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Title: Die Heimat - Roman aus den schlesischen Bergen
Author: Keller, Paul
Language: German
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    Anmerkungen zur Transkription


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    Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des
    Buches.



    Die Heimat

    Roman aus den schlesischen Bergen

    von

    Paul Keller

    Mit Buchschmuck von Felix Schumacher

    122. bis 136. Auflage.

    [Illustration]

    Bergstadtverlag Wilh. Gottl. Korn

    _Breslau_ und _Leipzig_



    Alle Rechte,
    insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.
    ~Copyright 1915 by~
    Bergstadtverlag Wilh. Gottl. Korn, Breslau.


Druck von Wilh. Gottl. Korn in Breslau.



[Illustration: Kapitel 1]


Im Buchenhofe war ein Hühnchen ermordet worden. Der Verdacht lenkte
sich auf Waldmann, den Dachshund, der nach der Tat flüchtig geworden
war. Es war auch dem Schaffersohne Hannes, der sich sofort aufgemacht
hatte, die Spuren des Mörders zu verfolgen, nicht gelungen, des
Attentäters habhaft zu werden.

»Der Gauner is ausgerückt,« meldete er niedergeschlagen dem Sohne
seines Herrn, dem vierzehnjährigen Heinrich Raschdorf, der zu den
Ferien daheim war. »Ich sag' Dir, a muß in a Fuchsloch gekrochen sein,
sonst hätt' ich 'n erwischt. Ich hab' gesucht wie verrückt!«

»Wenn er Hunger haben wird, kommt er von selber nach Hause,« sagte voll
Überlegung Heinrich, der Quartaner.

»Ja, und weißte was? Dann machen wir 'n Heidenulk! Wir machen Gericht!
Du bist der Richter, und ich bin der Poliziste, und Du verurteilst a
Dackel, daß ihm der Poliziste fünfe aufs Leder haut, und daß a ihn mit
der Schnauze a paarmal aufs tote Hühndel stampt, und daß a ihn 'ne
Stunde in a Kohlschuppen sperrt. Gelt, Heinrich, das machste?«

»Ich werd' mir's überlegen,« antwortete in vornehmer Ruhe der Quartaner.

Diese Zurückhaltung schien dem lebhaften Bauernburschen nicht zu
gefallen. Er sann über etwas anderes nach. Nicht lange, so hatte er's.

»Ja, und weißte was, Heinrich? Das Hühndel werden wir begraben. So 'n
Begräbnis macht auch 'n riesigen Spaß! Du machst a Pfarrer --«

»Das ist mir schon zu kindisch, das hab' ich früher gemacht,« erwiderte
Heinrich.

»Na, hör' mal, wenn Du auch Quartaner bist, kannste doch noch 'n
Pfarrer machen. Siehste, ich bin der Totengräber. Wir machen 'n
Leichenzug, und ich setz' mir Vaters Zylinder auf und geh' so wackelig
vorm Zug her, gerade wie der alte Lempert. Was Ulkigeres wie 'n
Totengräber gibt's nich. Na, und die Mädel sind doch och dabei, die
Lene und die Lotte und die Liese. Die müssen flennen. Und wenn Du die
Rede hältst, müssen sie immer mehr flennen, und nachher lassen wir das
Hühndel ins Grab und die Mädel singen: »In der Blüte deiner Jahre«. Na,
wenn das nischt is! --«

Der Quartaner überlegte. Die Beredsamkeit seines ländlichen Freundes
beeinflußte ihn. Skrupel hatte er ja freilich. Seine »Kollegen« in der
Quarta würden so etwas »einfach dämlich« gefunden haben. Also sagte er
langsam und bedächtig:

»Eigentlich ist es kindisch! Aber Dir zu Gefallen können wir's ja noch
einmal machen. Doch es ist das letzte Mal, Hannes, das sag' ich Dir.
Und Vater und Mutter dürfen nichts wissen.«

»Die wissen so wie so nischt,« sagte Hannes. »Der »Herr« sitzt drüben
beim Schräger, und die »Frau« hat 'n Kopfkrampf und liegt im Bette.
Besser kann sich's nich treffen.«

»Na, denn meinetwegen, Hannes!«

Hannes war von diesem Zugeständnis freudig berührt. Er hob einen
dürren Stecken aus dem Garten auf, rannte ans Fenster des stattlichen
Bauernhauses und klopfte dreimal feierlich an.

Der Kopf eines dunkeläugigen, bildhübschen Mädchens von etwa zwölf
Jahren wurde sichtbar.

»Was is 'n los?«

Hannes senkte geheimnisvoll das Haupt und sagte mit der düsteren Stimme
eines »Grabebitters«:

»Der Herr Raschdorf läßt schön grüßen, und a läßt bitten, daß die
Jungfer Magdalene so freundlich sein täte und 'm toten Hühndel 's
letzte Ehrengeleite geben. Der Pfarr' und die Schule gehn mit!«

»Macht Ihr wirklich Begräbnis?« fragte sie, nicht ohne Begeisterung.

»Natürlich, Lene,« antwortete der Leichenbitter und fiel aus der Rolle.
»Es wird riesig ulkig. Heinrich is Pfarrer und ich Totengräber, und du
mußt das Hühndel in a Sarg legen. Auf 'm Kleiderschranke sind ja die
Zigarrenkisten; da nimmste eine, und da haste die Leiche!«

Damit warf er dem Mädchen das tote Hühnchen, das er bisher in der
Hand getragen hatte, aufs Fensterbrett, schlug sich selber mit dem
»Grabebitterstöckel« ein paarmal auf die Waden und rannte davon.

Der »Buchenkretscham« war vom »Buchenhofe«, auf dem Heinrich und
Magdalene die Kinder der Herrschaft waren, Hannes aber als Sohn des
»Schaffers« lebte, nur durch die Straße getrennt, die von der Stadt
her nach dem schlesischen Gebirgsdorfe führte. Früher waren beide Höfe
zu einer großen »Herrschaft« vereinigt gewesen. Der letzte Besitzer
war bankerott geworden, das Gut wurde dismembriert, einzelne Teile des
Ackers wurden an Bauern des Dorfes verkauft; aus dem Rest der Felder
und den Gebäuden aber entstanden zwei neue Besitztümer, immer noch
sehr stattlichen Umfanges: der Buchenhof Hermann Raschdorfs und der
Buchenkretscham des Julius Schräger.

Vor dem Kretscham machte Hannes vorsichtig Halt. Er schlich an ein
Fenster der Gaststube und lugte vorsichtig durch die Scheiben. Die
Ausschau befriedigte ihn. Sein »Herr« und Schräger, der Gastwirt,
saßen beisammen und sprachen eifrig miteinander. Diese beiden würden
voraussichtlich die Trauerfeierlichkeit nicht stören. Also begab
sich Hannes Reichel nach dem Hausflur. Er hatte Glück und traf die
Schräger-Lotte, die er suchte.

Das etwas blasse Kind erschrak ein wenig, als es Hannes dreimal mit
seinem Stecken auf den Arm klopfte und sagte:

»Der Herr Raschdorf läßt schön grüßen, und ob die Jungfer Lotte
vielleichte so freundlich sein täte und 'm toten Hühndel 's letzte
Ehrengeleite geben. Der Pfarr' und die Schule gehn mit!«

»Was? Der Herr Raschdorf sitzt ja drin in unserer Stube. Und warum
hauste mich denn so auf den Arm?«

Der Grabebitter fiel abermals aus der Rolle.

»Tumme Gans, der Herr Raschdorf is der Heinrich, und wenn Du nich in
'ner halben Stunde drüben bist und mitmachst, da -- da sollst Du mal
sehen!«

Das Mädchen wollte noch etwas fragen, aber Hannes »schmitzte« bereits
seine Waden und »sockte« ab.

»Mit der Lotte is nischt los,« sagte er zu sich selbst. »Sie is 'ne
Tunte! Aber die Lene, die Lene!«

Und das Bürschlein blieb einen Moment stehen und verdrehte verliebt die
Augen. Dann setzte es sich schnell wieder in Bewegung.

Im grellhellen Licht des Julitags lag das Dorf langgestreckt drunten
im Tal. Die Nordseite war durch einen waldigen Hügelzug abgeschlossen,
an dessen Abhang, etwas abgesondert vom Dorfe, die Buchenhöfe lagen.
Drüben die südliche Einrandung der Talmulde war viel niedriger,
ganz mit gelben Saaten bestanden, über denen schwer und schwül die
Sommersonne lag. Und all die vollen Ähren standen wie im heißen Fieber,
in einem Fieber, welches das Leben zur Gluthitze bringt und doch die
besten Säfte und Kräfte verkalkt, verzuckert und vermehlt, so daß nach
dem heißen Rausch das Sterben kommt.

Hannes rannte hinab ins Dorf. An ein paar Bauernhöfen lief er vorbei,
dann kam eine grüne Aue, auf der ein kleines, nettes Haus stand.

Hannes reckte sich und klopfte mit seinem Stecken ans Fenster. Ein
schmächtiges, blasses Mädel erschien.

»Der Herr Heinrich Raschdorf läßt schön grüßen, und ob die Jungfer
Liese nicht so freundlich sein wollen mögen täte, 'm toten Hühndel 's
letzte Ehrengeleite zu geben. Der Pfarr' und die Schule gehn mit!«

»Wenn is es denn? Wenn is es denn?« fragte das Kind mit vielem
Interesse. »Macht der Heinrich a Pfarrer?«

»Natürlich, Liese, macht a 'n Pfarrer.«

»Gelt, Du, Hannes, der is aber gar nich 'n bissel stolz geworden, und a
is doch schon Quartaner, hat doch jetzt immer Gamaschen an,« sagte das
Mädchen bewundernd.

»Nu eben,« pflichtete Hannes bei. »Komm och balde nach, Liese; 's geht
gleich los! Ich muß bloß schnell 's Grab graben und 'n Zylinder suchen.
Wenn kommt 'n Dein Vater heim?«

»Nu, a kommt balde! Ich müßte eigentlich --«

»Gar nischt mußte! Bloß kommen! Kannste »In der Blüte deiner Jahre«
auswendig, Liese?«

»Bloß drei Verse.«

»Das langt! Bloß balde kommen! In einer reichlichen halben Stunde geht
der Rummel los. -- Nanu, wer is 'n das?«

Zehn Meter von Hannes entfernt lag auf der Aue Waldmann, der Dackel. Er
lag mit der Schnauze auf der Erde, so daß seine langen Ohren den Boden
berührten, und schielte mit höchst durchtriebenem Gesicht den Hannes an.

»A is schon a paar Stunden hier,« berichtete Liese. »Ich hab' ihm
Milchsuppe gegeben.«

»Machste recht, Liese! So ein'm Lump, der 's Hühndel totgebissen hat,
Milchsuppe!«

»Ja, das wußt' ich doch nicht, Hannes. Und ich denke, Du bist froh, daß
wir Begräbnis machen können.«

»Natürlich, Liese, bin ich froh. Wenn der Dackel 's Hühndel nicht
erbissen hätte, wär's sehr schade; aber weil a 's erbissen hat, kriegt
a Hiebe. Das is nich mehr wie recht und billig. -- -- Dackel, nu
Dackerle, nu Waldmänndel, nu komm doch; siehste nich, daß ich Zucker
hab'? Zucker, Waldmänndel! Na, da komm her, Dackel!«

Der Junge näherte sich Schritt für Schritt dem Hunde. Der lag lauernd
auf der Erde und schnitt ein über die Maßen schlaues Gesicht. Er lachte
geradezu. Und als der Hannes auf drei Schritte herangekommen war,
sprang der Dackel auf und lief davon, daß der Boden hinter ihm aufflog.
In dreißig Meter Entfernung legte et sich wieder nieder und grinste
seinen Verfolger mit überlegener Schadenfreude an. Der verbiß seinen
Ärger und beschloß zunächst, seinen Stecken wegzuwerfen und beide Hände
in die Taschen zu stecken, damit ersichtlich sei, daß er gar nichts
Übles im Sinne führe. Dabei verdoppelte er die Kosenamen und führte
alle Schätze der heimischen Speisekammer namentlich auf. Doch als er
sich dem Verfolgten wieder auf drei Schritte genähert hatte, brachte
dieser sein Leibliches abermals durch eine fabelhaft beschleunigte
Flucht in Sicherheit.

Ein paar Knaben schlenderten müßig die Dorfstraße herab. Als Hannes
sie gewahrte, gab er die Verfolgung des Hundes auf und wandte sich den
Jungen zu in der Absicht, neue Teilnehmer an dem Begräbnis zu werben.
Seine ganze blühende Redekunst wandte er zu diesem Zweck auf. Ohne
Erfolg!

»Mit 'm Heinrich Raschdorf spiel' ich nich,« sagte Ernst Riedel, »der
is a stolzer Affe!«

»Ich geb' mich auch nich mit 'm ab,« sagte ein zweiter.

»Und ich tät' überhaupt von mein'm Vater Wichse kriegen, wenn ich uff a
Buchenhof ging,« sagte der dritte.

Hannes war wütend.

»Das werd' ich 'm Herrn Lehrer sagen, der is Heinrichs Großvater,«
sagte er, nachdem er sich kurz die Unmöglichkeit zu Gemüte geführt
hatte, selbst die drei starken Bengel durchzuprügeln.

»Wenn a mir was tut,« sagte Ernst Riedel, »geht mein Vater zum
Schulinspektor.«

»Und meiner och!«

Sie gingen. Hannes schaute ihnen eine Weile nach. Dann spuckte er aus
und schrie ihnen nach: »Ochsen, Ochsen, Dorfochsen!«

       *       *       *       *       *

In der Gaststube des Buchenkretschams war es ganz still. Nur zwei
Männer saßen drin: Hermann Raschdorf, der Buchenbauer, und Julius
Schräger, der Wirt. Man hörte, wie am Leimstengel auf dem Fensterbrett
die gefangenen Fliegen zitterten. Die Sonne aber, die bei aller vielen
Arbeit immer noch Zeit findet, ein wenig Spaß zu treiben, wie alle
großen Leute, gestattete sich ein wunderliches Spiel. Sie beleuchtete
die großen Schnapsflaschen, die im Schanksims standen, und entlockte
ihnen wunderbare Lichter; und wer da genau hinsah auf die flimmernden
Flaschenleiber, konnte denken, er sähe lauter große Edelsteine. Da
war der Benediktiner, dunkel wie ein Orthoklas, und daneben glänzte
die Kirschflasche wie ein riesiger Rubin; der grüne Magenbitter kam
sich sicherlich selber vor wie ein märchenhafter Smaragd, und der
Eierkognak war so milchig hell und hatte so sanfte Mondscheinreflexe
wie ein echter Opal. Der Branntwein aber, von echtem »Wasser und
Feuer«, hielt sich ohne übermäßige Bescheidenheit für einen Diamanten.
Schade, daß so viele Menschen nicht darauf achten, wenn die Sonne
einmal witzig ist. Auch die beiden Männer nicht.

»Die Hauptsache is, Hermann, daß Du mir keine Schuld gibst,« sagte der
Wirt.

»Aber Du hast mir doch am meisten zugeredet, daß ich die verfluchten
Aktien gekauft hab'!« entgegnete der Buchenbauer.

»Zugeredet, was heißt zugeredet? Hätt' ich Dir zugeredet, wenn ich nich
gedacht hätte, die Sache wär' gut, was? Hätt' ich das? Was? Selber
hätt' ich welche gekauft, wenn ich damals Geld liegen gehabt hätte.«

»Und ich? Hatt' ich welches liegen? Hatt' ich's? Hab' ich nich 'ne neue
Hypothek aufgenommen? Fünftausend Taler, Mensch! Fünftausend Taler! Was
das heißen will bei mir!«

Der Gastwirt sprang ärgerlich auf, steckte die Hände in die
Hosentaschen und trat ans Fenster.

»So is 's! Wenn die Leute Pech haben, schieben sie's immer auf andere.«

Er drehte sich rasch wieder um.

»Nu, Mensch, siehste das nich ein, daß ich's bloß gut gemeint hab'?
Daß ich bloß Dein Bestes wollte? Was?! Wenn die Sache richtig gegangen
wär' --«

»Wenn! Man soll sich mit solchen Lausekerlen nicht einlassen. Herrgott,
wenn wirklich, Schräger -- -- es is ja -- es is ja gar nich zum
Ausdenken --«

Der kleine, dicke Gastwirt legte dem großen, stattlichen Bauern
beschwichtigend die Hand auf die Schulter.

»Hermann! Was nutz't n das alles! Abwarten! ruhig abwarten!«

»Abwarten! Du hast gut reden. Abwarten! Ich -- ich -- mir wird die Zeit
zur Ewigkeit; drüben liegt mein Weib krank, sie weiß nichts von all
dem, die Zinsen bin ich noch schuldig von Johanni, -- ich -- ich --«

»Weißte, Hermann, trink'n wir 'n Kirsch!«

»Ich mag nich, ich will nich, ich hab' schon genug!«

»Trink'n wir halt 'n Kirsch! Das wirste mir doch nich abschlagen,
Hermann!«

Der Wirt ging nach dem Schanksims, und der Rubin tauchte unter.

»Na also!« sagte Schräger, indem er langsam mit den gefüllten Gläsern
zurückkam. »Nur nich 'n Kopp verlieren! Wird ja noch alles werden. So,
da! Na, trink mal, Hermann! Auf Dein Wohl!«

Da tönten Schritte draußen im Hausflur.

»Der Briefträger,« keuchte Raschdorf und stieß das gefüllte Glas um. Er
stand auf und stützte sich schwer auf den Tisch. Ein Landbriefträger
trat über die Schwelle, erhitzt und bestaubt.

»Guten Tag!« sagte er; »'n Korn und a Glas Einfach --«

»Is was an mich?« fragte Raschdorf schwer beklommen. Auch der Wirt
blickte aufs höchste gespannt nach der schwarzen Ledertasche. »Jawohl,
Herr Raschdorf, da ist ein Brief!«

»Vom Rechtsanwalt,« sagte Raschdorf leise und langte über den Tisch.

»Komm mit ins Stübel, Hermann!« riet der Wirt.

Die beiden Männer gingen ins Wohnzimmer des Wirtes. Mit zitternden
Fingern löste Hermann Raschdorf den Umschlag des Briefes.

»Setz' Dich, Hermann, setz' Dich!« Der Wirt zwang ihn aufs Sofa.

Und Raschdorf las. Da wurde das Gesicht blaß, die Mundwinkel verzogen
sich, der Unterkiefer zitterte, und auf der Stirn brannte ein roter
Fleck wie eine Wunde.

»Verflucht! Oh -- oh -- verflucht!«

Das Papier entsank dem starken Mann, und er selbst fiel mit dem Gesicht
auf das Sofa und krallte seine Finger in die Polster.

»Was is denn, Hermann, um Gottes willen, was is denn?«

Keine Antwort. Der hünenhafte Körper nur zuckte krampfhaft auf und
nieder, die Hände fuhren wie irre hin und her, und der Kopf bohrte sich
in den Sofasitz.

Der Wirt bückte sich, hob den Brief auf und las.

Eine lange Pause entstand.

»Fünfzehn Prozent, nur fünfzehn Prozent!«

Schräger setzte sich auf einen Stuhl. Schweigend betrachtete er den
Unglücklichen, der in dumpfes Schluchzen ausbrach. In den grauen Augen
des Wirtes zuckte es sonderbar. Ein Weilchen blieb er so ganz still,
dann schlich er auf den Zehen hinaus und verkaufte drüben dem wartenden
Briefträger um zehn Pfennig Schnaps und Bier.

»Sagen Sie einstweilen von dem Briefe nichts im Dorfe,« sagte er zu
dem Briefträger und kassierte die zehn Pfennig Zeche ein. Dann ging
er zurück nach der Wohnstube. Behutsam öffnete er die Tür. Raschdorf
lehnte auf dem Sofa, die Füße weit von sich gestreckt.

»Hermann!«

»Na, was sagste? Haste gelesen? Fünfzehn Prozent! Was? Das macht sich!
Diese Schweinebande!«

»Aber 's muß doch 'n Gesetz geben, Hermann!«

»Gesetz geben! Schafkopp! Gesetz! Wenn Du 'n Hund ohne Maulkorb
rumlaufen läßt, oder wenn Du die Wagentafel zu Hause vergessen hast,
da gibt's 'n Gesetz, da werden sie Dich schon fassen; aber wenn kleine
Leute von Spekulanten um ihr Geld begaunert werden, um Tausende, um
viele Tausende, um alles -- da gibt's kein Gesetz, da kräht kein Hahn
darüber, da kümmert sich kein Teufel drum -- Schweinebande!«

Schräger trat nahe an den Sofatisch.

»Es ist schrecklich, Hermann! Und das Schlimmste: nu werd' ich die
Schuld kriegen.«

Raschdorf blickte auf.

»Die Schuld kriegen! Du? Hä! Natürlich bist Du schuld!«

»Hermann, das verbitt' ich --«

»Ach, halt's Maul! Was hat's denn für 'n Zweck, wenn ich Dir die Schuld
geb'? Krieg' ich mein Geld wieder? Was? Nee! Hin is hin! Aber daß Du
mir zugeraten hast, daß Du mir in a Ohren gelegen hast Tag und Nacht,
das steht auf ein'm andern Brette, Schräger!«

»Na, is gut, Hermann! Gut is! Ich werd' Dir ja nich mehr raten! Ich
sag' ja kein Sterbenswort mehr, und wenn Du --«

»Und wenn ich gleich pleite geh'! Weiß ich, Schräger, weiß ich! Is auch
ganz gut so.«

»Na, das is ja richtig! Das habe ich mir ja gerade um Dich verdient!«

Schräger trat ans Fenster und blickte hinaus auf die staubige Straße.
Raschdorf erhob sich und dehnte die Arme.

»So! Nu werd' ich's meinem kranken Weibe sagen, und nachher könn'n wir
ja die Klappe zumachen und fechten gehn.«

Schräger drehte sich langsam um.

»Hermann,« sagte er, und seine Stimme klang warm, »Hermann, wenn Du 'n
Freund brauchst!«

Raschdorf sah ihn mit herbem Lächeln an.

»Wenn ich 'n Freund brauch', komm ich zu Dir. Verlaß Dich darauf,
Schräger!«

Sie sahen sich einige Sekunden in die Augen.

»Adieu, Schräger!« -- --

Über die Straße ging Raschdorf und über seinen Hof. Er sah und hörte
nicht. Als er in den Hausflur kam, blieb er stehen, als ob er Mut
fassen müsse. Von oben herab klang ein hohles Husten. Da raffte sich
der Mann auf. Langsam stieg er die Treppe hinauf und öffnete eine Tür.
»Wie geht Dir's, Anna?«

Die sanfte, zarte Frau, die im Bette lag, sah ihn erstaunt an und
fragte furchtsam:

»Was ist Dir, Hermann?«

»Mir? -- Was soll mir sein?«

Die Kranke richtete sich auf.

»Hermann, es ist was passiert! Dir ist was; Hermann, was ist Dir?«

Er sank auf den Stuhl neben ihrem Bette und lehnte den Kopf an das
kühle Kissen. Und wie sich ein Schuldbekenntnis von Männerlippen immer
schwer und schmerzhaft losringt, so auch jetzt.

»Anna, ich -- hab' spekuliert, -- und ich hab' verloren.«

Eine heiße Röte zog über das weiße Frauengesicht. Sie sagte nicht
gleich etwas, aber dann fragte sie:

»Ist es viel, Hermann?«

»Viel, Anna! Sehr viel! Über -- über viertausend Taler.«

Die Kranke sank in die Kissen zurück und legte den rechten Arm über
die Stirn und die Augen. Und der Mann saß in finsterem Schweigen an
ihrem Bette. Kein Laut. Nur die Frau hustete ein paarmal. Und die Sonne
schien schwül in die Stube.

Da klang ein seltsam Tönen in diese Todestraurigkeit. Vom Garten unten
drang schwaches Kindersingen: »In der Blüte deiner Jahre«.

Müde erhob sich Raschdorf. Er hatte nicht den Mut, seiner blassen Frau
in die Augen zu sehen. So trat er sachte ans Fenster und lehnte sich
gegen die Mauer.

Ein wunderliches Bild bot sich ihm unten im Garten. Er sah nicht alles,
nicht den Hannes, der possenhaft aufgeputzt da unten stand, nicht die
fremden Kinder; er sah ein totes Hühnchen, das mit Myrtenzweigen und
blauen Bändern geschmückt über einer Grube stand, er sah sein schönes
Kind, die Magdalene, und er sah seinen einzigen Sohn, der wie ein
Geistlicher angezogen unten stand und vernehmlich sagte: »~Vita brevis!
Vita difficilis!~«

»Das Leben ist kurz! Das Leben ist schwer!«

Das Wort traf den Mann ins Herz. Er ging zurück zum Bette der kranken
Frau und bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen. --

[Illustration]



[Illustration: Kapitel 2]


Drüben im Buchenkretscham durchmaß der Wirt die einsame Gaststube. Er
war wohl in schwerer Erregung. An allen Tischen blieb er stehen und
trommelte mit den dicken, kurzen Fingern darauf. Immer lockte es ihn
ans Fenster, und er hatte doch nicht den Mut, ganz nahe hinzutreten.
Die Augen aber richteten sich immer aufs neue nach dem Buchenhofe. So
vertieft war er in seine Gedanken und in das Anschauen des stattlichen
Gehöftes, daß er nicht einmal bemerkte, wie sich die Tür öffnete und
ein Mann erschien, der ihn sekundenlang beobachtete.

»Eine wunderschöne Besitzung, der Buchenhof, was, Schräger?«

»Ah -- ah -- ja -- ja -- natürlich -- natürlich; ach, Du bist's,
Berger, Du hast mich ja --«

»So erschreckt, gelt ja? Hähä! Is kaum zu glauben, daß 'n Gastwirt
erschrickt, wenn a Gast kommt.«

»Ich -- ich dachte gerade nur --«

»Du dachtest gerade nur darüber nach, was doch der Buchenhof für 'ne
riesig hübsche Wirtschaft wär', und da kam ich dummerweise und störte
Dich in Deiner Andacht.«

»Bist doch halt a gespaßiger Mensch, Berger. Immer weißte 'n Witz. Was
kann ich Dir denn einschenken?«

»Gar nischt! Ich will Dich bloß was fragen, Schräger. -- -- Weiß er's
schon?« Und er zeigte mit dem Daumen nach dem Buchenhofe.

»Was -- was soll er denn wissen?«

»Von der Pleite und den 15 Prozent!«

»Berger, woher weißt denn Du das schon wieder? Das is ja gar nicht
möglich!«

Der andere lachte.

»Ja, weißte, wenn man Lumpenmann is wie ich und so mit einer
Kurier-Hunde-Post im ganzen Lande rumfuhrwerkt, da hört man vieles. Was
a richtiger Lumpenmann is, der weiß alles.«

Der Wirt sah Berger mit unruhig flackernden Augen an.

»Na, meinetwegen! A weiß schon. A hat halt Pech! Mich geht's ja nischt
an, Berger. Was?«

»Nu je! O ja! Doch, doch!«

Der Lumpenmann lachte bei dieser Rede. Schräger fuhr auf.

»Mich soll's angehen? Mich? Was denn? Was denn zum Beispiel? Möcht' ich
wissen. Was denn, Berger?«

Der lehnte sich gegen das Schenksims, kniff seine Äuglein ein wenig
zusammen und sagte ganz ruhig: »Ich werd' Dir mal was sagen, Schräger.
Siehste, es könnte einer auf den Gedanken kommen, es wär' eigentlich
ganz hübsch, wenn die beiden Buchenhöfe wieder zusammenkämen. -- Laß
mich reden, Schräger, reg' Dich nich uff! Also, wenn alles wieder eine
Herrschaft wär'! Das könnte schon einer denken. Nich? Na, aber 's wär'
'n sehr dummer Gedanke, Schräger, denn die Raschdorfs gehen da drüben
nich raus!«

»Ich weiß nich, was Du hast, Berger. Ich denk' doch im Traume nich an
so was. Der Raschdorf is mein Freund.«

»Is Dein Freund, Schräger. Das ist hübsch von Dir! Und weil Du nu
Deinen Freund mit den Aktien so in die Tinte geritten hast --«

»Berger, das laß ich mir nich gefallen!«

»Weil Du ihn so in die Tinte reingeritten hast, sag' ich, wirste ihn
wohl jetzt wieder rausreiten müssen.«

»Das is 'ne Frechheit von Dir, Berger! Wie kommste denn dazu? Das geht
Dich doch gar nischt an!«

»Geht mich gar nischt an, Schräger, da haste recht! Aber gerade das,
was mich nischt angeht, um das kümmer' ich mich. Schräger, ich will
Dir mal in aller Gemütlichkeit was sagen: Wenn Du etwa am Raschdorf
schuftig handelst, da mach' ich Dich schlecht im ganzen Vaterlande und
im ganzen Waldenburger Kreise. Verstehste? Ich verkauf' Dich als Lumpen
in jedem Hause.«

»Nu is aber genug, Berger! Das sagste mir in meinem Hause? Ich verklag'
Dich, und wenn Du noch 'n einziges Wort sagst, da --«

»Da schmeißte mich raus. Machste recht, Schräger, tät' ich auch machen!
Aber ich geh' schon alleine. Meine Meinung weißte! Leb' gesund,
Schräger!«

Berger hörte noch, daß ihm der Wirt etwas nachzischelte, aber er
kümmerte sich nicht darum. Aus der sauersüß riechenden Wirtsstube trat
er wieder hinaus auf die sonnenbeglänzte, freie Straße. Ein kleiner
Planwagen stand da, vor den ein großer, schwarz- und weißhaariger
Hund gespannt war. Der schielte seinen Herrn mit einem verliebten
Seitenblick an und klopfte in drei gleichmäßigen Zwischenräumen mit
seinem mächtigen Schweife an die Wagendeichsel. Der Lumpenmann stutzte
und betrachtete aufmerksam sein Gefährt, in dem sich leise etwas regte.

»Haste etwa a Raschdorf Heinrich gesehen, Pluto?«

Der Hund bellte freudig.

»Oder vielleichte gar a Schaffer-Hannes?«

Der Hund bellte noch lauter.

»Haste sie wirklich gesehen, Pluto? Möcht' ich wissen, wo sie stecken.«

Der Hund bellte wie toll und zerrte und riß an seinem Geschirr. Der
Lumpenmann bückte sich und machte ihn frei.

»Na, da such', Pluto, da such'!«

Ein Satz, und der mächtige Hund war unter der Plane verschwunden. Ein
Zeter- und Mordgeschrei erhob sich in dem kleinen Wagen, dazwischen
tönte ein ganz rasendes Hundegebell. Der Lumpenmann stand da und
lachte, und die Tränen liefen ihm über das runzelige, bestaubte Gesicht.

Ein paar Gamaschen wurden auf der Deichsel sichtbar, in denen steckten
zwei Quartanerfüße, und nach und nach kam der ganze junge Akademiker
zum Vorschein. Unterdessen war ein wüstes Gebrülle und Gebelle im Wagen.

»Du bist verrückt, Pluto! Mein Gesicht, au, mein Gesicht!«

Der kleine Wagen wankte und bebte von dem gewaltigen Kampfe, der
sich in ihm abspielte, und dann wurde in seiner dunklen Öffnung ein
animalischer Knäuel sichtbar, und rechts von der Deichsel fiel ein Hund
auf die Straße, und links von der Deichsel ein Junge.

Hannes erhob sich mit zerkratztem Gesicht.

»Wir kommen vom Begräbnis,« sagte er kläglich und betrachtete
zerknirscht den demolierten Paradehut seines Vaters. »Da macht man sich
'n kleinen Spaß und kriecht mal in den Lumpenwagen, und gleich hetzt a
mit Hunden. Was bloß mein Vater zu seinem Zylinder sagen wird! Pfui,
Mathias, das werd' ich mir merken! Das is ruppig von Ihn'n.«

Der Lumpenmann lachte, daß er sich schüttelte.

»Ihr Halunken! Gelt, das wär' a Spaß gewesen, wenn Euch der Mathias
Berger ins Dorf gezogen hätte! Na, heul' nich etwa, Hannes! Sagen wird
Dein Vater zum kaputen Zylinder nischt; a sagt ja nie was; höchstens
durchhauen wird a Dich.«

In diesen Worten vermochte Hannes einen erheblichen Trost nicht zu
erblicken, und so versprach ihm Mathias Berger einen neuen Zylinderhut.
Er habe zwei Stück. Einer rühre von seiner Hochzeit her, den anderen
habe er geerbt. Der Hannes solle sich den schönsten gleich abholen,
ehe der Vater vom Felde heimkehre und gewahr werde, was mit seiner
»Trauertonne« passiert sei.

Da war die Not des Buben behoben. Und nachdem Hannes durch einige
kritische Fragen, die das Erbstück betrafen, die tröstliche Zusicherung
erhalten hatte, daß die beiden Hüte Bergers wirklich Prachtexemplare
ihrer Art seien, spannte er sich selbst neben den von ihm sonst
heißgeliebten Pluto und zog mit ihm das Wägelchen die Straße hinab dem
Dorfe zu.

Mathias Berger und Heinrich Raschdorf folgten in einiger Entfernung. Es
war Abend geworden. Einzelne Schnitter kamen heim vom Felde. Irgendwo
draußen waren die ersten Halme gefallen. Wie die Leute am Anfang der
Ernte so stolz daherschreiten! In ihren Muskeln ist aufgespeicherte
Kraft, und die frohe Gewißheit wohnt in ihren Herzen, daß ihr Körper
kräftig und tüchtig ist. Diese gesunden Menschen sind vielleicht
die glücklichsten Leute der Erde. Sicher aber die leidlosesten, die
ruhigsten, die ungeängstigtsten. Was ihnen fehlt, wissen sie nicht,
und was sie haben, steht über aller Wertung nach Geld. Die anderen
haben viel, was Plunder ist, und das Schlimmere ist: sie wissen, was
ihnen fehlt, und grübeln darüber nach und sehnen sich müde. Es ist kein
Wunder, daß ein verschlossener, wortkarger Stolz in den Bauern wohnt.
Lächelt der Städter über den Landmann, wenn er ihn unbeholfen über
seine Straßen troddeln sieht, der Bauer lacht unendlich verächtlicher
über den Städter, wenn der neben seinen Erdfurchen und strotzenden
Saaten so vorsichtig und blaß und müde daherwandelt.

Mathias Berger sah seinen jungen Begleiter an, der einen grauen Anzug
mit kurzen Hosen, einen weißen Strohhut und Gamaschen trug. »Eigentlich
siehst Du Dich komisch an hier auf der Dorfstraße,« sagte er.

»Ja, Mathias, wissen Sie, und ich wär' auch viel lieber wieder zu
Hause.«

»Gefällt Dir's nicht auf der Schule in Breslau?«

»O ja, wenn man der Siebente ist von achtunddreißig, das ist schon
ganz anständig. Im Französischen hab' ich bloß »genügend«, sonst steh'
ich ganz gut. Aber wissen Sie Mathias, das Schlimme ist, daß mir immer
so bange ist.«

»Du hast wohl manchmal das Heimweh, Heinrich?«

Der Knabe mäßigte seine Stimme.

»Ja, aber das sag' ich bloß Ihnen, Mathias! Sonst müßt' ich mich ja zu
sehr schämen. Und meine Kollegen würden sagen, ich sei eine Memme, und
ich kriegte Klassenkeile. Aber mir ist halt immer so bange. Ich kann
nicht dafür. Überhaupt nach den Ferien! Einmal hab' ich nach den Ferien
meine Wochentagsschuhe vier Wochen lang nicht angehabt. Ich mochte sie
nicht abbürsten, weil -- weil Boden von zu Hause dran war.«

Der Lumpenmann wandte sich ab und sagte mit verstellter, etwas heiserer
Stimme:

»Das wirste schon noch überwinden lernen, Heinrich! Oder willste nicht
gern Doktor werden oder Pfarrer oder sowas?«

»Nein, Mathias, ich will nicht! Ich will wieder zu Hause sein, wo Ihr
alle seid.«

»Willste denn Bauer werden, Heinrich?«

»Ja. Sehn Sie mal, Mathias, es wär' doch schade um unser schönes Gut.
Sehn Sie, hier gerade an dem wilden Kirschbaum kann man unsere ganzen
Felder übersehen. Das sind doch viel! Nicht, Mathias? Eigentlich sind
wir doch reich. Aber das sag' ich gar nicht in Breslau. Ich denk' bloß
immer dran, daß wir so ein schönes Gut haben.«

Der Lumpenmann bückte sich hastig nach dem Wegrande, riß einen Stengel
Sauerampfer ab, biß darauf herum und spuckte dann alles weit von sich.

»Was macht denn Deine Mutter?« fragte er.

»Die ist wieder ganz krank. Am Mittwoch, wie Wochenmarkt in Waldenburg
war, war sie mit beim Doktor.«

»Und was hat der gesagt?«

»Das weiß ich nicht. Sie hat geweint, als sie heimkam. Das ist es auch,
was mir immer so bange macht, daß die Mutter nicht gesund ist.«

Sie gingen eine Weile schweigend weiter.

»Sieh nur, daß Du weiter auf der Schule fortkommst, Heinrich! Gelt, bis
in die Prima mußt Du, eh' Du den Einjährigen hast?«

»Bloß bis Ober-Sekunda.«

»Das wär'n also reichlich noch drei Jahre. Sieh och, Heinrich, 's is
schon gutt, wenn Du was lernst. Auf alle Fälle is gutt. 's is ja ganz
erbärmlich, wenn einer so tumm is wie zum Beispiel ich. Kannste denn
eine Stellung kriegen, wenn Du einjährig bist, Heinrich?«

»O ja, es war einer mit auf unserer Bude, der ist nach 'm Einjährigen
abgegangen, und jetzt ist er Schreiber auf einem Landratsamte, und dann
wird er Kreissekretär oder so ähnlich. Aber ich mag nicht Kreissekretär
werden. Ich will Bauer werden.«

»Schon, schon, Heinrich! Aber sieh mal, am Ende könnt'st Du Dich doch
später anders besinnen.«

»Nie, Mathias, nie! Ich übernehm' das Gut. Das ist tausendmal besser,
als wenn ich so in einer Schreibstube sitzen muß.«

Ein Blick des Lumpenmannes glitt über die goldenen Fluren, die sich
rechts und links von ihm ausdehnten und die alle jetzt noch den
Raschdorfs gehörten.

»Wir werden schon sehen, daß Du ein Bauer werden kannst. Wir werden
schon sehen!« sagte er. -- --

Hannes hielt mit der Hundefuhre mitten auf dem Wege an. Aus einem
Feldraine bog ein Trupp Schnitter ein, und an ihrer Spitze schritt
schwer und gewichtig August Reichel, der Vater des Hannes.

»Na, da komm mal schnell, Heinrich, sonst passiert da unten ein
Unglück!« sagte der Lumpenmann und schritt mit seinem Begleiter rüstig
aus.

Sie kamen ziemlich gleichzeitig mit den Schnittern an dem Wagen an.
August Reichel, ein Riese von Gestalt, blieb stehen und betrachtete
höchst beängstigenden Blickes seinen Sprößling, der da beklommen vor
ihm stand und mit der einen Hand krampfhaft hinter dem Rücken etwas
versteckte.

Der Riese reckte ein wenig den Hals und konnte so ganz bequem auch
aus einiger Entfernung die Rückseite seines Nachkommens einer genauen
Musterung unterziehen. Ein Zucken ging über das Gesicht des Goliath.

»Her!« sagte er lakonisch und streckte die Hand aus.

Hannes reichte ihm die ruinierte »Trauertonne« und schielte halb
ängstlich, halb abwartend durch die Haare, die ihm in die Stirn hingen,
zu seinem muskulösen Vater hinauf.

Der betrachtete den Zylinder, nahm den Strohhut vom Kopfe, probierte
den Zylinder auf, fand, daß er ihm passe, prüfte dann das Schweißleder
und hieb plötzlich dem Knirps vor ihm den Hut mit solcher Wucht auf
den Kopf, daß dieser bis übers Kinn darin versank und mit beiden Beinen
zugleich auf der Straße kniete.

»August, halb und halb bin ich schuld,« sagte der Lumpenmann
beschwichtigend, »ich hab' zwei Zylinderhüte zu Hause; ich schick' Dir
einen.«

Über das breite Gesicht des Riesen ging ein Lächeln.

»Ich brauch' keinen!« sagte er und nickte dem Lumpenmann freundlich zu.
Daran setzte er sich wieder an die Spitze seiner Schnitterschar und
schritt in breitbeiniger Majestät die Anhöhe hinauf dem Buchenhofe zu.

Hannes arbeitete sich ans Tageslicht. Er sah seinem Vater halb
ärgerlich, halb schadenfroh nach und sagte, indem er sich die Stirn
rieb und dem Vater mit dem Finger nachdrohte:

»Na wart' nur! Wenn ich heute abend Koppschmerzen hab', da wirste mir
ja Tee kochen müssen!«

Mathias Berger lachte, Pluto bellte einen kleinen Jubelhymnus, Hannes
faßte ihn um den Hals, und die kleine Karawane zog weiter.

So kamen sie bei dem kleinen Hause des Lumpenmannes an. Die Liese kam
ihnen entgegen. Eine ganze Woche lang hatte sie den Vater wieder nicht
gesehen. Nun schmiegte sie sich zärtlich an ihn. Er aber schlang den
Arm um sie und fuhr mit der Hand über ihren flachsblonden Kopf.

»Liese! Nu, Liese! Nu, mei Madel du!«

Ein ganzer Strom von Liebe ging durch diese paar Worte. Dann kam auch
die Schwester Bergers, die ihm seit dem frühen Tode seiner Frau die
Hauswirtschaft besorgte. Unterdessen spannten die Knaben den Hund aus
und schoben den Wagen in einen kleinen Schuppen. Mathias Berger folgte
ihnen. Er hob einen riesigen Sack aus dem Wagen, der prall mit Lumpen
gefüllt war, und schüttelte ihn aus.

»Na, da seht mal! Wenn ich die sortieren werd', das ist ganz
int'ressant. Da ist alles dabei. Wollflecke von Großmutterkleidern und
Kattun von Kinderschürzen, Übrigbleibsel vom Brautstaate und Leinwand
von einem Totenhemde. A Lumpenmann kann alles sehen. Es kommt von allem
was in seinen Sack.«

Heinrich folgte gedankenvoll diesen Worten; aber Hannes hörte nicht
darauf und machte sich mit einem kleinen Holzkasten zu schaffen.

In der Stube wurde dieses Schatzkästlein geöffnet. Ein Kinderherz
konnte bei solchem Anblick selig sein. Es gab ja auch einige
langweilige Dinge in dem Kasten, wie: Fingerhüte, Nähnadeln, Zwirn,
Jerusalemer Balsam und Federhalter. Aber sonst! Soldatenbilder,
allerhand andere Bilder mit schönen Versen von Gustav Kühn aus Neu
Ruppin, Peitschenschnüre, Pfeifen, Kreisel, Spielmarken, Papierorden,
kleine Pistolen, Vogelpfeifen, »goldene und silberne« Uhren und
Fingerringe die schwere Masse mit den prachtvollsten Steinen.

»Ich möchte gerne a Fingerringel für die Raschdorf-Lene« sagte Hannes,
»weil die mir ofte manchmal a Stückel Wurstschnitte gibt.«

»Such' Dir einen aus, Hannes,« sagte der Lumpenmann.

Der Knabe wühlte mit zitternden Fingern in den Schätzen. So mag den
Märchenprinzen zu Mute gewesen sein, die nach dem Wunderring suchten.

Heinrich stand etwas abseits. Er hielt es wohl mit seiner
Gymnasiastenwürde unvereinbar, sich noch für solche Dinge zu
interessieren, aber er wandte doch kein Auge von dem Kasten.
Schließlich trat er mit gewaltsam erzwungener Gleichgültigkeit näher.

»Was ist denn da eigentlich alles?« fragte er mit ungeheurem Gleichmut.

»Wenn Dir was gefällt, Heinrich, such' Dir nur aus,« sagte Berger
freundlich.

Heinrich tat so, als ob er das durchaus nicht beabsichtige, aber
schließlich prüfte er doch eine kleine Zündblattpistole und ließ sich
durch einiges Zureden Bergers bewegen, sie nebst einer Schachtel
Munition zu behalten. Auch einen silbernen Ordensstern nahm er noch an
sich. Dann aber fühlte er das Bedürfnis, wieder ernsthafter aufzutreten.

»Wissen Sie, Mathias, wer die Lumpenmänner eigentlich in Schlesien
eingeführt hat?«

»Nein,« sagte Mathias, »das weiß ich nicht.«

»Das hat der Alte Fritz getan,« belehrte ihn Heinrich. »Vor der Zeit
des Alten Fritz gab's keine Lumpenmänner in Schlesien.«

»Da hat der Alte Fritz was sehr Kluges gemacht,« entgegnete Berger.

»Is überhaupt sehr tüchtig gewesen,« sagte Hannes wohlwollend, um damit
zu zeigen, daß er auch in der Geschichte bewandert sei. Dabei stellte
er drei Ringe in die engere Wahl: einen Diamantring, einen Rubinring
und einen einfachen Silberreif, auf dem das Wort »Liebe« eingeprägt war.

»Ja,« nahm Heinrich wieder das Wort, »der Alte Fritz war sehr sparsam,
und er wollte nicht, daß die Leute was wegwarfen: Lumpen, Knochen,
altes Eisen und so ähnlich. Da setzte er die Lumpenmänner im Lande
ein. Und die mußten solche Dinge im Kasten haben wie Sie, Mathias. Und
das nennt man Tauschhandel. Wobei es auch auf die neuen Papierfabriken
ankam.«

Bergers Augen leuchteten. »Sieh mal, Heinrich, das is doch hübsch, wenn
einer das alles weiß. Ich bin nu schon so lange Lumpenmann, und ich
bin es auch gerne; aber ich hab' noch nie gewußt, wer uns eigentlich
erfunden hat. Es wär' doch hübsch, wenn Du weiter studiertest und
ein Gelehrter würdest. Nich, Heinrich? Sieh mal, Bauern gibt's doch
massenhaft auf der Welt.«

Der Knabe fühlte sich geschmeichelt, aber er schüttelte doch den Kopf.

»Nein, ich will Bauer sein. Ich will den Hof übernehmen. Ich will immer
hier sein.«

»Das is richtig,« stimmte Hannes bei; »wenn Du nich da bist, is nischt
los zu Hause. Sieh mal, Heinrich, welchen nehm' ich nu: den mit dem
weißen oder den mit dem roten Stein? Den silbernen mit »Liebe« mag ich
nich; da gäb' mir die Lene am Ende 'ne Backpfeife. Ich denke, ich nehm'
den roten.«

»Nimm sie beide, Hannes,« sagte der Lumpenmann. »Wer die Wahl hat, hat
die Qual.«

»Aber der silberne ist auch niedlich -- sehr hübsch ist er,« sagte
Heinrich.

»So behalt' ihn,« sagte Berger.

»Den mit »Liebe«?« fragte Hannes erstaunt. »Wem willste denn den mit
»Liebe« schenken, Heinrich?«

Der Quartaner wurde blutrot.

»Ach, niemand,« stotterte er, »niemand, vielleicht der Liese.«

Und er gab das unechte, kleine Ringlein der Liese, der Tochter Bergers,
die schon lange mit roten Wangen hinter ihm gestanden hatte.

       *       *       *       *       *

Am Abend noch, als die Sonne im Verlöschen war, ging Mathias Berger die
Dorfstraße hinab nach der Schule. Die beiden Knaben waren längst zu
Hause; die kleine Liese lag im Bett und schlief und hatte das silberne
Ringlein am Finger.

Der alte Dorfkantor Johannes Henschel saß an einem Harmonium und
spielte aus einer Orgelpartitur.

»Es ist eine schwere Sache, eine sehr schwere Sache, Herr Kontor, wegen
der ich komme,« sagte Berger.

»Was ist denn?«

»Herr Kantor, eh' 's Ihnen die anderen sagen: Ihr Schwiegersohn, der
Herr Raschdorf, verliert bei der Fabrik sein Geld.«

Das blasse Gesicht des alten Lehrers wurde noch um einen Schein fahler,
und die welke Rechte fuhr nach der Brust.

»Bei den Aktien?! Ist das möglich, Berger? Ist das möglich?«

Mathias Berger sah den Alten mitleidig an.

»Es ist so, Herr Kantor. In Altwasser drüben der Teichmann verliert
auch dreitausend. Von dem weiß ich's. Fünfzehn Prozent kriegen die
Aktionäre raus. Das ist alles.«

Ein Zittern ging über das Antlitz des alten Mannes. Dann stützte er den
Kopf schwer auf die Hand.

»O mein Gott!«

Es war ganz still in der Stube, nur die Uhr tickte leise. Draußen erhob
sich ein matter Nachtwind und fuhr müde durch die alten Bäume des
Schulgartens.

Mathias Berger nahm wieder das Wort.

»Sehn Sie, Herr Kantor, das ist ja eigentlich nicht meine Sache. Es
geht mich gar nischt an. Aber Sie wissen ja, ich bin Ihn'n viel Dank
schuldig. Wie ich a blutarmer Junge war, ohne Vater und Mutter, da
haben Sie mich aufgenommen und mich großgefüttert. Das vergess' ich
nich, und wenn ich hundert Jahr' werd'. Was mir das jetzt leid tut,
kann ich gar nich sagen. Aber, Herr Kantor, der Herr Raschdorf sollte
sich nich mit 'm Schräger einlassen. Das is a grundschlechter Kerl!«

»Der Gastwirt? Ach nein, Berger! Der hat ja meinem Schwiegersohn immer
noch ausgeholfen, wenn's einmal fehlte.«

»Ausgeholfen, Herr Kantor! Warum denn? Warum denn? Weil a ihn nach und
nach ganz in seine Gewalt kriegen will. Bloß darum! Ich sag' Ihnen, dem
dicken Kerle wird erst ganz wohl sein, wenn a beide Höfe hat. Darauf
spekuliert a, darauf hat a's abgesehn! Schräger is Raschdorfs größter
Feind!«

Der alte Kantor schüttelte unwillig den Kopf.

»Das müssen Sie nicht sagen, Berger, das ist unrecht! Schräger hat sein
Geld auf die letzte Hypothek gegeben. Der ist ein Freund von meinem
Schwiegersohn.«

Mathias Berger erhob sich.

»Na, da -- da tut mir's leid, daß ich was gesagt hab'.«

»Setzen Sie sich, Berger, setzen Sie sich doch wieder! Sie sehen zu
schwarz. Der Schräger und mein Schwiegersohn sind Freunde. Sie sind
zusammen in die Schule gegangen, sie sind zusammen aufgewachsen.
Schräger ist nicht schuld. Das ist halt Unglück, Berger, schreckliches
Unglück! O Gott, ich weiß ja nicht, was werden soll! Fünftausend Taler!
Und mir hat er immer nichts gesagt, wie's steht, nichts!«

Eine Pause entstand. Beide Männer starrten vor sich hin.

»Um Ihre Tochter tut mir's leid,« sagte Berger endlich leise.

Der alte Lehrer wandte sich ab.

»Und um den Jungen, um den Heinrich! Heute sagt a mir, a will nich
studieren; a will Bauer werden -- übernehmen die Wirtschaft --, das is
ja a Jammer.«

Ernst und groß wandte der Alte die Augen dem schlichten Manne gegenüber
zu.

»Ich hab' ein Unrecht begangen, Mathias -- ich, nicht der Schräger.
Ich mußte dem Raschdorf die Anna nicht geben. In so einem Gut muß Geld
sein! Was waren da die paar Pfennige, die ich ihr mitgeben konnte? Gar
nichts! Gar nichts! -- Und nun ist das Elend da. Ich bin schuld daran,
Mathias -- ich!«

Berger richtete sich auf.

»Herr Kantor, nehmen Sie's nich übel, aber das is -- das is Unsinn, was
Sie da sagen. Sie sind nich schuld! Der Raschdorf stand sehr gut da.
Der brauchte keine reiche Frau. Bei dem ging's ohne Mitgift. Aber wie
hat a gelebt? Wie a gnädiger Herr! Immer oben raus! Und das Schlimmste:
a hat sich mit dem Schräger eingelassen, und das is und bleibt ein
Malefiz-Lump, und wenn a noch so scheinheilig tut, und wenn Sie noch so
für ihn reden.«

Der Kantor schüttelte den Kopf.

»Es wäre schlecht, Mathias, einem zweiten die Schuld zu geben, wenn uns
ein Unglück trifft. Und selbst, wenn er ihm zugeredet hat, wer konnte
das ahnen? Den Ausgang konnte niemand wissen. Es ist eine bittere
Sache, Mathias, wenn man alt ist und ein einziges Kind hat, und dem
geht's so!«

       *       *       *       *       *

Als der Lumpenmann heimging, lag die Sommernacht über dem schlummernden
Dorfe. Ernte! In schweren, schwülen Zügen atmete draußen das
todgeweihte Feld.

Mathias Berger blieb stehen und sah noch einmal nach dem Schulhause
zurück, das ihm in seiner Kindheit ein zweites, besseres Vaterhaus
gewesen war und wohin ihn auch jetzt noch eine leise Sehnsucht immer
wieder führte. Er liebte den alten Mann dort, der so gutmütig und
kurzsichtig war, daß er die Bosheit der Menschen nicht erkannte, nicht
die Bosheit, aber auch nicht die geheimen, tiefen Leiden, die dicht
neben ihm bluteten.

Als bettelarmes Kind hatte ihn der Kantor aufgenommen in sein Haus, ihn
erzogen, ihn auch außer der Schulzeit unterrichtet. Da war der Mathias
mit der Schul-Anna zusammen aufgewachsen, und sie hatten gelebt wie
Bruder und Schwester. Später ging Mathias als Bergmann in die Grube.
Aber wenn er einen freien Sonntag hatte, war er im Schulhause. Da war
leise, während er heranwuchs, die Liebe in sein Herz gekommen. Es hatte
niemand was gewußt, nicht der Kantor und auch nicht die Anna. Es wäre
ja so schrecklich frech und undankbar gewesen, wenn er etwas davon
gezeigt hätte, er, der arme Kohlenschlepper.

Bis sie sich verlobte. Da war es zu Ende gewesen mit seiner Fassung. Er
brachte es nicht mehr über sich, ins Schulhaus zu gehen. Und damals hat
es dann die Anna gewußt. Der Kantor hat sich bloß gewundert und über
den Abtrünnigen geärgert.

Ach, die furchtbare Arbeit in der Kohlengrube! So allein sein in den
düsteren Stollen unter der Erde und gar keine Hoffnung haben für alle
Zukunft. Das hielt Berger nicht aus.

Ein Verwandter von ihm starb und hinterließ ihm ein Häuslein und das
Lumpenhandelgeschäft. Der Kantor wollte von dem Berufswechsel nichts
wissen; aber Mathias war froh, daß er nun immer im Freien sein konnte,
herumwandern in der Welt bei vielen Leuten und nicht mehr allein sein
mußte mit seinem Herzenskummer. Da wurde er allgemach wieder ruhiger
und heiterer. Nach einigen Jahren heiratete er ein braves Mädchen. Er
hatte ihr keine trübe Stunde bereitet, sie ihm auch nicht. Aber sie
starb schon nach einem Jahr, als die Liese geboren wurde.

Da war er wieder einsam. Und über Ehe und Grab kam manchmal in stillen
Stunden aus der Jugendzeit die alte Liebe wieder, ganz wunschlos,
aber doch schmerzhaft tief -- so wie heute, da sie krank und schwach
nun doch der Armut entgegengehen sollte, der Armut, die allein ihm
einstmals verbot, sie zu begehren.

Von fernher kam ein Gewitter, und Mathias ging heim.

[Illustration]



[Illustration: Kapitel 3]


Anfang des nächsten Oktober kam Heinrich wieder nach Hause. Es waren
Herbstferien. Ein Dienstjunge holte ihn mit einem kleinen Korbwagen vom
Bahnhof ab. Die großen, schwarzen Augen des Knaben hingen unverwandt
an den heimischen Bergen. Immer, wenn er von der flachen Oderebene
da unten kam und zum ersten Male wieder die Hügel des prächtigen,
reichgegliederten Waldenburger Berglandes aufsteigen sah, schlug sein
Herz schneller, gerade als ob auf den einsamsten jener Berge ein
heiliger Friede wohne, wo allein alle Bangigkeit gestillt und alle
Sehnsucht vergessen würde.

Und doch war die Landschaft trübe. Die bunten Blätter zitterten an
den Bäumen, und weiße Nebelschleier zogen über die leeren Wiesen. Die
Weiden standen wie gebückte, krumme Greise an den Bächen und Teichen,
als wollten sie sich hinunterstürzen und sterben. Und der Wind sang
in den hohen Pappeln am Wege ein Lied vom fernen Sommer und von toter
Freude.

Aber es war die Heimat, die Heimat, die dieser Knabe schmerzhaft
liebte, an die er alle Tage dachte, da er ihr fern sein mußte.

Langsam fuhr der Wagen die sandige Straße entlang. Der Kirchturm des
Dorfes ragte auf; da lief ein Zittern über die Gestalt des Kindes,
und die feine Gestalt reckte und dehnte sich, mehr zu sehen, mehr von
der Heimat. Dann kam ein Grenzweg, und nun war Heinrich Raschdorf auf
väterlichem Boden. Ein glückseliges Leuchten brach aus seinen Augen.
Jetzt war es aus mit Sehnsucht, Heimweh und Herzeleid, jetzt fühlte er
sich sicher und geborgen.

Hier auf heimischer Erde wäre er dem gefürchtetsten Lehrer sicher und
lächelnd entgegengetreten; hier hätte er sie nur einmal haben mögen,
alle seine Mitschüler; beide Hände würde er ausstrecken und sagen:

»Seht Ihr, hier bin ich zu Hause! Hier wohnen mein Vater und meine
Mutter und mein Großvater und alle, die ich kenne. Und alle die Felder
sind unser, und dort drüben das ist unser Hof.«

Ein Mann mit einem Jagdgewehr ging über die Felder, kaum zwei- oder
dreihundert Meter vom Wege entfernt. Der Dienstjunge hielt das Pferd
an. Heinrich aber sprang auf, riß den Hut vom Kopfe, winkte und schrie:
»Vater, Vater, Vater!«

Der Mann unten blieb stehen, blinzelte durch das Herbstlicht herauf und
winkte ein wenig mit der Hand. Dann gab er ein Zeichen weiterzufahren
und setzte seinen Pirschgang fort.

Knarrend fuhr der Wagen die Straße weiter. Der Knabe saß ganz still.
Ein Kartoffelfeld tauchte auf. Eine Anzahl arbeitender Menschen waren
da beschäftigt und wühlten geschäftig in der schwarzen Erde nach den
weißen, duftenden Knollen. August Reichel, der Schaffer, überwachte
das Ganze wie ein schweigender König. Aber allen nahm er die schweren,
gefüllten Körbe ab und schüttete deren Inhalt auf einen riesigen Wagen.

Da trennte sich ein junger Bursche vom Arbeitstroß, rannte ein
Stückchen, fiel über einen Kartoffelsack, stand wieder auf, stolperte
noch einmal über eine Furche, riß dann die Mütze vom Kopfe, schlug in
einem ganz närrischen Tempo Räder damit in die Luft, sprang über den
Straßengraben, trat an den Wagen und sagte keuchend:

»Na, Heinrich, das is aber fein, daß De kommst!«

»Guten Tag, Hannes! Du hast ja so kalte Hände.«

»Na, klaub' mal Kartoffeln, wenn der Boden so kalt is! Du kannst froh
sein, daß De immer Quartaner sein und in der Stube sitzen kannst.«

»Hannes, Du mußt mitkommen!«

Heinrich rief hinüber nach dem Felde: »He! -- Reichel! -- Schaffer! --
Darf der Hannes mit mir fahren?«

Der Riese verfiel in Nachdenken, schüttelte erst heftig den Kopf,
dachte aber weiter nach, zuckte dann unschlüssig die Achseln, machte
noch eine bedenkliche Pause, nickte darauf kurz und wandte sich ab.

»Das wußt' ich schon,« sagte Hannes und kletterte auf den Wagen. »Ich
sag' Dir, a hätte sich geärgert, wenn ich nich mitgefahren wär', und
ich och. Los, Friedrich! Nu komm'n wir vom Gymnasium! Haste vielleicht
Zigaretten, Heinrich? Hier sieht's keen Mensch!«

Auch der einsame Jäger ging heim. Er hatte kein Glück. Seine Jagdtasche
blieb leer.

Glück! Raschdorf lachte. Er und Glück haben! Das gab's lange nicht mehr
für ihn.

Müde lehnte er sich auf sein Gewehr und sah düsteren Blickes über
die kahlen, toten Felder und nach den Wolken, die schwer über die
bunten Berge herabsanken. So trübselig hüllten sie die schimmernde
Herrlichkeit ein, wie man dunkle Decken und Schleier zieht über goldene
Wände zur Zeit der Trauer. Nach Minuten erst merkte der Einsame, daß er
in Gefahr sei, denn die Hähne des Gewehrs, gegen dessen Lauf er sich
lehnte, waren gespannt.

Ein herbes Zucken ging über das Gesicht des Mannes, dann riß er das
Gewehr herauf und feuerte beide Schüsse in die Luft. Er schloß die
Augen bei dem dumpfen Knall, dann ging er weiter.

Und wie so häufig in letzter Zeit, ging er zum Schräger. Er traf den
Wirt allein, denn es war noch am zeitigen Nachmittag.

»Nu, kommste mit a Zinsen, Hermann?« fragte Schräger freundlich.

»Haste es so eilig mit a Zinsen? Ich dächte, Du brauchst 's nich so
nötig.«

»Nu je, sein Geld braucht jeder; jeder, Hermann! Ich och!«

Raschdorf setzte sich schwerfällig hinter einen Tisch.

»Schneid' mir's aus der Haut! Ich hab's nich! Hexen kann's keiner!«

Der Wirt wandte ihm verdrießlich den Rücken und sah mürrisch zum
Fenster hinaus. Draußen rumpelte eine Rübenfuhre langsam vorbei. Dann
wurde es still. Keiner der Männer sprach.

Da öffnete sich die Tür, und ein etwa siebzehnjähriger Junge
trat herein, ein starker Bursche von auffallend idiotischem
Gesichtsausdruck. Das war der einzige Sohn Schrägers.

»Hu, hu,« sagte er und rieb sich die Hände. »Is aber kalt heute! Mag
ich nich auf dem Felde sein -- mag ich nich -- mag ich gar nich a
bissel. -- Schön tumm! -- Schön tumm! -- Schön tumm!«

»Du sollst machen, daß Du wieder rauskommst, Du Faulpelz!« sagte
Schräger.

Aber der Sohn lachte ihn aus.

»Selber Faulpelz! Och, es is kalt draußen. Und hier is warm! Hier is
viel schöner! Schön tumm! -- Schön tumm!«

Er fing an zu pfeifen und hüpfte auf einem Bein die Stube entlang,
wobei er sich immer abwechselnd Ohren und Nase rieb. Dann setzte er
sich hinter einen Tisch und dröselte stumpf vor sich hin. Schräger
beachtete ihn nicht mehr. Er wandte sich wieder an Raschdorf.

»Sieh mal, Hermann, Ordnung muß nu mal sein. In Geldsachen hört die
Gemütlichkeit auf. Das is nu mal so! Zum Wegschenken hat ja keiner was.«

Raschdorf fuhr auf und schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Wegschenken? Wer spricht denn vom Wegschenken? Mir braucht keiner was
zu schenken, und Du zu allerletzt. Das hab' ich noch nicht nötig!«

Schräger zuckte die Achseln.

»Immer gleich beleidigt! Immer der große Herr, der sich nischt sagen
läßt. Siehste, Hermann, das is Dein Fehler. Du hast Dir's nach und nach
mit allen Bauern verdorben. Wenn Du mehr Freunde hättest --«

»Ach, halt's Maul, laß mich in Frieden mit den Schafköppen!«

»Ihihihi -- Schafköppen, Schafköppen, Schafköppen!« lachte der Idiot.

