Zögern auf die Damen zu und nahm vor Florence
den Hut ab.

»Guten Morgen, Gräfin! Ich hoffe, Ihnen nicht als Eindringling zu
erscheinen, aber ich bin von Herrn Sherriff beauftragt, Sir Jasper
einen Brief zu überbringen.«

»Von Herrn Sherriff?« Florence wurde bei Erwähnung ihres alten Freundes
milder gestimmt und entschied sich jetzt dafür, liebenswürdig zu sein.
»Das ist ein ausreichender Empfehlungsbrief für den Park,« meinte sie
lächelnd. »Darf ich Sie meiner Cousine, Fräulein Mortlake, vorstellen?
Liebe Cis, du erinnerst dich wohl noch, wie ich neulich dazu gekommen
bin, Herrn Leaths Bekanntschaft zu machen?«

»Gewiß erinnere ich mich dessen.«

Cis verbeugte sich mit ihrem reizendsten Lächeln. Leath war nicht
hübsch, wie Harry, der ihr Schönheitsideal war, er sah etwas zu streng
und zu ernst aus, aber sie konnte nichts ›Unausstehliches‹ an ihm
wahrnehmen und wunderte sich, weshalb Florence ihn so bezeichnet hatte.

»Ich habe gelacht, als ich davon hörte, Herr Leath,« sagte sie munter.
»Wissen Sie wohl, daß Sie sich geehrt fühlen sollten? Ich glaube, Sie
sind der erste Herr, der jemals Florences Felsenkammer hat betreten
dürfen.«

Florence empfand eine leise Regung der Ungeduld. Sie ärgerte sich
fast über Cis. Das allerliebste, muntere, freimütige Benehmen, das sie
immer geliebt und bewundert hatte, verdroß sie zum ersten Male. Es
entsprach durchaus nicht dem Benehmen, das sie Everard Leath gegenüber
für wünschenswert hielt. Sie warf einen mahnenden Blick auf das lustige
Gesichtchen und sprach, während sie den kastanienbraunen Kopf hochmütig
hob:

»Sie sagten, Sie hätten einen Brief für Sir Jasper, Herr Leath?
Erwarten Sie eine Antwort, oder soll ich ihn Ihnen abnehmen?«

Sie blieb stehen und machte eine Bewegung, als wolle sie die Hand
ausstrecken. Sie erwartete augenscheinlich die Aushändigung des
Briefes. Leath aber machte keine Anstalt, ihn hervorzuziehen.

»Sie sind sehr gütig, Gräfin, aber ich brauche Sie nicht zu bemühen.
Als ich mich erbot, das Billett zu besorgen, bat Herr Sherriff mich,
Sir Jasper selbst aufzusuchen und eine Antwort von ihm zurückzubringen.«

»So! Dann lassen Sie sich, bitte, durchaus nicht aufhalten! Wenn Sie
sich rechts wenden, so erreichen Sie das Haus auf dem kürzesten Wege.«

Leath verbeugte sich; er war nicht aus der Fassung zu bringen. Cis
kniff ihrer Cousine in den Arm und warf ihr einen vorwurfsvollen
Blick zu. Was nützte es, sich einen Herrn vorstellen zu lassen, wenn
er im nächsten Augenblicke seiner Wege geschickt wurde? Was konnte
Florence nur so plötzlich verstimmt haben? Sie hätte vielleicht
Einspruch erhoben, denn sie war in ihrer kindlichen Art voll lustiger
Ausgelassenheit, wäre nicht eine plötzliche und ganz unvorhergesehene
Unterbrechung eingetreten. Ein Schritt ertönte auf einem der Pfade
in der Nähe, und Sir Jasper in höchsteigener Person erschien auf der
Bildfläche.



6.


Cis wich einen Schritt zurück und warf Florence unwillkürlich einen
Blick schreckensvoller Bestürzung zu. Sir Jaspers Gegenwart schüchterte
seine Tochter fast ebenso ein wie seine Frau. Wie würde er den Fremden
empfangen, den er, stehenbleibend, eine leichte Wolke auf dem schönen,
ruhigen Gesicht, gemustert hatte -- liebenswürdig, steif und förmlich
oder ungezogen? Es kam ganz und gar auf die Stimmung an.

Wäre es Cis überlassen geblieben, die nötigen erklärenden Worte zu
sprechen, so würde sie sich wohl sehr schlecht aus der Sache gezogen
haben. Aber Florence übernahm das, als verstünde es sich ganz von
selbst, und tat es mit großer Gewandtheit.

»Wir wollten dich gerade aufsuchen, Onkel Jasper,« sagte sie lächelnd.
»Du ersparst uns den Weg nach dem Hause. Du hast mich von Herrn Leath
reden hören, glaube ich? Wir trafen uns vorige Woche im Bungalow. Er
ist so freundlich, dir einen Brief von Herrn Sherriff zu überbringen.«

»So?« fragte Sir Jasper. Noch immer war seine Stirn leicht gerunzelt,
aber er blickte Leath an, und sein Ausdruck hellte sich auf.

»Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Gestatten Sie mir,
Ihnen den Brief abzunehmen, dessen Besorgung Sie so freundlich
übernommen haben,« sprach er.

Leath überreichte ihm mit einer Verbeugung das Schreiben, das der
Baron mit einem Wort der Entschuldigung erbrach, las und in die Tasche
steckte; dann fragte er den jungen Mann, ob er ihn damit behelligen
dürfe, Herrn Sherriff eine Antwort mitzunehmen, was dieser freundlich
bejahte.

»Vielen Dank -- ich bin Ihnen sehr verbunden. Aber mittlerweile ist die
Zeit des zweiten Frühstücks gekommen, und ich hoffe, Sie erzeigen mir
die Ehre, es mit uns einzunehmen. Es wird mir eine Freude sein, Sie
meiner Frau vorzustellen.«

Leath nahm dankend an.

Cis riß hinter dem Rücken ihres Vaters ihre blauen Augen auf, so weit
sie nur konnte, und kniff ihrer Cousine heftig in den Arm -- beides
sollte ihre grenzenlose Überraschung ausdrücken. Was war nur über Sir
Jasper gekommen, daß er sich so liebenswürdig zeigte wie noch nie?
dachte seine Tochter.

Florence, die den Blick durch ein drolliges Emporziehen der Augenbrauen
beantwortete, behielt ihre eigene Verwunderung -- nicht über Sir
Jaspers Freundlichkeit, sondern über die Gelassenheit und Gewandtheit,
mit der Leath die Einladung aufnahm -- für sich. Er hatte keine Spur
der Befangenheit und Verlegenheit verraten, die er ihr gegenüber
anfangs im Bungalow gezeigt. Sie ging Arm in Arm mit Cis weiter, eine
Regung des Interesses und der Belustigung empfindend, sehr ernst und
schweigsam, -- etwas äußerst Seltenes bei Gräfin Florence.

Aber wenn sie auch mit ihrer gewandten irischen Zunge nicht plauderte,
so gebrauchte sie doch ihre großen, glänzenden irischen Augen und
wunderte sich, auf einmal das ungewohnte Lächeln aus dem Antlitz ihres
Vormundes entschwinden, seine Stirn sich furchen, seine Lippen sich
fest aufeinanderpressen und seine Augen verstohlene Seitenblicke auf
seinen Gefährten werfen zu sehen. War seine liebenswürdige Anwandlung
schon vorüber? Es sah fast so aus. Oder hatte ihn etwas geärgert?
So sah es noch mehr aus. Und dennoch, was konnte das gewesen sein?
Weder sie noch Cis hatten gesprochen, und Leath hatte nur Sir Jaspers
Fragen über die mutmaßliche Dauer seines Aufenthaltes in St. Mellions
und Ähnliches beantwortet, und doch sah er ihn mit dem sonderbaren,
zornigen, verstohlenen Blicke an. Und auch schweigsam war er geworden.
Als er gleich darauf wieder zu sprechen anhub, wandte er hastig die
Augen ab; sie fand, daß seine Stimme nie so scharf geklungen wie jetzt.

»Habe ich recht verstanden -- Sie kommen aus Australien, Herr Leath?«

»Ja, Sir Jasper. Vor acht Wochen habe ich mich eingeschifft.«

»Darf ich fragen, wo?«

»In Sydney. Aber ich habe in Queensland gelebt.«

»Ihr ganzes Leben lang?«

»Ja.«

»Sie sind früher noch nie in England gewesen?«

»Niemals.«

»Haben Sie die Absicht, sich in England niederzulassen?«

»Augenblicklich habe ich noch keinen bestimmten Entschluß gefaßt. Aber
mich fesselt nichts an Australien, und es ist möglich, daß ich es tue.«

»Nichts? Sie wollen damit sagen, daß Sie keine Eltern haben?«

»Ja. Ich habe weder Vater noch Mutter. Während der letzten acht Jahre
-- seitdem ich zweiundzwanzig Jahre alt bin -- habe ich ganz allein in
der Welt gestanden.«

»Sie haben keine Verwandten in England?«

»Ich habe sie, soweit ich sie kenne, in keinem Lande der Welt.«

Die Fragen waren in einem herrischen, brüsken Ton gestellt worden,
der beinahe ungezogen war; aber Leath hatte mit unverwüstlicher
Gelassenheit bereitwillig und deutlich geantwortet, während er ernst
vor sich hinblickte. Sie langten am Hause an. Sir Jasper hatte sein
Schweigen nicht wieder gebrochen, noch Leath wieder angeblickt.

Lady Agathe, der so plötzlich zugemutet wurde, die liebenswürdige
Wirtin einem jungen Manne gegenüber zu spielen, von dem sie außer
der Geschichte mit Florences Höhle nie etwas gehört hatte, war
freundlich und würde noch freundlicher gewesen sein, wäre sie über die
Empfindungen ihres Mannes im klaren gewesen. Chichester, der in Turret
Court frühstückte, wie er seit seiner Verlobung oft getan hatte, war
von angemessener Höflichkeit. Bei Tische saß er natürlich neben seiner
Braut, und Cis -- ganz und gar nicht gegen ihren Willen, denn in Harrys
Abwesenheit war ihr fast jeder Mann lieber als keiner -- fiel das
Amt zu, den Fremden zu unterhalten. Sie, Jasper und seine Frau saßen
einander gegenüber, und Roys Stuhl blieb leer -- er war nach Market
Beverley geritten.

Aber mit dem besten Willen fand Cis ihre Aufgabe nicht leicht. Es
mochte daran liegen, daß ihr Nachbar nicht auf ihre Fragen einging,
oder daß die allgemeine Atmosphäre etwas Bedrückendes hatte. Außer
ihr machte allerdings keiner irgendwelche Anstrengungen, ein Gespräch
in Gang zu bringen. Florences sonst so beredte Zunge hatte wenig zu
sagen. Sie blickte verwundert und fragend zu ihrem Vormund hinüber; sie
antwortete ihrem Verlobten, aber mehr tat sie nicht und wandte sich
nicht ein einziges Mal direkt an Everard Leath.

»Es ist zu abscheulich von Florence,« dachte Cis und warf vorwurfsvolle
Blicke über den Tisch. Weshalb sprach sie nicht -- sie, die immer
jedermann amüsieren konnte, wenn sie wollte? -- Die Pause, die nach
ihrer letzten Bemerkung und Leaths Antwort eingetreten war, hatte schon
beklemmend lange gedauert. Veranlaßt durch die Richtung, die die Blicke
ihres Gefährten nahmen, fragte sie schließlich:

»Sie haben Herrn Chichester doch schon getroffen, glaube ich, Herr
Leath?«

»Nein -- aber ich habe von ihm gehört. Ihm gehören die Chichester Arms,
nicht wahr?«

»Freilich, ihm gehört ein großer Teil von St. Mellions -- mehr als
uns,« sprach Cis. »Sein Besitz Highmount ist wirklich wundervoll.
Manche finden ihn schöner als Turret Court, aber die Ansicht teile ich
nicht. Haben Sie den Park und das Schloß schon gesehen?«

»Nur von der Chaussee aus.«

Leath blickte wieder über den Tisch hinüber. Chichester sprach gerade
mit Florence, die zu ihm aufschaute.

»Herr Chichester ist nicht verheiratet, nicht wahr?«

»Gewiß nicht! Wissen Sie denn nicht --« Cis brach ab, dunkelrot im
Gesicht, und verriet, was sie angefangen auszusprechen, so unbeholfen
durch ihr schuldbewußtes Aussehen, daß er sie sofort verstand. Einen
Augenblick zog sich seine Stirn in Falten, dann sprach er mit einer
kühnen Gelassenheit, die seine Gefährtin verblüffend fand, wenn sie
auch erleichtert aufatmete:

»Das wußte ich allerdings nicht, Fräulein Mortlake. Verzeihen Sie mir
die Frage -- ist Gräfin Esmonds Verlobung augenblicklich noch ein
Geheimnis?«

»Nein, nein!« sagte Cis hastig, »das nicht! Nichts der Art! Wir alle
wissen es, aber sie soll noch nicht veröffentlicht werden, ehe die
Herzogin -- die Patin meiner Cousine und ihr zweiter Vormund -- davon
in Kenntnis gesetzt ist und ihre Einwilligung gegeben hat.«

»Soll Gräfin Florences Verlobung auch vor Herrn Sherriff geheimgehalten
werden?«

»Vor Herrn Sherriff? Hat sie es ihm nicht erzählt? Sie hält so
viel von ihm, daß ich glaubte, er sei einer der ersten, dem sie es
mitgeteilt. Sind Sie sicher, daß er es nicht weiß?«

»Ganz sicher.«

»Das ist sonderbar!« Cis zog die Stirn kraus. »Das sieht ihr gar nicht
ähnlich! Bitte, erwähnen Sie lieber nichts davon gegen ihn, Herr Leath
-- es könnte ihr unangenehm sein. Die Sache mag wohl so zusammenhängen,
daß sie glaubt, daß Herr Sherriff sich nicht darüber freuen würde. Und
das glaub’ ich auch. Sehen Sie, Herr Sherriff hat sie so lieb, daß er
keinen für gut genug für sie hält.«

Leath verneigte sich ernst. Noch einmal wieder richteten sich seine
Augen quer über den Tisch hinüber auf das ruhige, schöne Gesicht
des Mannes, das sich ein wenig zu dem kastanienbraunen Mädchenkopfe
hinabbeugte, -- nur ein wenig mit artiger Höflichkeit, -- nicht mehr
vielleicht, als er sich eben zu Cis hinuntergebeugt hatte. Der ihr
Bräutigam? Er sah aus, als wäre er schon seit zehn Jahren ihr Gatte, so
gleichgültig war er.

Cis empfand das Schweigen aufs neue als unbehaglich, und nachdem sie
abermals ohne Erfolg zu ihrer Cousine hinübertelegraphiert hatte,
begann sie einige Fragen über Australien zu stellen, an die sie, durch
eine Antwort ermutigt, weitere anreihte, so daß endlich ein Gespräch
zwischen ihr und ihrem Tischnachbar in Gang kam, und was er ihr
erzählte, war wirklich amüsant und neu für sie.

»Ich glaube, ich selbst möchte gern einmal nach Australien,« meinte
sie. »Man macht sich erst eine Vorstellung von einem Orte, wenn jemand
redet, der dort gewesen ist, und der einzige außer Ihnen, den ich
kenne, ist Lord Carmichael, und der spricht nie davon.«

»Lord Carmichael?« Leath blickte schnell auf. »Darf ich fragen, wer das
ist, Fräulein Mortlake?«

»Wie dumm von mir, -- ich dachte, das wüßten Sie! Es ist Harrys
-- Herrn Wentworths Vater.« Sie errötete leicht, als ihr der Name
entschlüpfte und sie sich hastig verbesserte, aber sie hatte aus einer
seiner Äußerungen entnommen, daß ihr Tischnachbar um ihre Verlobung
wisse.

»Er ist einmal in Australien gewesen, aber es kann ihm dort nicht sehr
gefallen haben, denn er spricht, wie gesagt, nie davon. Ich hatte in
der Tat keine Ahnung davon, bis Har-- Herr Wentworth es mir erzählte.«

»Wann war er drüben? Kürzlich?« fragte Leath rasch.

»Ach nein! Vor vielen Jahren. Ehe er verheiratet war.«

»Vor dreißig Jahren vielleicht?« fragte Leath wieder und blickte sie
unverwandt an.

»Ja -- das mag schon sein! Sein Sohn ist fünfundzwanzig, also muß es
ungefähr so lange her sein.«

Lady Agathe machte ihrer Tochter und ihrer Nichte das übliche Zeichen
und stand auf. Es blieb keine Zeit zu einer Antwort.

Leath verabschiedete sich sofort, da die Antwort für Herrn Sherriff ihm
schon gegeben worden. Seine Wirtin entließ ihn mit einem Händedruck und
einem freundlichen Worte; der Hausherr machte ihm die kälteste und
förmlichste Verbeugung.

Was war aus Sir Jaspers überraschender Herzlichkeit geworden? Cis
blickte wieder mit drolligem Ausdruck zu ihrer Cousine empor, als die
beiden Mädchen zusammen am Fenster standen. Lady Agathe hatte mit
Chichester, den eine Verabredung mit seinem Verwalter nach Highmount
zurückrief, das Zimmer verlassen, und der Baron saß stumm und
regungslos vor sich hinbrütend an seinem Platze.

»Nun, ich muß gestehen, ich weiß nicht, weshalb du ihn unausstehlich
nennst, Florence,« gähnte Cis, »ich muß freilich zugeben, daß es nicht
leicht ist, sich mit ihm zu unterhalten, und du wolltest mir nicht
helfen, obgleich ich dich absichtlich immer anblickte. Es war zu
schlecht von dir.«

»Unsere Aufgaben waren geteilt,« gab Florence trocken zurück.
»Chichesters Unterhaltungsgabe war auch nicht gerade glänzend.«

»Apropos, Florence, ich finde, du hättest Herrn Sherriff deine
Verlobung mitteilen müssen. Er hält so viel von dir!«

»Herrn Sherriff? Woher weißt du, daß ich das nicht getan habe?« fragte
Florence rasch.

»Herr Leath sagte es mir, liebes Herz. Es entschlüpfte mir ihm
gegenüber, daß du verlobt seiest. Er sagte, er wisse bestimmt, daß Herr
Sherriff nichts davon wüßte.«

»Was vermutlich heißt, daß sie über mich gesprochen. Das sieht der
Unverschämtheit des einen von ihnen wenigstens ganz ähnlich.«

Florence trommelte ungeduldig auf der Fensterscheibe, dann lachte sie.
»Bah,« sagte sie dann in leichtem Tone, »es tut nichts, liebste Cis,
daß du es Herrn Leath gesagt hast; er kann meinetwegen Herrn Sherriff
gern aufklären, meinetwegen kann jedermann es erfahren.«

Sie trommelte weiter, mit zusammengezogener Stirn. »Cis!«

»Ja, Liebste?«

»Ist es dir nicht aufgefallen, daß er jemand furchtbar ähnlich sieht?«

»Herr Leath? Nein -- ich habe keine Ähnlichkeit gesehen.«

»Ich aber --« sagte Florence langsam, als suche sie sich zu
vergegenwärtigen, in welchem Zuge die Ähnlichkeit läge, »ich sehe es
immer; schon am Tage des Gewitters fiel es mir auf, Cis, und ich habe
seitdem immer darüber nachgedacht. Wem von meinen Bekannten er ähnlich
sieht, und worin die Ähnlichkeit liegt, weiß ich nicht, aber ich weiß,
daß sie da ist.«

»Was sagst du da?«

Cis stieß einen leisen Schrei aus. Sie war an ihres Vaters scharfe,
herrische Stimme gewöhnt, nicht an die Wut, die jetzt aus seiner
Stimme klang. Er hatte sich erhoben und stand vornübergebeugt da, die
gespreizten Hände schwer auf den Tisch gestützt. Sein blasses, zorniges
Gesicht paßte zu seiner Stimme.

Florence, die seine Schroffheit übelnahm, antwortete mit hochmütiger
Gelassenheit:

»Ich war es, Onkel Jasper, die sprach. Ich sagte, daß Herr Leath
irgend jemand außerordentlich ähnlich sähe, und es will mir nicht
einfallen, wem.«

»Du siehst es? Wie kannst du es sehen? Wie ist es möglich? Was kannst
du wissen?« Er brach nach diesen schnell und rauh hervorgestoßenen
Worten jäh ab und ließ auch die ungestüm erhobene Hand sinken.

»Du sprichst Unsinn, Florence,« sagte er finster. »Unsinn! Hüte deine
Zunge besser. An dem Menschen hast du keine Ähnlichkeit zu sehen, und
ich rate dir, von dem Manne überhaupt so wenig wie möglich zu sehen.
Er hat nichts mit uns zu schaffen, er ist ein Abenteurer, soviel wir
wissen. Es war verkehrt von mir, ihn heute hierher einzuladen. Ich
werde das nicht wieder tun, und du auch nicht. Und wenn du klug bist,
so laß es mich nicht wieder hören, daß du so törichte Reden führst.«

Er ging aus dem Zimmer. Die Tür fiel dröhnend hinter ihm ins Schloß.
Cis war sprachlos.

»Florence, was kann über ihn gekommen sein? Und so zu dir zu reden!«

Gräfin Florence sagte nichts. Ihre Stirn war gerunzelt, ihre Augen weit
geöffnet; sie hatte keine Antwort bereit.

       *       *       *       *       *

Sherriff war über einem seinem Lieblingsschriftsteller fast
eingeschlafen, als er durch Everard Leath, der durch die Veranda
eintrat, aufgeweckt wurde. Die Worte freudiger Begrüßung, die er auf
der Zunge hatte, erstarben bei einem Blick auf den jungen Mann, mit
dem eine seltsame Veränderung vorgegangen war. Seine Augen glänzten,
sein Gesicht war gerötet, der gelassene Ausdruck verschwunden und einer
sonderbaren frohlockenden Erregung gewichen. Leath legte dem Alten, der
ihn verwundert ansah, die Hand auf die Schulter.

»Heute morgen fragten Sie mich, ob ich in St. Mellions bleiben würde.«

»Ja.«

»Ich sagte Ihnen, es sei noch unentschieden, ich würde aber
wahrscheinlich fortgehen. Ich bin indes anderen Sinnes, -- ganz anderen
Sinnes geworden, -- und mein Entschluß ist gefaßt. Ich bleibe hier.«



7.


Ein paar Tage waren verstrichen, langsam dahingeschlichen, denn die
Hitze hatte noch zugenommen, und sogar in den kühlen, großen, luftigen
Räumen von Turret Court empfanden alle sie als sehr lästig.

Lady Agathe, ihre Kinder -- Roy in einem weißleinenen Anzuge, in
dem er noch länger als sonst aussah -- und Florence saßen vor den
Fenstern des getäfelten Zimmers unter zwei alten Platanen auf dem
Rasen, wohin auf Florences Vorschlag der Teetisch gebracht worden.
Es war dort entschieden kühler als drinnen, und die weißgekleideten
Mädchengestalten, die sich licht von dem grünen Hintergrund abhoben,
boten ein hübsches Bild. Roy hatte sich aus Kissen und Decken ein Lager
zurechtgemacht.

Chichester, der wie immer kühl, gelassen und vornehm aussah, erschien
gerade, als die ersten Tassen eingeschenkt wurden.

»Wünschest du Tee, Talbot, oder ziehst du ein Glas Bischof vor?« fragte
ihn Florence.

Sie sowohl, wie ihr Verlobter hatten nach Pontresina an die Herzogin
geschrieben und beide äußerst befriedigende und herzliche Antworten
erhalten. Jetzt, wo Ihre Durchlaucht ihre förmliche Einwilligung zu
ihrer Verlobung gegeben, war niemand mehr in Rippondale, der nicht
wußte, daß Gräfin Florence Esmond als Herrin in Highmount einziehen
würde.

Chichester entschied sich für Tee und nahm die Tasse, die Florence ihm
reichte. Er hatte Lady Agathe schon seine Verbeugung gemacht und Cis
die Hand geschüttelt, die nie einen Versuch machte, eine Unterhaltung
mit ihm anzuknüpfen -- im stillen hielt sie ihn in der Beziehung noch
schlimmer als ›den Menschen Leath‹, was sehr viel sagen wollte.

»Ich bin nicht gekommen, um zu bleiben,« sagte er dann, »ich speise
heute bei dem Bischof. Ich muß heimfahren, sobald ich Sir Jasper
gesprochen habe.«

»O, es ist ein geschäftlicher Besuch?« meinte das junge Mädchen
lächelnd, »ich hätte dich also mit meinem frivolen Tee gar nicht
aufhalten sollen. Mein Onkel ist in der Bibliothek, oder sollen wir
ihm sagen lassen, daß du hier bist? Sir Jasper war sehr verstimmt beim
Frühstück, Tante Agathe, -- er sitzt zu viel allein -- ich will ihn
bitten lassen, zu uns zu kommen.«

Sie erteilte dem Bedienten, der gerade eine Schale mit Früchten
brachte, die nötige Anweisung, und ein paar Minuten darauf erschien
der Hausherr. Er hatte die Aufforderung augenscheinlich ziemlich
liebenswürdig aufgenommen. Die geschäftliche Besprechung mit Chichester
wurde rasch erledigt, während er den Tee trank, den Florence ihm
gereicht hatte. Er kehrte aber nicht ins Haus zurück, wie Cis im
stillen gehofft, sondern lehnte sich in seinen Stuhl zurück und schien
aufgelegt, sich zu unterhalten. Roy gähnte ganz unverhohlen; er hatte
nicht solche Furcht vor seinem Vater, wie die schüchterne kleine Cis,
und sagte:

»Das ist eine Hitze heute, wie ich nie etwas Ähnliches erlebt habe! Ich
fragte heute morgen Leath, ob es in Queensland noch heißer wäre, und
er sagte, dies wäre noch eine kühle Temperatur dagegen. Kühl! Du meine
Güte!«

»Was heißt das?« Sir Jasper brach mitten im Satz ab und drehte sich
schnell nach seinem Sohn und Erben um. »Von wem sprichst du?« fragte er
streng.

Roy, der ob dieser unerwarteten Unterbrechung sehr verwundert war,
antwortete:

»Von dem Menschen aus Australien, Everard Leath. Doch du mußt ihn ja
kennen, er hat hier vorige Woche gefrühstückt, wie mir Cis erzählt hat.«

»Laß deine Schwester gefälligst aus dem Spiel und antworte mir. Wo hast
du ihn getroffen?«

»Wo--o, ein paarmal bei dem alten Sherriff -- und bei Mutter
Buckstone -- und sonst im Orte. Er ist ein netter Mensch, den ich gern
leiden mag. Warum, Vater?«

»Weil ich wünsche, daß du diese Bekanntschaft abbrichst,« antwortete
Sir Jasper in demselben schroffen Tone. »Der Mensch ist für uns ein
Fremder -- laß ihn das auch bleiben! Wenn Sherriff sich lächerlich
machen will, so mag er es tun. Bitte, ich wünsche ihn nicht wieder von
dir genannt zu hören, und damit basta!«

Es war vielleicht gut, daß der Baron das Thema fallen ließ, denn Roys
Achselzucken und Grimasse verhießen nur geringe Fügsamkeit. Die Familie
Mortlake auf Turret Court war immer ein halsstarriges Geschlecht
gewesen, und Roy besaß eine gute Portion ihres angeborenen Eigensinns.
Er erhob sich langsam aus seiner bequemen Stellung und forderte Cis
auf, mit ihm durch den Garten zu gehen. Die Geschwister schlenderten
davon, und Lady Agathe, die sich ebenfalls in der Nähe ihres Gatten
nicht behaglich fühlen mochte, folgte ihnen bald.

Chichester hatte seit dem letzten Heftigkeitsausbruch des Hausherrn mit
gerunzelter Stirn dagesessen. Jetzt hub er an:

»Entschuldigen Sie -- darf ich fragen, ob Sie irgend etwas von diesem
Leath wissen, Mortlake?«

»Nichts -- gar nichts, was sollte ich wissen? Was meinen Sie?«

»Ich glaubte, daß Sie etwas Nachteiliges von ihm wüßten; da Sie
so dagegen sind, daß Roy sich mit ihm abgibt, so könnten Sie
möglicherweise einen besonderen Grund dafür haben.«

»Allerdings habe ich etwas dagegen, daß mein Sohn in seinem Alter einen
freundschaftlichen oder gar intimen Verkehr mit einem Menschen anfängt,
den ich nicht kenne. Das ist doch ganz begreiflich.«

»Sehr begreiflich, ich bestreite das nicht,« erwiderte Chichester mit
gewohntem Gleichmut. »Ich meinte nur, daß -- ich habe ihm gerade heute
Lychet Hut -- Sie kennen doch das kleine Haus? -- vermietet, und wenn
Sie wirklich etwas gegen ihn haben, so erführe ich es gern.«

»Sie haben ihm Lychet Hut überlassen -- ihn als Mieter genommen?«
fragte der Baron ungläubig.

»Ja, er hat es auf ein halbes Jahr gemietet.«

»Ist es fest abgemacht?«

»Heute morgen ist es abgemacht worden. Er hat die halbe Miete im voraus
bezahlt.«

»Und Sie sind verpflichtet, ihn zu behalten? Sie können ihn nicht an
die Luft setzen?«

»Weshalb? Weil Sie ihn nicht kennen, nicht wissen, wer er ist?«

»Freilich. Aber in einem solchen Falle genügt es, wenn ein Mieter
die Miete im voraus zahlt. Es steht nicht in meiner Macht, die Sache
rückgängig zu machen, selbst wenn ich es wünschte. Herr Sherriff --«

»Gut, genug davon! Geschehene Dinge sind nicht zu ändern. Wenn Sie
es in der Zukunft bedauern sollten, so denken Sie daran, daß ich
Sie gewarnt und Ihnen geraten habe, sich den Menschen vom Halse zu
schaffen, solange es noch anging. Sherriff? Sherriff ist ein alter
Narr!«

Er stand von seinem Stuhle auf. Gräfin Florence und ihr Verlobter
blieben allein und sahen ihm nach, wie er rasch dem Hause zuschritt,
und blickten dann einander an. Es lag Verwunderung auf beiden
Gesichtern -- ratlose Bestürzung auf dem des Mannes -- lebhaftes
Staunen auf dem des Mädchens.

Florence brach in Lachen aus und zuckte die Achseln; ihre Brauen waren
hoch emporgezogen.

»Der Tee hat augenscheinlich keinen beschwichtigenden Einfluß auf ihn
gehabt,« meinte sie, und setzte dann hinzu. »Wie er den Menschen haßt!«

»Leath? Ja, es scheint so. Du weißt nicht, weshalb?«

»Ich? Keinen Schimmer! Weshalb hassen oder lieben wir die meisten
Leute?«

Chichester umging die Antwort und stellte statt dessen eine höfliche
Frage:

»Hoffentlich mißbilligst du es nicht, daß ich ihm Lychet Hut vermietet
habe?«

»Durchaus nicht, obgleich ich mich über seinen Geschmack, es zu mieten,
wundere. Es ist fast verfallen, nicht wahr?«

»Ganz so schlimm nicht, aber das Haus bedarf einiger Ausbesserung. Ich
habe schon alles Nötige angeordnet.«

»Du bist das Ideal eines Hauswirts!«

Das war er wirklich und verdiente das Kompliment.

»Er wird es schrecklich einsam dort finden.«

»Das sagte ich ihm auch, aber er antwortete, daß er an Einsamkeit
gewöhnt sei und eigentlich eine Vorliebe dafür habe.«

»Das glaube ich gern. Wie eigentümlich, daß er den Wunsch hat, hier zu
bleiben,« sagte sie, die Stirn in Falten ziehend.

»Er sagte mir, er würde wahrscheinlich nur drei Monate, möglicherweise
nicht einmal so lange bleiben. Es tut mir leid, daß Sir Jasper böse
darüber ist.«

»Er war furchtbar schroff und verdrießlich, nicht wahr? Und wie er
den armen Roy anfuhr! -- Es war ordentlich eine Szene!« Sie lachte
schelmisch.

»Und eigentlich bin ich doch an allem schuld.«

»Du?«

»Gewiß. Hätte ich ihn neulich nicht in meine Höhle geladen, so wäre er
vielleicht ertrunken!«

Chichester zog die Brauen leicht zusammen. Er wurde nicht gern an das
›Höhlenabenteuer‹ seiner Braut erinnert, obwohl er zu gerecht war,
um Leath den Vorfall entgelten zu lassen. Dennoch wäre es ihm lieber
gewesen, wenn die Anspielung unterblieben. Das wußte Florence, deren
wunderschöne, schalkhafte Augen unter den gesenkten Wimpern übermütig
blitzten, sehr wohl. In der letzten Zeit war ihr mitunter der Gedanke
gekommen, daß sie ihren phlegmatischen Verlobten eifersüchtig machen
möchte. Aber sie würde es unter ihrer Würde gehalten haben, irgend
etwas zu tun oder zu sagen, was ihm Grund zur Eifersucht gegeben hätte.

Cis und Roy, die aus der Ferne gesehen, daß ihr Vater von der
Bildfläche verschwunden, kamen wieder herzu.

»Was mag Papa verstimmt haben?« fragte Cis.

»Ich weiß es wahrlich nicht!«

Florence war aufgestanden; es klang etwas wie Ungeduld aus ihrer
Stimme. Schlank und aufrecht stand sie in ihrem schlichten weißen
Kleide da und nestelte an den mattgelben Rosen an ihrer Brust. »Er mag
Herrn Leath nicht leiden,« sagte sie lässig. »Das ist wohl der Grund.«

»Ebenso wie du,« meinte Cis in aller Unschuld und ahnte nicht, daß sie
Chichester eine Tatsache verriet, die ihre Cousine ihn nicht hatte
erfahren lassen wollen. »Weißt du noch, wie böse Papa wurde, als du
sagtest, er sehe irgend jemand ähnlich?«

»Ja,« antwortete Florence kurz.

»Sehe jemand ähnlich?« wiederholte Chichester fragend.

»Florence behauptete es. Ich selbst konnte keine Ähnlichkeit sehen.
Zuerst war Papa sehr liebenswürdig gegen ihn, und Roy hat ihn sehr
gern, nicht wahr, Schatz?«

»Das will ich meinen -- viel lieber als die meisten, mit denen ich
sonst verkehre. Lassen Sie sich durch meinen Alten nicht gegen ihn
einnehmen, Chichester! Er erzählte mir heute morgen, daß er Lychet Hut
gemietet hätte. Er ist ein famoser Kerl! Und dabei fällt mir ein,«
setzte Roy mit einem Lachen und einem Blick auf seine Schwester hinzu,
»es lag ihm sehr viel daran, zu erfahren, wann Harry zurückkäme. Er
kennt ihn nicht, nicht wahr?«

»Nein,« gab Cis schnell zur Antwort.

»Das dachte ich mir schon. Trotzdem wollte er es wissen -- schien sehr
erpicht darauf. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, muß ich sagen, daß er
mich gehörig über Arborfield ausgepumpt hat. Wunderlich -- nicht wahr?«

»Wunderlich? Ich nenne es unverschämt!« rief Cis und warf den
goldblonden Kopf empört in den Nacken.



8.


Harry war wieder daheim und Cis selig, denn für sie war die Welt voll
Sonnenschein.

Sie standen nach dem ersten Frühstück zusammen auf dem Flur -- Harry
hatte in Turret Court übernachtet, nachdem er in Arborfield über sich
und seine Erlebnisse Bericht erstattet hatte -- und überlegten, wie sie
den Morgen verbringen wollten.

Cis, die in ihrem mattblauen Kleide mit ihren rosigen Wangen und dem
goldblonden Köpfchen wie ein Nippfigürchen aussah, erklärte, daß sie
weder Lawn-Tennis spielen noch ausfahren noch unter den Platanen
vorlesen wolle, und die Frage war noch unentschieden, als Florence
die breite Treppe herabkam. Sie trug ein hellgraues Leinenkleid mit
roten Bandschleifen und leuchtendrote Rosen auf ihrem großen, weißen
Schutzhute, unter dem ihr liebliches Antlitz wie eine taufrische Blume
hervorschaute.

»Wohin gehst du, Florence?« fragte Cis.

»Ich denke, hinaus auf die Halde. Mich verlangt nach der See; ich
muß sie sehen und rauschen hören. Deshalb werde ich mir ein nettes
Plätzchen aussuchen -- vielleicht meine Höhle -- und dort bleiben,
bis ich hungrig werde. Ängstige dich daher nicht, wenn ich nicht zum
zweiten Frühstück erscheine. Komm mit, Tramp,« wandte sie sich an den
zottigen Hund, der ihr besonderer Liebling und nie fern von ihr war.
Er war ihr vor zwei Jahren an einem bitterkalten Wintertage in London
halb verhungert und ganz verwahrlost bis an ihre Wohnung nachgelaufen
und hatte seitdem ein herrliches Leben geführt, obwohl Roy verächtlich
erklärte, das Vieh sei nicht wert, ertränkt zu werden.

Cis machte Harry den Vorschlag, sich ihr anzuschließen, und Florence
erhob keinen Widerspruch; sie war daran gewöhnt, bei dem Brautpaar die
Dritte im Bunde abzugeben, und empfand diese Situation niemals als
peinlich.

Bücher und Sonnenschirme wurden geholt, und die drei wanderten
seewärts. Auf den grasbewachsenen, mit Ginstergestrüpp bedeckten
Klippen gab es lauschige Plätzchen genug, und sie machten es sich bald
bequem. Die beiden Mädchen setzten sich nieder; der Hund drängte sich
dicht an Florence, und Harry streckte sich zu Cis’ Füßen hin. Florence
lächelte, als sie das sah, und lächelte noch mehr, als eine kleine
rosige Hand anfing, mit seinem dunklen Haar zu spielen und liebkosend
darüber hinzustreichen. Sich Chichester in ähnlicher Stellung zu
vergegenwärtigen, wäre komisch gewesen. Das junge Mädchen seufzte,
während sie auf das weite blaue Meer hinausblickte, und fragte sich
wieder: »Warum habe ich es nur getan?«

Das Schweigen dauerte nicht lange, denn als Harry seine Zigarre
ausgeraucht hatte, nahm er Cis ohne Umstände ihr Buch weg und
begann zu plaudern. Er konnte, wenn er wollte, entschieden ein sehr
unterhaltender Gesellschafter sein; Florence ließ ebenfalls ihr Buch
sinken, und Cis hörte ihm mit Entzücken und Bewunderung zu. Er erzählte
von London, das sie, zu ihrem großen Bedauern, sehr wenig kannte, und
sie meinte mit einem leisen Seufzer:

»Wie gern ginge ich einmal hin, und Roy ebenfalls!«

»Roy? Wie schade, daß er nicht mit hingereist ist! Ich wollte, ich
hätte daran gedacht, ihm den Vorschlag zu machen. O, dabei fällt
mir ein,« sprach Harry in verändertem Tone, »wer ist dieser Mensch
eigentlich, der so erpicht darauf sein soll, mich zu sehen?«

»Welcher Mensch?« wiederholte Cis.

»Der Mensch, der Lychet Hut gemietet hat. Sie müssen ihn kennen,
Florence, nicht wahr? Lychet Hut gehört Chichester.«

»Sie meinen Herrn Leath -- Everard Leath.«

»Ja, so heißt er -- ich konnte nicht auf den Namen kommen. Das ist ja
der Mensch, den Sie damals beim Gewitter in Ihre Höhle aufgenommen --
natürlich, jetzt weiß ich schon. Was in aller Welt kann er von mir
wollen?«

»Ich habe keine Ahnung,« sagte Florence kalt. »Sagte Roy, daß er Sie zu
sprechen wünschte?«

»Das gerade nicht! Aber er scheint sich verschiedentlich danach
erkundigt zu haben, wann ich zurückkäme, und da ich ihn nie mit den
Augen gesehen, noch je seinen Namen gehört habe, so ist das doch
ziemlich wunderlich.«

Florence schwieg. Harry zündete sich eine zweite Zigarre an und meinte
dann, daß es bei der Hitze kühler in Florences Höhle sein würde.

»Lassen Sie uns hingehen,« antwortete Florence lächelnd. »Es ist nicht
weit. Das Gebüsch dort zur Rechten verbirgt den Eingang. Was sagst du
dazu, Cis?«

Cis meinte freilich, daß sie das Hinabsteigen in das schreckliche Loch
immer unheimlich fände und es nebenbei die Kleider verderbe.

»Ihr Zufluchtsort ist übrigens vor unbefugten Eindringlingen durch
seine versteckte Lage ziemlich sicher, Florence. Finden Sie je dort
auch nur ein verirrtes Kaninchen? Aber -- wer -- in des Kuckucks Namen
--« Harry stieß die letzten Worte im Tone größter Verwunderung aus, und
Cis entfuhr ein leiser Schrei, als sie beide das Gestrüpp anstarrten.
Das Farnkraut und die Ginsterbüsche bewegten sich, raschelten und
wurden beiseitegeschoben: ein Mann erschien in der Öffnung.

Bei seinem Anblick blitzten Gräfin Florences Augen, und ihre Wangen
röteten sich vor Zorn.

»Es ist der Mensch, von dem Sie eben sprachen -- Everard Leath,« sagte
sie kurz, als Antwort auf Harrys Blick.

»So? Das nenne ich ziemlich unverfroren,« meinte er lachend, »haben Sie
ihm freien Zutritt gewährt, Florence?«

»Unsinn! Seien Sie nicht abgeschmackt! Ich weiß nicht, was ihm
einfällt. Lächerlich! Blicken Sie nicht hin, Harry; rauchen Sie ruhig
weiter! Wir brauchen ihn nicht zu sehen.«

»Er hat uns schon gesehen!« sagte Cis kläglich. Sie hatte ganz recht.
Everard Leaths blaue Augen waren ebenso weitsichtig wie scharf und
glänzend, und er hatte die beiden schlanken Mädchengestalten in ihren
blauen und grauen Kleidern sofort erkannt. Ein merkwürdiges Leuchten
brach aus seinen Augen und wurde noch heller beim Anblick des jungen
Mannes, der zu Cis’ Füßen ausgestreckt lag. Roy war es nicht -- wer
anders konnte es sein als ihr Verlobter? Er murmelte etwas zwischen den
Zähnen und schritt, den Hut lüftend, auf die Gruppe zu. Wäre Florences
schönes Antlitz noch dreimal so hochmütig und kalt gewesen, so würde
ihn ihr Ausdruck nicht zurückgehalten haben. Er war entschlossen, sich
die Gelegenheit, mit Harry Wentworth zu reden, nicht entgehen zu lassen.

Wenn Cis nicht gewesen, so hätte es peinlich für ihn sein können. In
ihrer Überraschung über sein plötzliches Auftauchen vergaß sie ganz,
daß sie eigentlich böse auf ihn war, und lachte munter, während sie
seine Verbeugung erwiderte. Gräfin Florence hatte nur ein unsagbar
hochmütiges, kaum merkbares Neigen des Kopfes für ihn.

»Was ist Ihnen eingefallen, Herr Leath, in das schreckliche Loch
hinunterzuklettern! Ihr Geschmack ist ebenso wunderlich wie der
Florences.«

Leath antwortete, daß er oft eine Zigarre in der Höhle rauche, die ihm
am ersten Tage Schutz gewährt. Und als es ihm gelang, Florences grauen
Augen, sehr gegen den Willen ihrer Besitzerin, zu begegnen, setzte er
hinzu:

»Da ich mich Ihnen dort nie aufgedrängt habe, Gräfin, so darf ich
hoffentlich auf Ihre Verzeihung rechnen, daß ich unaufgefordert Ihre
Höhle betreten habe?«

Florence entgegnete kalt, daß sie kein Anrecht auf ein Loch in den
Klippen besäße, und daß nur ihre Cousine aus Unsinn es ›ihre‹ Höhle
nenne.

Cis wunderte sich im stillen, weshalb Florence so verstimmt sei; der
unglückliche Mann hatte doch nichts getan, um solche Behandlung zu
verdienen, und sie wurde infolge dieser Erwägung noch liebenswürdiger
gegen Leath, den sie dann Wentworth vorstellte. Harry war um seiner
kleinen Braut willen herzlich und freundlich, und so geschah es, daß
Leath in zwangloser Weise sich als Vierter zu der kleinen Gruppe oben
auf der Klippe gesellte.

Cis rückte nach einer Weile von den beiden jungen Leuten fort, legte
einen Arm um die Taille ihrer Cousine, die sich in ihr Buch vertieft
hatte, und fragte sie:

»Es ist dir nicht unangenehm, daß er bleibt, nicht wahr, mein Herz?«

»Herr Leath?« Sie blickte auf, als habe sie sein Dasein überhaupt
vergessen. »Die Klippen sind Gemeingut. Was kann es mir ausmachen?«

»Ich dachte, es wäre dir nicht lieb, weil Papa so böse über Herrn Leath
war. Weißt du noch?«

»Dann erzähle ich ihm lieber nicht, daß wir ihn getroffen haben.«

»Natürlich nicht, und ich will auch Harry warnen. Wie lebhaft die
beiden sich unterhalten!«

»Worüber reden sie denn?« fragte Florence.

»Ach, ich weiß nicht! Über Australien, glaube ich. Ich werde deinem
Beispiel folgen und lesen. Die Geschichte ist sehr interessant.«

Cis schlug ihr Buch auf, und auch Florence las weiter. Sie hörten beide
nicht auf die Unterhaltung der Herren.

Leath erzählte von seinem Leben in Australien, und Harry meinte, daß er
ihn, so rauh und beschwerlich es auch oft gewesen sein möge, fast darum
beneiden könnte. Er habe vor einigen Jahren, kurz nachdem er mündig
geworden, selbst den Wunsch gehabt, auf einige Zeit hinauszugehen, aber
sein Vater, der irgendein Vorurteil gegen Australien hege, habe sich
seinem Vorhaben aufs entschiedenste widersetzt. Everard erkundigte
sich, ob er nicht wisse, weshalb. Aber Harry verneinte und fragte, ob
er schon erwähnt, daß sein Vater, Lord Carmichael, als junger Mensch
selbst in Australien gewesen sei.

»Nein, aber ich habe davon gehört.«

»So? Ja -- ich glaube, er war ungefähr ein Jahr drüben, als er in
meinem Alter war, und zwar hauptsächlich in Ihrer Gegend, in Queensland
-- das weiß ich. Nun, ich weiß nichts Näheres und würde Ihnen auch,
ehrlich gestanden, natürlich nichts darüber erzählen, wenn ich es
wüßte, aber ich glaube, er ist dort in Unannehmlichkeiten verwickelt
worden.«

»So?«

»Ja. Was es gewesen, weiß ich nicht, und wahrscheinlich war es nichts
Besonderes -- irgendein kleines Techtelmechtel, in das junge Leute
sich einlassen, wenn ihnen der Wind erstmals um die Nase weht. Aber
er ist ein Mensch, der nicht leicht vergißt, und da mag er sich wohl
in den Kopf gesetzt haben, daß mir etwas Ähnliches passieren könnte.
Jedenfalls erkläre ich es mir so, daß er mich nicht gehen lassen
wollte, und er ist noch heutigentags gegen Australien eingenommen. Es
überraschte mich sehr, zu hören, daß er überhaupt dort gewesen. Er
hatte nie davon gesprochen.«

Harrys Zigarre war ausgegangen; er setzte sich aufrecht, um sie wieder
anzuzünden.

Leath, der starr, mit finsterem Antlitz auf das Meer hinausblickte,
sagte langsam:

»Es ist sonderbar, daß er niemals davon geredet hat. Darf ich fragen,
ob es viele Jahre her ist, daß Lord Carmichael in Queensland war?«

»O, das ist eine Ewigkeit her. Vor meiner Zeit, als er noch
unverheiratet war.«

»Dreißig Jahre oder mehr vielleicht?«

»Dreißig? Ach nein -- so lange nicht. Achtundzwanzig ist das höchste.«

Harrys Zigarre brannte, und er stützte sich wieder auf den Ellbogen.

»Wissen Sie das gewiß?«

»Natürlich, ganz gewiß!«

Trotzdem er einige Verwunderung empfand, war der junge Wentworth zu
gutmütig, um ungeduldig zu werden.

»Rechnen Sie selbst nach,« sagte er leichthin. »Ich bin fünfundzwanzig,
und er war gerade ein Jahr verheiratet, als ich mich einstellte. Meine
Mutter hat mir erzählt, daß er erst seit ein paar Monaten wieder in
England war, als er sie kennen lernte, und sie heirateten, ehe ein
halbes Jahr um war. Sie können achtundzwanzig Jahre herausrechnen, die
verstrichen, seitdem er nach Australien ging, aber keinen Tag mehr,
nicht dreißig oder annähernd soviel.«

»Falls Sie sich nicht irren, stimmt das, was Sie sagten.«

Leath sprach in ruhigem, hartem Tone.

»O, ich irre mich nicht! Im nächsten Monat werden es neunundzwanzig
Jahre, daß er seinen Vater verlor, und damals war er in Arborfield.
Nein -- vor dreißig Jahren war er in England und niemals weiter als
hinüber nach dem Kontinent gewesen. Was sagst du, Cis? Frühstückszeit?
Ja, das mag schon sein. Ich bin bereit, wenn du es bist.«

Cis und Florence waren aufgestanden, und Harry erhob sich jetzt.
Leichten Sinnes, wie er war, empfand er keine Neugier, weshalb er mit
so sonderbarem Eifer ausgefragt worden, ja, er dachte gar nicht einmal
darüber nach. Er verabschiedete sich mit einigen herzlichen Worten von
Leath und versprach, seiner Einladung, ihn in Lychet Hut zu besuchen,
sobald er dort eingezogen sei, Folge leisten zu wollen. Cis’ blaue
Augen folgten Leaths hoher Gestalt mit fast gereiztem Ausdruck, als er
erhobenen Hauptes schnell in der Richtung von St. Mellions dahinschritt.

»Welch ein wunderlicher Kauz er doch ist! Und wie albern, sich in deine
Höhle zu setzen, Florence! Wenn es nicht zu lächerlich wäre, würde ich
behaupten, daß er unverschämt genug ist, sich in dich zu verlieben,
Liebling!«

Gräfin Florence antwortete nicht. Sie blickte Everard Leaths
entschwindender Gestalt mit gerunzelten Brauen nach, einen bestürzten,
forschenden Ausdruck in den grauen Augen. Sie hatte bemerkt, was Cis
und ihrem Verlobten entgangen -- die merkwürdige Veränderung in dem
ernsten, gelassenen Gesicht des Australiers. Was hatte nur jenen
zornigen, enttäuschten Ausdruck hervorgerufen? Sie wandte sich mit
einer unschuldigen Bewegung ab, böse auf sich selbst, und doch seufzte
sie. Es schien, als ob der Mensch sie immer beschäftigen, sie immer
beunruhigen sollte.



