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Title: Mein kleiner Chinese - Ein China-Roman
Author: Karlin, Alma M.
Language: German
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  Mein
  kleiner Chinese

  Ein China-Roman

  von

  A. M. Karlin

  Mit 6 Federzeichnungen

  [Illustration]

  1921

  Verlag Deutsche Buchwerkstätten
  Dresden



  Alle Rechte, insbesondere das der Uebersetzung, vorbehalten
  Copyright 1921 by Verlag Deutsche Buchwerkstätten Dresden


  Gedruckt bei H. B. Schulze, Dresden



[Illustration]

    =East is East, and West is West,
    but the two can never meet.=

      =Rudyard Kipling.=

I.


Lieber Leser! Da die ganze Geschichte mit der ich dich hier zu langweilen
beginne, von meinem kleinen Chinesen und -- von mir selbst handelt, wirst
du wissen wollen, wo ich zu Hause bin, wie ich heiße, vielleicht sogar wie
ich aussehe. Ich komme daher deinen Fragen zuvor und gebe die gewünschten
Aufklärungen. Meine Heimat liegt irgendwo zwischen der malerischen Küste
der ewig blauen Adria und dem Pommerland. Dort nenne ich ein Stück
Land von der Größe eines Schnupftuchs, einen Hund, der nach Aussage
böswilliger Zungen eine Kreuzung aller kleineren Hunderassen sein soll
und dessen Rute dieselben heimtückischen Verleumder der überraschenden
Aehnlichkeit halber mit dem geringelten Schweiferl eines Schweines
vergleichen, eine blauäugige Angorakatze, eine Schildkröte, drei
Kanarienvögel, die ich sämtlich als Männchen kaufte und die sich
unbegreiflicherweise bei mir in Weibchen verwandelten, einen Igel, eine
alte Henne und eine Anzahl Küchenschabeneinwanderer mein eigen. Mein Name
-- lieber Leser erschrecke nicht! -- ist Katherina Schulze. Mama nennt mich
Ina, weil dies ein wenig aristokratisch klingt, meine Schwester Jenny ruft
mich Käthe, doch in vertraulichen Momenten immer nur Kater, wogegen ich
mich schon oft energisch aufgehalten habe. Umsonst! Jenny behauptet,
daß wir zusammenpassen wie der Schuh zum Stiefelknecht. Meine Verwandten
bezeichnen mich als den »verlorenen Sohn«, obschon ich taufscheinlich
nachgewiesen eine Tochter bin, und dies einzig und allein, weil ich die
oben angeführten Reichtümer schnöde verlassen habe, um in der Fremde an
Alter und Weisheit zuzunehmen.

Man sagt: »Jung war der Teufel sauber« und jung war ich natürlich auch
einmal, und das ist wohl der einzige Anspruch, den ich auf Schönheit
machen konnte. Leser, nun weißt du alles! Wie ich bin und wie es mir
erging, wirst du erfahren, wenn du dich bemühen willst, mich auf meiner
Reise durch das Reich der Vergangenheit zu begleiten.

       *       *       *       *       *

Dem Kühnen gehört die Welt, das habe ich mir immer vorgehalten. Wer
nicht über die engen Grenzen des ihm ursprünglich eingeräumten Horizonts
hinauszudringen versucht, wer nie in die Tiefen des Lebens hinabsteigt, und
wer nie die Erde verläßt, um im Geiste höhere und reinere Regionen zu
durchschweben, der hat zwar auch gelebt, aber doch nur wie eine Seidenraupe
in ihrem Kokon. Leben ist die Erforschung des noch Unbekannten. Das kleine
Kind, das zum erstenmal auf allen Vieren um den Tisch kriecht, erforscht
die Welt ebenso sorgfältig und bereichert sein Wissen verhältnismäßig
ebensosehr, wie der große Gelehrte, der seine Forschungsreise um den
größeren Tisch, die Erde, macht. Das Erforschen bringt aber auch oft
Gefahren mit sich -- so ein auf allen Vieren gemütlich hinkriechender
Forscher kann auf eine im Teppich verborgene Schere stoßen, kann seine
Händchen und Beinchen in allerlei unliebsame Berührung mit Ecken und
Kanten bringen, kann seine Weichteile mit Näh- und Stecknadeln spicken,
sich die Stirn gegen manch ein unvorhergesehenes Hindernis schlagen, kann
plötzlich durch einen herabfallenden Gegenstand unsanft getroffen, kann
sonst noch von unzähligen Abenteuern und Leiden heimgesucht werden,
und dem Forscher, der gelernt hat sich seiner zwei Beine statt der
ursprünglichen vier Körpervorsprünge oder Auswüchse zu bedienen, ergeht
es oft auch nicht um ein Haar besser, mit dem einzigen Unterschied, daß
bei ihm nicht nur der Körper, sondern auch noch Geist und Charakter in
Mitleidenschaft gezogen werden. Das muß nun freilich in den Kauf genommen
werden, denn wie gesagt: Wer nichts wagt, gewinnt nichts.

Ich selber bin das menschgewordene Fragezeichen, wenn es sich um neue Dinge
handelt, vorausgesetzt, daß diese nicht die Mode betreffen, denn gegen
Erörterungen dieser Art habe ich eine unüberwindliche Abneigung. Diesem
Triebe meines Wesens, immer neue Sachen kennenlernen zu wollen, verdanke
ich die schönsten und auch die bittersten Stunden meines Lebens,
denn wurde ich für meine Bemühungen oft reich belohnt, so blieb mir
andrerseits Leid häufig nicht erspart.

In den drei Jahren, während denen ich ähnlich unserem Freund Ahasverus
von Ort zu Ort gezogen bin, habe ich vieles Schöne in mich aufgenommen,
viele Nationen und Rassen kennengelernt und die Verschiedenheiten ihrer
Charaktere und Anschauungen mit großem Interesse studiert. Durch das
Geschick begünstigt, dem ich durch meine Beharrlichkeit nachhalf, lernte
ich Japaner und Indier kennen, von denen ich viele aufrichtig bewunderte,
obschon sie oft sehr -- aber sehr -- verschieden von uns waren.

Da ich auch Neger mit Lippen wie die einladendsten Frankfurter Würstel
kannte, dachte ich mir mit Recht, daß ich alles aufbieten müsse, um auch
noch Chinesen in den Kreis meiner Bekannten einzureihen, auf daß diese mit
ihrer uralten Kultur mir neue Horizonte eröffnen würden.

Für mich ist ein gefaßter Entschluß auch schon Tat. Nicht zehn
Minuten später warf ich einen Brief an den Sekretär eines chinesischen
Studentenvereins in den roten Schlund eines einladenden Londoner
Briefkastens.

Ich hatte den Sekretär ersucht, die Mitglieder des Vereins zu fragen, ob
jemand geneigt wäre, eine moderne Sprache in Austausch für Unterricht
im Chinesischen zu lernen. Glücklicherweise hatte ich eine gute Auswahl
Sprachen auf dem Lager.

Als ich am folgenden Tage, einem Sonnabend, um zwei Uhr vom Amt heimkehrte,
lag ein Brief für mich auf dem Hutständer in der Halle. Ich riß
ungestüm den Umschlag auf und hatte die Genugtuung, zu lesen, daß
ein gewisser, hochbegabter Chinese namens Hoang-Zo sich zum Tausch
bereiterklärte, da er italienisch lernen wollte. »Du bist doch ein ganzer
Kerl, Katherina Schulze!« sagte ich mir. »Jetzt hast du sogar einen
Chinesen -- leider wahrscheinlich nur einen unbezopften, was natürlich den
Wert verringert, aber immerhin einen waschechten Chinesen erangelt.« Die
Adresse des unvergleichlichen Studiosus lag bei.

Allerdings war ein Wermutstropfen in dem Nektar -- der Sekretär redete
mich mit »Herr« an, und ich fürchtete nun, daß der angehende Gelehrte
mir den Laufpaß geben würde, sobald er sich über mein Geschlecht im
klaren war. Hoffend, daß der Einfluß des Westens die angeborene und
anerzogene Verachtung der Weiber einigermaßen gemildert hatte, teilte ich
ihm nebst meinen Freistunden auch die bedauerliche Tatsache mit, daß mich
die Sünden in meiner vorigen Inkarnation dazu verdammt hatten, in der
gegenwärtigen als Mädel herumzulaufen, und bat ihn gleichzeitig, von
dieser traurigen Verwandlung keine weitere Notiz nehmen, sondern mich ganz
als Mann betrachten zu wollen.

Die Antwort ließ nicht auf sich warten -- er vergab mir großmütig mein
Geschlecht und versprach, mich um drei Uhr nachmittags zum Tee abzuholen.
In England ist es Brauch und Sitte, daß ein Herr eine Dame zum Tee
einlädt, den er mit ihr in irgendeinem der zahlreichen, oft sehr hübschen
Teehäuser, wo möglicherweise sogar die Musik spielt, einnimmt. Aber ich
hatte damals noch einige verzopfte Ideen aus der Heimat mit, denen zufolge
man nie etwas von einem Mann annehmen darf, wenn er nicht weißes Haar oder
eine Frau mit mindestens sechs Kindern, womöglich gar beides hat, und ich
wußte mit Bestimmtheit, daß Mr. Hoang-Zo kein weißes Haar hatte. -- Die
Frau mit den sechs Kindern konnte er nun freilich haben, da man in China
oft schon mit 15 Jahren heiratet, aber andrerseits konnte ich nicht gut
unsre Bekanntschaft mit der heiklen Frage eröffnen:

»Bitte, wie viele Kinder haben Sie schon?«

Zur festgesetzten Stunde klingelte es. Ich öffnete selbst und nicht ohne
gehöriges Zähneklappern die Tür, da meine Hausfrau, eine mit Speck und
Kindern reich gesegnete Italienerin, immer eine Viertelstunde brauchte,
bevor sie aus den unteren Küchenregionen angepustet kam. Vor mir stand ein
bartloser junger Mann, etwa einen halben Kopf größer als ich selbst
(mich hat der liebe Herrgott sehr kurz zugeschnitten), von blaßgelber
Gesichtsfarbe, etwa wie eine im Eintrocknen begriffene Zitrone, die in der
Farbennuance zwischen gelb und braun schwankt, mit merkwürdig zwinkernden
Augen -- eine Folge sehr großer Kurzsichtigkeit --, die mich durch
festsitzende Augengläser musternd betrachteten, und über die sich kaum
sichtbar schwach gezeichnete Augenbrauen wölbten. Nase hatte er keine,
besser gesagt keine vollständige Nase nach europäischen Begriffen, da
die beiden geschlitzten Augen nicht durch ein kleines Vorgebirge getrennt,
sondern durch eine Tiefebene verbunden waren. Ihm einen Zwicker anzutragen,
wäre die bitterste Ironie gewesen. Sein Lächeln dagegen, das zwei Reihen
kleiner, schneeweißer Zähne sehen ließ, war äußerst gewinnend, wenn es
auch, wie ich später lernte, nur selten aufrichtig gemeint war.

»Mister Hoang-Zo?« sagte ich, indem ich die Tür hinter mir ins Schloß
fallen ließ.

Er verbeugte sich leicht und nannte meinen Namen. Seite an Seite schritten
wir dahin, und ich kam zu der Ueberzeugung, daß Chinesen nicht so
sehr verschieden von anderen Sterblichen waren, besonders wenn sie in
europäischer Kleidung waren und keinen Zopf trugen.

In Russell Square fanden wir eine Teestube und saßen bald gemütlich, von
Kuchen umgeben, in einer Ecke, während vor uns der Tee aus der braunen
Kanne dampfte. Eigentlich war es meine Aufgabe als Dame, den Tee
einzuschenken, aber ich war froh, daß er mir diese Arbeit abnahm, und fand
es auch ganz in der Ordnung, daß er sich an die chinesische Sitte hielt
und sich immer zuerst bediente.

Alle Scheu war unglaublich rasch von mir gewichen. Ich hatte das Empfinden,
als wären wir alte Bekannte, und als ich dessen erwähnte, entgegnete er
lächelnd, daß wir uns wahrscheinlich in der vorigen Inkarnation schon
gekannt hätten, was mich innerlich wundern machte, ob ich vielleicht einst
ein Chinese gewesen.

Wir sprachen über die Philosophie des Weisen Konfuzius, über die
Lehren des Taoismus, über den großen Denker Chuang-Tse, über die
Verschiedenheit in den philosophischen Anschauungen des Ostens und des
Westens, über das Für und Wider der Unsterblichkeit der Seele und
ähnliche Fragen, die mich außerordentlich interessierten und über die er
glänzend sprechen konnte. Sein Englisch war beinahe akzentfrei und seine
Konversation verriet umfassendes Wissen nebst scharfer Urteilskraft.

Endlich wurde beschlossen, daß ich jeden Sonntag nachmittag zu ihm kommen
würde, wo er von mir italienisch, ich von ihm chinesisch lernen wollte.
Darauf reichten wir uns wie uralte Freunde die Hände, ich dankte noch
einmal für den Tee und den in Aussicht gestellten Unterricht, und so
schieden wir.



    »Wenn du nehmen willst,
    mußt erst du geben.«

      Lao Tse.

II.


Ausgerüstet mit einem gelben Heft -- die passendste Farbe für Notizen auf
Chinesisch -- stand ich am folgenden Sonntag pünktlich wie der Tod beim
dritten Glockenschlag außerhalb der kleinen Cottage in Highbury, wo
Mr. Hoang-Zo zurzeit wohnte. Auf meinen Druck auf die elektrische Klingel
kam niemand, als ich aber den Türklopfer mehreremal unsanft auf die
Bronzeplatte fallen ließ, erschien eine weißbeschürzte Fee, die mich
eine teppichbelegte, sehr schmale Treppe hinaufgeleitete und mich in ein
Zimmer schob, an dessen Tür sie zweimal vergeblich gepocht hatte.

»Mister Hoang-Zo wird gleich kommen,« versicherte sie mir, und damit
verschwand sie, wahrscheinlich, um ihn zu suchen. Ich benützte die
Gelegenheit und ließ meine Blicke durch den kleinen und oberflächlich
möblierten Raum schweifen, der jedenfalls einen Salon vorstellen wollte
-- beim Wollen blieb es indessen. Was aber auf mich einen so überaus
anheimelnden Eindruck machte, das war keineswegs die Aussicht auf einen
kleinen Garten mit einigen Obstbäumen ohne Obst, sondern die geradezu
beispiellose, künstlerische Unordnung, die mir sofort kundtat, daß
Mr. Hoang-Zo eine mir verwandte Seele war, denn was Unordnung anbelangt,
so kann ich darin Erstaunliches leisten. Bücher lagen auf und unter dem
Tische, auf dem Kaminsims, auf dem Fensterbrett, auf den Gestellen, auf den
halbgeöffneten Koffern und Kisten, hinter den Stühlen und auf denselben.
Bücher und Papiere sahen neugierig aus den halbgeschlossenen Laden,
grüßten freundlich hinter der verstaubten Kohlentrommel hervor und fielen
bei der geringsten Erschütterung des Terrains dem Eintretenden einladend
zu Füßen. Tonangebend waren vor allem und überall Bücher, aber hie und
da wurde die übergroße Weisheit wohltuend durch ein Paar Hosen oder ein
Paar Schuhe abgeschwächt.

Als sich meine Augen genugsam an diesem seltenen Bilde geweidet hatten, kam
Hoang-Zo, dem es augenscheinlich nicht behagte, daß meine Augen soeben mit
Interesse ein Taschentuch betrachteten, das aus unbekannten Gründen zum
Tintenwischer erniedrigt worden war.

»Ich weiß nicht, wie lange ich hierbleiben werde,« sagte er schnell,
»und daher habe ich auch nicht auspacken wollen.«

Ich konnte ihm nachfühlen -- ich selbst packte auch nie aus, sondern
fischte im Koffer so lange herum, bis das Unterste nach oben kam und ich
das augenblicklich Gewünschte erschnappt hatte.

Sowohl als Lehrer als auch als Schüler war er musterhaft. Er faßte sehr
schnell auf, erriet die Bedeutung unbekannter Worte aus dem Zusammenhang,
las mit Aufmerksamkeit und lehrte mich mit Geduld und viel Geschick.

Zwischen den beiden Stunden brachte die Dienerin jedesmal den Tee, und
Hoang-Zo forderte mich auf, daran teilzunehmen. -- Er schien die Lage der
chinesischen Frauen für gar nicht so schrecklich zu finden als sie uns
hier dünkt. Heutzutage gab es viele Schulen für Mädchen, die Füße
wurden ihnen nicht länger verkrüppelt, sie lernten oft sogar fremde
Sprachen und wurden, seiner Ansicht nach, von den Gatten gut behandelt.

»Wirklich?« fragte ich etwas ungläubig.

»Gewiß,« entgegnete er. »Auch der chinesische Gatte liebt seine Frau,
aber allerdings ist uns Ritterlichkeit gegen die Anhängerinnen des zarten
Geschlechts unbekannt,« fügte er hinzu.

Als dieses Gespräch stattfand, mochte ich etwa drei oder vier Wochen
seine Schülerin gewesen sein. Ich dachte einige Augenblicke über seine
Bemerkung nach und sagte dann aus der Tiefe meiner Ueberzeugung heraus:

»Ja, es muß schrecklich für eine Europäerin sein, sich in diese
Verhältnisse einzuleben,« und mit einem entschuldigenden Lächeln für
unsere Schwäche fügte ich hinzu: »Wir sind so gewöhnt, daß ein Mann
uns mit dem Anlegen eines Mantels hilft, uns die Tür öffnet und so
weiter, obschon wir es ja ebensogut selbst tun könnten.«

»Das ist selbstredend Ansichtssache,« meinte er.

Als es Zeit zum Aufbruch wurde, war ich überrascht, zu bemerken, daß er
mir in den Regenmantel half und mir die Tür angelweit aufriß. Erst als
ich wieder auf der Gasse stand, erinnerte ich mich meiner unbedachten Worte
und ärgerte mich, daß ich, ohne zu wollen, etwas gesagt hatte, was er
möglicherweise als eine Zurechtsetzung empfunden. Ich nahm mir vor, in
Zukunft besser aufzupassen.

Da ich den Vorzug hatte, sehr viele nette Asiaten -- zumeist Indier und
Japaner -- zu kennen, fragte ich ihn eines Tages in der Teepause, wo sich
unsere Konversation um alles erdenkliche drehte, ob er eine Ehe zwischen
Asiaten und Europäern für angezeigt hielt.

»Zwischen den südlicheren Nationen Europas und Chinesen dürfte es ratsam
sein, da sowohl der Charakter als auch das Aeußere -- die dunklen
Augen, das dunkle Haar und der dunklere Teint -- mehr zusammenpassen.
Mit Germanen, Skandinaviern oder Engländern wäre dies indessen weniger
angezeigt, da Kinder solcher Ehen oft ein unangenehmes Aussehen haben --
sehr oft grellrotes Haar und wasserblaue Augen zu einem dunklen Gesicht,«
entgegnete er mit seinem unergründlichen Lächeln, von dem ich nie wußte,
ob es Spott, Wohlwollen oder herablassende Nachsicht ausdrücken sollte.

»Und sind solche Ehen glücklich?« fragte ich und sperrte meine Augen
erwartungsvoll auf.

Wieder spielte das geheimnisvolle Lächeln um seinen bartlosen Mund.

»Das kann ich leider nicht sagen -- ich war noch mit keiner Europäerin
verheiratet und glaube überhaupt, daß es schwer ist, glücklich zu werden
-- für manche Charaktere wenigstens,« fügte er nachdenklich hinzu.

»Der Mensch betrachtet wohl alle Mädchen als eine unnütze Last der
Erde,« dachte ich mir, als ich mich wieder über das gelbe Heft neigte und
langsam buchstabierte:

»=Ni s' Tsungo jen=,« was »Sie sind ein Chinese« bedeuten soll.

Wenn ich damals gewußt, wenn ich nur entfernt geahnt hätte -- aber die
Binde der Unwissenheit verhüllte meinen Geist, und noch jetzt glaube ich,
daß es ein Segen war.



    ›Verlassen, verlassen, verlassen bin i!‹

      (Oesterreichisches Volkslied.)

III.


Hoang-Zo war nach Paris gereist, wo er einige Wochen studieren wollte,
und wo er sich um die Braut eines nach China zurückgekehrten Freundes
zu kümmern hatte. Er schrieb mir einige sehr humoristische Karten, aus
welchen keineswegs allzu großes Entzücken hervorklang, stellte seine
Ankunft in London um Mitte November fest und empfahl mir mehrere gute Werke
über die Philosophie des Ostens.

Auch für mich hatten die Winterfreuden meines Exils begonnen. Ein ganz
besonders nebelreicher Herbst war angebrochen, und in den Zimmern war es so
ungemütlich wie nur möglich.

Ich war in den verschiedensten Boarding-Houses gewesen, aber nachdem ich
allerlei schlechte Erfahrungen bezüglich Gesellschaft und Kost gemacht,
entschloß ich mich, nur ein Zimmer zu mieten und mich selbst zu
beköstigen. Im Anfang verlegte ich mich, da ich im glücklichen Besitze
eines Spiritusherdes war, auf so hochgehende kulinarische Leckerbissen wie
Makkaroni, aber da diese die leidige Angewohnheit hatten, gerade wenn ich
mit etwas anderem beschäftigt war, über den Rand der Pfanne zu gucken und
Ausflüge auf den Boden zu machen, und weil sie andrerseits sich oft darauf
steiften, daß ein Teil von ihnen hart blieb, der andere aber höchst
zuvorkommend schon zerfiel, bevor er den Teller erreichte, gab ich es auf.
Ich versuchte es mit Eiern, und auch da war alles »gut Glück« und nicht
Wissen. Am sichersten waren hartgesottene Eier, denn wenn sie einmal hart
waren, konnten sie natürlich nicht weicher werden, aber die weichgekochten
und von mir vorgezogenen Eier, die waren eine Quelle der Enttäuschung für
mich. In die große Pfanne, ich hatte nur eine, da ich als »ewiger Jude«
nicht eine Kücheneinrichtung mit mir schleppen wollte, gingen sie sehr
gut, aber heraus wollten sie nicht. Ich fischte und fischte mit dem
Teelöffel nach dem Ei, meist so lange, bis das Ei hartgesotten war, einmal
mit dem Erfolg, daß ich es wirklich herausbrachte und sogar mit Schwung an
mir vorbei und auf den Boden, wo es sich als Eierspeise servierte, und
beim letzten Male meiner Eierkochversuche sprang das Ei davon, das siedende
Wasser über meine Hände und Kleider und die treulose Pfanne auf meine
Füße, während der Spiritus in voller Flamme diese Gelegenheit benützte,
sich an meinem Rockzipfel schadlos zu halten. Ich schrie wie am Spieß und
habe seit jener Zeit nur mehr Tee gekocht. Dabei wagt man wenigstens nicht
sein Leben.

Um auf die Wärmevorrichtung meines Gemachs (Loch scheint mir indessen
zutreffender) zurückzukommen. Ich hatte einen offenen Kamin in meinem
Zimmer, wie sie in England gang und gäbe sind, an welchem man sich auf
der einen Seite rösten kann und auf der anderen erfriert, ausgenommen
man dreht sich wie ein Kreisel die ganze Zeit um die eigene Achse. Als ich
jedoch die ersten Heizversuche unternahm, bemerkte ich zu meiner Freude,
daß eine dichte Rauchwolke die Luft verpestete, und als meine Rufe die
dicke Hausfrau alle Stockwerke heraufgebracht hatte, erklärte sie mir mit
dem Gleichmut, der diese Klasse weiblicher Wesen auszeichnet, daß sich
der Kamin nur heizen ließe, wenn der Wind aus einer bestimmten Richtung
bliese. Die für ihn passende Richtung habe ich nie herausgefunden --
wahrscheinlich ist sie in der Windrose nicht zu entdecken. Sie tröstete
mich damit, daß der Rauchfang des Hauses an meiner Wand vorübergehe und
ich es daher immer hübsch warm haben werde. Hübsch hatte ich es dort nie,
und warm noch weniger, aber im weitesten Sinne hatte sie recht. Dank dem
Schornsteine und dem milden englischen Klima überstand ich den Winter
lebendig, aber man darf sich nicht wundern, wenn ich unter solchen
Umständen alles aufbot, so wenig wie möglich daheim zu sein. Scherzend
sagte ich oft zu meinen Kollegen:

»Wenn ich nicht eine so große Abneigung gegen das Heiraten hätte, würde
ich mir wirklich einen Mann nehmen, um eine Häuslichkeit zu haben.«

»Und wer würde kochen?« fragten sie mich.

Ich dachte an meine mißglückten Kochversuche und meine Abneigung gegen
derlei Beschäftigungen.

»Er natürlich.«

»Und Strümpfe stopfen und so weiter?«

»Auch er,« entgegnete ich lachend.

»Und Geld verdienen, wer soll das?«

»Ich!« Dazu allein war ich gern bereit. Ich verdiente sehr viel mit
meinen Sprachkenntnissen -- ihnen verdankte ich auch meine Anstellung beim
Amt --, aber für andere Sachen war ich so untauglich wie möglich.
In meinen Interessen, meinen Fähigkeiten, meinen Tugenden und meinen
Untugenden war ich Mann -- meine Kleidung und mein Körperbau verdammten
mich zur Mädchenexistenz mit allen ihren Schattenseiten. Das war auch der
Hauptgrund meines freiwilligen Exils. Mama und Jenny konnten mich nicht
verstehen, und erstere sagte immer:

»Du bist so ganz anders wie alle anderen Mädchen!«

Jenny konnte sich vor dem Spiegel drehen, konnte an einer Schleife fünf
Minuten lang zupfen, um sie in die vorteilhafteste Lage zu bringen, konnte
das schönste Buch aus der Hand werfen, sobald das neue Modeblatt gebracht
wurde, und fand nichts ergötzlicher, als im Stadtpark zu den Klängen der
heimischen Kapelle im besten Kleide auf und ab zu gehen und allen Leuten
zuzunicken, -- dem ein wenig tiefer und diesem etwas oberflächlicher,
dieser Dame mit einem Lächeln und jenem Herrn mit Grabesmiene, ganz wie
Mama es vorgeschrieben hatte. Mir kam nichts geisttötender vor.

Oder wir gingen ins Theater. Um drei Uhr nachmittags verschwanden Mama und
Jenny vollständig von der Erdoberfläche, und um sieben Uhr kamen sie,
zwei schöne, sehr geschmackvoll frisierte und tadellos gekleidete Damen,
jede mit einem Triumphlächeln auf den Lippen, zu mir ins Zimmer, aber ein
Blick auf mich ließ sie beinahe bewußtlos werden, und ich bin überzeugt,
daß nur der Gedanke an die große Arbeit bei ihrer vierstündigen
Vorbereitung sie davor rettete.

»Käthe!!! Du bist ja noch nicht angezogen!« rief Mama, als ob die Welt
aus den Angeln gegangen wäre.

»Ich gehe, wie ich bin,« erwiderte ich ruhig.

»Ein junges Mädchen in dunkler Seidenbluse -- unmöglich!« warf Mama
ein.

»Warum nicht?« fuhr ich gelassen fort. »Mir steht dunkelblau besser als
alle die allzu lichten Farben, und ich fühle mich wohler darin.«

»Käthe,« mischte Jenny, damals kaum fünfzehn Jahre alt, in das
Gespräch, »ich will nicht mit dir gehen, wenn du nicht anders gekleidet
bist.«

Oft blieb ich nach solchen Auftritten zu Hause, da mir alle Lust an der
Aufführung vergangen war. Manchmal kleidete ich mich verdrießlich in
irgendeine dreifarbige, meiner Ansicht nach geschmacklose Bluse, zuzeiten
ging ich wie ich war und ließ die beiden schimpfen, aber da ich mir wohl
bewußt war, wie wenig ich in den heimischen Rahmen paßte, und da ich mich
daheim ebenso einsam fühlte, wie später in der kalten, weiten Welt, so
habe ich nie bedauert, den Flug in die Welt begonnen zu haben.

Ich habe einzig verstehen gelernt, daß Männer, die ihr Leben lang als
Junggesellen herumgewandert sind, eine Häuslichkeit als Krone des
Glücks betrachten, und nicht umsonst, wahrlich nicht umsonst! Aber um ein
vollkommenes Bild, eine seelisch schön abgetonte Wiedergabe eines Menschen
zu geben, bedarf es nicht nur eines Rahmens, meinetwegen eines reichen
Rahmens -- nein, es ist nötig, daß der Rahmen paßt, daß er das
Bild hervortreten läßt und es nicht zur Fratze herabstimmt.
Durchschnittsmenschen schaffen sich leicht einen passenden Rahmen oder
passen auch schnell in irgendeinen Rahmen hinein, die anderen, doch -- ich
will nicht philosophieren.

Der Monat November sowie der zurückgekehrte Chinese Hoang-Zo fanden mich
tief in allen Winterwiderwärtigkeiten steckend, die durch die Tatsache,
daß der junge Gelehrte jetzt keine Zeit hatte, die Stunden fortzusetzen,
wahrlich nicht vermindert wurden. Eines Abends, als wir uns im Nebelmeer
begegneten, fragte er mich, ob ich nicht so freundlich sein wollte, einen
jungen Chinesen -- kaum ein- oder zweiundzwanzig Jahre alt -- als Schüler
für Deutsch und Französisch zu übernehmen. Ich willigte sofort ein --
war nicht alles besser als das fürchterliche Daheimsitzen in einem kalten,
ungemütlichen Zimmer?

»Er ist aber sündhaft dumm!« sagte Hoang-Zo, »und ich muß Sie bitten,
eine Bezahlung für die Stunden anzunehmen, denn an einen Austausch ist bei
dem Menschen nicht zu denken. Eigentlich schäme ich mich,« fuhr er fort,
»Ihnen so ein trauriges Exemplar meiner Landsleute zu überlassen, aber
Sie scheinen mir besonders geeignet, ihm etwas beizubringen -- wenn sich
ihm etwas beibringen läßt,« setzte er bekümmert hinzu.

»Wir können es ja versuchen,« erwiderte ich lächelnd. Wir bestimmten
daher die Preise, und nur wenige Tage später erhielt ich einen mit Fehlern
gespickten Brief meines neuen Schülers, der mir seinen Besuch für den
darauffolgenden Sonntag in Aussicht stellte.

Der Sonntag kam und ging, ohne Mr. Ming Tse zu bringen, wohl aber fand
ich Montag früh eine Karte vor, auf der er sich entschuldigte und mir
versicherte, die Gasse nicht gefunden zu haben.

»Findet das Hascherl nicht einmal eine Gasse wie Guildford Street!«
Ich seufzte unwillkürlich auf. Und so einem Menschen sollte ich mit
dem Nürnberger Trichter die Weisheit einpumpen -- gewiß ein recht
zweifelhaftes Vergnügen.

Der zweite Brief oder besser die zweite Karte war von Hoang-Zo. Er bat
mich, seinem Schützling Montag abend die erste Stunde zu geben und fügte
hinzu, daß Ming Tse kaum fünf Minuten von der Endstation der Hampstead
Elektrischen wohne. Name der Gasse und Hausnummer ersah ich aus Mr. Ming
Tses Karte.



    »=Our deeds our angels are, or good or ill,
    Our fatal shadows that walk by us still.=«

      =Beaumont & Fletcher.=

IV.


Es war ein feuchtkalter Wintertag. Seit einer Woche hatte Sankt Peter
die Schleusen des Himmels geöffnet, und heute hatten wir nebst feinem,
durchdringendem Regen auch noch einen jener berüchtigten Londoner Nebel,
der schon lange, bevor es Nacht wurde, alle die triefenden Häuser und
die schmutzbedeckten Gassen den Blicken der Menschheit entzog. Selbst
die Elektrische, in der ich saß, schien mir trotz der vielen
Beleuchtungskörper düster, da der Nebel sich in großen Wellen durch den
langen Wagen dahinrollte, voll unerlaubter Neugierde bei Mund, Nase und
Ohren in das Innere der Reisenden hinabkletterte, sich zärtlich an den
weißen Halskragen und die tadellosen Manschetten der Zylinder tragenden
Herren schmiegte und das ursprüngliche Weiß meiner Bluse in ein
bescheidenes Grau verwandelte.

»Hampstead!« rief der Schaffner vom anderen Ende. Mit einem Ruck riß
ich meine Habseligkeiten -- zwei Bücher und die Handtasche -- an mich und
stürzte mich kühn in die auf und nieder wogenden Nebelfluten, die mich
schon nach wenigen Augenblicken vollständig verschlangen.

Die Gasse -- das Endziel meiner Wanderung -- war die zweite zu meiner
Rechten und führte steil abwärts. Der gedämpfte Schein einer
Straßenlaterne ließ mich wohl die Vorgärten der Villen unterscheiden,
doch wäre es eine Unmöglichkeit gewesen, die Hausnummer abzulesen. Ich
öffnete daher eine der kleinen Gartenpforten und ging dicht an das Haus
heran, um die Nummer auf der erleuchteten Scheibe der Haustür entziffern
zu können.

»Nummer 22,« sagte ich halblaut, ging zurück und schloß die Pforte
wieder, dann tastete ich mich vorsichtig an den Vorgärten entlang und
zählte die Nummern, bis ich Haus 18 erreichte.

Während ich unter der Loggia stand und wartete, daß mein Klingelzeichen
irgend jemand zur Tür brachte und ich das Muster auf der Glasscheibe --
Pfirsichblüten und Früchte -- studierte, war mir doch etwas ängstlich
zumute. Den ersten Chinesen hatte ich um drei Uhr nachmittags an einem
klaren Sommertage kennengelernt, jetzt war es Abend, Winter und -- ich
schüttelte das unangenehme Gefühl ärgerlich ab. Der neue Schüler sollte
ja noch ein wahres Kind sein, und ein Kirchenlicht war er entschieden
nicht, wenn also jemand zittern sollte, so war es gewiß er und nicht ich.

Die Tür wurde von einem Stubenmädchen geöffnet, und ich drückte die
Bücher unwillkürlich fester an mich, als ich fragte:

»Mister Ming Tse zu sprechen?«

»Mister Ming Tse speist soeben, wird aber sofort kommen,« sagte das
Mädchen und stieg vor mir die Treppe empor. Im ersten Stock machte sie
halt, und indem sie eine Tür öffnete und mich eintreten ließ, trat sie
zurück und verschwand.

Ich stand in einem kleinen, geschmackvoll möblierten Salon, in dem alles
von peinlichster Sauberkeit sprach -- jedenfalls waren nicht alle Chinesen
Feinde der Ordnung wie Hoang-Zo. Aus dem Kaminsims waren eine Anzahl
ausgezeichneter, schön gebundener Bücher in strammster Ordnung
aufgestellt, ganz wie eine Abteilung Soldaten, von denen keiner einen
Millimeter von der Linie abweichen darf. Im Kamin selbst brannte ein Feuer,
zum Schrecken einer geizigen Hausfrau und zum Entzücken einer erfrorenen
Seele, wie ich selbst; ich fühlte auch gleich, daß mein Wohlbefinden
zunahm. Auf den kleinen Nipptischchen standen Vasen mit frischen Blumen
zierlich geordnet, auf den Stühlen lagen reich gestickte Polster, nette
Zierdeckchen waren, wo tunlich, vorteilhaft angebracht. Die Wände wiesen
viele Photographien, meist von Chinesen in europäischer Kleidung, auf,
aber ein Bild an der Wand zeigte vier Personen in chinesischen Trachten und
schien Frauen vorzustellen. War mein neuer Schüler am Ende der glückliche
Besitzer eines Harems oder doch einer Frau?

Ein leichtes Geräusch hinter mir machte mich umsehen. Vor mir stand eine
menschliche Miniaturausgabe, ein zartgebauter kleiner Chinese, der gewiß
nicht um ein Haar größer war als ich -- innerlich schmeichelte ich
mir sogar, daß ich vielleicht um einige Haarbreiten mehr maß --, in
tadellosem europäischem Anzuge und verbeugte sich vor mir mit einer
Grazie, die ich vorher noch bei keinem Asiaten und nur bei wenigen
Europäern gesehen hatte. Für diese Art Aeußerlichkeiten bin ich ungemein
empfänglich.

»Herr Ming Tse?«

»Fräulein Schulze?«

Wir reichten uns gegenseitig die Hände, lächelten beide, und die
Verbeugung wiederholte sich.

»Ich freue mich, Sie als Schüler begrüßen zu können,« sagte ich
in Ermangelung von etwas Besserem, »und hoffe, daß Sie stets fleißig
studieren werden.«

Ming Tse legte ein überaus feierliches Versprechen ab, immer
fleißig arbeiten zu wollen, schob den allerschönsten Polster auf den
allerbequemsten Stuhl des Zimmers, rückte ihn an den Tisch und lud mich
ein, Platz zu nehmen. Diese Aufmerksamkeit entging mir nicht.

Auf dem Tische lagen Bleistifte, Federn, Federstiele, Lineale, Papiere und
Bücher auch wie die Soldaten geordnet da. Er nahm nicht wie alle
meine sonstigen Schüler an meiner Seite Platz, sondern setzte sich mir
gegenüber an das entgegengesetzte Ende des Tisches, und da merkte ich
auch, daß sowohl Bücher, Bleistifte, Federn und selbst die Tintenfässer
doppelt vorhanden waren, so daß kein Austausch dieser Artikel zwischen
Lehrer und Schüler stattfand.

Während ich seinen Sprachkenntnissen auf den Zahn fühlte, wobei ich
sogleich bemerkte, daß viele Plomben nötig waren, hatte ich Gelegenheit,
ihn näher zu betrachten. Seine Gesichtsfarbe war dunkler als die
Hoang-Zos, man hätte ihn eher braun als gelb nennen können, die scharf
geschlitzten Augen waren halbgeschlossen und nicht wie bei dem Philosophen
zusammengekniffen, aber Gläser trug auch er, die Augenbrauen waren
schwach gezeichnet und hörten schon früh auf. Wimpern fehlten ganz. Das
vollkommene Oval des Antlitzes wurde durch die starken Backenknochen
ein wenig beeinträchtigt, und die etwas dicke Unterlippe sowie die
unregelmäßig stehenden Zähne verunschönten, doch nur unbedeutend, den
Mund, aber dafür erfreute er sich einer ganzen Nase mit gutgebildetem
Nasenrücken, hübsch geformten Nasenflügeln und einer tadellosen
Nasenwurzel, auf der im Notfalle ein Kneifer hätte sitzen können. Das
einzig wirklich Schöne an dem Kopfe war das rabenschwarze, glänzende,
lange Haar, das denselben in reichster Fülle umgab und wie alles, was ihm
gehörte, den untrüglichen Stempel der Ordnungsliebe trug. Nicht ein Haar
-- und viele reichten von der etwas niederen Stirn bis in das Genick --
erlaubte sich Wanderungen auf eigene Faust zu unternehmen, und selbst eine
ungestüme Kopfbewegung veränderte nichts daran.

Sooft er mir ein Papier oder sonst einen Gegenstand reichen mußte, drehte
er ihn immer zuerst so um, wie er mir am bequemsten sein würde, und fragte
mich auch im Verlauf der Stunde, ob mir Wasser erwünscht wäre, was ich
dankend ablehnte. Ich war über diese bei Orientalen so ungewöhnliche
Höflichkeit -- besser Ritterlichkeit, denn höflich habe ich sie mir
gegenüber meist gefunden -- so erstaunt, daß ich mich nicht enthalten
konnte, zu sagen:

»Was für reizende Umgangsformen Sie haben! Wo haben Sie sich dieselben
angeeignet?«

Er lächelte zufrieden -- sein Lächeln war sehr einnehmend, da sowohl
dieses und noch mehr sein Lachen unwiderstehlich zur Nachahmung reizte --
und entgegnete munter:

»Das Benehmen hat mein Vater mit dem Stock in mich hineingeprügelt.«

Die Aufrichtigkeit der Antwort, der komische Gesichtsausdruck meines
Schülers und die neue Situation unterhielten mich dermaßen, daß ich
herzlich lachte, und Ming Tse lachte laut und herzhaft mit. Ich fühlte,
wir waren uns nähergekommen, und fand plötzlich, daß er ja eigentlich
ganz gute Kenntnisse besaß. Mein Gott, man kann von einem Chinesen --
und noch dazu von einem so kleinen Chinesen -- doch nicht Unmögliches
verlangen.

In einem Punkte war er von Europäern sehr verschieden -- er vermied, wie
die meisten Asiaten, jedwede Berührung. Wenn er mir ein Buch reichte,
wenn er mir etwas näherschob, immer sah er streng darauf, daß sich unsere
Hände nicht berührten. Rief ich ihn einer Korrektur halber an meine
Seite, so blieb er in der Entfernung eines halben Meters stehen und
strengte sich übermenschlich an, von dort aus das von mir Gezeigte zu
lesen. Er machte immer einen großen Bogen, sooft er um den Stuhl, auf dem
ich saß, herumgehen mußte, nichts berührte mich als der Blick seiner
schwarzen Augen, aber er sah mich nie geradezu an. Die Lider fielen
beinahe vollkommen herab, und nur aus den Augenwinkeln heraus sah man
etwas Schwarzes blinzeln. Er öffnete die Augen nur, wenn er böse war --
öffnete sie zu ihrer vollen Größe, und da wünschte man nur eins, daß
er sie möglichst schnell wieder schließen würde. Die Gesichtszüge aber
verrieten nie, was im Innern vorging. Alle Asiaten verstehen es, ihrem
Gesicht den Stempel der Unergründlichkeit aufzudrücken, und die
unerschütterliche Ruhe der Maske verändert sich nicht, nicht einmal in
Affekten, nur um die Augen und um den festgeschlossenen Mund legt sich ein
unheilverkündender Zug -- wohl dem, der ihn nie gesehen! Merkwürdig --
Hoang-Zos gemütliches kurzsichtiges Blinzeln hatte mir nie Furcht oder
Grauen eingeflößt, aber die fast geschlossenen Augen meines neuen
Schülers berührten mich unheimlich, wie sehr ich auch gegen dieses
Empfinden ankämpfte. Sie schienen zu erforschen, unausgesetzt zu prüfen,
und ließen ihrerseits keine Prüfung zu. Eine Ahnung flüsterte mir zu,
daß dieses scheinbare Kind ein Buch mit sieben Siegeln war, die zu brechen
nicht leicht -- einem Europäer vielleicht überhaupt nicht -- gelingen
würde.

Der eigentliche Unterricht war vorüber, die Tage und Stunden waren
bestimmt.

Er schob meinen Stuhl zum Feuer, machte eine gebietende Handbewegung, die
mich innerlich furchtbar zum Lachen reizte, und sagte ganz in dem Tone, als
ob ich der Schüler und er der Lehrer gewesen:

»Jetzt werden wir ein wenig miteinander plaudern.«

Das Feuer war viel zu warm, und meine Sehnsucht, auch einmal die Zunge
bewegen zu dürfen, viel zu groß, als daß ich »nein« gesagt hätte. Ich
setzte mich gehorsamst nieder, ließ meine Füße auf dem Feuerschutzgitter
ruhen und fragte:

»Wie gefällt Ihnen Europa?«

»Gut!« erwiderte er in einem Tonfall, der das Gegenteil verriet.

»Wohl sehr verschieden von China, nicht wahr?« fuhr ich fort.

Er taute langsam auf. »Ich kann die europäische Kleidung nicht leiden,«
erklärte er mit Nachdruck.

Das interessierte mich, da meine vorigen Bekannten dessen nicht erwähnt
hatten. »Warum?« fragte ich daher schnell.

»Oh,« kam es langsam von seinen Lippen, während er sich nachdenklich
zurücklehnte und eine Zigarette rauchte, »weil sie so eintönig ist --
immer dieselben Farben für Herren: grau, blau oder schwarz.«

»Und warum noch?« erkundigte ich mich weiter.

»Weil man immer nur Wolle oder Baumwolle verwendet, nie Seide. In China,«
fügte er rasch hinzu, »habe ich immer nur Seide getragen, da hat man auch
seidene Unterwäsche, nicht Fetzen wie hier,« bemerkte er wegwerfend.

»China ist reich an Seide, wir sind es nicht,« warf ich ein.

»Und diese Kragen!« räsonierte er von neuem. »So hart, so unbequem! Nie
kann man sie fest genug machen, und immer sind sie eine Qual, gerade wie
die Manschetten, die steif und unbehaglich die Hand umschließen und in
diesem schrecklichen Lande gleich schwarz sind.«

Ich stimmte zu. Kragen und Manschetten mußten unerträgliche Dinge sein.

»Und die Hosen,« fuhr er fort.

»Ja, aber ohne Hosen können Sie doch nicht leicht umherwandern, nicht
einmal in China,« sagte ich, und wir lachten beide.

»Gewiß nicht,« gab er zu, »aber wir tragen einen Kaftan oder ein so
zugeschnittenes Kleidungsstück darüber und brauchen daher nicht so enge
und strammsitzende Beinkleider zu tragen, die wehe tun. Auch formen unsere
Hosen mit der Weste ein Stück, so daß sie nie hinunterfallen können.«
Er sah mich so bitterböse an, als ob ich der Erfinder europäischer Hosen
gewesen wäre.

»Aber hier fallen die Hosen gewiß nicht leicht herunter,« beeilte ich
mich zu bemerken.

»O ja,« sagte er, ohne freundlicher auszusehen, »das kann geschehen.
In China schneidet man dem Mann den Kopf ab, wenn ihm das passiert,«
versicherte er mir mit Ueberzeugung.

Wenn mich Mama oder Jenny gehört hätten! Sie, die dieses Kleidungsstück
nur mit heiligen Umschreibungen gebrauchten und holdselig erröteten, falls
jemand unbedachtsam das Gespräch auf ein so unanständiges Bekleidungsding
hinlenkte.

»Was kommt Ihnen noch merkwürdig in Europa vor?« fragte ich unverdrossen
weiter, um ihn von den Hosen, die augenscheinlich keinen Beifall in seinen
Augen fanden, abzubringen.

»Der dumme Aberglaube hier!« Dabei blies er eine dichte Rauchwolke gegen
die Zimmerdecke.

»Was dünkt Ihnen Aberglaube bei uns?«

»Alles!« erwiderte er lakonisch.

»Alles?« wiederholte ich ungläubig.

»Alles! Sagen Sie zum Beispiel nicht, daß jemanden der Teufel holen
soll?«

Freilich hatte ich im Herzen oft manch einen unter das Regiment Beelzebubs
gewünscht, noch öfter gern im Pfefferland gesehen, aber gerade als
Glaubens- oder Aberglaubensausbruch -- --

»Das soll man aber eben weder sagen noch wünschen,« warf ich ein, konnte
aber ein Lächeln nicht unterdrücken.

»Das macht nichts,« wehrte er ab. »Sie glauben aber doch« -- und da er
mein Lächeln sah, verbesserte er sich, »Leute glauben aber dennoch,
daß der Teufel existiert.« Nach einer kurzen Pause fragte er beinahe
leidenschaftlich:

»Haben Sie vielleicht schon einmal den Teufel gesehen?«

»Bis jetzt habe ich noch nicht das Vergnügen gehabt, seine Bekanntschaft
zu machen -- es sei denn in der Gestalt einiger meiner Mitmenschen.«

Er lachte. »Viele glauben daran,« fügte er hinzu.

»Und Gott!« sagte er nach einer Weile. »Auch ihn hat niemand gesehen, er
erhört trotz aller Gebete nicht unsere Bitten, nicht unsere Wünsche, das
hat mir schon manch ein Christ gesagt -- das ganze ist Humbug, Bibel und
alles,« beteuerte er.

Ich wußte, daß die meisten Chinesen nach unseren Begriffen sehr
irreligiös waren. Waren auch sie der abstrakten Idee der Gottheit abhold,
so schätzten sie doch unsere moralischen Gesetze, die in Europa durch
die Religion ebensogut wie in China durch die Lehren des Weisen Konfuzius
gelehrt wurden. Meiner Natur lag es fern, bei jemand Bekehrungsversuche
anzustellen. Jeder hatte das Recht, zu denken, was er wollte oder besser,
das, wozu ihn das Beobachten des Lebens gebracht hatte. Ich hatte nie
Sympathie für die Missionäre gefühlt, die ihre Ueberzeugung anderen
Rassen aufzwangen. Für jeden Menschen ist die eigene Anschauung die
entscheidende und die maßgebende, daher beschränkte ich mich auch zu
sagen, daß der Begriff »Gott« ein abstrakter sei, den sich jeder Mensch
nach seiner Individualität auslegen müsse.

Der kleine Chinese schüttelte mißbilligend sein schwarzes Haupt. Wie
ich aus Erfahrung wußte, waren sowohl seine Landsleute wie auch Japaner
abstrakten Begriffen fast gar nicht zugänglich. Der sonst reichen
japanischen Sprache fehlt es sogar vollständig an Ausdrücken für
die meisten abstrakten Begriffe. Auch Konfuzius verliert sich nicht in
metaphysischen Betrachtungen, -- er gibt praktische Ratschläge über den
Umgang mit dem Nächsten, über die Pflichten der Könige, weist auf
die hauptsächlichsten Gesetze der Moral hin, stellt Höflichkeit und
Elternliebe als erste derselben auf und berührt fast nie und da nur
höchst flüchtig Fragen, die Unsterblichkeit der Seele oder die Gegenwart
eines Gottes betreffend.

Lao Tse stellt »Gott« als Naturkraft hin -- das große, ewig in Bewegung
und in Veränderung begriffene Weltall, aus welchem wir auftauchen und in
das zurück wir wieder verschwinden. Die Bewohner des fernen Ostens sind
keine Träumer, lieben es aber oft, auf philosophischem Gebiete solche
Fragen aufzuwerfen und zu erforschen. Ming Tse dagegen war nicht Träumer
-- bewahre! -- und gar nicht philosophisch veranlagt. Er war Materialist
und daher legte er sich den Begriff »Gott« seiner Veranlagung gemäß
kurz und bündig als »Humbug« aus. Ein europäischer Unsinn, das war
alles.

Es war spät geworden, und ich erhob mich, um meine Jacke anzuziehen. Nach
augenblicklichem Zögern kam mir Ming Tse zu Hilfe, stand aber so weit als
möglich von mir entfernt, und faßte meinen Ueberwurf nur beim äußersten
Ende an, ihn, sobald ich nur halbwegs hineingeschlüpft war, sogleich
loslassend und zurücktretend.

Er öffnete alle Türen für mich, begleitete mich die Treppe hinab, fragte
mich ganz väterlich, ob ich wohl imstande sein würde, meinen Weg zur
Elektrischen zu finden, und machte mich noch besonders auf die drei Stufen
aufmerksam, die von der Villa zum Vorgarten führten. Hierauf reichten wir
uns die Hände, und er wiederholte:

»Donnerstag um halb acht, ganz wie heute!«

»Und viel studiert bis dahin!« rief ich lachend zurück.

Wieder umgaben mich die Nebelwolken, doch schienen sie mir nicht so
schrecklich wie vorher. Ich hatte in einem behaglichen Zimmerchen sitzen
und recht munter plaudern können. Er war ja reizend, dieser kleine
Chinese.



    =Lyksalig, lyksalig, hver Sjæl som har Fred,
    Dog ingen kender Dagen för Solen gaar ned.=

      =Dänischer Neujahrspsalm.=

V.


Weihnachten war gekommen und wieder vergangen, der Plumpudding war
verspeist, die Mistelzweige entfernt, die Pantomimen zu Ende gespielt und
die Knallbonbons verknallt worden. Ich hatte die beiden Feiertage wie immer
bei Freunden in Brighton verbracht, bei denen ich immer warme Aufnahme
gefunden.

Am Neujahrsabend war ich in das Ostende Londons, das sogenannte
Verbrecherviertel gegangen, wo nahe der indischen Docks die dänische
Seemannskirche liegt, und dort wohnte ich der Neujahrsfeier bei.

Um Mitternacht schritt ich durch die gefährlichen Gassen des
Chinesenviertels, wo einem vor Lärm fast die Sinne vergingen. Aus allen
Fenstern wurden Knallerbsen geworfen, kleine Pistolen krachten, Feuerräder
wurden geschwungen, Raketen stiegen in die Luft, dazwischen schrien alle
chinesischen Seeleute aus Leibeskräften, die fünffarbige Flagge wehte
mir überall entgegen und rote Papierstreifen mit allerlei chinesischen
Aufschriften waren gleichfalls sichtbar. Der dem Viertel sonst eigene
Schmutz war heute verschwunden, und man konnte sogar Blumen vereinzelt auf
Fenstern bemerken.

Ruhiger war es im nächsten, dem indischen Viertel, wo die Seeleute der
ostindischen Schiffe ihre Seemannsheime hatten und wo man oft Inder in
ihren weiten Trachten und den vielfarbigen Turbans sehen konnte, manchmal
liefen sie auch nur in ein großes Leinentuch gehüllt über die Straße.
Auf den breiten Stufen vor dem Tore saßen oft eine große Anzahl von
ihnen, und schön waren sie, trotz ihrer elenden Fetzen, das mußte man
zugeben. Männliche Erscheinungen, kräftig und finster, mit nachtschwarzen
Augen und langem Barte. So spät waren sie bei dem kalten Wetter
nicht draußen. Heute schliefen gewiß alle, aber als ich am deutschen
Seemannsheim, einem sehr reinlich aussehenden Hause, vorbeiging, hörte ich
Neujahrslieder singen und einige junge Leute standen auf der Steintreppe
und riefen sich »Prosit Neujahr!« zu.

Hier kletterte ich auf eine Elektrische, die überfüllt war und auf der
ich nur rückwärts hängend mitfahren konnte. Wir passierten Commercial
Road mit allen seinen Judengeschäften, Whitechapel mit dem Russenviertel
(lauter arme Unglückliche, die hier Zuflucht gefunden haben) und kamen
endlich nach Aldgate, wo der große Judenmarkt liegt, der jeden Sonntag
ein Bild riesiger Tätigkeit ist. Da hört man fast ausschließlich
Israelitisch und kann vieles um einen wahren Spottpreis kaufen, nur muß
man schäbig gekleidet und sehr vorsichtig sein. Bald waren wir in besseren
Stadtteilen und endlich hielt die Elektrische in Theobalds Road, von wo ich
nur zehn Minuten zu gehen hatte, um nach Hause zu kommen.

Als ich Guildford Street betrat, hörte ich das Läuten der Glocken und
fragte mich, wie wohl das neue Jahr sein würde. Vor jedem Hause standen
Leute mit gefüllten Gläsern in den Händen und grüßten das kommende
Jahr. Ich kam mir wieder so verlassen vor, so ganz verlassen, wie schon so
oft, seit ich nach London mit seiner unwiderstehlichen Melancholie gekommen
war.

Es ist gut, daß wir nicht in die Zukunft blicken können, wie hätten wir
sonst die Kraft, das Leben zu ertragen?

       *       *       *       *       *

Seit sechs Wochen unterrichtete ich nun schon Ming Tse. Er war immer sehr
aufmerksam gegen mich, sehr höflich und -- sehr faul. Wenn ich ihn fragte,
ob er seine Aufgabe gelernt hatte, war die Antwort stets bejahend und der
Erfolg ebenso sicher verneinend.

»Warum haben Sie nicht gelernt?«

»Weil Herr Hoang-Zo hier war und mich daran hinderte.«

»Herr Hoang-Zo hat mir eben heute von Cambridge geschrieben, wo er eine
Woche zu bleiben gedenkt,« entgegnete ich ruhig.