»Du sollst machen, daß Du rauskommst, Gustav!«

Der Junge rührte sich nicht vom Platze.

»Ne,« grinste er. »Es is kalt! Schön tumm!«

Raschdorf nahm wieder das Wort.

»Würde mir einer von den'n helfen? Was? Keiner! Sie würden sich hüten.
Sie borgen mir nicht einen Taler.«

»Das macht bloß der Schräger,« sagte der Wirt bitter. »Der is der
Schafkopp.«

Da wurde das Gesicht des Buchenbauern dunkelrot, und er fuhr jähzornig
auf:

»Du -- Schräger -- ich -- ich -- geb' Dir 'ne Backpfeife!«

»Gib ihm eine, gib ihm eine!« schrie der Idiot mit Begeisterung.

Der dicke Leib des Wirtes zappelte vor Erregung. »So? -- Soso?
Backpfeifen -- Backpfeifen bietet mir der gnädige Herr an? So?
Backpfeifen für alles, was ich ihm schon zu Gefallen getan hab'? Is
gutt, Herr Raschdorf! Wenn ich bis morgen meine Zinsen hab' und zum
nächsten Quartal meine 20000 Mark, da -- da kann der gnädige Herr
backpfeifen, wen a will.«

Es wurde still. Nur eine Zeitung knisterte, die der Idiot mit den
Händen bearbeitete. Schräger trat wieder ans Fenster und sah hinaus.
Langsam erhob sich Raschdorf und griff nach seinem Gewehr. Und so trat
er neben den Wirt.

»Julius,« sagte er langsam und schwer, »ich werd' versuchen, daß Du zu
Deinem Gelde kommst. Was ich heute rede, weiß ich nich. Mir summt alles
im Koppe, und manchmal -- da -- da wird mir ganz trübe. Siehst Du,
vorhin, draußen auf 'm Felde, da hab' ich so auf der Büchse gelehnt --
so --«

»Sie is doch nich geladen?« kreischte der Wirt und trat ein paar
Schritte zurück.

Raschdorf lächelte. »Vorhin war sie geladen -- jetzt nich!«

Schräger betrachtete ihn mit unruhigen Augen.

»Du mußt doch nich -- Du mußt doch nich, Hermann, hier in der Stube --
leg' mal die Flinte weg und setz' Dich wieder! Wir wollen miteinander
reden.«

Der andere folgte mechanisch.

»Wieviel haste denn übrig, Hermann?« fragte der Wirt.

»Übrig?« Raschdorf lachte. »Übrig is sehr gut! Ich häng' noch von
Johanni her, und dann in fünf Tagen is 'n Wechsel fällig über 500 Mark.
Ich -- ich weiß mir keinen Rat mehr. Es gelingt mir nischt mehr, es
geht nich mehr, alles geht krachen, Geld kommt nich ein -- es is zum
Verrücktwerden!«

»Aber Du hast doch noch das ganze Getreide in den Scheunen. Warum läßte
denn nich ausdreschen?«

»Eins -- zwei, links -- rechts, eins -- zwei, links -- rechts!« Der
Idiot hatte sich einen Helm aus Papier gemacht und marschierte durch
die Stube.

»Mach' doch, daß Du rauskommst, Gustav,« fuhr ihn nun Raschdorf an.
»Man kann ja kein vernünftiges Wort reden, Du alberner Bengel!«

Gustav schnitt ihm eine Grimasse. »Schön tumm! Gar nischt zu sagen!
Es is kalt draußen. Eins -- zwei, rechts -- links!« Dann hielt er
plötzlich inne, drohte dem Bauern mit der Faust und schrie:

»Gar nischt zu sagen! Gar nischt rauszuschmeißen! Hu je, es is so kalt,
es is so sehr kalt!«

Er heulte laut auf. Sein Vater sagte freundlich zu ihm: »Setz' Dich
still in den Winkel, Gustav! Du kannst hierbleiben!«

Er war tief verstimmt. Er selbst schrie seine Kinder manchmal an,
aber von fremden Leuten ließ er ihnen nicht zu nahe treten. Der Idiot
setzte sich hinter einen Tisch und heulte stumpf eine Weile vor sich
hin. Von Zeit zu Zeit warf er einen grimmen Blick nach den Männern
und drohte mit der Faust. Dann nahm er den Papierhelm vom Kopfe und
entfaltete das Zeitungsblatt. Er fand ein Bild darin, das ihn offenbar
sehr interessierte, denn er stierte es unausgesetzt an, lachte, grunzte
zuweilen vergnügt und schnitt Gesichter dazu.

Ein Bauer aus dem Dorfe trat in die Stube.

»Guten Tag, Schräger! 'n Korn! Tag, Raschdorf!«

»Guten Tag, Riedel!«

»Na, wie geht's?«

Raschdorf lachte.

»Gutt geht's! Famos geht's! Wie soll's gehen?«

Der Bauer nickte.

»Na ja, wie soll's dem reichen Raschdorf gehn? Dem muß 's gutt gehn!
Habt Ihr's schon gehört? Beim Huhndorf sein'm Schwager hat's letzte
Nacht gebrannt. Die Scheune und die Stallung is abgebrannt.«

»Ach, da is das dort gewesen?« sagte der Wirt. »Die Röte haben wir ja
gesehen; 's muß a riesiges Feuer gewesen sein. Nu, wie is denn das
zugegangen?«

Riedel zuckte die Achseln und lächelte vielsagend.

»Ja, wer weiß! Wenn einer gut versichert is, und die Gebäude taugen
nich mehr viel, da is ja das Abbrennen gar keen so großes Unglück nich.«

Raschdorf lachte grimmig.

»Da haste recht! Man möchte selber wünschen, daß's amal brennte!«

»Versündigt Euch nur nicht!« sagte Schräger.

Riedel blickte Raschdorf aufmerksam an.

»Nu, bei Dir sind doch die Gebäude noch ganz gutt!«

Raschdorf zuckte die Achseln.

»Gutt? Was heißt gutt? Flickereien gibt's immerfort. Die Scheunen
möcht' ich neu decken lassen, und der Kuhstall is ganz erbärmlich
eingerichtet. Die alten Kerle haben keine Idee gehabt, wie a
vernünftiger Stall zu bau'n is. Na, und wie das beim Huhndorf sein'm
Schwager is -- a kriegt a schönes Stück Geld von der Versicherung, und
dann -- ein'm Abgebrannten hilft jeder. Das is gar nich so schlimm.«

»Na, immerhin, jetzt vor'm Winter -- 'ne Zuckerlecke is das nich.«

»Nu, ja, man red't halt so,« sagte Raschdorf achselzuckend; »ich für
mein Teil red' ihm ja auch nichts Böses nach.«

Damit sprang die Unterhaltung auf etwas anderes über. Ein paar andere
Gäste kamen noch, und der dicke Wirt ging immer hin und her mit den
gefüllten Schnapsgläsern. Am meisten trank Hermann Raschdorf.

       *       *       *       *       *

Drüben seine kranke Frau war allein. Am Nachmittag, als ihr Junge
heimgekommen war, hatte sie seit Wochen wieder einmal eine glückliche
Stunde gehabt. Den Hannes, der mitkam, hatte sie mit einem Auftrag ins
Nachbardorf geschickt. Es war ihr zu unruhig, und sie wollte auch ihren
Heinrich allein für sich haben.

Sie war so einsam. Höchstens daß ihr Vater aus dem Dorfe kam und
sie besuchte. Den Mann sah sie selten, und wenn er da war, hatte
er schlechte Laune. Und das Kind, die Magdalene, war nicht fürs
Stillsitzen. Ihr gesunder Körper wollte hinaus zu Arbeit oder Spiel.

So war sie eine stille Frau, immer sich selbst überlassen. Da kamen
so trübe Gedanken. Krank sein, immer krank, keine Hoffnung haben auf
völlige Heilung, machtlos zusehen, wie dem Manne sein Hab und Gut
langsam aus den Händen glitt und den Kindern die Heimat versank, das
war ihr Los.

Aber die Märtyrerinnen murren nicht, und wenn sie jemand um ihr
Schicksal fragt, lächeln sie. Und es ist auch im ärmsten Leben etwas
Liebes und Lichtes.

Der Heinrich! Er hing so zärtlich an ihr, er schrieb ihr alle drei
Tage einen Brief. Und wenn sie in stiller Nacht leidend und wachend
in ihrer tiefen Verlassenheit im Bette lag, dann suchte auch ihre
geängstigte Seele eine Heimat. Durch die Nacht flog ihre Sehnsucht,
hinab über Berge, hin über rauschende Wälder und schlummernde Dörfer,
bis zu einer großen, glänzenden Stadt an einem breiten, tiefen Strom,
dorthin, wo die hellen Lichter nicht erlöschten die ganze Nacht, wo
das Leben flutete auf den Straßen und Plätzen, und wo doch in einem
einsamen Stüblein ein müder Knabe schlief, dessen letzter Gedanke seine
Mutter gewesen. Am warmklopfenden, reinen Herzen dieses Kindes machten
Frau Annas Leid und Sehnsucht Halt und wurden stille -- denn dort war
ihre Heimat.

Und heute war diese Heimat ihr wieder nähergerückt, heute war
eigentlich auch sie nach Hause gekommen.

Es war so schön gewesen die zwei Stunden, so, als ob draußen goldener
Sonnenschein wäre und die blassen Astern im Garten strahlende Rosen
seien. Von ihrem Kummer und ihren Leiden hat sie ihm wenig erzählt,
fast gar nichts. Sie wollte sich diese Glücksstunde, auf die sie lange
gewartet hatte, nicht trüben. Sie fühlte ja auch nichts Schmerzliches,
sie war ganz gesund und glücklich.

Aber dann war der Hannes zurückgekommen. Er hatte sich heute sehr
beeilt. Da hatte sie selbst dem Heinrich zugeredet, er solle ein
bißchen mit dem Hannes hinausgehen; sie wolle nun ruhen.

So war sie wieder allein. Aber das stille Lächeln auf ihrem Gesichte
blieb. Die Lene kam und brachte die Lampe. Sie küßte die Mutter in
großer Eile und ging bald wieder hinaus.

Es war so stille. Man hörte, wie die Lampe knisterte. Der Dackel war
verfroren vom Felde gekommen und vertrug sich heute sogar mit der
Katze, nur um ein Plätzchen am Ofen neben ihr in ungestörter Ruhe zu
genießen.

Die Uhr schlug sieben. Da ging draußen knarrend das Hoftürchen, und ein
schwerer, unsicherer Schritt schlurrte über den Hof. Das war wohl ihr
Mann. Sie lauschte. Die Schritte verloren sich, er kam noch nicht ins
Haus.

Erst nach einer knappen Viertelstunde trat er bei ihr ein. Er hing die
Mütze an einen Nagel und sah sich unsicher um.

»Wo is der Heinrich?«

»Er is ein bißchen drüben beim Schaffer.«

»So. Beim Schaffer? Ge -- hört a da hin? Was? Hierher gehört a! Der
Schaffer is wohl wichtiger -- wie -- wie ich -- was?«

Die Frau wandte sich ab.

»Er kommt gleich wieder!«

»So? Kommt gleich! -- Will ich auch -- will ich auch wünschen.«

Da ging schon die Haustür, und Heinrich kam. Hannes war in seiner
Begleitung Aber wie er sah, daß der »Herr« in der Stube war, zog er es
vor, draußen zu bleiben.

»Guten Abend, Vater!«

»Nu, kommste endlich?«

»Ja, ich war ein bißchen beim Schaffer, weil Du noch nicht da warst.«

»Weil ich -- weil ich nicht da war? Werd' wohl noch amal fortgehen
können -- was?«

»Ich bitte Dich, Hermann.«

Der Junge setzte sich niedergeschlagen und verschüchtert an den Tisch.

Sein Vater trat vor ihn, legte die Hand auf seine Schulter und
schüttelte ihn ein bißchen. Dann sagte er mit rauher Stimme: »Na, haste
schon die große Neuigkeit gehört, daß wir -- daß wir -- so gut wie
bankerott sind?«

»Vater!«

»Hermann, ich bitte Dich --«

»Was is da zu schreien? In a paar Monaten da wissen's alle alten Weiber
-- da pfeifen's die Sperlinge --«

Der Knabe richtete die Augen auf den Vater -- entsetzt, fassungslos.

»Vater! Was sagst Du? Das ist doch nicht wahr!«

Er sprang auf, klammerte die Hände um den einen Arm des Vaters, und der
Mund verzog sich zu zuckendem Weinen.

Raschdorf ließ schwer das Haupt sinken.

»Es ist wahr -- ich sag's ja eben -- es ist nichts mehr zu machen --«

»Vater, müssen wir da fort von unserem Hofe? Müssen wir da fort von zu
Hause?«

Der Mann war plötzlich nüchterner geworden.

»Ja,« sagte er, und seine Stimme ging schwer, »es geht hier mit uns zu
Ende.«

Da ließ ihn der Knabe los und brach in bitterliches Weinen aus. Die
kranke Frau im Lehnstuhl sah ihn mit unbewegtem Gesichte an. Langsam
aus der tiefsten Quelle des Herzens stiegen zwei Tränen in ihre großen
Augen. Die galten ihrem Kinde, das einen Schicksalsspruch vernahm, der
es aus seiner Heimat verbannte, und das es nun nicht glauben wollte
und mit unschuldigen Tränen und Bitten sich dagegen vergebens wehrte. --

Draußen war Nacht. Ringsum am Himmel hing ein Kranz aus lichteren
Wolken. Aber über dem Buchenhofe drohte ein schwarzes Gewölk --
finster, zerrissen. Regentropfen rieselten aus der Unheilswolke und
trafen den Buchenhof, als ob ein finsterer Geist mit seinem Weihwedel
dort oben stände und einen schrecklichen Segen spräche: das Weihewort
des Verderbens.

Eine dunkle Gestalt jagte flatternd über den Hof. Ein Keuchen ging von
ihrem Munde. Sie fiel. Sie sprang auf. Die Haustür riß sie auf, die
Stubentür:

»Jeses, es brennt -- es brennt in der Scheune!«

»Es -- es brennt!«

Ein schriller Laut aus dem Munde der Frau, die sich erhob und leblos
zurücksank.

»Es brennt?! Es brennt?!« Ein lallendes Kinderwimmern.

»Es brennt!« Ein lautes, gellendes Männerlachen! --

[Illustration]



[Illustration: Kapitel 4]


Im Garten unter einem Apfelbaume, abseits von der Menge stand Mathias
Berger, der Lumpenmann, und hielt mit seinen Armen Heinrich Raschdorf
umschlungen. Ringsum standen Tische, Schränke, Stühle, lagen Betten,
Kleider, Wirtschaftsgeräte verstreut im Garten.

Der Markt der Unglücklichen!

Die Fackeln des Unheils beleuchteten ihn. Das friedliche Laub der Bäume
zitterte vor der Höllenglut, färbte sich rot und sank zur Erde. Und
die kahlen Äste starrten dem Feuer entgegen, wie zitternde Tiere vor
ringelnden Schlangen beben.

»Heinrich! Du mußt ins Haus! Sieh mal, das Wohnhaus brennt nich ab --
das is nu vorbei! Du mußt ins Warme, Heinrich!«

»Ich will nicht, Mathias -- ich -- ich muß Wasser tragen!«

»Du kannst ja nicht mehr! Du bist ja durchnäßt, Du zitterst ja am
ganzen Leibe.«

»Es ist ja unser Hof -- ich -- ich -- oh -- oh -- Mathias -- --«

Der Knabe war ohnmächtig.

Berger rief über den Garten:

»Ehrenfried, he -- Ehrenfried!«

Ein Bauer kam heran.

»Ehrenfried, paß a bissel auf hier, daß niemand was stiehlt! Ich muß
den Jungen ins Warme bringen; er holt sich sonst den Tod.«

Der Bauer war zu dem Dienst gern bereit.

»Schaff' ihn doch zum Schräger rüber ins Wirtshaus,« riet er.

Berger schüttelte den Kopf und trug den ohnmächtigen Knaben ins
Wohnhaus. Die Leute machten ihm scheu Platz.

Ein donnerndes Krachen dröhnte durch den Hof. Eine hohe Mauer war
zusammengestürzt. Funken sprühten um das ohnmächtige Kind und seinen
Retter.

Drinnen in der Wohnstube war der große Ofen noch warm, und Hund und
Katze lagen friedlich unter der Ofenbank. Sonst war alles ausgeräumt.
Nur die Petroleumlampe brannte noch. Aber ihr trautes Licht wurde
schrecklich überstrahlt von der roten Lohe, die von draußen
hereinleuchtete.

Berger legte den Knaben auf den Fußboden und ging nach dem Garten
zurück. Dort raffte er eine Menge Betten auf und trug sie nach der
Stube.

Fürsorglich bettete er das kranke Kind, nachdem er es der triefenden
Kleider entledigt. Dann kniete er neben dem Lager nieder und drückte
einen Kuß auf die kalte Stirn des Knaben.

Da ging die Tür auf. Eine Frau trat langsam in die Stube. Ihre Stirn
war marmorweiß, aber auf den Wangen brannte das Fieber, und das Feuer
von draußen beleuchtete sie.

»Berger! Was ist denn? O Gott, was ist?«

Der Lumpenmann erhob sich und erschrak.

»Frau Raschdorf, Sie! -- Sie sollen doch im Gasthause bleiben! Es ist
nicht gut für Sie --«

»Was ist mit Heinrich? Berger, was ist mit Heinrich?«

»Er ist ohnmächtig, gerade erst ohnmächtig geworden. Er hat sich so
sehr angestrengt, und dann die Aufregung --«

»Heinrich, mein lieber Heinrich!« Und die Frau kniete aufweinend neben
dem Lager nieder.

Berger schlich hinaus. Aus dem großen Durcheinander im Garten suchte er
den Lehnstuhl und eine Decke heraus und trug beides nach der Stube.

»Ich bringe Ihnen Ihren Lehnstuhl, Frau Raschdorf.«

Sie erhob sich. »Mathias, er kommt nicht zu sich. Was wird werden? Was
wird mit ihm werden?«

Der Lumpenmann beugte sich über das Kind.

»Er wird schon wärmer. Ich denke, er wird bald aufwachen, gut zugedeckt
ist er ja, da wird er schwitzen, und es wird ihm weiter nichts
passieren.«

Zitternd stand ihm die Frau gegenüber. Ihre Augen leuchteten heiß auf,
als sie ihn ansah; ein Zittern flog über ihren Körper, und mit erregter
Stimme sagte sie:

»Mathias -- Du -- Du hast das einzige gerettet -- was ich noch habe.«

Sie streckte die Hände aus und schlug sie über seine Schultern, und ihr
Gesicht sank matt an seine Brust in halber Ohnmacht.

Mathias Berger stand wie einer, der plötzlich stirbt und dem nur eine
heiße, letzte Lebenswoge noch schmerzhaft und warm durchs Herz schlägt.

Doch er raffte sich rasch zusammen. »Setzen Sie sich, Frau -- Frau
Raschdorf und wachen Sie bei ihm!«

Langsam ging er aus der Stube. --

Und immer noch stand die Unheilswolke über dem Buchenhofe. Die
Feuerflammen schlugen hinauf zu ihr und malten grellrote Lichter auf
ihren schwarzen Untergrund. Wie Blutstropfen fiel der leise Regen.

Feuer von vollen Garben und duftendem Heu! In wahnsinniger, trunkener,
taumelnder Freude erhoben sich die Feuerflammen. Draußen lagen die
stillen, abgeernteten Felder, und nun war es, als ob jeder Halm in
der Scheuer, jede vertrocknete Blume im Heu sterbend noch einmal das
stille Plätzchen im Feldgrund grüßen wollte, da es gegrünt und geblüht
und mit Faltern und zarten Winden gekost hatte. Jetzt zuckten über die
beraubten Fluren stolze, jubelnde Flammensignale:

»Triumph! Wir sterben einen roten, herrlichen Tod! Erspart bleiben uns
Tenne und Mühle. Die Natur ist groß, und der Mensch ist nichts!«

Die Menschen, die mit der Natur gerungen hatten im langen, mühsamen
Kampfe, die ihr die Beute abjagten mit Schlauheit und Fleiß: sie
standen bleich als die Besiegten, die Geschlagenen, und die Beute war
ihnen entrissen, und ihr Bollwerk war zerstört.

Frau Mutter Erde sah schweigend zu, aber die Witwenschleier, die noch
am Tage weiß und grau um ihre feuchte Stirn hingen, färbten sich rot.
Die Halme und Blumen sind ihre Lieblingskinder, und der Mensch ist der
Stiefsohn. -- --

Der Bauer Raschdorf saß auf einem umgestülpten Karren. Finsteren Auges
sah er der Verheerung zu. Nicht einen Finger rührte er zur Hilfe. Von
Zeit zu Zeit nur verzog sich sein Gesicht; seine Hände klammerten sich
an die Beine und gruben sich oft schmerzhaft ins Fleisch. Und neben
ihm kauerte, Entsetzen in den schönen Kinderaugen, die Magdalene, sein
Ebenbild, sein Liebling.

Die beiden Scheuern lagen verwüstet; nun brannte der große Stall. Die
Rinder zogen hinab ins Dorf. Ihr Brüllen klang dumpf durch die Nacht.

Vier oder fünf Spritzen aus dem Dorfe und aus den Nachbarorten waren
da. Sie hatten sich bemüht, als die Scheuern brannten, das Wohnhaus
und das Gesindehaus zu retten. Das war ihnen auch gelungen, denn der
Wind war günstig. Aber die Giebel waren geschwärzt, die Fensterscheiben
zerplatzt.

Und abseits von denen, die das Unglück traf, stand die Menge mit ihren
Gefühlen. Ein lähmender Schreck hatte sie aus den Stuben gerissen,
als die Glocke vom Turme wimmerte und der Feuerruf durch die Gassen
heulte. Aber als sie sich überzeugten, daß sie selbst nicht in Gefahr
seien, legte sich die Angst sehr rasch. Mitleid kam, Lust zu helfen,
Lust zu schauen, Lust was zu erleben. Niemand von diesen Leuten war
müde, alle belebte die Sensation, und so kam es auch hier wie immer,
daß dicht neben das Grauen und die Vernichtung der Humor sich unter die
Gaffer stellte und sich sein Sprüchlein leistete. Jetzt war nichts mehr
zu retten; aber immer, wenn eine neue Spritze ankam, trat sie mit in
Tätigkeit, und so fuhren die Wasserstrahlen in den rettungslos weiter
brennenden Stall lustig hinein und erzeugten viel Zischen und Dampf.

Zu ganz später Zeit, als das Feuer schon nachließ, kam die Spritze
eines Nachbarortes, der nur eine Viertelstunde weit entfernt lag.

»Die sind auch schon munter!« sagte einer laut.

»Um die is 's nich schade,« bemerkte sein Nachbar ebenso vernehmlich.
»Der ihre Spritze is a Unikum. Bei der vertrocknen im Sommer immer die
Messingventile.«

Die verspäteten Rettungsmannschaften machten ob solch vorlauter und
sehr applaudierter Rede grimmige Gesichter. Aber da die Spötter recht
behielten, mühten sie sich ein wenig um ihre Spritze ab, pumpten,
schraubten, rüttelten, besahen sie mit verständigen Mienen von allen
Seiten, überzeugten sich aber, daß nichts zu machen sei, und fuhren
deshalb kopfschüttelnd wieder heim. Und das schöne Bewußtsein, das Gute
wenigstens gewollt zu haben, begleitete sie.

Dort, wo die Weiber standen, war viel Lärm. Jede hohe, stolze Flamme
wurde mit viel Geschrei begleitet; über alles, was geschah, wurde laut
verhandelt, gezetert, gejammert oder gelacht.

Als Mathias Berger den Heinrich ins Haus trug, wurden Rufe des Mitleids
laut, auch als Frau Anna müde und krank über die Straße geschritten
kam. Aber als Berger den Stuhl und die Decke holte, zwinkerten sich ein
paar Weiber wortlos zu.

Und dann schritt der Bauer Raschdorf schweigend an ihnen vorbei, ohne
sie anzusehen.

Die Weiber sahen ihm nach und atmeten schwerer; aber sie schwiegen,
bis er weit genug war. Dann wollten sie alle gern über ihn reden, aber
keine hatte den Mut, anzufangen. Nur zögernd, tropfenweise beginnend,
aber immer anwachsend, entstand ihre Rede, wie ein kunstgerecht
gezogener Wasserfall.

»O je,« seufzte die Mutigste und Ungeduldigste.

»Den trifft's auch ordentlich,« sagte eine zweite.

»Nu, da!« sagte eine dritte. »Und wenn man bedenkt, wie er doch -- wie
er doch eigentlich --«

Pause. Sie mochte nicht vollenden -- die dritte. Aber alle waren
gespannt, geladen, übervoll von innerem Rededrange.

Inzwischen stürzte abermals eine Mauer dröhnend zusammen. Eine
Schuttwolke, durch die Millionen Funken blitzten, fuhr wirbelnd in
die Höhe. Die Weiber waren bei dem Knall zusammengefahren, aber sie
vergaßen deshalb nicht, was sie bewegte. Ein paar Sekunden sahen sie
nach dem rauchenden Trümmerhaufen, dann kehrte ihr Interesse zu Hermann
Raschdorf zurück.

»Na, Gott verzeih' mir die Sünde!« sagte wieder die Erste, Mutigste,
Ungeduldigste. »Man soll ja keinem was Schlechtes nachsagen, überhaupt
bei so was, aber stolz war der Raschdorf --«

Sie konnte nicht vollenden, der Bann war gebrochen, die Schleuse
gezogen, die Fluten dröhnten. Es war ein Chaos. Da kam über den
Garten eine häßliche, dürre Frau daher. Sie stellte sich zu ihren
Mitschwestern, hörte ihr Lärmen und lächelte fein. Das waren ja alles
dumme Gänse gegen das, was _sie_ wußte.

Allmählich brauste der Wasserfall schwächer -- verlief sich. Die Weiber
sahen die Neue an. Sie ahnten mit feinem Instinkt, daß sie etwas
Besonderes wisse.

»Was haste denn, Glasen?« fragte eine. »Haste was gesehen oder gehört?«

»Sie weiß was!« »Natürlich weiß sie was!« »Na, seht och, wie sie tut!«
»Warum will sie's denn nich sagen?« »Wir sagen doch nischt weiter!«

So sprudelte es durcheinander.

Frau Glase blähte sich vor Stolz und Überlegenheit.

»Was ich weiß, weiß niemand,« sagte sie kühl.

Nun brach das Chaos wieder los.

Das wäre doch unrecht, so was nicht zu sagen. Man hätte doch keine
Geheimnisse. Es wär' doch nichts dabei. Überhaupt sei das gar nicht
recht, erst so zu tun. Weitergesagt würde doch nichts. Es seien doch
alle immer sehr freundlich zur Glasen gewesen. Eine habe gar bei ihr
Pate gestanden. Und sie seien doch so unter sich. Oder vielleicht wisse
sie überhaupt nichts.

Das letzte Argument allein zündete; Frau Glase richtete sich auf.
Sie sah die Zweiflerin verächtlich an und wandte sich darauf an die
Allgemeinheit.

»Aber daß Ihr nischt weitersagt!«

Über ein Schock Finger fuhren beteuernd nach der Gegend des
Schürzenlatzes.

»Ich hab' durchs Fenster gesehen, bloß wegen des Jungen, es tut einem
doch leid um so ein Kind, es war ganz durchnäßt --«

»Natürlich tut's einem schrecklich leid. Weiter!«

»Na, also da war erst der Berger allein und dann --«

»Dann? Weiter, Glasen!«

»Dann kam die Frau.«

»Wir haben sie gesehen! Wir haben ja gesehen! Weiter, Glasen! Dann kam
die Frau. Und, und was war da?«

Frau Glase machte eine Kunstpause und weidete sich an der Spannung
ihrer Mitschwestern. So ein großes und stolzes Gefühl hatte sie noch
nie empfunden in ihrem Leben.

»Weiter, Glasen! Erzähl' doch weiter!«

»Um den Hals genommen hat a sie.«

»Um den Hals genommen!« Das wieherten sie.

»Um den Hals genommen und geküßt!«

»Geküßt!«

Das Wort kam von allen zu gleicher Zeit. Dann war es still. Es
arbeitete zu sehr in diesen Weibern; sie konnten nicht reden. Schreck,
Freude, Sensationslust fuhren wie ein jäher Sturm über ihre flachen
Seelen, und der eigene Schlamm rührte sich und warf Blasen.

Allmählich nur beruhigten sie sich. Aber jetzt waren sie stiller. Sie
traten dichter zusammen und tuschelten und raunten und taten entrüstet
und verbargen ein Lachen und waren alle sehr vergnügt.

Ein Riese nahte der Gruppe; er trug zwei schwere Eimer mit Wasser
in den Händen. Schweigend, ohne auch nur hinzusehen, wollte er
vorübergehen.

Da drang ein Laut an sein Ohr, der ihn verwirrte. Er machte ein
unbeholfenes Gesicht und glaubte, er habe sich getäuscht; aber ein
zweites und drittes Wort fing er wider Willen auf. Da wurden ihm die
Eimer schwer, und er stellte sie auf die Erde. Noch so ein böses Wort,
noch eins. Da reckte sich der Riese.

»Dreckschleudern, sauelendige! Wollt Ihr die Fresse halten! Wollt Ihr
wohl gleich die Fresse halten?!«

Und ein Eimer eiskalten Wassers ergoß sich über die Köpfe der Weiber,
ihm folgte blitzschnell der zweite.

Kreischen, Gellen, eilige Flucht, Lachen oder auch zornige Zurufe der
Männer, und August Reichel, der Schaffer, stand allein und zitterte zum
erstenmal in seinem Leben.

Eine Weile stand er ganz stumm und dumm da. Hilflos blickte er in
die leeren Eimer. Es war richtig, er hatte sie ausgegossen und eine
laute, lange Rede dazu gehalten. Es wunderte ihn, daß er etwas gesagt
hatte. Das Ausgießen fand er ohne weiteres in Ordnung. Einem Manne,
der lachend herankam und fragte, was denn der Schaffer mit den Weibern
habe, gab er keine Antwort. Er ergriff nur seine Eimer und ging
verdrossen nach dem Bache zurück, von wo er gekommen war.

Es soll wenig so peinliche Dinge auf der Welt geben, als wenn jemand,
der gerade mit Lust und Begeisterung schimpft, unvermutet mit Wasser
begossen wird. Bei irgendeinem Heidenvolke hatte einmal der Gott der
Gerechtigkeit den Einfall, das unverhoffte Wasserbad vom Himmel aus für
alle schimpfenden und verleumdenden Menschen einzuführen; aber der Gott
der Weisheit widerriet ihm und sagte, da käme die Welt aus der Sündflut
nicht mehr heraus.

Ein Teil der Weiber schlich still nach Hause. Das waren jene, die nicht
bloß froren, sondern sich auch schämten, denn es waren auch viele
gutmütige dabei. Die anderen liefen zu ihren Männern und schimpften
mehr als zuvor, und die Männer nahmen sich der durchnäßten Ehefrauen an
und schimpften mit.

So hatte August Reichel, der dumme, gute Riese, mit seinen zwei Eimern
Wasser nichts gelöscht, er hatte nur Öl in ein böses Feuer geschüttet.

Die Aufgeregten zogen sich ein wenig zurück und standen beratend
beieinander.

Und es kam einer heran, der bisher mit offenem Munde und blöden,
glänzenden Augen ganz dicht am Feuer gestanden hatte -- Gustav
Schräger, der idiotische Sohn des Gastwirts. Immer nach drei Schritten
blieb er stehen und starrte in die lodernde Glut. Und dann reckte er
die Hände in die Luft, als wolle er die Flammen aneifern, immer höher
empor zu schlagen.

»O je, es wird kleiner! Es ist nicht groß! Uff! Uff! Hu! Brr! Aah!«

Die Weiber deuteten auf den Idioten und lachten. Dann riefen sie ihn
an. Er kam langsam näher, grinste und sagte ganz unvermittelt:

»Der Herr Raschdorf hat's angezündet!«

Die Gesellschaft schrak bei diesem Wort zusammen.

»Gustav, wirste still sein! Das sagt man doch nich! Aber Gustav!«

Der Idiot schnitt eine Grimasse.

»Ich weiß es! Er hat's angezündet! O! Ah! Dort, das is fein! Hoch!
Hoch! Brr!«

Er wollte wieder zum Feuer zurück, aber ein Weib hielt ihn am Arm fest.

»Wie kannste denn so was sagen, Gustav? Das darfste doch nich.«

Er sah sie grinsend an.

»Es is schön! Und es wird noch ein Mann verbrennen! Paß auf! Und sie
werden ihn tragen! Siehst Du! Siehst Du! Dort! Ooh -- oooh!«

Er wollte sich losreißen, aber das Weib hielt ihn fest.

»Gustav, Du mußt's uns sagen. Wie kannste denn sagen: der Herr
Raschdorf hat's angezündet? Du wirst ja eingesperrt, wenn das
rauskommt.«

Der Idiot sah sie an und zog ein weinerliches Gesicht.

»Ich laß mich nich einsperren! Ich will nich! Ich will zum Feuer! Ich
sag's meinem Vater! Laß mich doch los! Du zwickst mich in meinen Arm!«

»Aber woher weißte denn das vom Herrn Raschdorf, Gustav?«

»Er will mich rausschmeißen! Gar nischt zu sagen! Es war kalt! Es war
so kalt!«

»Aber a hat doch nich angezündet?«

»A hat's gesagt. A hat gesagt, a zünd't an. Laß mich los! A hat's
gesagt! Und ich soll raus -- raus -- Du zwickst mich so -- alte Gans!«

Der Idiot brach in Heulen aus. Vergebens versuchten die Weiber ihn zu
beruhigen. Er riß sich los und lief nach Hause.

Der Gastwirt Julius Schräger kam keuchend heran.

»Was habt Ihr mit dem Jungen? Was habt Ihr mit dem unglücklichen Kinde?«

Er war in riesiger Erregung. Ein Mann trat vor.

»Herr Schräger, wir haben ihm bloß gutt zugered't, weil a -- weil a was
gesagt hat --«

»Was hat a gesagt? Was hat a gesagt?«

Sie schwiegen.

»Was a gesagt hat, will ich wissen! Was Ihr mit mein'm Jungen habt,
will ich wissen!«

Ein Mann faßte Mut. »Nu, ich sag's halt! Ich sag's ja bloß nach. Mir
kann keiner was anhaben.«

»Was a gesagt hat, will ich wissen!«

Schräger wurde feuerrot. Da trat der Mann an ihn heran und flüsterte
ihm etwas ins Ohr. Die anderen waren totenstill.

»Das is Unsinn! Das sagt halt der dumme Junge so. Das hat a vielleicht
nich richtig verstanden. Gesagt hat der Raschdorf was; aber das war
gewiß nich so gemeint.«

Schräger ging seinem Sohne nach, und die Menge blieb erregt in
flüsternder Unterhaltung zurück. Das Feuer ließ langsam nach, aber die
Unglückswolke stand über dem Buchenhof schwärzer als zuvor.

       *       *       *       *       *

Ein grauer Herbstmorgen kam. Die Spritzen und alle die neugierigen
Zuschauer waren fort. Mathias Berger und August Reichel trugen aus
dem Garten die letzte Truhe ins Wohnhaus. Als sie den schweren Kasten
aufheben, sah Berger, daß ein umgebrochenes, hölzernes Kreuzlein
darunter lag; darauf stand zu lesen: »Hier ruht unser liebes Hühnchen.«

Von der Herrschaft war nichts zu sehen. Die Frau lag schwerkrank zu
Bett, und der Herr hatte sich in eine Stube eingeschlossen. Auf einem
Sofa in feuchten Kleidern lag Magdalene Raschdorf und schlief. Sie
hatte rote Wangen und lachte im Traum. Zwei Schritte davon entfernt
hatte sich Hannes auf die bloße Diele gebettet und lag regungslos wie
ein Toter.

Heinrich stand draußen mitten im Schutt. Ein Mädchen näherte sich ihm
und sah ihn mit großen Träumeraugen lange an.

»Heinrich!«

»Du -- ach Du bist's, Schräger-Lotte!«

Sie kam näher und sah ihm mit tiefer Teilnahme ins Gesicht. Er schlug
die Augen nieder und preßte die Lippen fest aneinander. Er wollte sich
beherrschen. Da faßte sie ihn am Arm und lehnte den blonden Mädchenkopf
an seine Schulter.

»Es tut mir leid um Euch, Heinrich! Ich hab' die ganze Nacht geweint.
Deine Mutter war bei uns und hat auch so geweint.« Sie schluchzte.

Da hielt er sich nicht länger, ein krampfhafter, dumpfer Schrei kam ihm
vom Munde.

»Lotte! Jetzt -- jetzt wissen wir nicht mehr, wohin.«

Und er weinte bitterlich.

»Heinrich -- lieber Heinrich!«

Es lag ein guter, tröstender Klang in dieser Stimme.

Nach einer Weile beruhigte er sich. Er nahm Lotte an der Hand und zog
sie mit sich bis zu dem umgestürzten Karren, auf dem in der Nacht sein
Vater gesessen hatte. Dort setzten sich die beiden Kinder nieder und
schmiegten sich dicht aneinander.

Mit seltsamer Stimme sagte Heinrich: »Gestern, als ich dort oben fuhr,
dort oben auf der Straße, und unseren Hof sah, da war ich so stolz und
wollte ihn gern allen Bekannten in Breslau zeigen und sagen: »Seht Ihr,
das ist unser.« Und nachher sagte mein Vater, wir seien bankerott, und
in der Nacht brannten wir ab.«

Er fröstelte in sich zusammen, und das Mädchen rückte ihm noch näher.
Mit flüsternder Stimme sagte sie: »Sei nur still, Heinrich! Der Vater
sagt, ich erb' einmal unser Haus und unsere Felder. Nachher schenk' ich
Dir alles.«

Der Knabe rührte sich nicht. Aber es ging warm durch den jungen Körper.
Langsam wandte er den Kopf und sah Lotte an, die mit großen, schönen
Augen tröstend zu ihm aufschaute. Und da beugte er sich zu ihr und
küßte sie feierlich auf den Mund.

»Wenn ich groß bin, werd' ich Dich heiraten, Lotte.«

Das sagte er fest und bestimmt.

Das Mädchen lächelte glücklich. »Aber den schönen Fingerring hast Du
der Liese geschenkt.«

»Das war nur, weil ich mich vor dem Hannes und dem Mathias schämte. Ich
wollte ihn eigentlich für Dich.«

Dann saßen sie schweigend. Ringsum war trüber Herbst, und der Wind fuhr
über die Ruinen und spielte mit Schutt und Staub.

Da sah das Mädchen nach dem Dorfwege.

»Du, Heinrich, da kommt Dein Großvater!«

»Ja, er ist's,« sagte der Knabe. »Der hat Feuer läuten müssen in der
Nacht. Denk' mal, Lotte, was das ist, in der Nacht über den Kirchhof
gehen und auf den finstern Turm klettern. Und dann hat er mit seinen
alten Augen vom Turme auf das Feuer gesehen und gewiß an meine Mutter
gedacht.«

Das Mädchen legte die Hand prüfend über die Augen. Auch der Knabe sah
wieder scharf nach dem Wege.

»Sieh mal, Lotte, der Großvater kommt so schnell, und sonst kriegt er
doch so schwer Atem -- und da hinten, wer kommt da?«

»Das ist der Wachtmeister, Heinrich!«

»Der Wachtmeister? Was will der?«

»Was will der?« wiederholte das Mädchen unschlüssig.

Heinrich erhob sich erregt. »Ich will hinein, ich muß wissen, was das
bedeutet. Geh' auch heim, Lotte, es steht so eine finstere Wolke über
uns, und es fängt an zu regnen!«

[Illustration]



[Illustration: Kapitel 5]


Das Verhör des Angeklagten war beendet. Hermann Raschdorf hatte die
Schuld, die ihm zugemessen wurde, nicht eingestanden. Der Zuhörerraum
war überfüllt. Wer aus dem Dorfe hatte abkommen können, war zur
Verhandlung gefahren.

»A sieht riesig schlecht aus,« flüsterte der Schmied dem Krämer zu.

»Na, das is aber och,« sagte der. »Das nimmt einen schon mit. Überhaupt
so eenen wie den! Na, seh och, was a für graue Haare gekriegt hat.«

»Nich a eenzigesmal sieht a sich um,« sagte die Glasen. »A schamt sich
halt zu sehr!«

»Da soll sich eener och nich --«

»Ruhe im Zuhörerraum!«

Der Gastwirt Julius Schräger wurde aufgerufen. Mit glühend rotem
Gesicht trat er vor den grünen Tisch. Nicht einen Blick sandte er nach
dem Angeklagten, der seinen Nachbar mit verängstigten Augen betrachtete.

»Ich mache Sie auf die Heiligkeit und Wichtigkeit des Eides aufmerksam!
Sprechen Sie mir nach!«

»Ich schwöre, daß ich die reine Wahrheit sagen, nichts verschweigen und
nichts hinzusetzen werde! So wahr mir Gott helfe!«

Die Personalien des Zeugen wurden festgestellt, und dann wurde Schräger
aufgefordert, alles zu sagen, was er etwa über die Entstehung des
Brandes wisse.

In unbeholfener Rede begann er. Er erzählte, daß Raschdorf am
Nachmittag des Brandtages bei ihm gewesen sei, daß sie zuerst über die
mißliche Vermögenslage des Angeklagten gesprochen hätten; dann sei der
Riedel-Bauer gekommen und hätte von einem Feuer in der Nachbarschaft
erzählt. Und da hätte der Raschdorf gesagt, so schlimm sei das
Abbrennen gar nicht, weil doch die Versicherung zahle und weil alle
Leute einem Abgebrannten helfen.

»Was haben Sie zu solchen Redensarten gesagt?«

»Ich hab' gesagt, er solle sich nich versündigen!«

»Jawohl, das war auch das einzig Richtige, was Sie sagen konnten.
Erzählen Sie weiter!«

Ja, weiter wisse er nicht viel. Der Riedel hätte gesagt, die Gebäude
des Raschdorf seien doch sehr gut; aber da hätte der Raschdorf
entgegnet, der Stall tauge nichts und die Dächer seien schadhaft; es
gäb' überhaupt immer Flickereien. Der Raschdorf sei etwas betrunken
gewesen. Um sieben Uhr sei er fortgegangen, und um halb acht Uhr sei
eine Magd vom Buchenhof gekommen und habe das Feuer gemeldet.

»Sie haben mit dem Angeklagten in Geldgeschäften gestanden?«

»Ja, ich hab' ihm manchmal borgen müssen.«

»Zuletzt hat der Angeklagte einen großen Verlust durch Aktienkauf
gehabt. Es heißt, Sie hätten ihm zu diesem Geschäft dringend geraten.
Wie steht das?«

Schräger wurde verlegen. Er erzählte, vor Jahren sei ein
Fabrikunternehmen als Aktiengesellschaft gegründet worden. Da hätte er
dem Raschdorf geraten, sich zu beteiligen. Der Raschdorf hätte das auch
getan.

»Aber er hat damals eine Hypothek aufnehmen müssen, um die Aktien
zeichnen zu können?«

»Ja, aber damals hat der Raschdorf noch sehr gut dagestanden.«

»Es war ein gewagter Rat von Ihnen! Aber Sie meinten wohl, die Sache
sei sicher und werde rentabel werden?«

»Ja -- ja, das meint' ich!«

»Das is nich wahr! Das is a Schwindel!«

»Ruhe im Zuhörerraum! Wenn das noch einmal vorkommt, laß ich den
Störenfried sofort hier vorführen!«

Die Dorfleute duckten sich zusammen und rückten ein wenig von Mathias
weg, der zitternd an der Barriere stand und die Worte gerufen hatte.

»Wissen Sie, Herr Schräger, wer der Brandstifter gewesen ist?«

»Nein!«

Der Verteidiger erhob sich.

»Eine Frage! Herr Schräger, Sie sind ein Freund und Nachbar des
Angeklagten gewesen. Sie kennen ihn genau von Jugend auf. Halten Sie
ihn der Brandstiftung für fähig?«

Schräger wurde sehr unruhig. »Ich -- ich weiß es nich genau. Aber ich
denke -- a wird's wohl gewest sein!«

»Das is nich wahr! Das is 'ne Gemeinheit! Der Raschdorf war's nich!
Eher war's der Schräger schon selber!«

Der Präsident fuhr empört in die Höhe.

»Gerichtsdiener! Der Mann dort an der Barriere, der das gerufen hat,
ist sofort hier vorzuführen!«

Ein Gerichtsdiener kam in den Zuhörerraum, und Mathias Berger wurde dem
Richter vorgeführt. Die Dorfleute wagten kaum noch zu atmen.

Die Personalien Bergers wurden festgestellt.

»Wie können Sie sich erdreisten, hier wiederholt die Verhandlung zu
stören?«

»Ich -- ich halt' mich nicht, wenn ich seh', wie der -- der -- der Lump
da falsch aussagt!«

»Ich werd' ihn verklagen!« sagte Schräger krebsrot vor Wut.

»Das ist Ihr Recht, Zeuge!«

Der Staatsanwalt erhob sich.

»Ich beantrage gegen Mathias Berger wegen groben Unfugs vor Gericht
drei Tage sogleich zu vollstreckender Haft!«

So wurde erkannt und Berger abgeführt.

Draußen auf dem langen Gerichtskorridor lehnte in einer Fensternische
Heinrich Raschdorf. Mathias Berger, den der Gerichtsdiener sacht am
Arme hatte, ging an ihm vorüber und sah ihn mit einem wehen Blicke an.

»Mathias -- Mathias, was ist --?«

»Heinrich, Dein Vater ist verloren!«

»Mathias, ich will -- ich -- ich --«

Er klammerte sich verzweifelnd an den Lumpenmann.

»Geh weg, mein Junge, laß los!«

Er ließ nicht los, da schob ihn der Gerichtsdiener energisch zur Seite.

Der Knabe sah den beiden nach, die in dem langen Korridor verschwanden.
Dann trat er ans Fenster und starrte hinab in den kahlen Gerichtshof.

Drinnen im Gerichtssaal wurde eine Magd verhört.

Sie habe im Kuhstall zu tun gehabt, aber dann habe sie einen Futterkorb
aus der Scheune holen wollen, und da habe sie gesehen, daß es brenne.
Da sei sie nach der Wohnstube gelaufen.

»Was hat der Angeklagte gesagt, als Sie ihm die Meldung machten?«

Die Magd schwieg.

»Was Ihr Herr gesagt hat, als Sie ihm sagten, daß es brenne, frage ich.«

»A -- -- a hat gesagt: »Es -- es brennt!« Und dann hat a -- hat a --
gelacht!«

Eine Bewegung ging durch den ganzen Gerichtssaal, und der Angeklagte
zuckte zusammen.

Dann ein Knecht. Er sagte aus, der Herr sei in den Pferdestall zu
ihm gekommen und sehr lange dagewesen. Er hätte über alles mögliche
geschimpft, und dann sei er gegangen. Wohin, das wisse der Zeuge nicht.

»Heinrich Raschdorf!«

Kein Atemzug war hörbar im weiten Gerichtssaal. Der Angeklagte nur fuhr
herum und wandte sein erdfahles Gesicht der Tür zu.

Gesenkten Kopfes, mit blutleerem Angesicht trat Heinrich Raschdorf
in den Gerichtssaal. Ein einziges Mal irrten seine dunklen Augen im
Kreise. Als er den Vater sah, öffnete sich ihm der Mund, das Gesicht
verzog sich, und er blieb stehen. Aber dann senkte er die Augen und
trat vor den Richter.

Der betrachtete den bildschönen Knaben, und durch die kalten,
forschenden Juristenaugen zuckte ein warmer Strahl.

»Mein Kind! Du bist als Zeuge vorgeladen. Der Angeklagte ist Dein
Vater. Du darfst das Zeugnis verweigern. Dann kannst Du bald wieder
gehen!«

Der Knabe hob die Augen und sah den Richter ängstlich an.

»Ich -- ich will alles -- alles sagen. Ich -- ich habe -- habe selber
angezündet!«

Ein paar Schreie tönten aus dem Zuhörerraum, und der Präsident vergaß
den Ordnungsruf.

»Du hast angezündet?«

»Ja! -- Ich -- ich hab' Zigaretten -- Zigaretten rauchen wollen -- in
der Scheune -- und da -- da --«

Der Angeklagte erhob die Hand.

»Heinrich! Heinrich, ist das wahr?«

Heinrich Raschdorf sah ihn nicht an und sagte:

»Es ist wahr!«

»Junge, wie kannst Du das so sagen? Du wirst ja sofort eingesperrt,
wenn das wahr ist. Bedenke doch das!« mahnte der Richter.

»Es ist wahr!« wiederholte Heinrich.

Daran wurde er blaß und fing an so heftig zu zittern, daß ihm der
Richter gebot, sich einstweilen zu setzen, bis er sich erholt habe.

Die Verhandlung nahm ihren Fortgang.

»August Reichel!«

Der Riese tappte schwer in den Saal. Die Eidesformel murmelte er so
leise, daß ihn der Präsident ermahnen mußte, vernehmbar zu sprechen.

Mit unbeholfenem, ängstlichem Gesicht stand er vor dem Gericht. Er
sollte erzählen, aber er knurrte nur, brummte unverständliches Zeug und
brachte keinen Satz heraus. Da verlegte sich der Richter aufs Abfragen.

»Waren Sie zur Zeit der Tat im Hofe oder in den Wirtschaftsgebäuden?«

Reichel starrte den Richter an und schwieg.

»Ich frage, ob Sie an dem betreffenden Tage abends in der Zeit von 7
bis ½8 Uhr sich im Hofe, im Stalle oder in der Scheune aufgehalten
haben?«

Der Schaffer schüttelte den Kopf.

»Nee!«

»Wo waren Sie in dieser Zeit?«

Reichel besann sich und sagte dann langsam:

»Derheeme!«

»Was heißt »derheeme?« Sie meinen, Sie waren zu Hause in Ihrer Stube?«

Reichel nickte.

»Wer war bei Ihnen?«

»Der Hannes und der Heinrich!«

»Was haben die Knaben bei Ihnen gemacht?«

»Sechsundsechzig!«

»Was?«

»Sechsundsechzig! Ich bring's ihn' bei!«

Ein paar Geschworene grinsten.

»Also die Knaben haben Karten gespielt? Wie lange?«

»Bis um halb achte!«

»Wieso gerade bis ½8 Uhr?«

»Wie's halb schlug, nahm ich die Karten weg.«

»So! Und dann ist Heinrich Raschdorf fortgegangen? Allein?«

»Nee, mit Hannes!«

»Wissen Sie etwas über die Entstehung des Brandes?«

Reichel schüttelte den Kopf.

»Aber der Herr is 's nich gewesen!« sagte er.

»Wieso ist er's nicht gewesen?«

Reichel zuckte die Schultern.

»Wissen Sie etwas, was dafür spricht, daß Ihr Herr unschuldig ist?«

Reichel nickte bedeutsam.

»Ich sprech's!«

Der Richter fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

»Ich meine, Reichel, das ist doch nur Ihre Ansicht! Haben Sie
irgendeinen Beweis dafür?«

»A tutt's nich! A tutt's nich!«

»Setzen Sie sich!«

Der Schaffer setzte sich auf die schmale Zeugenbank und streckte die
mächtigen Beine weit in den Saal. Er machte ein finsteres Gesicht, denn
das viele Reden hatte ihn verdrossen. --

»Johannes Reichel!«

Hannes wurde halb zwangsweise in ganz jämmerlicher Verfassung
herbeitransportiert. Er zappelte an Händen und Beinen und heulte zum
Steinerweichen. Der Richter redete ihm gut zu, aber davon wurde das
Geheul ärger. Da brüllte ihn der Beamte riesig an, und das half.

Der Richter stellte zunächst fest, daß Hannes mit seinem Vater und
Heinrich zusammen gewesen sei.

»Was habt Ihr gemacht?« fragte der Richter in seiner wohlwollenden,
aber etwas kurzen Weise.

Über diese Frage erschrak der gute Hannes mächtig. Er fing an zu
heulen, hob die Hände bittend auf und schluchzte: »Sechsundsechzig
gespielt -- aber ich werd's ja nich mehr machen -- ich werd's ja nich
mehr machen -- bloß nich einsperr'n -- och -- och je -- och je --«

»Sei mal ruhig, Junge! Ob Ihr Karten gespielt habt, ist mir egal. Da
passiert Dir nichts. Erzähl' mal, wie der Heinrich Raschdorf nach Hause
gegangen ist. Aber nun sag' die Wahrheit! Wehe Dir, wenn Du lügst. Also
wie war das?«

Hannes erzählte, er sei mit Heinrich sofort hinüber nach der Wohnstube
gegangen.

»Sag' mal, mein Junge, Karten gespielt habt Ihr also; habt Ihr nicht
auch geraucht?«

»Nee, geraucht haben wir nich -- gar nich geraucht -- gar nich a
kleenes bissel --«

»Johannes, lüge nicht! Ihr habt geraucht?«

»A eenziges Mal haben wir Zigaretten geraucht, aber das war im Sommer
auf'm Felde -- der Heinrich zwei und ich eine -- aber da wurd' uns so
schlecht --«

»Ob Ihr an dem Tage geraucht habt, wie's bei Euch brannte?«

»Nee, da nich, da hatten wir ja gar keene Zigaretten. Wahrhaftig nich!«

»Seid Ihr nicht, ehe Ihr zu Raschdorf in die Wohnstube ginget, in der
Scheune gewesen?«

»Nee, wir sind bald rübergegangen.«

»Heinrich Raschdorf!« Der Knabe trat wieder vor.

»Du hast gehört, was Dein Freund aussagt. Das ist gerade das Gegenteil
von dem, was Du sagst. Wer lügt nun von Euch beiden?«

»Ich -- ich hab' geraucht -- allein geraucht -- in der Scheune --«

»Du hast allein geraucht? Wann hast Du geraucht? Wann bist Du allein
gewesen?«

Der Knabe kam in tödliche Verlegenheit und wußte keine Antwort. Hannes
faßte Courage und meldete sich mit dem Zeigefinger wie in der Schule.

»Herr Lehrer, a schwindelt! A war ja immerfort bei uns, und dann, wie
wir rübergegangen sind, da is noch der Robert mit uns gegangen, der
Knecht.«

»Robert Kirschner!«

Der Knecht sagte aus, er sei aus dem Wagenschuppen gekommen, da habe
er die beiden Knaben aus dem Gesindehause kommen sehen, und weil er
den Heinrich, der gerade erst zu den Ferien gekommen sei, noch nicht
gesprochen habe, sei er mit den Knaben gegangen und habe sie bis zur
Tür begleitet. Den Heinrich habe er in die Stube gehen sehen, und mit
dem Hannes habe er noch geplaudert. Und da sei schon die Karoline
gekommen und habe gesagt, daß es brenne.

»Heinrich Raschdorf! Warum lügst Du vor Gericht? Warum beschuldigst Du
Dich selbst?«

»Mein Vater! Mein Vater!«

»Du hast Deinen Vater retten wollen?«

Der Knabe nickte unter heftigem Schluchzen. Es war aus mit seiner
Fassung.

»Hat Dir jemand zugeredet zu einer solchen Aussage? Sag' jetzt die
Wahrheit, mein Junge! Du weißt, Gott sieht Dir ins Herz. Und Du darfst
Dein Herz nicht beflecken. Hat Dir jemand zugeredet, Dich selbst falsch
anzuklagen?«

»Es hat mir niemand zugeredet!«

»Wirklich nicht? Wie kamst Du darauf?«

»Ich hab' so Angst -- so schrecklich Angst!«

»Setz' Dich, Heinrich Raschdorf!«

»Frau Anna Raschdorf!«

Die schwindsüchtige Frau wankt in den Saal. Auf ihren Wangen blühten
die Kirchhofsrosen.

»Wollen Sie von Ihrem Recht der Zeugnisverweigerung Gebrauch machen,
Frau Raschdorf?«

»Nein!«

Sie sagte aus, was sie wußte. Sie leugnete nicht, daß Ihr Mann nicht
nüchtern gewesen sei; aber als er dem Knaben mitgeteilt, der Ruin stehe
vor der Tür, habe er gebebt. Und durch den Brand sei es nur schlimmer
geworden. Maschinen seien verbrannt, die nicht versichert seien, die
ganze, reiche Ernte sei verbrannt, das Vieh müsse auswärts sein. Das
Elend sei erst durch den Brand voll geworden.

Eine Reihe anderer Zeugen wurde noch vernommen, ohne daß etwas
Erhebliches zutage gefördert wurde.

Die Plaidoyers begannen.

Der Staatsanwalt führte aus:

Der Angeklagte sei in einer verzweifelten Vermögenslage gewesen.
Er habe am Johannitermin die Zinsen nicht zahlen können und am
Michaelitermin auch nicht. Dazu sei eine Wechselschuld gekommen,
die er nicht habe tilgen können. Am Nachmittag des Brandtages nun
sei durch die Erzählung des Bauern Riedel die Phantasie Raschdorfs
angeregt worden; er habe in einem Brande einen günstigen Ausweg
erkannt und diesem Gedanken auch durch außerordentlich belastende
Worte Ausdruck verliehen. Sein Hirn sei durch reichlich genossenen
Alkohol weiter erhitzt worden, und so sei der Vertreter der Anklage
der vollen Überzeugung, der Angeklagte habe das Feuer in der Scheune
angelegt, sei darauf in den Pferdestall gegangen, wo er durch ganz
unmotiviertes Herumschimpfen sich habe gleichgültig und unverdächtig
stellen wollen, und habe sich dann nach der Wohnstube begeben. Im
Rausch hätte er es dann nicht verhindern können, zu lachen, als die
Magd das Feuer meldete. Welcher Bauer lache wohl, wenn ihm Feuer in
seinem Gehöft gemeldet würde? Die Tatsache, daß sich die Vermögenslage
des Angeklagten durch den Brand verschlechtert habe, könne entlastend
nicht ins Gewicht fallen. Raschdorf habe einen vorläufigen Aufschub,
eine Wendung der Dinge gewünscht; die Aussicht, viel bares Geld in
die Hand zu bekommen, habe ihn verlockt. Verdächtig erscheine dem
Staatsanwalt auch die Aussage des Heinrich Raschdorf. Welches Kind
klage sich selbst eines so furchtbaren Verbrechens an, wenn es nicht
dazu angeregt, geradezu verführt worden sei? Ein Kind habe Angst vor
dem Gericht; es suche sich eher reinzuwaschen als sich zu belasten.
Dieser Knabe Heinrich Raschdorf habe entlastend wirken wollen, aber das
Gegenteil sei eingetreten. Es sei eine verunglückte Komödie gewesen.
Auch den anderen Zwischenfall wolle der Staatsanwalt nicht unerwähnt
lassen. Vom Zuhörerraum sei Partei genommen worden für den Angeklagten,
und der Hauptbelastungszeuge Schräger sei beleidigt und geradezu selbst
beschuldigt worden. Gerade dieser Zeuge sei aber durchaus glaubwürdig.
Durch den Brand sei sein eigenes Gehöft, das ganz in der Nachbarschaft
liege, höchst gefährdet gewesen; dazu komme, daß Schräger den ganzen
Nachmittag in Gesellschaft seiner Gäste in der Wirtsstube gewesen sei
bis zum Ausbruch des Brandes. Und dieser Mann, der den Angeklagten
von Jugend auf kenne, der sein Freund sei und ihm dutzendmal aus
finanziellen Notlagen geholfen habe, der nun bei Verurteilung des
Angeklagten und dem daraus resultierenden finanziellen Zusammenbruch
wahrscheinlich sein Geld verliere, sei unter dem Druck des Eides doch
nicht fähig gewesen, auszusagen, daß er seinem Freund, Nachbar und
Schuldner die Tat nicht zutraue. Er, der Staatsanwalt, bitte die Herren
Geschworenen, das Schuldig auszusprechen, damit die Bestrafung des
Verbrechers erfolge.

Ein Schrei. Heinrich Raschdorf lag mit weit ausgestreckten Armen im
Gerichtssaal, mit dem Gesicht auf der Erde.

Der Schaffer hob ihn auf und trug ihn behutsam aus dem Saale. Ihm
folgte Frau Anna.

So war Hermann Raschdorf allein. Weder Frau noch Kind hörten die Rede
des Verteidigers. Die Ausführungen dieses Mannes bestanden in der
Hauptsache darin, daß Hermann Raschdorf, der ein gewisses Maß von
Bildung besitze, nie und nimmer ein so plump angelegtes Verbrechen
begangen haben könne. Er würde sich, selbst im Rausche, gehütet haben,
kurz nachdem er die unvorsichtigen Worte gesprochen, eine Tat zu
begehen, deren er mit großer Wahrscheinlichkeit verdächtigt werden
mußte. Dazu komme, daß Raschdorf durch den Brand seine Vermögenslage
verschlechtert sehe. Er, Verteidiger, sei der Ansicht, daß das Feuer
schon angelegt gewesen sei, als Raschdorf noch in der Schenke saß.
Um seinen psychologischen Tiefblick könne der Verteidiger den Herrn
Staatsanwalt nicht beneiden. Es komme sehr wohl vor, daß ein Mensch,
dem ein furchtbares Unglück gemeldet würde, jäh auflache, das sei
ein viel intensiverer Ausdruck des Jammers als Tränen; denn so, wie
es Freudentränen gibt, so gibt es ein Lachen der Verzweiflung, und
das sei bei Hermann Raschdorf wohl vorauszusetzen gewesen, der kurz
vor der Meldung des Feuers seinem Sohne Mitteilung von dem drohenden
Bankrott gemacht und sich in schwerer Gemütsbewegung befunden habe.
Noch mehr tue es aber dem Verteidiger leid, daß der Herr Staatsanwalt
die Kindesliebe des kleinen Heinrich Raschdorf, die hier so echt und
ergreifend in Erscheinung getreten sei, eine verunglückte Komödie
genannt habe. So geschickt spiele auch der befähigtste Knabe nicht
Komödie, daß er ohnmächtig zusammenbricht, wenn er von schwerer Strafe
hört, zu der er den geliebten Vater schon verurteilt glaubte. Sehr
wohl komme es aber vor, daß ein Kind in der Angst seines Herzens sich
fälschlich selber anklage, um ein geliebtes Wesen zu retten. Der
Idealismus liege eben einer Kindesnatur näher als einem Staatsanwalt.
»Meine Herren Geschworenen! Ich erwarte von Ihrem Gerechtigkeitsgefühl
aufs bestimmteste, daß Sie diesen Mann nicht ins Zuchthaus schicken
werden auf einen bloßen Verdacht hin, dessen Beweis in keiner Weise
gelungen ist; daß Sie einem so heldenmütigen Knaben nicht den Vater,
einer so kranken Frau nicht den Mann, einem so verwüsteten Besitztum
nicht den Retter nehmen werden. Im ganzen aber appelliere ich nicht an
Ihr Mitleid, sondern an Ihre Gerechtigkeit und erwarte den Freispruch.«

Die Geschworenen zogen sich zurück. Die Wintersonne schien strahlend in
den kahlen Gerichtsraum, Schellengeläute ertönte von draußen, und das
Lachen lustiger Menschen schallte von der Straße.

Und hier saß ein Mann, dessen Schicksal in den Händen schwacher
Menschen lag.

In der Ferne schlug eine dumpfe Glocke dreimal.

»Drei! Paß auf, a kriegt drei Jahre,« flüsterte erregt die
abergläubische Glasen im Zuhörerraum.

»Mir wird schlecht,« sagte die Krämerin und ging hinaus.

Und nun wieder diese schwere Stille. Hin und wieder hörte man leise
die Feder des zurückgebliebenen Staatsanwalts kratzen, der gleichmütig
Akten las und unterschrieb.

Die Geschworenen kamen zurück. Kein Laut ging durch den weiten Saal.
Auch draußen war's still.