9.


Everard Leath begab sich, ohne seinen Schritt zu verlangsamen, von
der Halde geraden Wegs nach St. Mellions hinunter und nach dem
Bungalow, der für den Augenblick sein Heim war. Auf Sherriffs dringende
Einladung hatte er sein fünfeckiges Zimmer in den Chichester Arms
aufgegeben, um bis zum Augenblick, da seine neue Behausung für ihn
instand gesetzt sein würde, bei dem liebenswürdigen alten Herrn zu
wohnen. Leath ging durch den Garten, dann durch die Veranda in das
dahinterliegende Zimmer, wo Sherriff mit der Feder in der Hand über
einige Rechnungsbücher gebeugt saß. Er blickte auf, als die Gestalt
des jungen Mannes am Fenster erschien, und er sagte, ihn freundlich
begrüßend:

»Da sind Sie wieder -- das ist recht.«

»Ja,« gab Leath einsilbig zurück, »ich störe Sie doch nicht?«

»Nicht im mindesten. Sie sind wohl in Ihrer Wohnung gewesen?«

»Nein -- draußen auf der Halde.«

»So! Es ist ein schöner Morgen für einen Spaziergang. Setzen Sie sich,
ich bin gleich mit meiner Schreiberei fertig.«

Leath ließ sich auf einem Stuhl am offenen Fenster nieder. Das helle
Sonnenlicht fiel voll auf sein Antlitz, auf dem eine finstere Wolke
lag; er fuhr mit der Hand durch seinen kurzen, spitzgeschnittenen
Bart, während er mit aufgestütztem Ellbogen, anscheinend in düstere
Gedanken versunken, dasaß. Dem gleichgültigsten Auge hätte sein ernstes
Vorsichhinbrüten auffallen müssen. Sherriff, der aufblickte, als er
mit seiner Arbeit fertig war, gewahrte es sofort, und ein Ausdruck der
Verwunderung und der Besorgnis überflog sein schönes altes Gesicht.

»Sie sehen verstört aus, Leath,« sagte er ruhig. »Ihnen ist hoffentlich
nichts Unangenehmes begegnet?«

»Unangenehmes?«

Leath blickte auf und lachte bitter. »Nein, das kaum. Das heißt, ich
sehe ein, daß ich mich geirrt habe -- das ist alles. Bis heute glaubte
ich, daß die Aufgabe, die ich mir gestellt hatte, als ich nach St.
Mellions kam, fast getan sei -- weit gefehlt! Ich bin gerade so weit
wie vorher!«

»War diese Idee, die sich jetzt als ein Irrtum herausgestellt hat, die
Veranlassung, daß Sie sich entschlossen, hier zu bleiben und Lychet Hut
zu mieten?« fragte Sherriff.

»Ja. Es wäre besser gewesen, ich hätte den anderen Weg eingeschlagen,
nach London zu gehen -- weit besser!«

»Heißt das, daß Sie es jetzt tun wollen?«

»Vielleicht. Ich weiß es noch nicht. Dieser Mißerfolg hat mich aus dem
Gleichgewicht gebracht. Ich bin noch zu keinem Entschlusse gelangt.«

Es trat eine Pause ein. Leath blickte finster zu Boden. Der Ältere
brach nach einer kleinen Weile das Schweigen und sprach zögernd und
vielleicht etwas vorwurfsvoll:

»Sie haben mir niemals Ihr Vertrauen geschenkt, Leath. Ich habe kein
Recht, dieses Vertrauen zu erzwingen, aber eine Frage möchte ich an
Sie richten. Wenn ich in die Sache, von der Sie reden, eingeweiht
wäre, könnte ich Ihnen dann bei Ihrem Vorhaben helfen, oder ist das
unmöglich?«

»Ich fürchte, es ist sehr unwahrscheinlich.«

»Und Sie sind nicht geneigt, es mit mir zu versuchen?«

Es lag keine Gereiztheit in der ernsten, edlen Stimme, aber für Leaths
Ohr klang etwas wie Schmerz hindurch. Er blickte schnell auf.

»Halten Sie mich nicht für undankbar, lieber alter Freund,« sagte er,
»und glauben Sie nicht, daß ich unempfänglich für Ihre Güte bin. Geben
Sie mir ein wenig Zeit, mir klar zu machen, daß ich ein Esel gewesen,
und wenn Sie mich dann anhören wollen, so sollen Sie die ganze Sache
erfahren, soweit ich weiß. Es ist keine angenehme Geschichte -- das
werden Sie sich wohl schon sagen können.«

Es lag eine unterdrückte Leidenschaftlichkeit in seinem Tone, die
von einer Empörung sprach, die zwar durch eine eiserne Willenskraft
niedergehalten wurde, aber doch im Innern weiterglimmen und ihn
unaufhörlich martern mußte; das überraschte Matthias Sherriff nicht;
vom Anfang ihrer Bekanntschaft an hatte er erraten, daß ein geheimes
quälendes Leid am Herzen seines Freundes nage. Es war nicht möglich,
sich Everard Leath als einen glücklichen Menschen oder einen Menschen
ohne Sorge zu denken.

Leath stand auf, trat ans Fenster und wandte Sherriff den Rücken zu.
Sherriff folgte ihm mit den Augen, während eine seltsame Veränderung in
seinem Gesichte vor sich ging. Als er wieder zu reden anhub, war es mit
doch merklicherem Zögern als vorher.

»Liegt kein anderer Grund vor als Ihr geheimer Kummer, Leath, weshalb
Sie es für besser halten, St. Mellions zu verlassen?«

»Ein anderer Grund?«

Er drehte sich hastig um. Die fragende Verwunderung, die auf seinen
Zügen lag, sah wenigstens echt aus.

»Ja, Sie müssen mir nicht zürnen, wenn ich mich irre. Ich habe
ebensowenig ein Recht, in dieser Sache Ihr Vertrauen zu erzwangen wie
in der anderen,« sagte der Alte hastig, »aber ich habe in den letzten
Tagen unter einem Eindruck gestanden, der mich recht beunruhigt
hat. Gibt es noch einen anderen Grund, weshalb Sie sich von hier
fortwünschen? Und ist es -- Gräfin Florence Esmond?«

»Gräfin Esmond?« Das Erstaunen in Leaths Blick und Stimme wurde kaum
durch die Röte, die unter seiner sonngebräunten Haut aufflammte,
abgeschwächt; er sah aus, als wisse er nicht, ob er recht gehört habe
oder nicht.

»Sie ist sehr schön,« fuhr Sherriff mit einer Handbewegung fort,
die weiteres Leugnen oder Widerspruch abschneiden sollte, »und ich
bin nicht so alt, Leath, daß ich vergessen hätte, welchen Einfluß
eine Schönheit und ein Liebreiz wie der ihre auf einen jungen Mann
naturgemäß ausüben muß. Ich weiß, Sie haben erst wenig von ihr gesehen,
aber Sie haben genug gesehen, um unter dem Zauber ihres Wesens zu
stehen. Sie haben mir erzählt, daß, obgleich Sie ihre vorübergehenden
jugendlichen Schwärmereien gehabt hätten wie wir alle, Sie doch noch
keine wirkliche tiefe Liebe für irgendein Weib empfunden haben.«

»Das wenigstens ist wahr.«

»Und macht die Gefahr für Sie jetzt nur um so größer. Wenn ich die
Sache zur Sprache bringe, so geschieht es um Ihretwillen. Irre ich mich
oder nicht?«

»Ob Sie sich irren? Ich gebe alles zu, was Sie über ihre Schönheit
sagen; ich bewundere sie -- jeder Mann würde das tun. Aber ich habe an
andere Dinge zu denken, als an Liebestorheiten, auch wenn sie frei wäre
und keine gesellschaftliche Kluft des Reichtums und der Vornehmheit
zwischen uns gähnte. Ich danke Ihnen für Ihr Interesse, Herr Sherriff,
aber ich bin gefeit. Gräfin Florence wird mich weder hier festhalten,
noch mich forttreiben.«

Seine Stimme hatte fast ihren düsteren Klang verloren; es lag sogar
eine gewisse Belustigung darin, und sein Gesicht hatte sich aufgehellt,
als er seinen Stuhl wieder einnahm. Vielleicht gedachte er der
Begegnung auf der Halde, der verächtlich blickenden grauen Augen,
die sich kaum die Mühe genommen hatten, ihn anzusehen, und des stolz
getragenen hochmütigen braunen Köpfchens. Reichtum, Rang, adlige Geburt
-- daß sie sich wohl bewußt war, dies alles zu besitzen, hatte sie
deutlich genug gezeigt.

Sherriff lächelte und setzte sich mit erleichterter Miene wieder nieder.

»Also habe ich mich geirrt?« meinte er. »Nun, es freut mich herzlich,
das zu hören, mein lieber Junge -- wirklich herzlich! Es kann einen
Mann kein zermalmenderer Schlag treffen als der Verlust des Weibes, das
er liebt. Es mag töricht von mir gewesen sein, mir den Gedanken in den
Kopf zu setzen.«

»Ich muß gestehen, es wundert mich, wie Sie überhaupt auf diesen
Gedanken gekommen sind.«

»Das weiß ich selbst kaum. Er kam mir zuerst, glaube ich, als ihre
Verlobung mit Chichester veröffentlicht wurde. Sie schienen verstört,
schienen daran zu zweifeln, ob es eine passende Partie sei.«

»Ich gebe zu, daß ich das tat. Wie ich Ihnen auseinandersetzte,
hatte ich Herrn Chichester in Turret Court getroffen. Ich würde ihn
allerdings nicht für den Mann gehalten haben, auf den Gräfin Florences
Wahl fallen würde,« gab Leath mit trockener Gelassenheit zur Antwort.
»Wenn ich mich nicht irre, so waren auch Sie selbst überrascht.«

»Ich war mehr als überrascht.«

Sherriff sprach mit einer Schärfe und Gereiztheit, die ihm sonst fremd
war. »Wüßte ich nicht, wie unabhängig sie ihrer Stellung und ihrem
Charakter nach ist, so wäre ich fast geneigt gewesen, an irgendeine
versteckte Einwirkung zu glauben. Ich habe nichts gegen Herrn
Chichester; ich halte ihn für einen guten Menschen, aber ich wiederhole
es -- er ist weder der Mann, ihre Liebe zu gewinnen, noch sie glücklich
zu machen.«

»Er scheint das erstere wenigstens getan zu haben,« warf Leath in
seinem früheren gelassenen Tone kurz dazwischen.

»Ihre Liebe? Armes Kind! Bis jetzt weiß sie kaum, daß sie ein Herz zu
verschenken hat!« erwiderte der Alte mit Entschiedenheit.

Leath antwortete nicht. Sein Antlitz nahm allmählich wieder einen
düsteren, sinnenden Ausdruck an, und Sherriff, der in den Garten
hinausblickte, verstummte ebenfalls. Als er wieder zu reden anhub,
geschah es mit sichtlicher Überwindung, als werde ihm das Sprechen
schwer.

»Leath,« sagte er dann, »es gibt viele Männer, -- und Frauen wohl
ebenfalls, -- die die Liebe im besten Falle als eine Art Zeitvertreib
ansehen, als etwas, mit dem man spielt, über das man lacht und das man
so bald wie möglich vergißt. Zu diesen Menschen habe ich nie gehört;
für mich ist sie immer die wichtigste Triebkraft gewesen, die ein
Menschenleben zum Guten oder Schlechten wenden, glücklich machen oder
zugrunde richten kann. Erinnern Sie sich noch, daß ich Ihnen einmal von
einem Kummer erzählt habe, der mir widerfahren, als ich jung war --
einem Kummer, der einen vergrämten und mit der Welt zerfallenen Mann
aus mir gemacht hat?«

»Ich erinnere mich dessen sehr wohl,« antwortete Leath sanft.

»Vielleicht haben Sie es erraten, was es gewesen ist?«

»Damals nicht, Herr Sherriff. Jetzt tue ich es. Eine Frau.«

»Ja, eine Frau -- für mich die einzige Frau auf der Welt. Mit den
Einzelheiten will ich Sie verschonen, sie sind nicht notwendig, ich
kann Ihnen die Geschichte in wenigen Worten erzählen, ohne auf die
näheren Umstände einzugehen. Ich liebte sie -- wie innig, das zu
sagen, will ich nicht versuchen; ich glaubte, sie liebte mich auch.
Ja -- ich glaube, sie liebte mich, als sie mir versprach, mein Weib
zu werden, aber sie war sehr jung, sehr unerfahren -- sie hatte sich
vielleicht über sich selbst getäuscht. Dem sei, wie ihm wolle, das
werde ich jetzt niemals erfahren. Ich war damals sehr arm und kämpfte
einen schweren Kampf, mir notdürftig meinen Unterhalt zu erwerben --
viel zu arm, um ans Heiraten denken zu können. Sie war ebenfalls ganz
unbemittelt und stand noch mehr allein als ich. Sie war Erzieherin, und
als sie durch eine Familie, in der sie früher unterrichtet hatte, ein
Anerbieten erhielt, nach einer unserer Kolonien zu gehen, als Lehrerin
für die Kinder eines Millionärs, der wieder hinausging, da fühlten wir
beide, daß es bei dem hohen Gehalt, das man ihr bot, ihre Pflicht sei,
das Anerbieten anzunehmen, obgleich es unsere Trennung bedingte. Sie
sollte zwei Jahre fortbleiben, und dann, bei ihrer Rückkehr, wollten
wir -- mochte geschehen was da wollte -- heiraten. Sie ging. Ich kann
mir noch jetzt all den Schmerz -- all die Qual jener Trennung von ihr
vergegenwärtigen.«

Er hielt inne. Leath sprach kein Wort. Gräfin Florence würde
sein Gesicht mit dem weichen Ausdruck anteilvollen Mitleids kaum
wiedererkannt haben.

»Sie erraten das Ende,« nahm Sherriff seine Erzählung wieder auf, »es
ist alltäglich genug. Ich hätte es vielleicht erwarten sollen, denn sie
war ein schönes Mädchen und mußte die Bewunderung jedes Mannes erregen.
Aber ich hegte niemals den leisesten Zweifel an ihr -- niemals! In den
ersten Wochen waren ihre Briefe lang, dann wurden sie kurz, und ich
fand sie kühl. Dann schrieb sie einige Wochen gar nicht, darauf kam
noch ein Brief. Ich könnte ihn Wort für Wort hersagen, obgleich ich ihn
seit mehr als dreißig Jahren nicht wieder angesehen habe. Er sagte mir,
daß sie verheiratet sei.«

Leath entfuhr ein Ausruf, obgleich nicht der Überraschung.

»Sie gestand ihren Treubruch ein, erklärte, sie wisse jetzt, daß sie
mich niemals geliebt hätte, und beschwor mich, ihr zu vergeben. Ich
will nicht davon reden, was ich durchgemacht habe -- ich war jung, und
ich hatte sie von ganzer Seele geliebt und ihr vertraut. Sobald ich
mich sammeln konnte, schrieb ich ihr, was auch wirklich der Wahrheit
entsprach -- daß ich ihr vergebe und von ganzem Herzen hoffte, daß sie
glücklich werden möge. Seitdem habe ich niemals wieder etwas von ihr
gehört.«

»Sie hat Ihren Brief nicht beantwortet?«

»Nein -- dessen bedurfte es nicht. Sie mag es für freundlicher gehalten
haben, es nicht zu tun. Von dem Tage an war sie für mich tot.«

»Sie haben nie wieder auf andere Weise irgend etwas über sie gehört?«

»Niemals. Vielleicht ist sie tot. Vielleicht lebt sie noch, mit ebenso
weißem Haar wie das meine -- sie, meine kleine, braunhaarige Mary! Es
ist seltsam, sich das auszumalen, Leath. Ich sehe ihr junges Gesicht
mit den Tränen, die ihr der Abschied erpreßte, deutlicher vor mir, als
das Ihrige in diesem Augenblick. Nicht viel daran an der Geschichte,
nicht wahr? Und alltäglich genug, wie ich schon sagte. Aber ich hatte
das Gefühl, daß -- wie sie nun auch sein mag -- Sie sie hören sollten.
Jedenfalls wird sie dazu beitragen, zu erklären, weshalb ich soeben
ernst und eindringlich war und weshalb ich mich einen mit der Welt
zerfallenen Menschen nenne. Genug von mir, und übergenug! Lassen Sie
uns von etwas anderem reden.«

Leath stand auf und folgte Sherriff an das Fenster, an das er getreten
war.

»Ich danke Ihnen herzlich für Ihr Vertrauen,« sprach er. »Glauben Sie
mir, daß ich die Ehre, die Sie mir erzeigt haben, schätze und würdige,
denn ich weiß, Sie würden nicht jedem Ihre Geschichte erzählt haben.
Ich will Sie mit meinem nutzlosen Mitgefühl nicht behelligen, ich
will Sie nur bitten, mich wenigstens teilweise meine eigene, fast
unentschuldbare Zurückhaltung, die ich Ihnen gegenüber beobachtet,
wieder gutmachen zu lassen.«

»Erzählen Sie mir nichts, was Sie mir nicht gern sagen,« wehrte
Sherriff hastig ab, »ich verlange es nicht, Leath -- ich bitte Sie
sogar, es nicht zu tun.«

»Ich will es auch nicht. Aber mit Ihrer Erlaubnis möchte ich Ihnen
sagen, was mich von der anderen Seite der Welt hierher nach St.
Mellions geführt hat. Ich bin hierhergekommen, um einen Mann
aufzusuchen.«

»Einen Mann? Wer ist er?«

»Wenn ich darauf antworten könnte, so würde meine Aufgabe vollbracht
sein. Ich weiß es nicht.«

»Was ist er denn?«

»Der schlimmste Feind, den ich oder die Meinen je gehabt.«

»Suchen Sie ihn denn, um Rache an ihm zu nehmen?«

»Ich suche ihn, um Recht zu erlangen.«

»Recht für wen?«

»Für die Lebenden und die Toten.«

»Wissen Sie denn, daß er hier ist?«

»Ich weiß, daß er hier war.«

»Vor langer Zeit?«

»Vor vielen Jahren.«

»Und mehr wissen Sie nicht -- nicht einmal seinen Namen?«

»Ja, den weiß ich, oder, wenn nicht seinen Namen, so doch den, den er
einst führte. Es ist mein einziger Leitfaden. Sie meinten vorhin, Sie
könnten mir vielleicht helfen, -- Sie mögen recht haben. Kennen Sie --
haben Sie jemals den Namen Robert Bontine gehört?«

»Bontine?« wiederholte Sherriff sinnend. »Nein -- meines Wissens habe
ich den Namen niemals gehört.«

»Das wissen Sie bestimmt?«

»So bestimmt, wie es in solchen Fällen möglich ist. Wenn ich den Namen
je gehört habe, so hat er sich meinem Gedächtnis nicht eingeprägt.
Aber der Name ist eigenartig, und mein Gedächtnis ist gut -- ich
halte es kaum für wahrscheinlich, daß ich ihn vergessen haben
sollte.« Er schüttelte den Kopf. »Nein,« sagte er dann entschieden.
»Unglücklicherweise kann ich Ihnen nicht helfen, Leath. Ich habe den
Namen Robert Bontine nie gehört.«



10.


Gräfin Florence hatte im Gespräch mit ihrem Verlobten Lychet Hut einmal
als eine Ruine bezeichnet. Das war zwar übertrieben, aber doch nicht
allzu sehr. Sie hatte die Behausung auch einsam genannt, und das war
durchaus nicht übertrieben.

Das Haus lag auf der Halde, am Wege nach Lychet Hook, fast eine halbe
Stunde von St. Mellions entfernt, und zwischen ihm und dem Dorfe
standen keine Häuser. Es war ein winziges Häuschen mit einem Strohdach
und enthielt nur zwei geräumige Zimmer zu ebener Erde, eine Bodenkammer
und eine Küche. Es war vor ungefähr zehn Jahren nach eigenem Plane
von einer alten, unverheirateten Dame erbaut worden, die ebenso
wunderlich wie reich war und von der allgemein angenommen wurde, daß
sie infolge einer unglücklichen Liebe der Menschheit entsagt habe. Wie
dem auch gewesen sein mochte, so lebte sie dort bis zu ihrem Tode in
strenger Zurückgezogenheit nur mit einer Dienerin, die ebenso alt und
verschroben war wie sie selbst. Dann hatte Chichester die Wohnung für
eine lächerlich kleine Summe von ihren Erben erstanden und war trotzdem
nicht auf seine Kosten gekommen, denn es hatte sich nie wieder ein
Mieter für das Haus gefunden.

Jetzt hatte Everard Leath es bezogen, und obschon er seit drei Wochen
darin hauste, hatte man in St. Mellions noch nicht aufgehört, sich über
den ›sonderbaren Herrn aus Australien‹ zu wundern.

Chichester, der, wie Gräfin Florence ihn mit Recht genannt hatte,
der beste Hauswirt war, den man sich nur wünschen konnte, hatte alle
notwendigen Ausbesserungen vornehmen lassen, und Leath selbst hatte
sich nach Market Beverley begeben und sich dort einfache Möbel und
Haushaltungsgegenstände bestellt, die er nach wunderlicher eigner
Methode selbst aufgestellt hatte. Darauf hatte er eine ältliche Witwe,
eine Schwägerin Buckstones, des Wirts der Chichester Arms, in seinen
Dienst genommen, um für ihn und seine Bedürfnisse zu sorgen, und
dann sich in der abgelegenen Behausung häuslich niedergelassen, als
beabsichtige er den Rest seines Lebens dort zu verbringen. Und über
ihn, über seinen Hausstand und sein Benehmen im allgemeinen verwunderte
man sich in St. Mellions höchlichst.

Aber nach drei Wochen war es ihm gelungen, sich mehr oder weniger
beliebt zu machen, trotz der halb argwöhnischen, halb belustigten
Neugier, mit der er angesehen wurde -- und zwar nicht nur von den
Dörflern. Der Bungalow war nicht länger das einzige Haus, in dem er
verkehrte.

Er hatte die Bekanntschaft des gutmütigen Pfarrers gemacht, ebenso
die des Doktors und seiner zahlreichen Familie; auch mit Bedloc, dem
klugen kleinen Advokaten -- ja, fast mit jedem war er bekannt geworden.
Und obgleich keine zweite Einladung nach Turret Court erfolgte und
Sir Jasper ihn, als er einmal auf der Halde an ihm vorbeigeritten
war, kaum gegrüßt hatte, so fand sich doch Roy Mortlake oft in Lychet
Hut ein, mit gänzlicher Nichtachtung des herrischen Verbots, das sein
Vater gegen seine Besuche erhoben, und mehr als einmal war auch Harry
Wentworth bei ihm gewesen.

Mitunter auch, zu Pferde oder zu Wagen, auf der Halde und auf den
Feldwegen und einmal im Wohnzimmer des Pfarrhauses war Leath mit
Florence und ihrer Cousine zusammengetroffen. Cis war ihm bei dieser
Gelegenheit recht freundlich begegnet, -- die Besuche ihres Verlobten
in Lychet Hut waren ihr kein Geheimnis, -- Florence huldvoll,
aber weniger herzlich. Sie war mehrere Male im Bungalow bei Herrn
Sherriff gewesen, seitdem Leath ausgezogen, hatte ihn aber zufällig
niemals getroffen. Obwohl er nicht selten in ihre Felsenhöhle in der
Klippenwand hinabstieg und eine Zigarre rauchte, während er finster
auf das Meer hinausschaute, hatte er sie niemals dort gesehen. Einmal
hatte er auf der untersten der drei unebenen Felsstufen ein blaues Band
gefunden, das wohl von ihrem Kleide abgerissen sein mochte, das war
aber auch alles. Vielleicht hielt sie sich absichtlich fern. Jedenfalls
glaubte er das.

Bewußt oder unbewußt stand sie so für ihn im Zusammenhang mit der
Halde, daß er niemals dort spazieren ging, -- was er gewöhnlich
jeden Tag tat, -- ohne an sie zu denken. Folglich nahm es ihn kaum
wunder, daß er ihr an einem sonnigen Nachmittage endlich dort
begegnete. Er schlenderte langsam, dicht am Rande der Klippe, über
den wellenförmigen Boden zwischen den Ginsterstauden und dem hohen
Farnkraut dahin, und als er plötzlich die Augen von dem kurzen,
sonnverbrannten Rasen, auf den er in finsterem Brüten niedergestarrt
hatte, emporhob, sah er sie in einiger Entfernung vor sich stehen. Sie
stand und wandte ihm das Gesicht zu, als warte sie auf ihn. Sie hatte
ihn schon seit mehreren Minuten gesehen.

Er beschleunigte seinen Schritt, beschleunigte ihn um so mehr beim
Anblick ihres Lächelns, und so standen sie sich nach wenigen Sekunden
gegenüber, und er umschloß mit festem Drucke die Hand, die sie ihm bot.
Es war das erstemal, daß er sie berührt hatte, seitdem sie sie ihm
gereicht, um ihn in die Höhle hinabzuführen. Das fiel ihm ein, während
er sich darüber wunderte, weshalb sie ihm heute gereicht wurde.

»Wie vertieft in Gedanken Sie waren, Herr Leath! Ich glaubte schon, ich
müßte Sie anrufen, damit Sie nicht über mich stolperten,« sagte sie.

Ihre Stimme war ebenso herzlich wie ihr Lächeln, ebenso herzlich wie
die warme schnelle Berührung ihrer unbehandschuhten Finger. Dennoch
dachte sie sich nichts dabei; es war nur eine Laune, daß sie ihn nicht
mit leisem, hochmütigem Neigen des Kopfes begrüßte und ohne ein Wort an
ihm vorüberschritt. Es fiel ihr zufällig ein, liebenswürdig zu sein,
-- das war alles. Er wußte das sehr wohl, denn er verstand sie viel
besser, als Gräfin Florence lieb gewesen sein würde, hätte sie darum
gewußt.

»Ich bitte um Entschuldigung, Gräfin; ich muß gestehen, daß ich Sie
nicht gesehen habe. Ich war wohl in meine Gedanken vertieft.«

»Und Sie schauten auf den Boden, wo Sie auf die See hätten
hinausblicken sollen.«

»Sie haben die See gern?« fragte er.

»So gern, daß meine Cousine behauptet, ich würde nach meinem Tode in
eine Nixe verwandelt werden.«

Sie war weitergegangen mit einem Blick und einer Handbewegung, die ihn
ermutigt hatten, an ihrer Seite zu bleiben.

»Wenn mich der Schein nicht trügt, so lieben Sie sie auch, nicht wahr?«

»Sehr!« Ihn durchzuckte der Gedanke, woher sie wisse, mit welcher
Regelmäßigkeit er auf der Klippe spazieren ging. »Ich bin oft hier,«
setzte er ruhig hinzu.

»Ja, es liegt etwas Trauliches in dem Rauschen der Wellen, obschon es
so schwermütig ist. Und ich fürchte, Sie müssen sich in Ihrer Klause
sehr einsam fühlen.«

Aus der lieblichen Stimme klang freundliches Interesse und Mitgefühl,
die leuchtenden grauen Augen waren voll Herzensgüte. Cis hätte ihre
eigenen blauen Augen weit aufgerissen, wenn sie die ihrer Cousine
auf Everard Leaths Antlitz hätte ruhen sehen. Er war sich vollkommen
bewußt, daß sie bei ihrer nächsten Begegnung ihn vielleicht kaum kennen
würde, aber trotzdem wurde seine eigene Stimme weicher, milderte sich
seine gewöhnliche, strenge Schroffheit.

Wo gab es einen Mann, den Florence Esmond, wenn sie wollte, nicht hätte
bezaubern können? Es war nur eine Grille, daß sie jetzt mit Leath
sprach, daß sie ihn verlockte, sich mit ihr zu unterhalten, aber sie
brachte ihn dazu.

Was würde Sir Jasper Mortlake empfunden haben, wäre er über die Halde
gekommen und hätte sein Mündel, bequem an eine mit Farn bewachsene
Erhöhung gelehnt, dasitzen sehen, ihren Hut neben sich im Grase, ihr
lichtbraunes Haar vom Winde verweht, und Everard Leath dicht neben
ihr ausgestreckt, so daß sein aufgestützter Ellenbogen fast den Saum
ihres kornblumenblauen Kleides berührte? Sicherlich konnte ihn nur eine
direkte Aufforderung bewogen haben, sich dort niederzulassen.

»Alles, was Sie mir über Queensland erzählen, gefällt mir eigentlich,«
sagte Florence langsam, in Sinnen verloren.

Ihre Unterhaltung hatte schon eine Zeitlang gedauert, als sie diese
Bemerkung machte. Sie hatte das Kinn auf die Hand gestützt, ihre grauen
Augen blickten auf das Meer hinaus, und ihre weiße Stirn war leicht in
Falten gezogen.

»Ja, -- es gefällt mir entschieden. Ich glaube sogar, ich möchte dort
sehr gern leben.«

»Das bezweifle ich, obgleich Sie das Leben dort für einen Besuch
vielleicht ganz erträglich finden würden -- aber als Heimat, nein!«

»Nein? Sie sind sehr bestimmt! Weshalb nicht?«

»Ich glaube, Sie würden sich bald nach England zurückwünschen.«

»Weil alles, an dem mein Herz hängt, hier ist und ich es als meine
Heimat betrachte? Das ist vielleicht wahr. Gerade wie Sie selbst
Australien ansehen.«

»Ja. Ich werde früher oder später dahin zurückkehren,« sagte Leath
ruhig.

»Wenn Ihr Geschäft erledigt ist?«

»Wenn mein Geschäft erledigt ist -- ja.«

Die Antwort genügte; dennoch stieg Florence das Blut in die Wangen, und
sie wußte, daß sie sich verletzt fühlte, weil sie nicht mehr enthielt.
Gegen ihren Willen dachte sie über ihn nach, und gegen ihren Willen
zerbrach sie sich den Kopf über ihn. Was hatte ihn nach St. Mellions
geführt? Was hielt ihn dort zurück? Gräfin Esmond hätte es nicht um
alles in der Welt über sich vermocht, die Fragen zu stellen, aber sie
hätte alles in der Welt darum gegeben, es zu wissen.

Leath gewahrte weder ihr Erröten noch das Aufeinanderpressen ihrer
Lippen. Er veränderte seine Stellung und runzelte einen Augenblick die
Stirn mit einem Ausdruck von Unentschlossenheit, daß ihre Augen ihn
unwillkürlich fragend anblickten. Ihrem Blick begegnend, sagte er:

»Ich möchte wissen, Gräfin, ob Sie mir wohl gestatten würden, eine
Frage an Sie zu richten?«

»Eine Frage?«

Sie vergaß ihre Gekränktheit über ihrer plötzlich erwachenden Neugier,
und außerdem wäre es unerträglich gewesen, ihn glauben zu lassen, daß
sie pikiert sei.

»Gewiß,« sprach sie lächelnd. »Weshalb nicht? Was ist es?«

»Danke! Meine Frage wird Sie vielleicht seltsam dünken,« sagte Leath,
der eine direkte Antwort umging, »und es ist sehr unwahrscheinlich,
daß Sie sie beantworten können, -- das weiß ich. Und doch habe ich
unzählige Male gewünscht, sie zu stellen.«

»Weshalb haben Sie es denn nicht getan?« lautete die Gegenfrage, die
sie auf der Zunge hatte und die ihr fast entschlüpft wäre, aber sie
kannte die Antwort darauf so gut, daß sie noch eben zur rechten Zeit
innehielt. Bis zu jenem Tage hatte sie ihm nur wenig Gelegenheit
gegeben, es zu wagen, Fragen an sie zu richten. »Fragen Sie mich
jetzt!« warf sie leicht hin.

»Das will ich sogleich.« Er blickte sie an. »Erinnern Sie sich, daß Sie
am ersten Tage unserer Bekanntschaft sagten, Sie kennten die meisten,
wenn nicht alle Leute in dieser Gegend?«

»So? Habe ich Ihnen das gesagt? Ich kenne allerdings die meisten, wenn
nicht alle.«

»Und ihre Namen?«

»Und ihre Namen, selbstverständlich!«

Sie lächelte ein wenig verwundert und belustigt.

»Dann also zu meiner Frage. Kennen Sie den Namen Robert Bontine?«

Er hatte sich auf dem Ellbogen aufgerichtet, ein gespannter, lebhafter,
erregter Ausdruck trat in seine Züge.

Florence blickte ihn an und schüttelte langsam den Kopf.

»Bontine?« sagte sie -- »Bontine? Das ist ein wunderlicher Name.
Nein, Herr Leath, es tut mir leid, Ihnen eine Enttäuschung bereiten
zu müssen, aber in ganz St. Mellions habe ich den Namen nicht nennen
hören.«

»Sie wissen das ganz bestimmt?« fragte Leath.

»Ganz bestimmt. Ich könnte Ihnen ein paar Dutzend des Namens Robert
oder Bob aufzählen, aber keinen Bontine. Ich würde mich des Namens
sicherlich erinnern, wenn ich ihn je gehört hätte.«

Sie zögerte einen Augenblick und hub dann mit einem Anfluge von
Befangenheit an, über den sie sich ärgerte, weil sie wußte, daß sie ihr
so gar nicht ähnlich sah: »Erwarteten Sie, ihn hier zu finden?«

»Ich hoffte es.«

»Er ist vielleicht fortgezogen.«

»Vielleicht, aber es ist kaum anzunehmen.« Er sprach in einem
merkwürdigen, erwägenden, mechanischen Tone, gleichsam mehr zu sich
selbst, als zu ihr, und blickte düster auf das Meer hinaus.

»Nein -- er ist hier, wenn ich ihn nur finden könnte, falls er nicht
tot ist.«

Die letzten Worte flüsterte er vor sich hin, und Florence hörte sie
nicht.

»Robert -- Robert?« wiederholte sie sinnend. »So gewöhnlich der Name
auch in dieser Gegend sein mag, so habe ich doch außer Sir Jaspers
Bruder meines Wissens nie einen Robert kennen gelernt.«

»Sir Jaspers Bruder?« Leath wandte sich jäh um. »Ich wußte gar nicht,
daß Sir Jasper einen Bruder hat.«

»Er lebt nicht mehr. Er starb schon vor Jahren. Er und nicht mein Onkel
würde der Besitzer von Turret Court sein, wäre er am Leben geblieben.«

»Der Bruder war also der ältere?«

»O ja -- er war um mehrere Jahre älter.«

»Und er hieß Robert?«

»Ja -- Robert Georg Mortlake. Roy sollte, glaube ich, nach ihm genannt
werden, aber Tante Agathe wollte es nicht, und so unterblieb es.«

»Ist es schon lange her?«

»Daß Robert Mortlake starb? O -- viele Jahre -- ehe Sir Jasper
heiratete -- etwa dreißig -- oder vielleicht noch länger!«

Leath antwortete nicht, er hatte sich schnell erhoben. Durchaus nicht
unzufrieden darüber, -- denn sie fand, daß die Unterhaltung lange genug
gedauert, und hatte während der letzten Minuten schon überlegt, wie
sie ihr am besten ein Ende machen könnte, -- stand Florence ebenfalls
auf und nahm die hilfreiche Hand, die er ihr darbot, als etwas
Selbstverständliches an. So flüchtig und gleichgültig sie sie auch
berührte, so konnte sie doch nicht umhin, zu bemerken, wie kalt sie
war, obgleich sie sich kaum die Mühe nahm, sich darüber zu wundern.

»Ja,« fuhr sie in leichtem Tone fort, »es muß dreißig Jahre her sein,
wenn nicht länger, daß Robert Mortlake starb. Nein -- es sind gerade
dreißig Jahre, denn das Datum steht auf seinem Denkstein in der Kirche.
Sie können sich ihn ansehen, Herr Leath, wenn es Sie interessiert. Er
ist in der südwestlichen Ecke; von unserm Gestühl blickt man gerade
darauf hin. Er liegt natürlich in der Familiengruft im Park begraben
wie alle Mortlake. Er wurde deshalb hierher geschafft.«

»Hierher geschafft?« wiederholte Leath hastig. »Starb er denn im
Auslande?«

»Freilich! Er war meistens im Auslande -- hat sich in der ganzen Welt
umhergetrieben -- wo, weiß ich nicht.«

Sie dämpfte die Stimme, beugte sich etwas näher zu ihm hinüber und
schlug die grauen Augen mit plötzlicher Vertraulichkeit zu ihm auf.
»Wissen Sie, ich sagte eben, Tante Agathe hätte nicht gewollt, daß
Roy nach ihm genannt wurde. Nun -- das war der Grund: er war ein
schrecklicher Tunichtgut.«

»Inwiefern?«

»Inwiefern? Was weiß ich!« Sie zuckte die Achseln. »Was meint man
gewöhnlich, wenn man von einem Menschen als von einem schrecklichen
Tunichtgut spricht? Wohl, daß er’s in jeder Beziehung ist. Mehr habe
ich nie darüber gehört, Robert Mortlake ist verfemt in Turret Court.«

»Sir Jasper spricht nicht von ihm?«

»Nein -- und duldet auch nicht, daß irgendein anderer es tut. Selbst
sein unschuldiges Bild hängt verkehrt an der Wand. Ich war indiskret
genug, es umzudrehen und mir anzuschauen -- es ist noch gar nicht lange
her -- und Sir Jasper war schrecklich -- war furchtbar böse. Ich, o --
o --«

Sie trat zurück, ihre grauen Augen hingen mit einem plötzlichen
Ausdruck der Bestürzung und Verwunderung an Leaths Antlitz; die frische
Farbe wich aus ihren Wangen, und sie wurde bleich.

Verwundert über ihr schreckensvolles Erstaunen, das ihm auffallen
mußte, blickte er sie an und sagte: »Was ist Ihnen?«

»Nichts -- nichts!« Sie schüttelte hastig den Kopf. »Ich muß gehen,
Herr Leath; es ist später, als ich dachte. Nein -- kommen Sie nicht mit
mir -- bitte, nicht! Leben Sie wohl!«

Sie reichte ihm zum Abschiede die Hand, obgleich sie schon zu sich
gesagt, daß das eigentlich ganz überflüssig sei, und eilte leichtfüßig
über das kurze, braune Gras dahin. Sie warf noch einen Blick über die
Schulter zurück und fand bestätigt, was sie schon gewußt, als sie ihn
noch auf dem Flecke, wo sie ihn verlassen, stehen und ihr nachblicken
sah. Sie ahnte freilich nicht, daß, obwohl seine Augen unverwandt an
ihrer hellen Gestalt hingen, er sich dessen nicht bewußt war. Er hatte
die Wahrheit gesprochen, als er Sherriff in bitterem Tone erklärte, daß
ihn anderes beschäftigte als der Gedanke an die Schönheit einer Frau.

»Welch ein dummer Einfall mir da gekommen ist!« sagte sie halblaut
in vorwurfsvollem Tone zu sich selbst. »Und doch kam er mir in einem
Augenblick und traf mich wie ein Schlag. Natürlich kann es nur
Einbildung sein! Natürlich! Und doch würde es erklären --. Bah! Welcher
Unsinn! Weshalb sollte ich nach einer Erklärung suchen, wo mir weder
an der ganzen Sache noch an dem Manne selbst das mindeste liegt! Es
war dumm von mir, so mit ihm zu reden; die Angelegenheit von Turret
Court geht ihn gar nichts an. Ich wollte mitunter, ich wäre nicht eine
solche Plaudertasche, aber was kann man von einem irischen Mädchen
wohl anderes erwarten?« Sie lachte mit einem Anfluge von Ungeduld und
fuhr dann in strengem Tone fort: »Auf alle Fälle etwas Besonnenheit.
Deshalb, Florence Esmond, solltest du besagtem Individuum wieder auf
der Halde begegnen, so wirst du die Güte haben, daran zu denken, daß du
nicht mit ihm reden darfst.«

Solch einen Entschluß zu fassen, war eine Sache -- ihn auszuführen,
eine andere. Möglicherweise waren die Schicksalsgöttinnen ihm abhold,
denn es geschah, daß in den zwei oder drei nächsten Wochen weitere
Begegnungen auf der Halde stattfanden, und es trug sich ebenfalls zu,
daß Gräfin Florence sich meistens am Ende und nicht am Anfang dieser
Zusammenkünfte ihres Entschlusses, sich nicht mehr mit Everard Leath
zu unterhalten, erinnerte. Es war sehr langweilig in Turret Court, was
vielleicht eine Entschuldigung für sie war.



11.


»Es ist schon Mitte August, und die Abende werden merklich kürzer. Ich
zählte heute morgen acht braune Blätter auf dem Pflaumenbaum. Jeder
Sommer ist kürzer als der vorhergehende. Talbot, ich glaube, ich werde
alt,« sprach Gräfin Florence.

Das Mittagessen in Turret Court war vorüber. Es war sehr langweilig
gewesen. Sir Jasper war in seiner wortkargsten, unnahbarsten Stimmung.
Harry und Roy hatten in Arborfield gesessen. Jetzt hatte man den Baron
sich selbst überlassen, damit er bei seinem Glase Wein ein Schläfchen
halte oder grüble, wie es ihm beliebte. Lady Agathe hatte sich in ihren
Roman vertieft, und Cis war verschwunden, -- wahrscheinlich, um sich
in ungestörter Einsamkeit weiter zu langweilen. Chichester, der beim
Betreten des Salons seine Braut an einem der hohen Terrassenfenster
stehen sah, hatte sich naturgemäß zu ihr gesellt.

»Ja, jeder Sommer ist kürzer als der vorige. Ich glaube, ich werde alt,
Talbot!« wiederholte Gräfin Florence mit einem Seufzer.

Aber sie lachte, während sie das sagte, denn sie wußte, daß sie Unsinn
sprach. Sie sah in der Tat heute abend fast wie ein Kind aus. Sie
trug Schwarz, was mitunter eine Laune von ihr war, einen leichten,
wolkigen und so dünnen Stoff, daß ihre weich gerundeten Schultern
und Arme weiß hindurchschimmerten. Sie hielt einen großen hellblauen
Federfächer in der Hand, und ein Sammetband derselben Farbe hielt den
lose verschlungenen Knoten ihres kastanienbraunen Haares zusammen. Ihre
Lippen waren dunkelrot, ihre lachenden Augen sahen im Zwielicht fast
schwarz aus.

Chichester blickte zu ihr nieder und lächelte nachsichtig und
beifällig. Er bewunderte ihre Schönheit wirklich sehr. Unter den
Familienbildern in Highmount gab es viele liebliche Frauengesichter,
aber keines war schöner als das ihre. Es war ihm lieb, daß dem so war,
und es mahnte ihn daran, daß er ihr heute abend etwas Besonderes zu
sagen habe.

»Alt?« wiederholte er. »Meine liebe Florence, das wird noch einige
Jahre dauern, ehe ich das von mir selbst sage -- wie viele also, ehe du
es zu tun brauchst. Willst du nicht Platz nehmen? Ich möchte etwas mit
dir besprechen.«

Er schob einen ihrer Lieblings-Schaukelstühle für sie in die
Fensternische; er war immer außerordentlich aufmerksam und artig.
Florence blickte widerstrebend auf den Sessel nieder und schnitt eine
kleine Grimasse. Vielleicht wußte sie nur zu gut, wovon er reden
wollte. Der Gegenstand war ihr sehr unerwünscht, aber sie war in
schalkhafter Stimmung und aufgelegt, ihn zu necken. Sie setzte sich
schmollend.

Er zog seinen eigenen Stuhl dicht an den ihren und nahm ihre Hand.
Gerade so hatte er es gemacht, als er um sie anhielt. Daran mußte das
junge Mädchen denken.

»Ich habe schon mit Sir Jasper über unsere Hochzeit gesprochen,« hub er
an, »ich möchte, daß sie bald stattfände. Ich bitte dich, so bald wie
möglich einen Zeitpunkt zu bestimmen! Je früher, desto besser, -- das
brauche ich wohl kaum hinzuzusetzen.«

Er küßte ihr die Hand, und wieder wurde sie an den Tag, an dem er sich
mit ihr verlobte, erinnert; sie wußte noch sehr wohl, wie sie dankbar
und erleichtert aufgeatmet, daß das alles gewesen, was er getan.

»Ich sehe nicht ein, daß irgendein Grund zur Eile vorliegt,« versetzte
sie. »Wir sind erst seit kurzer Zeit verlobt!« Ihre Stimme nahm einen
weichen, einschmeichelnden Klang an. »Es kommt mir vor, als sei es erst
gestern gewesen!«

»Es sind zwei Monate -- eine ziemlich lange Zeit!«

»Nein, nein -- eine sehr kurze Zeit! Cis und Harry, die seit
undenklichen Zeiten verlobt und seit einer Ewigkeit ineinander verliebt
sind, haben noch nicht einmal angefangen, über ihre Hochzeit zu reden!«

»Möglicherweise nicht,« beharrte Chichester. »Ich sehe wirklich nicht
ein, was uns das angeht. Ich hoffe, du wirst die Frage in Erwägung
ziehen. Du wirst sicherlich keinen Grund haben, weshalb du das nicht
tun solltest.«

»Keinen Grund?« Sie lehnte sich in ihren Stuhl zurück und lachte
übermütig. »Ich könnte dir ein Dutzend an den Fingern herzählen, aber
ich will barmherzig sein und nur einen anführen -- die Herzogin!«

»Die Herzogin? Sie hat ihre Einwilligung gegeben!«

»Zu unserer Verlobung -- ja. Aber, daß wir auch nur an unseren
Hochzeitstag denken ohne ihre erhabene Erlaubnis -- nein, tausendmal
nein! Und du verlangst wirklich, daß ich den Tag bestimme, solange sie
in Pontresina weilt? Unmöglich!«

»Du meinst, wir müssen die Dinge lassen, wie sie sind, bis sie nach
England zurückkehrt?«

»Allerdings. Ganz entschieden.«

»Du scheinst damit andeuten zu wollen, daß jedermann bange vor ihr ist.«

Sein Ton klang unverkennbar ungeduldig.

»Nur andeuten? Ich behaupte es sogar. Ich persönlich zittere vor
ihr. Der Herzog starb jung; wie es hieß, eines unnatürlichen Todes.
Man hatte recht -- die Ursache seines vorzeitigen Ablebens war die
Herzogin!«

Sie bewegte den Fächer hin und her und begann vor sich hinzusummen.

»Du bist also allen Ernstes der Ansicht, daß wir alles beim alten
lassen, bis sie zurückkommt, was vielleicht erst in vier Monaten
geschieht.«

»Freilich.«

»Und du möchtest nicht, daß ich noch weiter über die Sache rede?«

»Bitte, nicht. Es ist doch kein sehr interessantes Thema, nicht wahr?
Welch wundervoller Mond? Und schlug nicht dort eine Nachtigall?«

Talbot Chichester würdigte sie keiner Antwort. Florence war sich
vollkommen bewußt, wie finster sein Antlitz war, und sie begann leise
hinter ihrem Fächer zu singen. Plötzlich ließ sie ihn sinken, lehnte
sich zurück und blickte mit einem Ausdruck drolliger Zerknirschung zu
ihm empor.

»Ich bin ein wahrer Kobold,« sagte sie, »das denke ich oft -- wirklich.
Ich habe dich eben geneckt, bis ich dich fast böse gemacht habe, und
doch wirst du nicht leicht böse. Weshalb habe ich das nur getan? Aus
reiner Bosheit, glaube ich. Gib mir eine Ohrfeige dafür, wenn du
willst!«

Sie beugte sich lachend etwas näher zu ihm. Chichester rührte das
hübsche Ohr nicht an. Er lächelte ein wenig gezwungen und begnügte sich
damit, ihr die Hand auf die Schulter zu legen.

»Meine liebe Florence, ich gestehe, ich möchte dich etwas ernster und
vernünftiger in dieser besonderen Sache sehen. Ja, wenn ich offen meine
Meinung aussprechen soll, in vielen Sachen.«

»Was wohl heißt, daß ich gräßlich oberflächlich bin?« Sie blickte ihn
mit funkelnden Augen an.

»Ich würde nicht ›gräßlich‹ sagen.«

»Nicht? Aber ich. Ja, ich bin ein oberflächliches, törichtes,
leichtsinniges Geschöpf, und du bist ein ernster, gesetzter,
verständiger Mann. Wir sind grundverschieden, und ich weiß, daß ich
dich hin und wieder schrecklich langweilen muß. Und wir sind verlobt --
wollen unser ganzes übriges Leben miteinander verbringen!«

Sie entzog ihm die Hand, stand auf und lehnte sich an die Gardine.
»Ist dir je der Gedanke gekommen, Talbot, daß wir gar nicht zueinander
passen könnten?« fragte sie, zu ihm aufblickend.

»Aber, liebe Florence!« wandte er in einem halb nachsichtigen, halb
ungeduldigen Ton ein.

Sie sah ihn sinnend an. »Ich glaube, ich würde an deiner Stelle mir
mein Wort zurückgeben.«

»Dir dein Wort zurückgeben?« Er war so grenzenlos überrascht, daß er
ihre Worte ganz mechanisch wiederholte, während er sie fassungslos
anstarrte.

»Ja -- ich würde es wirklich tun. Weshalb nicht? Mit mir ist nicht
leicht fertig zu werden, und du liebst ein ruhiges Leben. Wir könnten
es ›nach gegenseitiger Übereinkunft‹ tun, wie man sagt. Das ist besser
als gegenseitige Uneinigkeit hinterher. Dir würde es das Herz brechen,
weißt du, und was mich anbetrifft -- nun, ich habe keines zu brechen!
Ich will an die Herzogin schreiben und ihr sagen, daß es allein meine
Schuld ist. Soll ich?«

Sie hielt die linke Hand empor und zeigte den blitzenden Ring. »Er
sitzt sehr lose -- er würde in einem Augenblick abzustreifen sein.
Sieh!«

Ihre Stimme hatte den munteren, scherzenden Ton behalten, aber es
klang ein seltsamer, halb rührender Ernst hindurch. Er ergriff ihre
Hand und schob den Ring mit festem Druck wieder an seinen Platz. Er
sah verdrießlich aus und gab sich keine Mühe, seine Verstimmung zu
verbergen.