»Weil ich nicht recht wußte, was ich lernen soll,« sagte er, ohne
irgendwie die Fassung zu verlieren.

»Kleiner Schwindler, es steht ja in Ihrem Buche, -- Sie haben es selbst
niedergeschrieben in Ihr Studienheft.«

»Ich konnte nicht entziffern, was dort geschrieben war, habe alles
unrichtig eingetragen,« erklärte er mit halbgeschlossenen Augen und den
unergründlichen Gesichtszügen, mir gegenübersitzend.

Ich nahm das Heft auf, bevor seine kleine Hand es erreichen konnte. Die
Schrift war klar und deutlich, und ich hielt ihm das Blatt lächelnd
entgegen.

»Mister Ming Tse, jetzt würde ich wirklich gespannt sein, die Wahrheit
zu hören, aber bemühen Sie sich nicht, wenn das vielleicht ein zu großes
Opfer ist,« sagte ich ohne irgendwelchen Unwillen zu verraten. Chinesen
lieben es, der Wahrheit so viel als möglich aus dem Wege zu gehen,
sie haben gegen diese Dame eine unüberwindliche Abneigung, und einem
Nationalcharakterzug muß man Rechnung tragen.

Meist gestand Ming Tse sodann auch lachend ein, daß er einfach mit den
Indiern, die im Hause wohnten, die kostbare Zeit verschwätzt hatte,
was ihn aber trotz aller meiner Vorstellungen nicht veranlassen konnte,
größeren Eifer an den Tag zu legen.

»Ich mag nicht studieren,« erklärte er offenherzig.

Seine französische Aussprache hätte jeden Franzosen kopfstehen vor
Entsetzen gemacht und sein Deutsch war gleichfalls unter jeder Kritik,
dafür besaß er in letzterer Sprache einen Wortreichtum, den ich unter
sehr merkwürdigen Umständen entdeckte.

Eines Tages kam ein kleiner Chinese -- ein 15jähriges Bürschlein -- ihn
besuchen, gerade als ich dort war, und da legte Ming Tse einen Eifer an
den Tag, der mich besonders amüsierte. Er stellte selbst Fragen an seinen
Freund und gab allerlei, meist falsche Aufklärungen, aber ich wollte
ihm die Genugtuung, ein wenig protzen zu dürfen, nicht verleiden, da ich
hoffte, daß dies ihn mit einem gewissen Ehrgeiz erfüllen werde in Zukunft
mehr zu leisten. Auf einmal lehnte er sich gravitätisch zurück, sah
herablassend auf seinen Landsmann und teilte ihm mit, daß er nun deutsch
mit ihm reden werde, -- wovon der andere selbstredend keine blasse Ahnung
hatte.

»Wo bist du, mein lieber Esel?« eröffnete er die merkwürdige
Unterhaltung und fuhr unbeirrt fort: »Du Schafskopf, Rindvieh,« und so
weiter, während der kleine Freund ihn voll Bewunderung anschaute und
ihm ein Kompliment nach dem anderen machte. Zusammen wirkte dies so
unwiderstehlich, daß ich aus dem Lachen nicht herauskam, aber als der
Besucher verschwunden war, fragte ich doch etwas streng:

»Um Gottes willen, Herr Ming Tse, wo haben Sie diese Kenntnisse
gesammelt?«

»In der Schule hier in England, von meinem deutschen Professor, er hat das
jeden Tag wiederholt.«

Und das war auch alles, was er trotz aller meiner Anstrengungen jemals gut
in meiner Muttersprache sagen konnte.

Schon nach den allerersten Stunden hatte er es eingeführt, mir mit
Früchten oder sonst irgend etwas, einem Glas Limonade oder Fruchtsaft
aufzuwarten. Sobald die Stunde vorüber war -- und wann sie zu Ende sein
sollte, bestimmte immer er, indem er einfach das Buch schloß und eine
Zigarette entzündete; nichts hätte ihn da vermocht, auch nur fünf
Minuten weiterzuarbeiten, so daß ich mich notgedrungen fügen mußte --,
zog er einen Stuhl ans Feuer, setzte einige Bananen auf einen Teller und
befahl kurz und bündig:

»Jetzt müssen Sie essen.«

Die Aufmerksamkeit rührte mich jedesmal. Wie wenige Schüler denken daran,
wie anstrengend es für den Lehrer ist, zwei Stunden hintereinander zu
sprechen und die ganze Spannkraft des Geistes auf einen einzigen Punkt zu
lenken, damit der Schüler so viel Nutzen als möglich vom Unterricht hat?
Ich nahm also eine Banane und aß.

»Sie müssen auch die zweite essen,« erklärte er in einem Tone, der
mich riesig unterhielt, da er so gebieterisch war und jeden Widerspruch
meinerseits von vornherein abschnitt -- jetzt war er der Herr, und dieser
Austausch der Rollen verursachte mir stets Heiterkeit.

In solchen Momenten teilte er mir seine Beobachtungen mit, und ich mußte
mir eingestehen, daß er ein scharfer Kritiker und ein feiner Beobachter
war, wenn er auch als Schüler nur als Null vor der Ziffer glänzte. Zudem
hatte er eine unwiderstehlich komische Art, seine Ansichten in trockener
Weise und mit großer Entschiedenheit kundzutun. Dazu setzte er ein Gesicht
auf, das einen zum Tode Verurteilten zum Lachen gereizt hätte. Auch in
den Stunden selbst konnte er durch seine Gewohnheit, den Federstiel in
den linken Mundwinkel zu stecken und die Feder gegen die Decke zeigen
zu lassen, wobei er die Augen zusammenkniff und den Kopf zurückwarf, so
lächerlich phantastisch aussehen, daß ich vor Lachen kaum zu sprechen
vermochte.

»Wie lange rauchen Sie schon?« fragte ich meinen kleinen Chinesen in so
einer Plauderstunde.

»Seit meinem siebenten Jahre,« versetzte er und fügte mit sichtlicher
Zufriedenheit hinzu, indem er mit der Hand über seine Brust fuhr: »Es ist
alles ganz schwarz da drinnen, und daher bin ich auch so klein geblieben.
Wenn mein Vater das wüßte, würde er mich zu Tode prügeln -- aber nur
die Mutter weiß es.«

»Ja, ja, die Mütter,« dachte ich, »die sind überall dieselben.«

»Deshalb sind Sie auch wenig zum Studium aufgelegt,« sagte ich zu ihm;
»könnten Sie nicht etwas weniger rauchen?«

»Ich werde versuchen,« entgegnete er mit jener Betonung, die beweist,
daß der Versuch mißglücken wird, aber geradeaus »nein« zu sagen, davon
hielt ihn seine chinesische Höflichkeit ab.

Ein anderes Mal fand ich einen silbernen Bleistift auf meinem Platze, und
Ming Tse sagte in gebieterischem Tone: »Für Sie!«

»Aber Herr Ming Tse --« begann ich, als er mir in die Rede fiel.

»Wenn Sie ihn nicht annehmen, so studiere ich nicht,« und seine zarten
Kinderhände hatten das Aufgabenheft erfaßt, bereit, es zu zerreißen.
Seine schwarzen Augen blitzten hinter den Augengläsern hervor, und die
ganze Gestalt verriet die Sehnsucht, mich zwingen zu wollen. Ein Blick auf
den schlanken, mir unentwickelt scheinenden Körper ließ mich das Komische
in der gegenwärtigen Lage sehen, und lächelnd sagte ich zu ihm:

»Ich danke Ihnen, Herr Ming Tse, Sie hätten dies aber nicht tun sollen.«

»Gegen seine Professoren muß man immer höflich sein,« erwiderte der
Chinese; »in China darf man einen Lehrer nie wegschicken, falls er, alt
und schwach, um Hilfe zu bitten kommt, und ein Lehrer hat auch das Recht,
uns zu schlagen, und er darf uns bei unserem Taufnamen nennen, was nur die
Eltern außer ihm tun dürfen.«

Ich wußte, daß die Frau nicht das Recht hatte, diesen Namen
auszusprechen, und daher überkam mich eine unbezwingliche Lust, zu hören,
wie der heilige Name lautete. Ich fragte ihn also mutig.

»Li Bai,« war die Antwort, »und Sie können mich so nennen,« fügte er
großmütig hinzu.

»Das wäre eine allzu große Freiheit meinerseits,« erwiderte ich, »aber
der Name ist sehr hübsch, und ich danke Ihnen, ihn mir genannt zu haben.«

Meine Antwort schien nicht seine volle Zufriedenheit zu erwecken, er
murmelte etwas vor sich hin, ließ indessen nichts laut werden und
begleitete mich gerade so höflich zur Türe wie immer.

Obschon es Mitte Februar war, litten wir noch immer unter einem wahren
Hundewetter. Es hatte wochenlang geregnet, und heute lag wieder ein
unbehaglicher Nebel über der Stadt, wenn auch nicht so dicht, als es oft
der Fall war.

Ganz vertieft in das eben Erlebte, ging ich so schnell als möglich die
Gasse hinauf und bog bei dem großen Briefkasten wie ein Pfeil um die Ecke,
während von der entgegengesetzten Seite jemand genau wie ich mit den Augen
auf den Boden und den Sinn auf andere Welten geheftet, daherkam, was zur
Folge hatte, daß wir mit voller Dampfkraft ineinanderfuhren -- meine
Tasche und Bücher flogen in einige Pfützen, und auch mein Angreifer
schien übel hergenommen zu sein, wenigstens lag seine Brille zerbrochen
auf der Erde. Ich rieb meine Nase, die mit einem ungalanten Westenknopf
unsanft in Berührung gekommen war, und mein Partner im Unglück fischte
im Kotmeer herum und führte merkwürdige Schwimmbewegungen aus, die mich
verstehen ließen, daß er -- oh, vergebliche Hoffnung -- seine verlorene
Brille wiederzugewinnen trachtete. Als ich näher auf ihn sah, erkannte ich
ihn.

»Mister Hoang-Zo!« rief ich überrascht und versicherte ihm gleichzeitig,
daß seine Brille das Zeitliche gesegnet hätte, worauf ich mich erbot, ihn
bis zur Türe seines Hauses zu begleiten. Er wohnte nur wenige Häuser von
Ming Tse entfernt.

»Was für Fortschritte macht Ming Tse?« fragte mich unterwegs mein
ehemaliger Lehrer.

Ich gab meinem kleinen Chinesen ein besseres Zeugnis als er es verdiente,
da ich wußte, daß ihm Hoang-Zo immer Vorwürfe machte, seine Prüfungen
nicht schneller zu vollenden, und sagte auch, daß ich Ming Tses große
Höflichkeit reizend fände.

Er lächelte, und ohne daß ich recht wußte warum, war mir das Lächeln
unangenehm. Es schien etwas auszudrücken, was ich nicht fassen konnte.
Er enthielt sich jeder Bemerkung mit Bezug auf meinen Schüler, dankte
mir für die Begleitung, entschuldigte sich wegen des Zusammenstoßes
und tastete seinen Weg in das Haus. Armer Mensch, ohne Gläser war er
vollkommen hilflos -- dieser Gedanke vertrieb sofort jede Neigung, auf ihn
wegen des unerklärlichen Lächelns böse zu sein.

       *       *       *       *       *

Und Wochen kamen und gingen.



[Illustration:

  A. F. Seebacher]



    =Non ti lagnar de' mali,
    Non creder soli i tuoi;
    Ognuno dei mortali
    Ha da soffrire i suoi.=

      =Bertola.=

VI.


Als ich eines Abends wieder zur Stunde eintraf, lief mir Ming Tse erregt
entgegen, faßte mich an der Hand und zog mich, so schnell er konnte, in
das Zimmer.

»Fräulein Schulze,« rief er, »springen Sie auf diesen Stuhl, und sehen
Sie sich das Bild meines Vaters an. Ich habe es heute erhalten.«

Als ob das Haus in Flammen stünde und ich bei dem Feuerlöschen helfen
sollte, so hurtig warf ich meinen Mantel ab und zog die Handschuhe aus,
dann näherte ich mich dem Stuhle, den Ming Tse schon erwartungsvoll an der
Lehne hielt. Es war eines jener zarten Sesselchen, auf die sich keine
gute deutsche Hausfrau und noch weniger eine Oesterreicherin hätte setzen
dürfen, ohne daß eine Katastrophe zu befürchten gewesen wäre, und
selbst ich vertraute meine Seele (und meinen Körper) den höheren Mächten
an und hoffte nur, daß der Möbelfabrikant so vorsorglich gewesen wäre,
das zierliche Dingelchen mit einer unsichtbaren Haltbarkeit auszustatten.
Hierauf schwang ich mich darauf, während Ming Tse seine kleinen Pfötchen
auf die Lehne legte und zu mir aufsah. Während ich mir im stillen
ausmalte, wie es wohl wäre, wenn der Stuhl unter mir schnöde
zusammenbrechen und wer wohl zuerst auf der Bildfläche erscheinen und
meine Knochen zusammenlesen würde, hielt ich meine Augen gehorsamst auf
das große Bild des Vaters gerichtet. Es stellte einen großen Mann in der
Tracht eines Mandarins dar, mit einem langen Seidenkaftan und einer großen
Schärpe um die Hüften. Das Gesicht war bartlos und rundlich und hätte
bei flüchtiger Beobachtung als wohlwollend und gütig bezeichnet werden
können, aber wer sich die Mühe gab, näher hinzusehen, dem entging nicht
ein gewisser grausamer Zug um den Mund und eine unangenehme Falte nahe den
Augen. Die Haltung verriet Selbstbewußtsein und festen Willen. Als Freund
mochte er gerecht sein -- als Feind aber --?

»Wie gefällt er Ihnen?« erkundigte sich Ming Tse, indem er der schwanken
Basis, auf der ich stand, einen nicht mißzuverstehenden Puff gab, was ich
mir so auslegte, als »höre nun gefälligst mit den inneren Betrachtungen
auf!« Daher beeilte ich mich, meinen unsicheren Standpunkt so schnell als
tunlich zu verlassen.

»Sehr gut,« sagte ich, sobald ich wieder festen Boden unter mir hatte.
Was hätte ich sonst auch sagen dürfen?

»Sie freuen sich gewiß sehr, sein Bild erhalten zu haben?« fragte ich.

»Ja, sehr, und hier habe ich schon Seidenschleifen zur Fahne gekauft, die
ich herumwickeln will.«

Er entfaltete eine ganze Menge Seidenschleifen, die, einst irgendwie
miteinander verbunden, die chinesische Flagge darstellen würden. Er
reichte mir die Enden aller Bänder und hielt sie in der richtigen Ordnung,
indem er mich bat, eine Schleife daraus zu machen.

Er hätte mich ebensogut bitten können, auf dem Kopfe zu stehen und
ein Champagnerglas mit meiner großen Zehe zu präsentieren. Was
anderen Mädchen ein Kinderspiel war, das war für mich ein Ding der
Unmöglichkeit. Ming Tse bemerkte dies auch bald und nahm mir die Bänder
stumm aus der Hand.

»Sie passen besser zum Studium,« tröstete er mich lächelnd nach einer
kleinen Pause, in der ich mir gewaltig dumm vorkam. -- --

In den nächsten Wochen lernte ich Ming Tse, erleichtert durch folgenden
Umstand, immer besser kennen.

Kaum eine Woche nach dem Eintreffen des Bildes fand ich ihn eines Tages
sehr erregt vor, und seine ersten Worte überzeugten mich, daß etwas
Außergewöhnliches vorgefallen sein müsse.

»Setzen Sie sich zum Feuer, Fräulein,« kommandierte er, »wir müssen
etwas besprechen, bevor wir zu studieren anfangen.«

Ich gehorchte mit der gewünschten Eile und versicherte ihm, daß ich ganz
Aug' und Ohr wäre.

»Ich habe meinen Geschichts- und Mathematikprofessor davongejagt,« teilte
er mir kurz und bündig mit.

»Herrn L.?« fragte ich. »Warum doch nur?«

»Er wollte immer, daß ich zu ihm kommen sollte, und neulich war ich
wirklich zum Tee bei ihm und seiner Mutter. Beide versuchten mich zu
überreden, daß ich zu ihnen übersiedeln sollte, und seine Schwester
war -- sehr zuvorkommend gegen mich. Ich glaube, er wollte mich mit seiner
Schwester verheiraten,« fügte er nach einer kleinen Pause hinzu.

Mir erschien plötzlich der Mathematikprofessor ein Ausbund irdischer
Verderbtheit, und ich lobte Ming Tse sehr, sich von ihm losgesagt zu haben.

»Außerdem,« fuhr der Chinese fort, »habe ich fast nichts von ihm
gelernt -- Geschichtsdaten wußte er selber nicht, und er trug immer so
undeutlich vor. Anstatt Mathematik erzählte er mir allerlei Geschichten
von Mädchen und --«

»Sie haben sehr, sehr recht getan, diesen unverschämten Menschen vor die
Tür zu setzen,« rief ich eifrig, und mir schien es, als sei es einfach
unverantwortlich, daß ein Europäer einen so unschuldigen Jüngling so
verderben wollte. Ob es aber wirklich nur aufrichtige sittliche
Entrüstung war, was mich so sprechen ließ und was mir den unbekannten
Mathematikprofessor als ein Ungeheuer vorschweben machte?

»Mathematik kann ich selbst weiterstudieren,« erklärte Ming Tse, »und
den Geschichts- und Geographieunterricht, den müssen Sie übernehmen,«
setzte er hinzu.

»Aber Herr Ming Tse, ich habe keine Zeit, ich --«

»Sie müssen, und wenn Sie nicht wollen, dann reise ich nach China
zurück, dann mache ich keine Prüfungen, dann ist alles umsonst -- Sie
müssen!« wiederholte er gebieterisch, und in seinem Gesichtchen las ich
zum erstenmal etwas wie weiche Bitte.

Mein kleiner Chinese! Er war ja trotz seiner maßlosen Faulheit mein
Lieblingsschüler, und ich hätte lieber auf den Schlaf verzichtet, als ihm
die Bitte abgeschlagen. Daher erklärte ich mich bereit. Glücklicherweise
hatte ich zu eigener Unterhaltung und Belehrung bei meiner Ankunft in
London viele Bücher über englische Geschichte gelesen und konnte daher
sehr zufrieden sein über die Grundlage. Natürlich würde ich mich für
jede Stunde besonders vorbereiten und auch einen Plan bezüglich des
Geographieunterrichts entwerfen müssen. Aber warum nicht? Es würde eine
ausgezeichnete Wiederholung für mich sein, eine Notwendigkeit sogar, kurz,
ich fand mich sehr leicht -- auffallend leicht -- in mein Geschick.

Ming Tse bestimmte zwei Tage zu je zwei Stunden, so daß wir uns nun
viermal die Woche sahen. Ich war froh, daß ich der Einsamkeit so
leicht entgehen konnte und segnete meine Beharrlichkeit in allerlei
Forschungsaufgaben. Mein Schüler machte gleichfalls den Eindruck,
zufrieden zu sein -- und, was konnte ich mehr wünschen?

Nachdem der junge Mann schon in Paris und London studiert und in China
zwölf Jahre lang Weisheit eingepaukt erhalten hatte, mußte er wohl
schöne Vorkenntnisse besitzen. Indessen war es doch immerhin der Mühe
wert, einige Sprungfragen, allgemeines Wissen betreffend, zu unternehmen.

Gleich bei meinem Kommen bat er mich, ihn nicht über englische Geschichte
zu fragen, sondern noch einmal von Jakob I. an den ganzen vorgeschriebenen
Lehrstoff vorzutragen. Dies tat ich also, ließ alles Ueberflüssige weg,
machte den Vortrag so einfach und so leicht faßlich als möglich und
diktierte ihm einige Stellen -- ich bestand nämlich darauf, daß er
Notizen nahm, damit meine Rede nicht ganz umsonst bleibe.

Nach dem eigentlichen Studium stellte ich einige Fragen an ihn, die mir
als zum unerläßlichen Wissen eines Menschen beider Hemisphären notwendig
schienen.

»Wer war Napoleon?«

Pause.

»Was wissen Sie von ihm? Etwas haben Sie gewiß von ihm gelesen oder
gehört?«

»Er war ein großer Kämpfer oder so etwas!« war die gleichmütig
gegebene Antwort. Mehr von dem Eroberer wußte er nicht.

»Wer war Christoph Columbus?«

»Nie von ihm gehört!«

»Herr Ming Tse!!! Christoph Columbus?« wiederholte ich, wie um ein Licht
im dunklen Gehirnkasten meines Schülers zu entzünden.

»War das nicht so ein Kerl, der einmal Bücher über Amerika schrieb?«
erkundigte sich mein kleiner Chinese, als ob ihn die Sache nichts weiter
angehen würde.

»Bücher hat er wahrscheinlich nicht so übermäßig viele geschrieben,«
konnte ich mich nicht enthalten etwas sarkastisch zu bemerken, »aber
entdeckt hat er das Land -- eine ganz unbedeutende Sache.«

Ming Tse lachte, er hatte den Spott herausgefühlt, der jedoch wirkungslos
an seiner asiatischen Ruhe abprallte.

»Was für ein nutzloses Geschrei die Europäer wegen einer solchen
Kleinigkeit machen,« sagte er verächtlich. »Wir haben Amerika schon viel
länger gekannt -- und ohne Columbus,« versetzte er und sah dabei aus, als
ob dieser Umstand einzig und allein ihm selber zu danken wäre. Aber da die
Chinesen Amerika wirklich ohne Columbus gefunden, wagte ich keine weiteren
Bemerkungen. Ich ging zur Geographie über, und da wurde alles verlangt --
die physische, politische und besonders die europäische Geographie.

Mit der physischen nahm ich den Anfang und hatte zum erstenmal die
Genugtuung zu sehen, daß der Schatten eines Interesses bei ihm erwachte,
als ich die verschiedenen Naturereignisse, so gut es ging, erklärte und
überall noch Zeichnungen hinzufügte. Dies lernte er in der Tat gut.

Hierauf wollte ich ihm ein wenig auf den Zahn fühlen bezüglich der
allgemeinen Geographie und bat ihn daher, mir die hauptsächlichsten
Länder Europas aufzuzählen und die Hauptstädte zu nennen.

Er fand nur drei Länder -- England, Deutschland und Frankreich. Ich half
ihm aus.

»Die Hauptstadt von Belgien?«

»Budapest.«

»Bedaure, was soll denn Ungarn ohne Hauptstadt anfangen?«

»Kopenhagen!«

»Aber Herr Ming Tse, Kopenhagen ist die Hauptstadt von Dänemark,« sagte
ich etwas geärgert.

»Mir auch recht,« erwiderte er gelassen.

Ich sagte ihm nun mindestens zehnmal alle Länder und Städte vor
und zeigte sie alle auf der Landkarte. Er sah sie alle an, als ob sie
Kieselsteine gewesen wären, und wiederholte, was ich sagte, wie ein
Kind, das schlaftrunken sein Vaterunser herableiert. Sofort bat ich ihn
aufzuhören -- welchen Nutzen hätte er von der Fortsetzung einer solchen
Stunde gehabt?

Im Herzen aber begann ich mich zu fragen, ob dieser Schüler trotz aller
meiner Mühe je eine Prüfung erfolgreich ablegen würde.

Nach den Geographiestunden plauderten wir wie nach all den übrigen
Stunden, und dabei fielen einige Streiflichter auf seinen Charakter.

Ob ich vielleicht, mir unbewußt, Hoang-Zo als Muster der Tugend
hingestellt, oder besser sein Talent und seinen Fleiß allzu häufig
rühmend erwähnt hatte, ich weiß es nicht -- jedenfalls kam Ming Tse zu
der Ueberzeugung, daß ich eine ungewöhnlich gute Meinung vom Philosophen
hatte, möglicherweise sogar eine bessere als von ihm selbst, und in seinem
Kopf erwachte sofort der Gedanke, diesen Nimbus zu zerstören, langsam und
vorsichtig, ganz langsam, aber sicher.

Als daher der Name Hoang-Zos wieder genannt wurde, schüttelte der kleine
Chinese sein rabenschwarzes Haupt, seufzte und sagte:

»Herr Hoang-Zo hat kein gutes Herz.« Pause. Er sah mich mit den Ecken
seiner Augen -- denn diese schwarzen Punkte im Nasenwinkel konnte man kaum
als etwas anderes bezeichnen -- forschend an und fügte hinzu:

»Aber sehr, sehr begabt.«

»Und sehr fleißig,« warf ich ein. »Er studiert den ganzen Tag im
Britischen Museum.«

»Oh, ja, Britisches Museum!« lachte er höhnisch. -- »Mädchen!«

»Herr Hoang-Zo??? Unmöglich!« rief ich voll Entrüstung. »Er kann die
Mädchen nicht leiden -- er denkt nicht an sie,« erklärte ich mit Eifer.

»Er hat schöne Mädchen sehr gern -- sehr gern -- und er ist ein
schlechter Mensch, aber dafür so begabt, so begabt, nicht wahr?« fragte
er mich.

Der Sarkasmus war unverkennbar. »Ich kenne Herrn Hoang-Zo nicht näher,«
erwiderte ich. »Gegen mich war er immer sehr lieb, ich bin aber auch nicht
schön und das erklärt ja vieles,« sagte ich und warf unwillkürlich den
Kopf in den Nacken. »Ich dachte indessen, Sie wären sein Freund.« Diese
Anspielungen mißfielen mir.

»Sein Freund?? -- Ja, wenn er Geld borgen will,« sagte Ming Tse.

Das war eine neue Entdeckung. »Braucht er so viel Geld? Er studiert auf
Kosten seiner Regierung, nicht wahr, und erhält 15 Pfund monatlich?« Das
hatte der kleine Chinese mir früher einmal mitgeteilt.

»Gewiß, aber 15 Pfund sind nicht genug, wenn man schöne Mädchen gern
hat,« fügte er schelmisch lächelnd hinzu.

»Ein Mädchen gern zu haben ist ja kein Verbrechen,« entschuldigte ich
meinen früheren Professor.

»Nein,« ohne mich anzusehen. Plötzlich funkelten die halbgeschlossenen
Augen zu mir herüber. »Aber er gibt ihnen Pulver.«

»Er gibt ihnen Pulver?« fragte ich verständnislos.

Der Kleine grinste wie der leibhaftige Gottseibeiuns.

»Pulver, daß sie einschlafen -- zwei Stunden einschlafen -- verstehen
Sie?« fragte er mich.

Und ob ich verstand! War eine so maßlose Schlechtigkeit in einem so
hochentwickelten Menschen möglich!! Konnte die grinsende kleine Figur vor
mir die Wahrheit sprechen?

»Man gibt jemand das Pulver doch nicht auf der Gasse und gegen den Willen
ein?« sagte ich, diese Anklage gegen meinen bewunderten Philosophen und
Professor abwehrend.

»Auch nicht nötig,« lachte Ming Tse. »Man lädt sie einfach zum Tee
ein.«

Ich fühlte, daß der Stuhl unter mir nicht Stütze genug war. Wie der
Reiter auf dem Bodensee, der starb, als er hörte, welchen Gefahren er
entgangen war, so schien es mir, daß ich zum mindesten ohnmächtig
werden könnte, wenn ich mir vorstellte, wie ich gedankenlos am Rande des
Verderbens herumgetänzelt war. Zum erstenmal in meinem Leben freute
ich mich, daß ich nicht so schön wie Jenny, daß ich das Gegenteil von
hübsch war.

Ming Tse mochte mein Entsetzen meinen weitaufgesperrten Augen ablesen, denn
er beruhigte mich, indem er sagte:

»Herr Hoang-Zo denkt auch sehr gut von Ihnen, er hat mir schon damals
von Ihnen erzählt und gesagt, daß er mit Ihnen eine Ausnahme macht, Sie
denken nur ans Studium.«

Ob mein Wissen oder meine Häßlichkeit ausschlaggebend war --
wahrscheinlich die beiden Dinge vereint --, war ich Mr. Hoang-Zo doch
über die Maßen dankbar, besagte »Ausnahme« gemacht zu haben, was immer
auch seine Gründe gewesen. Und ich, die ich den Tee mit so viel Vergnügen
getrunken hatte! Dieser Gedanke kam peinigend oft zurück und jagte mir
jedesmal die Gänsehaut über den Rücken.

»Himmel, wenn ich geahnt hätte, daß man so schlecht sein könnte!« rief
ich aus.

Ming Tse krümmte sich vor Vergnügen, ich mußte aber auch das
verkörperte Entsetzen ausdrücken.

»Nicht so sehr, sehr gut, nicht wahr, Fräulein, aber sehr begabt?«
fragte er mich.

»_Zu_ begabt!« rief ich ärgerlich.

»Mir liegt nichts an Mädchen,« versicherte mein kleiner Chinese mit
überlegener Miene. »Nur Mädchen, die älter sind als ich und die
viel wissen, die gefallen mir.« Pause, -- während welcher ich mich
einigermaßen zu fassen versuchte. »Und ich schaue nicht auf Schönheit
wie Hoang-Zo,« erklärte er.

Er stellte Früchte auf den Tisch. »Kein Pulver,« versicherte er
lächelnd.

»Gott sei Dank, daß dieser nette kleine Chinese kaum 22 und noch ein
ganzes Kind ist,« dachte ich. Wie wenig ich doch Chinesen verstand!

Mein ehrwürdiges Alter war damals 23, also hätte ich mir auf meine
Greisenhaftigkeit noch nicht allzuviel einzubilden brauchen.

Das war ein Streiflicht gewesen, das mir deutlich zeigte, wie sehr ihm
daran lag, sich selbst als ersten gelten zu machen, wie wenig er es
wünschte, andere Menschen bewundert zu sehen.

Er wußte, daß ich Indier sehr intelligent und sehr interessant fand.
In der Villa, in der er wohnte, lebten auch Indier und es verging keine
Plauderstunde, in der er mir nicht etwas Nachteiliges von ihnen erzählte.

»Herr Kashdartha ist ein schlechter Mensch,« sagte er eines Tages. »Er
wird bald ein Kind haben.«

»_Er_ wird bald ein Kind haben?« fragte ich ungläubig.

»Ja. Erinnern Sie sich, ein hübsches, kaum sechzehnjähriges Mädchen
manchmal im Hause gegenüber gesehen zu haben?«

»Eine kleine Blondine mit blauen Augen und immer lachendem Munde?« fragte
ich.

»Stimmt. Die wird ein Kind jetzt haben.«

»Wie schrecklich!« rief ich aus. »Und wird er sie heiraten?«

»Hat schon eine Frau in Indien,« erklärte er lakonisch. Nach einigen
Minuten fügte er hinzu:

»Die Indier geben auch Pulver, Fräulein, sehr schlechte Menschen, Sie
dürfen nichts mit ihnen zu tun haben. Schlechte Menschen!« wiederholte
er.

Ich war sprachlos. Meine Indier, die jungen Hindus, die ich gekannt hatte,
waren lauter hochintelligente Männer gewesen, die sich viel reiner und
besser als wir armen Frauenzimmer vorkamen, so daß manche uns gar nicht
die Hand zum Gruße reichen wollten. Eins war sicher: Dieser kleine Chinese
schien das Schlechte in Mitmenschen und Rassen geradeso zu entdecken, wie
manche alte Zauberer Schätze mittels eines Zauberstäbchens fanden. Ich
dachte nicht schlechter darum von den Indiern, die ich kannte, aber eine
gewisse Enttäuschung, ein unabschüttelbares Mißtrauen blieb zurück.

Es geschah nun öfter, daß er mich nach der Stunde zur Elektrischen
hinabbegleitete. Bald gingen wir den kleinen Umweg über die Heide -- es
war in England im Winter an regen- und nebelfreien Tagen nicht viel kälter
als im Sommer -- bald den Berg hinab auf der breiten Alleestraße bis zu
Hampstead Hill. Ich zog den Weg durch die Straßen schon deshalb vor, weil
wir auf der Heide nicht nur durch das nasse Gras gehen mußten, sondern
hauptsächlich wohl aus dem Grunde, weil wir dort immer Liebespaare auf
dem Grase oder den Bänken fanden, ohne Unterschied der Jahreszeit oder der
Tagesstunde.

Da wandte sich Ming Tse immer mit einem überlegenen Lächeln an mich und
sagte:

»So sind die Mädchen in Europa.« Das ärgerte mich immer grenzenlos.

»Es sind nur die Schlechten von ihnen,« verteidigte ich.

»Die allermeisten,« erwiderte er lakonisch. »Viele aus guten Häusern,
viele verlobt mit anderen Männern,« fügte er hinzu.

Ich wußte, daß er recht hatte und es tat mir leid, daß wir den fernen
Asiaten ein so entsetzliches Vorbild gaben, wir, die wir auf unsere höhere
Moral so stolz und von ihr so überzeugt sind.

Sobald ich auf die Elektrische gesprungen war, blieb Ming Tse regungslos
stehen und winkte mit seiner kleinen, zierlichen, braunen Hand noch einmal
zu mir herauf, während ich ein gleiches tat, bevor ich hineinging und der
Wagen sich in Bewegung setzte.

Noch jetzt steht klar das Bild des kleinen Chinesen vor mir, wie er
unbeweglich stand und mit der Hand herübergrüßte zur Elektrischen, zu
mir.

Schade, daß uns das Schicksal damals nicht getrennt hat.



    =Oh la povera barchetta
    sola sola in alto mare!
    Alto mare anche la sponda,
    se nessuno e ad aspettare.=

      =C. R. Vani.=

VII.


Nirgends auf der weiten, weiten Welt ist es schön, wenn man allein ist.
Umgeben von schneegekrönten Bergen mit oft sichtbarem Alpenglühen, von
Nadelwäldern, wo man hundert eigenartige Baumformen vor sich sieht,
oder am Meeresstrand, wo sich die Wellen an den scharfen Klippen donnernd
brechen, in lieblichem Tale, wo Blumen aller Arten das Auge erfreuen, wo
Getreidefelder wie Meeresfluten vom Winde bewegt auf und nieder wogen, da
kann man die Einsamkeit fühlen. Aber dennoch mag das aufrührerische Herz
dann nach jemand rufen, der es ganz versteht. Gleichgültige Menschen oder
die Menschen, die uns nicht begreifen, für die wir ein Rätsel sind und
die uns »verändern« wollen, weil ihre Eigenart der unsrigen wie ein
Positiv und Negativ gegenübersteht, die mildern nicht die Einsamkeit --
sie vergrößern sie unter Umständen.

Aber um wieviel schrecklicher ist die Einsamkeit, wenn die Natur
geschwunden, wenn hohe, düstere Häuser, ernste Menschen, lärmende
Fuhrwerke und häßliche Ankündeschilder uns umgeben? Persönlich bin ich
der Ansicht, daß man nirgends auf Erden besser studiert als in London,
weil alle Zerstreuungen fehlen und man nur an sein Wissen denkt, und auch,
daß niemand die Einsamkeit vollkommen kennengelernt hat, wer nicht einen
Winter ganz allein in der Siebenmillionenstadt geweilt hat. Wer diesen
Ernst, die ewige Ruhe inmitten des ohrenbetäubenden Lärms, den Nebel und
immer bedeckten Himmel ein Jahr lang ausgehalten hat, der kann mit Recht
von sich sagen, daß er »den lieben Herrgott kennengelernt« hat, und das
in keineswegs erfreulicher Weise.

Die Bauten sind meist aus rotem Ziegelstein, vom Nebel und Regen mit
einer schwarzbraunen Kruste überzogen. Auch in Häusern, wo man
verhältnismäßig viel für ein möbliertes Zimmer bezahlt, ist die Treppe
nach zehn Uhr abends, in anderen auch früher ein schwarzer Schlund, in
dem man sich auf gut Glück und oft auf allen Vieren begeben muß, wenn man
nicht ein vorzeitiges Ende nehmen will oder es wünscht, einen Teil seiner
Knochen gebrochen zu haben. Aber was sind alle diese Uebelstände gegen
die Einsamkeit, die einen nicht bigotten Ausländer an einem englischen
Sonntage überkommt, wo jeder Engländer wenigstens zweimal des Tages in
die Kirche geht und zwei Stunden jedesmal drinnen sitzt.

Wenn man die ganze Woche angestrengt gearbeitet hat, geht man nur ungern
am einzigen Ruhetag in ein Museum, wo der Geist wieder angestrengt wird,
schlafen kann man doch auch nicht von Samstag abend bis Montag früh, und
mit seinen trüben Gedanken als einziger Gesellschaft die alten Kleider
verbessern oder Handschuhe waschen, ist, wie nützlich und sogar notwendig
dies auch sei, keine Erholung für die Werkeltagsmühe. Im Winter regnet
es, und im Sommer, wo man die Parke besuchen kann, sind diese kein
Eldorado. Fliegt einem nicht der Ball eines Kindes an den Kopf und saust
nicht der Reif eines anderen gegen die Füße, so stolpert man gewiß
über ein paar Liebende, die im Grase liegen und über so eine
Rücksichtslosigkeit natürlich entrüstet sind. Bleibt das Daheimbleiben
in einem zweifelhaft reinen Zimmer, das, selbst wenn es gassenseitig ist,
keinerlei Abwechslung bietet, da in den Hauptstraßen nur Aemter in
den oberen und Geschäfte in den unteren Stockwerken sind und in den
Seitengassen, wo Leute wohnen, nichts zu sehen ist, da nur diejenigen oder
doch fast nur diejenigen die Gasse betreten, die eben in ihr wohnen. Dafür
hat man andere Besucher von etwas zweifelhaft angenehmer Art. Allerlei
Leierkastenmänner kommen angezogen, die um der Feier des Tages willen
ausschließlich Hymnen spielen und mit gebrochener Stimme manchmal den
Text dazu singen; ferner kommt im Winter der Butterkrapfenmann mit seiner
melancholisch klingenden Glocke, der mir fast immer Tränen entlockte.
Klingt doch sein »Bim-bim« genau wie das Schellengeläute und mahnte mich
der Ton deutlich an die Heimat mit ihrem hohen Schnee, dem warmen Ofen, den
zischenden Bratäpfeln und dem blauen Himmel, der auch im Winter so klar
sein konnte, sobald es zu schneien aufgehört. Ihm folgen die Bettler, die
je nach ihrem Temperament eine schreckliche Mordgeschichte, ihren eigenen
Lebensbericht in Versen verfaßt, oder eine Hymne singen, glücklicherweise
aber mit solchem Gekrächze, daß man der Worte verlustig geht und sich
der Kunstgenuß auf die lieblichen Töne beschränkt. Der Apfel- und
Orangenmann bleibt auch nicht aus. Auf seinem zweirädrigen Wagen, besser
seiner Schubkarre, fährt er durch alle Gassen, sein »=two pence a
pound=« ausrufend und seine schmutzigen Finger dabei über die Früchte
gleiten lassend -- wahrscheinlich um den Genuß zu erhöhen. Endlich
erscheinen die Zeitungsausträger, die ihr gellendes »Evening News«
oder »Sunday Times« mit den betreffenden in den Blättern befindlichen
Neuigkeiten ausschreien, als ob sie die Toten zum Leben erwecken wollten
oder einen Wettbewerb mit den Posaunen von Jericho eingegangen wären.
Gewiß ist wenigstens einer -- meist jedoch zwei oder drei Leute -- in der
Gasse der glückliche Besitzer eines Grammophons, und da es bekanntlich
sehr sündhaft wäre, sich am Tage des Herrn weltlichen Vergnügungen
hinzugeben, so ein ehrsamer Ladenbesitzer aber andererseits nur am Sonntag
Zeit genug hat, sich den musikalischen Genüssen zu widmen, so besänftigt
er sein Gewissen und befriedigt gleichzeitig seine Sehnsucht, indem er
ausschließlich Hymnen spielen läßt.

Langsam aber sicher wirken diese äußeren Umstände auf den inneren
Menschen -- den Charakter, das Gemüt -- zurück. Das Leben ist nicht
länger Leben, sondern ein trauriges Dahinschleichen in erdrückender
Atmosphäre. Rom ist die Stätte der Kunst, Paris die der Unterhaltung, des
wilden Genießens, London aber die des Studiums, des Handelns und -- des
Vergessens, denn ein Schleier senkt sich dort wohltuend auf Geist und
Körper, man vergißt, vergißt alles, mit der Zeit selbst, daß man noch
am Leben ist. Daher sagt man mit vollem Recht, daß alle die Leute, die
getäuschte Hoffnungen zu begraben haben, nach England kommen, nicht nur,
weil es das Land der Freiheit ist, sondern hauptsächlich weil sein Klima,
die Lebensverhältnisse, der große Unterschied in allem zwischen dem
Inselreiche und dem Kontinent das Vergessen so sehr erleichtern. Die
goldene leuchtende Sonne Roms scheint eine Ironie zu sein, wenn im Innern
eine so grauenvolle Finsternis herrscht; die Heiterkeit in Paris erweckt
Aerger, Neid, Unwillen in den Herzen derer, die mit den Freuden des Daseins
abgeschlossen zu haben meinen, aber der graue Himmel Großbritanniens,
die abweisende Haltung der Engländer, die nicht in die Geheimnisse
einzudringen trachten, die uns neben sich leben lassen, ohne sich um uns
zu kümmern -- alles dies erleichtert uns das Vergessen. Alle entthronten
Herrscher gehen dorthin ins Exil. Staatsmänner, deren Staatsstreich
mißlang, Nihilisten, die dort von Freiheit träumen, Verbannte, die nie
zurückkehren dürfen, Politiker, die von ihrer Höhe gestürzt, Liebende,
die ihr Glück auf immer begraben haben, sie alle ziehen nach London. Wer
mit dem Leben -- dem erträumten, dem erhofften Leben -- abgeschlossen hat,
begibt sich auf die Insel, und dort verwandelt sich der Schmerz, auch der
heißeste, der wildeste, in Melancholie. Wer zuviel von ihr abbekommt,
versinkt entweder im Schlamm des Lasters oder begeht Selbstmord.

Ich saß in meinen vier Pfählen und hatte eben in der oben aufgezählten
Ordnung den Butterkrapfenmann, die Bettler, den Orangenverkäufer, die
Zeitungsausschreier und einige Leierkastenspieler vorüberziehen gehört,
hatte meine Handschuhe und andere Kleinigkeiten gewaschen, denn der warme
Dunst des siedenden Wassers erwärmte gleichzeitig das Zimmer, in dem es
Ende März noch immer sehr kalt und unfreundlich war, hatte einige Minuten
lang die fallenden Regentropfen beobachtet und vernahm eben, daß zwei
Grammophone »losgelassen« worden waren. Ich hatte die größte Lust,
mich, wie schon oft, auf das Bett zu werfen und bitterlich zu weinen, aber
da ich wußte, daß es nicht dabei blieb und ich mich im Uebermaß der
Verzweiflung wieder gegen die kahlen Wände werfen und mir tagelang das
Lächeln physisch wehtun würde, bezwang ich mich. Ich zog meine Jacke
an, um wenigstens nicht zu frieren, und mich auf das Bett, den einzigen
bequemen Platz, setzend, zog ich einen Brief Jennys aus der wurmstichigen
Tischlade, den ich am vorhergegangenen Abend bekommen hatte. Wenn doch
meine Schwester mir ähnlicher gewesen wäre! Nein, sie war Mamas Ebenbild,
ich konnte nicht hoffen, bei ihr Verständnis zu finden. Sie war -- dem
Himmel sei Dank -- wie andere Mädchen!

»Käthelchen!« begann der Brief.

»Ich kann Dir gar nicht sagen, wie sehr mich Dein Brief und besonders das
schöne Armband gefreut hat. Weißt Du, eigentlich fürchtete ich schon,
daß Du so gelehrt geworden seist, daß Dir nur ein Buch eine passende Gabe
für mich erschienen wäre, -- mir, die ich es dem Gutenberg nie verzeihen
kann, die dumme Buchdruckerkunst erfunden zu haben. Wenn Mönche noch
heutzutage Bücher kopieren müßten, brauchte ich weder so viel zu
studieren, noch so viel langweilige Klassiker durchzulesen, gerade
damit ich »gebildet« bin. Ich gehe viel lieber auf das Eis und fahre
Schlittschuhe oder tanze -- ach Käthe, wieviel ich heuer im Winter getanzt
habe! -- oder gehe ins Theater, aber Mama hat mir diesmal nicht so viel
hübsche Blusen gekauft, was mich oft ganz unglücklich gemacht hat.

Käthe, denkst Du nie an das Heimkehren? Jetzt läufst Du schon drei Jahre
in der Welt herum und Mama sagt immer, daß es kein gutes Licht auf uns
werfe. Ich mache mir nichts aus dem ›guten Licht‹, aber ich möchte
Dich so gern hier haben, damit ich öfter ausgehen könnte. Du weißt, Mama
findet, es schickt sich nicht, daß ein junges Mädchen allein ausgeht, und
wenn ich sage, ja, aber die Käthe, so sagen alle: ›Ja die Käthe!!!‹
und Tante Elly fügte hinzu: ›Die hat doch alles nach ihrem Kopfe
getan‹.

Glaube nicht, daß ich nie ohne Sehnsucht an Dich denke. Mir sagte die alte
Köchin, daß Du jemanden einst sehr, sehr lieb gehabt hast und deshalb
fortgezogen bist, und daß Du ihn nie, nie vergessen wirst, obschon er
schon lange tot ist. Seit der Zeit lege ich jedesmal Blumen auch auf sein
Grab, wenn ich Papas letzte Ruhestätte besuche und flüstere leise: ›Von
der Käthe!‹ Bist Du mir böse, weil ich dessen erwähne? --

Wie ich meinen achtzehnten Geburtstag feierte, fragst Du, lieber Kather?
Wir hatten das reinste Familienkonklave. Zuerst kam Tante Emma mit der
spitzen Nase und dem langen Strickstrumpf.

»Ist mein kleines Mädelchen noch nicht bei der Arbeit?« fragte sie mich,
denn sie will, ich soll jeden Tag wenigstens einen halben Strumpf für die
Armen stricken.

»Aber Tante, an Festtagen arbeitet man nicht, das steht im Katechismus,«
erwiderte ich.

»Müßiggang ist aller Laster Anfang,« entgegnete Tante Emma streng,
»aber für heute muß man dich wohl entschuldigen.«

Als Geschenk gab mir das Scheusal ein Nähkörbchen.

Ihr folgte Tante Paula, die mich ermahnte, nicht wieder die heilige Messe
zu versäumen. »In den Park gehen, das kann die kleine Madame Eitelkeit,«
sagte sie streng, »aber in das Gotteshaus gehen, dazu sind die Beine zu
schwach. Hier hast du ein neues Gebetbüchlein, mein Täubchen!«

»Alte, geizige Krähe,« dachte ich mir, »du siehst mich schon nicht so
bald in der Kirche. Ich kann daheim auch beten, und Mama tut es auch nicht
anders.« (Jenny war nicht ungläubig -- nicht an allem zweifelnd und
verzweifelnd wie ich selber, aber oberflächlich, vollkommen gleichgültig.
Ich beneidete und ich beklagte sie. Wer nicht tief empfindet, leidet, aber
genießt auch weniger.)

Ach, Käthe, Du wirst nie erraten, was mir meine Mama gab. Denke Dir, eine
Bettgarnitur! Ich bin so ein dummes Mädel, aber kaum war Mama bei der
Türe draußen, so hielt ich es nicht länger aus. Ich warf mich auf die
neuen Schätze und weinte, weinte Fluten von Tränen, und doch hätte
ich keinen richtigen Grund anzuführen gewußt. Ich hatte nur so ein
unbestimmtes Gefühl -- bitte, Käthe, lach' mich nicht aus! --, daß mir
eine Bettgarnitur nur Freude bereitet hätte, wenn sie für zwei gewesen
wäre, so ein dummes, dummes Ding ist Deine Schwester. Und ich kenne ja
nicht einmal einen passenden »Zweiten«.

Um 11 Uhr kam Tante Hermine, Onkel Paul und meine Basen, die mir Blumen
und Tante Stoff zu Hemden gaben. Zu Hemden! Hemden muß mir Mama in jedem
Falle kaufen, wenn ich nicht hemdenlos durch die Welt gehen soll, aber eine
Tante, die sich 364 Tage jede abfällige Bemerkung und jede
verletzende Kritik erlauben kann, hat die moralische Verpflichtung, am
dreihundertfünfundsechzigsten Tage ihrer Nichte als Ersatz dafür ein
wunderschönes Geschenk zu machen, so eine Art Schmerzensgeld zu zahlen,
aber Hemden, das ist die Pein noch erhöhen. Ich hatte so fest auf eine
mattblaue Seidenbluse mit zwei Falten auf jeder Seite und -- aber ich
weiß, daß Dich Kleiderfragen nicht interessieren -- gerechnet, und nun
diese Enttäuschung.

Berta puffte mich, als ich an ihr vorbeiging.

»Wie ich achtzehn Jahre alt war, hatte ich schon einen Bräutigam,« sagte
mir die Natter. Ich hätte ihr gerne geantwortet, daß sie ihn nicht selber
und ehrlich erworben habe, sondern daß große Fleischköder in Gestalt
unzähliger Bewirtungen ausgeworfen worden waren, und daß ein Mann immer
anbeißt, wo es etwas zum Essen gibt; aber Mama warf mir einen warnenden
Blick zu, und ich strafte sie einfach mit geringschätzigem Lächeln.

Tante Hermine bemerkte plötzlich, daß ich mein Sonntagskleid an- und
keine Schürze umhatte.

»Natalie,« sagte sie zu Mama, »deine Tochter wird nie einen Mann finden.
Wenn ein junges Mädchen nicht häuslich erzogen ist und auf den Mann nicht
gleich den Eindruck eines fleißigen Hausmütterchens macht, da ist alle
Hoffnung, sie zu versorgen, vergebens.«

»Aber Hermine, das Kind --« entschuldigte sich Mama.

»Jenny ist kein Kind mehr, Jenny ist heute eine ganz erwachsene junge
Dame,« widersprach die Tante. In meiner Achtung stieg sie dadurch
ungemein, und ich begann ihr sogar das Hemdengeschenk zu verzeihen.

Kaum waren diese Besucher gegangen, als Tante Elly mit Kusine Lotta
anmarschiert kam. Beide wünschten mir viel Glück und mischten, wie immer,
gehörig Pfeffer der Bissigkeit bei.

Tante Elly betrachtete mich eine Weile mit demselben Gesichtsausdruck, den
ich bei ihr wahrgenommen habe, sooft sie in einer Fleischwarenhandlung
die Schinken und Hammelkeulen einer Prüfung unterwirft oder am Markte die
Melonen und Gurken auf ihre Reife prüft, dann wandte sie sich an Mama und
sagte:

»Jenny kleidet sich, als ob sie schon erwachsen wäre, und wie immer gibst
du, Natalie, bei deinen Kindern nach. So ein Backfischlein soll noch kurze
Kleider tragen und in jedem Fall sich nicht die Locken drehen.«

»Jenny sollte lieber noch die Naturwissenschaften studieren, sie ist
noch ein furchtbarer Ignorasmus und müßte wenigstens drei Jahre
täglich Unterricht von guten Professoren erhalten, um sich in gebildeter
Gesellschaft sehen lassen zu können,« fügte Lotta bei, und ihre
Nasenspitze fuhr in die Luft.

»Meine Liebe,« dachte ich mir, »so viel von der Naturgeschichte weiß
ich wahrlich, um bestimmen zu können, daß du eine auf zwei Beinen gehende
Klapperschlange bist,« aber laut wagte ich nichts zu sagen. Du, Käthe,
hättest ihnen gleich eins über den Schnabel gegeben. (Und mit Vergnügen,
dachte ich. Arme Schwester!)

Lotta gab mir eine kleine Bronzefigur, einen Tänzer vorstellend, und
fügte der Gabe noch einige gute Lehren bei. Tante Elly gab mir eine Tüte
Backwerk -- zur Versüßung der Pille wahrscheinlich. Sodann versicherte
sie Mama, daß sie bei uns beiden den Erziehungswagen total verfahren habe,
daraufhin gingen sie. -- --

Als ich nach dem Abmarsch sämtlicher Verwandten durch den Garten lief,
um mich moralisch auszulüften und gerade über ein paar Rasenflächen
gesprungen war, hörte ich über den Zaun herüber den jungen Doktor mit
verstellter Demut fragen:

»Wohin sehen meine Augen die achtzehnjährige Majestät in voller Würde
schreiten?«

Ich ärgerte mich wahnsinnig, nicht würdevoller den Garten
herabgeschritten zu sein, denn weißt Du, Kather, dieser junge Mann ist der
Sohn des Oberstabsarztes, der soeben sein Doktorexamen überstanden hat und
nun darauf ausgeht, die Mitmenschen so schnell als möglich in die nächste
Welt zu schicken, wie Großmama sagt, was aber nur Verleumdung ist,
verstehst Du? Er ist so hübsch und hat einen so zierlichen schwarzen
Schnurrbart und so schöne schwarze Augen und ein interessantes blasses
Gesicht, daß ich mich ihm gleich anvertrauen würde -- wie dumm ich mich
ausdrücke --, jetzt wirst Du glauben, seiner Schönheit willen geschieht
es. Nein, nein.

Eigentlich behandelt er mich gar nicht als »erwachsen«, er hat mich vor
ganz kurzer Zeit noch am Zopfe gezogen und fragt mich auch, sooft er mich
sieht, wie viele Speise ich kürzlich bei meinen Kochversuchen verdorben
habe, aber ich antworte immer höflich -- man muß gegen Nachbarn höflich
sein, sagt Mama, und so entgegnete ich auch diesmal ohne scheinbaren
Aerger:

»Ich hole einige Blumen für den Mittagstisch.« Ein wenig warf ich
trotzdem die Lippen auf. Einer erwachsenen Dame gegenüber -- -- --

Aber im nächsten Augenblick war jeder Mißmut verschwunden. Er reichte
mir einen Strauß der herrlichsten La France über den Zaun und rief
fröhlich:

»Gratuliere, Geburtstagskind!«

O Käthe, Männer können doch entzückend sein, wenn sie wollen -- aber
leider wollen sie nur so selten, so äußerst selten!

Ich habe mir die Rosen aufgehoben, als sie trocken geworden. Man hat nur
einmal im Leben einen achtzehnten Geburtstag, gelt, Käthe? Ich wünschte,
ich wäre so mutig wie Du und könnte in die weite Welt ziehen. Der Doktor
-- ich habe Dir gar nicht seinen Namen gesagt, er heißt Emil Wurmbrandt --
hat mir neulich gesagt:

»Fräulein, um Ihret und um Ihrer Freunde willen wünschte ich, daß Sie
Ihrem Fräulein Schwester ähnlicher wären!« Käthe, wie soll ich das nur
anfangen? Willst Du mir helfen?

Jetzt muß ich schließen -- wir gehen auf ein Tanzkränzchen, und ich habe
ein hinreißend schönes Kleid mit rosa Schleifen auf der rechten -- aber
das interessiert Dich nicht.

Schicke nur recht oft ein Modeheft!