»Die Geschworenen haben die Schuldfragen verneint. Hermann Raschdorf
ist freigesprochen und alsbald aus der Haft zu entlassen.«

Da begrub der Mann auf der Anklagebank sein Gesicht in beide Hände und
weinte wie ein Kind. Eine Qual taute auf, eine furchtbare, lange Qual.

       *       *       *       *       *

Die große Gaststube des »Gelben Rosses« war überfüllt. Es war
nachmittags gegen 4 Uhr. Nur Bauern waren da, die von der
Schwurgerichts-Verhandlung kamen und im »Gelben Roß« ihre Pferde und
Fuhren untergebracht hatten.

Da herrschte wüstes Stimmengewirr. Die Leute hatten alle rote
Gesichter, und auch die Langsamen und Schläfrigen unter ihnen waren
aufgeregt und redeten viel oder grunzten wenigstens viel öfter und
intensiver als sonst. Die viele innere Hitze brachte reichlichen
Alkoholgenuß und der Alkohol wiederum viel innere Hitze zuwege, und
die Bestellungszurufe an die Bedienung wie die Prostschreie waren das
einzige, was abseits der Affäre Raschdorf gesprochen wurde.

Irgendein Verein zog draußen mit klingender Musik vorbei. Aber nur
wenige Weiber traten ans Fenster. Den Männern war das Schauspiel, das
sie sonst sicher über die Maßen interessiert hätte, heute gleichgültig.

Ein Bauernbursche kam in die Stube und meldete seinem Herrn, das
»Handpferd tue so komisch, es kriege vielleicht die Kolik«. Zu jeder
anderen Zeit wäre eine solche Meldung ein Alarmsignal zu allgemeinem
Aufbruch nach dem Pferdestall gewesen, wo jeder seine Weisheit und
Erfahrung zeigen konnte; heute hatte der Besitzer Mühe, seinen Schwager
zu bereden, mit ihm »zum Rechten« zu sehen.

Wie wenn eine Dreschmaschine in einem großen Hofe summt, zischt,
poltert, klappert, rasselt, qualmt, -- so war's.

Aber eine Stimme im Bauernhofe gibt's, die selbst den Lärm der
Dreschmaschine übertönt, das ist, wenn ein rechter Hahn kräht, und
eine Stimme gab's auch in dieser Versammlung, die über all den wüsten
Skandal sich erhob, das war die des Barbiers.

»Der Staatsanwalt, der -- der is mei Mann! Der Verteidiger -- äh, das
is 'n Jude. Der macht's fürs Geld! Aber der Staatsanwalt, der hat's ihm
gegeben! Donnerschlag, der Mann hat was weg!«

Es wurde ein bißchen ruhiger, und der Barbier konnte fortfahren: »Wer
soll's denn eigentlich gewesen sein? Is 'n eenziger Bummler an dem Tage
im Dorfe gewesen? Was? Habt Ihr einen gesehen? Ich nich! Und einer
aus'm Dorfe? In unserm Dorfe gibt's kein'n Anzünder, es wär' denn
grade --«

»Du, sag' bloß nischt vom Gastwirt Schräger,« warnte einer.

»Wer spricht 'n vom Schräger? Höchstens der Berger! Und der wird ja
wissen, warum a zu Raschdorfen hält!«

Da wurde es noch stiller. Nur einige lachten vor sich hin, und die
Glasen versuchte, verschämt auszusehen.

Der Barbier nahm wieder das Wort:

»Ich gönn' keinem was Schlechtes, aber dem Berger, dem is recht. Da hat
a doch amal was uff sei großes Maul. Damals, wie a das Schandgedichte
uff mich gemacht hat: »Versichert's Leben, der Bader kommt!« -- Ja, da
lacht Ihr schon wieder -- wie damals -- wie damals lacht Ihr, aber wen
läßt denn der Berger in Ruh'? Keenen! Keen' eenzigen! A bild't sich
ein, a is klüger wie a Bauer. So a Lumpenmann, so a Stromer! Jetzt hat
a Zeit, Gedichte zu machen, drei Tage lang! Der Staatsanwalt läßt sich
nischt vormachen. Jetzt kann a die Gefängnismauer abschmatzen!«

»Der Barbier is a Hauptkerl!« sagte einer voll Anerkennung.

»Na, ich sag' Euch,« fiel dieser geschmeichelt ein, »ich hätt' nich
Zeuge sein dürfen, da wär's anders gekommen, ganz anders; ich hätte
schon gered't, ich hätt' den Herren schon a Lichtel uffgesteckt. Aber
wenn solche Mohhörner dastehn wie der Reichel-Schaffer --«

Alle lachten.

»Vom Sechsundsechzigspiel'n quatscht das Rindvieh, als wenn das dazu
gehörte -- 's ganze Gericht hat ja gelacht, wie der sich blamierte.
Aber solche Zeugen brauchte der Raschdorf!«

»Na, aber gutt sah der Raschdorf nich aus, wie a so uff der
Anklagebanke saß.«

»I ja, da vergeht ein'm 's Dicketun! Früher da konnt' a nischt fein
genug haben. Ich durft' ihm die Haare und a Bart nich verschneiden.
»Sie schneiden mir Treppen in a Kopp,« sagt a, und da fuhr er in die
Stadt und gab 20 Pfennig fürs Haarschneiden. Na, wer's so häufig zum
Wegschmeißen hat!«

»'n riesigen Stolz hatt' a, das is wahr,« sagte wieder ein anderer;
»wenn nich einer gerade auf der Schulbanke mit ihm gesessen hatte, mit
dem machte der nich Brüderschaft.«

»Nee, nee, nee!«

Es entstand wieder allgemeines Gespräch.

Da kam Schräger. Wenn der Pfarrer in die Stube getreten wäre, es wäre
nicht halb so still geworden wie jetzt.

Der Gastwirt sah sich verdrossen um und ging an einen Tisch. »'ne Tasse
Kaffee und a Paar Wiener!« bestellte er.

»Prosit, Herr Schräger!« schrie der Barbier und näherte sich dem Tisch.

Die andern sahen gespannt zu.

»Prosit! Prosit!« antwortete Schräger kurz. In diesem Augenblick
öffnete sich die Tür, und hinter einer Dienstmagd, die flüchtig
hereinkam, trat Heinrich Raschdorf in die Stube. Niemand sah auf die
Magd und den Knaben; alle blickten nach dem Tisch Schrägers. Heinrich
blieb erst unschlüssig stehen, dann setzte er sich auf einen Stuhl,
der in einem Winkel am Schanksims stand. Die Mutter hatte ihn, als ihm
unwohl geworden war, nach dem Gasthause gebracht; aber er hatte sich
rasch wieder erholt. Dann war jemand gekommen, der gesagt hatte, der
Vater sei freigesprochen, und da war die Mutter gegangen, den Vater zu
holen. Er selbst mußte zurückbleiben und wartete hier auf die Eltern.

»Nu, Herr Schräger, Sie sind ja so stille,« sagte der Barbier, »Sie
ärgern sich doch nich etwa?«

»Da soll sich einer nich ärgern! Aber ich verklag' den Berger, ich
verklag' den Kerl! Das laß' ich mir nich gefall'n!«

»Nu, das könn'n Sie sich ja gar nich gefall'n lassen. Wir haben gerade
davon gesprochen. Der Berger hat halt Ursache, daß a zu Raschdorfs hält
-- na, Sie wissen ja -- und Sie haben ja glänzend dagestanden, Herr
Schräger. Wie Sie der Staatsanwalt rausgestrichen hat, und a hat doch
gesagt, Sie sind ganz unverdächtig.«

»Das will ich meinen, daß der's nich gewesen is, der a ganzen Tag in
der Stube steckt und sein Geld zusetzt. Oder traut mir das überhaupt
jemand zu?«

Schräger stand auf und musterte herausfordernd den Kreis. Ein lebhaftes
Protestieren ging los, und ein paar Bauern schüttelten dem Wirt die
Hände.

»Wir wissen 's schon, wer 's gewesen ist,« krähte der Barbier; »und
wenn ihn 's Gericht zehnmal freispricht, der Raschdorf war's doch. Die
stolze Bande --«

»Jeses, der Junge!«

Ein Weib schrie es, und nun sahen alle nach dem dunklen Winkel, aus dem
Heinrich Raschdorf hervortrat. Mit glühenden Augen, wie ein gereiztes
Raubtier, so stand er da; die weißen Zähne blitzten und bissen
knirschend aufeinander; die Fäuste ballten sich -- er bückte sich ein
bißchen, sprang an, kletterte an dem langen Bader empor und hieb ihm
die Faust ein paarmal derart auf Mund und Nase, daß dem Manne das Blut
übers Gesicht rann.

»Ich schlag' Dich tot, Bader, ich schlag' Dich tot!«

Der Bader fluchte, schrie, wehrte sich und machte sich mühsam frei. Er
wollte sich auf das Kind stürzen, aber das Blut rann ihm so reichlich
und die Augen tränten ihm so stark, daß er hinaus nach dem Hofe mußte.

Die anderen waren starr.

Heinrich Raschdorf stand mitten in der Stube.

»Wer das noch einmal sagt -- das von meinem Vater, den hau' ich gerade
so!«

Ein paar Leute brummten oder lachten leise.

»Mein Vater ist freigesprochen -- er ist unschuldig -- das Gericht
hat's gesagt, und das müßt Ihr glauben!«

Niemand rührte sich. Heinrich schoß das Wasser in die Augen.

»Ist jemand, der das nicht glaubt, daß mein Vater unschuldig ist?«
fragte er hilflos.

Kein Laut in der Stube.

»Aber er gehört doch zu Euch, Ihr müßt es doch glauben!« Das sagte er
in bettelndem Tone.

Ein gegnerisches Gemurmel erhob sich. Kein freundlicher Zuruf erfolgte.
Da brach Heinrich Raschdorf in bittere, zornige Tränen aus:

»Dann -- dann -- seid Ihr alle -- alle miteinander Schufte!«

Und ehe noch die Männer sich schwerfällig und schimpfend erhoben, den
Knaben zu strafen, war Heinrich Raschdorf verschwunden.

       *       *       *       *       *

Eine stille Straße entlang kam müde ein Mann gegangen, und neben ihm
ging eine hustende Frau.

Ihnen trat Heinrich entgegen.

Er blieb vor dem Vater stehen, aber er gab ihm nicht die Hand. Scheu
sah er mit seinen Kinderaugen den Vater an.

»Vater, sag' mir, ob Du's gewesen bist?«

Hermann Raschdorf fühlte die Wucht des Augenblicks.

»Nein, Heinrich, ich war's nicht!«

Er sagte es ruhig und fest.

Da atmete der Knabe tief auf, erfaßte die Hand des Vaters und küßte sie.

Bis vor die Stadt gingen die drei und warteten, bis der Schaffer kam
und sie in sein Gefährt aufnahm.

Nicht ein Wort wurde gesprochen auf der langen Fahrt. Der frühe Abend
war schon angebrochen, als sie zu Hause ankamen. Einen langen, scheuen
Blick warf der Buchenbauer hinüber nach den verwüsteten Gebäuden. Da
fuhr ein kalter Windstoß über die Trümmer und traf den Buchenbauer ins
Gesicht, wie ein eisiges Urteil.

       *       *       *       *       *

»Der Raschdorf is freigesprochen,« sagte auf dem Heimweg der Barbier.
»Aber ich räch' mich an ihm, und der Kanaille, dem Jungen, streich
ich's an. Wenn mir bloß nicht immer so leichte die Nase blut'te! Ich
hätt'n ermurkst! Aber den Alten bring' ich rein, und wenn a zehn Juden
bezahlt. Ich ruh' nich, bis alles raus is und bis a drinne sitzt!«

Und ob der böse Schaumschläger seine lächerliche Drohung auch nicht
erfüllen konnte, er tat etwas Schlimmeres. Von Haus zu Haus führte sein
Geschäft, und in jedem Hause stahl er den Raschdorfs etwas von der
heiligen Erde, auf der wir allein unsere Heimat gründen können -- von
dem Herzenslande der Liebe und Sympathie der Gemeindegenossen.

Wer keinen Hof und keinen Fuß breit eigenen Bodens besitzt, kann
doch eine Heimat haben, aber wem die Mitbürger ein Plätzchen idealen
Baugrundes in ihren Herzen verweigern, der ist heimatlos.

[Illustration]



[Illustration: Kapitel 6]


Es war Neujahrstag. Jahre gibt es, in denen die Zeit müde und schläfrig
an unserem Herde sitzt und ihre grauen Alltagsfäden spinnt, daß wir
nicht merken, wie Frühling und Sommer rinnen und wie wir in der
Gleichförmigkeit der Tage älter werden. Aber Jahre gibt es auch, wo
die Zeit wirtschaftet und schaltet wie ein veränderungswütiges Weib:
zerstört und aufbaut, rückt, schiebt, ändert, neue Blumen an unsere
Fenster pflanzt, Leute hinausdrängt und andere hereinruft und uns am
Ende ein Heim zeigt, das wir nicht wiedererkennen.

So ein Jahr kam für den Buchenhof.

Am Neujahrstage fing's an. Schräger war in die Stube getreten und hatte
von Raschdorf erfahren müssen, daß sich dieser weder die vertrauliche
Anrede »Hermann« noch das »Du« weiter von seinem Nachbar gefallen
lassen wolle.

»So will ich mich auch nich erst setzen,« sagte Schräger gekränkt; »so
will ich bloß kurz und bündig sagen, daß ich die 20000 Mark kündige.
Ich werd' dann noch einen Brief schicken, daß es gesetzmäßig ist.
Adieu!«

Raschdorf rührte sich nicht und sagte auch kein Wort. Schräger ging
langsam zur Tür. Er drehte sich noch einmal um und sah Raschdorf
fragend an. Aber der blieb völlig regungslos. Da ging Schräger aus der
Stube.

Eine Stunde später brachte ein Knecht die schriftliche Kündigung
und gab sie dem Buchenbauer persönlich ab. Unter dem Schreiben
standen außer Schrägers Unterschrift noch die Worte: »Ernst Riedel,
Gutsbesitzer, als Zeuge.«

Der Buchenbauer war ein anderer geworden, seit er aus dem Gefängnis
zurück war. Er sprach selten noch ein Wort, er ging nie in ein
Gasthaus, er schimpfte nicht mehr, er klagte auch nicht. Scheu und
gedrückt brachte er die Tage dahin. Das Vieh, das bei den Bauern im
Dorfe einquartiert gewesen war, hatte er verkauft. Er mochte keine
Gefälligkeiten. So war er ein Bauer, der kein Stück Rind und kein Pferd
mehr besaß und dessen Scheuern und Ställe in Schutt lagen.

Und am Nachmittag dieses Neujahrstages kam noch ein Bote und brachte
einen Kündigungsbrief aus dem Dorfe über 5000 Mark, und außer dem
Namen des Gläubigers stand unter dem Schreiben noch ein anderer
unterschrieben »als Zeuge«.

Da sah der Buchenbauer mit einem langen Blick hinüber nach dem
Kretscham und wußte, wer diesen zweiten Brief veranlaßt hatte.

Am Abend war die Familie zusammen. Sonst waren am Neujahrsabend noch
einmal die Christbaumlichter angezündet worden. Dieses Jahr war es
vergessen worden, eine Tanne zu schmücken.

So schwermütig tickte die Uhr diese ersten Stunden des neuen Jahres
herunter. Ein Brief lag auf dem Tische. Aus einer fernen Stadt wünschte
ein Zigarrenkaufmann dem Buchenbauer Glück zum neuen Jahr. Sonst hatte
niemand eine Karte geschickt.

Ein paarmal versuchte die kranke Frau, ein Gespräch anzufangen.
Raschdorf gab ihr zerstreute, widersinnige Antworten. Er starrte immer
blinzelnd in das Lampenlicht, und dann las er die Glückwunschkarte des
Kaufmanns -- dutzendmal.

Von den Kündigungen sagte er nichts.

Auch drüben im Gesindehause war es traurig. Hannes lag auf einer Bank
und schlief; sein Vater rauchte Tabak und sah zuweilen schweigend auf
den Jungen.

Am Ofen saßen zwei junge Mägde und weinten und wisperten leise. Morgen
war Ziehtag; sie kamen nach entfernten Orten und hatten hier im Dorfe
ihre Schätze. Da lag das neue Jahr und alle Zukunft trübe vor ihren
jungen Augen.

Drüben im Buchenkretscham aber war viel Leben, und der Barbier, der
sich betrunken hatte, lärmte von Gericht und Staatsanwalt und sagte,
der Raschdorf müsse fort aus der Gemeinde.

Am 2. Januar war Ziehtag. Viele große Wagen rumpelten durchs Dorf, die
neuen Knechte und Mägde abzuholen. An diesem »Sterztag« ist es Brauch,
daß sich die Dienstleute betrinken. Abschied wird getrunken und neue
Freundschaft geschlossen; so mancher, der aus dem Dorfe scheidet,
will sich Mut holen im Branntwein und fügt zu dem Heimweh, das ihn am
anderen Tage packen wird, noch den physischen Jammer.

Der Gastwirt Schräger machte gute Geschäfte. Er verstand es auch, er
war ein »gemeenschaftlicher« Mann, klopfte die Mägde vertraulich auf
den Rücken und sprach mit jedem Pferdejungen; dabei horchte er und
fragte viel, wußte alles und war stolz, so populär zu sein.

Noch einer zog seine Straße -- Mathias Berger, der Lumpenmann. Sein
Wägelchen hatte er in einen Schlitten umgewandelt, denn die Wege lagen
voll Schnee, und es schneite auch heute sacht.

Bei den beiden Buchenhöfen war er rasch vorbeigefahren. Rechts drüben,
wo die Ruinen gähnten, war zu viel, was er liebte, und links drüben, wo
das Geschäft blühte, zu viel, was er haßte.

Am 28. Dezember sollte er vor dem Schiedsrichter erscheinen. Er hatte
sich schön gehütet. Mochte ihn der Schräger auf dem ordentlichen
Gericht verklagen, wenn er die Courage hatte. Und wenn er wieder
eingesperrt würde --?

Ah, wegen einer Beleidigung wird man nicht eingesperrt, da zahlt man
Strafe. Und Geld hatte Mathias Berger viel -- viel mehr, als die Leute
ahnten.

Daß er die drei Tage Haft bekommen hatte, zehrte an ihm. Über das ganze
Weihnachtsfest war er zu keinem Menschen gegangen; er war auch jetzt
froh, daß er fortziehen konnte.

Er hatte gesessen! Das war ein böses Wort. Er war der einzige gewesen,
den infolge des Brandes da unten eine gerichtliche Strafe getroffen
hatte.

Daran dachte der Mathias jetzt, als er am Waldrande mit seinem
Hundeschlitten dahinfuhr. Und er blieb halten und zog ein Zeitungsblatt
aus der Tasche, worin zu lesen stand, daß ein Redakteur sechs Monate
lang eingesperrt worden sei, weil er seine Meinung gesagt habe. Nun
habe es sich herausgestellt, daß diese Meinung die richtige und der
Gefangene ein Märtyrer gewesen sei. Dieses Blatt war Bergers Trost.

Er las es auch jetzt wieder und sagte sich, es sei doch eine schöne
Sache, für die Wahrheit zu leiden. Auch dann, wenn einen die Leute für
einen Lumpen halten. Dann erst recht! Nur muß man sich nicht selber
verlieren und hübsch stark und mutig --

Da -- ein Schuß.

Gleichzeitig ein dumpfer Schrei nahe aus dem Walde.

Berger ist zusammengefahren, als habe der Schuß ihn getroffen. Der Hund
bricht in ein heulendes Gebell aus. Was war das? Wem galt dieser Schuß?
Was war das für eine Stimme?

Berger rafft sich auf und schirrt den Hund los.

»Such', Pluto, such'!«

Beide springen über den Grabenrand und verschwinden im Walde.

Ein kurzes Suchen -- da finden sie ihn -- nicht weit vom Waldrande.

Gegen eine Fichte liegt er mit blutender Brust, und neben ihm liegt das
Jagdgewehr im Schnee.

»Raschdorf! Herr Raschdorf! O du großer Gott!«

Der Lumpenmann beugt sich tief zu dem Verwundeten. Der rührt keine
Wimper.

»Raschdorf! Hermann! Komm zu Dir! Komm zu Dir!«

Der liegt mit verglasten Augen und röchelt schwer und schaurig.

Berger reißt dem Verletzten Rock, Weste und Hemd auf und sieht das Blut
strömen aus vielen winzigen Wunden. Da nimmt er ein reines Taschentuch
und bindet es mit einer Schnur fest auf die Wunden.

Nun rafft er ihn auf und trägt ihn mit furchtbarer Anstrengung nach der
Straße. Dort legt er ihn auf den Schnee und holt den kleinen Schlitten
herbei. Dahinein bettet er den Verwundeten und fährt behutsam zurück
nach dem Buchenhofe. Und der Hund geht gesenkten Hauptes nebenher,
denn er fühlt, daß sein Herr weint, fühlt, daß das eine traurige Fahrt
ohnegleichen ist.

Der stolze Buchenbauer fährt heim auf Lumpenmanns kleinem Schlitten,
und nebenher geht der Tod, ein düsterer Wegegenoß, ein schauriger
Kamerad, den der dumpfe Feuerton des Gewehrs zur Stelle rief. Jetzt
noch schreitet er neben dem Buchenbauer über den weißen Schnee; aber
bald wird er die Führung übernehmen und auf seinen Wegen wandeln mit
dem anderen.

Unten im Dorfe singen ein paar Knechte:

    »Nun ade, du mein lieb Heimatland,
    Lieb Heimatland, ade;
    Es geht jetzt fort zum fremden Strand,
    Lieb Heimatland, ade!«

Mathias Berger horcht hinunter und sagt erschüttert zu sich selbst: »Es
ist Ziehtag!« --

Am Nachmittag kam Raschdorf noch einmal auf Sekunden zu sich.

»Raschdorf, um Christi willen bereuen Sie Ihre Sünden!«

Und der Geistliche, der am Bette stand, hielt ihm ein Kreuz hin.

Raschdorf starrte ihn gläsernen Auges an, dann verzog sich sein Gesicht
wie zum Weinen, und er versuchte, das Kreuz zu küssen. Aber dabei
verlor er schon wieder das Bewußtsein.

»Durch diese heilige Salbung und durch seine mildreiche Barmherzigkeit
verzeihe Dir der Herr alles.« --

Gegen 4 Uhr war Hermann Raschdorf tot.

Am Fenster lehnten Frau Anna und Heinrich. Sie hielten sich fest
umklammert. Der Winterabend lag auf der Flur, und über dem verschneiten
Walde ging fahl die Sonne unter, die ferne Sonne, die uns doch
unendlich näher ist als die Seelen der lieben Toten, die heimgegangen.
Mit weißem, unbewegtem Gesichte schaute Frau Anna nach dem gelben
Schimmer. Bald ging nun auch sie auf die weite Reise, und der Knabe,
den sie liebte, blieb einsam zurück, ohne Eltern und ohne Heimat.
In vielen Jahren aber, wenn auch er vollendet, würden sie sich
wiedersehen. Das sind die Stunden, in denen Gott mit den Menschen
spricht, er, der Trost und Frieden für die Trauernden hat, wenn die
Welt und all ihre Weisheit und all ihre Tröstung versagt.

       *       *       *       *       *

Durchs Dorf flog die Kunde: »Raschdorf hat sich erschossen! Das
Gewissen hat ihm keine Ruhe gelassen!«

Berger hatte es übernommen, die Träger der Leiche für das Begräbnis zu
besorgen. Bauern werden sonst von Bauern zu Grabe getragen. Aber der
erste Bauer, den Berger um den Liebesdienst ansprach, sagte, er habe
nicht Zeit, und der zweite meinte, er habe die Influenza. Da spuckte
Mathias Berger draußen vor dem Tore aus, fuhr nach der Stadt und
bestellte einen Leichenwagen nebst den Leichendienern. Die kosteten
viel Geld, aber sie kamen pünktlich.

»Geld ist etwas Gutes,« sprach der schlichte Philosoph bei sich selbst,
»es ist oft viel zuverlässiger als die Nächstenliebe.«

Am 5. Januar war das Begräbnis. Hunderte und Aberhunderte von
Zuschauern füllten den Friedhof. Der Geistliche sprach die üblichen
Gebete. Dann mußte die Rede kommen. Aller Augen hingen an dem Munde des
Priesters. Klar und deutlich sprach er:

»Wir beten für den Verstorbenen und alle, die mit ihm hier schlummern,
jetzt noch ein Vaterunser.«

Und sonst kein Wort. Bald nach dem Vaterunser ging der Geistliche fort.
Nicht einmal die übliche Danksagung für das »christliche Trauergeleite«
sprach er. Mathias Berger hatte sich außer der Einsegnung des Grabes
alles andere namens der Hinterbliebenen verbeten, auch die Danksagung.
Die Leute, die da hinkämen, meinte Berger, kämen aus Neugierde und
nicht aus Teilnahme, für die Neugier aber brauche sich niemand zu
bedanken.

Eine große Enttäuschung bemächtigte sich der Teilnehmer am Begräbnis,
und die Männer suchten sich in etwas zu entschädigen und gingen ins
Wirtshaus.

Dort wurden dann dem toten Hermann Raschdorf viele Leichenreden
gehalten.

       *       *       *       *       *

Drüben im Buchenhof saß ein kleiner Kreis von Menschen und beriet über
die Zukunft: Frau Anna, Heinrich, der alte Kantor, der Schaffer und
Mathias Berger.

Und auch der Lumpenmann hielt eine kleine Leichenrede. »Heinrich, wenn
Dir amal jemand sagt: Dein Vater hat sich erschossen, da sag': Ja, a
hat sich erschossen, aber ob a 's freiwillig gemacht hat oder ob a
verunglückt is, das weiß der liebe Herrgott alleine. Aber wenn Dir
jemand sagt: Dein Vater hat sich selber angezünd't, da spuck' ihm ins
Gesichte, denn das is die höllischste Lüge von der Welt. Wer angezünd't
hat, das wird noch amal lichterloh rauskommen. Und nu will ich noch was
sagen: der Buchenhof bleibt 'm Heinrich. A wird nich verkauft!«

Frau Anna sah Berger wehmütig an.

»Der Hof muß verkauft werden -- bald! Schräger hat seine 20000 Mark
gekündigt und der Müller seine 5000 Mark. Jetzt borgt uns niemand zur
letzten Hypothek hundert Taler.«

Berger machte eine abwehrende Handbewegung. »Lassen Sie mich reden,
Frau Raschdorf. Wieviel sind Schulden?«

»110000 Mark.«

»So? Und der Hof is wert 150000! Wenigstens!«

»Jetzt nicht! Jetzt gelten die Wirtschaften nichts! Und 's is kein
Vieh da, kein Ackerzeug, die Gebäude sind abgebrannt. Wer weiß, ob
wir mit den Schulden rauskommen, wenn wir verkaufen und noch das
Versicherungsgeld dazu rechnen.«

Die Frau streckte beide Hände trostlos über den Tisch. Mathias Berger
nahm eine entschlossene Miene an.

»Die Wirtschaften gelten jetzt nischt! Gutt! Also wird sie nich
verkloppt. Das wär' ja traurig. Und nu raus mit der Sprache! Erschreckt
nich! Ich borg' das nötige Geld selber!«

»Von wem?«

»Von wem? Von mir! Ich borg's selber! 10000 Taler borg' ich, das sind
30000 Mark.«

Die anderen sahen ihn verständnislos an.

»Ja, von wem wollen Sie's denn borgen?«

»Nu, von niemand! Von mir selber! Ich hab' selber so viel Geld übrig!«

»Machen Sie heute keine Scherze, Mathias,« mahnte der Kontor. Frau Anna
und Heinrich sahen betroffen vor sich nieder, und nur der Schaffer
grunzte ein wenig amüsiert. Da nahm Berger das Wort:

»Da muß ich zuerst 'ne kleine Geschichte erzählen. Es geht oft recht
wunderbar zu im Leben. Also eines schönen Tages -- es sind jetzt
sechs Jahre her -- sitz' ich in Waldenburg in eener Kneipe. Kommt
der Schräger rein. Na, damals vertrugen wir uns noch besser, und a
plauderte immer gerne mit mir, denn a Lumpenmann weiß manches, was
a anderer nich weiß. Na, wie gesagt, der Schräger setzt sich zu mir.
'n kleenen Stiefel hatt' a sitzen. Auf 'm Tisch stand a Würfelbecher.
»Sind wir amal um 'n Böhm!« sagte er und warf siebzehn. Ich wollt' mich
nich blamieren, warf sechzehn und zahlte zehn Pfennige. »Revanche,«
sagte der Schräger und warf dreizehn; und ich revanchierte mich, schmiß
sieben und gab wieder zehn Pfennige. Das gefiel 'm Schräger; a würfelte
immer von neuem und ich immer mit, und ich bezahlte immer 'n Böhm,
bis 'ne Mark voll war. »Weißte, Berger, riskier'n wir amal 'ne Zicke,
setz'n wir jeder amal fünf Böhm. Wenn schon, denn schon!« »Wenn schon,
denn schon,« sagte ich und setzte fünfzig Pfennige, denn ich hatte och
'n kleenen Stiefel sitzen. Nu schmeißt a sechzehn und ich achtzehn, und
das ging so fort, bis ich ihm fünf Mark und fünfzig Pfennige abgeknöppt
hatte. Da war a wütend, nahm seine Mütze und ging. Ich freut' mich
natürlich nich schlecht, ließ mir gleich 'n telikaten Kalbsbraten für
40 Pfennige bringen und schickte mein'm Hunde für 10 Pfennige Knochen
aus der Küche. Dann fuhr ich los. Wie ich nu so durch die Stadt fuhr,
les' ich a großes Plakat: Marienburger Geldlotterie. Große Geldgewinne.
Los 3 Mark. Ich lehnte an meiner Hundekutsche und lernte so sachte das
Plakat auswendig. Und weil ich, wie gesagt, nicht ganz klar war, geh'
ich rein und kauf' a Los, von Schrägers Gelde. Wie ich' wieder rauskam,
sah mich mein Hund an, als wenn a sagen wollte: Du tummer Kerl, was
hätt'n wir für das Geld für 'ne Menge Kalbsbraten und Knochen haben
können. Aber na, 's Geschäft war gemacht. Damit nu wenigstens von dem
Gewinn was Reelles raushängen tät, kaufte ich von den zwee Mark, die
ich noch hatte, der Liese 'ne Puppe. Na und? -- Nach vier Wochen hatt'
ich mit mein'm Los 30000 Mark gewonnen, a dritten Hauptgewinn.«

»Berger! Es is nich möglich!«

»Ist denn das wahr, Mathias?«

Die ganze Gesellschaft war aufs höchste erregt.

Berger lächelte. »Es ist wahr. Und ich hab' das Geld Heller für Pfennig
ausgezahlt gekriegt. Aber ich hab' mir's nich in Waldenburg geholt; ich
bin nach Breslau gefahr'n. Denn ich mochte kein'n Lärm machen.«

»Das is ja nicht zu glauben!«

»Was is nich zu glauben? Daß jemand 'n Haupttreffer macht? Das kommt
bei jeder Lotterie vor. Und daß es mal 'n kleenen Mann trifft, das
kommt ooch vor. Ich hab' für das Geld Papiere gekauft. Vierprozentige!
Das macht zwölfhundert Mark Zinsen aufs Jahr. Die hab' ich fast alle
gespart. Das sind nun wieder gegen 7000 Mark. Gesagt hab' ich keinem
Menschen was. Nich amal meine Schwester weiß was und die Liese ooch
nischt.«

»Aber warum -- warum haben Sie denn das verschwiegen?«

Berger sah vor sich nieder.

»Ja, warum? Na, das habt Ihr wohl schon oft gehört und gelesen, daß
mancher, den die Leute für 'nen blutarmen Kerl hielten, in Wirklichkeet
a kleener Krösus war. Bei manchem, der a Fechtbruder war, fand man
am Ende viel Gold und Silber unter seinen Lumpen. 's gibt solche
schnurrige Kerle. 's is a ganz besonderer Spaß, die Welt zum Narr'n
zu halten. Bei mir war's auch so. Aber 's war nich das alleene. Das
Geld kam zu spät. Zehn Jahre früher hätt's kommen müssen, wie ich noch
jünger war. Da hätt' ich's gebraucht.«

Die andern sahen ihn verständnislos an; nur Frau Anna blickte vor sich
nieder.

Berger zwang sich wieder zu einem launigeren Tone.

»Ja, und für een'n Lumpenmann paßt sich's doch nich, wenn a reich
is. Ich schämte mich. Und Lumpenmann wollt' ich bleiben. So in der
Welt rumfahren und zu Leuten kommen, das paßt mir. Das is nich so
langweilig. Da gibt's alle Tage was Neues. Na, und das Geschäft ernährt
mich. Deswegen braucht' ich auch das Geld nich. Ich hab' mir immer
gedacht, so 'ne Lotterie is was Tummes. Immer gewinnt's einer, der's
nich braucht. Aber wiederum war 's nich so was Tummes. Immer, wenn mich
so eener scheel ansah, und dachte: »Ach, der arme Schlucker!« lacht'
ich mir eens im stillen. Und ich dachte an allerhand!«

Die andern schwiegen. Bergers Augen begannen zu leuchten.

»Und jetzt dank' ich Gott, daß ich das Geld hab'. Jetzt kann ich's
gebrauchen.«

»Berger, Sie können ja nicht -- Sie dürfen nicht Ihr Geld auf eine so
unsichere Sache --«

»Ich mach', was ich will! Ich borg's -- basta! Die Sache steht ganz
gut. Der Schräger und der Müller werden ausgezahlt, bleiben 85000 Mark
Schulden. Das is bloß reichlich die Hälfte von dem, was das Gut wert
is. Dann bleiben immer noch 5000 Mark zu dem Versicherungsgelde, daß
die Gebäude wieder ordentlich aufgebaut werden können. Und wenn ich
sterbe, haben die Liese und die Schwester noch 7000 Mark. Das ist viel
Geld. Und außerdem haben sie die Hypothek.«

»Berger, es ist mir, als ob Sie ein Märchen erzählten,« sagte der alte
Kantor. »Sie müssen aber an Ihr Kind denken.«

»An die Liese denk' ich schon. Der bleibt alles, jeder Pfennig. Wenn's
nich sicher wär', borgt' ich's nich. Denn ich bin geizig geworden, seit
ich das Geld hab'. Aber es is sicher!«

»Das werden wir nicht annehmen, Berger.«

»So? Und damals -- wie ich ins Gemeindehaus kommen sollte -- als
Dorfarmer? -- Sie denken wohl, a Lumpenmann hat keen Ehrgefühl? Das
merkt a sich, wenn ihn jemand nich hat verlumpen und verhungern lassen.
Und offen gesagt, ich weeß mir keen Rat mit 'm Gelde. Ich hab' mir ofte
gesagt, eigentlich könntest du was anfangen, die Liese aufputzen und so
-- oder selbst 'n feinen Kerl rausbeißen. Ich hab' immer lachen müssen,
wenn mir so was einfiel. 's kam mir so riesig tumm vor. Na, und da hab'
ich's immer aufgeschoben. Kommt alles noch zurechte, dacht' ich immer.
Laß das Mädel! Besser is, sie denkt, sie is arm. Da wird sie a recht
braves Mädel werden. Kommt alles zurechte!«

»Ich besauf' mich auch amal, und nachher tu ich würfeln,« nahm sich
Reichel, der Schaffer, vor. Es war das erste Mal, daß er begeistert war.

Die anderen aber sahen ernst vor sich nieder. Sie waren alle in tiefer
Verlegenheit. Es entstand eine Pause. Frau Anna ergriff Bergers Hand.

»Mathias, Sie wollen mir das Sterben leichter machen.«

»Mutter!«

»Kind! Anna, sprich nicht so! Ich kann's nicht hören!«

Die Frau schüttelte leise den Kopf und bedeckte das Gesicht mit den
Händen.

Mathias Berger sagte nichts. Ein Weilchen saß er ganz still da mit
rotem Gesicht. Dann stand er plötzlich auf und ging hinaus.

Im öden Hofe stand er regungslos.

Einmal, als er ein junger Bursche war, hatte er ein Mädchen geliebt. Es
wurde nicht sein. Ein reicher Nebenbuhler kam und riß sie in seine Arme.

Jetzt ist sie arm geworden und er reich, und der andere ist begraben.
Aber wiederum wird sie nicht sein. Ein stärkerer Freier kommt -- der
Tod. Er steht wohl schon drüben auf den kahlen Wiesen. Bald schreitet
er über die Trümmer und den Hof und führt die Anna heim in sein stilles
Haus. Und die Menschen werden bei der Hochzeitsfeier läuten und singen
und hinterher lachen und zechen, wie jetzt die lauten Gäste drüben in
der Schenke. Der Mathias aber wird wieder mit seinem Handwagen in der
Welt herumziehen und das Vergessen suchen.

»Mathias! Mathias, wo sind Sie denn?«

»Heinrich! Komm mal her, Heinrich!«

»Mathias, sind Sie krank?«

»Es ist nichts, Heinrich! Ich hab' mir bloß so mancherlei überlegt.
Heinrich, wir zwei werden zusammenhalten!«

»Ja, Mathias! Ich bin so froh, daß Sie mein Vormund werden sollen.«

»Vormund nennen sie's auf 'm Gericht; wir heißen's Freund. Du sollst
jetzt »Du« zu mir sagen, Heinrich, und ich sag' auch »Du«, für immer.
Und uns zwei soll niemand auseinander bringen!«

So reichten sie sich die Hände.

[Illustration]



[Illustration: Kapitel 7]


Es war nahe an Mitternacht. Der Buchenhof lag längst ganz still; auch
in der Wirtsstube des Kretschams waren die Lichter erloschen. Nur aus
der Giebelstube drang noch ein matter Schein. Julius Schräger war noch
wach.

Das Bett war aufgedeckt; es war totenstill im Hause, und Schräger war
den ganzen Tag von früh an auf den Beinen gewesen. Aber er legte sich
nicht nieder.

Langsam trat er ans Fenster. Der Mond war aufgegangen, und in seinem
halbhellen Licht lag drunten das Dorf. Der Kirchturm ragte deutlich in
die Luft.

Dort unten, ganz nahe am Turme, lag Hermann Raschdorf die erste Nacht!
Er lag unter gefrorenen, harten Schollen in einem dünnen Totenhemd, und
seine Nachbarn zur Rechten und zur Linken waren Tote, Leute, die schon
lange dort unten schliefen. Wie still das dort sein mußte! Nur die
Würmer bohrten an Holz und Knochen, und zuweilen brach ein Sargdeckel.
Dann senkten sich die Schollen und -- drückten schwer.

Schräger fröstelte und trat vom Fenster zurück.

Er war ein Narr, sich so schwere Gedanken zu machen. Zu ändern war
nichts. So setzte er sich auf den Bettrand und legte sich auf die
Kissen nieder. Aber kein Schlaf kam über seine Augen. Er sah immer
in das rote, leise singende Licht. Als wenn das Licht blutete und
wimmerte, so war's.

Schräger schloß die Augen. Warum dachte er immer an Raschdorf? Er war
fort. Er konnte ihm nichts anhaben. Kein Haar konnte er ihm krümmen.
Und bis dahin, daß er auch hinunter müßte, war's lange hin. Dann war
der andere längst zu Staub zerfallen.

Da schlich draußen etwas heran. Schräger lauschte. Es kam näher --
stockte -- war still. Aber jetzt kam's wieder -- es stieß an einen
Stuhl und war wieder still. Dann ächzte es deutlich vor der Tür.

Schräger richtete sich halb auf. Kalter Schweiß trat auf seine Stirn.
Steif und lahm stützten sich die Hände auf die Kissen.

Da ächzte es wieder draußen.

Und jetzt tastete es an die Tür und klinkte langsam auf.

»Was? Wa--as? -- -- -- Ah -- Du -- Gustav! -- Was willst Du?«

Der Idiot, der ganz dürftig angezogen war, legte den Finger auf den
Mund.

»Pst! Still! Ich komm Dir was sagen.«

Er schlich mit unheimlich glitzernden Augen zu seinem Vater und sagte
ihm leise ins Ohr:

»A kommt wieder!«

Schräger erblaßte.

»Gustav, wie kannst Du Dich erdreisten, jetzt in der Nacht --«

»Pst! Ich fürcht' mich! A kommt -- a rennt über die Felder -- mit der
Flinte -- ich hab' 'n gesehn -- a will mich schießen -- und da komm ich
zu Dir -- Du mußt mich verstecken -- und Du mußt ihm Geld geben, daß a
nich schießt.«

Schräger wurde es brühheiß.

»Gustav, augenblicklich gehst Du in Deine Kammer und legst Dich
schlafen. Das is Unsinn!«

Der Idiot brach in Heulen aus, und Schräger mußte ihm den Mund zuhalten.

»Still, Gustav, sei doch still! Es hört Dich sonst jemand. Du kannst ja
hierbleiben. Schrei nich -- schrei nich, Gustav! -- Komm, leg' Dich ins
Bette, ich zieh' Dir die Hosen runter -- so -- und nu leg' Dich um; ich
deck' Dich fest zu.«

Der Idiot klapperte mit den Zähnen, als er im Bette lag.

»Fürchte Dich nich, Gustav, fürchte Dich nich, es kommt kein Mensch.
Schlaf' ruhig ein! Es kommt niemand!«

»Du, ich hab'n gesehn! A weiß jetzt, daß ich angezünd't hab'!«

»Bist Du ruhig, Gustav, bist Du ruhig! Du hast ja gar nich angezünd't.«

»O ja, ich hab'! Mit zwei Streichhölzeln! A wollte mich rausschmeißen
-- uh, und es war doch so kalt.«

»Wenn Du nich ruhig bist, Gustav, kommt der Gendarm. Das darfst Du
keinem sagen, sonst wirst Du fortgeholt. Niemand darfst Du das sagen,
hörst Du? Keinem Menschen!«

Schräger zitterte vor Erregung.

»Ich sag's nich. Sonst schießt a mich tot!«

»Schlaf' ein, Gustav, schlaf' ein!«

»Oh, es hat so gebrannt, so hoch und so heiß, und jetzt wird a kommen.
-- Hörst Du? -- A kommt auf der Treppe -- Vater, versteck' mich!«

Schräger setzte sich auf den Bettrand und ergriff die Hände des
Burschen. Leise redete er auf ihn ein und gebot ihm, die Augen zu
schließen.

Der Idiot verbarg sich tief in den Betten und hielt krampfhaft des
Vaters Hand. Von Zeit zu Zeit schrie er auf, dann hielt ihm Schräger
den Mund zu. So verging eine qualvolle halbe Stunde, dann fing der
Bursche leise an zu weinen und schlief allmählich ein.

Schräger erhob sich. Sein Gesicht war fahl. Ein leiser, schwerer Fluch
kam über seine Lippen. Dieser Mann erkannte, daß sich ein Wurm in sein
Lebensmark eingebohrt hatte, der nie mehr weichen werde.

Langsam ging er an den Schreibtisch, der an der Wand stand, und nahm
ein Zeitungspapier heraus. Es war dasselbe Blatt, das Gustav am
Brandtage zuerst zu einem Heim geformt, dann entfaltet und so gierig
betrachtet hatte.

Das Blatt enthielt ein Bild, das ein brennendes Haus darstellte,
aus dem ohnmächtige Menschen getragen wurden. Dieses Bild hatte die
Phantasie des Idioten erregt und ihn zu seiner Tat angestachelt, wozu
noch gekommen war, daß die Bauern von einem Brande gesprochen und
Raschdorf den Burschen gekränkt hatte.

So war alles gekommen, und Schräger hatte noch am selben Abend die
furchtbare Wahrheit erfahren. Als Gustav vom Brande nach Hause lief,
war er ihm gefolgt. Da hatte der Knabe unter der Treppe im Hausflur
gekauert und gewimmert. Er hatte ihn mit sich in die Stube genommen und
ihn ausgefragt. Und da war ihm der unglückliche Bursche schreiend zu
Füßen gefallen und hatte ihm gestanden, er habe die Scheuer angezündet.

Anfangs hatte es Schräger nicht geglaubt. Aber dann hatte er dem
Jungen die Taschen durchsucht und das Bild und ein ganzes Päckchen
Schwefelhölzer gefunden. Entsetzt hatte er noch einige Fragen gestellt
und mit Gewißheit die furchtbare Wahrheit erkannt, daß sein Sohn der
Brandstifter sei.

Und doch hatte ihn damals nichts bewegt als die peinigende Sorge, die
Sache möchte offenbar werden. Der Verschleierung der Tatsache galt von
da an all sein Bemühen, hinter das sogar sein altes Bestreben, den
Buchenhof zu erwerben, weit zurücktrat.

Nun trat er an das Bett des schlafenden Burschen. Auch im Schlafe war
dieses Gesicht häßlich und öde. Der Junge atmete schwer, und seine
struppigen Haare waren feucht von Schweiß. Er sah wohl auch im Traume
den schrecklichen Jäger, vor dem er sich fürchtete.

Schrägers Kopf sank auf die Brust. Das war eine der schweren
Nachtstunden, da der Mensch Rechnung hält in seinem Herzen und vor
Schuld und Urteil erschrickt.

Wenn Gustav plauderte!

Sie konnten dem Jungen gerichtlich nichts tun, er konnte nicht
verantwortlich gemacht werden. Aber sie würden ihn in eine Anstalt
bringen, ihn unschädlich machen für immer.

Und das fürchtete Schräger; dagegen sträubte er sich mit ganzer Seele.
Er liebte seine beiden Kinder abgöttisch, wie so oft Geizhälse, die in
ihrer Seele sonst nie einen Funken Idealismus haben, an ihren Kindern
mit einer unordentlichen Glut hängen, die anständigen Leuten fremd
ist. Das ist auch ein Zug, den die Geizhälse mit den Bestien gemeinsam
haben. Und noch eines kam hier dazu, die Gefahr, daß der Junge des
Vaters Mitwissenschaft verriet.

Sein Eid! Sein Eid! Wie stand er da!

Gewiß, er konnte im schlimmsten Falle alles abstreiten. Das Zeugnis des
Jungen galt vor Gericht nichts. Er konnte sagen, er habe nichts gewußt.
Aber die Dorfleute! Wenn ihr Vertrauen verschwunden war, war sein
Geschäft verloren -- alles verloren. Das durfte unter keinen Umständen
geschehen.

Und sein alter Plan: den Buchenhof zu gewinnen! Es war ja gut, wenn der
Raschdorf unterging. Was ging ihn der Raschdorf an? Schließlich hatte
er sich doch selber ruiniert!

Die Lampe ging aus. Schräger erschrak. Jetzt im Dunkeln würde auch er
sich fürchten. Er sann nach, wo er Licht hernehmen könnte. Es war,
ohne Geräusch zu verursachen, keines zu erlangen. So setzte sich der
Einsame in einen Lehnstuhl.

Nur das eine nicht, nur nicht nach dem Fenster sehen! Das Mondlicht
fiel so gespenstisch herein, und dort unten ragte der Turm auf,
als wenn mitten aus dem Kirchhof sich ein geisterhaft drohender
Riesenfinger emporstrecke.

Nur nicht nach dem Fenster sehen!

Eine Weile saß Schräger grübelnd still. Dann begannen seine Lippen zu
zucken, Worte zu sprechen, ohne daß er's hindern konnte: »Ich schwöre
vor Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, daß ich die reine Wahrheit
sagen, nichts verschweigen --«

Ein Stöhnen; Schräger sprang auf. Was fiel ihm ein? Wie kam er dazu,
das zu sagen -- das?

Er schloß die Augen und drückte den Kopf gegen die Kacheln des Ofens;
sie waren kalt.

Kalt! Wenn das Feuer erlischt und wenn das Leben erlischt, kommt die
Kälte.

»-- nichts verschweigen und nichts hinzusetzen --«

Schräger raffte sich auf, und wie alle, die das Elend trifft, versuchte
er den Kampf mit der furchtbaren Furie, die das böse Gewissen heißt,
den nutzlosen, törichten Kampf, den auf die Dauer kein Sterblicher
besteht, wenn nicht die starke, heilige Gnadenhand Gottes die eisernen
Krallenfinger mächtig und linde aus den blutenden Schultern löst.

»Was hab' ich denn getan? Was hab' ich denn gesagt? Ich hab' nur
erzählt, was ich wußte. Nur das!«

»-- nichts verschweigen --«

Schräger blickte scheu nach dem Bette.

Eines hatte er verschwiegen: das, was alles gelöst hätte.

»Wissen Sie, wer der Brandstifter ist?«

»Nein!«

Und die schwarze, hohläugige Gegnerin warf den Einsamen in den
Lehnstuhl zurück. Dort preßte er das Gesicht gegen die Lehne.

Da, wie er sich sammelte, aufraffte, kam ihm eine neue Waffe.

»Es ist niemand verpflichtet, gegen sein eigen Fleisch und Blut zu
zeugen. So sagt wenigstens das Gericht, wenn auch nicht die Religion.«

Er atmete auf. Das würde die Erlösung sein, der Sieg! Der Dämon stand
an der Tür, als wolle er gehen. Aber er wandte sich noch einmal um.

»Trauen Sie dem Angeklagten das Verbrechen zu?«

Wie ein Lavastrom flutete die Frage durch die Seele des Einsamen, die
Frage und die meineidige Antwort, die er gegeben: »Ich weiß es nicht
genau. Er wird es wohl gewesen sein!«

Leise kam der Dämon näher und beugte sich an Schrägers Ohr. Das Fenster
knackte und knisterte ein wenig. Das klang wie leises, böses Lachen.
Und es war, als ob die furchtbare Stimme zischelte:

»Und weißt Du, was Du weiter getan hast? Das Geld hast Du ihm
gekündigt, ihn bankerott zu machen; zum Müller bist Du gegangen,
ihn aufzuhetzen, und da hat Dein Freund die Flinte genommen und ist
hinübergegangen. Und Gott hat gefragt: »Woher kommst Du? Ich habe Dich
nicht gerufen!« Mit Donnerstimme hat Gott es gefragt. Dein Freund aber
hat mit bleicher Hand hinabgezeigt auf Dich und gesagt: »Der hat mich
auf den Weg gezwungen zu Dir, der! ...««

»Gustav, wach' auf! Wach' auf, Gustav! Ich kann nicht allein sein!«

Der Bursche fuhr erschrocken auf.

Und Julius Schräger suchte bei ihm Hilfe, bei dem Idioten, der
verschlafen wimmerte und bald wieder einschlief.

Ein wenig später rasselte draußen ein Fuhrwerk vorbei. Schräger
sprang ans Fenster. Wie eine Erlösung betrachtete er die brennenden
Wagenlichter. Da waren doch Menschen -- Menschen.

Aber bald darauf kam noch ein Licht langsam über die Felder herauf, ein
einsames Licht, vor dem es dem erregten Manne schauerte. Wie gebannt
sah er hin; er konnte sich nicht wegrühren vom Fenster, als wenn jenes
Licht ihn zwinge. Er rieb sich die Augen, er wollte das Blendwerk
bannen. Es gelang nicht. Näher kam das Licht, immer näher, gerade auf
das Haus zu. Und nicht auf der Straße kam's, nein, über die Felder, ein
weißes, blasses, taumelndes Licht.

Der Wind wimmerte draußen, und der Mond war untergegangen hinter
schwarzem Gewölk. Es war fast ganz dunkel.

Jetzt war das Licht da. Wie eine Laterne war's und hatte doch nicht die
Form gewöhnlicher Laternen.

Jetzt -- jetzt konnte er's sehen! Eine schwarze Gestalt trug die
Laterne, und ihr folgte eine weiße. Schräger sah es deutlich im
Lichtschein.

Und jetzt verschwanden die Gestalten mit dem Lichte huschend drüben im
Buchenhofe.

Mit verzerrtem Gesicht drehte sich Schräger um.

Der Tod, der den Raschdorf heimführt, fiel ihm ein.

Er war sonst nie furchtsam gewesen. Aber seit er einen unter dem Rasen
hatte, dem er den Atem genommen, kam die grauenhafte Angst -- die
wahnwitzige, abergläubische Furcht.

Finster war's, schauerlich finster, und der Junge röchelte so schwer.

Ein Mittel! Ein Mittel, um der Qual zu entgehen!

An den Wänden tastete sich Schräger hin, zur Tür hinaus und dann leise
wie ein Dieb die Treppe hinunter nach der Gaststube.

Dort atmete er auf. Es wurde ihm ein bißchen wohler. Vorsichtig schloß
er die Fensterläden, dann zündete er die Lampe an. Licht! Licht ist
allein schon eine Wohltat.

Aber doch war's auch hier einsam und furchtsam.

Da suchte er das Mittel.

Zum ersten Male trank er viel Schnaps. Dadurch wurde er mutiger.
Schließlich füllte er eine Flasche, löschte das Licht aus, tappte nach
seiner Schlafstube zurück, um den Jungen nicht allein zu lassen, setzte
sich in den Lehnstuhl und trank -- trank aus der Flasche.

       *       *       *       *       *

Am andern Morgen lag ein lichter Dreikönigstag über der winterlichen
Erde.

Schräger erhob sich müde und zerschlagen aus dem Lehnstuhl, in dem er
ein paar Stunden im dumpfen Schlummer des Rausches gelegen hatte. Es
war acht Uhr vorbei. Er weckte seinen Sohn und gebot ihm noch einmal
eindringlich Schweigen. Dann versprach er ihm, er würde ein zweites
Bett in diese Stube schaffen lassen, und Gustav könne jetzt immer bei
ihm schlafen. Nur dürfe er nichts sagen.

Drunten im Hause polterten die Dienstleute. Das tat Schräger wohl. Auch
das Licht beruhigte ihn. Mehr aber half ihm ein guter Gedanke, den er
in der Nacht gefaßt hatte: er wollte hinüber zur Frau Raschdorf gehen
und die Kündigung zurücknehmen.

Schlafen mußte er wieder können, ruhig mußte er wieder sein, selbst auf
die Gefahr hin, daß er den Buchenhof nicht bekam. Sonst, meinte er,
würde er verrückt werden vor Furcht.

So ging er gleich vor dem Frühstück nach dem Buchenhofe. Unter der Tür
traf er die Magdalene Raschdorf.

Das schöne Kind sah ihn herb an.

»Lene, ist Deine Mutter schon aufgestanden?«

Das Mädchen schüttelte finster den Kopf.

»Ich möchte mit Deiner Mutter gern sprechen.«

»Sie ist krank!« sagte Lene und wandte ihm den Rücken.

»Ganz wie der Vater,« dachte Schräger, »so stolz und abweisend.« Aber
er zwang sich, freundlich zu sein.

»Lene, ist es schlimmer geworden mit der Mutter?«

Das Kind nickte und schlug die Hände vors Gesicht; dann lief es ins
Haus.

Eine Magd erschien und klärte Schräger auf. Die Frau hatte in der
Nacht Blutsturz bekommen. Ein Gespann hatte den Doktor geholt und eine
barmherzige Schwester aus der Stadt mitgebracht, und der Pfarrer und
der alte Kantor waren auch in der Nacht gekommen.

»Mit einer Laterne?« fragte Schräger stockend.

»Ja, mit einer Kirchenlaterne!«

»Aah!« seufzte Schräger auf und nickte.

Der Arzt kam die Treppe herab.

»Was wünschen Sie?« fragte er Schräger.

»Ich -- ich habe der Frau Raschdorf Geld gekündigt, und ich will die
Kündigung zurücknehmen.«

»Lieber Freund, da kommen Sie leider zu spät. Frau Raschdorf ist eben
gestorben.«

Ein schriller Schrei ertönte von oben. Das war die Lene, die es
auch jetzt eben erfuhr. -- Schräger ging mit schweren Schritten
heim. -- -- -- --

Wieder flog die Todeskunde durchs Dorf, und die Leute wurden still. Ein
Schrecken kam über die Menschen.

So viel Trauer in einem Hause weckte überall Furcht. Ein leises Grauen
mischte sich drein, als sei hier eine Strafe des Himmels sichtbar und
offenkundig in Erscheinung getreten für Sünden, die die Menge nicht
genau kannte. Aber ein Mitleid regte sich in den weicheren Herzen für
die zwei verwaisten Kinder. Dieses Mitleid hätte zum Siege verhelfen
können im Kampfe um die Heimat. Durch Mitleid hätte Heinrich Raschdorf
sich jenen Herzboden bei den Mitgliedern der Gemeinde erkaufen können,
um den er lange Jahre hindurch so bitter kämpfen mußte. Es kam ein
günstiger Augenblick, wie er nicht mehr wiederkam. -- Ein paar
Sympathiekundgebungen kamen aus dem Dorfe. Gespanne wurden angeboten,
auch sonstige Unterstützung, und zwölf Männer meldeten sich freiwillig
als Träger der Leiche. Der Bauer, der sich vor Tagen wegen Influenza
entschuldigt hatte, hatte die zwölf Männer gesammelt. Er schickte eine
Magd und ließ fragen, ob die Träger gebraucht würden.

Mathias Berger brachte seinem Mündel Heinrich die Nachricht aus der
Küche in die Wohnstube.

»Die Leute werden vernünftig, Heinrich! Siehst Du, schlecht sind sie
gar nich. Sie haben sich bloß mit Deinem Vater nich verstehen können.
Es is schon gut, Heinrich, wenn Du mit den Leuten auskommst, denn sonst
bleibst Du in der Fremde, auch wenn Du zu Hause bist. Das kannst Du mir
glauben.«

»Den Vater haben sie nich tragen mögen,« sagte der Junge finster.
»Warum nicht?«

Mathias Berger wußte nicht gleich eine richtige Antwort. Eine
leidenschaftliche Röte flammte über das Knabengesicht.

»Weil sie dumm sind, weil sie schlecht sind! Mathias, ich hab's gehört,
ich hab' gehört, wie sie auf meinen Vater schimpften, damals in der
Stadt. Alle haben sie gelacht über den schuftigen Barbier, und wie ich
ihm die Nase blutig gehau'n hab', da haben sie über mich herfallen
wollen -- zwanzig Männer über einen Jungen! Mathias, sie dürfen meine
Mutter nicht tragen. Ich leid's nicht!«

Die stolze, herrische Art der Raschdorfs brach bei dem Knaben durch.
Mathias blieb ruhig und milde.

»Heinrich, sie lassen sich selber anbieten. Es ist nun einmal so
Sitte auf dem Dorfe. Wenn wir das abschlagen, das is eine riesige
Beleidigung.«

»Und die? Haben die meinen Vater nicht beleidigt? Gebettelt hab' ich,
gebettelt, Mathias, daß sie's glauben sollen, sie haben nicht gemuckst.
Ich leid's nicht, Mathias, ich leid's nicht, daß sie die Mutter tragen.«

»Hör' mich mal an, Heinrich! Siehst Du, die Scheune werden wir wieder
aufbauen, den Stall auch. Das is nich schwer. Auch die Wirtschaft
kriegen wir wieder rauf. Das is auch nich schwer. Das läßt sich alles
machen, wenn man a bissel Geld hat und fleißig is. Aber Heinrich -- die
Leute, die Leute! Die müssen auch wieder lernen, freundlich mit uns zu
sein. Das is die Hauptsache, Heinrich! Das is wichtiger, als daß wir
die Wirtschaft wieder aufbauen. Sieh mal, ich war früher so a armer
Kerl. Ich hatte kaum a paar Sonntaghosen. Aber zu Hause war ich, 'ne
Heimat hatt' ich. Das war, weil mir die Leute gut waren. Dein Vater,
Heinrich, der hat keine solche Heimat gehabt.«

»Willst Du auch auf den Vater schimpfen, Mathias?«

»Wein' doch nich, Heinrich! Ich will ja bloß mit Dir reden, weil Du
doch schon ein großer, kluger Mensch bist. Sieh mal, ich sage, das war
eben das Unglück von Deinem Vater, daß a sich nich mit a Leuten im
Dorfe vertrug. Ich sag' ja nich, daß a schuld war. Ich sag' bloß, es
war sein Unglück. Denn siehst Du, immer alleine konnt' a nich sein,
immer in die Stadt fahren konnt' a auch nich, na, und da wurd' a
verdrossen und ging zum Schräger, und das war sein Verderben.«

Der Knabe weinte leise vor sich hin. Berger schlang den Arm um seine
Schulter.

»Heinrich, Du hängst so an zu Hause. Es ist notwendig, Heinrich, daß
wir gute Freunde im Dorfe haben. Ich bin zu a ungeschickter Kerl, ich
kann Dir's nich so beschreiben, wie ich mir's denke. Aber das weiß ich:
Wir brauchen die Leute, auch wenn wir sie nich brauchen. Wir müssen's
annehmen, Heinrich!«

»Da -- da sag' ihnen, sie sollen die Mutter tragen; Du bist ja klüger,
Du mußt's ja wissen.«

In demselben Augenblick öffnete sich die Tür, und Magdalene Raschdorf
trat hastig ein.

Ihre braunen Augen standen voll Tränen. Die Stimme bebte ihr, als sie
sprach: »Mathias, sie hat gesagt -- sie hat zu unserer Martha gesagt --
Sie -- Sie haben -- Sie haben unsere Mutter geküßt!«

»Lene! Was fällt Dir ein! Wer sagt das?« rief Berger.

»Wer sagt das, Lene?« stammelte Heinrich.

»Die -- die Magd vom Perschke-Bauer, die da is -- die hat's zur Martha
gesagt -- und ich -- ich hab's gehört!«

Mathias sprang aus der Stube hinüber nach der Küche. Eine junge Magd
stand schwatzend bei einer andern.

»Frauenzimmer, erbärmliches, was hast Du gesagt? Zu dem Kinde? Zu dem
Kinde?«

Die Magd wurde blaß und floh in einen Winkel.

»Was ist denn? Was ist denn? Jeses! A will mich hau'n!«

»Was hast Du gesagt von mir und der toten Frau Raschdorf -- Mädel?«

Berger, der ihr gefolgt war, trat drohend und keuchend vor sie.

»Ich hab' nichts gesagt -- ich hab' -- Jeses --!«

Ein Schlag klatschte ihr auf die Wange.

»Gesteh's, Frauenzimmer, oder --«

»O Gott, o Gott, lassen Sie mich!«

»Was Du gesagt hast, will ich wissen!«

Wieder erhob er drohend die Faust.

»Ich hab's bloß nachgesagt, der Herr sagt's, die Frau, 's ganze Dorf.
Ich kann nicht dafür --!«

»Das ganze Dorf? Raus! Und sag' Deinem Herrn, wenn sich noch eins auf
dem Buchenhof sehen läßt, da hetz' ich die Hunde!«

»Ich bring' sie um! Ich schlag' sie tot!« schrie Heinrich in rasender
Wut und klammerte sich an das Mädchen. Berger riß ihn los.

»Laß sie! Laß sie laufen, Heinrich!«

»Loslassen, Mathias, los! Ich schlag' sie tot!«

Heinrich schlug mit den Füßen gegen Mathias, der ihn festhielt, während
das Mädchen heulend davonlief.

Nach langer Zeit, als sie sich etwas beruhigt hatten, sagte Berger:

»Es war unrecht, Heinrich! Das dumme Ding quatscht bloß nach, was ihr
die Leute vorreden. Aber, Heinrich, ich war ein großer Esel. Du hast
recht, die dürfen Deine Mutter nicht tragen. Sie sind zu schlecht!«

Der Knabe wandte ihm den Rücken und stand in finsterem Groll und in
furchtbarem Nachgrübeln zitternd da. Berger betrachtete ihn und ahnte,
was in dieser Seele vorging. Da sagte er mild:

»Heinrich, komm einmal mit zur Mutter!«

In der kleinen Stube stand der Sarg. So friedlich lag die verklärte
Frau auf den weißen Kissen. Laut aufschluchzend kniete Heinrich am
Sarge nieder. Mathias Berger stand da mit gefalteten Händen, lange --
in stummer Betrachtung. Das war ein tiefes Glück, daß er so ruhig hier
stehen konnte.