»Mein liebes Kind, bitte, sei nicht albern! Du bist heute abend
wirklich kindischer denn je. Zum Glück fällt es mir nicht im Traume
ein, dich ernst zu nehmen. Wenn du nicht aufgelegt bist, über unsere
Hochzeit zu sprechen, so will ich dich jetzt nicht durch ein weiteres
Eingehen auf die Sache ärgern. Laß uns von etwas anderem reden! Was
lasest du eben? Gedichte, glaube ich.«

»Ja.«

Mit völlig verändertem Tone wandte sie sich von ihm und sank apathisch
wieder in ihren Stuhl, während er den zerlesenen braunen Band aufnahm,
den sie hatte fallen lassen.

»Es sind Adam Lindsay Gordons Gedichte.«

»Adam Lindsay Gordon? Ich entsinne mich des Namens gar nicht.«

»Vielleicht hast du ihn noch nie gehört. Er ist ein australischer
Schriftsteller. Herr Leath hat mir das Buch geliehen.«

»Leath?«

Chichester runzelte die Stirn und legte das Buch nieder. »Du meinst
doch nicht meinen Mieter -- Leath, der in Lychet Hut wohnt?«

»Ja, ich kenne keinen anderen Leath,« sagte das Mädchen kurz.

»So? Aber ich verstand, daß Sir Jasper ihn nicht leiden könne, und daß
er hier nicht verkehrt?«

»Das tut er auch nicht, aber ich habe ihn mehrmals im Bungalow gesehen
und bin ihm hin und wieder auf der Halde begegnet. Er scheint dort
ebensogern umherzuschlendern wie ich.«

»Auf der Halde? Aber, meine liebe Florence, er hat es doch sicherlich
nicht gewagt, dich dort anzusprechen?«

Blick und Ton ließen eine innere Unruhe erkennen; sein glattes
schönes Gesicht wurde rot. Florence schaute ihn mit einem Ausdruck
gleichgültiger Verwunderung an.

»Wir haben uns dort unterhalten, wenn du das meinst,« sagte sie in
nachlässigem Tone, »ich weiß aber nicht, wer von uns die Initiative
ergriffen hat. Vielleicht bin ich es gewesen. Ich glaube, ich muß es
wohl gewesen sein, auf jeden Fall das erstemal. Er spricht sehr gut,
und seine Unterhaltung fesselt mich. Heute morgen brachte er mir dies
Buch! Ich hatte geäußert, daß ich es gern sehen möchte.«

»Du hattest eine Verabredung mit ihm getroffen?«

»Nein -- das nicht. Er hatte gesagt, er wolle es mitbringen, auf die
Möglichkeit hin, daß ich da sein würde. Ich hatte nichts zu tun und
ging hin. Einige der Gedichte sind sehr gut. Du solltest sie lesen.«

»Es war eine große Unverschämtheit von ihm, über die ich mich
außerordentlich wundere.«

Er sagte dies sehr zornig, und sie blickte ihn über ihren Fächer hinweg
an, während der halb belustigte, halb spöttische Ausdruck auf ihrem
Antlitz deutlicher hervortrat.

»Mit mir zu sprechen, wenn ich ihn anredete, nachdem ich ihn mehrmals
hier und anderswo getroffen hatte? Oder mir ein Buch zu bringen, das
ich gern sehen wollte?« fragte sie kalt. »Ich kann nicht sagen, daß ich
mit dir übereinstimme, Talbot. Du hättest doch wohl nicht gewollt, daß
ich ihn ohne Grund geschnitten hätte?«

»Gewiß nicht -- nein!« Sein ungewohnter Ärger legte sich. »Aber,
meine liebe Florence, ich bin, wie du weißt, kein Freund davon,
einen vertraulichen Verkehr zwischen den verschiedenen Klassen zu
begünstigen. Das ist nach meiner Ansicht einer der verhängnisvollen
Fehler unserer Zeit. Du hast ohne Zweifel nicht genug darüber
nachgedacht, sonst würdest du diesen Herrn Leath nicht ermutigt haben,
als er sich zum erstenmal unterstand, dich anzureden. Ich bin überzeugt
davon, daß du das in Zukunft nicht wieder tun wirst.«

»Du meinst, ich sollte ihn nicht mehr kennen?« fragte das Mädchen.

»Ich bin für ein artiges Benehmen gegen unter uns Stehende. Aber,
bitte, laß ihn nicht wieder auf der Halde mit dir reden! Ja, ich muß
das dringend von dir fordern. Und ich darf vielleicht hinzusetzen, daß
die Tatsache der großen Abneigung, die Sir Jasper gegen ihn hat --«

Er brach ab. Florence entfuhr ein leiser Ausruf der Verwunderung.
Der Teppich war so dick, und die Schirmlampen erhellten den großen
Raum so wenig ausreichend, daß keiner von ihnen das fast geräuschlose
Näherkommen des Barons gewahr geworden, und es war kein geringer
Schreck, seine hohe Gestalt unmittelbar vor sich zu sehen. Er blickte
von einem zum anderen.

»Ich glaubte, ich hörte meinen Namen nennen,« sagte er. »Meine große
Abneigung wogegen, wenn ich fragen darf?«

Seine Stimme hatte ihren schärfsten, spöttischsten Ton; seine kalten
grauen Augen hingen an dem Gesicht seines Mündels. Wäre der Blick nicht
gewesen, so hätte Florence ihrem Verlobten vielleicht die Antwort
überlassen; aber es verdroß sie, und sie gab sofort schroff und schnell
zurück -- vielleicht in dem Augenblick nicht ganz ohne die Absicht,
ihren Verlobten zu ärgern:

»Talbot sprach von Herrn Leath, und ich gab meiner Verwunderung darüber
Ausdruck, weshalb du es dir in den Kopf gesetzt hast, ihn nicht leiden
zu mögen, Onkel Jasper!«

»Leath?« Seine Augen wanderten von einem zum anderen, dann lachte er.

»Sie müssen Mangel an Gesprächsstoff haben, Chichester, wenn Sie den
jungen Menschen zum Gegenstand Ihrer Unterhaltung machen! Oder sagten
Sie vielleicht, daß Sie es bedauerten, meinem Rate nicht gefolgt zu
sein und ihm Ihr Haus vermietet haben? Nun, ich habe Sie gewarnt --
vergessen Sie das nicht.«

»Ich erinnere mich sehr wohl, daß Sie das getan. Aber als Mieter habe
ich mich über Leath nicht zu beklagen,« gab Chichester mit verwundertem
Blick zur Antwort, denn er war ein ehrlicher und streng gerechter Mann,
und Sir Jaspers Warnung war ihm wie unverständlich.

»Ich habe bis jetzt keinen Grund, es zu bedauern, daß ich ihm das Haus
vermietet, ja, ich sage sogar, daß er, so viel ich weiß, ein durchaus
anständiger Mensch ist.«

»Der wahrscheinlich hier am Orte bleiben wird?«

»Das vermute ich -- bis sein Mietsvertrag abläuft. Er hat mir indessen
zu verstehen gegeben, daß er sich hier wahrscheinlich nur eine Zeitlang
aufhalten würde.«

»Weshalb nur eine Zeitlang? Was kann er in einem Orte wie St. Mellions
zu tun haben?« fragte der Baron in demselben schroffen, kurzen Tone. Er
war dicht an das offene Fenster getreten und stand halb im Zimmer, halb
draußen, den beiden anderen den Rücken zuwendend.

»Ich habe ihn wirklich nie gefragt! Ich dachte an eine geschäftliche
Angelegenheit.«

»Eine sehr wichtige Angelegenheit,« warf Florence leicht dazwischen.
Sie hatte keinen anderen Beweggrund, als die Absicht, ihren Vormund
zu ärgern, wie sie vorhin ihren Verlobten geärgert und geneckt hatte.

»Herr Leath ist nach St. Mellions gekommen, um jemand zu suchen, Onkel
Jasper.«

»Was?«

Er fuhr zusammen und stand dann wie erstarrt.

»Um jemand zu suchen,« wiederholte Gräfin Florence gleichmütig. »Er hat
es mir erzählt. Und der Jemand ist ein Mann. Apropos, er hat mir eine
Frage gestellt, die ich an dich richten möchte. Kennst du einen Robert
Bontine, oder hast du den Namen je gehört?«

»Nein!«

Er trat wieder auf die Terrasse hinaus. Florence folgte ihm mit den
Augen.

»Das habe ich mir schon gedacht. Nun, er ist nach St. Mellions
gekommen, um den Mann aufzusuchen. Wenn du mich fragst, weshalb,
so muß ich gestehen, daß ich das nicht weiß; aber er beabsichtigt,
ihn aufzufinden, und ich glaube, es wird ihm gelingen. Ich sagte
ihm, ich hätte den Namen nie gehört, und erzählte ihm, der einzige
Robert, der zu uns in Turret Court in Beziehung stände, sei dein
verstorbener Bruder, Onkel Jasper. Es ist natürlich ihn höchsten Grade
unwahrscheinlich, aber ich dachte, ich wollte dich fragen, -- ich muß
gestehen, es interessiert mich ein wenig, -- ob du je einen Namen
Robert Bontine gehört hättest?«

Sir Jasper hatte sich noch weiter aus dem Bereich des Fensters
entfernt. Aus der linden Sommernacht klang seine Stimme langsam und
scharf zurück.

»Ich kenne keinen Robert außer meinem verstorbenen Bruder. Ich habe den
Namen Robert Bontine niemals gehört.«



12.


Es war ein außerordentlich heißer, drückender Tag gewesen. Seit
dem Morgen hingen drohende Wolken tief am Himmel und verhüllten
die Bergkuppen; über ihnen stand die Sonne wie eine strahlenlose,
dunkelrote Feuerkugel; nicht der mindeste Lufthauch regte sich auf
der Halde; die See rauschte nur leise plätschernd gegen das Gestade.
In der Atmosphäre hatte jene beängstigende Schwüle gelegen, die einem
heraufziehenden Gewitter voranzugehen pflegt.

Die Dämmerung brach mit fast tropischer Plötzlichkeit herein. Everard
Leath, der allein in seinem Wohnzimmer in Lychet Hut saß, blickte
erschrocken auf, als jäh ein schwarzer Schatten auf die Seite des
Buches fiel, die er gerade umschlug. Er legte den Band nieder und
trat, die Zigarre zwischen den Lippen, an das eine der beiden weit
offenstehenden Fenster. Das Zimmer reichte von einem Ende des Häuschens
zum andern, und von diesem Fenster blickte man quer über den Garten
nach dem Fahrwege hinüber, der nach Lychet Hook führte.

»Bei Gott, es wird gleich losbrechen!« sagte er halblaut vor sich hin.

Er wartete. Durch das schwere Gewölk zuckten grelle Blitze, auf die
ein leises, dumpfes Donnergrollen folgte; der Wind erhob sich in
heulenden Stößen, und dann rauschte und prasselte der Regen plötzlich
wolkenbruchartig herab. Als Leath an das zweite Fenster eilte, um es
zu schließen, da der Regen von jener Seite kam, wurde das fast dunkle
Zimmer durch helle, blaue Blitze erleuchtet, und der Donner krachte
immer näher.

»Schlimmer noch als am Tage meiner Ankunft,« sagte er wieder vor sich
hin. »Aber diesmal hat es nicht an warnenden Vorboten gefehlt. In
diesem Unwetter möchte ich nicht auf der Halde sein. Die Leute, die
behaupten, daß man sein Lebtag an die Rippondaleschen Gewitter denkt,
haben recht. Dort ist wahrhaftig noch jemand unterwegs!«

Der Hufschlag eines Pferdes, obwohl durch das Toben des Wetters
übertäubt, tönte jetzt vernehmlich genug von der Landstraße herüber,
wenn auch die Biegung des Weges Leath noch nicht erkennen ließ, wer es
war, der dort nahte. Im nächsten Augenblick sprengten Roß und Reiterin
durch die offenstehende Pforte quer durch den Garten und verschwanden
um die Ecke des Hauses.

Mit einem lauten Ausruf ungläubigen Staunens stürzte Leath auf die
Tür zu, riß sie auf und kam doch, trotz seiner Hast, kaum rechtzeitig
genug, um Florence Esmond aufzufangen und zu stützen, als sie aus dem
Sattel sprang.

»Sie müssen mich hierbleiben lassen,« rief sie keuchend, während sie
sich an seinen Arm klammerte und taumelnd nach Atem rang. »Und die
Stute auch, sie hat sich geängstigt, ich habe fast die Herrschaft über
sie verloren. Hätte sie noch weiter gemußt, so würde sie ganz und gar
mit mir durchgegangen sein.«

»Natürlich -- natürlich!«

Er faßte nach dem Zügel des erschreckten, sich bäumenden Tieres. »Gehen
Sie, bitte, hinein, Gräfin, und lassen Sie mich die Tür schließen. Sie
müssen bis auf die Haut durchnäßt sein.«

Sie lief ins Haus. Leath führte das zitternde Pferd hinein, machte
die Tür zu und führte die Stute durch den schmalen Korridor in die
mit Steinfliesen gepflasterte Küche hinter dem zweiten Zimmer, die
die andere Seite der einzigen Behausung bildete. Lychet Hut besaß
einen Stall, aber er lag jenseits des Gartens, und bei einem solchen
Wolkenbruch auch nur die paar Meter zu gehen, konnte nicht in Frage
kommen. Einige Augenblicke verbrachte er damit, -- was er sehr gut
verstand, -- das am ganzen Leibe bebende, in Schweiß gebadete Tier zu
beschwichtigen und zu beruhigen, und kehrte dann ins Wohnzimmer zurück.

Die kurze Zeit hatte für Florence ausgereicht, sich dort schon fast
heimisch zu fühlen. Ihr Hut und ihre Stulphandschuhe lagen auf dem
Tische; sie schüttelte die Regentropfen von ihrem Reitkleide und
wischte sie sich mit dem Taschentuche von Schultern und Armen. Mit
einem Lachen blickte sie sich um, als Leath eintrat.

»Dies soll ein neuer Patent-Tuchstoff sein,« sagte sie, »der keinen
Tropfen Wasser durchläßt. Hoffentlich bewährt er sich, obwohl ich nicht
glaube, daß der Verkäufer sich auch für eine Sintflut verbürgte.«

»Ich hoffe, Sie sind nicht sehr naß?«

»Nein -- dazu hatte ich keine Zeit. Ich war ganz in der Nähe, als der
Regen anfing, und bekam nur den ersten Guß. Wie geht es Orange Lily?«

»Der Stute? Ganz gut -- ich habe sie beruhigt.«

»Das arme Geschöpf hat sich so geängstigt! -- Es war ein Glück, daß mir
Lychet Hut einfiel, und daß Sie hier wohnen! Ich würde nie und nimmer
über die Halde gekommen sein!«

»Allerdings nicht. War es nicht recht unvernünftig, sich ins Freie zu
wagen? Das Gewitter stand schon seit einigen Stunden am Himmel.«

»Vielleicht. Aber -- o, was für ein Blitzstrahl! Sehen Sie! Ist es
nicht wundervoll?«

Sie wandte sich dem Fenster zu, und er mit ihr. Über ihnen krachte
der Donner wahrhaft betäubend; der Regen goß in Strömen herab,
zackige Blitze zuckten durch die nachtschwarzen Wolken, der Horizont
erschien auf Augenblicke wie ein loderndes, blaues Flammenmeer. Im
Schein der Blitze sah er Florence mit weitgeöffneten Augen und fest
aufeinandergepreßten Lippen, bleich, mit angehaltenem Atem dastehen.
Leath trat einen Schritt auf sie zu.

»Sie ängstigen sich doch hoffentlich nicht?« fragte er in sanftem Tone.

»Sonst ängstige ich mich nicht; ich habe unsere Gewitter gern. Aber das
heutige hat etwas Furchtbares, nicht wahr? Man könnte fast glauben, die
ganze Atmosphäre stände in Flammen! Es freut mich, daß ich nicht allein
bin.«

»Soll ich die Fensterläden vorlegen?«

»Nein, lieber nicht.«

»Dann müssen Sie sich setzen.«

Er rollte einen großen Lehnstuhl herbei, in den sie sich mechanisch
niederließ. »Es muß wenigstens bald vorüber sein,« meinte er, »so kann
es nicht lange fortgehen.«

»Ganz so schlimm nicht -- aber vor zwei oder drei Uhr morgens wird es
kaum vorüber sein. Unsere Gewitter dauern gewöhnlich ziemlich lange,
besonders wenn sie sich langsam zusammengezogen haben wie dieses.«

Leath fuhr mit einem unwillkürlichen Stirnrunzeln zusammen und blickte
sie unruhig an. Ihre Stimme hatte gelassen und unbefangen geklungen,
und ihr Antlitz war ihm abgewandt, während er in das Unwetter
hinausblickte. Es trat eine Pause ein, während der keiner von den
beiden sprach. Dann trat er an den Tisch.

»Es ist fast dunkel,« bemerkte er ruhig. »Es wird Ihnen gemütlicher
sein, Gräfin, wenn ich die Lampe anzünde.«

Er zündete die Lampe an und kehrte dann wieder zu ihr zurück; ehe er zu
sprechen anhub, beobachtete er ein Weilchen, wie ihr lichtes Haar im
gelben Lampenschein erglänzte. Ihr Liebreiz war ihm der bezauberndste,
holdseligste, auf dem seine Augen jemals geruht, obgleich er sich
streng sagte, daß er mit Frauenschönheit nichts zu schaffen habe.

»Sie wollten mir erzählen, wie es gekommen, daß Sie ausgeritten?« sagte
er. »Sie kamen also von Lychet Hook!«

»Ja, -- ich war nach Brentwood Hall geritten. Ich habe Marion Lockyer,
Lady Brentwoods Nichte, mit der ich seit unserer Kinderzeit sehr
befreundet bin, sehr lieb. Marion, die auf einige Zeit aus Schottland
zum Besuche eingetroffen, schrieb mir heute morgen und bat mich, zu ihr
zu kommen. Das tat ich denn auch, und das erklärt die Sache.«

Nichts hätte ungezwungener, freimütiger und herzlicher sein können als
ihr Ton und ihr Benehmen. Von jener ›Höflichkeit gegen Untergebene‹,
die Herr Chichester so gnädig geruht zu billigen, war nichts zu spüren.

»Aber es ist keine Erklärung dafür, daß Sie den Heimritt gewagt,
sollte ich denken. Wäre es nicht vernünftiger gewesen, wenn Sie dort
geblieben?«

»Ohne Frage, so wie sich die Dinge gestaltet haben.« Sie lachte. »Lady
Brentwood wollte mich natürlich dort behalten, aber ich glaubte, ich
würde noch vor Ausbruch des Gewitters nach Hause gelangen. Ich muß doch
wohl nicht so wetterkundig sein, wie ich gedacht habe.«

»Ich fürchte, man wird sich in Turret Court um Sie ängstigen.« Sein
Benehmen verriet noch eine gewisse Unruhe, sein Ton war kurz und
trocken und bildete den denkbar größten Gegensatz zu dem ihren.

»Ach nun -- sie werden annehmen, daß ich dort geblieben! In Brentwood
Hall wird man sich um mich ängstigen. Aber es ist einzig und allein
meine eigene Schuld. Ich wollte durchaus fort und nicht einmal einen
Reitknecht mitnehmen. Töricht -- nicht wahr?«

»Sehr! Sie hätten bleiben sollen!«

Die Worte wurden mit einer schroffen, scharfen Strenge gesprochen, an
die Gräfin Florence Esmond durchaus nicht gewöhnt war. In solchem Tone
hatte er noch nie zu ihr geredet. Aber sie nahm es nicht übel; der
Blick, den sie ihm zuwarf, war halb belustigt und halb verwundert; --
welch peinliche Bestürzung und Ratlosigkeit ihn ihretwegen marterte,
davon hatte sie noch nicht die leiseste Ahnung.

»Sie sind nicht sehr liebenswürdig, Herr Leath!« Sie verzog schmollend
die Lippen, aber sie war dem Lachen viel näher als dem Ärger. »Es war
zu schlimm, Ihr Haus so buchstäblich im Sturme zu nehmen, das weiß ich,
aber trotzdem brauchen Sie nicht so auszusehen, als wünschten Sie mich
dahin, wo der Pfeffer wächst.«

»Ich wollte allerdings, Sie wären in Brentwood Hall geblieben!«

»Das scheint so.«

Sie war so ahnungslos über den Grund seines Stillschweigens und der
ungeduldigen Bewegung, die er machte, daß sie nur noch schelmischer
lachte.

»Ich muß gestehen, daß Sie weder sehr gastfrei noch sehr dankbar sind,«
meinte sie vorwurfsvoll und schmollte wieder. »Sie wissen, daß ich
Ihnen Schutz gewährte.«

»Ich weiß. Das werde ich nie vergessen.«

Er durchmaß das Zimmer ruhelos, dann kam er zurück und blickte mit
unruhigem, unentschlossenem Ausdruck in den Zügen in ihr lächelndes
Antlitz nieder. »Gräfin, Sie müssen wissen, daß Sie absichtlich die
Wahrheit verkennen, wenn Sie so tun, als glaubten Sie, daß Sie mir
nicht tausendmal willkommen sind, daß ich nicht mit Freuden alles und
jedes für Sie täte, was in meiner Macht steht! Aber hier dürfen Sie
nicht bleiben!«

»Nicht hier bleiben? O, das muß ich aber.« Sie setzte sich in ihrem
Stuhle aufrecht und blickte ihn mit verwunderten Augen an -- sie
war aufrichtig erstaunt und überrascht; sie verstand ihn nicht im
mindesten. »Sehen Sie doch nur -- hören Sie nur! Kann ich in diesem
Unwetter über die Halde reiten? Nicht um die Welt täte ich das --
nicht, wenn ich ein Dutzend Leute bei mir hätte!«

»Nein -- ich weiß -- ich weiß!« Er machte eine Handbewegung nach
dem Fenster hin, gegen das der Regen mit unverminderter Heftigkeit
schlug, und sein Gesicht verdüsterte sich noch mehr. »Ich weiß, es ist
augenblicklich unmöglich,« sagte er. »Das meinte ich nicht. Aber das
Gewitter kann vorüberziehen: in einer Stunde kann alles vorbei sein.«

»Vielleicht -- aber nicht wahrscheinlich. Und die Landstraße wird in
einen wahren Morast verwandelt sein -- wie immer nach einem unserer
Gewitter. Es tut mir sehr leid, Herr Leath, aber ich fürchte, Sie
werden mich bis zum Morgen hier behalten müssen.«

»Es ist unmöglich, Kind!« In seiner Ratlosigkeit und Gereiztheit
stampfte er mit dem Fuße; ihr unschuldiger Eigensinn und ihre arglose
Gelassenheit trieben ihn fast zur Verzweiflung, obgleich er sich trotz
allem einer Empfindung bitterer Lustigkeit nicht erwehren konnte.
Aus ihren letzten Worten klang es wie verwundeter Stolz, wie eine
Regung schmerzlichen Ärgers, was die Sache nur noch schlimmer machte.
Sie war augenscheinlich nahe daran, böse auf ihn zu werden. »Es ist
ausgeschlossen, daß Sie hier bleiben,« sprach er. »Was würden sie in
Turret Court denken?«

»Nichts, wie ich schon sagte. Sie werden glauben, ich sei bei
Brentwoods geblieben.«

Sie war noch zu bestürzt und erstaunt, um zornig zu werden; in dem
Antlitz, das zu ihm aufblickte, lag nicht das leiseste Verständnis
für die Situation. Aber als sie seinen Augen begegnete, errötete sie
plötzlich bis zu den Haarwurzeln und wich, nach Atem ringend, zurück.

»Ich glaube gar, Sie halten es für unpassend!« rief sie ungläubig, »und
meinen, sie werden böse sein, weil ich hier bei Ihnen bin!«

»Ich befürchte allerdings, daß Ihr Hiersein Sir Jasper und Lady Agathe
verdrießen wird.«

Er wagte nicht weniger und nicht mehr zu sagen, als sie ihn mit ihren
großen, weitgeöffneten, empörten Augen anblickte.

»Aber es ist so töricht -- so lächerlich! Keiner von uns ist doch
schuld an dem Gewitter! Und konnte ich anders, als hierherkommen, und
konnten Sie sich weigern, mich aufzunehmen? Kann einer von uns dem
Regen und den Blitzen Einhalt gebieten? Böse? Wie können sie böse sein?
Weshalb sollten sie? Wie kann irgend jemand darüber böse werden?«

Er hätte ihr sagen können, wer, denn er dachte an Talbot Chichester,
ihren Verlobten, an den sie bisher noch mit keinem Gedanken gedacht. Er
hatte den namenlosen Stolz, die kleinliche Empfindlichkeit, die leicht
verletzte Eigenliebe des Besitzers von Highmount wohl durchschaut,
und erst am gestrigen Tage hatte ihm Roy Mortlake eine spöttische
Schilderung entworfen über die Einwendungen, die ›der alte Chichester‹
gegen die Begegnungen und Unterhaltungen auf der Halde erhoben. Die
kleine Cis hatte das, was ihre Cousine ihr halb grollend, halb lachend
über das bewußte Gespräch mitgeteilt, ihrem Bruder wieder berichtet.

»Nein, nein,« versetzte er hastig, »nicht auf Sie! Ich weiß, daß das
ausgeschlossen ist. Und hätten Sie überall, nur nicht hier, Schutz
gesucht, so hätte es nichts geschadet. Aber ich nehme mir wohl nicht
zu viel heraus, wenn ich sage, daß ich in Turret Court nicht gut
angeschrieben bin.«

»Nein -- das ist wahr!« entfuhr es ihr unwillkürlich. »Sir Jasper kann
Sie nicht leiden, obgleich ich nicht weiß, weshalb. Aber was bleibt ihm
anders übrig -- was kann irgendeiner, der zu mir gehört, anderes tun --
als Ihnen für den Schutz danken, den Sie mir gewährt haben?«

Ihre Wangen erglühten aufs neue, und sie hob hochmütig den Kopf -- er
wußte weshalb.

»Und was mich anbetrifft, wen gibt es, der es wagen würde, mich für
etwas, das ich tue, zur Rechenschaft zu ziehen?«

Ein heftiger Donnerschlag unmittelbar über dem Hause, der es bis in
seine Grundfesten zu erschüttern schien, und ein flammender Blitz,
der gerade zwischen ihnen niederfuhr, machte für den Augenblick eine
Antwort unmöglich. Erst als das letzte Donnerrollen in der Ferne
verklang, hub Leath langsam an:

»Ich fürchte, es war unrecht von mir, so zu sprechen, wie ich
getan habe, denn Sie haben recht: Wer, der Sie kennt, würde sich
herausnehmen, etwas zu bekritteln, was Sie tun? Aber ich hoffe, Gräfin,
Sie wissen, daß das nur geschah, weil ich an Sie und für Sie dachte.«

Sie war vor dem grellen Blitz zurückgewichen und dabei wieder in ihren
Stuhl gesunken. Von dorther antwortete sie ruhig und freundlich,
obgleich auch mit einem Anflug von Kälte:

»Gewiß, davon bin ich überzeugt, Herr Leath!«

»Ich danke Ihnen. Ich muß wegen meiner Dummheit um Entschuldigung
bitten -- es war verkehrt von mir. Allem Anschein nach werden Sie
allerdings heute abend nicht mehr nach Turret Court gelangen können.«

»Das fürchte ich auch. Es tut mir sehr leid.«

»Mir auch, der Aufenthalt hier ist keineswegs so behaglich, wie er sein
könnte.«

Ihr Ton war jetzt förmlich und gezwungen, er dagegen hatte einen
leichten und heiteren angeschlagen.

»Selbst wenn das Gewitter vor Mitternacht vorüber sein sollte, -- und
jetzt sieht es nicht darnach aus, -- ist es rätselhaft, wie Sie ohne
einen Wagen, den ich nicht besitze, über die Halde kommen sollten. Sie
müssen hier bleiben und es sich so bequem wie möglich machen, und ich
will nach dem Bungalow hinübergehen -- das ist die nächste Behausung.
Herr Sherriff wird mir schon ein Unterkommen für die Nacht gewähren.
Daran hätte ich schon eher denken sollen.«

»Nach dem Bungalow?« wiederholte Florence mechanisch. Sie fuhr wieder
von ihrem Stuhl auf.

»Das sollen Sie nicht!« sagte sie entschieden. »Sie wollen den weiten
Weg -- fast dreiviertel Stunden -- in solch einem furchtbaren Gewitter
machen! Sie würden bis auf die Haut durchnäßt -- Sie könnten vom Blitz
erschlagen werden. Ich will es nicht, Herr Leath, -- ich gebe es nicht
zu, -- Sie können unmöglich glauben, daß ich das dulden würde! Und
außerdem würde ich ganz allein sein! Ich könnte es in diesem einsamen
Hause, noch dazu bei diesem Gewitter, nicht aushalten! O, Sie müssen
mich hier nicht allein lassen -- wirklich nicht! Ich glaube, ich würde
vor Angst umkommen, ehe der Morgen anbräche.«

»Nein -- nein -- Sie mißverstehen mich! Glauben Sie mir, es ist mir
nicht eingefallen, Sie allein zu lassen,« antwortete Leath in sanftem
Tone.

Es berührte ihn sonderbar, das Zittern der Hand zu spüren, mit der
sie sein Handgelenk umfaßte, wie dem angstvollen Flehen ihrer Augen
zu begegnen. Dies war nicht Gräfin Esmond, die er zuerst kennen
gelernt, auch nicht die Florence, die er auf der Halde getroffen,
selbst wenn sie in ihrer zutraulichsten, liebenswürdigsten Stimmung
gewesen, sondern ein furchtsames Geschöpfchen, das sich wie ein Kind
schutzheischend an ihn klammerte.

»Es würde mir nicht im Traume einfallen, Sie hier allein zu lassen,«
sprach er beschwichtigend. »Sie kennen die Alte, die für mich sorgt --
Frau Young -- Sie kennen alle Welt in St. Mellions -- Sie werden in
ihrer Obhut sicher geborgen sein.«

»Ja -- ich -- das mag schon sein. Ich hatte sie vergessen.« Sie
ließ seinen Arm los. »Aber, Herr Leath, Sie müssen sich nicht in
dies Unwetter hinauswagen, nur weil ich hier bin. Es ist töricht --
abgeschmackt! Ich kann es wirklich nicht zulassen.«

»Ich bin an Unwetter gewöhnt,« antwortete Leath heiter, »und gegen alle
Unbill der Witterung gefeit. Mir schadet es nicht, bis auf die Haut naß
zu werden, und der Blitz wird mich wohl nicht gerade erschlagen. Sie
werden sich in Frau Youngs Obhut also nicht fürchten?«

»Nein,« stammelte Florence zögernd, »ich glaube nicht, daß ich mich
fürchten würde.«

»Dann müssen Sie mich gehen lassen! In einer halben Stunde bin ich im
Bungalow, und später, wenn das Gewitter nachläßt, will ich nach Turret
Court gehen und Ihre Angehörigen wissen lassen, wo Sie sind. Es ist am
besten so, glauben Sie mir.«

»Gut,« gab das junge Mädchen mit Widerstreben nach. »Trotzdem möchte
ich viel lieber, Sie täten es nicht, Herr Leath. Aber Sie warten
wenigstens, bis der Regen ein wenig nachläßt? Es gießt in Strömen --
hören Sie nur! Und der Blitz -- sehen Sie!«

Der Regen schlug klatschend gegen die Fenster, die Blitze waren noch
ebenso blendend und ebenso häufig, der Donner klang noch ebenso nahe.
Leath machte die Läden zu und zog die Vorhänge zusammen.

»Sie werden weniger ängstlich sein, wenn Sie nicht hinaussehen,« sagte
er. »Ich habe hier eine Menge Bücher; Sie müssen versuchen, sich mit
ihnen die Zeit zu vertreiben, und das Gewitter vergessen. Ich will eine
halbe Stunde warten, ich möchte, wenn es angeht, Ihr Pferd gern sicher
in den Stall bringen, ehe ich fortgehe. Wenn Sie mich entschuldigen
wollen, so will ich Frau Young aufsuchen und Sie ihrer Fürsorge bis
morgen früh empfehlen.«

Er verließ das Zimmer. Florence saß, ohne sich zu regen, und blickte
mit einem bekümmerten Ausdruck in den Augen gerade vor sich hin; dabei
entging es ihr nicht, wie häßlich, wie kahl und schmucklos der ganze
Raum war, ohne etwas Hübsches oder Überflüssiges, außer Haufen von
Büchern von allen Formen, Farben und Größen! Als Everard Leath seine
Wohnung eingerichtet, hatte er augenscheinlich nur an das Notwendigste
gedacht.

Die Tür öffnete sich, und er kam wieder herein. Beim ersten Blick auf
sein Gesicht rief das junge Mädchen unwillkürlich:

»Was ist Ihnen?«

»Es tut mir sehr leid, Gräfin,« sprach er hastig, »ich hatte ganz und
gar vergessen, daß ich Frau Young erlaubt hatte, heute nachmittag
auszugehen, sie ist nicht wiedergekommen. Das Gewitter muß sie
zurückgehalten haben, daran habe ich nicht gedacht!«



13.


Die beiden standen sich einen Augenblick gegenüber und sahen sich an,
Leath mit düsterem, verstörtem Antlitz, während Florences Züge nur
Erstaunen bekundeten. Dann trug ihr munteres Temperament und ihre
Empfindung, daß die Situation wirklich etwas sehr Komisches hatte,
plötzlich über ihre augenblickliche Fassungslosigkeit den Sieg davon.
Es zuckte schelmisch um ihre Lippen, ihre Augen blitzten -- sie brach
in ein silberhelles Lachen aus.

»Frau Young sitzt wahrscheinlich wohlgeborgen in den Chichester Arms?«

»Vermutlich.«

»Und in dem Falle wird sie nicht zurückkommen?«

»Nicht vor morgen früh, fürchte ich.«

»Ich kenne sie und sage: sicherlich nicht! Es tut mir sehr leid, Herr
Leath; ich weiß, daß ich Ihnen schrecklich im Wege bin, aber Sie können
mich doch nicht an die Luft setzen.«

»Es wäre das letzte, was mir in den Sinn kommen würde.«

»Und es ist ebenso unmöglich, daß Sie fortgehen und mich hier allein
lassen -- ich würde mich zu Tode ängstigen.«

»Ich fürchte, es geht nicht. Ich würde es nicht gegen Ihren Willen tun.«

»Ich danke Ihnen. Wir müssen uns also, so gut es geht, in das
Unvermeidliche finden, nicht wahr?«

»Ja -- das müssen wir wohl.«

Ihre Befangenheit war verschwunden: ihre Stimme klang nicht mehr
beklommen; in ihrem Lächeln lag keine Verlegenheit; ihm aber war die
Sache noch immer peinlich und unbehaglich. Florence sah es, runzelte
die Stirn und ging dann entschlossen ans Werk, seine Besorgnisse zu
verscheuchen. Als sie auf ihn zutrat, dachte sie bei sich selbst, daß
sie sehr nahe daran sei, ihn schließlich doch leiden zu mögen. Sie
fühlte, wie ihr das Blut heiß in die Wangen stieg, obgleich sie sich
die größte Mühe gab, nicht rot zu werden.

»Bitte, machen Sie sich keine unnötigen Sorgen mehr,« sagte sie
freundlich, »wir sind beide das Opfer der Umstände.« Sie lachte munter
auf. »Ich bin doch nicht die verfolgte Heldin oder Sie der abgefeimte
Schurke des Schauerdramas? Wir sind nur ein paar ganz gewöhnliche
Sterbliche, die verständigerweise nicht Lust haben, in den Wasserfluten
zu ertrinken. Sagten Sie nicht, Sie wollten versuchen, es meiner Stute
für die Nacht behaglich zu machen? Wenn Sie mir den Weg zeigen wollen,
so kann ich Ihnen vielleicht helfen, zum Beispiel das Licht halten.
Aber ich fürchte, Sie müssen ihr die Augen verbinden, wenn Sie sie
nach dem Stall bringen. Es blitzt noch ebensooft wie vorher, und sie
ängstigt sich schrecklich.«

Sie schritt auf die Tür zu. Leath blieb nichts anderes übrig, als sein
Unbehagen zu verbergen, sich in das Unvermeidliche zu finden, so gut
er konnte, und ihr zu folgen. Er nahm sie mit in die Küche, wo er das
Pferd gelassen, und während sie das noch zitternde Tier streichelte
und liebkoste, nahm er ihm behutsam den Sattel ab. Dann warf er einen
großen wasserdichten Kutschermantel über, verband der Stute die Augen
und führte sie hinaus. Florence stand in der offenen Tür und hielt eine
Lampe hoch empor, um ihm zu leuchten. Der Donner war nicht mehr ganz
so nahe, aber die Blitze flammten noch unaufhörlich, der Regen goß in
Strömen herab, der Garten war in einen Morast verwandelt und der Pfad
in einen Bach.

Als Leath wieder ins Haus zurückging, nachdem er die Stute in dem
Stand neben seinem eigenen Pferde untergebracht hatte, das es mit
jedem Rosse, das in den Stallungen von Turret Court oder Highmount zu
finden war, aufnehmen konnte, spritzte das Wasser hoch über die hohen
Reitstiefel, die er trug, empor. An ein Überschreiten der Halde war
heute abend nicht zu denken, das lag auf der Hand!

Die Lampe, die Florence für ihn gehalten hatte, stand auf dem Tische,
als er wieder in die Küche trat, aber sie selbst war nicht dort. Er
entledigte sich seiner Stiefel und seines Regenmantels und ging ins
Wohnzimmer zurück. Sie stand am Tische; er sah, daß sie sich ihm
lebhaft zuwandte.

»Wie lange das gedauert hat!« meinte sie. »Ich fing schon an zu
glauben, Sie hätten mir Ihr Wort gebrochen und wären fortgegangen. Ist
die Stute ruhig?«

»Völlig -- und gut versorgt. Ich bin zum Glück kein schlechter
Reitknecht.«

»Es ist sehr lieb von Ihnen, daß Sie sich so viel Mühe gemacht haben.«

Sie war wirklich dankbar, denn Orange Lily war ihr besonderer Liebling,
und sie schenkte ihm ein Lächeln, das jeden Mann belohnt haben würde.

»Hat der Regen nachgelassen?«

»Kaum. Es ist gut, daß das Haus hoch liegt, sonst würden wir Gefahr
laufen, überschwemmt zu werden.«

Sie blickte ihn mit verändertem Ausdruck an.

»Wissen Sie, Herr Leath, daß Ihre Uhr eben acht geschlagen hat?«

»Ist es schon so spät? Nein -- das wußte ich nicht. Sind Sie müde?«

»Gar nicht! Müde um acht Uhr? Aber ich bin schrecklich hungrig. Wissen
Sie wohl, daß ich gar nicht zu Mittag gegessen habe?«

»Auf mein Wort, daran habe ich gar nicht gedacht! Ich muß um
Entschuldigung bitten! Frau Young gibt mir mein Essen gewöhnlich
mittags, und --«

»Und abends ein Abendbrot!« fiel Florence schnell ein. »Ja, das meinte
ich. Ich wollte nur sagen, daß es wohl Zeit zum Abendessen sein müsse.
Zeigen Sie mir die Speisekammer und wo Sie Ihr Tischtuch und Ihre
Teller aufbewahren, und ich will Ihnen helfen.«

Wieder blieb ihm nichts anderes übrig, als sich zu fügen und ihr zu
folgen, obgleich sie sich draußen in der Küche viel gewandter als er im
Auftreiben des Tischtuches und alles sonstigen Erforderlichen erwies.
Messer, Gabeln, Löffel, Teller, Gläser und Plattmenage -- sie fand sie
alle und lachte mit drolligem Vergnügen über ihre eigene Pfiffigkeit
und vor Freude über die ungewohnte Beschäftigung; ihr fröhliches Lachen
war einfach unwiderstehlich.

»Es ist wie ein Picknick,« erklärte sie lustig, »ich finde es famos!
Eigentlich ist es ein Spaß, daß Frau Young nicht hier ist, sonst
hätte sie dies alles getan. Wissen Sie wohl, daß ich wirklich glaube,
ich möchte arm sein -- das heißt arm genug, um mich mitunter selbst
bedienen zu müssen?«

»Ich bezweifle, daß es Ihnen gefallen würde,« antwortete Leath
geradezu. Er selbst hatte nicht viel mehr getan, als ihr zugesehen,
wie sie im trüben Lampenschein durch die Küche huschte, und die
verschiedenen Gegenstände, die sie ihm mit allerhand Anweisungen
reichte, gehorsam auf ein Teebrett gestellt.

»Nach acht oder vierzehn Tagen, Gräfin, würden Sie wohl anderer Ansicht
werden.«

»O, das weiß ich doch nicht recht! Wirkliche Armut ist natürlich
schrecklich --«

»Das ist sie!« fiel er ihr mit bitterem Auflachen ins Wort, und sein
Gesicht wurde plötzlich finster, »davon kann ich mitreden, sie ist mir
mein Leben lang zur Seite geblieben, bis vor etwa zwei Jahren.«

»Aber das meinte ich nicht,« fuhr Florence fort, »nur, daß ich glaube,
es lebt sich freier und leichter ohne so viel Geld und so viel
Würde und so viel Dienerschaft. O, das ist mitunter sehr lästig, die
Versicherung kann ich Ihnen geben -- jedenfalls empfinde ich es als
eine Last. Ich glaube, wir haben jetzt alles, nicht wahr? Tragen Sie
das Teebrett; ich nehme das Tischtuch, und wir wollen den Tisch decken.«

Der Tisch wurde im Triumph gedeckt; dann ging es in die Speisekammer,
und der größere Teil ihres Bestandes wurde auf einem anderen Teebrett
in das Wohnzimmer befördert. Als sie eine Schale mit Rosen als letztes
mitten auf den Tisch gestellt hatte, betrachtete Florence ihr Werk mit
drolligzufriedener Miene.

»Es sieht wirklich sehr nett aus,« meinte sie. »Wenn Sie kein
schlechter Reitknecht sind, Herr Leath, so darf ich wohl sagen, daß ich
kein schlechtes Stubenmädchen abgeben würde. Dort ist Ihr Platz, bitte,
und hier sitze ich, denn ich glaube nicht, daß ich Enten zerschneiden
könnte, ebensowenig, wie ich imstande wäre, sie zu braten.«

»Das würde peinlich sein, wenn Sie arm wären, nicht wahr?« fragte Leath
trocken, während sie sich setzte und er gehorsam seinen Platz einnahm.
Er sprach ernst, aber sein Gesicht hatte seinen verstörten Ausdruck
verloren -- er drängte alle unangenehmen Erwägungen entschlossen
zurück. Für den Augenblick konnte er nichts anderes tun, als die Wonne
ihrer Nähe auf sich einwirken zu lassen und auf ihre heitere Stimmung
einzugehen, so gut er konnte.

»Bah! Nur ein Weilchen! Ich würde mir ein Kochbuch kaufen und es
lernen. Dabei fällt mir ein, daß ich jetzt wunderschönen Kaffee machen
kann; deshalb bat ich Sie, den Kessel auf die Spiritusmaschine zu
setzen. Nach dem Abendessen wollen wir Kaffee trinken.«

Das Gewitter tobte noch mit fast unveränderter Heftigkeit weiter, als
sie nach einer Weile in die Küche zurückkehrte, um Kaffee zu kochen,
und auch noch nach mehr als einer Stunde, als Florence plötzlich ein
Gähnen nicht zu unterdrücken vermochte, während sie sich in ihren
großen Korbstuhl zurücklehnte.

»Ich glaube, ich werde müde,« sagte sie, »und es ist doch erst zehn
Uhr! Sie müssen das auf Rechnung meiner ungewohnten Anstrengung setzen,
den Kaffee zu machen und das Abendbrot herzurichten. Aber daran ist
mein Mangel an Übung schuld, wissen Sie.« Sie blickte lachend zu ihm
hinüber. »Sie haben Orange Lily in ihren Stall gebracht; jetzt muß ich
Sie, glaube ich, bitten, mir meinen zu zeigen!«

»Sofort, wenn Sie müde sind. Es ist das Zimmer an der anderen Seite --
quer über dem Vorplatz. -- Hoffentlich machen Sie sich nichts daraus,
daß es im Erdgeschoß liegt?«

»Nicht im mindesten.« Sie hielt zögernd inne.

»Aber das ist Ihr Zimmer, nicht wahr?«

»Es ist das einzige im Hause, außer diesem, ausgenommen die Küche und
Frau Youngs Dachstübchen, wo ich Sie entschieden nicht unterbringen
kann.«

Er lachte, denn mit einer grimmigen Grimasse schüttelte sie bei der
Erwähnung der Bodenkammer den Kopf. »Es tut mir sehr leid, daß meine
Behausung räumlich so beschränkt ist, Gräfin.«

»Das glaube ich gern -- und zwar, daß es Ihnen um Ihrer selbst willen
leid tut, da ich Sie so ohne Umstände aus Ihrem Gemache vertreibe.«

Sie besaß zu viel Takt, um Einwendungen zu machen -- sie nahm die
Dinge, wie sie lagen.

»Und was wollen Sie tun, Herr Leath? Wohl mit einer Decke Ihr
Nachtlager auf der Chaiselongue aufschlagen?«

»Ja, das ist meine Absicht.«

»Ich fürchte, das wird schauderhaft unbehaglich für Sie werden!«

»Wenn Sie wüßten, wie oft ich im Freien übernachtet habe, so würden Sie
das nicht denken.« Er stand auf und trat an einen Seitentisch. »Sollten
Sie nicht schlafen können oder sich in der Nacht ängstigen, so tröste
Sie der Gedanke, daß ich Sie hiermit beschirme.«

»O!« Sie wich vor dem Revolver, den er ihr entgegenhielt, zurück.
»Haben Sie das gräßliche Ding immer bei sich, und geladen?«

»Freilich. Ich tat es in Queensland, wenn ich draußen kampierte,
und da dies Haus ziemlich einsam liegt, habe ich dies Paar immer in
Bereitschaft. Es ist gut, vorsichtig zu sein. Sie würden sich sicherer
fühlen, wenn Sie einen mit in Ihrem Zimmer hätten.«

»Ich sollte ein solches Ding mitnehmen? O, nicht um die Welt!« --
Unwillkürlich wich sie noch weiter zurück. »Ich wäre bange, es nur
anzurühren, und wenn ich jemand erschösse, so würde vermutlich ich
selbst es sein. Außerdem fürchte ich mich nicht, wenn Sie hier sind.
Weshalb sollte ich auch?«

»Weshalb, in der Tat?«

Mit einem seltsamen Lächeln, das sie nicht sah, legte er den Revolver
nieder.

Sie hatte sich jetzt ebenfalls erhoben und sah ihm zu, während er ein
Licht herbeiholte und es für sie anzündete.

»Herr Leath,« sagte sie unsicher, »-- und morgen früh?«

»Ja?« fragte er, als sie zögernd innehielt.

»Sie werden nicht sehr früh nach Turret Court gehen, um ihnen zu sagen,
wo ich bin, und daß sie mir den Wagen schicken möchten?«

»Nicht, ehe Frau Young kommt. Dann aber, sobald ich kann. Ist Ihnen das
recht?«

»O ja!« Sie blickte von ihm fort. »Ich wollte nur vorschlagen, daß es
besser wäre, wenn Sie nach Lady Agathe anstatt nach Sir Jasper fragten.
Und wenn Sie zu früh kommen, so wird sie noch nicht unten sein.«

Sie hatte ganz vergessen, wie sie ihm in ihrem Ärger und ihrer
Verwunderung mit dürren Worten gesagt hatte: »Sir Jasper kann Sie
nicht leiden!« und errötete jetzt in peinlicher Verlegenheit bei dem
Gedanken, er könne durchschauen, weshalb sie diesen Vorschlag mache,
denn sie ahnte nicht, daß er ebensoviel wußte, wie sie ihm sagen
konnte. Er verstand das und antwortete vorsichtig, damit sie solche
Kenntnis nicht bei ihm voraussetzen sollte:

»Ich hätte sowieso nach Lady Agathe gefragt. Es freut mich, daß es das
Richtige gewesen sein würde. Vielleicht könnte ich vorschlagen, daß
Fräulein Mortlake Sie mit dem Wagen abholte? Was meinen Sie dazu?«

»O, Cis wird sicherlich kommen.« Sie ergriff das Licht. »Ich danke
Ihnen, Herr Leath. Nun will ich Ihnen gute Nacht wünschen.«

»Ich werde Ihnen den Weg zeigen.«

Er ging mit ihr über den schmalen Korridor, machte die Tür auf und ließ
sie eintreten.

»Ich will hier einen Augenblick warten,« sagte er ruhig, »während Sie
Umschau halten, ob Ihnen irgend etwas fehlt. In dem Falle kommen Sie
und sagen es mir, damit ich es Ihnen bringen kann, wenn es hier zu
beschaffen ist.«

Es fehlte an nichts, und nach einem Weilchen steckte sie den Kopf durch
die Tür, ihm das zu sagen, gab ihm die Hand und wünschte ihm Gutenacht.
Dann machte sie die Tür zu, und er kehrte wieder ins Wohnzimmer zurück,
wo er gleich darauf die Lampe auslöschte und sich aufs Sofa streckte,
den Revolver dicht neben sich, wie er manch liebes Mal unter dem weiten
blauen australischen Himmel getan. --

Ein fast ebenso blauer Himmel grüßte ihn, als er am nächsten Morgen
erwachte -- das Gewitter war ganz vorüber, und die Sonne schien hell.
Er stand leise auf und horchte an der Schlafstubentür, aber außer
Gräfin Florences leichtem Atmen, das sein scharfes Ohr vernahm, ließ
sich drinnen kein Laut hören. Sie schlief anscheinend. Er schob den
Riegel der Haustür vorsichtig zurück, damit er sie nicht störe, und
verbrachte die Zeit, die bis zu Frau Youngs Eintreffen verging, damit,
im Sonnenschein auf und ab zu gehen.

So hell und warm die Sonne auch schien, denn sie stand schon hoch, --
ihm hatten die ersten Nachtstunden keinen Schlummer gebracht, und er
hatte viel länger als sonst geschlafen, -- so hatte sie doch die nassen
Spuren des Gewitters noch lange nicht aufgetrocknet. Der Weg, in dem er
auf und nieder schritt, war ein rieselnder Bach; eine große Wasserlache
stand jenseits der Pforte; die Gartengewächse, Blumen sowohl wie
Gemüse, lagen ganz verregnet, beschädigt und geknickt da. Einmal blieb
Leath stehen und sah sich um.