  Deine Schwester Jenny.«

Ich legte den Brief neben mich auf das Bett, dessen Matratze in mir das
Empfinden wachrief, als läge ich auf einem Kartoffelsack, denn sie bestand
aus Hebungen und Senkungen, mit gelegentlichen Vorgebirgen und Tiefebenen,
lehnte mich müde zurück und dachte über die Zeit meines freiwilligen
Exils nach. Drei Jahre, seit ich von der Heimat fort war! Der Mann, den
ich einst geliebt hatte, war tot -- und mehr. -- Oft später hatte ich
Heiratsanträge von Männern der verschiedensten Nationen gehabt, ohne daß
ich mich zu einer Ehe hätte entschließen können. Sie sprachen dieselben
Worte, gebrauchten dieselben Beteuerungen, würden dieselben Kosenamen
anwenden, die _er_ einst gebraucht, und dies verletzte mich jedesmal im
Herzen. Ich hätte es nicht ertragen können, nein, nie! Jennys
biegsamer Charakter, ihr flatterhafter Sinn paßten sich den heimischen
Verhältnissen viel besser an als der meinige. Sie würde heiraten, weil
man ihrer und Mamas Ansicht nach heiraten mußte, weil es »hübsch«
war, »gnädige Frau« zu sein, und weil man sich doch nicht um eine
Hochzeitsreise beschwindeln lassen durfte, nicht weil sie den Mann, den sie
erwählte, besser als alles auf Erden liebte. Sentimental war Jenny nicht,
sie genoß das Leben, ohne sich über das Warum und Woher den Kopf zu
zerbrechen.

Drei Jahre! Mir schienen es zwanzig Jahre, so reich an Erfahrungen war
die Zeit gewesen. Dem Glücklichen schlägt keine Stunde, sagt man, um
so besser vernimmt der Unglückliche nicht nur den Stunden- sondern
den Sekundenschlag. Dem Frohen dünkt das Jahr eine angenehme Folge von
Frühling, Sommer, Herbst und Winter, der Traurige teilt das Jahr in
365 Tage ein, von denen jeder Tag 24 Stunden hat, von denen er gewiß
16 Stunden sich seiner Lage voll bewußt ist und die 60 Minuten jeder
einzelnen Stunde auf bleiernen Schwingen vorüberziehen fühlt.

Ich setzte meinen Hut auf und zog den Mantel fester um mich. Ich wollte
durch die triefenden Gassen wandern, um meine Glieder in eine andere
Stellung zu bringen. Der frühe Abend war angebrochen, die Gaslaternen
warfen ihren Schein über das nasse Pflaster, und ich dachte, als ich
langsam in dieser Einsamkeit dahinstolperte, darüber nach, wie man die
gegenwärtige Lage verbessern könnte. Heimkehren wollte ich nicht, ich
brauchte bloß an alle Vorwürfe bezüglich meiner »Verschiedenheit« von
den anderen Mädchen zu denken, um diese Idee zu verwerfen, weiterleben so
konnte und wollte ich noch weniger. Da reifte langsam der Entschluß, den
ich bis jetzt verworfen hatte: Ich wollte sterben. Aber wie? Ich ging der
Reihe nach alle Gifte und ihre Wirkungen durch und wünschte, ich wäre
Chemiker. Aus den Bars drang Musik, aus einigen Häusern ertönte Lachen.
An den Mauern entlang huschten Schatten -- Unglückliche, die kein
Heim, kein Obdach hatten. -- Ich betrat Tottenham Court Road mit seinen
glänzenden Ankündeschildern, hellerleuchteten Cafés und vielen
Straßenlaternen. Gleichgültig gegen alles schritt ich dahin und blieb
unwillkürlich, eher geistig als körperlich müde, vor einem Bilderladen
stehen, als ich mir plötzlich bewußt wurde, daß jemand an meiner
Seite stand und ein Gespräch anknüpfen wollte. So etwas war mir früher
hundertmal passiert und hatte mir immer schnell über die belebteste
Straße geholfen, heute jedoch war ich so müde, daß ich mich nur langsam
weiterschleppte. Der Schatten an meiner Seite blieb, und ich hütete mich,
in seine Richtung zu schauen. Ich glitt vom Bürgersteig herab und ging auf
die andere Seite der Straße, worauf ich in eine Seitengasse einbog, die
mich nach Guildford Street zurückführen sollte.

Auf einmal sagte jemand dicht neben mir:

»Gu Habend!«

An meiner Seite stand der »Schatten« von früher. Ein koketter
Schnurrbart und große dunkle Augen waren das Auffallendste an ihm. In den
Augen vieler Mädchen hätte er gewiß als schön oder wenigstens hübsch
gegolten, mich stieß der siegesgewisse Ausdruck in seinem Gesicht ab.
Nachdem ich ihn von oben bis unten schweigend betrachtet hatte, ging ich
weiter. Er folgte unverdrossen, was man sonst in London nie tut, wenn keine
Ermutigung erfolgt. Was sollte ich tun? Der Kerl sah wie ein Italiener aus,
ich bat ihn daher in dieser Sprache, mich in Ruhe zu lassen.

»Ick bin Kritsch,« sagte er.

O du Himmel, von der Sprache habe ich noch nie etwas gehört. Konnte er ein
Orientale sein oder irgendein Südamerikaner? Er sah doch wie ein Europäer
aus. Ich versuchte es mit Französisch, mit Spanisch und Deutsch. Umsonst!
Alles, was ich erreichte, war:

»Ick sein Kritsch, Sie nette Mäk--ken!«

»Ick Tabak zuzuzuzuzuzu!« erklärte er nach einer Pause. Dieses Wort war
der gewünschte Blitz im Dunkel. Fast alle Tabakverkäufer in London sind
Türken oder Griechen. Der »Kritsch« war ein Grieche.

Vor einem schmutzigen Hause blieb er stehen.

»Hier bin ick!« erklärte er mir.

»Freut mich!« entgegnete ich und ging weiter.

»Nick gehn -- nick gehn --« rief er gereizt, lief mir nach und faßte
mich am Arm. Nirgends war eine Menschenseele zu sehen, die mir zu Hilfe
hätte kommen können, aber dessen bedurfte es auch nicht. Ich wußte,
daß ich eine Stimme produzieren konnte, die sich über mehrere Gassen
erstrecken würde -- wenn notwendig. Vorläufig versuchte ich im
einfachsten Englisch, jedes Wort so klar und deutlich wie möglich
aussprechend, dem »Kritsch« begreiflich zu machen, daß er an die
gefehlte Adresse gekommen sei.

»Gute Kaffee -- sehr gute Kaffee oben,« wiederholte er. »Süße Frückt,
viel süß auck,« zählte er seine Lockmittel auf.

Ich schüttelte den Kopf, daß mir das Genick weh davon tat. Dieses Zeichen
mußte denn doch international sein, aber die Hand des Griechen hielt mich
so fest wie im Anfange.

Endlich zog er ein Goldstück aus der Tasche und reichte es mir. Nun begann
der Spaß mir zu viel zu werden, und zum Glück erschien am Ende der Gasse
in diesem Augenblick die Säule der Gerechtigkeit. Das Geldstück gewaltsam
in die Hand des Griechen zurückdrückend und mit der freien Hand auf
die kommende Gestalt zeigend, stieß ich ihn von mir. Ein Blick auf die
uniformierte Persönlichkeit, das Sinnbild von Ordnung und Sittlichkeit,
war auch genug gewesen. Der »Kritsch« verschwand in dem Hause, als ob
der Böse hinter ihm wäre, und ich konnte ruhig meinen Weg fortsetzen. Die
Episode hatte mich aus der Melancholie aufgerüttelt und meinen Gedanken
eine andere Wendung gegeben.

Wenn nun so ein armes Mädchen, das vielleicht nicht genug Geld hat, um
für sein elendes Zimmer zu zahlen, an meiner Stelle gewesen wäre? Wenn
man so jemand das Goldstück angeboten hätte in einer kalten, trostlosen
Nacht? -- Wie leicht wird es den reichen Mädchen, die immer begleitet,
immer beschützt herumgehen, die nie etwas entbehren, gut zu bleiben, und
mit welcher herzlosen Verachtung und mit welchem Dünkel sehen sie auf ihre
unglücklichen Schwestern herab, die eine ganze Kette ungünstiger Zufälle
nach schwerem Kampfe aus reiner Ermüdung zu Fall gebracht. Diese
reichen Mädchen sollten bedenken, daß sie nur gut sind, weil sie keine
Möglichkeit haben, etwas anderes zu sein. Urteilen können sie erst, wenn
sie selbst im Kampfe gestanden und gesiegt haben, -- verurteilen nie. --

Ich schritt nachdenklich heimwärts. In den belebteren Gassen strömten
die Gläubigen aus allen Kirchen und sonstigen Gebäuden, wo religiöse
Uebungen abgehalten wurden, heraus, übermäßig elegant gekleidete Frauen
schritten mit gemalten Gesichtern und frechem Ausdruck um den Mund auf und
ab, im Rinnsal spielten einstige Künstler, die in der Welt herabgekommen
waren, Violine, und Sängerinnen, deren Stimme versagt hatte, sangen
Opernarien, vom Lärm der auf und nieder flutenden Fuhrwerke übertönt.
Vergrämt aussehende Italienerinnen mit schwarzem Tuche malerisch um das
noch immer anziehende Gesicht geschlungen, standen in den Pfützen
und drehten die Drehorgel, auf der mit großen Buchstaben ihre
Leidensgeschichte geschrieben war, Blumenmädchen boten schüchtern die
Parmaveilchensträuße an, und zwischen ihnen hindurch, an ihnen vorüber
schritt ich ernst und dachte darüber nach, wie ich wohl am besten sterben
könnte. Tränen des Himmels -- die kühlenden Regentropfen -- benetzten
mein blasses Gesicht, und der Wind fuhr wie leise liebkosend darüber hin.
Und so erreichte ich mein Heim -- besser das Loch, wo ich das erkaufte
Recht hatte, mich niederzuwerfen -- wieder.

Kein Licht -- trotz allen Gebets kein Licht -- zeigte sich am fernen
Horizont. Und die Tage kamen und schwanden.



    =Voghiam, voghiamo, o disperate scorte,
    Al nubiloso porto de l'obblio,
    A la scogliera bianca de la morte= --

      =Carducci.=

VIII.


Der Frühling mit seinen scharfen Ostwinden war vorüber, der Sommer
war jäh ins Land gezogen. Nicht länger legte sich der Nebel über die
Siebenmillionenstadt, aber der bekannte Großstadtdunst hatte zur Folge,
daß man den Himmel trotzdem nie klar zu sehen bekam, so daß ich mich oft
fragte, ob bei uns daheim der Himmel wirklich so blau gewesen, wie meine
Phantasie ihn mir nun vorspiegelte.

Ich hatte heimgeschrieben und Mama gebeten, mir Jenny auf einige Wochen zu
überlassen. Ich verdiente genug, um mir diesen Luxus leisten zu dürfen,
und ich verging vor Sehnsucht nach irgendeinem Wesen, mit dem ich hätte
sprechen können. Jenny verstand mich nicht, aber es war doch meine
Schwester, zu der ich sprach, um die ich sorgen durfte. Wie gefürchtet,
gab Mama nicht ihre Zustimmung. Die Tanten hatten ihr so lange abgeredet,
da es Jenny so selbständig machen würde, und ein Mädchen müsse
vorsichtig sein, wenn es eine gute Partie machen wolle usw. -- So war meine
letzte Hoffnung geschwunden. Mein alter Freund und Kollege war erkrankt,
viele Bekannten hatten London verlassen, die Verhältnisse im Amt waren
bedeutend unangenehmer geworden, eine kleine Französin, der ich lange
geholfen hatte, und für die ich monatelang allerlei Opfer brachte, zeigte
sich als Feindin und als vollständig undankbar -- ich war des ewigen
Einerleis satt, ich glaubte an nichts mehr, da Rettung von keiner Seite
kam, ich konnte das innere Gleichgewicht nicht finden, und was ich
vor wenigen Wochen noch als Möglichkeit betrachtet hatte, war nun zum
Entschluß geworden. Gifte waren schwer erhältlich, ich wollte daher ein
langsames Mittel anwenden, von dessen Unfehlbarkeit ich oft gehört hatte.
Ich kaufte Weinessig und trank ein Glas davon jeden Morgen. Oh, die Qualen,
die ich ausstand! Der Ekel, der mich jedesmal überkam, wenn ich das
Glas an meine Lippen führen sollte, die entsetzlichen Schmerzen, die dem
Genusse des Getränks folgten! Manchmal taumelte ich vor Schmerzen und
Unwohlsein gegen eine Straßenecke, oft saß ich Stunden nachher fast
regungslos auf meinem Stuhl im Amte, die Arbeit nur mechanisch ausführend,
während große Schweißperlen auf meiner Stirn standen. An manchem Tag
erbrach ich, was ich getrunken, und der Brechreiz und Ekel waren oft so
heftig, daß ich nahe daran war, das Glas auf den Boden zu schleudern und
aufzuhören, aber da sah ich mich in meiner Bude um, dachte, daß ich eine
lieb- und freudenlose Existenz möglicherweise noch sechzig Jahre würde
ertragen müssen, und wie sauer der Essig, wie furchtbar der Widerwille
auch war, ich setzte an und trank aus. Es war schwer, oh, so schwer zu
sterben, aber es war noch grauenvoller zu leben, vielleicht gar lange leben
zu müssen. Nur das nicht! Und ich trank -- ich trank -- und wieder kamen
die Tage und schwanden. --

In dem Dunkel, das mich umgab, war der einzige Lichtpunkt der kleine
Chinese. Seit über sechs Monaten war er nun mein Schüler, und jede Stunde
brachte uns näher zueinander. Er hatte Tee aus China erhalten und machte
nun jedesmal Tee, sooft ich ihm eine Stunde gab. Er hatte einen kleinen
Schnellsieder, einen Teetopf und zwei hübsche Tassen und war so geschickt
bei der Teefabrikation wie das allerhausmütterlichst erzogene deutsche
Mädchen. Er hielt mir immer das Wasser und die Kanne hin, damit ich mich
überzeugen konnte, daß kein »Pulver« verwendet wurde, obschon ich ihm
oft sagte, daß ich keinerlei Zweifel hegte.

Er hatte der großen Hitze wegen -- die ich zwar, sei es Schwäche oder
Unempfindlichkeit, nicht fühlte -- einen kleinen Fächer und fächelte
sich unaufhörlich; auch klagte er wieder, daß man hier so »dumm«
gekleidet gehe. Sein Heimweh war größer denn je.

Sooft er neue Kleider erhielt, zog er immer die Schachtel sorgsam auf
das Sofa und zeigte mir alles -- rühmte den Schnitt der Beinkleider, die
Weichheit des Stoffes, die Farbe der Weste usw. und führte auch seine
schönen chinesischen Seidenhemden vor, die mir wirklich gefielen. Sie
waren so dicht, so weiß und so weich. Sonst mußte ich über seine
Eitelkeit lachen. Er kaufte wenigstens vier Krawatten wöchentlich und war
auch in anderen Luxusartikeln geradezu verschwenderisch. Er war sehr eitel
und fand an Kleidern denselben Gefallen, hatte für die Mode dasselbe
Interesse wie Jenny daheim, stäubte seinen Salon täglich noch einmal
selbst ab, ordnete und kaufte Blumen und hatte sehr viel Sinn, ein Zimmer
behaglich zu machen. Er drückte allem, mit dem er in Berührung kam,
seinen Stempel auf, während ich immer, selbst daheim in meinem eigenen
Zimmer, ein Gast, stets ein Fremdling blieb. Mein einziger Stempel, wenn
ich überhaupt einen aufdrückte, war -- ich muß es mit Schande gestehen
-- die Unordnung.

Es geschah oft, daß Ming Tse nach der Stunde ein kleines Sträußchen
aus der Vase zog und es mir mit der Bemerkung gab, ich müsse etwas im
Knopfloch tragen. Als Schüler war er faul -- maßlos faul --, aber er
brachte mich mit seinen Grimassen, seinen treffenden Kritiken, seinen
komischen Stellungen und der Eigenartigkeit seines Wesens trotz meines
Trübsinns noch immer zum Lachen -- kurz, von allen Freunden und Bekannten
war er der einzige, der mir geblieben, daher sagte ich mir oft -- oft sogar
mit innerem Zittern -- »noch eine schwache Säule zeugt von entschwund'ner
Pracht --«

Der Kleine tyrannisierte mich indessen, als ob er Professor und ich der
Schüler wäre. Ich mußte tun, was er nun einmal wünschte -- und ich tat
es. Eines Tages sagte er mir:

»Herr Hian-Sho-Dschin, dem ich von Ihnen erzählt habe, möchte gern von
Ihnen Stunden nehmen. Sie werden gehen, nicht wahr?« fragte er mich in
dem Tone und mit dem Gesichtsausdrucke, der sagen wollte: »Du mußt!«
und daher erklärte ich mich bereit. Ob ich mich zu Tode arbeitete oder
sonstwie ins Grab sank, war ja einerlei, wenn ich nur diese Erde los wurde.

Am folgenden Tage erwartete er mich bei der Haltestelle der Elektrischen,
um mich zu seinem Freunde zu führen. Wir wanderten Seite an Seite den
kleinen Hügel hinauf, der zu der Wohnung Hian-Sho-Dschins führte, und
anstatt wie sonst weit von mir entfernt dahinzugehen, kam er diesmal näher
und legte sogar einige Sekunden lang seine kleine Hand auf meine Schulter.
Ich war so verwundert, daß es mir nie eingefallen wäre, die Hand
abzuschütteln. Im Gegenteil, ich ging vorsichtig weiter und tat nichts
dergleichen. Er mußte jedenfalls von seinem Lehrer eine gute Meinung
haben, so erklärte ich mir diese neue Vertraulichkeit.

Als wir ankamen, war der junge Seekadett Hian-Sho-Dschin noch nicht daheim.
Ming Tse führte mich daher in seinen Salon und tat, als ob das ganze Haus
sein eigen wäre. Ich setzte mich in einen Lehnstuhl ans Fenster, Ming Tse
dagegen ging überall herum, untersuchte alle Bücher, alle herumliegenden
oder -stehenden Gegenstände und zog, als er damit fertig war, zu meiner
überaus großen Verwunderung einen Schlüsselbund aus der Tasche, mit
welchem er sofort daran ging, zu versuchen, alle Schlösser aufzubrechen.
Einige gaben nach, und Ming Tse untersuchte sorgfältig den Inhalt der
verschiedenen Laden und Kasten.

»Aber Herr Ming Tse!« rief ich entsetzt, »was wird Ihr Freund sagen?«

»Gar nichts; ich bin ja sein Freund,« meinte er lakonisch.

»Das ist bei -- Chinesen -- so Sitte,« dachte ich mir und wußte nicht,
ob ich lachen oder mich ärgern sollte.

Inzwischen hatte Ming Tse mit Hilfe seiner Schlüssel alles geöffnet und
durchgesehen, was noch geöffnet werden konnte, mit Ausnahme einer Lade,
die allen Anstrengungen widerstand. Mein kleiner Chinese ließ sich nicht
einschüchtern. Ruhig zog er sein Taschenmesser heraus und begann das
Schloß zu erbrechen.

»Das geht wirklich nicht,« protestierte ich. »Was wird Ihr Freund von
mir denken?«

»Oh,« entgegnete er lachend. »Sie brauchen es ja nicht mir
nachzumachen.«

Inzwischen war das Schloß erbrochen, und Ming Tse las die Briefe, die
in der Lade waren, alle mit der größten Seelenruhe durch, kein Protest
meinerseits konnte ihn davon abhalten.

»Ich muß wissen, wieviel Mädchen er hat,« gab er als Entschuldigung
für seine Handlungsweise an.

»Lieber Herr Ming Tse,« warf ich lachend ein, »kümmern Sie sich,
bitte, mehr um den armen Jakob I., von dem Sie nach fünf Monaten
noch ebensowenig wissen wie vor diesem Zeitraum, und lassen Sie Herrn
Hian-Sho-Dschins Briefe in Ruhe. Sie sind noch zu klein, um an Mädchen zu
denken,« neckte ich ihn.

»Meinen Sie?« Ein eigenartiger Ausdruck kam in sein Gesicht, die
Augenlider senkten sich fast ganz über die schwarzen Punkte, und nur zwei
Schlitze leuchteten mir aus dem gelben Gesichtchen entgegen.

»Größer werde ich nie werden,« sagte er mit Nachdruck, »und
Hian-Sho-Dschin ist nicht einen Tag älter als ich,« fügte er hinzu.

In diesem Augenblick kam mein Schüler, und das Gespräch wurde
abgebrochen. Der neue Chinese war bedeutend größer als Ming Tse, hatte
aber ein kugelrundes Gesicht, wirres schwarzes Haar, das wie Borsten
abstand, runde, ausdruckslose Augen und dicke Lippen, die unregelmäßige
Zähne verdeckten, von denen der eine ganz ausgebrochen war. In seinem
ganzen Auftreten lag etwas Unsicheres, Verschlafenes, was mich fürchten
ließ, kein besonderes Kirchenlicht erfangen zu haben. Ming Tse wohnte der
ersten Stunde als Kritiker bei. Er machte Grimassen, sobald Hian-Sho-Dschin
einen Fehler machte und unterhielt sich und mich, indem er nachäffte,
wie zögernd und unbeholfen der Seekadett ein Diktat schrieb. Er ließ die
Feder immer ein paarmal in der Luft herumfahren, bevor er ansetzte, und
auch da sah es aus, als ob er ein Greis wäre, dessen Hand die Feder nicht
mehr ruhig führen könne.

Sein Ideal war das Lesen politischer Artikel, von denen er gewiß nichts
verstand, aber da seine Begeisterung für diese Art Literatur so groß war,
tat ich nichts dagegen.

Mit wahrer Gönnermiene führte er mich nach der Stunde von Hian-Sho-Dschin
weg und sagte mir in dem Tone eines weisen Vormundes, indem er mich von der
Seite ansah:

»Sie dürfen aber nie -- nie etwas annehmen von Hian-Sho-Dschin, er ist
noch viel schlimmer als Hoang-Zo.«

Ich gelobte feierlich, seiner Warnung zu gehorchen, konnte mich jedoch
nicht enthalten, innerlich zwischen Europa und Asien einen Vergleich zu
ziehen. Auf seine Art und Weise hatte der kleine Chinese mich gewiß gern
-- er war sogar um mich besorgt --, aber dies hinderte ihn nicht, mich mit
gefährlichen Personen bekannt zu machen, nein, mich geradezu zu bitten,
hinzugehen. Warum?

Während wir über die Heide gingen, fragte ich ihn:

»Herr Ming Tse, würde es Ihnen leid tun, wenn ich sterben würde?« Ich
fühlte, daß ein Wort des Bedauerns mir wohltun könnte.

Er sah mich verwundert an. »Ja, gewiß.« Nach einer kleinen Pause fuhr
er fort: »Ich würde einen Brief schreiben, einen sehr langen und lieben
Brief und ihn auf Ihrem Grabe verbrennen.«

Nach chinesischen Anschauungen kann nämlich der Tote auf diese Weise
erfahren, was der Lebende ihm sagen wollte. Unwillkürlich erwachte die
Neugierde in mir, zu erfahren, was in dem langen und lieben Briefe stehen
würde, aber ich sagte nur:

»Das wäre in der Tat sehr lieb von Ihnen, Herr Ming Tse.«

»Sie sind mein liebster Professor,« entgegnete Ming Tse, und ich fühlte,
daß mir vor Rührung die Tränen in die Augen stiegen, kam ich mir doch so
verlassen und unverstanden vor, und tat mir dieser einfache Ausspruch, der
am Ende ja nur »chinesische Höflichkeit« war, doch so wohl! Ich wandte
indessen mein Gesicht ab, um meinen kleinen Chinesen nichts von dem, was in
mir vorging, merken zu lassen. --

Es mochte mehr als eine Woche verstrichen sein. Seit etwa vier Wochen hatte
ich mit Aufbietung aller meiner Willenskraft jeden Morgen ein Glas Essig
getrunken, aber zu meiner Verzweiflung merkte ich noch gar keine Wirkung.
Wohl war ich blasser geworden und hatte dunkle Ringe unter den Augen, wohl
aß ich wenig und ging mit Anstrengung, trotzdem flüsterte mir eine innere
Stimme zu, daß ich nicht, wie ich ausgerechnet hatte, in sechs Monaten
tot sein würde. Ich fühlte mit Mutlosigkeit, daß ich diese Marter nicht
sechs Monate aushalten könnte -- ich mußte ein anderes, ein schnelleres
Mittel finden, aber welches?

Da erinnerte ich mich an »Der Blumen Rache« von Freiligrath. Ich wollte
Lilien, Tuberrosen und andere stark duftende Blumen kaufen, Tür und
Fenster sorgfältig verhängen, einen langen, langen Spaziergang machen,
von dem ich todmüde nach Hause kommen würde, wollte mich auf das Bett
werfen, wo ich so oft bitterlich weinend gelegen hatte, und wollte die
Blumen in allerlei Gefäßen um dasselbe gruppieren, die am stärksten
dufteten aber auf mich legen und dann -- Hoffentlich gab es kein Erwachen!

Ich hatte die Nacht vom Sonnabend zum Sonntag gewählt. Dieser Tag war
immer so viel entsetzlicher als die sechs anderen zusammengenommen, daß
ich mir eine wahre Freude daraus machte, einen Sonntag zum Abfahrtstag
zu ernennen. Ob Hölle, ob nichts auf der anderen Seite -- es war mir
gleichgültig. Ich hatte die Hölle hier, und das Nichts hat mich nie
erschreckt. Wie schön, wie überwältigend schön es sein mußte, zu
vergessen, daß man je gelebt hat! Dann waren alle Leidenschaften tot, alle
Wünsche begraben. Ich verbrannte meine Briefe, verschenkte meine alten
Kleider, gab meinen Kolleginnen kleine Geschenke und rechnete meine
Hinterlassenschaft zusammen. Sie würde klein sein, da mich die Blumen so
viel Geld kosten würden. Sooft ich an einem Blumengeschäft vorbeiging und
mein Auge auf die großen, glänzenden, stark duftenden Lilien fiel, fuhr
ein leiser Schmerz durch mein Inneres. Sterben war ja schön -- es war das
einzige, was mir Trost bringen konnte, was erfolgreich die Sehnsucht nach
Glück in mir vernichten würde, aber es war traurig, zu sterben, bevor man
gelebt hatte. Ich hatte treu geliebt und lange -- so lange, daß ich nie
vergessen konnte, und doch hatte ich das oft damit verbundene Glück nie
gekannt, kaum geahnt. Ich schüttelte heftig diese unnützen Betrachtungen
ab und sagte mir leise: »Uebermorgen!«

Und mir schien es, als hörte ich die Schwingen des Todes mich umrauschen.



[Illustration:

  A. F. Seebacher]



    Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt,
    Und bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt.

      Goethe.

IX.


Es war Freitag abends -- noch vierundzwanzig Stunden, und die Frist war
abgelaufen. Heute sah ich Ming Tse -- den letzten Lichtpunkt in
meiner traurigen Existenz -- zum letztenmal. Noch einmal würde
das fremdländische Parfüm des chinesischen Tees den kleinen Raum
durchstreifen und mich schmeichelnd umkosen, noch einmal würde die
komische, kleine Gestalt den Federstiel in den Mundwinkel versetzen und
nachdenklich aufwärts blicken, noch einmal würde ich sein ansteckendes
Lachen hören, noch einmal von ihm zur Elektrischen begleitet werden, und
dann -- dann war alles vorüber. Montag früh würde man hoffentlich in
den Blättern lesen, daß -- aber wozu daran denken? Nicht mehr sechzig
trostlose Jahre vor mir, Friede, Ruhe! Wie schön mir die bestaubten
Blüten am Wegrand schienen, wie weich ins Rosa der Farbenton der fernen
Wolken ging! Wie die einfachen Sperlinge mir zart geformt vorkamen und die
Klänge einer Mundharmonika Erinnerungen an längstvergangene Kindertage
wachriefen. In diesem Augenblicke fühlte ich, daß ich die Welt liebte,
nicht weil ich zu bleiben wünschte, sondern weil ich wußte, daß ich von
ihr schied, gerade deshalb liebkoste ich alles, was ich sah, in Gedanken
und nahm Abschied von all dem Schönen, das sich mir zeigte.

Ming Tse kam mir wie immer freundlich entgegen und gab mir eine rote Rose,
indem er sagte, daß diese auf der weißen Bluse sich gut ausnehmen würde,
hierauf schritten wir an die Arbeit. Ich machte nur wenige Ausstellungen,
und nur, als das Ende der Stunde nahte und er den Tee in der kleinen rosa
Tasse vor mich hinstellte, fragte ich ihn, ob er nicht einige deutsche
Gedichte lesen wollte. Ich hatte ihm vor einigen Tagen ein Buch deutscher
Gedichte der hervorragendsten Dichter gegeben -- es sollte ihm eine Art
Erinnerung sein, wenn -- Er erklärte sich zu meiner inneren Verwunderung
gleich bereit, meinen Wunsch zu erfüllen. Was sollte dieser mir so
unbekannte Eifer bedeuten? Wollte er mir in das Grab die Ueberzeugung
mitgeben, die ich bisher nicht von ihm gehabt, daß er sich für etwas
nicht rein Materielles interessieren könne?

»Was soll ich lesen?« erkundigte er sich, indem er das Buch vom Regal
nahm und es aufschlug.

Ich weiß nicht mehr, was wir zuerst gelesen, das zweite Gedicht aber,
das ich wählte, war der »Erlkönig«, weil es mir leicht verständlich
erschien.

Ming Tse las und übersetzte weit besser als gewöhnlich, doch als wir
zur vorletzten Strophe kamen, ging mein Erstaunen geradezu in Bewunderung
über, denn er las diesen Vers zweimal, und zum erstenmal, seit ich ihn
lesen hörte (und das geschah nun fünfmal wöchentlich seit nahezu
acht Monaten), lag ein gewisses Gefühl, etwas wie Pathos in Stimme und
Ausdruck.

»Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt,« sagte er und
sah absolut überzeugt aus von dem, was er las. »Was war nur in ihn
gefahren?« überlegte ich.

»-- und bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt!« Eigentlich schien
mir dieser Teil noch besser zu gefallen, wenigstens legte er den größten
Nachdruck auf »so brauch ich Gewalt«. Ich muß ihm unrecht getan haben,
sagte ich mir. Er hat Gefühl und Verständnis für Kunstgenüsse, er
hat möglicherweise sogar eine Seele (was ich bis dahin sehr angezweifelt
hatte) und ist besseren, erhabeneren Regungen zugänglich, nur hat niemand
es verstanden, sie in ihm zu entwickeln.

Während ich mich diesen Betrachtungen hingab, hatte Ming Tse das
Gedicht fertig gelesen und niedergelegt. Der eine Arm lag auf der grünen
Tischdecke, der andere lag regungslos auf seinen zaundürren Beinchen.
Die Sonne war im Sinken begriffen, und die ersten Schatten der Dämmerung
erfüllten den Raum, ohne jedoch das Anzünden der Lampe nötig zu machen.
Seine ruhigen, immer gleichen Gesichtszüge verrieten nichts von dem, was
in ihm vorgehen mochte, nur die wimperlosen Lider waren tief gesenkt --
die Augen schienen geschlossen. Durch das offene Fenster drang fernes
Klavierspiel undeutlich herein, und in der kurzen Pause konnte man das
Summen einer ins Zimmer verirrten Biene hören.

Die Augen öffneten sich nicht, aber das Gesicht wurde mir zugewendet, als
er die Frage an mich richtete:

»Wollen Sie meine Frau werden?«

Wenn der Mond vom Himmel herab und zum offenen Fenster hereingestiegen
wäre, hätte ich nicht erstaunter sein können. Ich habe doch schon öfter
selbst Heiratsanträge gehabt, habe den Verlobungen anderer beigewohnt
(gewiß ein seltener Fall), hatte manch ein Paar Liebende zusammengebracht,
aber so etwas wie diese unvermittelte Frage über den Tisch herüber
von dem kleinen Chinesen -- das überstieg selbst meinen doch gewiß
ungewöhnlich ausgedehnten Horizont.

»Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt, und bist du
nicht willig, so brauch' ich Gewalt,« sagte Ming Tse mit jener
unerschütterlichen Ruhe, die nur ein Asiate haben kann. Die Worte an
und für sich waren freundlich gemeint, der Ton hätte in seiner
Leidenschaftslosigkeit ebensogut »ich hasse dich« ausdrücken können.

»Würden Sie mit einer Europäerin glücklich werden können, und würde
Ihr Vater einen solchen Schritt Ihrerseits je billigen?« fragte ich, als
ich den Gebrauch meiner Sprachwerkzeuge zurückerlangt hatte.

»Mein Vater hat Europäer gern, und er weiß, daß ich mit Ihnen stets
weiterstudieren könnte. Was mich anbetrifft, so sind Sie die einzige
Person, die ich in Europa gern habe, und in China habe ich nur noch eine
Person lieb -- meine Mutter!« sagte er ruhig.

Ich hätte um alles in der Welt gern seine Augen gesehen. Wenn man über
seine ganze Zukunft entscheidet, wenn man sein Leben, sein Glück, seine
Freiheit in die Hand eines Mannes legt, so möchte man gern irgendwelche
moralische Ueberzeugung haben, daß er diese Schätze, unser Um und Auf,
zu hüten wissen wird; aber die schwarzen Augen des Chinesen waren verdeckt
von den Lidern, die wie aus Elfenbein geschnittenen Züge verrieten nichts
von seinen Gefühlen oder Absichten, und er kam mir nicht näher. Er saß
mir gegenüber und -- wartete.

Sollte ich »nein« sagen? Allerdings entging ich damit neuen moralischen
Konflikten, möglicherweise wies ich damit kommendes Unheil ab, aber
andrerseits, warum sollte ich nicht »ja« sagen? Meine Lage war nicht wie
die anderer Mädchen. Einen Europäer hätte ich nicht heiraten mögen,
weil er mich zu sehr an -- an ihn, den Verlorenen, erinnert hätte, aber
warum nicht einen Orientalen? Verschieden genug waren sie, um ein Erinnern
auszuschließen.

Und was begann ich, wenn ich »nein« sagte? Ich wollte ja morgen sterben.
War es nicht wie eine Fügung des Himmels, daß mich der kleine Chinese
gerade heute fragte, ob ich seine Frau werden wollte? Der Tod lief
mir nicht davon. Entweder war meine Zukunft heller, und da konnte ich
weiterleben, oder sie war ebenso dunkel oder noch dunkler (ich schauerte
unwillkürlich zusammen), und da konnte ich sterben. Aufgeschoben ist nicht
aufgehoben, und unterdessen konnte ich versuchen, die schlummernde Seele
in diesem kleinen Chinesen zu wecken. Er war ein Jahr jünger, wir waren
gleich groß und im Wissen war er mir weit unterlegen. Ich würde ein
gewisses Uebergewicht haben. Da ich nichts zu verlieren hatte, konnte ich
nur gewinnen.

Ming Tses Augen oder die Ecken seiner Augen blieben die ganze Zeit auf mich
geheftet. »Ja oder nein?« fragte er endlich.

»Ja!«

»Ich bin sehr froh,« sagte er einfach. »Ich freue mich auf die Zeit, wo
wir immer beisammen sein werden.«

Er hatte gleich mir oft und bitter unter der Einsamkeit gelitten, es würde
dies ein Band mehr zwischen uns sein.

Wir lächelten uns zu -- das war alles. Zum erstenmal schien es mir, als ob
die europäische Sitte sich bei einer Verlobung zu küssen, unleugbar seine
Vorteile habe. Gerade in jenen Augenblicken fühlte ich, daß es angenehm
sein müßte, sich, und wäre es auch nur einige Sekunden lang, an
eine anteilnehmende Brust zu lehnen, war ich doch wie ein vom Sturm
mitgenommenes und beinahe gestrandetes Schiff eben in einen Hafen
eingelaufen -- aber der Hafen, das fühlte ich leider gleichzeitig, war
eben ein chinesischer.

Wir sprachen nur über alltägliche Dinge, nur als ich mich erhob, um
wegzugehen, sagte er:

»Jetzt mußt du mich »Du« und »Li Bai« nennen, Käthe!«

»Sehr gerne!« erwiderte ich. Er begleitete mich zur Elektrischen, reichte
mir gerade so einfach die Hand zum Abschied wie immer und fügte nur hinzu:

»Jetzt sind wir Freunde, nicht wahr?«, was ich bejahte. Ein letzter Gruß
von der kleinen braunen Hand, in die ich alles gelegt hatte, was einem
Mädchen teuer sein kann, und die Elektrische trug mich um die Ecke,
während ich das Gefühl hatte, als halte mich irgendein böser Geist bei
den Füßen und ließe mich gewaltsam kopfstehen, wodurch ich alles, was
früher gerade war, verkehrt sehen mußte. Mich deuchte, als hätte sich
mein Gesichtspunkt vollständig verändert, als hätte ich den Splitter
eines Zauberspiegels ins Auge bekommen, der mich alles verzerrt und ganz
anders als vorher erblicken ließ. Er hatte nicht einmal die Hand auf
meinen Arm gelegt -- er war in der Entfernung von einem Meter den ganzen
Abend, auch auf dem Heimwege, geblieben. Wenn ich Verschiedenheit von
Europäern wünschte, hier hatte ich eine genügende Menge davon.

Und auf diese Weise war ich die Braut von Li Bai Ming Tse geworden.



    =Toujours Mars ne met pas au jour
    Des sujets de sang et de larmes,
    Mais toujours l'empire d'amour
    Est plain de troubles et d'alarmes.=

X.


Sechs Wochen waren seit jenem ereignisvollen Abende ins Land gegangen, und
dennoch glaube ich nicht, daß Li Bai und ich uns geistig genähert
hatten in dieser Zeit. Er hörte aufmerksam zu, wenn ich ihm von allerlei
Kunstwerken erzählte, er sammelte mit sichtlichem Vergnügen die Karten,
Bilder aus der Mythologie vorstellend, und war nicht abgeneigt, die Sagen
zu erfahren, aber weiteres Interesse erweckten sie nicht bei ihm. Wir
lasen Werke zusammen, -- er ohne Anteilnahme. Wir nahmen die englische
Literaturgeschichte durch, und manche Perlen wurden ausgegraben, aber
an ihn waren sie verschwendet. Er liebte nur ganz einfache Sachen
der Wirklichkeit, am allermeisten als Hausfrau herumzuschalten, alles
aufzustellen, zu putzen, zu schmücken. Er konnte stundenlang bei dem einen
Indier sitzen und ihm zusehen, wie er ein Skelett zusammensetzte, räumte
für ihn die Bücher auf und flickte jeden Sonntag nachmittag seine Sachen,
bevor er zur Gesandtschaft ging, wo er den Abend verbrachte. Hatte ich
gehofft, weniger einsam zu sein, wenn ich mit ihm verlobt war, so mußte
ich mir eher das Gegenteil eingestehen. Ich kam mir eben durch den Kontrast
noch verlassener, noch einsamer vor, tröstete mich indessen mit dem
Gedanken, daß ich noch genug von seiner Gesellschaft haben würde, sobald
wir verheiratet waren.

An Ueberraschungen fehlte es nie, denn wenn ich schon nicht über meine
Verwunderung, daß irgendein Mann ein Recht haben sollte, ein Mädel zu
küssen und es nicht tun würde, hinwegkam, so hatte ich Grund, mich über
andere Sachen noch mehr zu wundern.

Es war etwa eine Woche nach unserer Verlobung, als er mich bat, meine Hand
flach auf den Tisch zu legen, da er Messungen vornehmen wollte. Ich tat wie
er mir geheißen, und er maß und maß eine halbe Ewigkeit an meinem Daumen
herum, machte dann Zeichnungen auf ein Papier und schnitt endlich einen
Kreis aus, über dessen Anblick er sehr vergnügt schien.

»Himmel, Li Bai,« rief ich lachend, »wollen Sie mir Daumenschrauben
machen lassen?«

»Willst _du_,« korrigierte er.

»Verzeih' mir! Also sollen es Daumenschrauben werden?«

»Herr Hoang-Zo hat mir ein Pfund für dieses mein Wissen bezahlt,«
versicherte mir mein kleiner Chinese.

Aufrichtig gesagt, hätte ich für sein Gesamtwissen nicht den
übertriebenen Preis von 20 Mark bezahlt -- das erschien mir für den
Vorrat der reinste Wucherpreis --, aber vielleicht kannte ich wirklich
nicht das mager assortierte Warenlager seines Wissens in seinem ganzen
Umfang.

»Willst du mir nicht sagen, warum du herumgemessen hast?« fragte ich,
mehr aus Wissensdurst als aus profaner Neugierde.

Er lachte, daß er sich schüttelte, und schien mit sich über alle Maßen
zufrieden.

»Ich werde es dir sagen, wenn wir verheiratet sind,« tröstete er mich
und begann an meiner Nase herumzumessen. Mein Gesichtsvorsprung war immer
mein wunder Punkt, da feindliche Zungen ihn mit einer Kartoffel in einem
Mißjahr verglichen hatten und ich mit bestem Willen von meiner Nase nicht
behaupten konnte -- ohne mich der haarsträubendsten Lüge schuldig zu
machen --, daß sie hübsch sei. Ich wehrte mich daher sehr energisch, an
ihr geometrische Studien anstellen zu lassen, was Li Bai aber keineswegs
abhielt, in seinen Messungen fortzufahren. Nachdem sie scheinbar beendet
waren, durfte ich den vorgesetzten Tee in Ruhe trinken.

Nicht vierzehn Tage nachher verreiste er auf zwei Wochen in ein Bad in
Wales, wohin entfernte Bekannte ihn geladen hatten. Die Trennung schien ihm
nicht nahezugehen und der Gedanke ihm nie zu kommen, daß ich mich einsam
fühlen könnte.

Er hatte oft zu schreiben versprochen und hatte -- zwei Karten geschickt.
Ich war grenzenlos entmutigt, doch noch so schwach von den vorhergegangenen
seelischen und körperlichen Leiden, daß mir die Kraft und der Mut fehlte,
energisch vorzugehen, ihm den Laufpaß zu geben und auf eigenen Füßen zu
stehen. Ich wußte, daß ich nicht fähig war, jetzt eine Veränderung zu
ertragen. Ich tat daher das einzige, was ich unter diesen Umständen tun
konnte: ich litt schweigend.

Ganz an komischen Episoden fehlte es indessen nicht. Kurz nach seiner
Rückkehr von Wales flog er eines Abends auf mich zu (dieses geradezu
kindliche Entgegenfliegen ließ mich manches übersehen und vergessen) und
rief:

»Denke dir! Man schneidet Hian-Sho-Dschin den Kopf ab!« Seine Stimme
klang entschieden triumphierend, denn da Hian-Sho-Dschin aus dem Süden,
Ming Tse aus dem Norden Chinas kam, war sowohl ihre Sprache (oder doch der
Dialekt) als auch ihre Anschauungen und Charaktere sehr verschieden,
und Ming Tse sah immer mit Verachtung auf seinen mondscheibenbesichteten
Landsmann, obschon letzterer ihn um Kopfeslänge überragte.

Mir fehlten die Worte. »Den Kopf abschneiden?« Es tat mir plötzlich
ungeheuer leid um das Mondscheibengesicht und den stotternden jungen
Seekadetten.

»Doch nicht hier, du lieber Himmel?« rief ich entsetzt.

»Ja, -- nein,« erwiderte Li Bai. »Der Vater war Revolutionär, und ihm
schneidet man dieser Tage in China den Kopf ab, und sobald Hian-Sho-Dschin
nach China kommt, schneidet man ihm auch den Kopf ab,« erzählte mir Li
Bai mit Frohlocken.

»Der arme junge Mensch!« sagte ich mitleidig. Er war mir allerdings alle
Stunden, die ich ihm gegeben hatte, schuldig geblieben, aber deshalb wollte
ich doch um keinen Preis daran denken, daß es angenehm sei, ihm den Kopf
abzuschneiden.

»Er darf nie in sein Land zurückkehren,« meinte ich.

»Macht nichts, wir haben genug Schafe dort,« entgegnete Ming Tse. Nicht
ein Funken Mitgefühl zeigte sich für den unglücklichen Landsmann.

»Wie hartherzig du bist, Li Bai!« sagte ich vorwurfsvoll.

»Warum sollte ich heucheln?« fragte er ganz verwundert. »Es tut mir
nicht leid um ihn, warum soll ich es daher sagen? Hier in Europa tritt man
jemand auf den Fuß, sagt ›es tut mir so leid‹ und lacht dabei trotzdem
ganz vergnügt. Wir sagen nicht ›so leid‹, wenn wir nichts fühlen.«

Das war gewiß sehr wahr, ich war schon oft jemand auf die Zehen getreten,
ganz besonders im Omnibus, und hatte vielleicht sogar manch ein Hühnerauge
fest gequetscht, ohne daß mein Herz besonders »sorry« gewesen war,
obschon meine Lippen mechanisch sofort »sorry« geflüstert hatten, aber
dennoch -- trotz alledem --? Chinesen sind Chinesen, dachte ich mir, und
damit war alles gesagt.

Als Traum eines jungen Mädchens hätte ein solches Verhältnis nur
Enttäuschungen mit sich geführt, denn obschon er mir oft Blumen, Obst und
selbst Schmuckstücke gab, so zeigte er doch nie Zärtlichkeit. Auch auf
die Liebe kam er nicht mehr zurück. Wozu denn? Er hatte es mir ja einmal
gesagt und es war zu hoffen, daß ich nicht an Gedächtnisschwund litt,
warum daher zweimal ein und dieselbe Sache erwähnen?

Andrerseits hatte es den Vorteil, daß mir alle unangenehmen und oft
lächerlichen Fragen, die ein Europäer an mich gestellt hätte, erspart
blieben, wie z. B. ob ich schon früher geliebt habe. Es gehört wirklich
der grenzenlose Dünkel und die Verblendung eines eitlen Mannes dazu, sich
vorzustellen, daß man dreiundzwanzig Jahre gerade auf ihn gewartet habe,
um mit dem Verlieben anzufangen. Selbst wenn man bis zu diesem Alter »den
einzigen und richtigen Mann« nicht gefunden hätte, würde man ihm doch
nicht jene vertrauensselige Zuneigung entgegenbringen können, wie fünf
Jahre vorher. Man kennt da schon das Leben, hat Männer in ihrem Umgange
mit anderen Frauen beobachtet und hat bemerkt, daß die Götter, zu denen
man einst mit so viel Bewunderung und mit vollster Ueberzeugung ihrer
Unfehlbarkeit aufgesehen hat, nur Gipsfüße, wenn nicht gar -- Hufe haben!
Man liebt noch, aber eher vergebend, als bewundernd, blind vertrauend
jedenfalls nicht mehr.

Ein Europäer versucht bei seiner künftigen Frau nicht nur das Herz
mikroskopisch zu untersuchen -- er trachtet auch so viel als möglich von
dem Seelenleben seiner kommenden Lebensgefährtin kennenzulernen. Ming Tse
war sich, das glaube ich heute noch, nicht bewußt, daß ich so ein Ding
wie ein tieferes Seelenleben hatte. Er wußte, daß ich viel gelernt hatte,
was gewiß irgendwo im Kopfe herumschwamm, -- das war alles. Die Schönheit
der Natur machte keinen Eindruck auf ihn, ebensowenig Musik oder Poesie,
daher verstand er nicht, daß sie andere Leute entzücken konnten. Alles
Abstrakte war in seinen Augen »Unsinn«, deshalb konnte ich in die Welt
meiner Träume flüchten, ohne je zu fürchten, daß er mir dorthin folgen
würde, um neugierig zu forschen. Ich ließ über mein Inneres, mein
tiefstes ›Ich‹, einfach einen Vorhang niederrauschen und was vor dem
lag, das gehörte dem Chinesen. Die nie geahnten Schätze würde er nicht
entbehren.

Auch die dritte Untugend der Europäer -- die ärgste meiner Ansicht nach
-- hatte er nicht. Er versuchte nie an mir herumzumodeln. Während ich
seine Lehrerin war, hatte er nach jeder Stunde seine Beobachtungen über
meine Persönlichkeit eingetragen, und das endlich sich ergebende Resultat
war entschieden zufriedenstellend, nachdem er mich heiraten wollte. Jetzt
kannte er mich -- wenigstens seiner Meinung nach -- und ein weiteres
Forschen wäre Kraft- und Zeitvergeudung gewesen. Wozu verändern, was
jedenfalls nur schwer zu ändern wäre? Er ließ mich so verbleiben,
nahm mich so, wie ich war, und versuchte nie mich umzugestalten. Meinem
europäischen Temperament getreu, hätte ich zwar gern auf ihn verändernd
eingewirkt, sah indessen einerseits die Hoffnungslosigkeit eines solchen
Unternehmens, andrerseits die Ungerechtigkeit einer solchen Handlung
angesichts seiner Nachsicht gegen meine Schwächen ein und ließ es
bleiben. Ich wollte lieber alles aufbieten, mich ihm anzupassen, als zu
verlangen, daß er sich so vollständig europäisieren sollte.

Endlich kam die Antwort seines Vaters. Er hatte eingesehen, daß sein Sohn
zu keiner Prüfung kam und war nicht abgeneigt, ihn heimkommen zu lassen.
Er widersetzte sich auch nicht einer Heirat mit einer Europäerin, die ihn
früher unterrichtet hatte und die imstande sein würde, diesen Unterricht
auch in China fortzusetzen. Ferner würde es ihm auf diese Weise leichter
sein, den Sohn später noch einmal nach Europa zu schicken, da er gewiß
die europäische Gattin auf seiner Seite haben würde, -- kurz, der
Mandarin gab seine Zustimmung mit der einzigen Bitte, daß die Heirat,
die ohnehin nach den Gesetzen in China stattfinden mußte, nicht nur auf
europäische, sondern auch auf chinesische Art und Weise gefeiert werden
solle. Mama sollte mich begleiten und die Trauung ehemöglichst geschlossen
werden.

Seine Mutter schien dagegen sehr gegen eine solche Heirat zu sein, da
jedoch der Wunsch des Mandarins auch sie zwang, leistete sie keinen offenen
Widerstand. Ich hatte dies allerdings genau so erwartet, fürchtete nun
aber nichtsdestoweniger die kommenden Feindseligkeiten zwischen mir und der
künftigen gelben Schwiegermutter.

Ming Tse war selig, nach China zurückkehren zu dürfen. Er ging den
ganzen Tag umher, um die nötigen Einkäufe zu machen, packte seine
Riesenschachteln, Kisten und Koffer mit unheimlicher Genauigkeit und so
schön, daß nicht ein Kleidungsstück gedrückt, nicht eine unnötige
Falte gemacht wurde. Die Bücher, deren Bekanntschaft er nur äußerlich
gemacht hatte, wurden gleichfalls wie die Soldaten eingepackt und standen
in den Kisten ebenso schön »Habt Acht!« wie sie es früher am Kaminsims
und auf dem Tische getan hatten.

Oft besuchten ihn seine Landsleute, und da entstand ein so heilloser Lärm
(sie sprachen alle in ihrer Muttersprache und gestikulierten mit Händen
und Füßen), daß man sein eigenes Wort nicht hören konnte, dazu
verdrehten sie die Augen, als ob sie vom Veitstanz besessen wären. Neben
mir saß oft ein junger Seekadett -- ein Freund Hian-Sho-Dschins -- und ihn
fragte ich eines Tages, warum sich die Chinesen eigentlich immer zankten,
wenn sie zusammenkamen.

»Sie zanken nicht, Fräulein,« antwortete er mir mit seiner weichen,
wohltuenden Stimme, »sie tauschen nur in ganz freundlicher Weise ihre
Meinungen aus.«

»Ich küß' die Hand,« konnte ich mich nicht enthalten innerlich zu
bemerken, »wie gebärden sie sich wohl dann, wenn sie sich tatsächlich in
den Haaren liegen!«

Die meisten dieser jungen Leute, die alle zwischen zwanzig und
achtundzwanzig Jahre alt waren, hatten Frauen daheim, die sie fünf Jahre
und länger nicht gesehen hatten und die ihr freudenloses Dasein unter der
Herrschaft einer Schwiegermutter fristen mußten.

Inzwischen veränderten die Männer ihre Ideen vollständig, und die
Frau, die ihnen früher genügt hatte, schien ihnen jetzt ungebildet,
möglicherweise sogar unschön. Hatten sie die Gattin vorher schon nicht
gut behandelt, so würde sie jetzt eine noch schwerere Stellung haben. Wie
schrecklich sind doch die Einrichtungen in einem Lande, wo man zwei sich
unbekannte Wesen aneinanderknüpft, bevor sie ein Alter erreicht haben, wo
sie sich dagegen wehren könnten. Allerdings ist die Macht der Eltern so
groß, daß auch ein Wehren von seiten der Kinder ganz nutzlos wäre;
der Sohn hat in Japan zum mindesten das Recht, seine Meinung über die
Zukünftige auszusprechen, die er einmal von Ferne zu sehen bekommt, in
China nicht einmal dies, und dem Mädchen hilft nichts, nichts als sich zu
fügen. Trotzdem kommt es heutzutage vor, daß Mädchen freiwillig auf die
Ehe verzichten. Die Schwester Hoang-Zos, dessen Vater tot war, wollte nicht
heiraten, und der Bruder, der selbst sehr viele europäische Ansichten
teilte, zwang sie nicht dazu. Er selber soll seine erste Frau -- so sagte
Ming Tse -- an gebrochenem Herzen haben sterben lassen. Zwei Jahre lang
war er fern von der Heimat in Japan und kehrte auch trotz der Bitten seiner
Gattin nicht an ihr Sterbebett zurück. Im großen und ganzen fühlte ich
mich durch diese Betrachtungen keineswegs zu einer Ehe mit einem
Chinesen ermutigt, doch war mir Ming Tses heiteres Gemüt -- er war wie
ausgetauscht, seit er heimkehren durfte -- ein Hoffnungsstrahl. Gewiß
würden wir als zwei gute Kameraden miteinander leben können.

Endlich hatte ich auch heimgeschrieben, Mama von meiner Verlobung erzählt,
Li Bais finanzielle Stellung erklärt und sie gebeten, sich so schnell als
möglich auf die Reise nach China vorzubereiten, da sie nach dem Gesetz die
Dokumente -- Ehevertrag usw. -- mit dem Vater Ming Tses austauschen müsse.
Ferner bat ich sie, Jenny mitzunehmen. Li Bai drang darauf, die Fahrten
für uns alle drei zu bezahlen, und um alle Streitigkeiten darüber
abzuschneiden, hatte er schon jetzt die Sitze bestellt und die Karten
zugesichert erhalten, so daß ich Mama erklärte, daß jede Weigerung
ihrerseits unmöglich gemacht wäre. Ich wußte, daß sie überall hin
gern reiste, wo man nicht über das Wasser zu fahren brauchte, und daher
zweifelte ich nicht, daß sie nach einigen »Ach« und »Oh!« sich auf die
Socken machen würde.

Nach fünf Tagen kam die Antwort. Mama protestierte zwar vier Seiten lang,
sagte aber auf der fünften, daß sie selig war, mich so gut versorgt zu
wissen und auf der sechsten, daß sie schon alle Vorbereitungen getroffen,
um mich nach China zu begleiten. Das Hochzeitskleid für sie selbst und die
Toilette für Jenny würde in zwei Tagen fertig sein, und in etwa
vierzehn Tagen würden beide Damen in London eintreffen, von wo aus wir am
29. September nach Berlin, Moskau und weiter mit der sibirischen Eisenbahn
nach Tientsin, Ming Tses Vaterstadt, fahren würden.

