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Title: Was ich geschaut - Novellen
Author: Troll-Borostyání, Irma von
Language: German
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  Was ich geschaut.


  Novellen

  von

  Irma von Troll-Borostyání.


  [Illustration]


  Wien. Pest. Leipzig.

  A. Hartleben's Verlag.



  Alle Rechte vorbehalten.

  K. u. k. Hofbuchdruckerei Carl Fromme in Wien.



Inhaltsverzeichniß.


                                              Seite

  Erlöst!                                         3

  Justus                                         16

  Fallendes Laub                                 30

  Franzi's Weihnacht                             44

  Der Weg zum Herzen                             55

  Weder Glück noch Stern                         65

  Der Unwiderstehliche                           75

  Schwer geprüft                                107

  »Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht«      124

  Der kleine Geiger                             132

  Die Harfenspielerin                           140

  Sein Bild                                     151



Erlöst!


Mit dem Versprechen, am anderen Tage wiederzukommen, hatte sich der Arzt
verabschiedet und Gabriele blieb allein am Bette ihres kranken Kindes. Es
lag in heftigem Fieber; auf den lieblich gerundeten, vollen Wangen brannten
hochrothe Flecken und die sonst so fröhlichen, dunkelblauen Augen blickten
schmerzlich und wie hilfesuchend auf das kummervolle Antlitz der Mutter,
die sich zwang, es freundlich anzulächeln.

Der kleine Erich war während der fünf Jahre seines Daseins niemals krank
gewesen. Vor wenigen Tagen zeigte er eines Morgens Mattigkeit und Unlust,
seinen gewohnten Spielen zu obliegen. Dann klagte er über Schmerzen im
Kopfe und in der rechten Seite der Brust beim Athemholen. Fiebersymptome
traten auf; er wurde zu Bett gebracht, und der herbeigerufene Arzt
konnte es den Eltern nicht verhehlen, daß der Fall -- eine hochgradige
Entzündung des rechten Lungenflügels -- ein sehr bedenklicher sei.

Jetzt saß die Mutter am kleinen Bettchen des Knaben und streichelte hin
und wieder mit weicher Hand über seinen blonden Lockenkopf, den er
unruhig auf den Kissen hin und her wälzte. Mit ängstlicher Aufmerksamkeit
beobachtete sie die kurzen, raschen Athemzüge, den fliegenden Puls
des Kindes und verfolgte zugleich den vorrückenden Zeiger an der
gegenüberhängenden Wanduhr, um den rechten Augenblick nicht zu
versäumen, ihm, der ärztlichen Vorschrift gemäß, viertelstündlich die
Arznei zu verabreichen.

Wie ein dumpfes Brausen drang der Lärm des großstädtischen Lebens und
Treibens durch die geschlossenen Doppelfenster des Krankenzimmers. Die
Vorhänge waren zugezogen, und die mit einem grünen Papierschirm bedeckte
Lampe verbreitete eine milde Helle in dem weiten Gemache.

Draußen lag noch das graue Licht der schwindenden Abenddämmerung über
den Straßen. Es war ein unfreundlicher Märztag, und ein rauher Nordost
wirbelte einen trockenen, hustenreizenden Staub auf. Die Damen, die sich
in leichten Frühlingstoiletten herausgewagt hatten, bedauerten es lebhaft,
ihre warmen, winterlichen Umhüllungen zu Hause gelassen zu haben.

Ein elegant gekleideter, noch junger Mann schritt quer über die Straße
dem Hause zu, in welchem der kranke Knabe lag. Es war Otto von Brauneck,
der Vater des Kindes. Nachdem er an der Eingangsthür geschellt und der
Diener ihm geöffnet hatte, trat er durch das Vorzimmer in den Salon, um in
sein neben demselben gelegenes Arbeitszimmer zu gelangen.

»Was ist das? -- Sind noch keine Vorbereitungen getroffen?« fragte er den
Diener, indem er an der Schwelle stehen blieb und einen überraschten Blick
durch den unerleuchteten Raum schickte. »In längstens einer Stunde werden
die Gäste eintreffen, und es ist nichts in Ordnung gebracht. Sollte meine
Frau keine Anordnungen getroffen haben?«

»Die gnädige Frau meinte, der Empfang würde heute nicht stattfinden,«
erklärte der Diener.

»Und warum nicht?«

»Ich glaube -- des Kranken wegen.«

»Ach, das Kind wird in seiner Ruhe nicht gestört werden. Schlagen Sie
den Spieltisch in meinem Zimmer auf, statt im Salon, und besorgen Sie rasch
alles nöthige. Kaltes Buffet -- einige Flaschen Bordeaux aus dem Keller --
hier, nehmen Sie!«

Mit diesen Worten reichte Brauneck dem Diener eine Banknote und schritt in
sein Zimmer. Nachdem der Diener die Kerzen angezündet und sich entfernt
hatte, schloß Brauneck seinen Schreibtisch auf, entnahm demselben ein
Spiel Karten, prüfte sie und steckte sie zu sich. Einige Minuten später
trat er in das Zimmer seines Sohnes.

Gabriele hob den Kopf empor und warf einen traurigen Blick auf ihren
Gatten, der sich mit langsamen und auf dem schweren Teppich geräuschlosen
Schritten näherte.

»Wie geht es dem Kleinen?« fragte er leise, indem er seine Frau mit
leichtem Kopfnicken begrüßte.

»Um nichts besser,« erwiderte Gabriele noch leiser. »Das Fieber steigert
sich.«

»War der Doctor hier?«

Flüsternd wiederholte sie die Weisungen des Arztes. »Im Laufe der
Nacht,« so hatte er sich geäußert, »würde die Krisis eintreten.
Sollte das Fieber nach Mitternacht noch stärker werden, so möge man ihn
unbedingt nochmals holen lassen.«

»Rege Dich nicht so auf,« sagte Brauneck, als er bemerkte, wie ihre Augen
sich mit Thränen füllten. »Erich ist ein kräftiger Junge; es liegt kein
Grund zu so großer Sorge vor.«

Gabriele antwortete nicht. Der Knabe aber, der die flüsternden Stimmen
gehört, schlug die Augen auf.

Ein Ausdruck von Freude glitt über sein Gesichtchen.

»Ach, Papa, bist Du endlich gekommen,« sagte er. »Ich fürchtete schon,
Du kämest nicht mehr.«

Der Vater beugte sich zu dem Kinde herab und drückte einen Kuß auf seine
brennende Stirn.

»Warum hätte ich denn nicht kommen sollen?« erwiderte er lächelnd.
»Freilich bin ich gekommen und habe Dir auch etwas mitgebracht. Einen
wunderschönen Wald und allerlei Gethier darin. Bären, Wölfe, Füchse.
Wenn Du wieder gesund bist, dann gehen wir miteinander auf die Jagd.«

»Ja, dann spielen wir Jagd miteinander,« bekräftigte der Kleine. »Mama,
Du und ich, alle Drei. Ich bin der Jäger, Du und Mama, Ihr müßt das Wild
vor mir zu verstecken suchen.«

»Du wirst aber alle Thiere todtschießen, und am anderen Tage werden sie
trotzdem wieder lebendig sein, damit Du sie wieder erschießen kannst,«
ergänzte Brauneck.

Erich lachte, aber ein heftiger Hustenanfall unterbrach seine Heiterkeit,
und die hübschen Züge seines Gesichtchens verzogen sich schmerzhaft.

»Jetzt aber mußt Du still liegen, mein Kind, nicht sprechen,« fuhr
Brauneck fort, als der Anfall vorüber war. »Sonst wirst Du nicht gesund,
und wir können nicht zusammen Wild und Jäger spielen.«

Der Knabe war erschöpft in die Kissen zurückgesunken und schloß die
Augen. Gabriele träufelte ihm einen Löffel voll Medicin zwischen die
trockenen, heißen Lippen; dann saßen die beiden Gatten eine Weile
schweigend an seinem Lager. Da schlug die Uhr acht, und Brauneck schnellte
von seinem Sitze empor.

»Ich gehe, meine Gäste zu empfangen,« flüsterte er, zu Gabriele
geneigt. »Wir werden heute unser Spielchen in meinem Zimmer abhalten, und
ich will den Herren beim Kommen und Gehen die größtmögliche Behutsamkeit
anempfehlen, damit Erich nicht beunruhigt werde.«

Gabriele schaute auf und der Ausdruck peinlichen Staunens malte sich in
ihren Gesichtszügen.

»Wie?« sagte sie, »Du hast Deinen Herren nicht abgesagt? Du findest ein
Vergnügen daran, Dich dem Kartenspiele zu widmen, während Dein Kind hier
schwer krank liegt?«

Brauneck zuckte die Achseln.

»Liebe Gabriele, Du hast eine pessimistische Neigung, das Leben furchtbar
tragisch aufzufassen.«

Ein halbunterdrückter Seufzer entrang sich Gabrielens Lippen.

»Es wäre vielleicht viel besser gewesen, für heute eine Absage ergehen
zu lassen,« fuhr Brauneck fort. »Aber ich gestehe es, ich habe vergessen,
es rechtzeitig zu thun. Und jetzt Abends wäre es hierzu doch jedenfalls
zu spät gewesen. So bleibt mir nichts übrig, als die Herren zu empfangen.
Aber, wie gesagt, ich werde dafür Sorge tragen, daß der kleine Patient in
seinem Schlummer nicht gestört werde.«

Gabriele erhob und entfernte sich einige Schritte vom Bette des Knaben. Sie
wollte nicht, daß er ihre Worte zu hören vermöchte. Brauneck folgte ihr.

»Ein schwerer Krankheitsfall in der Familie,« antwortete sie, »gäbe
Dir wohl einen hinreichenden Rechtfertigungsgrund, Deine Einladung noch in
letzter Stunde zurückzuziehen. Selbst jetzt noch müßten Deine Freunde
Deine Entschuldigung annehmen. Ich bitte Dich, Otto, thu' es doch, schicke
sie fort, bleibe bei Deinem Kinde. Wenn Du es mir zuliebe nicht thun
willst, so thu' es Erich zuliebe. Er schläft nicht; er frägt immer nach
Dir. Biete ihm die Erleichterung in seinem Leiden, daß er Dich bei sich
sieht, wenn er die Augen aufschlägt und nach Dir verlangt.«

Brauneck machte eine Bewegung.

»Aber liebe Gabriele,« sagte er mit schlecht verhehlter Ungeduld, »das
geht doch nicht an, daß ich die Gäste, die ich geladen, nun, da sie
kommen, wieder gehen heiße, weil mein kleiner Sohn krank liegt. Solche
Sentimentalität würde man allenfalls der Frau, der Mutter zugute halten,
aber einem Manne nicht.«

Vom Bette her tönte ein leises Stöhnen.

Gabriele faltete die Hände und streckte sie bittend dem Gatten entgegen.
Er aber schüttelte verneinend den Kopf.

»Otto, bleibe bei uns, bleibe bei Deinem Kinde! Ich bitte Dich!«

»Aber ich gehe ja nicht fort! Ich verlasse doch weder das Haus, noch
selbst die Wohnung.«

»Bleibe hier, bei Erich!«

»Das kann ich nicht.«

»Und was soll ich dem Kinde sagen, wenn es nach seinem Vater frägt?«

»Sag' ihm, was Du willst!«

Gabriele zuckte zusammen; dann richtete sie sich hoch auf.

»So geh' denn! Geh' zu Deinen Genossen, geh' dem entsetzlichen --
Vergnügen nach, das Du nicht entbehren kannst! So mächtig hat der Dämon
des Spieles Deine Seele umstrickt, daß Du ihm Dein Vermögen zum Opfer
brachtest, das Du Deinem Sohne hättest erhalten sollen. Jetzt siehst
Du Deines Kindes Leben selbst bedroht -- doch auch das hält Dich nicht
zurück. Für Dein Weib und Dein Kind ist Dein Herz erkaltet; nur die
Flamme jener unseligen Leidenschaft verzehrt es.«

Fast unhörbar leise hatte Gabriele diese Worte hervorgestoßen, aber Otto
war keines entgangen. Er erbleichte. Einen Augenblick lang begegneten
sich die Blicke der beiden Gatten. Dann senkte Otto den Kopf, wendete sich
langsam um und verließ geräuschlos das Zimmer.

Einige Minuten blieb Gabriele regungslos stehen und starrte auf die Thür,
durch welche er sich entfernt hatte. Dann wandte auch sie sich um und
kehrte an Erich's Lager zurück.

Nach einer Weile schlug der Knabe die Augen auf. Ein heißer Tropfen war
ihm auf die Stirn gefallen.

»Mama,« sagte er und streichelte mit seinem Händchen über ihre Hand,
die auf seinem Bette ruhte. »Weine nicht, Mama, mir thut nichts mehr weh,
gewiß nicht. Weine nur nicht, Mama, liebe Mama!«

Erich log. Er log, um seiner geliebten Mutter, die er traurig sah, zu
verheimlichen, daß er litt. Der Glückliche wußte noch nicht, daß es
einen Kummer giebt, heißer, bitterer, trostloser, als selbst der eines
Mutterherzens am Schmerzenslager des Kindes: Der Kummer um eine verlorene
Seele, die uns theuer ist --

Brauneck war in sein Zimmer gegangen, hatte aber noch keinen seiner Gäste
vorgefunden. Er athmete erleichtert auf, als er sich allein sah. Aber
was nützte es ihm? In wenigen Minuten mußten sie ja doch kommen, und er
mußte zu den Karten greifen. Zu den Karten, die -- er wußte es wohl --
den Fluch seines Lebens bildeten, die er wahnwitzig liebte und die er in
diesem Augenblicke zu fürchten und zu hassen vermeinte.

Er seufzte tief auf, warf sich in einen Fauteuil und die Arme auf die
Seitenlehnen gestützt, verbarg er den Kopf in seine Hände.

Die Worte seiner Frau hatten ihn mächtig erschüttert. Sie hatten sein
im Grunde leicht bewegliches und weiches Gemüth im Tiefsten aufgewühlt.
Blitzartig zog das Bild seines eigenen Selbst vor seinem geistigen Auge
vorüber. Nackt und aller beschönigenden Entschuldigungsgründe bar,
schaute er seine Seele im Banne jener furchtbaren Leidenschaft, deren
Sklave er geworden. Ja, Gabriele hatte recht, all seinen Besitz hatte er
dem Dämon Spiel in den Rachen geworfen. Drei große Vermögen hatte er
sich von ihm rauben lassen: sein eigenes, das seiner Mutter, das ihm wenige
Jahre nach seiner Verheiratung zugefallen war, und jenes eines Oheims, den
er vor kurzem beerbt hatte. Die noch übrigen Reste betrugen kaum einige
Tausend Gulden. Er hatte seinen Sohn zum Bettler gespielt. Aber nicht das
allein: Er war noch weit tiefer gesunken, als Gabriele ahnte. Nicht nur das
Laster -- das Verbrechen hatte seine Hände besudelt. Als fast sein ganzes
Capital vergeudet war und er sich am Rande vollständigen Ruines sah,
da war eine entsetzliche Versuchung an ihn herangetreten. Schleichenden
Schrittes erst, in flüchtigen Umrissen, wie ein Phantom. Dann nahm sie
deutlichere Formen an und lockte ihn immer lauter und dringender. Ein
böser Zufall, der ihm einen Genossen zuführte, welcher unentdeckt
und erfolgreich die Bahn des Verbrechens schon betreten hatte, gab den
Ausschlag. Seine letzten schwindenden Skrupel waren besiegt -- und -- er
erlag. --

Das war es, was er, in sein Inneres schauend, gewahrte. Er wußte, daß es
keine Umkehr, keine Rettung für ihn gab.

Ein schmerzliches Stöhnen entrang sich Otto's gequälter Brust. Da
schellte die Klingel an der Eingangsthür; im Vorzimmer wurden Stimmen
laut, und er sprang empor. Seine Gäste trafen ein; jetzt war nicht die
Zeit dazu, sich düsteren Betrachtungen hinzugeben. Wozu auch? Vielleicht
würde endlich das Glück ihm hold, und -- wer weiß, vielleicht ließe
sich, wenn nicht alles, so doch ein Theil des Verlorenen zurückerobern.
Nicht alles Unrecht, was in der Welt geschieht, gelangt zur Enthüllung.
Wie viele Schurken und Verbrecher, schlimmer als er, bleiben unentdeckt und
erfreuen sich ungestört der goldenen Früchte ihrer Gaunerstreiche.

Otto trat den Ankömmlingen grüßend entgegen; bald folgten Andere, und
eine Viertelstunde später saß die Gesellschaft vollzählig beim Spiele.

Drüben aber lehnte Gabriele am Bette des kleinen Erich und sandte aus
gläubiger Seele ein inbrünstiges Gebet zu Gott empor, daß er ihr Kind
vom Tode und ihren Gatten vom Untergange in Laster und Verkommenheit, dem
schlimmeren Tode, erretten möge. --

Die Stunden verrannen. Tiefe Stille herrschte im Zimmer des Kranken.
Otto hatte Wort gehalten; es drang kein Laut herüber von der lustigen
Spielgesellschaft, den Schlummer des Knaben zu stören. Aber Erich schlief
nicht. Wohl hatte der Husten nachgelassen, aber der Athem drang in kurzen,
hastigen Stößen aus der Lunge, und das Fieber steigerte sich stetig.
Einigemale hatte der Kleine nach dem Vater gefragt und Gabriele ihm
geantwortet, daß er zu Hause sei, in seinem Zimmer, ob sie ihn herbeirufen
solle? Erich schüttelte den Kopf. Er glaubte, daß der Vater schlafe und
wollte ihn nicht seinetwegen wecken lassen. Mama weilte bei ihm, er war ja
nicht allein.

Und immer weiter rückten die Zeiger der Wanduhr vor, und Stunde um Stunde
floß in den Schoß der Unendlichkeit. Mit unermüdlicher Pünktlichkeit
reichte Gabriele dem Kinde die Arznei, träufelte einen kühlenden Trank
zwischen die heißen Lippen, lockerte seine Kissen. Von Zeit zu Zeit
durchmaß sie mit leichten, unhörbaren Schritten das Gemach. Eine
qualvolle Unruhe hatte sie erfaßt. Sie wußte und sie fühlte es, daß die
Stunde nahte der Entscheidung über Tod und Leben.

Mitternacht war vorüber. Mit stockendem Herzschlage stand Gabriele über
Erich gebeugt und lauschte. Ihr hatte plötzlich geschienen, als ob die
stoßweisen Athemzüge des Kranken von einem leisen, röchelnden Geräusch
begleitet würden, und eine furchtbare Angst hatte sie an der Kehle
gepackt.

Da machte Erich eine Bewegung und setzte sich im Bette auf. »Mama,« sagte
er mit ungewöhnlich lauter und deutlicher Stimme. »Mama, jetzt hatte ich
einen wunderschönen Traum. Den möchte ich Dir erzählen. Aber Papa soll
ihn auch hören. Bitte, liebe Mama, ruf' ihn ein wenig zu mir.«

»Gleich, mein Kind, ich hole ihn gleich,« erwiderte Gabriele. »Aber wie
fühlst Du Dich? besser?«

»Wie ich mich fühle?« wiederholte der Knabe. »Besser, viel besser. Nur
so sonderbar ist mir zu Muthe, und hier innen -- Erich deutete mit der Hand
auf seine Brust -- hier innen ist mir auf einmal so heiß. Aber das thut
nichts, Mama,« fuhr er fort. »Ich fühle gar keine Schmerzen mehr. Bitte,
gehe Papa zu holen, damit ich ihm auch meinen schönen Traum erzählen
kann.«

Gabriele nickte und verließ das Zimmer. Als sie, die Reihe der Gemächer
durchschreitend, sich dem Zimmer ihres Gatten näherte, scholl ihr daraus
lautes Stimmengewirre entgegen. Ein heftiger Wortwechsel schien dort
stattzufinden. Einen Augenblick zögerte sie einzutreten. Doch nach kurzer
Ueberlegung ging sie weiter und wurde, als sie die schwere Portière
zurückschlug, welche jenes Gemach vom Salon trennte, Zeugin eines
Auftrittes, der, sie mit tödtlichem Entsetzen erfüllend, ihre Schritte
hemmte. Sie sah Folgendes:

Mehrere der Herren waren von ihren Sitzen aufgesprungen und sprachen wild
und verworren durcheinander. Einer derselben hielt mehrere Karten in der
Hand, die er den anderen Spielern triumphirend vorwies.

»Da seht!« rief er. »Da habt Ihr den Beweis. Die Karten sind markirt!«

Und in der nächsten Secunde schleuderte er die Karten ihrem Gatten ins
Angesicht. »Elender Schurke!«

Otto fuhr vom Stuhle auf. Aschfahle Blässe bedeckte seine Wangen. Seine
Lippen zuckten.

Dumpfes Schweigen lagerte plötzlich über der Gesellschaft.

»Die Pflichten der Höflichkeit als Hausherr verbieten mir, gegen Sie
so vorzugehen, wie ich an jedem anderen Orte vorgehen würde,« stammelte
Brauneck nach einigen Augenblicken. »Nichtsdestoweniger werden Sie« --
gegen den Ankläger gewendet -- »mir für Ihre mir zugefügte Beschimpfung
Genugthuung zu geben haben. Ich werde Ihnen morgen meine Zeugen schicken.«

Ein Hohngelächter beantwortete Brauneck's Worte.

»Mit einem Falschspieler schlägt man sich nicht!«

Und alle Anwesenden erhoben sich von ihren Plätzen.

Gabriele stand noch immer an der Thürschwelle. Ein dunkler Schatten
legte sich ihr über die Augen. Aber sie schrie nicht auf; sie brach nicht
zusammen. Unbemerkt wandte sie sich zurück und ehe die Gäste sich zum
Weggehen gerüstet, erreichte sie das Zimmer ihres Kindes.

Dort sank sie lautlos an Erich's Bettchen nieder.

Der Knabe hatte sich wieder in die Kissen zurückgelegt. Er schien zu
schlummern. Die Fieberröthe war von seinen Wangen gewichen. Nur die
Athemzüge klangen noch immer so kurz und röchelnd.

Jetzt regte er sich und schaute mit weitgeöffneten Augen im Zimmer umher.

»Mama,« sagte er, und ein heiteres Lächeln flog über sein Gesichtchen.
»Mein wunderschöner Traum -- wir waren in einem wunderprächtigen Garten,
eine herrliche Musik tönte von fernher und eine Schaar hübscher Kinder
tanzte mit mir nach ihren Klängen. Du und Papa --«

Erich vollendete den Satz nicht. Ein tiefer, rasselnder Athemzug hob seine
Brust. Dann ging ein plötzliches Zucken durch seine Glieder. Seine Lippen
bebten und bedeckten sich mit blutigem Schaum.

Er war verschieden. Eine Lungenblutung hatte sein junges Leben
dahingerafft.

Gabriele wischte den Schaum von seinem Munde und bedeckte seine Stirn und
Hände mit Küssen. Ein convulsivisches Schluchzen durchschütterte
sie. Aber unter den brennenden Thränen, welche unaufhaltsam ihr Gesicht
überströmten, flüsterte sie:

»Du bist erlöst, mein Kind! Erlöst von der Schmach Deines entehrten
Namens, von dem furchtbaren Geschicke, der Sohn eines Vaters zu sein, den
Du geliebt und den Du verachten müßtest. Erlöst -- erlöst!«



Justus.


Seit meinem Austritte aus dem Institute hatte ich Justus nicht mehr
gesehen. Und als ein guter Freund und ehemaliger Schulcollege mir schrieb,
daß Justus seine Tante beerbt habe und sich in dem von ihr hinterlassenen
Landhause ganz nahe von dem Städtchen, in welchem ich damals wohnte,
niederlassen werde, mußte ich mich erst besinnen. Justus? -- Wer ist
doch Justus? Wo bin ich ihm je begegnet? Allmählich tauchte das Bild des
einstigen Lehrers in meiner Erinnerung auf.

Da stand es wieder vor mir, das hagere Männchen mit dem großen Höcker
auf der linken Schulter. Da stand es an der großen schwarzen Tafel und
zeichnete mit Kreide Figuren und Zahlen, indem es mit unermüdlicher Geduld
selbst die begriffsstützigsten seiner Schüler in die Geheimnisse
der Geometrie und Algebra einzuführen bemüht war. Auf der winzigen,
mißgestalteten Figur saß tief in den Schultern ein mächtiger, prachtvoll
profilirter Kopf mit schwarzem Kraushaar und tiefen, seelenvollen Augen.
Ja, Justus hatte der sanfte Lehrer geheißen, der uns, weil allzu gütig,
nicht zu imponiren vermochte, und uns niemals die wohlverdiente Strafe,
sondern höchstens eine freundliche milde Mahnung zutheil werden ließ.

Alles dies hatte uns an ihm lächerlich geschienen. Seine verwachsene
Gestalt, die wir vierzehnjährigen Jungen um einen halben Kopf überragten,
seine langsame, zögernde, beinahe stotternde Sprechweise, seine
unerschütterliche Sanftmuth, ja selbst sein Name: Justus, Justus -- der
Gerechte, welch komischer Name! Wie konnte man Justus heißen!

Und doch hatte dieser Name für ihn gepaßt, wie selten einer sich für
seinen Träger eignet. Denn Gerechtigkeit war die Grundlage seines Wesens,
der vorherrschendste Zug seines Charakters. Und jede, auch die geringste
Ungerechtigkeit, deren Zeuge er war, konnte ihn aufs tiefste empören.
Noch weiß ich es, wie entrüstet er war, als er sah, wie mehrere kräftige
Knaben über einen weit schwächeren Kameraden herfielen, von dem sie sich
beleidigt glaubten. Nie vorher hatte ich ihn so gesehen. Sein Auge flammte,
die Muskeln seines Gesichtes zuckten vor Erbitterung, seine Fäuste ballten
sich und -- was nur in den Augenblicken mächtigster Erregung geschah -- er
stotterte nicht, als er mit laut dröhnender Stimme über die ungeberdigen
Jungen hindonnerte, in glühenden Zornesworten die Feigheit und
Ungerechtigkeit, sich an dem Schwächeren zu vergreifen, ihnen
entgegenschleudernd. Ja, selbst eine empfindliche Strafe dictirte er ihnen.

Und nun sollte ich den einstigen Lehrer nach zwölf Jahren wiedersehen.

Er hatte sich wenig verändert. Auch älter schien er nicht geworden in
dieser doch stattlichen Reihe von Jahren. Man hatte es ihm nie angesehen,
wie alt er eigentlich war. Uns, seinen Schülern, hatte er alt geschienen,
doch hatte man uns gesagt, daß er ein junger Mann sei, noch nicht
dreißigjährig. Und jetzt, als ich ihn in seiner neuen Behausung
aufsuchte, sah er gerade so aus wie damals, als ich ihm bei meinem
Austritte aus der Schule Lebewohl gesagt. Nur hatte sein dunkles,
schwärmerisch blickendes Auge den Ausdruck milder Traurigkeit und
Wehmuth angenommen. Die Ursache dieser Trauer zu errathen, ward mir bald
Gelegenheit geboten.

Einige Jahre vorher hatte ein Freund seines Vaters in unglücklichen
Speculationen sein ganzes, nicht unbeträchtliches Vermögen verloren und
in der Verzweiflung über sein Mißgeschick sich das Leben genommen. Er
hatte nichts hinterlassen als sein vierzehnjähriges Kind, die kleine Dora,
blond und blauäugig und lieblich wie ein thaufrischer Frühlingsmorgen.

Justus' Vater nahm die Waise ins Haus und nach seinem Tode übernahm Justus
selbst die Fürsorge für das junge Mädchen, für sie und für seinen
Bruder Alvyn, der -- um zwanzig Jahre jünger als er -- zur Zeit, als der
Vater starb, seine Universitätsstudien noch nicht vollendet hatte.

Als ich nun bei einem meiner Besuche in dem mit wildem Wein und
Schlingrosen überwachsenen, anmuthigen Landhause mit Dora zusammentraf,
welche jetzt das Institut verließ, in dem sie ihre letzte Ausbildung
erhalten hatte, um -- vorläufig, wie Justus sagte -- in das Haus ihres
Pflegevaters zu ziehen, da ward es mir klar, warum Justus' Augen so traurig
blickten. Er liebte Dora -- aber er war zu verständig, um auf Gegenliebe
zu hoffen, und zu gerecht, um es nicht natürlich zu finden, daß das
schöne, blühende Mädchen für den verwachsenen, alternden Freund
keine anderen Gefühle in seinem Herzen nährte, als Freundschaft und
Dankbarkeit. Und als ich Justus' bildhübschen Bruder kennen lernte, da
konnte ich keinen Zweifel hegen, daß dieser Dora's Herz in Sturm erobern
würde. Hoch und schlank gewachsen, den schönen Kopf stolz auf dem edel
geformten Nacken tragend, frei und kühn in seinen Bewegungen und
voll ritterlicher Aufmerksamkeit gegen das kaum flügge gewordene
Pensionsfräulein, sah er neben dem unscheinbaren, mißgestalteten
Männchen aus wie ein junger Gott. Ich wurde ganz traurig gestimmt, als
ich die drei guten Menschen beisammen sah, denn ich konnte es mir nicht
verhehlen, welch tiefes Herzeleid dem armen Justus aus seiner wohl
begreiflichen, aber doch so hoffnungslosen Neigung für das liebreizende
junge Geschöpf erwachsen würde.

Dennoch aber verbrachte ich manche glückliche Stunde in Justus' gastlichem
Heim. Tagsüber, wenn das Wetter günstig war, waren wir Alle im Garten
oder machten Ausflüge in der nahen Umgebung, wobei es sich, wie zufällig,
immer so traf, daß Alvyn mit Dora vorausmarschirte, während ich und
Justus die Nachhut bildeten. Des Abends aber versammelten wir uns im
traulichen Gartensalon, und nach dem Thee wurde Lectüre vorgenommen. Alvyn
oder ich lasen vor, während die Anderen zuhörten.

Da gab es oft lebhaft erregte Discussionen. Denn Justus vertheidigte die
classische Richtung, während Alvyn und ich die Modernen in Schutz nahmen.
Dora kümmerte sich nicht viel um unsere literarisch-ästhetischen Dispute.
Nur hin und wieder warf sie ein Wort dazwischen. Abseits von uns saß sie
an einem kleinen Tischchen und zeichnete emsig. Ich wußte, was es war,
das sie beschäftigte, denn mich hatte sie ins Vertrauen gezogen und
beauftragt, Justus' Aufmerksamkeit bei diesen Leseabenden so in Anspruch
zu nehmen, daß er sie und ihre Zeichnung nicht beachtete. Denn dieselbe
sollte eine Ueberraschung für ihn werden.