»Heinrich,« sagte er leise, »ich hab' Deine Mutter sehr lieb gehabt,
aber küssen tu ich sie jetzt das erste Mal.«

Und er beugte sich über den Sarg und küßte die lächelnde Tote.

Dann faßte er den Knaben an der Hand und führte ihn hinaus. Und
Heinrich schmiegte sich fest an ihn an.

[Illustration]



[Illustration: Kapitel 8]


Neues Leben war auf den Buchenhof gezogen. Unten im Dorfe im
kleinen Schuppen stand unbenutzt der Lumpenwagen, und Pluto, der
»Bernhardiner«, lag faul im Buchenhofe und duldete mit lässiger,
gelangweilter Vornehmheit die Neckereien Waldmanns, des Dachses.

Mathias Berger war nicht mehr auf den Lumpenhandel gezogen, er war der
Verweser des Buchenhofes geworden.

Die Bauern im Dorfe lachten. Ein Lumpenmann Großbauer, das war auch
zum Lachen. Zum Bauer sein gehört Verstand und noch mehr Geld. Und
das hatte Mathias Berger beides nicht. Wenigstens nicht den richtigen
Verstand. Von Geld war sowieso nicht die Rede.

Der Barbier hatte ein »Gedicht« gemacht; das hieß:

    »Der Herr vom Buchenhofe hat sechs Dreier und
    Ein' Lumpenwagen und ein' großen Hund.«

Dieses Gedicht fand starken Beifall im Dorfe, und selbst die kleinen
Kinder lernten es auswendig. Auch erfand ein Tonkünstler eine sinnige
Melodie dazu, so daß das Lied gesungen und gepfiffen werden konnte.
Den Dichter machte es populär, und alle hielten ihn für einen witzigen
Menschen, der einen helleren Kopf habe als die anderen Leute.

Mathias Berger hörte von dem Spottverse und beschloß, in einem
wirklichen Gedichte, das der Redakteur des kleinen, landläufigen
Blättchens gewiß drucken würde, dem Barbier und den Dorfleuten eine
derbe öffentliche Antwort zu geben.

Mathias war in seinen Feierstunden ein Dichter. Er verfaßte zwar meist
nur Gelegenheitsgedichte, wie Nachrufe, Festtagswünsche u. dergl.; aber
einige Gedichte hatten auch in der Zeitung gestanden, und so hoffte
Mathias, auch diesmal mit einem geharnischten Poem anzukommen.

Da fand er am Tor des Buchenhofes mit Kreide die Worte angeschrieben:
»Der Barbiehr ist ein Esel!« Hannes, der Schaffersohn, bekannte
sich mit vergnügtem Schmunzeln als Urheber dieses Sinnspruches und
versicherte mit Wichtigkeit, daß er denselben Satz fast auf allen
Zäunen und Toren des Dorfes verewigt habe. Dafür erhielt er von Mathias
Berger eine unvermutete, aber sehr ausdrucksvolle Ohrfeige, und dieser
andererseits zog aus dem Vorfall die weise Lehre, daß es nicht gut sei,
sich mit Schubiacks in einen literarischen Kampf einzulassen. --

Auf Betreiben des alten Kantors war Mathias Berger zum gesetzlichen
Vormund über die beiden Kinder Heinrich und Magdalena Raschdorf
bestimmt worden.

Einen Tumult gab es im Dorfe, als bekannt wurde, daß Berger für
Heinrich Raschdorf das Gut kaufe und der Knabe sich mit seiner
Schwester »auseinandersetze«. Das Gut war abgeschätzt worden, nicht
viel über die Gesamtschulden hinaus, die Heinrich Raschdorf übernahm.
Das Mädchen erhielt eine geringe Summe ausgezahlt, die fest angelegt
wurde.

»Wenn es uns besser geht, Lene,« sagte Mathias, »dann bekommst Du
freiwillig, so viel wir Dir geben können. Jetzt dürfen wir den Hof nich
noch mehr belasten, sonst können wir ihn nich halten.«

Das Mädchen verstand nichts davon; es war zufrieden, daß es auf dem
väterlichen Gute bleiben durfte. --

Und um diese Zeit geschah es, daß Hannes abermals Prügel kriegen mußte.
Das kam so:

Er hatte einem Rudel Jungen, das ihm den Spottvers von den »sechs
Dreiern« in die Ohren sang, wütend und doch triumphierend zugeschrien,
der Mathias Berger habe mehr Geld als die ganze »Lumpenpakasche« der
Dorfleute, er hab' das ganze Dorf »gefünffingert«, denn er besitze 40-
oder gar 100000 Taler, und das habe kein Mensch gewußt. Und als die
Jungen lachten, fragte er sie schnippisch, woher denn etwa mit solcher
»Fixigkeit und Leichtigkeit« dem Schräger und dem Müller die Schulden
bezahlt würden, wenn nicht der Mathias das Geld gäb'. Denn sonst borgte
doch kein Mensch.

Diese Straßendebatte hatte drei Folgeereignisse:

1. Mathias Berger wurde zur Einkommen- und Kommunalsteuer herangezogen;
2. im Dorfe entstand eine neue, vielleicht überhaupt die stärkste
Sensation, und 3. Hannes bekam Hiebe.

Das letzte Ereignis vollzog sich an einem trüben schwermütigen
Märzabend in des Schaffers Stube. Der Vater war sehr schweigsam dabei,
der Sohn nicht. Nach der Katastrophe ging Hannes hinaus, starrte in das
trübe Abendlicht und lehnte seinen verlängerten Rücken gegen eine kühle
Mauer. Da kam die Lene über den Hof, sah ihn verächtlich an und sprach
nur das eine Wort: »Quatschkopp«.

Damit warf sie ihm etwas vor die Füße. Es war der Ring, den er ihr
ehemals verehrt hatte.

Hannes rührte sich nicht. Für seinen Kampfesmut so schmählich behandelt
zu werden, hatte er nicht verdient. Er nahm sich fest vor, weder mit
seinem Vater noch mit Mathias noch mit der Lene jemals im Leben wieder
ein Wort zu reden, und dann kroch er in sein Bett und schlief mit wehem
Herzen und ebensolchem Rücken ein.

Im Dorfe unten aber wurde nach drei Tagen eine romantische Mär erzählt.
Irgendwo -- den Ort wußte niemand genau -- habe eine alte, sehr
geizige Frau gelebt, die all ihr Lebtag gespart und sich eine große
Menge Papiergeld in einen alten, wollenen Unterrock eingenäht habe.
Niemand hätte von dem kostbaren Unterfutter des alten Rockes, den die
Frau beständig auf dem Leibe getragen habe, etwas gewußt, selbst die
eigenen Kinder nicht. Eines Tages sei die Frau plötzlich am Herzschlag
gestorben. Der Rock sei nebst anderem wertlosen Zeug einem gewissen
Lumpenmann verkauft worden, und das weitere könne sich jeder denken.

Von dieser Geschichte erfuhr Mathias Berger vorläufig nichts. Er wußte,
daß die Sympathie, die er früher im Dorfe genossen, geschwunden war
seit dem Tage, da er sich der Raschdorfschen Sache annahm. Er hatte
sich in Widerspruch gesetzt mit der öffentlichen Meinung, und das
mußte er fühlen. Daß er einer ungeheuren Unehrlichkeit bezichtigt
wurde, ahnte er nicht, freute sich vielmehr, daß sich die Leute
schmerzlich den Kopf darüber zerbrechen würden, wie er zu so vielem
Gelde gekommen sei.

Unterdes hatte er auch nicht Zeit, sich um das Gerede im Dorfe zu
kümmern. Die riesige Arbeitslast, dem zerrütteten Buchenhofe wieder
aufzuhelfen, lag auf seinen Schultern. Und da wuchs mit der Aufgabe
seine Kraft. Zum erstenmal im Leben stand er so schweren Forderungen
gegenüber, und sie stählten ihn.

Im zeitigen Frühjahr schon begann der Aufbau der Gebäude. Mathias
Berger hatte einen tüchtigen, gewissenhaften Maurermeister gefunden,
der sein Werk solid, rasch und billig herstellte.

Berger war von früh bis in die späte Nacht tätig. Jetzt war er in der
Stadt zu Verhandlungen, jetzt stand er draußen auf dem Felde, jetzt saß
er grübelnd und rechnend in der Stube, und dann stand er wieder unter
den Handlangern und rührte Kalk ein oder trug Ziegel.

Ein Notstall wurde errichtet, die nötigen Ackerpferde gekauft, das
Ackerzeug ergänzt, und die Feldarbeit konnte neu beginnen. Reichel, der
Riese, arbeitete für drei. Aber er tat noch mehr. Er bot Mathias Berger
seine Ersparnisse an, die sich auf ein paar hundert Mark beliefen.

»Reichel,« sagte Berger, »Dein Geld brauch' ich jetzt noch nich.
Vielleicht später! Dann pump' ich Dich an, das versprech' ich Dir
feierlich! Jetzt brauch' ich bloß Dich selber. Aber ganz notwendig,
Reichel!«

Der Riese errötete über das Lob, das in diesen Worten lag, und
arbeitete wieder, als ob er die Welt zusammenreißen wolle. Es war,
als ob er seinen Charakter geändert habe, denn er tat alles mit einer
großen Hast, wenn er ging und arbeitete, und ließ die majestätische
Ruhe ganz außer acht, die sonst seinem Wesen eigen war.

Auch die Kinder halfen emsig nach ihren Kräften, und Hannes benahm sich
in diesen Tagen tadellos, denn am Tage blieb ihm nicht eine Minute
Zeit, Allotria zu treiben, und am Abend war er todmüde.

In all diesem emsigen Treiben fehlte nur Heinrich. Er war wieder auf
der Schule. Ein paarmal schrieb er dringende Briefe, er wolle nach
Hause, wolle helfen. Aber Berger, sein Vormund, ging darauf nicht ein.
Er antwortete ihm kaum. Einmal nur schrieb er auf eine Postkarte:
»Lieber Heinrich, sei Du nur so fleißig auf der Schule, wie wir hier
alle sind, dann wird alles gut werden.«

So kam es, daß Heinrich trotz der heftigen Seelenerschütterungen, die
seine Schülerarbeit gehemmt hatten, zu Ostern das Versetzungszeugnis
als »Dritter der Klasse« nach Hause tragen konnte.

Auf dem Bahnhof holte den Knaben niemand ab. Es war kein Pferd
übriggeblieben für die Fuhre. Aber da drüben hielt ein Wagen aus
Heinrichs Heimatsdorfe. Ein Bauer holte irgend jemand von der Bahn.
Heinrich stand mit seinem schweren Handkoffer da und wartete immer,
ob ihn der Bauer nicht auffordern würde, mitzufahren. Aber der sagte
kein Wort, und zu bitten schämte sich der Knabe. So fuhr der Bauer mit
seinem halbleeren Wagen heim, und Heinrich nahm den Koffer und machte
sich schwerbeladen auf den Weg nach Hause.

Der Koffer zerrte an seinen Armen und Schultern. Aber dem Knaben war
doch, als ob er an dem Herzen in der Brust noch schwerer zu tragen
habe. Er kam das erstemal nach Hause seit dem Tode beider Eltern.

Wie schwer sich das ging! Schwer und ohne alle Freude. Er hatte auch
jetzt keine Begierde, die Veränderungen zu sehen, die seitdem gemacht
worden waren. Es waren schon zu viel Veränderungen für eine Heimat.

Als er den Buchenhof sehen konnte, blieb er tiefatmend stehen. Dann
begann er heftig zu weinen. War er dort unten zu Hause? War das
wirklich der Ort, nach dem er sich in seinen Heimwehstunden gesehnt
hatte? Oder war er nicht in die Irre gegangen, war das nicht die Fremde?

Wenn sein Vater jetzt dort unten ginge und nur einmal hinaufnickte, das
wäre schön.

Aber dort war der Kirchhof. Dort lagen Vater und Mutter. Dorthin mußte
der Heinrich gehen, wenn er nach Hause kommen wollte.

Und die Tränen des Kindes flossen reichlicher.

Da erhob sich etwas vom Straßenrande, ein Stückchen den Weg hinunter,
und kam rasch auf Heinrich zugelaufen. Es war Lotte Schräger.

»Guten Tag, Heinrich! Guten Tag! Ach, ist das schön, daß Du kommst!
Siehst Du, ich hab' einen Strauß gemacht. Da -- nimm ihn! Warum
sagst Du denn nichts? Gefällt er Dir nicht? Es gibt jetzt noch keine
hübscheren Blumen.«

»O ja, Lotte, er ist sehr schön. Wo kommst Du denn her?«

»Ich hab' gewußt, daß Du kommst. Und es hat Dich doch niemand abgeholt,
da wollt' ich Dir ein bißchen entgegengehen.«

Er wurde verlegen.

»Na ja, Lotte, da seh' ich doch jemand, den ich kenne.«

»Komm, ich werd' Dir den Koffer tragen. Oh, is der schwer!«

»Laß, Lotte, den Koffer kannst Du nicht tragen, den trag' ich selber!«

»Na nu, mal weg mit der Hand! Ich trag' den Koffer! Du mußt ja schon
schrecklich müde sein!«

»Lotte, es geht nicht! Laß mich wenigstens am Henkel mit anfassen, da
wird's besser gehen!«

So einigten sie sich und trugen den Koffer miteinander den Weg entlang.

Der Frühling lachte aus dem Walde heraus, und Heinrich Raschdorf ward
auf einmal wohl ums Herz. Die Bangigkeit war verschwunden, und wie
durch ein Wunder war die Ferienfreude in sein Herz eingekehrt.

»Lotte, ich freu' mich so, daß ich Dich getroffen habe.«

Das Mädchen sah ihm unschuldig ins Gesicht und lachte.

»Ja, sieh mal, Heinrich, das ist halt, weil ich doch eigentlich Deine
Braut bin. Weißt Du noch damals vom Feuer?«

»Ich weiß es noch!«

Der Knabe war rot geworden. Er war schon reifer als das Kind, und es
ging ihm jetzt wie eine langsame Lähmung durch die Glieder. Er hatte
immer jene Mitschüler für schlechte Subjekte gehalten, die davon
redeten, daß sie eine »Flamme« hätten. Es waren so fünf bis zehn Stück
davon in der Klasse. Und ein paar machten sogar Gedichte. Herauskommen
durfte so etwas nicht, da wäre einer einfach »abgesägt« worden. Eine
schlechte Nummer wäre das mindeste gewesen.

Eine Angst packte Heinrich, ohne daß er doch ein heimliches
Glücksgefühl los wurde. Und der junge Herkules wußte gar nicht, daß er
da mit seinem Koffer auf einem Scheideweg herumlief.

Lotte begann wieder zu reden.

»Jetzt nach Ostern komm ich auch auf die Schule. In eine Höhere
Töchterschule. Weißt Du, Stunden hab' ich ja schon viel gehabt, auch
im Französischen, aber jetzt soll ich nu die richtige Bildung lernen.
Vielleicht auf vier Jahre komm ich fort.«

»So, so, Lotte. Da wirst Du ja eine feine Dame werden.«

»Ja, der Vater will's. Viel Spaß macht mir's nicht. Aber ich denke,
wenn Du doch so viel lernst, da muß ich auch nicht so dumm sein, wenn
wir uns schon einmal heiraten.«

Das Mädchen ging von seinem Eheprojekt nicht ab.

»Du hast doch niemand was erzählt, Lotte?« fragte Heinrich ängstlich.

»Soll ich nicht?«

»Nein, Lotte, Du darfst nichts erzählen -- niemand! Hörst Du --
niemand: Das paßt sich nicht!«

»Das paßt sich nicht?«

Das Mädchen wurde nachdenklich. Zum ersten Male kam ihr ein dumpfes
Bewußtsein, daß es sich hier um etwas handele, was niemand wissen
dürfe. Und das tat ihr leid.

»Aber -- aber so einen niedlichen Ring könntest Du mir auch schenken.«

Dem Knaben wurde schwül, und er sah sich ängstlich um, ob auch niemand
in der Nähe sei.

»Ich möchte schon, aber ich hab' keinen, und wenn's geht, schenk' ich
Dir einen.«

»Ach, da würd' ich mich aber freuen, Du! Schrecklich tät ich mich
freuen!«

Heinrich begann ein alltägliches Gespräch, und das setzten sie fort,
bis sie sich eine Strecke vom Buchenhofe entfernt verabschiedeten.

Unterm Hoftor blieb Heinrich stehen. Er kannte das väterliche Gehöft
kaum wieder. Vieles war verändert. Eine Menge Baumaterialien war im
Hofe aufgeschichtet und eine Schar Arbeitsleute war geschäftig tätig.

Abseits an einer Mauer saßen Hannes und Lene. Sie hatten ein jedes
einen Hammer in der Hand, und damit schlugen sie Kalk los von alten
Ziegeln.

Als sie Heinrich sahen, kamen sie rasch auf ihn zu. Mit herzlicher
Freude begrüßten sie den Heimkehrenden.

»Jesses,« schrie Hannes, »nu hat niemand an den Koffer gedacht. Na, da
haste gut schleppen können. Gib mal her! Schwerleck, der zieht! Na,
siehste, Heinrich, Du mußt nich immer so viel Bücher reintun, denn sie
sind schwer, und pauken tuste in den Ferien doch nich!«

»Von wem haste denn den Strauß?« fragte Lene.

Heinrich wurde rot und suchte nach einer Ausrede. Aber dann sagte er
mit möglichstem Gleichmut:

»Ach, ich hab' die Schräger Lotte getroffen, und die hat ihn mir
geschenkt!«

»Die Schräger Lotte?« fragte Lene streng.

»Die Schräger Lotte?« wiederholte Hannes entrüstet. »Na, ich danke, mit
der gibst Du Dich noch ab und läßt Dir Sträuße schenken? Das hätt' ich
nich von Dir gedacht!«

»Aber was -- was ist denn?«

Hannes und Lene sahen sich an.

»Er weiß noch nich. Na, ich werd' Dir's sagen, Heinrich. Rat' mal, wo
unser Mathias is!«

»Unser Mathias? Zu Hause! Wo sonst?«

Die Lene trat ganz dicht an ihn heran und flüsterte ihm ins Ohr:

»Im Gefängnis is a!«

»Im Gefängnis -- das ist nicht wahr!«

»Ja! Der Schräger hat'n verklagt, und da hat a zehn Tage gekriegt.
Wegen der Beleidigung!«

Der Knabe stand wie erstarrt.

»Na, und Du läßt Dir von der Lotte 'n Strauß schenken?«

Heinrich konnte kein Wort sagen, kein armseliges Wort. Ein Stückchen
Heimat hatte sich vor ihm aufgetan, als er mit dem Nachbarskinde vorhin
wanderte. Und das wurde ihm so grausam wieder genommen.

»Seit wann ist er fort?« brachte er endlich heraus.

»Heute is der vierte Tag. A hat sich gerade über die Feiertage
einsperr'n lassen, daß a dann wieder mit arbeiten kann. Na siehste, die
Schrägerleute, das sind eben alles Lumpe.«

Jenseits des Hoftors schallte eine krächzende Stimme:

»Eingesperrt -- eingesperrt! -- Sechs Dreier und einen Hund, einen
großen Hund!«

»Das ist der Gustav, das blödsinnige Heft! -- Da! Hier habt Ihr Euren
Mist wieder!«

Und Hannes riß Heinrich den Strauß aus der Hand und schleuderte ihn
über das Tor.

»Was machst Du, Hannes, was --«

Aber draußen schrie der Idiot schon wieder: »Blumen! Blumen! O, schöne
Blumen! A Pukettel! A Pukettel! Ich putz mich! Ich mach mich fein!
Sechs Dreier und einen Hund -- einen gro--o--o--ßen Hund!«

Damit verschwand er singend im Kretscham.

Heinrich stand mit gesenktem Kopfe da.

»Unser Mathias! Aber das war doch nicht recht, Hannes! Die Lotte kann
doch nichts dafür.«

Die Antwort gab seine Schwester Lene.

»Das is ganz egal! Von den Schrägerleuten darfst Du keinen Strauß
nehmen. Das paßt sich nicht!«

»Du wirst doch nich etwa zu den'n halten! Das hätt' sich der Mathias
gerade verdient. Na komm, Lene, wir müssen wieder Ziegeln abkratzen.
Geh nur in die Stube, Heinrich.«

Die Kinder gingen fort, und Heinrich nahm den Koffer und trat ins Haus.

Niemand war in der großen Wohnstube. Leer und einsam lag das Zimmer. Da
fühlte Heinrich Raschdorf, daß hier die Heimat nicht mehr war.

Müde sank der Gast auf einen Stuhl und stützte sich auf den Tisch. Und
so saß er ohne klare Empfindungen. Nur eine große Bangigkeit war in ihm.

Er hatte wohl auch Hunger. Aber es kam niemand, ihn zu fragen, ob ihm
etwas fehle.

Der Lehnstuhl der Mutter stand am Fenster -- leer. Zuguterletzt ging
Heinrich mit zagen, scheuen Schritten näher und setzte sich in den
Stuhl. Das Gesicht preßte er gegen die Lehne.

Und auch in dem Stuhle war nicht die Heimat. Nur eine wilde, quälende
Sehnsucht kam, indes es draußen langsam dunkelte.

       *       *       *       *       *

Drüben über der Straße ging indes eine Kindheit unter.

Die Kindheit Lottes.

Wer von allen weiß, wie lange Kindheit dauert? Bei manchen Wesen ist
sie früh verloren; bei manchen dauert sie das ganze Leben.

Wer ein Wissender wurde, ist kein Kind mehr. Nur die sind Kinder, die
vor den verschleierten Bildern des Lebens wunschlos stehen und nicht
fragen.

Wer mit zweifelnder Hand den Schleier hob, oder wem ein Sturm die
großen, öden Bilder enthüllte, der ist weit von der Kindheit.

Und wer weit von der Kindheit ist, ist nahe dem Tode.

Die Scham war diesem Mädchen gekommen wie ein dunkelrotes Licht,
das ein trübes Erkennen brachte, das Erkennen, daß Lieb' und Treue
gemißhandelt werden können.

    O, ihr welken Anemonen!
    O, ihr toten, traurigen Veilchen!

[Illustration]



[Illustration: Kapitel 9]


Drei Jahre später. Die Osterglocken läuteten genau so wie damals,
als der Buchenhof wieder aufgebaut wurde. Ganz derselbe Akkord! Ganz
dasselbe Osterlied. Nur ein neuer Kantor ging vor der singenden Menge;
der andere war bei der stillen, großen Zuhörerschar, die ungesehen
hinter der frühlingsgrünen Rasengardine nach Auferstehungsliedern
lauscht.

Vorweg im kirchlichen Zuge gingen die Musizierenden, dann kam der
Priester mit seiner Begleitung und dann die Gläubigen in Reihen zu fünf
oder sechs Leuten.

Eine solche Reihe bestand aus Heinrich und Lene Raschdorf, Mathias
Berger, Liese, dem Schaffer und seinem Sohne Hannes.

Die Buchenhofleute gingen immer für sich. Sie vermischten sich mit den
anderen nicht.

Früher waren sie mit bei der Musikkapelle gewesen, jetzt schon lange
nicht mehr. Sie waren einmal beleidigt worden.

»Das ist kein Schade,« hatte der Mathias damals gesagt, als er mit
seiner Trompete nach Hause kam, die sonst auf dem Chor neben der
Orgel hing, »gar kein Schade, denn die Sänger und Musikanten sind die
unandächtigsten Leute in der ganzen Kirche. Wenn sie musizieren, da
haben sie bloß immer aufzupassen, daß sie nich aus 'm Takt kommen, und
könn'n an a Herrgott nicht denken, und wenn Pause is, da schnaupen sie
sich die Nasen aus oder quatschen miteinander. Na, ich sage: Wenn der
Herr Jesus mal auf so 'n Chor käm', der schlüg' manchem die Baßgeige um
die Ohren.«

»Is richtig,« hatte der Schaffer gesagt und sonst nichts, hatte aber
auch damit seine künstlerische Stellung als Paukenschläger begraben.

Am nächsten Sonntag aber, als Reichel mit Mathias in der Kirche unten
im Schiff saß, schlief er ein. Da sagte Mathias auf dem Heimwege,
für den Schaffer wäre das Paukenschlagen immer noch der allerbeste
Gottesdienst.

Nach der kirchlichen Feier an jenem Ostermorgen gingen die
Buchenhofleute miteinander heim.

Sie waren sehr fröhlich, denn es ging ihnen gut. Heinrich war nun
endgültig von der Schule zurück. Er hatte die Berechtigung zum
Einjährigen-Dienst erworben, und Mathias Berger war zufrieden mit ihm.
Heinrich war ein hochgewachsener, etwas blasser, aber hübscher Bursche
geworden.

»Nun kann's gehen, wie's will, Heinrich, nu find'st Du immer 'ne
Stelle.«

Übrigens ging es gut. Der Hof war völlig neu eingerichtet, und ein
paar günstige Jahre sowie Fleiß und Anspruchslosigkeit, die keiner
Steigerung mehr fähig waren, hatten zuwege gebracht, daß Mathias
Berger nicht nur die Zinsen pünktlich bezahlen konnte, sondern immer
neue Verbesserungen im wirtschaftlichen Betrieb anlegte, wenn er auch
vorläufig noch kein Geld sparte.

Wenn ihn aber Heinrich fragte, ob er sich auch gewissenhaft die Zinsen
für sein eigenes Kapital nähme, wurde er immer verstimmt und sagte:

»Möchtest mir wohl auch gern Lohn geben wie einem Großknecht? Sei nur
still! Ich komm schon zu meiner Sache, wenn's erst besser geht. Später
rechnen wir ab. Ich schreib' alles auf. Und weißt Du, was ich brauche,
nehm' ich mir, und meiner Schwester und der Liese schick' ich Milch und
Butter, Kartoffeln und Speck. Das sind genug Zinsen.«

Nun trug sich Mathias Berger mit großen Plänen. In einem Hügel, der
zum Buchenhof gehörte, hatte er ein Lehmlager entdeckt. Also wollte er
eine Ziegelei anlegen und erhoffte von dieser reichliche Erträge. Nur
klug und vorsichtig müsse man es anfangen. Jedenfalls sei die Sache
bei der regen Bautätigkeit, die im Kreise entfaltet werde, durchaus
aussichtsvoll. Als Anlagekapital wollte Mathias Berger seine letzten
7000 Mark zu Hilfe nehmen.

»Und wenn das Geld verloren geht, wenn wir pleite werden, wenn Du
stirbst, was wird dann aus der Liese?«

Bergers Gesicht verfinsterte sich etwas.

»Aus der Liese?! Na ja! Aber sieh mal, da muß sie halt arbeiten --
wie wär's, wenn ich das Geld nicht gewonnen hätte? Und dann is vom
Pleitewerden gar keine Rede. Geht der Krempel nicht, hör'n wir zur
rechten Zeit auf!«

Heinrich dachte nach.

»Jawohl, und ich würde ja auch die Liese nicht verlassen, ich würde
alles tun für sie -- alles!«

Da leuchteten Mathias Bergers Augen. Es lag ein eigener Osterglanz
darin. Und er drückte Heinrich stumm die Hand.

Der aber sah den Weg hinauf.

Dort ging im jungen Morgenlicht eine schlanke, feine Mädchengestalt.
Sie trug ein lichtes Kleid und einen ganz modischen Hut.

Neben ihr ging ein junger Bursche, und vornweg trollte der Idiot. --

»Du,« sagte Hannes zu Lene, die auch miteinander gingen, »eigentlich
ist doch die Schräger Lotte a sehr hübsches Mädel geworden.«

Lene antwortete nicht.

»Na, ich sag' ja, Lene, Du bist ja auch ganz hübsch, wenn Du och nich
so fein und klug bist. Und was die Hauptsache is, Du bist doch viel
kräftiger als wie die Lotte.«

Das hielt Hannes für eine Schmeichelei. Die Lene aber fuhr ihn zornig
an, daß er es für ratsamer hielt, sich Heinrich anzuschließen, der
indes langsam herankam.

»Was ist denn los? Ihr habt Euch wohl wieder gezankt? Könnt Ihr Euch
denn nicht vertragen?«

»Nee, dazu is die Lene zu grob. Sie hat keene Bildung! Am besten is,
ich red' überhaupt nich mehr mit ihr.«

»Was habt Ihr denn wieder mitsammen?«

»Ach, ich hab' bloß gesagt, daß mir die Lotte gefällt, und da is se
wahrscheinlich eifersüchtig oder so was.«

Heinrich sah vor sich nieder auf den Weg.

»Damals hattest Du Lottes Strauß auf die Straße geworfen, alter Freund.
Weißt Du, daß sie seit der Zeit nie mehr mit mir gesprochen hat?«

»Ja. Aber im Grunde genommen is 's ja besser so. Freundschaft
könn'n wir doch mit a Schräger-Leuten nich halten. -- Sieh mal a
jungen Riedel! Ich globe, der will se poussier'n. A lauft alle Tage
zum Schräger. Na, das wär' auch, als wenn sich der Ochse mit 'm
Kanarienvogel verheiratete!«

In diesem Augenblick wandte sich Gustav Schräger um und brüllte aus
vollen Lungen den Bergweg herunter:

    »Sechs Dreier und einen Hund!
    Einen gro...o...ßen Hund!«

Man hörte den jungen Riedelbauer lachen, während Lotte den Idioten
offenbar scharf zur Ruhe wies. Da blieb er hinter ihr und ihrem
Begleiter zurück, drehte sich von Zeit zu Zeit um, drohte mit der Faust
nach den Buchenhofleuten oder warf Steine den Weg herab.

»A wird immer blödsinniger,« sagte Hannes. »Aber das Versel vom Barbier
kann a immer noch. 's is das einzige, was a auswendig kann. Na, und
sein Vater is bald nich mehr klüger wie er.«

»Du mußt nicht so reden, Hannes.«

»Na, Du hast eben keine Ahnung, Heinrich, wie der Schräger sauft. Alle
Tage is a besoffen, manchmal schon frühmorgens. Und weißte, das is
komisch: a sauft gerade seit dem Tage, wo Deine Mutter gestorben is.«

»Wieso?«

»Früher hat doch der Schräger kaum amal genippt, und an dem Tage, wo
Deine Mutter frühmorgens starb, da war a mittags schon so besoffen und
hat so gelärmt im Kretscham, daß man's bis bei uns gehört hat. Weißte,
was Mathias sagt? Das is das böse Gewissen! Das will a totsaufen!«

»Das kann kein Mensch behaupten.«

»Behaupten wird's der Mathias nich mehr, dafür hat a ja zehn Tage
gekriegt. Weißte noch, jetzt sind's grade drei Jahre. Das war a
schlechtes Osterfest. Der Mathias kann alles vergessen, aber daß a hat
sitzen müssen, das frißt an 'm. Deswegen is a auch bloß mit a Leuten
im Dorfe nich mehr gutt. Die geh'n nu amal doch zum Schräger, und den
Schräger kann a nich leiden.«

»Eigentlich ist es schlimm, daß wir uns mit den Leuten nicht vertragen,
aber ich hoffe, daß es doch mal besser werden wird!«

»Da kannste lange hoffen! Wenn wir jetzt erst noch Ziegeleibesitzer
sind, da fressen sich die Leute selber uff vor Neid. Denn im Grunde
genommen nehmen sie's uns doch bloß übel, daß wir damals nich pleite
geworden sind. Wenn Dein Vater eingesperrt worden wär', und die
Wirtschaft hätte der Schräger, und Du wärst Knecht, da wär'n Dir die
Leute ganz gutt. So aber nich!«

Heinrich seufzte. Hannes fuhr fort zu reden.

»Und was haben sie alles gesagt: Dein Vater hat angezünd't oder Du!
Ja, ja, guck nur! Das sagen sie immer noch. Zwar nich laut, denn da
setzt's ja zehn Tage, aber sie sagen's. Du oder Dein Vater, oder beide!
Und dann, daß a sich erschossen hat. Und von Deiner Mutter und vom
Mathias --«

»Hör' auf, Hannes, hör' auf! Ich mag nichts mehr hören
davon!« -- -- -- --

Ein Stückchen weiter den Weg hinauf sagte Lotte Schräger zum jungen
Riedel: »Es ist doch unrecht von den Dorfleuten, daß sie so garstig zu
den Raschdorfs sind.«

»Unrecht, hä! Zu solchen Feuermachern und Selbstmördern?!«

»Wer kann das beweisen? Kein Mensch!«

»Beweisen! Hä! Das Gericht freilich nich. Aber wir wissen's alle. Und
der Berger. Wo hat a denn das Geld her? 40000 Mark a Lumpenmann! Was?«

»Das weiß ich nicht.«

»Nee, das weeß keen Mensch, das weeß a bloß selber. Da müßt' sich's
Gericht drum bekümmern; aber darum schert sich keen Teufel. Zu knapper
Not, daß a damals was aufs Maul kriegte, wie a 's Deinem Vater in die
Schuhe schieben wollte, ein'm Manne, der überhaupt nich aus der Stube
gekommen is. Das sind feine Leute, was?«

Lotte schwieg.

»Na, und dann -- a hat die Raschdorfen geküßt. Die Glasen hat's
gesehen. Und das, während der Hof brennt in der Nacht. Feine Leute!«

»Riedel, bitte, nicht -- nicht so was --«

»Und warum interessiert a sich denn gar so sehr für den Heinrich? Warum
nimmt a weder Lohn noch Zinsen?«

»Das kann ich nich sagen.«

»Na, und der alte Raschdorf hat mit kein'm Menschen Freundschaft
gehalten, und die jetzt scheinen auch drauf zu warten, daß sie's ganze
Dorf um Verzeihung bitten kommt. Hol' der Teufel die hochnäsige Bande!«

»Riedel, ich leid' solche Redensarten nicht.«

»Leid'st sie nich? Na, da -- da kann ich wohl gehen, da kann's ja
die Schräger-Lotte mit a Buchenhofleuten halten. Aber der studierte
Heinrich, der gefällt vielleicht der Lotte, da hält sie's lieber gegen
a Vater --«

»Riedel, das leid' ich nicht! Solches Gerede paßt sich nicht, überhaupt
auf dem Kirchwege! Da geh lieber!«

Der Bursche sah mit finsterem Gesicht auf den Boden. Zwanzig Schritte
weit ging er noch mit, dann bog er in einen Feldrain ein. Lotte ließ
ihn gehen und schritt ernst weiter. Der Idiot aber schlich dem jungen
Riedel nach.

»Du,« sagte er tückisch, »wir werden sie schmeißen!«

Riedel antwortete ihm nicht, aber er blieb stehen. Indessen kamen
Heinrich und Hannes näher, ein Stück dahinter Mathias und Lene. Der
junge Riedel sah Heinrich herausfordernd an. Dann lachte er roh und
rief laut herüber:

»Die Schräger Lotte möchte lieber mit a Buchenhofleuten gehn!«

»Die Schräger Lotte läßt a Herrn Raschdorf schön grüßen, und sie möchte
gern seine Liebste sein!«

Heinrich blieb erschrocken stehen und wurde feuerrot.

»Ja,« fing der junge Riedel wieder an, »und sie nimmt ihm gar nischt
übel, nich a Brand und rein gar nischt!«

»Riedel! Ich -- ich --« Heinrich ging ein paar Schritte auf den rohen
Burschen zu und blieb dann stehen. Er schämte sich, tätlich zu werden.
Riedel hielt das für Feigheit.

»Oho, komm nur her, fang' nur an; Du bist mir gerade recht!«

Da kam der Schaffer. Er ging schweigend auf Riedel zu. Der stand
verlegen still, denn den Schaffer fürchtete er.

»Mit Ihnen hab' ich nischt,« sagte er halb trotzig und halb beklommen.
Darauf bekam er keine Antwort.

Der Schaffer faßte ihn an beiden Schultern und kommandierte: »Kehrt!«
Damit drehte er den jungen Mann mit einem gewaltigen Ruck um, gab ihm
einen freundlichen Stoß in den Rücken und sagte: »Marsch!«

Der junge, starke Bauer kochte vor Wut. Aber es nützte nichts; diesem
Riesen war er bei weitem nicht gewachsen, und so mußte er einen Schritt
vor ihm hermarschieren den Berg hinab, wenn er nicht das Schlimmste
gewärtigen wollte.

Jedesmal, wenn er sich widersetzen oder stehen bleiben wollte, bot ihm
der Schaffer in gutmütigem Tonfall eine riesige Tracht Prügel an.

Und so mußte er gehen und konnte nur schimpfen, denn wenn er geprügelt
worden wäre, das wäre eine zu große Schande gewesen.

Als sie ein großes Stück gegangen waren, sagte Reichel:

»'s is heiliger Tag heute! Da soll man nich brüll'n, nich schimpfen und
überhaupt keene Stänkerei machen!« Mit dieser Ermahnung verließ der
tapfere Christ den wütenden jungen Riedel und ging schweigend zurück.

Hannes hatte sich indessen aus hellem Vergnügen über das Bravourstück
seines Vaters lang auf den Wiesenrain geworfen und mit Füßen die Erde
getrommelt. Diese Beifallskundgebung trug ihm einen häßlichen Fleck auf
seinem neuen Sommeranzug und außerdem das bedrückende Bewußtsein ein,
daß er für seine Leute nicht Partei ergreifen dürfe, ohne Schaden zu
nehmen. Und es blieb ihm nichts übrig, als vorläufig auf das Benzin und
auf die Zukunft zu hoffen.

       *       *       *       *       *

Fünf Tage nach diesem Ostermorgen begann Heinrichs Tätigkeit als Bauer.

O du liebe, schwere Zeit!

Eine Mahnung sollte jeder verständige Mensch beherzigen: Wenn du
geeignet bist, lateinische Schriften mit Geschick zu übersetzen und
algebraische Aufgaben mit Richtigkeit zu lösen, so unternimm es nicht,
Pferde anzuschirren, sonst kannst du an all deinen Talenten irre werden
und andere auch.

Hannes stand als Lehrmeister neben Heinrich, der sich bemühte, einen
Ackergaul anzuschirren. Der junge Magister war schlechter Laune.

»Heinrich, Du bist einfach 'n tapriger Hering. Hierum kommt der Riemen!
Hier mußte festschnallen! Nu, Mensch, siehste denn die Schnalle nich?
Nich zu locker! So, in das Loch! Herrjeh, Kerl, wenn Du als Primus
schon so tumm bist, wie mögen erst die andren sein!«

»Bitte, Hannes, red' nicht so viel!«

»Da soll einer nich reden! Sieh ock, wie sich der Schimmel umguckt! Der
lacht sich eens über Dich! Nanu a Zaum einmachen! Fürcht' Dich ock
nich! Der Schimmel beißt nich; höchstens Haber! Geh weg, ich mach' a
Zaum selber ein, das wär' mir a Gegratsche! Mach derweile a Mist aus a
Hufen raus.«

»Was soll ich?«

»A Mist aus a Hufen rausmachen!«

»Womit denn -- womit soll ich denn, Hannes?«

»Womit? Schafkopp! Mit a Händen! Mit was denn sonst?«

»Pfui, das ist schrecklich unappetitlich!«

Hannes schüttelte über seinen talentlosen Schüler melancholisch den
Kopf.

»Unappetitlich! Mensch! Als wenn da was zum Essen wär'! Na, da sieh mal
her, so macht man a Mist aus a Hufen raus, schmeißt 'n natürlich weg
und wischt sich an a Hosen die Hände ab. Möcht' ich wissen, was dabei
unappetitlich is!«

Heinrich sagte gar nichts; er seufzte nur schwer. Dann bestieg er mit
Hannes den Ackerwagen, und sie fuhren hinaus aufs Feld. Er selbst
behielt die Zügel.

Wie sie ein Stückchen draußen waren, bückte sich der Schimmel nach
dem Wegrain und fing an zu grasen, während er den Wagen langsam, sehr
langsam hinter sich herzog. Heinrich ließ ihn gewähren, denn er meinte,
solch ein Gebahren sei bei den Ackerpferden allgemein üblich.

Hannes aber saß stumm neben ihm mit verhaltenem Zorn und schwerer
Verachtung. Nach einer Weile hielt er's aber nicht länger aus und er
seufzte zynisch:

»Na, da werden wir ja hoffentlich zu Mittage draußen sein.«

Heinrich schrak aus seinen Träumen empor und wackelte energisch mit
der Leine. Der Schimmel ließ sich dadurch nicht stören, sondern
streckte gerade seine lüsterne Zunge nach einer frisch aufgeschossenen
Maiblumenstaude aus -- da hieb ihm unvermutet der Hannes die Peitsche
über den Rücken, daß er aufzuckte und sich in eine für sein Temperament
verblüffend schnelle Gangart setzte.

Leider geschah es, daß Heinrich über den Hieb noch heftiger erschrak
als der Schimmel, und daß ihm deshalb die Leine entglitt, die nun unten
auf der Erde einherschleifte. Und in dieser für einen Kutscher sehr
trostlosen Verfassung begegnete das dahinsausende Gefährt dem Barbier.

Der schlug ein Gelächter an und ging dann schnell dem Buchenkretscham
zu. --

Auf dem Felde draußen sagte Hannes finster:

»Du plamierst ein'n kolussal!«

Heinrich wußte nichts zu erwidern. Da war er nun der Herr und Besitzer
des Buchenhofes, hatte mehr gelernt als alle anderen Bauern und wußte
nicht einmal einen fetten Gaul zu regieren.

Und nun kam die schwierigere Aufgabe. Heinrich sollte pflügen lernen.
Hannes spannte den Schimmel an den Pflug und sagte:

»Den Rand mach' ich! Das is zu schwer für Dich. Geh mal nebenher und
paß auf! So -- also so wird der Pflug gehalten. Fest muß man ihn
halten, sonst springt a raus. Und 's Pferd muß immer'n Fuß breit weg
von der Furche gehn. Jüh!«

Aufmerksam schritt Heinrich neben dem Pfluge einher. Er gab genau
acht, und die Sache erschien ihm kinderleicht. Hannes machte allerlei
Kunststückchen; er überbot sich in technischen Ausdrücken, namentlich
in den direkten Anreden, die er an das Pferd richtete, und ließ bald
die rechte, bald die linke Hand von den Holmen los, wie ein eitler
Radler auf der Straße, wenn er den Passanten zeigen will, wie sicher er
seiner Sache sei.

Indessen kam Heinrich in eine schwermütige Stimmung. Seine Gedanken
flogen hinab nach Breslau. Heute begann das neue Schuljahr. Die
Ober-Sekunda! Jetzt mußte eigentlich alles erst recht interessant
werden. Der Ordinarius in Ober-Sekunda war bekannt als tüchtiger
Lehrer. Ach, er durfte seinem Unterricht nicht lauschen; er mußte
pflügen lernen, mußte stumpfsinnig die Furchen entlang gehen, immer hin
und her ohne alle Abwechslung, ohne jedes bißchen Geist.

Aber er hatte es ja doch so gewollt; er hatte um jeden Preis in der
Heimat sein wollen.

Und wieder dachte er nach, was für eine Bewandtnis es um die Heimat
habe.

»Na, nu kommst Du dran, Heinrich; nu nimm Dich aber zusammen!«

Heinrich trat an den Pflug, und sein Gesicht war so rot, als ob ihm
eine schwierige Examenaufgabe gestellt worden sei, von deren guter
Lösung alles abhing. Krampfhaft fest faßte er die Holmen des Pfluges.

»Los!« sagte er mit erregter Stimme.

»Los versteht der Schimmel nich,« korrigierte Hannes; »jüh mußte sagen.«

»Jüh!«

Das Pferd zog an. Ein paar Schritte ging es. Heinrich taumelte hinter
dem Pfluge hinüber und herüber wie ein Betrunkener; schließlich flog
die Pflugschar aus der Erde heraus, der Pflug fiel um, und Heinrich
sprang beiseite, um nicht geschlagen zu werden.

Der Schimmel blieb verdutzt stehen und schaute sich mitleidig um.
Hannes aber zuckte empört die Schultern.

»Schweinisch, sag' ich, einfach schweinisch!«

Das war seine Kritik, dann zog er den Pflug zurück, verbesserte die
»verhunzte Furche«, fuhr bis auf die Mitte des Ackers und bot Heinrich
abermals den Pflug an.

Ach, der Erfolg war nicht besser als vorher. Hannes schimpfte, und über
Heinrich kam tiefe Verzagtheit.

»Es geht nicht, Hannes, es geht absolut nicht.«

Hannes steckte sinnend die Hände in die Hosentaschen.

»Heinrich, ich glaube, Du wirst a ganz miserabler Pauer werden.«

Das fürchtete Heinrich auch, und die Frage, ob es nicht besser für ihn
gewesen wäre, bei den Büchern zu bleiben, tauchte ihm schon an diesem
ersten Tage seiner Bauerntätigkeit auf.

Trotzdem nahm er mit großer Energie immer wieder das Geschäft des
Pflügens auf, und einmal gelang es ihm, eine ganze Furche entlang zu
fahren. Da rötete sich sein Gesicht vor Freude. Als er aber den Pflug
umwenden wollte, um zurückzufahren, geschah ein Unglück. Er setzte sich
das schwere Ackergerät heftig auf den Fuß. Laut auf schrie er, warf den
Pflug hin und setzte sich an den Feldrand.

Wieder wandte sich der Schimmel um und machte eine so undeutliche
Miene, daß niemand wissen konnte, ob sie Mitleid oder Ironie bedeute.

Hannes kam mit langen Schritten heran und besah sich den blutenden Fuß,
von dem Heinrich indessen den Stiefel gezogen hatte. Zorn und Mitleid
kämpften in ihm.

»Das allerbeste is, Du gehst nach Hause. Das is ja lebensgefährlich für
Dich!« --

»Du -- dem Großbauern blutet der Fuß. A hat sich gewiß a Pflug drauf
gesetzt. Na und die Furche, sieh mal, die hat a gemacht.«

Darauf ein schallendes Gelächter.

Drüben am Wege standen der Barbier und der junge Riedel.

Heinrich wandte sich ab vor Scham. Hannes aber, der die beiden Männer
auch nicht hatte kommen sehen, da das Ackerfeld hinter einem kleinen
Erlengebüsch lag, knirschte vor Zorn.

»So 'ne lausige Plamage! Nu haben die Kerle zugesehn!«

Aber dann wandte er sich nach dem Wege hinüber:

»Macht, daß Ihr fortkommt! Das hier geht Euch gar nischt an. Der
Raschdorf Heinrich hat mehr Verstand in einer großen Zehe als Ihr in
der ganzen Figur, die Mütze noch mitgerechnet.«

»Nu, so ein Lausejunge!«

Der Barbier und Riedel kamen übers Feld.

Hannes ergriff die Peitsche.

»Heinrich, Du nimmst a Barbier, ich nehm' a Riedel!«

Heinrich sprang auf. Mit dem blutenden, nackten Fuße stand er auf dem
schwarzen Boden. Aber er stand stolz und herrisch da.

»Zurück! Das ist mein Grund und Boden! Ich verbiete Euch, daß Ihr ihn
betretet.«

Die beiden Störenfriede blieben stehen.

»Das is Hausfriedensbruch!« schrie Hannes. »Dafür setzt's Kittchen!«[1]

    [1] Gefängnis.

Sie stutzten. Sie glaubten das von »Hausfriedensbruch« und kehrten um
mit der Drohung, der Hannes laufe ihnen schon noch in die Hände.

Dann machten sie noch ein paar hämische Bemerkungen und gingen nach dem
Dorfe.

Dort entstanden dem landwirtschaftlichen Erstlingswerk des jungen
Buchenbauern zwei üble Kritiker. --

»Nu werd' ich den Schimmel einspannen und Dich nach Hause fahr'n.
Laufen wirste wohl nich können.«

So geschah es. Als Hannes wieder aufs Feld zurückkam und nun den Acker
in prächtigen, geraden Furchen pflügte, dachte er jedesmal, wenn er
voll Freude sein Werk betrachtete:

»Bloß gut, daß ich nie aufs Gymnasium gegangen bin.«

       *       *       *       *       *

Der junge Buchenbauer aber saß trostlos daheim in seiner Stube. Die
Liese verband ihm den Fuß.

Mit zärtlicher Sorgfalt wusch sie die Wunde, und als sie den heilsamen
Arnikasaft darauf goß, sah sie ängstlich nach Heinrich, ob es ihm auch
nicht zu große Schmerzen verursachte.

Mit geschickten Fingern legte sie den Verband an.

Heinrich betrachtete das zarte, hübsche Mädchen. Sie war jetzt siebzehn
Jahre alt. Lichtblondes Haar fiel gescheitelt um die reine, weiße
Stirn. Das Gesicht war etwas blaß.

Heinrich dachte daran, wie zärtlich Mathias dieses Mädchen liebte, und
er nahm sich vor, all sein Leben lang freundlich zur Liese zu sein.
Das, meinte er, erfordere schon die Dankbarkeit gegen Mathias, seinen
großen Wohltäter.

Und dieser Gedanke, daß Mathias sich freuen würde, wenn er gut und lieb
zur Liese wäre, faßte ihn stark zu dieser Stunde. Bisher hatte er kaum
daran gedacht. Jetzt ward ihm die hohe Pflicht inne.

Er strich dem knienden Mädchen sanft mit der Hand über den Scheitel.

»Du bist so gut zu mir, Liese. Ich danke Dir!«

Da sah sie ihn an mit strahlenden Augen, und ihre blassen Wangen
färbten sich ein wenig rot.

»Ich tue es gern,« sagte sie schlicht.

In diesem Augenblick sah Mathias zum Gartenfenster herein. Einen
Augenblick betrachtete er die beiden, dann trat er lautlos zurück.

Im Garten lehnte er sich an einen Baum. Die ersten Knospen waren
aufgesprungen und schauten ihn an wie eben aufgegangene Sterne. --

Die folgenden Tage war Heinrich an die Stube gefesselt. Der Fuß war ihm
stark geschwollen.

Da bat er die Liese, sie möchte ihm einige von seinen Büchern bringen.

Wie die Bücher vor ihm lagen, strahlten die Augen des jungen
Buchenbauern. Es war, als ob er alte Freunde wiedersehe.

Dann brachte der Postbote einen Brief. Er war von einem guten Freunde
Heinrichs aus Breslau, einem Schulkameraden, der in der Klasse neben
ihm gesessen und auch in derselben Pension mit ihm gewohnt hatte.

Mit einem Jubelrufe empfing Heinrich das Schreiben und las mit
leuchtenden Augen. Lauter interessante Neuigkeiten von Leuten, die er
gut kannte. Und am Schluß kam die Schilderung des Lebens und Treibens
in der neuen Klasse.

Über diesen Brief bekam Heinrich das Heimweh, und zwar so bitter und
stark, wie er es früher kaum gekannt hatte. Er schaute sich um. War
er denn nicht zu Hause? War das nicht seine Stube? War das nicht die
heimatliche Straße draußen? Wie konnte er Heimweh bekommen? Was war es
doch um die Heimat?

Der Jüngling wußte es nicht; er glaubte immer noch, die Heimat sei ein
sichtbarer, bestimmter Raum.

Als ein Weilchen später Mathias in die Stube trat, sagte Heinrich:
»Mathias, ich hab' ein Anliegen. Ich hab' hier einen Brief von einem
Freunde bekommen, der jetzt in Ober-Sekunda ist. Ich möchte mir gern
die Bücher von der neuen Klasse schicken lassen. Es interessiert mich
doch, was jetzt kommt, und dann, manchmal werd' ich ja doch Zeit haben,
ein wenig zu lernen.«

»Ja, Heinrich, das machst Du recht, wenn Du weiter lernen willst.«

So kam es, daß der junge Buchenbauer ein Studierender blieb. An all
den langen Abenden saß er bei den Büchern, auch an den Regentagen. Und
sein reger Geist faßte das meiste richtig. Dabei versäumte er nicht,
sich in den landwirtschaftlichen Arbeiten auszubilden; und es ging
auch ganz gut, seit er den schweigsamen, geduldigen Schaffer zu seinem
Lehrmeister gemacht hatte. Hannes hatte keine Unterrichtserfolge bei
ihm erzielen können, weil er ein zu heißsporniger, bissiger Pädagoge
war. Also ward ihm sein landwirtschaftliches Mentoramt auf Grund eines
Familienbeschlusses entzogen, und er fügte sich in diese Absetzung mit
Würde.

[Illustration]



[Illustration: Kapitel 10]


Und wieder waren Jahre vergangen, fünf Jahre, in denen sich wenig
geändert hatte. -- Dieselbe Heimat, dieselben Menschen! Nur die
Kinder waren vollends herangewachsen. Der Buchenhof war völlig wieder
ausgebaut und in tadellosem Zustande. Er war stattlicher und schöner
als je. So war die Prophezeiung des Mathias wahr geworden: daß es nicht
schwer sein würde, die Wirtschaft wieder emporzubringen.

Auch die Ziegelei hatte sich gut bewährt. Das Lehmlager in dem
Hügel hatte sich als viel ergiebiger und besser herausgestellt, als
anfänglich erwartet worden war. Der Betrieb war geordnet, der Absatz
ausgezeichnet. So brachte das Unternehmen Überschüsse, und etliche
Leute rechneten aus, daß der Buchenbauer allein durch die Ziegelei ein
steinreicher Mann werden müsse.

Da wurde es möglich, nach und nach Schulden zu tilgen. Heinrich bestand
darauf, daß Mathias Berger seine Zinsen und seinen Gewinnanteil von der
Ziegelei einkassierte und für Liese anlegte. Er selber sparte für seine
Schwester Lene.

Also stand alles wohl. Geld ist am Ende von geschickten Leuten immer
leicht zu verdienen.

Dagegen waren die Buchenhofleute in der Sympathie ihrer Mitbürger
kaum vorwärts gekommen. Die räumliche Heimat hatten sie gerettet, die
andere, wirkliche, ideelle war ihnen noch versagt.

Es ist sehr schwer, bei schlichten Landleuten alte Vorurteile
auszurotten. Dazu kam, daß sich in all den Jahren im Dorfe nichts
Aufregendes ereignet hatte. Die Buchenhofaffäre war aktuell geblieben.
Das Unaufgeklärte, Ungewisse behielt den Reiz. Immer blieb die
Hoffnung, es werde noch einmal Licht kommen in die dunklen Geschehnisse.

Es soll nicht gesagt sein, daß die Schuld ganz auf der Seite der
Dorfleute lag. Die Schlesier sind im allgemeinen gute, gemütliche
Menschen, nicht hart, finster und abgeschlossen, wie sonst die
Leute in der großen, nordischen Ebene vielfach sind, sondern leicht
zugänglich, lustig und eher den fröhlichen Süddeutschen vergleichbar.
Das Gebirgsvölklein namentlich ist von leichterem Schlage und hat viel
Sonne in der Seele.

So war's auch hier im Dorfe. Aber die Buchenhofleute hielten
sich selbst abseits. Sie mochten nicht hingehen und um die
Heimatsgemeinschaft werben, und eine freundliche Einladung wurde ihnen
nicht zuteil.

Mathias Berger wußte, daß noch jetzt in vielen Behausungen die
alten Zeitungsnummern aufbewahrt wurden, in denen die Verhandlung
des Brandprozesses geschildert war und seine zwangsweise Abbitte an
Schräger stand. Er hatte endlich auch gehört, daß er wegen seines
Geldes verdächtigt wurde. Da hatte er sich nicht enthalten können,
an Schräger einen Brief zu schreiben, in dem er ihm »spät, aber doch«
dafür dankte, daß er ihn ehemals habe fünf Mark gewinnen lassen, für
die er ein Glückslos gekauft habe. Das Geld habe gerade dazu gereicht,
den Buchenhof zu halten, der wohl sonst das Besitztum des Wirtes
unnütz vergrößert hätte. Der Brief war an einer neuen Injurie gerade
noch knapp vorbeigegangen. Schräger hatte gewettert und geflucht, und
die Dorfleute hatten die Lotteriegeschichte nicht geglaubt, sondern
desto eifriger nach einer recht abenteuerlichen Lösung der Bergerschen
Vermögensfrage gesucht.

Am wenigsten fand Heinrich den Weg, obwohl seine weiche Seele ihn
suchte. Oftmals zwar redete er sich ein, er brauche die Gemeinschaft
nicht, er habe ja Gesellschaft auf dem Hofe, lauter liebe Leute, die's
treu zu ihm meinten. Aber er kam nicht um die alte Wahrheit herum,
daß der Mensch nicht immer mit denselben Menschen verkehren kann. Die
Schiffsleute, die lange auf demselben Fahrzeug eng zusammenlebten,
gehen auseinander, wenn sie ans Land kommen. Sie haben einmal das
Bedürfnis, die alltäglichen Gesichter auf eine Weile nicht zu sehen.
Und es gibt viele Leute, die in Bureaus, Geschäften, Schulen friedlich
und freundlich zusammenarbeiten und sich doch in ihren Freistunden
nicht sehen und treffen mögen, sondern lieber Fremde aufsuchen oder
allein sind.

Die Buchenhofleute lebten zusammen wie auf einem großen, einsamen
Schiff. Im Winter vergingen Wochen, ohne daß sie ein Wort mit jemand
von auswärts wechselten. Und so kam es, daß ein Händler, wenn er sich
in das Gehöft verirrte, wie ein lieber Gast festgehalten und nach
allem möglichen befragt wurde.

Am schwersten litt an solch trüben Wintertagen der Hannes. Es kam vor,
daß er sich auf die Ofenbank legte und vor lauter Einsamkeit heulte.
Dann schwor er hoch und teuer, wenn erst der Frühling käme, zöge er in
die Fremde. Wenn die Lene das hörte, sagte sie, er solle nur geschwind
machen, daß er fortkäme. Und das nahm er dann immer übel.

Auch Mathias litt an der Einsamkeit. Manchmal, wenn er den alten Pluto
streichelte, der immer noch das Gnadenbrot bekam, dachte er an seine
Lumpenmannszeit, und da kam es ihm vor, als sei er damals ein junger,
glückseliger Vagant gewesen, der frei und unverdrossen auf grünen
Straßen fuhr, heute hier, morgen dort, immer wieder bei anderen Leuten,
immer lustig und überall gern gesehen.

Heinrich saß zu solchen Zeiten hinter seinen Büchern und studierte.
Nur eine war glücklich und ganz zufrieden: das war die Liese. Diese
einsamen Stunden waren ihre seligste Zeit. Dann saß sie mit ihrem
Nähzeug still und freundlich da und hob nur manchmal die Augen, um nach
Heinrich zu schauen.

Aber drüben im Buchenkretscham wohnte noch ein einsameres Menschenkind,
ein Kind, das gar keine Heimat hatte: das war Lotte Schräger.

Sie hatte niemand. Der Vater war fast täglich betrunken, der Bruder ein
Idiot. Und ihr verhältnismäßig hohes Maß von Bildung vermehrte nur das
Unglück, erhöhte das Grauen, das ihre »Heimat« ihr einflößte.

Von den Buchenhofleuten sah sie selten jemand. Sie wurde auch von ihnen
gar nicht beachtet. Die stolze Lene Raschdorf hatte ihr sogar zweimal
einen Gruß nicht erwidert. Aber die Lene blieb manchmal stehen und sah
sie mit ihren kohlschwarzen Augen herausfordernd und feindselig an. Sie
war ganz wie ihr Vater, der alte Raschdorf, vor dem sich die Lotte auch
immer ein wenig gefürchtet hatte. Und sie trug neuerdings am Sonntag
modische Kleider. Sie trug sie wie eine Dame, ohne Fehler. Aber Lotte
wußte, daß sie es ihr nachmache.

Den Heinrich Raschdorf sah Lotte sehr selten. Gesprochen hatte sie
nicht mehr mit ihm nach jenem Tage, da sie ihm den Strauß geschenkt und
den Koffer getragen hatte. Damals war sie ja ein dummes Kind gewesen,
aber sie wurde jetzt noch rot, wenn sie an die alten Tage dachte.
Daß er sie geküßt hatte, daß sie ihm zugeredet hatte, er möchte sie
heiraten, daß er dann ihren Strauß auf die Straße geworfen hatte, daran
dachte sie oft.

Wenn er sie jetzt traf, zog er mit städtischer Höflichkeit den Hut, und
sie neigte ebenso kalt-höflich den Kopf. Sie wußte kaum, wie er aussah;
nur daß er einen Schnurrbart trug, hatte sie einmal gesehen.

       *       *       *       *       *

So war es wieder einmal Frühling geworden. Draußen war ein wunderbarer,
weicher Abend, aber der Kretscham war voll von Leuten. Die saßen alle
in üblem Tabaksqualm und sehnten sich nicht nach der herrlichen Luft
draußen, durch die die Nachtigallen sangen, durch die der Flieder
duftete, durch die die Sterne leuchteten.

Bauern haben gern schlechte Stubenluft, viel lieber noch als die
Städter. Das ist merkwürdig genug, da doch die Luft im Freien, die sie
meist atmen, die Bauern wählerisch und verwöhnt machen müßte. Es ist
anzunehmen, der Tod habe das so eingerichtet, denn wenn die Bauern
auch noch gesund wohnten und schliefen, so wie sie gesund arbeiten,
würden wohl alle über hundert Jahre alt werden. Und das gäbe zu viele
Auszügler. -- -- -- --

       *       *       *       *       *

Es war Steuertag. »Gemeindegebot, Rente, Schulgeld,
Schornsteinfegergeld und Nachtwächtergeld« wurden eingenommen. Da
waren die meisten Hausväter persönlich erschienen, um ihre Steuer zu
bezahlen. Kam aber irgendeine Frau, so neckten sich alle mit ihr, und
Schräger mußte ihr einen Ingwer einschenken, den irgendeiner zum Besten
gab. Das ist bäuerliche Ritterlichkeit.

Vom Buchenhofe brachte stets eine Magd die Steuer. Sie allein bekam
keinen Ingwer.

An diesem Tage war im Buchenhofe große Aufregung gewesen, denn Hannes
hatte plötzlich und ohne alle äußere Veranlassung erklärt, er werde
selber gehen, um die Steuer abzuliefern. Er fügte noch die kühne
Behauptung hinzu, daß er sich auch vor dem Teufel nicht fürchte, und
daß er den Leuten beweisen wolle, daß der Buchenhof ebenso das heilige
Recht habe, seine Steuer persönlich zu zahlen wie alle anderen. Zudem
läge die Sache günstig, denn Mathias sei nicht zu Hause, der sonst
dagegen reden würde.

Was Hannes zu seinem kühnen Plane begeistert hatte, ist, wie gesagt,
schwer zu bestimmen. Es war zum Teil Laune, zum Teil die Lust, endlich
einmal etwas Neues zu erleben und der Einsamkeit entrissen zu werden.

Wie nun aber immer bei der Entscheidung »prinzipieller Fragen« viel und
klug geredet wird, so auch hier. Sogar der Schaffer beteiligte sich an
der Debatte, scheinbar gegen Hannes, im Grunde aber doch wie immer für
ihn. Heinrich war unschlüssig, und nur Lene widersprach aufs heftigste.
Aber schließlich siegte Hannes. Er bekam das Steuerbuch ausgehändigt,
und Lene zählte ihm aus der »Schwinge« den Steuerbetrag auf und noch
eine Mark darüber, wie Hannes wünschte. Sie mußte ihm sogar das große
Paradeportemonnaie des alten Raschdorf borgen, das dieser immer nur bei
besonders feierlichen Anlässen gebraucht hatte.

Also ausgerüstet schritt Hannes in seinem Sonntagsanzug über die
Straße, stolz wie ein Held, der in den Kampf zieht, einer gegen alle.

Die Buchenhofleute sahen ihm vom Fenster aus nach. Das Herz klopfte
allen, am meisten dem besorgten Vater des Helden. Am besten sei es,
meinte der Schaffer, er bewaffne sich mit einem tüchtigen Stecken und
stelle sich hinters Hoftor, damit er gleich hinüber könne, wenn er etwa
den Hannes schreien höre.

Aber Hannes schrie nicht. Mit einem Ruck riß er drüben die Tür des
Kretschams auf und trat hocherhobenen Hauptes in die Stube. Sein
urplötzliches Erscheinen hatte wirklich den gewünschten Erfolg. Die
Bauern waren über die Maßen verblüfft, und es entstand eine große
Stille.