Meine Schwester schrieb:

»Liebster, dummer Kather! Ich weiß in der Tat nicht, ob ich Dir
gratulieren oder kondolieren soll, doch tröste ich mich mit dem Gedanken,
daß Du, die Du so ein vernünftiges Mädel bist, gewiß nicht »ja«
gesagt hättest, wenn Du nicht überzeugt wärest, glücklich zu werden.
Mir standen vor Entsetzen die Haare zu Berg, als ich Deinen Brief gelesen
habe. Einen Chinesen!? Einen echten, gelben Chinesen!! Hat er einen langen
Zopf? Oh, Käthe, nimm ihn nicht, wenn er einen Zopf hat!! Ich habe einst
in einem Roman gelesen, daß die Chinesen ihre Zöpfe dazu verwenden, ihre
Feinde zu erdrosseln. Und ist er gelb, so gelb wie eine Zitrone? Wie
ich mich freue, ihn kennenzulernen, -- aber heiraten würde ich keinen
Chinesen, o nein, Käthe, o nein. Ich habe gleich nach Erhalt Deines
Briefes alle alten Geographiebücher, deren Inhalt ich längst vergessen,
hervorgesucht und auch im großen Konversationslexikon alles über Chinesen
durchgelesen und finde, daß sie gute Handelsleute, genügsam und fleißig,
aber sehr grausam sind. Wirst Du Dir müssen die Füße verkrüppeln
lassen, bevor Du seine Frau wirst? Es soll furchtbar wehtun, Käthe, laß'
es lieber bleiben, du hast ja ohnehin kleine Füße, wenn sie auch nicht
wie die »goldenen Lilien« der Chinesinnen sind, die kaum hin und her
wackeln können und immer in einer Sänfte getragen werden müssen.

Jetzt will ich Dir berichten, welche Wirkung Deine Verlobung auf die
»Familie« gemacht hat -- und dann -- -- noch etwas. O Käthe, ich sehne
mich nach Dir! Ich habe so viel erlebt.

Wir saßen am Frühstückstisch -- Mama und ich --, als wir unsere Briefe
erhielten. Mama las den ihrigen zum zweitenmal, als ich den meinigen
erbrach, da ich um eine Pröbstlinge in den Garten gesprungen war. Bevor
ich über die ersten Worte gekommen, sprang Mama auf, umarmte mich, weinte
und schluchzte, daß ich mich ganz kalt werden fühlte und sagte dann:
»Jenny, Deine Schwester hat sich verlobt.« Sie ging sofort in die Küche
und schickte die alte Resi zu den Tanten, um sie zu bitten, in wichtiger,
freudiger Angelegenheit sogleich zu uns zu kommen. Ich hatte unterdessen
Deinen Brief gelesen.

»Mama!« rief ich entsetzt, als sie zurückkehrte, denn mir war vor lauter
Schrecken der Appetit vergangen, »es ist ein gelber Mann, ein Chinese mit
Zopf und Fächer, mit dem sie sich verlobt hat!«

»Sei keine Gans,« fiel mir Mama in die Rede, »Zöpfe haben sie
heutzutage nicht mehr und wenn auch, um so besser, da kann ihn Käthe daran
ziehen, sooft er ihr etwas nicht richtig macht.« Nach einer Pause fuhr sie
fort: »Und die Farbe hat nichts zu bedeuten, Jenny, du dummes Ding, weiße
Männer haben auch ihre Faxen.«

Daraufhin zog Mama ihr allerbestes Seidenkleid an, legte Deinen Brief auf
das kleine Nähtischchen am Fenster, setzte sich in den großen Lehnstuhl
und führte von Zeit zu Zeit das Taschentuch an die Augen, aber trotzdem
schien es mir, als ob sie sehr glücklich wäre.

Ich selbst lief in den Garten und warf mich auf den Rasen, wo ich
bitterlich weinte, denn immer sah ich einen gelben Mann vor mir, der seinen
dünnen schwarzen Zopf um Deinen zarten Hals wickelte und würgte und
würgte; und je mehr er Dich würgte, um so gelber wurde er im Gesicht. Da
siehst Du, wie kindisch ich bin, Schwesterchen!

Eine schwache Stunde später war unsere Türglocke in unausgesetzter
Bewegung. Tante Hermine mit ihren Töchtern, Onkel Sebastian mit seiner
langen Pfeife, Tante Elly mit Lotta und ihrem Mann, der selbst an einen
Chinesen erinnert, da er so gelb im Gesicht ist -- nur zum Zopf wäre
nicht Vorrat genug da --, Onkel Paul, der zum Trost für sein auferlegtes
Schweigen eine echte Havanna zwischen den Lippen drehen durfte, Onkel
Mossi, lieb und lustig wie immer, mit seinen beiden Dackeln, Tante Emma
mit einem Strumpf und Tante Paula mit dem anderen, beide frisch vom
Morgengottesdienst, kamen angelaufen. Als alle feierlich Platz genommen
hatten, wischte Mama erst sorgfältig ein paar Tränen ab und teilte ihnen
hierauf mit, daß Du Dich mit dem Sohne eines Mandarins, Herrn Li Bai Ming
Tse, verlobt hast und daß -- weiter kam die arme Mama nicht, denn alle
hatten die Hände in die Luft gestreckt und stießen unartikulierte Laute
aus. Die Onkel klammerten sich an die Sessellehnen fest und die Tanten und
Kusinen fielen alle in Ohnmacht. Ich hatte dies vorausgesehen, und daher
standen schon mehrere Riechfläschchen bereit, die ich nun den Tanten als
gehorsame Nichte unter die Nasen hielt, aber Onkel Mossi, der bemerkte,
daß Lotta die Augen geschlossen hatte, um besser über eine kommende
Bissigkeit nachdenken zu können, stellte sich, als ob er auch sie
bewußtlos glaubte, und hielt ihr eine Flasche Salmiak unter die Nase. Du
hättest die Wirkung sehen sollen! Onkel Mossi stand vorsichtig seitlich
von ihrem Stuhle, und als sie die Flasche entrüstet von sich stieß, flog
ein Teil des Inhalts nicht auf den Lieblingsonkel, sondern geradeswegs
in den offenen Mund Tante Emmas, die vor Erstaunen über Deine Verlobung
denselben weit aufgerissen hatte. Du hättest sie alle schreien hören
sollen! Die arme Tante schrie wie am Spieß und führte einen wahren
Indianerkriegstanz aus, weil die Zunge so sehr brannte. Wie ich wünschte,
daß Lotta den Inhalt geschickt auf die Zunge verteilt erhalten hätte!
Onkel Mossi sah so unschuldig aus, wie irgendein angemalter Heiliger an der
Wand in der Domkirche.

Als sich die Gemüter so weit beruhigt hatten, daß die Zungen sich wieder
im alten Geleise bewegten, ertönte es von allen Seiten:

»Ein Chinese!!!«

Und da die Onkel wußten, daß ein Refrain immer willkommen war,
wiederholten sie in ihrer Baßstimme:

»Ein Chinese!«

»Ein Heide!« rief Tante Emma und schüttelte mißbilligend ihr
jungfräuliches Haupt.

»Sie verdirbt uns die Rasse!« erklärte Tante Hermine erbittert.

»Mit ihrer Unkenntnis der Hauswirtschaft hätte sie für einen Deutschen
nicht gepaßt,« versicherte Base Rita.

»Sie hat wohl keinen Europäer finden können, nachdem sie mit einem
Chinesen vorlieb genommen hat,« warf Base Gusti bitter ein.

»Ein armes, irregeleitetes Menschenkind! Was für andere Folgen konnten
Natalies mißglückte Erziehungsversuche erzielen,« kam es von Tante Ellys
Lippen.

»Ein Trotzkopf und ein Unverstand war die Käthe immer, und ich habe immer
gesagt, daß sie ihrem Verderben entgegengeht. Wer die Ratschläge seiner
Angehörigen verwirft, dem ist der Untergang sicher,« zischte Lotta.

Ich schlängelte mich an Onkel Mossi heran.

»Onkelchen, warum sind sie alle so bösartig?«

»Weil sie neidisch sind, Jenny, weil sie selber noch ungekaufte Ware auf
dem Lager haben. Mach dir nichts daraus, mein Kind!« tröstete er mich und
strich mir mit seiner kühlen Hand über das Haar.

»Und du, Natalie,« fragten jetzt die Tanten im Chor, »du wirst einen so
wahnsinnigen, einen so haarsträubenden Schritt billigen?«

»Was kann ich tun?« fragte Mama, die sich so leicht beeinflussen läßt.
»Käthe ist großjährig.«

»Ueberlasse sie ihrem Schicksal,« rief Lotta mit Grabesstimme.

»Laß sie durch die Polizei gewaltsam nach der Heimat zurückbringen,«
schlug eine der Tanten vor.

»Drohe ihr mit Enterbung!« bat Tante Elly und ihre Augen sprühten vor
Vergnügen.

»Zum Kuckuck auch,« donnerte Onkel Mossi, »die Käthe entscheidet und
nicht Ihr.«

Die anderen Onkel dienten als Wandschmuck, wie immer im Familienrat.

Ich glaube, daß nur die Angst vor der Salmiakflasche, die Onkel Mossi so
unternehmungslustig schwang, die Tanten abhielt, noch einmal in Ohnmacht
zu fallen, als Mama ihnen erklärte, daß wir schon morgen nach D. abreisen
würden, um alle nötigen Einkäufe für die Reise nach China zu machen,
und daß wir in einem Monat schon durch Sibirien sausen würden. Ich
merkte, wie sich alle an den Hals griffen, als ob der Kragen nicht weit
genug gewesen wäre.

»Natalie,« kreischte Tante Paula auf, »man wird dir dort den Kopf
abschneiden. Man haßt Europäer, und dein Kopf ist in Gefahr.«

»Kusine,« flüsterte Tante Emma, »du erreichst China gar nicht. Man wird
dich auf der Bahn ausrauben und deinen nackten Leib aus dem Waggonfenster
werfen.«

»Du wirst doch nicht auch noch deine _zweite_ Tochter dem Untergange
weihen?« erkundigte sich Tante Hermine mit scheinbarer Besorgnis um mich.

»Bist du in der Tat imstande, so gewissenlos zu sein, Natalie,« predigte
Tante Hermine, »dieses unschuldige Wesen (ich wußte nicht, daß ich
ein so unschuldiges Wesen war) in diesen orientalischen Sündenpfuhl
mitzuschleppen?«

»Willst du Jenny wirklich in diese Pestatmosphäre geleiten, wo die
Blattern sie lebenslänglich entstellen können?« fragte Lotta spitz. Ich
bin überzeugt, daß es ihr gleichgültig war, wie ich aussah.

»Natalie,« erklärte Tante Elly feierlich, »ich kann dich von
dieser verrückten Idee nicht abhalten. Ich habe für Käthe mit ihrer
entschiedenen Natur und ihrem eigentümlichen Wesen nie Sympathie gehabt
und wünsche ihrem vermeintlichen Glücke kein Hindernis in den Weg zu
legen, aber Jenny soll daheim bleiben. Ich selbst werde dein Kind zu mir
nehmen.«

»Lieber die Pest und die Blattern,« flüsterte ich Onkel Mossi zu, indem
ich mich an ihn klammerte.

»Kann mein Nichtchen nicht unter meinem Schutze zurückbleiben?« fragte
der herzensgute Onkel.

Wenn Blicke vernichten könnten, so wäre der arme Onkel nicht mehr unter
den Lebenden.

»Da wäre ein junges, unschuldiges Ding in die rechten Hände,«
sprach Lotta für sie alle die Meinung aus. Ich konnte Onkel Mossi gut
nachfühlen, als er zwischen den Zähnen etwas murmelte, was sehr nach »so
eine verdammte Schlange und Giftmorchel« klang.

Trotz verzweifelten Widerstandes aller Tanten und Basen -- die männlichen
Vertreter unseres Stammes glänzten wie immer durch ehrfurchtsvolles
Schweigen und dichte Rauchwolken -- wurde beschlossen, daß Mama reisen und
ich sie begleiten würde, und daher küßten mich alle Tanten beim Abschied
und ließen dicke Krokodilstränen auf mich niederfallen. Sie versicherten
mir, daß ich wahrscheinlich meine Gesundheit und jedenfalls meine Unschuld
und Tugend auf dieser Reise einbüßen würde, und ich war so gerührt zu
hören, daß ich so viel Unschuld und Tugend besaß, daß ich jeder Tante
eine extratiefe Verbeugung machte, als Lotta an mich herantrat und
hörte, daß ich Tante Hermine versprach, so viel als möglich von den
mitgenommenen Tugenden wieder zurückzubringen.

»Du?« herrschte sie mich mit ihrer kreischenden Stimme an, »du wirst
irgendwelche Tugenden bewahren? In dir schlummern die Samenkörner der
Verderbtheit wie in deiner entarteten Schwester!« sprach's, stieß mich
rauh von sich und verschwand mit erhobenem Haupte durch die Tür.

Kaum waren sie draußen, so flog ich Mama um den Hals.

»Gestorben sind sie beinahe vor Neid und Galle,« rief ich entzückt und
Mama sah überglücklich aus. Ich glaube, sie hätte Dich auch an den Stamm
eines Kaffernstammes abgetreten, wenn es die Tanten hätte ärgern können.
Den Rest des Tages ging ich zu allen meinen Bekannten und sagte:

»Meine Schwester heiratet sehr reich -- einen Chinesen -- und wir, Mama
und ich, fahren zur Hochzeit nach China.« So etwas kann nicht jeder.
Ich war selig, die erstaunten Gesichter zu sehen und bin Dir so dankbar,
Käthe, einen so interessanten Mann gewählt zu haben. Ein wenig, ein ganz
klein wenig ängstlich bin ich doch auch.

Mama weinte zwar den ganzen Tag ein wenig -- das schickt sich so, aber ich
wußte, daß sie sehr froh ist, denn der Aerger der Verwandten ist ihr eine
unsägliche Beruhigung. Ich fragte, ob es sich für mich auch schickte,
den ganzen Tag zu weinen, doch beruhigte sie mich und sagte, daß nur eine
Mutter dies zu tun brauche.

Am Abend ging ich in den Garten. Mir war indessen jetzt doch etwas
ungemütlich zumute. China ist weit weg und ich bin hübsch, nicht wahr,
Käthe, und Blattern sind nicht angenehm, aber ich freue mich so auf die
Reise, die Abwechslung, die schöne chinesische Seide, den fremdartigen
Schmuck -- und auf Dich auch, natürlich.

Wie ich gehofft hatte, sah ich Doktor Wurmbrandt am Zaune stehen. Ich ging
schnell auf ihn zu, reichte ihm meine Hand und sagte:

»Meine Schwester heiratet einen leibhaftigen Chinesen und ich fahre morgen
nach China.«

Im nächsten Augenblick war er über den Zaun gesprungen.

»Fräulein Jenny, ich habe in der Stadt schon davon gehört -- es kann
nicht sein, daß Ihr Fräulein Schwester eine solche Partie eingeht?« rief
er leidenschaftlich.

»Er ist sehr reich!« entschuldigte ich Dich.

Er ließ meine Hand fallen. »Also ist Geld alles im Leben, Fräulein
Jenny?« fragte er ernst.

Mir wurde so heiß. »O nein, Herr Doktor,« sagte ich, indem ich auf den
Rasen niedersah, »aber ich weiß keinen anderen Grund zu nennen, warum
Jenny einen Chinesen heiratet.«

»Gefühle scheinen bei Ihnen keinen Rolle zu spielen!« sagte er hart.

»Oh, Herr Doktor, die Käthe hat schon einmal geliebt und -- und -- ich
glaube nicht, sie tut es ein zweites Mal. Sie hat ihn zu lieb gehabt,«
sagte ich und fühlte, wie meine Stimme zitterte.

»Da haben Sie recht!« entgegnete er viel freundlicher. »Armes Fräulein
Käthe!« Wir waren eine Weile ganz still.

»Leben Sie wohl, Herr Doktor,« flüsterte ich endlich, »und wenn ich an
der Pest oder den schwarzen Blattern sterbe, so vergessen Sie mich nicht
ganz!« bat ich schüchtern.

»Fräulein Jenny,« sagte er so ernst, wie er noch nie zu mir gesprochen,
»versprechen Sie mir eins: Heiraten Sie keinen Chinesen, wie anziehend er
auch sein möge!«

Ich gelobte dies feierlich. Ich hätte ihm weder diese noch irgendeine
andere Bitte abschlagen können. Wenn Männer diesen Ton anschlagen, sind
wir Frauen das reinste Wachs in ihren Händen.

Er zog eine kleine Schere aus der Tasche. Indem er wieder in den alten
neckenden Ton verfiel, bat er mich, eine Locke meines Haares abschneiden zu
dürfen, »der Blatterngefahr halber!« wie er sich ausdrückte. Er schnitt
die Locken im Genick ab und brauchte meiner Ansicht nach eine schrecklich
lange Zeit dazu. Ich fühlte, wie sein Atem dicht über meinen Hals
dahinstrich -- er mußte wohl so nahe schauen, weil es schon beinahe
finster war --, und mir wurde ganz eigentümlich dabei. Warum wohl? Als er
mit der Operation fertig war, küßte er meine Hände -- Käthe, alle beide
-- und wünschte mir eine glückliche Reise.

Mir wurde so schwer ums Herz, so unsäglich schwer, und ehe ich es
verhindern konnte, fiel eine Träne auf die Hand des Doktors. Da schämte
ich mich unsinnig, riß mich los und flog auf das Haus zu.

Ich warf mich angezogen auf das Bett und weinte. So schlief ich ein und
träumte plötzlich, daß ein Chinese mit furchtbar geschlitzten Augen
einen Zopf -- so einen weichen, weichen Zopf! -- um meinen Hals schlang,
und ich schrie wie besessen. Mama und die Köchin schüttelten mich wach.
Auf dem Bette saß Murr, der Kater! Seinen Schwanz hatte ich für den Zopf
eines Chinesen angesehen.

Mama sagte mir, daß eine so dumme Gans wie ich nicht wieder zu finden sei,
und daß ich mich schnell anziehen möge, um Punkt acht auf der Bahn zu
sein. Du kennst ja Mamas Bahnfieber, die immer eine geschlagene Stunde auf
den Zug warten muß. Ich wusch meine entzündeten Augen mit Rosenwasser,
um auf der Fahrt hübsch und frisch auszusehen, und kleidete mich in mein
neues Reisekleid, das mir ausgezeichnet sitzt, Du wirst schon sehen.

Als wir schon in den Zug eingestiegen waren, kam noch jemand hurtig
über den Bahnsteig gelaufen. Es war Dr. Wurmbrandt, der mir einen
wunderschönen Strauß roter Rosen brachte und mich so merkwürdig ansah,
daß ich fast ebenso rot wurde wie die Blumen. Ich konnte gerade noch
danken und ihm die Hand reichen, bevor sich der Zug in Bewegung setzte.

Die Tanten waren alle da und hatten noch viele warnende Worte gesprochen.

Als der Doktor mir den Rosenstrauß übergab, merkte ich, daß die
Gesichter der Tanten und Kusinen gelbgrün wurden, und Mama fragte im Tone
eines Untersuchungsrichters:

»Interessiert sich der Doktor für dich?«

»Ich -- ich weiß es nicht,« antwortete ich und wurde wieder rot wie eine
Klatschrose.

»Keine schlechte Partie,« sagte Mama mehr zu sich selbst als zu mir.

»Jenny, schicke ihm von Zeit zu Zeit eine Ansichtskarte,« befahl sie.
»Man muß sich den Männern immer wieder ins Gedächtnis bringen.«

Und jetzt, Käthe, sind wir in D., wo wir allerlei Einkäufe machen.

An unserem Tische speist ein alter Rittmeister und macht mir sehr den Hof
-- ein Baron X. oder U., ich kann mir seinen Namen nicht merken.

Mama ist sehr liebenswürdig und sagte mir vor dem Schlafengehen:

»Sei zuvorkommend gegen den Rittmeister, Jenny, ein Soldat ist besser als
ein Doktor.«

Da wurde ich aber böse. »Der Doktor ist jünger und hübscher,«
protestierte ich, aber Mama schickte mich zu Bett und versicherte mir,
daß ein Mädchen in meinem Alter nicht weiß, was gut für sie ist. So ein
Unsinn! Ich bin achtzehn Jahre!

In zwei Wochen sind wir in London. Leb' wohl, Käthe!

  Deine Jenny.«

So haben meine nächsten Angehörigen meine Verlobung mit einem Chinesen
aufgenommen.



    =Tud tukaj solnce gre okrog,
    Doline vidim, hrib in log;
    Pa solnce naše bolj blišči,
    In hrib naš lepše zeleni.=

      =J. Strel.=

XI.


Es war der Vorabend unserer Abreise von London. Seit zwei Wochen waren Mama
und Jenny bei mir, beide entzückt von meinem künftigen Gatten. Er war
geradezu rührend aufmerksam gegen sie. Den ganzen Tag führte er sie
herum, zeigte ihnen alle Sehenswürdigkeiten Londons, kaufte Jenny allerlei
Schmucksachen, die sie in den siebenten Himmel versetzten, und versprach
ihr eine Masse chinesischer Seide, sobald wir nach China kamen. Gegen Mama
war er ausgesucht höflich und in jeder Weise zuvorkommend und war ihr,
da er gern plauderte und Mama eher mit ihrem Schatten sprechen würde, als
nicht den Mund zu öffnen, ein sehr angenehmer Begleiter. Ich selbst genoß
nur wenig von ihrer Gesellschaft, da ich die letzte Woche im Amt weilte,
wo man nicht sofort eine Stellvertreterin für mich finden konnte. Den
Rest meiner Zeit mußte ich den Schneiderinnen und sonstigen praktischen
Vorbereitungen widmen. Ich legte eine gewisse fieberische Hast an den
Tag und tat alles überstürzt -- mir halb unbewußt, wollte ich vor mir
selbst, meinen eigenen Gedanken davonlaufen. Mit Mama hatten wir kein
längeres Gespräch gehabt -- am ersten Tage sagte sie mir, daß mein
kleiner Chinese an einen Affen erinnere, am zweiten, daß er ausgesucht
gute Umgangsformen habe, und am dritten, daß ich einen besseren Mann weder
im Osten noch im Westen hätte finden können, wenn ich mit der Laterne
am hellichten Tage nach ihm gesucht hätte -- selbst nahm ich alle drei
Erklärungen ruhig und mit etwas Unglauben auf -- besonders die dritte,
aber wozu widersprechen? Es war entschieden, ich ging nach China, und
Europa mit seinen Licht- und Schattenseiten lag bald, ach, allzu bald
hinter mir. Die Reue ist ein hinkender Bote -- und ich wollte nicht
bereuen. Sterben, sagte ich mir bitter, kann ich immer noch.

Jenny, die den ganzen Tag vor den großen Auslagen in Regent Street stand,
auf der Themse bis Richmond und Hampton Court fuhr, die Albert Hall zu den
großartigen Nachmittagskonzerten besuchte und nur die gleißende Seite
Londons sah, konnte nicht begreifen, daß ich dieses vermeintliche
Eldorado, ohne größeres Bedauern an den Tag zu legen, verließ. Mama
und meine Schwester fanden wieder einmal, daß die Käthe kein normales
Mädchen sei, und schüttelten mit sichtlicher Teilnahme die Köpfe.

Ich stand lange am offenen Fenster und ließ die kühle Herbstluft um meine
brennende Stirn wehen. War ich vom Regen unter die Traufe gekommen, war
ich feig gewesen, nicht ein Ende zu machen, als ich schon an der Pforte des
Todes stand? Bedeutete mein Entschluß eine Biegung zum Besseren auf dem
dornenvollen Lebenspfade, war es jener Schwung im Glücksrade, der mich
nach aufwärts tragen würde, und würde ich im Osten finden, was der
Westen mir verneint? Oder war es eine jener unglückseligen Stufen, auf die
man unsicher tritt, und von welchen man jäh in unerwartete schreckliche
Tiefen gleitet? Wer konnte es sagen? Meine Augen klammerten sich an mein
Lieblingsgestirn, den großen Bären oder, wie ich vorzog es zu nennen,
den Himmelswagen, und schienen um Antwort zu bitten, doch vergeblich. Die
Sterne, sie funkelten am nachtschwarzen Himmel in ihrer einsamen Majestät,
und was sie mir zu sagen schienen, war dies: »Auch wir sind allein,
obschon wir einander so nahe zu sein scheinen. Millionen Meilen trennen oft
ein Gestirn vom andern, das, von der Erde gesehen, so nahe am andern liegt,
und einsam sind auch die Menschen, denn ihre Körper sind einander nahe,
aber die Seelen sind weit, weit entfernt! Wenn du Frieden, wenn du Glück,
wenn du vor allem _Kraft_ finden willst, so lerne auf dich selbst vertrauen
und dir selbst genügen.« Damals dachte ich, daß die Sterne unrecht
hätten -- heute weiß ich, daß nur der Mensch leben kann, ohne an innerem
Leid zugrunde zu gehen, der gelernt hat, sich selbst zu genügen. Weder
um Hilfe, noch um Liebe, noch um Gesellschaft, noch um Anteilnahme zum
Nächsten zu schauen. Wer in sich alles findet, -- und bis der Mensch in
sich alles findet, so daß er in der Welt und doch getrennt und unabhängig
-- innerlich unabhängig, denn äußerlich bleibt er natürlich stets etwas
abhängig von seinen Mitmenschen -- lebt, hat Schutz vor dem Leid gefunden.
Kein strahlendes Glück kann je wieder die Seele des so von der Menschheit
Getrennten durchbeben, weil sein Interesse in dem Nächsten aufgehört hat,
aber die Höllenpein zwischen Hoffen und Verzagen erfaßt ihn nie wieder.
Er steigt nie mehr in himmelanjauchzender Glückseligkeit zu den Wolken
empor, aber er erspart es sich gleichzeitig, aus dem siebenten Himmel auf
die Erde zu fallen, und ist süß das Emporfliegen, so ist vernichtend
bitter der Sturz, der in uns alles zerbricht, was das Leben wertvoll macht
-- Hoffnung, Glaube, Liebe, Vertrauen auf andere, den Trieb zur Besserung,
zur Vervollkommnung, das Mitleid mit den Unglücklichen und die warme
Mitfreude mit den Glücklichen -- alles schwindet, und zurück bleibt jene
Ruhe, die kein Glücksfall und kein neues Unglück bedeutend erschüttern
kann. Wohl dem, den ein gnädiges Geschick davor bewahrt hat, den
Gipfelpunkt irdischer Zufriedenheit in dieser Unempfindsamkeit zu suchen
-- und zu finden! An jenem Abende habe ich die Lektion noch nicht erlernt
gehabt, die Sehnsucht nach der Liebe meiner Mitmenschen, nach Glück, war
noch nicht erloschen, daher führte das unerbittliche Geschick mich nach
China, um dort den Unterricht fortzusetzen, und was vom Schicksal selbst
gelehrt wird, o Leser! -- das erlernt man. -- --

Es klopfte. Ich wandte mich verwundert um, denn Mitternacht hatte es
längst geschlagen, und alle Leute im Hause waren zur Ruhe gegangen. In
einem langen wallenden Nachtgewande, mit einer brennenden Kerze in der
Hand, die schönen braunen Augen weit geöffnet, stand Jenny vor mir.

»Schwesterchen,« fragte ich, indem ich ihr die Kerze aus der Hand nahm
und sie neben mich auf mein Sofa, das Bett, zog, »warum wanderst du noch
durch Gänge und über Treppen nach der grausigen Mitternacht, wie einst
der Geist von Hamlets Vater?«

»Käthe,« flüsterte sie, indem sie ihre weichen Arme um meinen Hals
schlang, »ich bin vielleicht nicht immer eine gute Schwester gewesen und
habe dich schrecklich vernachlässigt. Verzeih mir!«

»Du bist eine ebenso gute Schwester gewesen wie ich es verdient habe,«
entgegnete ich und liebkoste Jenny.

»Ich fürchte mich um dich, Käthe,« sagte sie weich.

»Das brauchst du nicht, Jenny,« beruhigte ich sie, »mir droht nicht
Gefahr, und -- ich habe meine Zukunft selbst gewählt.«

»Schwester,« begann Jenny nach einer kurzen Pause von neuem, »ihr küßt
euch nie.«

»Küssen ist im Orient nicht Sitte, man findet, daß es sehr unhygienisch
sei, und daher gibt man sich im fernen Osten nicht einmal die Hand,
wenn man sich begegnet, sondern schüttelt seine eigene Hand an Stelle
derjenigen des Bekannten -- eine weise Vorsichtsmaßregel in einem
Lande, wo so viele ansteckende Krankheiten epidemisch und die sanitären
Einrichtungen keineswegs auf der Höhe sind,« gab ich zur Antwort.

»Bist du auch schon so hygienisch geworden, Käthe?« fragte sie und sah
mich groß an.

»Ich füge mich den Sitten des Orients,« entgegnete ich ausweichend.
Ich wollte meiner Schwester nicht eingestehen, daß ich noch nicht so sehr
»hygienisch« in meinem Empfinden geworden war.

»Hat er dich nie -- nie geküßt?« fragte Jenny, die so etwas ganz und
gar nicht fassen konnte.

»Nein, nie,« versetzte ich lachend. Denn Jennys Augen waren so rund vor
Verwunderung wie die eines Kindes. »Einmal hat er allerdings gesagt,
daß er es versuchen würde, wenn ich eines Tages nicht einen Hut aufhaben
würde, aber bisher,« ich blickte sie schelmisch an, »habe ich immer
einen Hut aufgehabt.«

»Himmel!« rief Jenny entsetzt, »und es ist ihm nie eingefallen, den Hut
abzunehmen?«

»Wenn wir verheiratet sind, werde ich keinen Hut auf dem Kopfe haben,
und darauf wartet er wahrscheinlich,« versuchte ich als Erklärung
anzuführen.

»Glaubst du,« fragte sie mit einer urkomischen Ueberlegenheit, »daß
Doktor Wurmbrandt sich hätte -- natürlich wenn er mich liebhaben würde
-- abhalten lassen durch einen Hut und selbst, wenn dieser so groß wie ein
Wagenrad gewesen wäre?«

»Liebste Jenny,« erwiderte ich lachend, »nicht, wenn dein Hut den Umfang
einer Moschee gehabt haben würde, aber du vergißt, daß der Doktor eben
-- Europäer ist.«

»Ein Mann, der nicht küssen kann, der -- der ist nicht heiratsfähig.«
Jennys Entrüstung war so groß, daß sie meine ernsten Gedanken
verscheuchte und ich über die unschuldigen Ansichten des Kindes herzlich
lachen konnte.

»Jenny,« neckte ich meine Schwester, »wie oftmal denkst du an den
Doktor?«

»Oh -- nicht -- nicht so sehr, sehr oft, Kather,« sagte Jenny
nachdenklich.

»So etwa sechzigmal die Minute?« fragte ich gelassen.

»Aber Kather, wie kannst du --?« wehrte Jenny, erglühte aber wie eine
Pfingstrose.

»Jenny,« bat ich sie, »hab' ihn recht lieb, und spiele nicht mit allen
Männern, die du triffst. Glaube mir, Kind, Huldigungen sind angenehm, aber
ein treues Herz, auf das man wirklich bauen kann, ist tausendmal schöner
und kostbarer.«

Jenny küßte mich und gelobte mir, so wenig kokett wie möglich zu sein.
»Ueber sein Können ist niemand verpflichtet,« sagt ja selbst Goethe,
und ich verlange auch nur, daß Jenny ihr Bestes in dieser Hinsicht leisten
würde. Blicke mit Vorübergehenden und Mitreisenden würden trotzdem noch
zur Genüge -- und darüber hinaus -- gewechselt werden.

Ein ernstes Gespräch ließ ich nicht aufkommen. Meine Schwester war zu
jung, zu unerfahren, um mich zu verstehen, und um nichts in der Welt hätte
ich mich verleiten lassen, ihre schönen Jugendillusionen zu zerstören,
ihr die Erde -- das Leben auf derselben eigentlich -- so zu zeigen, wie
es wirklich war oder wie ich wenigstens es gefunden hatte. Mein bitterer
Pessimismus sollte nicht einen Augenblick die frohe Zuversicht meiner
Schwester trüben. Als es zwei Uhr schlug, hüllte ich Jenny in ein
langes Tuch ein, zündete ihr Kerzenstümpfchen wieder an und schob sie
gebieterisch zur Tür hinaus.

»Du mußt schlafen, Jenny,« ermahnte ich sie, »du weißt, daß Mama
mit ihrem Bahnfieber dich um sechs Uhr wecken wird, damit wir um zehn Uhr
pünktlich auf der Station sind, und auch du, Fräulein Eitelkeit, wirst
diese Zeit gut verwenden können, um dich so hübsch wie möglich zu
machen. Jenny, Schwesterchen, ich kenne dich! Gute Nacht!«

»Noch eine Frage, Käthe,« bat sie schmeichelnd, »eigentlich kam ich nur
deshalb zu dir. Wie werden deine Kinder sein? Weiß oder gelb?«

Ich schob sie sanft zur Tür hinaus und sagte lachend und geheimnisvoll:

»Gesprenkelt!«

Ich hörte, wie Jenny vor der Tür vor lauter Entsetzen und Ueberraschung
nach Atem rang, öffnete daher die Tür noch einmal eine Spanne weit und
flüsterte ernst:

»Sei doch kein Gänschen, Jenny -- hoffentlich werde ich keine Kinder
haben -- gesprenkelt sicher nicht,« damit schloß ich die Tür endgültig.

Um halb zehn Uhr vormittags waren wir alle pünktlich auf dem Bahnhof --
Victoria Station -- versammelt. Meine europäischen Freunde hatten schon
gestern von mir Abschied genommen, und da die allermeisten gegen diese
Heirat waren (Engländer sind noch mehr gegen Mischung der Rassen als
andere Europäer), so stand ich unbegleitet auf der grauen Plattform der
düsteren Halle. Um so zahlreicher vertreten war die chinesische Kolonie.
Einige konnten kein Wort außer Chinesisch, und wir nickten uns gegenseitig
nur zu, andere sprachen etwas Englisch. Sie alle umringten Ming Tse, der
seiner Schenkungsseligkeit wegen sehr beliebt war, wenn er ihnen auch oft
unangenehme Wahrheiten mit verblüffender Aufrichtigkeit sagte. Mehrere
von ihnen brachten Körbchen voll herrlichen Obstes -- Trauben die einen,
Pfirsiche die andern, und ein Chinese brachte eine Tüte rotbackiger
Aepfel, mit denen Jenny schon jetzt liebäugelte.

Um zehn Uhr wurde das Abfahrtssignal gegeben, und der lange Zug setzte sich
in Bewegung. Am Korridorfenster stand Li Bai und winkte seinen Freunden zu,
solange man noch ein Viertel eines einzigen Chinesen in der Ferne erkennen
konnte, und war noch einige Zeit nachher etwas einsilbig. Lange jedoch,
bevor wir nach Queenborough kamen, plauderten wir alle höchst vergnügt
miteinander.

Ming Tse, der ein reizender Reisekamerad war, breitete sein lichtblaues
Seidentaschentuch über meinen und Jennys Schoß aus und verteilte
Früchte. Mama wollte an der Fütterung vorläufig nicht teilnehmen, aber
Jennys weiße Zähne bissen mit sichtlichem Behagen in die appetitlichen
Aepfel. Ihr war die Reise ein großer Spaß, Mama ein wichtiges Ereignis,
das feierlich behandelt und durchgeführt werden mußte, Ming Tse eine
Genugtuung sondergleichen, da er endlich in die geliebte Heimat zurück
durfte, und mir -- eine Frage an das Schicksal, die Entscheidung
über meine ganze Zukunft. -- Und dennoch hatte nicht einer der drei
Mitreisenden, die mir doch am allernächsten auf der Welt standen oder
bald stehen würden, die blasseste Ahnung von dem, was in mir vorging, und
infolgedessen das allergeringste Mitleid. Nicht einer von ihnen hätte mich
verstanden, wenn ich gesprochen hätte, und so betrug ich mich als guter
Gefährte, lachte und scherzte mit ihnen und fühlte mehr denn je, was für
eine elende Komödie das Leben war, wo man immer und vor allen Leuten eine
Maske tragen mußte und doch noch froh war, daß man das Recht hatte,
eine Maske zu tragen, die einen vor dem Hohn der Mitmenschen, die anders
dachten, schützen konnte.

In Queenborough verließen wir den Zug, um uns auf das Schiff zu begeben.
Erst Mama mit einem Träger an ihrer Seite, dem sie ununterbrochen
wiederholte, so schnell wie möglich zu gehen. Das erbitterte ihn so,
daß er ihr mitteilte, die Sturmflagge wehe schon vom Mast -- während in
Wirklichkeit nicht ein Lüftchen sich regte, und ein so glänzend blauer
Himmel, wie er nur selten über Großbritannien lacht, sich über unsern
Häuptern wölbte --, hinter ihr Jenny mit den Fruchtkörbchen und einer
Hutschachtel, dann ich, ebenfalls mit mehreren Schachteln beladen, und
endlich Ming Tse, der zwei Träger beaufsichtigte. Die großen Koffer
waren alle vorausgeschickt worden, was wir mitführten, war lediglich
Handgepäck, und trotzdem wälzten wir uns wie eine Karawane heran. Sobald
wir das Schiff betreten hatten, ging Mama zum Kapitän und erkundigte sich,
ob wir in der Tat untergehen würden, was er verneinte und Mama gelobte,
sein Möglichstes zu tun, eine so furchtbare Katastrophe abzuwenden.
Er sprach mit großer Ernsthaftigkeit, aber um die Mundwinkel zuckte es
verräterisch, und seine grauen Augen blinzelten mir, sooft ich näherkam,
vielsagend zu. Die arme Mama, die das Fahren auf dem Meere nicht verträgt,
verschwand in eine Kajüte und blieb trotz des herrlichen Wetters und der
spiegelklaren See verschwunden, so lange wir nicht festen Boden unter
uns hatten, Ming Tse schob uns Mädchen in eine Ecke und setzte sich
als Haremswächter davor. Seine Augen schossen Blitze, sooft sich ein
männliches Wesen uns näherte, und Jenny sah sich daher gezwungen, jeden
Flirt zu unterlassen. Dagegen fütterte er uns die ganze Zeit mit den
herrlichen, riesengroßen Pfirsichen, an die ich noch jetzt mit Genuß
zurückdenke -- gewiß die schönsten, die ich gesehen oder gegessen hatte.

Nach einer Weile begann die alte Baracke -- denn diese holländischen
Schiffe sind klein und armselig ausgestattet -- trotz des klaren Himmels
und der ruhigen See ein wenig zu wackeln, was Ming Tse veranlaßte, sich
tiefer in den Reiseplaid zu wickeln und steinunglücklich dreinzuschauen.
Jenny benützte die Schwäche des Wächters dazu, auf das Hinterdeck zu
entfliehen, wo sie ihre Blicke über die Fluten, über den Himmel und --
über die Mitreisenden, über letztere nicht am wenigsten, gleiten ließ.

»Gott sei Dank, daß du nicht wie deine Schwester bist,« brummte mein
Verlobter. »So ein Mädchen ist die reine Pest.«

Wir unterhielten uns besonders über einen alten Juden, der uns nahe saß
und aus einem schmutzigen Papier heraus ein Stück Fleisch wickelte, was
ich als Ueberreste eines Huhns, er als die eines Kaninchens betrachtete.

Der Vorfall erinnerte mich an eine merkwürdige Episode in Ming Tses
Londoner Existenz. Er erhielt einst, ohne es zu wissen, ein Kaninchen
vorgesetzt und war so böse, als er erfuhr, was er gegessen hatte, daß
er sofort ausziehen wollte. Kein Wunder! Da sein Vater nie Kaninchen
verspeisen durfte, war es dem Sohne auch nicht erlaubt, und ich erinnerte
mich, daß der arme Chinese eine ganze Menge Brechpulver einnehmen mußte,
damit das widerspenstige Kaninchen wieder herauswanderte, denn drinnen
bleiben durfte es nicht -- das wäre ein himmelschreiendes Verbrechen gegen
alle seine Vorfahren gewesen. Folglich quälte ihn der Anblick des Juden
und des Kaninchens in einem solchen Grade, daß er überall herumging, nur
um diesen zwei Schreckgestalten auszuweichen. Mich wickelte er vorsichtig
in einen großen, warmen Plaid und schob den Deckstuhl so nahe an das
Schiffsende heran, daß ich nichts als die Fluten übersehen konnte. Er
selbst suchte und fand Jenny.

»Ihre Schwester braucht Sie,« sagte er kurz. Dann fügte er hinzu: »Sie
haben genug herumgeschaut, die armen Männer müssen endlich Ruhe haben,«
-- sprach's und schob sie, die ihn um Kopfeslänge überragte, gebieterisch
in meine Richtung.

»Jenny,« fragte ich sie, sobald Li Bai außer Hörweite war, »hast du
nur diese Blusen mit kurzen Aermeln und ausgeschnittenem Halse?«

»Gewiß,« lautete die Antwort. »Mama sagt, ich habe so schöne Arme und
einen hübsch geformten Hals -- warum soll ich ihn da zudecken, wie du den
deinen?«

»Schwester, sei nicht so maßlos eitel und sprich nicht immer von deinen
Vorzügen, du wirst dich Fremden gegenüber lächerlich machen. Dies ist
jedoch nur nebenbei bemerkt,« sagte ich, als ich sah, daß Jenny beleidigt
die Lippen aufwarf, »ich wollte dich nur bitten, immer lange Aermel zu
tragen und auch einen hohen Kragen zu wählen, so lange du im Orient bist.
Die Orientalen finden es im höchsten Grade abstoßend und unmoralisch,
so gekleidet zu gehen. Tust du es, wirst du dir viele Unannehmlichkeiten
zuziehen.«

»Oh, Unsinn,« erklärte meine Schwester, legte aber in Zukunft doch
Blusen, wie ich sie vorgeschlagen hatte, an.

Ming Tse kam zu uns zurück. »Wollt ihr nicht Kaffee trinken, Kinder?«
fragte er.

Ich, die ich ahnte, wie der Kaffee auf dem Schiff sein würde, lehnte
sofort ab und riet den andern, mir nachzutun. Jenny tat es, Li Bai aber
ging mutig in die Tiefen. Als eine Viertelstunde nach der andern verging
und er nicht zurückkehrte, ging ich auf die Suche nach ihm aus. Er
taumelte mir bei der Treppe entgegen, wankte auf die Brüstung zu und sah
wie ein Geist aus.

»Was ist dir geschehen, Li Bai?« fragte ich besorgt.

»Kaffee!« war die einzige Antwort. Gleich darauf verlangte der Meergott
seinen Tribut und -- erhielt ihn.

Erst als ich nach einer Weile den armen Chinesen in einen Deckstuhl
verpackt und mit einem Reiseplaid umwickelt hatte, erzählte er, daß er
nach langem Warten einen teuren Kaffee bekommen hatte, der keinen Geschmack
und wenig Farbe besaß, ganz lauwarm war und ihn sofort seekrank machte. Er
schimpfte auf die Holländer, als ob die ganze Nation nur schlechten Kaffee
kochen würde, und hat noch heute eine sehr unschmeichelhafte Meinung von
Holland und seinen Bewohnern.

In Vlissingen kehrte Mama zur Oberfläche als handelndes Menschenkind
zurück, und auch Ming Tse stand wieder sicher auf seinen zarten Beinen.
Der Kapitän nickte Mama wie einer alten Bekannten zu und war stolz darauf
-- wie er ihr versicherte --, sie so gut an allen Gefahren vorüber in
den Hafen geführt zu haben, doch Mama sah gar nicht so dankbar aus als man
Ursache hatte zu vermuten, und Li Bai sah den Kapitän, das Schiff und die
Besatzung so wütend an, als wollte er ihnen allen einen Paß zum Reiche
der Seejungfrauen ausstellen.

Kaum war die Zollrevision vorüber, wollte Ming Tse etwas essen und
weigerte sich, den Berliner Expreß zu betreten, bevor er wußte, und aus
guter Quelle wußte, daß der Speisewagen mitfolgte. Erst als wir uns
im Wagen gegenübersaßen und uns die überstandene Fahrt nur ein Traum
schien, tauten Mama und der kleine Chinese, die beide bei den Göttern und
Heiligen ihres Landes schworen, nie wieder die Planken eines Schiffes zu
betreten, ein wenig auf.

An der deutschen Grenze war wieder Zollrevision, und hierauf durften wir
schlafen. In Berlin blieben wir nur einen halben Tag, und mir tat es wohl,
nach langer Zeit wieder in einem Lande zu weilen, wo man meine Sprache
sprach. Jenny war selig, »Unter den Linden« einige Einkäufe machen zu
können, und Ming Tse war ebenso unermüdlich wie sie im Wählen allerlei
Kleinigkeiten, die man nach China mitführen sollte. Am Abend verließen
wir Berlin, und Jenny drückte ihr Näschen an die Scheiben, um acht Uhr
abends das Nachtleben Berlins vom Zuge aus beobachtend. Natürlich neckten
wir sie hinterher und fragten, was ihr vom »Nachtleben« am besten
gefallen habe. Ich freute mich innig, daß meine Schwester noch so
beglückend naiv war, und bedauerte, Mama zugeredet zu haben, sie nach
China mitzunehmen. Jetzt war eine Aenderung nicht mehr zulässig.

An der russischen Grenze leerte man unsere Koffer einfach auf den
schmutzigen Bahnsteig aus, und die Zollbeamten -- oder wie mein Vetter sie
zu betiteln pflegte, -- die Kofferspione -- fuhren mit ihren zweifelhaft
reinen Händen schauerlich unter den Sachen herum. Li Bai, der seinen
Koffer mit der ihm eigenen Pedanterie gepackt hatte, sprach chinesisch
-- kaum Kosenamen, denke ich mir --, und ich hatte große Mühe, den
übervollen Koffer wieder zu schließen. Ich bat daher Jenny, sich darauf
zu setzen, damit ihr Gewicht den störrigen Gesellen eines Besseren
belehren möge, aber da kam ich schön an. Li Bai entließ uns mit einem
Blicke und einer Handbewegung, die keine Feder hinreichend wiedergeben
könnte und packte meinen Koffer selbst. Jenny fiel beinahe in Ohnmacht,
als sie bemerkte, was für Kleidungsstücke dabei notwendigerweise durch
seine kleinen Hände wandern mußten, aber ich habe in der Hinsicht
stärkere Nerven. Der fertige Koffer war ein Meisterwerk, und wohl oder
übel mußte sich Jenny demselben Schicksal unterwerfen, denn Ming Tse
sagte mit mehr Wahrheit als Höflichkeit:

»Ihr könnt beide nicht einen Koffer packen.«

Bei der Paßrevision und auch im Speisewagen half mir meine Kenntnis des
Russischen, was meinen Reisegefährten sehr imponierte, weil sie mit der
Sprache des Zarenreiches gar nicht vertraut waren. Sie half mir auch sehr
in Moskau, wohin wir am folgenden Tag spät abends gelangten und im Hotel
l'Europe abstiegen, wo man die Sprachen der ganzen gebildeten Welt hören
konnte. Herrlich schönes Moskau! Früh am nächsten Morgen stand ich auf
dem kleinen Balkon und sah hinweg über die unzähligen Kuppeln und Türme,
die malerischen Gebäude dieser echt russischen Stadt, mit dem Kreml im
Hintergrund und dem flutenden Verkehr zu meinen Füßen. Wir waren im
Oktober und die Blätter der Bäume wiesen alle Farbennuancen vom hellsten
Gelb bis zum tiefsten Braun auf, rote Blätter funkelten dazwischen hervor
und der tiefblaue Herbsthimmel, auf dem die aufgehende Sonne eben einige
Wölkchen rosig färbte, bevor sie die Kuppeln und Baumspitzen küßte,
rief in meinem Herzen allerlei Gefühle wach, von denen das stärkste
jedoch der Wunsch war, das, was ich jetzt in mir widerklingen hörte, durch
den Pinsel oder die Feder verewigen zu können. Die Größe und reine,
erhabene Schönheit der Natur verglichen mit unserem armseligen Haschen
und Jagen -- wonach? Die ewig wiederkehrende Frage des »Seins oder
Nichtseins«, das beseligende Bewußtsein, daß alles Kleinliche in solchen
Augenblicken von uns abfällt wie ein altes Kleid, dessen wir länger nicht
bedürfen, ein Verlassen des eigenen Ichs, um sich über die Erde hinaus
in unbekannte Welten zu schwingen -- alles dies bewegt die Seele bei dem
Anblick reiner Schönheit, und muß man auch bald in die graue Wirklichkeit
zurückkehren, bleibt doch der Eindruck des Gesehenen zurück und zittert
als schöne Erinnerung noch lange in uns nach.

»Käthe,« rief in diesem Augenblick Mama, »ich wünschte, du würdest
nicht eine halbe Stunde lang mit der Nase auf die Wolken gerichtet stehen,
sondern lieber auf deine Toilette schauen. Deine Krawatte sitzt schief.«

»So richte sie bitte,« erwiderte ich müde. Was war eine Krawatte gegen
das Universum?

»Aber Käthe,« entfuhr es Jenny, »hast du wirklich Lust auf dem Balkon
zu stehen, wenn alle Gäste noch schlafen? Jetzt ist ja niemand zu sehen.«

»Jenny,« erwiderte ich ernst, »ich schaue nicht die Leute an -- die
interessieren mich nicht. Ich blickte,« setzte ich träumerisch hinzu,
»auf die Schattierungen der Blätter und die Farbenabstufung am Himmel.«

In diesem Augenblick trat Ming Tse ein.

»Käthe studiert Farbenabtönungen am Himmelsbogen und darunter,« rief
meine Schwester ihm entgegen.

Ich zog Li Bai auf den Balkon. »Ist es nicht wunder-, wunderschön?«
fragte ich ihn und legte unwillkürlich meine Hand auf seinen Arm, als
wollte ich etwas von dem, was mich so stark bewegte, durch Magnetismus auf
ihn übergehen lassen.

»Nichts zu sehen,« bemerkte er gelassen. »Komm zum Frühstück!«
Damit schüttelte er meine Hand ab und folgte den anderen hinab in den
Speisesaal. Ich kam mir wieder einmal vor wie ein Schiffbrüchiger
auf einer einsamen Insel, der in der Ferne ein Schiff sieht, dessen
Aufmerksamkeit er aber nicht erregen kann. So ging auch ich hinunter und --
frühstückte.

Ueber die Sehenswürdigkeiten Moskaus will ich hier nicht sprechen --
eine Reisebeschreibung soll dieses Werk nicht werden -- genug, wir besahen
alles, was dort von Interesse war und verweilten zwei Tage in dieser Stadt.
Ming Tse war zuvorkommend wie immer, unser Verkehr rein freundschaftlich
und wohl niemand, der uns Seite an Seite durch die Straßen der alten
Stadt wandern sah, hätte glauben können, daß hier zwei Verlobte
dahinmarschierten, so weit entfernt voneinander gingen wir, und so ruhig
und leidenschaftslos waren unsere Züge. Mama fand unsere Haltung
äußerst =comme il faut=, Jenny lächerlich und ich? Ich dachte an jene
längstentschwundene Zeit zurück, wo selbst ich davon geträumt hatte,
daß man als Braut im irdischen Paradiese schwebe, daß eine unbekannte,
früher ungeahnte Seligkeit das Herz schneller schlagen, das Blut schneller
kreisen lasse. Die Glückseligkeit war entschieden nicht europäisch --
aber die Ruhe, die gleichmäßige Heiterkeit, die ich im Verkehr mit Li Bai
fand, war nicht zu verachten -- es war der orientalische Abglanz, =voilà
tout=!

       *       *       *       *       *

Sonnabend! Jennys Wangen glühen vor Aufregung, Mama empfiehlt ihre Seele
und besonders den Körper dem großen Geist, betend, daß sie mit dem Kopf
auf dem Rumpfe wohlerhalten wieder nach Moskau zurückkommen möge, Ming
Tse freut sich wahnsinnig auf das endliche Wiedersehen mit seiner Mutter,
und ich wünsche aus ganzer Seele, daß die Zukunft lichter als die
Vergangenheit werden würde; so stehen wir alle gegen Mitternacht auf dem
großen und belebten Kursk-Nishninowgoroder Bahnhof und warten auf den
sibirischen Zug, der uns in das Reich des fernen Ostens tragen soll.
Endlich wird das Abfahrtszeichen gegeben, wir betreten unsere Abteile, die
wie kleine Zimmer sind, die man nach Belieben sperren kann, sooft man sie
verläßt und wo alles sehr bequem und elegant ist. Noch ein Blick über
Moskau mit seinen Hunderten von Lichtern, den dunklen, kaum sichtbaren
Kuppeln und Türmen, und wir sausen durch die mondhelle Nacht über die
große Ebene rund um die Wolga, auf der die unzähligen Schiffe auf- und
niederfahren, von denen in den warmen Sommermonaten ununterbrochen Gesang
ertönen soll -- die melancholischen Lieder erklingen da aus den Kehlen der
Schiffer, die damit die Unbehaglichkeiten der Reise zu mildern suchen.
Nun war alles still, nur das fahle Mondlicht beleuchtete das nächtliche
Rundbild. Die drei Mitreisenden verfügten sich in ihre Zellen, ich aber
lag, überkommen von dem Gedanken, Europa vielleicht auf Jahre, vielleicht
auf immer, Lebewohl gesagt zu haben, die Nacht hindurch wach und blickte,
als sich endlich die schweren Morgennebel hoben, auf das in der Ferne
auftauchende Hügelland.

Li Bai klopfte schon früh an meine Türe, und da die beiden Damen noch
schliefen, gingen wir allein in den Speisesaal, wo ein dicker Mann uns
gegenüber Platz nahm. Ich mochte kaum einen Schluck getan haben, als er
trotz meiner abwehrenden Haltung ein Gespräch anfing, und da ich russisch
konnte und Li Bai nicht, fiel die Bürde der Unterhaltung auf mich. Es
stellte sich heraus, daß mein Gegenüber ein wohlhabender Pferdehändler
war, der bis Samara mitfuhren wollte, und da ich mich interessierte,
wann wir dahin kommen würden, ging er gleich daran, im Fahrplan die
Ankunftszeit zu finden.

Mein kleiner Chinese sah wie eine dräuende Gewitterwolke aus, obschon
ich immer wieder das Gespräch mit dem Fremden unterbrach, um ihm alles zu
übersetzen, und als er nun merkte, daß der Händler mir galant allerlei
Ankunftszeiten auf ein Stück Papier schrieb, war er so böse, daß er mich
fragte:

»Wozu braucht der Mensch da höflich gegen dich zu sein? Und wozu braucht
er dir Ankunfts- und Abfahrtszeiten herauszuschreiben, dieser dicke Idiot!?
Haben wir nicht selbst einen Mund unter der Nase und zwei Augen oberhalb
derselben, so daß wir selbst fragen und herausfinden können, was wir
wollen?«

Damit faßte er mich am Arm und zog mich hinter sich durch den ganzen Zug,
bis wir vor Mamas Zelle standen, an die er klopfte.

»Mama,« rief er, sobald er sie begrüßt hatte, »hier bringe ich dir
die Käthe. Wenn ich nicht auf sie achtgegeben hätte, wäre sie mit einem
Pferdehändler, der nach Samara fährt, durchgebrannt!«

Seine geschlitzten Augen sahen in diesem Augenblicke keineswegs
übermäßig hübsch oder angenehm aus.