Und sie gelang glänzend.

Am Vorabend von Justus' Geburtstag -- es war sein vierundvierzigster,
wie ich erfuhr -- nachdem das festliche Abendessen zu Ende und mancherlei
Toaste ausbracht waren, verschwand Dora plötzlich aus dem Zimmer, und
als sie nach einer kleinen Weile mit freudig geheimnißvoller Miene wieder
eintrat, ergriff sie Justus bei der Hand und zog ihn, während sie uns
winkte, ihnen zu folgen, in den Gartensalon hinüber. Derselbe war hell
erleuchtet, und mitten im Zimmer ruhte auf einer Staffelei das lebensgroße
und sehr wohlgetroffene Brustbild unseres Justus. Sprachlos vor tiefster
Ergriffenheit, blickte dieser auf sein Porträt.

»Nun, ist es gut? Bist Du zufrieden mit dem, was ich gelernt?« frug
Dora schüchtern, als Justus noch immer keine Antwort über seine Lippen
brachte.

Ein Blick auf sein Angesicht gab ihr Antwort.

Eine überirdische Freude leuchtete aus seinem Auge, eine Thräne rollte
langsam über seine Wange, und er öffnete den Mund, als ob er sprechen
wollte; aber das Wort versagte ihm.

Da stürzte Dora ihm an den Hals, küßte und herzte ihn und rief ein- um
das andermal:

»Freut es Dich? Bist Du zufrieden? Justus, freut es Dich?«

Dieser aber verfärbte sich plötzlich. Und je mehr Küsse es von den
holden Lippen auf seinen Mund und seine Wangen regnete, um so bleicher
wurde er und ein leichtes Zittern ging durch seine Glieder. Ich verstand,
was in seinem Inneren vorging, und ein Gefühl peinlichen Mitleides
beschlich mich.

Warum war Dora auch so toll und thöricht, den Armen so abzuküssen, als ob
sie ihn liebte. Bedachte sie denn gar nicht, daß auch in der Brust dieses
unglücklichen, mißgestalteten Freundes ein warm fühlendes, der Liebe
nicht verschlossenes Herz wohnen könne?

Einige Wochen später rüstete sich Alvyn zur Abreise. In einer unfernen
größeren Stadt wollte er sich als Arzt niederlassen. Schon war der Tag
seiner Abreise festgesetzt, als er von einem Jagdausfluge verwundet nach
Hause gebracht wurde. Die Kugel eines der Schützen hatte -- statt des
Rehbockes, dem sie bestimmt gewesen -- Alvyn's linke Schulter getroffen.
Die Verletzung war keine gefährliche, dennoch aber wurde das ganze Haus
in die größte Bestürzung versetzt. Justus bestand darauf, die Pflege
des Bruders selbst zu übernehmen. Dora wollte ihn ablösen, damit er Zeit
fände, sich auszuruhen. Aber er gestattete es nicht, indem er meinte, daß
ein Krankenbett kein geeigneter Platz für sie sei, und so mußte sie
sich damit begnügen, in sorgsamer Ueberwachung der Hauswirthschaft dem
Bruderpaare ihre Dienste zu erweisen. Sie war keine gewandte Hausfrau -- wo
hätte sie bis dahin auch Gelegenheit gefunden, sich in dieser Richtung zu
bethätigen? -- Und da war es zugleich heiter und rührend, zu sehen,
wie sie sich abmühte, ihren ungewohnten Pflichten gerecht zu werden.
Glücklicherweise war Agathe da, die alte, langerprobte Köchin. Sie versah
ihren Dienst so fest und sicher, daß alles ganz gut von Statten ging;
auch war sie viel zu gutmüthig, um dem jungen Mädchen seine grüne
Unerfahrenheit allzu fühlbar werden zu lassen. Mit der ernstesten Miene
von der Welt ließ sie sich täglich von Dora den Speisezettel vorschreiben
und sich einschärfen, wie die Gerichte bereitet werden müßten, daß
sie sich für den Kranken eigneten, und daß sie kräftig genug seien
und leicht verdaulich, um Justus für seine anstrengende Krankenpflege
genügend zu stärken.

Langsam und traurig zog die Zeit dahin. Eines Tages aber, als ich wieder
in dem Häuschen vorsprach, um mich nach dem Befinden des Patienten zu
erkundigen, wurde ich von Dora mit heiterer Miene empfangen. Und sonderbar!
Erst jetzt, als sie wieder lächelte, bemerkte ich, wie schmal und blaß
ihr liebliches Gesichtchen geworden war. Freudig theilte sie mir mit, daß
der Arzt heute Alvyn gestattet hatte, für einige Stunden sein Bett zu
verlassen. Wenn ich ein wenig warten wollte, könnte ich ihn sehen.

Wie erschrak ich, als eine Viertelstunde später Alvyn, auf den Arm seines
Bruders gestützt, in das Zimmer trat! Nicht er war es, der mir Schrecken
einflößte. Seine Wangen waren wohl etwas bleicher als vordem, aber man
erkannte sogleich, daß der Doctor nicht zu viel versprochen, indem er
seine baldige Genesung in Aussicht gestellt. Justus' Aussehen dagegen
erweckte meine Sorge. Seine Gesichtsfarbe war wachsgelb geworden, die
Backenknochen traten scharf hervor, und die schönen, strahlenden Augen
lagen tief eingesunken in ihren bläulich umränderten Höhlen und hatten
allen Glanz verloren. Sollten die Anstrengungen der Pflege, die Nachtwachen
und die Angst um den Bruder ihn so arg mitgenommen haben? Ich konnte es
nicht recht glauben. Das aber wußte ich, daß er selbst einer
Erholung bedürftiger war, als der an seiner Seite blühend aussehende
Reconvalescent. Auch hielt ich es für meine Pflicht, aus meiner
Meinung kein Hehl zu machen, und nachdem wir ein Weilchen über allerlei
alltägliche Dinge geplaudert, erklärte ich Justus, ohne Umschweife, daß
es an der Zeit sei, sich Ruhe zu gönnen, zu seiner Erholung etwa eine
kleine Vergnügungsreise anzutreten. Alvyn und Dora, die mittlerweile auch
eingetreten war, stimmten mir lebhaft bei. Justus aber betheuerte, daß er
sich ganz wohl fühle, und wollte von einer Reise nichts wissen. Die kleine
Ermüdung, die er ja nicht leugnen wolle, werde nun, da er jetzt nichts
mehr zu thun und zu sorgen habe, bald von selber weichen. Ich glaubte ihm
nicht, da aber alles weitere Drängen sich als nutzlos erwies, beschloß
ich, mich hinter den Hausarzt zu stecken und diesen zu einem Machtwort in
Betreff Justus' zu veranlassen. Als ich mich aber zu diesem Zwecke zwei
Tage später bei meinen Freunden einstellte, empfing mich Justus und bat
mich, ihn in sein Arbeitszimmer zu begleiten, dessen Thür er zu meiner
nicht geringen Verwunderung hinter uns absperrte.

»Ich will nicht, daß wir gestört werden,« sagte er, indem er vor seinem
Secretär Platz nahm und einen großen, von seiner Hand geschriebenen Bogen
Papier entfaltete.

»Sie sind Jurist und ich möchte mir Ihren Rath erbitten,« fuhr er
fort. »Als ich da vergangene Nacht wieder nicht schlafen konnte -- am
Krankenbette Alvyn's habe ich mir das Schlafen fast ganz abgewöhnt -- da
fiel mir ein, daß es angezeigt sei, ein wenig Ordnung zu machen und mein
Testament niederzuschreiben. Man kann ja nie wissen, was geschieht. Und da
möchte ich Sie nun ersuchen, dasselbe durchzusehen, ob es in seiner Form
richtig abgefaßt ist.«

Ich nahm das Testament und las. Alvyn und Dora waren darin zu gleichen
Theilen als Erben von Justus' nicht unbedeutendem Vermögen eingesetzt. Als
ich ihm das Schriftstück mit der Beruhigung zurückgab, daß dasselbe
ganz rechtsgiltig verfaßt sei, konnte ich nicht umhin, die Bemerkung
beizufügen, daß es wohl viel vernünftiger wäre, irgend etwas zur
Kräftigung seiner Gesundheit zu unternehmen, als sich mit Todesgedanken zu
tragen.

Justus lächelte.

»Nun, nun,« sagte er, »deshalb, weil ich mein Testament gemacht habe,
glaube ich ja nicht, schon morgen oder übermorgen sterben zu sollen. Ich
will ja nur alles in Ordnung gebracht haben -- für alle Fälle. Was Sie
aber da von meiner Gesundheit sagen -- ich bin ja nicht krank, wirklich
nicht. Wenn es aber dennoch bald mit mir zu Ende ginge, was läge weiter
daran? Ich habe doch eigentlich genug gelebt, da ich niemandem mehr zu
etwas nützlich bin. Im Gegentheile. Ich stehe dem Glücke der Anderen nur
im Wege. Haben Sie es denn nicht bemerkt? Dora und Alvyn lieben sich ja.
Dora wird sich aber nicht leicht dazu entschließen, mich zu verlassen und
Alvyn's Frau zu werden, so lange ich lebe. Das gute Geschöpf würde es
schwer übers Herz bringen, mich einer traurigen Einsamkeit anheimzugeben.
Die Dankbarkeit, die sie glaubt, mir schuldig zu sein, würde ihr dies
nicht erlauben.«

Ich unterdrückte einen Seufzer.

»Glauben Sie wirklich?« stotterte ich nicht ohne Verlegenheit.

»Glauben! Was glauben!« wiederholte Justus. »Ich weiß es! Und wenn ich
es auch nicht schon früher bemerkt hätte, so müßte ich es doch
jetzt wissen. Hab' ich es doch gesehen, wie sie sich in Angst und Sorge
verzehrte, als Alvyn krank darniederlag. Nachts, wenn ich aus seinem Zimmer
trat, fand ich sie oftmals in Thränen, statt daß sie schlief. Ich gab ihr
wohl keine Veranlassung dazu.«

»Und wenn nicht Alvyn, sondern die Sorge um Dich, um Deine Gesundheit und
Dein Leben die Ursache ihrer Thränen gewesen wäre?« -- schoß es mir
plötzlich durch den Kopf. Doch gleich darauf kam mir dieser Gedanke so
komisch vor, daß ich mich wohl hütete, ihn laut werden zu lassen.

»Ja, wenn es aber auch wirklich der Fall sein sollte, daß Dora Alvyn
liebt,« sagte ich, »sind Sie dessen auch gewiß, daß ihre Liebe erwidert
ist?«

Jetzt fuhr Justus auf.

»Wie? Nicht erwidert? Dora's Neigung sollte nicht erwidert sein? Aber
Alvyn müßte ja blind und blöde, ja geradezu blöde sein, wenn er dieses
liebe Geschöpf nicht liebte. Ich bitte Sie, wie können Sie so etwas
denken!«

Dann warf er das Testament in die Lade seines Schreibtisches und fing
an, im Zimmer auf und ab zu laufen. Mich beachtete er gar nicht mehr, so
mächtig war die Erregung seines Gemüthes. Wieder waren mehrere Wochen
vorübergegangen. Alvyn war völlig hergestellt und der letzte Abend vor
seiner Abreise sollte uns Alle zum Abschiedsfeste vereinigen. Mir bangte
davor, denn ich war überzeugt, daß es auch zum Verlobungsfeste werden
sollte, und wenn ich es auch einsah, daß es für Justus besser sei, wenn
die von ihm selbst vorausgesehene Entscheidung bald fiele, so wußte ich
doch, daß dieselbe einen schweren Streich gegen sein Herz führen würde.

Als ich das Haus betrat, begegnete mir Dora im Flur. Sie kam aus der
im Erdgeschosse gelegenen Küche und hielt auf einem Glasteller einen
mächtigen Kuchen in der Hand. Ihre Wangen waren vom Herdfeuer geröthet
und freudige Heiterkeit blitzte aus ihren blauen Augen.

»Welch lucullische Genüsse bereiten Sie da für uns?« frug ich, auf den
Kuchen weisend.

Sie legte den Finger an den Mund.

»Bst, nicht so laut,« flüsterte sie. »Es soll eine Ueberraschung für
Justus werden. Sein Lieblingsgericht, das ich selbst gebacken. Er wird
Augen machen, wenn er erfährt, daß Agathe mir dabei gar nicht geholfen
hat.«

Schweigend stieg ich hinter Dora die Treppe hinan. Ich war ärgerlich
gestimmt, Dora's Aufmerksamkeiten für Justus verdrossen mich, da ich
wußte, daß sie ihn mehr quälen als erfreuen müßten. Ich folgte ihr in
das Speisezimmer, wo sie den Kuchen auf den Credenztisch stellte und über
und über mit Zucker bestreute.

»Das ist der Zucker, mit dem sie die bittere Pille versüßen will, die
sie ihm zu schlucken giebt,« dachte ich zornig.

Sie aber lächelte vergnügt vor sich hin.

»Glauben Sie, daß es ihn freuen wird?« frug sie.

Ich gab keine Antwort, so böse war ich auf sie. Plötzlich aber fuhr ich
los:

»Warum quälen Sie den armen Justus unaufhörlich? Warum überhäufen Sie
ihn mit Zuvorkommenheiten, die ihn nur peinigen können?«

Ich hielt inne; meine eigenen Worte erschreckten mich. Dora aber blickte
mich mit großen Augen staunend an.

»Quälen?« wiederholte sie. »Ich quäle Justus?«

»Wie denn nicht? Das müssen Sie doch selbst einsehen, daß Ihre
Aufmerksamkeiten ihm Qualen bereiten müssen. Es kann Ihnen doch kein
Geheimniß geblieben sein, daß er -- Ah, bah! Sie wissen ganz gut, was ich
meine. Aber besser wäre es, Sie machten dem grausamen Spiele ein Ende
und erklärten sich. Heute bei Alvyn's Abschiedsfest wäre der richtige
Augenblick hiefür.«

Dora wechselte die Farbe. Ein leichtes Zittern bewegte ihre Hand, die immer
noch die Streubüchse festhielt, und ein dichter Zuckerstaub fiel neben dem
Kuchen auf die Tischplatte nieder.

»Sie glauben, daß Justus --,« lispelte sie kaum hörbar.

»Sie liebt!« fiel ich ein. »Ja, das glaube ich nicht nur, ich weiß es.
Und daß Sie mit Ihren koketten Künsten ihn nutzlos peinigen.«

Ich war so erbost gegen sie, daß es mir ordentlich wohl that, sie zu
kränken.

Sie schwieg. Nur ein leiser Seufzer drang zwischen ihre Lippen. Ihr Gesicht
konnte ich nicht sehen, denn sie hatte mir den Rücken zugewendet. Jetzt
klappte sie den Deckel des Schrankes zu und schlüpfte hastig aus dem
Zimmer.

Mit gemischten Gefühlen blickte ich ihr nach. Ich schämte mich meiner
plumpen Derbheit, und doch war ich wieder froh, das unhaltbare Verhältniß
einer Krisis entgegengedrängt zu haben. Noch mehr aber freute ich mich
dessen, als ich, in Justus' Zimmer tretend, die bleichen Wangen, die
nervöse Unruhe meines wackeren Freundes sah. Es war wirklich hoch an der
Zeit, daß diese unerquickliche Lage der Dinge ein Ende nahm.

Trotz der anfänglich etwas befangenen und erregten Stimmung der Mehrzahl
der Theilnehmer verlief das Festmahl in ungestörter Heiterkeit. Alvyn's
übersprudelnde Lustigkeit wirkte ansteckend auf die Anderen, und frohes
Lachen, muntere Scherzworte flogen von Lippe zu Lippe.

Wir waren beim Dessert angelangt, und der mir bereits bekannte Kuchen wurde
aufgetragen. Mit etwas scheuer Miene -- denn mein auf Dora gerichteter
Blick verwirrte sie sichtlich -- und stockendem Tone murmelte Dora, wie
geistesabwesend, ein paar Worte vor sich hin: daß sie den Kuchen selbst
bereitet habe, um zu beweisen, daß sie in den Künsten der Küche nicht
so ungeschickt sei, wie Justus stets behauptete. Weiter kam sie nicht; das
spöttische Lächeln, das sie auf meinem Munde bemerkte, schnitt ihr das
Wort ab.

Jetzt aber erhob sich Alvyn von seinem Sitze und sein mit edlem Wein
gefülltes Glas hochhebend, rief er:

»Hurrah, hoch! die Hausfrau möge leben! Ich leere meinen Becher auf
Dora's Wohl und auf das Wohl -- desjenigen, der das Glück haben wird, sie
als Hausfrau heimzuführen!«

Tiefes Schweigen folgte Alvyn's Worten. Doch nach wenigen Augenblicken
erhob auch Justus sich, das Glas mit bebender Hand ergreifend. Er war sehr
blaß geworden. Ein seltsames Leuchten verklärte den dunklen Glanz seines
Auges.

»Dora!« sagte er laut und langsam. »Ich schließe mich Alvyn's Wunsche
an. Ich trinke auf das Wohl desjenigen, den Du liebst. Willst Du mir
Bescheid thun?«

Dora zögerte. Eine Secunde lang blickte sie unschlüssig vor sich ins
Weite. Eine jähe Röthe überfluthete ihre Wangen und ihre Brust hob und
senkte sich in heftigen Athemzügen. Doch jetzt erhob auch sie sich und
griff nach ihrem Becher. Hell klangen die Gläser aneinander und Justus und
Dora's Blicke begegneten sich, als wollte jeder tief sich in des Anderen
Seele senken.

»Gern thu' ich Dir Bescheid,« sagte Dora. »Es lebe der, den ich liebe!
Er lebe hoch! -- Justus lebe hoch!«

Justus' Glas fiel zu Boden, das köstliche Naß über den Teppich
ergießend. Er selbst stand wie versteinert. Da flog Dora ihm an den Hals
und küßte ihn wieder lebendig.

Wir aber tranken auf das Wohl des Brautpaares. Ein Toast folgte dem anderen
und die Nacht war weit vorgerückt, als ich in heiterster Stimmung mich auf
den Heimweg machte.

Wenige Wochen später fand Justus' Vermählung mit Dora statt. Dann
traten sie eine Reise an, und als sie wieder in ihr trauliches Heim
zurückkehrten, fand ich Justus völlig verändert. Kraft und Gesundheit
lag über seiner Erscheinung. Sein Schicksal hatte ihm das beste Heilmittel
gereicht -- das Glück.



Fallendes Laub.


Friede lag über dem Thale. Die ermüdete Herbstsonne badete das purpurne
und gelbe Laub der Wälder in ihrem milden, sanften Glanz. Um die Kuppen
der Berge ringelten sich weiße, flockige Nebelstreifen, lagerten sich
schläfrig in die Schluchten und Risse, um dann an den zackigen, grauen
Felswänden langsam emporzukriechen und, höher und höher steigend,
im durchsichtigen, blassen Blau des Himmelsgewölbes sich allmählich
aufzulösen.

Das ganze Land, so weit das Auge sah, lag in zitterndem, goldigem Licht.
Das letzte warme Lächeln des fliehenden Sommers glitt über das Antlitz
der Natur, bevor sich ihr Auge zum winterlichen Schlafe schloß. Und um
die Mittagszeit schien die Sonne noch so warm, daß man glauben konnte,
der Herbst mit seinem Reif und Frost, der Winter mit seinem Schnee und Eis
seien noch in weiter, weiter Ferne.

Aber die klugen Schwalben ließen sich von dem gleißnerischen Lächeln
nicht täuschen. Fast alle hatten schon den großen Zug nach dem Süden
angetreten und jetzt rüsteten sich auch die letzten zum Aufbruch.
Fröhlich zwitscherten sie ihren Abschiedsgruß in die linde, laue Luft.
Geschäftig hin und her fliegend, ordneten sie sich in Gruppen und prüften
sorgsam die Flugkraft ihrer jüngsten Kinder, um derentwillen sie ihre
Abreise hatten verzögern müssen.

Gleichgiltig sahen die Sperlinge den Reisevorbereitungen zu. Was kümmert
es sie, ob und wann es Herbst wird. Sorglos hüpfen sie von Zweig zu Zweig,
trippeln auf dem kurzen, grünen Rasen umher, gierig nach kleinen Würmchen
ausschauend, oder baden sich behaglich im Staub der trockenen Erde. Wie
graue, schlechtgewickelte Wollknäuel sitzen sie da und blasen sich auf,
daß alle Federn emporstehen.

Plötzlich fahren zwei dieser struppigen Wollknäuel laut pipsend in die
Höhe. Ein seltsamer Schrei hat sie erschreckt. Und doch sollten sie an
denselben schon gewöhnt sein. Es ist ja ein guter Bekannter, der
ihn ausgestoßen hat. Tante Cölestinens Papagei, der, während seine
Besitzerin in dem Lusthause mit einer Handarbeit beschäftigt sitzt, neben
ihr auf einem in die Sonne gerückten Gestelle auf und nieder flattert.
Bei trübem Wetter verhält er sich meist still und manierlich, wie es
sich ziemt für den wohlgesitteten Genossen eines ruheliebenden, alten
Fräuleins.

Er schaukelt sich auf dem an seinem Gestelle befestigten Ringe, lacht und
plaudert, und wenn es ihm gestattet wird, auf der Schulter seiner Herrin zu
ruhen, drückt er schmeichelnd sein Köpfchen an ihre Wange und läßt sich
aus ihrem Munde mit kleingekauten Milchbrötchen füttern.

Wenn aber die Sonne so recht warm auf ihn herabscheint, dann erinnert der
Vogel sich seiner fernen sonnigen Heimat und Sehnsucht erfaßt das kleine
Herz. Er reckt und dehnt sich, schlägt mit den verschnittenen Flügeln,
flattert empor -- und fällt mit einem lauten kreischenden Schrei zu Boden.

Tante Cölestine begreift es nicht, daß der kleine Fremdling in seiner
vieljährigen Verbannung seine Heimat in den Urwäldern Südamerikas nicht
schon verschmerzt und vergessen hat. Es ging ihm doch so gut. An nichts
fehlte es ihm. Reichliche, gesunde Nahrung, Schutz vor den Unbilden der
Witterung und der Verfolgung raubgierigen Gethiers, freundliche, liebevolle
Behandlung -- was konnte er noch mehr verlangen, wie konnte er sich nach
Freiheit sehnen, wo er den schweren Kampf ums Dasein aufnehmen mußte
und von vielfältigen Gefahren bedroht wurde? Mehr Verständniß brachte
Cölestinens siebzehnjährige Nichte der Freiheitssehnsucht des kleinen
Gefangenen entgegen. War ihr Schicksal dem seinen doch nicht unähnlich.

Nach dem Tode ihrer frühverstorbenen Eltern, eines reichbegabten
Künstlerpaares, von der Schwester ihres Vaters an Kindesstatt angenommen,
fühlte auch sie sich in eine ihr fremde, sie beengenden Welt versetzt.
Trotz der innigen Liebe und Dankbarkeit, mit der sie an der Tante hing,
deren Güte alle Sorgen und Lasten des Lebens von ihr fernhielt, war es
ihr doch manchmal zu Muthe, als müsse sie die Flügel spannen und in die
weite, schöne Welt hinausfliegen, von welcher sie in der verklärenden
Erinnerung jener Zeit, da sie an der Seite ihrer Eltern ein reiches,
glückliches Leben gelebt, ein so verlockendes Bild in ihrem Inneren trug.
Aber auch ihr waren ja die Flügel geschnitten, und die gute Tante meinte,
daß die Freiheit nur ein illusorisches Glück und das wahre Glück viel
eher in dem stillen Frieden ihrer einsamen Zurückgezogenheit, denn in
dem wüsten Sturm und Drang der Welt zu finden sei. Und nicht ohne Sorge
gedachte sie der Zukunft, wenn ihre Augen sich für immer schließen
würden und das junge Mädchen ohne Schutz und Stütze den vielfachen
Gefahren und Versuchungen des Lebens preisgegeben sein werde. Doch
vielleicht war jener Augenblick, da Gott sie abberufen würde, noch
ferne. Noch fühlte sie sich gesund und rüstig und sie wußte, daß die
Grundsätze, welche sie in die jugendliche Seele zu pflanzen bemüht war,
eine feste Rüstung seien, um sie in der Stunde des Kampfes siegreich
bestehen zu lassen.

Mit unerschütterlicher Geduld hatte Cölestine sich abermals von ihrem
Sitze erhoben, um den Papagei, der zum so und so vieltenmale mit schrillem
Aufschrei von seinem Metallringe herabgeflattert war, und nun verzagt und
enttäuscht um sich blickend, auf dem Boden des Lusthäuschens hockte,
wieder auf sein Gestell emporzuheben. Mit liebkosender Hand glättete
sie sein gesträubtes, grünes Gefieder, küßte ihn, und mit dem Finger
drohend, redete sie ihm freundlich zu, Ruhe zu halten.

»Sieh' nur, Betti, wie thöricht unsere Lora heute wieder ist,« sagte
sie, sich lächelnd zu ihrer mit raschen Schritten sich nähernden Nichte
wendend. »Durchaus fort will das Närrchen. Es ahnt nicht, welche Gefahren
in der weiten Welt seiner harren würden und daß es in der ersehnten
Freiheit umkommen müßte.«

Aber Betti schenkte den Worten der Tante keine Aufmerksamkeit. Ein
Zeitungsblatt hastig hin und her schwenkend, stand sie mit hochgerötheten
Wangen und blitzenden Augen vor der sie verwundert anblickenden alten Dame.

»Ach, Tantchen,« rief sie und ihre Stimme zitterte vor innerer Bewegung.
»Welch ein Unglück, daß wir gerade diesmal die Zeitung nicht früher
durchgesehen haben. Hier ist das Programm mitgetheilt von dem gestern Abend
in der Stadt gegebenen Concerte. Und denke nur, ein junger Sänger, einer
von den Schülern meines Vaters, hat darin mehrere von Papas Liedern
gesungen. Und nun waren wir nicht dabei!«

Tante Cölestine nahm das Blatt, las und nickte langsam mit ihrem
weißhaarigen, mit einem kleinen Spitzenhäubchen bedeckten Haupte.

»Hm -- hm, das ist freilich recht schade,« meinte sie. »Es wäre ja
schön gewesen, die hübschen Lieder singen zu hören.« In ihrem Inneren
aber erwog sie, ob dieser Zufall, daß sie von der Sache nicht rechtzeitig
erfahren hatte, nicht eine Fügung Gottes gewesen sei. Sie würde Betti's
Drängen, das Concert zu besuchen, jedenfalls nachgegeben haben und sie
wußte aus Erfahrung, daß jede Berührung mit der Außenwelt, jedes
Concert und jede Theatervorstellung einen Sturm in des jungen Mädchens
Seele hervorrief, dessen leidenschaftliche Sehnsucht nach der großen
Welt heftig entfachend. Und langer Zeit bedurfte es immer, bis die Wirkung
solcher Ereignisse beseitigt wurde und das jugendlich stürmische Herz
wieder zur Ruhe kam.

Dann legte sie das Blatt fort und griff wieder nach ihrer Handarbeit.

»Grüß Di' Gott', grüß Di' Gott!« rief der Papagei und reckte sich, so
weit er konnte, Betti entgegen, die sein Liebling war.

Betti faßte ihn und setzte ihn auf ihre Achsel.

»Hast Du Deinen englischen Aufsatz für Miß Evans schon geschrieben?«
unterbrach die Tante nach einer Weile das eingetretene Schweigen. »Morgen
früh hast Du ja wieder Stunde.«

Betti nickte stumm. Dann schwiegen sie wieder beide. Nur der Papagei
plauderte und drehte sich und tanzte auf Betti's Schulter, als ob er ihre
Verstimmung fühlte und sie erheitern wollte.

Plötzlich wandte Betti sich wieder an ihre Tante.

»Glaubst Du, daß Herr Reichel schon abgereist sei?«

Die Befragte blickte erstaunt auf.

»Herr Reichel -- wer ist das?«

»Nun, der Sänger. In der Zeitung steht ja sein Name.«

»Ach so! Ich habe es wirklich nicht beachtet, wie er heißt. Aber wie soll
ich wissen, ob er schon abgereist ist, und warum interessirt Dich das?«

»Na, ich dachte nur so. Wenn er etwa noch in der Stadt weilte, so
könntest Du vielleicht, als die Schwester seines ehemaligen Meisters, ihn
für heute Abend oder morgen zu Tische laden. Und da könnte er uns einige
Lieder vorsingen.«

Der Ausdruck des Mißfallens breitete sich über das Angesicht des alten
Fräuleins.

»Wie Du nur auf solch abenteuerliche Ideen verfallen kannst, Betti!«
sagte sie vorwurfsvoll. »Was geht dieser fremde Mensch uns Beide an? Dein
Papa hatte gar viele Schüler. Wenn wir die alle zu uns rufen wollten!«

Betti blickte beschämt zu Boden.

»Ja, Du hast recht, Tante,« sagte sie bescheiden. »Sei nicht böse. Es
war ein gar alberner Gedanke von mir.«

»Ich bin ja nicht böse, liebes Kind,« antwortete die Tante rasch
besänftigend. »Jung, wie Du bist, fehlt Dir eben noch das reife Urtheil
für das, was sich schickt und ziemt.«

Durch Betti's Brausekopf schoß der Gedanke, daß ihre Eltern an ihrem
Vorschlage nichts Unpassendes gefunden haben würden. Die Frage drängte
sich ihr auf, ob jene mit ihren freieren Anschauungen, oder die Tante mit
ihrer peinlichen Vorsicht, ja nichts Ungewöhnliches zu thun, ja nicht
einmal zu denken, mehr recht hätte? Aber sie wußte sich keine Antwort
auf diese Frage zu geben. Und wieder, wie so oft legte sich das Gefühl
drückender Beengung auf ihr Gemüth.

Die Tante ließ ihr aber nicht lange Zeit, über solche nutzlose Dinge
nachzugrübeln. Sie hatte allerlei Aufträge für sie. Die frisch
gebügelte Wäsche mußte revidirt und in den Schränken eingeordnet
werden; der Gärtner war gekommen, um Rechnung zu legen über einige Körbe
Obst aus ihrem Garten, das er in der Stadt verkauft hatte, und mit dem
Dachdecker mußte man Rücksprache nehmen, daß er eine schadhaft gewordene
Ecke des Hausdaches ausbessere, bevor die schlechte Jahreszeit mit ihren
langen und ausgiebigen Herbstregen eintritt. Rasch und willig unterzog sich
Betti der gewohnten Erfüllung derartiger Pflichten. Nachdem sie aber alles
zur vollen Zufriedenheit ihrer Tante besorgt hatte und diese sich, der
einbrechenden Abendkühle wegen, in ihr Zimmer zurückzog, da schlüpfte
Betti in den Gartensalon, in welchem ein prächtiger Steinwayflügel stand,
ein Vermächtniß ihres Vaters, ein gar lieber Genosse ihrer Einsamkeit und
eine reiche Quelle glücklicher Augenblicke.