Diese Wirkung gedachte Hannes noch zu steigern. Er schnitt also
ein Gesicht, das hoheitsvoll sein sollte, in Wirklichkeit aber
verunglückte, trat an den Gerichtstisch und grüßte mit nachlässiger
Stimme:

»Mahlzeit!«

In dem städtischen Gruße »Mahlzeit«, meinte Hannes, liege die ganze
Summe von Hoheit und Vornehmheit, über die ein Mensch verfügen könne,
klar ausgedrückt.

»Mahlzeit!« wiederholte er, da niemand antwortete. »Ich bringe
persönlich die Steuer vom Buchenhofe, denn der Buchenhof hat das Recht
dazu!«

Das bestritt niemand. Es antwortete überhaupt keiner der Anwesenden.

»Wieviel macht es?« fragte Hannes und zog das riesige
Paradeportemonnaie des alten Raschdorf mit viel Umständlichkeit aus
der Tasche. Er wußte zwar die Summe ganz genau, aber er hatte durch
seine Frage Gelegenheit, das Portemonnaie herausfordernd in der Hand zu
halten, während der Gerichtsschreiber die Summe ausrechnete.

»Also so?« sagte er, als er den Steuerbetrag erfahren hatte, und fing
an, das Geld langsam aufzuzählen, wobei er jedes Stück einzeln aus dem
Portemonnaie nahm. Gegen Ende hin aber wurde er plötzlich unruhig,
überflog den aufgezählten Betrag, guckte betroffen ins Portemonnaie,
zählte nochmals, verfärbte sich ein wenig und fragte beklommen:

»Wieviel macht es?«

Der Gemeindeschreiber wiederholte den Betrag.

O, ihr lieben Heiligen! Hannes hatte eine Mark zu wenig, statt einer
Mark zu viel. Wie ein greller Blitz fuhr ihm die Erkenntnis durch den
Kopf, die Lene habe einen Taler für ein Fünfmarkstück angesehen.

»Es langt nicht!« flüsterte irgendwo eine Stimme unter den gespannt
zuschauenden Bauern, und ein heimliches Kichern brach an. Hannes
richtete sich wütend empor.

»Was? Es langt nich? Bei wem langt's nich?«

Und er wandte sich wieder an die Ortsbehörde.

»Das Kleingeld langt allerdings nich,« sagte er und strich den
aufgezählten Betrag wieder ein. »Können Sie auf einen Hundertmarkschein
herausgeben?«

»O ja,« sagte der Schulze, »das können wir schon. Wo ist der
Hundertmarkschein?«

Das hatte Hannes nicht erwartet. Er wurde fürchterlich verlegen. Als
aber nun die Bauern und die Steuerbeamten in eine unbändige Heiterkeit
ausbrachen, raffte er sich auf und schrie:

»Hundertmarkschein? Wir haben massig Hundertmarkscheine! Aber ich muß
meinen unterwegs verloren haben. Wer ihn find't, kann ihn behalten.
Versteht Ihr? Kann ihn behalten! Und ich geh einen neuen holen.«

Er gab sich Mühe, mit möglichster Würde wieder hinauszuschreiten, was
die Bauern nicht hinderte, in ein dröhnendes Gelächter auszubrechen.

Wütend schritt Hannes über die Straße, nicht, ohne sich ein paarmal
umzusehen, als ob er etwas suche. Hinter dem Tor traf er seinen Vater,
der einen dicken Knüppel in der Hand hatte.

»Haben sie Dir etwas getan?« fragte der Schaffer.

»Laß mich!« knurrte Hannes und stampfte nach der Stube. Dort wurde er
mit erwartungsvollen Gesichtern empfangen.

»Plamiert sind wir!« schrie der heimgekehrte Gesandte und sank auf
einen Stuhl. »Bis auf die Knochen plamiert! Ich hab' 'ne Mark zu wenig
gehabt; die Lene hat mir 'n Taler für 'n Fünfmarkstück gegeben.«

Der Schaffer hieb mit seinem Knüppel auf den Tisch, daß die Stube
dröhnte. Heinrich knurrte verdrießlich etwas von Albernheiten, und nur
die Lene lachte.

Da fuhr Hannes zornig auf:

»Lene,« keuchte er, »hast Du das etwa gar absichtlich gemacht?«

Das Mädchen schaute ihn blitzend an.

»Meinste etwa, ich kann nich zählen? Meinste, ich kenne das Geld nich?«

»Lene, das is frech; das is -- ich -- ich -- o, da habt Ihr den Quark;
ich -- ich -- das is 'ne Gemeenheet -- das laß ich mir nich gefallen --
zum Vierteljahr zieh ich fort -- werden schon sehen --«

»Werden schon sehen!« stimmte der Schaffer bei und stampfte hinter
Hannes aus der Stube.

Auf dem Boden lag das Paradeportemonnaie des alten Raschdorf.

Die beiden Geschwister waren allein. Auch Heinrich war aufgebracht.

»Warum machst Du das, Lene? Warum blamierst Du ihn und uns?«

Das Mädchen sah ihn zornig an.

»Von uns hat niemand was bei den Leuten dort drüben zu suchen. Wenn's
keiner versteht, ich versteh's! So ein Esel -- es ist ihm recht!«

Sie schob das Portemonnaie mit dem Fuße beiseite und ging hinaus.

Der junge Buchenbauer sah ihr nach. Zum erstenmal fiel ihm auf, wie
wenig er im Grunde genommen auf seinem Hofe zu sagen habe. Er war
nicht der Herr. Kein Mensch kümmerte sich um seine Meinung, höchstens
Mathias. Sie waren alle Herren: Hannes, der Schaffer, am meisten Lene.
Er hatte immer geschwiegen in dem Gefühl, daß die anderen es ja besser
verstünden, und daß er ihnen doch zur Dankbarkeit verpflichtet sei.

Aber jetzt regte sich in seiner weichen Seele der Trotz. Er hob das
Portemonnaie seines Vaters auf und schüttelte den Inhalt in seinen
eigenen Geldbeutel.

Nun würde er selber zur Steuer gehen! Jawohl!

Die Berger-Liese kam herein.

»Heinrich, es muß jemand zur Steuer; es is die höchste Zeit. Ich werd
geh'n. Mir werden sie ja nischt tun.«

»Nein, Liese, Du gehst nicht! Du am allerwenigsten! Aber Du bist ein
vernünftiges Mädel!«

Er reichte ihr die Hand. Liese errötete, denn Heinrich sprach selten
mit ihr.

»Wer soll denn aber gehn? Hannes mag nicht; ich hab' ihm schon
zugeredet, aber er will nicht, und der Schaffer ist furchtbar böse.«

»Ich gehe selber!«

In diesem Augenblick kam Lene wieder in die Stube.

»Ich gehe selber zur Steuer!« wiederholte Heinrich.

Da wurde das Mädel blaß.

»Du gehst nicht!« sagte sie bestimmt und heftig.

»Jawohl, ich gehe! Ich gehe bald!«

»Du gehst nicht, sage ich!«

Er sah sie an.

»Lene, der Herr bin ich! Merk' Dir das!«

Sie ging auf ihn zu und faßte ihn ins Auge.

»Heinrich, wenn Du zur Steuer gehst, lauf' ich fort!«

»Dann laufe fort!« sagte er gleichgültig.

Und er ging aus der Stube mit festem Schritt.

Dennoch zitterte ihm die Hand, als er die Türklinke zum Buchenkretscham
berührte. Seit seiner Kindheit Tagen war er in diesem Raume, der doch
bloß auf der anderen Seite der Straße lag, nicht gewesen.

Die Tür ging auf.

Einige Sekunden sah Heinrich nichts als Rauch.

»Guten Abend!«

Niemand antwortete. Alle sahen verblüfft auf den jungen Herrn vom
Buchenhof, und Schräger, der schon wieder betrunken war, torkelte gegen
das Schanksims und stierte den Eintretenden an, der einige Sekunden an
der Tür stehen blieb.

Da sprach endlich einer: »Der Hundertmarkschein kommt!«

Das war der Bader. Aber nur der junge Riedel lachte; die anderen
schwiegen.

Heinrich ging durch die Stube zum Gemeindetisch.

»Ich bringe die Steuer,« sagte er leise und zählte den Betrag auf.

Der Gemeindeschreiber quittierte.

»Sechs Dreier und einen Hund!« sang in einer Ecke der Idiot. Es lachten
zwei. Aber Heinrich beachtete es nicht.

»Guten Abend!« sagte er, nahm das Steuerbuch und wandte sich zum Gehen.

Da trat ihm einer entgegen. Es war der alte, grauhaarige Hirsel-Bauer.
Er streckte ihm die Hand hin.

»Herr Raschdorf,« sagte er freundlich, »mögen Sie einen Schnaps mit mir
trinken?«

Heinrich war ganz erschrocken. Unschlüssig blickte er nach links und
rechts auf die vielen Leute und sagte dann stockend: »Nein, ich -- ich
muß Ihnen danken, Herr Hirsel! Gute Nacht!«

Und er drückte ihm flüchtig die Hand und ging schnell hinaus.

Kopfschüttelnd setzte sich der alte, freundliche Mann. Der Bader aber
sprang auf den Stuhl.

»Habt Ihr's gesehen? Das hat nu der Hirsel davon! Der Raschdorf und
ein'n Schnaps mit jemand trinken! Da müßt' a keen Raschdorf sein! Das
is un bleibt 'ne hochnäsige Bande!«

Und nun hatte der Bader wieder alle für sich. --

Draußen vor der Haustür traf Heinrich Lotte Schräger.

Er blieb betroffen stehen.

Auch sie sagte kein Wort.

Aber dann sahen sie sich scheu an wie zwei Menschen, die sich gekannt
haben vor langer Zeit und sich wiedertreffen und nun nicht wissen, ob
sie Freunde sind oder Feinde.

»Guten Abend!« sagte Heinrich und zog den Hut. Damit wollte er gehen.
Aber er besann sich.

»Fräulein Lotte,« sagte er leise und hastig, »ich -- ich hab' Ihnen
immer noch was zu sagen.«

Er brach ab. Er wartete wohl auf ein Wort von ihr, aber sie sagte
nichts. Da begann er wieder:

»Sie sind einmal sehr freundlich zu mir gewesen -- Sie wissen wohl --
damals, als wir noch Kinder waren -- es ist ja jetzt an die acht Jahre
her -- aber ich wollte Ihnen bloß sagen, den Strauß hab' ich nicht auf
die Straße geworfen -- ich nicht! Sie sind mir gewiß recht böse gewesen
die lange Zeit.«

Sie sah ihn errötend an, schüttelte den Kopf und ging rasch ins Haus.

Langsam schritt Heinrich über die Straße. Beim Hoftor blieb er stehen
und holte tief Atem. Nach dem Buchenkretscham schaute er, hinter dessen
erhellten Fenstern ein wüster Lärm war. Es war ihm doch sehr wohl.

Daß er ihr das hatte sagen können, das machte ihn froh. Es hatte ihn
bedrückt all die Jahre.

Sie war ein herrlich schönes Mädchen geworden. Das hatte er erst heute
so recht gesehen. So reif und so schön!

Warum klopfte ihm das Herz so laut?

Er sah immer hinüber nach der Stelle, wo er mit ihr gestanden hatte.
Sie hatte kein Wort gesagt, sie hatte ihn nur angesehen.

In einer Giebelstube des Buchenkretschams wurde es hell. Heinrich
schaute hinauf.

Jetzt kam eine Gestalt ans Fenster.

Das war Lotte!

Sie lehnte sich an die Scheiben und schaute hinüber nach dem Buchenhofe.

O, wie ihm das Herz schlug! Er betrachtete ihr dunkles Schattenbild und
vermochte sich nicht zu rühren.

Da sah sie ihn unten im Mondlicht stehen.

Erschreckt legte sie eine Hand auf die Stirn. Bald darauf ging sie vom
Fenster hinweg, und das Licht erlosch.

Eine Minute lang stand Heinrich noch still, dann ging er.

Im Hausflur auf der Treppe saß seine Schwester Lene. Sie hatte den Kopf
auf beide Hände gestützt. Neben ihr stand Mathias, der in der Stadt
gewesen und eben heimgekommen war.

»Du warst im Kretscham, Heinrich?«

»Ja, ich habe die Steuer hinübergetragen!«

Mathias sah ihn milde an.

»Es ist schon recht, Heinrich, Du kannst ja tun, was Du willst.«

»Aber ich -- ich lauf' fort!« rief Lene.

Sie sprang auf.

»Geh in die Stube, Heinrich! Die Lene laß mir! Fortlaufen darf sie ja
nich. Sie gehört ja ebensogut hierher wie Du!«

Heinrich ging nach der Stube. Liese Berger brachte ihm das Abendessen.
Freundlich sah sie ihn an.

»Ist es gut gegangen?« fragte sie.

»Ja, Liese, ganz gut.«

Das blasse Mädchen nickte freudig.

»Und die Lene wird schon dableiben, wir reden ihr ja alle gut zu.«

Sie bediente ihn mit ihrer großen Freundlichkeit und ihrem stillen
Eifer. Sie reichte ihm alles zu und fragte, ob es ihm auch schmecke.

Er mußte sich zwingen zum Essen. Und er wünschte fast, die freundliche
Liese sei nicht bei ihm. Ihre Freundlichkeit tat ihm heute weh!

Sie sah ihn besorgt an.

»Du mußt Dich nicht so ärgern, Heinrich. Es wird ja alles wieder gut.
Du mußt essen, Heinrich!«

Bald darauf ging er nach seinem Zimmer. Er mußte allein sein. Um alles
in der Welt wollte er jetzt mit niemand sprechen, auch mit der Lene
nicht. Er dachte kaum an sie.

Er wollte nachdenken, aber er vermochte nicht auf seinem Stuhle
stillzusitzen. Angekleidet warf er sich aufs Bett und blinzelte in das
Lampenlicht.

Ja, es war so. Er war froh, daß er in den Kretscham gegangen war. Er
war froh, auch wenn es allen anderen nicht paßte.

Er war mutig gewesen. Und dieses schöne Bewußtsein trieb ihm, wie allen
weichherzigen Leuten, die es nicht gewöhnt sind, das Blut in den Kopf.
Wie ein Rausch war's. Denn das ist ja wahr, daß Mut trunken macht,
einen früher, einen später, je nachdem, wieviel er verträgt.

Sie hatten geschwiegen; nur zwei hatten über ihn gelacht, die zwei
kläglichsten. Die anderen nicht. Und einer hatte ihn sogar zu einem
Trunke eingeladen. Der gute alte Mann! Es war schade, daß er es
ausschlagen mußte, aber sich da hinsetzen, unter diese Leute, das wär'
ja unmöglich gewesen.

Ob's der Hirsel übel genommen hatte? Vielleicht! Wahrscheinlich sogar!

Heinrich sprang auf, setzte sich an den Tisch und schrieb an Hirsel
einen langen Entschuldigungsbrief.

Ein Gefühl der Liebe für den alten Mann flutete durch das Herz des
Jünglings. Wenn er jetzt einmal ins Dorf hinabsah, wußte er doch, daß
dort unten jemand war, der's gut mit ihm meinte.

Ach, er war so glücklich, daß er ein ganz kleines Stückchen Heimat
gewonnen hatte.

Als die Mitternacht vorbei war, hatte der junge Buchenbauer noch immer
keinen Schlaf gefunden. Er mußte jetzt doch an seine Leute denken.
Zum ersten Male hatte er sich in Widerspruch zu ihnen gestellt, zum
ersten Male war er aufgeregt und glücklich, während sie gewiß alle mit
bedrückten Herzen zur Ruhe gegangen waren.

Eine leise Reue kam, oder doch der Wunsch, sie recht bald alle wieder
zu versöhnen, auch die Lene.

Freilich hatten sie ja nichts verloren.

Nichts?

Die Lotte fiel ihm ein.

Was sie wohl sagen würden, wenn sie wüßten, daß er mit Lotte Schräger
gesprochen hatte? Eigentlich mußte er es ihnen erzählen. Das wäre
aufrichtig.

Aber er schämte sich und beschloß, die Begegnung für sich zu behalten.

Was war auch geschehen? Entschuldigt hatte er sich wegen einer
Ungezogenheit, wahrlich spät genug entschuldigt. Sonst nichts.

Und nun war er quitt mit Lotte Schräger.

[Illustration]



[Illustration: Kapitel 11]


So ist ein neuer Kampf in Heinrich Raschdorfs junges Leben getreten.
Und im alten Kampf um die Heimat rückten die Bundesgenossen einen
Schritt von ihm ab. Seine Schwester Lene weit! Sie sprach nicht mehr
mit Heinrich; sie ging immer mit finsterem, verschlossenem Gesichte
herum. Es kränkte ihren Stolz, daß sie gedroht und dann die Drohung
nicht ausgeführt hatte.

Sie war schwach gewesen und unterlegen.

Und es war nicht bloß der beleidigte Trotz, daß ihr Wille nicht
durchgegangen war; es lebte in diesem Mädchen auch das feine Empfinden,
daß in die starke Position der Buchenhofleute eine Bresche geschlagen
worden sei durch eigene Schuld.

Das wußte auch Mathias.

Einmal war er selbst es gewesen, der den Frieden gepredigt hatte,
damals, als die tote Frau noch auf der Bahre lag, als er die Kinder
übernahm und einen Weg für sie nach der Heimat suchte. Da erkannte sein
kluger Sinn allein im Frieden mit den Leuten das Heil.

Wie eine stolze, halbzerstörte Festung kam ihm der Buchenhof damals
vor, ein gar schwacher Platz, der nicht zu halten war, wenn ihn die
Gegner unten im Tal mit zäher Feindseligkeit belagerten und ihn
qualvoll aushungerten an Liebe und Freude.

Ein Tag mußte kommen, an dem sich die Burgleute ergaben auf Gnade und
Ungnade, um in die Verbannung zu ziehen.

Deshalb wollte sich Mathias vergleichen. Aber als er einen Weg hinüber
suchte, mit der weißen Fahne in der Hand, wurde er heimtückisch
angefallen, er und Heinrich, und auch nach der lieben Toten warfen sie
ihre schmutzigen Geschosse.

Da wußte Mathias nichts mehr von Frieden, da kam der Groll, der Trotz,
und er baute den Buchenhof neu, stark, unantastbar, wie er meinte.

So war es gut gegangen all die Jahre. Gut?

Hatten sie nicht alle quälenden Hunger gelitten nach Liebe, nach
Freundlichkeit, nach menschlicher Gemeinschaft?

Eine Festung ist keine Heimat. Heimat braucht offene Tore, breite,
freie Straßen, an denen keine Fangeisen liegen und an denen keine
Warnungstafeln stehen, sondern freundliche Wegweiser.

Jetzt also ging der junge Herr ins feindliche Lager. Er ging nicht,
Verrat zu üben, er ging nur, Vertrauen zu zeigen und nach und nach
Vertrauen zu gewinnen.

War er nicht zu loben?

Aber eine quälende Unruhe war in Mathias, der junge Herr vom Buchenhofe
werde da drüben verunglücken.

Der Unfriede war auf den Buchenhof gekommen aus winzigem Anlaß. Auch
der Schaffer war finster und sprach kein Wort. Er zürnte schwer mit
Lene, und es war anzunehmen, daß er den schlimmen Streich, den sie
seinem Sohne gespielt, nie mehr im Leben vergessen würde.

Hannes betrug sich ganz ungebärdig. Zunächst beschloß er, einen Tag
»blau« zu machen. Ferner nahm er sich vor, am anderen Tage in den
Buchenkretscham zu gehen und ein Säuferleben anzufangen, der Lene
zum Trotz. Da er sich aber schließlich schämte, das Lokal wieder zu
betreten, in dem er eine so wenig rühmliche Rolle gespielt hatte, ging
er nach dem Nachbarort, trank in einem Gasthause drei Glas Bier und kam
auch wirklich schwer betrunken nach Hause.

In der Nacht war er sehr krank, und sein stämmiger Vater betrachtete
mit besorgten Blicken den Sohn, von dem er annahm, daß er nun dicht am
Abgrunde des körperlichen und seelischen Verderbens stehe.

Am anderen Morgen glaubte Hannes selbst, seine allmähliche Auflösung
sei nahe. Die Krankheit in ihren wilden Erscheinungen war zwar vorüber,
dafür hatte sich aber ein Zustand eingestellt, der ihn befürchten ließ,
daß seine Kräfte sich langsam vollends abschwächen würden.

Um so freudiger überrascht war er, als er gegen Mittag Hunger bekam und
sich nach der Mahlzeit wieder recht leidlich fühlte. Also beschloß er,
sich langsam wieder ans Leben zu gewöhnen und auch das Arbeiten wieder
aufzunehmen.

Eine Woche lang schmollte er mit Lene, dann hielt er es nicht länger
aus und sagte zu dem Mädchen: »Lene, das is auf die Dauer zu tumm.
Reden wir lieber wieder!«

Die Lene lachte und sprach auch wieder mit dem Hannes, aber sie dachte
bei sich selbst: »Er ist kein rechter Mann. Das durfte er sich nicht
gefallen lassen. Er hätte mich müssen laufen lassen; so ist er ein
Trottel.«

Und der gute Hannes pfiff derweil vergnügt und hatte gar keine Ahnung,
daß er ein Trottel war. Er kannte das Leben nicht, er kannte das
Bier nicht, er kannte das Weib nicht. Er war ein harmloser, lustiger
Bursche, dem es sicher noch einmal sehr schlecht gehen mußte, ehe er
dieses gutmütige, dumme Pfeifen sein lassen würde.

       *       *       *       *       *

Es war an einem sommerheißen Maitag, kaum eine Woche später. Heinrich
war nach der Stadt gefahren, um etliches zu besorgen. Nun war er auf
dem Heimwege. Ganz allein saß er auf der kleinen Droschke und ließ das
Pferd gemächlich seines Weges ziehen. Dabei konnte er ungestört seinen
Gedanken nachhängen.

Daran dachte er, daß der junge Riedel sich um die Lotte bewarb. Und
obwohl sich der Buchenbauer alle zwei Minuten sagte, daß ihn die Sache
nichts angehe, gab er sich doch immer wieder Mühe, mit hundert Gründen
und Einwendungen das Unsinnige einer solchen Verbindung zu beweisen.
Und er redete sich selber in großen Zorn.

So kam es, daß er heftig erschrak, als er plötzlich die Lotte kaum
dreihundert Schritte weit vor sich auf der Straße gehen sah. Sie war
offenbar auch in der Stadt gewesen. In der Hand trug sie ein kleines
Paket.

Dem Buchenbauer wackelten die Zügel in der Hand, und er wußte nicht, ob
dieses Zusammentreffen ein Glück oder ein großes Unglück sei.

Was sollte er tun? Was sollte er nur tun?

Sie auffordern, mitzufahren, sie und er ganz allein -- sie, die
Schräger Lotte, und er, ein Raschdorf? Seine Leute, was würden die
sagen? Das kam doch heraus, das ging doch nicht zu verheimlichen. Der
Mathias, die Lene -- alle -- was würden sie sagen?

Heinrich zupfte an der Leine, und das Pferd schlich langsam im
Tritt. Es war ein bequemes Rößlein, das seinerseits sich gegen ein
vorsichtiges, abwartendes Tempo nicht sträubte.

Aber trotzdem -- in wenigen Minuten mußte er sie eingeholt haben! Was
dann? Sollte er an ihr vorüberfahren? Sie laufen lassen in diesem
Staub und in dieser Hitze? Sie, die ihm einstmals den schweren Koffer
getragen hatte? Und ganz abgesehen davon -- vorüberfahren, unhöflich
sein, grob -- das ging nicht, das ging nicht!

Kurz entschlossen rückte sich Heinrich stramm auf und hieb auf das
Pferd ein. Und in kaum zwei Minuten war er an Lottes Seite.

»Guten Tag, Fräulein! Darf ich Sie auffordern, mit mir zu fahren?«

Sie schaute zu ihm auf. Ihr Gesicht glühte von der Anstrengung des
Laufens, und sie zitterte ein wenig, als sie sagte:

»Ich -- ich danke, Herr Raschdorf -- ich werde jetzt gleich den Feldweg
gehen. Es ist ja nur eine halbe Stunde nach Hause. Ich danke!«

»So schlagen Sie mir's ab?«

»Ich -- ich möchte Ihnen keine Ungelegenheiten bereiten, Herr
Raschdorf!«

»Ungelegenheiten? Wieso?«

»Ja! Sie wissen ja -- es ist um die Ihrigen -- es war mir so furchtbar
peinlich, als ich sah, daß Sie hinter mir --«

Da sprang er auf die Straße.

»Lotte, Sie müssen mit mir fahren, jawohl, Sie müssen! Sie kränken
mich, wenn Sie mir's abschlagen. Wir haben doch nichts gegeneinander --
nichts -- nichts -- rein gar nichts!«

Sie schaute ihn mit ihren großen, dunkelgrauen Augen eine Sekunde an.

»Nein, wir haben wohl nichts, aber es ist besser, ich danke, Herr
Raschdorf, ich bin ja in einer halben Stunde zu Hause.«

»Lotte!«

Er ergriff sie an der Hand.

»Lotte -- Fräulein Lotte, wissen Sie noch -- damals vor acht Jahren,
als ich heimkam, auf diesem selben Wege, als wir den Koffer miteinander
trugen, wissen Sie noch?«

»Ja, aber da waren wir Kinder -- jetzt -- es ist schon besser, wenn ich
zu Fuß gehe.«

Er ließ ihre Hand los. Tonlos sagte er:

»Ja, vielleicht ist's besser; vielleicht wär's eine Schande für Sie,
wenn Sie mit mir führen.«

»Heinrich Raschdorf!«

»Was sehen Sie mich so an? Es ist doch so! Von dem Raschdorf Heinrich
mag kein Mensch im Dorfe was, keine Gefälligkeit, keinen kleinen
Dienst, keine Freundlichkeit; der ist ja ausgestoßen.«

»Herr Raschdorf! Sagen Sie nicht so was! Ich fahre mit!«

»Lotte, das will ich Ihnen danken!«

Er half ihr auf den Wagen und stieg nach. Zitternd ergriff er die Zügel
wieder. Es war nur ein Sitz da. So saßen Sie dicht nebeneinander.
Minutenlang fuhren sie die Straße entlang, ohne daß eines ein Wort
gefunden hätte. Und die Maisonne lachte, und das Rößlein ging so wonnig
sachte.

So war dem jungen Buchenbauer noch niemals im Leben zu mute gewesen.
Das Herz war ihm übervoll, und doch fand er kein armseliges Wörtlein.
Endlich raffte er sich auf:

»Sie müssen mir noch sagen, Fräulein Lotte, ob Sie mir wegen des
Straußes böse gewesen sind!«

»Ach, ich habe mich damals wohl sehr geärgert. Aber ich weiß ja jetzt,
daß Sie ihn nicht weggeworfen haben!«

»Nein, wirklich nicht, ich wollte, ich besäße ihn noch jetzt.«

»Den armseligen Kinderstrauß?«

»Ja, denn damals war doch noch eine bessere Zeit. Da war ich noch nicht
gar so einsam.«

»Fühlen Sie sich einsam?« fragte sie leise.

»O, Lotte, Sie wissen gar nicht, Sie können gar nicht glauben, was das
heißt: so leben wie ich.«

»Sie haben eine Schwester und gute Freunde.«

»Ja, das weiß ich, das schätze ich auch, aber das langt nicht, das
langt nicht auf so viele lange Jahre. Ein bißchen Vertrauen, ein
bißchen Freundlichkeit von den Leuten, sehen Sie, das fehlt mir.«

Sie schwieg.

Er sah sie schmerzlich an. Dann sprach er leidenschaftlich:

»Und doch schwör' ich Ihnen, Lotte: Ich war unschuldig an dem Unglück,
und mein toter Vater auch!«

Sie war tief erschüttert. Leise sprach sie:

»Das weiß ich, das hab' ich auch immer geglaubt.«

»Lotte, das ist gut von Ihnen!«

Er preßte ihre Hand. Ein Weilchen hielt er sie so fest, dann erschrak
er und gab sie frei.

Einige Minuten fuhren sie wieder schweigend dahin, dann sagte Lotte
leise:

»Und wie denken Sie, daß mir's geht?«

Er suchte nach einer Antwort. Der trunksüchtige Vater fiel ihm ein, der
idiotische Bruder, und ihre ganze trostlose Verlassenheit kam ihm zum
Bewußtsein.

»Ja, ich weiß wohl, ich ahne es, es tut mir leid, Lotte, aber die Leute
im Dorfe, die achten und ehren Sie doch.«

»Die Leute im Dorfe! Wenn ich eine rechte Heimat hätte, brauchte ich
keine Leute aus dem Dorfe. Ich will sie nicht.«

Der Widerspruch zwischen ihr und ihm selbst fiel ihm auf.

»Lotte, ich glaube, wir sind beide nicht glücklich. Wir haben beide ein
Haus, in dem wir wohnen, und haben doch beide keine Heimat.«

Sie sah zu ihm auf. Ähnliche Gedanken hatte sie schon oft gehabt; nur
diese klare Form hatte sie ihnen nicht geben können.

»Ja,« sagte sie, »Sie haben recht!«

Dann sprachen sie von der Kinderzeit, von jenen goldenen Tagen, als sie
noch glücklich waren, als sie beide noch eine Heimat hatten.

Darüber vergaßen sie ihren Kummer, und manchmal schauten sie
sich heimlich und schnell in die Augen -- so, wie man ein altes,
heimgekehrtes Glück herzklopfend betrachtet. Und sie waren beide rot
im Gesicht, und tief in den Augen strahlte es wie eine ganz leise
Erlösungshoffnung.

Die Straße führte durch den Wald. Da schwiegen sie wieder.

Über den Schattenweg huschten einzelne goldene Lichter, und fern sang
ein Brünnlein durch die Mittagsstille.

Ganz langsam fuhr das Gefährt die weiche Straße entlang, und die beiden
jungen Menschenkinder schauten hinab nach dem blühenden Wegrande. Dort,
wo die Maiglöckchen blühten, hielt er an, sprang hinab, pflückte drei
Stengel und reichte sie ihr.

»Wir haben keine Feindschaft, Lotte!« sagte er bewegt.

»Nein -- nein, Heinrich!«

Und dann wieder weiter, den grünen Frühlingswald entlang, der still in
blühender Freundlichkeit die beiden anschaute aus märchentiefen Augen.
Zwei bunte, seltsame Schmetterlinge gaukelten vor ihnen her; denen
schauten sie nach mit träumenden Augen, und ihre Hände lagen dicht
beieinander und berührten sich leise.

Da war ihnen wohl. Sie waren zu Hause. Auf diesem kleinen Wagen war die
Heimat.

Als sie aber hinaus ins Lichte kamen und die Buchenhöfe sahen,
fröstelten sie vor dem grellen, heißen Sonnenlicht. Da wußten sie, daß
sie dort beide wieder in der Fremde sein würden.

Er faßte wieder ihre Hand.

»Lotte, wenn wir uns manchmal -- nur manchmal sprechen könnten, das
wär' ein Glück!«

»Es ist ja nicht möglich!«

»Es muß möglich sein, Lotte! Wir wollen Freunde sein!«

       *       *       *       *       *

»Hallo! Hallo! Hallo!«

Der Idiot sprang aus dem Walde. Er hatte eine riesige Tüte in der Hand,
ganz gefüllt mit Maikäfern.

Die beiden erschraken, und auch der Idiot blieb erstaunt stehen. Er
sperrte den Mund auf.

»Und -- und -- und einen Hund,« grunzte er überrascht, das einzige, was
ihm immer einfiel, wenn er jemanden vom Buchenhofe sah.

»Mein Bruder! O Gott, mein Bruder!«

Auch Heinrich war peinlich überrascht.

»Die Lotte und der -- und der -- und einen Hund, einen großen Hund!«
krähte der Idiot.

»Lassen Sie mich absteigen, Herr Raschdorf -- ich muß mit ihm reden.«

Heinrich Raschdorf hielt an. »Bleiben Sie, Lotte! -- Gustav, Gustav,
komm einmal her!«

»Schön tumm! Du schmeißt mich ins Feuer. Du sperrst mich ein. Und einen
gro--o--ßen Hund!«

»Ich will hinab, Herr Raschdorf -- ich muß zu ihm, adieu -- Sie wissen
nicht --«

»Wann sehen wir uns, Lotte?«

»Ich weiß nicht! Lassen Sie meine Hand los, ich will absteigen.«

Der Idiot war inzwischen tückisch herangeschlichen und schleuderte
urplötzlich dem Pferde die Tüte mit den Maikäfern an den Kopf. Das
Pferd fuhr auf, rückte an und raste davon, während Lotte, die im
Absteigen begriffen war, mit einem Aufschrei auf die Straße stürzte.

Mit verzweifelter Kraft brachte Heinrich das zitternde Tier zum Stehen
und lief den Weg zurück.

Da lag Lotte Schräger auf der Straße. Das Hinterrad war ihr über den
linken Fuß gegangen.

»Lotte, um Gottes willen, was ist geschehen?«

»Mein Fuß -- mein Fuß -- überfahren -- ach, mir wird schwindelig --«

»Lotte, geliebte Lotte!«

Er tastete nach ihrem Fuße; aus dem niederen Schuh quoll das Blut. Da
raffte er das Mädchen auf und trug es nach dem Wagen.

Der Idiot stand mit entsetztem Gesichte da und schrie:

»Es blutet! Es blutet!«

Und er verkroch sich im Walde.

Vorsichtig hob Heinrich die Verwundete auf den Wagen. Ein Frösteln ging
durch seine Seele.

An derselben Stelle hatte vor Jahren Mathias Berger seinen sterbenden
Vater auf seinen kleinen Schlitten geladen. Und nun ging es wie damals
behutsam die Anhöhe hinab den Buchenhöfen zu.

»Heinrich!«

Sie klammerte sich fest an ihn.

»Lotte, Lotte! Geliebte Lotte!«

Sie war ohnmächtig.

Er bettete sie an seine Brust und schlang den rechten Arm um sie. Mit
der linken Hand hielt er die Zügel.

So bleich und so schön war sie, und sie atmete schwer, aber doch nicht
schwerer als der junge Buchenbauer. Er betrachtete immer ihr süßes,
bleiches Gesicht. Und einmal bückte er sich hastig scheu über sie und
küßte sie auf den Mund. Ein Seligkeitsschauer glühte ihm durch den
Körper. --

Als sie in die Nähe des Buchenhofes kamen, gingen zwei durch den Garten
-- Mathias und Liese.

Sie hielten Ausschau. Und nun gewahrten sie ihn. Die Hände legten sie
über die Augen, um besser sehen zu können. So standen sie regungslos
wie Bildsäulen.

Aber plötzlich kam Leben in die beiden Leute. Sie sprachen erregt
miteinander, zeigten nach ihm, und auf einmal wandte sich die Liese um
und lief ins Haus.

Mathias Berger aber ging langsam nach dem nächsten Baume und lehnte
sich an.

Heinrich hatte das alles wohl gesehen, aber es war ihm so, als ob es
ihn nichts anginge. Er nickte nur grüßend und fuhr vorbei, hinüber zum
Kretscham.

Zwei Mägde und die alte Wirtschafterin sahen durchs Küchenfenster und
kamen schreiend herausgelaufen. Heinrich unterrichtete sie kurz und
übergab ihnen Lotte. Dann fragte er nach Schräger.

Der saß in der Gaststube und schlief. Er hatte sich am Vormittag schon
wieder betrunken.

Heinrich rüttelte den Schlafenden. Der öffnete die Augen, sah den
jungen Raschdorf und grunzte auf.

»Erschrecken Sie nicht, Herr Schräger, es ist ein Unglück passiert.
Fräulein Lotte ist ein Stück mit mir gefahren, und als sie absteigen
wollte, hat der Gustav das Pferd scheu gemacht. Da ist sie gefallen,
und der Fuß ist ihr überfahren worden.«

Schräger starrte ihn verständnislos an.

»Herr Schräger, es muß augenblicklich jemand nach dem Arzt fahren!«

»Nach -- nach dem -- dem Arzte fahren?«

Heinrich sah, daß der Mann betrunken war.

»Ja, es ist keine Zeit zu verlieren! Hören Sie, Herr Schräger, ich
werde selbst den Arzt holen. Hören Sie?«

»Ja -- ja -- den -- Doktor --«

Heinrich war schon draußen. Der Wirtschafterin schärfte er ein, den
Schuh und den Strumpf vorsichtig abzuziehen und den Fuß immerfort mit
kaltem Wasser zu kühlen. Er fahre nach dem Arzt.

Dann sprang er auf die Droschke und fuhr nach dem Buchenhof. Auf den
Stufen vor der Haustür standen Hannes und Lene. Mathias und Liese waren
nicht zu sehen.

»Hannes, schnell die beiden Rappen einspannen! Ich fahr' nach dem Arzt.
Fräulein Schräger ist verunglückt.«

Hannes und Lene sahen ihn wortlos an.

»So steht doch nicht so blöde da! Sie ist ein Stück mit mir gefahren,
und als sie absteigen wollte, ist sie gefallen, und der Fuß ist ihr
überfahren.«

»Sie haben ja selber Fuhrwerk drüben,« sagte Hannes.

»Ja, aber das dauert alles zu lange; ich fahre, das ist doch
Christenpflicht.«

Lene lachte laut und spöttisch auf.

»Christenpflicht!«

»Hannes, willst Du helfen oder nicht?«

»Wehe Dir, Hannes, wenn Du eine Hand rührst!«

»Hannes, bin ich der Herr oder die? Und läßt Du Dich von einem Weibe
kommandieren?«

Hannes war in schwerer Verlegenheit. Aber schließlich sagte er: »Es ist
ja Mumpitz, aber helfen tu ich!«

Lene warf ihm einen verächtlichen Blick zu und ging ins Haus. Wenige
Minuten später sauste das Gefährt Heinrichs nach der Stadt.

In ganz verhältnismäßig kurzer Zeit brachte er den Arzt.

Unten im Hausflur stand er und wartete auf Nachricht. Die
Wirtschafterin kam.

Der Fuß wäre gebrochen, aber es sei keine Gefahr. Bei guter Pflege
würde alles recht schön heilen.

»Werden Sie das Fräulein auch gut pflegen, Stenzeln?«

Die Alte sah den jungen Mann freundlich an und versprach ihr Bestes. Er
gab ihr ein Geldstück.

»Hier, nehmen Sie das! Sagen Sie aber keinem Menschen davon! Und grüßen
Sie das Fräulein! Sie soll nicht böse sein auf mich. Mir tut das
Unglück sehr leid. Und, Stenzeln, alle Abende um neun Uhr kommen Sie
mal an die Haustür. Ich will Sie fragen, wie's geht!«

[Illustration]



[Illustration: Kapitel 12]


Durch die Mainacht ging der Mond.

Drunten im Dorfe schlug es Mitternacht. Da hatten die Buchenhofleute
den Frieden des Schlafes noch nicht gefunden. Und doch war ein jeder in
seiner Kammer seit langen Stunden.

Droben im ersten Stock lehnte der junge Buchenbauer am Fenster und
schaute hinüber nach der Giebelstube des Kretschams.

Ein Licht schimmerte durch die Nacht herüber.

Dort war sie!

Der junge Träumer schloß die Augen.

Da sah er ein Meer und in dem Meer ein fernes Eiland. Von diesem Eiland
schien das Licht wie ein winkendes Leuchtturmfeuer, das den Weg zeigt
zu einem heimatlichen Hafen.

Aber wenn Heinrich Raschdorf die Augen öffnete, sah er die Dorfstraße.
Die lag zwischen ihm und ihr wie ein unüberbrückbarer Abgrund. Er riß
das Fenster auf. Schwerer Duft traf ihn, das Silberlicht gaukelte vor
seinen Augen, und ein Vogel in der Nähe sang ein wonniges Lied.

Da schlug die Liebe in das junge Blut, und all ihr taumelndes,
berauschendes Glück kam über den Einsamen. Eine heiße Röte flammte über
Heinrichs Gesicht, und ein Vorsatz formte sich in seinem Herzen, sein
Glück zu suchen. Und immer wieder ging er die wenigen Minuten im Geiste
durch, die er mit ihr verlebt hatte, brachte sich alles in Erinnerung,
was sie gesprochen, und war ganz außer sich vor lauter Aufregung, Liebe
und Mitleid.

Da klopfte es an die Tür.

Heinrich lauschte, aber er rührte sich nicht.

Abermaliges Klopfen.

Nun ging er und öffnete.

Seine Schwester Lene stand draußen, völlig angekleidet. Das Erstaunen
Heinrichs war groß; die Schwester hatte mit ihm seit dem Tage, da er im
Buchenkretscham zur Steuer war, nicht mehr gesprochen.

»Du bist es, Lene? Was willst Du?«

»Mit Dir reden! Ich sah, daß Du noch wachst.«

»Komm herein!«

Er schloß die Tür hinter ihr. Sie schaute sich um und bemerkte alsbald
das offenstehende Fenster und das Licht drüben über der Straße.

Sie sah ihn scharf an, und er konnte nicht hindern, daß er errötete. Er
mußte an den Vater denken, wie sie so stolz und kalt vor ihm stand.

»Willst Du sie heiraten?« fragte sie unvermittelt. Ihre Stimme klang
heiser.

»Heiraten? Wen?«

»Wen?«

Sie lachte scharf und kurz, trat ans Fenster und schloß es. Da überkam
ihn der Trotz wieder.

»Lene, ich will Dir was sagen: so lasse ich mich nicht behandeln.
Verstehst Du? Was ich tue oder lasse, ist schließlich meine Sache.«

»Nein!« Das sagte sie laut und heftig. »Es ist nicht Deine Sache, es
geht uns alle an! Wir haben alle für Dich gearbeitet. Was Du hast, hast
Du von uns!«

»Von Euch! Das weiß ich. Du kommst also, um mir zu sagen, was ich Euch
alles schuldig bin, kommst, um mir das vorzurechnen?«

Ihr war jede Sentimentalität fremd.

»Ja, deswegen komm ich! Du bist uns genug schuldig, das Meiste! Beinah
alles! Und ich red' nicht von mir, aber vom Mathias red' ich.«

»Vom Mathias? Was schadet es denn, wenn ich -- wenn ich --«

»Wenn Du zum Schräger laufst? Hinter der Lotte her bist? Es ist wahr!
Es wird sich hübsch machen, wenn Du mit der Lotte zur Trauung gehn
wirst.«

»Sei still, Lene! Das geht Dich nichts an, solches Gerede leid' ich
nicht!«

Sie ließ sich nicht stören.

»Ja, und der besoffene Schräger wird als Schwiegervater hinterher
geh'n.«

»Lene, ich werf' Dich raus!«

»Erst red' ich! Es wird hübsch sein, wenn Ihr bei Vaters Grab
vorbeigehn werdet, den die Bande auf 'm Gewissen hat, und -- und der
Mathias wird auch zusehn müssen, den sie ins Gefängnis gebracht haben.
Sehr hübsch wird's sein! Du bist ein Staatskerl, Heinrich!«

»Hör' auf, Lene! Du machst mich verrückt!«

Er setzte sich auf einen Stuhl. Sie sagte nichts, lehnte sich an die
Wand und sah ihn streng, ja haßerfüllt an. Ihn aber hatte sie mit dem
einzigen Hinweis auf den Vater geschlagen. Da begann er endlich: »Es
ist nichts erwiesen!«

»Daß der Vater tot is, das is erwiesen!«

Darauf wußte er nichts zu entgegnen. Endlich sagte er: »Der Vater ist
verunglückt.«

»Nein!«

Dieses »Nein« klang furchtbar in der Stille der Nacht. Heinrich traf es
wie ein Schlag, und er fröstelte in sich zusammen. Er hatte nie dieser
schrecklichen Frage gegenüberstehen können, ohne eine versöhnliche
Antwort mit aller Macht zu erzwingen. Dieses herbe Mädchen gab die
Antwort. Er sah sie scheu an.

»Wie kannst Du -- wie kannst Du das nur sagen, Lene? Vom Vater?«

Auf einen Augenblick kämpfte sie mit Tränen. Dann kam der Groll wieder
über sie.

»Vaters Tod ist ganz klar. Und der Schräger hat's gewollt. Der hat
unseren Vater ums Geld gebracht, dann hat er falsch geschworen, und
zuletzt hat er das Geld gekündigt. Da wußt' sich der Vater keinen Rat
mehr. Und jetzt -- jetzt laufst Du hin -- der einzige Sohn --«

Es war aus mit ihrer Fassung. Sie sank auf einen Stuhl, bedeckte das
Gesicht mit beiden Händen und fing leidenschaftlich an zu weinen.

Er saß ihr in zusammengesunkener Stellung und mit unbewegtem Gesicht
gegenüber. Endlich sagte er tonlos: »Hör' auf zu weinen, Lene. Es ist
ja nichts geschehen. Ich will nicht leugnen, daß ich der Lotte gut bin
-- lange schon, länger, als ich's selber weiß, aber das -- das wird
sich ja überwinden lassen -- weil es muß -- weil es muß --«

Er stand auf und wandte sich ab. Da war sie plötzlich hinter ihm,
umschlang seinen Hals und küßte heiß seine Wange.

»Heinrich, weißte denn gar nichts -- gar nichts von der Liese?«

»Wie? Was? Was soll ich von der Liese wissen?«

»Daß sie Dir -- daß sie Dir so unendlich gut is, Heinrich!«

Er fuhr herum. »Mir? Die Liese? Mir gut? Lene!«

»Und der Mathias hat immer drauf gehofft.«

Er sah sie erstaunt an. Eine grelle, wehe Erkenntnis kam ihm. »O Lene,
das -- das hätt' ich nicht gedacht!«

Schwer setzte er sich wieder auf den Stuhl.

Sie legte den Arm auf seine Schulter.

»Du mußt nicht denken, Heinrich, daß der Mathias alles bloß deswegen
gemacht hat. Das wär' schlecht, so was von ihm zu denken. Aber ich
weiß, daß a drauf gehofft hat. Und nu -- Heinrich, es hat mir das Herz
umgedreht, wie a heute rumgegangen is, so weiß im Gesichte, und a
wollt' nichts zeigen, und a wollt' immer mit der Liese lustig sein --
das war zum Erbarmen --«

Er starrte sie an, schüttelte sich und schloß die Augen.

»Lene, das -- das könnt Ihr nicht von mir verlangen.«

Sie sah wehmütig vor sich hin.

»Das verlangen wir ja nicht, aber das andere, Heinrich, das darfste uns
nich antun.«

Es entstand eine lange Pause.

Draußen sang immer noch der kleine Vogel sein süßes Lied. Und über der
Straße schimmerte das warme Licht.

Das Mädchen war verändert. Mit scheuer Zärtlichkeit ergriff sie die
Hand des Bruders.

»Heinrich, fällt Dir's so schwer?«

Er antwortete heiser:

»Ich weiß es erst jetzt -- jetzt, da ich sie nicht haben darf, wie lieb
ich sie hab', wie unsinnig lieb!«

Und nach einer Weile schluchzte er auf:

»Lene, wir haben ein schreckliches Leben!«

Ihr Gesicht verzog sich.

»Ich weiß ja, ich bin häßlich zu Dir und zu allen Leuten, ich ärgere
Euch alle -- alle, aber ich kann nicht dafür.«

Er antwortete nicht.

»Aber ich mein's auch gut, bloß ich kann's nicht so zeigen, ich bin ein
so schrecklich grobes, dummes Ding. Und mich kann niemand leiden!«

Sie fing wieder leidenschaftlich an zu weinen. Trotz seines eigenen
Leides fühlte er, daß auch die Schwester einsam und glücklos sei.

»Lene,« sagte er, »wir wollen versuchen, daß wir uns jetzt besser
vertragen. Ich weiß schon, was ich Euch schuldig bin. Ich werd' mir
Mühe geben, Lene, in jeder Weise Mühe geben!«

       *       *       *       *       *

Und drüben über der Straße?

Die alte Stenzeln war eingeschlafen bei der Krankenwache. Jetzt
schreckte sie empor.

»Ach Gott, ich bin wohl -- ich bin wohl eingeschlafen? Fehlt was,
Lotte?«

Das schöne Mädchen schüttelte den Kopf.

»Ich bin ganz zufrieden.«

Auch sie hörte den kleinen Vogel, der draußen sang. Und auch sie dachte
daran, wie sie mit Heinrich durch den Wald gefahren war. Wie sie da
beide so still und glückselig waren. Die Maiglöckchen, die er ihr
gepflückt, standen in einer kleinen Vase am Bette. Sie waren ihr teuer.
Und sie freute sich, daß sie bei dem Sturze vom Wagen nur ihre goldene
Brosche verloren hatte, nicht diese drei Blumenstengel.

»Wie kam es denn, Stenzeln, daß Herr Raschdorf nach dem Arzte gefahren
ist und nicht jemand von uns?«

»I du meine Güte, das hätt' lange gedauert! Na, Du weißt ja, Lotte!
Aber der junge Herr drüben is gefahren wie a Toller.«

Lotte lächelte.

»Weiß er schon, daß ich den Fuß gebrochen habe?«

»Freilich, freilich! A hat ja unten im Hause gewartet, bis ich ihm
alles gesagt hab'. Na, und a läßt Dich schön grüßen, und es tät ihm
schrecklich leid!«

Lotte lächelte wieder.

»Ja, Stenzeln, das glaub' ich, daß es ihm leid tut; er ist ein sehr
guter Mensch.«

Die Stenzeln nickte und dröselte ein Weilchen für sich hin. Dann
hustete sie und sagte: »Na, eigentlich soll ich's ja nich sagen, aber
Du wirst ja nischt verraten -- da sieh mal!«

Sie zeigte ein Fünfmarkstück und mäßigte ihre Stimme zu einem Flüstern:
»Das hat a mir geschenkt, der junge Raschdorf, und ich soll Dich nur
gut pflegen, hat a gesagt --«

Eine tiefe Röte zog über das Gesicht der Kranken, und ein glückliches
Leuchten brach aus ihren Augen.

»Ja, und jeden Abend um neune will a mich unten an der Haustür fragen
kommen, wie's Dir geht.«

»Hat er das gesagt?«

»Freilich hat a! A hat 'ne schreckliche Bangigkeet um Dich.«

Die Stenzeln seufzte.

»Schade is! Schade, daß a nu grade der Raschdorf is. Sonst is a
wirklich a sehr schmucker Mensch.«

Lotte antwortete nicht; nur die Hand irrte auf dem Deckbett hin und
her, und auf ihren Wangen brannte die Röte.

»Ja, und gewundert hab' ich mich, daß Dein Vater weiter nischt gesagt
hat. Na, aber bei dem kommt's vielleichte noch. O, das wird a Aufsehen
sein im Dorfe! Da werden sie ja wieder was zusammenquatschen. Is doch
aber nischt dabei. Denn an was anderes is ja hier gar nich zu denken.«

Lotte lag ganz still. Ihre Augen wurden ernst und traurig.

»An etwas anderes ist ja hier gar nicht zu denken!«

Eine heiße, qualvolle Unruhe kam, die mehr weh tat als die Schmerzen
des kranken Fußes.

Das junge Mädchen starrte vor sich hin. Da -- mitten durch ihr
Herzeleid schimmerte es immer wieder duftig und silbern --

Ein paar Blumen! Ein glänzendes Geldstück!

[Illustration]



[Illustration: Kapitel 13]


Droben im Walde stand ein uraltes, verwittertes Heiligenbild. Es wußte
niemand, wer es da hingestellt, wußte niemand mehr, ob es aus Freud'
oder Leid geschehen, ob es ein Dank sein sollte oder eine Bitte, ob
eine fromme Seele es errichtet habe oder einer, dem eine Schuld im
Herzen schrie.

Es stand da die Jahrhunderte hindurch. Und der Frühling stellte seine
Blüten rund umher; die Sommersonne vergoldete den grauen Stein; an
seinem Fuße legten sich die Käfer schlafen zur Herbsteszeit ins grüne
Moos, und wenn die Weihnachtsglocken aus dem Tale klangen, flimmerten
Eis und Schnee um das alte Bild, wie auf dem Altar in der Kirche weiße
Decken und glänzende Steine. Manchmal zog ein einsamer Wanderer die
Mütze ab vor dem alten Bilde. Das ist kein Götzendienst, wenn ein
Mensch das Haupt entblößt an so ehrwürdigem Orte, wo so viel Leid und
Lust ausgerungen wurden, so viel Friede und Andacht, aber auch so viel
Kampf und Reue zu Hause waren seit langen Jahren.

An diesem Heiligenbilde kniete Liese Berger. Der Abend war nicht weit.
Da lag ein roter, verklärender Schein über ihr und dem grauen Stein.
Von fern sangen ein paar Vögel. Sonst war alles still. Und der Wald
blühte über ihr.

Ein langes, stummes Gebet lag in den Augen des Mädchens, ein Gebet voll
Qualen. Aber wie sie auf das Bild hinschaute, wurden ihre Augen stiller.

»Wenn es eine Sünde war, verzeih' es mir, heilige Mutter Gottes!«

Das Bild gab keine Antwort; aber in die Augen der Betenden kam
Friede. --

Es stand einer von fern. Er war der Liese heimlich nachgegangen.
Mathias, ihr Vater.

Er störte sie nicht -- o nein! Er wußte, was sie betete. Er wußte, daß
es ein Totengebet war für seine und ihre liebste Lebenshoffnung.

Jetzt erhob sie sich und sah ihn. Ein wenig erschrak sie, aber er ging
auf sie zu und nahm sie in seine Arme.

»Liese!«

Kein Wort redeten sie. Sie standen ganz still. Ein Vogel, der auf dem
Aste saß, hielt inne in seinem Liede, neigte das Köpflein zur Seite
und schaute die beiden verwundert an. Und als sie endlich fortgingen,
flog er hinüber zum Heiligenbild, wo sein Weiblein im Neste saß, und
erzählte ihr, daß es Menschen gäbe, die ganz still stehen und nicht
reden. Das Weiblein zwinkerte ihn verständnisvoll an und wies mit dem
Schnabel hinab auf das zerdrückte Gras vor dem Bilde.

Und dann sprachen sie von ihren eigenen Sorgen. --

Die beiden Menschen aber gingen schweigend den Bergpfad hinab. Nach
einer Weile blieb die Liese stehen.

»Vater, ich will ins Kloster gehen!«

Er erschrak wie vor einem Blitz.

»Mädel!«

Sie klammerte sich an seinen Arm.

»Es ist nicht -- es ist ja nicht erst seit gestern -- es ist viel
länger, ich hab's schon immer gedacht, schon als Schulkind -- aber
jetzt -- Vater, ich will gern ins Kloster!«

»Nein, Liese! Auf keinen Fall! Das geb' ich nicht zu!«

Sie senkte den Kopf. Er aber schlang erschüttert den Arm um ihre
Schulter.

»Deswegen nich, Liese! Meine Einzige! Nein, eher will ich --« Die
Sprache versagte ihm.

»Es ist ja nicht bloß deswegen, Vater!«

»Ja! Ich weiß schon! Ich weiß genau! Nein, Liese, das geb' ich nich zu.
Eher ziehn wir weit fort! Du bist mir die Nächste. Das kann nich sein!
Deswegen nich!«

Stumm ging die Liese neben dem Vater her.

»Meinst Du, daß ich's nicht mehr wert bin?«

»Nich wert? Du, mei' frommes, goldenes Kind, Du! Aber mei' Tochter, 's
kann ja alles noch gut werden. 's is ja doch nischt weiter passiert, es
kann ja alles noch werden.«

Sie sah ihm hell in die Augen und schüttelte den Kopf. Dabei sagte sie
ruhig: »Nein, es ist vorbei!«

»Es is nich vorbei! Wieso denn?«

»Wenn a mich auch noch wollte -- jetzt wollt' ich nich mehr!«

Er sah sie erschüttert an.

»Wir sind nich füreinander! Ich weiß jetzt. Es war unrecht von mir,
daran zu denken, und ich will schon lange ins Kloster.«

»Liese, ich geb's nich zu!«

»Warum nicht, Vater? Ich hab's da ganz gut. Ich geh Kranke pflegen,
das tue ich gern. Da kann ich was nützen. Und ich bin vielleicht ganz
glücklich. Und so -- wenn ich in der Welt bleib'?«

Er sagte nichts mehr. Die stillen Frauen tauchten vor seiner Seele
auf, die Siegerinnen, die in sich die Welt überwunden haben. Es liegt
alles hinter ihnen, was die Menschenkinder erregt: sie wollen kein
Geld, keinen Ruhm, kein Vergnügen, keine Bequemlichkeit, keine irdische
Liebe. Sie wollen nur das Gute. Vielleicht, daß eine hie und da mit
sich kämpft; die meisten haben Frieden. Und gegen den Frieden ist doch
alles andere armer Tand.

Und wenn die Liese in der Welt blieb ohne Beruf, ohne Liebe, ohne
Frieden?

Vielleicht, daß es ihr gut wäre im Kloster, vielleicht!

Aber er? -- Aber er! --

»Liese, wir wollen weder »ja« noch »nein« sagen; wir wollen abwarten,
noch lange abwarten.«

       *       *       *       *       *

Vom Dorfe herauf nach dem Buchenkretscham zu kamen der junge Riedel und
der Barbier.

»Wenn wir's ins Reine bringen, fünfzig Taler sind Deine,« sagte Riedel.

»So leicht wird's gar nich sein,« meinte der Barbier, »Du hast a alten
Schräger schon zu ofte geärgert. Und dann der Raschdorf!«

»Quatsch' nich, Mensch! Mehr wie fünfzig Taler gibt's nich! Das mit'm
Raschdorf is Mumpitz. Die Schräger Lotte und der Raschdorf! So was
gibt's nich. Da red' mir nischt vor.« -- -- --

Schräger war allein. Er war bereits wieder nicht mehr nüchtern. Die
beiden eintretenden Männer grüßten und bestellten sich etwas.

»Na, man hört ja schöne Dinge,« fing der Barbier an.

»Was, schöne Dinge?« fragte Schräger stupid.

»Nu, von der Lotte. Seit wann fährt'n die mit'm Raschdorf Heinrich
spazieren?«

»Ja, seit wann fährt'n die mit'm Raschdorf Heinrich spazieren?«
wiederholte Riedel spitzig.

»Weeß ich nich,« sagte Schräger pomadig und trank einen Schnaps.

»Weeß a nich,« sagten die anderen beiden gleichzeitig und sehr
betroffen.

»Ja, kümmerst Du Dich denn nich drum, Schräger, wenn Dei' Mädel zum
Spektakel mit 'm Raschdorf in der Welt rumfährt?«

»Nee,« sagte Schräger, »mir is alles ganz piepe. Ganz egal is mir
alles! Hol' alles der Teifel! Prost!«

»Der Kerl is besoffen,« sagte der Freiersmann leise.

»Sag' mal, Schräger, das kann Dir doch nich egal sein. Die Leute im
Dorfe reden ja riesig. Sie sagen, die Lotte hat mit 'm Heinrich a
Verhältnis.«

»Verhältnis? Weeß ich nich! Kann sein! Kann schon sein! Is mir alles
Wurst!«

Riedel und der Barbier sahen sich ratlos an.

»Nu, Schräger, Du bist wohl nich gescheit? Du wirst doch nich zugeben,
daß der Raschdorf mit der Lotte a Verhältnis hat? Du bist wohl
verrückt?«

»Nee, ich bin gar nich verrückt! 's is ganz gutt so. Kommt alles
zusammen, alles zusammen. Is alles gutt! Freut mich! Freut mich
wirklich!«

Er rieb sich die Hände.

»A is wirklich verrückt geworden,« sagte Riedel.

»Ich werd' Dir was sagen, Schräger,« fing der Barbier in scharfem
Tonfall an. »Du bist a Schafskopp! Der Raschdorf denkt gar nich an
die Lotte, der hat 'ne ganz andere. Und Du kannst Dir mit solchem
blödsinnigen Getue bloß Läuse n a Pelz setzen. Wenn das rauskommt, daß
Du uff a Raschdorf spekulierst, da --«

»Was da?«

»Na so und so --«

»Was so und so?«

Der Wirt wurde etwas nüchterner.

»Na, ich will ja nich zuviel sagen; aber das weißte vielleicht, daß der
Mathias gesagt hat, Du spekulierst drauf, daß die Güter zusammenkommen,
und hättest deswegen a alten Raschdorf so reingebracht.«

Schräger fuhr wütend auf.

»Der Teifel hol' a Mathias; ich spekulier' nich! Hab' ich nie gemacht!
Das is Schwindel!«

»Ja, aber die Leute werden's sagen; sie werden jetzt 'm Mathias recht
geben --«

»Wer? Wer? Ich verklag' 'n!«

»Kannste nich! Und dann, wenn wirklich was draus würde, da tränk' keen
Mensch mehr bei Dir für fünf Pfennige Schnaps. Mit a Buchenhofleuten
will niemand was zu tun haben.«

Der Wirt glotzte die beiden an. Er wollte etwas sagen, schimpfen,
abstreiten, aber schließlich wandte er sich ab und trat ans Fenster.

Heute früh, als er ausgeschlafen hatte und sich der Vorkommnisse vom
vorhergehenden Tage bei nüchternem Geiste erinnerte, war er zuerst in
Wut geraten und hatte großen Spektakel schlagen wollen. Aber dann, als
er sich alles genauer ausmalte und auch unterdes wieder viel Schnaps
getrunken hatte, war ihm urplötzlich seine alte, längst aufgegebene
Lieblingsidee wieder eingefallen: die beiden Buchenhöfe miteinander
zu vereinigen. Es war seit Jahren der erste Gedanke gewesen, der
ihn aus seiner Säuferlethargie aufrüttelte und etwas wie eine frohe
Begeisterung über ihn brachte.

Zwar die Sache schien auch ihm wahnwitzig, er wußte ja auch nichts
Bestimmtes, nur den kurzen Bericht der alten Stenzeln, und so beschloß
er, der Sache freien Lauf zu lassen. Jetzt kamen diese beiden und
verdarben ihm den Plan. Er wandte sich um.

»Was habt Ihr eigentlich? Sie is a Stückel mit ihm gefahr'n. Weiter
nischt!«

»Ja, und a hat's Pferd nich gehalten, wie sie abstieg. A feiner
Kutscher is a, das wissen wir alle. Aber wie a sie heimgebracht hat,
wie a sie um a Hals gehabt hat --«

»Schwindel! Halt's Maul!«

»Wir wissen's! Und alle Leute wissen's!«

Der junge Riedel sprang auf.

»Herr Schräger, es -- es muß raus! Ich bin der Lotte gutt, sie gefällt
mir, wenn sie auch das Arbeiten nich gelernt hat, und ich wollte heute
-- heute anfragen, wie's denn wär', wenn wir a Kram zusammenschmissen;
aber wenn die Leute so reden, und wenn Sie nischt dagegen haben, und
wenn so 'ne Wirtschaft hier is, da -- da könnt's sein, ich besänn' mich
noch anders.«

Schräger wurde krebsrot.

»Riedel! Pauerjunge! Denkste, das laß ich mir gefall'n? Das soll wohl
'ne Brautwerbung sein? Besänn a sich noch anders, der Schafkopp! Hab'
ich dazu gespart und gearbeit't und die Lotte so viel lern'n lassen,
daß mir so a Lausejunge so kommt? Mir, 'm Vater? Raus!«

»Menschenkinder, vertragt Euch, vertragt Euch!« beschwor der Barbier.

»Raus!« brüllte Schräger.

Der junge Riedel kochte vor Wut.

»Behalt' sie!« schrie er. »Behalt' sie! Pack schlägt sich, Pack
verträgt sich.« Damit war er hinaus. Der Begleiter folgte ihm.

Schräger war wieder allein. Ein paarmal ging er durch die Stube
und sprach vor sich hin. Dann sank er auf einen Stuhl. Er wollte
nachdenken. Es ging aber nicht. So holte er sich Schnaps und trank.