Mama dankte ihm aus voller Seele, wenn auch mit einem Lächeln um die
Lippen, Jenny aber warf sich auf das Bett, strampelte vor Vergnügen mit
den Beinen und lachte, daß ihr die Tränen über die Wangen liefen. Für
den Rest des Tages wich Li Bai nicht von meiner Seite, und ich fragte mich,
wie es werden würde, wenn ich einmal in China sei. Seinem Versprechen
gemäß sollte ich das Recht behalten, auszugehen, sooft ich dies
wünschte, wenn er auch gänzlich abgeschlagen hatte, mich meinen Beruf
dort weiter ausüben zu lassen. Wie nur alles enden würde? Vorläufig
unterhielt mich sein Betragen nur.

Am zweiten Tage gegen Mittag kamen wir nach Samara, und von da an begann
eigentlich erst so recht die Reise. Russen aller Arten standen in
ihren etwas schmutzigen Kleidern auf dem Bahnhof und warteten auf den
gewöhnlichen sibirischen Zug, der mit russischer Gleichgültigkeit gegen
das Sprichwort »Zeit ist Geld« innerhalb der nächsten zwei bis
drei Stunden eintreffen sollte. Auf allen Stationen hält der einfache
sibirische Zug; die armen Auswanderer, denen es beinahe ebenso schlecht
wie den Gefangenen geht, können aussteigen und sich heißes Wasser holen,
womit sie ihre Teevorräte erneuern, und die Eisenbahnbeamten behandeln sie
nicht viel besser als Tiere. Man erzählt sich, daß ein Zugführer einst
einigen armen Russen, die auch auf einer solchen Station ausgestiegen
waren, höflich sagte: »Meine Herren, es ist Zeit zum Einsteigen!« aber
niemand nahm irgendwelche Notiz davon. Nach dem zweiten Glockenzeichen
sagte er: »Einsteigen, bitte!« doch ganz ohne Erfolg. Diese
Unglücklichen glaubten nicht, daß die Aufforderung an sie gerichtet war,
und erst als er hinzutrat und sie anschrie: »Verdammtes Pack, seht zu,
daß ihr augenblicklich in den Zug kommt,« verstanden sie, wer gemeint
war, und eilten auf ihre Plätze.

Der Zug flog über die weite Ebene von Batraki, die mit ihrer
Abwechslungslosigkeit ununterbrochen bis Kinel fortdauert und erst bei
ihrer Kreuzung mit der Hügelkette unweit des Padowaflusses ein Ende nimmt,
während wir in dem bequemen Zuge saßen, wo wir einen Lesesaal mit guter
Bibliothek und vielen Zeitungen hatten, in dem man Schach spielen konnte
und wo man so viele Briefe an kleinen Tischchen schreiben konnte, als man
nur wollte. Da waren Badezimmer und Küche, der schöne Speisewagen und
der elegant möblierte, mit vielen weichen Sitzgelegenheiten ausgestattete
Salon, die netten Schlafzimmerchen und die langen Korridore, durch die
man von einem Ende des Zuges zum andern gehen konnte. Da es schon ziemlich
kühl war, wurde der Zug geheizt, was den Aufenthalt überall sehr angenehm
gestaltete. Ming Tse und Jenny wanderten wie Kinder durch alle Räume,
untersuchten alles, freuten sich über jede Entdeckung und waren ganz
gleichgültig gegen die Gegenden und die Orte, die wir passierten. Der Zug
fing in voller Fahrt das nötige Wasser aus der der Strecke angrenzenden
Wasserleitung auf und brauste mit unverminderter Fahrt durch die Stationen,
auf denen wir nur wie im Fluge Soldaten und Gefangene stehen sahen. Lange
lagen am Morgen die Nebel über der Landschaft, und früh schon sank am
Abend die Dunkelheit herab.

Am folgenden Tage erspähten meine Augen endlich den erwarteten schlichten
Grenzobelisk, auf dem mit russischen Buchstaben »Europa -- Asia« stand
und an dem wohl manch' ein armer Verbannter mit Schaudern vorbeigegangen.
Hier mußte man Abschied nehmen von der Zivilisation, nun waren wir in
Asien, dem gefürchteten Sibirien. Ach, auch ich hatte Europa jetzt hinter
mir gelassen -- wie, wie würde ich Asien finden?

Li Bai kam gelaufen. »Mutter, Käthe, kommt, jetzt kommen die hängenden
Brücken, die großen Schluchten!«

»Der Ural?« fragte ich lebhaft und war augenblicklich am Fenster, Mama
gleichfalls.

»Es ist ja gleichgültig, wie der Berg heißt,« meinte Li Bai, »hübsch
ist die Gegend.«

Ich vergab ihm gern seine Unwissenheit und Gleichgültigkeit, verriet
er doch zum ersten Male, daß die Schönheit eines Gegenstandes (außer
Kleidern) auf ihn wirkte. Es war auch großartig, was wir sahen. Vorüber
ging die Fahrt an herrlichen Bergseen, in denen sich der Schnee der
Berggipfel klar spiegelte, an Abhängen, über die Schwebebrücken
führten, an Aushöhlungen vorbei, die majestätisch in ihrer
Großartigkeit wirkten; Abgründe erblickten wir, die uns den Atem benahmen
und in denen wir Gießbäche wild rauschen hörten; bald führte die Bahn
durch einen künstlich gebildeten Unterbau dahin, bald bahnte sie sich
den Weg durch einen endlosen Tunnel, immer wechselnd, immer Bewunderung
erregend. Zwischen Zlatoust, »dem goldenen Mund«, und Urshumka erreicht
sie endlich ihren Höhepunkt. Mächtige Kurven, wilde Wasserfälle und
schroffe Felswände verleihen auch weiterhin der Strecke großen Reiz.

Jenny hatte einen großen Bewunderer gefunden, der ihr auf Tod und Leben
den Hof machte und uns alle interessanten Punkte erklärte, nicht nur
während wir sprachlos vor Staunen und Entzücken den Ural kreuzten,
sondern auch später, als er uns auf die Aushöhlung des Dergatsch,
ein wahres Meisterwerk, aufmerksam machte. Er belehrte uns, daß nur
einundzwanzig Werst vom malerischen Orte Ssuleja, an dem wir wie der Wind
vorbeisausten, das berühmte Bakalsche Grubenwerk liegt, welches überreich
an Eisenerz -- vielleicht das reichste Sibiriens -- ist, und erzählte,
daß in dem Museum von Zlatoust ein Nagel aufbewahrt werde, den Kaiser
Alexander I. eigenhändig geschmiedet haben soll. Kurz, der Russe war ein
sehr angenehmer Gesellschafter für Jenny und Mama. Ich durfte
freilich nicht viel mit ihm sprechen, sonst sah Li Bai drein wie ein
vierzehntägiges Regenwetter mit gelegentlichem Schauer und Donnerwetter.

Trotzdem der Russe gewiß nicht zehn Worte mit mir gewechselt und sein
ganzes Herz -- so schien es wenigstens -- Jenny zu Füßen gelegt hatte,
sah Li Bai ihn doch mit Vergnügen bei Tschelabinsk den Zug verlassen, um
mit der Zweigbahn nach Jekaterinenburg zu fahren, wo er Geschäfte hatte.
Es war der Vorabend meines Geburtstages, und als mir Ming Tse zum Abschied
die Hand reichte, zog er mich plötzlich etwas von Mama und Jenny weg und
flüsterte mir geheimnisvoll zu:

»Ich habe etwas sehr Hübsches für dich, Käthe, für morgen,« und er
hielt einen Augenblick inne, »und morgen werde ich dich -- küssen!«
Sprach's, drückte meine Hand noch einmal und verschwand in sein
Schlafabteil.

Ein Europäer hätte wahrscheinlich gefunden, daß er der gewinnende Teil
bei diesem Vorgang wäre, aber Li Bai sagte es mit dem Tone und der Miene
eines Menschen, der sich vollauf bewußt ist, welche unendliche Großmut
er dem Gegner zeigt und welch unschätzbare Gnade damit verliehen wird. Ich
war unglaublich gespannt, wie er sich dabei ausnehmen werde und wie mich
diese seine Zärtlichkeit berühren würde. Ich war sogar ängstlich, da
ich gegen jedwede Berührung außergewöhnlich empfindlich bin und ich mich
fürchtete, mir könnte ekeln. Allerdings war er so rein und nett, jung
und bartlos, daß ich mich einigermaßen beruhigt fühlte, aber mit großer
Spannung sah ich nichtsdestoweniger dem kommenden Tage entgegen.

Als daher Jenny früh an mein Abteil klopfte und mir eine hübsche
Handarbeit als Geschenk überreichte, bat ich sie, mit Mama voraus in den
Speisesaal zu gehen, da ich natürlich Ming Tse allein treffen wollte.
Mama gab mir eine lange Goldkette, an die ich mein Firmungsgeschenk, eine
Golduhr, hängte, und nachdem wir beide geweint hatten -- ganz wie's sich
schickt, wenn man vierundzwanzig Lenze hinter sich hat --, blieb ich
allein in meinem Abteil.

Etwa fünf Minuten später klopfte es verstohlen an die Pforte, und auf
mein »Herein!« erschien zögernder als gewöhnlich mein kleiner Chinese
auf der Schwelle.

»Möge sich dieser Tag noch oft wiederholen!« sagte er, indem er ein
sehr schönes Kettchen mit einem Anhänger um meinen Hals legte, und dabei
berührten seine Lippen fast unmerklich meine Wange, gerade als fürchtete
der Besitzer dieser Lippen sie an mir zu verbrennen. Er war auch gewiß
dreimal so verlegen wie ich, blickte mich gar nicht mehr an, und obschon
ich ihm warm dankte, wandte er sich mir nicht wieder zu, sondern faßte
mich energisch bei den Schultern und schob mich vor sich dem Speisewagen
zu.

Als wir vor der Türe des Wagens standen, hielt der kleine Chinese einen
Augenblick inne und fragte mich:

»Bist du zufrieden, Käthe, daß ich dich geküßt habe?«

Und ich, die ich mich der Hoffnung hingab, daß hier wie in allen Dingen
Uebung den Meister machen würde, entgegnete lächelnd:

»Sehr zufrieden und sehr froh, Li Bai!«

Damit betraten wir den Speisewagen, der eben mit voller Fahrt durch das
wichtige Gouvernement von Orenburg dahinbrauste und in dem am appetitlich
gedeckten Frühstückstisch Mama und Jenny saßen und ein Butterbrot nach
dem anderen in den inneren Kräftebehälter hinabspazieren ließen.

Am Nebentische saßen zwei hagere Engländer, aber Jennys Augen und
Mamas Beredsamkeit (Mama spricht auch mit Leuten, deren Sprache sie nicht
mächtig ist, und macht aus drei Worten ausländischer Wortkenntnis mehr,
als ich aus einem reichen Wortschatz von vielen tausend Wörtern) hatten
das ihrige getan -- man sprach herüber und hinüber, und die beiden Herren
machten uns aufmerksam, daß wir eben an Mischkino vorbeifuhren, das die
Waren von ganz Sibirien für die berühmte Irbitsche Messe erhält. Als
wir später im Salonwagen saßen und an Kurgan vorbeisausten, wußten
die Engländer zu erzählen, daß dieser Ort seinen Namen dem
Umstande verdankt, daß in unmittelbarer Nähe der Stadt künstliche
Erdaufschüttungen in Gestalt von Kurganen oder Hünengräbern liegen,
die mit Wald und Gräben umgeben sind und um die sich viele Sagen spinnen,
besonders um den einen, in welchem einst eine wunderschöne Königstochter
gelegen haben soll und die, als die Tataren immer wieder ihren Grabhügel
der unermeßlichen, darin vergrabenen Schätze willen plünderten, eines
Nachts auf silbergeschmücktem Wagen, der von zwei milchweißen,
feurigen Rossen gezogen wurde, aus dem Hügel herausfuhr und sich in
den unergründlichen Tschuklomsee stürzte. Natürlich blickten wir
alle interessiert auf die eigentümliche Stadt mit ihrer breiten, öden
Hauptstraße, ihren kleinen, fast durchschnittlich ebenerdigen Häusern
und den im Hintergrunde auftauchenden Hünengräbern. Ueberall lag schon
Schnee, obschon wir kaum Mitte Oktober hatten, und die Aussicht auf all
die öden Strecken vor uns bot wenig Fesselndes, bis wir auf der breiten
Eisenbrücke den mächtigen Tobol überschritten, an dem so viele
Nomadenstämme sich niederließen und der eine so wichtige Rolle für diese
Leute spielte.

Ich fühlte eine Hand auf meinem Arm. Li Bai stand neben mir und sagte
gelangweilt:

»Komm mit mir, Käthe, wir gehen durch den Zug.«

Kaum waren wir in Bewegung, als er mir sagte:

»Diese Fremden sind ganz überflüssig, sie sollen mit Mama und Jenny
sprechen. Für dich haben sie kein Interesse, nicht wahr?« fragte er mich
und kniff die Augen gewaltig zusammen.

»Gar kein Interesse, aber sie kennen die Gegend gut. Hörst du nicht gern
alles über ein Land, das man durchfährt?«

»Ja -- a!« entgegnete er gedehnt. »Ist doch immer die alte Geschichte,«
fügte er wegwerfend hinzu. Hierauf lehnte er sich ruhig zurück und
erzählte mir allerlei Geschichten von China -- von Vampiren, die ihren
Feinden in der Nacht das Blut aussaugen, während sie am Tage meist die
Gestalt eines schönen Mädchens haben; von Räubern, die sich in ein
reiches Haus einschlichen und die Tochter des Hauses überfielen, worauf
sie verschwanden, aber ihren Namen -- oft einen sehr gefürchteten --
zurückließen; von Dämonen, die sich in die Häuser einschlichen und
allerlei Unheil stifteten und Aehnliches. Er schien, obschon er unseren
Aberglauben, unsere Märchen, ja selbst unseren Glauben verspottete und
verlachte, von dem, was er erzählte, ganz durchdrungen zu sein. Daß er
auch nicht ohne Aberglauben mit Bezug auf die alltäglichen Vorkommnisse
war, zeigte sich am folgenden Tage.

Wir hatten Irkutsk passiert, wo wir den Zug endlich einmal verlassen
und auf dem mit Buräten, Jakuten, Tungusen, Japanern, Chinesen und den
gefürchteten Kosaken mit ihren feurigen Augen und ihren hohen Pelzmützen
übervoll besetzten Bahnsteig auf und ab gehen konnten, und saßen gerade
vor einigen russischen Nationalspeisen, als eine tote Fliege in der Suppe
Li Bais sichtbar wurde. So etwas ist immer unangenehm und abscheuerregend
-- wer zweifelt daran? -- aber mein Verlobter nahm es doch noch viel
tragischer, als man dies erwarten konnte.

»Eine Fliege! Eine Fliege in der Suppe!« sagte er mit Grabesstimme. »Das
bedeutet einen Todesfall in der Familie!«

All unsere Versicherungen, all unsere Bemühungen, ihm begreiflich zu
machen, daß dies nur ein Aberglaube sei, war vergeblich, und für den Rest
des Tages war Li Bai äußerst schlechter Laune und sehr niedergedrückt.

Der nächste Tag war etwas freundlicher. Es schneite nicht mehr, und Li Bai
sah auch fröhlicher aus, obschon er ganz in Trauer gekleidet erschien --
selbst mit schwarzer Krawatte und matten Manschettenknöpfen.

»Was ist geschehen?« fragte Mama, die sogleich an die Fliegenprophezeiung
dachte.

»Vor sieben Jahren starb mein Großvater an diesem Tage, und daher ist es
notwendig, daß ich für heute Trauer anlege.«

Der chinesischen Sitte gemäß legt man an den Sterbetagen der Mutter und
der männlichen Verwandten stets Trauer an (für die übrigen Frauen wird
jedoch nicht Trauer getragen), selbst wenn schon über zwanzig Jahre seit
dem Tode des Betreffenden verstrichen sind. Mama fand dies rührend, aber
ich konnte nicht umhin zu denken, daß es doch unangenehm sein dürfte,
falls man sehr viele Verwandte zu betrauern hat, da man in diesem Falle aus
dem Trauertragen kaum herauskommen kann.

Endlich gelangten wir zum See Baikal, von den einheimischen Russen das
»Heilige Meer« genannt, der einer der größten Süßwasserseen der Welt
und entschieden der gewaltigste der Alten Welt ist. Die Chinesen nennen
diesen See »Pei-ho« oder »Nordmeer«, die Mongolen geben ihm den Namen
»Dalai-Nor«, was »Heiliges Meer« bedeutet, oder auch »Baikul« oder
»gesegnetes Meer«. Die den See umgebenden Höhenzüge verleihen ihm einen
besonders malerischen und großartigen Charakter. Die Randgebirge bilden
verschiedene Gestalten, um die die lebhafte Phantasie der Eingeborenen
viele Sagen gesponnen hat. Jede der zahlreichen Landzungen hat einen
eigenen Namen und die Inseln werden von den lamaïtischen Priestern und
auch von den burjatischen Schamanen als die Aufenthaltsorte des Gottes der
Unterwelt Begdosi angesehen. Rund um den riesigen See gibt es eine Anzahl
geweihter Stätten, an denen bald dem Gotte der Weisheit, bald dem Seegotte
Dianda, bald anderen Göttern geopfert wird, damit diese Götter keine
Menschenopfer verlangen sollen, wohl aber geneigt werden, den Fischern
viele Fische an den Strand und in die Netze zu treiben. Die Farbe des Sees
ist hell und die Fluten leuchten dem Beschauer auffallend durchsichtig
entgegen. Als wir ihn passierten, war er schon teilweise zugefroren, im
Juni und Juli aber soll an den sonst so stürmischen Gestaden eine
so wunderbare Windstille herrschen, daß das Wachsen einer Anzahl
merkwürdiger Wasserpflanzen sehr begünstigt wird und die die Fluten bald
grünlich, bald rötlich erscheinen lassen, weshalb man diese Zeit »die
Blütezeit des Baikals« nennt.

Li Bai war schon in höchster Aufregung, denn wir näherten uns der
chinesischen Grenze. Nur noch wenige Tage und ich hatte meine neue Heimat
erreicht. Jenny war sehr gespannt auf die neuen Eindrücke und Mama sah dem
himmlischen Reiche mit einigem Mißtrauen entgegen. Ich glaube, sie wäre
am liebsten gleich wieder zurückgefahren.

Seit jenem Kusse an meinem Geburtstage, der mich mehr an die Liebkosung
einer Freundin als an den ersten Kuß eines Verlobten erinnerte, waren wir
in unser früheres freundschaftliches Verhältnis zurückgefallen, und ich
fragte mich, ob er auch als Gatte so fremd und kalt bleiben würde.

Kosenamen gebrauchte er nie, und nur das englische »=dear=«, was seiner
Kürze wegen sehr gut einen Namen ersetzen konnte, schlich sich in
unsere Rede ein. Er war sehr höflich, erriet unsere Wünsche bezüglich
allgemeiner Bequemlichkeiten, machte Jenny einen zuvorkommenden Schwager
und Mama einen höflichen aber unverständlichen Schwiegersohn, der zu
allem »ja« sagte und alles »nein« tat, was ein gewisses diplomatisches
Talent verriet. Die Abwechslung der Reise hatte wohltuend auf mein aus
dem Gleichgewicht gebrachtes Gemüt und auf meine erschütterten Nerven
gewirkt, und ich war infolgedessen heiterer geworden, wozu die komischen,
oft treffenden Bemerkungen meines kleinen Chinesen sehr beitrugen.
Eigentlich sagte mir Jenny oft, daß ich kein Recht hätte, ihn »den
kleinen Chinesen« zu nennen, da ich nicht um ein Haar größer und
schwerlich mehr wie zwei Zentimeter breiter als er war. Aber er erschien
mir nicht nur körperlich, sondern auch seelisch -- weniger klein,
als vielmehr jung -- und doch war er es nicht, wie ich mich später
überzeugte. Ich konnte deshalb nicht umhin, ihn immer als »meinen kleinen
Chinesen« zu betrachten, wie wenig Recht mir meine eigene Größe oder der
Mangel einer solchen auch dazu gaben. Daß er so klein war, so zart aussah,
war mir ein Trost!

Früh am folgenden Morgen kamen wir zum Dorfe Nagodan -- der chinesischen
Grenze. Die Kosaken verschwanden und eine Anzahl Chinesen mit
kaftanähnlichen Kleidern und großen, in der Mitte spitz zulaufenden
Hüten nahmen ihre Plätze ein. Hier war Zollinspektion, und ein
verzweiflungsvolles Anklammern an sein Hab und Gut. Li Bai hatte uns
gewarnt, die Träger auch nur einen einzigen Augenblick aus den Augen zu
verlieren, da sie gleich mit den Koffern auf Nimmerwiederkehr verschwinden
würden. Li Bai sprach, erklärte, schimpfte und bewachte, und es gelang
uns mit vereinten Kräften einen Diebstahl zu verhindern, obschon es keine
Kleinigkeit war, allen den zudringlichen, schmutzigen Chinesen zu wehren,
die um jeden Preis ihre gelben Pfoten in die Tiefen unserer Koffer stecken
wollten, und die mit affenartiger Geschwindigkeit bald einen Gegenstand,
bald den andern ergriffen, um ihn in die weichen Falten ihres wallenden
Gewandes verschwinden zu machen. Dazu schrien sie ununterbrochen und
gestikulierten mit Händen und Füßen, daß mir ganz schwindlig im Kopf
wurde und ich froh war, als die schreckliche Inspektion vorüber und wir
wieder im Zuge waren.

Hier begann die chinesische Küche. Wir speisten zum erstenmal auf
chinesische Art und Weise in Mukden, wo man uns zuerst grünen Tee ohne
Zucker oder Milch in den kleinen, mit allerlei Zeichen und chinesischen
Figuren überstreuten, henkellosen Tassen servierte. Ihm folgte eine
Riesenschüssel Reis, der blendend weiß und ganz trocken war -- er ersetzt
in China unser Brot --, und kleingeschnittenes Fleisch mit einer Art
Seegras, das mir gut schmeckte und mich unterhielt, da es beim Essen ein
Heidengeräusch machte. Man hätte glauben können, daß ich zum
mindesten die allerstärksten Hühnerknochen mit einem wahren Löwengebiß
zerdrückte, so riesig war der Lärm, den die Zerkleinerung dieses Gemüses
hervorrief. Wir mußten uns zum erstenmal der chinesischen Eßstäbchen
bedienen. Das war eine schwere Aufgabe. Li Bai hielt die feinen Stäbchen
geschickt zwischen Zeige- und Mittelfinger und fischte aus dem Schälchen
(denn wir aßen nicht von Tellern) sehr gewandt die Fleischstückchen, die
er in die kleine Saucenschüssel, die bei jedem Besteck lag, tauchte und
zum Munde führte. Mama, Jenny und ich aber, wir waren verloren. Li
Bai warf in jede unserer Schalen mit dem entgegengesetzten Ende seiner
Stäbchen alle erhaschbaren Leckerbissen, aber umsonst. Wenn wir sie
endlich aufgefaßt hatten, ließ gewiß eine unvorsichtige Handbewegung die
mühsam aufgeladene Beute ins Wanken kommen und manchmal flog sie mit der
Sicherheit eines wohlgezielten Pfeils in das Gesicht oder auf die Bluse
eines Mitspeisenden, und als endlich ein reichlich in die pikante schwarze
Sauce getauchtes Stück Huhn auf diese ungewollte Weise Li Bai »platsch«
gegen die tadellose Krawatte geflogen war, warf er einen Blick gegen
den Himmel, als ob er die unsichtbaren Mächte einladen wollte, solche
Ungeschicklichkeit näher in Augenschein zu nehmen, schüttelte das Haupt,
als ob so etwas noch nie vorgekommen wäre, und öffnete dann seinen
Koffer, dem er schweigend drei Löffel entnahm, die er uns mit
unbeschreiblichen Gesichtsausdruck überreichte. Dann knüpfte er sich eine
frische Krawatte um und setzte seine Mahlzeit fort, durchdrungen von dem
erhebenden Bewußtsein, daß er unserer Schießlust Einhalt geboten hatte,
indem er uns die gefährlichen Stäbchen gegen Löffel ausgetauscht.
Den Schluß der merkwürdigen Mahlzeit bildete ein Litschikompott, das
ausgezeichnet schmeckte. Die Früchte erinnern an unsere Pfirsiche, nur
sind sie glatthäutig und viel kleiner. Der Geschmack ist sehr fein und
die Frucht erquickt ganz unbeschreiblich. Tschau-tschau dagegen war mir zu
süß, -- er war noch süßer als unsere kandierten Früchte, übermäßig
verzuckert und klebrig.

Wir stiegen spät am Abend in Peking aus. Li Bai führte uns in das
europäische Hotel unweit der deutschen Gesandtschaft und nahm dann
Abschied von uns. Wir sollten noch zwei Tage in der Hauptstadt Chinas
bleiben, er aber fuhr voraus nach Tientsin, um seine Eltern zu begrüßen
und den chinesischen Zauberer noch einmal zu befragen, wann der
günstigste Trauungstag für uns sein würde. Daher nahm er auch alle meine
Geburtsdaten mit, denn nach chinesischem Glauben spielt das Horoskop eines
Menschen eine sehr wichtige Rolle. Viele Chinesen, die lange in Europa
gewesen sind, haben mit diesem Humbug lange gebrochen, aber Li Bai war in
seinem ganzen Wesen Chinese -- unveränderlich Chinese -- und ich viel zu
nachsichtig in meinem Denken, als daß ich mich diesen seinen Wünschen
irgendwie widersetzt hätte. Er konnte soviel es ihm beliebte an
chinesischen Sitten und Gebräuchen festhalten, wenn er mich nur recht
liebhaben wollte und mich stets höflich und gut behandelte.

Als wir uns zum Abschied die Hand reichten, flüsterte ich ihm zu:

»Li Bai, ich fürchte mich ein wenig vor deinem Vater!«

»Unsinn!« entgegnete er. »Mein Vater wird dir nicht den Kopf abreißen,
er hat Europäerinnen gern und ist froh, daß du so viele Sprachen
sprichst.«

Diese Versicherung beruhigte mich ein wenig, doch nicht ganz. Wie würde
ich mich je in diese Verhältnisse finden? Ein heißes, drückendes
Angstgefühl stieg bei diesem Gedanken in mir auf, aber mit Aufgebot meiner
ganzen Willenskraft drängte ich es zurück. Warum jetzt zittern, wo alles
entschieden ist? Alle Menschen sind gleich, und gewiß kann es viele gute
Menschen unter gelbem Aeußern geben, ebenso viele vielleicht als unter
weißem oder braunem.

Ich hatte einem alten Herrn geschrieben, den ich einmal in Paris
kennengelernt hatte und der nun, wie ich wußte, schon seit vielen Jahren
zwischen Europa und Asien hin und her reiste, seinen eigentlichen Stammsitz
geschäftshalber jedoch in Peking hatte. Früh am folgenden Morgen kam Herr
Frise, um uns die Stadt mit allen ihren Sehenswürdigkeiten zu zeigen.

Er geleitete uns zuerst in die echt chinesische Stadt, wo wir in alte
Porzellanfabriken und Geschäfte gingen, wo wir die herrlichen Schüsseln,
Kannen, Vasen und Tassen bewundern konnten, die alle als Merkzeichen ihrer
chinesischen Erzeugung den Drachen aufwiesen. Die Chinesen lieben
es, solche echte Vasen oder Schüsseln zu sammeln und als Familiengut
aufzubewahren, denn dieses Porzellan bedeutet ein ganzes Vermögen, etwa
wie unsere Bücher vor der Erfindung der Buchdruckerkunst.

Die Straßen von »Shung-tien-fu«, oder wie die Chinesen die Stadt noch
öfter nennen, nämlich »Peh-Djing«, d. h. nördliche Hauptstadt, sind
entsetzlich. Sie sind weder geschottert noch gepflastert und der durch
viele Hunderte von Jahren unablässig über sie hinwegrollende Verkehr
hat den schrecklichen Sandboden in einen Hohlweg verwandelt, in dem man
im Sommer vor Staub fast ersticken soll und in welchem man jetzt zur
Winterszeit im Kot fast stecken blieb. Die kleinen echt chinesischen
Wagen, die nach Aussage unseres Begleiters heute noch ebenso wie vor vielen
hundert Jahren aussahen und die dem alten Weisen Konfuzius gewiß nicht um
ein Haar verändert erscheinen würden, falls er plötzlich auferstehen und
in den Gassen auf und ab gehen würde, halten sich noch heutzutage streng
an die Achsenlänge, die wahrscheinlich unter Lao Tse in Kraft getreten
war. Die Beförderung in einem solchen Vehikel läßt Herz, Lunge und
Leber dergestalt gegeneinander fliegen, daß nur ein Orientale mit seiner
Unempfindlichkeit gegen physische und moralische Schmerzen so eine Fahrt
auf die Dauer aushalten kann. Daher tritt die japanische Jinriksha immer
mehr in Kraft, aber auch da gehört eine gewisse Geschicklichkeit dazu, in
diesen zweirädrigen Wägelchen nicht das Gleichgewicht zu verlieren und
unsanft in den Straßenschlamm geschleudert zu werden. Trotzdem wird dieses
fremdartige Verkehrsmittel besonders in Shanghai und Hongkong sehr viel
verwendet.

Die reichen Chinesinnen wanken nicht auf ihren verkrüppelten Füßen (was
Gott sei Lob ein Ende nimmt) durch die elenden Gassen, sondern werden in
Sänften getragen, und nur die armen Chinesinnen müssen versuchen, ihr
Gleichgewicht zu erhalten. Wie man uns sagte, soll der liebende Gatte seine
Frau nie auf den Mund, sondern immer nur auf diese »goldenen Lilien«
küssen, die aber nie ganz bloßgelassen werden, da der Fuß nur eine
formlose, abstoßende Masse ist.

Von allen Häusern und besonders den Auslagefenstern hingen allerlei bunte
Papierstreifen mit chinesischen Zeichen versehen herab, überall sah man
heftig sprechende Chinesen in eifrigem Handel begriffen. Trafen sich zwei
Bekannte, so reichten sie sich nie die Hand. Es schüttelte nur jeder seine
eigene Hand und legte, wenn er besonders liebenswürdig sein wollte, beide
Hände gekreuzt über die Brust, in dem er den Körper leicht nach vorn
beugte.

Wir gingen auch zum Gesandten, um alle Einzelheiten der Eheschließung zu
bestimmen, und ich muß sagen, daß der alte Herr sehr liebenswürdig war
und nichts unversucht ließ, um eine Verbindung zu vereiteln. Wäre meine
Existenz nicht so traurig gewesen, so hätte ich möglicherweise seinen
Vorstellungen nachgegeben. So aber war ich bereit, mich in die unbekannten
Gefahren zu stürzen, in der Hoffnung, dort der Einsamkeit zu entgehen, in
der trügerischen Voraussetzung wohl auch, daß es mir gelingen werde, die
Liebe meines Gatten zu erringen oder seine chinesischen Gefühle für mich
in irgendeine europäische Münze gleich hohen Wertes zu verwandeln. Noch
zweifelte ich nicht ernstlich daran, daß mein unausgesetzter Einfluß
günstige Folgen haben und mir den endlichen Sieg sichern würde. Er mußte
doch wie andere Leute eine Seele haben -- die Frage war nur, wie konnte ich
die Perlen, die am Grunde seines Seins schlummerten, auf die Oberfläche
fördern. Mama, die über die Warnungen des Gesandten nicht entzückt war,
fürchtete sich ihrerseits viel zu sehr vor dem Gerede der Leute, als daß
sie gewünscht hätte, mich vor der Ehe zu retten, und nur Jenny schlang
weinend ihre Arme um meinen Hals und sagte, daß sie selber nie einen
Chinesen heiraten könnte, auch nicht, wenn er so höflich wie Li Bai
wäre, und damit war die Angelegenheit erledigt.

Wir wanderten auf der Stadtmauer umher, besuchten einige Tempel, die
berühmten Tore der Stadt usw., und nach Ablauf von zwei Tagen saßen wir
wieder im Zug, der uns nach Tientsin, der bedeutendsten Stadt des Nordens,
bringen sollte.

Mama war von all den neuen Eindrücken in einen unruhigen Schlummer
verfallen. Jenny und ich blickten auf die uninteressante Ebene hinaus,
durch die sich der Pe-ho-Fluß träge schlängelt, und die er oft, wenn
seine Wasser durch jähe Regengüsse anschwellen, furchtbar überschwemmt.

Plötzlich sah ich über Jennys blasses Gesichtchen zwei Tränen rollen.
Ich zog mein Schwesterchen an mich und fragte sie, was ihr diese Tränen
entlockt habe.

»Ni--chts!« entgegnete sie langsam und schmiegte sich eng an mich. »Ich
-- ich möchte nur so gern wissen, ob -- ob -- du glücklich sein wirst?«
schluchzte sie sodann.

»Jennychen,« sagte ich weich, »das Glück ist ein individueller Begriff,
und vielleicht habe ich es nicht in mir, so himmelanstürmend glücklich
zu sein. Ich prüfe immer, ich ahne immer mehr hinter den Worten, als sie
wirklich ausdrücken, möglicherweise auszudrücken bestimmt sind, aber ich
habe ja selbst diese Ehe gewollt und --«, ich zwang mich, meiner Stimme
einen heiteren Klang zu geben, »du weißt, daß des Menschen Wille sein
Himmelreich ist.«

Eine Weile saßen wir schweigend da und hielten uns fest umschlungen. Ach,
wenn ich meine Schwester immer, immer so nahe gehabt hätte!

»Möchtest du nicht einige Monate bei mir bleiben?« fragte ich. »Im
Februar geht der Gesandte nach Europa zurück, und er versprach mir, dich
mitzunehmen, falls Mama nun allein reisen würde. Nein, nicht allein,«
fügte ich hinzu, als ich Jennys Zögern sah, »sondern mit Herrn Frise,
der in fünf Wochen wieder nach Europa in geschäftlicher Angelegenheit
reist.«

»Würde mein Bleiben dir ein Trost sein, Käthe? Du bist ja jung
verheiratet dann und in den Flitterwochen.«

»Ja,« erwiderte ich gepreßt. »Weißt du, Jenny, chinesische
Flitterwochen dürften nicht so -- süß sein, daß -- -- daß deine
Gegenwart störend wirken würde -- -- aber Jenny, zieht dich vielleicht
der Doktor? Wenn, so will ich dich nicht halten, dein Glück geht allem
voran.«

»Jenny wird bei dir bleiben,« sagte sie und sprach von sich wie ein
kleines Kind in der dritten Person, indem sie ihr blondes Köpfchen an
meine Schulter legte. »Der Doktor,« fuhr sie zögernd fort, »hat meine
Haarlocke.«

Wir lachten beide, da wir beide uns augenblicklich bewußt waren, daß der
arme Doktor nur wenig Trost aus einer Locke, und sei sie noch so schön,
ziehen würde. Ich aber sehnte mich so sehr, wenigstens während der ersten
Zeit jemanden aus meiner Heimat bei mir zu haben, daß ich Jenny nicht gern
hätte reisen lassen. Auch dachte ich mir, daß es dem Kinde nicht schaden
würde, etwas mehr von der Welt zu sehen, bevor sie sich für immer an
den Doktor band, zu dem sie wie eine niedrige Sklavin zu ihrem Herrn und
Gebieter aufschaute, was mir, die ich die Männer kannte, nicht gefiel. Die
besten von ihnen sind herzlose Egoisten, die schlechtesten -- =least said,
soonest mended=!

Endlich hielt der Zug in Tientsin, dem Hafen Pekings, der berühmten
Manufakturstadt, die wie ein Marmeladefleck auf einem riesigen Pfannkuchen
dalag. Li Bai war da, um uns zu begrüßen und uns in das Haus eines
Chinesen zu bringen, wo wir wohnen sollten, bis wir in das Haus des
Mandarins übersiedelten, der stets über eine Anzahl Fremdenzimmer
verfügte. Bis zur Trauung sollten wir indessen in dem genannten Hause
bleiben.

Kaum hatten wir uns gewaschen und uns von der zweistündigen Fahrt etwas
erholt, so kleideten wir uns in unsere besten europäischen Toiletten und
bereiteten uns vor, dem gefürchteten Mandarin in seinem Bankkontor
unsere Aufwartung zu machen. Li Bai, ebenfalls in tadelloser europäischer
Kleidung, begleitete uns durch die Straßen Tientsins, das so gar nicht den
Eindruck einer chinesischen Stadt machte. Da fuhren elektrische Wagen auf
und ab, Telegraphendrähte spannten sich von einen Stange zur andern, die
Häuser, in diesem Teile wenigstens, waren nach europäischem Muster
gebaut und wiesen alle mehrere Stockwerke auf. Wir passierten den
großen deutschen Klub, den wir am folgenden Tage besuchten, und wo man
ausgezeichnetes Bier und unsere Würstel, die geliebten Würstel erhalten
kann. Große Gärten, die jetzt allerdings öde dalagen, erstreckten sich
vor vielen Bauten und alles machte einen freundlichen Eindruck, ganz anders
als das schmutzige Peking, wenn auch hier die Reinlichkeit noch nicht ihren
Höhepunkt erreicht hatte.

Wir durchkreuzten einige kleine Gassen, die sogleich das chinesische
Gepräge trugen, sowohl was Reinlichkeit als auch Bauart und Geruch
anbelangt. Aus manchen ebenerdigen Fenstern hingen Kinder. Man hatte
ihnen eine Art Gängelband unter die Arme befestigt, so daß sie nun frei
heraushingen, vieles sehen und sich nicht wehtun konnten. Nach unseren
Ideen muß so ein aus dem Fensterhängen nicht sehr angenehm sein, aber Li
Bai versicherte mir, daß alle ärmeren Chinesinnen ihre Kinder so vor
dem Ueberfahrenwerden bewahrten, da sie nicht Zeit hatten, auf die Kleinen
unausgesetzt achtzugeben. Das erinnerte mich an Japan, wo man den Kindern,
wie bei uns den Hunden, ein Halsband mit Namen und Adresse umgibt, so daß
das verlorene Kind früher oder später, tot oder lebendig, an den Besitzer
zurückgelangt.

Wieder in eine breitere Gasse einbiegend und uns, so gut es ging, vor dem
schaurigen Nordostwind schützend, indem wir uns immer fester in unsere
Mäntel und Pelze hüllten, standen wir endlich vor einem Gebäude, auf
dem auf englisch: »=United Oriental and Tientsin Bank=« mit großen
Buchstaben geschrieben stand. Li Bai öffnete die Tür und ließ uns
eintreten. Die Schwelle zum gefürchteten Mandarin, dem Bankdirektor und
zukünftigen Schwiegervater, war überschritten.



[Illustration:

  A. F. Seebacher]



    =Jeg har drevet omkring uden Maal, uden Med,
    Livets Guldkorn jeg spredte som Sand,
    Jeg har tilsat min Tro, jeg har mistet min Fred,
    Og nu staar jeg ved Afgrundens Rand.=

      =Vilhelm Bergsöe.=

XII.


Ein chinesischer Schreiber machte eine tiefe Verbeugung vor Mama und eine
weniger tiefe vor Jenny und mir, öffnete eine kleine Tür im Hintergrund,
meldete uns auf chinesisch und trat dann zurück, um uns in das
Allerheiligste eintreten zu lassen. Ich merkte, daß Jenny ganz blaß wurde
und ich muß einräumen, daß mein Herz mir gleichfalls in die Schuhe
sank -- auch aus meinem Gesicht schien alle Farbe gewichen zu sein und am
liebsten wäre ich auf den Boden gesunken.

Uns entgegen trat ein hoher, breitschulteriger Chinese in kaftanähnlicher
Kleidung und mit allen äußeren Abzeichen eines hochstehenden Mandarins
-- die gestickte Seidenkleidung, die breite Schärpe, die funkelnden blauen
Knöpfe -- und bot Mama auf europäische Weise die Hand, indem er sie
gleichzeitig aufforderte, Platz zu nehmen. Jenny verbeugte sich tief und
trat augenblicklich zurück, um mich vorzulassen.

Li Bai legte seine zarte Hand auf meinen Arm und sagte seinem Vater
in seiner Sprache, wer und was die kleine Mädchengestalt vor ihm war,
während ich wie ein altes Taschenmesser zusammenknickte und bei
meiner Verbeugung, teils aus Ehrfurcht, teils aus Furcht, mit meinem
Gesichtsvorsprung beinahe die Erde abwischte.

Als ich wieder auftauchte, das heißt, nach der tiefen Verbeugung meine
verwunderten Augen zum erstenmal zum großen Mandarin aufschlug, von dem
ich die unbestimmte Meinung hatte, daß er mir sofort den Kopf abschneiden
lassen könnte, wenn er es nur wollte, bemerkte ich, daß der Schatten
eines Lächelns über sein Gesicht huschte.

Er reichte mir ebenfalls die Hand zum Gruße, was ich eigentlich gar nicht
erwartet hatte, und während ich zum zweitenmal eine mißglückte Art von
Kotau oder chinesischer Festverbeugung machte, sagte der Mandarin in
einer über Erwarten angenehmen Stimme, wenn er auch nur sehr langsam und
vorsichtig englisch sprach (denn deutsch sprach er gar nicht):

»Das also ist die Braut meines Sohnes Li Bai, seine vorherige Lehrerin?«

Ich bejahte und verbeugte mich heldenmütig zum drittenmal, worauf
der Mandarin mich selbst zu einem Stuhl geleitete und mich mit einer
Handbewegung einlud, mich zu setzen, was ich mit meinen zitternden Beinen
nur allzu gern tat.

»Wollen Sie meinem Sohn auch weiter helfen, damit er nach, sagen wir
Jahresfrist, nach Europa zurückkehren und die höheren Prüfungen machen
kann?«

»Ich werde stets mein Bestes tun,« versicherte ich, und dann nahm ich
meinen gesamten Mut in beide Hände, denn ich sagte mir mit Recht, daß ich
mir meine Stellung jetzt sichern mußte, wenn dies überhaupt je geschehen
sollte, und sagte mit der weichsten Stimme und im bescheidensten Tone,
den ich hervorbringen konnte, aber nichtsdestoweniger mit einer gewissen
Festigkeit in beiden:

»Ich spreche und schreibe viele europäische Sprachen, Herr Ming Tse, und
ich würde sehr glücklich sein, wenn ich während einiger Tagesstunden in
der Bank als Korrespondent arbeiten dürfte. In London schon hatte ich
viel Uebung in dieser Art Arbeit und ich hoffe mit der Zeit auch Sie, Herr
Bankdirektor, zufriedenzustellen.«

Die strengen Augen in dem regungs- und ausdruckslosen Gesichte waren scharf
und unbewegt auf mich gerichtet, wenn sie auch, ganz wie beim Sohne, von
den Lidern halb verborgen waren.

»Schon der Unterricht Li Bais wird viel Zeit in Anspruch nehmen,«
erwiderte der Mandarin, aber da ich ihn unverwandt bittend ansah, fügte er
hinzu:

»Ich freue mich, zu sehen, daß Sie über ein so reiches Wissen verfügen
und werde mich dessen erinnern, sooft ich Ihrer freundlichen Hilfe
bedürfen werde.«

Es war nicht viel, was ich erreicht hatte, aber etwas war doch geschehen.
Li Bai war sehr unzufrieden, und schon als sein Vater von einer möglichen
Rückkehr nach Europa, mehr noch, als er von den Studien sprach (er wollte
um jeden Preis, daß Li Bai das Doktorat in moderner Philologie abgelegt
hätte), war meines Verlobten Gesicht so lang wie eine Essiggurke und so
sauer, wie eine solche geworden, und als ich nun geendigt hatte, begann er
dem Vater auf chinesisch etwas vorzureden, jedenfalls eine Weigerung, mich
ausgehen zu lassen. Aber der Mandarin war nicht umsonst Mandarin und Vater
mit unumschränkter Macht -- er befahl ihm, so schloß ich nämlich aus den
strengen Mienen des einen und den unzufriedenen des anderen -- energisch
still zu sein und setzte sich sodann Mama gegenüber, mit der er die
Uebergabe der Dokumente und andere Formalitäten besprach, was lange Zeit
dauerte.

Bei chinesischen Heiraten werden alle Einzelheiten immer durch einen
Zwischenträger ausgemacht, die nötigen Geschenke werden bestimmt und
eine bessere Art Kaufvertrag wird aufgesetzt, während der Zauberer den
passenden Tag bestimmt. Ist dieser Vertrag einmal abgeschlossen, so ist
eine Lösung der Verlobung nicht mehr möglich -- es muß erst geheiratet
werden, bevor eine Scheidung in Kraft treten kann, daher bricht man einen
solchen Kontrakt nie. Hier lagen die Verhältnisse allerdings anders, aber
nach den neuen Gesetzen mußte ein genauer Vertrag aufgesetzt werden, den
beide Elternpaare unterschreiben mußten und in dem nicht nur das Vermögen
beider Teile festgesetzt wurde, sondern auch bestimmt, was für Strafen
für dieses oder jenes Vergehen des einen oder des anderen Teils bestimmt
werden sollen -- auch Bestimmungen mit Bezug auf das Vermögen im Falle
einer Scheidung, Teilung der Kinder usw. und auch, wie oft mein künftiger
Gatte mir gestatten mußte, heim nach Europa zu reisen und die Fahrt zu
zahlen und auch, auf wie lange Zeit ich ihn verlassen durfte, ob und wie
viele Kinder ich mitnehmen sollte und vieles andere. Alle drei Jahre sollte
ich drei Monate lang bei meiner Mutter oder Schwester in Europa weilen
dürfen, das wurde bestimmt. Die anderen Punkte überließ ich ganz Mama zu
bestimmen, da wir alles schon vorher gründlich erörtert hatten.

Als der Tag zur Ueberreichung und Unterschreibung des Dokuments vor
dem chinesischen Magistrat (auch eigentlich eines Mandarins) und der
Eheschließung am gleichen Tage vor dem deutschen Konsulat bestimmt worden
war, trat der Mandarin noch einmal vor mich hin und sagte langsam und
feierlich:

»Mein Sohn ist Chinese und seine Mutter wie auch er selbst würde gerne,
daß die Trauung, wenngleich mit einer Europäerin, doch nach chinesischer
Sitte gefeiert werden möge. Wollen Sie sich darin den Sitten unseres
Landes fügen?« Die Frage war leidenschaftslos gestellt, aber schien mehr
einen Befehl als eine Bitte zu enthalten.

Ich stimmte sofort zu. Warum sollte ich mich weigern, Li Bai und meiner
zukünftigen Schwiegermutter diesen Gefallen zu tun? Mein Herz klopfte
nicht wonnig beglückt, wie das einer europäischen Braut, die im weißen
Gewande und mit Myrthenkranz und Schleier in eine frohe Zukunft blickt
-- ich hoffte nur Friede, nur ein wenig Freude und Rettung vor der
schreckvollen, graueneinflößenden Einsamkeit. Ich würde mein Bestes tun,
mich ganz wie eine Chinesin an diesem Tage zu benehmen, ob ich mich wohl
dabei fühlte oder nicht. Dies würde Li Bai gewiß mild stimmen und ihn
vielleicht zärtlich gegen mich machen, und danach fühlte ich plötzlich
einen brennenden Wunsch. Wenn mich in allen diesen Zweifeln und Bangen doch
jemand, der mich selbstlos oder meinetwegen selbst selbstsüchtig liebte,
in die Arme genommen hätte! Ich kam mir so furchtbar verlassen und
schutzbedürftig vor.

Es war zuerst -- als ich noch in Europa war -- festgesetzt worden, daß Li
Bai und ich einen Haushalt nach europäischem Muster haben und nicht
mit der ganzen Familie zusammen wohnen würden, aber nun sagte mir der
Mandarin, daß es so furchtbar schwer gewesen sei, eine passende Wohnung zu
finden, daß er es für ratsam halte, mich zu bitten, auch eines der für
die verheirateten Söhne bestimmten Häuschen zu beziehen, da ich mich
weder um die Küche noch um sonst etwas zu kümmern haben würde -- alles
würde für mich gemacht werden.

Ich war betroffen, da ich mich immer geweigert hatte, unter demselben Dache
-- und sei es noch so groß -- wie meine gelbe Schwiegermutter zu wohnen,
aber nachdem mich Li Bai mit Bitten bestürmte und mir versicherte, daß
wir ganz abgesondert leben würden, ganz genau wie draußen, und daß er
so gern bei seiner Mutter bliebe, daß es sich ja nur um die Wintermonate
handle und wir im Sommer gewiß eine eigene Wohnung haben würden und bald
wieder nach Europa gingen usw., wie eben ein Mann, der etwas erreichen
will, reden und überreden kann, so sagte ich endlich, wenn auch gegen
meinen Willen und gegen meine innere Ueberzeugung »ja und Amen«, das
Einzige, was mir zu sagen übrig blieb.

Daraufhin bat ich den gestrengen Schwiegervater noch einmal höflich, meine
Sprachkenntnisse nicht zu vergessen und über mich zu verfügen, tauchte
noch einmal ehrfurchtsvoll unter, um nicht europäisch unhöflich zu
erscheinen, und als dies geschehen, gingen wir. Ohne es zu wissen, hatte
ich mir den schwer einzunehmenden Mandarin zum Freunde gemacht. Es sollte
eine Zeit kommen, wo ich dies sehr, sehr angenehm empfinden würde.

Meine Schwiegermutter sollte ich erst am Tage der Eheschließung
kennenlernen, nur mein Bild und die Beschreibung des Mandarins gaben ihr
einen schwachen Begriff von dem Geschöpf, das nun ihren Sohn beeinflussen
würde, denn fürchtete ich den Einfluß der Schwiegermama -- des
gefürchtetsten aller Tiger -- so war auch sie nicht ohne Furcht vor der
verhaßten Europäerin.

Wie die nächsten zwei Wochen vergingen, kann ich kaum sagen. Mir schien
es, als sei alles nur ein böser Traum, aus dem ich erwachen mußte, sei
es, um mich in liebenden Armen weich beschützt zu finden, sei es, um mich
von schlitzäugigen Furien verfolgt zu sehen -- eins nur fühlte ich, daß
ich vor der Pforte stand, die in ein neues Reich führte, und daß die
Pforte merkwürdig verschnörkelt und sehr fremdartig war.

Wir wanderten die ganze Zeit in den Gassen von Tientsin umher. Mama und
Jenny machten allerlei Einkäufe, wobei uns erfahrene Europäer sehr
liebenswürdig an die Hand gingen. Wir besuchten den großen Park, der nun
öde im Winterkleid vor uns lag, besuchten die großen Warenhäuser, zu
denen riesige Fahrzeuge während acht Monaten des Jahres Waren von
ganz China und von vielen anderen Erdteilen brachten, studierten die
orientalische Kunst in Tempeln mit schrecklichen Götzenbildern (es ist
eigentümlich, welche Vorliebe die Asiaten für graueneinflößende
Gebilde haben, denen man überall begegnet), in Kunstgeschäften und in
den Häusern solcher Europäer, die wir kannten und die große Sammlungen
solcher Bilder hatten. Eigentümlich ist bei allen Bildern der Mangel
jedweden Schattens und jedweder Perspektive. Ein Mann ist größer als das
unmittelbar danebenstehende Haus, ein Baum ist kleiner als ein Pferd, und
alle Personen, Tiere und Sachen haben, wie einst Peter Schlehmil, ihren
Schatten verkauft -- oder so scheint es. Einzig in ihrer Art sind die
Porzellanmalereien, bei denen man diesen Mangel nicht fühlt. Die Farben
sind großartig gewählt und die Feinheit der Arbeit unnachahmlich,
besonders schön aber sind alle Elfenbeinschnitzereien und Papierrollen mit
chinesischen Zeichen.

Wir gingen auch in eine Seidenspinnerei. Die chinesischen Seidenraupen
sind viel größer als die europäischen und werden auch in vielen
Privathäusern gehalten und gezüchtet. Man spannt ein großes Stück
Papier von der Form eines Tischtuches auf ein Brett und setzt sodann die
Seidenraupen an beide Enden, die nun über das Papier hinkriechen und ihre
dicken leuchtenden Fäden ziehen. Die chinesische Seide ist viel dicker,
widerstandsfähiger und schöner als die europäische und wird dort, so
wie bei uns Wollstoffe, für alle Kleider verwendet. Mama und Jenny waren
entzückt davon und kauften eine ganze Menge Seidenstoffe ein, obschon ich
ihnen sagte, daß sie furchtbar hohen Zoll dafür bezahlen würden.

Auch auf mich machte all das Neue und Schöne einen angenehmen Eindruck,
aber ich war zu geschwächt, um mich wirklich dem Genuß alles dessen
hingeben zu können. Auch hatte ich meine vorige Genußfähigkeit in hohem
Grade eingebüßt -- ich konnte nicht mehr so froh sein, als mir dies
früher möglich gewesen. Wer einmal die Tore des Todes sich hat öffnen
sehen -- noch dazu aus eigenem Antriebe -- wer sich ihnen bewußt
Schritt auf Schritt genähert hat, wem sie dunkel und schaurig wochenlang
entgegensahen, dem scheint der Rest des Lebens ein Geschenk, er lebt
nicht mehr als Schauspieler auf der Bühne des Lebens, wo alles entweder
Tragödie oder Komödie, doch in den meisten Fällen Tragikomödie ist,
sondern nur mehr als Zuschauer, für den das Leben noch Interesse, aber
nicht mehr das tätige Interesse hat. Er bleibt -- weil er nicht gehen
kann, aber im Innern ist eine Saite jäh zerrissen.

Ich hatte einsehen gelernt, daß der Begriff »Zeit« eine Illusion ist,
daß eine Qual nur deshalb so unerträglich scheint, weil wir in unserer
Beschränktheit nicht ihr Ende sehen können, weil sie uns »ewig« dünkt
und wir glauben, daß wir »nie« über sie hinwegkommen werden. Aber wenn
wir gelernt haben, daß es nur gilt, dem »Heute« aus dem Wege zu gehen,
gut oder schlecht durch die Gegenwart zu gleiten, so sind Zukunft und
Vergangenheit besiegt. Wenn es uns nur gelingt, die augenblickliche Pein zu
dämpfen oder ihr aus dem Wege zu gehen, so ist alles gewonnen. Morgen ist
nicht mehr heute und was heute unabwendbar und unveränderlich erscheint,
hat morgen schon eine Wendung der Umstände uns aus dem Wege geräumt. Die
Schwierigkeit des Lebens liegt im Erträglichmachen und Umgehen des
Heute. In diesen zwei Wochen lebte ich nicht -- ich ließ das Leben an mir
vorübergleiten und daher brachte es keine neuen Aufregungen mit sich.