Bald hatte sie auf dem nebenan gerückten Notenschränkchen das Gesuchte
-- das von ihrem Vater componirte Liederheft -- gefunden und wenige
Augenblicke später klang ihre frische, klare Stimme in lieblichen
Tonwellen hinaus in den stillen Frieden des von den goldenen Strahlen der
sinkenden Sonne durchglühten Alpenthales.

Es war Lenau's »Wunsch«, den sie gewählt hatte, eines jener Lieder,
die, wie dem Programme entnommen, der fremde Sänger in dem am verflossenen
Abend in der eine Wegstunde entfernten Stadt gegebenen Concerte zum
Vortrage gebracht, und welche zu hören, ein unglücklicher Zufall sie
verhindert hatte. Sie sang:

  »Fort möcht ich reisen weit, weit in die See,
  O meine Geliebte mit Dir allein!
  Die Dränger und Lauscher und kalten Störer,
  Sie hielt uns ferne der wallende Abgrund,
  Das drohende Meer,
  Wir wären so sicher und selig allein!
  Und käme der Sturm,
  Ich würde Dich halten an meiner Brust.
  Wenn donnernde Wogen zum Himmel schlügen,
  Doch höher schlüge mein trunkenes Herz;
  Und meine Liebe, die ewige, starke,
  Sie würde frohlockend Dich halten im Sturm.
  Du würdest zitternd mir blicken ins Auge
  Und würdest erblicken, was nimmer scheitert in allen Stürmen
  Und würdest lächeln und nicht mehr zittern.

  Sieh', nun ermüdet der tobende Aufruhr,
  In Schlummer sinken die Wellen und Winde,
  Und über den Wassern ist tiefe Stille.
  Da ruhst Du sinnend an meiner Brust.
  So tiefe Stille: mein lauschendes Herz
  Hört Antwort pochen Dein lauschendes Herz.

  Wir sind allein, doch flüsterst Du leise,
  Um nicht zu stören das sinnende Meer,
  Nur sanft erzittern die Lippen Dir,
  Die schwellenden Blätter der süßen Rose;
  Ich sauge Dein Wort,
  Den klingenden Duft der süßen Rose.

  Im Osten hebt sich der klare Mond.
  Und Gott bedecket den Himmel mit Sternen,
  Und ich bedecke, selig wie er,
  Dein liebes Antlitz, den schöneren Himmel,
  Mit feurigen Küssen.«

Ein jäher Schrecken ließ sie aber verstummen, als bei dem Verse: »Dein
liebes Antlitz, den schöneren Himmel --« eine klangvolle Baritonstimme in
die Melodie einfiel und das Lied zu Ende sang, schöner, herrlicher als sie
es je gehört.

Und aufblickend sah sie hinter der vom Salon auf die mit dem Garten durch
eine Freitreppe verbundene Terrasse führenden und jetzt offen stehenden
Glasthür die Gestalt eines schlanken jungen Mannes auftauchen, der den
Hut ziehend, vom Thürstock wie vom Rahmen eines Bildes umfaßt, auf der
Schwelle stehen blieb.

Erst nachdem er das Lied vollendet und sich noch einige Secunden an
der grenzenlosen Verblüffung Betti's, die, gleichsam erstarrt, auf ihn
schaute, mit lächelnder Miene geweidet hatte, verbeugte er sich tief vor
dem jungen Mädchen. Und ohne näher zu treten, sprach er:

»Verzeihen Sie dem Eindringling, mein Name ist Oswald Reichel. Zufällig
erfuhr ich, daß die Schwester und die Tochter meines verehrten Meisters
hier wohnen, und da wollte ich mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen,
sie aufzusuchen.«

Betti hatte unterdessen Zeit gefunden, sich zu fassen. Sie erhob sich und
trat dem Fremden grüßend entgegen.

»Fräulein Betti? -- ich irre wohl nicht?« frug dieser zögernd. »Sie
erinnern sich meiner wohl kaum mehr? Zu viele Schüler Ihres Vaters gingen
in Ihrem Hause ein und aus. Und Sie waren ein so kleines Mädchen, als ich
Sie zuletzt gesehen.« Dabei machte er mit der Hand ein Zeichen, welches
bedeutete, daß sie ihm damals etwa bis zum Ellbogen reichte.

Betti lachte. Als der Künstler aber ihr seine Hand zum Gruße reichte und,
als sie in dieselbe einschlug, als er die ihrige an seine Lippen führte,
erröthete sie tief. An derartige Huldigungen war sie noch nicht gewöhnt.

Sie stotterte etwas von ihrer Tante, und daß sie dieselbe von seinem
Besuche benachrichtigen müsse, und im nächsten Augenblicke war sie zur
Thür hinausgehuscht.

»Ein allerliebstes Backfischchen!« murmelte der junge Mann lächelnd.
»Noch etwas grün, aber doch ganz reizend.«

Dann blickte er sich im Zimmer um, hielt von der Terrasse aus rasche
Umschau über den Garten und, noch immer allein, setzte er sich an den
Flügel und begann zu präludiren.

Betti war mittlerweile zu ihrer Tante hinaufgeeilt, diese kam ihr schon
entgegen.

»Wer hat unten gesungen?« rief sie ihr von weitem zu.

»Denke nur, Tantchen, er ist gekommen!« rief Betti athemlos.

»Ja, wer denn?«

»Er, Oswald Reichel!«

Die Tante warf den Kopf zurück: »Welche Aufdringlichkeit!« murmelte sie
ärgerlich. »Und so spät am Abend bei Fremden einen Besuch abstatten.
Nun, hoffentlich bleibt er nicht lange.« Dann aber fügte sie nachdenklich
hinzu: »Da er aber nun schon da ist -- und weil er ein Schüler meines
seligen Bruders, so werden wir ihn wohl zum Abendessen bitten müssen.
Sieh' einmal rasch in der Küche nach. Anna soll etwas Schinken
aufschneiden. Mit dem Uebrigen wird es reichen. Ich will einstweilen in den
Salon gehen, den Herrn zu begrüßen.«

Betti that, wie ihr geheißen, und als sie zehn Minuten später in das
Gartenzimmer trat, fand sie die Tante mit dem fremden jungen Mann bereits
in ein ganz heiteres Gespräch vertieft. Vor seinem jovialen, unbefangen
herzlichen Tone vermochte ihre anfänglich etwas steife Zurückhaltung
nicht Stand zu halten. Er wußte tausend schnurrige Anekdoten aus
Künstlerkreisen zu erzählen, welche die alte Dame bis zu Thränen
lachen machten, und sprach mit einer das Herz der Schwester aufs tiefste
rührenden Verehrung von ihrem Bruder, seinem Meister, dem er all sein
Können und -- so ihm solche beschieden seien -- alle weiteren Erfolge zu
danken haben würde. Ihre völlige Sympathie aber gewann er sich, als
er eine begeisterte Lobeshymne über die stille Zurückgezogenheit ihres
Landlebens anstimmte und erklärte, daß er sich nichts besseres wünsche,
als nach einer Reihe von Jahren seine Laufbahn in einem selbsterbauten,
traulichen Nestchen fern von dem lauten Treiben der Welt, beschließen zu
dürfen.

Betti fühlte sich durch die sprudelnde Unterhaltung des jungen Mannes in
die glückliche, frohe Zeit ihrer Kindheit zurückversetzt. Ihr war es,
als hörte sie den Wellenschlag eines mächtigen Stromes neben sich
aufrauschen, in den es sie sehnsuchtsvoll zog sich hineinzustürzen,
um, mit kraftvollem Arm seine Wogen durchschneidend, einem fernen,
glückverheißenden Ziele entgegenzuschwimmen. Aber in stille Seligkeit
versank sie, als der Künstler, ohne erst eine an ihn gestellte Bitte
abzuwarten, sich nach dem Abendessen vom Tische erhob, und an dem noch
geöffneten Piano Platz nehmend, die ihr theueren Lieder ihres Vaters
vortrug. Eine Empfindung süßester Weltentrücktheit überkam sie. Unter
dem gewaltigen Eindrucke, den die Musik auf begeisterungsfähige Gemüther
zu üben so geeignet ist, fühlte sie ihre Seele gleichsam hinschmelzen
in einem Meere wonnevollen, schönheitstrunkenen Entzückens. Und fast
schmerzhaft berührte es sie, als der Sänger, dem als Priester höchster
Kunstoffenbarung solch zaubermächtige Gewalt über ihr ganzes Wesen
gegeben war, sich plötzlich von seinem Sitze am Clavier erhob und, in
seinem gewöhnlichen, fast etwas burschikosen Tone die Bemerkung machte,
daß er seinen Besuch wohl über Gebühr ausgedehnt habe und die Damen nun
nicht länger belästigen dürfe.

Tante Cölestine hielt ihn nicht zurück, von beiden Seiten wurde ein
herzlicher Abschied genommen, und nachdem Reichel die wiederholten
lebhaften Dankesversicherungen für den bereiteten Kunstgenuß, wie er sich
lachend ausdrückte, »dankend quittirt« hatte, empfahl er sich nochmals
und verließ das Haus.

»Es ist in der That spät geworden,« sagte die Tante, nach seinem
Weggehen auf die Uhr blickend. »Es ist Schlafenszeit.« Und dann zu Betti:
»Ich will einstweilen vorausgehen, kommst Du bald nach?«

»Ja, Tante, ich komme gleich,« sagte Betti träumerisch, während sie
sich mit der Ordnung der zerstreut umherliegenden Notenhefte zu thun
machte. Dann aber, als Cölestine weggegangen war, trat sie über die
Terrasse ins Freie. Es war ihr jetzt unmöglich, zur Ruhe zu gehen. Alles
wogte, gährte, fieberte in ihrer Seele. Im Frieden der Natur wollte sie
erst Frieden suchen für ihr eigenes stürmendes Herz.

Eine wunderbare Nacht lag über der schlummernden Erde. Die Sterne
flimmerten und glänzten, als lächelten sie verständnißvoll zu ihr
hernieder. Leises Rauschen ging durch das welkende Laub der Bäume;
einzelne Blätter lösten sich und fielen knisternd zu Boden. Ueber einer
der bewaldeten Bergeskuppen lag heller Schein. Und jetzt, plötzlich, mit
einem Rucke, hob sich der Stand des Mondes über der Kante des Berges und
übergoß, höher und höher steigend, die ganze Landschaft mit seinem
milchweißen Lichte.

Ein leiser Schrei entfuhr Betti's Lippen. Denn als sie, um eine Baumgruppe
biegend, den Weg zur Ausgangsthür des Gartens weiter schritt, sah sie
plötzlich Reichel vor sich stehen. Sie wollte nach dem Hause zurück. Doch
schon hatte er sie bemerkt.

»Welch eine herrliche Nacht! Welch wunderbares Bild!« rief er. Und dann
dicht an sie herantretend, klang es im süßesten, sanftesten =sotto voce=
von seinen Lippen:

  »Im Osten hebt sich der klare Mond,
  Und Gott bedecket den Himmel mit Sternen.
  Und ich bedecke, selig wie er,
  Dein liebes Antlitz, den schöneren Himmel,
  Mit feurigen Küssen!«

Und nun breitete er seine Arme aus, umfaßte sie und bedeckte ihr Antlitz
mit Küssen, ihre Augen, ihre Stirn, ihren Mund.

Sie sträubte sich nicht. Sie schloß die Augen und athmete schwer. Ein
Sturm zog durch ihre Seele, halb Schmerz, halb Seligkeit, und ihr war es,
als müsse sie vergehen unter seinen Küssen.

Plötzlich klirrte ein Fenster.

»Betti, so komme doch, es ist schon spät!« ließ sich der Tante Ruf
vernehmen.

Da riß sie sich los und floh ins Haus.

Der Mond lächelte in ihr Zimmer und sah, daß sie die ganze Nacht ihr
Auge nicht im Schlummer schloß. Er sah, wie sie ihr Angesicht zwischen den
Händen verhüllte und weinte -- bitterlich. Stirn, Augen, Mund, die
der fremde, junge Mann geküßt, brannten ihr vor Scham. Einen schweren
Fehltritt glaubte sie begangen zu haben, der sich nie, niemals wieder
tilgen ließ, der sie für immer aus der Reihe der guten und reinen
Menschen schied.

Gegen Morgen erhob sich ein heftiger Nordweststurm, massige schwarzgraue
Wolken vor sich herschiebend. In dichter Menge schüttelte er die Blätter
von den Bäumen, hier in wirren Knäueln sie durcheinander wirbelnd, dort
zu kleinen Hügeln zusammenfegend.

Betti verließ früh ihr schlummerloses Lager. Sie ging in den Garten und
ließ es willig geschehen, daß der Wind ihr Haar zerzauste und einzelne
schwere Regentropfen in ihr Antlitz warf. Der lange, todte Winter,
der seine Vorboten in Sturm und Regen vorausschickte, paßte für ihre
Stimmung. In ihrem Inneren sah es auch so aus. Sie fühlte sich müde, und
ihr war es, als sei etwas erstorben in ihrem Herzen.

Freilich wußte sie, daß der Frühling wiederkommen und alles zu neuem
Leben und zu neuer Blüthe erwecken werde, was jetzt in Scheintodt erstarb.
Noch aber ahnte sie es nicht, daß der Frühling ihrer Seele nicht geknickt
war, daß auch ihre Jugend wieder erwachen würde -- froh und kraftvoll.



Franzi's Weihnacht.


Trübe, schläfrige Stille ringsum im breiten Thale, öde, braune Felder,
auf welchen das kurze, gelbe, vom Froste der vergangenen Nächte geknickte
Gras sich lebensmüde zum Winterschlafe hinstreckt, kahle Bäume, die, um
ihr grünes Laubgewand klagend, ihre nackten Arme zum Himmel emporrecken,
der sich grau und kalt über die Erde spannt, mit seinem Rande auf die
Kuppen der das Thal in weitem Bogen umfassenden Berge sich stützend, die
in einen weichen, weißen Schneemantel gehüllt, von ihren schroffen Höhen
bleich und ernst herabblicken.

Die schläfrige Wintersonne vermag mit ihren matten Strahlen das
schmutziggraue Wolkengehänge nicht zu durchbrechen, nur ein etwas heller
Fleck zeigt den Punkt an, wo sie verborgen steckt.

Auf der schnurgeraden Moosstraße, die von Salzburg zu dem südlich von
der Stadt etwa eine und eine halbe Wegstunde entfernt liegenden 1957
Meter hohen Untersberg führt, schreitet wacker ausgreifend eine kleine
Gesellschaft fürbaß: zwei Männer, eine Frau und zwei Kinder.

»Ich mein', wir kriegen bald wieder Schnee, aber vielleicht wird es
noch aushalten, bis wir droben sind,« sagte der eine der Männer, einen
besorgten Blick nach dem Westen werfend, dorthin, wo die bayerische
Ebene an das österreichische Gebiet grenzt und für die Salzburger alle,
schlechtes Wetter oder Sturm bringende Wolken heraufziehen.

Der Andere zuckt die Achseln.

»Ja, da laßt sich nichts machen,« antwortete er. »Hinauf müssen wir.
Mehr als fußhoch liegt schon jetzt der Schnee auf dem Berge, und gestern,
wie ich herunter bin, hab' in den Weg frei gemacht, so gut ich können
hab'. Wenn es aber noch einmal schneit, dann bringen wir die da nimmer
hinauf.«

Die, von welchen der Mann spricht, das sind sein Weib und seine Kinder.

Keine leichte Arbeit ist es fürwahr, die den guten Leuten zu vollbringen
obliegt. Tüchtige Kräfte brauchen unter günstigen Verhältnissen fünf
Stunden zum Aufstieg vom Fuße des Berges bis zu dem nahe am »Geiereck«
gelegenen Schutzhause. Der Weg ist steil und beschwerlich und jetzt mit
frischem, weichem Schnee bedeckt, die Kinder sind noch klein. Franzi, der
Bube, ist noch nicht acht und das Mädchen gar erst drei Jahre alt, und die
Mutter eine kränkliche Frau und des Bergsteigens ungewohnt. Aber der Vater
hat recht, auf den Berg hinauf müssen sie; damit wird dem Elende ein Ende
gemacht, aus dem sie jahrelang vergeblich herauszukommen ringen und das
nun schon so groß geworden, daß sie die rückständigen drei Gulden
Monatsmiethzins für ihr armseliges Dachzimmer im Dorfe Max-Glan nicht
aufzubringen vermochten und von dem Jammer bedroht waren, bei der
nächstfälligen Rate obdachlos zu werden. Denn Vincenz Reitmeier ist
ein armer Taglöhner und nun schon geraume Zeit, trotz seiner eifrigsten
Bemühungen, Arbeit zu finden, ohne Erwerb. Das bißchen Ersparte und der
geringe Erlös für ein paar verkaufte Kleider und Möbelstücke war bald
aufgezehrt, um Brot und Kartoffel zu kaufen, und Karl, der Bruder der Frau,
ein armer Tagwerker wie sein Schwager, konnte auch nicht Rath und Hilfe
schaffen.

Da traf es sich, daß der österreichische Alpenverein im Spätherbst einen
Hüter des von ihm kürzlich erbauten Untersberger Schutzhauses suchte,
welcher für die Obliegenheit, den Winter über das Häuschen zu bewohnen
und gewisse meteorologische Beobachtungen anzustellen, über welche er
in bestimmten Zeiträumen im Comptoir der Salzburger Section des Vereines
Bericht zu erstatten hat, zweihundert Gulden Bezahlung erhält. Vincenz
hörte davon und dachte, wenn er diese Stelle annähme, so wäre ihm
geholfen. Mit den zweihundert Gulden läßt sich während des ganzen
Winters sein und seiner Familie Lebensunterhalt bestreiten, und im
Frühjahr findet sich wohl leichter wieder Arbeit.

Mancher seiner Freunde redete ihm zwar davon ab, sich um den Posten zu
bewerben; zu schlimme Dinge hatte der Mann, der im verflossenen Winter
mit Weib und Kind da oben gehaust, von seinem Aufenthalte erzählt, und um
keinen Preis würde er eine Wiederholung desselben auf sich nehmen. Hungern
und frieren mußten sie, daß es eine Art hatte. Selbst im Anfange, als sie
noch Holz zur Feuerung hatten, brachten sie die Temperatur ihrer Stube
oft nicht höher als auf drei Grad Reaumur Wärme. Und dann, als das Holz
ausgegangen war und die dichte tiefe Schneedecke nur mit Mühe und Noth ein
bißchen Reisig zusammenzubringen ermöglichte, da ward es natürlich noch
ärger. Um nichts besser ging es mit der Beschaffung von Lebensmitteln.
Freilich hatte er sich vor Eintritt starken Schneefalles mit Proviant
versorgt, den er auf dem Rücken eines Esels auf die Höhe des Berges
beförderte. Aber die Vorräthe an Lebensmitteln gingen schneller als
gedacht zur Neige, und als so tiefer, lockerer Schnee auf dem Berge lag,
daß es unmöglich war, den Abstieg zu unternehmen, konnten sie, wochenlang
auf die geringen Reste des vorhandenen Vorrathes angewiesen, sich keinen
Tag satt essen.

Als aber Vorstellungen härtester Beschwerlichkeiten nichts nützten, weil
Vincenz meinte, man könne denselben durch eine praktische Vorsorge wohl
vorbeugen, da hielt man ihm auch die von anderer Seite her drohenden
Gefahren vor Augen. Man erinnerte ihn, daß das Untersberger Schutzhaus
den vielen Wilderern und Schmugglern -- denn die bayerisch-österreichische
Grenze zieht sich über diesen Berg -- ein Dorn im Auge und von denselben
in früherer Zeit schon wiederholt durch Feuer vernichtet worden sei. Auch
wäre er da oben wohl seines Lebens nicht sicher, sei es doch erst vor
wenigen Jahren geschehen, daß der Wächter des Unterstandshauses auf dem
Mallnitzer Tauern ermordet worden.

Aber auch diese Bedenken verfingen nicht.

Auf dem Tauern, meinte Vincenz, könne so etwas wohl vorkommen; diesen
Gebirgssattel passirten allerlei herumziehende Vagabunden, die im
Unterstandshause Nachtquartier nehmen. Den Untersberg werde aber keiner
solcher Strolche eigens zu dem Zwecke besteigen, um an einem armen Teufel,
wie er es sei, der selbst kaum genug zum Leben habe, einen Raubmord zu
verüben. Und kurz und gut: er fürchte sich nicht und sein Weib auch
nicht. So ward es von ihnen beschlossen, daß Vincenz sich bei der
Salzburger Alpenvereinssection zur Uebernahme des vacanten Wächterpostens
melden sollte. Er that es und bekam die Stelle. Da fiel es ihm nun aber
ein, daß es wohl gut wäre, wenn er dieselbe nicht wie sein Vorgänger
im verflossenen Winter, bei beginnendem Frühling einem Anderen abtreten
müsse, sondern sie auch den Sommer über behalten dürfe, wo die
Verpflegung der den Berg besteigenden Touristen und Jagdfreunde einen
kleinen Verdienst einbrächte. Auch wäre es für den Winter allein wohl
kaum der Mühe werth, die mühevolle und beschwerliche Uebersiedlung mit
Weib und Kind zu unternehmen. Er suchte daher um Verlängerung seines
Engagements bis zum Herbste nach. Da für den Sommer aber ein Anderer,
derselbe, der die Stelle in der letzten Saison innegehabt und mit dem man
keine Ursache hatte, unzufrieden zu sein, in Aussicht genommen war, so zog
sich die Unterhandlung mit Vincenz in die Länge, und als die Entscheidung
endlich zu seinen Gunsten getroffen wurde, war unterdessen der Winter
eingebrochen und der erste Schnee gefallen.

Doch wohlgemuth begab Vincenz sich an die mühselige Arbeit, in
wiederholten anstrengenden Märschen den nöthigen Proviant auf seinen
Schultern auf den Berg zu schaffen, und zuversichtlichen und freudigen
Herzens machte die Familie sich auf den Weg nach der von stolzer Höhe
herabblickenden neuen Behausung, die ihnen eine, wenn auch wahrlich nicht
minder beschwerliche, so doch dem bittersten Elend enthobene Existenz
versprach.

Das kleinste der Kinder, das nur wenige Monate zählte, war in Pflege
gegeben worden, die beiden größeren wurden mitgenommen.

Es war ein unfreundlicher, trüber Tag um die Mitte December, und als sie
bei dem am Fuße des Berges liegenden Gasthause »zur Rositte« anlangten,
wo der Fußsteig in den herrlichen Nadelwald einbiegt, fing es bereits zu
schneien an, und das kleine Mädchen weinte vor Müdigkeit und Kälte.
Man mußte sich entschließen, es den Wirthsleuten in Obhut zu geben; am
folgenden Tage wollte der Vater es abholen. Die Anderen setzten ihren Weg
fort. Langsam, aber gleichmäßig ausschreitend, ging es den steilen,
von Baumwurzeln durchzogenen, mit gelbem Laub und dürren Kiefer- und
Fichtennadeln bedeckten, schmalen Fußpfad empor.

»Mutter,« sagte der Knabe, zu den schlanken Tannen aufblickend, »das
sind ja lauter Lichterbäume -- aber ohne Lichter.«

Vor wenigen Jahren war Franzi von einer Familie, die am Wohlthun ihre
Freude hatte, zum Weihnachtsfest zugezogen worden. Und mehr noch als die
Geschenke, mit welchen er dabei überrascht wurde, hatte der hohe, vom
Boden bis zur Zimmerdecke ragende, in glänzendem, glitzerndem Schmucke und
zahllosen Lichtern strahlende Christbaum auf das staunende Kinderherz
einen tiefen und unauslöschlichen Eindruck geübt. Jeder Tannen- und
Fichtenbaum, den er seither erblickte, rief ihm jene unvergeßlich schöne
Erinnerung wach. Und heute, als sie sich auf die Wanderung begaben,
hatte der Vater ihm versprochen, daß er am Christabend einen ebensolchen
»Lichterbaum« bekommen würde, wenn er sich auf dem weiten Wege auf den
Berg hinauf brav halte und die Mutter nicht durch Weinen ängstige. Und
diese, sein Gemüth erfüllende frohe Hoffnung flößte ihm Muth und Kraft
ein und tapfer trabte er mit seinen kleinen Beinen an der Hand seines
Vaters den steilen Weg hinan.

So lange der Pfad durch den Wald führte, wo die gedrängt stehenden Bäume
den stets dichter herabwirbelnden Schnee zum Theile abhielten, auch
der Boden noch ziemlich schneefrei war, ging der Aufstieg noch
verhältnißmäßig gut von Statten.

Dort aber, wo der Weg den Wald verlassend über die lang sich hinstreckende
Alpenwiese lenkte, wo im Sommer kurzes, dunkelgrünes Weidegras üppig
emporsprießt, jetzt aber frischer lockerer Schnee lag, in welchem die
Wanderer bis zum Knie und an manchen Stellen gar bis zur Hüfte einsanken,
da steigerte sich die Ermüdung fast zu völliger Erschöpfung. Onkel Karl
packte den Kleinen, der mit aller Anstrengung nicht mehr weiter zu dringen
vermochte, wie einen Rucksack auf seine Schultern und Vincenz half seinem
Weibe vorwärts, welches schwer athmend und schweißüberströmt alle
Energie aufbot, um gegen die überwältigende Macht des feindlichen
Elementes anzukämpfen und das ersehnte Ziel zu erreichen. Dazu wurde der
Weg durch die stetig zunehmende Schneemenge unkenntlich gemacht, und die
ganze Gegend war in einen jeden orientirenden Ausblick verhindernden,
undurchdringlichen weißgrauen Schleier gehüllt, daß es der peinlichsten
Vorsicht und der durch die in den letzten Wochen häufig wiederholten
Besteigungen des Berges erworbenen sichersten Ortskenntniß der beiden
Männer bedurfte, um sie die Richtung nicht verlieren, und auf einen der
gefährlichen Ab- und Irrwege gerathend, dem unvermeidlichen Untergange
entgegen gehen zu lassen.

Oft mußte Rast gemacht werden, um den versiegenden Kräften zu neuem
Vorwärtsstreben Erholung zu gönnen. Besorgt blickte Vincenz auf
seine Frau, als er sah, wie sie stehen bleibend, ihre Hand auf ihr zum
Zerspringen klopfendes Herz preßte und keuchend nach Athem rang.

»Es wär' besser gewesen, wir wären nicht herauf, Du dermachst es
nicht,«*) sagte er ängstlich.

  *) »Du dermachst es nit,« hochdeutsch: »Du bringst es nicht zuwege.«

Doch der Anfall ging vorüber.

»Es hat sein müssen, Du weißt es ja selber,« antwortete die Frau. »Was
wär' denn unten mit uns g'worden? Nix mehr zum Leben und kein' Arbeit. Zu
Grund' gangen wär'n wir Alle. Da droben haben wir aber unsere Wohnung
und a bisl a Geld und im Sommer die Wirthschaft, wenn die Herrn auf'n Berg
steigen auf die Jagd oder so zum Vergnügen. Da oben wird's schon besser
werd'n. Nit nur für uns selber hab'n mir's thun müssen, daß mir aufi
g'stieg'n san, sondern auch für unsere Kinder.«

Vincenz nickte. Seine Frau hatte wohl recht. Aber wenn sie nur erst oben
wären! Ihm ward so bange.

Endlich, nach sechs Stunden furchtbarster Mühe waren sie zur »steinernen
Stiege« gelangt, einer Stelle des Berges, wo zwischen dem gähnenden
Abgrund an der einen und der schroff und glatt ansteigenden Felsenwand von
der anderen Seite zur Ermöglichung dieser Passage Stufen in das Gestein
gehauen sind.

Die Männer hießen die Frau und den Knaben warten und versuchten es, mit
ihren Bergstöcken die hohen Felsenstufen so weit von Schnee zu befreien,
daß die Gefahr nicht allzu nahe lag, durch einen Fehltritt in die
nachgiebig poröse Schneemasse rettungslos in die schreckliche Tiefe zu
stürzen.

Und jetzt geht es vorwärts, langsam, vorsichtig von Stufe zu Stufe, mit
dem Bergstocke erst den Platz prüfend, wo der Fuß hintreten darf, um
sicher zu stehen. Kein Wort wurde gewechselt; man vernimmt nur das Scharren
der Eisenspitzen der Stöcke auf den Felsen und die schweren Athemzüge
der mit äußerster Anstrengung emporklimmenden Leute. Von einem scharfen
Nordwest gepeitscht, der das Gehen erschwert und den Schritt unsicher
macht, wirbeln in verdoppelter Dichtigkeit die Schneeflocken um unsere
Wanderer, hängen sich an die Wangen, fliegen in die Augen, blendend und
den Blick trübend.

Aber ohne Unfall überschritten sie die gefährliche Stelle und langten
wohlbehalten auf dem Hochplateau an, auf welchem, etwa eine halbe Stunde
entfernt, das Schutzhaus liegt. Allein, so nahe sie auch dem ersehnten und
mit Aufwand aller physischen und moralischen Energie erstrebten Ziele
sind, so vermag die arme Frau doch nicht weiterzugehen, ohne sich nochmals
auszurasten.

Den Rest ihrer Kraft hat sie zur Ueberwindung dieser ebenso gefährlichen
wie anstrengenden Passage aufgeboten, jetzt kann sie nimmer weiter; sie
muß ruhen. Ihre Pulse hämmern so fürchterlich, das Herz klopft so
beängstigend heftig, die Athemnoth ist so qualvoll -- o, sie muß ruhen,
sonst muß sie ersticken.

Während ihr Bruder Karl, vorausgehend, den vor Kälte zitternden Knaben
nach dem Unterstandshause trägt, setzt sie sich erschöpft auf den
Schnee nieder. Es ist ihr unmöglich, stehend auszuruhen, sie würde
zusammenbrechen. In stummer Sorge steht ihr Mann neben ihr.

Nach wenigen Secunden schaut sie auf, blickt um sich.