Allmählich flaute seine Erregung ab.

Eigentlich war's dumm, daß er den Riedel hinausgeworfen hatte. Der
Riedel hatte Geld.

Aber Raschdorf hatte mehr. Viel mehr! Und die Ziegelei! Und die Höfe
kamen zusammen!

Die Höfe! -- -- -- Wenn er nur nicht Raschdorf hieß!

Ein Frösteln kam den Säufer an.

Der Sohn von dem anderen!

Manchmal kam er ja noch -- der andere -- in der Nacht, manchmal, wenn
Schräger zu wenig getrunken hatte, oder wenn er krank war und nicht
schlafen konnte.

Der Sohn! War das möglich? Würd's da besser mit ihm werden oder
schlechter? Würde er sich mehr fürchten oder weniger? Damals, als der
junge Raschdorf zur Steuer gewesen war, hatte Schräger in der Nacht gut
geschlafen. -- --

Und auftrumpfen läßt er sich nicht! Und nichts auf die Lotte sagen,
nichts! Auch nicht auf den Jungen! Es sind die Kinder! Er hat's danach;
er braucht sich und den Kindern nichts sagen zu lassen! Wieder ringt
er nach einem klaren Gedanken, will einen bestimmten Vorsatz fassen.
Es ist nicht möglich, es bleibt alles verworren. Er trinkt, und dann
spricht er wieder mit sich selbst. Alles durcheinander. Manchmal gegen
den Riedel, manchmal gegen den Raschdorf. Zuletzt lallt er:

»Hol' der Teifel! Egal, ganz egal! Aber Geld muß sein! Geld!« Und er
greift nach der Rumflasche.

       *       *       *       *       *

Es war Abend. Droben im Krankenzimmer lag die Lotte mit roten Wangen.
Sie sah immer nach der Uhr und betrachtete mit qualvoller Ungeduld, wie
träge die Zeiger weiterrückten. Jetzt schlug die Uhr neunmal.

Die alte Stenzeln rührte sich nicht vom Platze und bastelte an ihrem
Strickstrumpf.

»Es ist neun, Stenzeln,« sagte die Lotte stockend.

»Ja, ja,« erwiderte die Alte, »die Zeit vergeht.«

Sie vergaß es. Wenn er jetzt kam und die Stenzeln nicht traf!

»Stenzeln. Es ist mir doch, als ob Ihr gestern gesagt hättet, um neun
wollte der Raschdorf Heinrich --«

»Jesses, das hätt' ich vergessen! Na, die Uhr geht ja a bissel zu
zeitig. Will ich doch gleich runter.« Sie ging.

»Stenzeln! Sagt ihm doch, ich -- ich ließ mich bedanken, daß er mich
heimgebracht hat, und daß er den Doktor geholt hat.«

»Werd's ausrichten!«

»Stenzeln! Fragt ihn doch auch, ob nicht seine Leute -- ob sie nicht
böse gewesen sind -- ja?«

»Was sollen sie böse sein? Aber ich werd's ausrichten.«

»Stenzeln! Und dann, ich laß ihn wieder schön grüßen. Das muß ich doch,
Stenzeln, nicht wahr?«

»Ja, freilich! Sonst noch was?«

»Nein! Geht nur schnell, daß Ihr ihn nicht verpasset.«

Die Stenzeln ging, und Lotte horchte hinab. Ihre Wangen brannten und
ihre Augen waren weit geöffnet. Langsam verrann die Zeit. Wenn sie
aufkönnte, ein einziges Mal ans Fenster könnte! Aber sie durfte sich ja
nicht rühren. Jetzt war eine ganze Viertelstunde vergangen. Wo nur die
Stenzeln blieb? Hatte er sich verspätet? Oder hatte er ihr so viel zu
sagen? So viel? -- --

Die Stenzeln stand etwas abseits von der Haustür und hielt Umschau.
Es war niemand zu sehen. Das Tor und die Tür vom Buchenhof waren
geschlossen. Es war auch drüben in keiner Stube mehr Licht.

Wo blieb er? Der Stenzeln wurde die Zeit lang, und sie lief die Straße
ein bißchen auf und ab und guckte sich um. Da kam jemand. Es war der
Barbier.

»Ah -- Stenzeln! Ich denke, Sie haben Krankenwache? Da steht man doch
nicht auf der Straße und guckt sich um, als wenn wunder jemand kommen
sollte?«

»Das geht kein'n Menschen was an! Und auf Sie hab' ich nich gewart't.«

»Das glaub' ich. Nur nicht gleich so ruppig, Großmutter! Ich wunder
mich halt. Wie geht's der Lotte?«

»Schlecht!«

»Großmutter, Sie sind zwar 'ne stachelige Distel, aber wenn's Ihn'n
recht is, wart' ich a bissel mit hier.«

»Nö! Ich brauch' niemanden. Ich schnapp' bloß a bissel Luft. Gehn
Sie nur rein und löschen Sie Ihren Durst! Hier sein Sie a sehr
überflüssiges Möbel! Gehn Sie rein!«

»Denke ja nich dran! Ich bin neugierig, auf wen Sie warten. Woll'n Sie
etwa gar wieder heiraten und warten auf a Schatz?«

»Altes Schandmaul! Wissen Sie was? Jetzt geh' ich rein. Sie verderben
mir die Luft, Sie windige Seifenblase!«

»Nu, so 'ne alte Säge! Hör'n Sie mal, Großmutter, ich will Ihn'n noch
was sagen. Im Dorfe wird riesig gered't über a jungen Raschdorf und die
Lotte --«

»Mögen sie reden! Der Schlimmste is jetzt nich dabei. 's böseste Maul
is jetzt nich im Dorfe.«

»Hör'n Sie mal, Großmutter, warten Sie doch noch 'n Schlag! Es tut mir
leid um die Lotte, denn der Raschdorf bringt sie bloß ins Gerede, na,
und a is doch so gutt wie verheirat't mit der Liese.«

»Mit wem?«

»Nu, mit der Berger Liese. Na, Stenzeln, wissen Sie das nich?«

»Sie sind wohl beduselt?«

»Nu, was is da so zu wundern? Denken Sie, der alte Mathias hat was
umsonste gemacht? Der hat nich schlecht spekuliert. Na, und der
Heinrich, der kann ja gar nich anders, den hält doch der Mathias feste.
Großmutter, na, warten Sie doch -- -- Fort is se, die alte Schwarte!«

       *       *       *       *       *

»Nun, Stenzeln, Sie waren so lange?«

»Ja! A is nich gekommen.«

»Nicht gekommen? Ist das möglich?«

»A war nich da! Vielleicht hat a's vergessen.«

»Vergessen?«

»Lotte, 's beste is, ich geh nich mehr runter. 's hat ja kein'n Zweck.
's kann mich auch jemand erwischen. Heute hat mich schon der Bader
gesehn. Der hat gesagt, die Leute reden über Dich und über a Raschdorf
Heinrich, und der wär' doch so gut wie verheirat't mit der Liese.«

»Was? -- -- Mit wem? -- -- Stenzeln! Ooh!«

»Was is denn, Lotte, was schreiste denn?«

»Ach, mein Fuß -- mein Fuß tut mir weh!«

»Der Fuß? Aber a liegt richtig! Na, 's beste wär' schon gewesen, Du
hätt'st a Heinrich nich getroffen. Das tut amal nischt Guttes. Na, und
da hat ja der Barbier recht, 'm Berger Mathias is es der Raschdorf
schuldig, denn dem verdankt a ja alles.«

»Ja! -- Ja, Stenzeln! -- Es ist genug! -- -- Ich will schlafen! Seid
jetzt ganz stille -- ich bin so sehr müde!«

[Illustration]



[Illustration: Kapitel 14]


Drüben im Buchenhofe hatte Heinrich Raschdorf die Stenzeln wohl
gesehen. Am Fenster hatte er gestanden, oben in seinem Zimmer. Als wenn
er das Fieber hatte, so hatte es ihn geschüttelt. Ein paarmal war er
nach der Tür gegangen, aber immer wieder umgekehrt; ein paarmal hatte
er die Hand am Fensterwirbel gehabt, aber doch nicht geöffnet.

Dann, als sie fort war, hatte er sich auf sein Sofa geworfen. Er war
tief unglücklich. Eine schwere Verachtung gegen sich selber bäumte sich
in seinem Herzen auf. Er war kein Mann, kein Charakter, er hatte keinen
Willen. Warum ging er nicht? Warum fragte er nicht die Stenzeln? Warum
hielt er sein Versprechen nicht?

Warum? Er durfte nicht; es ging gegen sein Gewissen. Er mußte diese
Liebe ausrotten mit Stumpf und Stiel; er durfte ihr nicht die mindeste
Nahrung geben.

Denn es war unmöglich! Ganz unmöglich!

Die Heimat, die er noch gehabt hatte, würde er verlieren, die wenigen
Menschen, die treu und ehrlich zu ihm hielten, würde er sich
entfremden, und er würde auch ihnen die Heimat nehmen.

So mußte er sich opfern, sich und -- sie.

Sie? Nein, sie nicht! Sie wußte nichts von Liebe. Wenn ihr Fuß geheilt
war, war sie wieder ganz gesund.

Aber unglücklich war sie auch, das hatte sie gesagt.

Der junge Buchenbauer verbrachte eine Nacht voller Kämpfe.

Er wollte sich rasch und stark durchringen zur Gerechtigkeit und zum
Frieden. Der junge, weiche Mann! Er wußte nicht, was solche Kämpfe
bedeuten, die Kämpfe, die alle Menschen mit klugem Kopf oder mit
weichem Herzen zu bestehen haben, und bei denen der Sieg gar nicht
kommt oder oft spät, wenn schon viele Wunden geschlagen sind.

Zum Frühstück brachte ihm die Liese den Kaffee. Sie war ein wenig
blässer als sonst, aber ihr Gesicht war freundlich wie immer.

Ehe sie hinausging, sagte sie:

»Wie ich vorhin aus der Kirche kam, hab' ich die Stenzeln getroffen.
Sie läßt sagen, gestern wär' es sehr gut mit der Lotte gegangen, aber
in der Nacht hätte sie Fieber gehabt.«

Der Buchenbauer wurde rot.

»Ja -- ja -- ich danke, Liese -- es ist mir ja ganz lieb, daß ich --
daß ich etwas höre!«

»Ja, und dann läßt die Stenzeln noch sagen, sie will nicht mehr
herunterkommen abends um neun, weil Du gestern nicht gekommen wärst,
und weil es Aufsehen machen könnte.«

Heinrich starrte das Mädchen an und war nicht fähig, ein Wort zu
sprechen.

»Willst Du noch mehr Brot haben, Heinrich?«

»Liese!«

Er sprang auf und ergriff ihre Hand. Das Mädchen erschrak und wich
zurück.

»Liese! Du bist so engelsgut, und ich bin ein unglücklicher, schlechter
Mensch!«

»Was ist mit Dir, Heinrich? Du bist doch nicht schlecht! Was hast Du?«

Er ließ ihre Hand frei.

»Ich weiß, ich bin undankbar, sprich nicht, ich weiß; Ihr tut mir alle
Gutes, und ich --«

»Du tust uns allen auch Gutes, Heinrich!«

Sie war sehr rot und sehr verwirrt und ging schnell hinaus.

Er sah ihr nach. In diesem Augenblick wohnte ein hohes Gefühl für sie
in seiner Brust. Er wäre imstande gewesen, alles für sie zu opfern, was
er besaß. Maßlose Dankbarkeit erfüllte ihn, auch tiefes Mitleid.

Sie brachte ihm Nachricht von der anderen. Wie uneigennützig war dieses
Wesen! Er dachte nur an sich, immer an sich.

Es mußte anders werden. Freundlich wollte er sein zu allen, er wollte
sich selbst überwinden.

Was nur die Lene sagen würde, wenn sie erführe, daß er die Stenzeln
bestellt habe? -- Sie sagte nichts, als sie ihn traf. Die Liese hatte
nichts verraten. Und da war er wieder dem blassen Mädel dankbar.

       *       *       *       *       *

Mathias Berger ging einsam aufs Feld hinaus. Sehr langsam ging er. Es
war, als ob etwas in ihm erstorben wäre. Eine alte, längstvergangene
Zeit fiel ihm ein, da er als junger Bergmann tief unter der Erde war
und mit tausend Qualen an seine verlorene Liebe dachte.

Ganz ähnlich war ihm jetzt wieder zumute. Im Grunde genommen ist
verlorene Liebe ja doch immer verlorener Glaube.

Wo war für ihn noch eine Aussicht?

Doch nicht an sich dachte er nur. Heute oder morgen konnte er sein
müdes Haupt zur Ruhe legen. Aber das Leben der anderen war lang ...

Ein Mann sprach ihn an -- der Barbier.

»Mathias,« sagte er scheinheilig, »ich weiß nich, ob Du mit mir reden
magst. Getan hab' ich Dir ja eigentlich nischt, na, aber Du weißt ja --«

»Was willst Du von mir?«

»Mathias, es läßt sich eigentlich schwer sagen. Sieh mal, Du weißt ja,
daß ich damals zum Schräger gehalten hab' --«

»Ja, das weiß ich!«

»Natürlich haste mir das übelgenommen. Aber ich hab' halt wirklich
gedacht, der Schräger is ganz und gar unschuldig, und es tät ihm
unrecht geschehn.«

Er machte eine Pause und sah lauernd auf seinen Begleiter. Aber der
sagte kein Wort.

»Ja, aber jetzt --«

Mathias konnte doch nicht verhindern, daß er aufsah.

Der Barbier mäßigte seine Stimme.

»Behaupten will ich ja nichts, man muß ja sehr vorsichtig sein, aber es
bleibt ja wohl unter uns.«

»Barbier, 's beste is, Du behältst Deine Geheimnisse für Dich. Ich will
sie nich wissen.«

Die schroffe Abweisung verschlug dem andern nichts.

»Geheimnisse sind's ja eigentlich nich. Aber das möcht' ich im
Vertrauen sagen: ich halt auf a Schräger nich mehr so große Stücke; ich
glaub' nich mehr alles. Na, glauben kann man ja, was man will -- was?«

Dem schlichten, ehrlichen Manne waren die versteckten Andeutungen
zuwider.

»Sag' nur, was Du von mir willst; was Du mit 'm Schräger hast, is mir
egal.«

»Na ja, ich hab' nischt mit ihm. Aber das will ich Dir sagen, der
Schräger spekuliert wieder, daß die Höfe zusammenkommen sollen --«

»Was? Wieso?«

Der Barbier war froh, nun endlich doch das Interesse seines Begleiters
geweckt zu haben. Deswegen sagte er eifrig: »Na, Mathias, mir is immer
gewesen, als hätt' ich was mit Dir wieder gutt zu machen. Früher haste
gesagt, der Schräger will die beiden Höfe haben; da biste bestraft
worden, und die Leute haben sich gefreut, na, und ich: gefreut hab' ich
mich ja nicht, aber ich hab' doch gedacht, der Schräger hätte recht --«

»Wozu die alten Geschichten?«

»Na, ich will Dir's sagen: Gestern hat der Schräger im öffentlichen
Gasthause gesagt, daß a die Höfe zusammenbringen will.«

Berger blieb stehen.

»Wie kann a das sagen? Der Buchenhof ist in fester Hand.«

Der Barbier lachte vertraulich.

»Das sag' ich eben auch. Der Buchenhof ist in festen Händen, in guten
Händen, und wie lange wird's dauern, da heirat't der Raschdorf Heinrich
Deine Tochter und da --«

»Barbier, das verbitt' ich mir! Das geht keinen Menschen was an! Das
will ich nich hören! Verstehst Du?«

Dem alten Manne zitterte die Stimme. Der andere blieb geschmeidig.

»Ja, nimm's nur nich übel, angehen tut's mich ja nischt, das is wahr,
und ich red' ja kein Wert darüber, wahrhaftig nich 'n Wort, aber 's is
ja selbstverständlich --«

»Was selbstverständlich? Wer sagt das? Wer kann das sagen?«

»Nu ja, die Leute sagen's, Du hast so viel für a Heinrich getan, und 's
is vernünftig.«

»Die Leute! Die Leute geht nischt von uns an -- nischt! Jetzt sag'
mir endlich, was das alles zu bedeuten hat, und was Du eigentlich
bezweckst?«

»Na, also sag' ich's halt gerade raus: Der Schräger hat sich gestern im
offnen Lokale gerühmt, daß der Heinrich um seine Lotte geht.«

Berger schrak doch ein wenig zusammen.

»Gerühmt? Wieso gerühmt? Das würd' doch der Schräger gar nich zugeben!«

»Zugeben? Na, täusch' Dich nich, Mathias! Wenn der Schräger Geld
spürt, da is a zu allem fähig. Und a hat's ja öffentlich gesagt.
A hat gesagt, dem Lumpenmannmädel würd' a den Goldfisch schon noch
wegschnappen.«

Berger verlor die Fassung.

»Barbier -- das -- das -- meine Tochter will den Heinrich gar nich --
verstehst Du -- mag ihn gar nich -- sag' das den Leuten! Und jetzt geh'
Deiner Wege! Wie kommst Du überhaupt dazu, Deinen Freund bei mir zu
verraten? Ich will nischt mehr wissen -- nischt!«

Er bog in einen Seitenweg ein, und der Barbier sah ihm nach.

»Der hat sein'n Hieb weg,« dachte er, »der wird jetzt schnell zulangen.
Wär' der Geier, wenn wir den Raschdorf nich wegkriegten. Der könnte
mir gerade passen im Kretscham. Und dann -- die fünfzig Taler vom
Riedel-Bauer!«

       *       *       *       *       *

Die Straße entlang zogen singende, junge Männer. Sie waren in der Stadt
zur Aushebung gewesen. Das ist ein Wendepunkt in dem Leben dieser
Leute. Zum Militär kommen oder nicht, das bedeutet viel.

Da taten diese Leute, was unser guter, deutscher Stammesgenosse immer
tut, wenn ihm etwas Außergewöhnliches passiert -- sie tranken. Ob aus
Schmerz oder Freude, das bleibt sich für den Durst gleich. Es wird
getrunken, und je wichtiger das Ereignis ist, desto mehr wird getrunken.

Das ist nun schon ein schnurriger Kerl, der Herr Alkohol. Er ist
überall auf der Welt ein bißchen zu Hause, betrügt im schönen
Türkenlande den Mohammed und ist die einzige Person in der
Grönländerhütte, für die etwas Erkleckliches ausgegeben wird; er
schwimmt auf allen Meeren, kraxelt auf alle Berge und marschiert auf
allen Straßen.

Gar im lieben Deutschland hat er Ehrenbürgerrechte, denn er zahlt
die meiste Steuer, ist populär beim Volke und ~persona gratissima~
bei Edeln und Fürsten. Da macht er sich breit bei Kindtaufen und
Leichenschmaus, sitzt zwischen Bräutigam und Braut, wetzt dem einen das
Rowdymesser und fungiert bei zwei anderen, die Brüderschaft trinken,
als gemütlicher Ehrenzeuge.

Und den jungen Rekruten, die der König warb, kommandiert er auf dem
Heimwege noch lange, ehe sie vereidet und eingekleidet sind, wie ein
recht launiger Unteroffizier, bald »Rechts schwenkt«, bald »Links
schwenkt«, bald »Beine hebt«, bald »Arme streckt« und manchmal auch
»Knie beugt« oder »Legt Euch nieder«. --

Einer ging abseits -- Hannes. Er hatte sich nicht betrunken und auch
keine bunten Papierbänder an den Hut geheftet wie die anderen. Und doch
hätte er nach landesüblichem Begriff das Recht dazu gehabt, denn er war
»ausgezeichnet« worden.

Mit sehr gemischten Gefühlen schritt Hannes seines Weges. Daß er
fortkam in die Stadt, fort aus der Einsamkeit, und eine bunte Uniform
mit glänzenden Knöpfen tragen sollte, freute ihn. Eine Fülle von
Vorstellungen, Plänen und Hoffnungen schwirrte durch seinen Kopf. Und
doch war auch eine große Bangigkeit in ihm.

Da traf er die Lene, die den Leuten das Vesperbrot aufs Feld getragen
hatte. Er erzählte ihr, daß er nun »ausgehoben« sei und zum Herbst
fortkäme.

Das Mädchen wurde um einen leichten Schein blasser, als sie das hörte.

»Da freuste Dich wohl, daß Du endlich amal fortkommst?«

»Och ja! Ich freu' mich schon, Lene! 's soll ja sehr hübsch sein bei a
Soldaten!«

Sie antwortete nicht und schritt schnell weiter.

Nach einer Weile sagte er: »Eigentlich freu' ich mich gar nich, Lene.«

Sie antwortete etwas hastig und stoßweise: »Warum nich? Du kommst fort
zu Leuten; Du siehst und hörst was, und Sonntags kannst Du tanzen gehn
mit a Stadtmädeln. Das wird Dir schon gefall'n.«

Er sprang vom hohen Wegrande herab und faßte sie erregt am Arme: »Nein,
Lene, nein! Ich tanz' nich mit a Stadtmädeln, mit keiner einzigen tanz'
ich, ich bin bloß Dir gutt, bloß Dir!«

»Nu, Hannes! Was fällt Dir denn ein?«

»Ich muß Dir's sagen, Lene, eh' ich fortkomm'! Sonst halt ich's nich
aus; sonst lauf' ich fort am ersten Tage. Ich bin Dir so sehr gutt, und
wenn Du mir nich wieder gutt bist, da wär's besser, ich wär' tot. Und
du mußt mich heiraten, Du mußt, Lene!«

Sie sah ihn an und brach in ein schallendes Lachen aus.

»Lene, lach' nich! Lach' nich, Lene! Es is mei Ernst! Hör' auf zu
lachen! Du machst mich verrückt!«

Aber sie lachte immer weiter.

»Warum lachst Du mich denn aus? Weil ich der arme Schafferjunge bin,
und Du die Raschdorf Lene? Deswegen?«

Da wurde sie ernster.

»Na, deswegen grade nich! Aber daß Du Dir einbild'st, Du bist mir gutt,
das is lustig. Da muß ich schon lachen. Mir is niemand gutt. Das weiß
ich! Und Du zuallerletzt, denn Dich hab' ich am allermeisten geärgert.«

»Aber ich bin Dir gutt, Lene! Das muß ich doch besser wissen als Du.
Immer schon! Schon, wie wir noch in die Schule gingen --«

»Weil Du keine andere kennst! Wenn Du in der Stadt sein wirst, da wirst
Du schon eine andere finden.« Sie lachte wieder laut auf; dann fuhr sie
fort: »Du bist doch a komischer Kerl, Hannes! Also wirklich, heiraten
willste mich? Von was denn leben? Du hast nischt, ich hab' nischt! Und
Du weißt wohl gar nich, daß ich beim Heinrich bleiben muß?«

Er blieb stehen.

»Lene, wenn ich a reicher Pauersohn wär', tät'st Du mich da mögen?«

»O ja! Kann sein! Da hätten wir was zu leben! Denn das muß sein,
Hannes! Von nischt is nischt. Sieh mal, das is nich anders. Praktisch
muß man schon sein, und wir zwei so als Knechtsleute auf 'm Buchenhofe,
das tät mir nich passen.«

»Na, da -- da warte, bis Dich a Reicher nimmt!«

Ihr Gesicht wurde weicher und ihre Stimme leiser.

»Ich hab' nich gesagt, daß ich ein'n andern will. Da biste sicher! Denn
da hast Du das erste Anrecht auf mich, wo ihr uns so geholfen habt.«

Er lachte bitter.

»Geholfen! Wenn's darum wär'! Der Vater hat sein'n Lohn gekriegt und
ich mein'n. Ihr seid uns nischt schuldig.«

Damit wandte er sich ab. Ganz ernst sagte sie:

»Wenn Du's nich glaubst, tut mir's leid. Ich tät's schon, aber es geht
nich, und was nich geht, muß man sich aus 'm Sinn schlagen; sonst ist
man dumm!«

Sie wartete auf eine Antwort; aber er setzte sich auf den Feldrain und
sagte kein Wort.

»Hannes, wirste so im Zorne von mir fortgehn?«

»Ja!«

»Und da wirste mich für schlecht halten, Hannes?«

»Nein! Ich werd' bloß denken, daß ich Dir zu arm bin, und daß Du mich
nich leiden kannst, und daß es für mich besser gewesen wär', ich wär'
nie auf 'm Buchenhofe gewesen.«

Sie besann sich ein bißchen. Leise sagte sie:

»Hannes, wenn's ging, da tät ich Dich nehmen, wenn ich Dich auch nicht
leiden könnt'. So viel hab' ich schon Dankbarkeit in mir, wenn's auch
keiner glaubt. Aber 's geht nich, wir sind beide zu arm, und da hat's
keinen Zweck. Und daß Du sagst, es wär' besser für Dich gewesen, wenn
Du nie bei uns gewesen wärst, damit haste recht, denn bei uns is nischt
zu holen wie Arbeit und Kummer.«

Ein paar Sekunden blieb sie noch stehen und wartete.

»Kommste mit?«

»Nein!«

Da ging sie. Als sie weit genug fort war, warf sich der »lustige
Hannes« auf den blühenden Feldrain und weinte bitterlich.

Drüben auf der Straße sangen ein paar Burschen:

    »Als ich zur Fahne fortgemüßt,
    Hat sie so zärtlich mich geküßt,
    Mit Bändern meinen Hut geschmückt
    Und mich ans treue Herz gedrückt!«

Da blieb unten am Berge die Lene stehen, und auch sie horchte auf das
Lied. Dabei kam ihr Wasser in die Augen.

»Das haben sie davon, die Liese und der Hannes und auch der Schaffer
und der Mathias. Das haben sie für ihre Schinderei all die Zeit!
Undank! Undank! Der Heinrich will nich, und ich kann nich!«

[Illustration]



[Illustration: Kapitel 15]


Frühling und Sommer waren vergangen, der Herbst stand vor der Tür. Es
war eine arbeitsreiche Zeit gewesen. Die Buchenhofleute waren noch viel
stiller geworden als sonst, und sie gingen alle nebeneinander her wie
Fremde.

Die Liese war vom Buchenhof weggezogen und wohnte unten im Dorf bei
ihrer Tante. Und an einem trüben Herbsttag hatte auch Hannes Abschied
genommen. Mit seinem kleinen Handkoffer war er in die Wohnstube
getreten.

»Ich -- ich komme bloß noch Adieu sagen. Es is Zeit auf die Bahn.«

Heinrich reichte ihm mit Herzlichkeit die Hand.

»Leb' gesund, Hannes! Laß Dir's gut gehen bei den Soldaten! Und hab'
viel tausend Dank für alles!«

Hannes wandte sich ab.

»Ich -- ich dank' auch für alles!«

»Du wirst uns fehlen, Hannes. Mir am meisten! Aber wenn die zwei Jahre
um sind, kommst Du wieder zu uns.«

Hannes stand mit gesenktem Haupte da. Er sagte nicht ja noch nein. Er
wollte sich beherrschen, aber der Atem ging ihm schwer, und er zitterte
leise.

»Wenn Dir was fehlt, schreibst Du! Du darfst keine Not leiden. Hörst
Du, Hannes?«

Der sagte kein Wort und stand nur mit bleichem Gesichte da und
zerdrückte den Hut zwischen seinen Fingern.

»Hast Du mir noch was zu sagen, Hannes?«

»Nein! -- Ich muß gehen! -- Es -- es ist Zeit. Adieu, Heinrich!«

»Lebe wohl, lieber Hannes!«

Er drehte sich um. Auf der Ofenbank saß die Lene und schälte Kartoffeln.

»Adieu, Lene!«

Das Mädchen wischte sich an der Schürze die Hand ab und reichte sie ihm
hin.

»Leb' gesund, Hannes!«

Sie schaute nicht auf. So ging er aus der Stube, und Heinrich
begleitete ihn bis in den Hof. Dort saß der alte Schaffer als Kutscher
auf dem kleinen Korbwagen und tat ganz gleichgültig, hatte aber doch
einen dunkelroten Kopf.

Bald darauf zogen die Pferde an. Ade, alte Heimat!

       *       *       *       *       *

Es war eine »Mission« im Dorfe abgehalten worden. Ein paar fremde,
tüchtige Geistliche hatten täglich mehrere Predigten abgehalten, und
die Leute waren scharenweise zur Kirche gegangen.

Ein alter Franziskanermönch hatte auch gesprochen über den »Beruf« und
also geschlossen:

»Gott hat einem jeden Menschen seinen Beruf ins Herz gelegt. Ihr aber,
wenn Ihr seine Stimme höret, verhärtet Eure Herzen nicht!«

Danach war es zwischen Liese und ihrem Vater zu einer letzten
Aussprache gekommen.

Mathias hatte unter allen in den letzten Monaten am meisten gelitten.
Ihm war die Veränderung wohl aufgefallen, die mit Heinrich vorgegangen
war. Er hatte gesehen, wie der junge Mann mit sich rang; wie er niemals
wieder das Haus Schrägers betrat und dafür immer die Gesellschaft der
Liese suchte. Er war so freundlich mit ihr in allen Dingen, und der
kluge Mathias wußte wohl, daß Heinrich einen Weg, eine Möglichkeit
suchte, daß er sich selbst bezwingen wollte, um schließlich, wenn er
ein wärmeres Gefühl für die Liese hätte, doch noch den Herzenswunsch
des Mathias zu erfüllen.

Und da hatte unverhofft eines Tages die Liese ihren Vater gebeten, daß
sie vom Buchenhof weggehen und zur Tante hinunterziehen dürfe ins Dorf.

Mathias wußte, was das bedeutete, und er hatte sich gefügt. Er konnte
dem stillen Mädchen nichts mehr versagen. Und ob das Kind all seine
irdische Liebe bekämpft hatte und nun täglich in der Kirche kniete --
die Frage quälte ihr zartes Gewissen: ob sie noch würdig sei, eine
Dienerin Gottes zu werden.

Da kam ein recht stiller, schwermütiger Abend. Draußen auf der Dorfaue
spielte der Wind mit welkem Laub, trug es hin durch den Staub der
Straße und senkte es drüben in den tiefen, schlummernden Teich.

Die Liese hatte lange hinausgesehen, auch nach den grauen Wolken, die
am Himmel hingen. Dann wandte sie sich langsam um.

»Vater, ich will heut' zur Beicht', ich will fragen.«

Mathias sagte nichts. Er hatte darauf gewartet.

Er wandte sich ab und hörte kaum, was ihm die Liese noch einmal sagte
von Beruf und Gnade, von Nächstenliebe und Herzensfrieden.

Zuletzt sagte er nur die Worte:

»Geh' in Gottes Namen!«

Dann ging er fort -- in den Herbst hinaus, über die kahlen Felder bis
in den gelben Wald. Aber wie er eine Weile gewandert war, faßte ihn
eine furchtbare Bangigkeit und eine zehrende Sehnsucht nach seinem
Kinde, und er kehrte um und ging dorthin, wo sie war.

Dunkel lag die Kirche. Das ewige Licht nur brannte rot und magisch vor
dem Altar; hie und da flammte ein Lichtlein in den Bänken der Beter,
und große Schatten huschten über die alten Bilder.

Mathias Berger kniete in eine Bank und durchlebte die schwersten
Minuten seines Lebens.

Im Winkel dahinten im Beichtstuhl, bei dem Franziskaner, war seine
Liese, und dort wurde entschieden über sie und über ihn.

Qualvoll langsam verging die Zeit. Sie war so lange, so lange!
Freilich, ihre Frage war schwer.

Jetzt kam sie.

Er wandte sich um -- sah sie an -- fragend -- bittend.

Sie lächelte leise und neigte bejahend das Haupt.

Dann kniete sie zu dem Bilde der schmerzhaften Madonna.

Mathias Berger legte das Gesicht auf seine Hände.

Und draußen klang die Abendglocke.

       *       *       *       *       *

In der großen Wohnstube des Buchenhofes brannte die Petroleumlampe.
Heinrich saß, wie fast immer an den Abenden, über einem Lehrbuch, und
Lene nähte. Sonst war niemand da.

Da trat Mathias Berger ein. Lene erhob sich:

»Ich bring' Dir gleich das Essen, Mathias.«

»Laß, Lene, laß! Ich will nich essen.«

Sie sah ihn betroffen an.

»Was ist mit Dir, Mathias? Bist Du krank? Du bist ja kreideweiß im
Gesichte.«

»Nein, ich bin nicht krank! Aber es -- es ist was passiert, und ich muß
mit Euch reden, mit Euch beiden.«

Die Geschwister schauten ihn fragend an. Mathias Berger setzte sich. Er
sah sie an mit seinen guten, treuen Augen, weh und schmerzlich. -- So
würgte er hervor:

»Denkt amal: Meine -- meine Liese geht ins Kloster!«

»Mathias!«

»Mathias!«

Sekundenlang war es still.

Mathias sprach weiter:

»Es geht ja schon lange drum, und ich hätt' auch schon was gesagt, aber
es hat sich heute erst richtig entschieden.«

»Mathias, das -- das ist ja nicht wahr, das kann ja nicht sein, das ist
ja Unsinn, was Du sprichst.«

»Es ist wahr, Lene, es ist wirklich wahr!«

Heinrich hatte bis jetzt wie versteinert dagestanden. Nun sprach er
gepreßt:

»Warum? Warum tut sie das?«

Mathias Berger schlug die Augen nieder.

»Sie sagt, sie hat Beruf dazu. Und das is ja wahr; sie war immer a
frommes, guttes Kind, gar nich so für schöne Kleider und Vergnügen, und
sie war auch immer gern bei Kranken, das is schon wahr!«

»Darum ist es?« fragte Heinrich. »Bloß einzig darum?«

Mathias antwortete nicht. Die Lene hatte die Schürze vor das Gesicht
gepreßt. Wieder blieb es eine Weile still. Da schaute das Mädchen
zornig und leidenschaftlich auf: »Nein, nich bloß deswegen! Sie is ihm
gutt gewest -- dem! Sie hat ihm alles zuliebe getan, immer freundlich,
immer so freundlich, aber der hat nischt von ihr wissen woll'n.
Tagelang, wochenlang hat a nich mit ihr gered't -- und da -- und da --«

Sie brach in einen Strom von Tränen aus. Und vor der leidenschaftlichen
Anklage verstummte der, den sie anging, und auch der andere, der kein
Wort der Entgegnung wußte.

Lene sprach weiter:

»Weißte, Mathias, was wir sind? Lumpe sind wir! Du -- Du hätt'st uns
damals sollen betteln gehen lassen -- rausschmeißen lassen -- verkommen
-- da -- da wär's für Dich viel besser gewest! Jetzt haste a Dank!«

»So -- so is das nich zu nehmen, Lene! Ihr seid immer freundlich und
dankbar zu mir gewest -- o ja! -- Du mußt 'm Heinrich nich solche
Vorwürfe machen; a kann doch nich dafür.«

»Wohl kann a dafür! A is a Mann! A kann durchsetzen, was a will! Und
a hätt' a schmuckes, braves Weib gehabt an der Liese. Nein, a wollte
nich! A gafft über die Gasse zu der Bande, auf die gezierte Gans.«

»Lene!«

Heinrich rief es, der bisher kein Wort zur Verteidigung gesagt hatte.

»Lene, das verbiet' ich Dir! Mir kannst Du antun, was Du willst, dem
Mädel nichts -- nichts! Ruhe biet' ich! Sie hat Dir nichts getan,
mir nichts getan, uns allen nichts getan! Verdreh' die Augen, wie Du
willst, vergreif' Dich meinetwegen an mir, wenn Du's wagst. Ich sag'
Dir's geradezu ins Gesicht, auch dem Mathias: Ich kann nicht dafür, ich
konnte die Liese nicht heiraten, weil wir beide unglücklich geworden
wären.«

»Mensch, wagst Du das wirklich jetzt zu sagen, jetzt? Nein! Weil Du an
der anderen hängst, an der -- an der --«

»Ja, ich hab' sie lieb! Sehr lieb! Ich fürcht' mich nicht, das auch zu
sagen. Ich hab' sie gern, und ich hab' genug gelernt, daß ich weiß, daß
sich so was nicht ändern läßt. Aber ich hab' mir Mühe gegeben; ich hab'
mit mir gekämpft, das weiß Gott! Es ist nicht gelungen.«

»Nich gelungen? Und das is alles? Und Du -- Du sagst wenigstens nich
jetzt -- jetzt in der letzten Stunde noch, eh' es zu spät is, daß Du
die Liese haben willst, daß Du sie dem Mathias erhalten willst?«

»Nein! Ich kann nicht! Was auch passiert -- ich kann es nicht!«

»Dann bist Du ein ganz ehrloser Kerl!«

Sie wandte sich nach der Tür, aber Mathias hielt sie zurück.

»Lene, geh nich fort! Bleib hier! Du tust ihm unrecht, Lene! Wenn a
auch wollte, es wär' zu spät. Die Liese will ihn nich mehr, schon lange
nich mehr, Lene!«

Das erbitterte Mädchen antwortete dem Mathias nicht, sondern wandte
sich wieder an Heinrich.

»A ehrloser Kerl! Ich sag's noch amal! Dem Manne, dem wir alles danken,
ohne den wir verhungert, verlaust, verlumpt wären, sein Kind nehmen und
dann sich großspurig hinstell'n und nischt anderes sagen, wie von der
andern reden, kein einziges guttes Wort -- pfui -- mir würd' der Bissen
Brot im Halse stecken bleiben, den ich hier noch äß'. Wir sind fertig
mitsammen, wir zwei, für immer fertig!«

»Lene, aber Lene, hör' doch --«

»Mathias, laß mich! Mir graut! Mir graut vor dem da! Ich komm morgen
noch amal zu Dir und der Liese runter in Euer Häusel, hier is Zeit, daß
ich fortkomme!«

»Lene, wart' doch --«

Sie war hinaus. Heinrich ging auf Mathias zu und streckte ihm beide
Hände hin.

»Mathias! Jetzt woll'n wir mitsammen reden, jetzt, da sie raus ist --
sie ist ja toll -- jetzt mußt Du mir sagen, Mathias, ob Du mich auch
für einen ehrlosen Kerl hältst.«

Mathias schüttelte den Kopf.

»Nein, Heinrich! Ich weiß, Du kannst nich dafür.«

Heinrich zitterte vor Erregung.

»Mathias, das schwör' ich Dir: Ich kann keinen Mann mehr achten und
keinem mehr dankbar sein als Dir, das ist ja selbstverständlich, und
ich hab' die Liese gern gehabt und eine Verehrung für sie gehabt, wie
gegen kein anderes Mädel -- aber, Mathias, zum Heiraten gehört doch die
richtige Liebe, und wenn ich -- wenn ich so -- nein, das ging nicht!
Mathias, das ist wahr, ich hab' Tag für Tag mir eingeredet, ich kann
die Liese heiraten, und manchmal da war mir's auch so, als ob es gehen
würde, aber dann -- wenn ich bloß die Lotte einmal zufällig von weitem
sah -- da -- da -- -- Mathias, es wär' ja gar nicht darum, ob ich
glücklich bin oder unglücklich; ich bin ja mein Leben lang wenig oder
gar nicht glücklich gewesen, aber konnt' ich denn Dich und die Liese so
betrügen, konnt' ich das? -- Und daß sie fortgehen würde ins Kloster,
das hab' ich ja nicht gewußt.«

Mathias Berger sah den aufs höchste erregten, jungen Mann ruhig an.

»Setz' Dich, Heinrich, setz' Dich zu mir! Wir wollen ruhig miteinander
reden. Es is gutt, daß Du so ganz offen zu mir bist, und ich will Dir
auch alles sagen. -- Ja, ich hab' darauf gehofft. Wie das so gekommen
ist, weiß ich nich. Ich hab' Dir schon gesagt, daß ich Deiner Mutter
gutt gewesen bin, als ich jung war. Ich war a armer Kerl und konnt'
sie nich haben. Ich weiß, Heinrich, was das heißt, ich weiß! Dann
hab' ich doch eine andere geheirat't. Sie hat nur noch a Jahr gelebt;
aber ich glaube, wir wär'n gutt zusammen ausgekommen. Wenn man jung
is, denkt man, 's geht ohne so eine große Liebe nich. Ach ja, es geht
doch, 's geht manchmal besser wie bei solchen Leuten, die vor der
Hochzeit ganz vernarrt ineinander sind. Daran dacht' ich, wie ich sah,
daß meine Liese an Dir hing, und daß Du so gar nischt davon wußtest
und nich daran dachtest. Ich hoffte immer, es kann werden, es kann
noch gutt werden. Nu is alles anders gekommen. Ich verhehl' Dir nich,
Heinrich, mir is heute zumute wie zum Sterben, weil's doch gerade meine
Allereinzige is.«

»Mathias! Mathias! Daß ich Dir das antun mußte, das ist schrecklich!
Das ist zum Verzweifeln!«

»Heinrich, flenne nich! Böse bin ich ja gar nich auf Dich. Ich kenn'
Dich schon. Das is halt gekommen, wie's kommen muß. Und sieh mal, die
Liese wird ja nich unglücklich. Die geht ins Kloster; sie is glücklich
darüber, das is ja mein Trost. Ich hab' immer die Mütze abgenommen,
wenn ich 'ne Krankenschwester traf. Und wenn ich mich erst werd' besser
reingefunden haben, da werd' ich ganz zufrieden sein. Bloß fürs erste
fällt's halt schwer.«

Heinrich sah seinen alten Freund plötzlich verängstigt an.

»Mathias! Du wirst doch aber auch bei mir bleiben?«

»Nein! Erschrick nich! 's beste is, wir sprechen heute gleich alles
aus.«

»Du willst fort? Fort von uns?«

»Ja, Heinrich! Reg' Dich nich so auf! Wir wollen ruhig reden. Sieh mal,
ich muß fort!«

»Das ist die Strafe? Das?«

»Aber doch keine Strafe, Heinrich! Wir gehn in Friede und Freundschaft
auseinander.«

Ein verzweiflungsvolles Lachen brach dem jungen Buchenbauer vom Munde.

»In Friede und Freundschaft! Und ich bleib' allein! Und hab' zuletzt
niemand mehr auf der ganzen Welt! Und verlier' meinen einzigen Freund!
In Friede und Freundschaft!«

Er sprang auf, trat ans Fenster und sah hinaus in die Nacht. Plötzlich
wandte er sich um. Mit bitterer Stimme sagte er:

»Deshalb hast Du uns aufgezogen, den Hof aufgebaut, alles in Ordnung
gebracht, daß Du jetzt fort willst, weil die eine Sache fehl ging? Und
Du sagst doch selbst, ich kann nicht dafür!«

»Ja, Heinrich! Sieh mal, Mensch is Mensch! Ich könnte hier nich mehr
sein. Ich würd' immer an die Liese denken müssen. Und dann, es is zu
einsam. Es is mir so schon manchmal schwer geworden. Jetzt hielt ich's
gar nich mehr aus. Glaub' mir's. Ich hab' darüber nachgedacht. Es geht
nich! Rein verdüstern tät' ich. Ich will wieder fort zu Leuten.«

»Doch nicht wieder --«

»Als Lumpenmann? Jawohl, Heinrich! Gerade das! Das hat mir damals auch
geholfen.«

»Das kannst Du nicht, Mathias? Was werden die Leute sagen?«

»Die Leute? Mögen sie sagen, was sie wollen. Das kümmert mich nischt.
Ich bin's gewöhnt.«

Heinrich eilte auf den alten Mann zu und faßte ihn an beiden Schultern:

»Mathias! Wenn Du mir das antust, ich weiß nicht, was ich anfange.
Mathias, kannst Du mir's nicht verzeihen im Herzen? Du sagst ja, Du
bist nicht böse auf mich; aber Du bleibst nicht bei mir, Du willst
fort, läßt mich allein, weißt, daß ich Dich brauch' wie das tägliche
Brot, nicht bloß in der Wirtschaft, nein, tausendmal mehr als Mensch
und als Freund, und Du willst fort! Besinn' Dich, Mathias, besinn' Dich
anders, und wenn ich ein grundschlechter Kerl wär' -- bleib' bei mir!«

Der Alte wandte den Kopf zur Seite.

»Bleib' da, Mathias! Ich bitt' Dich kniefällig!«

»Ich -- ich kann nich, Heinrich! Ich brächt's nich fertig. 's geht über
meine Kräfte. Und für Dich wär's auch nich gutt, wenn Du mich immer so
sähest, und dann, wenn Du die Lotte heirat'st, ging' ich doch.«

»Wer sagt denn, daß ich die Lotte heiraten will? Daß ich ihr gut bin,
das kann ich nicht ändern. Aber ich will sie doch nicht heiraten! Das
denkt doch bloß die Lene!«

»Es kommt, Heinrich, es kommt bestimmt! Aber es is besser, wir reden
lieber nich darüber. Für mich is heute schon a bissel viel gewest. Aber
das hatt' ich mir schon lange vorgenommen, Dir's bald zu sagen, wenn
sich's mit der Liese entschieden hätte, daß ich da fort will. Und daran
will ich auch nichts ändern. Das muß jetzt sein!«

Heinrich trat zurück und lehnte sich bleich an den Tisch.

»So geh! Geht alle! Laßt mich allein, wenn Ihr denkt, daß ich das
verdiene! -- So sind also auch wir beide mitsammen fertig.« --

Es entstand eine schwere Pause.

»Und Du willst nicht, daß wir weiter Freunde sind, Heinrich?«

»Nein! Wenn Du mir das antust, dann tust Du mir mehr an als mein
ärgster Feind!«

»So -- so leb' gesund, Heinrich!«

Heinrich antwortete ihm nicht.

Da verließ Mathias Berger den Buchenhof.

       *       *       *       *       *

Droben in ihrem Stübchen saß Lene Raschdorf und schrieb einen Brief.
Dieser lautete:

        Lieber Hannes!

    Die Liese geht zu den Grauen Schwestern. Der Mathias sagt, sie
    habe Beruf und gehe gern ins Kloster. Aber ich weiß, daß die
    Liese unserem Heinrich gut gewesen ist und daß er sie nicht
    gemocht hat. Er sagt, er wäre mit ihr unglücklich geworden. Das
    ist aber nicht wahr, denn die Liese ist ein braves, tüchtiges
    Mädchen. Und er hat es bloß deshalb getan, weil er in die
    Lotte Schräger vernarrt ist und sie gern heiraten will. Lieber
    Hannes! Das ist eine solche Schande, daß der Heinrich so etwas
    tut und daß er unserem guten Mathias solches Herzeleid macht,
    daß er von jetzt ab nicht mehr mein Bruder ist. Und deshalb
    schreib' ich an Dich, daß ich Dich heiraten werd', wenn Du vom
    Militär los bist und wenn wir ein Auskommen haben. Ich denke,
    Du gehst in die Kohlengrube. Wenn Du Dich eingerichtet hast,
    verdienst Du 15 Mark die Woche. Und ich werde für die Leute
    nähen. Da werden wir schon auskommen. Lieber Hannes! Ich will
    Dir heute schreiben, daß ich Dich lieb hab' und auch wirklich
    gern heirate. Aber damals, als Du von der Gestellung kamst,
    konnte ich es Dir nicht sagen, denn ich dachte, ich müßte immer
    beim Heinrich bleiben und ihm helfen und beistehen, wie es
    immer war. Aber Heinrich ist schlecht und verdient's nicht, und
    deshalb gehe ich fort, und es ist mir ganz egal, was jetzt aus
    unserem Hofe wird. Ich fahre zur Tante Emilie nach Waldenburg.
    Dort werde ich auch das Nähen lernen und bleiben, bis wir
    heiraten. Lieber Hannes! Du mußt mir aber versprechen, daß Du
    immer brav und ordentlich sein wirst, damit wir auskommen.
    Sonst sollst Du aber lustig sein, denn das habe ich an Dir
    immer gern gehabt, weil ich selber nicht lustig sein kann. Und
    ich werde Dich auch nicht ärgern, sondern gut mit Dir sein.

        Besten Gruß

            Lene Raschdorf.

[Illustration]



[Illustration: Kapitel 16]


Am Tage war der Novembersturm jäh und tückisch zur Höhe gefahren
und hatte die Wolken angefaucht wie ein bissiger Steppenwolf eine
Herde weißer, schwarzer und scheckiger Rosse, so daß alle ratlos
durcheinander rannten, sich stießen und ängstlich drängten und
alle in großer Not waren, während die ersten, vordersten von dem
Ungetüm zerrissen wurden. Aber dann hatte sich die Herde gesammelt,
war vorgerückt gegen den Feind, hatte ihn zurückgedrängt, langsam,
schrittweise, und ihn erdrückt, als sie ihn am Erdboden traf.

Jetzt lagen die Himmelsrosse müde und sicher auf Feldern und Wiesen,
und ein Mensch, der hinausging, mußte sich durchdrängen zwischen ihren
weißen und grauen Leibern.

In trübseligem, grauem Licht lag die Wohnstube des Buchenhofes.
Heinrich Raschdorf war allein. Lange war er für sich auf- und
abgegangen; jetzt lehnte er am Ofen und sah hinaus in den nebligen Tag.

Im ungewissen Licht des trüben Novembertages sah der Buchenbauer
erschreckend aus. Die Augen waren tief eingefallen und hatten einen
krankhaften Fieberglanz, die Wangen waren farblos, welk, und die ganze
Gestalt matt und schlaff.

Das kam vom vielen Grämen am Tage und langen Wachen in der Nacht. Das
kam von der Einsamkeit, kam davon, daß Heinrich Raschdorf erst in
diesen Tagen ein gänzlich Heimatloser geworden war.

Lene war fort.

Einmal hatte er noch versucht, sich mit ihr auseinanderzusetzen, ihr
alles zu erklären. Es war erfolglos gewesen. Nur in neuen Zorn waren
beide geraten, und die Kluft zwischen ihnen hatte sich vertieft.

So war sie fortgegangen aus der Heimat. Fest und sicher war sie aus
der Tür getreten und hatte den Wagen bestiegen, ohne sich noch einmal
umzusehen.

Sie hatte auch keine Träne vergossen auf der ganzen Fahrt. So sagte der
Knecht. Nur beim Mathias unten im Dorfe war sie abgestiegen und über
eine Stunde geblieben.

Seit der Zeit war Mathias nicht mehr heraufgekommen, und Heinrich hatte
ihn auch nicht aufgesucht. Ein bitterer Hochmut hatte ihn erfaßt, der
allen denen als Helfer kommt, die sich ungerecht verurteilt glauben.

Was hatte er getan? Er war gegen sich selbst und gegen sein bestes
Gefühl nicht treulos geworden. Deshalb hatten sie ihn verlassen, alle
verlassen in wenigen Tagen. Manchmal lachte er auf, wenn er daran
dachte.

So mochte es sein! So würde er sich darein fügen und keinem mehr ein
gutes Wort geben, so tot sein für sie alle, wie sie für ihn waren.

Die Einsamkeit spann ihn ein, aber sie brachte ihm keinen Frieden; sie
band nur seine Seele fest, daß er alle Qualen widerstandslos erdulden
mußte wie ein Kranker, der auf die Bank geschnallt wurde, an sich
schneiden und brennen läßt.

Solange er draußen auf dem Felde war, war's erträglich, aber in dem
leeren Hause packte ihn oft das Grauen. Und wenn die Abende kamen, saß
er allein und fürchtete sich am eigenen Herde.

Dann meinte er, es gäbe nur einen Ort auf der Welt, wo es schrecklich
sei: diese Heimat.

Oft überdachte er sein Schicksal. Schuldlos hatte er die Heimat
verloren, hatte um eine neue Heimat gelitten, gekämpft, gebangt, hatte
von allen den Millionen auf der großen, weiten Erde ein paar Menschen
gefunden, die es gut mit ihm meinten, und auch diese wenigen wieder
verloren.

Warum? Darüber brütete er. Wenn ihn ein Groll erfaßte gegen seine
früheren Leute, dann war ihm noch wohl. Da war doch ein Kraftgefühl in
seiner matten, vereinsamten Seele. Aber Stunden kamen, wo sich neben
die graue, schweigende Frau Einsamkeit jene andere an seinen Herd
setzte, ihre Tochter: die Reue.

Das sind die Quälerinnen. Die alte, häßliche, dürre Mutter Einsamkeit
hält den Armen fest mit ihren Spinnenfingern, bindet ihm jedes
Glied, lähmt ihm jeden Muskel, umschließt ihm Mund und Ohren, daß er
nicht schreien, nicht fortlaufen, nicht Hilfe holen kann, und derweil
treibt ihr grausames Kind, die Reue, ein bestialisches Spiel, sticht
und kratzt, brennt und schneidet, preßt das Herz zusammen mit rauhen
Händen, greift durch die Stirn in den Kopf hinein, lockert dort Faden
auf Faden, zerreißt die Stränge des Willens, trübt und verrückt die
Bilder klarer Vorstellungen und gießt ein schleichendes, tödliches Gift
in das wallende Gefühl. Wer sich nicht aufrafft mit energischer Kraft,
die Alte beiseite schleudert, ihre Bande zerreißt und zu gesunden,
frohen Menschen flüchtet, der ist verloren. Im günstigsten Falle ruft
die Alte eine neue Tochter: die Schwermut, ein untüchtiges, krankes
Weib mit lahmen Händen und traurigen Augen, und vermählt sie dem Opfer
zu unlöslicher Ehe, oder ihr scheußlichster Sohn, der Wahnsinn, kommt
und mordet ihn ab.

Heinrich Raschdorf hielt still. Manchmal dehnte er ein wenig die
Glieder gegen die Bande, aber als der trübe November kam, gab er sich
mutlos verloren.

Es waren gute, liebe Menschen gewesen. Sie waren gegangen. Folglich war
er schuld, war er der Schlechte, sie die Gerechten. In diesem Zirkel
bewegten sich schließlich beständig seine Gedanken.

So stand er an den Ofen gelehnt, indes draußen der weiße Nebel braute.
Seit Mittag hatte er mit keinem Menschen ein Wort gesprochen. Und da
war es auch nur ein Knecht gewesen, den er etwas gefragt hatte.

Wo war seine Kraft geblieben, der Mut, den er noch hatte, als er
mit Mathias und Lene sprach, der Trotz, mit dem er schließlich die
Schwester ziehen ließ?

Die Einsamkeit hatte ihn mürbe gemacht.

Jetzt trat er ans Fenster. Vielleicht, daß er einen Menschen
vorbeigehen sah. Das würde ihm wohltun. Und dann -- dort drüben wohnte
das Mädchen, um dessentwillen alles gekommen war. Als Mathias und Lene
ihn verlassen hatten, war stundenweise eine wilde Lust in ihm gewesen,
ein Freiheitsgefühl, der Gedanke, erlöst zu sein von einer falschen
Heimat, die Möglichkeit zu besitzen, nun sein Glück zu suchen, sein
einziges, sein wahrhaftiges Glück.

O, wie liebte er die Lotte! Seit jenem Maitage war ihr Bild nicht mehr
aus seiner Seele gewichen, was er auch getan hatte, es zu verhüllen.
Eine taumelnde Freude hatte ihn erfaßt, wenn er das Mädchen einmal sah,
und ob er das Gefühl bekämpfte wie Versuchung und Sünde, es kam immer
wieder, immer in tiefgeheimer süßer Wonne.

Und auch jetzt, wie er so hinüberblickte, sah er sie. Sie trat, zum
Ausgehen angekleidet, in die Haustür und spähte nach den Fenstern des
Buchenhofes herüber. Heinrich wollte zurücktreten in die Stube, aber
sie hatte ihn schon gesehen. So sahen sie sich ins Gesicht, wohl eine
halbe Minute lang. Sie stand ganz bewegungslos, und ihr Blick hatte
etwas Forschendes. Dann neigte sie grüßend ein wenig das Haupt und ging
hinab nach dem Dorfe.

Heinrich geriet in schwere Aufregung. Die Stunde war da, wo er tobte
gegen die Fesseln der Einsamkeit. Mit tausend Armen winkte es ihn
hinaus aus diesem fürchterlichen Hause, das keine Heimat war, das nie
eine gewesen war.

Wie ein Rausch kam es über ihn; die Bangigkeit fiel von ihm ab wie ein
toter Plunder, das Blut floß wieder jung und schnell durch die Adern,
und der Wille straffte sich zu dem Entschluß: Geh ihr nach! Geh zu dem
jungen, schönen Mädchen! Bei ihr ist Rettung und Glück!

Er suchte den Hut und band einen Kragen um.

Da grinste ihn warnend der alte Zweifel an.

Hinter einem Bilde seines toten Vaters sah er hervor. --

Er stand still. Er wagte nicht, sich umzusehen. Es war ihm, als ständen
an der Stubentür all die Seinigen: Lene mit zürnend abwehrenden Armen,
Mathias mit einer stummen Bitte in den guten Augen, die Liese mit
traurigem Gesicht, und ganz im Hintergrunde, draußen auf dem dämmerigen
Hausflur, schemenhaft die Toten: Vater und Mutter.

Entmutigt sank er auf einen Stuhl und stöhnte laut. Und die Einsamkeit
ging und schloß die Tür, nahm ihm den Hut vom Kopfe und sang ihr
monotones, totes Lied.

Aber sie täuschte sich. Sie sang das Lied um eine Nuance zu
schauerlich, um ein klein wenig zu hart, um ein paar Grade zu höhnisch.
Sie sang es unerträglich für den, der es anhören mußte.

»Ich ertrag's nicht länger; und wenn's unter tausend Flüchen wär' --
ich geh ihr nach!«

Mit wenigen Schritten war er draußen. Mit roten Wangen stürmte er durch
den Herbstnebel. Das Blut brauste ihm im Herzen und im Kopfe. Der Nebel
hüllte ihn ein, er konnte den Weg ins Dorf nicht übersehen.

So lief er, jagte dahin, wie einer, der auf verzweiflungsvoller Flucht
ist, oder einer, der dem letzten, rettenden Heil nachjagt, das er zu
verlieren glaubt.

Jetzt -- jetzt tauchte die Gestalt eines Mädchens aus dem Nebel auf.
Ein paar Schritte noch, dann erkannte er sie deutlich.

»Lotte!«

Wie ein Schrei tönte der Name durch die stille Luft.

Sie wandte sich erschreckt um. Mit großen Schritten und glühendem
Gesicht kam er ihr näher.

»Lotte -- sei nicht böse -- ich muß Dir nach -- ich werde verrückt
allein!«

»Heinrich, o Gott, Heinrich, was ist Ihnen? Wie sehen Sie aus?«

»Tu mir den Gefallen, Lotte, sprich »Du« zu mir, wie früher; sei ein
klein bißchen freundlich! Ich halte so das Leben nicht mehr aus! Ich
gehe zugrunde!«

»Heinrich! Lieber Heinrich!«

Sie sah ihn mit ihren schönen Augen mitleidsvoll an, und er stand vor
ihr zitternd, bebend; der Atem ging ihm schwer, die Augen glühten ihm,
und sie war so schön, so herrlich schön, und da riß er sie wortlos in
seine Arme mit einer Wut und Glut, wie das Tier sein Opfer faßt aus
schmerzhaftem Hunger, und überdeckte ihr Gesicht mit rasenden Küssen.

Wie mit eisernen Armen hielt er sie fest; wie ein Ertrinkender sich
an seinen Retter klammert, so klammerte er sich an sie, und mit dem
ganzen fiebernden Heißhunger einer glücksgierigen Seele küßte er sie.
Sein Gesicht veränderte sich, seine Augen bekamen einen fremden,
unheimlichen Glanz; all die Leidenschaft, die jahrelang zurückgedämmt
war, brach durch, all der brennende Durst nach Glück und Liebe wollte
sich sättigen.

Sie lag erschreckt, aber glückselig an seiner Brust.

»Heinrich! Lieber Heinrich!«

»Du mußt mein sein, Lotte, und wenn die Welt in Stücke geht, und wenn
sie mich ausstoßen wie einen Lump, und wenn's ein Verbrechen ist -- Du
mußt mein werden!«

Sie sah zu dem zitternden Manne auf.

»Hast Du mich lieb, Lotte? Ein bißchen lieb?«

»Ja, ich hab' Dich lieb, Heinrich!«

»Lotte!«

Ein jauchzender Jubelruf, ein Erlösungsschrei durchtönte die fahle
Herbstluft. Der Heimatlose hielt das Glück in seinen zitternden Armen
und schaute es an und hätte laut lachen mögen vor übergroßer Freude.

»Lotte, jetzt bin ich reich! Jetzt hab' ich alles gewonnen! Jetzt ist
mir wohl! Jetzt werd' ich wieder leben können! Jetzt ist alles andere
ganz gleichgültig.«

Sie sah ihn an, und ihre Augen glänzten feucht.

Eine lange, selige Pause kam, jene große Stille, in der alles tot ist,
außer der Freude.

Doch allmählich breitete sich ein Schatten über ihr Gesicht.

»Heinrich! Sind sie wirklich alle fortgegangen von Dir um meinetwillen?«

»Ja, Lotte! Aber laß sie, sprich nicht von ihnen, denk' nicht an sie!
Wenn ich Dich hab', mögen sie fort sein; alle -- alle --!«

Er lachte wieder, ließ sie los und schüttelte sich, als ob er etwas
Unsichtbares von sich abzuwälzen hätte.

»Komm, wir wollen ein Stück gehen, wir wollen alles miteinander
besprechen.«

Sie gingen Hand in Hand, und die Nebel hüllten sie schützend ein. Er
erzählte ihr von seiner Liebe zu ihr, wie sie eigentlich immer in ihm
gelebt hätte seit den Tagen der Kindheit, wie er sie nur all die Zeit
zurückgedrängt habe in langen, schmerzhaften Kämpfen, und wie diese
Kämpfe furchtbar geworden seien nach jenen Tagen im Mai. Dann erzählte
er ihr auch von der Liese, vom Mathias, von der Lene und von dem Ende.

Sie blieb stehen. Leise und bang fragte sie:

»So hab' ich Dir wirklich die Heimat zerstört, Heinrich? Ich?«

Er schüttelte nachdenklich das Haupt.

»Nein! Ich hab' viel darüber nachgedacht. Was ist überhaupt die Heimat?
Ich weiß es nicht! Ich weiß bloß, daß ich nie eine gehabt hab', es wär'
denn als Kind. Wir haben kein glückliches Leben gehabt -- alle nicht!
Und so wär' es geblieben, wenn ich die Liese genommen hätte. Nein, es
wär' noch viel schlimmer geworden. Denn Dich hätt' ich doch nie aus dem
Sinn gebracht, niemals!«

Sie lehnte den Kopf an seine Schulter, und er küßte sie wieder.

Tief aufatmend richtete er sich auf und stand still, als ob er sich
besinnen müsse. Wie war ihm? Frei, leicht, stark war ihm zumute, so,
als ob Lasten von seiner Seele geglitten und neue, heitere Wege ihm
eröffnet wären.

»Lotte, jetzt wird das Glück kommen!«

Sie schmiegte sich an ihn und erzählte nun von sich, von ihrem
trostlosen Heim, von der Seligkeit, die sie im Mai trotz ihres kranken
Fußes empfunden über seine Fürsorge, von der langen, glücklosen Zeit,
als täglich der Barbier aufs neue erzählt habe, wie sehr sich der
Heinrich um die Liese bemühe, und der junge Riedelbauer sie mit seinen
Zudringlichkeiten belästigt, und dann davon, wie sie gehört habe, die
Liese gehe ins Kloster und Mathias habe sich mit Heinrich verfeindet.
Da habe sich eine neue Hoffnung in ihr Herz geschlichen. In den Wochen
darauf aber, als auch die Lene fort war und sie ihn so müde und krank
herumgehen sah, da hätten die Mägde erzählt, der junge Buchenbauer
werde tiefsinnig, er esse nicht mehr und wache ganze Nächte in seinem
Zimmer, und dann sei wieder der Barbier gekommen und habe gesagt,
der Heinrich gräme sich zu Tode um die Liese. Da sei es freilich aus
gewesen mit all ihrer Hoffnung.

»Aber jetzt, Heinrich, jetzt ist doch alles anders!«

Die Glückseligkeit der Liebe strahlte auf dem Gesicht des Mädchens.