Mama war sehr zufrieden -- Chinese oder nicht Chinese -- so war Li Bai
doch ein reicher Mann, eine »Partie« wie man bei uns sagt, sein Vater
Mandarin, Bankdirektor und einflußreich in Tientsin und über diese große
Stadt hinaus. Was wäre da noch weiter zu bedenken? Ob ich glücklich sein
werde? I, du Himmel, das hängt von mir ab, nicht von den Müttern. Daß
ich so weit entfernt sein werde? Was tut's? Die Verwandten werden sich
dennoch über meine Verheiratung ärgern und das genügt Mama. Jenny war
zu jung, zu leichtsinnig, zu unerfahren, um sich über mein künftiges
Schicksal den Kopf zu zerbrechen. Ich war mit dreizehn Jahren fühlendes,
urteilendes Weib gewesen, meine Schwester würde mit vierundzwanzig
möglicherweise auch noch »Kind« sein. Daher lachte Jenny den ganzen
Tag und Mama sah überaus glücklich aus. Ich war ruhig -- weder froh noch
traurig -- ich schwieg und ich -- lebte.

Es ist beklagenswert, daß Mütter auch in Europa geradeso unempfindlich
gegen das Geschick ihrer Kinder in einer Ehe sind, wie die phlegmatischen
Asiaten, die auf ein Mädchen als unnütze Last herabsehen. Europäerinnen,
die in den eleganten Salons und beim =five o'clock=-Tee die Hartherzigkeit
der gelben »Barbaren« so streng verurteilen, gehen oft heim und tun
desgleichen. Sie verhandeln ihr Kind an reiche Männer oder solche, die
Titel und Würden aufweisen können und die sonst den Eindruck machen, als
habe sie der Tod vergessen -- alt, häßlich, lasterhaft, brummig und krank
-- und reden dem ahnungslosen jungen Dinge vor, daß es sich »die Hände
oder wenigstens die Finger ablecken muß« eine so gute Partie gemacht zu
haben. Sie zwingen mit Drohungen und Versprechen das junge Mädchen in eine
solche Ehe und tun dann hocherstaunt, wenn dasselbe sich tief unglücklich
fühlt. Sie sprechen unter Umständen noch von »schreiendem Undank«,
wenn die junge Frau, die zu spät die volle Bedeutung des Begriffs »Ehe«
kennengelernt hat, fühlt, daß die ihr auferzwungene Pflicht über
ihre Kräfte geht, und das einzige Mittel ergreift, das ihr in der Regel
offensteht, mit einem jüngeren Manne zu fliehen oder sich mindestens
mit ihm neben dem reichen Gatten zu trösten, was die Mütter viel milder
beurteilen als die Flucht. Bleibt das Geld auf diese Weise doch erhalten!
Und das nennt man »europäische Kultur«. --

Die Vorbereitungen hatten etwas über zwei Wochen Zeit in Anspruch genommen
-- das allermeiste war schon vorher schriftlich erledigt worden, und nun
hatten Mama und der Mandarin täglich Konferenzen über die Ausstattung des
künftigen Heims, das halb chinesisch, halb europäisch eingerichtet
werden sollte, über die Mitgift und ihre Verwaltung, über die
Hochzeitsfeierlichkeiten usw.

Der Zauberer hatte den dritten November als den passendsten Tag für unsere
Verbindung festgesetzt, und alle hatten sich damit einverstanden erklärt.
Morgen sollte ich von chinesischen Mädchen in chinesische Roben gesteckt
und in den Brautsessel gehoben werden, der mich in feierlichem Umzug zum
Hause meiner Schwiegereltern zu bringen bestimmt war. Die europäische
Eheschließung sollte jedoch schon in den Vormittagsstunden in
europäischer Tracht auf dem Konsulate vollzogen werden.

Ich sah Li Bai nur auf Augenblicke in allen diesen Tagen, da er bis über
den Kopf in Hochzeitsvorbereitungen steckte. Trafen wir uns endlich, war er
so höflich und so -- zurückhaltend wie immer.

Und die Stunden verflossen und das gefürchtete »morgen« wurde »heute«.



[Illustration:

  A. F. Seebacher]



    Drum prüfe, wer sich ewig bindet,
    Ob sich das Herz zum Herzen findet.

      Schiller.

XIII.


Seit Mitternacht schon pfiff der Nordwind um das Haus und fuhr heulend
und klagend um die Ecken, der anbrechende Tag brachte Regen und endlich
Schneegestöber mit sich, und wie warm wir uns auch in unsere Mäntel auf
der Fahrt zum Konsulat hüllten, zitterte ich doch, teils vor Aufregung,
teils vor Kälte so sehr, daß ich nicht ein Wort der Begrüßung an Li
Bai richten konnte, der bitterböse aussah und scheinbar auch nur bei einem
Ofen zu sitzen wünschte.

Die kalte Begrüßung, der dunkle Himmel, der heulende Sturm und unsere
triefenden Gewänder wirkten vereint dergestalt auf mich ein, daß ich
ohnmächtig wurde, was den einen Vorteil mit sich führte, daß alle, auch
Li Bai, sehr lieb gegen mich waren, als ich endlich die Besinnung wieder
gewann.

»Du wirst sehen, wie schön es ist, verheiratet zu sein,« flüsterte Li
Bai mir zu, als Jenny und auch Mama mit dem Konsul sprachen.

Ich hatte zwar gerade in dem Augenblick die allergrößten Zweifel
bezüglich der Schönheiten oder Annehmlichkeiten einer Ehe, aber ich war
froh, daß er froh war -- eine Fröhlichkeit deckte die andere -- und
so lächelte ich ihm beruhigend zu und versicherte, mich wohl genug zu
fühlen, um den Kontrakt zu unterschreiben.

»Nachmittags darfst du nicht ohnmächtig werden,« sagte er noch, als er
mir aufhalf, »das ist gegen die chinesische Sitte.«

Ich versprach ihm, alles aufzubieten, um nicht gegen die chinesische Sitte
zu verstoßen und dadurch beruhigt, geleitete er mich an den Tisch, und die
Trauung oder wenigstens die Eheschließung, da jeglicher kirchliche Segen
fehlte, wurde vollzogen.

Li Bai half uns freundlich in den Wagen, bat mich, nicht aufgeregt zu sein
und kehrte hierauf in sein Heim zurück, um mich daselbst zu erwarten und
feierlich zu empfangen. Nach unseren Gesetzen war ich nun Käthe Ming Tse.
Mir deuchte fast, als wäre ich selbst eine andere geworden.

Mama und Jenny zogen sich auf meine Bitten zurück, und ich blieb allein
mit den Chinesinnen, die mich in eine ihrer Landsmänninnen verwandeln
sollten. Sie kämmten mein langes blondes Haar flach zurück, so daß meine
Stirn doppelt hoch erschien, und gossen eine Menge wohlriechenden Oels
darauf. Nachdem dies geschehen war, wollten sie mein Gesicht in die Arbeit
nehmen, die Lippen mit Rot vergrößern und die Augenbrauen in eine schmale
hochgeschwungene Linie verwandeln, während sie den Rest des Gesichts weiß
zu färben wünschten. Aber gegen diesen Punkt des Programms wehrte ich
mich entschieden. Wie ein Zirkusklown zweiter Güte wollte ich denn doch
nicht aussehen. Mein Gesicht verblieb wie es war -- und endlich mußten
meine gelben Schwestern sich in das Unabänderliche fügen. Sie setzten mir
den Brautschmuck auf das geölte Haar, das ich, fetttriefend wie es war,
nicht berühren wollte, befestigten die aus Gold- und Silbermünzen und
Ketten zusammengestellte kostbare Haube so gut es ging auf meinem vor
Furcht und Angst ganz verwirrten Kopf und fanden, daß mir das unförmige
Scheusal gut stünde. Hierauf steckten sie mich in seidene Unterwäsche,
die wie die Oberkleider aus roter Seide war, warfen das rote Brautkleid
über mich, das hoch am Halse geschlossen wird und zu den Schultern jäh
abfällt, denn je greller diese Linie ist, desto schöner dünkt sie
den Chinesen. Die Schultern dürfen um keinen Preis gerade sein, sondern
müssen gegen den Arm zu abfallen. Das Kleid, das jede Biegung der Gestalt
verdeckt und wie ein Kaftan bis zu den Knöcheln fällt, wird auf der
linken Seite geknöpft, unter dieser Robe aber hatte ich weite Hosen,
ähnlich denen der türkischen Damen, die lose über das Knie hinabfielen.
Ueber mein Brautkleid gab man mir noch ein rotes Seidenkleidungsstück,
einer Jacke ähnelnd, das mir bis etwas tiefer als die Mitte reichte und
reich mit Gold gestickt war. Es hatte sehr weite Aermel, ebenfalls
reich mit Goldstickereien verziert, aus denen meine Hände weiß
hervorleuchteten. Trotz aller Bitten ließ ich mir nicht die Nägel
färben und wollte auch nie sie mir wachsen lassen wie viele der reichen
Chinesinnen es tun, bis sie nichts mehr in die Hand nehmen konnten, aus
Furcht, die Nägel zu zerbrechen. Meine Füße, die von Natur schon klein
ausgefallen waren (ich bin ja selbst so klein), wurden noch in zu enge
Seidenpantöffelchen mit Goldstickerei gequetscht, was mich, vereint mit
den ungewöhnlich hohen Absätzen, vom sichern Stehen abhielt. Ich wankte
wie eine echte Chinesin unsicher im schwankenden Gleichgewicht hin und her.

Die Chinesinnen fanden mich sehr »gelungen« und betrachteten ihr Werk mit
sichtlicher Genugtuung, als aber Mama und Jenny hereinkamen, fielen sie bei
meinem Anblick beinahe um. Ich stand, besser, ich wackelte in der Mitte des
Zimmers, fühlte mich nicht nur ängstlich bezüglich des Bevorstehenden,
sondern auch rein physisch unbehaglich in den ungewöhnlichen Kleidern, dem
geölten Haar, dem schweren Kopfputz und den schrecklichen Pantoffeln. Das
konnte man mir auf den ersten Blick ansehen, und ich glaube, ich machte
dazu das denkbar dümmste Gesicht.

Mama setzte sich auf einen Stuhl und starrte mich entgeistert an. Ihr
europäischer Schönheitssinn empörte sich gegen eine solche Verwandlung
meines äußeren Ichs, Jenny aber lachte zum erstenmal an diesem Tage und
rief:

»Käthe, du siehst wie ein wunderschön geputzter Kartoffelsack aus!« Sie
warf sich auf eines der niedrigen Sofas und krümmte sich vor Lachen.

»Wirst du als rote Vogelscheuche wirklich zu deinem Gatten gehen?« fragte
mich Mama. »Wäre es nicht viel besser gewesen, dich ganz in Weiß mit
Schleier und Kranz zu kleiden? Aber du willst einmal immer nach deinem
Kopfe handeln,« setzte sie geärgert hinzu.

»Du vergißt,« warf ich ein, »daß es nicht mein Wunsch gewesen,
so gekleidet zu gehen, sondern Li Bais. Soll ich ihm eine Bitte am
Hochzeitstage abschlagen?«

»Gewiß hätten dich alle sehr schön als weiße Braut gefunden und nun
siehst du so schrecklich aus,« ereiferte sie sich.

»Ach, Mama,« bat ich, »laß die Einwendungen. Die Chinesen finden ein
weißes Kleid (ihre Trauerfarbe) nicht passend für einen Freudenakt wie
eine Hochzeit und ich bin nicht länger Europäerin,« fügte ich langsam
hinzu, während ich fühlte, wie mich etwas im Halse gewaltig würgte,
»sondern Chinesin seit -- seit -- heute früh.«

»Leider!« entfuhr es der Mama. Es war ihr zum erstenmal wirklich
leid, daß ich einen Chinesen geheiratet hatte, weil -- weil ich dadurch
verlustig ging, ein schönes europäisches Brautkleid zu tragen. Bei der
zivilen Eheschließung hatte ich nur ein lichtbraunes Kostüm angehabt.

Jenny verstand trotz ihrer Jugend die Tragik des Augenblicks besser.
Vielleicht dachte sie, wie anders ihre Trauung in Europa mit dem Doktor
sein würde, wie ganz anders sie fühlen würde und wie froh ihre
Altersgenossinnen sie umkreisen würden. Sie begriff, zum erstenmal
vielleicht, was ich in dieser Stunde litt, wo weder eine Klage noch eine
Träne mir entschlüpfte.

»Laß die Käthe,« rief sie fast gereizt und wollte mir um den Hals
fliegen, aber dagegen wehrten sich die Chinesinnen. Das hätte ihre
sorgsame Arbeit zerstören können. Ich lächelte meiner Schwester daher
nur dankbar zu.

Mama fügte sich in das Unabänderliche. Wenn ihre Tochter schon
Vogelscheuche sein mußte, so wollte sie daraus Vorteil ziehen. Sie
betrachtete mich sorgfältig von allen Seiten, damit sie daheim in Europa
allen Bekannten und den Verwandten davon erzählen konnte, sah sich den
sonderbaren Brautschmuck genauer an und fand endlich, daß mein Ensemble
noch ärger hätte sein können. Daß ihr Kind heute über Leben und Tod
(denn bei einer chinesischen Heirat setzt man noch viel leichter als bei
einer europäischen das Leben aufs Spiel) entscheidet, das hatte sie für
den Augenblick vergessen.

Plötzlich verkündete ohrenbetäubendes Geschrei und nervenerschütternder
Lärm, daß meine Stunde geschlagen hatte, und der Bote kam, um mich in das
Haus meines Gatten zu überbringen. Ich fühlte eine innere Leere und ein
Gefühl physischen Uebelbefindens, als ich mir vorstellte, daß ich nun mit
allem abbrechen sollte, was ich bisher gekannt hatte, um an der Hand meines
kleinen Chinesen einen neuen Lebenspfad einzuschlagen. War die kleine Hand
hinreichend, mich zu stützen? War seine Liebe stark genug, mir Trost zu
geben, wenn physische und moralische Leiden an mich herantreten würden?
Eine grenzenlose Mutlosigkeit überkam mich, und ich nannte mich einen
elenden Feigling, gezögert zu haben, als ich schon so nahe am Styx
gestanden. Oh, wenn doch schon alle Qualen, alle Zweifel ein Ende hätten!
Wie ich mich nach der Zärtlichkeit Li Bais sehnte! Würde er auch als
Gatte mir so fremd bleiben? Wie schrecklich, wie schrecklich! Warum, warum
hatte ich »ja« gesagt? Aber da stieg wieder jene schreckliche Leidenszeit
in London vor mir auf und die Frage starb dahin im Herzen, bevor sie sich
noch recht geformt hatte.

Der prachtvoll gekleidete Bote überreichte unterdessen im Nebengemache
meiner Mama eine chinesische Rolle, auf der mit kunstvollen Zeichen
geschrieben war, was ich Mama schon früher erzählte, das darauf stehen
würde, nämlich, daß der dumme Vater seines noch dümmeren Sohnes nicht
selbst um die Braut kommen, um sie von meiner Mama hohen und ehrenvollen
Palast in seine niedrige Hütte zu führen, sondern lieber einen Boten
schicken wolle, der melden soll, daß alles zum Empfange der Braut bereit
sei. Der Brief, der auf rotem Papier geschrieben war, endete mit dem
Wunsche, daß Mama ein Alter von hundert Jahren erreichen und ihr
Geschlecht bis ins fünfte Glied gesegnet werden möge. Damit empfahl sich
von der großen Mama der dumme jüngere Bruder. Chinesische Höflichkeit!

Jetzt begannen sowohl Mama als Jenny, trotz aller meiner Bitten, sich
zu beherrschen, fürchterlich zu weinen und wollten mich immer und immer
wieder in die Arme schließen, wogegen sich die fünf Chinesinnen, meine
Ehrenjungfrauen, entschieden wehrten, so daß ich beständig hin und
her gerissen wurde. Zum Schlusse schob mich eine ehrwürdige chinesische
Matrone, die selbst schon viele Söhne ins Leben gesetzt hatte (denn nur
eine solche darf es tun), zur Tür hinaus und warf mir, bevor ich die
Schwelle überschritt, ein seidenes Tuch -- natürlich auch rot -- vor
das Gesicht und über den halben Kopf, auf daß niemand meine Züge sehen
sollte. Hierauf hob man mich in den engen Brautsessel, der auch ganz rot
verkleidet und reichlich mit Seide austapeziert war, schob die rotseidenen
Vorhänge zurück, versiegelte die Oeffnung mit einem kleinen roten
beschriebenen Papierstreifen, und erst als nirgends mehr ein neugieriger
Blick oder auch nur ein Lufthauch eindringen konnten, setzte sich der Zug
wieder in Bewegung. Ich im engen Stuhle, wo ich nur zusammengekauert sitzen
konnte, sah nichts und atmete schwer, ich vernahm nur das wilde Pochen
meines eigenen Herzens und fühlte nur eins: Das immer wiederkehrende
Flehen, daß Li Bai lieb gegen mich sein würde. Wie ich mich vor all dem
neuen fürchtete! Nicht nur vor der fernen Zukunft, sondern auch vor der
nahen, der ganz nahen! Ob Männer ahnen, wie unser Herz vor Angst klopft,
wenn wir unser Geschick auf ewig in ihre Hand legen? Ob sie wissen,
wie schrecklich die Furcht vor jedweder Brutalität uns die Kehle
zusammenschnürt? Ob sie rücksichtsvoller wären, wenn sie es wüßten?
Es gibt wohl einige, die es sind, doch ach, ihre Zahl ist so verschwindend
klein!

Jenny erzählte mir später, daß der Zug mit Musikanten begann, die auf
einer Art Trompeten die ohrenzerreißendsten Laute hervorbliesen, während
andere allerlei merkwürdige Instrumente bearbeiteten, die ganz gut
imstande waren, auch das widerstandsfähigste europäische Trommelfell
zu zersprengen; ihnen folgte eine lange Reihe von Fahnenträgern, die
auf Stöckchen rote Bänder mit allerlei glückverheißenden Aufschriften
trugen, welche sie erregt hin und her schwenkten und nicht wenig Lärm mit
ihren Zungen dazu machten. Hinter diesen kamen andere Chinesen, die farbige
Lampions trugen, was nach Jennys Angabe sehr hübsch aussah, fast wie unser
Fackelzug daheim. Die Lampions waren vorwiegend rot, doch fand man auch
andere Farben vor und alle hatten Sprüche darauf geschrieben, was die
Wirkung vom chinesischen Standpunkt aus sehr erhöhte. Eine Anzahl Chinesen
trugen große rotgemalte Schilder, auf denen in goldenen Buchstaben
allerlei Zitate von Konfuzius und anderen großen Denkern standen, oft auch
nur von Gelegenheitsdichtern geschrieben, die mit ihren Lobsprüchen den
Ehestand verherrlichten. Hie und da sah man auch einen Chinesen mit einer
Gans unter dem Arm -- das Symbol ehelicher Treue -- das sehr hochgehalten
wird. Es gibt also, wie man sieht, Länder, wo selbst eine Gans zu Ehren
kommt. --

Im Hause eines Mandarinen sind Gefängnisse, Gerichtssäle,
Gästeräumlichkeiten und schließlich die Privatwohnung beisammen
untergebracht und geschickt verteilt. Als wir endlich dieses Haus erreicht
hatten -- das sich schon von außen durch die Stufen, die zum Tore
hinaufführten, von den Häusern eines gewöhnlichen Sterblichen
unterscheidet und das auch drinnen, wenn man einmal die verschiedenen Höfe
und Pforten durchschritten hat und innerhalb der Mauer, die um so ein Haus
oder besser einen Häuserkomplex führt, sich großer Ausdehnung erfreut --
trug man mich samt meines Marterstuhles, in dem ich mehr tot als lebendig
hockte, durch eine Doppelreihe von Musikanten. Sie brachten nicht nur mich
zum Leben zurück, sondern sie hätten mit ihrem Lärm selbst die Toten aus
den Gräbern hervorzaubern können -- die Posaunen von Jericho mußten die
reinsten Aeolsharfen gegen die chinesischen Musikleistungen gewesen sein.
In der Vorhalle nahm Li Bai in Gegenwart aller Gäste feierlich die Siegel
ab, klopfte an den Brautstuhl und schlug die Seidenvorhänge zurück. Eine
chinesische Dienerin hob mich, noch immer mit dem »roten Fetzen«, wie ich
das Seidentuch, das mir jede Aussicht benahm, innerlich betitelte, vor dem
Gesicht, aus der Sänfte, lud mich geschickt, wie einen Lumpensack, auf den
breiten Rücken und humpelte mit mir so durch mehrere Räume, sprang sogar
über ein eigens zu diesem Zwecke entflammtes Holzkohlenfeuer, während
eine zweite Dienerin einen Napf Reis, einige Speisestäbchen und
Betelnüsse über mein sündiges Haupt hielt, was alles zusammen
Dauerhaftigkeit und Ueberfluß bedeuten soll.

Im nächsten Raume angekommen, durfte ich mein Tuch bis über die Lippen
heben um die »Vereinigungsbecher« roten Weines, die mit roten Bändern
verbunden und bis zu unserer Ankunft mit einem roten Tuch geheimnisvoll
umwunden waren, zu leeren. Kaum war dies geschehen, als man mich wieder
auflud -- Jennys Vergleich mit einem Kartoffelsack paßte auch in dieser
Hinsicht vortrefflich -- und mich in der großen Halle oder dem Haustempel
vor der Ahnentafel wieder ablud, damit Li Bai und ich einen tadellosen
Kotau vor den Vorfahren der berühmten Ming-Tse-Familie machen konnten.
Li Bai opferte ihnen Wein. Sobald dies geschehen war, war der eigentliche
Trauungsakt vorüber. Ich wurde wieder hochgenommen und durch eine Anzahl
Zimmer und über den breiten Garten -- so viel konnte ich trotz des
Tuches bemerken -- in unser künftiges Heim getragen. Hier setzte mich die
Chinesin auf das Bett, die Hochzeitsgäste und andere Besucher -- denn an
solchen Tagen ist ein chinesisches Haus von allen Leuten überlaufen, ja
selbst Bettler dringen ein, wenn man sich nicht früher mit einer großen
Summe abkauft -- stellten sich um mich, und Li Bai, der sich auf das zweite
Bett geschwungen hatte, nahm mir langsam das eklige Tuch vom Gesicht. Schon
nach einigen Augenblicken wünschte ich mir das Tuch lebhaft zurück, denn
nichts zu sehen war noch immer besser, als in alle diese neugierigen Augen
zu blicken, die mich feindselig betrachteten. Meine zukünftige -- nein,
jetzt schon meine wahre und unabschüttelbare Schwiegermutter -- besah mich
mit kritischen Blicken, denn in der Regel kennt sie die Schwiegertochter
schon vor der Ehe, prüft sie mit Rücksicht auf ihre Kenntnisse in feinen
Handarbeiten und im Gitarrespiel, wenn es sich um reiche Familien handelt.
Bei armen Familien kommt meist ihre Körperkraft in Betracht, da sie als
Lasttier dem künftigen Gatten und seiner ganzen Familie dienen soll, daher
wählt man oft eine Frau, die um einige Jahre älter als der Mann ist,
damit sie in jeder Weise den gestellten Ansprüchen entsprechen kann.

Hier war es nun ganz anders. Der Mandarin hatte alles erledigt und auch
erzählt, daß ich keine der chinesischen Tugenden, wohl aber nützliche
europäische Eigenschaften besäße, die ihrem Sohne zugute kommen
dürften, über die seine Gattin aber weder ein Urteil formen, noch
irgendwie Aufsicht halten konnte. Sie war eine kleine magere Frau mit
straff zurückgestrichenem Haar, das nur im Genick einen Knoten bildete,
und ich konnte nun leicht begreifen, warum Li Bai so klein und so zart war,
trotzdem sein Vater sich einer für einen Chinesen ungewöhnlichen Größe
erfreute. Li Bai war eben das Ebenbild seiner Mutter.

Alle Hochzeitsgäste besahen mich vom Scheitel bis zur Zehe, bis mir ganz
unwohl wurde und nur eins mir zur Beruhigung war -- nämlich, daß meine
geringen Kenntnisse des Chinesischen mich nicht in den Stand setzten, alles
zu verstehen, was um mich herum gesagt wurde, denn an diesem Tage hat jeder
Gast das Recht und selbst die Pflicht, seine Meinung so unumwunden als
möglich über die Braut auszusprechen und so viele anstößige Witze
über sie zu machen, als es überhaupt denkbar ist. Die Braut aber muß
unbeweglich sitzen, darf weder lachen noch weinen, noch sich vom Bette
wegrühren oder eine Miene verziehen. Sie sitzt unbeweglich auf dem Lager,
während alle sie betrachten wie etwa ein ausgestelltes Pferd, ein zu
verkaufender Hund, oder ähnliches. Vom Kopfende des Bettes flattern rote
Papierstreifen in Masse nieder. Auf einigen steht, so übersetzte mir Li
Bai später, »Von diesem Bette aus möge sich euer Stammbaum gründen«,
oder »Möget ihr mit Kindern reich gesegnet sein«, oder »Mögen Söhne
in reicher Zahl euch erfreuen« und andere, mit ähnlichen Worten und
gleicher Bedeutung, Sprüche, die mir gar keine Freude machten und deren
Nichterfüllung ich innig erhoffte und sehr wünschte.

Ein spanisches Sprichwort sagt: »Sei der Tag lang oder sei er kurz --
endlich erklingt dennoch das Aveläuten.« War der Tag mir auch länger als
alle erschienen, die ich bis jetzt durchleben mußte, so brach doch auch
der Abend an und damit nahm das Festessen seinen Anfang. Mama und
Jenny nahmen nicht teil -- das wäre wieder gegen die Sitten des Landes
gewesen --, und ich war wirklich froh darüber. Es war mir stets leichter,
eine unangenehme Lage, die sich nicht ändern ließ, allein zu überleben,
als andere zu Zuschauern zu haben, die es mir wahrscheinlich nur erschweren
würden die mühsam erkämpfte Fassung zu bewahren. Die Männer saßen in
einem Zimmer an einem Tische, die Frauen alle in einem anderen Raume auch
an einem Tische, und alle bedienten sich der gebenedeiten Stäbchen, mit
denen ich noch immer nicht ordentlich umgehen konnte. Die niederen Sitze,
die merkwürdigen Gefäße und merkwürdigeren Speisen, die meiner
Ansicht nach aus zusammengeschnittenen Katzen, Hunden und Ratten bestanden
(natürlich nur Einbildung, denn wir hatten Hühner und ähnliches
Geflügel klein zerschnitten), die komischen Eßwerkzeuge und das
ununterbrochene Geschnatter in einer mir fast ganz fremden Sprache -- alles
machte mich glauben, daß ich mich unter wilden Menschen befand. Appetit
hatte ich keinen -- und aus guten Gründen -- und daher störte mich der
Gebrauch der Stäbchen nicht. Ich mischte und mischte in der Schale herum
und schien von allem zu essen, in Wirklichkeit kamen nur ein paar Bissen
über meine Lippen und nur dem Tee huldigte ich, da er mich erfrischte.
Sprechen konnte ich mit keinem Menschen und das erwartete scheinbar auch
niemand von mir. So saß ich an der Tafel, eine traurige, kleine rote
Seidenfigur, auf die alle Augen unablässig neugierig gerichtet waren,
und hoffte, daß die Mahlzeit doch endlich aufhören würde. Ich dachte an
Mama, an Jenny, an mein Vaterland, an meine Vergangenheit und wohl meist
an Li Bai, aber Tröstliches leuchtete mir nicht aus allen diesen Gedanken
entgegen. Jede Minute machte mich nervöser, je mehr der Abend vorrückte,
um so weniger wünschte ich Li Bai zu sehen. Schließlich bedeutete sein
Kommen meinen Fall vom Regen unter die Traufe oder von der Pfanne in das
Feuer. Ich fühlte nur ein brennendes Verlangen, mich flach auf den Boden
zu werfen und zu weinen -- zu weinen -- wie ich es seit London nicht mehr
getan hatte.

Als die Suppe eingenommen worden war -- damit hört eine chinesische
Mahlzeit ebenso sicher auf, als eine europäische damit beginnt, und
nachdem große Bowlen Reis und unzählige Schüsseln voll Herrlichkeiten
in die Mägen der Anwesenden hinabgewandert waren --, wurde ich wieder
zurück in das Brautgemach geführt, wo Li Bai mich begrüßte. Ich hätte
ohnmächtig werden können, wenn ich überhaupt imstande gewesen wäre
noch etwas zu tun, aber ich fühlte mich nicht mehr -- ich war wie eine
Wachspuppe, die sich bewegt, in der aber kein Leben ist.

Li Bai schickte alle Gäste fort -- eigentlich sollen die jungen Gatten
erst in der dritten Nacht allein gelassen werden, aber dagegen hielt
sich Li Bai auf --, kam auf mich, die ich wie ein Häufchen Unglück am
äußersten Bettrand zusammengekauert und stumm saß, zu und küßte mich
zum erstenmal auf die Lippen.

»War es sehr schlimm, Käthe, so zu sitzen?« fragte er freundlich. »Du
bist sehr brav und tapfer gewesen!«

»Nein, nicht so sehr,« erwiderte ich und fühlte, daß etwas in mir zu
tauen begann, denn seine Zärtlichkeit tat mir in diesem Augenblicke wohler
als meine Feder es je beschreiben könnte.

Er nahm mir langsam den schweren Brautschmuck ab, strich liebkosend mit der
Hand über meine Wange und küßte mich mehrmals, was mich bald die Leiden
der vergangenen Stunden und all die bitteren Zweifel vergessen ließ.
Vielleicht würde ich dennoch glücklich werden. Ich faßte den festen
Entschluß, meinem Gatten in jeder Weise entgegenzukommen und obschon ich
auch in diesem Augenblick keineswegs seine Wünsche teilte, ließ ich es
doch ruhig geschehen, daß er mir half, aus den unbequemen chinesischen
Kleidern zu schlüpfen, wenngleich sie mir plötzlich gar nicht mehr
unbequem schienen. So ändern sich je nach den Umständen unsere
Anschauungen.

Von der Decke hingen unzählige Lampions nieder, die über das ganze Gemach
ein rötliches Licht ergossen. Eines nach dem anderen wurde von Li Bai
vorsichtig ausgelöscht, bis nur ein kleines Lämpchen in der östlichen
Zimmerecke brannte.

Li Bai legte seine Arme zärtlich um mich, küßte mich (er hatte wirklich
diese Kunst, wenn man die kurze Uebungszeit in Betracht zieht, ganz
unglaublich gut erlernt) und sagte lächelnd:

»Ein Licht muß im Schlafgemach zweier Gatten immer brennen, das ist
chinesische Sitte. Es stört dich doch nicht?« fragte er.

»O nein,« erwiderte ich, mich an ihn schmiegend, »aber warum verlangt
die Sitte es so?«

»Damit die Kinder alle sehend auf die Welt kommen -- wenn kein Licht
brennt, werden sie blind geboren.«

Obschon wir in Europa dies nicht glauben, fügte ich mich willig. Von jetzt
an war ich wirklich eine -- Chinesin.

[Illustration:

  A. F. Seebacher]



    Wie heilt sich ein verlassen Herz,
    Der dunkeln Schwermut Beute?
    Mit Becher-Rundgeläute?
    Mit bittrem Spott? Mit frevlem Scherz?
    Nein, mit ein bißchen Freude.

      C. F. Meyer.

XIV.


Am nächsten Morgen mußte ich mich wieder in chinesische Kleider kleiden,
diesmal in dunkelblau, wenn ich mich recht erinnere, die wieder reich mit
Gold gestickt waren, und deren Farbe, glaube ich, ein Sinnbild ehelicher
Tugend sein sollte.

Jenny hatte rotgeweinte Augen und nicht nur ihre Guckerchen und ihr
Gesicht, nein, ihre ganze graziöse Gestalt war ein verkörpertes
Fragezeichen an mich. Ich lächelte ihr beruhigend zu -- es mag wohl auch
nicht sonderlich angenehm sein, einen Europäer zu heiraten und Li Bai
war recht nett gegen mich gewesen, eine Klage wäre daher unbegründet
erschienen.

Die Festlichkeiten nahmen ihren Fortgang. Masken betraten das Haus, um die
Braut mit ihrem schrecklichen Aussehen erfolgreich durch das ganze große
Haus zu jagen, hier, wo man fünfundsechzig Zimmer hatte, die alle zur
Feier des Tages offen standen, wahrlich keine Kleinigkeit, um so mehr,
als ich mich wahrlich nicht zum Laufen aufgelegt fühlte. Aber irgendwie
entging ich ihnen doch und da ich unter Diwanen verschwand und mich gegen
Kasten aller Arten drückte, fanden sie es amüsanter, die europäisch
gekleidete Jenny zu verfolgen, die wie ein Wiesel vor ihnen herflog und
schrie -- schrie --, daß selbst chinesische Ohren davon befriedigt werden
mußten, wie sehr sie sich auch nach Lärm sehnen. Der Mandarin erschien
zufällig auf der Schwelle und lachte wirklich herzlich, als er Jenny so
wild schreiend durch den Garten galoppieren sah. Endlich kam ihr Chung-Fu,
mein Schwager, zu Hilfe, in dessen Arme sie plötzlich lief -- was, wie sie
mir nachher anvertraute, noch viel schlimmer war, als vor den schrecklichen
Masken laufen zu müssen.

»Glaubst du, Käthe,« fragte sie, indem sie sich an mich schmiegte,
»daß -- der Doktor -- dies -- dies -- als unpassend betrachten würde?«

»Meine liebe Jenny,« erwiderte ich und setzte eine unergründliche Miene
auf, »kommt es dir nicht selbst treulos vor gegen den armen Doktor, der
deine blonde Locke immer in der Brieftasche nahe an seinem nur für dich
schlagenden Herzen trägt, daß du dich so mir nichts dir nichts einem
Chinesen an den Hals wirfst?«

In Jennys Gesichtchen wetterleuchtete es bedenklich.

»Aber Käthe -- ich -- ich -- bin ihm ja nicht -- gar nicht -- absichtlich
in die Arme gelaufen -- und -- und es war so -- so schrecklich!« sagte sie
ganz verzagt und stotternd.

»Mach' dir nichts daraus, Jenny,« entgegnete ich munter und sah sie
schelmisch von der Seite an. »Der Doktor wird es mit der Treue wohl auch
nicht so genau nehmen und trotz der blonden Locke noch andere Mädchen an
sein Herz drücken.«

»Oh, Käthe!« rief meine Schwester voll Entsetzen und machte so runde
Augen, die sich überdies noch mit Tränen zu füllen begannen, daß ich
sie augenblicklich in die Arme schließen und ihr sagen mußte, daß der
Doktor ein Muster der Treue und Tugend war, der nur an sie dachte und nur
für sie lebte, und daß auch sie ihm, trotz der unfreiwilligen Umarmung
Chung-Fus (wie angenehm so eine Umarmung auch an und für sich sein mochte)
seiner ganz würdig geblieben -- vollkommen würdig, diesen Halbgott nach
ihrer Heimkehr auf ewig glücklich zu machen.

»Oh, süßeste Käthe, glaubst du das wirklich?« fragte sie und sprang
jubelnd auf. »Von allen Schwestern auf Gottes Erdboden bist du die
weiseste und netteste und beste!«

Und daraus kann der Leser ersehen, wie leicht es ist, Beifall zu gewinnen,
wenn man nur das sagt, was der andere hören will.

Bei der Festmahlzeit war die Tischordnung in gewissen Punkten europäisiert
worden. Wohl saßen die Herren alle am unteren Ende der großen Tafel und
die Frauen, wenn auch nicht in einem anderen Gemache, so doch abgesondert
am oberen Tafelende, aber in der Mitte war es doch so eingeteilt worden,
daß Mama den Mandarin, Jenny Chung-Fu und ich Li Bai an meiner Seite
hatte. Mama und der Mandarin sprachen von europäischen Sitten und
Gebräuchen, und Mama sprach lebhaft und unbefangen, als ob sie ihr ganzes
Leben nur mit Chinesen zusammen gesessen, Jenny dagegen hatte ihr liebes
Kreuz mit ihrem Tischnachbar, der nur sehr wenig Englisch, gar kein Deutsch
und daher nur mit Gebärden sprach, die, vereint mit chinesischen Brocken,
einigen englischen Wörtern und der Augensprache, zu der Chung-Fu als
letztes verzweifeltes Mittel griff, eine Art primitiver Konversation zur
Not zuließen. Verstand Jenny auch nur schlecht Englisch und gar kein
Chinesisch und war die Gebärdensprache oft nicht ausdrucksvoll genug --
auf die Augensprache verstand Jenny sich wie selten jemand und damit ging
es endlich auch geläufig, nur hatte meine Schwester augenscheinlich keine
Lust, mit einem Chinesen zu flirten.

Wir hatten Vogelnestersuppe, die Mama ungemein interessierte, deren Name
aber nur eine falsche Uebersetzung eines Seegewächses ist, ferner
frische Bambusblätter als Gemüse, die wirklich schmackhaft waren,
Schinkenscheiben, die ganz an unseren Westfäler Schinken erinnerten,
saftiges und schön serviertes Zuckerrohr, chinesische Kuchen, die wie
umgestülpte Pfannen aussahen und die mit allerlei Schriftzeichen und
Arabesken reich verziert waren, parfümierten Tee und andere Seltenheiten.
Li Bai war, wie immer, sehr aufmerksam und warf mir mit seinen Stäbchen
allerlei Leckerbissen in den Napf -- Jenny dagegen, die immer auf und
nieder sah und nie acht gab, was sie tat, war den unausgesetzten und ihren
europäischen Begriffen sehr ungewohnten Angriffen ihres jüngsten Anbeters
und Tischnachbars ausgesetzt und mir eine unerschöpfliche Quelle der
Belustigung.

Schon als Kind hatte Jenny die Gewohnheit, den Mund offen zu halten, sooft
sie über etwas erstaunt war. Hier, an einer chinesischen Tafel, wo alles
auf merkwürdigen Schüsseln serviert wurde, wo die Gerichte selber so
interessant und neu waren, wo man eigentümliche Laute vernahm, die in
Europa -- wenigstens in der guten Gesellschaft -- nicht gang und gäbe
waren, wo die Frauen mit ihren gemalten Augenbrauen, die Männer mit ihren
glattrasierten Vorderköpfen und ihren Zöpfen (glücklicherweise hatten
noch einige die Zöpfe nicht abgeschnitten), so fremdartig wirkten und
ununterbrochenes Staunen erregten, kam es selbstredend oft vor, daß Jenny
ihren hübschen Mund weit offen hielt und das Essen ganz vergaß.

Nach chinesischer Sitte darf der Gastgeber so etwas nicht zulassen. Daher
formte Chung-Fu jedesmal in seiner eigenen Schüssel einen Knödel aus den
besten Leckerbissen und war nicht so genau damit, ob er die Finger auch
noch dazu zu Hilfe nahm oder nicht, und schob ihn, sobald das Meisterwerk
transportfähig war, in Jennys einladend offengehaltenen Mund, die sofort
anfing, Erstickungsversuche zu machen oder den Knödel herauszuwerfen.
Vergebliche Mühe! Chung-Fu hatte so etwas vorausgesehen und hielt daher
vorsorglich seine Hand dicht vor ihre Lippen. Der Knödel mußte hinunter
-- heraus konnte er nicht.

Sooft meine Schwester mit dem Stäbchen umsonst Fischversuche in ihrem
Trögchen unternahm und ihre Augen vor Verwunderung weit aufriß, wenn die
Ladung im letzten Moment zurückrollte, benützte der aufmerksame Chung-Fu,
dem eine solche Danaidenarbeit jedenfalls Mitleid abpreßte, auch die
Gelegenheit und schob ihr etwas in den Mund -- mit seinen Stäbchen, seinen
Fingern oder auf andere Weise, das war ganz Nebensache --, Jenny wurde
gefüttert, wie sehr sie sich auch wehrte.

Diese Fütterungsprozesse unterhielten nicht nur mich, sondern die ganze
Tischgesellschaft -- besonders die weibliche. --

Am dritten Tage hatte ich ein lichtes, gold- und silbergesticktes
Seidenkleid an, das auch irgendeine symbolische Bedeutung hatte, die ich
indessen vergessen. Heute erst wurden wir endgültig verbunden, denn man
führte uns zu den Stammtafeln der Vorfahren, in anderen Worten an den
Hausaltar, wo wir drei tiefe Kotaus machen mußten. Zu beiden Seiten des
Altars standen schön geschmückte Tische, auf welchen Eß- und Trinksachen
aller Art aufgestellt waren, die den Ahnen geopfert wurden. In der Mitte
der Halle befand sich eine Art Podium und dieses bestieg nun der Mandarin,
gleichfalls in seiner Festtoilette, und teilte unter zahllosen Kotaus den
Vorfahren mit, daß Li Bai und ich nach allen Regeln der chinesischen Sitte
und nach Befragung des Zauberers Mann und Frau geworden waren und daß er,
der Mandarin, nun um den Segen der Vorfahren für uns bitte. Er verließ
nach weiteren Kotaus den erhöhten Sitz und wir traten näher, um den von
diesem wichtigen Akte verständigten Ahnen unsere Aufwartung zu machen,
die in der dreimaligen Wiederholung eines tadellosen Kotaus bestand. Damit
waren die eigentlichen Hochzeitszeremonien zu Ende und wir in den Augen der
ganzen Familie erst wirklich Mann und Frau, deren erste Aufgabe es nun sein
mußte, so schnell wie möglich einen Sohn und Erben zu bringen.

Würde ich eine echte Chinesin gewesen sein, so hätte ich an diesem Tage
meinen Eltern eine Gans oder doch den Teil einer gebratenen Gans nach
Hause getragen haben, als Zeichen, daß mein Gatte mit mir zufrieden und an
meiner Unschuld nichts auszusetzen war.

Mama und Jenny sollten noch etwa drei Wochen bleiben, Jenny vielleicht
sogar drei Monate, und vorläufig wohnten beide in den Gastzimmern, über
die jeder Mandarin reich verfügt. Jeden Abend wurden alle Tore sorgfältig
geschlossen und von da ab machte der Nachtwächter seine Runde -- niemand
konnte heraus, niemand mehr hinein, ohne von ihm gesehen zu werden.

Die chinesische Zeitrechnung weicht von der unsrigen bedeutend ab. Die
Jahre rechnet man entweder nach einem Zeitabschnitt von 60 Jahren oder
nach der Regierung eines Herrschers, der bei seiner Thronbesteigung immer
auch eine Art Regierungstitel annimmt. Letztere Art ist die verwickeltere.
Die Monate selbst richten sich genau nach dem Monde und zählen bald 29,
bald 30 Tage, aber um den dadurch entstandenen Unterschied auszugleichen,
hat man alle drei Jahre einen Extramonat und rechnet in Zeitabschnitten von
19 Jahren, während welcher Zeit sieben Extramonde eingeschoben werden.
Für die ersten zehn Tage jedes Monats hat man einen besonderen Namen.
Der Tag wird in zwölf Stunden eingeteilt und jede chinesische Stunde
entspricht zwei europäischen Stunden.

Die Tage flossen ruhig dahin. Mama und Jenny wanderten in Tientsin
herum, besahen alles, was sehenswert war und ließen sich selbst durch
angebrochene Kälte nicht abhalten. Ich brauchte mich um den Haushalt nicht
zu kümmern -- die chinesischen Diener und Dienerinnen besorgten alles und
man hat ihrer viele, da ein Monatslohn sich auf ein bis zwei Mark beläuft.
Kost und Wohnung muß man allerdings dazurechnen, aber wie wenig ist das,
wenn man unsere Löhne in Europa betrachtet! Die Kost erhielten wir, wie
alle Hausgenossen, aus der gemeinsamen Küche des Mandarins. Wenn irgendwo
noch ein Staubwölkchen blieb, so war Li Bai schon hier, um es mit wahrem
Genuß abzuwischen. Er fand kein größeres Vergnügen, als so recht eifrig
überall Ordnung zu machen, alles nett aufzustellen, und alle seine Sachen
durchzusehen. Meine Hauptaufgabe bestand daher darin, Li Bai zu überreden,
mit mir auf deutsch, englisch oder französisch zu lesen und sich die
englische Literatur und Geschichte etwas öfter und näher anzuschauen als
bisher. Umsonst! Wohl lasen wir häufig zusammen und ich konnte auch kleine
Fortschritte bemerken, die besonders den Mandarin beglückten, wenn er
gegen Abend auf eine Stunde zu uns kam, aber dauerndes Interesse oder
wirklichen Fleiß konnte ich bei ihm nie zutage fördern. War er nicht in
Stimmung, so sagte er, daß er sich »miserable« fühlte und da war mit
ihm nichts anzufangen. Schon in London hatte ich bemerkt, daß eigenartige
Stimmungen ihn überkamen, jetzt aber gestand er mir offenherzig ein, daß
er in solchen Augenblicken und an solchen Tagen (mir fiel es später auf,
daß sie sich etwa alle vierzehn Tage wiederholten und immer am ärgsten zu
Beginn jedes Monats waren) die Lust in sich fühle, jemand zu töten oder
doch recht weh zu tun. Körperlich tat er mir nicht weh, aber moralisch
folterte er mich an solchen Tagen bis zur Unerträglichkeit. Er konnte die
grausamsten Sachen äußern, die ihm durch den Kopf fuhren, und konnte ein
geradezu teuflisches Vergnügen daran finden, mich weinen zu machen. Sah er
erst Tränen in meinen Augen, so quälte er mich auf die entsetzlichste Art
stundenlang weiter und nur als ich gelernt hatte, gleichgültig auszusehen,
ließ er schneller von dieser Quälerei ab. Wenn er diese Anfälle hatte,
so leuchteten seine Augen finster und bösartig unter den geschlossenen
Lidern hervor, und sein Gesicht verzerrte sich von Zeit zu Zeit zu einem
höhnischen Lächeln. Es war umsonst, in solchen Augenblicken ein besseres
Empfinden in ihm wachzurufen -- er war gegen alles Gute und Edle taub. War
der Anfall vorüber -- er war oft von Kopfschmerzen begleitet und dauerte
von sechs Stunden bis über zwei Tage --, so war er wieder der nette
kleine Chinese von ehedem. Wenn ich ihm dann leise vorhielt, daß er so
wenig nett gegen mich gewesen, versuchte er alles gut zu machen, indem er
mich küßte, was er als Universalmittel gegen alle meine Leiden ansah,
da ich, in deren Herzen die Hoffnung auf bessere Zeiten immer wieder bei
dieser Zärtlichkeit zu erwachen begann, stets lächelte, wenn er mich
küßte.

Ausgehen durfte ich nicht -- war er übellaunig, d. h. »miserable«,
wie er es nannte, so quälte er mich halb zu Tode dafür, und war er gut
gelaunt, so neckte er mich und warf mich scherzweise herum und brummte
wohl stundenlang, indem er kühn behauptete, daß ich das Wiederkommen ganz
vergessen hätte. Daher schloß ich mich Mama und Jenny beim Ausgehen
kaum an. Fragten die beiden Li Bai, ob ich denn nicht mitgehen dürfte, so
entgegnete er: »Gewiß, gewiß,« aber nachher war es ebenso gewiß, daß
er mich dafür ordentlich quälte.

Blieb ich indessen bei ihm zu Hause und waren seine Anfälle vorbei, so
hatten wir eine unerhört schöne Zeit. Da spielte Li Bai mit mir
Fangen, Verstecken und andere Spiele, küßte mich oft und zärtlich und
verwandelte sich ganz in eine kleine nette Spielkatze. Ich hatte eine
ungewöhnlich ernste Kindheit gehabt -- Jenny, die ein Muster des Gehorsams
war, blieb gern bei den vielen Mädchen in der Pension. Aber für mich,
den Aufwiegler, den Freigeist und Ausbund des Ungehorsams und der
Widersetzlichkeit, bedankte man sich sofort und schickte mich zurück,
dahin von wo ich gekommen. Ich hatte deshalb nur wenig Spielgenossen
gehabt, lieber gelesen, gelernt und gegrübelt, wie frühreife Kinder es
tun, und fühlte mich nun wirklich glücklich darüber, daß ich einen so
heiteren Spielkameraden in meinem Gatten gefunden hatte. Zum Ideenaustausch
und moralischen Halt konnte er mir nicht dienen, als Gatte entsprach er
zu wenig unseren europäischen Anschauungen, aber als Spielgenosse war er
unübertrefflich und noch heute denke ich mit ungetrübter Freude an
unser Spiel zurück -- wie wir aufeinander warteten, wie eines das andere
aussperrte, wie ich mit seinem Tagebuch davonlief und er meine Briefe zu
erhaschen und zu untersuchen versuchte und wie das einzige Mittel, das
ich erfolgreich gegen seine kräftigen Hände (denn er war sehr stark)
verwenden konnte, der große Badeschwamm war, den ich ihm vollgetränkt
entgegenhielt und vor dem er große Hochachtung hatte, so daß ich den
Schwamm als meinen sichersten Schild betrachtete und bei unseren Neckereien
immer zuerst auf den Waschtisch zuflog.

Li Bai hatte seit dem Hochzeitstage, wo er ganz wie ich in rotseidene
und goldgestickte Roben gehüllt gewesen war, seinen europäischen Anzug
abgelegt und trug nun ausschließlich sein kaftanartiges chinesisches
Gewand aus weicher Seide, das zur Winterszeit warm wattiert war. Er fragte
mich oft, ob ich nicht auch lieber die Trachten der chinesischen Frauen
tragen würde, doch dagegen wehrte ich mich, nicht etwa aus lächerlicher
Eitelkeit, sondern nur weil ich damit allzusehr jede Spur der Europäerin
verwischt hätte, und dies wünschte ich um meiner Schwiegermutter willen
nicht. Sie haßte mich, das fühlte ich ganz genau, wenn sie auch nie
irgend etwas offen Feindliches gegen mich unternahm. Sie wußte Li Bais
Stimmung auszunützen, wenn er »miserable« war, um mich durch ihn
quälen zu können, und ich verdankte es auch ihr, daß Li Bai sich so sehr
sträubte, mich mit meinen Verwandten ausgehen zu lassen.

Der Mandarin hatte noch außer Li Bais Mutter, seiner rechtmäßigen Frau,
drei Konkubinen, die der armen Frau das Leben oft schwer machten und Li
Bai, der seine Mutter innig liebte -- sie war gewiß die einzige, der
dieses seltsame Herz ganz gehörte --, war oft streng und unfreundlich
gegen diese drei Sklavinnen, wie er sie nannte. Ich sprach nur wenig mit
meiner Schwiegermutter, da meine Kenntnis des Chinesischen eine allzu
geringe war, und wenn ich auch manchmal mit Li Bai in die seltsame alte
Küche gehen durfte, um sie dort ihre Befehle erteilen zu sehen, wichen
wir uns gefühlsgemäß doch so oft als möglich aus; ich hütete mich aber
ebensosehr, die drei Sklavinnen irgendwie zu beleidigen und grüßte
sie immer, sooft wir uns trafen, was, wenngleich Li Bai unangenehm, dem
Mandarin sehr angenehm war.

So war es mir gelungen, ohne Feindlichkeiten im Hause meines
Schwiegervaters zu leben, bis ein Ereignis eintrat, das sehr nachhaltige
Folgen nach sich zog. Seit mehreren Wochen -- Mama hatte ihren Aufenthalt
ausgedehnt und war nun schon fünf Wochen länger als ursprünglich
festgesetzt, in Tientsin -- war ich täglich, mit Li Bais »ungnädiger«
Erlaubnis (er fügte sich nur den Befehlen seines Vaters), zur Bank
gezogen, wo ich zuerst nur vereinzelte Briefe, später aber eine ganz
beträchtliche Zahl, schrieb, besonders als der Mandarin sich überreden
ließ, eine Schreibmaschine zu kaufen, mit der ich allein umgehen konnte.

Wir sprachen fast nie mehr als das Allernotwendigste miteinander, und ich
unterließ es nie, so höflich als möglich gegen meinen Schwiegervater zu
sein, dessen immer gleiches ruhiges und unergründliches Wesen mir Achtung
und Interesse einflößten, zu denen sich auch etwas heilsame Furcht
mischte. Er legte meist die Arbeiten vor mich auf den kleinen Tisch und
sagte in kurzen Worten, was er auszudrücken wünschte. Er rechnete nie
seine Zahlen im Kopfe oder selbst auf dem Papier aus, sondern bediente sich
wie alle Chinesen und Japaner der Rechentafel, die sieben Kolonnen umfaßte
und auf der man sicherer und schneller als nach unserem europäischen
System bis in die Millionen rechnen konnte. Hatte er die Summe bestimmt,
so schrieb er sie in chinesischen Ziffern nieder, die ich sehr gut lesen
konnte, da ich mich schon in Europa daraufhin geübt hatte, und zur
Vorsicht übersetzte ich sie stets in unsere Ziffern, auf die er zur
Prüfung immer noch einen Blick warf. War alles erledigt, so setzte ich
mich an die Maschine und schrieb voller Seligkeit einen Brief nach dem
anderen. In London, wo ich oft die fesselndsten Uebersetzungen zu machen
hatte, wäre mir diese Bankarbeit entsetzlich einförmig erschienen, aber
hier war es mir, als ob ich wieder einmal freigelassen worden wäre, um
mich in meinem gewohnten Element zu tummeln. Da fiel das Fremdartige und
Gedrückte meines Wesens ab, da wurde ich wieder fest und bestimmt in allen
meinen Ansprüchen und fühlte neuerdings, daß ich ein vollberechtigter
Mensch war.

Mein Schwiegervater lobte mich nie -- weder wenn ein Funken von erhöhtem
Wissen sich bei Li Bai zeigte, der gern ein wenig vor seinem Vater seine
Kenntnisse lüftete, noch wenn in der Bank ein Brief nach dem anderen in
verschiedenen europäischen Sprachen verfaßt rein und nett kopiert vor ihm
lag --, aber ich merkte eins: er wies alle Bitten Li Bais, mich nicht zur
Bank kommen zu lassen, energisch ab, und auch bei den Studien wußte er Li
Bai unter mein Regiment zu stellen. Und dann kam der erste ernste Auftritt.

Chung-Fu, der zwar schon verheiratet war und auch ein Söhnchen besaß, mit
dem Jenny sich lebhaft angefreundet und das von ihr sogar etwas Deutsch zu
sprechen erlernt hatte, fand an meiner Schwester größeren Gefallen als
es mir ratsam schien. Er folgte ihr überallhin, war immer sehr aufmerksam
gegen sie und machte ihr allerlei kleine Geschenke, wenn gerade niemand in
der Nähe war -- Streifen mit chinesischer Schrift, Fächer, kleine Vasen
usw. Jenny war leichtsinnig und wohl auch arglos, sie nahm alles an und
lachte Chung-Fu aus, aber ich wurde immer besorgter und endlich bat
ich Mama, wie schwer mir der Abschied auch wurde, um Jennys willen
heimzureisen. Ich gab Mama keinen näheren Grund an und sagte nur, daß
Jenny heiratsfähig sei und es ungerecht wäre, sie länger als nötig in
China zurückzuhalten. Mama, die von den Herrlichkeiten des Himmlischen
Reiches genug hatte, entschloß sich leicht zur Abreise, obschon sie
mich ein »gefühlloses« Wesen nannte, da ich sie selbst darum bat.
Ich quittierte den Vorwurf, so ungerecht er war, schweigend und atmete
erleichtert auf -- doch ich frohlockte zu früh.

Am Morgen des folgenden Tages sprach Mama zum Mandarin darüber und sagte,
daß ihre Geschäfte es nötig machten, nach Europa zurückzureisen, wenn
sie auch nur mit blutendem Herzen von ihrer lieben Tochter Käthe schied;
doch sie wisse sie ja in guten Händen usw. usw., was Mütter eben unter
solchen Umständen zu sagen pflegen, ob es nun wahr oder nicht.