»Vincenz,« sagt sie, »es ist gut, daß wir endlich heraufgekommen sind,
schau nur, mir wird auf einmal so wohl. Wie schön es hier oben ist, welch
frische Luft. Ja, jetzt wird alles gut werden. -- Lieber Gott, ich danke
Dir.«

Und einen leisen Seufzer ausstoßend, sinkt sie zurück in den Schnee.

Vincenz erschrickt, er glaubt, daß seine Frau eine Ohnmacht befallen hat.
Er kniet sich neben sie, reibt ihr Stirn und Schläfe mit Schnee, dann
wieder die Pulse an den Armen mit Branntwein aus der Feldflasche. Doch
während er unermüdlich immer und immer wieder neue Belebungsversuche
vornimmt, fühlt er, wie unter seinen Händen ihre Glieder allmählich
erkalten und erstarren -- und er erkennt, daß sie todt ist.

Auf den Armen ihres Mannes und ihres Bruders wurde die Entschlafene in
das Schutzhaus gebracht, wo, nur durch eine dünne Bretterwand von ihr
getrennt, ihr Kind ahnungslos schlummert.

Von kräftigen Gebirgsbauern auf Latschen thalwärts getragen, wurde
die Todte in dem am Fuße des Untersberges gelegenen Dörfchen Grödig
bestattet. Die ärztliche Obduction ergab, daß in Folge der ihre Kräfte
übersteigenden enormen Anstrengung ein Herzschlag eingetreten war.

Ihre Hoffnung hatte sich erfüllt -- wenn auch in ungeahnter Deutung. Auf
der Höhe des Berges, der sie zustrebte, ward sie der Noth des Elendes,
der Bürde ihres schweren Daseins enthoben, war für sie »alles gut«
geworden.

»Armer Franzi! Der Christabend kam, aber kein strahlender »Lichterbaum«
erfreute Dein kindliches Gemüth. Verwaist und einsam blicktest Du von
stiller Bergeshöhe auf die öden Thäler herab, traurig Deines kranken
Vaters und Deiner todten Mutter gedenkend. Möge ihr Wort sich an Dir
bewähren, daß es Dir gut werde dort oben!«



Der Weg zum Herzen.


Mein Freund Christian hatte es sich fest in den Kopf gesetzt, ein durch
hervorragende Hausfrauentugenden ausgezeichnetes Mädchen zu heiraten.
Dabei sollte sie aber ein gar liebliches Gesichtchen, eine schöne Gestalt,
Jugend und feine Bildung besitzen. Er selbst war, was man so einen guten
Jungen nennt, dabei leidlich hübsch und sehr wohlhabend. Seit fünf Jahren
sah er sich in seinen ausgedehnten Bekanntenkreisen nach einer passenden
Lebensgefährtin um. Denn als er, dreiundzwanzig Jahre alt, das Landgut
seines plötzlich gestorbenen Vaters übernahm, hatte er mit der Suche
begonnen, und zur Zeit, da das hochbedeutsame Ereigniß, welches zu
berichten ich im Begriffe stehe, sich zutrug, zählte er achtundzwanzig
Jahre -- und noch hatte er nicht gefunden, was er wollte. Die Eine hatte
röthliches Haar, was er nicht leiden mochte; eine Andere mischte zu viele
Fremdwörter ins Gespräch, wodurch er sich in seiner teutschen Gesinnung
-- er schrieb und sprach niemals: deutsch, sondern teutsch, und seine
Freunde nannten ihn mit Vorliebe den Teutonen -- verletzt fühlte; die
Dritte war ihm zu sentimental; die Vierte viel zu kokett; die Mehrzahl aber
ermangelte des Haupterfordernisses, das er an seine Zukünftige stellte:
häuslichen und wirthschaftlichen Sinnes.

»Sehen Sie,« so klagte er mir einmal, »was hätte ich von einer Frau,
wenn sie auch wie Venus so schön, klug wie Minerva, tugendhaft wie, wie --
mir fällt ein geeigneter Vergleich nicht ein -- kurzum, wenn sie auch alle
Tugenden der Welt in sich vereinigt, sie könnte aber nicht kochen! Ich bin
Landwirth, den Tag über nimmt die Bewirthschaftung von Wald und Feld meine
Zeit und Kraft in Anspruch. Wenn ich müde und hungrig nach Hause
komme, will ich etwas Ordentliches zu essen vorfinden. Ich habe so meine
Lieblingsspeisen, die ich in einer bestimmten Weise gekocht haben will.
Anders mag ich sie nicht. Mit den bezahlten Köchinnen geht es nicht; die
nehmen sich nicht die Mühe dazu, meine Eigenschaften zu studiren, und
wenn sie es ja auch einmal gelernt haben, dann gehen sie sicherlich aus dem
Dienste, um sich zu verheiraten, und die Plage fängt mit einer Anderen von
neuem an. Meine gute Mutter hat mich in dieser Beziehung sehr verwöhnt.
Sie war eine vortreffliche Hausfrau und kochte ganz vorzüglich. Wenn ich
nicht in der Ehe unglücklich werden soll, muß ich in meiner Frau eine
ebenso gute Hausfrau finden.«

Ich bemerkte dagegen, daß das Glück der Ehe wohl durch noch andere
Eigenschaften als allein durch Wirthschaftlichkeit und Verständniß der
edlen Kochkunst -- so schätzenswerthe Qualitäten dies ja auch seien
-- bedingt würde; daß persönliche Sympathie zum Beispiel eine doch
mindestens ebenso wichtige Bedingung bilde. Christian schwieg eine
Weile nachdenklich. Dann strich er sich mit seiner kräftig geformten,
sonnengebräunten Hand den blonden Schnurrbart und meinte lächelnd:

»Sie haben im Allgemeinen ganz recht in dem, was Sie da sagen. Aber es
bestätigt mir die Erkenntniß einer fehlerhaften socialen Institution.
Es klingt ja recht barbarisch, so etwas auszusprechen, aber richtig ist
es doch: Die Monogamie taugt nichts. Jeder rechtschaffene Mann, dessen
materielle Lage es ihm gestattet, sollte zwei Frauen haben dürfen: die
eine fürs Herz, die andere fürs Haus, für seine Wirthschaft.«

Ich lachte laut auf.

»Sie sollten unter die Mormonen gehen,« rief ich belustigt. »Sie haben
entschieden Talent dazu!«

Er aber schüttelte den Kopf.

Ungeachtet seines unerschütterlichen Entschlusses, ein vorzüglich
häusliches Mädchen zu seiner Gattin zu erwählen, versagte er es sich
jedoch nicht, sich mit seiner bildhübschen, siebzehnjährigen Cousine
Ottilie, die er mit einer gemeinsamen Tante, bei welcher sie seit dem
Tode ihrer frühverstorbenen Eltern lebte, für einige Monate auf seinen
Landsitz eingeladen hatte, ganz ausgezeichnet zu unterhalten, und trotzdem
Ottilie nicht die geringste Lust und nicht das leiseste Talent bewies, die
von ihm so hochgeschätzten häuslichen Qualitäten zu erwerben, sah man es
ihm doch deutlich an, daß das von lebensfroher Jugendfrische strotzende,
allerliebste Geschöpf seinem Herzen sehr theuer war. Er stellte dies auch
nicht in Abrede, als ich einmal neckend auf den Strauch klopfte, nur fügte
er gleich die Bemerkung bei, daß nichts vollkommen sei unter der Sonne.
Ottilie besitze zwar alle Eigenschaften, um sein Leben zu verschönen,
allein tüchtig in der Wirthschaft sei sie leider nicht.

Das hinderte ihn jedoch keineswegs, alle Zeit, die seine ökonomische
Thätigkeit ihm freiließ -- und manchmal auch etwas mehr -- ihr zu
widmen und, was zu sehen mir besonders Spaß machte, sie mit sichtlichem
Vergnügen in ihren antihäuslichen Liebhabereien noch zu bestärken. Er
unterrichtete sie im Reiten, Kutschiren, Rudern, sie übten sich zusammen
im Pistolenschießen nach der Scheibe, und wenn sie das Centrum öfter traf
als er, wenn sie, ein Bild von mit Kraft gepaarter Anmuth, sich im Sattel
wiegend, an seiner Seite über die bräunlichen Stoppelfelder -- denn
mittlerweile war es Herbst geworden -- dahinsprengte, war er ganz außer
sich vor Entzücken.

»Da, da schauen Sie,« rief er mir einmal voll Ekstase zu, indem er mir
eine durchschossene Papierscheibe vor Augen hielt. »Zwanzig Schüsse ins
Centrum! Zwanzig Schüsse nacheinander auf dreißig Schritt Distanz,
und keinen daneben, um keine Linie! Phänomenal! Das lob' ich mir, einen
solchen Kameraden zu haben!«

»Gewiß, gewiß, ein ganz famoser Kamerad!« lachte ich. »Aber Sie
wollen sich ja eine Frau suchen, nicht einen flotten Kameraden für Ihre
Sportvergnügungen.«

Christian machte eine abwehrende Handbewegung.

»Ah, bah!« brummte er etwas verstimmt. »Das hat Zeit. Warum soll ich mir
mein angenehmes Leben mit der Erwägung verbittern, daß ich nicht finde,
was ich suche!«

Bei Tische aber widerfuhr seinem angenehmen Leben des Oefteren eine
unliebsame Dämpfung. Er hatte eine brave ältliche Person im Dienste,
die unter seiner Oberaufsicht die häusliche Wirthschaft leitete und ganz
befriedigend gut kochte. Aber seine Lieblingsspeisen genau nach seinem
Geschmacke zu bereiten, das verstand sie nicht. Und er wußte es ihr nicht
zu erklären, woran es fehlte. So geschah es denn öfters, daß seine
heitere Stimmung bei den Mahlzeiten, wenn auch nur vorübergehend, getrübt
wurde.

Einmal wagte er in meinem Beisein anläßlich einer Wildpastete -- auch
eines seiner Lieblingsgerichte -- die nicht nach seinem Geschmacke war,
eine Bemerkung zu Ottilie, daß es doch gar zu hübsch wäre, wenn sie
nebst ihren virtuosen Amazonenkünsten auch ein bißchen von den Künsten
der Küche verstände. Sie aber erwiderte lachend, daß ihr Ehrgeiz weit
mehr durch das Ziel angestachelt werde, seinen feurigen Rothfuchs zu
bändigen, was ihr bisher noch nicht gelungen, als eine wohlschmeckende
Pastete zu bereiten.

Die Tante schüttelte wehmüthig das graue Haupt, denn ihrer Neigung hätte
es weit mehr entsprochen, Ottilie hätte sich zu einer wackeren Hausfrau
ausgebildet, als zu einer glänzenden Sportsdame, zu der sie sich zu
entwickeln drohte. Christian aber hatte bei Erwähnung seines Rothfuchses
sogleich sein Bedauern über die mißlungene Pastete vergessen, und lustig
rief er Ottilie zu:

»Du willst meinen Bucephalus reiten? Nein, meine Liebe, Du bist zwar unter
meiner Leitung eine sehr gewandte und kühne Reiterin geworden, aber mein
Bucephalus ist nichts für Dich. Sein Rücken wird Dich nie tragen. Ich
warne Dich vor einem erneuten Versuch.«

»Ich werde sehen!« murmelte Ottilie leise. Und nach Tische erschien sie
in dem Stalle, um dem Rothfuchs eigenhändig ein wenig Brot und Zucker zu
reichen.

Tags darauf hatte Christian den ganzen Vormittag über in seiner
Wirthschaft zu thun und zu schaffen. Müde und ärgerlich, denn sein
Verwalter hatte ihn erzürnt, kehrte er zu verspäteter Stunde heim. Wir
hatten mit dem Mittagessen auf ihn gewartet, und ich befürchtete, daß ein
in der Länge der Zeit sicherlich zu gar gebratenes Rostbeef, das er nach
englischer Art halbroh liebte, seine Laune nicht verbessern würde.

Als die Suppe schon aufgetragen war, trat Ottilie mit hochgerötheten
Wangen in das Speisezimmer.

»Du siehst ja aus, als ob Du am Herde gestanden hättest, so erhitzt bist
Du,« sagte Christian, sie begrüßend. »Aber freilich, so etwas kommt bei
Dir nicht vor.«

Ottilie lächelte und gab keine Antwort.

Als das Rostbeef an die Reihe kam, bemerkte ich zu meiner Befriedigung,
daß dasselbe, meiner Befürchtung entgegen, noch ganz »englisch« war und
daß sich Christian's Stimmung sichtlich erheiterte. Die Mehlspeise aber
that das Uebrige. Es waren gewisse kleine, mit gehacktem Wild gefüllte
Klößchen, auch ein Lieblingsgericht Christian's und -- o Wunder! ganz
nach seinem Geschmacke zubereitet.

Christian strahlte.

»Ei, das schmeckt ja vorzüglich,« sagte er, indem er zum zweitenmal
zulangte. »Meine Mathilde macht sich. Sie hat ihre Scharte von gestern
glänzend ausgewetzt.«

Und bei diesem einenmale blieb es nicht. Ueber Mathilde schien plötzlich
eine Erleuchtung gekommen zu sein. Jedesmal, wenn Christian Vormittag
abwesend war -- und da er jetzt viel zu thun hatte, traf sich dies öfters
-- fand er irgend eine seiner Lieblingsspeisen in vorzüglicher, ganz
seinem Geschmacke entsprechender Bereitung bei Tische vor. Und jedesmal
bemerkte ich bei Ottilie ebensolche geheimnißvolle Miene und erhitzte
Wangen wie das erstemal, so daß ich nicht umhin konnte, auf eine
Vermuthung zu verfallen, welche beide Thatsachen in einen gewissen,
unschwer zu errathenden Zusammenhang brachte.

Dieselbe Vermuthung schien übrigens auch in Christian's Kopf
platzzugreifen, denn zuweilen machte er eine flüchtig in das Gespräch
gestreute Bemerkung, welch ein herrliches Kleinod eine Frau sei, die
mit all ihren sonstigen Vorzügen auch den der häuslichen Kenntnisse,
namentlich der Kochkunst, vereinige und mit den Schwächen und Eigenheiten
ihres Mannes freundliche Nachsicht übe.

Ottilie bemühte sich hartnäckig, derartige Bemerkungen Christian's zu
überhören, und die Tante blickte verlegen lächelnd auf ihren Teller und
brachte die Unterhaltung auf ein anderes Thema.

Mittlerweile ging mein im gastlichen Heim meines Freundes verbrachter
Urlaub zu Ende, und ich kehrte nach der Stadt zurück, um, Christian's
Einladung entsprechend, einige Wochen später zum Weihnachtsfeste
wiederzukommen.

Es überraschte mich nicht, Ottilie mit ihrer Tante noch vorzufinden.
Christian hatte sie, so oft sie auch heimkehren wollten, zurückgehalten.
Und ebenso wenig überraschte mich die sich mir bald aufdrängende
Wahrnehmung, daß sein Herz für seine Cousine in hellen Flammen stand,
und daß Christian's Herzensflammen mit jenen Ottiliens lodernd
zusammenschlugen. Einigermaßen verwundert war ich nur darüber, daß die
Tante über diese Lage der Dinge nicht sonderlich erbaut, ja von einer
seltsamen nervösen Unruhe beherrscht schien, als erfüllte sie irgend eine
geheime Sorge.

So kam der Weihnachtsabend heran. Im großen Saale des Erdgeschosses
brannte ein mächtiger Christbaum, dessen zahllose Lichtlein in den
einander gegenüber hängenden Spiegeln sich hundertfach vervielfältigend
wiederstrahlten. Eine Menge schöner Geschenke, auf weißüberdeckten
Tischen zierlich geordnet, lagen da, nicht nur für den Herrn des Hauses
und dessen Gäste, auch für seine Beamten und Diener und deren Kinder, die
in stillem, freudigem Entzücken ob des in prächtigem Schmucke und hellem
Glanze flimmernden Tannenbaumes und der großmüthigen Bescherung durch
ihren gütigen Herrn schier verblüfft umherstanden und kaum Worte des
Dankes fanden.

Ein heiteres Festmahl folgte darauf, dann ein Tombolaspiel, und gegen
die Mitternachtsstunde kam, zur Beendigung der Festfeier, eine dampfende
Punschbowle auf den Tisch.

Die Gläser klangen. Es wurde toastirt und poculirt.

Doch inmitten der heitersten Unterhaltung wurde unser liebenswürdiger
Gastgeber plötzlich von wehmüthiger Stimmung überflogen. Er gedachte
seiner Mutter, die er innig geliebt, und die der Tod erst vor wenigen
Jahren von seiner Seite gerissen. Und indem er von ihr und von dem stillen,
glücklichen Leben, das sie miteinander geführt, erzählte, meinte er, wie
schön es wäre, wenn sie hier in der Mitte des kleinen Kreises weilte.

»Ganz so wie heute,« schloß er, zu mir gewendet, seine Rede, »feierten
wir unser Weihnachtsfest. Nur eines fehlt. Mütterchen bescherte mir
immer einen riesigen Baumkuchen. Sie wußte, daß ich ihn besonders liebe.
Mathilden wollte ich dessen Herstellung aber nicht anvertrauen.«

In diesem Augenblicke öffnete sich die Thür, und ein mächtiger
Baumkuchen wurde aufgetragen.

»Was ist das?« rief Christian freudig betroffen. »Ist da Zauberei im
Spiele?«

Das Stubenmädchen entfernte sich schweigend. Die Tante aber erklärte
lächelnd:

»Keine Zauberei, lieber Christian. Du vergißt, daß Du uns von diesem
Weihnachtskuchen schon öfters gesprochen. Nun, und da dachte ich, damit
nichts fehlen sollte --«

Christian blickte auf Ottilie, die, als ob sie nichts hörte, sich mit
frischer Füllung der Punschgläser beschäftigte.

»Ah, ich verstehe,« murmelte er leise, und eine flüchtige Röthe
überzog seine gebräunten Wangen.

Der Kuchen wurde angeschnitten und erwies sich als vortrefflich, ganz so,
wie er unter den geschickten Händen von Christian's Mutter gediehen war.

Einige Minuten lang hatte Christian still und nachdenklich dagesessen.
Plötzlich erhob er sich, und zur Tante hintretend, sagte er mit etwas
schwankender Stimme:

»Ich weiß keinen geeigneteren Augenblick, liebes Tantchen, als das
heutige Freudenfest, um Dir ein freudiges Geheimniß zu bekennen, das für
Dich sicherlich schon lange kein Geheimniß mehr ist: Ottilie und ich, wir
lieben uns. Willst Du sie mir zur Frau geben?«

Die Tante umarmte Christian, Christian umarmte Ottilie, und die Tante
segnete Beide. Ich aber brachte ein Hoch aus auf das Wohl des Brautpaares.
Und wieder erklangen die Gläser.

Dann aber, als die fröhlich laute Stimmung etwas ruhiger geworden war,
sagte Ottilie zu Christian:

»Da heute schon der Tag der Ueberraschungen ist -- auch ich habe Dir etwas
mitzutheilen, was Dich überraschen wird.«

Christian lächelte freudig verschmitzt.

»Kann es mir schon denken, Tilly. Der Weihnachtskuchen, nicht wahr? Und
die Hachéklößchen damals und alle meine anderen Lieblingsspeisen.«

Ottilie sah ihn groß an.

»Was ist es mit all dem?« fragte sie verwundert. »Ah, Du meinst, daß
nicht Mathilde es war, die diese guten Sachen gekocht hat? Ja, das hast
Du errathen. Unser liebes Tantchen war es, die Dir eine Freude bereiten
wollte, was ihr ja auch vortrefflich gelungen ist. Doch nicht das ist
es, was ich Dir sagen wollte. Meine Ueberraschung ist anderer Art. Dein
Rothfuchs -- täglich, wenn Du nicht zu Hause warst, hab' ich versucht,
ihn zu reiten. Darum kam ich immer so erhitzt zu Tische. Du wolltest die
Ursache wissen, aber ich sagte sie nicht. Nun, jetzt, mein Schatz, ist Dein
wilder Bucephalus völlig in meiner Gewalt.«

Jetzt war an Christian die Reihe, die Augen aufzusperren.

»Ach, das ist es!« sagte er kleinlaut »und ich glaubte --« Und dabei
sah er beinahe traurig aus. Doch rasch war seine Verstimmung verflogen.
»Bah, was macht es?« rief er, wieder fröhlich. »Die gute Tante bleibt
bei uns und leitet das Haus. Vielleicht lernst Du es auch mit der Zeit.
Vorläufig bist Du mein lieber, flotter Kamerad. Wir reiten und schießen
miteinander.«

»Ja, wir schießen um die Wette.«

»Und unser Ziel --«

»-- ist unsere Liebe und unser Glück!«

Sie verfehlten es nicht, dieses Ziel.



Weder Glück noch Stern.


Er hieß Michael Müller und war am 1. April 18.. geboren. Seine Mutter
starb am Tage nach seiner Geburt und sein Vater liebte ihn nicht, weil eben
sein Eintritt in die Welt seiner Mutter das Leben kostete und somit die
Last der Sorge für seine Pflege und Erziehung dem Vater allein zu tragen
aufbürdete, dann aber auch, weil er bei seinem Heranwachsen weder ein
schönes noch ein kluges Kind zu werden versprach. Das einzig Hübsche
seines Gesichtes waren die großen, stahlgrauen, schwärmerisch
blickenden Augen, welche mit der ausdruckslosen Stumpfnase und dem weiten,
dicklippigen Munde sonderbar contrastirten, und der einzige Witz, der
ihm in seinem ganzen Leben gelang, war der, daß er, auf das Datum seines
Geburtstages anspielend, mit gutmüthig traurigem Lächeln sagte, das
Schicksal habe ihn, indem es ihn geboren werden ließ, in den April
geschickt.

Und in der That gestaltete sich sein Lebenslauf zu einer Bestätigung
seiner harmlosen Selbstironie. Michael oder Michel, wie er allgemein
gerufen wurde, gehörte zu jenen Pechvögeln, welchen alles, was sie
unternehmen, mißlingt und welche, ohne dümmer, oder ungeschickter, oder
träger zu sein als Andere, doch von Allen überholt und übervortheilt
werden.

Gab es unter den Schulknaben irgend eine Balgerei, so war es sicherlich
Michel, der dabei am übelsten wegkam, dessen Rücken die meisten Püffe,
dessen Kleider die meisten Risse erhielten und dem obendrein noch oft
Strafe zutheil ward, indem ihn die Genossen, so unschuldig er zumeist auch
war, als Rädelsführer und Urheber der Schlägerei verklagten.

In der Schule lernte er nicht schlechter als die Mehrzahl seiner
Gefährten, dennoch widerfuhr ihm wiederholt das Unglück, bei der Prüfung
durchzufallen, einzig aus dem Grunde, weil ihm zufällig solche Fragen
gestellt wurden, die er nicht zu beantworten wußte, während er auf
alle seinen Collegen vorgelegten Fragen ganz richtige Antworten zu geben
vermocht hätte. Von seinen Lehrern wurde er bemitleidet, von seinen
Genossen verspottet. Trotz seiner Gutmüthigkeit, mit welcher er sich gern
jedem gefällig erwies, was sich Alle ganz wohl gefallen ließen, wenn sie
eines Dienstes bedurften, bildete er doch die Zielscheibe ihrer Neckereien.
Und schlecht gelang es ihm, sich derselben zu erwehren, denn eine treffende
Replik auf irgend eine spöttische Bemerkung fiel ihm regelmäßig erst
dann ein, wenn die passende Gelegenheit, sie auszusprechen, längst
vorüber war.

Einmal ereignete es sich, daß seiner Classe als Hausaufgabe ein
Aufsatzthema gegeben wurde, dessen Ausarbeitung unserem Michel besonderes
Interesse und Vergnügen gewährte. Mit Ernst und Eifer machte er sich
an die Arbeit. Aber unmittelbar vor dem Ablieferungstermin hatte er das
Unglück, das Schreibheft, welches den Entwurf seines zu seiner eigenen
großen Zufriedenheit vollendeten Aufsatzes enthielt, und das er
unvorsichtigerweise bei sich trug, auf dem Wege von der Schule heimwärts,
aus seiner Rocktasche zu verlieren. Natürlich blieb ihm nichts anderes
übrig, als die Aufgabe in Hast und Eile -- denn die Zeit drängte -- vom
neuem auszuarbeiten. Wer beschreibt nun seine schmerzliche Entrüstung, als
seine Arbeit als »ungenügend« zurückgewiesen, jene eines Schulkameraden
hingegen prämiirt und zur Auszeichnung laut verlesen wurde, in welcher er
seinen eigenen ersten, verlorenen Aufsatz erkannte!

Er hatte gut, denselben als sein Werk reclamiren und die Geschichte seines
in Verlust gerathenen Heftchens erzählen! Niemand glaubte ihm; trug doch
die belobte Arbeit Namen und Handschrift des Schülers, der sie dem Lehrer
präsentirt hatte; welche Belege für das gute Recht seiner Ansprüche
vermochte er dagegen aufzuweisen? Einige seiner Schulgenossen lachten ihn
aus, andere empörten sich über ihn und erzählten daheim ihren Eltern
dieses Beispiel unerhörter lügnerischer Verwegenheit. Der Lehrer aber
verwies ihm mit scharfem Tadel seinen kecken Betrugsversuch und bedeutete
dem schmerz- und zornverwirrten Knaben, daß er ihm nur dies einemal solch
schweres Vergehen straflos hingehen ließe, er möge sich für die Zukunft
hüten, denn ein zweitesmal würde er sich eine empfindliche Züchtigung
zuziehen. Und als der Junge das Ereigniß weinend seinem Vater klagte, da
ward ihm ein gleichgiltiges Achselzucken zutheil und eine Wiederholung des
stereotypen Urtheiles: »Geschieht Dir recht, Michel, Du bist ein Tölpel,
das weiß ich längst.«

Solche und ähnliche Erfahrungen, die Kränkungen und ungerechten
Zurücksetzungen, die ihm allenthalben begegneten, führten dazu, Michel's
Gemüth zwar nicht zu verbittern -- hierzu war es zu gut -- aber es immer
mehr von der Außenwelt abzuziehen und, sich selbst genügend, sich
eine stille, träumerische Welt zu bilden. Langsam von Classe zu Classe
aufsteigend, beschäftigte er sich eifrig mit seinen Studien und trat,
nach Vollendung derselben, in ein kleines Amt. Außer den dienstlichen
Beziehungen verkehrte er wenig mit seinen Collegen, welche ihm, wie
früher seine Schulgefährten, wenig Sympathie entgegenbrachten. Gesellige
Vergnügungen suchte er noch weniger. In größerer Gesellschaft, an
welcher Frauen theilnahmen, war er schüchtern und beklommen, da er sich
mit Recht oder Unrecht immer einbildete, eine ungeschickte, lächerliche
Figur zu spielen, und für Damen, die für die Komik linkischer
Unbeholfenheit meist einen noch schärferen Beobachtungssinn besitzen als
die Männer, ein Object, wenn nicht offener, so doch sicherlich heimlicher
Belustigung darzustellen. Da ihm dieser Gedanke peinlich war, zog er es
vor, Damen-, sowie überhaupt jede größere Gesellschaft zu meiden.

So lebte Michel freund- und freudlos für sich hin.

Freund- und freudlos? Nein, nicht doch! denn einen Freund nannte er sein,
dessen Besitz ihm Freude gewährte.

Wenn dieser Freund vor ihm saß und mit seinen glänzenden dunkelbraunen
Augen treu und ehrlich in sein Auge blickte, dann ward ihm so innig warm
und wohl ums Herz, wie nie bisher in seinem Leben, denn noch nie in seinem
Leben war er einem Wesen begegnet, das ihn liebte -- das wußte er. Und
wenn dieser Gedanke durch seine arme Seele zog, da regte sich Dankbarkeit
und Liebe in seinem Herzen zu diesem Geschöpfe, dem ersten, das ihm treue,
aufrichtige Liebe entgegenbrachte, und mit einem Gefühle von Rührung zog
er dessen Kopf an seine Brust und drückte einen Kuß auf seinen glatten
Scheitel.

Ja wahrhaftig, einen Kuß, obgleich dieser einzige Freund nicht mehr und
nicht weniger war als -- sein Hund.

Dieser Hund war durchaus nicht von besonders edler oder auch nur reiner
Race. Sein Lux -- so hieß er -- war eine Kreuzung von Dachs- und
Hühnerhund. Von letzerem hatte er den schönen, intelligenten Kopf, von
ersterem die etwas verkürzten Beine und die Zeichnung: schwarz, gelb und
weiß. Trotzdem war es ein hübsches Thier, wenigstens für unseren Michel
gab es kein schöneres auf Erden. Und wie anhänglich war er seinem Herrn!
Seitdem dieser ihm das Leben gerettet, indem er ihn aus dem Wasser zog,
in welches sein früherer Besitzer, um sich seiner zu entledigen,
ihn geworfen, wich er ihm nicht von der Seite. Herr und Hund waren
unzertrennlich. Sie schliefen in demselben Zimmer, aßen in demselben
Wirthshause, machten zusammen große Spaziergänge. Und da von den Beiden
der Hund der auffallendere, jedenfalls hübschere und lebhaftere war
und der Herr sich augenscheinlich oft den Wünschen seines vierfüßigen
Gefährten unterordnete, so kam es, daß die in Betreff unseres Michels
stets zum Spotte geneigten Leute, wenn sie Beide einherspazieren sahen,
nicht etwa sich anständigerweise derart ausdrückten: »Da geht Herr
Müller mit seinem Hund,« sondern aller naturgeschichtlichen Rangordnung
zum Trotz kühnlich sagten: »Da kommt der Lux mit dem Michel.« Letzterer
hörte zuweilen diese Aeußerung, doch war er darob weder gekränkt noch
beleidigt; er lächelte fröhlich vor sich hin.

Die Stunden, welche die Amtsthätigkeit und die weiten Spaziergänge frei
ließen, verbrachte Michel bei seinen in der einsamen Zurückgezogenheit
seines Lebens ihm lieb gewordenen Büchern. Er las und lernte eifrig. Was
ihm an rascher Auffassungsgabe mangelte, ersetzte er durch Gründlichkeit
und Fleiß. Sein Lieblingsstudium war Geschichte.

Da traf es sich, daß er in einer Zeitschrift eine von der Akademie der
Wissenschaften ausgehende Preisausschreibung für ein großes historisches
Essay über den Einfluß einer gewissen literarischen Bewegung auf die
Entwickelung des Schriftthums las. Die Aufgabe flößte ihm lebhaftes
Interesse ein, und da sich bei einer glücklichen Lösung derselben sowohl
Auszeichnung wie eine sehr bedeutende Summe als Preis erringen ließ, so
beschloß er, sich an der Concurrenz zu betheiligen. Ohne Aufschub machte
er sich an die Arbeit. In Archiven und Bibliotheken sammelte er mit
Emsigkeit reiches Material und zu Hause sichtete und ordnete er dasselbe.