Er blieb stehen.

»Es ist mir etwas eingefallen, Lotte: Wo zwei Heimatlose sich treffen,
die sich lieb haben, da wird eine Heimat.«

Sie sah ihn an voll Vertrauen und Glauben und nickte mit dem Kopfe.

Sie gingen ein Stückchen weiter. Das Mädchen kämpfte mit einem
Gedanken, der endlich hervorbrach:

»Eines muß ich wissen, Heinrich: Was macht Ihr meinem Vater zum
Vorwurf? Das mußt Du mir sagen!«

»Lotte, liebe Lotte, quälen wir uns doch jetzt in unserer ersten guten
Stunde nicht mit den alten Geschichten.«

Sie senkte den Kopf.

»Doch, Heinrich, es ist nötig! Darüber müssen wir klar sein. Da darf
nichts zwischen uns liegen! Dieses unausgesprochene Mißtrauen zwischen
den beiden Höfen, das war ja das Schlimme. Das darf zwischen uns beiden
nicht sein!«

»Es wird nicht sein, Lotte!«

»Aber wir müssen uns aussprechen!«

Sie machte wieder eine Pause. Dann brachte sie mit großer Überwindung
heraus:

»Glaubt Ihr, daß -- daß mein Vater -- Euren Hof angezündet hat?«

»Nein, Lotte! Das ist ja gar nicht möglich! Er war ja immerfort zu
Hause!«

»Aber -- aber Ihr denkt, daß er jemand dazu angestiftet hat oder daß er
davon gewußt hat?«

Heinrich zögerte.

»Du weißt, Lotte, daß Mathias das behauptet hat und darum auch bestraft
worden ist.«

»Und Du?«

Sie sah ihm angstvoll in die Augen.

»Ich, Lotte -- ich glaube es nicht! Es kann irgend jemand gewesen sein:
ein Dienstbote aus Unvorsichtigkeit, ein Bummler, ein unbekannter
Feind. Weiß Gott!«

»Es ist gut, Heinrich, denn sonst -- und was macht Ihr ihm weiter zum
Vorwurf? Was sagt die Lene? Sag' mir alles! Ich bitte Dich, Heinrich!«

»Lotte, es fällt mir schwer -- gerade schon heut --«

»Ja, schon heut! Wenn es herunter ist vom Herzen, dann werden wir erst
ganz glücklich sein. Was sagt die Lene?«

»Sie sagt -- unser -- unser Vater hat sich erschossen, weil ihm Dein
Vater das Geld gekündigt hat.«

Lotte nickte.

»Ja, ich weiß! Der Vater hat mir's erzählt. Er ist bei Euch drüben
gewesen und hat gut mit Deinem Vater reden wollen; aber der ist
vergrämt gewesen und hat ihm sogar das »Du« gekündigt, und da -- da
hat mein Vater das Geld verlangt. Daß aber alles so kommen würde, hat
er aber nicht geahnt. Und, Heinrich, daß das gekommen ist wie ein
unvorhergesehenes Unglück, deshalb trinkt ja der Vater, das hat ihn ja
zugrunde gerichtet.«

Sie weinte.

»Lotte, liebe Lotte! Du hast auch schon bittere Dinge erlebt.«

»O, Heinrich! Und ich hab' keine Seele gehabt, zu der ich mich
aussprechen konnte. Niemand! Ich hab' alles für mich tragen müssen. Und
der einzige, den ich lieb hatte, warst Du -- und -- und --«

»Liebes, liebes Mädel!«

Er küßte sie wieder, lange und innig.

»Ich bin so glücklich, Heinrich, daß wir das ausgesprochen haben. Wenn
Du so schlecht von meinem Vater gedacht hättest, hätten wir uns ja
nicht haben dürfen. Nein, Heinrich, gewiß nicht, dann wär' ich Deiner
nicht wert, dann wär' es ganz unmöglich. Aber das kannst Du glauben:
Mein Vater hat seine Fehler; aber etwas Schlechtes hat er nicht getan.
Deine Leute tun ihm unrecht, das kann ich Dir beteuern, und deshalb
kann ich auch Deine Frau werden! Wenn Du's nur fest glaubst.«

»Ich glaube es, Lotte!«

Sie nickte glücklich, und sie gingen wieder ein paar Schritte weiter.

»Und was nun weiter, Lotte? Was wird Dein Vater sagen, wenn ich komme
und Dich zum Weibe haben will?«

Sie senkte das Haupt.

»Er wird erschrecken, vielleicht auch sehr schimpfen. Das mußt Du nicht
übel nehmen. Das ist ja natürlich. Aber er wird nicht »Nein« sagen,
nicht auf die Dauer. Er kann mir keine einzige Bitte abschlagen --
keine! Und Du -- wie wird's bei Dir sein?«

»Ich? Ich bin mein eigener Herr! Ich hab's durchgesetzt bis jetzt und
führ's zu Ende. Mit den andern hab' ich gebrochen. Ich bin jetzt zwar
einsam, aber ich bin frei! Wenn ich Dich hab', Lotte, verschmerz' ich
alles. Und die Zeit ändert manches. Meine Leute werden sich allmählich
anders besinnen.«

»Hoffen wir es!« --

Lotte hatte im Dorfe einen Besuch machen wollen. Sie gab die Absicht
auf.

Auf einem breiten, stillen Feldrain ging das junge Paar, und die Nebel
schützten es vor neugierigen Augen. Von ihrer Zukunft sprachen sie und
bauten an einer neuen Heimat. Von Westen leuchtete durch die weißen
Nebel ein roter Schein. Dort ging die Sonne unter.

»Ich muß jetzt heim,« sagte Lotte. »Vielleicht, wenn der Vater allein
ist, sag ich's ihm schon heute.«

»Lotte! Willst Du das wagen? Oder ist's nicht besser, wenn ich es tue?«

»Nein, Heinrich! Wenn's der Vater zugibt, tut er's bloß, weil er mich
lieb hat und mir nichts abschlägt. Ich geb Dir Nachricht.«

Sie gingen ganz langsam heim. Als die Buchenhöfe aus dem dicken Nebel
auftauchten, nahmen sie einen langen Abschied.

       *       *       *       *       *

Als Heinrich in seine Stube trat, war's, als ob eine Trunkenheit ihn
fasse.

Er vermochte nicht stehen zu bleiben an einem Ort, nicht zu sitzen; er
ging immer hin und her in seliger Unrast, und manchmal schlug er die
Hände vor das glühende Gesicht, und immer wieder trat er ans Fenster
und sah hinüber über die Straße.

Er fühlte auch jetzt noch ihren weichen, warmen Mund. Das liebe
Mädchen. Wenn sie sein würde, dann war alles gut, dann kam ein ganzes
Meer von Sonne und Wonne in diese leere Stube, dann mußte hier eine
herrliche Heimat sein.

Wenn er nur mit jemand reden könnte, jetzt nicht wieder allein sein
müßte! Er besann sich und ging hinüber zum Schaffer.

Der Schaffer saß an seinem Tisch und studierte an einem Briefe. Er
wollte das Schriftstück verstecken, aber dann besann er sich, schob es
Heinrich hin und knurrte:

»Is egal! Da! Vom Hannes!«

Heinrich las:

        Lieber Vater!

    Indem ich Dir auch wieder einmal schreibe. Du sollst keinen
    Kummer um mich haben. Es geht mir gut. Aber ich hab drei Tage
    Arrest gekriegt. Du mußt aber keinen Kummer haben, denn sie
    sind schon rum. Und es war zum Aushalten. Weil nämlich die
    Lene an mich geschrieben hat, daß sie mich heiraten wird, da
    hab ich die Knöpfe nicht geputzt und bin zum Appell zu spät
    gekommen. Wobei einen der Unteroffizier gleich klemmt. Wogegen
    ich mir eins gepfiffen hab, wie ich im Kasten war. Denn ich
    freu mich so, daß mich die Lene heiraten tut, weil ich ihr gut
    bin, und weil sie ein schönes, starkes Mädel ist. Dann werde
    ich Bergmann, und sie näht. Da kommen wir aus, weil ich nicht
    trinke und auch nicht tanze. Lieber Vater, es tut mir sehr
    leid, daß die Lene mit dem Heinrich so Krach gemacht hat und
    weg ist. Die Tante Emilie, bei der sie jetzt ist, kann ich
    nicht gut leiden, sie ist eine alte Kröte. Aber ich muß jetzt
    tun wie tulpe und zu der Lene halten, weshalb ich ihr Bräutigam
    bin. Wo ich ja jetzt auch auf den Heinrich schimpfen muß, indem
    sie mich sonst nicht nimmt. Was aber alles bloß Getue ist. Denn
    der Heinrich ist immer mein Freund gewesen, und das laß ich
    nicht. Aber jetzt tu ich so und schimpf auf ihn, soviel ich
    kann. Das mußt Du ihm sagen, daß er's nicht übel nimmt, wenn
    er mal was hört. Wenn ich die Lene werd geheiratet haben, bin
    ich der Herr im Hause. Da wird's anders, da gibt's dann keinen
    Krach mit dem Heinrich mehr. Hauptsache, erst heiraten! Daß
    Mathias auch weg ist und die Liese, das ist sehr schade. Indem
    sich das aber nicht ändern läßt. Und Du mußt bleiben auf dem
    Buchenhof, sonst geht alles pleite. Lieber Vater, wenn ich zu
    Weihnachten Urlaub krieg, fahr ich nach Waldenburg. Da mußt Du
    am ersten Feiertag hinkommen. Denn auf den Buchenhof komme ich
    wegen der Feindschaft nicht. Und wenn ich keinen Urlaub krieg,
    da komm ich überhaupt nicht. Wegen der drei Tage! Und mußt
    keinen Kummer haben und den Heinrich schön grüßen und ja nichts
    der Lene sagen von allem. Dann kannst Du mir nötig zehn Mark
    schicken.

        Besten Gruß

            Dein Sohn

                Johannes Reichel.

»Weißt Du was, Schaffer,« rief Heinrich glücklich, »schick' ihm dreißig
Mark! Da sind sie! Schick's ihm! Er ist ein Prachtkerl!«

Heinrich legte das Geld auf den Tisch.

Der Riese starrte ihn blöde an, aber dann grinste er und stützte je
einen Finger seiner rechten Hand schwer auf die Goldstücke, als fürchte
er, ein Luftzug könne sie wegblasen.

»Und Du, Reichel, Du bleibst mir treu? Was auch kommen mag? Ja? Du
bleibst bei mir, wenn sie auch alle gehen -- alle!«

Der Riese sann schwer nach. Dann sagte er:

»A alter Kater geht nich weg vom Hofe!«

»Das ist hübsch von Dir, Reichel! Wir bleiben Freunde! Und jetzt kommst
Du mit hinüber. Wir wollen eine Flasche Wein mitsammen trinken, weil
sich der Hannes verloben wird. Auf Hannes' Wohl, hörst Du? Nur auf
Hannes' Wohl! Der hat's uns ja angezeigt.«

Reichel meinte, wenn er Wein trinken solle, müsse er sich erst waschen
und die Sonntagsjacke anziehen und sein gesticktes Vorhemdchen
ummachen, sonst ginge es nicht. Dann werde er aber kommen.

Als Heinrich wieder in den Hof trat, traf er die alte Stenzeln.

»Pst! Das is gutt! Da macht's kein Aufsehen! Hier! Vom Fräulein! Gute
Nacht!«

Sie huschte davon.

In der Wohnstube erbrach Heinrich den Brief.

        Lieber Heinrich!

    Es ist alles gut. Der Vater wird einwilligen. Komm morgen früh
    um 10 Uhr zu uns herüber. Gute Nacht, Liebster! Es küßt Dich
    herzlich

            Deine überglückliche Lotte.

Heinrich hob den Brief hoch und preßte ihn an seine Stirn. Dann sah er
auf das große Bild seines Vaters, das an der Wand hing.

»Vater, du mußt »Ja und Amen« sagen. Ich bin zu glücklich, zu
glücklich!«

Einsamkeit und Reue waren weit.

       *       *       *       *       *

Der Mond hatte die Nebel vertrieben. In später Nacht lugte er in drei
Stuben der Buchenhöfe.

Da sah er, wie der alte Schaffer seinem jungen Herrn die Hand gab und
mit noch schwererer Zunge als sonst sagte:

»Die Lotte is gutt! Sie kann für nischt! Und es geht mich nischt an.
Und ich bin Schaffer.«

Da schien er auch dem alten Schräger ins Gesicht, der heute nüchtern
oben am Giebelfenster stand und hinuntersah nach dem Kirchhof und sagte:

»Nun sei zufrieden und laß mich in Ruh'.«

Und er streute silberne Funken auf Stirn und Mund der Lotte, die
glückselig in ihrem Bette lag und von einer neuen, schönen Heimat
träumte.

[Illustration]



[Illustration: Kapitel 17]


Draußen flockte leise der Schnee. Im Wohnzimmer des Buchenkretschams
war es wohlig warm, und Lotte bereitete den Vespertisch. Heinrich sah
ihr lächelnd zu. Jetzt setzte sie eine goldgeränderte Tasse vor ihn
hin, darauf war geschrieben: »Dem Bräutigam«, und daneben stellte sie
eine Tasse mit der Aufschrift: »Der Braut«.

»Aus den Tassen haben Vater und Mutter bei ihrer Hochzeit getrunken,«
sagte sie.

Er sah sie an, wie sie in herziger Hausfrauenschönheit vor ihm stand,
und legte den Arm um ihre Schultern.

»Lotte! Ich kann Dir nicht sagen, wie mir zumute ist. Ich denke, so
mag einem sein, der aus einem Schiffbruch gerettet wurde und in einer
sicheren, warmen Stube sitzt.«

Erst als sie draußen den Vater kommen hörten, gingen sie auseinander.

Mißmutig trat Schräger in die Stube.

»Was sagt man dazu -- die Bande kommt nich! Alle lassen sie absagen,
alle; der einzige Hirsel will kommen.«

Heinrich biß die Zähne aufeinander. Der Wirt hatte seine früheren
Stammgäste, die in letzter Zeit immer mehr und mehr ausgeblieben waren,
zu einer Verlobungsfeier eingeladen und zu diesem Zwecke ein Faß echten
Bieres kommen lassen.

Nun wollte niemand erscheinen.

»Ja, es ist arg,« sagte Heinrich. »Ich hätte nicht gedacht, daß sie
es so weit treiben würden. Aber der Riedel hat heute ein Fest unten
im Dorfe in Polers Wirtshaus angesagt und Freibier versprochen,
und der Barbier ist durchs ganze Dorf, um dazu einzuladen. Das ist
niederträchtig, das ist einfach niederträchtig!«

Schräger grub die Hände tief in die Hosentaschen.

»Bankrott wird man noch werden,« knurrte er in tiefstem Unmut.

Ein Schatten flog über Heinrichs Gesicht. Lotte bemerkte es wohl und
legte ihrem Vater die Hände auf die Schultern.

»Vater, sei nicht mürrisch! Nicht heute! Die Leute werden schon
wiederkommen. Lange wird's ihnen beim Poler nicht gefallen. Dann kommen
alle wieder zu Dir.«

Schräger knurrte etwas und ging hinüber nach der Wirtsstube. Dort goß
er ein großes Glas voll Rum und trank es aus.

Das Mädchen ging nach der Küche, und Heinrich war allein. Er trat ans
Fenster und sah nach seinem Hofe hinüber. Je eher, je besser wollte
er die Lotte hinüberholen. Denn mit Schräger war auf die Dauer nicht
auszukommen.

Wie er so dastand und in das Schneewetter hinaussah, dachte Heinrich
an die letzten Tage und konnte sich keiner Stunde erinnern, die
er glücklich und zufrieden mit seinem zukünftigen Schwiegervater
zugebracht hätte, angefangen von dem Augenblick, wo ihm dieser Mann mit
schwerer, lallender Zunge das Jawort gab, bis heute. Damals hatte er
ihn angewidert. Nicht einmal an dem wichtigen Tage, da eine jahrelange
Feindschaft begraben und die Verbindung seiner einzigen Tochter mit dem
Gegner beschlossen werden sollte, konnte dieser Mann nüchtern bleiben.
Und es war vormittags 10 Uhr gewesen. Aber die Lotte hatte auch damals
ihren Vater zu entschuldigen gesucht und gesagt, er habe wohl in
übergroßer Aufregung getrunken.

Er hatte sich das so schön, so feierlich, so groß vorgestellt, diese
Stunde der Aussöhnung, und der -- war betrunken. Er hatte nichts
anderes sagen können als immer dasselbe: »Laß die Toten ruhen! Laß die
alten Geschichten! Nehmt Euch! Alles is gutt! Ich kann für nischt! Laßt
mich in Ruh'! Meinetwegen macht, was Ihr wollt.«

Und dann hatte er nach der Ziegelei und nach den Überschüssen des
Gutes so gierig und interessiert gefragt, trotz seiner Trunkenheit,
daß dem jungen Freiersmanne gegraut hatte. Und er hatte immer nach der
lieblichen, unschuldigen Lotte sehen müssen, die mit schwerverhaltenen
Tränen neben ihm saß, daß er nur Herr seiner selbst blieb.

Auch der schwachsinnige Bruder machte es ihm schwer. Dieser Bursche
hatte eine ganz unbegreifliche Scheu vor ihm. Immer lief er fort, wenn
er ihn nur witterte, und einmal, als die Lotte ihn eingeschlossen
hatte, um eine Begegnung zu erzwingen, und Heinrich ein ganzes Paket
Schokolade mitbrachte, die der Bursche sehr gern aß, war er im letzten
Augenblick schreiend durch das Fenster entflohen.

Eine ganze Nacht war er fortgewesen und erst am Morgen wiedergekommen.
Seit der Zeit wurde er außer acht gelassen.

Der Buchenhof! Wie er so sacht einschneite und nun so friedlich dalag,
so recht lockend und einladend, einzutreten und allen Sturm und alles
böse Wetter draußen zu lassen, heimisch zu sein in diesen festen
Mauern. Recht wie eine Heimat sah das Haus aus. Aber der, dem es
gehörte, wußte, daß es keine Heimat war.

Jetzt eben dachte er wieder darüber nach, und ein Gedanke ging ihm
durch die grübelnde Seele: Heimat ist nicht Raum! Heimat ist auch nicht
Freundschaft! Wird Heimat Liebe sein? --

»Lotte, wenn es Dir recht ist, wollen wir bald nach Weihnachten
heiraten,« sagte er zu seiner Braut, als sie zurückkam.

Das Mädchen sah ihn freundlich an.

»Ja, Heinrich; ich weiß auch, warum. Und Du hast recht.« Sie kam ganz
nahe an ihn heran.

»Aber gar zu böse mußt Du nicht sein mit ihm. Im Grunde ist's ja doch
aus Gram um Deinen Vater!«

»Ja, Lotte, ich weiß es!«

»Ist es Dir unlieb, wenn ich immer für ihn spreche?«

»Nein! Er ist Dein Vater. Wer keine gute Tochter war, wird kein gutes
Weib.«

       *       *       *       *       *

Heinrichs Verlobungsabend war gekommen. Schräger hatte trotz dringender
Abwehr das große Bierfaß in die Wirtsstube heraufschaffen lassen.
Das stand nun in seiner ganzen tragikomischen Größe in der einsamen
Gaststube.

Die Stenzeln hatte ein gutes Abendbrot bereitet, das hatten Heinrich,
Lotte und Schräger schweigend verzehrt. Zuweilen nur fluchte der Wirt
stumpf vor sich hin.

Gegen sieben Uhr kam der alte Hirselbauer. Schräger lachte spöttisch.

»Na, Hirsel,« sagte er in grimmiger Selbstironie und klopfte auf das
große Faß, »da kannste trinken, da kannste aber trinken!«

»Wird niemand kommen, niemand sonst?« fragte Heinrich. Hirsel
schüttelte verlegen den Kopf.

»Verhetzt! Alle verhetzt! Der Barbier is a Schandkerl.«

»So setzen Sie sich, Herr Hirsel: ich werd's Ihnen nicht vergessen, daß
Sie gekommen sind.«

Es war eine trübselige Verlobungsstimmung. Schräger stierte immer vor
sich hin und schimpfte in sich hinein, Heinrich und Lotte hielten
sich an den Händen, und der alte Hirsel saß vor seinem Bierglase und
wollte nicht trinken. Vom Wetter sprachen sie schließlich, von den
Rübenpreisen, von ein paar nebensächlichen Ereignissen aus dem Dorfe.
Dann waren wieder lange Pausen, und die alte Wanduhr tickte trostlos,
einförmig. Niemand wollte reden, niemand wußte etwas zu sagen.

Mitten in all dieser Stille war Heinrich in schwerer Erregung. Zuweilen
preßte er die Hand des geliebten Mädchens. Da wünschte er sich weit
fort mit ihr. Wenn er einen einzigen Freund gehabt hätte, jemand,
der sich mit ihm freute! So war er allein. Und das war der Abend, der
für die meisten Menschen der strahlendste und glücklichste des Lebens
ist, an welchem sich an jeden ein paar gute Menschen drängen, um
Freundschaft zu zeigen, um Glück zu wünschen.

Hier war es so erschreckend öde. Kaum, daß ihm der alte Hirsel manchmal
ein wenig zulächelte.

Dann dachte er daran, daß nun doch die eigentliche Verlobung vollzogen
werden müsse. Wer sollte das tun? Wer? Schräger würde nicht anfangen.

Also er selbst! Aber es fiel ihm maßlos schwer, in solcher Umgebung und
solcher Stimmung ein so schweres, entscheidendes Wort zu sprechen. Und
dann, wie sollte er den Mann anreden? Jetzt mußte er »Vater« zu ihm
sagen! Und es war ihm, als ob vor seiner Seele eine bleiche Gestalt
auftauche und ihm mit gebietendem Blick sage: »Mißbrauche nicht meinen
Namen!«

So schob er's auf in innerer Unrast, und es verging eine halbe Stunde
und noch eine. Die Uhr schnarrte durchs Zimmer, und dann war wieder
diese bedrückende Stille. Da, als ihn Lotte einmal bang anschaute,
stand Heinrich auf: »Va-- Vater, Sie haben mir Ihr Jawort gegeben bei
meiner Werbung, und Lotte und ich werden uns jetzt mit Ihrer Zustimmung
verloben.«

Er wartete auf eine Antwort. Schräger stierte auf.

»Ja,« sagte er, »ja, meinethalben! Prosit!«

Und er trank.

Heinrich wurden die Augen heiß, und Lotte fing leise an zu weinen. So
steckte er ihr den goldenen Ring an den Finger und sie ihm den seinen.
Der alte Hirsel stand auf und sprach ein paar Glückwunschworte. Und
dann war es wieder still. --

Da klopfte es ans Fenster.

»Und einen Hund, einen gro...o...oßen Hund!«

Der Bruder! Den ganzen Nachmittag war er schon wieder abwesend und
nicht aufzufinden gewesen. Jetzt stand er draußen am Fenster und blökte
die Zunge herein. Schimpfend erhob sich Schräger und ging hinaus.
Nach kurzer Zeit kam er wieder und sagte, der Junge sei verschwunden.
Vielleicht sei er nun schlafen gegangen. Man solle ihn sein lassen.

       *       *       *       *       *

Draußen aber an der Gartenmauer des Buchenhofes kauerte Gustav
Schräger. Er war unten im Dorfe gewesen in Polers Gasthaus, der Barbier
hatte ihm viel Bier zu trinken gegeben, und alle hatten über den
Idioten gelacht, bis ihn ein vernünftiger Bauer nach Hause jagte.

Jetzt kauerte der Bursche in halbem Dusel an der Gartenmauer. Manchmal
sah er nach den erleuchteten Fenstern der Wirtsstube, ballte die
Fäuste, knirschte mit den Zähnen oder blökte die Zunge heraus.

Dann suchte er in seinen Hosentaschen nach und brachte eine Schachtel
Streichhölzer heraus. Ein böses Grinsen ging über das verblödete
Gesicht, und die Fäuste ballten sich wieder.

Der Idiot betrachtete die Streichholzschachtel mit funkelnden Augen.
Dann hielt er sie gegen das Ohr, schüttelte sie und freute sich an dem
leisen Geklapper.

»Viel sind's,« grunzte er, »viel!«

Leise richtete er sich auf, wandte lauernd und spähend den Kopf und
schlich endlich lautlos und gebückt die Gartenmauer entlang. Das
Hoftürchen zum Buchenhof öffnete er. Es knarrte laut. Aber der Bursche
ließ sich nicht abschrecken. Er sah sich nur ein wenig um und rannte
dann schnell über den Hof bis zur Scheune.

Das Tor war nicht verschlossen, aber es verursachte ein Geräusch, als
er öffnete. Nun war er in der Scheune. Er blieb stehen, holte tief
Atem, und seine Augen funkelten.

»Oh! Ooh! Hoch! Hoch! Es wird brennen! Brennen!« Und er reckte die Arme
in die Höhe.

Dann strich er ein Streichholz an. Es zerbrach und fiel verlöschend auf
die leere Tenne. Ein zweites Streichholz! Es brannte, und in seinem
Schein ging der Idiot nach dem getreidegefüllten Bansen.

»Du! Was machst Du da?«

»Jeses!«

Ein Schrei! Ein zweiter!

Das Streichholz erlosch. Eine Jagd ging los. Voran der Idiot, hinterher
ein Knecht des Buchenhofes, der das Geräusch der Tore gehört hatte und
dem Burschen nachgeschlichen war.

»Stehen bleiben! Halt! Stehen bleiben!«

Ein furchtbares Brüllen kam dem Jungen vom Munde. Er fiel über einen
Gegenstand, stand auf, sprang weiter und fand in der Angst nicht das
Tor. Es war rabenfinster. Man hörte das Keuchen der beiden Menschen.
Ein paarmal streifte der Knecht mit der Hand den Jungen. Der aber wich
immer geschickt aus. Es war ein furchtbares, entsetzliches Suchen und
Haschen. -- Eine Leiter stand da, die nach dem Getreideboden führte --
jetzt faßte der Idiot die Leiter und stieg hinauf, lautlos wie eine
Katze.

Der Knecht stand unten lauschend still. Wo war er?

»Wo bist Du, Lump? Wart', vielleicht auf der Leiter -- wart', da krieg
ich Dich!«

Ein Rutschen -- ein schwaches Knacken -- dann ein markerschütternder
Schrei, und ein schwerer Körper sauste aus der Höhe auf die Tenne.
Einen lallenden Schreckenslaut stieß der Knecht aus. Dann war
Totenstille.

       *       *       *       *       *

Auf das Schreien des Knechtes kamen die Leute mit Lichtern nach der
Scheune gestürzt, dann eilte eine Magd über die Straße hinüber nach dem
Kretscham. Sie riß die Tür auf und schrie in die Stube:

»Jeses, a Unglück, a Unglück! Der Gustav hat unsre Scheune anzünden
woll'n, und da is a von der Leiter gestürzt und hat a Hals gebrochen!«

»Du -- Du -- o Du -- ich -- i -- was -- was? --«

Lotte stierte in wahnsinnigem Entsetzen die Magd an; wollte reden,
schreien, fragen, konnte es aber nicht.

Heinrich nahm sie fest am Arm.

»Schräger! Herr Schräger! Ihr Gustav! Ach Gott, ach Gott! Den Hals
gebrochen!« wimmerte die Magd.

Schräger saß da wie ein Bild aus Stein, gänzlich wortlos. Er stöhnte
nur. Ein dumpfes Gurgeln drang ihm aus der Kehle; die Augen stierten
entsetzt die Magd an, die immerfort weiter schrie, weiter jammerte,
dann fingen seine Hände an zu tasten, seine Füße an zu rutschen, und
so glitt er schwer unter den Tisch.

Ein paar Minuten später brachten sie den Verunglückten auf einer
Futtertrage herüber. Er war tot.

Auf die Diele der Gaststube legten sie ihn und standen dann alle stumm
an der Tür. Schräger, dem Hirsel und Heinrich auf die Bank geholfen
hatten, hatte lautlos zugesehen. Jetzt erhob er sich. Er wollte
hingehen, aber die Glieder versagten ihm. Mitten in der Stube fiel er
nieder, und ehe ihn die anderen aufrichten konnten, kroch er wie ein
Tier auf Händen und Füßen zu seinem toten Kinde, legte sich mit seinem
Körper über die Leiche und blieb zuckend und wimmernd liegen. Lotte
führten die Frauen hinüber nach der Wohnstube. --

In später Nacht ging Heinrich Raschdorf heim. Als er die Lampe
angezündet hatte, sah er sich scheu um. Das große Bild seines Vaters
schaute von der Wand herunter. Und der Sohn sah das Bild an in der
Stille dieser seiner Verlobungsnacht, und ein tiefes Schauern ging ihm
durch Leib und Seele.

»Nun bist Du gerechtfertigt, Vater! Gerechtfertigt und gerächt!«

Dann stieg er langsam wie ein Kranker hinauf in seine Stube.

       *       *       *       *       *

Ein stürmischer Tag folgte dieser Nacht. Der Wind jagte die
Schneewolken über Wald und Dorf und peitschte Häuser und Bäume.
Und also stürmte es auch in den Geistern der Leute. Wie ein Blitz
ein schwarzes, enges Tal, in das kein Auge zu schauen vermochte,
urplötzlich durchleuchtet, so war es hier. Die Leute erkannten nun, wer
das erste Mal der Brandstifter gewesen war.

Die Arbeit ging an diesem Tage lässig in allen Häusern, denn alle Leute
redeten, standen zusammen und plauderten erregt. Das fühlten alle: daß
an den Buchenhofleuten schwer gesündigt worden sei. So manchen kam die
Reue an, und er nahm sich vor, wieder gut zu machen, wo er etwa gefehlt
habe. Die Männer namentlich bedauerten, daß sie der Einladung zur
Verlobung im Kretscham nicht Folge geleistet hätten, weil sie dadurch
den Raschdorf-Heinrich aufs neue gekränkt hatten. Den Barbier aber
trafen die schwersten Vorwürfe, weil er dem Idioten Bier gegeben hatte,
und alle meinten nun, er sei schuld an Gustav Schrägers grauenvollem
Tode, er sei überhaupt immer der Hetzer und der Schuldige gewesen; ohne
ihn wäre alles nicht so schlimm geworden.

So kam es, daß der Barbier in dieser Zeit seine Heimat verlor. Schon
nach wenigen Wochen ließ sich ein flinker Konkurrent im Dorfe nieder,
und ein wenig später zog der Barbier verachtet und heimatlos von
dannen. Auch im Dorfleben ist die öffentliche Meinung souverän; wer
bei ihr in Ungnade fällt, dem steht keine Berufung zu; er zieht in die
Verbannung.

Über Schräger waren sich die Leute nicht einig. Seine Person blieb im
Dunkel. Die Weiber waren geneigt, ihn zu verurteilen, aber die Männer
meinten, nun sei es angebracht, recht oft in den Buchenkretscham zu
gehen, um am Ende einmal etwas herauszukriegen oder zu erleben. --

Gegen neun Uhr vormittags ging Heinrich Raschdorf nach dem Kretscham.
Die Leute hatten eben den Toten in eine leere Kammer zu ebener Erde
gelegt. Eine Öllampe hatten sie ihm zu Häupten gestellt, die brannte in
trübem Schein.

Erschüttert betrachtete Heinrich die Leiche. Der Verderber seines
Hauses, der Bruder seiner Braut und alles in allem ein unglücklicher,
beklagenswerter Mensch!

Draußen traf er die Stenzeln und fragte sie nach Lotte. Das Weiblein
wischte sich mit der Schürze übers Gesicht. »Ach, du mein Gott! Die hat
sich in ihre Stube geschlossen und kommt nicht heraus und gibt keine
Antwort.«

Er stieg die Treppe hinauf und klopfte an ihre Türe.

»Lotte! Lotte!«

Ein leises Weinen.

»Lotte! Gib Antwort! Bist Du krank?«

»Heinrich, ich kann nicht heute -- nicht heute --«

»Bist Du krank, Lotte? Sollen wir einen Arzt holen?«

»Nein, nicht -- nicht! Ich bin nur müde -- müde!«

»Reg' Dich doch nicht so auf, liebe Lotte! Ich bitte Dich!«

»Ja, Heinrich, ja!«

Er stand noch ein Weilchen an der Tür, aber sie sagte nichts mehr. So
ging er und schärfte der Stenzeln ein, die Lotte nicht allein zu lassen.

Schräger war noch nicht zu sehen. Auch er hatte sich in seine Stube
eingeschlossen und kam nicht heraus; er gab auch keine Antwort. Nur
sein schlürfender Schritt war manchmal zu hören.

Schon gegen drei Uhr nachmittags erlosch der Tag. Heinrich kam aus der
Stadt zurück, wo er einiges für das Begräbnis besorgt hatte. Wieder
verlangte er Lotte zu sehen. Aber die Stenzeln überbrachte ihm nur die
Bitte, sie ganz allein zu lassen.

»Stenzeln! Was macht sie denn? Was tut sie so allein?«

Die Frau zuckte die Schultern.

»O du mein lieber Gott! Was wird sie machen? Nischt! Sie sitzt da und
grübelt und sagt kein Wort!«

»Stenzeln, bringen Sie ihr die Rosen und sagen Sie, ich will ihr heute
Ruhe gönnen; aber morgen muß ich sie sehen. Auf jeden Fall! Und sie
soll sich nicht grämen, der Gustav war ein armer, unglücklicher Mensch;
er hat's nicht besser verstanden.«

Die Stenzeln nickte und versprach alles auszurichten. Dann ging
Heinrich nach Hause.

Gegen sieben Uhr klopfte die Stenzeln an Schrägers Tür. »Herr Schräger,
machen Sie auf! Sie müssen doch was essen!«

Er öffnete. Entsetzt wich die Stenzeln zurück. Dieser Mann sah aus wie
ein zusammengeducktes, furchtsames Tier.

»Herr Schräger! Jeses! Wie sehn Sie denn aus?«

Er lehnte sich an die Wand und sah sie lauernd an.

»Ist jemand gekommen? Hat jemand gefragt?«

»Wer soll denn gekommen sein?«

»Niemand gefragt? Nach mir? Nach mir, Stenzeln?«

»Wer denn? O Gott, wer denn?«

»Stenzeln, wenn der Wachtmeister kommt, ich -- ich bin nicht da! Hörst
Du? -- Nich da! -- Fort -- verreist! -- Hörst Du?«

»O du mein Himmel, er kommt ja nicht! Ach Gott, so ein Unglück, so ein
schreckliches Unglück!«

Er kam ihr ganz nahe.

»Stenzeln! Sagen die Leute was über mich?«

»Was sollen sie denn sagen?«

»Ich hab' nischt gewußt, Stenzeln! Hörst Du? Nischt gewußt! Sag's den
Leuten! Ich -- ich kann nich dafür, ich bin unschuldig! Hörst Du? Sag's
den Leuten, sonst verklag' ich sie, sonst verklag' ich sie alle! Sag'
ihnen das!«

Er sank auf einen Stuhl. Die Stenzeln fing an zu weinen.

»Kommen Sie doch mit herunter, Herr Schräger! Bleiben Sie doch nich so
alleine!«

Er schüttelte sich.

»Geh' Stenzeln, geh' raus! Es kommt jemand im Hausflur. Geh'! Sachte!
Sachte! Sag' nischt, Stenzeln, sag' nischt! Ich bin nich da! Hörst Du?
Geh', geh' raus! Stenzeln, geh' raus!«

Er drängte sie durch die Tür und schloß hinter sich ab.

       *       *       *       *       *

Tief in der Nacht war's. Die Lotte lag mit weit geöffneten Augen
im Bett. Es war stockfinster in der Stube, und die Uhr war stehen
geblieben. Draußen stieß der Sturm an den Giebel, und die Äste eines
hohen Baumes schlugen manchmal an die Fenster.

Das Mädchen faltete die Hände. Da drückte sie etwas -- das war der
goldene Ring!

Sein Ring! Und drunten lag ihr Bruder!

Wie die Rosen dufteten!

»Er hat's nicht besser verstanden, der arme, unglückliche Mensch!«

So edel war der Heinrich!

Aber sie -- sie? War es nicht ein Verbrechen, daß sie diesen Ring trug?
Daß sie in einer Familie Liebe und Glück suchte, wohin ihr Bruder
Armut, Not, Tod und Schande getragen?

Die Lene! O Gott, was würde die Lene sagen! Wenn sie das jetzt erfuhr,
dann ruhte ihr Fluch über ihrer und Heinrichs Liebe, jetzt mit Recht.

Der Ring! Wie er grausam drückte!

Wenn sie sterben könnte, und das auslöschen könnte, dann stürbe sie
gern, noch diese Nacht!

Da! -- Draußen ging ein Schritt, ein ganz leiser Schritt! -- Jetzt! --
Ein matter Lichtschein huschte unten an der Türschwelle vorbei. Was war
das? -- Was war das? -- Und nun ein Wimmern, ein furchtbares, schwer
unterdrücktes Wimmern unten im Hausflur.

»O Gott, der Vater!«

Nach kurzer Zeit schlich sie die Treppe hinab. Sie beugte sich über das
Geländer. Da sah sie ihn. In der offenen Tür zu der Totenkammer kniete
er, zusammengekauert, den Kopf an den Türpfosten gepreßt.

Das Licht, das er getragen hatte, war erloschen; nur das Totenlämplein
schien fahl aus dem Gewölbe.

»Vater! Vater!«

Sie flüsterte es. Entsetzt zuckte er zusammen.

»Wer ruft mich? O, Du Lotte, Du -- bloß Du -- bloß Du!«

Sie eilte hinab und faßte ihn an der Hand.

»Komm mit! Komm mit zu mir herauf!«

»Ja! -- Ja! -- Ja! -- Lotte -- zu Dir -- oh -- da -- da --«

Er sah noch einmal auf den Toten, auf sein schreckliches,
angstverzerrtes Gesicht und die zertrümmerte Stirn. Da schloß Lotte das
Gewölbe.

Droben zündete sie mit bebenden Händen die Lampe an.

Als Licht wurde, stöhnte er auf. Dann würgte er um Worte.

»Ich halt's nich aus -- ich muß Dir's sagen, es erwürgt mich -- ich
hab' so schrecklich Angst -- Lotte -- ich -- ich bin schuld an allem!«

Sie sah ihn verständnislos an.

»Lotte, ich hab's ja gewußt, ich hab's ja immer gewußt.«

»Was? -- Was?«

»Daß er -- daß unser Gustav angezündet hat!«

»Das hast Du gewußt?«

Sie stammelte es.

Er sah sie an, duckte sich zusammen und stand wortlos da.

»Rede! Rede! Sag' alles! Alles! Rede! Sag's! Sofort! Sag' alles! Ich
will's!«

Er ächzte, aber er brachte kein Wort heraus.

»Wann hast Du's gewußt?«

Der Verbrecher stand vor ihren zürnenden Richteraugen.

»Lotte! Hab' -- hab' Erbarmen, Lotte!«

»Wann hast Du's gewußt?«

»Gleich -- gleich am ersten Tage!«

»Vor dem Gerichtstag?«

»Ih -- ih -- ja -- ja -- vor dem Gerichtstag!«

Eine furchtbare Pause. Mit ganz leisem, teuflischem Pfeifen zog der
Wind um die Ecke des Hauses.

»Du! -- Du! -- Du!«

Sie ging auf ihn zu mit furchtbarem Haß in den Augen.

»Sag' alles! Alles!«

»Ich -- ich -- ich hab' falsch -- falsch geschworen, Lotte!«

Sie sprach nicht. Sie hörte nur --! Ein Posaunenstoß dröhnte übers
Haus, ein Knirschen und Klappern und ein winselndes Wimmern.

»Falsch geschworen? Warum?«

»Den Buchenhof wollt' ich -- den Buchenhof -- für -- für Euch.«

»Den Buchenhof wolltest Du?«

Das sagte sie mit gebrochener Stimme.

Dann ging sie langsam durch die Stube, schob den Vorhang vom Fenster
weg und sah hinüber nach dem Buchenhofe.

Schräger setzte sich auf den Rand ihres Bettes und starrte sie an.

Sie stand regungslos, die Hände hingen ihr schlaff herab.

Nach langen Minuten wandte sie sich um. Langsam kam sie vom Fenster
zurück und trat an den Tisch. Dort zog sie den goldenen Ring vom
Finger, küßte ihn und legte ihn neben die Rosen.

»Was machst Du, Lotte?«

Sie sah ihn mit toten Augen an.

»Das ist jetzt natürlich aus! Die Tochter und die Schwester von solchen
-- solchen Verbrechern -- -- kann er nicht heiraten.«

»Was willst Du tun, Lotte?«

»Ich werd' ihm alles sagen!«

Er stöhnte auf.

»Ihm sagen!«

Dann war es still. Die Lampe qualmte auf. Nach einer Weile schlug ein
Ast ans Fenster, und es sprang eine Scheibe. Da stand Schräger auf.
Langsam ging er durch die Stube bis zu einem Korbe, nach dem er in der
Zwischenzeit hingestarrt hatte.

Aus dem Korbe nahm er eine Wäscheleine. Lotte hörte das leise Geräusch,
blickte auf und sah den Vater mit dem grauen Strick in der Hand.

»Vater!«

Er drehte sich nicht um.

»Vater!«

Sie war bei ihm, riß ihm den Strick aus der Hand und schleuderte ihn
hinter sich. Er fiel auf ihr Bett und lag wie eine graue Schlange über
den weißen Kissen.

»Wenn Du's ihm sagst, komme ich auf meine alten Tage ins Zuchthaus! Da
is es besser -- Schluß!«

»Vater, ich sag's ihm nicht -- ich werd's ihm nicht sagen, ich werd'
Dich ja nicht verraten, aber Du mußt alles tun, was ich will -- alles!«

[Illustration]



[Illustration: Kapitel 18]


Im Buchenhofe schlug eine Uhr die dritte Morgenstunde. Heinrich
Raschdorf lag wach im Bett. Aus dem Dämmerlicht leuchtete matt eine
Silberschrift von der Wand: »Des Vaters Segen bauet den Kindern Häuser.«

Der Ruhelose schloß die Augen und sprach mit sich selbst, weil er
sprechen mußte.

Der schuld war, lag drüben stumm und kühl. Seine arme Seele war
hinüber. Und den Reinen gehört das Leben. Das zertrümmert nichts: kein
Freundeszorn, kein Schwesterfluch. Auf ein reines Leben kommt kein
Unsegen hernieder, auch nicht von einem Geopferten.

So kämpfte Heinrich Raschdorf wider sein empfindsames Herz. Er kämpfte
lange vergebens. Drunten schlug die heisere Uhr viermal, dann fünfmal,
ohne daß sich die Qual des jungen Mannes vermindert hatte. Erst gegen
Morgen fiel er in schweren Schlummer.

Als der Tag lange schon ins Zimmer leuchtete, wachte Heinrich Raschdorf
auf. Es war zehn Uhr vorbei. Hastig kleidete er sich an und ging sofort
hinüber nach dem Kretscham.

»Ich hab's verschlafen, Stenzeln. Wie geht's? Was macht Lotte?«

Die Stenzeln ging nach der Kommode.

»'n Brief schickt sie, sie is in die Stadt. Um sieben schon. Sie muß
sich ja die Trauersachen besorgen. Und der Herr is in seiner Stube
und kommt nich raus. Da is der Brief! 's is a Jammer, wie das Kind
ausgesehen hat heute früh.«

Heinrich zerriß den Briefumschlag und las einen Satz. Dabei schluckte
er heftig, wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und trat mit
dem Briefe ans Fenster.

»Sie! -- Sie! -- Sie! -- -- Stenzeln! -- -- Da -- da -- sie ist ja fort
-- sie ist ja fort, Stenzeln!«

»Herr Raschdorf! Jeses, was reden Sie denn?«

»Stenzeln, sie ist fort! Sie kommt nicht wieder! Sie kommt nicht
wieder!«

»Ach Gott, Herr Raschdorf, ach Gott. Das ist ja nich möglich -- was --«

Er schob sie beiseite und stürmte die Treppe hinauf.

»Herr Schräger! Machen Sie auf!«

Von den Schlägen seiner Fäuste dröhnte die Tür.

Ein Stöhnen kam aus der Stube.

»Aufmachen! Ich hau' die Tür ein! Ich hau' wahrhaftig die Tür ein!«

Die Tür ging auf.

»Da -- der Brief! Sie ist fort! Sie schreibt, sie will mich nicht
heiraten! Sie kommt nicht wieder! Das ist ja verrückt! Das ist ja total
verrückt!«

Schräger starrte mit bleichem Gesicht und weitgeöffneten Augen den
rasenden jungen Mann an.

»So reden Sie doch! Reden Sie doch ein einziges Wort! Wissen sie, daß
sie fort ist, daß sie nicht wiederkommt?«

Schräger keuchte.

»Ja!«

»Sie wissen's? Und Sie sagen mir nichts? Sie lassen sie fort? Sie
lassen mich schlafen? Mensch!«

Er erhob die Fäuste gegen ihn. Schräger duckte sich zusammen.

»Wegen 'm Gustav! Bloß wegen 'm Gustav,« stammelte er.

»Wohin?! Wohin ist sie?«

»Ich -- ich weiß nich.«

»Das ist nicht wahr! Das ist Schwindel! Das ist 'ne Lüge! Ich will's
wissen! Wohin ist sie? Wohin ist die Lotte?«

»Sie -- sie hat mir's nich gesagt.«

»Wohin ist sie?!«

Das schrie er.

»Ich weiß nich, wahrhaftig, ich weiß ja nich! Ich kann nischt dafür!
Ich kann ja gar nischt dafür!«

Heinrich Raschdorf stand zitternd vor ihm. Auf Sekunden mußte er mit
sich kämpfen, den Mann nicht zu mißhandeln, ihm nicht mit Gewalt das
Geständnis zu entreißen. Dann aber warf er den Kopf zurück, grub die
Hände in die Taschen und ging ein paarmal rasch durch die Stube.
Schließlich setzte er sich auf einen Stuhl, Schräger gegenüber.

»Ich will ja vernünftig sein, ich will ja nicht schreien, ich will ja
alles auf mich nehmen, aber das müssen Sie mir sagen, wohin sie ist. Es
ist ganz klar, daß Sie mir das sagen müssen. Sie ist doch meine Braut!«

»Heinrich, ich weiß nich! Sie will weit fort. Und ich soll die
Wirtschaft verkaufen, und dann soll ich nachkommen.«

»Wohin sollen Sie nachkommen?«

»Das weiß ich nich. Das wird sie erst viel später schreiben, sagte sie.
Sie wird erst einen Ort suchen.«

Es wurde still. Heinrich Raschdorf starrte mit bewegungslosem Gesichte
den alten Schräger an. Unten wurde die Tür geöffnet; -- zwei Männer
stapften in den Hausflur und setzten etwas nieder.

»Guten Tag! Wir bringen den Sarg!« sagten sie.

Der alte Schräger hörte es und legte die Hände über das Gesicht. »Ich
wollte, es gält' mir!«

Heinrich hörte von alledem nichts. Nach einer Weile erhob er sich.

»Und sie hat nichts für mich hinterlassen als den Brief?«

»Sonst nichts!«

»Sagen Sie: Können Sie mir schwören, daß Sie nicht wissen, wohin sie
ist, warum sie fortgeht, schon vor dem Begräbnis? Können Sie mir das
schwören?«

»Schwören?! Nein, schwören tu ich nich! Nein! Aber ich weiß nich, wo
sie hin ist. Ich hab' sie selber gefragt; sie sagte, ich würd' es Ihnen
verraten, und gerade deshalb sagte sie mir's nich.«

»So leben Sie wohl, Herr Schräger! Ich hab' hier weiter nichts mehr zu
tun.«

»Heinrich! Herr Raschdorf! Bleiben Sie noch, bleiben Sie noch ein
kleines bißchen! Es ist schrecklich so alleine. Und dann -- ich hab'
eine Bitte, die hat mir noch die Lotte aufgegeben.«

»Was?«

Schrägers Gesicht wurde feuerrot, und das Wasser stieg ihm in die Augen.

»Was für eine Bitte?« drängte Heinrich.

»Kaufen Sie mir -- kaufen Sie mir meine Wirtschaft ab. Ich -- laß' sie
Ihnen für das halbe Geld.«

Die Tränen liefen dem Manne übers Gesicht, und man sah, wie er die
Worte unter furchtbarem Schmerz und schwerer Überwindung hervorbrachte.

»Ihre Wirtschaft? Das will die Lotte?«

»Ja! Ich hab's ihr in die Hand versprochen. Und wenn ich's nich tue,
seh' ich sie nich wieder.«

Heinrich war nicht gleich fähig, etwas zu sagen. Nach einer Weile erst
fragte er:

»Warum will sie das?«

»Sie meint, weil Ihr -- weil die Raschdorfs durch uns -- ich will sagen
durch unseren armen Gustav geschädigt worden sind.«

»Ja so! Und vielleicht auch, weil sie mich ohne Abschied im Stich läßt.
Da soll ich eine Wirtschaft zu halbem Preis kriegen. Eine Abfindung
soll ich bekommen.«

Er lachte bitter. Sie ging nicht nur ohne Abschied von ihm, sie schied
mit einer Beleidigung.

»Herr Schräger, ich mag Ihre Wirtschaft nicht, ja, Sie können
erleichtert aufatmen! Ich mag sie nicht umsonst! Sie ist auch umsonst
noch zu teuer. Wenn die Lotte das Gewissen drückte, dann hätte sie
wissen müssen, daß es einen einzigen Schadenersatz für mich gab, und
das war sie selbst. Mit einer Wirtschaft ist mir nicht gedient. Im
Gegenteil! Wenn Sie den Buchenhof haben wollen, spottbillig haben
wollen, können Sie ihn heute oder morgen haben. Heute oder morgen, je
eher, je lieber!«

Ein ganz leises, verirrtes Leuchten blitzte durch die Äuglein des alten
Wirts; es erlosch gleich wieder.

»Den Buchenhof? Billig? -- Was nützt's! Es is zu spät! Es geht nich
mehr!«

»Und hat Ihnen die Lotte nicht gesagt, wann sie Ihnen Nachricht geben
will?«

»Ja! Zeitigstens in einem Jahre! Ich hab' ihr tausend Mark mitgeben
müssen. So lange das reicht, schreibt sie nich.«

»So leben Sie wohl, Herr Schräger! Lassen Sie sich's gut gehen!«

»Bleiben Sie noch ein bißchen, ein kleines bißchen.«

»Nein! Ich hab' keine Zeit. Ich habe schon zu viel Zeit hier
zugebracht. Leben Sie wohl!«

Die Treppe ging er hinab. Er hielt sich fest an das Geländer und
schwankte doch und trat schwer auf.

Unten aus dem Hausflur klang Schritteschlürfen und gedämpftes Sprechen.
Sie legten den Toten in den Sarg.

Heinrich wandte sich nicht um, und als die Stenzeln kam und ihn in der
Haustür am Ärmel faßte, schüttelte er sie ab.

Drüben in seiner Wohnstube sah er sich um.

Da war er! Da kam er wieder! Er kam von drüben, kam wieder nach Hause.

Sein Lachen schallte unheimlich auf.

»Ist das schön! Ist das schön zu Hause!«

Langsam setzte er sich hinter den Tisch und lehnte den heißen Kopf
gegen die kühle Mauer. Die Augen starrten ausdruckslos nach der Decke;
der Mund war ein wenig geöffnet. Wie schwere Betäubung lag's auf seiner
Stirn. Eine graue Spinne kroch aus einem Winkel, blieb an der Decke
gerade über ihm stehen und starrte ihn mit ihren unbeweglichen Augen
unheimlich an.

Lange saß er so am Tisch, ohne sich zu rühren. Dann ging er schwer
durch die Stube, zog Lottes Brief aus der Tasche, öffnete den Ofen und
warf den Brief hinein.

»Da, du verfluchter Wisch! Da brennst du, brennst wie Schwefel! Oho, da
steht das Wort »Liebe«! Siehst du, wie schön eine Lüge brennt? O ja!
Und jetzt ist's gut, jetzt ist's aus!«

Er setzte sich auf die Ofenbank. Des Vaters Jagdgewehr fiel ihm ein. Es
war zweiläufig. Die eine Patrone war abgeschossen, die andere steckte
noch. Am Ende wäre sie noch brauchbar. Schade um so eine Patrone, wenn
sie jahrelang unbenutzt in einem Laufe steckt!

Er sah hinüber nach des Vaters Bilde.

»Jawohl, du -- wir haben hübsche Nachbarsleute! Da ist was zu holen,
etwas ganz Bestimmtes, das keiner zweimal braucht!«

Eine halbe Stunde verging. Grauen, Schmerz, Wut wechselten in
seiner Seele ab, über alles ging eine riesengroße Verwunderung, die
Verwunderung, daß ein Mensch so handeln könne wie die Lotte, die
Verwunderung, daß einen Menschen ein so jammervolles Schicksal treffen
könne wie ihn. --

Das Hoftürchen ging draußen, und ein Männerkopf wurde an den Fenstern
sichtbar -- Mathias!

Heinrich rührte sich nicht, sagte auch kein Wort, als es leise an die
Tür klopfte. Da öffnete Mathias behutsam und trat ein.

»Heinrich!«

Der regte sich nicht und sah auf den Fußboden.

»Heinrich, die Lotte schickt mich zu Dir! Sie hat mir einen Brief
geschrieben.«

»So? Dir auch? Da kannst Du lachen! Mein Brief steckt schon im Ofen!«

Mathias trat zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Wir müssen miteinander reden, Heinrich!«

»Reden? Nein! Ich will nicht! Tu mir den Gefallen und geh' wieder.
Was kommst Du wieder? Ich kann niemand gebrauchen. Dich auch nicht!
Wirklich nicht! Sieh mich nicht so an! Es ist mir lästig!«

Mathias legte ihm beide Hände auf die Schultern.

»Nein, alter Heinrich! Ich geh' nich! Ich geh' bestimmt nich! Ich geh'
überhaupt nich mehr!«

Heinrich schüttelte die Hände ab.

»Gehst überhaupt nich mehr? Meinetwegen! Mir ist's egal! So bleib'
halt!«

Mathias ging nach dem Tische, nahm sich einen Stuhl und setzte sich.

»Weißte was, Heinrich, ich hab' mir's auf 'm Wege hierher überlegt --
Du mußt fort!«

Heinrich hob das Haupt und sah den Alten kurz und scheu an.

»Fort? Stimmt! Ich muß fort! Da hast Du recht.«

»Ja, wenigstens auf a Jahr. Nach Breslau mußt Du! Fort hier aus dem
Loche, wo Dir das Leben leid wird. In Breslau mußte Dich amüsieren oder
a bissel studier'n oder Geld totschlagen, is alles egal, bloß, Du mußt
hin!«

Heinrich lachte.

»Täusch' Dich bloß nicht! Ich geh' schon, geh' schon, aber nach
Breslau? Nein! Täusch' Dich bloß nicht!«

»Da is gar nischt zu täuschen! Du bist a ganz verpfuschter Kunde,
Heinrich! Zum Bauer taugste nich, mit a Leuten verstehste Dich nich,
der alte Großknecht und die Schwester laufen Dir fort, die Braut rückt
och aus -- Du paßt höchstens in die große Stadt. Dort wirste noch als a
Staatskerl gelten, dort gibt's viele solche Knöppe wie Du einer bist!«

Heinrich sah auf.

»Weißt Du nicht sonst noch ein paar Witze, Mathias?«

»Witze sind das nich, Heinrich! Sieh mal, darauf kannste nu Gift
nehmen: die allermeisten Menschen sind riesig dumm. Ich och und Du erst
recht! Ich alter Esel rück' aus, weil mir was nich paßt, und Du junger
Kerl sitzt dort, wo für Dich 's meiste Pech hingeschmiert is. Und das
sag' ich Dir: die Schräger-Lotte hat zehnmal mehr Verstand im Leibe,
wie Du und ich zusamm'n.«

Heinrich lachte höhnisch.

»Ja, das muß man sagen!«

»Man muß wirklich sagen! Die hat 'n Charakter! Das is amal eine, die
nich an sich denkt. Dagegen sind wir alle klunkrige Kerle. Und was das
Schlimmste is, daß ich das erst einseh'n lern', wo sie fort is. Das is
a Prachtmädel, die Lotte!«

Heinrich stand von der Ofenbank auf.

»Ich möchte wissen, was das alberne Gerede für einen Zweck hat. In
Wirklichkeit ist sie eine dumme Gans, oder religiös-verrückt, oder
so -- alles dasselbe! Weil ihr blödsinniger Bruder meinem Vater die
Scheune angezündet hat, läuft sie mir fort, macht sie mich unglücklich.
Damit sühnt sie das! Na, Mensch, siehst Du nicht ein, daß das
hirnverbrannt ist?!«

Er lachte, daß er sich schüttelte.

Mathias sah ihn milde an.

»Auf a bissel Geschimpfe kommt's nich an, Heinrich. Aber das sag' ich
Dir: wenn Du Dich etwa umbringen tät'st, wärste a Schmachtlappen!«

Der junge Buchenbauer fuhr wild auf.

»Was?! Wie?! Wer sagt das! Was geht Dich das an? Was? Hast Du mir was
zu sagen? Du?!«

»Nö! Aber raten möcht' ich Dir was: Leg' Dich a bissel schlafen!«

»Mathias! Bist Du denn besoffen? Wie kommst Du denn bei meiner jetzigen
Lage zu solch dämlichem Gerede?«

»Es wär' Dir sehr gutt, wenn Du a bissel schlafen tät'st, nachher
könnt' man doch mit Dir reden. Ob Du nu willst oder nich, das is egal.
Wir müssen auch endlich amal miteinander verrechnen. Wer weiß, was nu
aus Dir wird, und um mein Geld möcht' ich nich kommen.«

Der Buchenbauer sah Mathias unsicher an.

»Das sind Ausreden! Um das Geld ist Dir's nicht. Ich versteh' Dich
schon!«

»Schön, wenn Du mich verstehst! Jawohl, ich geh' Dir nich vom Halse,
bis Du schläfst, oder bis Du wieder andere Augen hast -- nich solche!
Verstehste mich? Und rausschmeißen kannste mich nich, keen Knecht
packt an, und alleine biste zu schwach. Ich geh' Dir nich vom Leder,
Heinrich, Du magst machen, was Du willst.«

Heinrich Raschdorf trat mit verbissenem Zorn ans Fenster. Der Mann
wollte ihn durch das Gerede um seine Stimmung bringen, um seine
Stimmung. Das merkte er.

»Mathias, Du hast mich seither nicht gefunden, warum kommst Du jetzt?
Ich brauch' Dich nich, ich will Dich nich! Ich will, daß Du mich
machen läßt, was ich Lust hab'! Ich nehm' von Dir keine Lehre mehr an,
verstehst Du! Und wenn Du durchaus hier bleiben willst, gehe ich!«

»Wenn Du gehst, geh'n wir zusammen, Heinrich,« sagte Mathias und erhob
sich.

Voll Ingrimm sank der junge Buchenbauer auf einen Stuhl.

       *       *       *       *       *

Bis gegen zwei Uhr nachmittags zankten sie miteinander. Gegen drei Uhr
schlief Heinrich Raschdorf wirklich auf dem Sofa ein. Seit drei Nächten
hatte er nicht mehr ordentlich geschlafen, und es lag wie schwere
Betäubung auf seinem Hirn.

Mathias setzte sich in den Lehnstuhl am Fenster und wachte bei ihm.
Durch den tiefen Ernst seines Gesichtes schimmerte ein Lächeln über den
Sieg, den er errungen. Nach einiger Zeit kam der Schaffer in die Stube
getappt.

»Pst! Tritt doch nich so auf, Mensch!«

Der Schaffer zog die Holzpantinen aus und nahm sie in die Hand.

»Is wahr?« fragte er leise und zeigte mit den Pantinen erst auf
Heinrich und dann nach dem Kretscham.

Mathias nickte.

»Ja, sie is fort! Weil ihr Bruder angezünd't hat, denkt sie, sie darf
nich als Frau uff a Buchenhof kommen. Sie hat zuviel Ehrgefühl.«

Dem Schaffer fiel eine Pantine auf den Fußboden.

»Pst -- Mensch! Halt' doch Deine Latschen feste! A muß schlafen!«

»A is wull -- a is wull -- ganz disperate um a Kopp?«

»Ja, aber geh' lieber raus! Ich erzähl' Dir's heute abend.«

Der Riese bückte sich gehorsam nach seinem verlorenen Pantoffel und
schlich aus der Stube.

       *       *       *       *       *

Der Abend kam. Mathias saß noch immer im Lehnstuhl und sah nach dem
Schlafenden, manchmal sehr sorgenvoll, aber dann auch wieder mit all
seiner zärtlichen Liebe. Es war doch sein guter, lieber Heinrich! Er
hatte ihn schwer vermißt die wenigen Wochen und nur immer keinen Mut
gefunden, wieder zu ihm zu gehen. Jetzt kann er ihn ohne allen Groll
anschauen. Die Liese ist im Frieden. Die einzige von allen, die im
Frieden ist! Die anderen alle sind zerstreut in der Fremde.

Nun war es schon ganz finster, und Heinrich schlief noch immer. Draußen
pfiff der Wind durch die Äste der Bäume.

Da ging die Tür leise auf. Eine dunkle Gestalt erschien und blieb
regungslos stehen.

»Wer kommt? Wer ist da?« flüsterte Mathias.

Ein leises Schluchzen kam von der Tür.

»Mathias! Ich bin's!«

»Lene! Du?«

Er ging hin, faßte sie an der Hand, zog sie nach dem Hausflur und
schloß vorsichtig die Tür.

»Wo kommst Du her? Was willst Du?«

»Die -- die Schräger-Lotte hat an mich geschrieben. Heute nachmittag
kriegt' ich den Brief.«

»Auch an Dich? Komm mit 'rauf, Lene; da drinnen schläft der Heinrich.«

In der Giebelstube saßen sie beide zusammen. Lene lag mit dem Gesicht
auf dem Tisch. Mathias las den Brief.

        Liebes Fräulein Raschdorf!

    Eine Unglückliche schreibt an Sie. Ich bin die Braut Ihres
    Bruders geworden, weil ich ihn liebte und weil ich des festen
    Glaubens war, daß die Vorwürfe, die Sie und Mathias Berger
    meiner Familie machten, unbegründet seien. Durch den Tod
    meines unglücklichen Bruders habe ich die traurige Gewißheit
    gewonnen, daß ich mich getäuscht habe und daß Sie im Recht
    waren. Deshalb gebe ich die Verlobung auf, weil ich nicht in
    ein Haus eindringen will, das durch meine Familie so schwer
    geschädigt worden ist. Ich gehe in die Fremde und bin, wenn Sie
    diesen Brief bekommen, schon weit von der Heimat, wohin ich
    nie zurückkehren will. Ich gehe fort, weil Ihr Bruder alles
    versuchen würde, mich umzustimmen, weil ich mich zu schwach
    fühle, auf die Dauer zu widerstehen, unfähig, ihm auch nur
    noch einmal unter die Augen zu treten, und weil ich nicht sein
    werden könnte, ohne ihn zu betrügen. Ich bitte Sie um alles
    Kummers willen, den Sie durch uns erfahren haben, um Verzeihung
    und flehe Sie an, zu Ihrem unglücklichen Bruder zurückzukehren,
    da er jetzt nicht allein sein kann und darf.

            Charlotte Schräger.

Mathias Berger schob den Brief zurück und wurde rot im Gesicht.

»Lene, wir haben ihr unrecht getan. So -- so wie die wird selten eine
sein.«

Das Mädchen antwortete nicht; sie schluchzte nur heftig. Nach einer
Weile sagte sie:

»Sie muß zurück -- sie muß zurück zu ihm!«

»Geht nich, Lene, geht ja nich! Es weiß niemand, wo sie is, nich amal
ihr Vater!«

Und an den zwei Menschen erfüllte sich wieder, was so alt ist wie die
Welt: In allen Feindseligkeiten der Menschenkinder ist es die edle Tat
allein, die den Sieg findet, die hinübergeht ins feindliche Lager, den
Gegner anschaut mit milden, magnetischen Augen und, während sie ihn
verwirrt und bestürzt macht, ihm die Waffen sacht, aber unwiderstehlich
aus der Hand nimmt.