Der Mandarin äußerte eine Reihe höflicher Klagen und stimmte ihrem
Entschluß hierauf vollkommen bei, nur sagte er, daß sie sehr gut ihre
Geschäfte allein besorgen könne, und daß Jenny noch einige Monate bei
mir bleiben müsse.

»Aber Mandarin,« rief meine Mama, »Jenny ist ein heiratsfähiges
Mädchen und nun ist die Zeit, sie daheim auf Bälle zu führen und ihr
einen passenden Mann zu suchen.«

»Und wenn,« fragte der Mandarin langsam, »und wenn Jenny nun hier einen
Mann finden würde, der reich ist und ihr eine glänzende Versorgung bieten
könnte?«

Mein Herzschlag stockte. Sollte der Mandarin ernstlich daran denken, Jenny
seinem zweiten Sohne Chung-Fu als Konkubine zu geben, oder wollte dieser
unter irgendeinem oberflächlichen Vorwand sich von seiner chinesischen
Gattin scheiden lassen, um Jenny an sich zu knüpfen? »Ach, das ist wohl
ausgeschlossen,« dachte ich.

»Chinesen heiraten gewiß nicht gern Europäerinnen und --«

»Und wenn sich nun so eine Partie doch fände?« unterbrach der Mandarin
meine Mutter.

»So wäre dies auch ganz umsonst, selbst wenn er der reichste und
beste Mann wäre!« sagte ich, indem ich mich erhob und auf die beiden
Sprechenden zutrat.

Die Augen des Mandarins öffneten sich nicht, nur die Lider zuckten,
und ich hatte das Empfinden, als ziehe sich eine tiefe Linie von jedem
Augenwinkel gegen die Schläfen zu. Er war ganz, ganz ruhig, und seine
Stimme klang sehr gelassen, aber mit eisiger Kälte durchzittert, als er
sein Haupt leicht mir zuwandte und fragte:

»Und warum?«

»Ja, warum, Käthe? Wäre es nicht ein Glück für Jenny --?«

Ich bebte innerlich vor Entrüstung. Wäre Mama wirklich imstande, Jenny
um schnöden Geldes willen an einen Chinesen zu verkaufen und allein
nach Europa zurückzureisen? Ich betrachtete sie. Sie war noch heute eine
hübsche und vor allem eine elegante Frau -- sie würde sich wahrscheinlich
wieder verheiraten, sobald ihre Töchter erfolgreich verschachert worden
waren. Aber nein, Jenny sollte ihr Glück nicht verscherzen, sollte es
nicht verlieren um selbstsüchtiger Pläne anderer willen, daher sagte ich
ruhig und entschlossen, wie ich es wohl sonst nie gewagt haben würde, dem
Mandarin zu antworten:

»Weil meine Schwester schon heimlich verlobt ist!« sagte ich und blickte
Mama unverwandt an.

»Seit wann bestimmen Kinder selbst über ihr Geschick und seit wann
ist der Wille der Tochter maßgebender als der der Mutter?« fragte der
Mandarin und seine Augen ruhten vernichtend kalt und streng auf mir. Wenn
er böse gewesen wäre, wenn er mit blitzenden Augen auf mich zugetreten
sein würde, da hätte ich mich lange nicht so unheimlich berührt
gefühlt, als von der kalten, vollkommen ruhig gestellten Frage und dem
ausdruckslosen Gesicht, auf dem sich nicht eine Miene verzogen hatte.

»In Europa bestimmen wir selbst über unsere Zukunft!« erwiderte ich mit
äußerster Gelassenheit.

»Mit wem ist Jenny verlobt?« fragte Mama.

Jetzt hieß es =va banque= spielen.

»Mit Doktor Emil Wurmbrandt!« sagte ich.

Jenny war glücklicherweise abwesend -- ihre Verlegenheit, ihr Zögern
hätte alles verderben können. Ich blickte Mama fest an und sagte mit
Nachdruck:

»Der Doktor wird in wenig Jahren eine schöne gesellschaftliche Stellung
haben -- seine Eltern sind wohlhabend und einflußreich -- Jenny paßt nur
zu einem Europäer!« sprach's und wandte mich ab.

»Sind die Wünsche Ihrer Töchter für Sie maßgebend?« fragte mit
unverkennbarem Spott der gefürchtete Mandarin.

»Ich will meine Kinder glücklich sehen!« entgegnete Mama, die nur an den
Doktor, an die Verbindungen seiner Eltern, an den Glanz einer Trauung, den
Neid der Tanten und so weiter dachte, und an der jeder Pfeil des Spotts
wirkungslos abprallte.

»Ich kenne den Doktor sehr gut und wünsche lebhaft eine solche
Verbindung!« sagte Mama rasch. »Das süße Dingelchen hat wohl aus lauter
Scheu über den Antrag nicht gesprochen, bis wir wieder auf der Heimreise
wären!« fügte sie mit sichtlicher Befriedigung hinzu. Sie dankte meinem
Schwiegervater warm für die Gastfreundschaft, die er ihr und Jenny gezeigt
hatte, und drückte ihr Bedauern aus, daß sie seine Bitte, Jenny noch
einige Monate in China zu lassen, nicht erfüllen könne, damit neigte sie
grüßend das Haupt und eilte auf ihre Zimmer zu.

Ich fühlte, wie etwas mir kalt und unbehaglich den Rücken hinablief, als
ich die verschleierten Blicke des Mandarins auf mich gerichtet sah. Wir
standen uns wohl eine geschlagene Minute regungslos gegenüber, dann sagte
er kalt:

»Sie sind sehr bemüht, Ihrer Schwester Glück zu gründen -- ist es so
schlimm, mit einem Chinesen verheiratet zu sein?«

»Nein,« antwortete ich tonlos, »aber man muß auf vieles verzichten, was
man in Europa in einer Ehe finden kann. Wenn ich mit Li Bai glücklich bin,
folgt daraus noch nicht, daß meine anspruchsvolle Schwester es auch sein
würde.«

»Und was muß man in einer chinesischen Ehe entbehren?« fragte er
finster.

Ich dachte an Li Bais wechselndes Verhalten, seine oft ausbrechende
Grausamkeit, seine Gleichgültigkeit gegen mein Unwohlbefinden, seinen
Mangel an Nachsicht und seine immer seltener werdenden Liebkosungen.

»Zärtlichkeit und Freiheit!« erklärte ich daher unerschrocken.

Er schien meine Entgegnung absichtlich zu überhören. Er verweilte einige
Sekunden lang in derselben Stellung wie früher, dann sagte er:

»Mein Plan mißlang -- durch Ihre Schuld.« Er fügte kein einziges Wort
hinzu, er sprach den Satz nicht lauter als alle anderen Sätze aus, aus
seinen ruhigen Gesichtszügen sprach keine Drohung -- nicht einmal die
geringste Unzufriedenheit -- und doch wußte ich, daß kein Verbrecher
so bitter bestraft werden würde für sein Vergehen, als die kleine
Schwiegertochter, die seine Pläne so jäh über den Haufen gestoßen.

»Um Jennys willen,« sagte ich mir, als ich mit tiefer Verbeugung von Ming
Tse senior Abschied nahm.

Kaum war ich glücklich seiner angsteinflößenden Persönlichkeit
entgangen, als ich Jenny suchte und sie endlich mit Chung-Fus Söhnchen auf
dem Schoße fand, mit dem sie eifrigst spielte und den sie küßte. Dieser
Anblick erschreckte mich so, daß ich alles andere darüber vergaß.

»Um Himmels willen, Jenny,« rief ich, »küsse den Kleinen nicht. Du
weißt, wie furchtbar unsittlich man das Küssen hier findet, und daß
meine Schwiegermutter es mir nie verzeihen würde, so etwas geduldet zu
haben?«

Jenny ließ den kleinen siebenjährigen Chinesen von ihrem Schoße auf den
Boden gleiten. Da flog auch schon meine Schwägerin herbei und riß das
Kind zeternd mit sich fort. Ein haßerfüllter Blick traf meine Schwester
und dann auch mich.

Kaum waren wir allein, als ich Jenny von meinem Gespräch mit dem Mandarin
erzählte.

»Aber Käthe, der Doktor will mich am Ende gar nicht, er hat nie --«
warf sie ein.

»Du mußt Mama sagen, daß er um dich in aller Form gefreit hat!«
erklärte ich mit Bestimmtheit. »Ich werde dir einen Brief mitgeben, den
du sofort aufgibst, wie du frei hier herauskommst. Wahrscheinlich wird der
Doktor dich heiraten, denn er scheint dich zu lieben, dafür spricht die
Locke -- und anderes, aber wenn auch nicht --, so lange dich der Arm
chinesischer Gerechtigkeit erreichen kann, mußt du Mama und alle anderen
Leute in dem Glauben lassen, daß du mit deinem Doktor verlobt bist.
Jenny,« fuhr ich tiefernst fort, »wenn du einen Fehler machst, kommst du
nie mehr nach Europa zurück.«

Meine Schwester sah den Ernst der Lage ein und spielte ihre Rolle
vortrefflich. Ich selbst schrieb einen langen Brief an den Doktor, den
Jenny in ihrer Bluse versteckt herumtrug, bis es ihr gelang, ihn unbemerkt
in einen Briefkasten zu werfen. In dem Briefe aber hatte ich dem Doktor die
ganze Sachlage erklärt und ihm gesagt, daß er sich nicht für gebunden zu
halten brauche, da ich Mama sofort von dem wahren Sachverhalt verständigen
würde, sobald China mit seinen Schrecken hinter den mir teuren Reisenden
liegen werde.

Zwei Tage später reisten Jenny und Mama ab. So sehr zitterte ich um das
Glück meiner Schwester, daß ich fast gar nicht weinte, als sie schieden,
und erst als ein Telegramm von Nagodan mir sagte, daß sie das Himmlische
Reich wieder verlassen hatten, überkam mich das Bewußtsein meiner
grenzenlosen Einsamkeit. Seit dem Gespräch mit meinem Schwiegervater wurde
ich nicht mehr in die Bank gerufen, und mit der Abreise Mamas und Jennys
war das letzte Band zerrissen, das mich an die Außenwelt knüpfte.

Ich war wieder allein -- wieder der Einsamkeit preisgegeben -- und besaß
noch weniger als früher. Ich hatte eines Trugbildes wegen das letzte Gut
geopfert, das ich besessen hatte -- die Freiheit!

Erst jetzt war ich wirklich allein!

       *       *       *       *       *

Und wieder vergingen Tage und Wochen.



    Von keinem Leid, so schwer es sei,
    Laß stimmen deine Seele trüber.
    Geht auch dein Leiden nicht vorbei,
    So gehst du doch vorüber.

      Hartmann.

XV.


Es mochten drei Wochen nach Mamas Abreise verstrichen sein, als Li Bai
eines Abends mit ganz entstellten Zügen zu mir gestürmt kam. Der
arme Kerl konnte nicht sitzen, so furchtbar hatte sein Vater auf ihn
losgeprügelt. Li Bai hatte sich gegen eine der Konkubinen vermessen und
sich erlaubt, sie zu schlagen, als sie sich ihm widersetzte, wofür der
Mandarin von seinen väterlichen Rechten ausgiebigen Gebrauch gemacht und
seinen jüngsten Sohn mit dem Stocke bearbeitet hatte. So etwas klingt uns
Europäern ganz unglaublich, ist es jedoch in Wirklichkeit nicht. Auch wenn
der Sohn schon vierzig Jahre alt ist, darf der Vater ihn durchprügeln, und
das so kräftig und so oft er nur will -- ausgenommen, wenn der Sohn selbst
Vater ist. Im Augenblick, wo er diese Würde erreicht hat, darf der Vater
ihn nicht mehr körperlich züchtigen, denn da ist er endlich, ob er nun
fünfzehn oder fünfzig Jahre zählt, »Respektsperson« geworden.
Ein Mann, der keine Kinder hat, ist in China eine wertlose Person --
wahrscheinlich strafen ihn die Götter, indem sie ihm für seine Vergehen
keinen Erben schenken wollen.

Erbittert über seinen Vater, war Li Bai lange Zeit in einer solchen Wut,
daß man mit ihm gar nicht sprechen konnte, und als er endlich wieder
gefasster war, beschwor er mich, schnell ein Kind zu haben, damit er seine
Freiheit wiedererlangen könne. In solchen Augenblicken sehnte er sich,
glaube ich, nach dem freien Europa zurück.

Ich kann kaum sagen, daß in unserem Verhältnis eine große Veränderung
eintrat, nur wurde Li Bai immer kälter, blieb immer länger abwesend von
daheim und wurde immer reizbarer. Seine Anfälle wurden immer heftiger und
wiederholten sich häufiger als zuvor, was mich aber am meisten verwunderte
und mit Angst erfüllte, das war zweifellos der Umstand, daß die leichte
Tünche europäischer Kultur langsam aber sicher von ihm abglitt, etwa wie
eine Schlange langsam aber ununterbrochen ihre alte Haut abstreift. Er
war reinlich -- das war ihm angeboren --, aber dies war auch die einzige
Tugend, die nicht ins Wanken geriet. Alle die kleinen Aufmerksamkeiten,
die er mir in Europa so oft gezeigt und im Beginn unserer Ehe noch geübt
hatte, verschwanden nach und nach. Er ging nun nie mehr hinter, sondern
nach chinesischer Sitte vor mir, er öffnete nicht länger die Tür für
mich, um mich durchzulassen, sondern nahm von meiner Gegenwart keine Notiz.
Beim Essen bediente er mich nicht wie einst, sondern warf einige Speisen
auf meinen Teller oder in meine Schüssel, oft auch erst, nachdem er sich
selbst bedient hatte. Er tadelte -- und dies mit Recht -- meine Abneigung
gegen häusliche Beschäftigungen und meine Unordnung, und wenn er mit mir
studieren sollte, war er so bissig in seinen Bemerkungen, so unhöflich
und oft so grausam, daß ich nur mit Zittern daran zurückdenke. Dazwischen
konnte er Anfälle seiner Wildheit haben und mich jäh am Halse zu würgen
beginnen, was ihm stets leid tat, sobald er wieder sein eigenes Ich war.
Wenn er manchmal wieder lieb wurde, war es nur in höchst gleichgültiger
Weise, und seine stereotype Entschuldigung für alle seine Eigenarten war,
daß alle Weiber gleich seien. -- So lange sie den niedrigsten Zwecken
dienten, war es einerlei, wie sie aussahen oder wer sie waren. Jede
Europäerin wird mir nachfühlen können, wie ich darunter litt, selbst
wenn ich um des lieben Friedens willen schwieg.

»Wenn dies deine Anschauungen sind, Li Bai,« sagte ich eines Tages,
»warum hast du dann gerade mich gewählt?«

»Weil du eben am nächsten warst!« erwiderte er mit mehr Aufrichtigkeit
als Zartgefühl.

Auch an anderen entmutigenden Einflüssen fehlte es nicht. Nach langer
Zeit hatte der Mandarin mich wieder einmal in die Bank rufen lassen, wo zu
meiner Freude ein großer Haufen Korrespondenz zur schleunigen Erledigung
auf mich wartete. Ich arbeitete mit fieberhaftem Eifer und vergaß für die
Zeit alles Bittere in meiner Existenz, als sich die Tür öffnete und zwei
Europäerinnen und ein Europäer eintraten. Ich mußte eine Weile lang
allerlei Bankangelegenheiten besprechen, da mein Schwiegervater ausgegangen
war und die anderen Beamten der europäischen Sprachen nicht mächtig
waren, und bald entspann sich das lebhafteste Gespräch.

Der Herr war schon zwei Jahre ansässig in Tientsin, die Damen waren ihn
soeben besuchen gekommen, und nun erzählte er uns allen seine humorvollen
Erfahrungen mit den chinesischen Dienstboten.

»Da ist zuerst mein »Boy« mit seinem Pidgin Englisch, der mir vielen
Verdruß macht!« erzählte er lachend. »Man möchte meinen, daß er einen
Harem voll Frauen und ein Dutzend Mütter hat, denn alle Augenblicke
wird entweder die Frau oder die Mutter krank und stirbt, und da muß er
heimreisen -- natürlich reisen immer einige meiner Sachen mit ihm, aber es
wäre ganz nutzlos, sich dagegen irgendwie aufzulehnen. Jeder Boy stiehlt,
und zwar so viel er kann, aber er sieht glücklicherweise darauf, daß ihm
dabei niemand ins Handwerk pfuscht. Auch nimmt er selten Geld, da könnte
der Herr vielleicht doch grausam genug sein, ihn den Obrigkeiten zu
übergeben, und ein Dieb wird in China furchtbar streng bestraft.«

Daran erinnerte ich mich, denn oft mußte der Mandarin sein Urteil
sprechen. Manchmal wirft man ihn ins Gefängnis, wo er langsam zugrunde
geht, oft macht man ihn um einen Kopf kürzer, oder man gibt ihm
fünfundzwanzig oder mehr Stockstreiche auf die Fußsohlen, was auch nicht
angenehm sein soll.

»Aber was ist der Boy gegen den Koch!« jammerte der lustige Herr. »Wohl
kann er im letzten Augenblick und ohne vorherige Benachrichtigung ein
vorzügliches Mahl auf den Tisch stellen, indem er die Fleischspeise bei
Koch im Hause links und die Mehlspeise bei Koch im Hause rechts, und die
Suppe bei Koch im Hause gegenüber und vielleicht das Gemüse bei Koch im
Hause an der Ecke ausborgt, aber in die Küche durfte man nicht gehen, wenn
man nicht vor Ekel vergehen wollte. Nicht genug, daß der Boden an und für
sich an einen Stall weit eher als an einen Küchenboden erinnert,« sagte
unser Erzähler, »und die Bänke und Tische vor Schmutz geradezu kleben,
sind auch die Töpfe, Schüsseln, Teller und Pfannen oft mit einer dicken
Rinde von angebranntem Fett, Gemüseüberresten oder dergleichen bedeckt,
ohne daß es den Koch im geringsten stören würde. Wenn man ihm aber die
Schüssel hinhält und sagt, daß dieselbe nicht rein sei, so dreht er sie
erst ein paarmal gründlich in den eigenen schmutzigen Fingern hin und
her und stellt sie dann ruhig mit dem Bemerken nieder, daß sie noch lange
nicht schmutzig genug sei, um gewaschen werden zu müssen.«

Wie ich dabei an meine Mama dachte, sie, die über unsere alte und oft
nicht allzu saubere Köchin die Hände über dem Kopf zusammenschlug -- was
würde sie wohl sagen, wenn sie einen chinesischen Koch im Hause hätte?

»Sie können sich denken, meine Damen,« fuhr Herr Leghorn fort, »daß
so ein Koch auch mit der gleichen Reinlichkeit gekleidet ist, und daß
er seine Hände nur dann wäscht, wenn er sie vor Schmutz nicht mehr
frei bewegen kann. Gegen Messer, Gabeln und Löffel hat der Koch eine
unüberwindliche Abneigung, denn wozu hat ihn eine weise Vorsehung mit zehn
Fingern ausgestattet, wenn er sie nicht gebrauchen soll? Seine Pfote ist
das einzig geltende Thermometer, seine Zunge der Löffel, mit dem er die
Suppe herausschöpft und kostet. Er verdient sein Marktgeld ebensogut wie
die drallen Köchinnen in Europas Großstädten, indem er das billigste
einkauft und die höchsten Preise anrechnet, oder indem er vom Gewicht
zurückbehält oder es sammelt, bis wieder ein Päckchen zusammengekommen
ist, das er dem Herrn dann als neueingekauft überreichen und anrechnen
kann.«

Die Damen und ich beklagten den armen Herrn Leghorn sehr, aber er lachte
nur und meinte, daß er ja bald aus dem ver....... Loch fortkommen werde
und ihm dieser Gedanke ein Trost sei.

»Und mein Wäschermann oder Waschmann, wie ich den Menschen wohl
nennen muß,« ergänzte Herr Leghorn seinen Bericht, »das ist der
fürchterlichste von ihnen allen. Er leiht meine Hemden und meine übrige
Unterwäsche minderbemittelten Menschenkindern und bringt sie mir dann
sehr schön zusammengefaltet wieder, so daß man die Löcher auf den ersten
Blick gar nicht wahrnimmt. Wirft man ihm aber so einen gemachten Schaden
auch vor, so sagt er nur: »Nichti ichi, seini Waschi dem haben so
gemachi.«

Wir lachten alle -- der gute Chinese redete sich auf das Präparat aus, das
er verwendete, um die Wäsche rein zu bekommen.

Noch eine geraume Weile dauerte das Gespräch fort, und erst beim Abschied
fragten mich die drei, wie ich selbst nach China gekommen wäre. Einige
Sekunden lang zögerte ich -- ich wußte, was mein Geständnis bedeuten
würde --, aber dann sagte ich mit Entschlossenheit:

»Ich bin die Frau Ming Tses, des Sohnes des hiesigen Bankdirektors!«

Jedes Lächeln, jedes Wohlwollen verschwand aus den Gesichtern der drei
Besucher, die über eine Stunde lang so vertraulich mit mir geplaudert
hatten. Man muß im Orient gelebt haben, um zu verstehen, was es bedeutet,
sich mit einem Eingeborenen vermählt zu haben. Man ist Paria, »=one
has lost caste=«, wie die Engländer sagen, und kann nicht mehr in seine
eigene Gesellschaft zurückkehren. Der Mann wird von seinen Angehörigen
angefeindet, die Europäerin aber, die es gewagt hat, einen Bund fürs
Leben mit einem Asiaten zu schließen, ist für immer aus dem Kreise
ihresgleichen ausgestoßen. Sie hat das Heiligste -- ihre eigene Rasse --
verraten, und unversöhnlich stellt sich ihr Geschlecht ihr gegenüber.
Mit einem leichten Kopfnicken verschwanden die drei Gäste und ich blieb
zurück, vermieden und geächtet wie ein Aussatzkranker.

       *       *       *       *       *

Neujahr, welches in China einen Monat später als in Europa anbricht, war
nun vor der Tür. Die Amtssiegel und alles Amtspapier war versiegelt worden
und durfte erst nach den Neujahrsfeierlichkeiten wieder gebraucht werden,
alle Wohnungen wurden gründlich gereinigt, und selbst in der elendesten
Kulihütte, wo nur ein schmutziges Loch mit einigen Decken und Kisten das
ganze Hausgerät bildete, wurde mit Wasser gewüstet wie nie sonst. Haus
und Menschen mußten rein sein, wenn die Jahreswende mit ihrem Segen sich
näherte. Von allen Haustüren hingen rote Papierstreifen mit »Fu«
in großen Zeichen, was »Glück« bedeutet. Um diese Zeit müssen alle
Schulden bezahlt werden, und wehe dem Unglücklichen, der nicht imstande
ist, es zu tun. Da kommen die Gläubiger und legen Beschlag auf sein Haus
und lassen, was dem Chinesen schrecklicher dünkt, in der Neujahrsnacht
die Haustür offen stehen, durch die alle bösen Geister und Dämone in das
Haus eindringen und sich dort niederlassen, den Bewohnern allerlei Unglück
mitbringend. Am Neujahrsmorgen erhält jedes Kind zwei neue Winter- und
zwei neue Sommerkleider, und jeder ältere Bruder muß dem jüngeren
ebenfalls ein Geschenk machen, während dieser wieder an die noch jüngeren
Familienmitglieder, wie z. B. an seine Neffen, ein Geschenk weitergehen
lassen muß. Alle Bekannten gehen in ihren besten Kleidern zu allen
Verwandten und allen Bekannten, so daß alle Menschen vom ärmsten bis zum
reichsten auf der Gasse anzutreffen sind.

Dies ist auch die beste Zeit zum Drachenfliegen, und Li Bai war ganz selig,
weil wir zwei wunderschöne Seidendrachen hatten -- der eine davon stellte
ein Haus, der andere eine riesige Schlange vor --, die am Abend und an den
folgenden Tagen steigen sollten.

Es ist mir oft aufgefallen, wie sehr die Chinesen und auch die Japaner an
den allereinfachsten, ja an geradezu kindlichen Vergnügungen und Spielen
ihre allergrößte Freude finden. Selbst der ehrwürdige Mandarin, der
täglich viele hunderttausend Mark durch seine Hände gleiten ließ und
dessen Lippen oft ein strenges Urteil über einen Verbrecher aussprachen,
selbst er freute sich über den Anblick des Drachen, als dieser stolz in
die Lüfte flog, und Li Bai war so eifrig, daß er sich kaum Zeit zum Essen
gab. Wirklich alte Chinesen, die ihre Urgroßenkel bei sich hatten, sahen
zu den Drachen auf und freuten sich über den Fall des einen und den
Flug des anderen wie muntere Schuljungen und erinnerten mich auch an die
erregten Zuschauer bei einem europäischen Pferderennen oder einer Regatta.

Selbst die chinesische Bühne, die wirklich für unsere Begriffe sehr
langweilig und unschön ist, und bei der die Phantasie des Zuschauers
fast alles Fehlende ersetzen muß, erfreut mit ihren fast kindlichen
Darstellungen die Chinesen. Frauen als Schauspielerinnen gibt es nicht, und
die jungen bartlosen Chinesen ersetzen ganz gut das fehlende Geschlecht,
aber die lärmenden Musikanten und die übereinfache Bühnenausstattung
macht jeden Theatergang uns Europäern eher zu einer Folter als zu einem
Vergnügen.

Unserer Musik und unserer Bühne sind dagegen die Orientalen ebenso
feindlich gestimmt. Ihnen erscheint unsere Musik ebenso tonlos und unschön
wie uns die ihrige, und unser Theater interessiert sie nicht. In Berlin hat
mich ein junger Japaner in die Oper begleitet, mich aber schon vor Beginn
der Vorstellung gebeten, freundlichst zu entschuldigen, wenn er gleich
einschlafen würde, und das tat er auch, bevor die göttlichsten Arien
zwei Minuten lang das Haus erfüllt hatten. Er schlief still und diskret --
nicht etwa mit tiefem Schnarchen, wie es eine charakteristische Eigenschaft
der meisten Europäer ist --, aber er schlief fest und ruhig, bis der
Vorhang fiel und das erste Stück ausgespielt war. Im zweiten Stücke
wechselte die Szene ununterbrochen, da ein frecher Räuber verfolgt wurde,
und das gefiel meinem orientalischen Freunde so gut, daß er gar nicht mehr
an das Einschlafen dachte, sondern lebhaft mitlachte, sobald die Polizei
dem Flüchtling nahekam oder er ihnen entwich. Das Mittelmäßigere vom
künstlerischen Standpunkt, aber das dem kindlichen Gemüte Näherliegende
erfreut sich des vollen Beifalls des fernen Asiaten. Indier dagegen lieben
das Mystische, das Erhabene.

Trotz der starken Kälte standen wir den größten Teil des Tages auf der
Straße, um die unzähligen Drachen steigen zu sehen, von denen einige
wie ein Haus, andere wie Tiere, andere wie große Blumen aussahen, und die
ebenso, wie in Nizza die blumenbekränzten Wagen beim Blumenkorso, Anlaß
zu Prahlerei gaben; denn so ein Seidendrachen kann oft sehr kostspielig
sein.

Am lebhaftesten ging es gegen Abend zu. Da erschütterten Knallerbsen das
Trommelfell, Stimmen schwirrten durcheinander, Raketen flogen in die Luft,
rote Bänder und Papierstreifen wurden geschwenkt, Musikanten schlugen mit
bewundernswerter Ausdauer und Unerschrockenheit auf die Trommeln, andere
Berufsgenossen stießen in die schrillen Trompeten, Kinder rannten einem
zwischen die Beine und schrien aus vollen Lungen, Feuerwerke wurden
abgebrannt und überall wohlriechende Holzarten in Brand gesetzt. Das
einzig Hübsche an dem Ganzen schienen mir die unzähligen Lampions, die
um alle Häuser befestigt waren und dem Beschauer auch aus jedem Hause
entgegenleuchteten. Sie hatten verschiedene Farben, doch wurde hellrot
bevorzugt, und die meisten hatten »Glück« darauf geschrieben.

Auch für den Magen war gut gesorgt worden. Berge von Kuchen aller Art
standen bereit, und meine kleinen gelben Nichtchen und Neffen leisteten
in der Unterbringung dieser Ware Unglaubliches, indessen bemerkte ich mit
Bedauern, daß sich die Nichten erst dem »Kuchentroge« nähern durften,
nachdem die gnädigen großen Brüder abgespeist hatten. --

Es mochte etwa Mitte Februar sein. Li Bai war vierzehn Tage abwesend
gewesen, und wenn ich auch in der furchtbaren Kälte nicht zur Bank gehen
durfte, fühlte ich mich doch nicht so verlassen, als ich gefürchtet
hatte, denn der Mandarin schickte mir die Maschine in meine Wohnung, und
so konnte ich den ganzen Tag lang auf ihr herumklappern -- zuerst um
Geschäftsbriefe zu verfassen und sodann um Briefe an Jenny zu schreiben
und dem Doktor für seinen Brief zu danken.

Er hatte von einer Auflösung der Verlobung nichts hören wollen und dankte
mir in warmen Worten, mich seiner und Jennys so freundlich angenommen zu
haben, bat mich, sein Heim immer als das meine anzusehen und teilte mir
mit, daß Jenny schon Ende Januar seine Gattin werden würde.

Den Brief erhielt ich verspätet, da man mir in der Abwesenheit meines
Gatten nie Briefe aushändigte und mir auch nicht gestattete, irgendwelche
abzusenden, so lange Li Bai nicht in Tientsin war. Trotzdem gelang es mir
hie und da ihre Wachsamkeit zu täuschen und es schien mir fast, als ob der
Mandarin mir selbst dazu verhelfen wollte, wenigstens war er es, der mich
immer gegen die Ränke seiner rechtmäßigen Frau zu schützen verstand.

Sie ließ mich wenigstens einmal die Woche durch ihre Schwiegertochter
fragen -- oder fragte wohl manchmal auch selbst --, ob ich von den
Göttern verlassen wäre oder ob ich auf etwas Herrliches Aussicht zu
hoffen hätte.

Nun hatte ich gegen meine Ueberzeugung schon mehrmals gesagt, daß mich
die Götter nicht mochten und ich nichts zu hoffen hatte, nun aber war ein
solches Schweigen nicht länger möglich. Wie weit ich meine Kleider auch
sein ließ, sie verschwiegen meinen Zustand nicht länger, und als daher Li
Bai heimkehrte, teilte ich ihm mit, daß er in wenigen Monaten Vater sein
würde.

Wie groß die Liebe der Chinesen für Kinder ist! Wir waren uns schon
ganz fremd geworden, Li Bai und ich, und ich wußte, daß er es mit der
ehelichen Treue gar nicht so genau nahm, wie streng die Strafen für so ein
Vergehen auch seien. Der Ehebruch wird eigentlich immer nur bei der
Frau gestraft, der ihr Gatte, falls er sie bei der Tat ertappt, den
Kopf abschneiden darf, um ihn zusammen mit dem Kopfe des Liebhabers
zum Magistrat zu bringen, wo er für diese tugendhafte Tat nicht nur
freigesprochen, sondern noch belobt wird. Jetzt flammte in ihm plötzlich
etwas von alter Zuneigung auf, und er wurde wieder genau so aufmerksam wie
vorher -- in mancher Hinsicht zärtlicher, als er es je gewesen.

Auch meine gelbe Schwiegermama setzte ein bedeutend freundlicheres
Gesicht auf, schickte besondere Speisen zu mir, sorgte doppelt für meine
Bequemlichkeit und erteilte Li Bai allerlei gute Ratschläge. Der Zauberer
wurde geholt um auszurechnen, an welchem Tage der neue Weltbürger seinen
Einzug halten würde, und aller denkbarer Hokuspokus wurde getrieben, was
ich ruhig geschehen ließ, nur eins verlangte ich: Ich wollte rechtzeitig
in das englische Spital gebracht werden, um dort nach unserer Art gepflegt
zu werden, da mir der Gedanke, dann von Chinesinnen umgeben zu sein, ganz
unerträglich war. Da ich Li Bais Versprechen kaum traute, wandte ich mich
direkt an den Mandarin, der gegen eine Uebersiedlung in das Krankenhaus
war, mir aber gelobte, eine »Nurse« oder Pflegerin von dort aufzunehmen
und den europäischen Arzt zu verständigen, und mehr konnte ich nicht
erwarten.

So weit weg von der Heimat, unter so ganz veränderten Verhältnissen
sollte ich einem Wesen das Leben geben? Ich würde nun auf immer an Li Bai
gebunden sein -- auf immer, denn ist in China die Scheidung leicht, wenn
man keine Kinder hat, so wird sie geradezu unmöglich, wenn Nachkommen da
sind. Wohl könnte ich in einem anderen Hause wohnen, mich aber nie von
China entfernen, da die Regierung nur höchst ungern gestattet, daß
irgendein Untertan das Reich verläßt. Nun war ich auf immer verdammt, in
diesem lieblosen Lande zu verweilen, aber Li Bais neuerwachte Zärtlichkeit
und jenes Glücksgefühl, das jede Mutter auch unter den traurigsten
Umständen durchströmt, brachte Freude auch in meine freudlose Existenz im
Reiche der himmlischen Mitte.

Die Silberkette wurde schon gekauft, die man dem kleinen Weltbürger
(wenn es ein Sohn sein sollte) umgeben würde, die er sein Leben lang
in Erinnerung an seine Mutter trägt und die am Hochzeitstage mit einer
goldenen vertauscht wird. Für Mädchen trifft man keine Vorbereitungen
-- Mädchen zählen nicht --, und während ein Sohn mit einem Edelsteine
verglichen wird, beschreibt man ein Mädchen als wertlosen Ziegelstein. Die
guten Chinesen vergessen, daß ohne Ziegelsteine keine Edelsteine in China
wären.

Jeden Abend zauberte Li Bai zu meiner Unterhaltung herum und setzte
geheimnisvolle Mienen auf, sooft er sich mir näherte oder um mich
herumging.

»Was tust du, Li Bai?« fragte ich lachend.

»Ich zaubere, damit du einen Knaben bekommst und nicht etwa ein
Mädchen,« erwiderte er ganz überzeugt.

»Wie er wohl aussehen wird?« meinte ich nachdenklich. »Am Ende ist es
ein Ausbund der Häßlichkeit.«

»_Mein_ Sohn?« fragte Li Bai hocherstaunt. »Ich habe ihn gemacht,«
setzte er stolz hinzu, und damit hatte er jede Zumutung über sekundären
Erfolg zurückgewiesen. Sein Sohn konnte nur ein Prachtwerk sein. Wie ich
lachte. --

Die angenehmen, heiteren Stunden waren zurückgekehrt. Mußte ich jetzt
auch stillsitzen, so tat doch Li Bai viel, um mich zu unterhalten und
fügte sich sehr oft meinen Wünschen da, wo er es vorher nie getan hätte.
Leider dauerte dies nur etwa einen Monat, dann trat ein alter chinesischer
Brauch trennend zwischen uns.

Eines Tages merkte ich, daß Li Bais Bett entfernt wurde. Ich war
unbeschreiblich erstaunt und öffnete meine Augen so weit es ging, indem
ich vergeblich versuchte, den Grund dieses Gebarens zu erfahren.

Meine Schwiegermutter legte ihren Arm um mich -- wohl um mich zu beruhigen,
aber nervös, wie ich war, begann ich laut zu weinen, und endlich kam Li
Bai und versicherte mir, daß wir nach chinesischem Brauche nicht länger
zusammen wohnen dürften, da es dem Sprößling schaden könnte.

Wie ich mich wehrte, so mutterseelenallein gelassen zu werden, wie oftmal
ich unter Tränen Li Bai bat, meine europäische Abstammung in Betracht zu
ziehen, wie zärtlich forderte ich ihn auf, meinen Bitten nachzugeben und
einen eigenen Haushalt zu gründen, wo ich nicht unausgesetzt von seiner
Familie verfolgt werden würde. -- Umsonst! Li Bai küßte mich, versprach
alles mögliche und -- verließ noch am selben Tage Tientsin, um in
Geschäftsreisen oder angeblichen Geschäftsreisen einige Wochen fern zu
bleiben.

Gerade um diese Zeit verträgt eine Frau am wenigsten das Alleinsein. Was
Wunder, daß ich Tag und Nacht weinte, da ich immer stärker unter dem
Heimweh litt, und als der Mandarin mich eine Woche nach Li Bais Abreise
sah, war ich so mager geworden und sah so schlecht aus, daß er den
Sohn sofort zurückkehren ließ -- vielleicht weniger um meine Pein zu
vermindern, als aus Furcht, es könnte dem künftigen Träger des Namens
Ming Tse schaden oder seine Ankunft gar vereiteln. Genug! Eine Woche
später wohnte Li Bai trotz aller chinesischen Sitten wieder mit mir unter
einem Dache.

Der Frühling war ins Land gezogen und alle die Zwergbäumchen in dem
großen Garten waren in Blüte, die Brücken leuchteten in ihrem zarten
Weiß und die Sonne spiegelte sich funkelnd in den zahllosen kleinen
Bassins, die sehr geschmackvoll angelegt waren. Schlanke orientalische
Bäume standen im Hintergrund der Parkanlagen und warfen ihren Schatten
über einen Weiher, über den auch eine zartgeschwungene Holzbogenbrücke
führte, und der, wie gering auch sein Durchmesser war, doch eine
beträchtliche Tiefe besaß und den Kindern im Sommer als Schwimmplatz
diente.

Unter diesen hohen Bäumen verträumte ich manche Stunde mit einem Buche
oder mit einer der kleinen Nichtchen an meiner Seite, die in eintönigen
Reimen, halb singend, halb sprechend, ihre Schulaufgaben aufsagte. In der
Familie des Mandarins studierten auch die Mädchen, wenngleich die Knaben
nicht damit einverstanden waren.

Alles was die Kinder können und wissen mußten, wurde auswendig gelernt
und gesungen. Nichts Geisttötenderes als so ein chinesischer Unterricht,
wo die Kinder von acht Uhr früh bis zum Sonnenuntergang in der Schule
weilen mußten, wo man sie zuerst das Zeichen ordentlich zu schreiben
lehrte, dann dessen Aussprache, hierauf die Bedeutung des Wortes und
endlich seinen Wert im Satze. So wurde langsam der ganze Konfuzius
auswendig gelernt, der allerdings die wichtigsten sittlichen Gesetze
enthält, über Rechtswissenschaft und die Pflicht von Königen spricht,
die genauen Zeremonien für jeden wichtigen Moment im Leben vorschreibt,
über chinesische Geschichte teilweise Aufklärung gibt, aber über die
augenblicklich notwendig gewordenen Kenntnisse, wie allgemeine Geographie,
Physik, Geometrie usw. gar keine Aufschlüsse erteilt, den Schüler nie zum
Denken anregt. So stellt dieser Unterricht eigentlich nur ein mechanisches
Auswendiglernen dar. Dennoch wird an diesem Plane auch für die großen
literarischen Wettprüfungen festgehalten.

Der arme Chung-Fu, der Jenny immer noch nicht vergessen und mir ebensowenig
verziehen hatte, kam im April zur Prüfung und erzählte bei seiner
Heimkehr von den mitgemachten Leiden.

Die Prüfungsgebäude in Peking umfassen eine ganze eigene Stadt und jedem
Kandidaten wird eine eigene Zelle angewiesen, in der ein Brett an der
linken Wand das Bett und den Stuhl vorstellt und ein Brett, etwas höher
an der rechten Wand befestigt, den Tisch ersetzen muß. Jeder Kandidat muß
Kerzen und Lebensmittel mitbringen, aber weder Bücher noch Papier dürfen
mitgenommen werden. Jeder Kandidat wird bei seinen Namen aufgerufen,
erhält eine Nummer, muß sich von Kopf bis zu den Füßen genau
untersuchen lassen, damit auch nicht ein Stück Papier unerlaubterweise
eingeschwärzt wird, bekommt hierauf Papier, Tusche und einen Pinsel
und darf an dem Kanzler und dem Vizekanzler vorbei in das Reich der
Prüfungsräumlichkeiten wandern.

Sind erst alle Kandidaten aufgerufen worden und in ihre Zellen
verschwunden, so wird die Pforte feierlich versiegelt, einige
Räucherstäbchen verbrannt, damit die bösen Geister draußen bleiben
müssen, und sobald dies geschehen, kann niemand mehr hinein und niemand
mehr heraus. Drei Fragen werden gestellt und drei Tage und drei Nächte
arbeiten die Kandidaten ununterbrochen, dann muß die Arbeit abgegeben
werden; ein Ruhetag entsteht und dann kommen wieder drei Fragen und drei
Tage Beantwortungszeit und wieder ein Ruhetag und sodann wiederholt sich
dieser Vorgang zum dritten und letztem Male.

Da sollen Männer bis über achtzig Jahre und schwache Jünglinge von
zwanzig Jahren zu sehen sein, und bei dieser furchtbaren Anstrengung ist
es kein Wunder, daß viele junge Leute irrsinnig werden oder sterben. Aber
auch dann wird die Tür nicht geöffnet, sondern man wirft die Leichen
einfach über die Mauer zu der vor ihr harrenden Menge.

Chung-Fu, der über seinen Erfolg sehr stolz war, erklärte den Tod der
unglücklichen Kandidaten indessen auf ganz andere und abergläubische
Weise. Die Geister, d. h. die uns stetig umgebenden bösen Geister dürfen
nicht zulassen, daß eine böse Handlung ungestraft dahingeht und ein
Bösewicht ein Mandarin wird. Hat ein Kandidat daher einen Mord auf dem
Gewissen, so schleicht der Geist des ruhelosen Ermordeten im letzten
Augenblick vor der Torschließung in die Prüfungsstadt hinein und sucht in
den Zellen nach seinem Mörder. Trifft er ihn endlich, so verwandelt sich
das gelbe Licht der Kerze langsam in ein grünes Licht und der Kandidat
weiß, daß der Geist gekommen ist, um ihn zu erwürgen. Kein Schreien,
keine Flucht kann ihn retten. Der Geist erwürgt ihn auf der Stelle und der
Tote wird über die Mauer geworfen.

       *       *       *       *       *

An einem herrlichen Maiabende sah ich meine älteste Nichte, ein Mädchen
von etwa vierzehn Jahren, unter den Bäumen liegen und schlafen und
wunderte mich, als ich sah, daß Li Bais Mutter auf sie zueilte und sie mit
sich fort in das Haus zog, scheinbar böse, die arme Kleine dort gefunden
zu haben.

»Warum wollte deine Mutter nicht, daß Pe-Niu unter den Bäumen schlafen
soll? Es ist ja so schön dort draußen und hier ist es schwül und
drückend!« fragte ich.

»Pe-Niu ist ein Mädchen und ein junges Mädchen darf nicht im Freien
unter Bäumen einschlafen,« belehrte mich Li Bai. »Tut sie es, so kommt
ein Vampir, und dann hat sie ein Kind, das weder ein Mensch noch ein Tier
ist,« fügte er ganz ernsthaft hinzu.

»Li Bai, das glaubst du doch nicht?« rief ich verwundert, aber mein
kleiner Chinese schüttelte nur den Kopf und meinte, daß ich nicht lachen
sollte über Sachen, die ich nicht verstünde.

An Dämone und Vampire glauben Chinesen, wie die Katholiken an die
Heiligen.



    =Barnets smil og glaede söd
    er som livet uten død.
    Barnesmil og barnetro
    bygger over døden bro.=

      =Norwegisches Lied.=

XVI.


Langsam verstrichen die Wochen, sie glitten fast unbemerkt an mir vorbei,
die ich leidend auf den Kissen meines Lagers lag und die Zeit herbeisehnte,
wo ein kleines süßes Wesen die gefürchtete Einsamkeit auf immer von mir
nehmen würde. Li Bai war aufmerksam gegen mich, aber wie verschieden
von den Männern des fernen Okzidents! Wie unempfindlich gegen die
körperlichen Leiden seiner Mitmenschen, wie verständnislos gegen jedes
tiefere seelische Weh. Er konnte kindlich heiter oder männlich brutal sein
-- Mann in des Wortes schönster Bedeutung war er nie.

Jenny schrieb mir oft. Sie war mit dem Doktor verheiratet und im zehnten
Himmel oder so klang es wenigstens aus ihren Zeilen heraus. Ich gönnte
dem Kinde sein reines Glück, aber ich vermochte nicht ganz die Frage zu
unterdrücken, warum Jennys Geschick so viel, viel lichter als das
meinige sein durfte, warum ich immer nur Pech, sie immer nur Glück hatte?
Hunderterlei philosophische Betrachtungen ließen sich daran knüpfen und
doch wollte mich keine Antwort befriedigen. Wieviel glücklicher als wir
Menschen waren die elenden Raupen, auf die wir doch nur mit Verachtung
herabsahen! Jede hatte dieselben Lebensberechtigungen und genoß dieselben
Freuden wie ihre Nachbarin, kein weniger vorteilhaftes Aeußere
schnitt ihre Glückschancen jäh ab, keine Gewissensbisse konnten eine
Raupenexistenz trüben, keine leidenschaftlichen Wünsche ein Raupeninneres
erzittern machen, es sei denn der Wunsch, ein saftiges Blatt zu verspeisen.
Hatte eine Raupe einen Baum voll solcher Blätter gefunden, konnten die
anderen gewiß sein, auch auf denselben Baum klettern zu dürfen. Mein
ewig forschender Geist versuchte und versuchte immer vergeblich das Rätsel
unseres Seins zu lösen. Li Bai litt nie unter dieserlei Gedanken, ihm war
alles gleich, wenn er nur hübsche Kleider, Geld, genug Speise und Trank
und -- Mädchen hatte, alles andere hatte keine Bedeutung für ihn.

Nur ein Ereignis aus dieser Zeit steht klar vor meinen Blicken. Unser
Nachbar, Herr Liang Tse, wurde plötzlich zu seinen Vorfahren einberufen,
und da er nicht nur ein alter Nachbar, sondern auch ein guter Freund des
Mandarins war, nahm unsere ganze Familie regen Anteil an dem Unglücksfall.
Unter reger Teilnahme darf man nun freilich nicht unser europäisches
Mitleid verstehen -- so etwas kennt ein Chinese nicht --, wohl aber ein
Sichwichtigmachen und ununterbrochenes Hin- und Herlaufen zwischen unserem
Hause und dem Sterbehause der Liang Tses.

Sieben Tage lang darf nämlich daheim nichts gekocht werden, und daher
bringen alle Nachbarn die nötigen Lebensmittel in das Sterbehaus, die
aber nicht mit den Speisestäbchen, sondern nur mit den Fingern in den
Mund befördert werden. Wenn man bedenkt, daß die Vorschrift ebenfalls
befiehlt, daß man sich in der Zeit weder waschen noch die Haare schneiden,
noch die Nägel verkürzen soll, so wird man leicht begreifen, wie
unendlich appetitlich so eine Hand am siebenten Tag aussieht -- für
europäische Begriffe natürlich, denn ein Chinese sieht nicht den Schmutz,
sondern lediglich die große Trauer der Hinterbliebenen in einer solchen
Handlung.

Die weiblichen Familienmitglieder müssen Tag und Nacht bei der Leiche
bleiben, und alle müssen so laut als möglich ihre Klagen gegen den Himmel
(oder die Zimmerdecke) schreien. Wer das Sterbezimmer betritt, muß auf
Händen und Füßen herankriechen, um den Toten die gebührende Ehre zu
zeigen. Parte werden auf braunem Papier geschrieben und durch die Neffen
oder Enkel des Dahingeschiedenen in die Häuser aller Bekannten geschickt,
aber man erwartet auch eine gewisse Belohnung für solche Aufmerksamkeit.
Die so mit Parte bedachten Personen geben meist den Kindern einige
Geldstücke, die beitragen, die hohen Begräbniskosten zu decken, denn so
eine Beerdigung eines Hausvaters ist eine sehr kostspielige Sache in einem
Lande, wo man den Toten viel mehr Ehren zollt als den Lebendigen.

Der Sarg allein, der mindestens so groß wie ein kleines Zimmer ist und
aus dem dicksten Mahagoniholz sein muß, kostet sehr viel Geld und wird oft
schon viele Jahre vor seinem Ableben von dem Manne selbst gekauft und nach
und nach abgezahlt. In der Mitte dieser großen Kiste ist eine Oeffnung,
groß genug, den Toten bequem ruhen zu lassen, rund um diese
Vertiefung aber befinden sich allerlei Fächer, in die alle Kleider,
Schmuckgegenstände usw. des Verstorbenen gelegt werden und die ihn in das
Grab hinabbegleiten. Damit ist aber lange nicht genügt. Täglich müssen
eine große Anzahl Räucherkerzen und wohlriechendes Holz verbrannt werden
und der Tote darf nicht früher der Erde übergeben werden, bevor der
Zauberer nicht den richtigen Platz gefunden hat, was oft recht viele Tage
in Anspruch nimmt; ferner muß die Familie weiße Trauerkleider haben,
die sie jedoch schon nach der Beerdigung gegen dunkelblaue (Halbtrauer)
umtauschen können. Alle roten Papierstreifen im Hause müssen entfernt
und diese durch weiße ersetzt werden, was alles viel Geld kostet; aber am
meisten kostet wohl der lange Trauerzug.

Die Leiche wird mit einer Schicht Baumwolle umgeben und sodann der Sarg
sorgfältig verklebt, damit auch nicht die allergeringste Spalte bleibt.
Ist dies geschehen, so trägt man den Sarg, den zwanzig Männer kaum heben
können, über die Schwelle und der Trauerzug setzt sich in Bewegung.
Voran tragen Chinesen allerlei Nachahmungen von Dienern und Dienerinnen auf
Papier, wie auch von Tieren, Hausgeräten aller Art, von Kleidungsstücken
und ähnlichen Sachen, die alle auf dem Grabe feierlich verbrannt werden
und mit denen sich der Geist in der nächsten Welt seinen neuen Haushalt
gründet. Papierene Gold- und Silbermünzen werden auf den Weg gestreut,
damit die Dämone über sie herfallen und den Toten unbeachtet lassen.
Viele Räucherkerzen und Papiere werden unterwegs und auf dem Grabe
verbrannt, und die Leidtragenden stimmen die ohrenzerreißendsten
Klagegesänge an. Die Söhne des Dahingeschiedenen müssen immer von zwei
Chinesen unter den Armen gehalten werden, weil man annimmt, daß sie vor
lauter Gram und Kummer nicht gehen können, aber in Wirklichkeit ist ihr
Schmerz keineswegs allzu groß. Wirft sich gar ein Sohn in den Staub,
um darin herumzurollen und Jammerlaute auszustoßen, so muß der Zug
stehenbleiben, bis der Mustersohn sich wieder gefaßt hat, und so eine
öffentliche Kummerbezeugung wird ihm sehr hoch angerechnet. Bei den
Chinesen mehr als bei allen anderen Völkern gilt überall und vor allem
der Schein.

Am Grabe angekommen, das fast durchwegs die Form eines Hufeisens hat und
das immer bewacht ist, da die großen mitversenkten Schätze die Banditen
sehr anlocken, werden alle nachgeahmten Tiere, Diener, Hausgeräte usw.
verbrannt, Räucherkerzen ebenfalls, das Jammergeschrei der Leidtragenden
muß meilenweit hörbar sein und dann erst darf man an den Rückmarsch
denken. Fahren darf niemand und da oft ein Beerdigungsplatz viele Stunden
weit entfernt liegt, kommen die Leidtragenden mehr tot als lebendig heim.
Aber was tut's? Sie haben ihre Pflicht erfüllt und ein schönes Beispiel
kindlicher Liebe und Hingebung gegeben.

Hundert Tage nach dem Sterbetag des Vaters wird seine Namenstafel dem
Hausaltare eingefügt, vor dem der jetzige Hausherr täglich seinen Kotau
machen muß, und damit ist die Geschichte erledigt. Nein, nicht ganz! Denn
drei Jahre lang sollen die Kinder Trauer tragen und in der Zeit dürfen
sie keine Ehen schließen. Man beschränkt die Trauerzeit jedoch heutzutage
meist auf zweieinviertel Jahr, was noch immerhin sehr lange für unsere
Begriffe ist.

Li Bai, der sich vor dem Tode sehr fürchtete und mir oft sagte, daß er
lieber ein blinder lahmer Krüppel sein würde als sterben zu wollen, war
durch dieses Ereignis sehr niedergedrückt und bekam einen bösen Anfall
nach dem anderen, was natürlich in Grausamkeiten, wenn nicht in Werken,
so doch in Worten, mir gegenüber sein Ende nahm. Auch war er von
beispiellosem Aberglauben.

»Wenn eine Katze auf dem Dache oberhalb des Sterbezimmers ist und ein
Hund unter das Bett des Toten kriecht, so kann der Tote aufstehen und dann
tötet er alle, die er erreichen kann,« sagte er ganz überzeugt. »Und
daher muß immer ein Wächter das Dach bewachen und die Leute unten das
Eindringen eines Hundes verhüten,« er rückte mir ganz ängstlich näher,
»wenn es aber doch geschehen sollte, daß der Tote aufstehen kann, so muß
man ihm einen Stock in die Hand geben, da faßt er ihn gleich mit beiden
Armen und fällt um und dann kann man sich ihm ruhig nähern und ihn
zurück auf das Bett legen.«

Auch wußte er von Toten zu erzählen, die im Sarge laut geschrien hätten,
von Dämonen, die allerlei Unfug getrieben, weil man nicht Räucherkerzen
genug abgebrannt hatte, von Vampiren, die sich auf den Körper ihres
vorigen Feindes stürzten und sein Blut langsam aussaugten und vieles
dieser Art.