»Da sie überhaupt hier Zuflucht gesucht,« sagte er laut, »freut es
mich, daß das Gewitter so heftig gewesen. Ja -- je schlimmer es war,
desto besser.«

Frau Young erschien bald darauf und war sehr verwundert, ihren
Herrn ihrer wartend zu finden. Sie erging sich in wortreichen
Entschuldigungen über ihr Ausbleiben am vorigen Abend. Leath schnitt
ihr ohne Umstände das Wort ab, führte sie in die Küche und setzte sie
dort von Gräfin Florences Anwesenheit in Kenntnis. Dann frühstückte
er hastig im Stehen, sattelte sein Pferd und schlug den Weg nach
Turret Court ein. Er ritt im schlanken Trabe, denn ihm lag daran,
die unangenehme Aufgabe, die er vor sich hatte, möglichst schnell zu
erledigen.

Nachdem er, so rasch es der Zustand der durchweichten Wege gestattete,
an seinem Bestimmungsorte angelangt war, fragte er pflichtschuldigst
nach Lady Agathe. Der Diener, der den frühen Besuch verwundert
anstarrte, wußte nicht gewiß, ob die Gräfin schon unten sei, und
ersuchte ihn, näherzutreten und zu warten, während er sich erkundigte.
Leath trat in das bezeichnete Zimmer und wurde dort allein gelassen.

Es war die Bibliothek, und er schaute sich voll Interesse um. Bei dem
einen unglücklichen Besuch, den er Turret Court abgestattet, war der
Speisesaal das einzige Zimmer gewesen, das er betreten. Dies Gemach
gefiel ihm besser: groß und hoch, war es ein schöner Raum.

Nachdem er einen allgemeinen Überblick gewonnen, trat er an eines der
Bücherregale und musterte die Titel der dort aufgereihten Bände. Da
öffnete sich die Tür, und er wandte sich um. Aber nicht Lady Agathe,
sondern Sir Jasper selbst trat ein.

War ihm die Bestellung gemacht worden, oder hatte er einfach seine
Frau den Mann nicht empfangen lassen wollen, dem gegenüber er es für
gut befunden, eine bittere und durch nichts veranlaßte Abneigung zur
Schau zu tragen? Beide Fragen legte sich Leath vor, während er sich
umwandte. Beide wurden sofort beantwortet. Sir Jasper hatte nichts von
seiner Anwesenheit in dem Zimmer gewußt, denn als ihre Augen sich
begegneten, trat ein Ausdruck der Wut, des Staunens und -- ja, war
es des Schreckens? -- in sein glattes, schönes Antlitz. Sein jähes
Erblassen ließ allerdings auf ein Erschrecken schließen.

Er stieß einen heiseren Wutschrei aus und sprang mit erhobener Hand auf
den anderen zu, als wolle er ihn niederschlagen.



14.


Everard Leath wich vor des Barons erhobener Hand und seinem
wutverzerrten, erstaunten, erblaßten Antlitz nicht zurück. Seine eigene
Verwunderung hielt ihn gleichsam im Bann, aber selbst wenn dem nicht
so gewesen, würde er keine ausweichende Bewegung gemacht haben. Er
hätte es in jedem Falle mit dem schlanken, grauköpfigen älteren Manne
in seinem tadellos sitzenden schwarzen Überrock aufnehmen können. Es
lag ebensoviel spöttische Belustigung wie kühles Erstaunen in seinem
Ausdruck. Sir Jasper hielt inne und ließ die Hand sinken.

»Was -- was wollen Sie?«

Die Worte wurden hervorgestoßen, als seien Zunge und Kehle trocken,
aber Leaths Antwort erfolgte umgehend. Seine Belustigung stieg.

»Nichts von Ihnen, Sir Jasper -- nicht einmal an die Luft gesetzt zu
werden. Ich komme nicht in eigener Angelegenheit und auch durchaus
nicht zu meinem Vergnügen. Und gestatten Sie mir die Bemerkung, daß
ich nicht nach Ihnen gefragt habe. Ich wünschte Ihre Frau Gemahlin zu
sprechen.«

»Meine Frau?« wiederholte der andere langsam. Er sprach noch ebenso
heiser und undeutlich, schien sich aber Mühe zu geben, seine Fassung
wiederzuerlangen. Ein Stuhl stand neben ihm, und er legte eine Hand
auf die Lehne, um sich zu stützen. »Ich -- ich begreife nicht, Herr
Leath,« sagte er in seiner gewohnten, hochfahrenden Art, »was Sie
meiner Frau zu sagen haben können.«

»Natürlich nicht,« stimmte ihm Leath gelassen bei. »Ich habe Lady
Agathe allerdings nichts zu sagen, was mich angeht, sondern bin nur der
Überbringer einer Bestellung an sie.«

»Einer Bestellung?«

»Ja, -- einer Bestellung Ihres Mündels.«

»Meines Mündels?«

Das Gesicht des Barons zeigte jetzt Ungläubigkeit anstatt der
namenlosen Wut, die es noch eben zur Schau getragen.

»Ist es möglich, daß Sie von der Gräfin Florence Esmond reden, Herr
Leath?«

»Ich spreche allerdings von der Gräfin Florence.« Das spöttische
Lächeln war jetzt aus Leaths Antlitz verschwunden. Er sprach
mit ruhiger Gelassenheit. »Ich habe Lady Agathe oder, in ihrer
Abwesenheit, Ihnen, Sir Jasper, zu bestellen, daß sie -- die Gräfin --
unglücklicherweise gestern abend von dem Gewitter überrascht worden
ist.«

»Von dem Gewitter? Sie ist in Brentwood Hall geblieben!«

»Nein -- leider nicht. Sie verließ Brentwood Hall kurz vor dem Ausbruch
des Gewitters, in dem Glauben, daß sie noch vorher heimgelangen würde.
Zum Glück brach es nicht los, bis sie fast Lychet Hut erreicht hatte.«

»Lychet Hut? Sie meinen doch nicht das Haus, in dem Sie wohnen?«

»Freilich meine ich das, Sir Jasper. Ich kenne kein anderes, das so
heißt. Und ich preise mich glücklich, daß ich dort war, um der Gräfin
ein Obdach anbieten zu können. Ihre Bestellung --«

»Wollen Sie damit sagen, daß sie dort ist -- seit gestern abend dort
ist?« fragte Sir Jasper barsch.

»Zweifelsohne. Es war unmöglich, daß sie sich dem Unwetter aussetzte.
Selbst wenn ich ihr einen Wagen hätte zur Verfügung stellen können, --
was nicht der Fall ist, -- wäre es nicht ausführbar gewesen. Sie wollte
davon nichts hören, daß ich sie allein ließ, sonst würde ich versucht
haben, auf irgendeine Weise hierherzugelangen, um Sie von ihrem
Aufenthalt in Kenntnis zu setzen. Sie läßt Sie bitten, ihr sofort einen
Wagen zu schicken und ihr Pferd durch einen Reitknecht holen zu lassen.
Das ist alles, womit ich Sie zu behelligen habe. Guten Morgen!«

Er verließ das Zimmer; der Baron stand noch immer bleich und zornbebend
da und umklammerte die Stuhllehne mit einem sonderbaren Ausdruck im
Gesicht, der weder Erstaunen noch Ärger ausdrückte, sondern etwas viel
Schlimmeres.

Draußen berührte plötzlich eine kleine Hand Leaths Ärmel, und als er
sich umwandte, sah er sich Cis gegenüber.

»O, Herr Leath, ich wollte gerade hereinkommen, und habe gehört, was
Sie erzählten! Wie schrecklich für die arme Florence, von dem Gewitter
überrascht zu werden! Aber welch ein Glück, daß Sie da waren! Geht es
ihr heute morgen gut?«

»Hoffentlich; sie ist gerade noch trocken davongekommen; sie schlief
noch, als ich fortging, und daher habe ich sie nicht gesehen,«
antwortete Leath und blickte lächelnd in die hübschen blauen Augen,
während er die freundliche kleine Hand umschlossen hielt. Cis war stets
freundlich zu ihm, besonders seitdem Harry Wentworth angefangen, ihn in
Lychet Hut zu besuchen, während Leath andererseits oft gedacht hatte,
welch ein holdes, liebenswürdiges Schwesterchen sie abgeben würde und
in der Tat auch für Roy abgab!

»Wir glaubten natürlich alle, daß Florence in Brentwood Hall geblieben
wäre. Sonst hätte ich mich wohl halbtot um sie geängstigt. Der Wagen
soll sie gleich nach dem Frühstück holen -- bis dahin muß sie warten,
da ich natürlich mitfahren werde. Sagen Sie ihr das, bitte, Herr Leath.«

»Gräfin Florence erwartet Sie, wie ich weiß,« antwortete Leath
ruhig, »aber ich fürchte, ich kann Ihnen nicht versprechen, ihr
das auszurichten, Fräulein Mortlake. Ich reite nach dem Bungalow.
Vielleicht sind Sie so gut, das Ihrer Cousine zu sagen und mich bei ihr
zu entschuldigen.«

»Natürlich. Aber es ist eigentlich sonderbar, daß Sie nicht nach Hause
zurückkehren, da Sie sie heute morgen noch nicht gesehen haben. Sie
wird Ihnen danken wollen,« meinte Cis. Sie wunderte sich über den
Ausdruck seines ernsten Gesichtes, den sie sich nicht zu erklären
vermochte. »Wollen Sie nicht bleiben, bis Mama herunterkommt? Auch sie
wird Ihnen danken wollen.«

»Dank ist ganz überflüssig,« antwortete Leath in seiner kurzen Art.
»Was ich für die Gräfin getan habe, Fräulein Mortlake, war das mindeste
-- in der Tat das einzige, was ich unter den Umständen für sie tun
konnte. Sie können Ihrer Frau Mutter alles viel besser erzählen, als
ich es vermöchte. Guten Morgen! Hoffentlich wird Ihrer Cousine ihr
kleines Abenteuer nicht schaden.«

Sein Gesicht war ernst und finster, als er das Haus verließ und zu dem
Platze ging, an dem er sein Pferd gelassen.

»Sonderbar!« sagte er zu sich selbst. »Nein, mehr als das --
unerklärlich! Ich bin davon überzeugt, daß mein letzter Verdacht so
unbegründet ist, wie mein erster war. Ich weiß, daß jener Tote, Robert
Mortlake, nicht Robert Bontine war -- nicht gewesen sein kann. Und
dennoch scheint dieser Mensch, sein Bruder, bei meinem bloßen Anblick
einen tödlichen Schrecken zu empfinden! Er kann mich nicht leiden --
hat etwas gegen mich -- das ist wahr! -- Aber ist das hinreichend, um
ein solches Gebaren zu erklären?«

       *       *       *       *       *

Lady Agathe, die durch ihre Tochter und ihren Gatten -- von ersterer
mit beredtem Wortschwall, von letzterem mit schroffer Kürze -- von dem
Abenteuer ihrer Nichte und ihrem jetzigen Zufluchtsorte in Kenntnis
gesetzt worden, beeilte sich mit dem Frühstück und dem Ankleiden und
fuhr sofort über die Halde nach Lychet Hut. Sie war entsetzt, empört,
bekümmert, erschrocken -- die verschiedenartigsten Gefühle stürmten
auf die sanfte, schlichte Frau ein, für die das Außergewöhnliche immer
etwas Unrechtes war. Die unschuldige Cis, die neben ihr saß, hatte
nicht das geringste Verständnis für die nervöse Unruhe der Mutter. Der
Vorfall war natürlich etwas unangenehm für Florence gewesen, aber nach
ihrer Ansicht doch eigentlich ein ›famoser Spaß‹.

Gräfin Florence, die beim Frühstück saß, das die verwunderte und noch
immer bestürzte Frau Young sorgfältig für sie hergerichtet hatte, hörte
Räderrollen auf der durchweichten Landstraße und sah den Wagen vor
der kleinen Pforte halten, durch die sie am vorhergehenden Abend auf
ihrem erschreckten Pferde geritten. Es war klar, daß sie erwartet, eine
dritte Gestalt neben ihrer Tante und Cousine zu sehen, denn ihr Gesicht
umwölkte sich auf einen Augenblick.

Die Pforte war zu eng, um den Wagen durchzulassen, und Lady Agathe
stieg, auf den Arm des Bedienten gestützt, vorsichtig aus. Cis dagegen
bedurfte keiner Hilfe und lief den schlammigen Pfad hinauf, während
Florence ihr bis an die Tür des Zimmers entgegeneilte und von der
warmherzigen kleinen Cousine mit einer herzlichen Umarmung begrüßt
wurde.

»O Florence, was für ein Abenteuer!« rief Cis und drückte sie innig
an sich. »Und welch ein Glück, daß Herr Leath hier war! Du hättest in
Brentwood bleiben sollen. Wie furchtbar, von dem Unwetter überrascht zu
werden! Als ich Herrn Leath meinem Vater davon erzählen hörte, fiel ich
fast in Ohnmacht.«

»Das wäre unnötig gewesen, Liebste,« meinte Florence lächelnd und
erwiderte den Kuß ihrer Cousine aufs innigste. »Mir hat es nicht
geschadet, wie du siehst. Ist Herr Leath nicht mit euch zurückgefahren?«

»Er wollte nicht. Vielleicht ist Vater wieder wunderlich gegen ihn
gewesen -- ich glaube es fast. Er erzählte mir, er habe dich heute
morgen noch nicht gesehen, und ich meinte, du würdest ihm gewiß gern
danken wollen, aber davon nahm er weiter keine Notiz -- du weißt, was
er für ein sonderbarer, halsstarriger Mensch ist. Er sagte, er wolle
nach dem Bungalow reiten, und bat mich deshalb, ihn zu entschuldigen,
was ich hiermit tue, mein Herz! Welch ein kahles, häßliches Zimmer,
nicht wahr? Wie in aller Welt kann er hier nur allein hausen? Mich
würde es verrückt machen! Dich nicht auch?«

Florence antwortete nicht. Lady Agathe kam langsam den Gartenpfad
herauf, und sie hatte einen Blick auf ihr blasses, verstörtes Gesicht
geworfen. Mit schnell gerunzelten Brauen wandte sie sich nach ihrer
Cousine um.

»Cis, was fehlt Tante? Sie sieht aus, als hätte sie geweint.«

»Ach, ich weiß nicht! Sie hat sich sehr aufgeregt,« meinte Cis
inkonsequent.

Lady Agathes Eintritt verhinderte Florence, die plötzlich bleicher
geworden, an einer Antwort. Sie ging der Eintretenden mit blitzenden
Augen entgegen.

»Es tut mir leid, Tante Agathe, daß du dich zu so ungewöhnlich früher
Stunde herausgemacht hast! Es wäre genug gewesen, wenn Cis mich
abgeholt hätte, wenn es nötig war, daß überhaupt jemand kam. Nimm
diesen Korbstuhl -- er ist sehr bequem; ich habe gestern den ganzen
Abend darin gesessen.«

»O, liebes Kind, weshalb bist du nicht in Brentwood geblieben, wie wir
natürlich angenommen haben?«

»Weil ich eigensinnig und tollkühn war und geglaubt habe, ich würde
vor Ausbruch des Gewitters heimgelangen,« antwortete Florence kurz.
Sie stand in aufrechter Haltung da; ihre grauen Augen blitzten. »Ich
gebe zu, daß es töricht war, den Versuch zu unternehmen. Ist Onkel
Jasper deshalb so schrecklich böse? Er sollte doch meine Unbesonnenheit
gewohnt sein!«

»Deshalb natürlich nicht, liebes Kind!« Lady Agathes Kummer war zu groß
-- sie begann zu weinen. »Du mußt doch verstehen, wie ich es meine,
Florence. Du bist kein Kind mehr, obwohl du so unbesonnen bist. Du
mußt wissen, daß dein Hierbleiben, in diesem elenden Hause, bei Herrn
Leath -- einem Menschen nebenbei, von dem niemand irgend etwas weiß,
besonders, wo dein Onkel ihn so gar nicht leiden kann, -- nicht --
nicht --«

»Passend war!« ergänzte Florence kalt. »Das schien Herr Leath ebenfalls
zu finden. Wenigstens sagte er es mir.«

»Er sagte es dir?« wiederholte Lady Agathe entsetzt.

»Ja. Ich war sehr böse darüber, aber er scheint die Sache richtiger
aufgefaßt zu haben als ich. Er wollte durchaus in das Unwetter hinaus
und mich hier lassen; er wollte nach dem Bungalow. Ich willigte ein,
obgleich ich es ebenso albern und überflüssig fand, wie ich es jetzt
noch finde. Aber wir entdeckten, daß sein dienstbarer Geist nicht hier
sei: das Gewitter hatte ihn in St. Mellions zurückgehalten. Da wollte
ich ihn nicht gehen lassen; mir war bange, hier allein zu bleiben.«

»Seine Dienerin -- die Person, die die Haustür aufmachte -- war nicht
hier?« rief Lady Agathe.

»Nein. Bis zum Morgen, wo sie wiederkam, war niemand hier -- niemand
außer uns beiden,« antwortete Florence. Sie war jetzt sehr blaß; ein
Lächeln, das sehr verschieden von ihrem gewöhnlichen Lächeln war,
spielte um ihre Lippen. Cis blickte sie fast erschrocken an.

»Ach, großer Gott!« jammerte ihre Mutter mit schwacher Stimme. »Es ist
sogar noch schlimmer, als ich geglaubt habe, Florence. O, sieh nicht so
böse aus, liebes Herz! Du weißt, ich mache dir keine Vorwürfe -- ich
denke nur daran, was die Leute sagen werden. Und in Rippondale wird so
viel geklatscht -- das weißt du recht gut! Natürlich ist es nicht deine
Schuld, daß du hierher kamst, aber du hättest nicht bleiben sollen --
wirklich nicht.«

Florence verteidigte noch einmal ihre Handlungsweise und die des Herrn
Leath. Sie bebte vor Zorn und Ärger und verletztem Stolze. Bei einem
Blick auf sie brach Lady Agathe aufs neue in Tränen aus.

»Du mußt doch wissen, daß ich nur deinetwegen so besorgt und bekümmert
bin,« rief sie schluchzend aus. »Ach, es ist eine unleidige Geschichte!
Ich hoffe nur, daß sie der Herzogin nicht zu Ohren kommt. Und mir ist
bange; es wird ganz unmöglich sein, sie vor Chichester geheimzuhalten!«

»Ganz unmöglich! Ich selbst will sie, wenn nötig, Chichester erzählen.«

»Er ist so merkwürdig -- so eigen,« jammerte Lady Agathe, »und
unglücklicherweise -- ich muß sagen, es war sehr unrecht und
unvorsichtig, mein Kind -- haben dich die Leute mit diesem Herrn Leath
auf der Halde sprechen sehen. Chichester erwähnte es erst gestern gegen
mich und schien sehr verstimmt darüber, und was er sagen wird, wenn er
von dieser --«

Sie brach ab. Florence, die nicht mehr ertragen konnte, wandte sich mit
jäh ausbrechender Heftigkeit zu ihr.

»Was kann er zu sagen wagen?« rief sie. »Was kann irgend jemand, sei
es Mann oder Weib, über mich zu sagen wagen? Wir haben genug der Worte
verloren, Tante Agathe -- mehr als genug -- ich will nicht mehr hören!«

Lady Agathe war zu erschrocken, um weiter zu reden. Sie weinte auf der
Rückreise nach Turret Court in ihrer Wagenecke leise vor sich hin,
während die kleine Cis ihr gegenüber blaß und bekümmert aussah und
Florence, die mit bleichen Wangen und zornigen Augen aufrecht dasaß,
kein Wort sprach. --



15.


Als Everard Leath Turret Court verlassen, war er geraden Weges über
die Halde nach dem Bungalow geritten. Es führte ihn kein besonderer
Grund dorthin; er hatte nur das unbestimmte Gefühl, daß es besser
sei, er kehre nicht in seine Behausung zurück, bis Gräfin Florence
sie verlassen und die unglückselige Episode vorüber sei. Obwohl er
sich immer wieder sagte, daß er sich der Macht der Umstände hatte
fügen müssen, daß die Sache nicht zu vermeiden gewesen, so ertappte
er sich doch fortwährend auf dem peinlichen Gedanken, daß Chichester
beschränkt, argwöhnisch und ein Narr sei, und sagte sich, daß, wenn er
hätte voraussehen können, was geschehen würde, er sich lieber die Hand
abgehackt hätte, als auf die Halde zu gehen, wo er wußte, daß er dort
Florence Esmond begegnen konnte.

Er bog in den Garten des Bungalow ein, ließ ein Pferd in Joes Obhut und
ging auf das Haus zu. Überall waren auch hier die Spuren des Unwetters
sichtbar -- die Blumen waren alle verregnet und geknickt, der Kies war
aus den sauber gehaltenen Wegen hinweggeschwemmt. Herr Sherriff stand
in der Veranda und schüttelte beim Anblick der Verwüstung traurig den
Kopf. Aber sein mildes altes Gesicht hellte sich beim Näherkommen des
jungen Mannes auf, und er reichte ihm mit einem Lächeln die Hand. Dann
fragte er nach einem Blick in die ernsten Züge des anderen:

»Ist irgend etwas nicht in Ordnung, Leath?«

»Ich weiß nicht --,« er hielt inne, »vielleicht ist es besser, ich
erzähle Ihnen die Sache, obwohl es eigentlich nicht meine Absicht war.
Aber ich weiß, daß Sie so viel von ihr halten, und --«

»Von ihr?« fiel ihm der Alte verwundert ins Wort. »Von wem?«

»Von Gräfin Florence.«

»Gräfin Florence?«

»Ja. Das arme Kind hatte keine Schuld, und weiß der Himmel, ich auch
nicht. Wenn Sie hereinkommen wollen, so will ich Ihnen alles erzählen.
Dabei wird mir vielleicht leichter ums Herz.«

Sie gingen in das trauliche Wohnzimmer, in dem wie gewöhnlich Stapel
von Büchern umherlagen, und während der alte Herr sich setzte, stellte
sich Leath an das offene Fenster und gab einen kurzen Bericht der
Vorfälle des gestrigen Abends. Sherriff strich beim Zuhören sinnend
über seinen langen weißen Bart.

»Sie nehmen die Sache zu ernst, Leath,« sagte er sehr entschieden,
als der andere zu Ende war. »Wirklich, mein lieber Junge, Ihre
Furcht, irgend jemand könnte glauben, daß das arme Kind durch
den Vorfall kompromittiert sei, scheint mir, ehrlich gestanden,
durchaus übertrieben zu sein. Sie konnten sie doch nicht ins Unwetter
hinausjagen, noch in ihrer Angst allein lassen!«

»Sie mögen recht haben,« gab Leath bedrückt zu. »Um ihretwillen hoffe
ich es. Aber Chichester ist ein Narr.«

»Ein so großer doch kaum.«

»Ich weiß nicht recht. Er ist sehr empfindlich, stolz, argwöhnisch,
voll engherziger Vorurteile. Sie gehört ihm, ist sein Eigentum, und
jeder Makel, der auf sie fällt, fällt auf sein eigenes kostbares
Selbst. Ich mag mich ja irren, aber ich wiederhole es -- mir ist bange
davor.«

»Damit wollen Sie doch nicht sagen, daß Sie glauben, Herr Chichester
könne das zum Vorwand nehmen, seine Verlobung zurückgehen zu lassen?«
fragte der alte Herr ungläubig.

»Das vielleicht kaum. Für einen solchen Esel halte ich ihn doch nicht.
Aber er könnte unklug genug sein, argwöhnische Anspielungen ihr
gegenüber zu machen, ihr vielleicht eine Strafpredigt zu halten, und
was in dem Falle geschehen würde, können wir uns beide denken. Sie
besitzt ein leicht erregbares Temperament und ist namenlos stolz. Sie
selbst wird die Verlobung auflösen.«

»Wenn er das tun sollte -- ja, allerdings. Aber das,« fuhr der alte
Herr gelassen fort, »würde kaum ein Unglück sein, so wie ich es ansehe,
Leath. Ich habe, wie Sie wissen, die Partie nie für eine passende
gehalten, oder nie geglaubt, daß sie durch diese Heirat glücklich
werden würde.«

»An und für sich kein Unglück -- nein!« Der junge Mann schritt unruhig
im Zimmer auf und nieder. »Aber begreifen Sie denn nicht, Herr
Sherriff, welche Wirkung das haben wird -- welche Wirkung auf sie? Der
Grund wird ruchbar werden -- das muß er, und obgleich sie ist, wie und
was sie ist -- kann es möglicherweise ihren Ruf zugrunde richten!«

Die fassungslose Bestürzung in Sherriffs Antlitz verriet, daß ihm diese
Ansicht der Sache ebenso neu wie unwillkommen sei. Im Augenblicke
wußte er nichts zu erwidern. Er fuhr mit der mageren Hand über sein
weißes Haar und sagte endlich: »Mein lieber Junge, wir tun Chichester
vielleicht schweres Unrecht.«

»Ich glaube nicht.« Leath wurde rot. »Zufällig weiß ich, daß ich bei
ihm nicht gut angeschrieben bin und daß es meinetwegen schon einen
Wortwechsel zwischen dem Brautpaar gegeben hat.«

Sherriff antwortete nicht; sein sorgenvolles Gesicht wurde noch
ernster. Leath stieß ein zorniges Lachen aus.

»Und selbst das ist noch nicht alles, denn ich glaube nicht, daß es
in ganz St. Mellions einen Menschen -- sei es Mann, Weib oder Kind
-- gibt, der nicht weiß, daß Sir Jasper Mortlake aus irgendeinem
unbekannten Grunde mich nicht leiden kann. Ich weiß, daß er gelobt hat,
ich solle sein Haus nie wieder betreten. Er ist ihr Vormund, und das
wird ebenfalls ins Gewicht fallen. Heute morgen, als ich nach Turret
Court kam, um ihnen zu sagen, wo sie sei, da --. Aber still davon! Wäre
er ein jüngerer Mann, so hätte ich ihn, glaube ich, niedergeschlagen.
Selbst so hätte ich es fast getan, wenn ich dies alles für sie nicht
vorausgesehen und gefürchtet hätte, die Sache noch schlimmer zu machen.«

Wiederum sagte Sherriff nichts, Leath schritt ruhelos auf und nieder,
ehe er wieder anhub:

»Ich weiß eigentlich nicht recht, weshalb ich Sie mit diesem allem
behellige, aber es hat mein Gemüt erleichtert, mich auszusprechen. Die
Frage ist nun -- was soll ich tun?«

»Tun?« wiederholte der Alte beklommen. »Ich -- ich verstehe Sie nicht
recht, Leath. Was sollten Sie tun?«

»Soll ich fortgehen -- diese Gegend verlassen? Ich habe gedacht, das
würde vielleicht am besten sein. Was meinen Sie dazu?«

»Ich glaube, das würde ich jetzt noch nicht tun,« antwortete der
Gefragte nach einigem Sinnen. »Warten Sie, bis Sie sehen, was
Chichester tut. Ihr sofortiges Verschwinden könnte wie Davonlaufen
aussehen. Ein paar Tage lang wenigstens würde ich nichts tun und mich
ganz ruhig verhalten.«

»Das ist Ihr Rat?«

»Ja, das täte ich an Ihrer Stelle.«

»Dann will ich ihn befolgen. Vielleicht haben Sie recht. Aber sobald
ich kann, will ich von hier fort. Je eher, desto besser.«

»Sie wollen Ihre Wohnung aufgeben?«

»Ja. Wenn ich sie nie genommen, würde dies alles nicht geschehen sein.
Mein gewöhnliches Glück!«

Es trat eine kurze Pause ein.

»Leath,« hob Sherriff stockend an. »Sie wissen, daß ich mich nicht in
Ihre Angelegenheiten drängen will -- nichts liegt mir ferner. Aber
da Sie davon reden, fortzugehen, darf ich mir vielleicht eine Frage
erlauben. Sie haben keinen Erfolg gehabt?«

»Nicht den geringsten.«

»Trotz aller Nachforschungen, die Sie, wie ich weiß, in St. Mellions
und der Umgegend angestellt haben, ist es Ihnen nicht gelungen, eine
Spur von Robert Bontine aufzufinden?«

»Nein!«

»Und Sie sind noch nicht entmutigt?«

»Das will ich nicht sagen; es würde unwahr sein. Aber ich werde die
Nachforschungen nie einstellen.«

»Und Sie sind entschlossen, in jedem Falle von hier fortzugehen?«

»Ja. Es war verkehrt, hierherzukommen, und noch mehr, zu bleiben,«
antwortete Leath finster und in bitterem Tone. »Je eher ich fortkomme,
um so besser ist es für mich.«

Sein Mund war herb geschlossen, die Stirn gerunzelt, ein dunkles Rot
stieg in seine gebräunten Wangen. Mit plötzlich verändertem Ausdruck in
den eigenen Zügen stand Sherriff auf und legte dem Freunde die Hand auf
die Schulter.

»Leath,« sprach er, »ich habe damals doch recht gehabt. Sie ist Ihnen
nicht gleichgültig?«

Leath drehte den Kopf, begegnete eine Sekunde dem Blicke des anderen
und sah dann fort.

»Ich bin ein Narr!« sagte er.

Das Schweigen, das eintrat, dauerte lange. Leath brach es. Er raffte
sich aus seinem Brüten auf und wandte sich vom Fenster ab. Hätte der
alte Herr beabsichtigt, auf seine letzten Worte zurückzukommen, so
würde sein Ausdruck ihn davon zurückgehalten haben. Seine unglückliche
und hoffnungslose Liebe zu Florence Esmond sollte ohne ein weiteres
Wort zwischen ihnen begraben sein.

»Ich will jetzt gehen,« sagte er, »Sie haben morgens immer zu tun,
wie ich weiß. Vielleicht wird ein scharfer Ritt meine trüben Ahnungen
verscheuchen.« --

Herr Sherriff konnte seine Gedanken nicht auf seine Arbeit
konzentrieren. So viele Befürchtungen, so viele sorgenvolle Erwägungen
waren seit Jahren nicht auf den alten Mann eingestürmt. Florence Esmond
hatte seit langem seinem Herzen so nahe gestanden, wie eine Tochter nur
hätte stehen können, und er wußte jetzt, daß ihm Everard Leath fast so
teuer wie ein Sohn geworden war.

Sonderbarerweise war es eigentlich nicht der Klatsch, der sie bedrohte,
an den er dachte, während er so traurig dasaß und rauchte, sondern die
aussichtslose Liebe zu ihr, zu der Leath sich bekannt hatte, als er so
rauh gesagt: »Ich bin ein Narr!«

Wie hoffnungslos sie war, wie hoffnungslos sie unter allen Umständen
bleiben mußte, das konnte er, der ihre Fehler sowohl wie ihre Tugenden
so gut kannte, wohl ermessen. Er wußte, was nur die wenigen, die sie
wirklich verstanden, ahnten, daß der Stolz auf vornehme Geburt, auf
Rang und Abstammung nicht stärker entwickelt sein konnte als bei diesem
Mädchen. Und selbst wenn dem nicht so gewesen wäre, so hatte sie in
ihren Unterhaltungen mit ihm niemals aus ihrer Abneigung gegen Everard
Leath ein Hehl gemacht. Und nun mußte er diese unselige Leidenschaft
für sie fassen! Matthias Sherriff seufzte, als er sich dessen erinnerte
und des Schmerzes gedachte, den ihm vor vielen Jahren die eigene
Herzenswunde verursacht hatte. Er war alt, sein Haupt war grau, aber
die Wunde konnte noch immer wehtun.

Es war einige Stunden später -- er hatte noch immer nichts getan, als
in wehmütiges Grübeln versunken in seinem Stuhle zu sitzen, -- da wurde
der Klopfer an der Haustür laut in Bewegung gesetzt.

Ein kurzes Zwiegespräch folgte, das aber zu leise geführt wurde, als
daß er hätte hören können, was gesprochen wurde, und dann näherten sich
dem Zimmer Schritte. Sherriff erhob sich schnell, denn er wußte sofort,
wessen Schritt es war, obwohl es Sir Jasper Mortlake vielleicht kaum
zweimal im Jahre einfiel, den Bungalow zu betreten. Was hatte ihn
hergeführt? Der alte Mann atmete erregt schneller, als sich die Tür des
Zimmers öffnete und der Baron eintrat.

       *       *       *       *       *

Ungefähr eine halbe Stunde später, als Everard Leath auf dem Heimwege
nach Lychet Hut, nach dem Ritte, durch den er seine erregten Nerven
hatte beruhigen wollen, an der Gartenpforte des Bungalow vorbeikam,
sah er Sir Jasper Mortlake heraustreten und in seinen Wagen steigen,
der gewartet hatte. Ein kurzer Blick in des Barons Gesicht genügte,
um ihn plötzlich zum Stillstehen zu bringen und seinen Herzschlag zu
beschleunigen. Nicht einmal, als sie sich am Morgen in der Bibliothek
von Turret Court gegenüberstanden und er drohend die Hand gegen ihn
erhoben harte, war sein Antlitz bleicher und wutentstellter gewesen als
jetzt. Was war vorgefallen? Was hatte ihn nach dem Bungalow geführt?
In seinem jetzigen Gemütszustande war es ihm unmöglich, ohne Antwort
auf diese Fragen nach Hause zu reiten. Leath sprang, seinem Impulse
folgend, aus dem Sattel und ging ins Haus.

Sherriff stand am Tische; seine gewöhnlich gebückte Gestalt war
aufgerichtet, sein von Natur ruhiges altes Gesicht gerötet und zornig.
Leath fühlte, daß eine unklare Befürchtung ihm selbst das Blut heiß in
die Wangen trieb. Er sagte hastig:

»Ich sah Sir Jasper an der Pforte -- ich konnte ihm ansehen und sehe
auch Ihnen an, daß nicht alles ist, wie es sein sollte. Betrifft es
sie?« Die Stimme versagte ihm vor dem letzten Worte. »Wenn dem so ist,
so ziehen Sie meine Besorgnis in Betracht und sagen Sie es mir!«

»Verrät mein Gesicht denn so viel?« Mit einem halben Lächeln und seinem
gewöhnlichen freundlichen Ausdruck setzte der alte Mann sich in seinen
Stuhl. »Ich gestehe, ich bin zornig gewesen,« sagte er ruhig, »und das
passiert mir nicht oft. Nehmen Sie Platz, Leath, und Sie sollen hören,
weshalb, und mittlerweile machen Sie sich keine Sorge. Sir Jaspers
Besuch betraf Gräfin Florence nicht in dem Sinne, den Sie meinen. Er
hat in der Tat ihren Namen kaum erwähnt. Der Zweck seines Besuches war,
über Sie zu sprechen.«

»Über mich?«

»Ja. Wissen Sie irgendeinen Grund für den außerordentlichen Haß, den er
augenscheinlich gegen Sie empfindet?«

»Ich weiß, daß er existiert -- das erzählte ich Ihnen heute morgen --
aber mehr auch nicht.«

»Auch nicht, weshalb er Sie aus der Gegend zu entfernen wünscht?«

»Durchaus nicht! Wünscht er das?«

»Freilich! Es wundert Sie, weshalb er hierhergekommen, um über Sie zu
reden? Er kam, um zu verlangen, daß ich, sein Verwalter, der abhängig
von ihm ist, der zu ihm und seinem Hause in einer Art von Beziehung
steht, unserer Freundschaft sofort ein Ende machen -- kurz Ihnen die
Tür weisen sollte.«

Leath stieß einen Ausruf zorniger Verwunderung aus.

»Nannte er irgendeinen Grund, Herr Sherriff?«

»Gewiß -- daß Sie ein Mensch wären, von dem niemand hier etwas
wisse, daß Sie ihm persönlich unangenehm seien, daß Sie sich heute
morgen in Turret Court sehr unverschämt gegen ihn benommen hätten,
und schließlich, -- das war das einzige Mal, daß er Gräfin Florence
erwähnte, -- daß Sie vielleicht durch Ihr Benehmen gestern abend den
Ruf seines Mündels ernstlich kompromittiert hätten.«

»Gütiger Himmel! Das sagte er?«

»Ja. Aus diesen Gründen verlangte er, oder vielmehr befahl er mir,
daß ich, in meiner abhängigen Stellung, meine Bekanntschaft mit Ihnen
abbrechen sollte.«

»Darf ich fragen, was Sie ihm darauf geantwortet haben?«

»Sehr wenig; aber ich bin nicht länger sein Verwalter.«

»Wie?«

»Ich habe mich geweigert, mir von ihm Vorschriften machen zu lassen
oder meinen Freund zu beleidigen. Ich habe meine Verbindung mit Sir
Jasper Mortlake gelöst und mit seinen Angelegenheiten nichts mehr zu
schaffen.«

»Das haben Sie für mich getan, Herr Sherriff?« Leath sprang auf.
»Dessen bin ich nicht wert, fürchte ich.«

»Darüber kann ich selbst am besten urteilen,« antwortete der andere
mit einem Lächeln, »und würde bei ruhiger Überlegung genau ebenso
handeln, wie ich in der Erregung getan. Sie brauchen übrigens nicht
zu glauben, daß Sie die einzige Ursache gewesen sind für das, was ich
tat. Sir Jasper beging einen nur allzu gewöhnlichen Fehler: er vergaß,
daß sein Untergebener zugleich ein Gentleman ist. Nun, das Gehalt
war nicht so hoch bemessen, als daß ich nicht ohne es leben könnte.
Meine Bücher und Abrechnungen sollen, sobald ich sie fertig habe, nach
Turret Court geschickt werden. Je eher, desto lieber. Wenn Sie nichts
Besseres zu tun haben, so bleiben Sie vielleicht und helfen mir, sie
zusammenzupacken.«

»Sofort. Ich habe gar nichts zu tun. Aber ich habe mein Pferd an der
Pforte gelassen und will es erst hereinholen.«

Als Leath, nachdem er sein Pferd versorgt, wiederkam, fand er Sherriff
vor einem großen, altmodischen, messingbeschlagenen offenen Pult,
das ihm schon seines Umfanges wegen aufgefallen, das er aber bisher
nur verschlossen gesehen. Den Kopf hatte der Greis in die eine Hand
gestützt; er schien etwas eifrig zu betrachten. Er war so in Gedanken
vertieft, daß er erst, als Leath ihn zum zweiten Male anredete,
zusammenfuhr und sich verwirrt umblickte.

»Ich störe Sie, Herr Sherriff?« fragte Leath stockend.

»Nein -- nein -- durchaus nicht -- gewiß nicht!« Er blickte den jungen
Mann an und dann wieder auf das, was er in der Hand hielt. »Ich tat
etwas sehr Törichtes,« sprach er traurig, »ich stöberte in toter Asche,
mein lieber Junge! Das ist schon ein trauriges Stück Arbeit, solange
wir jung sind, aber es ist noch trauriger, wenn wir alt geworden, denn
sie kann nie wieder angefacht werden, und es ist keine Hoffnung, daß an
ihrer Statt ein neues Feuer brennen wird. Erinnern Sie sich des Tages,
wo ich Ihnen meinen kleinen Herzensroman -- den einzigen Roman, den ich
erlebt habe -- erzählte?«

»Ich erinnere mich dessen sehr wohl,« gab Leath zur Antwort.

»Aber ich habe Ihnen, glaube ich, nicht gesagt, daß ich Marys Bild
besitze? Es ist gerade angefertigt, ehe sie mich verließ, um ins
Ausland zu gehen. Ich habe mich niemals davon getrennt, ebensowenig wie
von ihren Briefen, obgleich es Jahre gegeben hat, in denen ich es nicht
ertragen konnte, auf das eine oder andere einen Blick zu werfen. Es ist
jetzt sehr verblaßt, aber damals war es wunderbar ähnlich -- wunderbar
ähnlich! Wollen Sie es ansehen?«

Mit leicht zitternder Hand hielt er dem anderen das Bild hin. Leath
nahm es, blickte es an, hielt es näher an das Licht, sah genau hin und
stieß dann einen lauten Ruf aus. Sherriff erhob sich hastig.

»Was gibt’s?« fragte er mit bebender Stimme. »Sie -- haben es doch
nicht schon gesehen -- wie?«

»Gesehen?« wiederholte Leath. Sein Antlitz war tief erblaßt und verriet
grenzenlose Verwunderung. »Dies ist das Bild meiner eigenen Mutter!«



16.


»Das ist alles? Ist das genug? Du kannst doch unmöglich erwarten,
daß ich diesen -- diesen äußerst bedauerlichen Vorfall so leicht als
abgetan ansehe, Florence?«

»Ich sehe allerdings keinen Grund, noch eine Silbe weiter darüber zu
verlieren,« sagte Gräfin Florence gleichmütig.

Aber sie war nicht so ruhig, wie man aus ihren kalt und gelassen
gesprochenen Worten hätte schließen können. Ihre Wangen waren sehr
blaß, sie hielt den Kopf hoch, und die Augen, mit denen sie ihren
Bräutigam ansah, waren unheimlich glänzend. Sie waren allein, denn auf
ihre Anordnung war er sofort in ihr Privatwohnzimmer geführt worden,
und dort hatte sie ihm mit den kürzesten Worten, die sie finden konnte,
die Geschichte der letzten Nacht erzählt -- es unter ihrer Würde
haltend, zu erröten, etwas zu beschönigen oder sich zu entschuldigen.
Sie wußte kaum, daß sie es mit einer gewissen trotzigen Herausforderung
tat, die ihm jede Frage, jeden Zweifel, jeden Ausdruck der Verwunderung
abschneiden sollte. In diesem Tone würde sie es ihm nicht erzählt
haben, hätte Leath keine Anspielungen auf einen Argwohn gemacht, der
ihr anfangs ganz ungeheuerlich, schließlich abgeschmackt vorgekommen,
und wären nicht Lady Agathes Tränen und Jammern gewesen. Das Ganze
wäre ihr dann nur wie ein Spaß vorgekommen. Das war jetzt unmöglich.
Sie erzählte die Geschichte mit trotzig blitzenden Augen und in einem
sorglosen, gleichgültigen Tone, ihm es überlassend, sich mit der Sache
abzufinden, so gut er es vermochte.

Diese Art und Weise war nicht geeignet, Chichester zu besänftigen und
zu versöhnen, selbst wenn es sich um etwas ganz anderes gehandelt
hätte. Er hatte mit dunkel gerötetem Gesicht und einer zornigen,
nervösen, gereizten Fassungslosigkeit zugehört, die in den verdrießlich
hervorgestoßenen Worten gipfelte, auf die sie mit so verächtlicher
Kälte geantwortet hatte. Er stand auf und trat ans Fenster, denn
seine Gereiztheit machte es ihm unmöglich, sitzen zu bleiben, und
sie beobachtete ihn, wobei der verächtliche Ausdruck in ihren großen
glänzenden Augen noch schärfer hervortrat.

»Ich sehe keinen Grund, noch eine Silbe weiter darüber zu verlieren,«
sprach sie. »Es war unangenehm, aber es ist vorüber; es war weder Herrn
Leaths noch meine Schuld. Ich habe es dir erzählt, und das ist auch
vorüber. -- Ich habe es dir aber erzählt, weil ich fand, daß du es
erfahren mußtest --«

»Weil du fandest, ich müsse es erfahren?« fiel er ihr heftig ins Wort.
»Allerdings mußte ich das!«

»Ich hielt es für das Richtigste, weil jeder, weil alle Welt alles, was
ich tue, gern erfahren kann,« sagte das junge Mädchen hochmütig, »und
da es geschehen, wollen wir die Sache, bitte, ruhen lassen. Ich habe
das Thema satt.«

»Ruhen lassen?« Er wandte sich vom Fenster fort. »Das ist leicht gesagt
-- aber vielleicht nicht ebenso leicht getan. Gütiger Himmel, Florence,
begreifst du denn nicht, daß die Geschichte dieses -- dieses unseligen
Vorfalls vielleicht schon in Rippondale in aller Leute Mund ist?«

»Sehr wahrscheinlich,« gab sie kaltblütig zurück.

»Wahrscheinlich? Es ist fast unvermeidlich. Ja, es ist unvermeidlich!
Die Dienstboten hier müssen davon wissen!«

»Allerdings müssen sie das! Zwei von ihnen kamen mit dem Wagen, um mich
heute morgen von Lychet Hut abzuholen. Und die Frau, die Herrn Leath
den Hausstand führt, muß es wissen. Sie sorgte heute morgen für mein
Frühstück.«

»Das heißt also, daß sie alle jedem ihrer elenden Bekannten davon
erzählen und ihren gemeinen Kommentar dazu abgeben!« rief Chichester.
»Und du verlangst, daß ich von dem Thema abbreche -- sagst, daß du es
satt hast! Großer Gott! Wir alle, wie wir da sind, werden es noch satt
bekommen, ehe es abgetan ist!«

Er war auf und nieder geschritten und blieb jetzt vor ihr stehen.

»Florence, du scheinst nicht im geringsten zu begreifen, welch
unglückselige Sache es ist!«

Sie sagte nichts, sie blickte ihn nur an. In seinem gereizten Zustande
nur mit sich selbst beschäftigt, war er unfähig, die grenzenlose
Verachtung, die in diesem Blick lag, zu lesen. Hätte er es vermocht, so
hätte er sich vielleicht jetzt noch beherrscht. Er fing wieder an, auf
und nieder zu gehen.

»Dein Name in aller Leute Mund zusammen mit dem jenes Menschen! Und
man weiß, daß du ihn getroffen -- dich mit ihm unterhalten hast! Das
macht es noch schlimmer -- das gerade ist das Allerschlimmste. Wenn das
nicht wäre, so würde wohl mit dieser Sache selbst, in der ich dir keine
Schuld beimesse, fertig zu werden sein. So aber ist es unmöglich. Es
ist mir ganz schrecklich! Es ist unerträglich, entsetzlich, daß dein
Name -- der Name meiner zukünftigen Frau -- der Name der Herrin meines
Hauses -- auch nur durch einen Hauch getrübt werben sollte!«

Er blieb wiederum vor ihr stehen.

»Du mußt es doch begreiflich finden, daß es mir unmöglich ist, so etwas
leicht zu nehmen?«

»Ja -- ich finde es begreiflich!« Die Augen unverwandt in die seinen
senkend, lächelte sie.

»Es ist allerdings schrecklich, daß der gute Name deiner Zukünftigen
angetastet werden sollte. Du tust recht, dich darüber aufzuregen; du
hast mein volles Beileid. Denn was würde es dir ausgemacht -- was würde
es dir geschadet haben, hätte man nur auf mich -- nur auf Florence
Esmond, nur auf ein Weib einen Stein geworfen? Aber es ist deine
zukünftige Frau. O, glaube mir, du tust mir aufrichtig leid!«

»Was meinst du?« fragte er und wurde rot. »Ich verstehe dich nicht!«

»Ich meine, was ich sage,« antwortete sie, »und ich wenigstens verstehe
dich. O, glaubst du, ich durchschaute dich nicht? Was macht dir Sorge?
Daß ich, ein hilfloses Mädchen, vielleicht von all denen, die mich
kennen, schändlich verleumdet werde? Nein, nein! Nur, daß ich deine
Braut bin, ein Teil deiner selbst, dein Eigentum, und daß deshalb jeder
Stein, der auf mich geworfen wird, auch dich trifft! O, ich weiß --
ich weiß! Es ist genug, Herr Chichester -- auf Sie soll auch nicht
der leiseste Schatten meiner Schande fallen.« Sie zog in ungestümer
Heftigkeit den Verlobungsring vom Finger und hielt ihn ihm hin: »Ich
bin Ihre Braut nicht länger! Ich gebe Ihnen Ihr Wort zurück, und Sie
sind frei!«

»Florence!«

Er wurde jetzt bleich und griff nach ihrer Hand und dem Ringe zusammen
und hielt beide fest. »Das kann dein Ernst nicht sein? Besinne dich!
Wenn unsere Verlobung jetzt gelöst würde --«

»Sie ist gelöst!« Sie entzog ihm ihre Hand. »Nehmen Sie Ihren Ring
zurück, Herr Chichester! Ich werde nie und nimmer Ihre Frau.«

»Aber bedenke doch -- ums Himmels willen!« Er trat vor ihrer
ausgestreckten Hand, auf deren Innenfläche der blitzende Ring lag,
zurück. »Bedenke, welche Wirkung es haben wird, wenn unsere Verlobung
jetzt zurückgeht! Das wird den schlimmsten Vermutungen Raum geben und
sie zu bestätigen scheinen.«

»Das muß dann seinen Lauf haben. Ich weiß, daß es so sein wird. Noch
einmal, nehmen Sie Ihren Ring zurück!«

»Du bist fest entschlossen? Du willst dich nicht besinnen? Nicht
überlegen --?«

»Es gibt Dinge, bei denen es keiner Überlegung bedarf. Ein- für
allemal, Herr Chichester, ich will Sie nicht heiraten. Und zum
drittenmal, nehmen Sie Ihren Ring zurück!«

Er antwortete nicht. Er schaute sie an, wie sie in aufrechter Haltung,
mit hochgetragenem Haupte und stolz blickenden Augen vor ihm stand.
Ihre höhnische Verachtung hatte ihm das Blut in die Wangen getrieben,
aber ihre Schönheit beschleunigte noch seinen Pulsschlag. Nein -- er
liebte sie nicht, aber es war schwer, ihren Liebreiz zu verlieren. Er
schritt zweimal durch das Zimmer, ehe er wieder vor ihr stehen blieb.

»Florence, ich bitte dich noch einmal, diesen Entschluß in Erwägung zu
ziehen! Denke an die Folgen, wenn du jetzt unsere Verlobung löst. Ich
meinerseits habe mich vielleicht zu stark ausgedrückt. -- Gib mir dein
Wort, daß du diesen Menschen, diesen Leath, nie wiedersehen, nie wieder
eine Silbe mit ihm sprechen willst, und ich --«

»Das tue ich nicht,« unterbrach sie ihn. »Sobald Sie fort sind, werde
ich nach Lychet Hut reiten, um Herrn Leath für seine gestrige Fürsorge
zu danken. Ich hatte heute morgen keine Gelegenheit, das zu tun.«

»Ist das dein Ernst?«

Sie neigte bejahend den Kopf. Ohne ein Wort weiter nahm er den Ring von
ihrer ausgestreckten Hand, verbeugte sich förmlich, drehte sich kurz
um und verließ das Zimmer. Drei Minuten darauf sah Florence von ihrem
Fenster aus sein Dogcart die Auffahrt hinunter dem großen Eingangstor
zurollen und wußte, daß er fort sei, um nicht wiederzukehren. --

Es war ungefähr eine halbe Stunde später, als sie in ihrem Reitkleid
auf der Treppe erschien. Noch immer sehr bleich, aber in aufrechter
Haltung, mit weitgeöffneten, glänzenden Augen stieg sie herab und
schritt durch die innere Halle auf die Windfangtüre zu, die diese
abschloß; aber noch ehe sie sie erreicht, wurde schnell eine andere
Tür geöffnet und Lady Agathe, mit verweinten Augen und sehr blaß, --
sie hatte stundenlang fast unaufhörlich geweint trotz Cis’ liebevoller
Versuche, sie zu trösten, -- kam heraus und hielt sie auf.