Eines Tages wurde er in seiner neuen Thätigkeit durch den überraschenden
Besuch eines Amtscollegen unterbrochen. So wenig vertraulich die
Beziehungen der jungen Männer zu einander auch waren, empfing Michel
seinen Gast doch mit zuvorkommender Freundlichkeit. Hierdurch ermuthigt,
rückte dieser bald mit seinem den Besuch veranlassenden Anliegen hervor.
Er befinde sich in momentaner Geldverlegenheit; um sich aus derselben
zu ziehen, sei er genöthigt, die erforderliche Summe gegen Wechsel
aufzunehmen. Der Geldgeber beanspruche natürlich außer seiner
Signatur auch die zweier guter Giranten. Einer seiner Freunde habe seine
Unterschrift bereits gegeben; nun bäte er ihn -- Müller -- um die
Gefälligkeit, das zweite Giro zu leisten. Die Sache sei von keiner
Bedeutung, die Summe nicht beträchtlich, der Wechsel werde von ihm
jedenfalls vor Ablauf der Fälligkeitsfrist eingelöst und so weiter.

Nach kurzem Zögern willfahrte Michel der Bitte seines Collegen und mit den
wärmsten Dankesversicherungen entfernte sich derselbe.

Michel war die Angelegenheit unangenehm. Er haßte leichtsinniges und
unordentliches Gebaren mit dem Gelde, denn er war ein guter Wirth und
mochte Schulden nicht leiden. Und jetzt hatte er selbst indirect eine
Schuld contrahirt. Ja, aber die Sache war nicht zu umgehen. Er hätte es
nicht über sich gebracht, seinen Amtsgenossen abzuweisen.

Doch zu seinen Pandecten zurückkehrend, hatte Michel die ganze Geschichte
über seiner Arbeit bald vergessen.

Wochen und Monate flossen dahin in stiller, ernster Thätigkeit. Die
Concurrenzarbeit wurde vollendet und eingereicht.

Aber nicht nur sein historisches Essay allein hatte Michel während
dieser Zeit beschäftigt. Auf der anderen Seite der Treppe, seiner Wohnung
gegenüber, liegt das Zimmer eines hübschen jungen Mädchens, einer Waise,
welche sich und ihren kleinen achtjährigen Bruder mit ihrer Hände Arbeit
-- sie ist Blumenmacherin -- ernährt. Dieses Mädchen hat Michel kennen
und lieben gelernt. Er will sie zu seiner Frau machen und die Verbindung
nur noch so lange aufschieben, bis sein demnächst zu erwartendes
Avancement erfolgt oder -- aber die Hoffnung auf dieses Glück wagt er
nicht laut auszusprechen, kaum zu denken -- nun, oder bis er mit seiner
Concurrenzschrift den Preis gewinnt.

Es ist am frühen Morgen. Der Tag ist angebrochen, an welchem die
Zeitungen das Urtheil der Jury über die Zuerkennung des von der Akademie
ausgeschriebenen Preises publiciren werden. Bleich und müde nach
schlafloser Nacht erhebt sich Michel von seinem Lager. Eines nicht
unbedeutenden Unwohlseins halber mußte er schon mehrere Tage Zimmer und
Bett hüten.

Auch jetzt fühlt er sich matt und zerschlagen, aber eine unüberwindliche
innere Unruhe treibt ihn aus dem Bette. Auf dem Divan hingestreckt,
streichelt er mit fieberheißer Hand das weiche Fell seines treuen Hundes.
Er erinnert sich, daß die Stunde des Briefboten nahe sein muß und in der
That klingelt dieser bald an seiner Thür und übergiebt ihm mehrere Briefe
und das Morgenblatt seiner Zeitung.

Hastig und mit vor Aufregung zuckenden Fingern löst er die Adreßschleife
und entfaltet das Blatt.

Es enthält die Publication des Preisrichterspruches. Aber der Autorname
der preisgekrönten Arbeit ist nicht der seine --

Ein herbes Lächeln irrt über seine Lippen und mit feuchtem Auge blickt er
auf die seine stolze Hoffnung vernichtende Mittheilung.

Wie konnte auch er, der Pechvogel, sich so großen Glückes vermessen!
Solche Freuden begegnen den Sonntagskindern, nicht ihm, dem »Aprilnarr«
des Schicksales!

Er warf die Zeitung fort und griff nach den Briefen.

Der eine derselben ist ein Schreiben seines Bureauchefs, in welchem
derselbe ihm in schonendster Weise mittheilt, daß sein Amtscollege * * *
bedeutender Schulden wegen aus seinem Dienste entlassen sei. Unter seinen
protestirten Wechseln finde sich einer mit Müller's Giro. Sollte er nicht
in der Lage sein, den Wechsel einzulösen, so sei es, um einer fataleren
Eventualität vorzubeugen, das beste für ihn, um Enthebung seiner Stelle
selbst einzukommen.

Der zweite Brief ist von der Hand seiner Braut, welche ihn darin
beschwört, sie zu vergessen und ihr zu verzeihen, daß sie nie die Seine
werden könne. Aus Mitleid mit seiner traurigen Herzenseinsamkeit habe sie
ihm mehr Liebe gezeigt, als sie thatsächlich für ihn fühlte. In Wahrheit
habe sie stets einen anderen Mann geliebt, und im Begriffe, ihre Verbindung
mit demselben einzugehen, sehe sie sich genöthigt, die Täuschung, in der
er sich in Betreff ihrer befinde, aufzuklären.

Mit einem heiseren Wuthschrei sprang Michel von seinem Sitze empor
und eilte in die Wohnung des Mädchens. Er fand die Eingangsthür
unverschlossen und trat in das kleine Vorzimmerchen.

Doch als er schon die Hand nach der Klinke ihres Wohnzimmers ausstreckte,
erfaßte ihn plötzlich ein Gefühl drückender Beklommenheit und Angst. Er
wagte es nicht, derjenigen ins Auge zu schauen, die er liebte und die ihn
so furchtbar hintergangen hatte. Da hörte er laute Stimmen. Es war eine
kräftige Männerstimme im Gespräche mit seiner Geliebten. Er lauschte
nicht. Aber plötzlich vernahm er deutlich seinen Namen und darauf
schallendes, fröhliches Gelächter.

Da wandte er sich zum Gehen. In seine Wohnung zurückgekehrt, sank er auf
einen Stuhl und barg schluchzend den Kopf in seine Hände.

Seine Liebe war betrogen, seine Existenz vernichtet, die Hoffnung, eine
neue Laufbahn betreten zu können, zerstört. Was lag noch an seinem Leben?

       *       *       *       *       *

Wenige Stunden später stieg Herr Müller =senior=, um seinen kranken
Sohn zu besuchen, die Treppe zu dessen Wohnung empor. Als er in Michel's
Schlafzimmer trat, fand er ihn, eine tiefe Schußwunde in der Stirn,
entseelt in einer Ecke des Divans lehnen. Die verhängnißvollen Druck-
und Schriftstücke lagen auf der Diele des Bodens; die eine Hand des
Unglücklichen hielt noch die selbstmörderische Waffe umspannt, die andere
hing schlaff über der Divanlehne herab.

Leise winselnd saß der Hund vor seinem todten Herrn und Freund und
beleckte dessen erstarrte Hand, als wollte er mit seiner warmen Zunge ihr
neues Leben einflößen.

Lasse ihn schlummern, treues, gutes Thier! Ihm ist wohl, daß er ruhen
darf, und daß der Vorhang fiel über sein schmerzliches Dasein, das für
ihn Tragödie war und für die Anderen -- Posse!



Der Unwiderstehliche.


»Treue --?! Glaubst Du wirklich noch immer, daß es diesen Artikel echt
und unverfälscht giebt? Hat Dich das Leben nicht darüber belehrt, daß
dies ein Begriff ist ohne realen Hintergrund, eine Vorstellung, die sich
mit den Thatsachen nicht deckt, ein leeres Wort, das die Menschen nur zu
dem Zwecke erfunden haben, um sich selbst etwas vorzulügen, um sich vor
sich selbst besser zu machen, als sie wirklich sind?« -- so fragte das
Gespräch fortsetzend, mein Freund Theodor mit lauter Stimme, um den
polternden Lärm des Eisenbahnzuges zu übertönen, der uns aus der
Residenz nach dem lieblichen Landsitze eines gemeinsamen Freundes führte,
von dem wir zur Feier des Namensfestes seiner Frau zu Gast geladen waren.

»Echte, unverfälschte Treue,« fing ich sein Wort auf. »Was meinst
Du damit? Was Du da sagst, ist ein Pleonasmus. Treue muß echt sein.
Verfälschte Treue ist ja nicht mehr Treue, sondern ihr Gegentheil.«

»Keine Spur!« rief Theodor, den Rest seiner Cigarre zum Waggonfenster
hinauswerfend. »Es giebt eine echte Treue und eine unechte. Das werde ich
Dir gleich an einem Beispiele erläutern.«

Dann steckte er sich eine andere Havana in Brand und fuhr fort:

»Solche Treue, die das nothwendige Ergebniß der Empfindungen ist, ist
echt; solche, die aber nur die Folge zufälliger äußerer Verhältnisse
und Umstände ist, kann unmöglich für echt gelten. Die Treue einer Frau,
die zufällig keinem Manne begegnete, der ihr besser gefiel als ihr Gatte,
ist eine unechte Treue.«

»Das sind Sophismen,« warf ich ein. »Da könnte man ja bei dem
erhabensten Beispiele weiblicher Treue die Behauptung aufstellen, dieselbe
sei nur durch zufällige Umstände bedingt.«

»So ist es auch,« sagte der Andere ruhig lächelnd, indem er sich in die
Wagenkissen behaglich zurücklehnte. »Kein Mensch, weder weiblichen noch
männlichen Geschlechtes, kann bedingungslos für seine Treue bürgen.
Immer handelt es sich darum, ob das Schicksal dem Betreffenden den Rechten
oder die Rechte entgegenführt, denen die Macht gegeben ist, ihre Treue zu
erschüttern. Eben darum behaupte ich, daß es auf unserem Planeten keine
echte Treue gebe.«

»Du hast vielleicht eine solche noch nicht kennen gelernt,« erwiderte
ich gereizt, denn seine überlegene Art, mit seiner Lebens- und
Erfahrungsweisheit groß zu thun, ärgerte mich immer. »Aus Deinen
persönlichen Erfahrungen gleich auf die Allgemeinheit zu schließen, ist
aber doch etwas voreilig.«

»Pah, es handelt sich immer nur darum, ob der Rechte kommt,« wiederholte
Theodor heiter lächelnd, und zwirbelte mit seinen weißen Fingern den
blonden, wohlgepflegten Schnurrbart.

Jetzt mußte auch ich lächeln. Mir ging plötzlich ein Licht auf. Er,
Theodor, war ja dieser »Rechte«, dem gegenüber, sowie er kam und siegen
wollte, keine Frauentreue standzuhalten, kein Mädchenherz unverwundet
zu bleiben vermochte. Hieß er denn nicht seit der Tanzschule her »der
Unwiderstehliche«? Und hatte er sich während der seit jenen Tanzstunden
verflossenen Reihe von nahezu fünfzehn Jahren diesen Namen nicht bewahrt
und stetig mehr verdient!

Halb »Löwe«, halb Dandy, bald heldenhaft kühn, bald lyrisch
schmachtend, hatte er -- so ging die Sage -- seit seiner frühesten Jugend
fabelhaftes Glück bei den Frauen gehabt und -- auch dies erzählte die
Fama -- das Glück gepackt, wo und so oft es sich haschen ließ.

Alles dies fiel mir jetzt wieder ein, als ich bei seinen letzten Worten
meinen Blick über ihn hingleiten ließ, während er den aus seiner Cigarre
aufsteigenden blauen Ringelwölkchen sinnend nachschaute.

Theodor war ein auffallend schöner Mann. Schlank und zierlich gebaut,
das fein geschnittene, blasse Gesicht von seidenweichen blonden Locken und
einem üppigen Vollbart umrahmt, der die Lippen so weit frei ließ, um das
verführerische, zuweilen etwas frivole Lächeln, das den Frauen so
leicht gefährlich wird, zur vollen Geltung kommen zu lassen, mit großen,
dunklen, bald träumerisch, bald verwegen blickenden Augen -- war seine
äußere Erscheinung so recht angethan, um seinen beliebten Wahlspruch:
=Veni, vidi, vici= nicht Lügen zu strafen. Vorzüglicher Reiter und
Tänzer, amusanter Causeur, der eine Menge pikante Geschichtchen und
schnurrige Anekdoten zu erzählen wußte, stets elegant und mit feinstem
Chic gekleidet, konnte es wahrlich nicht wundernehmen, daß alle Damen für
ihn schwärmten, daß es keine Gesellschaft gab, zu der er nicht geladen
wurde, und keinen Ball, dessen Cotillon nicht er führen mußte. Dabei
hatte er eine so ganz besondere Art, mit den Damen zu verkehren.
Voll ritterlicher Galanterie und doch nie ohne einen gewissen Anflug
selbstbewußter Ueberlegenheit und leichter Blasirtheit.

»Nun, giebst Du mir recht?« fragte er, die entstandene Pause plötzlich
unterbrechend. »Oder bleibst Du trotz aller Vernunftgründe immer der
alte, unverbesserliche Idealist, der Du warst?«

»Im Durchschnitte magst Du ja recht haben,« erwiderte ich. »Du wirst
aber doch nicht behaupten wollen, daß es nicht auch Ausnahmen --«

»Giebt es nicht,« fiel er ein.

»Doch!« bemerkte ich beinahe eingeschüchtert. »Glaubst Du nicht, daß
Margarethe zum Beispiel --«

Margarethe war die Frau jenes Freundes, zu dem wir uns auf dem Wege
befanden.

»Ach, Margarethe!« wiederholte er mit einem leichten Seufzer. »Ja, ich
hätte es denken können, daß Du sie als Beleg Deiner unhaltbaren Theorie
werdest heranziehen wollen.«

»Nun --?!«

»Wer sagt Dir, daß sie eine solche Ausnahme ist! Daß nicht auch ihre bis
jetzt allerdings geradezu phänomenale Verliebtheit in den guten Jungen,
der seit vier vollen Jahren das Glück hat, ihr Gatte zu sein, doch nichts
anderes ist als das Werk des Zufalles? Des Zufalles nämlich, daß sie bis
jetzt noch keinen Mann kennen lernte, der --«

»Eben der Rechte wäre. Ich weiß schon, Du hast es ja gerade gesagt,«
unterbrach ich ihn ungeduldig.

»Ja, allerdings, das meine ich. Oder auch, daß dieser Rechte
sich vielleicht noch nicht die Mühe gegeben, die Dichtigkeit ihres
Herzenspanzers zu erproben.«

»Ich aber meine, daß es eine Vermessenheit ist, von einer Frau, wie
Margarethe, deren Charakter den leisesten Schatten eines Mißtrauens zu
bannen geeignet ist, so geringschätzig zu denken.«

Ich war bitterböse auf Theodor. Sein Gleichmuth aber blieb
unerschütterlich.

»Einen allgemein giltigen Maßstab an den Einzelnen anlegen,« erwiderte
er, »heißt nicht geringschätzig denken über ihn. Ich besitze nur eben
genug Menschenkenntniß, um die Handlungen der Menschen auf ihre innere
Quelle zurückführen zu können. Warum sollte Frau Margarethe anders sein
als die anderen Frauen? Sie ist eben ein Weib. Und denselben Naturgesetzen,
die den Charakter des Weibes im Allgemeinen beherrschen, ist -- wie alle
Anderen -- auch sie unterworfen. Daran läßt sich nichts ändern.«

Ich schwieg. Einsehend, daß Theodor's Ansichten zu fest wurzelten, um
sich durch Worte widerlegen zu lassen, hielt ich eine Fortsetzung unseres
Disputes für ebenso zwecklos wie ermüdend. Meine Gedanken flogen voraus,
den Freunden entgegen. Und indem ich an sie dachte, mußte ich in mich
hinein über Theodor lachen, dessen mit solch apodiktischer Sicherheit
verkündeten Anschauungen eben durch sie eine so schlagende Widerlegung
fanden. Arthur's und Margarethens Ehe war die glücklichste, die ich je
gesehen. Der verstockteste Pessimist mußte durch ihren Anblick
bekehrt werden. Allerdings waren Beide noch sehr jung, Arthur zählte
sechsundzwanzig, Margarethe zwanzig Jahre. Und wer die Beiden sah, hätte
sie eher für übermüthige Geschwister, denn für Ehegatten halten
können. Manchmal, wenn ich zu ihnen gekommen, fand ich sie im Garten
herumtollen, als ob sie noch Kinder wären. Noch hatte kein Schatten die
frohe Laune ihres Jugendmuthes getrübt. Das Leben konnte wohl sie ernster
machen, sie konnten mitsammen reifen und -- altern. Aber trennend, ihre
zu einem wohlklingenden Accord zusammengestimmten Seelen trennend, konnte
nichts zwischen sie treten. Diese beiden herzlieben Geschöpfe paßten
füreinander, als ob sie eigens füreinander geschaffen wären. Sie
lebten vollkommen für- und ineinander. Und jedes war glücklich durch die
Existenz des Anderen. Theodor kannte sie nicht so gut wie ich; wenn er sie
näher kennen lernte, würde er bald einsehen, daß wenigstens dies eine
Beispiel seine Ueberzeugungen Lügen strafte.

Den Faden des behandelten Themas weiter spinnend, fragte ich Theodor nach
einer kleinen Weile:

»Deine Anschauung über den weiblichen Charakter im Allgemeinen und über
weibliche Treue im Besonderen ist wohl auch die Ursache Deines Widerwillens
gegen das Ehejoch?«

Theodor nickte lächelnd.

»Ich bewundere Deine Combinationsgabe! Allerdings ist dies die Ursache.
Ich schätze meine Ruhe über alles. Was hätte ich nöthig, mich
zu verheiraten und diese Ruhe und meine Freiheit aufzuopfern? Die
Annehmlichkeiten des Ehestandes stehen ja dem Junggesellen, der
verheiratete Freunde hat, beinahe in ebenso reichlichem Maße zur
Verfügung wie den Ehemännern. Ihre Frauen sind unsere Freundinnen, an
ihrem Tische, an ihrem Kamin ist stets ein Plätzchen für uns bereit. So
oft wir eintreten, sind wir willkommen. Wir erheitern ihre Einsamkeit,
die vielleicht gerade in dem Augenblicke als wir kamen, anfing, sie ein
bißchen zu langweilen. Auf diese Weise wahren wir unsere Unabhängigkeit
und genießen doch alle Vortheile des Ehestandes, ohne dessen Mühen,
Lasten und beunruhigenden Sorgen zu haben. Ja, wäre doch jeder ein Thor,
der die Lasten und Sorgen auf sich nähme, damit ein Anderer sich des
Glückes ohne diesen bitteren Beigeschmack erfreue, ein Thor, der die Hefe
des Bechers leerte, von dem ein Anderer den süßen Schaum fortgenippt.«

Ich fand keine Zeit mehr zu antworten. Der Pfiff der Locomotive
verkündete uns, daß wir uns dem Ziele näherten. Wir griffen nach unseren
Handkofferchen und Ueberziehern, stiegen aus und warfen uns in einen
Wagen, der uns in einer halben Stunde nach Arthur's allerliebsten Landsitz
brachte.

Der Empfang, der uns, namentlich aber Theodor zutheil wurde, brachte
mich auf den Gedanken, daß er in der That nicht unrecht habe, seinen
Junggesellenstand als einen glücklichen zu preisen. Alles, was er
über sein beneidenswerthes Los gesagt, schien sich zu bestätigen.
Die sichtliche Freude, die seine Gegenwart hervorrief, das herzliche
Entgegenkommen, das der Hausherr ihm entgegenbrachte, das reizende
Lächeln, das Margarethe ihm spendete, das Bemühen, den Aufenthalt im Heim
des Freundes ihm wohl und behaglich zu gestalten, alles vereinte sich, um
die Wahrheit seiner Schilderung zu bezeugen.

Bald fand sich eine zahlreiche Gesellschaft ein, in der Theodor die
Hauptrolle spielte. Seine vorzügliche Unterhaltungsgabe bewährte
sich wieder aufs glänzendste und sämmtliche Damen, Margarethe nicht
ausgenommen, schienen im Banne seines Zaubers zu liegen.

Groll erfaßte mich, denn ich bemerkte bald, daß sie es war, die er sich
als Opfer eines neuen Eroberungszuges ausersehen, vielleicht, um mir den
Beweis für die Richtigkeit seiner mir so abscheulich dünkenden Theorien
zu liefern.

Einen Augenblick dachte ich daran, seine Absichten zu durchkreuzen, etwa
Margarethens Stolz Theodor gegenüber durch Mittheilung seiner Auffassung
des weiblichen Charakters, namentlich aber des seinen gegen sie gerichteten
Feldzugsplänen zweifelsohne zugrunde liegenden Motives herauszufordern,
oder die Vorsicht ihres, wie mir schien, von allzu argloser
Vertrauensseligkeit erfüllten Gatten durch eine bei passender Gelegenheit
angebrachte Warnung wachzurufen. Doch bald ließ ich den Gedanken wieder
fallen. Was hatte ich mich in Anderer Angelegenheiten zu mischen? Waren
Theodor's Anschauungen die richtigen; war mein Glaube an Frauentugend und
Treue wirklich nur eine auf Unkenntniß der Weibesseele beruhende kindische
Schwärmerei, dann verlohnte es sich wahrlich nicht, dem Siegeslaufe
des Unwiderstehlichen durch Verrath seiner Pläne Einhalt zu thun. Mein
Alarmruf konnte wohl in diesem einen Falle seinen Sieg vereiteln; der
Widerstand, der ihm aus diesem Anlasse entgegengesetzt würde, wäre jedoch
fürwahr nicht geeignet, mein Vertrauen zu rechtfertigen, sondern er würde
im Gegentheile Theodor's Ansicht bestätigen, daß alle Treue nur ein Werk
des Zufalles sei.

Diese Ueberlegung bestimmte mich, die weitere Entwickelung der Dinge ohne
Einmischung meinerseits ruhig abzuwarten. Mit Argusaugen überwachte ich
Margarethens Benehmen gegen Theodor. Aber meine anfänglich siegessichere
Zuversicht, daß das Ergebniß der Bemühungen Theodor's meinen von ihm
so grausam verspotteten Ueberzeugungen recht geben möchten, schwand
immer mehr, je lebhafter das Feuer ihrer seinen Blicken begegnenden Augen
sprühte, je reicher und von einer seltsamen Unruhe durchbebt der Tonfall
ihrer Stimme wurde, je heller ihr Lachen an mein Ohr schlug, mit dem sie
seine witzigen Einfälle lohnte.

Nicht sie allein war es, die an seinem Triumphwagen zog. Auch alle anderen
anwesenden Damen schienen völlig berauscht von der hinreißenden Macht
seiner Persönlichkeit. Sie verfolgten ihn mit brennenden Blicken, während
er, wie ein schillernder Schmetterling von Blume zu Blume flattert, von
der einen zur anderen unermüdlich und unermüdend die ewige Lüge seines
verlockenden Lächelns, seines verstohlenen und doch so vielsagenden
Augenspieles, seiner leise geflüsterten Huldigungen trug.

Als es Abend wurde und die Wärme des heiteren Frühlingstages der
nächtlichen Kühle wich, wurde ein Tänzchen arrangirt, wobei Theodor
natürlich wieder neue Gelegenheit fand, als der anerkannt beste und
eleganteste Tänzer alle übrigen Herren in den Hintergrund zu drängen,
gleichwie das Licht der Sterne vor dem siegreichen Glanz der Sonne
erbleichen muß.

Mit einer anderen Dame plaudernd, stand ich neben Margarethe, als Theodor
an sie herantrat, um sie um die letzte Quadrille zu bitten.

»Bedauere, ich bin schon engagirt,« sagte sie freundlich, indem sie mit
dem Fächer auf mich wies.

»O, wie schade!« säuselte Theodor. Dann fügte er, sein schönes Haupt
gegen sie gebeugt, ein paar leise Worte hinzu, die ich nicht verstand
und die von Margarethe ebenso leise beantwortet wurden, während eine
flüchtige Röthe über ihre zarten Wangen glitt.

Gleich darauf wurde eine Schnellpolka gespielt und Margarethe flog an
Theodor's Arm durch den Saal dahin.

Nachdem auch ich einige Touren getanzt, schlängelte ich mich wieder in
Margarethens Nähe, die soeben mit blitzenden Augen und hochwogendem Busen
sich auf ein kleines Ecksofa niedergleiten ließ, während Theodor vor
ihr stehend, ihr mit dem Fächer Kühlung zuwehte. Ich war mir dessen
vollbewußt, eigentlich eine lächerliche Rolle zu spielen, wenn ich mich
stets, wenn auch für Andere so unauffällig wie möglich, in Margarethens
Nähe drängte. Aber der Groll über des Unwiderstehlichen -- des
Unausstehlichen, wie ich ihn meinem Inneren nannte -- neue Triumphe packte
mich so mächtig, daß ich dem Drange, den Aufpasser zu machen, selbst auf
die Gefahr hin, abgeschmackt zu scheinen, nicht zu widerstehen vermochte.

Diesmal aber schien es sich nicht zu lohnen, den Lauscherposten zu
beziehen, denn Beide plauderten ganz harmlos über einen Pavillon, den
Arthur in dem bis an den Garten sich hinziehenden Walde hatte bauen lassen.

»Es ist mein Lieblingsplätzchen,« erzählte Margarethe, »wo ich
mit einer Arbeit, oder einem Buche manche Stunde verbringe. Der dichte
Nadelwald, die kleine Anhöhe, von welcher aus sich ein weiter Blick über
das Thal öffnet, bieten einen reizenden Aufenthalt. Um mir denselben
bequemer zu machen, überraschte mich Arthur mit dem Lusthäuschen.«

»Wie tollkühn, so allein viele Stunden im Walde zuzubringen,« fiel
Theodor ein.

»Durchaus nicht allein,« erwiderte Margarethe. »Mein Pluto begleitet
mich stets auf meinen Wegen. Und er ist ein gar wackerer und treuer
Beschützer.«

»Und trauen Sie Ihrem Pluto eine so famose Witterung zu,« mischte jetzt
ich mich in das Gespräch, »daß er vermöge seiner feinen Nase jede
Gefahr erkennt, die Ihnen von unvermutheter Seite droht?«

Theodor warf mir einen erzürnten Blick zu, der mich einschüchtern und mir
Schweigen gebieten zu wollen schien. Margarethe aber erwiderte mit feinem
Lächeln:

»Pluto und ich wir ergänzen einander vortrefflich. Wo sein
Witterungsvermögen aufhört, da beginnt das meine.«

»Wäre es aber nicht klüger, das Schicksal nicht durch allzu große
Kühnheit herauszufordern?« fragte ich, meine verblümten Warnungen mit
ungeschickter Hartnäckigkeit fortsetzend.

Da lachte Margarethe, und Calderon citirend erwiderte sie:

»Wer Gefahren ängstlich flieht, der stürzt sich in Gefahr.«

Theodor aber gab mir den Rath, um Pluto's feine Spürnase zu erproben,
mich als Vagabund verkleidet bei seiner Herrin in der Waldeinsamkeit
anzuschleichen. »Da würdest Du erfahren, ob er Freund und Feind zu
unterscheiden vermag,« schloß er spöttisch. »Und Pluto's Zähne würden
Deine Wißbegierde befriedigen.«

Nun wurde ich wieder böse und mit scharfem Tone entgegnete ich, daß
börsengierige Strolche nicht die schlimmsten Feinde seien. Die scheinbare
Freundschaft mancher Leute sei weit gefährlicher als offenkundige
Feindschaft, gegen die man sich wappnen könne.

»Natürlich! Der berüchtigte Wolf im Schafspelz ist ein gar böses
Thier!« rief Theodor lachend. »Eine höchst interessante Entdeckung, nur
nicht ganz neu.«

Ich hatte mich abgewendet und im Weggehen hörte ich noch Beide lachen.
Ich fühlte mich gekränkt, nicht nur von Theodor, auch von Margarethe, die
sich an seinen Witzen über mich belustigte. Am liebsten hätte ich mein
Engagement mit ihr zur Quadrille Theodor abgetreten. Da dies aber doch
nicht anging, fand ich mich, als das Zeichen zur Quadrille gegeben wurde,
pflichtschuldigst bei Margarethe ein.

Als ich mich ihr näherte, stand ihr Gatte neben ihr. Sie sprachen eifrig
und lächelnd miteinander und ganz deutlich schien es mir, Theodor's Namen
aus Margarethens Munde zu hören. Welche Arglist! Sie spottete wohl mit
Arthur über ihn, um diesen in Sicherheit zu wiegen und desto bequemer und
unbeargwohnt ihre süßen Tändeleien mit ihrem Courmacher fortsetzen zu
können. Mir ward ganz übel zu Muthe, Margarethe von solcher Seite
kennen zu lernen, mit so schnöder Hand das ideale Bild, das ich von der
Lauterkeit ihres Charakters in meiner Seele trug, verwüstet zu sehen.

Doch jetzt wurde die Introduction zur Quadrille intonirt, die Paare
traten in die Reihe und ich hatte keine Zeit, mich meinen trübseligen
Betrachtungen hinzugeben. Schweigend verbeugte ich mich vor Margarethe und
bot ihr meinen Arm.

»Sie machen ja ein Gesicht, als ob Sie bei meinem Begräbnisse wären,
nicht aber bei einem zur Feier meines Namensfestes veranstalteten
Tanzkränzchen,« sagte sie, mir treuherzig in die Augen blickend.