Grausame Geschichten gefallen dem chinesischen Temperament, grausame
Strafen zu ersinnen ist ihnen ein seelischer Hochgenuß. Li Bai konnte
ein wahres Vergnügen daran finden, mir trotz meines Zustandes von
Enthauptungen chinesischer Verbrecher zu erzählen und die furchtbare
Methode des langsamen Verbrennens einer Gattenmörderin zu beschreiben, der
man ein chemisches Präparat in Gestalt einer Stange in den Magen stößt,
das sie langsam innerlich verbrennt. Drei Tage und drei Nächte leidet das
Opfer die furchtbarsten Schmerzen, bevor endlich die Erlösung eintritt.
Die Folter wird noch allgemein angewendet und die verschiedenen Todesarten
sind allzu grausam, als daß ich sie hier beschreiben wollte. Sie scheinen
den Chinesen keineswegs zu hart und eins ist gewiß: Sie empfinden
körperlichen Schmerz nicht wie wir. Sie ertragen Foltern, die kein weißer
Mann aushalten könnte und sie verstümmeln absichtlich ihre Glieder,
brennen ohne Klagen ihre eigenen Augen aus oder schlagen sich mit einem
Stein Beulen auf den Kopf, um sich zum Bettlerfache auszubilden. Sie gehen
an menschlichem Elend mitleidslos vorüber, vielleicht weil oftmalige
Hungersnot, Seuchen und Ueberschwemmungen sie unempfindlicher gemacht
haben, sie sind heldenmütig im Ertragen ihrer Leiden und Krankheiten,
welche sie meist dem Einflusse böser Geister zuschreiben, und sie sind
kaltblütiger als wir. Ihre Moral ist nicht unsere Moral, ihre Neigungen
stimmen nicht mit den unsrigen überein. Sie sind fesselnde Bekanntschaften
und schlechte Verwandte; als Diener sind sie schweigsam, fleißig,
genügsam und ausdauernd, sehr schmutzig, unredlich und verlogen. In ihrer
Heimat sind sie ebenso gut, wie wir in der unsrigen, aber wie wir nicht zu
ihnen passen, passen auch sie nicht zu uns. Der Mond hat gewisse Vorzüge,
seine Schönheit und seinen Wert, aber er muß am Nachthimmel sich
zeigen. Vereint am Himmel können Sonne und Mond nicht stehen, ohne sich
gegenseitig allzusehr zu benachteiligen. Westen ist Westen und Osten ist
Osten, sagt Kipling, aber die beiden können sich nie treffen. -- Nein,
nie treffen in gleichen Anschauungen, gleichen Grundsätzen, gleichem Ziele
zusteuernd. --

Täglich trat bei Li Bai mehr und mehr der materialistische Zug seines
Wesens hervor, die Kopfschmerzen, die, wie wir endlich entdeckten, von dem
unsinnigen Brauch herrührten, sich eine schlanke Mitte zu schaffen und
zu erhalten, indem er einen breiten Ledergürtel straff über den Magen
spannte, nahmen immer zu und seine Wutausbrüche wurden nicht geringer.
Er sollte immer studieren, um im Herbst nach Europa zurückzukehren -- der
einzige Hoffnungsstrahl, der das grausige Dunkel meines Lebens erhellte
-- und dies wollte er nicht. Er liebte das tatenlose Dahinleben, das
Zeitvergeuden und die oberflächlichen Gespräche, die er mit seinen
Freunden pflegen konnte, und wollte auch, zu seiner Ehre sei es gesagt,
seiner Mutter gern als Schutz gegen die Konkubinen seines Vaters
zurückbleiben, aber der Mandarin übte seine ganze Strenge aus und ich
tat, was ich vermochte, um ihm den Uebergang vom Nichtstun zur Arbeit so
leicht als möglich zu gestalten.

Ein heißer, wolkenloser Junitag. Li Bai stand vor dem großen Spiegel in
der Ecke unseres Schlafgemachs und rasierte sich -- etwas, das er nie zu
tun versäumte, da er sich glühend einen Bart wünschte, der aber bei den
Chinesen selten vor dem Alter von vierzig Jahren sichtbar wird und daher,
weil ein Zeichen weiseren Alters, immer Ehrfurcht einflößt; aber obschon
er mir oft beteuerte, daß sich schon eine Unzahl Haare zeigten, muß
ich gestehen, daß ich nie den Schatten auch nur eines einzigen kleinen
Härleins entdecken konnte und sein Gesicht so glatt wie die reinste Haut
eines jungen Mädchens war.

Ich fühlte mich elend -- elend -- und doch hatte der Zauberer mir den
Storchbesuch erst für Anfang August angekündigt, aber jedenfalls
hatten die ununterbrochenen kleineren und größeren Aufregungen das ihre
beigetragen. Ich schrie auf und sank bewußtlos zurück.

Als ich die Augen wieder aufschlug, stand Li Bai über mich gebeugt da und
fragte, ob ich mich nicht ganz wohl fühlte.

»Li Bai,« sagte ich bittend, indem ich meine letzten Kräfte aufraffte,
»sende jemand in das englische Hospital.«

Einen Augenblick schien es, als wollte er Einwendungen machen, dann aber
mußte mein Aussehen wohl jeden Zweifel getilgt haben, denn er machte sich
daran auszugehen. Bevor er das Zimmer verließ, trat er noch einmal an mein
Lager, wo ich schweißbedeckt und stöhnend lag.

»Mutter wird bald kommen und die ›Nurse‹ auch,« sagte er, »und mach'
dir nichts daraus, wenn du ein paar Stunden große Schmerzen hast. Das ist
immer so.« Damit nahm er seinen Fächer und verschwand. --

Alles, was später geschah, schwebt mir eher als schrecklicher Traum vor,
nicht als Wirklichkeit. Ich litt furchtbar und, wie es mir deuchte, eine
Ewigkeit, aber es wird, wie Li Bai so anteilnehmend sagte, nur einige
Stunden gewesen sein. Man gab mir Chloroform und so oft ich meine Augen
öffnete, neigte eine freundliche blonde Krankenpflegerin sich über mich,
die mir zulächelte und mir meine Lage nach Kräften erleichterte und
ein dicker Doktor sprach ermutigende Worte -- dann -- dann -- sank ich in
langes, langes Vergessen zurück, aus dem ich nach Fieber und Leiden erst
drei Wochen später erwachte.

Die Sonne warf durch eine Spalte einen einzelnen Sonnenstrahl über
den dunklen Teppich, als ich wieder zu vollem Bewußtsein erwachte. Mir
gegenüber saß die Nurse und arbeitete an einer Stickerei. Sie stand
sofort auf und trat an das Lager.

»Wieder wohl und frisch?« lächelte sie.

»Nein,« entgegnete ich matt, »nur noch nicht tot.« Das Wort »frisch«
erschien mir der schrecklichste Hohn, war ich doch so schwach, daß es mich
Ueberwindung kostete, den Arm zu heben.

»Jetzt wird es schnell gehen und Sie werden zu Kräften gelangen,« sagte
sie liebenswürdig.

»Was ist mit mir geschehen?« fragte ich und erst dann kam volles
Verständnis für alles Vorgefallene zurück.

Die Nurse lächelte geheimnisvoll und eine Flut von neuem Empfinden
erwachte mit diesem Lächeln in mir.

»Mein Baby?« sagte ich und fühlte, wie jeder Blutstropfen mir zum Herzen
strömte.

»Ein Knabe!« sagte die Krankenpflegerin. »Er ist bei seiner Großmama.«

Gerade da kam Li Bai. Er neigte sich über mich mit derselben
gleichmütigen Höflichkeit, die ich so gut an ihm kannte -- ohne ein Wort
des Bedauerns, daß ich so sehr gelitten -- um seinetwillen gelitten --
hatte, ohne Zärtlichkeit dafür, daß er nun den erwünschten Erben
hatte. Ich hatte meine Schuldigkeit als Weibchen getan -- damit war alles
erledigt. --

»Siehst du,« sagte er stolz und triumphierend, »daß ich recht hatte!
Ich habe dir einen reizenden Sohn gegeben mit meinen Zaubereien, und du
kannst mir dankbar sein.«

Also die Dankesschuld war meinerseits??! -- Das beweist, daß jedes Ding
auf Erden von zwei Gesichtspunkten aus gesehen werden kann und man nur zu
wählen braucht, bis man den passenden findet.

Frau Ming Tse kam nun auch und in viele Seidentücher gehüllt, brachte
sie meinen kleinen Sohn, der ohne mein Wissen »Sing« genannt worden war,
dessen Horoskop aufgestellt wurde und der schon die Silberkette um den
Körper gewickelt trug, die ich allein ihm hätte geben sollen. In der Tat,
ich war Mutter nur in zweiter Linie in den Augen aller dieser Menschen.

Mit zitternden Händen griff ich begierig nach dem Bündel, das meinen
Schatz enthielt, und nun fielen meine Augen zum erstenmal auf das Wesen, um
dessentwillen ich so viel leiden mußte, das mir im fernen Land ein Trost
und eine Stütze werden sollte, ein Band vielleicht, das mir helfen würde,
wo alles andere mißlang, die Seele und das Herz meines chinesischen Gatten
zu finden oder zu erwecken.

Vor mir lag ein kleines Geschöpfchen mit weißer Gesichtsfarbe aber
ganz chinesischen Zügen. Die scharf geschlitzten Augen, die starken
Backenknochen und die flache Nase ohne richtige Nasenwurzel, Li Bais etwas
breite Lippen und sein straffes schwarzes Haar -- ja, Klein-Sing war ganz
und gar Chinese, trotz der Hautfarbe -- das einzige, was er von seiner
Mutter hatte. Würde seine Seele mir ähneln oder kalt und gefühllos wie
die Herzen der Chinesen sein? Jetzt hoben sich langsam die wimpernlosen
Lider und ein Paar nachtschwarze Aeuglein sahen mich verwundert an, dann
verzog sich das kleine Schnäuzchen meines Sohnes und Erben, und ein lautes
»Ä-ä« wurde hörbar. Ich hatte meine Mitmenschen, mein Vaterland, Li
Bai und alles vergessen. Ich dachte nur an das kleine Wesen, das hier
in meinen Armen lag und das so wunderschön -- oder so schien es mir --
»A-ä« sagte.

Die Schwiegermutter streckte ihre knochigen Hände nach der süßen Last
aus, aber ich preßte Sing fester an mich. Er war mein, ganz mein eigen und
niemand sollte ihn berühren.

Li Bai neigte sich über mich.

»Du wirst müde sein, Käthe, laß' Sing meiner Mutter. Sie hat ihn so
lieb.«

»Ich habe ihn auch lieb,« erwiderte ich und meine Augen funkelten, »und
Sing ist _mein_ Kind!«

»Gewiß,« sagte er finster, »aber auch das meine.« Damit ergriff er das
Bündel, das mir so viel Freude bereitete, wenn es mir auch nicht wie
mein Kind vorkam, dieser kleine, komische Chinese, den ich doch so innig
liebhaben wollte und so gern zu behalten wünschte, ergriff es und reichte
es seiner Mutter, die damit verschwand.

Ich legte mein Haupt müde auf die Kissen und fühlte, wie eine Träne nach
der anderen über meine eingefallenen Wangen rann. Die Nurse neigte sich
tröstend über mich. Li Bai war verschwunden.

»Ich hole es später wieder,« sagte sie leise, trocknete meine Tränen
ab und gab mir etwas zu trinken, woraufhin ich einschlief und die Gegenwart
vergaß.

Mama hatte sehr beglückt geschrieben -- Li Bai hatte ihr die Geburt meines
Sohnes telegraphisch mitgeteilt -- und Jenny bat mich, ihr den gelben
Neffen recht bald nach Europa zur Beschauung zu bringen. Sie war sehr
glücklich in ihrer Ehe und lebte mit dem Doktor von allen Tanten fern in
Mainz am schönen Rhein. Auch sie erwartete einen Erben und freute sich auf
das kommende Glück. Ach ja, sie würde ihr Kind auch für sich behalten
dürfen!

In der Nacht durfte ich Sing bei mir haben, und das Kind weinte nie. Früh
am Morgen kam die gefürchtete Schwiegermutter und trug es davon, und
den Rest des Tages verbrachten wir damit, das Kind uns gegenseitig
wegzustehlen. War Li Bai daheim, so war seine gleichförmige Bemerkung:

»Sie ist die Mutter -- wir sind nicht aus der Erde gekrochen, sondern eine
Mutter hat uns geboren; wir schulden ihr Achtung und Gehorsam, wenn sie
also Sing haben will, mußt du ihr das Kind lassen.«

Manchmal lehnte ich mich dagegen auf, manchmal ließ ich meinen Schatz
klaglos davontragen und die Mutter, die gewiß sah, daß ich unter der
Trennung mit Sing litt, tat was sie konnte, um ihn mir oft wegzunehmen.

Es mochten seit des Kleinen Geburt zehn Wochen vergangen sein, als der
Mandarin, der seinen Enkel auch manchmal auf die Arme nahm (denn Kinder
liebt man überall in China), zu mir kam, um mir einige wichtige Briefe
zur Beantwortung zu überreichen. Er fand mich nicht wie sonst lesend oder
studierend -- mein einziger Trost in meiner Verlassenheit --, sondern auf
dem Lager ausgestreckt, bitterlich weinend vor. Obschon er nicht danach
aussah, als ob er zu den Personen gehören würde, die Herzensergüsse mit
Verständnis entgegennehmen, vertraute ich ihm auf seine Frage nach meinem
Kummer doch an, daß wir in Europa gewöhnt sind, unsere Kinder selbst zu
haben, und daß ich mich so unendlich verlassen fühlte, da Li Bai immer
bei seiner Mutter, bei seinen Brüdern oder bei Freunden in Tientsin
weilte, ich meinerseits durch meine Ehe abgeschnitten von den Gefährten
meiner Rasse sei und so nicht mehr wisse, wie ich dieses Leben in tiefster
Einsamkeit aushalten solle.

Ich hatte erwartet, den Mandarin böse zu sehen, hatte selbst gedacht, daß
er mir geradeswegs sagen würde, ich könnte ja zu dem Mittel greifen,
zu dem so viele unglückliche Chinesinnen greifen mußten -- nämlich dem
Wasser, durch das der Rauch der langen chinesischen Pfeifen gezogen ist und
das, wie bitter es auch schmecken soll, doch unfehlbar zu einer Reisekarte
in die Ewigkeit verhilft.

Nichts Derartiges geschah. Ernst und nachdenklich ruhten seine Augen
auf mir, und nach einer kleinen Weile sagte er, wenn auch scheinbar ohne
Mitgefühl in seiner Stimme:

»Li Bai ist zu sehr Chinese, als daß er einer Europäerin einen guten
Gatten machen könnte!« meinte er kopfschüttelnd.

»Glauben Sie,« fragte er nach einer Pause, »daß Li Bai je das Doktorat
machen wird?«

»Nein!« sagte ich aufrichtig. »Er hat keinen Ehrgeiz, keinen Fleiß,
kein Interesse. Alle meine Bemühungen waren erfolglos!« gestand ich
geknickt.

»Dies war nicht Ihre Schuld!« entgegnete er. »Sie sollen nicht mehr so
lange allein sein!« sagte er sodann und ging.

Von da an durfte ich Sing den ganzen Vormittag behalten und am Abend
brachte man ihn mir schon früh, aber ich beobachtete, daß der Blick
meiner Schwiegermutter unendlich feindselig auf mir ruhte, wenn sie auch
nicht mehr wagte, Sing so lange wie früher von mir fernzuhalten. Ein
leises Grauen beschlich mich oft, wenn ich sie so lautlos herbeischleichen
sah und ihre ölige Stimme vernahm, die immer einige höfliche Erwiderungen
auf meinen tiefen Kotau hatte. Aeußerlich sprach nichts -- es sei denn das
unmerkliche Zucken um die Augen und Mundwinkel -- von ihrer Abneigung gegen
mich, aber eine Art sechster Sinn ließen mich diese ihre Gefühle wissen,
als ob sie es mir offen gesagt hätte.

Mit Hilfe Li Bais gelang es ihr noch an manchen Tagen, den Kleinen
fortzutragen, aber sie wagte nicht mehr sich zu weigern, ihn auszuliefern,
wenn ich nach einiger Zeit mit Kotau und höflicher Bitte meinen
Sprößling abholte. Sie reichte ihn mir mit den öligsten Worten und dem
verbindlichsten Lächeln, aber die wimperlosen Lider senkten sich über die
Augen, und die kleinen knochigen Hände ballten sich, als wollten sie einen
unsichtbaren Feind erwürgen.

Und Wochen kamen und gingen. Sie brachten mich immer näher dem Ereignis,
das für meine Zukunft entscheidend werden sollte.



[Illustration:

  A. F. Seebacher]



    =E vo' senza ba taglia e senza gloria
    E più non mi sorride il Dio d'un giorno.
    Dentro è gelo e infinita ombra intorno
    E sopita dei cieli è la memoria.=

      =Ada Negri.=

XVII.


Es war in den ersten Septembertagen. Die große Hitze war vorüber, aber
noch immer waren die Tage schwül, und es war angenehm, im Schatten der
Bäume am fernen Weiher zu liegen. Sing war seit ein paar Stunden bei
seiner Großmutter, da ich seit mehreren Tagen nicht wohl war. Ich konnte
keine Krankheitsanzeichen angeben, nur Müdigkeit, Unlust zu jeder Arbeit
und selbst zum Essen und Trinken. Li Bai war auf ein paar Tage verreist,
die Geschäftsbriefe hatte ich trotz meiner Ermattung schon am Morgen
vollendet, daher entschloß ich mich, in den Park zu gehen.

Als ich schon auf der Schwelle stand, kam die Dienerin meiner
Schwiegermutter und fragte mit ihrem ergebensten Lächeln und mit vielen
Demutsbezeugungen, ob ich nicht unter den schlanken Bambusrohren und den
Teakbäumen ein wenig ruhen wollte, und ich nickte zustimmend. Wohl war es
nicht mehr zu heiß in den Häusern selbst, aber etwas drückend war die
Atmosphäre noch immer, deshalb schritt ich trotz meiner unerklärlichen
Müdigkeit, die sich sogar auf mein Denkvermögen zu erstrecken begann,
rüstig auf den Weiher zu, wo mir der Schatten der fremdartigen
Sträucher in Herbstpracht entgegenschimmerte. Plötzlich fühlte ich eine
unüberwindliche Sehnsucht nach meinem Kinde in mir erwachen. Wenn ich den
kleinen weißen Chinesen -- dieses seltsame Gemisch des Ostens und Westens
-- in meinen Armen hielt, schien es mir oft, als ob dies nicht ein Teil
meines Selbst sein konnte. Da kam mir dieses fremdartige Wesen als etwas
nicht zu mir Gehöriges vor, aber wenn ich die Augen schloß und nur
sein weiches Gesichtchen an das meine preßte, da fühlte ich, wie ein
unbeschreiblicher Strom von ihm auf mich überging und eine tiefe Liebe
zu diesem Geschöpfchen in mir entbrannte. Vielleicht hatte er mein Wesen
geerbt -- oh, wie wunderschön wollte ich da seine Seele gestalten, voll
Poesie, voll Verständnis für alles Schöne, alles Edle, alles Hohe! Wie
wollte ich alles aufbieten, mir die Liebe meines Kindes zu sichern und ihm
alle meine Gedanken zu weihen. Bis jetzt hatte ich es nicht verstanden,
daß ein Weib Trost für alle Leiden in einem Kinde finden konnte, nun
dämmerte das Begreifen dieser Tatsache langsam in mir. Müde wie ich
war, schleppte ich mich, wie von einer inneren Macht gezogen, bis zu den
Gemächern meiner Schwiegermutter. Das Zimmer war wider Erwarten ganz leer
und nur auf der weichen Seidendecke lag etwas, was »ä-ä« sagte und
seine winzigen Fingerchen zu zählen schien.

»Sing!« rief ich und umschlang leidenschaftlich den gefundenen Schatz.
Niemand war anwesend, um ihn mir streitig zu machen, und ihn auf und ab
schaukelnd und Zukunftspläne entwerfend, gingen wir, besser ging ich
auf den Weiher zu. Die Sonne stand schon tief im Westen und ihre letzten
Strahlen vergoldeten mit magischen Farbenspiegelungen das bunte Laub der
Bäume. War es der Sonnenschein, war es meine Stimme, die immer wieder mit
steigender Zärtlichkeit seinen Namen rief, war es die Ahnung von etwas,
was außerhalb unseres alltäglichen Bewußtseins liegt -- Sing lächelte
mir zum erstenmal zu und streckte seine kleinen Aermchen mir entgegen. Ich
blieb stehen, hob ihn hoch zu mir empor und preßte sein Gesichtchen gegen
meine Lippen.

»Sing, Sing, mein Liebling!« flüsterte ich.

Die großen schwarzen Augen waren weit geöffnet und leuchteten seltsam,
die kleinen Händchen griffen nach meinen Haaren, meiner Nase und glitten
wie liebkosend über meine Wangen herab. Das kleine Mündchen lächelte,
und Laute, die unzweifelhaft etwas Liebes bedeuten sollten, kamen von den
dicken Lippen. Noch einmal küßte ich allen gelben Schwiegermüttern zum
Trotz das zarte Antlitz meines Sohnes, und dann schritt ich auf die kleine
gewölbte Brücke zu, die über den Weiher zu dem lauschigen Plätzchen
führte. Hinter mir hörte ich die Dienerin schreien, die immer
wiederholte:

»Sie hat das Kind! Sie hat das Kind!« was mich mit geheimer Genugtuung
erfüllte.

Nun hörte ich auch die Stimme meiner Schwiegermutter, die mir lebhaft
etwas zurief, aber ich nahm keine Notiz davon. Sie hatte mir selbst sagen
lassen, ich möge mich unter die Teakbäume legen und ausruhen, und es
konnte sie doch wahrlich nicht wundernehmen, wenn ich meinen Sohn mitnahm.
Warum schrie sie plötzlich so wild, ich solle umkehren?

»Ka, Ka,« hörte ich sie rufen (das war ihr Name für mich, der in der
Tat sehr chinesisch klang, wenn man ihn so veränderte), »bringe Sing
zurück. Bleib' stehen!« rief sie wieder auf Chinesisch.

»Sie denkt, sie kann mir mein Kind wegnehmen, weil der Mandarin abwesend
ist und Li Bai auch, aber darin soll sie sich irren. Ich behalte mein Kind
-- jetzt und in Zukunft!«

Hinter mir klang das eilige Laufen zweier Paare Füße, die mir mein
höchstes Gut entreißen wollten, oder so dachte ich, da mein Herz voll
Bitterkeit und Mißtrauen gegen meine Schwiegermutter war. Ohne mich
umzusehen und nur Sing liebend gegen mich drückend, betrat ich den
kleinen Steg. Mir deuchte, als hätte jemand hinter mir einen Schreckensruf
ausgestoßen, aber ich war meiner Sache nicht sicher und dachte, daß es
sich um einen Wutausbruch der Chinesin handelte. Doch als ich mich der
Mitte des Weihers näherte, fühlte ich, wie die Brücke langsam nachgab
und unter mir zusammensank.

Ein leichter Krach, ein gellender Aufschrei von meinen Lippen, der aus
zwei anderen Lippen ein Echo fand, und ich glitt hinunter in die Tiefe.
Verzweifelnde Anstrengungen machend, um die Oberfläche zu erreichen oder
doch das Kind über den Wasserspiegel zu heben, klammerte ich mich mit
der einen freien Hand fest an die Reste der eingebrochenen Brücke und
versuchte mich emporzuschwingen, doch vergeblich. Ein wahnsinniger
Schmerz im Fuß verhinderte mich daran. Ich hatte ihn zwischen ein Brett
hineingeklemmt und verstand plötzlich, daß ich nicht an die Oberfläche
gelangen konnte, daß man den Steg eigens hatte durchsägen lassen, um mich
durch einen »Unfall«, wie man am Konsulat melden würde, aus dem Leben
zu schaffen. Li Bai hatte einen Träger seines Namens -- die Mutter des
Kindes, die verhaßte Europäerin, sollte sterben.

Oh, die grausigen Sekunden, bevor ich ganz das Bewußtsein verlor, das
entsetzliche Verstehen, daß das zarte Kind in meinen Armen steif wurde,
daß dies Seelchen dahin zurückkehrte, woher es gekommen, eins wurde
mit Tao. Wenn Tao alles war, dieses langsame Hingleiten von heftigem
Todeskampfe in ruhigeres Hinsterben, das Rauschen in den Ohren, das dem
Sterbenden das Brausen der Todesschwingen zu sein scheint, und dann die
Nacht, die endlich Vergessen bringt. -- -- --

Als ich wieder zum Bewußtsein erwachte, lag ich auf dem Rasen am Rande des
Weihers, über mich neigte sich scheinbar gelassen und ruhig wie immer der
gestrenge Mandarin, und in den Armen hielt ich, noch immer leidenschaftlich
fest an mich gepreßt, Sing, mein totes Kind! Langsam fielen meine Arme
nieder, langsam schlossen sich die Lider aufs neue, die zu viel Elend
gesehen hatten, um mehr schauen zu wollen, und nur wie im Traume hörte
ich, wie der Mandarin zum englischen Arzte sagte:

»Sie hat das Bein gebrochen und soll in das Hospital gebracht werden!«

»Wäre sie nicht besser daheim aufgehoben als unter Fremden?« fragte der
Doktor sichtlich verwundert.

»Sie ist am besten bei Ihnen untergebracht!« entgegnete im selben
gelassenen Tone der Mandarin, aber ich hörte heraus, daß er den
teuflischen Plan durchschaut hatte und mich in Sicherheit zu bringen
wünschte.

Ich fühlte, wie man mich auf eine Tragbahre legte, dann schwanden mir die
Sinne. -- -- --

Sechs Wochen waren ins Land gezogen, die kalten Oktobertage senkten ihre
Nebelschleier auf Tientsin herab und ein feiner Regen schlug gegen die
Fenster des Saales, in welchem ich auf einem großen Bette lag und auf
meinen Fuß sah, der heute zum erstenmal aus dem Gipsverband genommen
worden war.

Ueber fünf Wochen hatte ich in heftigen Fieberphantasien gelegen und
nichts von dem gewußt, was draußen in der Welt vorgefallen war. Li Bai
war gestern zu mir gekommen, kalt und höflich wie immer vor allen Fremden,
und hatte sein Bedauern über mein »Mißgeschick«, wie er es nannte,
ausgedrückt. Ich hatte die Nurse gebeten, uns allein zu lassen, und ihm
dann alles so erzählt, wie es sich zugetragen hatte.

»Wir müssen eine eigene Wohnung haben, Li Bai!« sagte ich energisch.
»Der Arzt hat Vergiftungserscheinungen in mir entdeckt und ich weigere
mich, in das Haus deiner Mutter zurückzukehren!«

»Sie wird dir vergeben, wenn du sie um Verzeihung bittest!« sagte er.
»Sie ist gut.«

»Soll ich sie um Vergebung bitten, weil sie mich umbringen wollte?«
fragte ich und meine Augen blickten finster forschend in die meines Gatten.

Er schwieg und wandte sich ab.

»Soll ich mich entschuldigen, weil sie mein Kind getötet?« fragte ich
noch einmal, und selbst diese elende kleine Gestalt fuhr bei dem Tone
zusammen.

»Warum hast du ihr das Kind nicht gegeben, als sie es verlangt hat?«
fragte er mich, und einen böseren Blick habe ich nie in menschlichen Augen
gesehen.

Eine Pause entstand.

»Ich werde nie nach Europa zurückkehren,« warf er bitter hin, »und wenn
mein Vater mich noch so sehr zwingen wollte. Lieber --« er vollendete
nicht.

Der Arzt erschien mit der Wärterin, und da die Unterredung wieder
Fieberanzeichen hervorgerufen hatte, verbot der Doktor Li Bai weitere
Besuche während der nächsten Tage.

Ich starrte eben auf meinen ausgewickelten Fuß, auf dem wieder Strumpf und
Schuh saßen, als sich die Saaltür öffnete und der Mandarin erschien.

»Besser, Ka?« fragte er.

»Ja, danke, leider!« erwiderte ich bitter.

Seine Augen sahen mich forschend an. »War Li Bai hier?«

»Gestern.« Ich schwieg einige Sekunden lang, nicht wissend, was oder
vielmehr wie ich sagen sollte, was gesagt werden mußte.

»Er will nicht nach Europa zurück -- er will auch seine Mutter nicht
verlassen -- und --« ich sank müde auf das Krankenlager zurück.

»Ka,« sagte er, »Sie sind ein tapferes Mädchen, das heißt, eine
tapfere Frau!« verbesserte er sich. »Sie haben Jenny gegen meinen Willen
vor -- vielem -- gerettet.«

Er berührte zum Abschied flüchtig meine Hand, eine seltene
Gunstbezeugung, und sagte dann mit etwas wie Mitleid in der Stimme:

»Wenn Sie das Hospital verlassen können, so kommen Sie zu mir zur Bank
und da -- da werden wir sprechen.« Damit ging er.

Ein paar Tage humpelte ich mühselig zwischen den Betten auf und ab, um
meinen Fuß wieder in Ordnung zu bringen, dann ging es besser, und eine
Woche nach meiner Unterredung mit dem Mandarin durfte ich das Hospital
verlassen.

Um zehn Uhr stand ich, schwach und vor Kälte trotz meiner Pelze heftig
zitternd, vor der Bank meines Schwiegervaters. Vielleicht war es auch
Aufregung, was meine Zähne so unheimlich gegeneinander klappern ließ.
Derselbe Diener, der uns vor einem Jahre die Tür geöffnet hatte, schlug
nun dieselbe für mich allein zurück, und ich stand vor dem Mandarin, der
mich mit einer höflichen Handbewegung aufforderte, Platz zu nehmen.

Eine Weile saßen wir uns stumm und regungslos gegenüber, dann sagte
der Bankdirektor mit einer Festigkeit und Unumwundenheit, die gegen alle
chinesischen Grundsätze und alle Ueberlieferungen des Himmlischen Reiches
verstieß:

»Li Bai, mein jüngster Sohn, ist ein Esel.«

Ich widersprach nicht, denn, wenn eine Tatsache so einleuchtend ist, wie
diese, ist selbst chinesische Höflichkeit nicht mehr vonnöten.

»Ka,« fuhr er fort, »Sie sind eine sehr nette, kluge und
immer gefällige Schwiegertochter gewesen. Ich möchte nur ungern
Unannehmlichkeiten mit dem deutschen Konsul haben. Wollen Sie nach Europa
zurückkehren? Wollen Sie, daß wir eine Scheidung einleiten und als Grund
-- als Grund --«

»Böse Zunge der Gattin angeben!« sagte ich. »Das ist ein
Scheidungsgrund in China und das genügt.«

»Aber dies gilt nicht vor Ihrem Konsul!« sagte er.

»Mangel an Uebereinstimmungsvermögen, Untreue, was Sie wollen, nur lassen
Sie mich nach Europa zurück!« versetzte ich müde.

»Wir werden Li Bai die Schuld geben,« sagte der Mandarin entschieden,
»und ich werde nicht nur das von Ihrer Mama in meiner Bank niedergelegte
Vermögen sofort auf eine europäische Bank überschreiben lassen, sondern
Ihnen, wie vereinbart gewesen, einen jährlichen Betrag von --«

Ich lehnte ab. Ich wollte von den Chinesen nichts haben, aber was immer die
Bewohner der Mitte auch sein mögen, redliche Geschäftsleute sind sie. Die
Heirat war eine mißglückte Unternehmung, und er bezahlte ohne Murren das
Defizit.

Eine Viertelstunde später war alles besprochen und ich kehrte in das
Hospital zurück, um im Rekonvaleszentenheim noch so lange zu bleiben, bis
die Scheidung vor dem chinesischen Magistrat und dem deutschen Konsulat
vollzogen war, was in der nächsten Woche schon vorüber sein sollte.
Heimkehren unter sein Dach wollte ich nicht, und darin gab mir der Mandarin
vollkommen recht.

Die Scheidung sollte am 1. November vollzogen werden. Meine Koffer waren
alle von Li Bai gepackt und nach Hongkong geschickt worden, da ich die
Seereise zurück machen wollte; Mama hatte ich schriftlich von meiner
veränderten Lage mit Bedauern (ich wußte, wie sehr sie auf die
öffentliche Meinung hielt) Nachricht gegeben und zugleich mitgeteilt, daß
ich erst einige Monate später reisen würde und auch bei meiner Heimkehr
Jenny besuchen, aber nicht in meine Vaterstadt kommen wollte, um ihr alle
Unannehmlichkeiten zu ersparen. Folglich war alles angeordnet und ich
wieder frei -- ach frei! Nur ein Gang blieb noch, ein schwerer. Ich hatte
meinen Schwiegervater gebeten, Sings Grab besuchen zu dürfen, und heute
kam er, mich am Vorabend meiner Scheidung noch einmal durch den Garten zu
begleiten, wo so unendlich viel Bitteres mir begegnet war.

Oede und feucht lag er vor mir, als ich an der Seite des Mandarins auf den
Weiher zuschritt, die wieder hergestellte Brücke überschritt und unter
den Teakbäumen vor dem Grabe meines Söhnchens stand. Keine geweihte Erde
umhüllte seinen kleinen Sarg, kein Grabstein zeigte die Stelle, wo er
begraben lag, nur einige kleine Steinchen zeigten den Ort, wo man die
Kinderleiche der Erde anvertraut hatte.

»Schlaf' in Frieden, du mein lieber, kleiner Chinese!« flüsterte ich
zärtlich. »Du hast nun abgestreift den Körper, den dein Vater dir
gegeben hat, doch das Stücklein Seele, das du von mir erhalten, von deiner
europäischen Mutter, die fühlen und leiden und entsagen konnte, das
hast du hinübergerettet, wo es kein Leid mehr gibt. Mit deinem
Scheiden, süßer kleiner Engel, hast du das Band zerschnitten, das deine
unglückliche Mutter an Chinesen knüpfte, das sie in fremden Landen bei
grausamen Menschen zurückhielt. Hab' Dank und schlaf' in Frieden hier in
fremder Erde! Deinen zarten Körper muß ich zurücklassen, dein Seelchen
aber bleibt mit mir verbunden, bis der Engel Gottes einst die Toten
weckt!«

Ich brach einen kleinen Zweig von einem Teakbaum, dann ging ich wieder,
begleitet von dem immer gelassenen Mandarin, durch den Hof und die vielen
Pforten zurück. Weder Li Bai noch sonst irgend jemand kam mir nahe, aber
als ich an dem Hause meiner gelben Schwiegermutter vorbeiging, schien es
mir, als ob ein Vorhang bewegt worden wäre -- vielleicht täuschte ich
mich auch.

»Auf morgen!« sagte der Mandarin.

»Auf morgen -- und Dank!« entgegnete ich leise.

Und fried- und heimlos wie einst, wanderte ich zum englischen Hospital
zurück.



    =Y prosigo mi senda, hacia, adelante,
    Viendo lo que más ansio más distante
    Y mi ventura yá desvanecida.=

    =Cúanto me vuelvo más á lo pasado,
    Hallo la vida un sueño mal sonado,
    De quien ni sueña que es soñar la vida.=

      =Mucio Teixeira.=

XVIII.


Die Scheidung war ohne Schwierigkeiten durchgeführt worden. Beim
Konsul hatten die Berichte des Doktors sehr den Weg geebnet, und bei
den chinesischen Behörden tat sowohl das Ansehen als auch die weislich
verteilten Bestechungen (im Orient noch mehr als im Okzident gilt das
Sprichwort: »Wer schmiert, der fährt«) des Mandarins das ihrige. Die
Vermögensbestimmungen waren schon vorher besprochen worden, so daß ein
kurzgefaßter Bericht alles erklärte, und da keine Kinder da waren, fiel
auch diese stets so schwer zu entscheidende Frage gänzlich weg. Noch ehe
am 1. November die Mittagsmahlzeit die Angestellten den Berufspflichten
entzog, war ich wieder frei, konnte gehen und tun, wie es mir gefiel.

Schweigend fuhren wir zur Bahn, und als das Zeichen zur Abfahrt gegeben
worden war, reichte mir der Mandarin noch einmal die Hand, mit der gleichen
unerschütterlichen Ruhe und den unbeweglichen Zügen, die ich so oft an
ihm gefürchtet und bewundert hatte, wünschte mir eine angenehme Heimreise
und wies meinen Dank für seine freundliche Hilfe und den Schutz, den er
mir hatte angedeihen lassen, ruhig zurück.

Ich reichte Li Bai die Hand, aber er wies sie zurück und sprang auf den
sich eben in Bewegung setzenden Zug, während der Mandarin noch einmal eine
grüßende Handbewegung machte und dann unseren Blicken entschwand.

»Ich begleite dich bis Hongkong!« sagte er entschieden.

Wie einst, als er noch mein Schüler im nun so fernen Westen gewesen
war, half er mir so oft es nur möglich, bediente mich, als wir in Peking
speisten, und war der vollendete europäische Kavalier, den ich in Europa
so nett gefunden. Selbst das kindliche Wesen war unverändert. Er konnte
über die Mitreisenden ebenso treffende Bemerkungen machen wie einst in
London, und keine Spur von »=miserable=« war sichtbar.

Wir mußten die ganzen Abend- und Nachtstunden in den unbehaglichen
chinesischen Zügen verbringen, und nur Li Bais fortwährende Bestechungen
des Zugpersonals hatten zur Folge, daß wir wenigstens eine Art
Wärmeflaschen einfachster Gattung erhielten, die unsere Füße und Hände
vor dem Erstarren bewahrten.

Als einige der Mitreisenden ausgestiegen waren, neigte sich Li Bai über
mich und sagte mit etwas von jener Weichheit und Zärtlichkeit in der
Stimme, die in den allerersten Wochen unserer unglücklichen Ehe zuweilen
durchgeklungen war, wenn er mir »=No nai ni=«, das chinesische »Ich
liebe dich!« zuflüsterte:

»Ich möchte dich noch einmal küssen, Käthe, es ist ja das allerletzte
Mal im Leben, daß wir zusammen sind.«

Zum letztenmal! Es liegt immer etwas Trauriges und zugleich etwas weich
Versöhnendes in so einem »zum letztenmal«. Ich hob mein Gesicht
schweigend zu dem seinen. Armer, lieber, kleiner Chinese! Es war wohl nicht
seine Schuld, daß er so wenig »europäisch« war, und er konnte wohl
ebensowenig dafür, daß er weder ein Herz noch eine Seele besaß, oder
daß die beiden, falls er sie dennoch hatte, nie zum Vorschein kamen. --

Am folgenden Tage kamen wir in Hongkong an, dessen wunderschöne Lage und
vollständig europäisches Gepräge mich angenehm überraschten, und
bald brachten zwei Jinrikshas uns hinaus zum Hafen, wo der »Albatros«
verankert lag. Meine Koffer waren schon an Bord gekommen und die Kajüte
sah einladend, wenngleich so klein als nur denkbar, aus. Wir sollten
zuerst in Singapore eine Woche verbleiben, dann zum Kap der Guten Hoffnung
weitersegeln, und endlich, nachdem wir auch die Kanarischen Inseln besucht
hatten, nach Norwegen fahren. In etwa zwei Monaten dürfte das Schiff in
den Hafen von Christiania einlaufen.

Vier Stunden später verkündigte die schrille Dampfpfeife, daß der
»Albatros« seine Reise anzutreten beabsichtigte. Li Bai legte die eben
von ihm gekauften Früchte und Kuchen auf meinen Deckstuhl, breitete
fürsorglich den Reiseplaid für mich aus und reichte mir dann die Hand zum
Abschied.

Man scheidet nie leicht von dem Manne, dem man alles gegeben, was man zu
geben hat, an den uns Bande knüpfen, die nur äußerlich getrennt werden
können, die aber innerlich nie zerreißen. Der Name unseres Gatten steht
auf der Platte unserer Erinnerung mit ehernem Griffel eingeritzt, gleich
unverlöschlich, ob das, was darunter steht, zu seiner Ehre oder Schande
lautet.

»Laß uns unsere Schwächen vergessen und nur des Guten gedenken, Li
Bai!« bat ich, als ich zum letztenmal die zarte Hand in der meinen
fühlte.

Unverständlich wie immer, wenn es sich um seelische Empfindungen handelte,
klangen ihm meine Worte, die Lider deckten wie damals, als er mich bat,
seine Frau zu werden, die schwarzen rätselhaften Augen, die Züge
waren kalt und unbeweglich, wie immer, wenn nicht Zorn oder Lachen sie
verzerrten.

»Leb' wohl, Käthe -- und glückliche Reise!«

Das letzte Glockenzeichen ertönte. Er berührte mit seinen Lippen ebenso
scheu und flüchtig wie an meinem Geburtstage meine Wange zum Abschied,
drückte noch einmal leicht meine Hand und lief dann hurtig den
Landungssteg hinab, der eingezogen wurde.

Die Schiffsschraube setzte sich langsam in Bewegung, mehr und mehr drehte
sich das große Fahrzeug, bis es in die richtige Lage kam, und dann setzte
die Maschine mit voller Kraft ein und dampfte der fernen Heimat zu.

Unten aber, auf der Mole der chinesischen Hafenstadt, stand eine kleine
Gestalt, die ein blauseidenes Taschentuch aus einem europäischen Anzuge
(Li Bai hatte sich zur Reise europäisch gekleidet) gezogen und winkte
-- winkte -- gerade so wie in London, wenn die große Elektrische sich in
Bewegung setzte und er noch einmal zu mir zurück grüßte.

Ich drängte die Tränen gewaltsam zurück, um so lange als möglich diese
zierliche Gestalt sehen zu können, die unbeweglich auf der Mole stand und
winkte, bis das Schiff weit, weit vom Strande die Wogen teilte und mein
kleiner Chinese nur mehr ein Punkt am Horizont war.

»Was für eine hübsche Gestalt und welch nette Umgangsformen dieser
kleine Chinese hatte, der von jener Dame Abschied nahm!« hörte ich einen
älteren Herrn unweit von mir zu seinem Mitreisenden sagen.

»Ach, lieber Unbekannter, du hast recht, aber die zarte Gestalt und die
netten Umgangsformen sind auch alles, was dieser kleine Chinese sein eigen
nennt, und noch von diesen beiden Gaben ist seine Gestalt das einzige, was
sich nie verändert,« dachte ich.

Die anderen Reisenden sahen vorwärts, weit hinweg über die schäumenden
Wogen, ich aber blickte zurück auf die Küste, wo nicht nur mein Gatte
einer, wie ich hoffte und wünschte, besseren Zukunft entgegenging,
sondern wo unter Teakbäumen und gewaltigen Bambusstämmen die Reste eines
Körperchens lagen, das ein Teil meines Ichs -- vielleicht mein bester
Teil -- gewesen. Li Bai würde schnell verwinden und vergessen, aber ein
Mutterherz vergißt nie -- auch nicht ein gelbes Kind, das nur drei kurze
Monate lang an der Mutterbrust gelegen!

»Schlaf' in Frieden, mein toter Sohn!«



    =Laissons gronder en bas cet orage irrité,
    Qui toujours nous assiège;
    Et gardons au-dessus notre tranquillité
    Comme le mont sa neige.=

    =Va, nul mortel ne brise avec passion
    Vainement obstinée,
    Cette âpre loi que l'un nomme Expiation
    Et l'autre Destinée.=

      =Victor Hugo.=

XIX.


Sechs Monate waren vergangen. Wochenlang hatte ich nur die glitzernden
Wogen geschaut, die mächtig heranrollten, sich mit donnerndem Geräusche
an den starken Planken des Schiffes brachen und in Schaum zerplatzten.

Wie sie, eilen wir alle auf das endlose Ziel zu, und wie sie vergehen wir,
um vielleicht wiederzukommen, gerade wie die zerstäubten Wassermassen sich
zu neuen Wogen, oft zu mächtigeren, formen.

Ueber mir hatte der blaue Himmel sich wolkenlos gewölbt, und diese
Einförmigkeit der Umgebung, dieses matte Dahinträumen hatte nach und nach
die Stürme meiner Seele eingeschläfert.

Ich hatte gelernt, was ich früher nie begreifen wollte, daß wir nur auf
uns rechnen dürfen, nicht auf unsere Umgebung, daß wir den Frieden nur
in der Ruhe finden, die oberhalb von Wünschen und Fürchten liegt. Ich
kämpfe nicht mehr gegen den Strom des Lebens, ich lasse seine Wogen mich
hinwegheben über alle Hindernisse, die guten wie die bösen, und gleite so
ohne tiefe Schmerzen und aber auch ohne große Freuden dem Ziele zu. Einmal
erklingt wohl selbst für mich das Aveläuten!

       *       *       *       *       *

Eine Zeitlang war ich in Südafrika verblieben, mehrere Wochen verbrachte
ich in Las Palmas auf den herrlichen Kanarischen Inseln, und einen Monat
verweilte ich im hohen Norden, wo die stolzen, unbeugsamen Tannen sich
allerlei wundersame alte Märchen zuflüstern. Den Rest der Zeit sah ich
nur über die unendliche Wasserfläche und lernte die schwere, ach so
schwere Kunst des Vergessens.

War ich auch scheinbar von den Reichen des reinen Glückes verbannt, so
blieb mir mein Wissen, eine Quelle unversiegbarer Schätze. Mir standen die
Literaturen vieler Nationen offen, eine reiche Geisteswelt lag vor mir
und Freunde warteten meiner, die weder Falschheit noch Untreue kannten. Zu
ihnen konnte ich flüchten, sooft und auf wie lange ich es wünschte. Sie
wollten mir die Einsamkeit ertragen helfen, nicht so vollkommen vielleicht,
als Menschen es zu tun imstande sind, wenn wir die rechten daheim oder in
der Fremde gefunden haben. Aber sie verursachten mir dafür auch niemals
Seelenpein, wie sie die besten Menschen zuweilen uns zuzufügen nicht
vermeiden können -- oder wollen.

Es gibt verschiedene Musikinstrumente auf der weiten, weiten Welt und
verschiedene Arten, ihnen Töne zu entlocken, denn Töne geben sie alle
von sich -- und so sind auch wir Menschen Instrumente, die je nach
der Berührung, die schrecklichsten und schrillsten Mißtöne oder die
herrlichste Melodie von sich geben. Einige Menschen ähneln Trommeln,
andere Trompeten, wieder andere Harfen oder Geigen. Auf einer Trommel kann
bald jemand spielen, aber es gehört ein Meister dazu, der Harfe oder
der Violine harmonische Töne zu entlocken. Es ist schwer, den Meister zu
finden, sehr schwer. Aber man kann -- wenn man weise ist -- verhindern,
daß unkundige Hände die Saiten zum Springen bringen, indem wir niemand
gestatten, das Instrument zu berühren.

Besser keine Töne, als Mißtöne.

       *       *       *       *       *

Seit zwei Wochen weile ich bei Jenny, die mich sehr lieb aufgenommen hat
und mich behalten will, bis ich wieder Kräfte gesammelt habe, um in die
Ferne zu ziehen, denn ruhelos wie der ewige Jude treibt es mich von Ort zu
Ort.

Auf den Wunsch meines Schwagers hin habe ich die Geschichte von meinem
kleinen Chinesen geschrieben, die ein Warnungsruf an die Mädchen meiner
Rasse sein soll. Chinesen haben wie wir ihre Licht- und Schattenseiten --
nicht weniger Lichtseiten als wir --, aber sowohl Licht als auch Schatten
ist verschieden im Osten wie im Westen, das möge immer bedacht sein.

Nur einem entsetzlichen Unfall verdankte ich meine Freiheit, sonst wären
es wohl die Tore des Todes gewesen, die meiner Seele den Ausflug zur ewigen
Freiheit eröffnet hätten.

Soeben kommt meine Schwester mit meinem entzückenden Nichtchen auf den
Armen durch den Garten und der Doktor geht an ihrer Seite und hält sie
umschlungen, als könnte jemand plötzlich seinen Schatz entführen, falls
er nicht seinen Arm so fest -- so innig fest um sie legen würde.

Wie glücklich die beiden Menschen doch geworden sind!

»Weißt du, Kather,« ruft sie mir, die ich in der Hängematte liege (für
mich der bescheidene Begriff erreichbarer irdischer Glückseligkeit) und
diese Blätter noch einmal durchsehe, fröhlich zu, »daß ich selig bin zu
wissen, daß die gelbe Gefahr auf immer beseitigt ist?«

»Ja,« lächle ich müde, denn mein Nichtchen erinnert mich an mein totes
Kind, »das ist ein Traum, der ausgeträumt ist.«

Jenny versteht mich, ihr Glück hat sie vertieft, veredelt. Sie streicht
liebkosend über meinen Arm und preßt unwillkürlich ihren blonden
Liebling fester an sich, der Doktor aber, der rührend lieb gegen mich ist
und eine ernste Stimmung nicht aufkommen lassen will, zieht sein schönes,
junges Weib und das süße Kindchen zärtlich an sich und sagt mit der
Eitelkeit und dem Selbstbewußtsein, die jedem Manne des Westens wie des
Ostens eigen:

»Es gibt ja auch noch ganz nette Europäer.«

Und Jennys glückstrahlende braune Augen sagen »Amen«.

[Illustration]



Im Verlag

Deutsche Buchwerkstätten Dresden

ist ferner erschienen:


Der Hof des Schweigens

Roman von _Anny Wothe_

Es ist ein heiliges Land, das wir hier in diesem so glänzend geschriebenen
Roman der gefeierten Erzählerin betreten. Es ist das Eis- und Feuerland,
das Land der alten Göttersagen, das Land der Sagas und der holden Frauen,
das Land der nach Freiheit dürstenden Söhne des starren Eislandes mit
seinen tausend Wundern. Island, das noch so wenige kennen, tut uns in
diesem Roman weit seine herrlichen, unbekannten Zauberwelten auf, daß wir
erschauern vor der seltsamen Schönheit dieser Wunderwelt. Anny Wothe gibt
uns in dem Roman »Der Hof des Schweigens« ein glänzendes Gemälde
von Land und Leuten der herrlichen Insel im starren Nordlandsmeer.
Die Verfasserin hat mit dem feinen Fühlfaden der Seele und offenem
künstlerischen Blick, gepaart mit gründlicher Kenntnis der Bewohner des
Landes, in diesem Roman ein Seelengemälde von so künstlerischer Eigenart
und erschütternder Tragik geschaffen, daß wir nicht müde werden, dieses
herrliche Buch immer und immer wieder zu lesen.


Verlag Deutsche Buchwerkstätten / Dresden



Im Verlag

Deutsche Buchwerkstätten Dresden

ist ferner erschienen:


Kains Entsühnung

Roman von _Luise Westkirch_

Der Roman führt in ein Stück Oedland, Neuland, eine Wildnis mitten
im Herzen Deutschlands. Uralter Menschenschlag haust dort wie auf einer
einsamen Insel, abgeschnitten von der modernen Kultur und den Hütern ihrer
Gesetze. Hart ist das Leben der Leute, rauh und gewaltsam ihr Sinn. Ihre
Leidenschaften toben ungebrochen sich aus in ursprünglicher Kraft und
Wildheit. Ein rechtschaffener Mann hat in verspäteter Liebesraserei für
ein Weib, das ihn lächelnd betrügt, seinen liebsten Freund getötet. Wie
er in strenger Selbstüberwindung und hartem Kampf mit dem eigenen Herzen
diese Tat sühnt vor seinem Gott und dem eigenen Gewissen, das bildet
die Grundidee des Werkes, das durch die sympathischen Gestalten eines
glücklicheren Liebespaares erhellt und belebt wird.


Verlag Deutsche Buchwerkstätten / Dresden



Im Verlag

Deutsche Buchwerkstätten Dresden

ist ferner erschienen:


Der Marquis von Weyermoor

Roman von _Luise Westkirch_

Die Geschichte einer Ehe im »Teufelsmoor« erzählt dieser Roman, die
Geschichte eines leichtsinnigen, nach mühelosem Genießen haschenden
jüngeren Sohnes, der seine Liebe und seine Freiheit der reichen Bäuerin
verkauft für die Wonne, Geld ausstreuen zu können mit vollen Händen,
und der dann im errafften Reichtum darbt und gern aufhören würde, der
»Marquis« von Weyermoor zu sein, wie seine Landsleute ihn im Spott
getauft haben, -- wenn er frei und arm als einfacher Arbeiter leben dürfte
an der Seite des Mädchens, das er nicht aufgehört hat zu lieben. In diese
Läuterung und Wandlung im Charakter des Helden spielt, begangen am Sankt
Niklastag in der Vermummung des Sankt Niklas, ein dunkler Mord, der die
Schicksalsfäden zuerst verwirrt und endlich zerreißt.


Verlag Deutsche Buchwerkstätten / Dresden



Im Verlag

Deutsche Buchwerkstätten Dresden

ist ferner erschienen:


Der Kampf um den Dollar

Ein Auswanderer-Roman

von _Arthur Zapp_

Durch den Versailler Vertrag ist das Auswanderungsproblem erneut
aufgerollt worden. Der Zappsche Roman gibt ein getreues Spiegelbild von den
Aussichten, Zufällen und Ueberraschungen, die des Einwanderers in
Amerika harren. Wir erleben, wie sich der deutsche Unternehmungsgeist in
großzügiger Weise betätigt, wie ihm ruinöse Rückschläge nicht erspart
bleiben, wie aber starkes Zielbewußtsein sich schließlich durchsetzt.
Allerdings gelingt es nur einem von drei jungen Auswanderern, die
Verhältnisse zu meistern. Der zweite, ein schwacher Charakter, ist zu zart
besaitet, um in diesem Lande des rücksichtslosen Erwerbssinnes Wurzel zu
fassen. Eine romantische, reizende Liebesgeschichte, die sich durch das
ganze Buch hindurchzieht, verklärt die Laufbahn dieses Mannes, dem auf
verschlungenen Wegen zum wahren Glück die unangenehmsten Erfahrungen
mit den amerikanischen Gesetzen über das Eheversprechen nicht erspart
geblieben sind. Vollends im Banne der Räuberromantik geht der dritte
ehemalige Freund unter. Die Handlung ist spannend bis zum Schluß und gibt
einen vollendeten Abriß über die augenfälligsten Erscheinungen im Lande
des rollenden Dollars.


Verlag Deutsche Buchwerkstätten / Dresden



[ Hinweise zur Transkription


Das Originalbuch ist in Frakturschrift gedruckt.

Darstellung abweichender Schriftarten (ausgenommen römische Zahlen):

  _gesperrt_ : =Antiqua= .

Der Schmutztitel wurde entfernt.

Die sechs ganzseitigen Illustrationen wurden verschoben, um den Lesefluss
nicht zu hemmen, nämlich

  1. von der Position vor der Titelseite vor das Kapitel XIII,
  2. von der Position hinter Seite 48 vor das Kapitel VI,
  3. von der Position hinter Seite 96 vor das Kapitel IX,
  4. von der Position hinter Seite 176 vor das Kapitel XII,
  5. von der Position hinter Seite 200 an das Ende von Kapitel XIII,
  6. von der Position hinter Seite 264 vor das Kapitel XVII.

Die aus verschiedenen Sprachen stammenden Verse an den Kapitelanfängen
wurden einschließlich der Rechtschreibfehler unverändert übernommen.

Der Text des Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten, mit folgenden
Ausnahmen,

  Seite 20:
  "dieser" geändert in "diese"
  (dem Gleichmut, der diese Klasse weiblicher Wesen auszeichnet)

  Seite 44:
  "daß" geändert in "das"
  (setzte er ein Gesicht auf, das einen zum Tode Verurteilten)

  Seite 150:
  "den" geändert in "dem", "»" und "«" eingefügt
  (auf dem mit russischen Buchstaben »Europa -- Asia« stand)

  Seite 158:
  "laïmatischen" geändert in "lamaïtischen"
  (werden von den lamaïtischen Priestern)

  Seite 166:
  "»diese goldenen" geändert in "diese »goldenen"
  (immer nur auf diese »goldenen Lilien« küssen)

  Seite 180:
  "dort so," geändert in "dort, so"
  (und wird dort, so wie bei uns Wollstoffe)

  Seite 189:
  "deinen" geändert in "deinem"
  (als rote Vogelscheuche wirklich zu deinem Gatten gehen)

  Seite 214:
  "." eingefügt"
  (dem Mandarin sehr angenehm war.)

  Seite 221:
  "ihre" geändert in "Ihre"
  (Mein Plan mißlang -- durch Ihre Schuld.)

  Seite 230:
  "," eingefügt
  (Man ist Paria, »=one has lost caste=)

  Seite 255:
  "Wort" geändert in "Worte"
  (ein dicker Doktor sprach ermutigende Worte)

  Seite 255:
  "sie" geändert in "Sie"
  (Sie werden zu Kräften gelangen)

  Seite 256:
  "beweißt" geändert in "beweist"
  (Das beweist, daß jedes Ding auf Erden)

  Seite 276:
  "das" geändert in "daß"
  (das allerletzte Mal im Leben, daß wir zusammen sind) ]





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