»O, Florence, ich war gerade im Begriff, zu dir hinaufzukommen, liebes
Kind. Ich konnte diese schreckliche Unruhe nicht länger ertragen.« Sie
hielt inne, denn anscheinend sah sie erst jetzt, daß das junge Mädchen
im Reitkleide war. »Aber du willst doch nicht etwa ausgehen?«

»Ja -- aber ich kann ein Weilchen warten. Es tut mir leid, daß du dich
geängstigt hast, Tante Agathe. Du hättest mich rufen lassen sollen.
Bitte, suche dich zu fassen! Du wirst dich noch krank machen, wenn du
dich so aufregst. Weshalb bist du in solcher Unruhe? Was ist denn los?«

»Was los ist? O, liebes Herz, wie kannst du nur so fragen?« schluchzte
ihre Tante. »Du bist so kalt und schroff und wunderlich, Florence. Ich
verstehe dich ganz und gar nicht.«

»Nicht?« Ein seltsames Lächeln umspielte die Lippen des Mädchens. »Es
tut mir leid,« sprach sie ruhig, »ich wollte dich nicht wieder zum
Weinen bringen. Deshalb ängstigst du dich so?«

»O, Florence, du mußt doch wissen, in welch schrecklicher
Gemütsverfassung ich bin, bis ich höre, was Chichester über diese
unselige Sache gesagt hat! Du -- du hast es ihm erzählt?«

»Ja, ich habe es ihm erzählt.«

»Und -- und es ist alles erledigt und abgetan?« fragte Lady Agathe
stockend.

»Ja. Es wird nie wieder ein Wort zwischen uns über die Sache verloren
werden. Sie ist ganz und gar erledigt. Ist das alles, Tante Agathe?«

»Ja, mein Kind. Ach, mir fällt ein Stein vom Herzen, Florence! Ich
fürchtete -- ich weiß wirklich nicht recht, was ich eigentlich
fürchtete! Es ist sonderbar, finde ich, daß Herr Chichester
fortgefahren ist, ohne mit mir oder deinem Onkel zu reden, aber das
tut weiter nichts. Er wird wohl zu Tische kommen, nicht wahr?« Mit
einem Seufzer der Erleichterung trocknete sich Lady Agathe die Augen.
»Wirklich, liebes Herz, du siehst zu blaß aus, um auszureiten! Fühlst
du dich auch wohl genug dazu? Wohin willst du?«

»Ich will nach Lychet Hut. Ich kann nicht gut anders, als Herrn Leath
für die Freundlichkeit danken, die er mir gestern erzeigt hat.«

»Florence!«

Ihre Tante schlug entsetzt die Hände zusammen.

»Dahin willst du! Und allein? Kind, Kind, das darfst du nicht --
wirklich nicht! Das kann ich nicht zugeben!«

»Ich bitte um Entschuldigung, Tante Agathe,« sprach Florence kalt,
»du vergißt wohl, daß, obgleich ich in deinem und Onkel Jaspers Hause
wohne, ich doch mein eigener Herr bin und immer gewesen bin! Es tut mir
leid, etwas zu tun, was dir nicht lieb ist, aber ich reite auf alle
Fälle nach Lychet Hut.«

»Ach du meine Güte!« klagte Lady Agathe. »Bitte, mein Liebling, bedenke
doch! Was wird Talbot Chichester sagen, wenn du nach Lychet Hut gehst?«

»Nichts --.« Das junge Mädchen schritt auf die Haustür zu, während ein
seltsames, bitteres Lächeln ihre Lippen umspielte. »Nichts,« versetzte
sie kurz. »Als ich sagte, alles sei abgetan und erledigt, hast du mich
mißverstanden, Tante. Mein Gehen und Kommen geht Herrn Chichester
nichts weiter an. Unsere Verlobung ist zurückgegangen. Ich habe mich
geweigert, ihn zu heiraten.«

       *       *       *       *       *

Everard Leath, der rauchend in der Tür seines Hauses stand und auf
seinen durchweichten Garten hinausschaute, war so in Gedanken vertieft,
daß, obgleich er den näherkommenden Hufschlag eines Pferdes vernahm,
er doch nicht die Augen nach der Chaussee wandte, um zu sehen, wer
der Reiter sei. So kam es, daß Florence auf ihrer Stute in die Pforte
eingebogen und dicht bei ihm war, ehe er sie gewahr wurde.

»Gräfin Esmond!«

Sie war zu schnell und behende, um seiner Hilfe zu bedürfen, und war
vom Pferde herunter, ehe er sich dessen versah.

»Sind Sie es wirklich?«

»Freilich, Herr Leath, und diesmal von keinem Gewitter
hierherverschlagen.«

Sie lächelte und war sehr bleich; als sie ihm die Hand hinhielt, lag
auf ihrem Antlitz ein Ausdruck, den er noch nie gesehen. Als er ihre
Hand nahm, fühlte er, daß das Schlimmste, was er für sie gefürchtet,
eingetreten sei, und er konnte nichts tun, als sie ansehen.

»Mich führte der Wunsch her, Ihnen für Ihre große Freundlichkeit zu
danken.«

»Das war ganz unnötig.«

Bestürzt, verwundert wie er war, wußte er kaum, daß er ihre Hand noch
immer festhielt, noch bemerkte sie es. »Ich weiß Ihre Güte wohl zu
schätzen, Gräfin, aber ich hoffe, Sie wissen, daß alles, was ich für
Sie tun konnte, gern geschehen ist.«

»Das sagten Sie gestern abend, und ich glaubte Ihnen, aber ich danke
Ihnen nichtsdestoweniger.« Sie entzog ihm ihre Hand und trat ein wenig
zurück. »Sie sehen mich sehr sonderbar an, Herr Leath! Weshalb?«

»Ich bitte um Entschuldigung. Ich -- ich wußte das nicht. Sie sind
bleich -- Sie sehen ganz anders aus als sonst -- das ist alles.«

»Kaum, glaube ich.« Sie hielt mit einem seltsamen, kalten Lächeln inne.
»Ich bin nicht nur gekommen, um Ihnen zu danken,« sprach sie, jedes
Wort abwägend. »Ich wollte Ihnen auch Glück wünschen.«

»Mir Glück wünschen?« wiederholte er.

»Ja, zu Ihrem Scharfblick, Ihrem -- wie soll ich es nennen? --
Verständnis für die menschliche Natur.«

»Ich verstehe Sie nicht,« sagte er, aber er verstand sie nur zu gut und
wurde ebenso blaß wie sie.

»Nicht? Dann muß ich Ihrem Gedächtnis zu Hilfe kommen. Ich war gestern
abend nicht sehr höflich -- ich nannte Sie albern. Wissen Sie noch?«

»Ja.«

»Aber Sie waren nicht albern. Die Torheit war auf meiner Seite. Sie
meinten viel mehr, als Sie sagten, aber Sie hätten recht gehabt, wenn
Sie alles, was Sie dachten, ausgesprochen hätten.«

Sie hielt inne. »Meine Verlobung mit Herrn Chichester ist gelöst.«

»Das hat er getan!«

»Nein, das habe ich getan! Sie begreifen alles so gut -- das sehe ich
Ihnen an -- daß ich nichts mehr hinzuzusetzen brauche.« Sie hielt
wieder inne.

»Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, daß in meinen Augen auch nicht
der leiseste Vorwurf Sie trifft,« sprach sie langsam, als falle es
ihr schwer, die richtigen Worte zu wählen, »und um aufs neue zu
wiederholen, daß ich Ihnen danke. Sie sind besorgter um mich gewesen,
haben mehr Rücksicht auf mich genommen, als ich selbst getan. Ich war
es Ihnen schuldig, Herr Leath, daß Sie dies von meinen eigenen Lippen
hörten.«

Als sie zu Ende war, hatte sie ihre Fassung fast wieder gewonnen, und
das half ihm, die seine wieder zu erlangen. Er begriff vollkommen,
daß er kein Wort über Talbot Chichester sagen dürfe -- daß jeglicher
Kommentar, jede Frage, jeder Ausdruck der Empörung sie verletzen würde.
Aber es war keine leichte Aufgabe, mit der nötigen Gelassenheit und
Kürze zu sprechen, wie sehr sie auch gewohnt war, sich zu beherrschen.

»Ich danke Ihnen, Gräfin,« sagte er. »Sie sind edelmütig. Eine der
wenigen angenehmen Erinnerungen, die ich beim Fortgehen von hier
mitnehme, wird die Erinnerung an diese Worte sein.«

»Sie gehen fort?« rief sie überrascht.

»Ja -- ich werde in ein paar Tagen aus diesem Hause ziehen.«

Er legte keinen Nachdruck auf die Worte, aber sie verstand ihn sehr
wohl. Er wollte jetzt nicht in einem Hause bleiben, das Talbot
Chichester gehörte.

»Wollen Sie damit sagen, daß Sie St. Mellions verlassen?«

»Nicht gleich. Ich bleibe vielleicht noch acht oder vierzehn Tage.
Ich habe Herrn Sherriff versprochen, während meines Hierbleibens im
Bungalow zu wohnen.«

»Und wenn Sie fortgehen, gehen Sie auf immer?«

»Vermutlich, aber das kann ich noch nicht sagen. Soweit ich es
jetzt überblicken kann, ist es nicht sehr wahrscheinlich, daß ich
wiederkommen werde.«

Er blickte von ihr fort. Es wurde ihm schwer, ihren Augen zu begegnen,
in dem Gefühl, daß seine eigenen möglicherweise das Geheimnis verraten
könnten, das er ihr niemals enthüllen durfte. Der bloße Gedanke, daß
sie frei sei, hatte ihm das Blut ungestüm durch die Adern getrieben,
obgleich er sich deshalb einen Toren gescholten. Denn was konnte es
ihm ausmachen, daß Talbot Chichester sich als der große Esel, für den
er ihn gehalten, erwiesen hatte?

»Und Sie werden nicht wiederkommen?« sagte Florence.

Sie blickte ihn ungewiß an. »Ich möchte wohl wissen, Herr Leath, ob ich
eine Frage an Sie richten darf?«

»Gewiß dürfen Sie jede Frage an mich stellen. Aber die eine, die Sie
tun wollen, brauchen Sie nicht zu stellen, ich kann sie ungefragt
beantworten. Gehe ich, weil es mir nicht gelungen, das zu tun, was ich
hier tun wollte? Das ist die Frage -- nicht wahr?«

»Ja.«

»Und die Antwort lautet: ›Ja, ich gehe, weil es mir gänzlich mißlungen
ist‹.«

»Es ist Ihnen nicht geglückt, den Menschen, von dem Sie sprachen, --
Robert Bontine, -- aufzufinden?«

»Nein -- ich habe nicht die leiseste Spur von ihm gefunden.«

»Und Sie gehen, weil Sie die Nachforschungen aufgeben?«

»Nein -- ich gehe, um anderswo meine Nachforschungen fortzusetzen, das
ist alles.«

»Es ist seltsam!« Florence zog die Brauen zusammen. »Sie waren so
sicher, daß er hier sei -- so fest überzeugt davon! Sie haben mir nie
gesagt, ob Sie ihn erkennen würden, wenn Sie ihm begegnen sollten.«

»Ihn erkennen? Ich habe ihn nie im Leben mit Augen gesehen!«

»Nein?« Ihr Gesicht verriet grenzenlose Überraschung. »Was ist er Ihnen
denn, Herr Leath?«

»Das, verzeihen Sie, ist mein Geheimnis, Gräfin.«

»Es wird nicht weniger Ihr Geheimnis sein, wenn Sie es mir sagen.
Ich habe kein Recht, Sie darnach zu fragen, das weiß ich wohl -- ich
weiß kaum, weshalb ich es tue. Mich geht es nichts an.« Sie blickte
ihn an. »Nein, sagen Sie es mir nicht, -- Sie haben völlig recht,
es mir abzuschlagen und Ihr Schweigen zu bewahren. Ich bitte Sie um
Entschuldigung. Ich frage Sie nicht.«

Jedem anderen Fragesteller gegenüber würde er stumm geblieben sein; ihr
gegenüber blieb er es nicht. Er sagte es ihr mit zwei Worten. Florence
fragte nicht weiter. Sein Aussehen verbot das. Schweigend reichte
sie ihm zum Abschied die Hand; schweigend hob er sie auf ihr Pferd,
und noch immer schweigend und verwundert ritt sie davon und ließ ihn
allein.



17.


»Hoffentlich ist mein Besuch Ihnen genehm, Herr Sherriff, obgleich
Sie nach Ihrem gestrigen Anfall wohl eigentlich kaum wohl genug sein
werden, um auf zu sein,« sagte Everard Leath freundlich.

Er war infolge eines am gestrigen Tage gegebenen Versprechens
nach dem Bungalow herübergeritten und hatte sich sogleich in das
trauliche Wohnzimmer des Hausherrn begeben, dessen bis auf den
Boden hinabreichende Fenster auf die von Schlingpflanzen umrankte
Veranda und den sonnigen Garten dahinter hinausführten. Der alte
Herr, der in seinem großen Stuhle saß, hatte seinen Freund mit einem
Lächeln willkommen geheißen, war aber nicht aufgestanden und ihm
entgegengegangen. Seine Augen blickten trübe, sein schönes altes
Gesicht war eingefallen und blaß, die Hand, die sich dem jungen Manne
entgegenstreckte, war kalt und zitterte. Solche Symptome stellten sich
immer nach den Ohnmachtsanfällen ein, an denen er hin und wieder litt,
und der Anfall am gestrigen Tage war ungewöhnlich schwer gewesen. Er
selbst machte nicht viel Aufhebens von diesen Anwandlungen -- die
Tatsache, daß er an einer Herzschwäche litt, die auch wahrscheinlich
einst die Ursache seines Todes sein würde, beunruhigte ihn nicht; denn
er wußte es seit vierzig Jahren.

»Es ist schön, daß Sie kommen, mein alter Junge. Ich habe Sie
erwartet,« antwortete er mit zitternder Stimme, während er wieder in
seinen Sessel sank. »Ich bin noch nicht ganz wieder der alte. Die
gestrige Erschütterung --«

»Greift es Sie auch nicht zu sehr an, davon zu reden?« warf Leath
dazwischen.

»Nein, nein! Es läßt mir keine Ruhe! Seitdem ich gestern wieder zu mir
kam, habe ich mich gefragt: ›Ist es wahr? Kann es wirklich wahr sein?‹
Setzen Sie sich, lassen Sie sich ansehen, Everard! Wie geht es zu, daß
ich in Ihrem Antlitz nie jenes andere Antlitz, dessen ich mich so gut
erinnere, gesehen habe? Sie sind Marys Sohn -- meiner Mary Sohn!«

Eine wehmütige Zärtlichkeit klang aus seiner Stimme, während seine
Augen erregt in den ernsten, gefaßten Zügen des Jüngeren forschten,
die, so ernst sie auch waren, doch eine gewisse Weichheit des Ausdrucks
zeigten, die ihnen sonst fremd war. Ihn rührte die tiefe Bewegung
seines Gefährten, rührte die Treue, die noch nach mehr als dreißig
Jahren der einst Geliebten ein solches Gedenken bewahrte. Er drückte
die Hand, die die seine umschloß.

»Sehen Sie keine Ähnlichkeit?«

»Ich glaube doch. In der Bildung der Stirn und dem Ausdruck des Mundes
liegt etwas, das mich an Mary erinnert. Aber es liegt mehr Härte darin
als je bei ihr. Indessen, Sie sind ein Mann -- Sie haben ein schweres
Leben hinter sich -- das vergesse ich. Mary war ein junges Ding,
als sie von mir ging -- so rosig und weichherzig wie ein Kind. Zu
denken, daß ich die Hand ihres Kindes halte! Ich kann mich nicht auf
mein Gedächtnis verlassen. Everard, haben Sie mir je in einem unserer
Gespräche erzählt, daß Sie Ihre Mutter verloren hätten -- daß Mary tot
ist?«

»Ja, das habe ich Ihnen erzählt. Sie ist vor acht Jahren gestorben.«

»Vor acht Jahren! Und ich sitze hier und erfahre es erst heute! Und wie
hat sie Sie zurückgelassen? Allein?«

»Ganz allein.«

»Sie haben keine Geschwister gehabt?«

»Nein.«

Er hatte bei diesen beiden kurzen Antworten in den Garten
hinausgeblickt. Sherriff beobachtete ihn einen Augenblick, öffnete die
Lippen, als wollte er reden, schloß sie wieder, seufzte und nahm von
dem Tische neben sich das Bild, das am gestrigen Tage zu der Entdeckung
geführt hatte.

»Dies ist hergestellt worden, als sie ein junges Mädchen war,« sprach
er. »Vor acht Jahren ist sie mindestens eine altere Frau gewesen.
Trotzdem muß sie sich sehr wenig verändert haben, da Sie das Bild
sofort erkannten.«

»Sie hatte sich ganz und gar verändert,« antwortete Leath, ohne sich
umzuwenden. »Hätte ich nur die Erinnerung an meine Mutter, wie ich sie
gekannt, gehabt, so würde ich jenes Bild nie erkannt haben. Aber ich
besitze ein ebensolches, das natürlich aus derselben Zeit stammt.
Ich weiß noch, daß ich es mitunter ansah und sie anschaute und mich
verwundert fragte, ob die beiden Gesichter wirklich einer und derselben
Frau gehören könnten.«

»Die Veränderung war so groß?« fragte der andere in schmerzlichem Tone.
Er legte die Hand über die Augen. »Die Jahre sind unerbittlich,« meinte
er dann sanft.

»Die Jahre tun viel, aber sie tun nicht alles,« antwortete Leath
finster, noch immer, ohne sich zu regen. »Kummer, Gram, Armut sind noch
grausamer.«

»War das ihr Los?« Die erhobene Hand verdeckte einen Ausdruck tiefen
Schmerzes auf dem schönen alten Gesicht.

»Das war es. Ich will Ihnen das Herz nicht schwer machen, indem ich
Ihnen davon erzähle -- weshalb sollte ich? Jetzt ist es wenigstens
vorüber. Eine abgehärmte, traurige, früh gealterte Frau, die gern
gestorben wäre, als ihre Stunde schlug, wäre ich nicht gewesen, den
sie liebte, wie unsere Mütter uns eben lieben: das ist meine Mutter,
wie ich mich ihrer erinnere. Ich entschuldige es nicht, daß Sie Ihnen
die Treue gebrochen -- so teuer sie mir war, so kann ich das nicht
entschuldigen, aber Sie dürfen mir glauben, wenn ich sage, daß sie
schwer dafür gebüßt hat.«

»Ich habe es gefürchtet -- gefürchtet!« sagte der alte Mann mit einem
tiefen Seufzer. »Ich dachte oft, daß, wäre ihr Leben glücklich gewesen,
ich wieder von ihr gehört haben würde, daß sie meiner doch noch
gedacht hätte und mich ihr Glück hätte erfahren lassen. Sie haben nie
von mir reden hören? Sie hat niemals zu Ihnen von mir gesprochen?«

»Mit deutlichen Worten niemals. Sie erzählte mir einmal, daß sie selbst
an ihrem Kummer und Leid schuld sei -- daß sie mit offenen Augen als
Mädchen ihr Glück von sich gestoßen. Jetzt verstehe ich, was die arme
Seele damit meinte! Damals nicht.«

Es trat ein kurzes Schweigen ein. Leath starrte noch immer finster
zum Fenster hinaus. Sherriff blickte ihn mit merkwürdig zweifelndem
Ausdruck zögernd an. Es war, als ob der eine die Worte erwarte, die
auszusprechen der andere eine ängstliche Scheu empfand.

»Everard --,« es war eine Kleinigkeit, aber es rührte den jungen Mann
tief, als er bemerkte, daß ihn Sherriff jetzt bei seinem Vornamen
nannte, -- »Everard, ich darf noch eine Frage an Sie richten?«

»Das wissen Sie, Herr Sherriff.«

»Was -- was haben Sie mir über Ihren Vater zu sagen?«

»Was soll’s mit ihm?« Er sprach, ohne sich umzuwenden, aber sein Ton
war schroff und scharf, und seine kraftvolle Hand ballte sich.

»Er ist tot, vermute ich. Nicht wahr?«

»Ich habe ihn nie mit Augen gesehen.«

»Ihre Mutter verlor ihn so früh schon? Ehe Sie geboren wurden?«

»Allerdings -- ehe ich geboren wurde.«

»Und er ließ sie arm zurück?«

»Er ließ sie am Bettelstabe.«

»Er war also arm?«

»Ich weiß nicht, was er war. Ich weiß nichts -- nichts!«

»Tragen Sie seinen Namen?«

»Seinen Namen? Nein, ich wurde nach dem Bruder meiner Mutter genannt,
der als Kind gestorben ist. Das hat sie mir erzählt.«

Sein Ton hätte nicht bitterer sein können. Herr Sherriff stand auf und
nahm das Bild vom Tische.

»Nun, wir wollen jetzt nicht weiter über die Sache reden,« sprach er
ruhig, »es geht uns beiden zu nahe. Ein anderes Mal werde ich Sie
bitten, mir mehr aus Ihrem Leben, mehr von Ihrer Mutter zu erzählen,
aber jetzt nicht.«

Er öffnete das alte, messingbeschlagene Pult, legte das Bild hinein und
verschloß es sorgfältig.

»Haben Sie Zeit, mir, wie Sie versprochen, beim Ordnen der
Mortlakeschen Papiere zu helfen?«

Leath, der sich gewaltsam seinem Brüten entriß, erklärte sich bereit,
suchte aber, allerdings vergeblich, den Alten zu überreden, seines
Befindens wegen die Arbeit auf morgen zu verschieben.

Nachdem sie einen Kasten mit Briefen geordnet hatten, sagte Sherriff:

»Die wichtigen Schriftstücke und Pachtverträge sind in dem feuerfesten
Schrank dort am Kamin. Es sind zwei Kasten, die beide in weißen
Buchstaben die Aufschrift ›Mortlake‹ tragen.«

Leath schloß den Schrank auf, sah die beiden Kasten und stellte sie auf
den Tisch.

Sherriff bat ihn, den größeren zuerst aufzuschließen, und meinte, mit
dem anderen brauchten sie sich kaum zu befassen, da er hauptsächlich
Papiere, die noch aus der Zeit des alten Barons, Sir Roberts, stammten,
enthielten, und setzte hinzu:

»Ich glaube, er ist mir lediglich aus Versehen von meinem Vorgänger
geschickt worden. Jedenfalls hat Sir Jasper nicht darum gewußt, denn
der Kasten enthielt ein Paket Privatbriefe, die ich nicht sehen
sollte. Mein Vorgänger hatte ein Zimmer in Turret Court, in dem er
arbeitete, in dem damals all diese Bücher und Schriften aufbewahrt
wurden, und er erzählte mir, daß Sir Jasper, der das Päckchen unter
seinen Privatpapieren vermißt haben mochte, und dem dann eingefallen,
wo es war, ungehalten gewesen sei, daß er den kleineren Kasten mit
hierhergeschickt hätte. Er muß sich dann gleich auf den Weg gemacht
haben, das Vermißte wiederzuerlangen, denn als ich am Morgen, nachdem
ich die Bücher und Kasten erhalten, hier am Tische saß wie jetzt und
anfing, sie durchzusehen, ritt Sir Jasper draußen vor. Es war ein
bitterkalter Tag, aber er war in so rasender Eile von Turret Court
herübergejagt, daß sein Pferd mit Schaum bedeckt war und sein Gesicht
-- selbst gestern sah er nicht so aus, wie damals. Er stürzte wie
ein Wahnsinniger zu mir herein und fragte, ob ich den kleinen Kasten
geöffnet hätte. Ich sagte nichts, denn sein brüskes und heftiges
Benehmen verletzte mich, sondern deutete auf den noch unberührt auf dem
Tische stehenden Kasten und gab ihm den Schlüssel. Er schloß ihn auf,
leerte ihn mit bebenden Händen, nahm ein Paket heraus, schleuderte es
ins Kaminfeuer und war ebenso schnell wieder fort, wie er gekommen, und
ließ die übrigen Schriftstücke auf dem Tische und Fußboden verstreut
liegen.«

»Allerdings wunderlich,« bemerkte Leath. »Darf ich fragen, wie das
Paket aussah?«

»Soweit ich sehen konnte, war es klein und flach und mit einem
verblichenen gelben Band zusammengebunden. Haben Sie den großen Kasten
ausgepackt? Dann wollen wir jetzt daran gehen.«

Nach wenigen Augenblicken indessen lehnte sich Sherriff mit allen
Zeichen der Erschöpfung in seinen Stuhl zurück und meinte, daß er sich
niederlegen müsse, wolle er einem zweiten Ohnmachtsanfall vorbeugen.
Leath geleitete den alten Herrn sorgsam in sein Zimmer, blieb noch eine
Weile an seinem Bette sitzen und begab sich dann wieder an die Arbeit.
Nach einer halben Stunde war der Inhalt des größeren Kastens geordnet,
und während er sich eine Zigarre anzündete, blickte er unschlüssig auf
den kleineren.

»Soll ich den auch in Angriff nehmen? Es wäre wohl das beste. Er wird
kaum ein zweites Geheimnis des Barons bergen.«

Er schloß den Kasten auf und packte ihn aus. Der Inhalt war
augenscheinlich lange nicht berührt worden, denn ihm entströmte ein
dumpfiger Geruch. Mit den alten, vergilbten Papieren war entschieden
nicht viel anzufangen.

Was war dies hier? Ein Pachtvertrag. Und dies? Irgendein gerichtliches
Dokument über das Recht, einen Weg anzulegen. Und wieder dieses
zusammengefaltete ölige Pergament, zwischen dessen Falten noch etwas
anderes steckte, das sich hineingeschoben haben mochte? Er schlug es
langsam auseinander, und ihm fiel ein kleines, flaches Päckchen, das
von einem vergilbten gelben Bande zusammengehalten wurde, entgegen.

Noch eines! Gab es denn wirklich noch eines? In demselben Augenblicke
wurde er rot und starrte erstaunt auf die Papiere nieder. Dann aber
lachte er, und mit den Worten: »Ein zufälliges Zusammentreffen,
natürlich!« löste er das Band und breitete den Inhalt des Päckchens vor
sich aus. Woraus bestand er? Aus einem Bündel Briefe, die mit demselben
gelben Bande zusammengebunden waren, einem kleinen, amtlich aussehenden
Schriftstück, das für sich allein lag, und einer Photographie. Er nahm
sie auf und hielt sie so, daß das Licht darauffiel.

Ihm entfuhr kein Schrei, aber die Zigarre entfiel seinen Lippen, seine
Augen erweiterten sich, und er saß mit starrem, tieferblaßtem Antlitz
da. Während zwei oder drei Minuten verrannen, verharrte er regungslos
und stumm, dann erhob er sich mühsam und trat ans Fenster. Der warme
frische Luftstrom belebte ihn ein wenig, und er kehrte an seinen Platz
zurück. Mit plötzlich wiederkehrender, natürlicher Energie und einem
Laut, der wie ein Lächeln klang, ergriff er das kleine Dokument, las
es schnell durch, warf es auf den Tisch und streifte das Band von den
Briefen.

Es war ungefähr ein Dutzend. Alle außer einem trugen die Handschrift
einer Frau, und der eine war zerknittert und mitten durchgerissen, wie
von zornigen Händen. Die Tinte war verblaßt, die Daten lagen um mehr
als dreißig Jahre zurück. Einen nach dem andern, von Anfang bis zu
Ende, las Everard Leath, dann ließ er die geballte Faust schwer auf sie
niederfallen und saß mit auf die Brust gesenktem Haupte, gerunzelter
Stirn und aufeinandergepreßten Lippen in finsterem Brüten da. Er war so
in seine Gedanken vertieft, daß er die Schritte draußen auf dem Kies
nicht hörte, noch merkte, daß sie auf den Steinfliesen der Veranda
anhielten. Erst als sein Name mehr als einmal genannt worden, sprang er
auf, die Briefe noch immer in der Hand haltend, und sah Gräfin Florence
draußen vor dem offenen Fenster stehen.



18.


Florence stand in der Veranda des Bungalow, und der goldene Glanz der
Nachmittagssonne fiel auf ihre schlanke weiße Gestalt und verklärte
sie förmlich. Der breitrandige Strohhut, den sie trug, beschattete ihr
Gesicht, aber ließ doch erkennen, daß sie fast ebenso bleich war wie
am gestrigen Tage, und daß ein ungewöhnlich entschlossener Ausdruck
um ihre Lippen lag. Mit dem schönen Antlitz war eine rätselhafte
Veränderung vorgegangen -- es sah älter und strenger aus.

»Ich nannte Sie zweimal bei Namen, Herr Leath, aber Sie haben mich wohl
nicht gehört?«

Sie sprach in leichtem, nachlässigem Tone, aber es war dennoch nicht
der Ton, den sie vor der Gewitternacht stets ihm gegenüber angeschlagen
hatte; und trotz seiner ungeheuren Aufregung war Leath sich dessen
bewußt. Er versuchte, sich zu fassen, schob die Papiere hastig
zusammen und ging ihr entgegen, denn es schien, als warte sie auf eine
Aufforderung, ehe sie eintrat.

»Ich bitte um Entschuldigung, Gräfin -- ich muß gestehen, daß ich Sie
nicht gehört habe. Darf ich Sie bitten, näherzutreten? Herr Sherriff
ist augenblicklich nicht hier.«

Ihr schien seine halberstickte Stimme, seine Verwirrung und sein
starres, blasses Gesicht nicht aufzufallen. Sie trat ruhig durch die
Glastür ein und nahm Platz.

»Ich bin ein wenig müde. Meine Cousine ist nach dem Pfarrhause
weitergefahren und wird mich hier abholen. Lassen Sie sich nicht
stören,« sagte sie, nachdem er ihr erzählt, daß Sherriff gestern einen
seiner Ohnmachtsanfälle gehabt und sich auch jetzt wieder niedergelegt
habe.

Leath antwortete nicht. Es drehte sich noch alles mit ihm im Kreise --
ihm war, als müsse er ersticken.

Florence schien sein Schweigen nicht zu bemerken. Sie nahm ihren Hut
ab und hielt ihn auf dem Schoße. Dabei wurde sie die auf dem Tische
verstreuten Papiere, die verschlossenen und offenen Kasten gewahr.
Sie wurde rot, wandte sich dann schnell zu ihm und fragte ihn erregt,
ob die Szene, die gestern zwischen Sir Jasper und Herrn Sherriff
stattgefunden und von der er ja wissen müsse, da sie ihn sonst
wohl nicht beim Ordnen dieser Papiere angetroffen haben würde, den
Ohnmachtsanfall herbeigeführt habe.

Everard verneinte und sagte, er wisse zufällig, daß das Unwohlsein des
Alten durch eine ganz andere Gemütsbewegung verursacht worden sei.

»Eine andere Gemütsbewegung?« fragte sie und wurde plötzlich sehr
bleich. »Er hält viel von mir,« fuhr sie mit leicht bebender Stimme
fort, »haben Sie ihm etwa erzählt, daß meine Verlobung zurückgegangen
ist?«

»Nein -- ich habe nichts davon erwähnt.«

Sein schroffer Ton und seine Wortkargheit schienen ihr endlich
aufzufallen; sie blickte ihn betroffen an. Hatte er etwas übelgenommen?
Es sah so aus, und des gestrigen Tages gedenkend, wollte sie nicht, daß
er sich gekränkt fühlen sollte. War er nicht schließlich freundlicher
gewesen als Lady Agathe, ritterlicher als ihr eigener Verlobter? Bei
dem Gedanken ballten sich ihre Hände.

»Es lag kein Grund vor, weshalb Sie es nicht hätten erwähnen sollen,«
sprach sie ruhig. »Die Umstände sind nicht gewöhnlicher Art.« Sie hielt
inne. »Ich bin gekommen, ihm vor meiner Abreise selbst zu sagen, daß
ich Herrn Chichester sein Wort zurückgegeben habe.«

»Vor Ihrer Abreise?« wiederholte er.

»Ja.« Mit einem leichten, verächtlichen Lächeln zuckte sie die Achseln.
»Es ist für mich jetzt kein sehr angenehmer Aufenthalt in Turret Court,
und meine Gegenwart macht die Sache noch unliebsamer für meine Tante
und meine Cousine. Ich habe sie beide lieb, aber augenblicklich bin
ich böse auf sie, und daher ist es besser, wir trennen uns vorläufig.
Erst gehe ich zu Freunden nach London und werde dann wahrscheinlich
in acht bis vierzehn Tagen mit der Herzogin von Dunbar in Pontresina
zusammentreffen. Wollen Sie das, bitte, Herrn Sherriff mit einem
herzlichen Gruße bestellen für den Fall, daß ich vor meiner Abreise ihn
nicht mehr sehen sollte?«

Leath murmelte etwas Unverständliches, was sie als eine Bejahung
auffaßte.

»Danke. Aber sagen Sie ihm, daß ich morgen wieder vorsprechen würde.
Und Sie gehen ja auch fort, Herr Leath. Das vergesse ich ganz und gar.«
Sie war aufgestanden und sprach in einem weniger gezwungenen Ton als
bisher. »Ich muß Ihnen also auch Lebewohl sagen. Wissen Sie schon, wann
Sie reisen?«

»Nein,« -- zum ersten Male seit ihrem Eintritt blickte er ihr voll ins
Gesicht, -- »ich gehe nicht aus St. Mellions fort, Gräfin.«

»Nein? Ihre -- Ihre Pläne haben sich also geändert?«

»Ja.«

Er deutete auf den Stuhl, von dem sie aufgestanden war. »Setzen Sie
sich wieder! Ich habe Ihnen etwas zu sagen.«

Es lag geradezu ein Befehl in seinem Tone, und sie war so namenlos
überrascht, daß sie unwillkürlich gehorchte. Er blieb vor ihr stehen
und preßte die Hand fest auf einen kleinen Stapel Briefe, der vor ihm
auf dem Tische lag.

»Gräfin, erinnern Sie sich unseres Gespräches gestern an der Pforte
meines Gartens?«

»Natürlich,« antwortete sie bestürzt.

»Ich erzählte Ihnen, daß ich St. Mellions verließe, und weshalb?«

»Ja.«

»Weshalb war das?«

»Weil es Ihnen nicht gelungen, Robert Bontine zu finden.«

»Sie richteten eine Frage an mich, ich beantwortete sie. Erinnern Sie
sich der Antwort?«

»Ja.«

Sie wurde immer bleicher, und ihre weitgeöffneten Augen hingen starr
an ihm. Sie war sich eines lähmenden Schreckens bewußt, der sich ihrer
bemächtigte, als sie seinem Blick begegnete. Aber sie versuchte, sich
zusammenzunehmen. »Weshalb stellen Sie mir diese Fragen?« sagte sie.

»Weil ich Robert Bontine gefunden habe.«

Ihre Lippen öffneten sich, aber sie sagte nichts -- sein Blick
machte sie verstummen. Er nahm das eine Schriftstück, das einzeln
zusammengefaltet in dem zugebundenen Paket gelegen, und reichte es ihr.

»Wollen Sie das lesen?«

Sie tat es, und er nahm es ihr wieder aus der Hand.

»Verstehen Sie es?«

»Ich weiß, was es ist.«

»Aber mehr begreifen Sie nicht?«

»Nein.«

Er suchte unter den Briefen, nahm einen auf und gab ihn ihr.

»Lesen Sie den! Er ist der letzte von vielen und führt eine beredte
Sprache.«

Ihre Finger bebten so heftig, daß das dünne Papier knisterte, während
sie den Brief las. Er war nicht lang. Sie ließ die Hand schlaff in den
Schoß sinken, und er nahm ihn ruhig wieder an sich.

»Sie verstehen, was geschehen war, als jene Zeilen geschrieben wurden,
-- welches Unrecht begangen, welche Lüge vorgebracht worden -- nicht
wahr?«

»Ja, das verstehe ich.«

Er nahm einen zweiten Brief, einen, der eine männliche Handschrift trug
und ganz zerknittert und mitten durchgerissen war.

»Dieser hier,« sagte er langsam und blickte sie dabei an, »wurde, wie
ich vermute, -- nein, ich weiß, -- von der Empfängerin dem Schreiber
zurückgeschickt. Sie brauchen ihn nicht zu lesen. Der, den Sie gelesen
haben, war die Antwort darauf, und Sie können den Inhalt ungefähr
erraten. Aber ich möchte, daß Sie ihn ansähen und mir dann sagten, ob
Sie begreifen.«

Er hielt ihn ihr hin, aber erst nach einer vollen Minute streckte sie
die zitternde Hand aus und nahm ihn. Anstatt hinzusehen, wandte sie die
Augen mit einem Schauder ab.

»Warten Sie einen Augenblick,« bat sie mit schwacher Stimme. »Ich bin
ganz verwirrt -- ich ängstige mich! Ehe ich ihn ansehe, ehe ich mich
von dem überzeugen lasse, was Sie sich bemühen, mir ohne ein Wort zu
beweisen, ich weiß nicht, ob um mich zu schonen oder aus Grausamkeit --
ehe ich das tue, sagen Sie mir, wo Sie diese Briefe gefunden haben.«

Er deutete auf den kleineren Kasten.

»Ich habe sie dort gefunden.«

»Wann?«

»Ein paar Minuten, ehe Sie kamen.«

»Und keiner weiß davon?«

»Außer uns -- keiner. Wollen Sie den Brief ansehen?«

Mit einem abermaligen Erschauern folgte sie seinem Geheiß und las ihn
von der ersten Seite bis zur Namensunterschrift auf der dritten langsam
durch. Ihre Hand sank wieder kraftlos in ihren Schoß.

»Ich begreife alles, was Sie wollen, daß ich begreifen soll,« hauchte
sie fast unhörbar. Ihr Kopf sank zurück. »Mir wird schlecht, glaube
ich,« stammelte sie, »wollen Sie mir etwas Wasser bringen?«

Auf dem Büfett stand Wein, den er ihr brachte, weil er ihr besser sein
würde wie Wasser, wie er sagte. Es lag keine Zärtlichkeit in seiner
Hilfeleistung, kaum sorgliche Beflissenheit -- der ganze Mensch schien
ebenso versteinert wie sein starres, fahles Antlitz. Als sie den Wein
getrunken hatte, nahm er ihr das Glas aus der Hand und hub wieder zu
reden an, ruhig und klar, aber nicht freundlich.

»Zweifeln Sie nicht an der Wahrheit! Sie irren sich, wenn Sie das tun.
Ich hatte ausreichende Beweise von allem, ehe ich nach England kam.
Meine einzige Aufgabe war, den Mann zu finden. Zweifeln Sie daran, daß
es mir gelungen?«

»Nein -- daran wage ich nicht zu zweifeln. Aber ich bin wie verwirrt.
Das Ganze ist so entsetzlich. Lassen Sie mich nachdenken!«

Er gehorchte, trat an den Tisch zurück und band die Briefe, das
Dokument, die Photographie wieder mit dem gelben Band zusammen. Es sah
jetzt wieder wie das unschuldige flache Päckchen aus, das Sir Jasper
Mortlake zu Asche verbrannt zu haben glaubte. Florence drückte die
Hände gegen die Augen. Als er sich wieder zu ihr wandte und sie sie
herabsinken ließ, waren ihre Lippen völlig farblos; nur in ihren großen
Augen schien noch Leben zu sein, als sie ihn anblickte.

»Was,« hauchte sie in fast unhörbarem Flüstertone, »was wollen Sie tun?«

»Tun?«

Er wiederholte das Wort, als wundere es ihn, daß sie es brauchte.

»Was sollte ich tun, als das eine -- das zu tun ich der Toten feierlich
gelobt habe -- die Wahrheit verkünden?«

»Nein -- nein -- nur das nicht!« Ihre Stimme klang fast schrill; sie
sprang auf und faßte seinen Arm. »Das werden Sie nicht tun! Bedenken
Sie nur, was das heißen würde -- die Schande -- die Schmach --
Verzweiflung! Und sie sind unschuldig -- Tante Agathe und ihre Kinder
-- sie haben Ihnen nichts zuleide getan. Es würde Tante töten, würde
Cis das Herz brechen -- meiner armen kleinen Cis. Roys Leben wäre
zugrunde gerichtet. O, seien Sie barmherzig! Überlegen Sie! Schonen Sie
ihrer, ich beschwöre Sie!«

Ihre Hände umklammerten noch immer seinen Arm. Er machte sich kalt von
ihr los, und kein weicherer Zug trat in sein Antlitz.

»Ich habe das Gesetz nicht gemacht, Gräfin, daß die Unschuldigen für
die Schuldigen leiden müssen. Es ist unerbittlich, weder Sie noch ich
können es ändern. Auch ich bedaure die unglückliche Frau und ihre
Kinder. Aber könnten Sie deshalb wollen, daß ich die Schande und das
Leid, das ich vor Augen gehabt, vergesse -- das zugrunde gerichtete
Leben, das ich habe erlöschen sehen, das Sterbebett, an dem ich
gestanden, und das Gelübde, das ich dort getan, das Unrecht wieder
gutzumachen, wenn es auch mein ganzes Leben in Anspruch nehmen sollte?
Könnten Sie wirklich wollen, daß ich dies alles vergesse, daß ich das
mir zugefügte Unrecht beiseite schiebe, um ein barmherziges Schweigen
zu beobachten? Das können Sie nicht! Es ist zu viel verlangt. Ich muß
die Wahrheit sagen.«

»O, Sie müssen es nicht -- Sie sollen es nicht!« Sie rang die Hände.
»O, bedenken Sie sich -- warten Sie! Sie sind so gut gegen mich gewesen
-- es muß doch möglich sein, Sie barmherzig gegen die Armen zu stimmen.
Auf irgendeine Weise müssen Sie doch zu erweichen sein, wenn es mir nur
einfallen sollte, wie.«

Sie blickte ihn flehend an.

»Ach, um welchen Preis würden Sie meine Bitte erfüllen? Ich bin reich.
Kann nichts, was ich Ihnen zu bieten vermag, Ihr Schweigen erkaufen?
Sagen Sie mir, daß Sie jeden Pfennig meines Vermögens nehmen wollen,
und sobald es mein ist, gelobe ich, daß es Ihnen gehören soll. Denken
Sie, um was ich flehe -- um das Glück und die Ehre dreier unschuldiger
Menschen, die ich liebe. O, haben Sie doch Mitleid mit ihnen! Ich
will Ihnen alles geben, was ich besitze, und Ihnen danken, daß Sie es
nehmen, wenn Sie nur nicht reden wollen!«

Sie hielt inne, vor Eifer und Erregung bebend. Leath machte eine
ungeduldige Bewegung mit der Hand.

»Sie vergessen, Gräfin, daß es nicht nur Geld ist, auf das Sie mich zu
verzichten bitten! Ihr Vermögen? Stünde es in Ihrer Macht, es in diesem
Augenblick in meine Hände zu legen, so würde es keinen Unterschied
machen. Ich wiederhole es -- Sie fordern zu viel. Es gibt keinen Preis,
um mein Schweigen zu erkaufen.«

Sie blickte ihn an, gewahrte die fest aufeinandergepreßten Lippen
und die wie geschliffener Stahl blitzenden Augen und las in ihnen,
wie hoffnungslos alles weitere Bitten sein würde. Er würde kein
Erbarmen haben -- er würde die Wahrheit verkünden! Und weshalb sollte
er schonen, er, der nicht geschont worden war -- schonen, wo Recht
und Gerechtigkeit auf seiner Seite standen? Sie machte eine hilflose
Gebärde der Verzweiflung.

»Sie haben recht,« brachte sie mühsam hervor, »es ist zu viel verlangt.
Ich sehe es ein -- ich gebe es zu. Weshalb sollten Sie das für
Menschen tun, aus denen Sie sich nichts machen? Es ist grausam, es ist
schrecklich! Aber Sie müssen es tun, da Sie es nicht anders wollen.
Es ist Ihr gutes Recht. Aber ach, -- ich würde fast mein Leben dafür
geben, könnte ich Sie davon zurückhalten!«

Ihre Erregung überwältigte sie. Sie sank auf einen Stuhl und brach
in ein leidenschaftliches Weinen aus. Zum ersten Male ging eine
Veränderung mit Leaths unbewegtem Antlitz vor sich, als er sie in ihrem
fassungslosen Schmerze schluchzen hörte. Es war ihm unmöglich, länger
zu vergessen, wer sie war -- das Weib, das er leidenschaftlich liebte
und bis zu diesem Augenblicke niemals gehofft hatte zu erringen. Aber
jetzt? Er warf das Paket auf den Tisch und trat zu ihr.

»Gräfin,« sprach er mit fester Stimme. »Ich habe eben etwas Unrechtes
gesagt. Sie fordern viel von mir, aber nicht zu viel. Es gibt einen
Preis!«



19.


»Es gibt einen Preis,« wiederholte Everard Leath, »Sie können mein
Schweigen erkaufen, wenn Sie wollen.«

So ruhig die Worte auch gesprochen wurden, so vernahm die Schluchzende
sie doch, ließ vor Verwunderung die Hände herabsinken und wandte ihm
ihr von Tränen überströmtes Gesicht zu. Hatte er das wirklich gesagt?
Meinte er das so? Das Herz schien ihr fast stillzustehen und klopfte
dann wieder ungestüm, als sie ihn ansah. Mit seinem Aussehen war
eine Veränderung vorgegangen; sein Antlitz war gerötet, seine Augen
blickten glänzend und lebhaft. Sie rang nach Atem, während sie ihn mit
weitgeöffneten Augen anstarrte, und umklammerte die Armlehne ihres
Stuhles. Hatte er wirklich gesagt, daß er schweigen, daß er barmherzig
sein wollte? Er hub wieder an:

»Es gibt einen Preis -- alle Menschen sind zu erkaufen, wie man sagt,
und das mag wahr sein. Jedenfalls verhält es sich mit mir so. Sie
vergaßen, daß Geld an sich nichts ist -- für Ihr Vermögen, wäre es auch
zwanzigmal so groß, würde ich das, was Sie von mir heischen, nicht
hergeben. Nichtsdestoweniger können Sie mein Schweigen erkaufen, wenn
Sie wollen!«

»Wenn ich will? Sie wissen, daß ich will! Habe ich das nicht schon
gesagt?«

Sie hatte nicht die leiseste Ahnung von dem, was er meinte, als sie
zitternd, mit gespanntem Ausdruck in den Augen aufstand. »Sagte ich
nicht, daß ich fast mein Leben dafür hingeben würde, wenn ich sie
dadurch retten könnte? Aber welchen Preis außer meinem Gelde habe ich
Ihnen zu bieten?«

»Das wissen Sie nicht?«

»Nein. Was -- was?«

»Sich selbst,« sprach er gelassen.

»Mich selbst?«

Wie ein Hauch kamen ihr die Worte von den Lippen, während sie in ihren
Stuhl zurücksank und ihn noch immer völlig verständnislos anstarrte.
Aber als er ihr fest in die Augen sah, schoß eine heiße Blutwelle ihr
ins Antlitz, und sie errötete bis zu den Haarwurzeln -- sie verstand
ihn! Er sah es und schwieg einen Augenblick, um ihr Zeit zu geben, sich
zu fassen.

»Um diesen Preis werde ich schweigen,« hub er wieder an. »Ich weiß,
es ist der höchste, der mir geboten werden könnte, aber auch der
niedrigste, den ich annehmen will. Geben Sie mir jetzt Ihr Wort, daß
Sie mein Weib werden wollen, und ich schwöre Ihnen, daß kein Wort über
meine Lippen kommen soll.«

Sie sagte nichts und rückte in ihrem Sessel nur noch weiter von ihm
fort. Sie sah aus wie ein geängstigtes Kind. Als er diese Bewegung
wahrnahm, sprach er mit bitterem Auflachen:

»O, ich weiß, daß Sie sich nichts aus mir machen! Das brauchen Sie
mir nicht erst zu sagen. Ich habe Ihnen, der Tochter und Erbin eines
Grafen, bis zu diesem Augenblicke niemals als ein Ebenbürtiger
gegenübergestanden, Gräfin Florence. Wie sollten Sie sich etwas aus
mir machen? Und Sie gehörten einem andern; ich habe nicht einmal wagen
dürfen, um Sie zu werben. Aber gestatten Sie mir das jetzt, Florence!
Lassen Sie mich Sie lehren, wovon Sie ebensowenig wissen wie ein Kind,
-- was eines Mannes Liebe sein kann, und ich schwöre Ihnen, Sie sollen
mich noch liebgewinnen. Ich bin nicht wie jener fischblütige Narr, dem
Sie den Laufpaß gegeben haben. Ich -- aber ich erschrecke Sie. Ich will
ganz ruhig sein. Ich will warten, bis Sie zu mir sprechen können.«

Erstaunt und erschrocken über sein wie umgewandeltes leidenschaftliches
Antlitz, seine leuchtenden Augen, seine beredte Sprache war sie, als
er sich über sie beugte, noch weiter von ihm zurückgewichen. Er ging
zweimal im Zimmer auf und nieder, ehe er weitersprach. Sie hatte ihre
Stellung verändert und saß mit fest zusammengepreßten Händen aufrecht
da.

»Können Sie mich jetzt anhören?« fragte er ruhig.

»Ja.«

»Was also ist Ihre Antwort -- ja oder nein?«

»Wenn es ›Ja‹ ist, schwören Sie, zu schweigen?«

»Das habe ich schon gesagt. Ich gelobe unverbrüchliches Schweigen.«

»Für jetzt und allezeit?«

»Ja.«

Mit einem Schauder deutete sie auf das auf dem Tische liegende Päckchen.