Auf diesen Vorwurf nicht vorbereitet, stotterte ich ein paar Worte der
Erwiderung, deren ich mich nicht mehr erinnere, die aber sicherlich recht
albern waren, denn Margarethe lachte. Sie verbarg zwar ihre spöttisch
zuckenden Lippen in dem Blumenstrauße, den sie an ihr Gesicht drückte.
Ich fühlte es jedoch, daß sie lachte, mich auslachte. Aber ich zürnte
ihr nicht. Sie war so berückend schön in diesem Augenblicke, die dunklen
Augen, die über die Blumen hinweg schelmisch auf mich hinüber blitzten,
das zarte Adlernäschen, dessen feingeschwungene Flügel sich leise hoben
und senkten, indem sie den Duft der Blumen begierig einsogen, der volle
und doch schlanke weiße Nacken, der durch das schwarze Spitzengewebe
der Corsage wie beseelter Marmor schimmerte -- es war ein so entzückend
liebliches Bild, das sich meinem Auge darbot, daß ich nicht an mich selbst
zu denken vermochte, sondern nur an sie, die in der ganzen Glorie ihrer
jugendfrischen Schönheit, auf meinen Arm gestützt, leichtfüßig
dahinglitt. Ja, nur an sie dachte ich und an den, dem es gelingen sollte,
vielleicht schon gelungen war, bloß um seiner nimmersatten Eitelkeit zu
fröhnen, das Herz dieses reizenden Wesens mit den Fallstricken seiner
auswendig gelernten feurigen Blicke, seiner allerorten wiederholten
lügenhaften Liebesbetheuerungen zu umgarnen.

»Nun, wollen Sie mir nicht verrathen, was Sie so traurig stimmt?« fragte
sie, als ich nach dem »Herren-=Eté=« an ihre Seite zurücktrat.

»Warum nicht,« erwiderte ich. »Es ist der Neid, grimmer Neid, der mir
die Laune verdirbt.«

»O, wie häßlich! Und solches Laster gestehen Sie so ruhig ein?«

»Sie wissen ja, wovon das Herz voll ist --«

Die nächste Figur trennte uns. Dann, beim »=Balancer=«, fragte sie:

»Und darf man wissen, wer der glückliche Unglückliche ist -- denn daß
es ein Er, steht wohl außer Zweifel -- dessen Los Ihnen so beneidenswerth
dünkt?«

»Sagt es Ihnen Ihr Herz nicht?«

»Mein Herz schweigt.«

»Nun, so will ich es denn gestehen. Ihr Pluto ist es, den ich beneide.
Ich beneide ihn um den Vorzug, Sie gegen alle Ihnen drohenden Gefahren
beschützen zu dürfen.«

»Ach ja, gegen den Wolf im Schafsfell,« lachte Margarethe und warf
einen raschen Blick auf Theodor, der uns gegenüber tanzte, und, ohne uns
Beachtung zu schenken, mit seiner Dame eifrig plauderte.

Ich fing den Blick auf und ärgerte mich schon wieder.

»Sehen Sie nur, was die kleine Baronesse Mischi für selige Augen macht,
der Auszeichnungen des Unwiderstehlichen gewürdigt zu werden,« sagte ich
boshaft.

Eine neue Figur hinderte Margarethe, mir zu antworten. Dann aber beim
»=Tour de main=« fragte sie:

»Wie sagten Sie vorhin? -- Der Unwiderstehliche?«

»Allerdings. Wissen Sie nicht, daß Theodor, ob der Legion weiblicher
Herzen, die ihm nur so entgegenfliegen, unter seinen Intimen der
Unwiderstehliche genannt wird?«

»Wie komisch!« lächelte sie. »Und doch, wie zutreffend -- der
Unwiderstehliche! -- Da wir aber gerade von Theodor sprechen -- ich habe
einen Auftrag meines Mannes an Sie und ihn: Sie Beide zu bitten, unsere
Landeinsamkeit für einige Tage zu theilen. Sie bleiben doch?«

Ich verbeugte mich, die Einladung annehmend.

Das also war es, was sie vorhin mit ihrem Manne gesprochen, wobei ich
Theodor's Namen gehört. Sie wollte das Glück des Zusammenseins mit dem
Geliebten -- denn daß sie ihn liebte, darüber gab ich nun schon gar
keinem Zweifel mehr Raum -- verlängern, und ich wurde dabei als das
mindest störende Element -- als Elephant, wie ich grollend mich selbst
benamste, ins Schlepptau genommen. Aber sie hatten die Rechnung ohne den
Wirth gemacht, und ich beschloß, durch dieselbe einen dicken Strich zu
machen. »Pluto, Pluto!« rief es in meinem Inneren, »ich werde Dein
Verbündeter, wir werden sie beschützen!« Alle meine löblichen
Erwägungen, daß mich die Sache doch gar nichts angehe, daß ich kein
Recht hätte, mich in Anderer Herzensangelegenheiten zu mengen, waren
verflogen wie Spreu im Sturm meiner Entrüstung. »Ja, Margarethe, gegen
Deinen eigenen Willen werde ich Dich schützen mit diesen Armen, in
denen Du jetzt ruhst!« sprach ich im Geiste zu ihr, während ich im
Walzerschritt mit ihr durch den Salon hinraste.

Doch dabei verwickelte ich mich mit einem Fuße in das Kleid einer anderen
Tänzerin, strauchelte und würde Margarethe um ein Haar mit mir zu Boden
gerissen haben, hätte nicht Theodor, der, weiß Gott wie, in diesem
Augenblicke neben uns auftauchte, sie aufgefangen, wobei er mir einen Blick
zuwarf -- einen Blick so voll lächelnder, fröhlicher Geringschätzung,
daß ich mich völlig vernichtet fühlte.

Mit einer Empfindung, als wollte ich unter den Boden versinken, stotterte
ich vor Margarethe meine Entschuldigung. Sie tröstete mich gütig, indem
sie meinte, solch ein Malheur passire allzu leicht. Ich aber fühlte mich
vor Margarethe und Theodor schmählich blamirt und dachte im Stillen, ob
dies etwa eine Vorbedeutung wäre, daß ich mich vor den Beiden auch in
meinem Rettungswerke blamiren sollte?

Unbemerkt drückte ich mich aus dem Salon, denn ich schämte mich meiner
Niederlage viel zu sehr, um eine der Damen, die sie ja alle gesehen, noch
zum Tanze aufzufordern. Ich zog es vor, im Speisezimmer, wo das Buffet
aufgestellt war, eine Cigarre zu rauchen und das schmerzliche Gefühl
meiner Demüthigung mit ein paar Gläsern Rheinwein hinabzuspülen.

Zwischen dem Speisezimmer und dem Salon, in dem getanzt wurde, lag ein
zweiter, etwas kleinerer Salon mit einem Altan nach dem Garten. Die
Verbindungsthür dieses Gemaches mit dem Tanzsaale war entfernt worden,
und manches der tanzenden Paare benützte diesen Raum, um seine Touren zu
verlängern.

Die Nacht war milde; ich trat auf den Balcon, dessen Glasthür offen stand,
und labte mich an der freien, frischen, vom balsamischen Duft zahlloser
Rosen und blühender Nachtschatten gewürzten Luft. In stillem, erhabenem
Frieden lag die schlummernde Natur vor mir ausgebreitet; die Sterne
glänzten über meinem Haupte, ein leises Wehen flüsterte durch das Laub
der Bäume, und mir ward zu Muthe, als ob eine weiche, schmeichelnde Hand
allen Groll, alle Verstimmung, alle Kränkung meiner tiefsten Gefühle,
welche die Eindrücke des heutigen Tages in meinem Inneren hervorgerufen,
hinwegstreichelte, und wohlige Ruhe zog in meine Seele. Die Musik, die aus
dem Saale zu mir herübertönte, das gedämpfte Geräusch der Tanzenden,
das Schleifen der Schritte, das Murmeln der entfernten Stimmen störte mich
nicht, es erhöhte noch die Empfindung des stillen, wonnigen Friedens, der
sich wie ein süßer Traum über mein innerstes Wesen breitete.

Der Laut eines munteren Lachens weckte mich plötzlich aus meinen
Träumereien. Ich brauchte mich nicht umzusehen, um zu wissen, wer es sei,
der wenige Schritte vor mir an der offenen Thür stand. Ich kannte dieses
silberhelle, perlende Lachen. Nur Margarethe lachte so.

Und jetzt ließ sich auch Theodor's schmelzender Bariton vernehmen:

»Nein, noch gebe ich Sie nicht frei! Warum wollen Sie grausam mir die
köstlichen Minuten kürzen, da ich Sie in meinen Armen halten, Ihr Herz
an dem meinen pochen fühlen darf! Solchen Augenblick, zu dem ich wie Faust
spreche: Verweile doch, Du bist so schön!«

»Wunderbar gesprochen!« scherzte Margarethe. »Doch sagen Sie mir
ehrlich, ist es zählbar, auf wie viel Bällen, wie vielen Damen Sie diese
Tirade schon wiederholt haben?«

»Es scheint Ihnen Vergnügen zu gewähren, mich zu quälen,« flötete
Theodor. »Sie müssen doch erkennen, daß es nur widerwillig geschieht,
wenn ich meine Huldigungen scheinbar Anderen zuwende, daß ich dieses Opfer
nur zu dem Zwecke bringe, um meine wahren Empfindungen zu verbergen.«

Weiter hörte ich nichts mehr. Die unfreiwillig Belauschten hatten wieder
in den Saal zurück getanzt.

Bald darauf ging die Gesellschaft auseinander. Einige der Gäste
kehrten nach ihren benachbarten Landsitzen heim, andere fuhren nach der
Bahnstation, um nach der Hauptstadt zurückzukehren. Theodor und ich
begaben uns auf unsere Zimmer.

»Nun, hast Du Dich von Deiner Niederlage schon erholt? Keine Beulen
davongetragen? Du trägst ja eine Jammermiene zur Schau, als ob Du große
Schmerzen fühltest?« spottete Theodor, nachdem der uns führende Diener
sich entfernt hatte.

»Immer noch besser, eine Jammermiene, als die Rolle eines Polichinells,«
versetzte ich gereizt.

»Ah -- wen meinst Du mit dem Polichinell?« frug Theodor sanft, während
er sich seiner Handschuhe und Halsbinde entledigte.

»Niemand Anderen als Dich,« antwortete ich, an der offenen Thür meines
Zimmers stehend.

»Ei wirklich, und warum denn das?«

»Darum, weil ich es für einen Mann lächerlich finde, wie ein kokettes
Salondämchen keinen anderen Ehrgeiz zu kennen, als den, Eroberungen zu
machen.«

»So, so! Nun, wenn es Dich lächert, zu sehen, daß die Damen sich mit mir
lebhafter unterhalten und lieber tanzen als mit Anderen, so will ich Dir
das Vergnügen nicht wehren, Dich über diesen Anblick zu belustigen.
Uebrigens kenne ich ein altes Sprichwort: Wer zuletzt lacht und so
weiter.«

»Wer zuletzt lacht,« wiederholte ich. »Wer dies sein wird, muß sich
erst zeigen.«

Ich war in mein Zimmer gegangen. Einige Minuten später -- Theodor kroch
gerade unter die Decke -- trat ich wieder unter die Thür.

»Ich habe mich vorhin schlecht ausgedrückt,« begann ich neuerdings.
»Nicht nur lächerlich, unrecht finde ich es, seine persönlichen Vorzüge
dazu auszunützen, zur Befriedigung seiner Eitelkeit den Frieden und das
Glück der Menschen zu zerstören.«

Theodor erhob sich ein wenig. Den Ellbogen auf das Kopfkissen, das Kinn in
die hohle Hand gestützt, sah er mich lächelnd an.

»Lieber Freund,« sagte er nach einer kleinen Weile, »Du hast entschieden
Deinen Beruf verfehlt. Du hättest Mönch werden sollen, um von der Kanzel
herab gegen die Verderbtheit der Welt zu donnern. Wer sagt Dir denn, daß
ich dem Frieden und dem Glücke der Menschen Eintrag thue? Man unterhält
sich, man -- nun, man liebäugelt ein wenig und man trennt sich wieder,
ohne Gram und Kummer. Und bedenke auch, daß Du selbst es bist, der mich
dazu herausgefordert hat, in Betreff dieser Frau, um deren Herzensruhe Du
jetzt so besorgt zu sein scheinst, die Stichhältigkeit Deiner Theorien
meinen Ueberzeugungen gegenüber auf die Probe zu stellen. Entweder --
oder. Ein drittes giebt es nicht. Entweder Deine Anschauungen sind die
richtigen, dann ist ja doch für sie keine Gefahr vorhanden; ihre Treu
erweist sich als echt, meine Ansichten finden Widerlegung. Oder die
letzteren bestätigen sich: dann ist das Unglück auch nicht gar so groß.
Denn die Wahrung einer Treue, die nur ein Werk des Zufalles -- ist wahrlich
von keinem großen Werthe. Uebrigens verspreche ich Dir, daß ich, wenn es
mir nicht gelingt, binnen der drei Tage meiner Anwesenheit hier -- denn in
drei Tagen muß ich wieder zu Hause eintreffen -- von Margarethens holden
Lippen das Geständniß ihrer Liebe zu hören, die Feuerprobe nicht länger
fortsetze und mich vor Dir feierlich als besiegt erkläre. Bist Du nun
zufrieden?«

Ich zögerte nicht, mich einverstanden zu erklären. Theodor's Hoffnungen
für eitle Vermessenheit haltend, glaubte ich, davon überzeugt sein zu
dürfen, daß es dem selbstgefälligen Gecken niemals, zum mindesten aber
nicht binnen einer so kurzen Frist, gelingen werde, Margarethens Herz in
Banden zu schlagen und ihr ein Liebesgeständniß zu entreißen. Ja, ich
freute mich im voraus der heilsamen Lection, welche Theodor's Eitelkeit
zutheil werden, des Widerstandes, der dem »Unwiderstehlichen« doch
endlich entgegengesetzt werden sollte.

Völlig beruhigt schlief ich ein -- um am anderen Tage, als ich die Beiden
wieder beisammen sah, dennoch wieder von neuen Zweifeln gequält zu werden.
Es schien mir, als sähe ich aus den zwischen ihnen verstohlen getauschten
Blicken zarte Fäden sich hin und wieder spinnen, die sich zu einem dichten
Netze verschlangen. Kein Wort wurde, wenigstens in meinem Beisein -- und
ich verließ sie selten -- von ihnen gewechselt, das nicht auch zu jedem
Anderen gesprochen werden könnte, und dennoch glaubte ich aus dem
Klange der Stimme, womit alles gesagt wurde, einen ganz besonderen Ton
herauszuhören, einen Ton, der beileibe nicht derselbe war, als wenn sie
ihre Rede an Andere richteten, und der meine peinvolle Sorge von Stunde
zu Stunde steigerte. Ich versuchte es wohl, mich mit dem Gedanken zu
beruhigen, es sei unmöglich, daß Margarethen an der Seite eines von ihr
geliebten Gatten, der -- in meinen Augen wenigstens -- weit liebenswerthere
Herzens- und Geisteseigenschaften besaß als Theodor, dessen
Verführungskünste sollten gefährlich werden. Dann aber fiel mir wieder
ein, welch große Macht dem Reiz des Wechsels gegeben sei. Es gehört
zu den schmerzlichsten Geheimnissen der Liebe, wie es manchen Menschen
möglich ist, in der Vereinigung mit den ausgezeichnetsten Wesen, welchen
sich ihr Herz in tiefster Neigung erschlossen hatte -- bloß durch den Reiz
der Abwechslung verlockt -- sich wieder einem Anderen zuzuwenden.
Sonst wäre es nicht möglich, daß, wie so viele Beispiele zeigen, die
liebenswürdigsten, edelsten Männer und Frauen oftmals um der schalsten
Persönlichkeiten willen, die den Vergleich mit jenen in keiner Weise
auszuhalten vermögen, betrogen werden.

So von den widersprechendsten Gefühlen hin und her bewegt, bald von
heiterer Zuversicht gehoben, bald gedrückt von quälender Sorge,
verbrachte ich die nächsten beiden Tage in denkbar unbehaglichster
Gemüthsstimmung. Unsere Gastfreunde boten alles auf, um uns Vergnügungen
zu bereiten. Ausflüge zu Fuß und zu Wagen, Kahnfahrten auf dem nahen
Flusse, Pistolenschießen, Musik oder ein Spielchen des Abends, dazu bei
den von heiterster Laune der Theilnehmer gewürzten Mahlzeiten das Beste,
was Küche und Keller zu bieten vermögen -- ein solches Leben hätte das
Gemüth des düstersten Griesgrams aufheitern müssen. Ich aber konnte
nicht froh werden. Auf jedes Wort, jeden Blick, auf jede Miene und Bewegung
Margarethens und Theodor's lauernd, war mir alle Freude verdorben. Am
meisten mußte ich mich über Arthur ärgern. War er denn mit Blindheit
geschlagen, daß er es nicht wahrnahm, mit welch verwegener Unverfrorenheit
Theodor seiner Frau den Hof machte und mit welcher Befriedigung sie es
sich gefallen ließ? So gut wie ich mußte doch auch er es bemerken,
wie Theodor's Hand jene Margarethens drückte, wenn er ihr beim
Scheibenschießen die für sie geladene Pistole reichte; wie sein Arm
ihre Schultern streifte, wenn er die Fröstelnde in den wärmenden Shawl
einhüllte; wie sein Knie das ihrige berührte, wenn er ihr gegenüber
im Wagen saß, und welche Blicke sie tauschten, wenn sie sich unbeachtet
wähnten.

Aber Arthur schien von allem nichts zu sehen. Ja, manchmal däuchte es mir
geradezu, als ob seine stets frohgemuthe Laune um so fröhlicher würde, je
kühner Theodor's seiner Frau dargebrachten Huldigungen sich äußerten.

In völlige Verblüffung versetzte es mich, als unser Wirth am Abend des
zweiten Tages uns mittheilte, daß er eines Brandes wegen, durch den
eine zu seiner Besitzung gehörende Sägemühle zerstört worden, behufs
Besichtigung des Schadens und zu treffender Anordnungen hinsichtlich des
Neubaues, sich am folgenden Morgen an Ort und Stelle begeben und nicht vor
Abend zurückkehren werde.

Das fehlte gerade noch, die Beiden einen ganzen Tag allein zu lassen --
denn meiner unbequemen Nähe würden sie sich, wenn es ihnen so genehm,
wohl zu entziehen wissen.

Ich versuchte es, Arthur zu einem Aufschub seiner geschäftlichen Excursion
zu bestimmen. Ich bat ihn, dieselbe am zweitnächsten Tage anzutreten, an
welchem Theodor und ich nach der Hauptstadt zurückkehren würden. Arthur
meinte aber, daß dies gerade der Grund sei, warum er die Ordnung dieser
Angelegenheit nicht verzögern wolle, denn so lange wir hier seien, wisse
er, daß seine Margarethe sich nicht langweilen würde, und trotz meiner
verschiedensten Einwendungen blieb er bei seinem Entschlusse.

Theodor strahlte und auch in Margarethens Augen blitzte ein
Freudenschimmer, der mich fast rasend machte vor Grimm, und ich
beschloß, meine letzte Karte auszuspielen, um Arthur von seinem Vorhaben
zurückzuhalten.

Nach dem Thee, während Margarethe uns einige Lieder sang, zu welchen
sie Theodor, wie gewöhnlich auf dem Clavier begleitete, brach ich die
Gelegenheit vom Zaune, um meinem Freunde, mit Ausnahme des auf Margarethe
bezüglichen Details, mein ganzes mit Theodor während der Bahnfahrt
geführtes Gespräch zu erzählen. Mit wahrer Wonne verbreitete ich mich
über die eines Don Juan's würdigen Anschauungen des »Unwiderstehlichen«
über Liebe und Treue und entblödete mich nicht, auch seines, wie
er behauptete, aus seinen intimen Erfahrungen geschöpften Wahl- und
Wahrspruches: =Veni, vidi, vici!= Erwähnung zu thun. Wer beschreibt
jedoch meine Fassungslosigkeit, als ich sah, daß auch dieses Mittel nicht
verfing!

Mit ruhigem Lächeln hörte Arthur mir zu, und als ich schwieg, sagte er
ganz unbefangen:

»Ja, ja, ich kenne das. Solche Ansichten sind bei den Männern gang und
gäbe, namentlich bei den Junggesellen.«

Ich war wie vor den Kopf geschlagen und starrte ihn an, als hätte er
plötzlich angefangen, chaldäisch zu sprechen. Auch muß ich in meinem
grenzenlosen Staunen ein etwas dummes Gesicht gemacht haben, denn er lachte
geradezu, als er mich ansah. Ich wurde so erbittert über ihn, daß ich ihm
sicherlich etwas Grobes gesagt hätte, wenn nicht in diesem Augenblicke
ein von Margarethe vorgetragenes Gounod'sches Lied beendigt und sie zu uns
herangetreten wäre, wodurch unser Gespräch abgeschnitten war.

So zwang ich mich denn, gegen Margarethe gewendet, zu ein paar artigen
Floskeln über ihren Gesang -- von dem ich diesmal freilich wenig gehört
hatte -- während ich innerlich Arthur mit Molière apostrophirte: =Tu
l'as voulu, George Dandin!= Am anderen Morgen, als Arthur, seinem Vorhaben
gemäß, fort fuhr, stand Margarethe, so zeitlich früh es auch war, am
Wagen, um ihm Adieu zu sagen. Am offenen Fenster stehend, sah ich, wie sie
sich zärtlich umarmten und küßten und hörte Margarethe sagen:

»Also pünktlich, Arthur, keine Verspätung!«

»Pünktlich, wie eine Sonnenuhr!« rief er zurück, während er lachend in
den Wagen sprang.

Ich aber dachte: »Sei Du nur pünktlich, mein Lieber, so pünktlich
kannst Du doch nicht sein, um Deinem Unheil zuvorzukommen, dem Du kopfüber
entgegen rennst!«

Der Vormittag verging wie die anderen, ohne daß etwas Besonderes vorfiel.
Nur glaubte ich an Theodor sowohl wie an Margarethe eine gewisse nervöse
Unruhe zu bemerken, als ob sie irgend etwas mit Spannung erwarteten.

Bei Tische -- das Dessert war eben aufgetragen worden -- griff Theodor nach
seinem mit edlem Wein gefüllten Glase und es emporhaltend, sprach er zu
Margarethe gewendet:

»Es verstößt zwar gegen die gute Lebensart, sich selbst zum
Hauptgegenstande des Gespräches zu machen. Dennoch kann ich es mir nicht
versagen, zu bemerken, daß ich heute mein Geburtsfest feiere. Gestatten
Sie mir, gnädige Frau, mein Glas auf Ihr Wohl zu leeren, indem ich Ihrer
Güte und Ihrer liebenswürdigen Einladung, in Ihrem Hause zu weilen, es
danke, daß der heutige sich zu dem schönsten und reizvollsten Geburtstag
meines Lebens gestaltet.«

Margarethe schlug sich in die Hände.

»Ihr Geburtstag ist heute!« rief sie heiter. »Das trifft sich ja
köstlich! Schade, daß Sie es nicht früher gesagt, dann hätten wir
ein kleines Fest veranstaltet. Never mind, noch ist es ja nicht zu spät
dazu.«

Ein schelmisches Lächeln flog über ihr Gesicht. Sie erhob ihr Glas und
die Becher klangen aneinander.

Mich aber faßte es wie ein Taumel. Indem ich mit dem Rande meines Glases
dasjenige Margarethens berührte, rief ich lustig:

»Evviva, Theodor! Ein Hoch dem Unwiderstehlichen und seiner Siegesbahn!«

Theodor blickte mich betroffen an. Margarethe lachte.

»Das gilt nicht,« rief sie. »Darauf stoße ich nicht an.«

»Mein Freund hat sich falsch ausgedrückt,« fiel Theodor ein. »Manche
Spötter geben mir allerdings diesen Namen. Dies beruht jedoch auf einer
Verwechslung der Begriffe. Kein einzelner Mensch ist unwiderstehlich, nur
die siegreiche Allmacht der Liebe ist es. Wollen Sie auf die Macht der
Liebe trinken, gnädige Frau?«

Während Theodor sprach, hatte Margarethe den Blick gesenkt. Jetzt sah sie
wieder auf.

»Es lebe die Liebe!« sagte sie.

Nochmals erklangen die Gläser und Theodor's und Margarethens Blicke
begegneten sich in stummer und doch beredter Sprache.

Nach Tische zog Margarethe sich für kurze Zeit zurück, um, wie sie
mir zuflüsterte, für Theodor's Geburtstag eine kleine Ueberraschung
vorzubereiten.

»Du wolltest mir mit Deinem Toast eine kleine Grube graben,« sagte
Theodor, als Margarethe uns verlassen hatte. »Ich fürchte jedoch, daß
sich wieder einmal das Sprichwort von solchem Gebaren bewähren werde.
Nicht ich werde es sein, der hineinstürzt. Deine Theorien werden mit einem
großen Plumps hineinfallen.«

»Morgen geht die Frist zu Ende,« versetzte ich.

»Allerdings. Aber zweifelst Du wirklich noch daran, daß meine
Anschauungen Recht erhalten werden?«

Ich zuckte mit den Achseln und gab keine Antwort.

Eine halbe Stunde später vereinigten wir uns im kühlen Billardzimmer zu
einer kleinen Partie, denn noch war es zu heiß, um ins Freie zu gehen.
Später sollte eine Kahnfahrt und nach derselben ein Spaziergang in
den Wald unternommen werden. Margarethe wollte uns zu dem an ihrem
Lieblingsplätzchen erbauten Pavillon führen, den sie uns noch nicht
gezeigt hatte.

Alles verlief ganz programmgemäß. Aber während ich ruderte, bemerkte ich
wiederholt, wie Theodor, der am Steuer saß, mit Margarethen leise
Worte tauschte. Auch schien es mir, daß sich die von mir schon früher
wahrgenommene erregte Spannung ihres Wesens sichtlich steigerte.

Schon neigte sich die Sonne ihrem Untergange zu, ihre schräg auffallenden
Strahlen glitzerten und glänzten auf den Wellen wie flüssiges Gold. Die
Abendkühle senkte sich erfrischend hernieder.

An einer buchtähnlichen Biegung des Flusses, an dessen Ufer eine Bank
stand, landeten wir, um von dort aus den Weg durch den Forst nach
dem Pavillon einzuschlagen. Wir hatten jedoch erst einige Schritte
zurückgelegt, als Margarethe erklärte, vorher noch nach Hause gehen zu
wollen, um sich einen Shawl zu holen. Der Abend sei plötzlich so kühl
geworden.

Theodor meinte jedoch, wir sollten vorangehen, er würde nach Hause eilen,
um das Gewünschte zu bringen.

Er setzte sich in Schnellschritt -- doch nur, um nach zwei Minuten einen
kleinen Schrei auszustoßen und, indem er hinkend zu uns zurückkehrte, die
Erklärung abzugeben, er sei gestrauchelt, habe sich den Fuß verletzt und
bäte daher mich, die Mission zu übernehmen, da er unmöglich so rasch
zu gehen vermöchte. Sie Beide würden hier auf der Bank meine Rückkehr
abwarten.

Ich verstand -- und vermochte es nicht, ein spöttisches Lächeln zu
unterdrücken. Fragend blickte ich auf Margarethe, doch als sie mit
freundlicher Bitte sich Theodor's Anordnung anschloß, sah ich, daß es ihr
Wunsch sei, daß ich sie verlasse, und begab mich auf den Weg.

»Das also haben sie mitsammen abgekartet, als ich sie flüstern sah,«
dachte ich, während ich beinahe laufend dem Hause zustürmte. Dort ließ
ich mir von einem Diener irgend einen Shawl Margarethens geben und kehrte
wieder zurück. Etwa zwanzig Minuten mochten verflossen sein, so war ich
wieder zur Stelle. Doch die Bank war leer. Weder von Margarethe noch von
Theodor eine Spur.

Ich rief, aber keine Antwort tönte zurück.

Da lachte ich laut auf -- doch that mir dieses Lachen so wehe, als ob ich
weinte.

Dann überlegte ich, was ich thun sollte. Hier warten? -- Wozu! Hierher
kamen sie gewiß nicht mehr. Nach Hause zurückkehren, allein? -- Damit
riskirte ich, Margarethe zu compromittiren, deren Escapade mit Theodor
dadurch bekannt wurde. Den Beiden auf dem Wege nach dem Pavillon folgen? --
Das war unmöglich, denn ich kannte den Weg nicht, der eine Steinwurfweite
von der Bank entfernt sich in drei verschiedenen Richtungen nach dem Walde
hin trennte. Also was thun --?

Plötzlich schoß mit ein Gedanke durch den Kopf. Spornstreichs eilte ich
wieder zur Villa zurück und rief Pluto heran, Margarethens prächtige
dänische Dogge, deren specielle Freundschaft ich mir bereits erworben
hatte und die mir ohne Widerstreben folgte. Zum viertenmale legte ich,
jetzt von Pluto begleitet, den Weg zur Bank am Flußufer zurück. Dort
angelangt, rief ich dem Hunde zu:

»Such' die Frau, such' Deine Herrin, Pluto! Such', such'!« und ich hielt
ihm Margarethens Tuch an die Nase, auf daß er besser verstehe, wen er
suchen sollte. Und das kluge, schöne Thier verstand mich vortrefflich.

Erst hob es den Kopf empor und schnupperte in die Lüfte, dann den Weg
entlang. Und ein leises, kurzes Gebell anschlagend, sprang es in weiten
Sätzen auf einem der sich kreuzenden Fußpfade dem Walde zu.

»Langsam, Pluto, langsam!« rief ich ihm zu, da ich ihm kaum zu folgen
vermochte.

Der Hund mäßigte seinen Lauf und nun ging es, von ihm geleitet, in den
Wald hinein.

Es dämmerte bereits und im Forste lag schon tiefes Dunkel. Mit den Füßen
über Wurzeln stolpernd, mit dem Kopfe an Bäume stoßend, das Gesicht
gepeitscht von den niederhängenden Zweigen, folgte ich im Laufschritte
meinem wackeren Führer.

Plötzlich sah ich eine Lichtung vor mir und in demselben Augenblicke
hörte ich Pluto, der mir in den letzten Minuten vorangeeilt war, laut und
freudig aufbellen. Dann ließ sich Margarethens Stimme vernehmen:

»Pluto, Du hier! Wie kommst Du hierher, mein Braver?«

Und darauf Theodor:

»Er wird aus dem Garten entkommen und Ihrer Spur gefolgt sein.«

Da waren sie also! -- Tief aufathmend blieb ich stehen. In diesem Zustande,
athemlos, keines Wortes mächtig, mit zerzaustem Haar, die Kleider in
Unordnung vom wilden Lauf, konnte ich unmöglich vor die Beiden hintreten.
Was würden sie von mir denken! Auch mußte ich mich erst besinnen, was ich
ihnen zur Erklärung meiner seltsamen Parforcejagd sagen wollte.