Die beiden schämten sich voreinander und vor sich selbst. Dann suchten
sie einen Trost herbei: sie hätten's nicht besser gewußt.

Sie sprachen eine Weile miteinander, dann gingen sie leise hinab nach
der Wohnstube. Die Lampe brannte, und Heinrich saß am Tisch. Er schaute
nicht auf, als sie eintraten.

Wieder blieb die Lene an der Tür stehen; dann plötzlich eilte sie durch
die Stube und kniete vor dem Tisch nieder.

»Heinrich!«

Er sah sie überrascht an.

»Lene -- was willst Du hier?«

Das Mädchen war unfähig, ein Wort zu reden.

Mathias faßte Heinrich um die Schultern.

»Sei gut, Heinrich! Die Lotte hat an sie geschrieben. Sie sieht ja
jetzt auch ein, daß sie der Lotte unrecht getan hat, und ich auch.«

Heinrich lachte.

»Das ist alles, was sein kann, daß Ihr das einseht! Das ist ja gerade
noch zeitig genug. Nachdem alles kaput gegangen ist, sehen sie's ein!«

»Heinrich, laß mich wieder hier, laß mich wieder bei Dir!« schluchzte
Lene.

»Nein! Wer fortläuft, braucht nicht wiederzukommen! Niemand! Nicht
Mathias, nicht Du und auch die drüben nicht! Sie hätte nicht nötig
gehabt, so heimlich zu tun; ich hätt' sie nicht geholt. Und Dich
brauch' ich nicht mehr! Ich brauch' niemand!«

Die Lene erhob sich.

»Soll ich -- soll ich wirklich gehen, Heinrich?«

»Ja!«

»Nein, sie geht nich, und ich geh' auch nich! Wir bleiben hier. Morgen
früh, wenn Du willst, werden wir gehen. Nich jetzt in dem Wetter und
in der Nacht! Das kannste nich verlangen!«

Heinrich antwortete nicht. So setzten sich beide an den Tisch. Eine
Weile waren alle stumm, dann sagte Mathias:

»Heinrich, willste uns nich sagen, was Du machen wirst?«

»Ist nicht nötig!«

Da sagte Mathias nichts mehr. Er wußte, daß der junge Buchenbauer, in
dem es fürchterlich arbeitete, von selbst sprechen würde. So kam es
auch. Er sprang nach einer Weile auf und reckte die Arme in die Luft.

»Fort muß ich -- fort, fort aus diesem elenden, verfluchten Hause --
oder -- oder --«

»Heinrich, sieh mal, es wär' schon gutt, wenn Du vernünftig mit uns
reden tät'st. 's beste is, Du verkaufst a Hof, und bis Du ihn los
bist --«

»Soll ich hier bleiben? Hier? Nicht einen Tag! Nicht einen halben Tag
mehr!«

»Das sag' ich auch. Du mußt bald fort! Morgen! Und daß die Wirtschaft
nich allein is, bleiben die Lene und ich hier, bis wir sie los sind.
Dann schicken wir Dir das Geld, und Du brauchst Dich um nichts weiter
mehr zu kümmern, auch um uns nich.«

Darauf hörte Heinrich, und es kam eine Unterredung zustande, bei
welcher Mathias Berger fast ganz allein sprach, in deren Verlauf er
aber doch den jungen Buchenbauer vollends für seine Pläne zu bestimmen
wußte.

       *       *       *       *       *

So nahm Heinrich Raschdorf am anderen Tage Abschied vom Buchenhofe. Er
war blaß, sonst verriet keine Miene seine Aufregung. Mit Mathias und
Lene sprach er nur von rein geschäftlichen Dingen. Dem Mathias würde
er alsbald eine gerichtliche Vollmacht schicken, den Buchenhof zu
verkaufen.

Kurz nach Mittag gab er dem Schaffer den Befehl, anzuspannen. Er selbst
trat noch einmal in die Wohnstube.

»Meine Kleider und Bücher schickt Ihr mir nach, wenn ich Euch meine
Adresse werde geschrieben haben!«

»Ja, Heinrich!«

»Sonst bleibt alles hier! Ihr könnt ja Auktion machen. Und wenn Ihr
selbst was zum Andenken behalten wollt, nehmt Ihr's Euch vorweg. Ich
will nichts.«

»Ja, Heinrich!«

Er ging noch einmal durch die Stube und sah auf einige Sekunden zum
Fenster hinaus. Dann wandte er sich um.

»So lebt wohl! Der Schaffer wird fertig sein.«

Die Lene brach in leidenschaftliches, lautes Weinen aus, und Mathias
hielt sich bleich an der Tischecke fest.

Heinrich blieb mitten in der Stube stehen. Ein paarmal hob sich seine
Brust krampfhaft, dann zuckte er die Schultern und ging rasch hinaus.

Unhörbar glitt der Schlitten aus dem weitgeöffneten Tor des
Buchenhofes, das bald darauf ein Knecht verriegelte.

Mit geschlossenen Augen fuhr Heinrich Raschdorf den Bergweg entlang;
erst als er in den Wald kam, blickte er auf.

Jetzt war nichts mehr von den Höfen zu sehen, nichts mehr vom Dorfe. Es
lag alles hinter ihm begraben dort unten in dem verschneiten Tal. Nur
die Stelle sah er, wo er ihr einmal die Maiglöckchen gepflückt hatte.
Dort lag jetzt eine Schneeschanze. Und das Brünnlein, das damals so
lieblich durch die Mittagsstille sang, war tot und still.

Ein Weilchen später tagte ein Turm auf. In dessen Nähe war der Bahnhof.
Dort liefen in die weiße, dunstige Ferne die Eisenschienen hinaus in
die Welt.

Gestern sie -- heute er! Jedes seinen Weg! Viel Schienen laufen vom
gleichen Platz, die sich auf keiner Station der Welt mehr kreuzen.

[Illustration]



[Illustration: Kapitel 19]


Auf dem Freiburger Bahnhof in Breslau stand ein Rekrut. Zwei
Bahnschaffner und drei Frauen hatte er bereits gefragt, ob denn der Zug
von Waldenburg her immer noch nicht komme, und jedesmal erfahren, daß
er sich noch gedulden müsse. So setzte er sich verdrossen auf eine Bank
der zugigen Halle, zog ein Telegramm aus der Tasche und las:

»Heinrich kommt vier Uhr nach Breslau. Abholen! Wichtiges vorgefallen.
Mathias.«

Hannes befühlte seine Soldatenbeine. Es steckte jetzt noch ein
furchtbarer Schreck darin, denn er hatte immer gedacht, ein
Telegramm könne bloß kommen, wenn jemand gestorben sei. Er hatte auch
augenblicklich angefangen zu heulen, als ihm das Telegramm übergeben
wurde, und dafür von seinem Hauptmann, der zufällig anwesend war, einen
Rüffel und gleich hinterher »Nachturlaub« bekommen, als dieser das
Telegramm gelesen hatte. So war der Alte: erst anschnauzen und dann von
selber Urlaub geben!

Die Beine, die Beine! Hannes ist fest überzeugt, daß er hinkt, wie er
so in schweren Gedanken wieder durch die Halle schreitet. Wichtiges
vorgefallen! Er ahnte, daß es nichts Gutes sein könne, und war
überhaupt nicht für »wichtige« Dinge.

Da fuhr der Zug donnernd in den Bahnhof! Der junge
Vaterlandsverteidiger lehnte sich an eine Säule und ließ die Leute an
sich vorübergehen. Nicht lange, da sah er ihn, den er suchte.

»Heinrich! Heinrich, was ist denn passiert? Was ist denn Wichtiges
passiert?«

»Du -- Hannes! Wo kommst Du her? Woher weißt Du denn, daß ich --«

»Vorsicht! Platz da! Vorsicht!«

Sie gingen hinaus auf den freien Platz vor dem Bahnhof.

»Heinrich, sag' mir, ist jemand gestorben?«

Der sah ihn ernst und wortlos an.

»Heinrich, sag' mir's doch! Ist -- ist vielleicht mein Vater gestorben?«

Dem Rekruten schoß das Wasser in die Augen.

»Nein, Hannes! Sie sind alle gesund. Nur ich -- nur ich wäre beinahe
gestorben.«

»Du? Was fehlt Dir?«

»Jetzt nichts mehr! Jetzt fehlt mir gar nichts mehr!«

In einem Gasthause fanden sie einen stillen Winkel. Dort erzählte
Heinrich kurz, hart, oft vom eigenen Lachen unterbrochen, was ihn
hergeführt habe. Was er hier wolle, wisse er nicht. Nur von Hause
wolle er fort sein. Es sei ja so herrlich in Breslau. Dann gingen sie
auf Heinrichs Wunsch in ein Variété. Und ob Hannes noch im Gasthause
steinunglücklich gewesen war, hier war er überrascht von den blendenden
Dingen, die auf der Bühne vor sich gingen, und er vergaß vor lauter
Staunen allen Kummer.

Heinrich saß still neben ihm. Er fühlte den Hohn dieser Lage. Vor einer
Woche, ja noch gestern früh hätte er das nicht gedacht.

Eine Tiroler Sängertruppe trat auf. Sie sang ein Heimwehlied. Da ging
Heinrich nach dem Büfett und trank ein Glas Bier, während Hannes in
stummer Andacht dasaß. Die ganze Nacht saßen sie in Gasthäusern herum,
und beiden glühte der Kopf. Bis zur Kaserne begleitete Heinrich seinen
Freund.

»Gute Nacht, Hannes! Du warst noch der einzige, der mir treu geblieben
ist, Du und Dein Vater. Jetzt werden wir uns ja hier auch manchmal
sehen!«

Dann, wie er durch die nächtlichen Straßen irrte, wußte er: Es gibt
keinen Ort, wo man so sterbensallein sein kann, wie in der großen Stadt.

       *       *       *       *       *

Der Gymnasialdirektor war von jeher Heinrich Raschdorf sehr gewogen
gewesen. Er erinnerte sich seiner sehr wohl; denn Heinrich war ehemals
ein Freund seines Neffen und als solcher auch einigemal im Hause des
Direktors zu Besuch gewesen.

Jetzt, als er die Lebens- und Leidensgeschichte seines früheren
Schülers erfuhr, wurde sein Interesse wieder in hohem Maße wach. Es
ergab sich, daß die jahrelangen, eifrigen Studien Heinrichs von großem
Erfolg gewesen waren, und der Direktor versicherte, wenn Heinrich
Privatunterricht nähme und fleißig studiere, würde er alle Aussicht
haben, beim nächsten Abiturium als Hospitant das Examen zu bestehen.

So mietete sich Heinrich ein Zimmer und ergab sich eifrig dem Studium.
Es wunderte ihn, daß eine heimliche Freude in ihm aufgeblitzt war, als
der Direktor ihm die erfreuliche Aussicht eröffnet hatte. Und als er
sich selbst einen Stunden- und Arbeitsplan entwarf und seine Bücher
ordnete und aufstellte, mutete ihn das neue, fremde Zimmer ein ganz
klein wenig heimatlich an.

So kam es, daß Heinrich Raschdorf ein stiller Mann wurde, einer, der
nie lachte, aber auch nicht mehr klagte oder mit dem Schicksal grollte.

An den Sonntagen besuchte ihn Hannes. Der brachte immer ein gut Teil
urwüchsiger Laune mit. Heinrich ließ ihn plaudern und lachen. Nur von
der Heimat durfte er nicht reden. Und Heinrich Raschdorf wußte gar
nicht, daß er in diesem schlichten, gutmütigen Hannes immer noch ein
Teilchen Heimat liebte und für seine Sonntagssehnsucht begehrte, denn
ohne Hannes wäre kein Sonntag gewesen.

Kleine Episoden ereigneten sich, die den Kampf ums Vergessen
erschwerten. Einmal stiegen die jungen Freunde auf die Liebichshöhe.
Es steht da ein stattlicher Aussichtsturm, von dem man das Häusermeer
der Stadt Breslau gut übersehen kann und auch einen schönen Fernblick
genießt. Hannes verfiel wieder ins Staunen, Heinrich aber schaute
über die Stadt hinaus. Weit in dunstiger Ferne, im Südwest waren die
Waldenburger Berge sichtbar, die Berge seiner Heimat. Das wußte er noch
von seiner ersten Gymnasialzeit her, wo er oft dort oben seine Träumer-
und Heimwehstunden gehabt hatte. Und auch jetzt konnte sich seine
verbitterte Seele der tiefen Poesie, die von den Bergen der Heimat
herüberstrahlte, nicht ganz verschließen.

Ja, es ist so: Wenn uns Menschen eine Sehnsucht faßt, stehen wir immer
auf einem hohen Turm, von dem wir nach der Heimat schauen.

»Du, Heinrich, wo guckst Du hin? Dort nach dem großen Hause mit dem
runden Dache und dem Stern oben? Das is die Synagoge, das is nämlich
die Judenkirche.«

Heinrich antwortete nicht, er stand ins Schauen versunken stumm da.

Da legte auch Hannes die Hand über die Augen und sah in die Ferne. Und
da kam eine große Beweglichkeit in ihn.

»Du, Heinrich, was -- was sind denn das für Berge ganz da hinten? Dort?
Dort drüben!«

»Rat' mal, Hannes, rat' mal!«

»Ich weiß nich -- es sind doch nich, es sind doch nich etwa --«

»Ja! Die Waldenburger Berge sind's!«

»Heinrich!«

Der stieg schon rasch die Treppe hinab, während der Rekrut wie gebannt
dort oben stand und keinen einzigen Blick mehr übrig hatte für die
große Stadt, sondern mit sehnsüchtigen Augen nach dem Horizont schaute,
an dem doch nichts zu sehen war als ein paar matt abgegrenzte,
graublaue Linien. --

Ein andermal kam Hannes zu Heinrich, legte ein Paket auf den Tisch und
sagte:

»Da! Es ist Wurst! Es ist a Schiff von Hause gekommen, und da haste die
Hälfte!«

Heinrich sah ihn unwillig an.

»Wer heißt Dich das, Hannes?«

»Niemand! Ich selber! Ich will mich auch amal nobel machen, weil Du
mich doch immer freihältst.«

»Du nimmst das Zeug wieder mit, Hannes! Ich hab' genug zu essen!«

»Ich och! Und zu trinken och! Und für mich braucht keen Mensch mehr zu
bezahl'n, wenn Du das nich nimmst; ich hab' meine Löhnung. Verstehste?!«

Heinrich mußte die Wurst behalten; aber an dem Abend, da er davon aß,
konnte er nicht studieren. So schenkte er den ganzen Vorrat seiner
Wirtin. --

Als das Frühjahr kam, wurde Heinrich unruhig: der Bauer regte sich
in ihm. Täglich dachte er an die Feldarbeiten, für die nun die Zeit
gekommen war, und einmal ging er soweit spazieren, bis er einen
pflügenden Bauer traf. Dem sah er länger als eine halbe Stunde zu.
Langsam und in tiefen Gedanken ging er dann noch am Oderfluß entlang,
und als er heimkam, schrieb er an Mathias, er solle einstweilen seine
Bemühungen um den Verkauf des Buchenhofes einstellen. Er selbst werde
allerdings nie nach Hause zurückkehren, aber es könne doch sein, daß er
für den Hof noch eine andere Bestimmung träfe. -- So kam die Zeit des
Examens heran. In den letzten Monaten arbeitete Heinrich mit Anspannung
aller Kräfte, und sein Gesicht wurde blaß und schmal. Die Hände waren
längst wieder weiß und weich.

Einige Zeit später erhielt Hannes wieder ein Telegramm. Er erschrak
abermals heftig, beschloß aber, sich diesmal in keine vorzeitige Trauer
zu stürzen, sondern öffnete und las:

»Examen bestanden. Komme so bald als möglich zu mir. Heinrich.«

Der junge Kriegsmann stand ganz fassungslos, erstens, weil der Heinrich
nun ein wirklicher Student war, und zweitens, weil es möglich war, aus
demselben Ort, wo man lebt, ein Telegramm zu erhalten.

Er besorgte sich Urlaub, überzählte sein Geld, lieh sich noch drei Mark
hinzu, kaufte einen Bierkrug und machte sich mit dem Geschenk auf den
Weg zu Heinrich.

»Heinrich! Mensch! Ich bring' Dir ein sehr schönes, teures Bierseidel,
weil Du doch jetzt Studente bist!«

Da lachte Heinrich Raschdorf seit langer Zeit wieder das erste Mal.

Er schüttelte dem Freunde die Hand.

»Hannes, alter Kerl! Freust Du Dich wirklich so?«

»Freuen? Ich freu' mich so schrecklich, daß ich jetzt bestimmt wieder
mal Arrest krieg'. Denn ich hatte ganz gewiß gedacht, Du fällst durch!«

Als sie dann beisammen saßen und Heinrich aus dem neuen Kruge getrunken
hatte, sagte er:

»Hör' mal, Hannes, nun wollen wir mal über die Zukunft reden. Bis jetzt
war mir alles so recht egal, aber heute will ich wieder mal Pläne
machen. Also ich studiere Medizin.«

»Was?«

»Weißt Du, ich werd' ein Doktor. Kranken Menschen helfen, das ist noch
etwas, was sich lohnt. Die Liese ist auch glücklich, weil sie bei
Kranken ist. Und Du, Hannes, wirst wieder Bauer, wenn Du vom Militär
los bist. Mit dem Bergmann werden, das ist nichts für Dich.«

»Nee, wirklich nich! Aber es is um die fünfzehn Mark wöchentlich und um
die Lene. Die will ich doch heiraten.«

»Ja natürlich! Also kurz gesagt: Du pachtest mir den Buchenhof ab.«

Hannes zwinkerte ihn wehmütig an.

»Den Buchenhof abpachten? Das wär' was! Mein ganzes Vermögen is a Taler
Schulden.«

»Vermögen brauchst Du nicht; etwas hat ja die Lene. Du bezahlst die
Zinsen, und was von dem Gute und von der Ziegelei jährlich heraushängt,
das heißt, was übrig ist, davon gibst Du mir die Hälfte als Pacht, wenn
das Jahr um ist.«

Wenn Heinrich Raschdorf dem Hannes seine mathematische Prüfungsaufgabe
vorgerechnet hätte, so hätte ihm der mit keinem fassungsloseren Gesicht
gegenüber sitzen können als jetzt. Also gab ihm Heinrich einen langen,
deutlichen Bericht über alle Ausgaben, die der Buchenhof erforderte,
über die durchschnittlichen Erträgnisse und über den voraussichtlichen
Gewinn, mit dem beide zufrieden sein könnten, wenn sie sich bescheiden
einrichteten.

Das Ende vom Liede war, daß Hannes dem Heinrich um den Hals fiel und
zum Steinerweichen zu heulen anfing. Erst allmählich gewöhnte er sich
an das riesengroße Glück, das ihm bevorstand. Pächter vom Buchenhofe!
Er, der arme Sohn des Schaffers! Und die Lene sein! Und er konnte
wieder aufs alte, heimatliche Feld!

Nach einer Weile machte er plötzlich ein auffällig schlaues Gesicht,
entschuldigte sich, ging auf eine Viertelstunde fort und kehrte mit vor
Aufregung glühenden Wangen zurück.

»Weißte, was ich gemacht hab'?« fragte er, noch keuchend vor Aufregung.
»Telegraphiert hab' ich! Nach Hause telegraphiert, daß ich Pächter bin.
Die könn'n auch amal erschrecken, und ich kann mir das Telegraphieren
leisten!«

       *       *       *       *       *

Ein paar Tage später kam ein langer Brief des alten Mathias an
Heinrich. Eine Stelle darin hieß:

»Ich bin so froh, daß Du Arzt wirst. Du wirst ein guter Doktor sein,
weil Du fleißig und gewissenhaft bist. Es ist gut, daß Du hier los bist
von der Landwirtschaft. Es war nicht Deine Sache. Die Liese ist jetzt
als Schwester eingekleidet. Ich habe sie besucht, und ich schreibe
Dir, lieber Heinrich, daß ich ganz glücklich und froh wiedergekommen
bin. Ich werde auf meine alten Tage zufrieden sein, denn der Liese
geht es gut. Und es wird alles gut sein, wenn Hannes und die Lene die
Wirtschaft haben. Ich will gern bei ihnen bleiben, ich bin viel zu alt,
daß ich jetzt wieder so herumfahre. Und ich hab' gesagt: »Das ist unser
guter Heinrich«, wie ich es von Hannes und der Lene hörte. Von Lene
liegt ein Brief bei. Der Schaffer wollte auch gern einen schreiben,
aber er bringt nichts zustande. Er arbeitet jetzt von früh bis spät
und will bald gar nicht mehr schlafen gehen. Und manchmal, wenn er
auch ganz allein ist, fängt er ganz laut an zu lachen. Sagen läßt er
Dir bloß: er läßt sich schön bedanken. Aber da steckt alles darin. Die
Dorfleute sind jetzt ganz verändert zu uns. Sie sind sehr freundlich
zu mir, und wenn sie die Lene sehen, ziehen sie von großer Weite die
Mützen. Und die Ziegeln kaufen sie auch aus dem Dorfe alle von uns. Das
war ja früher nicht. Lieber Heinrich! Ich halte es für meine Pflicht,
Dir jetzt noch zu schreiben, daß seit vorgestern die Lotte Schräger
wieder zu Hause ist. Der alte Schräger hat die Wassersucht. Er hat
ihr nicht nachreisen können. Da ist sie ihn pflegen gekommen. Sie ist
in Pommern gewesen, bei einer Verwandten von ihrer Mutter. Wer es ihr
vom Vater geschrieben hat, weiß niemand. Wir haben sie noch nicht
gesehen, ich schäme mich jetzt, hinüber zu gehen. Wir haben jetzt mit
dem Schräger manchmal verkehrt. Er hat von selbst mit uns angefangen.
Er wollte mir immer für Dich den Kretscham verkaufen. Aber wie er dann
krank wurde, wollte er nicht mehr fort von zu Hause. Die Lene ist auch
manchmal drüben gewesen, als er krank war. Und wie jetzt die Lotte
heimgekommen ist, hat die Lene fragen lassen, ob sie etwas helfen
kann. Aber die Lotte hat sagen lassen: Nein, sie lasse sich bedanken
für den guten Willen. So mag alles Gott befohlen sein, und am meisten
Du, mein lieber Heinrich.«

Zehnmal, zwanzigmal las Heinrich Raschdorf diesen Brief. Zuletzt setzte
er sich auf das Sofa und schloß die Augen.

Sie war wieder zu Hause!

Zuerst war es ganz still in ihm. -- Aber dann begann das Blut zu
hämmern in seiner Brust und in seinen Schläfen. Ein Wirbeln faßte
ihn an, und nach der dumpfen Gewitterschwüle trostloser, heißer
Arbeitstage erhob sich ein Sturm, der jäh durch seine junge Seele ging.
Unaufhörlich dachte er an sie und gab sich keine Mühe, wie sonst, den
Gedanken los zu werden. Deutlich traten ihre Gestalt, ihr Gesicht vor
seine Seele; er hörte ihre Stimme, fühlte wieder ihren Kuß.

Sie war zu Hause, war nahe, erreichbar! Lotte!

Was war geschehen mit ihm, in ihm? Der wonnige Schreck, den ihm
die kurze Nachricht gebracht, hatte allen Trotz, alle Bitterkeit
niedergebrochen, hatte liebe verschleierte Bilder enthüllt. Im
leuchtenden Blitzfeuer seiner neu erwachten Leidenschaft lag das alte
Land erhellt vor seinen Augen, das Land, aus dem er geflohen war und
nach dem ihn seine Sehnsucht doch alle Tage wieder zurückwies.

Er vermochte an seinen trotzigen Prinzipien nicht festzuhalten, da das
Blut dagegen revoltierte; denn er war jung, und all sein Kampf gegen
sich war greisenhaft gegen das Gefühl, das ihn mit elementarer Kraft
wieder faßte.

Ein kleiner, kurzer Zweifel kam noch, dann kniete er schon vor einer
Kiste, warf Bücher und Briefe heraus und fand ein kleines Bild.

Das war die Lotte! Jetzt schauten ihn diese süßen Augen an, jetzt
lächelte ihm dieser Mund zu, und ehe er Zeit hatte, sich Rechenschaft
zu geben, riß er das Bild, das er in all den langen Monaten nicht
einmal angesehen hatte, an die Lippen und küßte es, küßte es mit jenem
Glückshunger, mit jener verzweifelten Gier, wie er einst die Lotte
selbst geküßt hatte im Herbstnebel.

Ein weinendes Jauchzen ging ihm durch die Seele, die Liebe lohte heiß,
flammend, leuchtend wieder auf in seinem Herzen. Die Stube ward ihm zu
eng, er rannte hinaus, fuhr vor die Stadt, lief stundenweit und kam
ebenso erregt, wie er gegangen war, wieder nach Hause.

Die Nacht kam, er fand keine Ruhe. Auch die Zweifel kamen wieder,
die Kämpfe. Ehrlich wollte er sein, ehrlich auch mit sich selbst.
Wieder rief er sich ihren Treubruch vor die Seele, den tiefen Jammer,
den sie ihm gebracht, aber der Groll blieb aus, der Zorn, das
Feindschaftsgefühl kam nicht wieder, die Hoffnung fegte sie weg wie
dürres Laub. Er rief sich alles ins Gedächtnis, was Mathias und Lene zu
ihrer Rechtfertigung gesagt, dachte erst jetzt zum erstenmal darüber
redlich nach, wie groß das Leid für sie gewesen, ihn aufzugeben und
fortzugehen. Denn sie hatte ihn geliebt, wahr und wahrhaftig geliebt,
wie ein Weib nur einen Mann lieben kann.

O, er mußte sie wieder haben!

Sollte er nach Hause? Hin zu ihr? In kaum drei Stunden konnte er sie
sehen!

In drei Stunden! Sie sehen, sie haben, sie nicht mehr loslassen!

Ein Zittern überlief ihn. Er zog sich an, sagte seiner Wirtin ein
paar Worte und stürmte fort. Der Nachtzug mußte noch da sein. Ja! Er
kaufte die Fahrkarte. Die Stimme zitterte ihm, als er die heimische
Station nannte. Er kam noch zu zeitig. Die kühle Nachtluft strich um
seine Stirn. Er ging erregt auf dem Bahnsteig auf und ab und blieb dann
plötzlich stehen.

Machte er sich lächerlich? Wie würde das sein, wenn er jetzt in tiefer
Nacht nach Hause käme? Dorthin, wohin er nie mehr zurückkehren wollte?
Wohl, sie war auch wieder heimgekommen. Aber der todkranke Vater hatte
sie zurückgerufen! Und was würde sie sagen? Die Schwester hatte sie
nicht sehen wollen! Und ihn? Wenn sie ihn wieder abwies oder gar vor
ihm aufs neue floh? War das nicht eine furchtbare Übereilung? Mußte er
sich's nicht erst genauer überlegen?

So war er plötzlich wieder mitten drin in tollen Zweifeln.

»Steigen Sie ein, mein Herr!«

»Danke -- danke, ich fahre nicht mit!«

Ein Pfiff, der Zug setzte sich in Bewegung und fuhr in die Nacht
hinaus, der Heimat zu -- ohne ihn.

Langsam schlich Heinrich die erhellten Straßen heim. Überall lustige,
lachende Leute. Keiner von diesen allen sah ihn auch nur an. Eine
schwere Verachtung gegen sich selbst wollte in ihm aufkeimen, aber es
blieb bei dem Gefühl der Ratlosigkeit.

In seiner Stube brütete Heinrich lange vor sich hin. Es war indes
Mitternacht vorbei. An Ruhe war nicht zu denken. So kam er auf den
Gedanken, an Lotte zu schreiben. Er schrieb einen Brief um den andern.
Gefallen wollte ihm keiner. Endlich gegen vier Uhr glaubte er das
richtige gefunden zu haben.

Er setzte sich ganz mit ihr auseinander. Er schrieb ihr von allen
seinen Qualen und Leiden. Und er suchte ihre Bedenken zu zerstreuen.
Der Bruder sei für seine Tat nicht verantwortlich; sie aber, Lotte, sei
doch ganz unschuldig. Und wenn etwas zu sühnen wäre, so könne es nur
dadurch geschehen, daß sie ihn glücklich mache. Auch die Stellung der
Seinen zu ihr habe sich gänzlich geändert, nachdem diese eingesehen,
eine wie rechtliebende Seele die Lotte sei. Und so schrieb er am Schluß:

»Ich will nicht ungeduldig sein; ich will Dir Zeit gönnen und Dich erst
dann sehen, wenn Du es willst. Um eines aber bitte ich Dich, Lotte:
Du hast noch meinen Ring. Steck' ihn wieder an, wenn Du diesen Brief
gelesen hast; sei wieder meine Braut!«

Die Sterne glänzten am Himmel, die Straßen waren ganz leer. Da ging
Heinrich Raschdorf abermals zum Bahnhof. Noch einmal las er die
Briefaufschrift, die für ihn den teuersten Namen der Welt enthielt, und
legte den Brief in den Kasten. Um neun Uhr am Vormittag würde sie ihn
schon haben. Das war in vier Stunden. In nur vier Stunden!

Ein qualvoller Tag verging, eine lange Nacht. Mit überwachten Augen und
doch mit brennend roten Wangen saß Heinrich Raschdorf frühmorgens am
Fenster seiner Stube und lugte aus nach dem Briefträger. Endlich kam
er; er kam auf das Haus zu. Heinrich Raschdorf ging durch die Stube
hinaus ins Entree und lehnte sich an die Tür. Jetzt! -- Da! -- »Herrn
Heinrich Raschdorf!«

In seiner Stube besah er den Brief.

»Inliegend ein goldener Ring.«

Er tastete nach einem Stuhl. Dort öffnete er den Brief. Ein goldener
Ring fiel heraus, klang kurz auf und rollte über die Diele. -- Er las
bruchstückweise:

»Sie beurteilen mich falsch, Sie können mir nicht in die Seele sehen
-- Sie wissen nicht alles -- ich kann Sie nicht betrügen -- kommen Sie
nicht her --«

Als die Vermieterin in die Stube trat, fand sie ihren Zimmerherrn
bewußtlos auf dem Fußboden liegen. Die Erschöpfung und Erregung war zu
groß, die Enttäuschung zu grausam gewesen.

       *       *       *       *       *

Es war ein Jahr später. Hannes saß bei Heinrich in der Stube und trug
seinen Zivilanzug. Er war heute vom Militär entlassen worden.

Melancholisch starrte der Bursche vor sich hin.

»Nu freu' ich mich gar nich mehr a bissel, daß ich nach Hause komme.«

»Wart' nur, Du wirst Dich schon freuen! Wenn Du erst auf der Bahn bist
und gar, wenn Du das Dorf sehen wirst --«

»Aber die Lene, Heinrich, die Lene! Das verwindet die ihr Lebtag nicht,
daß Du nich zu unserer Hochzeit kommst, und ich -- ich auch nich.«

Heinrich schwieg eine Weile; dann sagte er:

»Sieh mal, Hannes, es geht nicht! Wenn »sie« nicht mehr dort wäre, oder
wenigstens nicht so in der Nachbarschaft, dann bestimmt. Aber so ist's
unmöglich.«

»Und willste überhaupt nich mehr heimkommen?«

»Kaum! Vielleicht später einmal. Aber Ihr müßt mich besuchen, so oft
Ihr könnt!«

Sie saßen wieder eine Weile stumm da.

»Daß mir's schwer fällt, Hannes, das kannst Du mir schon glauben. Ich
hätte die Lene gern einmal wiedergesehen nach so langer Zeit und gar an
ihrem Hochzeitstage. Sie ist meine einzige Schwester!«

Hannes seufzte beklommen. Dann sagte er:

»Der alte Schräger macht nich mehr lange. A hat jetzt auch noch
Leberkrebs. Mathias hat's geschrieben. Na, und wenn a tot ist, wird ja
die Lotte fort aus 'm Dorfe. Dann kannste wieder heimkommen.«

»Ja, dann komme ich wieder nach Hause.«

Beim Abschied weinte Hannes.

»Heinrich, vergelt' Dir Gott alles! Gerade, wenn Du halt noch zur
Hochzeit gekommen wärst, da wär' unser Glück voll gewest.«

»Weine nicht, Hannes! Auf einen Hochzeitsgast kommt's ja nicht an. Sei
halt froh, daß Du heiraten kannst. Grüß' schön und reise glücklich!«

       *       *       *       *       *

Einige Wochen darauf klopfte es an Heinrichs Tür. Eine Frauensperson
trat ein.

»Heinrich!«

»Lene! Du -- Mädel -- Du?«

Die Geschwister lagen sich in den Armen und küßten sich innig.

»Lene, was willst Du, was willst Du heute? Du hast doch morgen
Hochzeit.«

»Ja, und ich komme Dich holen. Du mußt dabei sein, Du mußt! Ohne Dich
mach' ich nich Hochzeit. Ich hab' keinen Vater, keine Mutter, keine
Schwester, bloß ein'n einzigen Bruder, und der -- der will auch noch
nich mit mir in die Kirche gehn?«

»Lene, ich kann ja nicht, ich kann ja nicht --«

»Du kannst, und Du mußt auch! Im geschloss'nen Wagen fahr'n wir nach
Hause, im geschloss'nen Wagen fährst Du mit in die Kirche; sie sieht
Dich nicht, sie sieht keine Spur von Dir, und nach der Trauung kannst
Du ja bald wieder fort.«

»Aber Lene, heute kommst Du, heute?«

»Ja! Vormittags sind wir auf dem Standesamt gewesen, und dann bin ich
gleich nach Breslau.«

»Aber Mädel, warum kommst Du denn gerade an Deinem eigenen Polterabend?«

»Daraus mach' ich mir nichts, und wenn ich früher gekommen wär',
hätt'st Du Dir's wieder noch anders besonnen. Jetzt mußt Du mit, jetzt
nehm' ich Dich bald mit.«

Er sah das gesunde energische Mädchen an und konnte nicht hindern, daß
seine Augen glänzten.

»Lene, was bist Du für eine hübsche Braut! Und dann, Courage hast Du,
das muß ich sagen. Lene, ich freu' mich über Dich -- ich bin stolz auf
Dich -- ich komme mit Dir!«

[Illustration]



[Illustration: Kapitel 20]


Mit dem Abendzuge fuhren sie heim. Sie redeten kaum miteinander.
Zuweilen faßte Lene leise seine Hand. Und er lehnte im Winkel und sah
hinaus in die Finsternis, aus der nur die Bahnlaternen oder Lichter
eines friedlichen Dörfleins zuweilen aufblitzten.

Von Königszelt an waren sie allein im Wagen. Die Lichter von Freiburg
schimmerten auf, dann keuchte der Zug hinauf auf die Waldenburger
Hochebene.

»Ist es Dir ein so schweres Opfer, Heinrich?«

Er sah sie freundlich an.

»Wohl! Ach ja! Aber Du bist's wert, Lene!«

Sie faßte heftig seine Hand.

»Heinrich, Du glaubst gar nich, wie ich schon deswegen gelitten hab',
daß Du gerade mein Glück gemacht hast, und daß ich Dir früher so im
Wege gestanden hab'.«

»Laß gut sein, Lene! Ohne Dich wär's gerade so gekommen, wie's gekommen
ist. Und das sind alte Geschichten und nun vorbei.«

Auf dem Bahnhof wartete der Schaffer. Als er den Heinrich mitkommen
sah, geschah etwas, was noch nie in seinem Leben passiert war: die
Tabakspfeife fiel aus seinem sonst so hermetisch geschlossenen Munde.
Er hatte das erste Mal in all seinen Erdentagen so etwas Ähnliches wie
einen Juchzer getan.

»Hübsch is, hübsch is! Schön willkomm'!« Das war seine ganze
Begrüßungsrede. Und Heinrich fühlte das Herz heftig schlagen, als er
dem guten Riesen die Hand gab.

Dann ging es nach Hause. Eine schwere Aufregung ergriff den
Heimkehrenden, und doch hätte er diese Reise jetzt nicht mögen
ungeschehen machen. In alle Aufregung hinein wallte ein Gefühl der
Freude, das auch dem ärmsten aller Menschen nicht ganz fern bleibt,
wenn er nach Hause zieht.

Jetzt verließen sie den Wald; Lichter blitzten dort unten.

Die Buchenhöfe!

Mit geschlossenen Augen fuhr Heinrich am Kretscham vorbei und in seinen
Hof hinein. Dort sprang er rasch aus dem Wagen und trat ins Haus.

»Der Heinrich kommt! Der Heinrich kommt! Hurra!«

Das war der Bräutigam. Er fiel dem Freunde um den Hals und war ganz
außer sich vor Freude.

Und es trat einer leise heran: Mathias. Heinrich reichte ihm die Hand
und wollte etwas sagen. Aber die Lippen zuckten ihm nur, und er brachte
kein Wort heraus. So schlang Mathias den Arm um ihn, und die alten
Freunde standen eine Weile stumm und still.

Etwas später stand Heinrich mitten in der Wohnstube und schaute sich
um. Es war noch alles wie sonst: der Ofen strahlte eine behagliche
Wärme aus, die große Petroleumlampe brannte, und draußen polterte der
Herbststurm mit den Weinspalieren.

Um ihn herum aber standen liebe Menschen mit strahlenden Gesichtern.

Da war es Heinrich Raschdorf doch, als ob er in eine Heimat gekommen
sei.

Dann saßen sie um den großen Tisch und plauderten, und er wurde warm
dabei und sagte auf einmal:

»Ich freu' mich, daß ich bei Euch bin!«

Wie sie darüber glücklich waren!

»So bleib' ein paar Tage hier, Heinrich!«

»Nein, Lene! Bald nach der Trauung fahr' ich. Du weißt schon, das ist
Verabredung.«

»Und Du wirst gar nich amal mit aufs Feld oder in die Ziegelei?«

»Nein, Mathias; aber in die Ställe und in die Scheune gehe ich morgen
früh einmal, wenn Du willst.«

Es war schon tief in der Nacht, da saßen noch alle beisammen.

       *       *       *       *       *

Drüben im Kretscham hatte sich ein Schwerkranker im Bett aufgerichtet,
als die Fuhre Heinrichs vorbeikam.

»Das is a -- Lotte, das is a!«

Das Mädchen antwortete nicht.

»Geh, geh ans Fenster, Lotte! Sieh, ob a das is!«

»Nein, Vater! Ich gehe nicht ans Fenster.«

Der Kranke stöhnte und sank in die Kissen zurück.

»Ich -- ich muß mit ihm -- mit ihm reden; ich halt's nich aus --
ooooh --«

Ein Schmerzensanfall kam. Das Mädchen beugte sich über den Kranken. Die
Lampe beleuchtete ihr Gesicht. Es war so weiß und durchsichtig, als sei
diese Pflegerin selbst eine Schwerkranke. Die Stenzeln kam ins Zimmer.

»Is a gekommen, Stenzeln?« fragte der Kranke.

»Ja! Ich hab' 'n geseh'n. A ging ganz schnell ins Haus rein. Aber a
war's.«

Ein Zittern ging über den Körper Lottes.

»Stenzeln, geh wieder raus!«

Als er mit der Tochter allein war, keuchte Schräger:

»Schreib' ihm, Lotte -- schreib' ihm 'n Brief -- a soll rüberkommen zu
mir -- a soll kommen --«

»Ich kann ihm nicht schreiben, Vater -- nein, ich kann nicht! Sei doch
ruhig, sei doch ruhig!«

»Du weißt nich, Lotte, wie das is -- ich kann nich sterben; ich kann ja
nich sterben!«

Das bleiche Mädchen stand regungslos an dem Bette. Nur ein Zucken ging
um ihren Mund. Tränen hatte sie nicht mehr. »Was willst Du denn von
ihm, Vater?«

»Sagen will ich's ihm, alles sagen!«

»Vater!«

»Alles sagen -- ich -- ich -- kann sonst nich sterben!«

»Du willst Dich selber verraten? Vater!«

»Die Schmerzen, Lotte -- oooh, und der alte Raschdorf -- mein -- mein
Freund -- a kommt mir immer wieder ein -- und nu soll ich runter --
runter unter die Erde zu ihm -- runter --«

Eine furchtbare Nacht kam, eine Nacht voll Qual und Gewissensangst und
Furcht. Aber doch lebte in diesem schmerzzerrütteten, todgeweihten
Mann die Hoffnung, es würde leichter und besser sein, wenn er die Last
von seinem Herzen abwälzte.

Gegen Morgen schrieb Lotte an Heinrich: »Mein schwerkranker Vater läßt
Sie bitten, ihn vor Ihrer Abreise auf wenige Minuten zu besuchen.
Charlotte Schräger.«

Schräger ergriff ihre Hand.

»Wirste dabei sein, Lotte, Kind -- mei einziges, wirste dabei sein,
wenn ich -- wenn ich's ihm sag'? Sonst bring' ich's nich raus -- sonst
verzweifele ich!«

»Ja, ich werde dabei sein!«

Das sagte sie leise, aber fest.

Am Morgen ging die Stenzeln mit dem Brief nach dem Buchenhofe. Nicht
lange, so kehrte sie mit der Antwort zurück.

»Ich reise sofort nach der Trauung meiner Schwester wieder ab und kann
Ihren Vater, dem ich gute Besserung wünsche, nicht besuchen. Heinrich
Raschdorf.«

Sie las es dem Vater vor. Der starrte sie mit weitgeöffneten Augen an.
Dann lallte er:

»A kommt nich? A kommt nich?«

Sie schwieg. Nach einer Weile lachte er heiser.

»Da geh' ich halt so -- halt so -- so -- hinüber -- runter --«

Lotte stand am Fenster und hatte die Gardinen weit zurückgeschlagen.
Jetzt fuhren drüben die zwei Hochzeitswagen vor.

Heinrich kam zuerst aus dem Hause und sah hinüber nach dem Fenster, an
dem Lotte stand. Er erschrak und zog den Hut, auch Mathias, der dabei
war. Lotte rührte sich nicht. Dann kam das Brautpaar. So fuhren die
Wagen hinab nach der Kirche.

Auch der alte Schräger hörte sie fahren.

»Nu sind sie fort,« sagte er mit einem irren Lächeln; »nu is der alte
Raschdorf Brautvater!«

Lotte stand immer noch regungslos da.

»Brautvater!« Er fröstelte in sich hinein.

Eine Stunde verging. Da rief Lotte die Stenzeln ins Zimmer und ging
selbst hinaus.

Über die Straße huschte sie -- nach dem Buchenhofe.

»Ich werde hier auf Herrn Raschdorf warten, ich hab' mit ihm zu reden.
Sagen Sie's ihm, wenn er kommt,« befahl sie einer Magd und setzte sich
in den Lehnstuhl am Fenster der Wohnstube des Buchenhofes.

Sie sah sich um. Als kleines Mädchen war sie manchmal hier gewesen,
seitdem nicht mehr. Das Bild des alten Raschdorf sah auf sie herab. Sie
blickte es ruhig an. Es war alles teuer gesühnt.

Jetzt rollten die Wagen in den Hof. Im Hausflur erfolgte eine
Begrüßung der Brautleute durch die Dienstleute, dann stieg die kleine
Gesellschaft die Treppe hinauf.

»Was? -- Was? -- Wo?«

Das war er. Bald darauf trat er in die Stube im Hochzeitsanzug, den
Zylinderhut in der Hand. Ein paar Sekunden lang stand er Lotte wortlos
gegenüber; dann trat sie rasch ein paar Schritte auf ihn zu und sagte
schnell und hastig: »Bitte um Verzeihung, aber ich muß Sie nochmals
persönlich bitten, meinen Vater zu besuchen, er ist ein Sterbender,
und er hat dringend mit Ihnen zu reden.«

Er sah sie mit großen Augen und tieferschreckt an und sagte kein Wort.
Da errötete sie und begann wieder:

»Nur auf wenige Minuten, er ist ein Sterbender --«

»Ich werde kommen --«

»Ich danke!«

Und sie ging rasch aus der Stube. Regungslos stand er noch auf seinem
Platz, als sie schon über die Straße zurück war.

Mit Mathias sprach er noch ein paar heimliche Worte, dann ging er nach
dem Buchenkretscham.

Er traf Schräger und Lotte allein. Der Kranke schloß die Augen, als
er eintrat, er öffnete ein wenig den Mund, und der schwere, sieche
Körper hob sich im Stuhl. Lotte lehnte bleich und bewegungslos an einem
Schrank.

Heinrich ging rasch durch die Stube und streckte dem Kranken die Hand
bin.

»Guten Tag, Herr Schräger! Wie geht es Ihnen?«

Der erregte Mann sah ihn furchtsam an.

»Danke, ganz gutt -- geht mir's.«

Der Gast setzte sich auf einen Stuhl neben den Kranken und sprach mit
ihm von seiner Krankheit. Schräger antwortete und fing an, selbst zu
erzählen. Minute auf Minute verging. Von dem Bekenntnis kein Wort! Da
blickte Heinrich auf die große Wanduhr und erhob sich.

»Meine Zeit ist sehr knapp. Ich wünsche Ihnen, Herr Schräger --«

»Sie woll'n geh'n?«

Angstvoll fragte es der Kranke.

»Ich muß gehen, ich blieb sonst noch ein wenig bei Ihnen --«

»Ich muß Ihnen -- ich muß Ihnen ja was sagen --«

Ein furchtbarer Schmerzensanfall kam, und Lotte mußte dem Vater zu
Hilfe eilen. Mit bleichem Gesicht beobachtete Heinrich die Szene.

»Lotte -- Lotte -- sag' -- sag' Du's ihm -- Du's ihm -- ich -- ich --
ooooh --«

»Was ist denn -- um Gottes willen, was ist denn?«

Lotte wandte sich zu Heinrich. Mit tonloser, schneller Stimme sagte sie:

»Mein Vater hat Ihnen ein Bekenntnis zu machen. Er hat von vornherein
gewußt, daß mein Bruder die Scheuer angezündet hat, hat es vor der
Gerichtsverhandlung gewußt -- er hat falsch geschworen -- er wollte den
Buchenhof -- daher alles -- jetzt wissen Sie's!«

Sie hielt sich an dem Tisch fest; der Kranke starrte auf Heinrich, der
wie eine Bildsäule dastand.

»Ich hab' -- a Raschdorf reinbringen woll'n -- mit den Aktien -- und
auch später -- und ich hab' falsch geschwor'n.«

Heinrich setzte sich langsam auf den Stuhl zurück.

»Nu -- nu gehen Sie auf die Polizei -- ich -- ich -- es ist ja doch aus
mit mir! Aus! Eh' sie mich -- eh' sie mich reinbringen in die Stadt,
bin ich tot.«

»Schräger!«

Eine lange Pause kam. Die drei Personen starrten sich nur an.

»Und das sagen Sie mir ins Gesicht?«

»Der -- der Tod -- Sie wissen nicht -- wenn man sterben soll, nachher
wird alles mit einem Male anders -- anders wie sonst --«

»Und Sie haben wirklich meinen Vater in den Tod gehetzt? Sie -- Sie --«

»Nein -- daß -- daß er sich erschießt, das wollt' ich nich -- das
wollt' ich nich -- bloß -- bloß a Hof -- a schönen Hof!«

Heinrich Raschdorf erhob sich. Ein Fluch schwebte auf seinen Lippen,
ein Fluch, der den Mann ins Grab und in alle Ewigkeit hinein begleiten
sollte.

Da kniete Lotte vor ihm und küßte ihm die herabhängende Hand mit
zuckenden Lippen.

»Und Du, Lotte, Du hast das auch gewußt?«

Es lag ein Entsetzen in dieser Frage.

»Ich weiß es seit der Nacht, da ich fortging.«

Er starrte sie an. Ein Licht ging ihm auf.

»Darum?! -- Darum gingst Du fort? Nicht wegen des Bruders? Wegen des
Vaters?«

»Ja!«

Er nickte langsam mit dem Kopfe.

»Ja, dann begreif' ich's! Du mußtest gehen! Mußtest! Es ist klar!«

Als ob er sich selbst Rechnung legen müßte, sprach er halblaut vor sich
hin, und seine Augen stierten:

»Meinen Vater ins Gefängnis -- dem Zuchthause nahe -- in den Tod, uns
alle ins Elend, in Not, Haß, Feindschaft -- ooh -- sterben Sie --
sterben Sie, wie Sie wollen, Sie elende Kreatur!«

Lotte sprang auf.

»Nun bitten wir nicht mehr, Vater! Jetzt nicht mehr! Jetzt ist's genug!
Jetzt haben wir bekannt und gesühnt! Gehen Sie, Herr Raschdorf!«

Er starrte sie an.

»Ja! Gehen Sie, gehen Sie!«

»Nich gehen -- nich gehen -- oooh -- die Schmerzen -- der Tod -- der
Raschdorf! -- Nich gehen, Heinrich! Die Angst --«

Der Kranke stand auf vom Lehnstuhl, wollte auf Heinrich zu und fiel
schwer auf den Fußboden.

Eine zuckende, stöhnende, sterbende Masse!

Da kam das Grauen, das stärker ist als alles andere, und einigte
sie. Gemeinsam faßten sie an und hoben den Kranken in den Lehnstuhl
zurück. Dessen Gesicht war blau, und seine Hände tasteten in die
Luft. Und Heinrich Raschdorf, der so dem Tod ins verzerrte Gesicht
sah, faßte eine maßlose Angst, ein grauenhaft Entsetzen. Es ging ihm
wie so manchem Unglücklichen: Wenn ein schwerer Schreck die Rinde auf
dem vereisten Herzen sprengt, dann springt wieder stark und klar die
heilige Quelle der Barmherzigkeit.

»Herr Schräger, kommen Sie zu sich -- zu sich -- Schräger! Nicht
sterben, nicht so!«

»Vater! O Gott, hörst Du's? Hörst Du's?«

Er hörte es nicht. Bewußtlos lag er in den Betten. Die Stenzeln kam.
Sie bemühten sich alle um den Kranken. Keines konnte sprechen, nur
Heinrich murmelte unverständliche Worte. Da -- nach einer Viertelstunde
kam Schräger zu sich. Er sah auf Heinrich und stöhnte entsetzt.

»Herr Schräger, geben Sie mir die Hand, es ist alles gut, alles gut!«

Der sah ihn verständnislos an.

»Ich hab' mich bloß übereilt, bloß im ersten Schreck so geredet -- ich
verzeih' Ihnen ja -- Sie können ruhig sein, ganz ruhig --«

»Ruhig!«

Ein stammelndes Lachen kam dem Kranken vom Munde.

»Der Mathias -- die Lene!« lallte er.

»Sie werden Ihnen auch verzeihen. Soll ich's ihnen sagen, ihnen gut
zureden? Sollen sie kommen?«

Der Kranke nickte.

»Kommen! Bald kommen!«

Wenige Minuten später war Heinrich im Buchenhofe.

Die Lene weinte heftig. Dann nahm sie den Brautkranz vom Kopfe und ging
mit Mathias und Heinrich hinüber in den Kretscham.

Der Kranke sah die Eintretenden mit großen Augen an. Er streckte ihnen
die Hände hin, die sie stumm ergriffen. Dann sank er zurück und schloß
die Augen.

Stumm und erschüttert standen alle. Die Uhr zählte Schlag um Schlag.
Sie zählte nicht weit, da war Schräger hinüber. Lotte kniete bei ihm
nieder, und Heinrich trat zu ihr und legte die Hand auf ihre Schulter.

Die anderen gingen leise hinaus.

Und die Uhr zählte -- zählte.

Schwer und heiß lag seine Hand auf ihr.

Sie erhob sich. Sie drückte dem Vater das eine Auge zu und er das
andere. Nun lag er mit geschlossenen Augen, nun sah er nichts mehr.

Die beiden Lebenden schauten sich an.

Klein ist die Rache!

Ja, die Menschenrache ist klein!

Er führte sie hinaus.

Draußen auf dem Flur küßte er sie auf die Stirn.

»Der Kampf ist aus, Lotte! Jetzt muß endlich Friede sein!«

Drei Tage darauf wurde Julius Schräger begraben. Neben seinem Sohne
fand er die letzte Ruhestätte. Nicht weit davon weg lag der alte
Raschdorf. So waren sie auch im Tode Nachbarn.

Beim Begräbnis standen die Buchenhofleute vollzählig an Schrägers
Grabe. Und die Dorfgemeinde sah es und erkannte darin ein Beispiel, wie
Menschen vergeben und vergessen sollen.

Auf dem Heimwege ging Heinrich mit Lotte. Oben am wilden Kirschbaum
blieb er stehen.

»Lotte, nun frag' ich Dich in dieser schweren, ernsten Stunde das
dritte und letzte Mal, ob Du mein sein willst!«

Sie erschrak und wollte reden.

»Sprich nicht, Lotte! Was Du dagegen sagen kannst, gilt nichts -- gar
nichts mehr! Es ist alles oft gedacht, oft leidenschaftlich gesagt
worden. Ich hab' selber alles gedacht, alles gesagt. Aber Leben und Tod
haben uns alle widerlegt. Die Väter, die sich gestritten haben, liegen
dort unten; zwischen uns ist nichts, was uns trennt.«

Der schwarze Schleier flatterte um sie; kalt pfiff der Wind über die
Felder. Vor ihr lag der Weg in die Fremde, in eine öde, schwere
Zukunft. Und neben ihr ging der, den sie liebte, und der sie erretten
konnte von allem Leid, der allein sie aus dieser Nacht führen konnte
auf die strahlende Straße des Glückes.

Da sprach sie leise:

»Wenn Du mich nach allem noch haben willst -- ich wäre glücklich -- ich
wär' ja so glücklich!«

Er sagte nichts, er küßte sie nicht, er faßte sie nur fest an der Hand
und führte sie heim nach dem Buchenhofe.

[Illustration]



[Illustration: Kapitel 21]


Das ist Heimat -- Heimat ist nicht Raum, Heimat ist nicht Freundschaft,
Heimat ist nicht Liebe. Was ist Heimat? -- Der Doktor Heinrich
Raschdorf sann diesem Gedanken nach, als er an einem prächtigen
Frühherbstnachmittag viele Jahre später dem Buchenhofe zuschritt.

Er war ein anderer geworden. Das weiche Gesicht hatte einen festen,
männlichen Ausdruck bekommen. Ein sonniges Lächeln lag in seinen Augen,
wie man es bei jenen reifen, gefestigten Menschen findet, die sich
selbst und das Leben überwunden haben, das stille Lächeln, das jene
haben, die viel lernten und vor nichts mehr so leicht freudig oder
traurig erschrecken. Ein Stiller, ein Reifer und Kluger war er geworden.

Er war heute unten im Dorfe bei einer armen Kranken gewesen. Wenn er
nach Hause kam, wollte er anordnen, daß ihr einige Nahrungsmittel
hinabgesandt würden, das tat am meisten not. Es ist gut, wenn einer
zugleich Bauer und Arzt ist, da läßt sich manche glückliche Kur machen.

Heinrich Raschdorf liebte seinen neuen Beruf, er hatte auch in der
Gegend genug Gelegenheit, ihn auszuüben. Aber es blieb ihm zuweilen
auch ein bißchen Muße, Bauer zu sein wie in alter Zeit.

Der junge Arzt blieb stehen und sah ins Dorf. Dort unten hatte er
keinen Feind mehr. Lauter Freunde, lauter Verehrer, alles Leute, die
sich freuten, wenn er mit ihnen sprach. Sogar der junge Riedel grüßte
ihn.

Heinrich war frei von Selbstgefälligkeit, wenn ihm das Goethesche Wort
jetzt einfiel:

    »Mußt Ruhm gewinnen,
    Werden sich die Leute anders besinnen.«

Er freute sich nur des endlichen Sieges nach so langen Kämpfen.

Ein Wagen kam einen Feldweg entlang. Hannes saß darauf und machte ein
mißvergnügtes Gesicht. Er hatte den Kretscham mit den dazu gehörigen
Äckern gepachtet, seit Heinrich auf dem Buchenhofe selbst wieder als
Herr eingezogen war.

»Nu, Hannes, fährst Du aufs Feld?«

Der brummte.

»Gar nich nötig wär's! 's sind Leute genug draußen, und wenn dann a
Haufen Gäste in den Kretscham kommt, da is der Mathias alleine zum
Einschenken. Das is gar keen richtiger Betrieb.«

»Ja, warum fährst Du denn aufs Feld, wenn Du im Kretscham so nötig
bist?«

»Warum?! Schlaue Frage! Ich werd' mir immerfort von meinem Weibe die
Gesichter ansehen und das Gebrumme anhören!«

»Aha! Deine Frau --«

Es entstand eine Pause. Heinrich lachte leise vor sich hin, während
Hannes' Miene sich mehr und mehr umdüsterte.

»Ja, meine Frau! Sie is ja ganz gut und tüchtig, ja -- aber ich och!
Und kneipen tu ich doch nich; ich unterhalt' mich doch bloß mit a
Gästen. Na, und das muß a Gastwirt. Sonst is keen Betrieb. Aber die,
immer aufs Feld, immer aufs Feld jagt sie einen.«

»Sag' mal, Hannes, Du klagtest doch dieser Tage über Kopfschmerzen.«

»Ja, die hab' ich auch noch.«

»Du, dann tut Dir Bewegung in freier Luft sehr gut.«

»Jüh!«

Hannes hieb dem Pferde die Peitsche auf den Rücken und fuhr rasch davon.

Der junge Arzt sah ihm lachend nach. Ein guter, lustiger Kerl war der
Hannes immer noch. Aber daß er das Regiment in seinem Hause führe,
konnte nicht gut jemand behaupten. Und es schadete auch vielleicht
nichts. Die Lene war bei aller Energie in ihren Mann so verliebt, wie
nur je eine Frau. Sie kamen sehr gut fort in ihrer Wirtschaft. Nicht
lange mehr, so würde Hannes den Kretscham kaufen können. Dann war
der Traum des alten Schräger, die beiden Buchenhöfe zu vereinigen,
endgültig zunichte. Über die Pläne des Menschen, die aufs Geld
gegründet sind, schreitet die Zeit, die größte Mammonsfeindin, lachend
hinweg.

Eine hohe Gestalt ragte in der Ferne auf. Das war der Schaffer. Als
sein Sohn Hannes die Wirtschaft übernahm, zog er mit ihm nach dem
Kretscham. Aber schon nach acht Tagen kam er nach dem Buchenhofe
zurück. Er hatte das Heimweh bekommen. Er konnte sich nicht an eine
neue Wohnung, an neue Wirtschaftsräume und am allerwenigsten an neue
Felder gewöhnen. Und wieder tat er den bedeutsamen Ausspruch: »A alter
Kater geht nich weg vom Hofe« -- und blieb Schaffer auf dem Buchenhofe,
wo er sein Leben lang gehaust hatte. Abends nur ging er manchmal nach
dem Kretscham und ließ seinen Sohn »etwas verdienen«.

Dann sah er mit Stolz, wie Hannes den Wirt spielte und mehr redete
als alle seine Gäste zusammen. Am allerschönsten war's immer, wenn
Hannes von Breslau erzählte, von der herrlichen Soldatenzeit und von
seinen zahlreichen anderen Besuchen in der Hauptstadt, da Heinrich
als verheirateter Student mit der Lotte dort gewohnt hatte. Und wenn
der Schaffer den Sohn also seine schöne Redegabe entfalten sah, ging
ihm das Herz auf, und er selbst war ganz schweigsam gegenüber solchen
Talenten.

Der junge Doktor näherte sich den Buchenhöfen. Hannes' zahlreiche
Nachkommenschaft spielte auf der Straße, und auch sein eigenes,
dreijähriges Söhnchen war dabei. Sein Einziger! Der Knabe lief ihm
jauchzend entgegen, und er hob ihn zärtlich auf den Arm.

Der alte Mathias guckte durchs Kretschamfenster. Er war abwechselnd
bald hier, bald dort, wo er eben gebraucht wurde. Sein Liebling unter
allen aber war immer noch der Heinrich. Alle Jahre vor der Ernte
besuchte Mathias einmal bei den Grauen Schwestern seine Liese, und alle
Jahre zu Weihnachten bekam er einen Brief von ihr. Und ob er selbst alt
wurde, er war hinaus über alle Bitterkeit und zufrieden mit der Art, in
der sich die Schicksale um ihn her erfüllt hatten.

Jetzt glänzten seine guten Augen, als er den Heinrich sah.

»Ich bin wieder amal Vize-Gastwirt,« schmunzelte er.

»Ja, ich hab's schon gehört, daß Ihr den Hannes rausgegrault habt.«

»Das nich! Aber 's is ganz gutt so! Wenn a den ganzen Tag und a ganzen
Abend hier sitzt, red't a sich kaputt! Lange wird a ja nich draußen
sein. Dann komm' ich zu Euch rüber.«

»Schön, Mathias. Komme nicht zu spät!«

Frau Lotte erschien drüben im Buchenhofe in der Haustür, und Heinrich
ging mit dem Knaben hinüber und reichte seinem strahlenden, jungen
Weibe die Hand. Ein Schwarm Wandervögel zog rauschend über sie hinweg,
weit in die Fremde.

»Siehst Du die Vögel? Nun wird es bald Winter werden.«

»Ich freu' mich auf den Winter,« sagte sie schlicht.

Sie verstanden sich. Ein freundliches, liebes Haus hat bunte
Zauberfenster. Ewig malt sich durch sie die Welt draußen goldig und
schön, ob der Regen rinnt oder die Sonne lacht; im Herbst und Winter
sieht das Auge nichts Trübes durch seine magischen Scheiben.

Er zog sie an der Hand heraus in den Hof. Das Wohnhaus hatte einen
neuen Anstrich bekommen, und über der Tür war eine Tafel in die Wand
eingelassen worden, die noch auf eine Inschrift harrte.

Heinrich wies auf die Tafel und sagte:

»Weißt Du, was ich da eingraben lasse?«

Sie sah ihn fragend an, und er schaute ihr ernst, aber mit tiefer
Liebe in die schönen Augen und sagte langsam und mit jener leisen
Feierlichkeit, mit der man eine schwer gewonnene Lebensweisheit
ausspricht:

        »_Heimat ist Friede!_«

[Illustration]



    _Der Künstler_ soll seine Kunst rein halten wie der Geistliche
    seine Kirche, der Lehrer seine Schule, sonst begeht auch er
    »ein _Verbrechen im Amt_«.

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Gschaftlhuber, die alles im Schnellzugstempo erledigt, die das Mundwerk
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zu schildern weiß, ohne je trivial zu werden, von dem kann man noch
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fünf zu einem Ganzen vereinigten Novellen. Ihnen ist eine kurze
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    »Zwischen Wellen und Steinen meine Wiege stand,
    Zwischen Wellen und Steinen: mein Kindheitland!«

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Liebe Anna Hilaria an ihrer Heimat hängt. Ihr sind die Stoffe zu
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Eine frische echte Heimatgabe! Frisch in Formen und Farben! In »Semele«
erzählt die Verfasserin in stiller versonnener Dämmerstunde die
keusch selige und unselige Studentenliebe, die Züricher Universität,
das Restaurant »Rigiblick«, der Zürichberg erhält Leben und Seele.
Plastisch wie aus Marmor und lebenswahr und -warm ist die Gestalt der
Großtante am Rhein, skizzenhaft umrissen ihr Häuschen; durch sie, wie
durch »Fräulein Doktor«, die »Stille Geschichte« geht die eine Liebe,
die Frauenliebe, die in Sturm und Stille treu bleibt -- zum Tode, nein:
über das Grab hinaus.

            Illustr. Schweizer Hausztg.


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    Weitere Anmerkungen zur Transkription

    Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Die
    Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht. Der Schmutztitel
    wurde entfernt. Zur besseren Navigation wurden unsichtbare
    Kapitelüberschriften ergänzt.

    Korrekturen:

    S. 65: s eh → seh
      Na, {seh} och, was a für graue Haare gekriegt hat




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