»Sie wollen Ihre Beweise dort vernichten?«

»Sie selbst sollen sie ins Feuer werfen an dem Tage, an dem Sie mich
heiraten.«

»Und ebenso die anderen, die Sie besitzen, wie Sie sagen.«

»Ebenso.«

»Sie wollen niemand erzählen, daß Sie Robert Bontine gefunden haben?«

»Ich will den Namen nicht wieder erwähnen, nicht einmal gegen Sie.«

»Und Sie wollen -- sie hier -- in Frieden -- in ungestörtem Frieden
lassen -- und nach Australien zurückkehren?«

»Das haben Sie zu entscheiden -- als meine Frau.«

»Hier oder dort werden Sie nichts sagen?«

»Nichts! Noch einmal -- lautet Ihre Antwort ›Ja‹ oder ›Nein‹?«

»Wenn sie ›Nein‹ lautet, so werden Sie reden?«

»Weshalb nicht? Weshalb sollte ich alles um nichts dahingeben?«

»Allerdings, weshalb? Das Glück und die Ehre der andern sind Ihnen
nichts -- ich gestehe, daß ich kein Recht habe, auf Edelmut bei Ihnen
zu rechnen,« sprach sie mit bitterem Auflachen und blickte ihn an.
»Und wenn ich Sie heirate, so wollen Sie auf alles verzichten -- wollen
das der Toten geleistete Gelübde, von dem Sie sprachen, vergessen?« Sie
lachte bitter.

»Das will ich. Weshalb nicht? Die Toten sind schließlich tot. Wenn ich
irgend jemand durch mein Schweigen ein Unrecht zufüge, so ist es nur
mir selbst. Da das der Fall ist, so habe ich das Recht, wenn ich will,
die Liebe sowohl der Rache wie der Gerechtigkeit vorgehen zu lassen.«

»Liebe?« wiederholte sie mit unsäglicher Verachtung. »Sie sagen, Sie
lieben mich?«

»Sage, ich liebe Sie?« Er tat einen Schritt auf sie zu, bezwang sich
dann aber schnell. »Nein,« sagte er gelassen, »ich brauche nicht erst
zu sagen, was Sie wissen.«

»Es ist nicht wahr!« widersprach sie mit einer heftigen Bewegung »Ich
hatte nie an so etwas gedacht.«

»Nein. Das glaube ich. Wer war ich, daß ich Sie lieben sollte? Aber Sie
wissen es jetzt.«

Sie würde es geleugnet haben, hätte sie es vermocht, aber sie begegnete
seinen Augen, und die Worte erstarben ihr auf den Lippen. Ja, es war
wahr -- er liebte sie; sein Blick, seine Stimme waren eine Offenbarung.
Sie mochte schaudern, mochte sich dagegen auflehnen, aber sie mußte
es glauben -- er zwang sie dazu. In all ihrer Aufregung, ihrer Angst,
ihrem Zorn mußte sie Talbot Chichesters gedenken, des Mannes, der sie
auch geliebt haben sollte, und sie hätte in all ihrem Jammer fast
auflachen können. Sie stand auf, stützte sich mit der Hand auf ihren
Stuhl und begegnete dem Blick, der sie erbeben machte, dem sie aber
nicht ausweichen wollte.

»Machen Sie es sich klar,« sprach sie langsam, »daß ich Sie fast hasse,
Herr Leath?«

»Augenblicklich ja, Gräfin Florence -- völlig.«

»Und obwohl Sie das wissen, sind Sie willens, mich zu heiraten?«

»Ich liebe Sie, und ich weiß wenigstens, daß Sie keinen andern
lieben. Und möge Ihr Gefühl für mich sein, was es wolle, so ist es
nicht Verachtung. Die Sache keines Mannes ist einer Frau gegenüber
hoffnungslos, solange das nicht der Fall ist,« antwortete Leath
kaltblütig. »Sie stellen mir die Frage, und ich beantworte sie.
Angesichts Ihres Hasses, Ihres Grolles, Ihrer Empörung -- nennen
Sie es, wie Sie wollen -- bin ich willens. Ich will mich des Wortes
bedienen, da Sie es gebraucht haben.«

»Sie haben wenigstens Mut.« Sie blickte ihn wieder voll Verachtung an.
»Die meisten Männer würden es sich, glaube ich, zweimal überlegen, ehe
sie unter solchen Bedingungen eine Frau nehmen.«

»Nein, Gräfin Florence, nicht, wenn Sie diese Frau wären.«

Sie wandte sich von ihm weg. Nach einigen Augenblicken folgte er ihr an
das Fenster, an das sie getreten war.

»Ich will nicht, daß Sie sich übereilen,« sagte er ruhig; »wenn Sie
sagen: ›Gib mir bis morgen Zeit‹, so will ich warten. Aber es ist nicht
anzunehmen, daß Sie mich dann weniger hassen werden, noch wird der
Preis meines Schweigens bis dahin ein geringerer oder höherer geworden
sein.«

»Ich weiß, Sie halten mich für brutal, -- ich fürchte, ich bin es
auch, -- aber die Umstände entschuldigen mich vielleicht ein wenig.
Unfreundliche oder kalte Worte würde ich aus freier Wahl nicht gerade
Ihnen gegenüber brauchen. Darüber sollen Sie sich nicht zu beklagen
haben, wenn Sie erst meine Frau sind. Ich stelle meine Frage noch
einmal -- ist Ihre Antwort ›Ja‹ oder ›Nein‹?«

Er wußte die Antwort, und sie ebenfalls -- es konnte nur eine geben.
Sie sagte nichts -- Lippen und Zunge waren ihr wie ausgedorrt -- aber
langsam, sehr langsam und scheu hielt sie ihm die Hand hin. Er nahm
sie, umschloß sie mit festem Drucke während eines Augenblickes und ließ
sie dann los.

»Sie sollen Ihren Entschluß nie zu bereuen haben,« sprach er. »Von
dieser Stunde an wird es meine Aufgabe sein, Sie so glücklich zu
machen, wie nur ein Weib, das den Mann liebt, der sie wieder liebt,
sein kann. Was das Ziel meines Lebens gewesen, ist jetzt vorüber und
abgetan -- ich gewinne unendlich, wenn Sie mir dafür gegeben werden.«

Sie gab ihm keine Antwort; sie zitterte heftig; wiederum war sie nahe
daran, in hysterisches Weinen auszubrechen. Er rollte den Stuhl heran,
auf dem sie sich niederließ.

»Sie sind mit Ihrer Kraft zu Ende,« sagte er, »und das ist kein Wunder!
Ich darf Sir Jaspers Papiere nicht umherliegen lassen; ruhen Sie sich
aus und erholen Sie sich, während ich sie forträume. Wenn Sie bereit
sind, will ich Sie nach Turret Court begleiten. Ich habe Ihnen noch
etwas zu sagen, ehe wir auseinandergehen.«

Florence machte keine Einwendungen. Sie setzte sich wieder -- mit
dem hilflosen Gefühl, daß ihr nichts anderes übrigblieb -- daß ihr
nie wieder etwas anderes übrigbleiben würde, als sich den Umständen
zu fügen, da sie einmal eingewilligt, Everard Leaths Weib zu
werden. Sie würde bald aus ihrer dumpfen Betäubung erwachen, würde
sich zu leidenschaftlicher Empörung aufraffen, aber jetzt hatte
sie keine Kraft, gegen das Unvermeidliche zu kämpfen. Sie konnte
nicht einmal hoffen, zu sterben, denn wenn sie stürbe, würde dieser
schreckliche, unerbittliche Mensch, der sie bei all seiner mitleidlosen
Hartherzigkeit unerklärlicherweise so liebte, keinen Grund haben,
zu schweigen -- er würde die furchtbare Wahrheit aussprechen, die
zu verkünden in seiner Macht stand. Nein, sie mußte ihn lieben und
heiraten. So sehr sie ihn auch hassen mochte, sie mußte sein Weib
werden.

Sie erhob keinen Widerspruch, als er zu ihr trat und sie fragte, ob sie
den Heimweg antreten wolle. Gehorsam stand sie auf und setzte ihren
Hut auf. Hatte er doch das Recht, mit ihr zu gehen -- war er nicht ihr
zukünftiger Gatte? Die ganze Welt schien aus den Fugen zu sein.

Sie wanderten in fast ungebrochenem Schweigen über die Halde --
sie sprach aus freien Stücken keine einzige Silbe -- und doch war
alles, was er noch auf dem Herzen gehabt hatte, lange ehe sie Turret
Court erreichten, gesagt worden. Es hatte nur weniger deutlichen
Worte bedurft. Er blieb stehen, als das Haus in Sicht kam, obwohl,
wenn er es an ihrer Seite hätte betreten wollen, sie sich in ihrer
augenblicklichen Gemütsverfassung auch darein ergeben haben würde.

»Ich will jetzt umkehren,« meinte er, »es würde Sir Jasper ebensowenig
lieb sein, mich in seinem Garten anzutreffen wie in seinem Hause. Aber
ich will nur umkehren, wenn Sie dabei bleiben, daß Sie es vorziehen,
selbst mit ihm zu reden.«

»Ich ziehe es vor.«

»Sie besitzen solchen Mut, daß ich Ihnen das nicht ausreden will,
wenn es Ihr Wunsch ist. Aber Sie haben eine furchtbare Aufregung
durchgemacht! Sie wollen doch jetzt nicht mit ihm reden?«

»Ja. Glauben Sie, daß ich das noch länger auf dem Herzen behalten
könnte? Ich werde sofort zu ihm gehen.«

»Tun Sie ganz, wie Sie wollen,« sagte er ruhig. »Sie wollen also Sir
Jasper, Ihren Vormund, sofort von Ihrem Versprechen, mich zu heiraten,
in Kenntnis setzen? Und ich darf wohl morgen zu Ihnen kommen?«

»Weshalb nicht?« Sie lachte fast, während sie ihn ansah. »Sie haben das
Recht dazu, Herr Leath.«

»Freilich -- es ist mein Recht. Also will ich Ihnen denn für heute
Lebewohl sagen.«

Er nahm ihre Hand. Sie widerstrebte nicht, aber er fühlte, wie sie vor
ihm zurückwich, wie er das schon vorhin empfunden; und sein kurzes
Auflachen klang ebenso bitter wie das ihre soeben.

»Sie brauchen nicht bange zu sein! Ich will Sie nicht küssen -- noch
nicht. Ich glaube nicht, daß mir etwas daran liegen würde, solange Sie
solch ein Gesicht machen.« Er nahm auch ihre andere Hand. »Florence,
wie lange es wohl dauert, bis Sie mich küssen?«

Sie antwortete nicht; ihre Hände bebten hilflos in den seinen; sie
vermochte nicht, ihn anzublicken.

»Nicht lange, glaub’ ich, nicht lange.« Seine Augen hingen voll
Leidenschaft an ihrem blassen Antlitz. »Aber ich möchte wissen, wie
viele Küsse jener Tor, der es zuließ, daß Sie mit ihm gebrochen haben,
mir geraubt hat?«

Ihr Gesicht antwortete ihm. Sie blickte hastig auf, und er las
Überraschung, Verachtung, lebhaften Widerspruch in ihren Zügen. Er
lachte in ganz anderem Tone.

»Was, keinen einzigen? Dann will ich ihm vergeben, wie man einem Narren
vergibt -- mehr ist er nicht wert! Ich habe Sie noch mehr zu ehren als
ich glaubte, -- um so besser für Sie und für mich!«

Seine Stimme wurde weicher und klang nicht mehr triumphierend. »Armes
Kind,« sprach er sanft, »Sie hassen mich jetzt mehr als je -- nicht
wahr? Das tut nichts. Sie sind erschöpft, und ich halte Sie auf. Bis
morgen also, leb’ wohl, leb’ wohl!«

Er ließ ihre Hände los. Florence eilte davon; als sie sich bei einer
Biegung des Weges umblickte, sah sie ihn noch an derselben Stelle
stehen, an der sie ihn verlassen hatte; augenscheinlich wartete er, bis
sie außer Sicht sei. Sie eilte jetzt nur um so schneller weiter und
hielt sich nicht auf, bis sie das Haus erreicht hatte.

Sie fühlte, daß sie ohne Aufschub, ohne Zögern tun müsse, was ihr
oblag, wollte sie nicht zusammenbrechen. Sie nahm im Flur ihren Hut ab
und begab sich dann in die Bibliothek. Dort mußte sie, wie sie wußte,
Sir Jasper antreffen.

Er war da. Als Florence eintrat, sah sie ihn in seinem gewohnten Stuhl
sitzen, ein Buch in der Hand haltend. Er las nicht, sondern brütete
mit finster gerunzelter Stirn vor sich hin. Einen Augenblick blieb sie
stehen, und es durchfuhr sie der Gedanke, wie sein Gesicht sich wohl
verändern würde, wenn sie mit ihm geredet.

Zwischen Vormund und Mündel hatte, seitdem Florence mit Chichester
gebrochen, nur eine Zusammenkunft stattgefunden, die nicht sehr
angenehm gewesen und in der das junge Mädchen ihn daran erinnert hatte,
daß sie mündig sei und daß sie Turret Court auf immer zu verlassen
gedenke. Es berührte ihn daher eigentümlich, daß sie ihn aus freien
Stücken aufsuchte, und er fragte sie in einem so beißenden Tone, wie er
ihn ihr gegenüber noch niemals angeschlagen:

»Wie komme ich zu dieser unverdienten Ehre, Florence?«

»Ich habe dir etwas zu sagen, Onkel Jasper.« Sie war jetzt ganz nahe,
und er schrak beim Anblick ihres Gesichtes unwillkürlich zusammen. Als
sie sich mit den Händen auf eine Stuhllehne stützte, als bedürfe sie
eines Haltes, erhob er sich von seinem Sitze.

»Was gibt’s?« fragte er brüsk. »Weshalb siehst du so aus? Was ist los?«

»Um dir das zu sagen, bin ich hier. Ich war heute nachmittag im
Bungalow.«

»Nun? Was führte dich dorthin?«

»Ich wollte Herrn Sherriff vor meiner Abreise von St. Mellions Lebewohl
sagen.«

»Ah! Du hast, wie ich weiß, eine törichte Zuneigung für den albernen
Alten und er für dich. Ich verstehe. Er hat dir eine Szene gemacht und
dich gebeten, mich wegen seiner gestrigen Unverschämtheit um Verzeihung
zu bitten. Aber damit soll er mir vom Halse bleiben. Wie man sich
bettet, so liegt man. Je eher meine Angelegenheiten in andere Hände
übergehen, desto besser.«

»Du irrst dich. Herr Sherriff hat dir keine Abbitte geschickt. Ich habe
ihn nicht gesehen.«

»Nein?« Er blickte sie voll Argwohn und Mißtrauen an. »Was hat dich
denn so aus der Fassung gebracht?«

»Im Bungalow fand ich Herrn Leath.«

»Leath? Den -- den Menschen?«

Nur zweimal hatte sie sein Antlitz sich so verfinstern sehen wie jetzt
-- einmal, als er erklärte, daß Everard Leath niemals wieder Turret
Court betreten solle, und dann wieder, als sie ihn gefragt hatte, --
ach, wie unschuldig und arglos! -- ob er je den Namen Robert Bontine
gehört hätte. Er stammelte vor Wut.

»Und -- und er? Hat er gewagt, mit dir zu sprechen?«

»Er hat viel mehr getan als mit mir gesprochen, Onkel Jasper.«

Ihre Augen hingen unverwandt an ihm. Sie las in seinem Gesicht das
Grauen vor dem, was kam. Er war geisterbleich -- große Schweißtropfen
rannen ihm von der Stirn. Er sprach nicht, obgleich er den Mund öffnete
und einen dumpfen Kehllaut ausstieß; er stand auf und wartete auf den
Schlag. Sie blickte ihn an und versetzte ihm den gefürchteten Streich.

»Er hat Robert Bontine gefunden.«

Er fiel in seinen Stuhl zurück. Mit verglasten Augen starrte er sie an
-- sprachlos. Hätte noch die leiseste Hoffnung in ihrer Brust gelebt,
so würde sie vor diesem schrecklichen Antlitz erloschen sein. War er
imstande, ihr zuzuhören -- sie zu verstehen? Während sie das erwog, hob
er die Hand, bewegte sie hilflos hin und her und stammelte keuchend:

»Weiter!«

»Er hat Robert Bontine gefunden!« wiederholte sie. »Ich bin hier, um
dir das zu sagen. In meinem Herzen war kein Zweifel, wer jener Mann
sei, als ich zu dir kam, und jetzt erst recht nicht. Ich habe die
Beweise gesehen -- Beweise, die du vernichtet glaubtest -- Beweise, die
ein kleines, mit einem gelben Bande zusammengebundenes Paket enthielt.
Verstehst du mich?«

Er machte ein Zeichen der Bejahung. Sie fuhr fort:

»Andere Beweise existieren, wie er mir sagte, in Australien. Ich
zweifle nicht daran, daß er die Wahrheit redet. Er hat den Zweck
erreicht, der ihn nach England geführt, hat den Gesuchten gefunden --
und wir beide wissen, was er tun könnte, wenn er wollte.«

»Wenn er wollte?«

Wie er vorhin das ›Weiter!‹ keuchend hervorgestoßen hatte, so stieß er
auch diese drei Worte mühsam heraus. Florence wiederholte sie.

»Wenn er wollte. Aber er will nicht. Es gab nur einen Preis, der sein
Schweigen erkaufen konnte, und es traf sich zufällig, daß ich ihm
diesen Preis bieten konnte. Er liebt mich, wie es scheint. Ich habe
versprochen, ihn zu heiraten.«

Er fuhr aus seinem Stuhle empor, dessen Armlehnen er krampfhaft
umklammerte, während er sie ungläubig anstarrte. Sie sprach in
demselben ruhigen, entschlossenen Tone weiter:

»Ich habe versprochen, seine Frau zu werden, weil er mir sein Wort
gegeben hat, in dem Falle den Namen Robert Bontine nie wieder zu
erwähnen. Ich mache mir nichts aus ihm -- werde mir nie etwas aus ihm
machen, aber ich weiß, daß man sich auf ihn verlassen kann, weiß,
daß er sein Wort halten wird. An unserem Hochzeitstage soll ich die
Beweise, von denen ich sprach, eigenhändig den Flammen übergeben, --
das hat er mir auch versprochen. Ich werde meinem gegebenen Worte
nicht untreu werden, und er auch nicht. Solltest du dich etwa wundern,
weshalb ich es ihm gab, so weißt du die Antwort, denke ich -- ich habe
Tante Agathe und ihre Kinder sehr lieb.«

Es trat ein Schweigen ein. Etwas wie aufdämmerndes Verständnis, wie
eine gewisse Erleichterung zeigte sich auf dem Antlitz des Mannes im
Lehnstuhle. Langsam kehrte die Farbe in seine Wangen zurück. Florence
hatte den Kopf auf die Hände sinken lassen. Nach einer Weile erhob sie
sich und schritt auf die Türe zu. Ein bitter ironisches Lächeln zuckte
um ihre Lippen, als sie noch einmal stehen blieb und sprach:

»Noch etwas bleibt mir zu sagen übrig, ehe ich gehe. Ich fürchte,
es ist kaum wahrscheinlich, daß die Herzogin mit meiner Verlobung
zufrieden sein wird. Everard Leath, der irgendwo in Australien zu Hause
ist, ist keine so annehmbare Partie für mich wie Talbot Chichester von
Highmount. Es ist möglich, daß sie ihre Einwilligung versagen wird.
In dem Falle ist es mir lieb, zu wissen, daß die Zustimmung meiner
Vormünder mir den Besitz meines Vermögens sichert und daß du, Onkel
Jasper, die deinige nicht verweigern wirst.«

Sie verließ ihn ohne ein weiteres Wort und ging die Treppe hinauf,
um sich in ihr Zimmer zu begeben. Sie fühlte, daß es mit ihrer
Selbstbeherrschung vorbei sei, daß sie der Ruhe und Einsamkeit bedürfe.
Auf der Schwelle des Gemaches traf sie Cis, die es gerade verließ.

»O, Florence, da bist du ja!« rief sie.

Es war so dunkel im Korridor, daß sie das Gesicht ihrer Cousine nicht
deutlich sehen konnte.

»Ich wunderte mich, wo in aller Welt du nur stecken könntest! Weshalb
hast du nicht im Bungalow auf mich gewartet? Du kannst dir mein
Erstaunen vorstellen, als ich dort ankam und hörte, du seiest fort.«

»Ja -- ich kann mir denken, daß du erstaunt warest, Cis.«

»Erstaunt? Ich war einfach fassungslos bei dem Gedanken, daß du
den langen, heißen Weg zu Fuß gemacht hast, noch dazu, wo du nicht
wohl bist. Und --« Cis ließ stockend die Stimme sinken, sie wußte
nicht recht, wie sie mit der in den letzten paar Tagen merkwürdig
verwandelten Florence eigentlich daran war -- »hm -- das Mädchen sagte,
Florence, daß Herr Leath mit dir gegangen wäre.«

»Ganz recht. Er hat mich nach Hause gebracht.«

»Was -- den ganzen Weg? Hierher nach Turret Court?« Aus ihren
weitgeöffneten Augen sprach Mißbilligung und Erstaunen. »O, wirklich,
Florence, ich finde, das hättest du nicht tun sollen,« meinte sie
tadelnd. »Gerade jetzt, wo ihr schon in aller Leute Munde seid! Du
hattest ihn nicht mit dir gehen lassen dürfen. Er hat kein Recht, sich
dir auf solche Weise aufzudrängen.«

Florence lachte und legte der andern die Hände auf die Schultern.

»Du bist ein Prachtstück von Sittsamkeit, liebe Cäcilie. Aber in diesem
besonderen Falle irrst du dich zufällig ganz und gar. Sowohl vor aller
Augen wie hinter dem Rücken von ganz Rippondale hat Herr Leath das
Recht, mit mir zu gehen, wenn er Lust hat. Ich habe soeben versprochen,
ihn zu heiraten.«



20.


In dem getäfelten Zimmer, sonst dem traulichsten und freundlichsten
Raume des Schlosses, sah es trübselig aus. Lady Agathe, die in ihrem
Lieblingsstuhl saß, hatte ihr Taschentuch an die Augen gedrückt und
schluchzte herzzerbrechend; ihr Roman war auf den Boden herabgeglitten
und lag dort vergessen. Cis, deren hübsches Gesicht blaß und bekümmert
aussah, stand am Fenster und hätte am liebsten auch geweint. Vor noch
nicht drei Minuten hatte sich die Tür hinter Sir Jasper geschlossen,
der hinausgegangen war und all diesen Jammer zurückgelassen hatte.
Wie unwillkommen sein Besuch in dem getäfelten Zimmer auch stets
seiner Frau und Tochter sein mochte, so war er doch nie mit einer so
niederschmetternden Mitteilung erschienen wie eben, und die Wirkung,
wenigstens auf die ältere Dame, war vernichtend gewesen. Mit den
kürzesten Worten und dem schroffsten Ton seiner scharfen Stimme hatte
er die Verlobung seines Mündels mit Everard Leath und seine eigene
Einwilligung mitgeteilt. Nachdem er das getan, ging er hinaus, wie
er hereingekommen, und Lady Agathe, die zu eingeschüchtert war, um
angesichts seiner kaltblickenden Augen eine Szene zu machen, brach vor
Erstaunen, Bestürzung und Entrüstung in Tränen aus.

»Mir ist nie etwas so nahegegangen,« schluchzte sie, »niemals, Cäcilie!
Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht! Mir ist, als könnte ich meinen
Ohren nicht trauen. Wenn dein Vater überhaupt jemals spaßte, so würde
ich sagen, er macht einen Scherz mit mir. Aber er sagte ganz deutlich,
Florence hätte sich mit Herrn Leath verlobt, nicht wahr?«

»Ja, Mutter, das sagte er.«

»Und daß er eingewilligt hätte, nicht wahr?«

»Ja -- auch das.«

»Ich kann -- ich will es nicht glauben!« rief Lady Agathe unter neuem
Schluchzen. »Florence sollte sich mit solchem Menschen verlobt haben!
Er ist doch durchaus keine Partie für sie! Und dein Vater, der ihn nie
ausstehen zu können schien, sagt, daß sie ihn heiraten soll! O, ich bin
wie betäubt! Sie macht sich doch gar nichts aus dem Menschen, nicht
wahr?«

»Ich -- ich fürchte nein, Mutter,« antwortete Cis mit verlegenem
Zögern. »Aber ich habe seit langer Zeit gewußt, daß Herr Leath sehr in
sie verliebt war.«

»Ach, was hat das damit zu tun?« rief Lady Agathe. »Wenn das so ist,
so ist es eine unverschämte Anmaßung von ihm. O, wie schade ist es,
jammerschade, daß sie nicht mit der Herzogin nach Pontresina gegangen
ist! Dann wäre dies alles nicht geschehen, und sie hätte in aller
Gemütsruhe Chichester geheiratet. Aber ich kann es nicht glauben,
liebes Kind, daß es ihr Ernst ist -- ich kann es nicht. Dein Vater muß
sie mißverstanden haben. Nein -- ich glaube nicht, daß es wahr ist, bis
Florence selbst es mir bestätigt.«

»Aber es ist wahr, Mutter.« Cis wandte sich um. »Florence hat es mir
selbst erzählt.«

»So?« Lady Agathe hörte auf zu schluchzen. »Sie hat es dir gesagt?«

»Ja -- gestern. Anstatt im Bungalow auf mich zu warten, wie wir
verabredet, hat sie sich von Herrn Leath, der dort war, nach Hause
bringen lassen. Da hat er sich wohl gegen sie ausgesprochen. Auf jeden
Fall erzählte sie mir, daß sie sich mit ihm verlobt und daß Vater seine
Zustimmung gegeben hatte.«

»Fragtest du sie nicht, ob sie den Verstand verloren hätte?« fragte die
Mutter mit einem neuen Tränenstrom.

»Natürlich tat ich das! Sie war so wunderlich -- so ganz anders als
sonst, und sie lachte, als ich zu weinen anfing. Ich wollte es dir
erzählen, aber sie sagte ›Nein‹, sie wollte Papa bitten, es dir zu
sagen. Du weißt, daß sie gestern nicht zu Tische herunterkam, und als
ich heute morgen nach dem ersten Frühstück sie in ihrem Ankleidezimmer
aufsuchte, sahen ihre Augen so trübe aus, als habe sie die ganze Nacht
nicht geschlafen. Alles wegen des unseligen Menschen!« rief Cis, in
zornige Tränen ausbrechend, »und ich mochte ihn früher ganz gern
leiden, den Abscheulichen! Und nun ist das Elend da! Ach, ich wollte,
ich wäre tot!«

»Doch wohl nicht im Ernst, Cis -- hoffentlich nicht! Unsinn, du kleines
Ding! Was Harry wohl sagen würde, wenn er dich hören könnte!«

Es war Florence, die so sprach. Vor etwa einer Minute war sie draußen
in die Veranda getreten und horchend stehengeblieben, als durch das
offene Fenster Stimmen an ihr Ohr schlugen. Lady Agathes Schluchzen
allein hätte ihr verraten, wovon die Rede war, aber sie hatte mehr
gehört. Sie trat ins Zimmer und sprach mit fester Stimme zu ihr:

»Ja, es ist wahr, Tante Agathe, Herr Leath hat gestern um mich
angehalten, und ich habe mich mit ihm verlobt. Und es ist ebenfalls
wahr, daß Onkel Jasper in unsere Verlobung gewilligt hat. Du mußt meine
Verlobung, bitte, als eine abgemachte Sache ansehen.«

Sie war noch immer sehr blaß, ihre großen Augen waren glanzlos, aber
ihr bleiches Antlitz belebte sich, als sie sanft den Arm um Cis legte
und ihr goldblondes Haar küßte. Arme, kleine Cis! Armes, weichherziges
kleines Mädchen, das so bitterlich schluchzte! Würde ihr nicht das
Herz wirklich gebrochen sein, würde sie nicht ihren fröhlichen jungen
Bräutigam verloren haben, wäre nicht diese Verlobung mit Everard Leath
gewesen, über die sie so herzbrechend weinte? Was für ganz andere
Tränen hätten Mutter und Tochter jetzt vergießen können, hätte sie
nicht aus Liebe und Mitleid zu ihnen jenes übereilte Opfer ihrer
selbst gebracht! Aber bereute sie es denn? Nein -- sie bereute es
nicht; sie wollte es nicht bereuen, obgleich sie schauderte bei dem
Gedanken an die bevorstehende Zusammenkunft mit dem Manne, der jetzt
das Recht hatte, sich ihren Verlobten zu nennen. Und es würde nur ein
kümmerliches Opfer sein, wenn sie sahen, daß sie litt. Sie zwang
sich zu einem Lächeln, während sie zu ihrer Tante trat und sanft das
Taschentuch fortzog, das die arme Frau noch immer an die Augen drückte.

»Aber ich kann es nicht glauben!« rief Lady Agathe, »wir kennen diesen
Leath gar nicht! Ich muß offen reden, Florence -- was kann dir nur in
den Sinn gekommen sein? Weshalb hast du es getan? Glaubst du, daß Herr
Leath dich wirklich liebhat, Florence?«

»Mich liebhat?«

Sie sah wieder das gerötete, lebhafte Antlitz vor sich, dessen kühler,
ruhiger Ausdruck wie umgewandelt war, die leuchtenden Augen, die von
verhaltener Leidenschaft vibrierende Stimme -- die ganze Glut des
Mannes, die sie erschreckt und doch einen Zauber auf sie ausgeübt
hatte. Ob er sie liebte? Mochten seine Sünden gegen sie so groß sein,
wie sie wollten, mochte sie vor ihm zurückbeben und ihn hassen, so sehr
sie wollte, daran war wenigstens kein Zweifel.

»Ja,« sprach sie in sehr leisem Tone, »er liebt mich. Davon kannst du
fest überzeugt sein.«

»Dann ist wohl nichts an der Sache zu ändern,« meinte Lady Agathe
verzweifelt, »aber was die Herzogin sagen wird --«

»Es kommt gar nicht weiter in Betracht, Tante, was die Herzogin sagen
wird. Onkel Jasper willigt ein, wie du weißt. Das ist genug, um mir
mein Vermögen zu sichern, und folglich alles, was nötig ist,« fiel ihr
Florence mit einer Bewegung der Gereiztheit ins Wort.

»Liebe Florence, ich muß dich noch etwas fragen. Wenn diese
Heirat wirklich stattfinden soll, wünschest du, daß die Verlobung
geheimgehalten wird?«

»Geheim?«

Einen Augenblick wandte sich Florence mit blitzenden Augen um.
»Nein, ich schäme mich nicht dessen, was ich tue! Weshalb sollte sie
geheimgehalten werden?«

»Liebes Herz, ich hoffte, du würdest verstehen, was ich meinte,«
stammelte Lady Agathe ängstlich. »In Anbetracht all der -- unseligen
Klatschereien, die das schreckliche Gewitter verursacht hat, würde es
besser sein, sie noch nicht zu veröffentlichen. Du weißt, die Leute
lassen sich nicht den Mund verbieten -- es ist schändlich, aber sie
werden --«

Florence drehte sich jäh um.

»Ich möchte nicht böse werden, Tante,« sagte sie und gab sich Mühe,
ihre Stimme in der Gewalt zu behalten, während sie die Hand aufs Herz
preßte, »aber ich fürchte, ich werde heftig, wenn ich noch länger
hier bleibe. Wir wollen nicht weiter über die Sache reden. Herr Leath
erwartet mich, ich will gehen.«

Plötzlich ging eine Veränderung mit ihrem Antlitz vor; sie lief auf
Lady Agathe zu, umschlang sie mit den Armen und rief in ganz anderem
Tone: »Nein, nein! Es tut mir leid, daß ich das gesagt habe, mein Herz,
-- ich will nicht böse werden! Nur frage mich nichts weiter und weine
und härme dich nicht mehr! Laß mich denken, wenn ich dich ansehe, daß
du glücklich bist, so stolz auf Roy, -- nicht wahr? -- deinen einzigen
geliebten Sohn! Es würde dir das Herz brechen -- nicht? -- und wenn ihm
etwas zustieße -- dich vielleicht gar töten? Nein, nein -- sag’ nicht
›Ja‹ -- antworte nicht, ich weiß, daß es so sein würde!«

Sie wandte sich zu ihrer Cousine, umarmte sie und schaute ihr lebhaft
in die verwundert aufblickenden Augen. »Und du, kleine Cis -- du siehst
kläglich aus, -- du bist auch nicht unglücklich, mein Schatz. Du sollst
mir zeigen, so oft ich dich und Harry ansehe, wie glücklich ihr seid,
wie lieb du ihn hast, wie schrecklich es dir wäre, wenn du nicht seine
Frau würdest! Küsse mich, Liebling, und sag’ mir, daß du jetzt ganz
glücklich bist. Das ist recht! Dann bin ich es auch. Jetzt laßt mich
gehen.«

Sie entfernte sich eilfertig auf demselben Wege, auf dem sie gekommen:
sie wußte, daß sie in heftiges Schluchzen ausbrechen würde, wenn
sie länger bliebe, und auf diese Weise das, was sie bestrebt war zu
verbergen, verraten hätte, und sie ging noch immer sehr schnell, selbst
als sie vom Fenster aus nicht mehr gesehen werden konnte. In ihrem
Kopfe wirbelte es, ihre Pulse flogen; nur ganz mechanisch schlugen
ihre Füße die Richtung nach der Stelle ein, an der sie am vorigen Tage
verabredet hatte, mit Leath zusammenzutreffen.

Als sie ihn dort, anscheinend ihrer harrend, stehen sah, hielt sie im
Laufen inne und fühlte plötzlich, wie es sie kalt überlief. Sie blieb
stehen, und er kam sofort auf sie zu.

»Ich -- ich habe Sie warten lassen,« brachte sie stockend heraus. Etwas
mußte sie sagen, und diese Worte fielen ihr zuerst ein. Sie zitterte,
als sie seinem Blick begegnete und den festen Druck seiner kräftigen
Hand empfand. Sie hatte ihm die ihre nicht gereicht -- er hatte sie
genommen, als wäre es etwas, wozu er ein volles Recht habe.

»Ein wenig, aber es geziemt mir, auf Sie zu warten.« Er lächelte auf
seine ernste Art. »Sie sehen abgespannt aus, Florence, -- Sie sind sehr
schnell gegangen, -- das hätten Sie meinetwegen nicht tun sollen. Dort
steht eine Bank. Sollen wir uns setzen?«

Sie machte eine zustimmende Bewegung, und während sie sich setzten,
ließ er sehr langsam ihre Hand los, die er bis jetzt festgehalten
hatte. Florence schlug die Augen nicht auf. Sie hatte gesehen, daß
er sie ansah, wie er sie am gestrigen Tage angesehen hatte, und das
war genug. Es war ein Glück, daß er sich so beherrschte, dachte sie
und bemühte sich, ihre innere Angst zu verbergen; wenn die Sache
nicht schlimmer wurde als so, konnte sie es ertragen. Er hatte sie
allerdings bei ihrem Vornamen genannt, und das Recht mußte sie ihm
wohl zugestehen. Aber er hätte mehr tun oder sagen können, wo jeder
Blick, jeder Ton eine Liebkosung war? Der Gedanke durchzuckte sie, wie
wunderschön es hätte sein müssen, so neben ihm zu sitzen, wenn sie ihn
geliebt hätte!

Er brach das Schweigen, nachdem er prüfend in ihr gesenktes Antlitz
geschaut.

»Sie sind sehr bleich,« sagte er sanft, »aber das ist nicht zum
Verwundern. Ich fürchte, Sie haben in der letzten Nacht nicht
geschlafen?«

»Ich habe es gar nicht versucht.«

»Armes Kind! Sie müssen es heute nacht nachholen. Soll ich weiterreden,
oder möchten Sie lieber, daß ich es nicht täte? Wird es Ihnen zuviel?«

»Es wird mir nicht zuviel. Ich kann Sie sehr gut anhören. Sagen Sie
mir, bitte, alles, was Sie mir zu sagen haben,« sprach Florence
gelassen.

»Nun gut. Wir haben gestern so vieles besprochen, daß zum Glück sehr
wenig übrigbleibt.«

Er nahm ein Band, das an ihrem Kleide herabhing, und wickelte es um die
Finger.

»Haben Sie gestern eine Unterredung mit Sir Jasper gehabt?«

»Ja.«

»Und ihm von dem Versprechen, mich zu heiraten, gesagt?«

»Ja -- das habe ich getan.«

»Er verweigert seine Einwilligung hoffentlich nicht?«

»Nein -- das tut er nicht.«

»Das ist gut, denn das heißt doch, daß wir der Herzogin nicht bedürfen.«

»Nein, die brauchen wir nicht.«

»Das ist wieder gut, denn ich muß gestehen, ich würde es vorziehen,
daß Sie Ihr Vermögen behalten. Ich bin zwar kein armer Mann, aber ich
bin auch nicht reich, und es täte mir leid, wenn Sie als meine Frau
irgend etwas entbehren müßten, an das Sie gewöhnt sind.« Er hielt inne
und spielte noch immer mit dem Bande. »Ich bin in solchen Sachen recht
unwissend,« hub er in demselben nachlässigen, leichten Tone wieder an,
»aber da Sir Jasper Ihr Vormund ist, so liegt es mir wohl ob, ihn
aufzusuchen, nicht wahr? Soll ich heute zu ihm gehen?«

»Nein, heute nicht. Er hat mich beauftragt. Ihnen zu sagen, daß er Sie
morgen sehen wolle.«

»Gut. Wenn er es vorzieht -- um welche Stunde?«

»Das überläßt er Ihnen.«

»Dann wollen wir sagen, morgen um zwölf.«

Darauf erkundigte sich Leath, ob Lady Agathe und Cis um ihre Verlobung
wüßten und wie sie diese aufgenommen hätten, und Florence antwortete,
daß sie sehr überrascht und ganz außer sich darüber seien.

»Das tut mir leid,« sprach Leath. »Fräulein Mortlake ist ein
allerliebstes kleines Geschöpfchen, und ich weiß, Sie halten viel von
ihr. Wollen Sie ihnen beiden von mir sagen, ich hoffte, sie würden mit
der Zeit freundlicher gegen mich gesinnt werden?«

»Ja -- das will ich tun.«

Florence lehnte sich zurück und schloß die Augen. Sie war sich einer
Regung der Dankbarkeit bewußt. Er hätte ihr die Sache viel schwerer
machen können; sie fühlte zwar, er würde unerbittlich darauf bestehen,
daß sie ihr Wort halte -- warum sollte er auch nicht? -- aber er war
zartfühlend, rücksichtsvoll und freundlich gewesen.

Sie widerstrebte nicht, als er wieder ihre Hand nahm, und verbarg, so
gut sie konnte, den Schauder, der sie durchbebte, als er die Lippen
darauf drückte. Das konnte sie ertragen. Aber sie öffnete gleich
darauf die Augen wieder, entzog ihm ihre Hand und erklärte, daß sie
Kopfschmerzen von der Sonne habe und nicht länger im Freien bleiben
könne.

»Das sollen Sie auch nicht.«

Er stand auf, als sie sich erhob, und blickte in das blasse, müde
Gesichtchen mit den dunklen Schatten unter den Augen, dem Schmerzenszug
um die zarten Lippen.

»Armes Kind!« entfuhr es ihm plötzlich. »Wie elend Sie aussehen -- wie
ein Schatten Ihres lieblichen Selbst! Und daran bin ich wohl schuld?
Ich -- gütiger Himmel! Sind Sie sehr unglücklich, Florence?«

»Unglücklich?« Sie warf ihm einen Blick zu. Hohn und stumme Vorwürfe
lagen darin. »Brauchen Sie die Sache noch schlimmer zu machen dadurch,
daß Sie mich darnach fragen?«

»Noch schlimmer? Ist es so schlimm?« Er hielt jetzt ihre beiden Hände
und blickte mit düsterer Zärtlichkeit auf sie herab. »Ja -- ich bin
wohl brutal -- ich weiß, daß Sie mich dafür halten! Ich müßte Sie wohl
freigeben, -- das müßte ich eigentlich! Ein guter Mensch würde das
tun.« Er hielt inne und holte tief Atem. »Nun, ich fürchte, ich bin
kein guter Mensch. Sie sind mein. Ich kann es nicht tun!«

»Ich -- ich habe Sie nicht darum gebeten,« sprach Florence mit
schwacher Stimme.

Wenn er es täte? Wenn er sie des Versprechens entbinden sollte, mit
dem sie sein Schweigen erkauft hatte? Schon bei dem bloßen Gedanken
überlief es sie kalt, obwohl sie sehr wohl wußte, daß er es niemals tun
würde.

»Nein -- Sie haben mich nicht darum gebeten, -- das ist wahr. Aber ich
kann sehen --«

Er brach ab; sein Ton wurde sanft und liebkosend. »Mein armes kleines
Lieb -- mein armes kleines Mädchen! Ich liebe es so, daß ich ihm kein
Haar krümmen möchte -- liebe es so, daß ich mir die Hand abhauen würde,
ihm zu dienen, wenn es sein müßte, und doch bin ich grausam genug, um
es so aussehen zu machen!«

»Lieben?«

Die Versuchung, ihm zu widersprechen, war zu mächtig, um ihr zu
widerstehen, trotz des panischen Schreckens, von dem sie sich eben
erholt hatte: sie warf ihm einen Blick der Verachtung zu.

»Sie mögen vorgeben, mich zu lieben, Herr Leath, aber mehr tun Sie
nicht.«

»Vorgeben? Glauben Sie, ich tue nur so? Glauben Sie das? Dann denken
Sie hieran, mein Lieb, und sagen, wieviel Verstellung daran ist!«

Zu plötzlich, als daß sie ihm hätte ausweichen, zu kraftvoll, als daß
sie ihm hätte wehren können, schloß er sie fest in die Arme und küßte
sie zweimal mit leidenschaftlicher Innigkeit. Im nächsten Augenblick
hatte sich Florence mit einem halberstickten Schrei losgerissen und
floh über das Gras, ohne einen Blick zurückzuwerfen.

Leath machte keinen Versuch, ihr zu folgen. Nach einer unwillkürlichen
Bewegung, sie zurückzuhalten, blieb er regungslos stehen und sah der
Davoneilenden mit einem seltsamen Lächeln nach. Erst einige Sekunden,
nachdem sie verschwunden, machte er kehrt und verließ den Garten von
Turret Court.

Er ging über die Halde und durch St. Mellions nach dem Bungalow. In
gewohnter Weise durch die Veranda eintretend, fand er Sherriff im
Wohnzimmer in seinem großen Stuhl am Tische sitzen. Die beiden Kasten
standen vor ihm wie am gestrigen Tage, und der alte Herr hielt einige
Schriftstücke in der Hand. Sein schönes Gesicht war noch bleich und
abgespannt, aber es hellte sich beim Eintritt des jungen Mannes auf.

»Wie Sie sehen, bin ich unfolgsam gewesen, Everard,« sagte er mit einem
Lächeln, »und habe mich ohne Sie an die Arbeit gemacht.«

»Sie hätten auf mich warten sollen. In einem Augenblick steh’ ich zu
Ihren Diensten, aber erst habe ich Ihnen etwas mitzuteilen.«

»Mir mitzuteilen?«

In der ruhigen, gelassenen Stimme des anderen lag etwas, das Sherriff
veranlaßte, schnell aufzublicken.

»Hoffentlich nichts Unangenehmes?« fragte er.

»Nein -- oder hoffentlich werden Sie es nicht dafür halten.« Er
hielt inne. »Erinnern Sie sich noch, daß Sie mich vor einiger Zeit
beschuldigten, Gräfin Florence Esmond zu lieben?«

»Mein lieber Junge, natürlich erinnere ich mich dessen.«

»Ich war nicht imstande, zu leugnen, daß Sie recht hatten, denn ich
war mir seit Wochen meiner eigenen Torheit völlig bewußt gewesen. Ich
liebte sie -- ich tue es noch -- ich werde sie stets lieben! Aber
nichts lag mir damals ferner als der Gedanke, daß ich es ihr je sagen
würde. Die Umstände haben sich indessen geändert, und ich habe es ihr
gesagt. Was ich Ihnen mitteilen wollte, ist, daß sie eingewilligt hat,
meine Frau zu werden.«

»Leath!«

»Sie sind überrascht; ich wußte, daß Sie das sein würden.
Nichtsdestoweniger ist es wahr. Noch mehr: Sir Jasper hat -- ihr, mir
zwar noch nicht, -- seine Einwilligung zu unserer Heirat gegeben.«

»Seine Einwilligung? Wie? Unmöglich!«

»Doch, es ist so. Warum auch nicht, schließlich? Obwohl ich gern
zugebe, daß ich keine sogenannte Partie für sie bin.«

»Und sie -- Gräfin Florence -- hat versprochen, Sie zu heiraten?«

»Ja. Das kommt Ihnen ebenso überraschend, fürchte ich?«

»Überraschend? Mein lieber Junge, ich bin mehr als überrascht -- ich
bin wie aus den Wolken gefallen!«

Sherriff fuhr bestürzt mit der Hand durch das weiße Haar.

»Ich hatte keine Ahnung davon,« meinte er langsam, »daß sie Ihre
Gefühle für sie erwidere -- nicht die leiseste. Und Sie sagen, sie tut
es?«

»Bis jetzt -- nein. Aber ich sage, daß sie es soll.«

Es klang wie eiserne Entschlossenheit aus der ruhigen, gleichmäßigen
Stimme, und der Redende regte sich nicht. Der Alte blickte mit einem
Ausdruck zunehmender Besorgnis in den dunklen Augen auf die stolze
Gestalt, die so unheimlich gelassen und ruhig dastand.

»Everard,« sprach er langsam, »Sie wissen, ich habe euch beide lieb,
und nichts könnte mir ein größeres Glück gewähren, als euch miteinander
glücklich zu sehen. -- Aber bedenken Sie, lieber Junge, um Florences
und um Ihrer selbst willen, -- in der Ehe ist kein Glück möglich, wenn
nicht auf beiden Seiten Liebe vorhanden ist.«

»Das weiß ich sehr wohl.«

»Lassen Sie mich noch eine Frage tun. Sie geben zu, daß Florence sich
nicht so viel aus Ihnen macht wie Sie aus ihr. Hat die Art und Weise
der Lösung ihres Verlöbnisses mit Chichester sie beeinflußt, Ihren
Antrag anzunehmen?«

»Nein! Das wird freilich wohl der allgemeine Eindruck sein, obwohl es
-- um ihretwillen -- dem schlecht gehen wird, den ich das aussprechen
höre! Aber es ist ein Irrtum. Die Tatsache, daß Chichester ein Narr
war, -- wofür ich ihm allerdings von Herzen dankbar bin, -- hat nichts
damit zu tun, daß sie mir ihr Jawort gegeben.«

»Dann will ich keine weiteren Fragen stellen, aber davon bin ich
überzeugt,« setzte der alte Mann mit besonderem Nachdruck hinzu, »daß
Sie sie nicht heiraten würden, wenn Sie nicht glaubten, daß Sie sie
glücklich machen könnten.«

Der Ton, in dem er das sagte, machte die Worte zu einer Frage. Es
dauerte eine volle Minute, ehe Leath antwortete, und dann sprach er,
ohne sich umzuwenden:

»Sie haben recht. Ich glaube, nichts könnte mich bewegen, sie zu
heiraten, wenn ich nicht fühlte, daß ich sie glücklich machen könnte.«



21.


Der September mit seinen kühlen Morgen, seinen sonnigen Tagen und
seinen Nachtfrösten war gekommen und fast vorüber. Vier Wochen waren
seit der Verlobung der Gräfin Esmond mit Everard Leath vergangen, und
die Herzogin war in Turret Court eingetroffen.

Nicht der eigene Wille Ihrer Durchlaucht hatte ihr Kommen so verzögert.
Ein plötzlich aufgetretenes Unwohlsein, das, wie sie zornig behauptete,
allein durch Aufregung veranlaßt worden -- hatte sie in ihrem Gasthofe
in Pontresina festgehalten. Sobald ihr Arzt ihr die Erlaubnis gab, zu
reisen, wurden ihre Koffer gepackt, und sie befand sich auf dem Wege
nach England, mit der Absicht, sofort die unbegreifliche Verlobung,
die ihr Mündel eingegangen, zu lösen. -- Die Verlobung, die Sir Jasper
Mortlake in sündhafter Borniertheit wahrhaftig gebilligt hatte. Noch
nie in ihrem Leben war die Herzogin so empört und entrüstet gewesen,
und niemals war ein Gast irgendwo in gereizterer Stimmung angelangt als
Ihre Durchlaucht, da sie ihren Einzug in Turret Court hielt.

Und niemals erlitt irgend jemand eine größere Niederlage, als ihr
bei den Verhandlungen mit ihrem Wirte zuteil wurde. Mit steinerner
Höflichkeit hörte der Baron alles an, was die Herzogin zu sagen hatte,
und antwortete nur mit wenigen Worten. Er hätte seine Einwilligung zu
Florence Esmonds Verlobung mit Herrn Leath gegeben und sähe keinen
Grund, sie zurückzunehmen. Wenn es Ihrer Durchlaucht gefallen sollte,
die ihrige zu verweigern, so wolle er sie daran erinnern, daß das
weiter keinen Unterschied mache, da es nur der Zustimmung eines ihrer
Vormünder bedürfe, um Gräfin Esmond ihr Vermögen zu sichern. Er glaube
übrigens, daß alles, was nötig, gesagt sei, und schlüge vor, die
Unterhaltung abzubrechen. Nichts konnte von steiferer Artigkeit, nichts
würdevoller und entschlossener sein als die Verbeugung, die er bei
diesen Worten machte. Sie bildete das Ende der Zusammenkunft, aus der
sich seine Gegnerin zum erstenmal in ihrem Leben geschlagen zurückzog.

»Ihr müßt alle miteinander verrückt geworden sein, Agathe! Eine andere
denkbare Erklärung für diese schmachvolle Verlobung gibt es nicht!«
rief die Herzogin wütend, als sie sich auf ein Sofa, dem Lehnstuhl der
sanften Hausherrin gegenüber, niederließ.

Die Durchlaucht war eine blonde, stattliche Frau, deren schwarzes Kleid
sie noch hübscher und stattlicher erscheinen ließ. In ihren Adern floß
schottisches Blut, und ihr Antlitz mit der scharfgebogenen Nase trug
einen herrischen, launischen Zug, der dem seligen Herzog seinerzeit
einen heilsamen Schrecken eingeflößt hatte, nicht mehr indessen als der
Lady Agathe, der das Herz unter dem Blick der glänzenden hellbraunen
Augen angstvoll zu klopfen begann.