Behutsam, um meine Nähe durch kein Geräusch zu verrathen, drang ich bis
an den Saum des Waldes vor. Nur der dämmernde Lichtschein, der von dort in
das Dickicht fiel, leitete mich jetzt. Denn die Stimmen der Gesuchten waren
verstummt. Am Rande der Lichtung, vom tiefen Schatten der Bäume gedeckt,
hielt ich nochmals inne. Und jetzt erblickte ich die Beiden.

Inmitten der kleinen Waldwiese, nahe dem im Stile eines
Miniaturschweizerhäuschens gebauten Pavillon, stand Margarethe, das Haupt
zu Theodor herabgeneigt, der vor ihr auf den Knien lag --

Und mit bebender Stimme sprach er:

»Zürne mir nicht, Margarethe, daß ich es wage, Dir das Geheimniß meines
Herzens zu entdecken. Ich liebe Dich, liebe Dich unsäglich!«

Margarethe trat einen Schritt zurück.

»Wie unvorsichtig!« flüsterte sie hastig. »Wissen Sie denn nicht, daß
nicht nur Wände, zuweilen auch die Bäume Ohren haben? -- So stehen Sie
doch auf!«

Theodor erhob sich. Und die Hand nach dem Pavillon ausstreckend, bat er:

»Margarethe --?!«

Die Thür öffnete sich und Beide verschwanden im Inneren des Häuschens.

In einer Secunde stürmte blitzartig eine Fluth von Gedanken und Gefühlen
durch mein Inneres.

Ein Schmerz durchzuckte mich, wie er heftiger nicht hätte sein können,
wäre ich Margarethens Gatte oder Bruder gewesen. Einen Augenblick fühlte
ich mich versucht, ihnen nachzustürzen und Theodor zu Boden zu schlagen.
Aber hatte ich etwa ein Recht dazu? Wahrlich nicht! Dann ergriff mich
Scham, als ob ich es wäre, der einen Frevel begangen, und eine wilde
Qual, meinen Glauben an Tugend, an die Unwandelbarkeit treuer Liebe so
schmählich und auf so lächerliche Weise zerstört zu sehen. Und
alle diese Gedanken und Empfindungen waren in wenigen Augenblicken
zusammengedrängt, denn als ich mich wieder zusammenraffte, fiel hinter den
Beiden erst die Thür ins Schloß.

Doch was war dies? -- In dem Häuschen blitzte plötzlich ein Lichtschein
auf und ein schwacher Schrei ertönte.

Ich schritt vorwärts, und durch ein Fenster in den Pavillon spähend, bot
sich mir der überraschendste Anblick.

In der mir gegenüber liegenden Fensteröffnung las ich die durch ein
glänzendes Transparent gebildeten Worte:

»=Veni, vidi -- non vici.=«

Und nun wurde es hell im Pavillon. Unter Margarethens Händen flammte eine
Lampe auf. Und ich sah auf einem Tischchen allerlei kostbare Gegenstände
zierlich geordnet: einen eleganten Briefbeschwerer, eine prachtvolle
türkische Pfeife, ein Cigarrenetui und noch manches andere, dessen ich
mich nicht mehr entsinne.

Neben dem Tischchen aber stand Margarethe -- an Arthur's Schulter gelehnt
und Beide blickten lächelnd auf Theodor, der starr wie eine Bildsäule an
der Thür stand.

Jetzt trat Margarethe auf ihn zu.

»Hab' ich mein Wort gehalten?« fragte sie. »Ich sagte doch, Ihr
Geburtstag treffe sich köstlich. Schade, daß unser Freund, den wir
so schmählich im Stiche gelassen, nicht anwesend ist, sich auch an der
Ueberraschung zu laben.«

»Ihr Wunsch ist erfüllt, gnädige Frau,« fiel ich ein, lachend durch
die Thür tretend. »Freund Pluto hat mich hierher geführt.« Und gegen
Theodor gewendet, flüsterte ich: »Wer zuletzt lacht --«

Theodor hatte endlich seine Fassung wieder gewonnen und mit der Gewandtheit
des Weltmannes gute Miene zum bösen Spiele machend, dankte er mit
erzwungener Heiterkeit für die allerliebsten Geburtstagsgeschenke und --
leise zu Margarethe -- für die heilsame Lehre.

Ob diese Radicalcur ihn von dem Wahne seiner Unwiderstehlichkeit und von
jenem, daß es keine echte Treue gebe, gründlich geheilt hat? -- Ich
weiß es nicht. Mir gegenüber vermeidet er es ängstlich, auf dieses Thema
zurückzukommen.



Schwer geprüft.


Der Wanderer, der von dem in den südwestlichen Ausläufern der Allgäuer
Alpen, inmitten eines üppigen Tannen- und Eichenwaldes malerisch gelegenen
und durch seine heilkräftigen Mineralquellen auch als Curort bekannten
Weiler Adelholzen gegen das etwa eine halbe deutsche Meile davon entfernte,
knapp an die östlichen Ufer des freundlichen Chiemsees geschmiegte
Dörfchen Uebersee hinabsteigt, kommt, wo der Weg aus dem Walde hervortritt
und sich tiefer gegen die Thalebene senkt, an einem massiven Eisengitter
vorüber, das einen schattigen Garten gegen die daran vorbeiführende
Bergstraße abschließt. Wer in der Schwüle eines heißen Sommertages
hier vorüberschreitet, mag wohl einen Augenblick stillstehen, um durch die
Eisenstäbe des Gitters einen begehrlichen Blick auf dieses reizende Heim
zu werfen, welches das zwischen dem dunklen Grün der Bäume und über
den bunten Flor eines mächtigen, den ganzen Vorplatz des Gebäudes
einnehmenden Rosenrondeaus hell und heiter hervorblickende Landhaus seinen
Bewohnern bieten mag.

Auch heute sandte die Augustsonne ihre gluttragenden Strahlen versengend
heiß von dem wolkenlosen, durchsichtig klaren Himmel in das Thal
hernieder. Aber hier, in dem an breitästigen dichtbelaubten Bäumen
reichen Garten, in welchem aus dem unmittelbar angrenzenden Nadelholzwalde
die Luft frisch und würzig herabstrich, war die unten im Thalkessel
drückende Hitze wohlthuend gemildert.

Die Besitzer des anmuthigen Landhauses, Doctor Richard Wilnau -- den man,
seit eine Krankheit ihn des Augenlichtes beraubt, in der ganzen Umgegend
nicht anders als schlechtweg den »blinden Doctor« nannte -- und seine
junge, hübsche Gattin, in der Oeffentlichkeit durch ihre vortrefflichen
Gemälde, im Kreise der Näherstehenden aber auch durch ihre hohe
Geistesbildung und persönliche Liebenswürdigkeit bekannt, befanden sich
plaudernd auf der kühlen Veranda.

Die junge Frau hatte soeben die Lectüre der Tagesblätter beendet, die
sie nach eingenommenem Mittagsmahle dem Doctor täglich vorzulesen pflegte.
Aber im Begriffe, zu ihrer Arbeit wiederkehrend, in ihr Atelier sich zu
begeben, war sie, schon auf der Schwelle, von ihrem Gatten zurückgerufen
worden.

»Unverbesserlich, ganz unverbesserlich,« sagte der Blinde, indem
er, heiter lächelnd, sein Haupt an die Rücklehne des Schaukelstuhles
drückte, in dem er sich behaglich auf und nieder wiegte. »Was wirst Du
mir für eine Strafe dictiren, Malwinchen, wenn ich bekenne -- und beinahe
hätte ich gar nicht mehr daran gedacht -- daß ich Dein strictes Gebot,
zum Mittags- oder Abendtische niemand einzuladen, ohne Dich vorher hiervon
zu verständigen, abermals freventlich übertreten habe?«

»Unerhört!« rief Malwine lachend. »Gestern erst gelobst Du reuig
Besserung -- heute sündigst Du aufs neue. -- Und wer ist es denn, dessen
anziehende Gesellschaft Dich zu so schnödem Wortbruche verführt?«

»Rathe nur!«

»Natürlich, der dicke Major, der sein tausend und erstes Jagdabenteuer
noch nicht oft genug zum Besten gegeben.«

»Fehlgeschossen!«

»Dann ist es der Badearzt, von dem Du Berichte interessanter
Krankheitsfälle erwartest.«

»Keineswegs!«

»Also vielleicht Baronin X., von der Du kürzlich sagtest, daß niemand
Dich zur Violine so gut auf dem Klavier zu accompagniren verstände als
sie?«

»Ebenfalls nicht. Doch ich sehe schon, Du erräthst es ja nicht. Wie
solltest Du auch?«

»Nun denn?«

»Universitätsprofessor -- ja, mein Gott, wie hieß er denn nur gleich?
Professor --«

»Du weißt den Namen desjenigen nicht, den Du eingeladen?« lachte
Malwine.

»Doch, doch, er wird mir gleich in den Sinn kommen. Heute Vormittag,
während Deiner Abwesenheit, wurde ich durch den Besuch dieses Herrn
überrascht, der allerdings nicht so sehr mir, als vielmehr Dir galt. Er
erzählte, er sei ein Jugendfreund Deiner Familie und Schulcollege Deines
verstorbenen Bruders gewesen, aber seit vielen Jahren -- Du warst damals
noch nahezu ein Kind -- habe er Dich nicht gesehen. Jetzt befindet er sich
auf seiner Ferienreise, und da er zufällig von Deinem Aufenthalte
hier gehört, wollte er die Gelegenheit nicht ungenützt lassen, Dich
aufzusuchen. Ja, nun fällt mir auch schon sein Name ein. Halt -- Hellwig
nannte er sich!«

»Hellwig!« wiederholte Malwine, während ihr erbleichendes Antlitz
Schrecken, Freude und Schmerz in raschem Wechsel wiederspiegelte.

Der Doctor plauderte weiter, berichtete, was der Gast von seiner Reise in
diesem schönen Alpengebiete, das er jetzt zum erstenmal betrete, erzählt,
und schilderte, mit welch freudiger Bewunderung er von Malwinens Bildern
gesprochen, die er in mehreren Kunstausstellungen gesehen.

Aber seine Frau hörte von all dem nichts. Der eben vernommene Name
schwirrte ihr im Ohre, so laut, daß er die Stimme ihres blinden Gatten
weit übertönte.

Wenige Stunden später sprang Malwine ungeduldig von ihrem Sitze vor der
Staffelei empor, Pinsel und Palette mißmuthig in eine Ecke schleudernd.
Sie grollte mit sich selbst, denn trotz aller Anstrengung vermochte sie
nicht zu arbeiten. Ihre Hand zitterte, unklar sah ihr Auge und unablässig
irrten ihre Gedanken von dem seiner Vollendung harrenden Gemälde fort,
weit fort nach ihrer Kindheit trautem Heim. Sie sah sich selbst als
glückliches Kind, als aufblühendes Mädchen, dessen übersprudelnder
Frohsinn selbst von des stets kränkelnden Vaters Stirn die trüben
Schatten hinwegzuscherzen wußte. Sie schaute an ihrer Seite die stille,
ernste, unvergeßlich theuere Frau, deren sanfte Hand und wachsames Auge
mit jener treuen Fürsorge, die nur Mutterliebe zu üben im Stande ist,
ihre Erziehung leitete. Sie erinnerte sich ihrer Professoren, besonders
des grämlichen Zeichnenlehrers, der für seine Schüler selten ein
freundliches Wort hatte, für sie aber die sonst stereotype unwirsche Miene
zumeist ablegte, und die eine oder andere ihrer Zeichnungen ihren
Eltern vorweisend, mit geheimnißvollem Lächeln und bedeutungsvollem
Kopfschütteln bemerkte: »In dem Kinde steckt etwas.«

Sie gedachte ihres frühverstorbenen Bruders, und neben ihm tauchte die
Gestalt eines anderen frischen munteren Knaben immer deutlicher in ihrer
Erinnerung auf, des Jugendfreundes, der als Dritter im Bunde alle kleinen
Leiden und Freuden der Geschwister getheilt. Sie hatte ihn einst geliebt.
Mit ahnungsloser, schwesterlicher Neigung zuerst und dann mit der ganzen
Glut des erwachenden Mädchenherzens. Als sie es aber wahrnahm, oder doch
wahrzunehmen glaubte, daß sie seine Gegenliebe nicht besaß, daß er in
ihr nichts sah als die Gefährtin aus der Kindheit, da hatte sie stolz und
trotzig ihre thörichte, hoffungslose Liebe bezwungen, dem rebellischen
Wünschen und Sehnen Schweigen geboten.

So waren Jahre hinüber gegangen. Sie hatte nichts mehr von ihm gehört und
kaum mehr seiner gedacht. Da lernte Doctor Wilnau sie kennen und warb um
ihre Hand. Wohl war es nicht jene tiefe, heiße Leidenschaft, die ihr Herz
zu seinem Herzen zwang, von welcher die Dichter singen und sagen, daß sie
nur einmal entflamme die Menschenseele und dann nie, niemals wieder, aber
sie war dem trefflichen Manne in inniger Freundschaft geneigt, der süße
Zauber des Bewußtseins, geliebt zu sein, that das Uebrige, und so ward
sie seine Frau. Sie hatte es nie bereut. Jetzt aber beschlich sie leise ein
seltsames Gefühl -- sie wußte es selbst nicht gleich zu deuten -- wie ein
heimliches Bedauern, nicht frei zu sein. Sie strich sich mit der Hand über
die Stirn, als wollte sie die Gedanken wegwischen, die da drinnen gegen
ihren Willen sich regten.

Plötzlich aber trat sie an einen Schrank, in dem sie einen Theil ihrer
Arbeiten aufzubewahren pflegte. Sie wählte lange in der Menge der hier
aufgestapelten Skizzen, Studienblätter, Kreide- und Federzeichnungen, bis
sie das Gesuchte fand. Ein freudiges Lächeln glitt über ihr Gesicht, als
sie das Gemälde vor sich auf die Staffelei stellte. Es war ein reizendes
Bild. Kenner, die es gesehen, hatten es einstimmig für eine von Malwinens
besten Arbeiten erklärt. Aber trotz der bedeutenden Summen, die ihr dafür
geboten worden, hatte sie sich nie zu entschließen vermocht, sich von ihm
zu trennen. Es war ja nicht nur ihr bestes, sondern auch ihr liebstes Bild.
Zwei Kinder stellte es vor, einen Knaben und ein Mädchen, die auf weichem
Waldesrasen von ihrer Beschäftigung ausruhend, auf welche das bis an
den Rand mit rothglänzenden Erdbeeren gefüllte Körbchen hinwies, das
zwischen ihnen und der zu ihren Füßen Wache haltenden prächtigen Dogge
stand, eingeschlummert waren. Des Mädchens blondumlockter Kopf war an die
Schulter des kräftigen Jungen gelehnt, während dieser zum Schutze seinen
Arm um dessen Nacken geschlungen hielt.

Lange weilte Malwinens Auge auf dem Bilde. Aber allmählich verdüsterte
sich ihr Blick. Nicht mehr mit träumerischer Wehmuth, sondern mit
feindseligem Trotze starrte sie jetzt auf das Abbild desjenigen, der ihre
Gedanken abermals mit unwiderstehlicher Gewalt gefangen genommen. Sie
zürnte ihm. Warum kam er, den schwer errungenen Frieden ihres Herzens zu
stören? Hatte sie nicht genug durch und um ihn schon gelitten? Wer gab
ihm das Recht, sich bei ihr einzudrängen und übermüthig die heißen,
qualvollen Kämpfe ihrer Seele zu erneuern? Nein, das wollte sie nicht
dulden! Sie wollte ihn nicht wiedersehen!

Rasch entschlossen, trat sie an den Glockenzug, um durch die herbeigerufene
Dienerin ihren Gatten bitten zu lassen, den heute zu erwartenden Gast
allein zu unterhalten, da sie in Folge plötzlichen Unwohlseins gezwungen,
sich zur Ruhe zu begeben, an der Gesellschaft nicht theilnehmen könne.

Aber als sie die Hand ausstreckte, um die Klingelschnur zu ziehen, ward an
die Thür geklopft, und im nächsten Augenblicke stand Hellwig vor Malwinen
-- nicht als der frohsinnsprühende, kecke Junge, der Gefährte ihrer
Kindheit, nicht als großaufgeschossener, schlanker Jüngling, das Herz
voll Jugendlust, den Kopf voll hochfliegender Pläne, das Ideal ihrer
ersten Liebe, sondern in der Vollkraft reifer, aber frischer, ungebrochener
Männlichkeit. Wohl hatte die Zeit in die breite, gewölbte Stirn zwei
tiefe Furchen eingeschnitten, die von schwerer Gedankenarbeit oder auch von
erlittenem Gram erzählten, und der mächtige, dichte Vollbart kam Malwinen
ungemein fremd vor; aber als das seelenvolle, tiefblaue Auge mit seinem
warmen Strahl ihr Auge traf, da erkannte sie ihn wieder, den wohlbekannten
Blick des Freundes. Und so sonderbar ist das Menschengemüth! Während sie
vor wenig Augenblicken noch fest entschlossen war Alfred nicht zu sehen,
freute sie sich jetzt von ganzem Herzen seines Wiedersehens. Auch die bange
Beklommenheit, die sie bei seinem unerwarteten Eintreten ergriffen hatte,
wich allmählich vor dem kameradschaftlich treuherzigen Tone, den der
einstige Spielgenosse in altgewohnter Weise anschlug.

Er wußte so anmuthig zu plaudern. Zuerst berichtete er von den Reisen, die
er nach Vollendung seiner Universitätsstudien unternommen, in lebhafter,
fesselnder Darstellung die Eindrücke schildernd, die das Gesehene und
Erlebte auf ihn geübt. Dann erzählte er, von welch hoher Freude er
erfüllt ward, als er von den Erfolgen hörte, die Malwine auf ihrer
künstlerischen Laufbahn erntete. Und schließlich kehrte er zu ihrer
Kinderzeit zurück, der Jugendfreundin tausend kleine, gemeinschaftlich
durchgemachte Erlebnisse ins Gedächtniß rufend, die ihnen damals als
große, wichtige Abenteuer erschienen waren.

Ob sie sich noch erinnere, fragte er sie, wie sie einst im Walde, von einem
heftigen Gewitter überrascht, in einer auf der an den Wald grenzenden
Wiese zur Aufbewahrung des Heues errichteten Bretterhütte Schutz gesucht,
und in Folge der überstandenen Angst und der Ermüdung des raschen Laufes
und wohl auch vom starken Duft des frischen Heues betäubt, in so
tiefen Schlaf gesunken waren, daß sie den Abend und die ganze Nacht
ununterbrochen schliefen, bis sie am anderen Morgen ein sich mächtig
regender Appetit erweckte, worauf sie sich etwas kleinlaut und bange
vor dem Schelten der beunruhigten Eltern, die sie mit Angst und Sorge
vergeblich gesucht, nach Hause schlichen?

Und ob Malwine daran noch denke, wie sie einmal auf einer ihrer häufigen
Excursionen nach der auf einem nahen Hügel gelegenen Burgruine, mit
einer Laterne versehen, in den unterirdischen Gängen und Gewölben des
Ritterschlosses herumstöberten, fest überzeugt, daß sie entweder einen
verborgenen Schatz, oder aber das Knochengerippe irgend eines in dem
Verließe verschmachteten Gefangenen entdecken müßten?

»Ah,« rief Alfred lachend, »ich that damals gar muthig und verwegen,
ich versichere Dich aber, als uns das Licht in der Laterne plötzlich
verlöschte und wir rathlos in dem finsteren, von dumpfem Modergeruch
erfüllten Kellerraum standen, da war mir ganz abscheulich grausig zu
Muthe, und hätte nicht der Gedanke, daß Furcht für einen Mann eine
Schande sei, mir Kraft gegeben, so hätte ich sicherlich vor Angst
geweint.«

Und so plauderte er weiter, an dieses und jenes Begebniß aus ihrer
Jugendzeit erinnernd, nach dem einen oder anderen Bekannten jener Epoche
sich erkundigend, und dazwischen verflocht er die Erzählung späterer
Ereignisse.

Malwine hörte ihm schweigend zu. Selten unterbrach sie seine Rede durch
eine Frage oder durch eine eingestreute Bemerkung. Ihr war es, als sei die
sie umgebende Wirklichkeit, alles, was sie sah und hörte, nicht Wahrheit,
sondern ein Traumgebilde. Und im Traume sah sie sich ins Elternhaus
zurückversetzt -- als Mädchen -- und Alfred, den zu lieben sie nie
aufgehört, sei heimgekehrt, um -- sie dachte den Gedanken nicht zu Ende.

Allmählich veränderte Alfred sein Gesprächsthema. Von seinen eigenen
Erlebnissen ging er auf jene Malwinens über, sprach von ihren Gemälden,
dann von ihren Eltern, von ihrem Gatten und von dem schweren Unglücke,
das durch dessen Erblindung ihn und sie getroffen, augenscheinlich bemüht,
Malwine zu Mittheilungen über sie selbst und ihr Leben zu veranlassen.
Aber ihre Antworten waren kurz und ausweichend, und so war er genöthigt,
die Unterhaltung selbst weiterzuführen.

Plötzlich unterbrach er sich. Sein über das scheinbare Chaos von
Gemälden, Sculpturwerken, Alterthümern, Decorationsstücken und den
sonstigen unzählbaren im Atelier zerstreuten verschiedenen Gegenständen
schweifender Blick war auf das Bild mit den beiden Kindern gefallen, und
mit einem Ausrufe lebhafter Ueberraschung war er aufgesprungen, um es
näher zu betrachten.

»So hattest Du des wilden Jungen doch nicht gänzlich vergessen,« sagte
er dann. »Dieses Bild giebt Zeugniß, daß Du manchmal seiner gedacht.«

Ein feines Incarnat überzog Malwinens Wangen.

»Wer würde seiner Kindheit vergessen,« entgegnete sie, »zumal wenn
dieselbe eine glückliche war?«

Alfred antwortete nicht. Er war an das offene Fenster getreten, von welchem
aus sich ein herrlicher Fernblick darbot über das weite Thal, den stillen
See mit seinem stolzen Königsschlosse und den himmelanstrebenden Bergen
im Hintergrunde. Die sinkende Sonne sendete ihren letzten Strahlengruß und
die pittoresken Formen der blaugrünen Gebirge zeichneten sich scharfkantig
auf dem in leuchtenden Farbentönen von dunklem Violett bis hellem
Rosa erglühenden Firmamente ab. Munter und behende glitt ein kleines
Dampfschiff über den See, und die sich hinter demselben hinziehende
Wasserfurche glitzerte und glänzte wie flüssiges Gold. Ein sanfter
Lufthauch strich durch die Blätter der Bäume, wiegte die Spitzen der
schlanken, grünen Grashalme und die Kelche der Blumen und tändelte
mit dem Strahle des Springbrunnens im Garten. Aus dem Zimmer des Blinden
klangen leise, wie aus ferner Welt, weiche, innige Geigentöne.

»Malwine,« unterbrach Alfred plötzlich das eingetretene Schweigen, indem
er mit fast brüsker Raschheit sich vom Fenster weg zu ihr wendete, »Du
weißt die eigentliche Ursache meines Hierherkommens noch nicht.«

Erstaunt und fragend blickte Malwine in das heftig erregte Antlitz des
Freundes.

»Die eigentliche Ursache Deines Kommens --?«

»Ja, die weißt Du noch nicht,« wiederholte Alfred. »Ich bin gekommen,
Dich zu fragen, ob Du glücklich bist? Ob Deine Ehe eine glückliche ist,
ob Dein Gatte nicht nur Deine Hand, sondern auch Dein Herz besitzt?«

»Und ich,« erwiderte Malwine kalt, »muß Deine Frage mit einer
Gegenfrage beantworten, wer Dir das Recht giebt, derartige Erklärungen von
mir zu fordern?«

»Wer mir das Recht giebt?« stieß Alfred mit gepreßter Stimme hervor.
»Meine Liebe giebt mir das Recht hierzu. Ja, Malwine, ich liebe Dich,
ich habe Dich immer geliebt. Aber als kindischer Junge an Deiner Seite
hinlebend, da wußte ich es selbst nicht, daß meine Liebe eine tiefere,
mächtigere sei als die brüderliche Zuneigung zur Jugendfreundin. Als
ich fern von Dir weilte in weitem, fremdem Lande, da wurde es mir freilich
klar, daß ich Dich liebte mit der ganzen Kraft meines Herzens, aber
brieflich um Dich werben, Dir brieflich das Geständniß ablegen, das
wollte ich nicht. Du solltest frei sein, die Jahre unserer Trennung, so
dachte ich, würden auch Dich die Klarheit über Dich selbst gewinnen
lassen, ob Du in mir nur den Kameraden sahst, oder ob Du mich so liebtest,
wie mir manchmal die sinnbethörende Hoffnung meines Herzens vorspiegelte.
-- Heimgekehrt, erfuhr ich, Du seiest verlobt. -- Ich habe in diesen Jahren
redlich mit mir gerungen, Malwine, ich hab' es versucht, meine Neigung zu
bekämpfen, Dich zu vergessen. Ich kann es nicht. Ein Dämon des
Zweifels flüstert mir unablässig zu, daß Du vielleicht mir doch nicht
unwiederbringlich verloren seiest, daß Du diese Ehe vielleicht ohne
Liebe eingegangen, daß nicht Doctor Wilnau es ist, der Dein Herz besitzt,
sondern --«

»Halt ein!« rief Malwine, deren Wangen Todesblässe überdeckte.

Aber Alfred gehorchte nicht.

»Nein, erst soll mir Gewißheit werden,« fuhr er fort, indem er ihre
beiden Hände erfaßte und gegen sich hinzog. »Sprich nur das eine Wort,
sprich es aus, Malwine, ob Du ihn liebst! Wenn es so ist, wenn es ihm
gelungen, Dein Herz zu gewinnen und Dich zu beglücken, ich schwöre es
Dir, dann will ich schweigend dieses Haus verlassen und Du sollst niemals
wieder von mir hören. Wenn aber Deine Ehe ein Irrthum war, wenn sie Dir
das Glück nicht bietet, das Du von ihr erhofft, wenn Du mich liebst
-- dann, o dann wird keine Macht der Erde Dich in diesen Fesseln
zurückhalten, ich werde sie zu sprengen wissen und vor Gott und der Welt
wirst Du mein Weib werden!«

Malwine schwieg. Sie hatte die Augen geschlossen und ihr Athem drang schwer
und zitternd aus ihrer hochwogenden Brust.

Tief und tiefer beugte sich Alfred's Angesicht auf ihr Haupt hernieder.
Seine Lippen berührten die ihrigen, und ihm ward die Gewißheit, nach der
er sich gesehnt --

Ein heller Glockenton weckte die Beiden aus der seligen Trunkenheit des
ersten Kusses der Liebe. Es war das Zeichen zum Abendtisch.

Auf der Veranda fanden sie Gesellschaft. Einige Herren aus der Umgebung
waren zum Besuche des Doctors eingetroffen und der gastfreundliche Hausherr
hatte sie zum Abendbrot gebeten. Malwine war froh, nicht mit Richard und
Alfred allein zu sein. Die Rolle, die sie jetzt zwischen beiden Männern
hätte spielen müssen, wäre ihr als Lüge erschienen, und ihrer geraden,
offenen Natur war Lüge unerträglich. Die Gegenwart der Fremden enthob
sie des trügerischen Spieles, indem sie allen Anwesenden die gleiche
freundliche Aufmerksamkeit schenkte. Aber während sie über des einen mehr
oder weniger geistreichem Wortspiele höflich lächelte, von einem Anderen
sich den Unterschied zwischen der englischen und russischen Art der
Bereitung des Thees erklären ließ, oder mit einem dritten über die
realistische Richtung in der dichtenden und bildenden Kunst discutirte, war
ihr Gedanke doch nur bei dem, der ihr gegenüber saß, aus dessen Auge ihr
unermeßliche Liebe und unermeßliche Freude entgegenleuchtete, und bei
ihrer nächsten Zukunft, die ihr ein neues, bis jetzt noch nicht gekanntes
Glück bringen sollte.

Die Abendstunden gingen vorüber und die Gäste kehrten heim. Mit einem
flüchtigen »Schlafe wohl!« und einem raschen Händedruck verabschiedete
Malwine sich von ihrem Gatten, um sich in ihr Schlafzimmer zurückzuziehen.
Sie bedurfte der Einsamkeit, um über das Geschehene und noch zu
Geschehende nachzudenken, sich auf sich selbst zu besinnen. Denn alles war
ja so plötzlich, so unvorbereitet über sie hereingebrochen.

»Morgen komme ich wieder, um mit Dir alles Nöthige zu besprechen,« hatte
Alfred ihr beim Weggehen zugeflüstert.

Ja morgen, morgen!

Verwundert schaute Malwine um sich, als sie die Thür zu ihrem neben dem
Schlafzimmer gelegenen Boudoir öffnete. Ein starker, süß betäubender
Wohlgeruch drang ihr entgegen. Und nun erblickte sie einen mächtigen
Heliotropenstrauß -- ihre Lieblingsblumen -- und vor demselben ein
kleines Etui aus dunklem Leder. Es enthielt einen goldenen Armreif, dessen
Innenseite das Datum zweier Tage trug, des morgigen und desselben Tages vor
fünf Jahren.

Was sollte all dies bedeuten?

Ach, jetzt fiel es ihr ein. Morgen war der fünfte Jahrestag ihrer
Vermählung. Und diese Geschenke kamen von Richard, der ihr damit ein
Zeichen geben wollte, daß er dieses Tages mit Freude gedenke.

»Richard, Richard!« stammelte sie, und einer mächtigen Sturmfluth gleich
überwältigte sie die Erinnerung an den, dessen Frau sie war, der sie
liebte und dessen sie, im heißen Drange ihrer eigenen wieder erwachten und
jetzt erwiderten Liebe, nimmer gedachte.

Mit einem halb unterdrückten Wehruf sank Malwine auf die Kissen des Divans
und preßte die Hände vor ihr zuckendes Gesicht. Ihr Denken drehte sich
wirr im Kreise und ein wilder, brennender Schmerz umschnürte wie mit
eisernen Klammern ihre Brust.

Doch allmählich glätteten sich die Wogen ihrer vom Grunde aufgewühlten
Seele und ihr Geist gewann die Klarheit wieder, welche die aufgewiegelte
Leidenschaft auf Augenblicke zu trüben vermocht. Sie überdachte die fünf
Jahre ihrer Ehe, fünf Jahre der treuesten, innigsten Liebe ihres Mannes.
Sie gedachte jenes entsetzlichen Tages, als seine dauernde, unheilbare
Erblindung zur unzweifelhaften Gewißheit geworden. Sie selbst war die,
wenn auch schuldlose Ursache dieses Unglückes. Als sie an schwerer und
ansteckender Krankheit daniedergelegen, war Richard, als ihr Arzt
und Pfleger, nicht von ihrem Lager gewichen. So hatte er das Gift der
mörderischen Krankheit eingesogen. Malwine genas -- er erblindete. Und
als er ihr Schluchzen hörte, das sie, von heißem Mitleid ergriffen, nicht
zurückzudrängen vermochte, da versuchte er es, sie zu trösten.