»Ich -- was meinst du, Honoria?« stammelte sie. »Sprichst du von
Florences Verlobung?«

»Wovon denn sonst?« rief die Herzogin. »Bitte, weißt du, daß dein Mann
zu diesem tollen Unsinn seine Einwilligung gegeben hat?«

Lady Agathe lächelte matt.

»Gewiß, Honoria. Du wirst dich erinnern, daß ich dir das in meinem
Briefe mitteilte.«

»Und ich glaubte deinem Briefe nicht. Aber ich finde, daß es wirklich
der Fall ist. Er willigte ein und weigert sich -- weigert sich, --
anderen Sinnes zu werden!«

»Das habe ich gar nicht anders erwartet, Honoria. Er ist so
herrschsüchtig, besteht so sehr auf seinem Willen -- das weißt du doch!
Ich machte ihm einmal Vorstellungen, soweit ich konnte,« sagte Lady
Agathe in abbittendem Tone, »und er wollte nicht auf mich hören. Er hat
sich in der letzten Zeit verändert, oder ich habe es mir eingebildet;
er ist wechselnder in seiner Stimmung und schroffer als je. Er --«

»Verändert? Ich habe nie in meinem Leben eine solche Veränderung bei
einem Menschen gesehen! Er sieht aus wie sein eigenes Gespenst. Was
fehlt ihm eigentlich?«

»Ich kann es dir nicht sagen. Er hat mir nichts mitgeteilt und wollte
nicht auf mich hören, als ich ihn vor einiger Zeit bat, einen Arzt
zu Rate zu ziehen. Um auf das zurückzukommen, von dem wir sprachen,
so scheint er allerdings zu wollen, -- ich möchte fast sagen, zu
wünschen, -- daß Florence Herrn Leath heiratet. Natürlich ist er keine
Partie für sie.«

»Partie? Gütiger Himmel, wer ist der Mensch?« rief die Herzogin.

»Ich kann es dir wirklich nicht sagen. Er ist ein Australier, glaube
ich. Er kam nach St. Mellions und ließ sich dort vor etwa einem
Vierteljahr häuslich nieder, und --«

»Ja, ja, das habe ich alles schon gehört!« fiel ihr die andere
ungeduldig ins Wort. »Und Sir Jasper -- was ihm gar nicht ähnlich
sieht! -- war wohl unklug genug, einen Narren an ihm zu fressen?«

»Nein, nein -- durchaus nicht. Ganz im Gegenteil. Du irrst dich,
Honoria. Sir Jasper mochte Herrn Leath nicht leiden. Ja, er wurde
sehr böse mit Roy, weil er die Bekanntschaft fortsetzte. Er schien
unerklärlicherweise etwas gegen ihn zu haben.«

»So.«

»Ja, er weigerte sich sogar, ihn wieder bei sich zu sehen,« setzte Lady
Agathe hinzu.

»Und jetzt sagst du mir, es sei sein Wunsch, daß Florence ihn heiratet?«

»Er scheint es allerdings zu wünschen.«

Die Herzogin lehnte sich mit einer Gebärde der Verzweiflung in die
Sofakissen zurück.

»Vielleicht bist du so gut, Agathe, diese beiden Behauptungen in
Einklang zu bringen. Ich gestehe, daß ich nicht dazu imstande bin.«

»In Einklang bringen?« stammelte Lady Agathe.

»Ja!« Die Herzogin beugte sich vor und fuhr fort: »Ich muß dir ganz
ehrlich gestehen, Agathe, daß das Ganze mir sehr rätselhaft vorkommt.
Dir mag die Sache ja völlig klar sein, aber ich gestehe offen, daß mein
armer Verstand das nicht zu fassen vermag.«

Lady Agathe fing an zu weinen.

»Es nützt nichts, daß du so über mich herfällst, Honoria,« sprach sie
und drückte ihr Taschentuch an die Augen, »gar nichts. Sprich lieber
mit Florence. Ich kann nichts bei der unseligen Sache tun.«

»Ich beabsichtige auch, mit ihr zu reden. Wenn sie nicht ganz verrückt
geworden ist, so will ich sie schon zur Vernunft bringen. Bleibe,
bitte, hier, Agathe; es ist mir lieber, du hörst, was ich sage. Mit
deiner Erlaubnis werde ich sie sofort kommen lassen.«

Die Herzogin zog heftig die Klingel und erteilte ihren Befehl in
herrischem Tone.

Sie thronte wieder majestätisch auf dem Sofa, und Lady Agathe trocknete
sich noch die Augen, als die Tür aufging und Florence gemächlich
eintrat.

Sie sah entzückend aus: sie trug ein dunkelrotes Samtkleid mit einem
breiten Kragen und Manschetten aus alten gelblichen Spitzen, und ihr
kastanienbraunes Haar war tief im Nacken lose zusammengedreht. Ihre
großen, grauen Augen leuchteten, sie hatte frische, schöne Farben, und
sie lächelte, als sie mit stolz erhobenem Köpfchen näher trat. Dem
verwunderten, entrüsteten Blicke der Herzogin schien sie glücklich,
zuversichtlich, belustigt, von schelmischem Trotz beseelt zu sein. Aber
ihre Tante wußte, daß ihre Figur schlanker war, als sie vor einem Monat
gewesen.

»Durchlaucht haben mich rufen lassen. Wie erhitzt Sie aussehen! Ich
glaube, ich würde ein wenig vom Kaminfeuer fortrücken. O, Tante
Agathe, was fehlt dir denn, liebes Herz?«

Die spöttische Heiterkeit war auf einmal wie weggewischt aus ihren
Zügen, als sie auf Lady Agathe zueilte und zärtlich tröstend, wie
schützend, den Arm um sie legte.

Die stattliche Herzogin auf dem Sofa sah noch stattlicher aus. In dem
Auftreten des Mädchens lag entschieden unverschämte Herausforderung.

»Es ist kein Wunder, daß deine Tante weint, Florence! Sie tut wohl
daran, dünkt mich.«

»Nein -- es ist kein Wunder, weil Sie sie dazu gebracht haben. Trockne
dir die Augen, Tantchen; wenn Durchlaucht böse ist, so ist sie es auf
mich, nicht auf dich.«

Sie blickte ihre Patin mit kühler Gelassenheit an und fragte: »Ich
fürchte, Durchlaucht sind wieder böse?«

»Böse?« wiederholte die empörte Herzogin zornig. Sie hätte ihr Mündel
in diesem Augenblick mit der größten Wonne ohrfeigen können.

»Ja -- das sieht man Ihnen an. Es ist nicht das Feuer, das Ihnen diese
Röte gibt.«

In derselben nachlässigen Art trat sie hinter einen Stuhl und legte die
verschränkten Arme auf die Lehne.

»Es handelt sich natürlich um meine Verlobung. Lassen Sie mich ganz
offen und deutlich reden. Nun denn, ich bin mündig und habe Herrn Leath
versprochen, ihn zu heiraten. Nichts wird an meinem Entschlusse etwas
ändern. Bleiben wir beide am Leben, so werde ich sicher seine Frau. Was
auch geschehen möge, ich werde ihm mein Wort nicht brechen, und das
weiß er.«

»Gütiger Himmel, Kind! Du mußt verrückt geworden sein! Du willst mir
doch nicht sagen, daß du in ihn verliebt bist?«

»Weshalb nicht? Könnte es einen besseren Grund geben, ihn zu heiraten?«

»Du hast ein empfänglicheres Herz, als ich dir zugetraut habe,
Florence! Vielleicht hattest du dich auch in Herrn Chichester verliebt?«

»Nein, ich war niemals in Herrn Chichester verliebt.«

»Und du gestehst geradezu, in diesen Menschen verliebt zu sein?«

»Jedenfalls will ich ihn heiraten. Wir wollen es dabei bewenden lassen.
Und nennen Sie ihn, bitte, nicht ›diesen Menschen‹. Das ist nicht sehr
fein. Ich glaube zwar nicht, daß er je im Leben eine Herzogin gesehen
hat, aber ich bin überzeugt davon, daß er Durchlaucht nie ›diese Frau‹
nennen würde.«

»Du weigerst dich also, mit ihm zu brechen?«

»Ja, entschieden! Ich werde ihn heiraten.«

»Nun gut!« Die Herzogin lehnte sich vorwurfsvoll zurück. »Jetzt höre
mich an, Florence! Durch die unglaubliche Verrücktheit von Sir Jasper
Mortlake -- ich darf kein Blatt vor den Mund nehmen, Agathe, und ich
wiederhole: unglaubliche Verrücktheit -- hast du, die du bei deiner
gesellschaftlichen Stellung, deiner Schönheit, deinem Vermögen die
glänzendste Partie hättest machen können -- die Einwilligung eines der
Vormünder zu dieser schmachvollen Heirat erlangt, durch die du dich
zugrunde richten wirst. Nun mache dir klar, daß du meine Zustimmung nie
erhalten wirst. Was deine Verwandten hier tun werden, kommt für mich
nicht in Betracht: ich maße mir nicht an, ihnen Vorschriften machen zu
wollen. Wenn sie diesen Menschen als deinen Mann bei sich sehen wollen,
so ist es gut. Ich aber habe nichts mehr mit dir zu tun, sobald du
seine Frau bist. Und damit basta!«

Ihr blühendes Gesicht war blaß vor Zorn geworden, und Florence wußte,
daß nichts sie von diesem Entschlusse abbringen würde.

»Das habe ich gar nicht anders erwartet, und ich beklage mich nicht,«
sprach sie ruhig, »aber selbst wenn die ganze Welt sich von mir
lossagte, so würde ich doch mein Wort halten und Herrn Leath heiraten.
Ich kenne den Preis, den ich zu zahlen habe, und ich bin willens, ihn
zu zahlen!« Sie machte einen Schritt auf die Tür zu und fragte in
demselben gelassenen Tone: »Haben Durchlaucht mir noch sonst irgend
etwas zu sagen, ehe ich gehe?«

»Ja -- noch eins!« Die Herzogin erhob sich wütend. »Die Chance ist
wenigstens nicht ausgeschlossen,« sagte sie eisig, »daß dieser Mensch
weniger hartköpfig ist, als du zu sein scheinst. Wenn er dich heiratet,
so richtet er dich in sozialer Hinsicht zugrunde, und wenn niemand
vernünftig genug ist, ihm dies zu sagen, so soll er es von mir hören!«

»Zu welchem Zweck?« fragte Florence ruhig.

»Zweck? Auf die Chance hin, -- die zwar nur gering ist, das gebe ich
zu, -- daß er gesunden Menschenverstand und Herz genug besitzt, dich
freizugeben.«

»Das wird er niemals tun,« -- sie lächelte matt, -- »nicht wenn
Durchlaucht ihm das Zweifache meines Vermögens bieten würde. Ich muß
ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er hat nur einen Grund für den
Wunsch, mich heiraten zu wollen -- er liebt mich.«

»Liebt dich? Täte er das, so würde er dich nicht auf diese schändliche
Weise hinopfern!« erwiderte die Herzogin heftig. »Ob er dich nun liebt
oder nicht, er soll erfahren, was er dir antut, dazu bin ich fest
entschlossen. Wann kann ich ihn sprechen?«

Ein Diener trat ein. Nachdem Florence seine Meldung entgegengenommen,
blickte sie die Herzogin an und sagte:

»Wenn es Durchlaucht beliebt, Herr Leath ist jetzt hier.«

»Hier? Du meine Güte! Verkehrt der Mensch hier?« Florence lächelte kalt.

»Durchlaucht scheinen zu vergessen, daß ich mit Sir Jaspers voller
Einwilligung mit Herrn Leath verlobt bin. Unter diesen Umständen
würde es schwer sein, ihm das Haus zu verbieten, obwohl Tante Agathe
Ihnen bestätigen wird, daß er sich nur sehr selten blicken läßt und
die Gastfreundschaft des Hauses nicht mißbraucht. Seine Besuche hier
werden mir abgestattet. Es ist mein Recht, meinen zukünftigen Gatten zu
empfangen. Sie wünschen ihn zu sprechen? In fünf Minuten werde ich mit
ihm hier sein.«



22.


Everard Leath stand, seine Braut erwartend, in dem getäfelten Zimmer,
in das er stets geführt wurde, wenn er nach Turret Court kam. Mitunter
war Roy zugegen, der ihn mit lauter Stimme herzlich begrüßte, oder
Cis, oder schließlich Lady Agathe, die sich mit ein paar verlegenen
Worten und einer steifen, halb ängstlichen Verbeugung hastig aus dem
Staube machte; aber in der Regel sah er niemand als Florence. Er
wünschte allerdings auch niemand sonst zu sehen, denn es schien ihm
äußerst gleichgültig zu sein, mit welchen Augen ihn die Familie im
allgemeinen ansah. Auf seine einzige Unterhaltung mit Sir Jasper war
nie eine zweite gefolgt, und damals hatten sie kaum ein Dutzend Sätze
gewechselt. Eine oder zwei Einladungen zum Mittagessen waren von dem
Baron an ihn ergangen, aber er hatte sie alle kurz abgelehnt, und von
dem Tage an, an dem sie versprochen, sein Weib zu werden, bis heute,
hatte er treu Wort gehalten und nicht ein einziges Mal den Namen Robert
Bontine gegen Florence erwähnt.

Die Tür ging auf, und sie trat eilfertiger als sonst ein -- gewöhnlich
zögerte sie ein wenig, ehe sie zu ihrem Verlobten kam, dem sie die
täglichen Zusammenkünfte gewährt, weil sie es nicht wagte, sie ihm
abzuschlagen. Ihm fiel der Unterschied sofort auf, ebensowohl wie das
ungewohnte Beben ihrer Hand, als er diese faßte.

Er tat selten mehr als das, aber der wenigen Male, da er sie geküßt
hatte, erinnerte er sich nicht besser als sie.

»Du bist erregt,« sprach er sanft. »Wie deine Hand zittert, Kind! Was
gibt es denn?«

Er hielt sie dabei viel zu fest, als daß sie noch hätte zittern können,
und blickte zu ihr nieder. Der Tag war ungewöhnlich düster und grau
gewesen, und obgleich der Abend kaum angebrochen, war es dunkel im
Zimmer, denn das Kaminfeuer war tief herabgebrannt und verbreitete nur
wenig Helligkeit. Er erriet, mehr als daß er sah, daß sie blaß war
und ihre großen verstört blickenden Augen einen ihm fremden Ausdruck
hatten. Es geschah nicht oft, daß sie so zu ihm emporsahen, und für
den Augenblick bezauberten sie ihn so, daß er die ängstliche Vorsicht,
mit der er sich zwang, ihr zu begegnen, außer acht ließ. Er schloß sie
warm und zärtlich in die Arme, wie er es hätte tun können, wenn sie ihn
geliebt hätte.

»Was gibt es, Florence? Was hat dich so aus der Fassung gebracht, mein
Liebling?«

Wenn sie ihn geliebt hätte, wie würde sie sich innig an ihn geschmiegt,
wie würden sie zusammen gelacht haben über die Herzogin und ihre
Drohungen und ihren Zorn! Der Gedanke durchzuckte sie, während sie
erschauerte und -- zu stolz, sich zu wehren -- starr dastand.

»Lassen Sie mich los, bitte!« stieß sie zwischen den Zähnen hervor.
»Ich habe Sie schon öfter gebeten, mir dies zu ersparen, Herr Leath.«

»Ich bitte um Entschuldigung!« Mit einem Lachen gab er sie frei. »Ich
vergesse mitunter, wie du mich hassest -- und habe freilich nur mir
selbst deshalb Vorwürfe zu machen! Du sorgst dafür, daß ich es nicht
vergesse. Aber ich bitte nochmals um Verzeihung -- darum handelt es
sich jetzt nicht. Es ist irgend etwas vorgefallen, nicht wahr?«

»Vorgefallen kaum.«

Sie schlug wieder ihren gewohnten, nachlässig gleichgültigen Ton gegen
ihn an und trat einen Schritt von ihm fort. »Sie kommen zufällig zu
sehr gelegener Zeit.«

»Darf ich fragen, weshalb?«

»Es ist gerade nach Ihnen gefragt worden.«

»So? Wenn Sir Jasper mich zu sprechen wünscht --«

»Nicht Sir Jasper. Er ist in Geschäften nach Beverley und wird nicht
vor Tische heimkommen. Vielleicht wissen Sie, daß die Herzogin hier
ist?«

»Allerdings. Roy hat es mir heute morgen in St. Mellions erzählt. Sie
wünscht doch nicht etwa, mich zu sehen?«

»Ja. Sie hat den Wunsch geäußert.«

»Und wünschest du, daß ich zu ihr gehe?«

»Ich halte es für das beste,« sagte sie stockend.

»Dann stehe ich natürlich ganz zu deinen Diensten.«

Er tat einen Schritt auf die Tür zu. Als Florence auf die aufrecht
getragene Gestalt, in das gelassene, sonnengebräunte Antlitz blickte,
regte sich, nicht zum erstenmal, ein wunderliches Gefühl in ihr. Er
mochte, wie sie geäußert, nie im Leben eine Herzogin gesehen haben,
aber er verriet keine Befangenheit oder Unruhe bei der Aussicht,
dieser einen gegenüber stehen zu müssen. Sie mochte ihn hassen, mochte
sich aufbäumen gegen die Bande, die sie an ihn fesselten, aber es war
unmöglich, daß sie sich jemals seiner zu schämen hätte. Sie wäre kein
Weib gewesen, hätte sie nicht etwas wie Erleichterung und Stolz bei dem
Gedanken empfunden. An seinem Auftreten, seinem Benehmen konnte selbst
die Herzogin nichts auszusetzen finden. In dem Bewußtsein lag ein
Trost, und ein weicherer Ausdruck trat in ihr Antlitz, als sie durch
ein Zeichen ihn an ihre Seite zurückrief.

»Bitte, warten Sie einen Augenblick! Ich will mit Ihnen gehen, aber
vorher möchte ich noch etwas sagen.«

Sie berichtete ihm dann kurz, wie empört ihre Patin über ihre Verlobung
sei, und setzte hinzu: »Das berührt mich nicht weiter, da sie meinem
Herzen nie nahe gestanden hat, aber es ist mir sehr schwer geworden,
ihr gegenüber so gleichgültig und so -- zufrieden zu scheinen, wie ich
wünschte. Sie ist eine kluge Frau und nicht so leicht zu täuschen wie
Tante Agathe, und sie darf mir nicht noch ein zweites Mal zusetzen,
solange sie hier ist. Sie darf es um keinen Preis!«

Ihre Stimme bebte: die Unterredung mit der Herzogin hatte sie tiefer
erschüttert, als sie selbst wußte. Er legte seine Hand ruhig und fest
über die zitternden Finger, die sie auf den Kaminsims gelegt hatte.

»Das soll sie auch nicht. Laß mich hören, was du wünschest, daß ich ihr
sagen soll, du weißt, ich tue, was du willst.«

»Ja -- ich weiß, ich kann mich auf Sie verlassen.« Es war das
Freundlichste, was sie ihm je gesagt, und es hatte noch dazu den
Vorzug, durchaus wahr zu sein.

»Sagen Sie ihr,« fuhr sie fort, »was vollkommen der Wahrheit
entspricht, -- daß ich mich weigere, unsere Verlobung rückgängig zu
machen oder Sie zu bitten, mich freizugeben. Sie werden sie furchtbar
böse machen, aber das tut nichts. Sie wird an Ihren Stolz appellieren,
Ihnen sagen, daß ich mich durch eine Heirat mit Ihnen zugrunde richte.
Hören Sie nicht auf sie; lassen Sie sich in keine Auseinandersetzungen
mit ihr ein. Vielleicht wird sie Sie beleidigen -- machen Sie sich
nichts daraus. Denken Sie nur daran, daß es furchtbar schwer für mich
ist, und daß ich Sie bitte, es mir zu erleichtern, so viel Sie können.«

Es war das erstemal, daß sie ihn um etwas bat; sie wußte kaum, wie
rührend und eindringlich sie sprach, wie flehend ihre großen Augen, die
voll Tränen standen, ihn anblickten. Seine Hand umschloß die ihre noch
fester.

»Es gibt nur sehr wenige Dinge -- nur ein einziges, glaube ich -- die
ich nicht tun würde, bätest du mich darum,« sprach er ruhig, »und
dies ist nicht jenes eine. Was könnte ich wohl lieber tun, als darauf
bestehen, daß du mein bleibst? Du kannst dich darauf verlassen, ich
werde den Ton anschlagen, den du wünschest. Möchtest du noch warten,
oder wollen wir gleich gehen, damit es überstanden ist?«

Nach kurzem Zögern legte sie ruhig die Hand auf seinen Arm: das hatte
sie aus freien Stücken noch nie getan.

»Danke,« sagte sie einfach. »Ich will jetzt gehen, damit wir es, wie
Sie sagen, hinter uns haben.«

Mit so stolz getragenem Haupte wie nur je in ihrem Leben trat sie, noch
immer an seinem Arme, vor die Herzogin und stand neben ihm, wie ein
Weib an der Seite des Mannes, den sie liebt, stehen sollte -- lächelnd,
in unbekümmerter Heiterkeit, voll Zuversicht auf ihn und sich selbst.

Die Unterredung dauerte nicht lange. Die Herzogin hatte schon zwei
Niederlagen erlitten, und keiner ihrer beiden siegreichen Gegner war
ihr mit kühlerer Gelassenheit gegenübergetreten, als Everard Leath.
Auch ohne Florences Bitte würde er das wahrscheinlich getan haben. Die
Herzogin war eine viel zu kluge Frau, um nicht zu wissen, daß sie eine
Niederlage erlitten und daß ein fernerer Kampf hoffnungslos sei. In
den wenigen kurzen Worten, mit denen Leath ihr antwortete, lag eine
Entschlossenheit, die durch keinen Angriff ihrerseits zu erschüttern
war. Die höhnische Anklage, die sie ihm entgegengeschleudert, hatte
nicht einmal eine Veränderung in seinem Gesichtsausdruck hervorgerufen.

»Gräfin Florence weiß, Durchlaucht,« sprach er ruhig, »daß ihr Vermögen
mir sehr gleichgültig ist. Wenn ich wünsche, daß sie es behalten
möchte, so geschieht es nur, weil ich kein so reicher Mann bin, wie
ich es ihretwegen zu sein wünschte. Könnte Durchlaucht ihr es morgen
bis auf den kleinsten Bruchteil nehmen, so würde das an unserem
gegenseitigen Verhältnis nichts ändern.«

»Nicht das mindeste,« stimmte ihm Florence bei, »ich würde dich doch
heiraten, Everard.«

Die trauliche Anrede klang ihr sehr ungewohnt im Ohre, aber sie brachte
sie entschlossen über die Lippen -- war es doch nach ihrer Ansicht nur
eine letzte, notwendige Heuchelei mehr und keine größere als ihre Hand
auf seinem Arm, ihre Stellung an seiner Seite. »Geld hatte nichts mit
dem Versprechen, das ich dir gab, zu schaffen -- das weißt du. Ich
glaube, Durchlaucht, damit wäre die Sache erledigt.«

Eine zornige Handbewegung der Herzogin war ihre einzige Entlassung. Sie
verließen das Zimmer Arm in Arm, wie sie es betreten. Lady Agathe hatte
während der ganzen Zeit, das Tuch an die Augen gedrückt, bitterlich
weinend dagesessen und kein einziges Wort gesagt.

Erst als sie wieder in dem getäfelten Zimmer waren, zog Florence die
Hand zurück. Eine Lampe war in der Zwischenzeit angezündet worden, und
sie sah in dem gelben Lichtschein geisterbleich aus. All der mühsam
behauptete Trotz war wie weggewischt aus ihren Zügen, jetzt, wo die
Augen der Herzogin nicht mehr darauf ruhten. Sie blickte ihn mit
müdem, ironischem Lächeln an.

»Wir sind wieder hinter den Kulissen,« sprach sie in bitterem Tone,
»ich fange an, zu glauben, daß ich keine schlechte Schauspielerin bin.
Ich möchte wohl wissen, ob es unsere Natur oder unser Schicksal ist,
das uns Frauen zu Heuchlerinnen macht? Beides vielleicht. Die Herzogin
wird mich hinfort wohl in Ruhe lassen, aber das wäre nicht der Fall,
wenn Sie mir nicht geholfen hätten. Das vergesse ich nicht. Ich danke
Ihnen, Herr Leath.«

»Du hast mir nichts zu danken!« Wenn ihm die Veränderung in ihrem Blick
und Ton weh tat, so verriet er es durchaus nicht. Er gewahrte die müde
Haltung der schlanken Gestalt, die Blässe des schmalen Gesichtchens.

»Es ist zu viel für dich, armes Kind,« meinte er sanft. »Du siehst ganz
erschöpft aus und bedarfst der Ruhe. Soll ich bleiben, oder möchtest
du, daß ich jetzt gehe?«

Sie war allerdings mit ihrer Kraft zu Ende, ihre Nerven befanden sich
in einem solchen Zustande der Erregung, daß die weiche Zärtlichkeit
seiner Worte, obwohl sie von ihm kam, hinreichte, sie um ihre
Selbstbeherrschung zu bringen. Sie brach in heiße Tränen aus und
schluchzte fassungslos. Im nächsten Augenblick hatte er sie in die
Arme geschlossen und beschwichtigte sie an seinem Herzen, wie er ein
Kind hätte beschwichtigen können. Sie hatte bisher nie seine Umarmung
geduldet; aus reiner Ermüdung tat sie es jetzt, zu schwach, sich zu
widersetzen oder über seine Küsse zu zürnen. Seine Kraft war zu
mächtig für sie, und dennoch lag ein merkwürdiger Trost darin. So
ließ sie sich ohne Widerstreben von ihm umfangen, barg ihre Tränen an
seiner Schulter und empfand fast etwas wie Freude über die innigen
Liebesworte, die er ihr ins Ohr flüsterte. Selbst als ihr Schluchzen
nachließ und sie den Kopf hob, lag nichts wirklich Abwehrendes in der
Bewegung, mit der sie sich ihm zu entziehen suchte.

»Ich bin müde,« sagte sie mit schwacher Stimme, gleichsam als
Entschuldigung für diese Anwandlung von Schwäche, über die sie doch
kaum das Herz hatte, böse zu sein, »schrecklich müde. Ich habe vorige
Nacht nicht geschlafen. Mir wird gleich besser werden. Sie sind -- sehr
gut gegen mich gewesen, aber jetzt gehen Sie lieber, bitte.«

»Ja, ich will gehen, mein Herzlieb. Du sollst allein bleiben, um dich
auszuruhen, wenn du kannst.«

Er hatte den Arm noch immer um sie gelegt und hob jetzt sanft ihr
tränenfeuchtes Gesicht zu dem seinen empor. »Florence,« fragte er
im Flüstertone, »wenn du wirklich findest, daß ich gut gewesen bin,
könntest du mir dann nicht ein einziges Mal danken, Kind?«

Fast mechanisch hob sie das Gesicht; der Sinn seiner Worte war ihr kaum
zum Bewußtsein gekommen, aber als er sie küßte, überflutete eine heiße
Blutwelle ihr Antlitz und ihren Hals. Sie rang nach Luft und versuchte,
sich loszureißen, aber er hielt sie fest.

»Florence,« sagte er langsam, »weißt du, was du mich hast sehen lassen?
Daß, wenn ich dir als Gleichberechtigter hätte gegenübertreten können,
du mich jetzt schon lieben würdest. Ja, das würdest du -- das weiß ich!«

»Nein!« Mit einer kräftigen Anstrengung machte sie sich los. »Niemals!«
erklärte sie heftig, die Hand an die wogende Brust gedrückt. »Ich mache
mir nichts aus Ihnen -- ich kann es nicht -- ich werde es nie tun!
Ich wollte Ihnen danken, weil Sie freundlich gewesen zu sein schienen
-- aber mich nicht so -- so von Ihnen küssen lassen -- das wissen
Sie recht gut! Ich werde Ihre Frau, weil ich muß, weil Sie mich dazu
zwingen, aber lieben werde ich Sie nie -- nimmermehr! Unter keinen
Umständen je hätte ich Sie lieben können -- das weiß ich!«

»Wirklich nicht?«

Er blickte in das leidenschaftlich erregte Antlitz, sah die Gebärde
empörter Abwehr und lächelte wehmütig. »Nun, vielleicht hast du recht,
und vielleicht habe auch ich recht. Wir wollen nicht darüber streiten.
Die Schicksalsgöttinnen sind dir nicht besonders hold gewesen, armes
kleines Mädchen -- aber auch mit mir sind sie nicht besonders gnädig
verfahren! Laß mir diese einzige Eitelkeit, Kind! Sie kann niemand
schaden! Ich bleibe dabei, hätte ich nur eine Chance dir gegenüber
gehabt, so hättest du mich jetzt schon lieben sollen.«

»Niemals!« stieß sie wieder zwischen den Zähnen hervor. »Sie täuschen
sich selbst, wenn Sie das glauben! Niemals!«

Und so verließ er sie, und ihr ›Niemals!‹ klang ihm im Ohre nach.

Er würde sich in der Halle nicht aufgehalten haben -- er pflegte
immer Turret Court so schnell wie möglich zu verlassen, sowie seine
Zusammenkunft mit Florence vorüber war, und es geschah selten, daß eine
Begegnung mit irgend jemand ihn aufhielt. Aber der heutige Tag bildete
eine Ausnahme. Ein Feuer brannte in der inneren Halle, und in einem
großen Lehnstuhl daneben lag Roy bequem hingestreckt. Er war unter dem
Einfluß der einschläfernden Wärme halb eingeschlummert, aber, durch die
näherkommenden Schritte ermuntert, stand er auf, dehnte seine langen
Gliedmaßen und gähnte ungezwungen.

»O, Sie sind’s, Leath? Wie geht es Ihnen? Wußte gar nicht, daß Sie da
waren, alter Junge. Habe ein wenig genickt, glaube ich. Im Begriff,
fortzugehen -- wie?«

»Ja. Weshalb?«

»O, nichts Besonderes! Sie würden zu Tisch bleiben, wenn Sie irgendein
anderer wären, aber ich weiß, es nützt nichts, Sie einzuladen. Heute
gäbe es freilich einen Extraspaß. Sie könnten die Herzogin zu Tisch
führen.«

»Das bezweifle ich. Ihre Durchlaucht geruhte eben mir mitzuteilen, daß
ich Luft für sie sei.«

»O! Sie haben sie wohl gesprochen?« Roy verzog grinsend den Mund. »Hat
wohl eine böse Auseinandersetzung gegeben?«

»Kurz, aber durchaus nicht angenehm,« antwortete Leath wortkarg.

»Ein Glück für Sie, daß sie kurz war! Sie und der Alte hatten heute
morgen ein hitziges Wortgefecht. Ich hörte etwas davon -- war ein
Hauptspaß! Sie zog indessen den kürzeren. Wird bei Ihnen wohl ebenso
gegangen sein? Gehört sich auch so! Sehe gar nicht ein, warum die
alte Dame sich dazwischenstecken will! Was in aller Welt kann es ihr
ausmachen, ob Florence Sie nimmt oder den alten Chichester? Geradezu
unverschämt nenne ich es. Wollen wohl nach Hause reiten, wie?«

»Nein, ich bin zu Fuß gekommen. Weshalb?«

»Nichts, als daß Sie einen schrecklich dunklen Marsch über die Halde
haben werden. Apropos, haben Sie den Alten gesehen?«

»Nein -- und hätte es auch nicht können, gesetzt den Fall, ich hätte
den Wunsch gehabt. Er ist in Market Beverley, wie ich höre.«

»O, das hat Ihnen wohl Florence gesagt? Sie irrt sich aber, er kam vor
zwei Stunden heim und sitzt in seinem Zimmer. Ich meinte nicht, ob Sie
ihn heute gesehen, sondern ob Ihnen in der letzten Zeit nichts an ihm
aufgefallen ist?«

Es lag etwas Ungewöhnliches in dem Tone und dem Gesichtsausdruck des
jungen Menschen. Mit einem schnellen fragenden Aufblick schüttelte
Leath den Kopf.

»Ich glaube, ich habe Sir Jasper in den letzten vier Wochen kaum
dreimal gesehen -- jedenfalls nicht zwanzig Worte mit ihm gewechselt.
Was sollte mir aufgefallen sein?«

»Nun, wie er sich verändert hat!«

»Hat er sich verändert?«

»Und ob! Wenn Sie ihn beobachtet hätten, würden Sie nicht fragen. Er
hat nie viel Fleisch auf den Knochen gehabt, aber jetzt ist er mager
wie ein Skelett, und das ist kein Wunder, denn er ißt kaum genug für
einen Papagei! Und ein sehr lebhafter Gesellschafter ist er zwar
auch nie gewesen, aber letzthin ist er mit wahrer Leichenbittermiene
einhergegangen; und er ist in einer Stimmung, von der ich lieber gar
nicht reden will! Mit ihm muß etwas nicht in Ordnung sein. Ich möchte
mit der Mutter und den Mädchen nicht gern darüber reden, aber ich bin
überzeugt davon, daß es auch ihnen auffallen muß. Erst gestern, in St.
Mellions, redete mich der alte Burrows -- Sie wissen, Doktor Burrows --
auf der Straße an und wollte wissen, was mit ihm los wäre. Sagte, er
hätte es schon längst bemerkt, und sein Aussehen gefiele ihm ganz und
gar nicht.«

»Was wollte er damit sagen?«

»Weiß ich nicht! Er ging wie die Katze um den heißen Brei und wollte
nicht mit der Sprache heraus. Sie kennen ja die Ärzte mit ihrem
gelehrten Kauderwelsch. Jedenfalls schien ihm des Alten Zustand zu
ernsten Besorgnissen Anlaß zu geben. Aber was mir nicht gefällt, ist
seine neue Angewohnheit, draußen umherzuschleichen.«

»Umherzuschleichen?«

»Ja -- zu allen Stunden und bei jedem Wetter, mitunter abends, mitunter
morgens; ehe jemand von uns anderen auf den Beinen ist, ist er aus
dem Bett und draußen. Wunderlich, nicht wahr? Das hat er früher nie
getan, ja, er haßte das Spazierengehen geradezu. Jetzt wandert er
meilenweit. Vorgestern abend -- wissen Sie noch, wie es regnete? -- war
er stundenlang draußen auf der Halde und kam bis auf die Haut durchnäßt
zurück. In der Tat, ganz unter uns gesagt, die halbe Zeit, wenn die
Mutter glaubt, er sitzt ruhig in seinem Zimmer, wie er sonst zu tun
pflegte, schleicht er draußen irgendwo umher. Ich weiß es meistens,
denn seitdem ich es bemerkt habe, halte ich die Augen offen. Aber es
muß etwas nicht in Ordnung sein und darf nicht so fortgehen. Wüßte ich
nur, was es ist! Er hat doch keinen geheimen Kummer.«

»Nein,« stimmte ihm Leath trocken bei, »er hat keinen Kummer.« Er zog
sich seinen leichten Überzieher an und sagte dabei: »Es ist allerdings
sonderbar. Er sollte lieber einen Arzt zu Rate ziehen.«

»Freilich. Ich will Burrows veranlassen, einmal freundschaftlich bei
uns vorzusprechen. Der Alte würde mich gehörig heruntermachen, wenn er
wüßte, daß ich ihn gebeten, zu kommen. Wollte ’mal mit Ihnen darüber
sprechen, Leath, denn die Sache hat mich gequält. Trage fürs erste
noch kein Verlangen danach, Sir Roy zu werden. Gehen Sie jetzt? Guten
Abend, alter Junge -- möchte nur, Sie blieben zu Tische. Beneide Sie
nicht um Ihren Weg über die öde Halde.«

Öde sah die Halde allerdings aus, als Leath hinaustrat. Ein kalter
Regen fing an herabzurieseln, der Wind, der von der Küste herüberwehte,
war sehr scharf, und Leath knöpfte instinktiv seinen Überzieher zu.
Weiter aber schenkte er dem Wetter keine Beachtung: seine Gedanken
waren trübe und nahmen ihn ganz in Anspruch. Jenes letzte ›Niemals!‹
von Florences Lippen klang in ihm nach; ihren Blick, als sie das sagte,
sah er noch deutlich vor Augen, und das machte ihn blind und taub
gegen alles andere. Er hatte keinen glücklichen Augenblick gehabt,
seitdem sie ihm ihr Wort gegeben, sein Weib zu werden, aber er war
nie so niedergeschlagen und unglücklich gewesen wie heute abend.
Wenn sie mit ihrem ›Niemals!‹ recht hätte! Wenn sie wirklich ihn und
das Band, das sie an ihn knüpfte, hassen sollte? Wenn sie erst sein
Weib war, so würde das entsetzlich sein! Konnte ihm irgend etwas
für solches Elend Ersatz gewähren? Wäre es nicht tausendmal besser
gewesen, wenn er nie nach England gekommen, nie ihr Antlitz geschaut,
nie seine Nachforschungen nach Robert Bontine begonnen hätte? Würde
es möglich sein, ihr zu entsagen, nach Australien zu seinem dortigen
Leben zurückkehren, aus seinem Gedächtnisse die Erinnerung an die
Erlebnisse der letzten drei Monate so auszulöschen, als seien sie nie
gewesen? Er gedachte der Schönheit, die es ihm angetan hatte, schon
damals, als er sich gesagt, daß er an anderes zu denken habe als an
Frauen und Frauenliebe; er gedachte ihrer bebenden Gestalt, die er
in den Armen gehalten, als sie schluchzend den Kopf an seine Schulter
gelehnt; er gedachte des heißen Errötens, das ihr Antlitz bei seinem
leidenschaftlichen Kusse übergossen. Nein -- es war nicht möglich! Sie
sollte ihn noch lieben lernen!

Er blieb stehen. In seiner Zerstreuung war er weit von dem Fußwege
abgekommen, den er hätte einhalten sollen, um nach St. Mellions zu
gelangen. Das leise, dumpfe Rauschen der Brandung gegen den felsigen
Strand tief unten schlug an sein Ohr; er befand sich dicht am Rande
der Klippe, -- so dicht, daß ein paar Schritte ihn unmittelbar an
die scharfe Kante gebracht hätten, und er blieb einen Augenblick
erschrocken stehen.

»Es wäre für niemand ein Verlust gewesen, wenn ich hinabgestürzt wäre,«
sagte er halblaut, mit bitterem Auflachen.

Er schritt weiter, dem Branden der Wogen lauschend, und blickte mit
starrem, finsterem Gesicht geradeaus. Der dunkle Himmel hellte sich am
Horizont auf, das schwere Gewölk teilte sich, ein schwacher gelblicher
Nebel bezeichnete die Stelle, wo der Mond durchbrechen wollte. Er sah
nichts von alledem. Florences ›Niemals!‹, Florences Antlitz verfolgten
ihn noch immer.

»Es war ihr Ernst damit!« sprach er vor sich hin, »es war ihr Ernst.
Ob sie recht hat? Wird ihr Haß dauern -- trotz meiner Liebe? Es wäre
furchtbar für uns beide -- furchtbar! Armes Kind -- armes kleines
Mädchen -- und weshalb sollte er schwinden? Ich habe, bei Licht
besehen, wie ein Schurke, wie ein Feigling an ihr gehandelt! Soll ich
diese Leidenschaft aus dem Herzen reißen und sie freigeben? Soll ich
ihr entsagen? Wenn ich --«

Die Worte endeten in einem heiseren Aufschrei. Hinter ihm ertönten
hastige Schritte, ihn traf ein Schlag vor die Stirn, daß vor seinen
Augen grelle Flammen über den schwarzen Himmel und das schwarze
Meer zuckten. Seine Arme wurden mit eisernem Griffe gepackt, er war
hilflos, wehrlos, er konnte nicht mit dem Angreifer ringen, der
ihn so hinterrücks überfallen und ihn immer näher an die Felskante
drängte; der Schlag auf den Kopf hatte ihn halb betäubt, er konnte
sich nicht zur Wehr setzen. Eine verzweifelte Anstrengung machte
er, sein Gleichgewicht wieder zu erlangen, aber sein Fuß glitt auf
dem kurzen schlüpfrigen Gras aus, und mit einem lauten Aufschrei
stürzte er kopfüber hinunter, sich im Fallen an dem groben Gestrüpp
festhaltend, das über den Klippenrand hinüberhing. Die Zweige knickten
ab und glitten ihm aus den Fingern, wieder tastete er nach einem Halt,
erhaschte etwas, das standhielt, ergriff es auch mit der anderen
Hand, fühlte, daß die Wucht seines Falles gebrochen sei, daß er
festen Boden unter den Füßen habe. Während der Dauer einer grausigen
Sekunde, halb schwebend, halb liegend, verharrte er so, dann nahm er
mit verzweifelter Anstrengung seine fast erschöpften Kräfte zusammen
und schleppte sich von dem Felsvorsprung in das Innere einer Höhle,
und vorwärtsstolpernd, brach er, nach Atem ringend, arg zerschunden,
blutend, fast bewußtlos auf dem steinigen Boden von Florences
Felsenkammer zusammen.



23.


Es regnete unaufhörlich fast die ganze Nacht, aber gegen Morgen klärte
es sich auf. Ein scharfer Wind von der See her blies die Wolken fort,
der Himmel wurde blau, und die Sonne schien so hell, als Sherriff das
kleine Speisezimmer im Bungalow betrat, wo der Frühstückstisch gedeckt
stand, daß er geblendet die Hand über die Augen legte.

»Es wird schließlich doch ein schöner Tag werden,« sagte er in seiner
freundlichen Art zu dem nett aussehenden Mädchen, das eilfertig mit der
Kaffeekanne eintrat. »Als ich heute nacht den Regen hörte, glaubte ich,
eine zweite Sintflut bräche herein. Ich erinnere mich kaum eines so
kalten und nassen Septembers, wie der diesjährige gewesen. Herr Leath
ist wohl noch nicht unten? Klopfen Sie lieber bei ihm an, Ellen.«

»Herr Leath ist schon lange unten und ausgegangen, gnädiger Herr. Als
ich bei ihm anklopfte, um ihn zu wecken, bekam ich keine Antwort;
er muß also schon fort gewesen sein. Er ruft immer in demselben
Augenblick, wo ich klopfe, er hat einen so leisen Schlaf,« sagte das
Mädchen.

»O, er macht sicher einen Morgenspaziergang,« bemerkte der alte Mann
gleichmütig; »er wird wohl gleich heimkommen, Ellen. Und doch,«
fuhr er, zu sich selbst redend, fort -- in den langen Jahren der
Einsamkeit hatte er sich halblaute Selbstgespräche angewöhnt, -- »ist
es sonderbar, daß der Junge so früh auf und davon ist, da er gestern
abend erst so spät nach Hause gekommen ist. Es muß zwölf gewesen sein,
denn ich habe ihn gar nicht mehr gehört. Er ist natürlich zu Tisch
in Turret Court geblieben. Nun, das ist gut. Ich wollte, das täte er
öfter, aber es ist wohl seine eigene Schuld, daß es nicht geschieht.«
Der Alte seufzte. »Ich bin ein alter Narr, aber ich wollte, ich wäre
fester davon überzeugt, als ich bin, daß es eine glückliche Ehe werden
wird. Aber sowohl in seinem wie in ihrem Benehmen ist etwas, das mich
glauben läßt --. Ah, das ist sein Schritt, ja -- er ist es.«

Der Schritt kam näher, ein Schatten verdunkelte die offene Fenstertür,
der Sherriff mit freundlichem Lächeln, das schnell einem Ausdruck der
Verwunderung und Bestürzung wich, den Blick zuwandte.

»Gütiger Himmel, Leath, was ist geschehen?« rief er.

»Schon gut, Herr Sherriff. Erschrecken Sie nicht! Mir wird gleich
wieder besser werden,« antwortete Leath, als er ins Zimmer trat und auf
den nächsten Stuhl sank.

In seinem zerrissenen, schlammbedeckten Anzuge, mit seinem
leichenblassen Gesicht, das mit geronnenem Blute, das einer Kopfwunde
entströmte, bedeckt war, sah er allerdings zum Erschrecken aus. Staunen
und Entsetzen machten den Alten stumm. Der Jüngere hub wieder an:

»Ich habe einen Unfall gehabt. Gestern abend, als ich von Turret Court
zurückkam, stürzte ich von der Klippe.«

»Der Klippe? Großer Gott! Du gingst zu nahe an die Kante und glittest
aus? Und doch bist du hier, und am Leben! Der Sturz hätte einen
Menschen zweimal töten können!« rief Sherriff.

»Wie er mich getötet haben würde, wäre ich zufällig an irgendeiner
anderen Stelle hinabgefallen. Es ist ein wahres Wunder, daß ich noch
lebe,« antwortete Leath. »Sie kennen die Stelle -- die kleine Höhle,
die sie -- Florence -- ihre Felsenkammer nennt?«

»Natürlich. Sie hat mich einmal mit hinabgenommen. Dort stürztest du
hinunter?«

»Ja. Der Felsenvorsprung vor der Höhle hat mich gerettet. Ich hielt
mich an irgend etwas fest -- wie, weiß ich nicht. Es brach die Wucht
meines Falles, und ich brachte es fertig, hineinzukriechen. Aber mein
Leben hing an einem Haar -- so nahe habe ich dem Tode noch niemals ins
Auge geschaut, obwohl er mir mehrmals nahe genug gewesen ist. -- Wollen
Sie mir etwas Kognak geben? Ich war einfältig genug, ohnmächtig zu
werden, und kam erst vor etwa einer Stunde wieder ordentlich zu mir.«

Sherriff, dessen Hände so zitterten, daß er die Flasche kaum halten
konnte, holte schnell den Kognak herbei. Leath leerte das Glas mit
einem Zuge, und die gesunde Farbe, die er von Natur hatte, kehrte
allmählich in sein Antlitz zurück.

»Das tut gut,« sagte er. »Ich muß gestehen, daß ich mich sehr schwach
fühle. Daran ist wohl der Schlag auf den Kopf schuld.«

»Ja, wie ist das zugegangen?« fragte der Alte.

»Schlugst du beim Ausgleiten mit dem Kopfe auf?«

»Nein, ich bin nicht ausgeglitten,« antwortete Leath finster.

»Nicht?«

»Nein, ich wurde hinuntergestoßen.«

»Hinuntergestoßen?« antwortete Sherriff voll Entsetzen.

»Ja; ich war hart am Rande der Klippe und wurde gepackt und
festgehalten, ehe ich wußte, woran ich war; ich konnte mich nicht zur
Wehr setzen. Der Schlag wurde zuerst nach mir geführt -- ich weiß
nicht, womit, und dann, ehe ich mich davon erholen kannte, wurde ich,
wie gesagt, hinabgestürzt.«

»Aber, gütiger Himmel, Leath, das war Mord!« rief Sherriff entsetzt.

»Es sollte auch ein Mord sein,« wiederholte er. »Der Mensch, der mich
von der Klippe hinabstieß, wollte mich aus der Welt schaffen, so
gewiß, wie wir beide einander gegenübersitzen. Es war vielleicht kein
überlegter Mordanschlag, das behaupte ich nicht -- das glaube ich
kaum. Er mag mir absichtlich gefolgt sein oder auch nicht. Ich kann
es nicht sagen, und es kommt auch nicht sonderlich darauf an. Aber
er beabsichtigte, mich zu töten, und glaubte ohne Zweifel, daß er es
getan. Und wenn es ihm gelungen, wenn ich tot auf dem Felsen gefunden
worden wäre, was würde es anders gewesen sein als ein Unfall, ein
Ausgleiten im Dunkeln?« Er lachte wieder bitter auf. »Er würde sicher
genug, vollkommen sicher gewesen sein! Wer hätte daran gedacht, Sir
Jasper Mortlake mit dem Tode eines Menschen in Verbindung zu bringen,
der mit seiner Einwilligung sein Mündel heiraten sollte?«

»Sir Jasper Mortlake?« stieß Sherriff hervor und sprang auf.

»Freilich -- er und kein anderer! Ich habe sein Gesicht gesehen; dazu
war es nicht zu dunkel, und hätte ich es auch nicht erkannt, so würde
ich es doch gewußt haben. Er hat Grund genug, meinen Tod zu wünschen
-- hatte es, wie ich jetzt weiß, seitdem er mich zum ersten Male
gesehen und mich haßte wegen der Ähnlichkeit, an die zu glauben er
sich fürchtete. Damals konnte ich es mir nicht erklären, seitdem habe
ich darüber gelacht, und ebenfalls über meine eigene Dummheit, keinen
Verdacht zu schöpfen.«

»Großer Gott! Welchen Verdacht?«

»Das will ich Ihnen erzählen. Vor Ihnen wenigstens kann ich es jetzt
nicht länger geheimhalten, und Sie haben ein Recht auf mein Vertrauen,
um meiner Mutter willen. Aber denken Sie daran, daß es fürs erste
nicht weiter geht, um ihretwillen, obwohl ich gleich jenem Menschen
gegenübertreten und ihm seinen Mordversuch vorwerfen will.«

»Um -- um deiner Mutter willen?« fragte Sherriff bestürzt.

»Nein -- um ihret-, um Florences willen. Sie haben sich gewundert,
weshalb sie versprochen hat, mein Weib zu werden; Sie haben sich
gewundert, weshalb Sir Jasper seine Einwilligung gegeben hat; Sie
haben sich noch über manches andere gewundert. Sie wundern sich jetzt,
weshalb er versucht hat, mich zu ermorden. Hören Sie mir ein paar
Minuten zu, so sollen Sie es erfahren.«

       *       *       *       *       *

»Ich will Harry entgegengehen, Florence. Er muß sicher bald hier
sein -- er versprach, zum Frühstück zu kommen, und es ist ein so
wundervoller Morgen nach dem Regen, daß es mich eine Sünde dünkt, im
Hause zu hocken. Willst du auch mit, liebes Herz?« fragte Cis.

Sie kam die Treppe herab und knöpfte sich die Handschuhe zu, als sie
ihrer Cousine ansichtig wurde, die zwischen den Vorhängen des einen der
großen, viereckigen Fenster stand, durch die die innere Halle Licht
empfing. Sie war so in Gedanken versunken, während sie hinausblickte,
daß sie sich erst, als die andere sie berührte, zusammenschreckend
umwandte.

»Du gehst aus, Cis? Harry entgegen? Das ist recht! Du siehst so hübsch
aus, Schatz!«

»So?« Cis lächelte. »Blau steht mir immer gut, aber nicht besser als
dir. Willst du nicht mitkommen, Florence? Du siehst so blaß aus, und
deine Augen sind so trübe. Die Luft würde dir sicher gut tun!«

»Blaß -- so?« Florence fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Ich habe
seit einiger Zeit die dumme Angewohnheit, nicht zu schlafen, das ist
wohl schuld daran. Nein, ich glaube, ich gehe nicht mit, Herzchen; ich
bin nicht recht aufgelegt dazu!«

»Du mußt krank sein, du warst sonst immer zu allem aufgelegt,« sagte
Cis mit zärtlicher Teilnahme. »Du bist auch viel magerer geworden,
Liebling; gestern habe ich noch mit Mutter darüber gesprochen. Und du
siehst in dem langen, schwarzen Kleide wie eine Nonne aus. Ich wollte,
du trügest es nicht.«

»So? Nun, ich sehe neben dir wohl etwas düster aus,« meinte Florence
mit schwachem Lächeln. »Mache dir um mich und mein Aussehen keine
Sorge, kleine Cis; mir geht es ganz gut. Vielleicht unternehme ich
nachher einen Spazierritt. Wo ist Tante Agathe? Im getäfelten Zimmer?«

»Ja. Aber ich würde sie dort nicht aufsuchen, Florence; die Herzogin
ist bei ihr.«

»Dann werde ich sicherlich nicht hingehen. Ihre Durchlaucht und ich
haben hoffentlich das letzte notwendige Wort miteinander gesprochen.
Will sie wirklich heute fort?«

»Ich glaube, -- weiß es aber nicht gewiß. Sie hat Mutter gesagt,
sie würde abreisen, sobald sie Vater noch einmal gesprochen habe.
Wie seltsam, daß er gestern abend nicht zu Tisch herunterkam!
Roy behauptet, er habe sich vor einem zweiten Wortgefecht mit ihr
gefürchtet!« sagte Cis lachend.

»Kaum, sollte ich denken.« Florence lächelte kalt.

»O, natürlich war es nur ein Spaß! Trotzdem bleibt sein Erscheinen
sonderbar. Er ist wahrscheinlich sehr müde von Market Beverley
zurückgekommen. Ich finde, er hat in der letzten Zeit sehr elend
ausgesehen und ist so verdrießlich wie möglich gewesen. Nun, wenn du
wirklich nicht mit willst, so muß ich fort, sonst verfehle ich Harry.«

Sie trippelte davon, die Flügeltüren fielen hinter ihr zu. Das Lächeln
wich aus Florences Antlitz, als ihre Cousine verschwand; sie sank auf
die breite Fensterbank und fuhr müde mit der Hand über Stirn und Augen.

»Ich wollte, ich könnte schlafen, wie ich sonst geschlafen habe,« sagte
sie halblaut, »diese schlaflosen Nächte fangen an, mich zu ängstigen.
Gesetzt, ich würde krank, -- gesetzt, ich bekäme Fieber? Ich könnte
phantasieren -- könnte alles erzählen, verraten? Wer weiß? Ich habe
sagen hören, Fieberkranke redeten immer von dem, was sie am meisten
beschäftigt. Ich muß einen Doktor zu Rate ziehen, muß mir irgendein
Beruhigungsmittel verschreiben lassen. Wenn ich endlich schlafe, so ist
es fast schlimmer, als wach zu liegen -- ich habe so gräßliche Träume!
Gestern nacht war es schlimmer denn je.« Sie schauderte. »Ich möchte
wissen, ob es das Vernünftigste wäre, wenn ich täte, was er zweimal in
mich gedrungen, zu tun -- und ihm sagte, ich wollte ihn bald heiraten
und mit ihm fortgehen? Mitunter glaube ich es fast. Es würde wenigstens
überstanden -- unwiderruflich sein, und da es geschehen muß, was frommt
es, es aufzuschieben? Ich muß es tun -- ich habe mein Wort gegeben! Und
weshalb sollte er sein Wort halten, wenn ich zögere, meines einzulösen?
Was ist das? So früh? Weshalb kommt er heute so früh?«

Sie kannte den Schritt, der durch die äußere Halle kam; niemals hatte
sie Everard Leaths festen Schritt vernommen, ohne daß ihr Pulsschlag
sich, halb aus Zorn, halb aus Angst, beschleunigt hatte, aber sie war
immer bestrebt gewesen, ihre Erregung unter der nachlässigen Kälte
zu verbergen, die sie ihm gegenüber gewöhnlich zur Schau trug, denn
sie wollte nicht, daß er sehen sollte, daß er sie überhaupt nach
irgendeiner Richtung hin erregen konnte.

Sie erhob sich jetzt und wandte sich mit ganz gefaßtem, gleichgültigem
Gesicht der Flügeltür zu. Kam noch jemand mit ihm? Fast klang es so.
Die Tür ging auf, und Leath trat ein mit Herrn Sherriff.

Dem Mädchen entfuhr ein Schrei schreckensvoller Bestürzung. Leaths
zerrissener und beschmutzter Anzug war durch einen sauberen ersetzt
worden, die Blutspuren waren von Kopf und Antlitz fortgewaschen, aber
das Haar war an der einen Seite weggeschnitten worden und ließ eine
weiße Binde sehen. Das sowohl wie seine finster blickenden Augen und
sein totenbleiches Gesicht hatten Florence den Schrei entlockt. Sie
beachtete Sherriff kaum, noch wunderte sie sich über sein Erscheinen.
Sie eilte auf Leath zu.

»Was ist geschehen? Sie sind verletzt worden? Sie haben sich weh getan!«

»Ja;« er nahm ihre Hand; noch nie hatte er sie mit so schmerzlichem
Drucke festgehalten. »Ich -- wußte nicht, daß du hier bist,« sprach
er, »ich wollte dich nicht erschrecken, Kind. Ich komme, um Sir Jasper
aufzusuchen.«

»Sir Jasper? Aber was ist denn geschehen? Wie sind Sie zu der Wunde
gekommen?« Sie blickte Sherriff an und dann wieder ihren Verlobten, und
etwas wie schreckensvolles Verständnis dämmerte in ihren Zügen auf.
»Sie sind verletzt -- Sie kommen her, um mit Sir Jasper zu reden? Herr
Sherriff,« rief sie gebieterisch, »lassen Sie ihn mir erzählen, was das
alles zu bedeuten hat!«

Leath wandte sich zu seinem Begleiter, ehe dieser antworten konnte.

»Soll ich es ihr sagen? Sie wenigstens muß es doch wohl erfahren?«

»Erzähle es ihr lieber! Wie kannst du es jetzt noch vor ihr
geheimhalten? Und sie hat ein Recht, es zu wissen.«

»Ich will es wissen,« sprach Florence, »sagen Sie es mir.«

Er tat es. Das junge Mädchen saß auf der Fensterbank und hörte mit
weitgeöffneten, entsetzten Augen, die unverwandt an seinem Gesichte
hingen, der Erzählung zu, die er barmherzigerweise so kurz machte, wie
er konnte. Er war seit einer vollen Minute zu Ende, ehe sie den Kopf
hob und auf Sherriff deutete.

»Sie haben ihm alles gesagt?«

»Alles. Mir blieb kaum eine Wahl -- ich konnte nicht länger schweigen.
Ich weiß, damit habe ich gewissermaßen unser Übereinkommen gebrochen,
aber nicht in Wirklichkeit. Du kennst deinen alten Freund. Du weißt,
du darfst dich darauf verlassen, daß er ein ebenso unverbrüchliches
Schweigen beobachten wird wie du oder ich.«

»Sie dürfen mir trauen, meine Liebe,« sprach Sherriff mit versagender
Stimme. Er war bleicher als der junge Mann; die seelische Erregung
hatte tiefe Spuren in seinen Zügen zurückgelassen. »Ich -- bin entsetzt
-- bin bestürzt! Aber um Ihrer selbst willen, um der Lebenden und der
einen Toten willen können Sie sich wirklich auf mich verlassen, mein
Kind.«

»Ich kann mich auf Sie verlassen?« wiederholte Florence verständnislos.
»Ja, das weiß ich. Das macht keinen Unterschied. Aber das andere?« Sie
blickte scheu zu Leath hinüber. »Was wollen Sie tun?«

»Sir Jasper aufsuchen. Endlich müssen wir ein paar deutliche Worte
miteinander reden.« Er sah Sherriff an. »Und um meiner eigenen
Sicherheit willen, um jeder Möglichkeit vorzubeugen, daß sich der
gestrige Vorfall wiederholt, ist es ebensogut, daß bei diesen Worten
ein Zeuge zugegen ist.«

»Ja?« Sie blickte noch ängstlicher. »Und hinterher -- was dann?«

»Hinterher? Nichts weiter! Was sollte dann noch kommen?«

Es klang wie Verwunderung aus seinem Tone, und zum ersten Male etwas
wie Zärtlichkeit -- liebevolle Zärtlichkeit, die das Grauenvolle der
Situation bisher verboten hatte. Er machte eine Bewegung, ihre Hand
zu ergreifen. Erleichterung und Dankbarkeit verdrängten die Kälte aus
ihrem Antlitz, als sie die Augen zu ihm aufschlug. Sofort trat aber ein
anderer Ausdruck in ihre Züge, der ihn veranlaßte, sich jäh umzuwenden,
und als er das tat, öffnete Sir Jasper die Tür der Bibliothek und trat
in die Halle.

Er ging sehr schnell, aber bei Everard Leaths Anblick blieb er
plötzlich stehen, als sei er wie vom Donner gerührt. Eine seltsame,
schreckliche Blässe überzog sein Gesicht, das fast fahl wurde, er rang
schwer nach Atem. Mit der Hand tastete er hilflos nach einem Halt,
erfaßte eine Stuhllehne und klammerte sich taumelnd daran fest -- ein
grausiger Anblick. Leath hub zu reden an.

»Sie sehen, es ist Ihnen mißglückt. Ihr Versuch, mich gestern abend auf
der Klippe ums Leben zu bringen, ist fehlgeschlagen. Ich bin hier --
und am Leben.«

Sir Jasper gab keine Antwort.

Leath sprach in demselben erbarmungslosen, einförmigen Tone weiter.
Florence saß bleich, mit weitoffenen Augen und fest zusammengepreßten
Händen da. Sherriff stand neben ihr; die eine Hand hatte er auf ihre
Schulter gelegt, mit der andern beschattete er seine Augen.

»Es wäre besser gewesen, ich hätte damals, als ich zu Ihnen kam,
Sie um Gräfin Florences Hand zu bitten, die wenigen unverblümten
Worte gesprochen, Sir Jasper, die ich jetzt sagen werde. Aber es war
Florences Wunsch, daß alles, was zwischen uns lag, unerörtert bleiben
sollte, und ich fügte mich ihm. Sie wußten, welches der Preis war, den
ich für die Einwilligung Florences, meine Frau zu werden, zahlte, und
für den sie willens war, sich zu opfern. Ich meinerseits wußte, daß Sie
nicht wagen würden, Ihre Zustimmung zu unserer Heirat zu verweigern
-- Sie durften es nicht, um Ihrer eigenen Stellung willen, durften es
nicht, um Ihrer beiden Kinder und um der unglücklichen Frau willen, die
sich für Ihre Gattin hält.«

Er hielt inne. Sir Jasper taumelte schwer gegen die Stuhllehne, die er
umklammert hatte, machte aber sonst keine Bewegung, noch ging in seinem
starren Antlitz eine Veränderung vor. Leath fuhr fort:

»Sie ist nie Ihre Frau gewesen, und an jenem Tage hörten Sie es. Sie
erfuhren, daß Gräfin Florence die Beweise gesehen hatte, die Sie
für vernichtet hielten -- Beweise, deren Duplikate in Australien
sind, -- die Beweise Ihrer Heirat mit Mary Ralston in Melbourne, vor
einunddreißig Jahren, mit der Sie sich unter dem Namen Robert Bontine
haben trauen lassen. Sie erfuhren, nachdem Sie ihrer überdrüssig
geworden und sie schon nach einem halben Jahre ihrem Schicksal
überlassen hatten, daß sie bis vor acht Jahren am Leben gewesen. Sie
wußten, daß ich die Heirat beweisen konnte, wenn es mir beliebte, daß
ich meine eigene rechtmäßige Geburt beweisen konnte, denn Sie wußten,
daß ich Ihr Sohn war!«

Er hielt wieder inne. Der Baron starrte ihn noch immer an, aber das
Hinundherschwanken hatte aufgehört.

»Sie wußten, daß ich Ihr Sohn war!« wiederholte Leath. »Sie hatten es
gefürchtet und geargwöhnt, das weiß ich jetzt, seit dem Tage, an dem
Sie mich zum ersten Male gesehen und in meinen Zügen die Ähnlichkeit
meiner verstorbenen Mutter entdeckt haben.« Er lachte ingrimmig auf.
»Sie haben sie verlassen, haben Ihre Ehe mit ihr geleugnet, haben sie
in Armut und Schande verkommen lassen -- jetzt, nach über dreißig
Jahren, hat Sie die Rache ereilt. Die erste Geschichte, die ich von
ihren Lippen vernahm, als ich alt genug war, sie zu verstehen, war
diese -- die Geschichte meines Vaters Robert Bontine. Die letzten
Worte, die ich zu ihr, der Sterbenden, sprach, waren ein Gelübde, daß
ich den Mann an dem Orte in England, den er als seine Heimat bezeichnet
hatte, aufsuchen und meinen Namen, meine Rechte von ihm fordern wolle.
Es dauerte acht Jahre, aber ich habe jenes Versprechen nie aus den
Augen verloren. Sie wissen, weshalb ich es gebrochen, ebensogut, wie
ich weiß, weshalb Sie gestern abend versucht haben, mich zu ermorden.
Solange ich lebte, fürchteten Sie mich, trotz meines gegebenen Wortes.
War ich tot, so konnten Sie keinen Grund zum Fürchten mehr haben.«

Florence schrie auf. Sir Jasper stürzte hilflos zu Boden. Das junge
Mädchen sank auf die Knie und hob sein Haupt empor. Sein Gesicht war
schrecklich verzerrt, seine weitoffenen Augen blickten leer und starr,
als sähen sie nichts. Sherriff, der sich ebenfalls niedergebeugt hatte,
schaute mit einem Ausdruck des Entsetzens zu dem jüngeren Manne empor.

»Gütiger Himmel, Leath, was ist das? Der Tod?«

»Nein,« antwortete Leath, »noch nicht. Aber es ist Tod bei lebendigem
Leibe -- ein Schlaganfall!«



24.


Eine Woche war vergangen, seitdem Sir Jasper Mortlake wie vom Blitze
getroffen vor Everard Leath hingestürzt war, und so lag er noch immer.
In Turret Court herrschte Schweigen und Trauer. Die drei Ärzte, die
herbeigerufen wurden, erklärten, ihr Patient könne noch Jahre so
daliegen wie jetzt -- unverständliche Laute vor sich hinmurmelnd und
ins Leere starrend. Es wäre möglich, daß er nach einiger Zeit in
beschränktem Maße die Gliedmaßen wieder werde bewegen können, aber das
Gehirn werde nie wieder funktionieren -- das sei ausgeschlossen.

Sie stimmten auch darin überein, diese ernsten Doktoren, daß der Anfall
sich wahrscheinlich schon seit geraumer Zeit vorbereitet habe. Was ihn
schließlich veranlaßt hätte, könne man unmöglich sagen. Eine große
Erschütterung möglicherweise. Wußte Lady Agathe, ob er irgendeine
solche Erschütterung gehabt hatte?

Lady Agathe, die in diesen ersten Tagen des Kummers und Schreckens kaum
fähig war, etwas anderes zu tun, als zu weinen und sich in hilfloser
Abhängigkeit an ihre Nichte zu klammern, die so viel stärker war,
ihr so viel besser Trost zusprechen konnte als ihre Tochter, weinte
bei diesen Fragen nur aufs neue und erklärte schluchzend, es habe
nichts vorgelegen. Sir Jasper sei in der letzten Zeit anscheinend
leidend und verstimmt gewesen, er sei wortkarger und vielleicht ein
-- wenig grämlicher geworden, gab die unglückliche Frau zu. Sie hätte
ihrem Tyrannen jetzt, wo er sie nicht mehr tyrannisieren konnte, gern
jegliche Tugend zuerkannt -- aber das war alles. An dem Abend, der dem
Schlaganfall vorangegangen, war er nicht zum Essen heruntergekommen,
-- etwas sehr Ungewohntes von ihm, -- aber sie hatte dem keine weitere
Bedeutung beigemessen. Als er den Schlag bekam, unterhielt er sich
ruhig in der Halle mit ihrer Nichte und ihrem Verlobten. »Nein -- von
einer besonderen Gemütsbewegung war keine Rede gewesen,« beteuerte Lady
Agathe unschuldig. Gräfin Florence würde ihnen dasselbe sagen.

Gräfin Florence, die in diesen Tagen des Leids stets in unmittelbarer
Nähe ihrer Tante blieb, ausgenommen, wenn sie die kleine Cis tröstete,
deren leidenschaftliche Schmerzensausbrüche selbst Harry nicht
beschwichtigen konnte, sagte ihnen dasselbe. Sir Jasper habe bleich
und wunderlich ausgesehen; er habe sich eine Weile an einem Stuhle
festgehalten und sei dann plötzlich zu Boden gestürzt. Herr Leath, ihr
Verlobter, würde ihnen das bestätigen, und ebenfalls Herr Sherriff, der
zugegen gewesen.

Aber die Ärzte meinten, es sei nicht nötig, sie zu befragen, Lady
Agathes Bericht sei vollständig zufriedenstellend und ausreichend.
Es wäre unmöglich, den Zeitpunkt, an dem ein solcher Schlaganfall
eintreten würde, vorherzubestimmen oder ihn abzuwenden; die
Wissenschaft vermöge viel, aber das könnte sie doch noch nicht. Und
kopfschüttelnd verließen die Doktoren Turret Court, und noch zwei Tage
schleppten sich schwer dahin.

Es war kaum fünf Uhr, aber trotzdem brach die Dämmerung des trüben
Oktobertages herein; in dem getäfelten Zimmer wäre es schon dunkel
gewesen, hätte nicht das Feuer gebrannt. Das prasselte hell empor und
zeigte Florence, die in einem bequemen Lehnstuhl vor dem Kamin saß.
In dem langen, schwarzen Kleide, das Cis nicht leiden mochte, -- sie
hatte in den letzten Tagen nichts anderes getragen, -- sah sie sehr
zart und schlank und jung aus. Den Kopf lehnte sie müde zurück; ihre
Augen waren geschlossen, und die langen, schwarzen, dichten Wimpern
machten die Blässe ihres Gesichtes nur noch auffallender. Lady Agathe,
bei all ihrem schmerzlichen Weinen und Jammern, sah nicht erschöpfter
und gebrochener aus als das Mädchen, das, seitdem der Schlag gefallen,
keine Träne vergossen hatte. Tränen gab es für sie nicht mehr, hatte
sie zu sich gesagt, während sie halb verwundert, halb neidisch zusah,
wie ihre Tante weinte und wie die kleine Cis schluchzte und sich nicht
trösten lassen wollte. Die Florence Esmond, die lachen und weinen
konnte, war vor mehr als einem Monat gestorben -- an jenem sonnigen
Nachmittage im Bungalow, und für sie gab es kein Auferstehen.

Sie schlummerte nicht, obgleich sie seit fast einer Stunde ihre
Stellung nicht verändert hatte. Ein Diener trat ein, und sie fuhr mit
weitgeöffneten Augen empor.

»Herr Leath ist da, gnädiges Fräulein. Er fragt, ob das gnädige
Fräulein wohl genug sei, ihn heute ein paar Minuten zu empfangen?«

Jeden Tag seit Sir Jaspers Schlaganfall war Everard Leath nach Turret
Court gekommen, aber nur einmal, und dann für die denkbar kürzeste
Zeit, hatte er seine Braut gesehen; sie hatte sich sonst immer
entschuldigt. Sie wußte indessen, daß das nicht stets so weitergehen
konnte und hatte heute im getäfelten Zimmer auf sein Kommen gewartet.
Sie mußte ihn sehen -- er hatte ein Recht, sie zu sehen. Ihr gegebenes
Wort mußte sie halten wie er das seine, um Lady Agathes und ihrer
Kinder willen mußte alles bleiben, wie es gewesen. Daß Everard Leath in
Wahrheit Everard Mortlake war, der Erbe -- man hätte sagen können der
Besitzer -- von Turret Court, war eine Tatsache, die nie bekannt werden
durfte.

Florence stand langsam auf und strich ihr in Unordnung geratenes Haar
zurück.

»Ja,« sagte sie, »ich will Herrn Leath sehen. Sie können ihn hier
hereinführen, Morgan.«

Sie sprach ruhig, aber sie hatte ihre Nerven nicht so in der Gewalt wie
ihre Stimmung; sie begann beim Tone der nahenden Schritte zu zittern,
und als die Tür aufging, sank sie wieder in ihren Stuhl. Leath sah, wie
sie sich in die Polster schmiegte und ihn mit flehenden, erschreckenden
Augen anblickte. Ein seltsamer Ausdruck -- es war ein ironisches
Lächeln und ein schmerzliches Zucken, beides zu gleicher Zeit --
glitt über sein Gesicht, aber er war im nächsten Augenblick wieder
verschwunden. Er streckte die Hand aus und ergriff die von Florence,
welche bebend in ihrem Schoße lag.

»Hoffentlich geht es dir besser?« fragte er. »Du siehst sehr blaß aus.«

»Danke, ich bin so wohl, wie ich nur erwarten kann, zu sein,«
antwortete sie.

»Wohl genug, daß ich mit dir sprechen kann? Wenn nicht, so sage es.
Dann werde ich bis morgen warten.«

»Das ist nicht nötig. Ich hatte mich schon entschlossen, Sie zu sehen,
wenn Sie heute vorkämen. Es war sehr lieb von Ihnen, daß Sie nicht eher
darauf drangen.« Sie stockte und blickte zu ihm auf. »Wollen Sie nicht
Platz nehmen?«

»Nein, danke. Ich bleibe nur ein paar Minuten.« Er hielt inne. »Es ist
wohl keine Veränderung eingetreten?«

»In Sir Jaspers Zustand? Nein -- keine. Sie wissen, daß das auch nicht
zu erwarten ist, nicht wahr?«

»Allerdings. Es ist, wie ich es nannte, Tod bei lebendigem Leibe. Rache
genug für mich, wenn ich danach verlangte.«

Seine Stimme war dumpf, aber nicht scharf, sein Gesicht merkwürdig
gefaßt und ernst. Sein ganzes Wesen war seltsam und für Florence
unerklärlich verändert. Er hatte ihre Hand nicht behalten -- hatte
sie nur eben lose einen Augenblick erfaßt und dann losgelassen -- er,
dessen Händedruck immer eine innige Liebkosung an sich gewesen war.
Unzählige Male hatte sie sich dagegen aufgelehnt, hatte sich gesagt,
daß sie es hasse, aber ihr fiel die Unterlassung sofort auf. Weshalb
sah er so aus? Was wollte er ihr sagen? Eine angstvolle Beklommenheit,
die jede Sekunde seines Schweigens nur steigerte, beschleunigte den
Herzschlag des Mädchens. Sie sprach endlich, denn sie fühlte, daß sie
es nicht länger ertragen konnte.

»Ist -- ist irgend etwas passiert?« stammelte sie. »Sie sehen so
sonderbar aus!«

»Sonderbar? -- So?« Er hob den Kopf und blickte sie an. »Nein, --
passiert ist nichts. Ich habe einen Kampf auszukämpfen gehabt, und
zwar keinen leichten -- das ist alles. Aber er ist vorüber -- er liegt
hinter mir. Um so besser für mich. Ich überlegte nur, wie ich es dir am
besten sage.«

»Mir sage?« wiederholte sie.

»Ja. Sieh nicht so ängstlich aus, Kind! Den Ausdruck habe ich allzuoft
auf deinem Gesicht gesehen -- ich möchte lieber eine andere Erinnerung
mit hinwegnehmen. Es ist wohl am besten, ich fasse mich so kurz wie
möglich. Ich gehe fort, Florence.«

»Fort?« rief sie. »Nach London?«

»London? Was habe ich in London zu suchen? Ich gehe nach Australien
zurück -- dem einzigen Fleck Erde, der mich angeht, den nie zu
verlassen ich gut getan hätte. Ich fahre mit der ›Etruria‹. Sie geht in
vier Tagen.«

»Und -- und ich?«

Sie stieß die Worte, nach Atem ringend, hervor, während sie
emporfuhr und ihn mit weitgeöffneten, ungläubigen Augen anstarrte --
Verwunderung, Schrecken, Seelenqual sprachen aus ihren Zügen. Sie
war totenbleich geworden. Er ergriff die bebende Hand, die sie ihm
entgegenstreckte, hielt sie einen Augenblick fest umschlossen und
drängte sie dann sanft von sich.

»Sie bleiben hier,« sprach er ruhig. »Ich entbinde Sie von Ihrem
Versprechen, mich zu heiraten.«

Florence sprach nicht. Atemlos stand sie da, und ihre großen,
schreckhaft erweiterten Augen hingen unverwandt an den seinen, als
fürchte sie sich, sie abzuwenden.

»Ich entbinde Sie Ihres Versprechens, mich zu heiraten,« wiederholte
er mit fester Stimme. »Ich befreie Sie von einer Verpflichtung, die
Sie hassen und die Sie nie hätten eingehen sollen. Ich habe einen
schändlichen Pakt mit Ihnen abgeschlossen, Kind -- ich wußte es, als
ich es tat -- ich habe mir feige Ihre Zuneigung für die Ihren und Ihre
Selbstaufopferung zunutze gemacht. Aber ich liebe Sie, und die Liebe
zu einem Weibe hat schon manchen Mann unwürdige Handlungen begehen
lassen. Dem sei nun, wie ihm wolle, ich bin nicht verworfen genug,
Sie zu einer Ehe, die Sie unglücklich machen muß, zu zwingen, und
als ich glaubte, Ihre Liebe erringen zu können, mag ich wohl ein Tor
gewesen sein. Sie hassen mich. Und haßten Sie mich, wenn Sie mein Weib
wären, so würde ich uns beide, Sie und mich selbst, ums Leben bringen,
glaube ich. Aber das ist eine Frage, die wir nicht weiter zu erörtern
brauchen; denn Sie werden nie meine Frau werden. Ich wiederhole es --
ich gebe Sie frei. Ich gehe nach Australien zurück. Sie sind mich für
den Rest Ihres Lebens los.«

Er hielt inne. Das junge Mädchen tastete nach dem Kaminsims, neben dem
sie stand, und hielt sich daran fest; aber ihr Gesicht veränderte sich
nicht, und sie machte gar keinen Versuch, etwas zu erwidern. Ehe Leath
weiterreden konnte, ging die Tür auf, und Lady Agathe und ihre Tochter
traten ein.

»Liebe Florence -- o, Herr Leath, Sie sind es!« stammelte Lady Agathe
verwirrt, »ich wußte nicht, daß Sie hier sind!«

Sie wandte sich wieder nach der Tür, aber Leath hielt sie zurück, ehe
sie dieselbe erreicht hatte.

»Ich bitte um Vergebung, Lady Agathe. Darf ich Sie bitten, einen
Augenblick zu verweilen? Wären Sie nicht hereingekommen, so würde ich
Sie vor meinem Fortgange um eine Unterredung gebeten haben.«

»Mich -- um eine Unterredung?« stammelte die Angeredete.

»Ja. Ich möchte Ihnen sagen, daß ich Gräfin Florence ihr Wort
zurückgegeben habe. Unsere Verlobung ist aufgehoben.«

»Sie haben sie freigegeben?« rief Lady Agathe verwundert.

Cis stieß einen leisen Schrei aus und lief auf ihre Cousine zu.

»Ich habe sie freigegeben,« wiederholte Leath in demselben ruhigen
Tone. Er sah Florence nicht an, ja, warf ihr nicht einmal einen Blick
zu.

»Wenn einen von uns ein Vorwurf trifft, so trifft er ganz allein mich.
Ihre Nichte macht sich nichts aus mir, hat nie vorgegeben, etwas von
mir zu halten. Sie hat mich nicht getäuscht, aber das Ganze war ein
unseliger Irrtum. Unsere Verlobung hätte nie stattfinden sollen.«

»Nun wirklich, Herr Leath, da Sie so offen reden, muß ich sagen, daß
ich völlig mit Ihnen übereinstimme,« sagte Lady Agathe und drückte das
Taschentuch an die Augen. »Die Verlobung ist mir immer ein Rätsel, ein
dunkles Rätsel gewesen -- wie Florence selbst weiß. Ich kann nicht
glauben, daß Ihre Ehe für einen von Ihnen glücklich ausgefallen wäre
-- ich habe es nie geglaubt. Die äußeren Verhältnisse und alles war
so ungleich. Und da Sie, wie Sie sagen, wissen, daß Florence sich nie
etwas aus Ihnen gemacht hat, so ist es wirklich nur Ihre Pflicht, daß
Sie sie freigeben.«

»Ja,« antwortete Leath, »nur meine Pflicht.« Ein finsteres Lächeln
umspielte seine Lippen einen Augenblick; aber wenn auch Lady Agathe
es gesehen hätte, so würde sie doch weit entfernt davon gewesen sein,
seine Bedeutung zu verstehen. Er hielt ihr die Hand hin und sprach
freundlich: »Sie haben keinen Grund, mich gern zu haben, Lady Agathe,
und ich weiß, Sie haben mich nicht leiden können. Aber da ich nach
Australien zurückkehre und aller Wahrscheinlichkeit nach England
niemals wiedersehen werde, wollen Sie mir da Lebewohl sagen und
mir gestatten, Ihnen meine Wünsche auszusprechen, daß auch für Sie
glücklichere Zeiten kommen mögen!«

Die gute Lady Agathe, die gerührt war, ohne zu wissen, weshalb, gab ihm
mit einer gewissen Herzlichkeit die Hand. Er beugte sich auf sie herab
und ließ sie dann los. Darauf wandte er sich zu Cis und schloß sie, zu
des jungen Mädchens unsagbarer Verwunderung, in die Arme und küßte sie.

»Leben Sie wohl, liebes Kind,« sprach er. »Möge Ihnen ein glückliches
Leben beschieden sein!« Er schritt auf die Tür zu und drehte sich --
die Hand schon auf dem Türgriff -- noch einmal um und blickte nach der
regungslosen Gestalt am Kamin hinüber. »Lebe wohl, Florence,« sagte er
fast im Flüstertone, »lebe wohl!«

Die Tür fiel ins Schloß -- er war fort. Cis, die sich von ihrem
Erstaunen erholt hatte, sprudelte hervor:

»Was soll das alles heißen? Florence, was soll das heißen? Er
vergötterte dich -- das weiß ich -- und doch löst er eure Verlobung
und geht so davon! Er hat dir nicht einmal die Hand gegeben. Und,« fuhr
sie in grenzenloser Bestürzung fort, »warum hat er mich geküßt?«

Aber der kleinen Cis sollte auf diese Frage nie eine Antwort werden,
sie sollte es nie erfahren, daß Everard Leath den Kuß eines Bruders auf
ihre Wange gedrückt hatte.

Florence hörte sie nicht einmal. Sie stand stumm, wie betäubt da. Sie
konnte es nicht fassen, daß ihre Ketten von ihr gefallen -- daß er fort
und sie frei war.



25.


Everard Leath ging über die Halde nach dem Bungalow zurück. Es war ganz
dunkel, ehe er dort anlangte, und die Lampen brannten schon, als er ins
Wohnzimmer trat. Sherriff, der in einem Stuhl am Kamin ein Schläfchen
gehalten, richtete sich bei seinem Eintritt auf. Leath zog einen Sessel
heran und setzte sich.

»Ich bin in Turret Court gewesen,« sagte er auf einen fragenden Blick
des andern.

»Das habe ich mir gedacht, mein Junge. Dort steht wohl alles beim
alten, und es ist keine Wendung zum Besseren eingetreten?«

»Nein -- nicht die mindeste. Es ist nicht zu erwarten. Wie Sir Jasper
jetzt daliegt, so kann er vielleicht, wenn seine Lebenskraft so lange
ausreicht, noch fünf Jahre liegen.«

Ein finsteres Lächeln zuckte um die Lippen des jungen Mannes. »Wenn wir
nach Rache getrachtet, so ist sie uns jetzt in vollem Maße geworden.«

»Ich trachte nicht darnach,« versetzte der Alte sanft, »nicht einmal um
Marys willen. Aber ich bin alt. Ich leugne nicht, daß ich vielleicht
anders darüber gedacht haben würde, Everard, wäre ich so jung wie du.«

»Mich verlangt auch nicht darnach,« antwortete Leath mit einem
Stirnrunzeln, »man führt keinen Streich nach einem Toten, und in
Wirklichkeit ist er tot.«

»Das ist wahr! Besser für seine Umgebung, er wäre es in der Tat.«
Sherriff hielt zögernd inne. »Du glaubst, Lady Agathe hat keine Ahnung,
daß -- etwas nicht in Ordnung ist?«

»Durchaus keine. Wie sollte sie auch? Wer sollte es ihr sagen? Ihr Sohn
wird Sir Roy werden. Sie wird nie was anderes erfahren.«

»Ich hoffe nicht. Ganz von ihren Kindern abgesehen, würde ein solcher
Schlag sie getötet haben. Nun, du hast auf vieles -- auf sehr
vieles verzichtet, Everard, hast viel aufgegeben, aber du hast drei
Unschuldige geschont, und was dir dafür wird, überwiegt alles andere
weit, das weiß ich.«

»Was mir dafür wird?« Leath lachte bitter auf. »Was ist das, wenn ich
fragen darf?«

»Was?« gab Sherriff verwundert zurück. »Das Weib, das du liebst.«

»Und das mich haßt!« Mit einem Lachen erhob er sich. »Es ist für mich
am besten, sich kurz zu fassen, wie ich auch ihr soeben sagte. Ich habe
Gräfin Florence ihr Wort zurückgegeben.«

»Du hast sie freigegeben?«

»Ja -- freigegeben. Ich war ein Schuft, ihr das Versprechen
abzuzwingen, ein Narr, zu glauben, daß ich ihre Liebe erringen könne.
Sie haßt mich, und ich habe sie deshalb freigegeben. Es ist vorüber --
ich habe ihr Lebewohl gesagt. Damit ist genug über die Sache geredet;
ich wäre ein schlechterer Kerl, als ich bin, hätte ich sie in eine
unglückliche Ehe hineinzwingen wollen. Sie brauchen mich nicht so
anzusehen, mein lieber alter Freund. Es hat einen Kampf gekostet,
das leugne ich nicht, aber ich glaube, ich habe das Schwerste jetzt
überstanden. Wenn nicht, nun, so werde ich in Australien besser damit
fertig werden als hier.«

»In Australien?«

»Ja. Ich habe mich entschlossen, dorthin zurückzukehren. Da wartet
meiner wenigstens Arbeit. Die ›Etruria‹ geht in vier Tagen ab. Mit der
fahre ich.« Er hielt inne und blickte in das erregte Gesicht des alten
Mannes, der eine bebende Hand auf seinen Arm legte. »Soll ich zwei
Fahrkarten nehmen, Herr Sherriff?«

»Zwei?« wiederholte der andere.

»Ja -- wollen Sie mit mir kommen? Ich habe Sie danach fragen wollen,
seitdem ich zu dem Entschlusse gekommen bin, daß ich sie freigeben
müsse. Wenn mich hier nichts zurückhält, so haben auch Sie keine
Angehörigen hier.« Er legte dem Alten die Hand auf die Schulter -- zum
ersten Male versagte ihm fast die Stimme -- und fuhr fort: »Ich hoffe,
Sie kommen mit -- von ganzem Herzen hoffe ich es. Mehr als einmal haben
Sie geäußert, daß Sie mich so liebhätten, als sei ich Ihr Sohn; aus
tiefster Seele wünsche ich, ich wäre es. Ich habe, wie Sie wissen,
nie einen Vater gekannt, aber etwas von dem, was man für einen Vater
empfinden sollte, empfinde ich für Sie, das weiß ich. Das Scheiden ist
schwer in Ihrem Alter -- mir in meiner Einsamkeit wird unsere Trennung
sehr schwer fallen. Wollen Sie mitkommen?«

»Ich will mitgehen,« antwortete Sherriff. »Ich bin freilich recht alt
dafür, um ein neues Leben in einem neuen Lande anzufangen, Everard --
aber ich kann mich von Marys Sohn nicht trennen!«

Ein langer und fester Händedruck besiegelte den Vertrag, und das
Gespräch der beiden drehte sich für den Rest des Abends nur um die nahe
bevorstehende Reise und die nötigen Vorbereitungen. Beide waren ruhig
und heiter, und der Name der Gräfin Florence wurde nicht ein einziges
Mal erwähnt. Nur als sie sich ›Gute Nacht‹ wünschten und Sherriff die
Hand seines jungen Freundes in der seinen hielt, sagte er:

»Noch ein Wort, mein lieber Junge, und wenn es gesprochen, brauchen
wir, nur wenn du es wünschen solltest, das Thema nie wieder zu
berühren. Es mag vielleicht unrecht gewesen sein -- ja, ich leugne es
nicht, es war unrecht -- Gräfin Florence zu zwingen, sich mit dir zu
verloben; aber ich begreife wohl, wie groß die Versuchung war, da ich
weiß, wie innig du sie liebst, und ich muß dir sagen, daß du das mehr
als wieder gutgemacht und edel gehandelt hast, als du ihr ihr Wort
zurückgegeben und doch alles geopfert hast, was dir von Rechts wegen
gehört hätte. Du hast wie ein Ehrenmann gehandelt, und ich bin stolz
auf dich.«

»Ich tat das einzige, was ich überhaupt konnte,« gab Leath düster
zur Antwort. »Vielleicht barg sich ebensoviel Selbstsucht wie
Selbstaufopferung dahinter. Ich konnte jener armen Frau nicht das Herz
brechen und nicht Schmach und Schande über ihre beiden Kinder bringen.
Ich weiß überhaupt nicht, ob ich es je fertig gebracht hätte, das zu
tun. Der Gedanke wollte mir nie recht in den Sinn, das weiß Gott!
Und das Mädchen, das ich liebe, zum Weibe zu haben, während sie mich
gehaßt, würde mich, glaube ich, zum Wahnsinn getrieben haben.«

»Das glaube ich gern. Und deshalb,« sprach der alte Mann, »gehen wir
miteinander nach Australien, Everard, und von allem, was du zu erlangen
hofftest, nimmst du nichts mit zurück -- gar nichts!«

»Nichts!« lautete die bittere Antwort. »Nicht einmal ein Wort des
Dankes von ihr dafür, daß ich sie freigegeben!«

       *       *       *       *       *

Unter einem grauen Oktoberhimmel, der nur im Westen, wo die Sonne
eben untergegangen, rot erglühte, stampfte der große Ozeandampfer,
die ›Etruria‹, durch die sich höher und höher auftürmenden Wogen. Die
Klippen der felsigen Küste Cornwalls waren nur noch in nebelhaften
Umrissen wahrnehmbar, nur die beiden großen, violetten Spitzen von
Kap Lizard ragten noch klar und deutlich empor -- das letzte sichtbare
Wahrzeichen Englands. Viele Augen an Bord des großen Schiffes waren
traurig und sehnsüchtig darauf gerichtet, als es nach und nach in
der Ferne verschwamm, -- war es doch für viele der letzte Blick auf
jenes Land, das ihnen, auch in weiter, weiter Ferne, doch stets die
Heimat bleiben würde. Aber kein Auge blickte wehmütiger als das des
hohen, weißhaarigen alten Mannes, der neben einem jüngeren in einem
stillen Winkel des oberen Decks stand, halb verborgen durch die
hoch aufgestapelten Koffer und sonstigen Gepäckstücke, die mit den
letzten Passagieren in Plymouth an Bord genommen und noch nicht in
den Gepäckraum hinabgeschafft worden waren. Das große Vorgebirge war
nur noch ein wolkiger Fleck zwischen dem grauen Wasser und dem grauen
Himmel, und als Sherriff sich mit einem Seufzer umwandte, begegnete er
dem stillen, teilnehmenden Blicke seines Gefährten.

»Es wird mir schwer, Everard,« sprach er, gleichsam als Antwort auf
diesen Blick, »ich leugne nicht, daß es mir schwer fällt. Ich bin,
wie gesagt, eigentlich zu alt, um anderswo Wurzel zu schlagen, mein
Junge! Aber es ist überstanden, und ich bin froh, daß ich hier bin. Den
Verlust Englands werde ich nicht so empfinden, wie ich deinen Verlust
empfunden hätte.«

Sie gaben sich die Hände.

»Ich hoffe, daß Sie es nie bereuen mögen,« meinte Leath leise.

»Bereuen werde ich es nicht. Das Trennungsweh ist überstanden mit dem
letzten Blick auf England. In dem Lande, das das Grab meiner Mary
umschließt, in dem der Sohn meiner Mary lebt, werde ich mich sicherlich
zu Hause fühlen.«

Es trat ein kurzes Schweigen ein, dann hub Sherriff in heiterem Tone
wieder an:

»Ich will ein Weilchen hinuntergehen, Everard. Ich bin, wie gesagt, ein
alter Bursche, und die Unruhe und Aufregung der letzten Tage hat mich
doch ziemlich angegriffen. Nein, gehe nicht mit, das ist nicht nötig.
Du wolltest rauchen, bleibe hier und zünde dir eine Zigarre an.« --

Er entfernte sich. Leath folgte der hohen, weißhaarigen Gestalt
mechanisch mit den Augen und wandte sich dann wieder landwärts. So
scharf auch seine Augen waren, so konnten sie jetzt nichts mehr
unterscheiden. Himmel und See allein waren sichtbar. England war
verschwunden. Er zuckte die Achseln und brach in ein bitteres Lachen
aus.

»Verschwunden!« sagte er halblaut vor sich hin. »Um so besser für mich!
Wenn ich es nie gesehen, würde es noch besser sein -- und hätte ich sie
nie mit Augen geschaut, am besten!«

Es kam jemand hinter dem großen Stapel Kisten und Koffer hervor. Die
Person war ihm so nahe, daß er sie hätte berühren können, wenn er
die Hand ausgestreckt hätte; aber ihre behutsamen Bewegungen waren
lautlos, und er wandte sich nicht um. Seine Augen blickten unverwandt
in die Ferne, als er am Schiffsbord lehnte -- für ihn waren der
bleifarbene Himmel und das graue Meer von Bildern belebt, von Bildern
eines einzigen Gesichtes. Heiter und sinnend, lächelnd und wehmütig,
liebevoll und leidenschaftlich erregt, reizend in jedem wechselnden
Ausdruck schwebte Florences holdseliges, verlorenes Antlitz vor ihm.
Nur ein Ausdruck ließ es kalt und starr erscheinen, und den trug es
am häufigsten. Welcher Haß, welch angstvolle Scheu, welch zornige
Empörung lagen darin! Was Leath auch sonst vergessen mochte, nie würde
das Antlitz aus seinem Gedächtnisse entschwinden, mit dem sie an jenem
Abend vor ihm zurückgewichen, als sie ihm ihr ›Niemals -- niemals!‹
zugerufen hatte.

»Sie mag recht gehabt haben,« sagte er, unwillkürlich wieder vor sich
hinsprechend, »es sprach Haß aus ihren Zügen. Und doch, jetzt, wo
alles vorüber ist, kann ich nicht anders als mir die Frage vorlegen:
Bin ich ein Tor gewesen, sie aufzugeben? Wenn ich sie gezwungen, ihr
Wort zu halten, würde ich trotz allem ihre Liebe gewonnen haben? Es
hätte wenigstens sein können. Ja -- und vielleicht hätte sie mich ewig
gehaßt. Besser so!«

Die Gestalt schlich näher, aber sie glitt so leise und still wie ein
Schatten dahin. Everard richtete sich mit einer ungeduldigen Bewegung
empor.

»Ich bin ein weichmütiger Narr, daß es mir so nahe geht,« murmelte
er, »aber sie hätte mir doch Lebewohl sagen können! Sie hätte mir
wenigstens ein Wort des Dankes gönnen müssen dafür, daß ich sie
freigegeben.«

»Everard!«

Der Name wurde von Lippen geflüstert, die dicht an seiner Schulter
waren; eine Hand berührte ihn. Mit einem Schrei, den er nicht
unterdrücken konnte, drehte er sich hastig, von Staunen überwältigt,
ungläubig um. Florence war neben ihm, Florence, mit einem Gesicht,
in dem Weinen und Lachen miteinander kämpften! Dann, im nächsten
Augenblicke, war Florence in seinen Armen und schmiegte sich an ihn --
Liebe lag in ihrer Berührung, Liebe in ihren Augen, Liebe in den bebend
hervorgestoßenen Worten der Abwehr und des Flehens, Liebe in dem Kusse,
mit dem ihre Lippen den seinen begegneten, als er sie voll Leidenschaft
an die Brust drückte. Aber er war bestürzt, wie betäubt von einer
Freude, an die er nicht zu glauben wagte.

»Du mußt umkehren, Kind,« sagte er. »Du mußt wieder umkehren,« und
während er das sagte, zog er sie nur fester an sich und küßte sie noch
heißer.

Nach einer Weile richtete sie sich in seinen Armen auf und blickte ihn
mit feuchtschimmernden Augen an, die Hände um seinen Hals gelegt.

»Ich muß umkehren?« meinte sie mit fröhlichem Lachen, »und das Land ist
außer Sicht? Nein -- nein! Ich bin zu klug -- ich wollte mich nicht
blicken lassen, ehe es zum Umkehren zu spät war. In Plymouth bin ich
an Bord gekommen, und ich sah dich, sowie ich das Schiff betrat, aber
ich verstellte mich. Umkehren?« Sie lachte. »Und wenn ich es täte,
was dann? Sie machten Aufhebens genug davon, als du mich in jener
Gewitternacht unter deine Obhut genommen. Was würden sie wohl von mir
sagen, wenn ich mit dir davonliefe und du mich nicht heiraten wolltest?«

Er lachte auch und legte den Arm fester um sie, aber er sprach nicht.
Er war seiner Bestürzung noch nicht Herr geworden: sie zu umfassen,
sie anzuschauen, das schien alles zu sein, was er vermochte. Ihre Hand
legte sich wieder um seinen Nacken.

»Umkehren?« sagte sie. »Zurückkehren zu dem Grauen, das mich
befiel, als es mir zum Bewußtsein kam, daß du fort seiest? Zu der
unerträglichen Pein, zu wissen, daß, so lange wir beide lebten, ich
niemals dein Antlitz wiedersehen, noch deine Stimme je wieder hören
würde? Zu der Qual, die mir fast das Herz brach, als ich fühlte, daß
ich dich verloren? Nein, nein! Nur das nicht!« Mit einem Schauder
schmiegte sie sich an ihn. »Ach, wie sehr hast du recht gehabt, mein
Geliebter, als du sagtest, du würdest mich dazu bringen, dich zu
lieben, und wie sehr hatte ich in meiner törichten Verblendung unrecht!
Wie lange habe ich dich wohl schon geliebt und meine Liebe Haß genannt?
Oder habe ich dich erst geliebt, nachdem du mich verlassen? Ich weiß es
nicht -- es kommt auch nicht darauf an -- hier bin ich und kann nicht
wieder zurück. Ach, du gabst mir meine Freiheit wieder, Everard, aber
wie konnte ich sie hinnehmen und dir dafür danken, wenn du mir mein
Herz nicht zurückgabst. Du nimmst es mit dir und doch sagst du zu mir:
›Kehre um‹!«

»Umkehren? Nie und nimmermehr, und sollte ich mit der ganzen Welt
kämpfen müssen, um dich zu behalten!« Er küßte sie auf die Lippen.
»Florence, wissen es die Deinen?«

»Ja -- jetzt wissen sie es. Als ich Turret Court verließ, wußten sie
es noch nicht. Ich habe mich ohne ihr Wissen davongemacht. Ich wollte
nicht Abschied nehmen -- das hätte Tränen gekostet -- Szenen gegeben.
Das wollte ich nicht; ich wollte nur zu dir. Aber sie wissen es jetzt.
Ich habe der Herzogin geschrieben, habe Briefe für Tante Agathe und
Cis und einen Gruß für Roy zurückgelassen. Sie wissen, daß ich dir
nachgereist bin, und weshalb. Ich habe ihnen gesagt, daß ich, wenn sie
wieder von mir hörten, nicht mehr Florence Esmond, sondern Florence
Leath sein würde. Ich habe mir den Namen angeeignet, ehe du ihn mir
gegeben hast. Du siehst, meine Schiffe sind hinter mir verbrannt,«
schloß sie lächelnd.

Ein Schweigen trat ein. Er brach es, indem er ihr Gesicht emporhob und
sich zuwandte.

»Florence, hast du auch bedacht, was dieser Schritt dich kostet? Du
gibst sehr viel auf, mein Lieb!«

»Du hast alles für mich aufgegeben, sogar mich selbst,« antwortete sie
innig, »was ich verliere, verliere ich um dich.«

»Es kostet dich dein Vermögen?«

»Die Herzogin ist jetzt in Wirklichkeit mein einziger Vormund, und die
Herzogin wird mir niemals vergeben. Ja -- das kostet es mich.«

»Du verlierst alle diejenigen, die du dein Leben lang geliebt hast,
Kind!«

»Ich gewinne nur.« Sie lächelte dabei. »Ich bin bei einem, den ich viel
mehr liebe.«

»Für dich bedeutet es ein in die Verbannung Gehen, mein Weib.«

»Mit dir, meinem Gatten,« gab sie leise zurück.

Er sagte nichts mehr. Er zog sie fester in die Arme, und sie küßten
sich wieder. Das beredteste Wort war arm solch glückseligem Schweigen
gegenüber.

Keiner von ihnen hatte wieder gesprochen, als ein näherkommender
Schritt sie veranlaßte, sich umzuwenden. Beide erkannten Sherriffs
hohe Gestalt, der langsam herankam und im Zwielichte in der ihm noch
unvertrauten Umgebung suchend umherspähte.

Florence faßte die Hand ihres Verlobten und trat ein wenig vor.

»Er liebt dich, als ob er dein Vater wäre,« sprach sie. »Schon deshalb
würde ich ihn lieben, hätte ich ihn nicht immer liebgehabt. Er soll
auch mein Vater sein. Laß uns gehen und es ihm sagen.«



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