»Weine nicht!« sprach er, »denn ich bin nicht bedauernswerth. Ich fühle
mich unvergleichlich glücklicher -- wenn auch blind -- an Deiner Seite,
als mit gesunden, sehenden Augen ohne Dich.«

Und von diesem Manne, dessen einziges Glück in der düsteren Nacht seines
Lebens sie war, sollte sie sich abwenden? Dieses Herz sollte sie von sich
stoßen, das warm und liebend nur für sie schlug? O, sie wußte es wohl,
wenn sie es ihm sagte, daß ein Anderer ihre Liebe besitze, er würde der
Trennung ihrer Ehe und ihrer Verbindung mit dem, den sie liebte, nicht
entgegen treten. Er war zu groß und edel, um ein Wesen mit Gewalt an sich
gekettet zu halten, das nicht in freier Wahl und Neigung sein eigen war.
Aber konnte sie es denn? Vermochte sie es, auf den Trümmern des durch ihre
Hand vernichteten Lebensglückes der großmüthigsten Seele ihr eigenes
selbstsüchtiges Glück zu erbauen?

Schwer und mühsam erhob Malwine sich von ihrem Sitze. Sie trat auf die
Terrasse. »Er schläft,« dachte sie. »Kein Traumgott flüstert es ihm
zu, daß ich hier stehe, eines Anderen gedenkend; daß ich, seine Frau,
die Hand erhoben, um sein Lebensglück zu zerstören. Schlummere ruhig, Du
Guter, Edler, möge auch mein eigenes Herz darüber brechen, Deine Liebe
werde ich nicht verrathen --!«

Da tönten leise, wie eine Antwort auf ihrer Seele Ruf, süße Klänge
durch die stille Nacht. Richard stand am offenen Fenster und spielte. Er
spielte für sie, spielte ihr liebstes Lied.

Plötzlich legte sich ein weicher Arm um seinen Nacken und ein treues Haupt
an seine Brust. Er ließ die Geige sinken und drückte einen Kuß auf das
lockige Haar. Ein heißer Tropfen fiel auf seine Hand.

»Du weinst, Geliebte?«

»O lasse mich weinen, Richard! Sollte ich ungerührt bleiben ob Deiner
unendlichen Güte, Deiner unendlichen Liebe?«

Lächelnd zog Richard seine Frau fester an sich.

»Du weinst, weil ich Dich liebe! Ich aber weine nicht, ich bin so
glücklich, und doch liebst ja Du auch mich?«

»Ich liebe Dich!«

»Und wirst mich ewig lieben?«

»Ewig!«

       *       *       *       *       *

Am anderen Tage um die Mittagsstunde trat Alfred durch das Gitterthor des
Gartens auf die Straße. Malwine hatte ihm für immer Lebewohl gesagt.

Als Pfand ihrer Freundschaft nahm er das Bild der beiden Kinder auf dem
Waldesrasen mit sich. Es hing fortan über seinem Arbeitstische. Und
in schweren Stunden des Kampfes zwischen Pflicht und Neigung, wenn der
ungestüme, leidenschaftliche Drang der Natur recht zu behalten drohte
gegen die leise mahnende Stimme höherer Geisteserkenntniß, da blickte er
zu dem Bilde auf, und im Gedanken an sie, die ihn geliebt und ihre Liebe
der Pflicht geopfert, fand er, gleich ihr, die Kraft zum schwersten Siege,
zum Siege über das eigene Herz!



»Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht --«


Irgendwo las ich einmal vor langer, langer Zeit ein Volkslied. Ich vergaß
es wieder, nur eine Verszeile daraus ist in meiner Erinnerung haften
geblieben:

  »Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht --«

Und diese Zeile summt mir im Kopfe, wenn ich meines jungen Freundes Erwin
gedenke --

Kaum dreijährig hatte er seine Mutter verloren. Und da er auch keine
Geschwister besaß, hängte er sich mit der ganzen Liebesfähigkeit
seines kleinen Kinderherzens an seinen Vater, der ihm der Inbegriff alles
Herrlichen, Guten und Edlen, kurz sein Abgott war. Und mit Recht.
Denn außer diesem Manne gab es wohl kaum einen zweiten, der mit solch
opfervoller Liebe für sein Kind sorgte. Mutter und Geschwister, Erzieher
und Kameraden wußte er ihm zu ersetzen. Außer den Stunden, die den
Knaben in der Schule, den Vater im Amte festhielten, sah man die Beiden
unzertrennlich beisammen. Der Vater repetirte mit dem Jungen dessen
Schulaufgaben, las ihm vor, theilte seine Spiele, nahm ihn auf den
Spaziergängen mit. So schmiegte sich die junge Seele immer inniger an den
väterlichen Freund und Berather an, und nichts spielte sich in des Sohnes
Leben ab, was er dem Vater nicht in kindlicher Hingebung vertraut hätte.

Nur einmal ereignete sich etwas, was er ihm verschwieg.

Eines Tages, als die Schule zu Ende war und das Jungvolk sich lachend und
plaudernd auf den Heimweg begab, trat einer der Knaben plötzlich an Erwin
heran und gab ihm einen Schlag ins Gesicht.

Erwin war über diesen unerwarteten Angriff so überrascht, daß er erst
gar nicht daran dachte, sich zu vertheidigen.

Der Andere aber lachte höhnisch auf und rief: »Das hast Du für Deinen
Vater bekommen, gieb es weiter an ihn, er verdient es!«

Da stürzte sich Erwin, außer sich vor Zorn, Schmerz und Entrüstung auf
den Burschen und bläute ihn so durch, daß dieser, obgleich größer und
stärker als Erwin, sich dessen Schläge, die ihm auf Schulter, Rücken und
Gesicht nur so niederhagelten, nicht erwehren konnte.

»Nimm es zurück, was Du gesagt hast, nimm es zurück. Sonst -- sonst --«
rief er, stammelnd vor Wuth, während seine kleinen Fäuste den Beleidiger
bearbeiteten.

Der Andere versuchte Kopf und Gesicht mit seinen Armen zu decken, aber die
Raserei der Empörung seiner Gefühle verlieh Erwin solche Kraft, daß
sein Gegner, die Nutzlosigkeit jeder Vertheidigung bald einsehend, heulend
schrie: »Hör' auf! Ich will es nicht wieder sagen, gewiß nicht! Hör'
auf, hör' auf!«

Da hielt Erwin in der Züchtigung des Buben inne. Er hob seine Schultasche,
die er, um die Arme frei zu bekommen, von sich geworfen, vom Boden auf, und
ohne sich um den Gemaßregelten, noch auch um die anderen Schulkameraden,
die dem wilden Auftritte theils erschreckt, theils lachend zugeschaut
hatten, weiter zu kümmern, verließ er raschen Schrittes, noch schwer
athmend und mit von der Erregung und Anstrengung gerötheten Wangen und
blitzenden Augen den Kampfplatz.

Er ging nicht gleich nach Hause. Es war ihm beklommen zu Muthe. Er mochte
dem Vater das Erlebte nicht mittheilen, ihm die abscheulichen Worte nicht
wiedererzählen, die der freche Bursche ihm zugeschrien. Nein, das mochte
er nicht. Er hätte, sie nicht über die Lippen gebracht, so sehr schämte
er sich, sie gehört zu haben. Darum mußte er sich erst Zeit gönnen, um
sich zu beruhigen und dem Vater unbefangen gegenüber treten zu können.

Er machte einen weiten Umweg und als er, nothgedrungen, endlich doch seinem
Heim zuschritt, fühlte er es als eine willkommene Erleichterung, von der
ihm die Wohnungsthür aufschließenden alten Dienerin zu hören, daß sein
Vater eben einen Boten mit der Nachricht geschickt habe, Erwin möge
mit dem gewohnten abendlichen Spaziergang nicht auf ihn warten, da er
dienstlich verhindert sei, zur üblichen Stunde nach Hause zu kommen.
Sonst war Erwin solches ihm aufgedrungenes Alleinsein ein unerfreulicher
Zwischenfall, heute empfand er es als eine Wohlthat.

Er setzte sich an seinen Arbeitstisch, und so schwer es ihm anfänglich
auch fiel, seine Gedanken bei seinen Schulaufgaben festzuhalten, gelang es
seinem angestrengten Willen doch, die flüchtigen zu bannen. Allmählich
übte die Arbeit ihre segensreiche Wirkung, sein erregtes Gemüth Ruhe
finden zu lassen, und als der Vater, ihn begrüßend, Abends in sein
Zimmer trat, lag kein Schatten von Verstimmung mehr im klaren Blicke seines
Sohnes.

Die Tage rollten wieder dahin im altgewohnten Geleise. Wohl tauchte hin
und wieder die Erinnerung an den ängstlich verschwiegenen Vorfall mit
peinlicher Lebendigkeit in Erwin's Seele auf, und zuweilen schien es
ihm, als könnte er den Stachel, den er in seinem Herzen zurückgelassen,
ausreißen, wenn er ihn seinem Vater erzählte. Aber so oft der Gedanke an
Mittheilung des Geschehenen näher an ihn herantrat, fühlte er zugleich
das innerliche Unvermögen hierzu -- und so schwieg er und vergaß es
allmählich selbst.

Eine Reihe von Jahren war verflossen, der Knabe zum Jüngling gereift. --
An dem innigen Verhältniß zwischen Vater und Sohn hatte die Zeit aber
nichts geändert, die Beiden schienen unter einem Himmel friedlichen,
wolkenlosen Glückes zu wandeln.

Doch als der Vater einmal von einer mehrwöchentlichen Dienstreise
heimkehrte, fand er Erwin, den linken Arm in der Schlinge tragend.

»Eine Bagatelle -- ein leichter Säbelhieb, in einer Studentenpaukerei
davongetragen -- weiter nichts« -- so beruhigte Erwin den besorgten Vater.
Und auf sein näheres Befragen erzählte er ihm, wie sich aus einem
ganz unbedeutenden Vorfall ein Wortwechsel zwischen ihm und einem seiner
Collegen entwickelt und ein Duell zur Folge gehabt habe.

Es war eine Lüge, was Erwin berichtete -- die erste Lüge seines Lebens.
Die Ursache des Zweikampfes war eine ganz andere als jene, die er dem Vater
erzählte.

Eines Abends, als Erwin im Kaffeehause einer Billardpartie seiner Collegen
zuschaute, hörte er im Laufe eines von zwei in seiner Nähe an einem
Tischchen sitzenden Herren mit leiser Stimme geführten Gespräches den
Namen seines Vaters fallen. Erwin trat unauffällig näher an sie heran und
horchte auf. Der ältere der beiden Herren erzählte dem jüngeren, daß
er um Verleihung der Stelle als Bahnarzt bei der St.'schen
Eisenbahngesellschaft eingekommen sei, nachdem dieselbe durch den Tod eines
gewissen Doctor Berger, der sie zuletzt bekleidet, frei geworden. Er warte
nur auf Herrn K...'s -- dies der Name von Erwin's Vater -- Rückkehr,
dessen Stimme, wie er wisse, bei der Besetzung der Stelle maßgebend
sei, um sich persönlich vorzustellen und ihn um Berücksichtigung
seines Gesuches zu bitten. Seine langjährige und, wie er glaube, nicht
verdienstlose Praxis berechtigte ihn wohl, auf Erlangung der betreffenden
Stelle zu hoffen.

Da lachte der Jüngere, und indem er Erwin mit herausforderndem Blicke
maß, wobei dieser in ihm den ehemaligen Schulkameraden erkannte,
dessen beleidigenden Ueberfall er mit seinen wackeren, kleinen Fäusten
gezüchtigt, sagte er:

»Ihre Verdienste werden Ihnen wenig nützen. Darauf dürfen Sie nicht
hoffen. Auch das Gesuch meines Vaters wurde eben um jenes Doctor Berger
willen, eines ganz unfähigen Arztes, abgewiesen. Wenn Sie reussiren
wollen, geben Sie Herrn K... einige hundert Franken, und Sie werden die
Stelle erhalten.«

Diese Worte waren die Ursache von Erwin's Zweikampf mit dem, der sie
gesprochen, gewesen. Zum zweitenmale hatte er seinen Arm erhoben zur Abwehr
einer Beschimpfung seines Vaters. Doch wie einst als Knabe, schwieg er auch
jetzt als Mann. Wie damals hätte er auch heute die schmachvollen Worte
nicht zu wiederholen vermocht, die der freche Verleumder auszusprechen
gewagt. Wozu auch? Wußte er doch, daß an der Ehrenhaftigkeit seines
Vaters kein Flecken haftete, und lag es doch klar am Tage, daß nur der
Grimm ob der sicherlich berechtigten Zurücksetzung zu Gunsten eines
verdienstvolleren Mannes es war, was den verwegenen Buben gegen ihn und
seinen Vater zu Haß und Verleumdung aufstachelte.

Mit lächelnder Ergebung nahm Erwin die väterlichen Ermahnungen vor einer
Wiederholung ähnlicher, thörichter Schlägereien entgegen und freute
sich im Stillen, daß ihm die Täuschung seines Vaters, die seinem
wahrheitsliebenden Herzen gar nicht leicht fiel, so gut gelungen war.

Die Wunde heilte rasch, und wieder glitt das Leben der Beiden in seiner
altgewohnten, friedlichen Weise dahin. Doch da kam ein Tag, da Erwin am
Krankenlager seines Vaters stand, und ein anderer, da er schluchzend an
seinem frischen Grabe kniete. Und dann kam eine Stunde --

Monate waren seit seines Vaters Hinscheiden verflossen, als Erwin es
endlich über sich gewann, ordnende Hand an dessen hinterlassene Papiere
zu legen. Das heiße Weh seines unersetzlichen Verlustes packte ihn
mit erneuter Gewalt, als er mit zitternden Fingern unter den vergilbten
Blättern wühlte -- sterbende Spuren des erstorbenen Lebens. Briefe,
Zeichnungen, amtliche und Geschäftspapiere glitten durch seine Hand.
Wichtiges wurde zur Seite gelegt, anderes dem Feuer übergeben. Ganze
Stöße lohten bereits leise flüsternd und knisternd im Kamin. Erwin
trennte sich schwer von diesen Blättern. Allein, er hielt es für gut so.
Wußte er denn, wenn auch für ihn der Augenblick kommen würde, der in der
Vernichtung waltenden Naturkraft seinen Tribut zu zahlen? Und kein fremdes
Auge sollte mit kalter Neugier das ihm theuerste Vermächtniß entweihen.
Immer neue und neue Schriftenbündel wanderten in den Kamin, der vom
Papierfeuer rasch erhitzt, milde Wärmeströme in das Gemach ausstrahlte,
in welches vom Garten her durch das halbgeöffnete Fenster kalte Nachtluft
drang.

Es war im Frühling. Das lockende Lächeln sonniger Tage hatte das
schlummernde Leben der Natur wachgeküßt -- um ihr Vertrauen grausam zu
enttäuschen. Ein heftiges Gewitter hatte neuen Schnee auf die nahen Berge
gebracht, und jetzt, als der nächtliche Himmel klar und sternhell über
der blühenden Erde sich wölbte, lauerte der Frost, um den segenspendenden
Thau in lebenmordendes Eis zu verwandeln.

Hier in der stillen Kammer flatterte Blatt um Blatt, von der geliebten,
liebenden Hand beschrieben, in die züngelnden Flammen, um auf dem Hügel
des grauen Aschengrabes den vorangegangenen Brüdern sich zuzugesellen.
Da, Briefe der Mutter, die er nie gekannt, dort von Freunden des Vaters,
dazwischen Rechnungen, Quittungen, geschäftliche Aufzeichnungen. Und hier
ein Notizbuch, ganz von der Hand des Vaters ausgefüllt. Erwin schlägt es
auf und blättert darin. Sein Auge feuchtet sich. Es sind nur Zahlen, die
das Büchlein enthält. Und doch, wie rütteln diese nüchternen, trockenen
Zahlen an seiner Seele, den unermeßlichen Verlust, den sie erlitten, neu
verschärfend! Es enthält die Einnahmen und Auslagen seines Vaters durch
eine lange Reihe von Jahren mit pünktlichster Genauigkeit verzeichnet. Auf
der einen Seite die Einnahmen, sie bleiben sich stetig gleich: die Rente
des winzigen Vermögens und das langsam aufsteigende Gehalt des Vaters.
Auf der gegenüberstehenden Seite die Auslagen: Wohnung, Kost, Kleider --
außer der Bestreitung der gemeinschaftlichen Bedürfnisse größtentheils
Auslagen für ihn, Erwin, sein Schulgeld, Bücher und so weiter. Der
gute Vater, wie wenig hatte er sich gegönnt, um dem Sohne Genügendes zu
bieten!

Schon ist Erwin im Begriffe, das Büchlein zur Seite zu legen. Mit
lässigem Finger schlägt er noch ein Blatt zurück.

Da verfärben sich plötzlich seine Wangen, weit öffnet sich sein Auge,
sein erstarrender Blick heftet sich auf ein kleines Wörtchen. Auf der
Seite der Einnahmen, dicht unter dem Monatsgehalt, steht geschrieben:

»Von Doctor Berger tausend Franken.«

       *       *       *       *       *

Welk und todt senkten die vom nächtlichen Frost gemordeten Blüthen und
Blumen ihre Häupter, als Erwin am nächsten Morgen auf dem Wege nach dem
Amte sein Gärtchen durchschritt. Ohne ihrer zu achten, ging er an ihnen
vorüber.

Die Freunde und Bekannten aber, die ihm begegneten, blickten ihm betroffen
nach. Kaum erkannten sie ihn wieder, so verändert schien er. Er war nicht
krank gewesen -- und doch sah er um viele Jahre gealtert aus --

  »Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht --«



Der kleine Geiger.


In einer mächtigen deutschen Stadt weiß ich ein schönes Haus, in dem ich
manch glückliche Stunde meines Lebens verbracht. Nicht mitten im Gewühle
des Häusermeeres ist es gelegen, sondern außerhalb des Stadtthores, dort,
wo vor etwa dreißig Jahren noch tiefer Wald gestanden. »Garten« wird
dieses von ausgedehnten Plätzen und breiten Straßen durchschnittene
Gebiet nunmehr genannt. Aber nicht in zierlicher Cultur und Kunst blickt es
dem Besucher überall entgegen; an manchen Stellen weist es noch die alte
Pracht und stolze Würde des einstigen Waldes auf.

Jenes, mit der kleinen Geschichte, die ich hier erzählen will, verwebte
Stück des Gartens kann keinen Anspruch darauf erheben, ob seiner
großartigen, landschaftlichen Reize gerühmt zu werden, immerhin aber ist
es von lieblichem, dem Auge wohlthuenden Grün geschmückt, von frischer,
erquickender Luft durchweht und von weniger Menschen heimgesucht als andere
Partien des ausgedehnten Gartens.

An der dieses Terrain durchschlängelnden schmalen Chaussee liegt das Haus,
zu welchem meine Erinnerung mich heute zurückführt. In griechischem Stile
mit feinem Geschmacke erbaut, die Vorderfront dem grünen, luftigen
Haine zugekehrt, durch Umzäunung und schattige Parkanlagen von
den Nachbarhäusern getrennt, erhebt es sich in schmuckloser, edler
Einfachheit.

Im Frühling, wenn die linden Lüfte durch den großen Garten wehen und die
Rosenbäume und Hecken um die Villa ihren entzückenden Duft verbreiten,
dann klingen von allen Ecken des Hauses Gesang und Saitenspiel durch die
weitgeöffneten Fenster. Die schönsten und süßesten Klänge aber tönen,
nicht allen Vorübergehenden vernehmbar, von der Rückseite her, die frei
an einen öden, sandigen Bauplatz stößt.

Wenige dachten daran, ihre Schritte dorthin zu lenken. Nur ein kleiner
Kinderwagen wurde, am weiten Tummelplatze fröhlich spielender Knaben und
Mädchen vorüber, täglich dahingerollt. Das halbwüchsige Mädchen,
das den Wagen leitete, trabte stets wieder von dannen, nachdem es für
denselben ein Plätzchen im Schatten des Hauses gefunden und allerlei
Steinchen, Gräser und Blätter auf das Bettchen im Inneren des Wagens
gelegt hatte.

Das erregte gar sehr meine Neugierde und einmal, als ich wieder um
die Mittagszeit heimwärts schlenderte, ging ich flugs auf das winzige
Wagengebäude los, um einen kecken Blick auf dessen stillen Insassen zu
werfen, der hier täglich für lange Stunden der Einsamkeit anvertraut
wurde. Leise schlich ich mich um die Ecke und schob das grüne Tuch, das
vom Wagendache herabhing, behutsam zur Seite.

Da sah ich auf dem mit großgeblümtem Kattun überzogenen Kissen einen
blonden Knabenkopf liegen, so weiß und bleich, als läge eine Gipsmaske
über dem Gesichtchen. Die Augen waren geschlossen und leiser Athem bewegte
kaum bemerkbar die Wangen und Nasenflügel des kleinen Träumers. Kein
Strahl des warmen, goldigen Sonnenglanzes, in dem die frühlingsfrische
Erde gebadet lag, fiel in die von dem kahlen Sandplatze umgebene Mauerecke,
wo der blasse Knabe in seinem dürftigen Strohwägelchen schlummerte.

Armes Kind! Gern hätte ich Dich wachgeküßt. Aber ach, der Thränenstrom
aus mitleidsvollem Herzen hätte Dir nichts gefruchtet. Du brauchtest
kräftigere Arznei für Deine fahlen Wangen, für Deine so mühsam athmende
Brust -- Du brauchst das Glück.

Ich wollte mich abwenden, um heimzugehen, aber da zog aus offenem Fenster
des Hauses ein sanfter Ton auf weicher Saite in die zitternde, webende
Mittagsluft, schwellte, wuchs und breitete sich und öffnete die müden
Lider des Schläfers. Der Knabe bewegte und bog sich aus dem engen
Wagenraum; beseligtes Staunen malte sich in den feinen Zügen und
aus großen, vertrauenden Kinderaugen blickte er hinaus in das blaue,
sonnendurchleuchtete Aethergewölbe über sich und hinauf zu dem Fenster,
aus dem die süßen Töne quollen. Immer voller und gewaltiger wurde der
Gesang der Saiten, immer strahlender das Auge und bleicher die Wange des
entzückten Lauschers, bis alles verklungen war. Dann sank er ermattet in
die Polster zurück und die farblosen Lippen flüsterten: »So wollt' ich's
können! -- Ach, wenn ich eine Geige hätte!« -- und ich ergrimmte ob
solch hilflosen Wehes der Sehnsucht.

Der Künstler aber -- die Welt nannte ihn damals und nennt ihn noch heute
den »Geigenkönig« -- hörte mir lächelnd zu, als ich ihm von dem Knaben
erzählte, und machte ihm eine kleine Geige zum Geschenk.

Als der Sommer kam, wurde für den Wagen des Kleinen eine andere Ruhestelle
gesucht, abseits vom Hause auf grünem Rasenplatz, im kühlen Schatten
dichtbelaubter Bäume. Aber auch hier schlich ich mich oftmals leise an und
belauschte ihn, wie er seine von ihm unzertrennliche Geige in den zarten
Händen hielt und darauf Töne zu bilden suchte, süße, liebliche Laute,
und ich freute mich, als ich sah, daß die Zufriedenheit des erfüllten
Herzenswunsches und der reichliche Aufenthalt im Freien die früher so
blassen Wangen des Kindes mit rosenfarbenem Anhauch überkleideten.

Doch der Sommer enteilte. Die Rasenteppiche bleichten dem Winter entgegen;
die grünen Wälder färbten sich in gelbe und braune Tinten. Ein
langandauernder Regen fiel, und als sich der Himmel wieder aufheiterte,
brachte die nächste Nacht Reif und Frost. Auf Büschen und Bäumen waren
die vergilbten Blätter von der Nässe zusammengeklebt, und als die
müde Herbstsonne sie allmählich wieder getrocknet hatte, fielen
sie schaarenweise zur Erde, so oft ein Windstoß über sie hinfuhr.
Frostschauernd, ächzend und knarrend schüttelten sich die ihres
Laubgewandes entkleideten Bäume in den rauhen Stürmen.

Und mit dem grünen Laub erbleichten auch wieder die Wangen des armen,
kranken Knaben. Sehnsüchtig blickte er aus der dunklen, feuchten
Portiersstube seiner Eltern ins Freie und gedachte der vielen guten
Stunden, die er draußen, von der warmen Sommerluft umweht, vom dichten
Blätterdach der mächtigen Buchen beschattet, verträumt hatte. Selten,
nur an ganz milden Tagen, wurde er in sein Wägelchen, und später, als der
Winter kam und mit seinem Schnee und Eis den großen Garten überzog, in
den Schlitten gesteckt und unter den buntgeblümten Kissen tief begraben,
für ein halbes Stündchen durch die Straße geführt.

Fast täglich kam der freundliche Arzt zu dem kleinen Patienten, fühlte
ihm den Puls, strich mit sanfter Hand über sein blondes Haargelock und
verordnete dies und jenes als stärkende Nahrung. Und manchmal drückte er
eine Banknote in die zitternde Hand der verkümmerten Mutter, damit es ihr
leichter würde, seine Verordnungen auszuführen.

Des Knaben einzige Freude war sein Geigenspielzeug. Fleißig übte er
Triller und Läufe; immer gewandter leiteten die schlanken Fingerchen den
kleinen Bogen über die Saiten und ein seliges Lächeln glitt über sein
Gesichtchen, wenn es ihm gelang, eine ihm besonders schwierig dünkende
Passage zu seiner Zufriedenheit zu bewältigen.

Sein Lehrmeister aber war kein geringerer als der Geigenkönig selbst, der,
gerührt von der glühenden Sehnsucht nach Musik, die der Funke des Genies
in der Brust des siechen Knaben entzündet hatte, gar manchesmal
verstohlen in die enge, dumpfe Stube trat und dem vor freudigem Entzücken
verstummenden Kinde liebliche Weisen auf seiner Violine vorspielte.

Jeder Tag, an dem solches geschah, war ein Festtag für den Kleinen, der
seine Geige, welcher der Meister so wunderbar herrliche Töne zu entlocken
wußte, wie ein Heiligthum betrachtete und die erlauschten Melodien
schüchtern nachzuspielen versuchte.

Allein weder die Wissenschaft des Arztes, noch die stille Seligkeit des
Kindes, welche ihm die Beschäftigung mit seiner geliebten Musik gewährte,
vermochten es, dem Zerstörungswerke der finsteren Naturgewalten, die an
der Vernichtung dieses jungen Lebens arbeiteten, einen Damm zu setzen.
Immer fahler und eingefallener wurden des Knaben Wangen, breiter die
dunklen Ringe um seine Augen, fleischloser die zarten Glieder, und immer
matter und müder fühlte er sich. Bald wurde ihm selbst das Geigenspiel
zu einer Anstrengung, der seine schwindenden Kräfte nicht mehr gewachsen
waren, und traurig haftete der Blick seiner großen, glanzlosen Augen
auf dem Instrumente, das stumm und verstaubt auf dem Tische neben seinem
Bettchen ruhte.

Da kam die Weihnachtszeit, und voll Glanz und Pracht und froher Lust wurde
das schöne Fest in der Künstlerfamilie gefeiert. Freunde, Bekannte und
Kunstgenossen waren von Nah und Fern herbeigeströmt, um im gastlichen
Hause des Geigenkönigs an der heiteren Festfeier theilzunehmen. Kaum
vermochte der geräumige Salon, in dem der fast bis an die Decke reichende
Christbaum in glänzend strahlendem Schmucke prangte, die reiche Zahl der
Gäste zu fassen.

Das war ein Jauchzen und Jubiliren, ein Händeklatschen und Gläserklingen,
daß selbst die Ernstgesinnten vom Wirbel der Freude erfaßt wurden, daß
auch die Alten in die Lust der frohlockenden Kinderherzen mit einstimmten.

Mir aber fiel mitten in den Lichtglanz der dunkle Schatten meines kranken
Schützlings, und der Gedanke beschlich traurig meine Seele, daß in dem
heiteren Kreise wohl Keiner des Armen sich erinnert. Unbemerkt schlich ich
mich aus den hellen Räumen ins Treppenhaus nach unten, um zu erfahren, wie
es dem Kleinen gehe.

Auch in der Portierswohnung war Licht zu sehen, und ich trat ein. Mit
geschlossenen Augen, still und blaß, lag der Kranke in seinem Bettchen;
der Vater kauerte stumm in einem Winkel der Stube und begrüßte mich kaum;
die Mutter aber schlich weinend umher und machte sich tausenderlei, auch
ganz Ueberflüssiges, zu schaffen, nur um etwas zu thun zu haben.

Sie wußten, daß es mit ihrem Kinde zu Ende ging. Der Doctor hatte es
ihnen gesagt, und der Zustand des abgezehrten, zu Tode erschöpften Knaben
bannte jede Hoffnung.

Ich fand kein Wort des Trostes für die armen Alten. Beklommenen Herzens
setzte ich mich an die kleine Lagerstätte und hatte Mühe, meine eigenen
Thränen zurückzuhalten, angesichts des großen, mächtigen Schmerzes, der
den kummergebeugten Eltern bevorstand.

Nicht lange hatte ich so, meinen traurigen Gedanken mich hingebend,
dagesessen, als der Kleine die Augen aufschlug und, als er mich bemerkte,
mühsam auf seine Geige hindeutete und, mich mit sanft flehendem Blicke
anschauend, seine winzigen, abgemagerten Händchen bittend ineinanderlegte.

Ich verstand ihn. Rasch erhob ich mich von meinem Sitze und eilte zurück
in die lichtstrahlenden Räume zu den frohen Festgenossen.

»Meister,« flüsterte ich, indem ich mich sachte an den Hausherrn
herandrängte, »unser kleiner Schützling da unten liegt im Sterben. Ihm
verlangt nach Euch und nach Musik. Wollt Ihr seines Lebens letzten Wunsch
erfüllen?«

Da begegnete ein warmer, milder Strahl aus dem Auge des Künstlers dem
meinen. Leise drückte er mir die Hand und verließ mit mir den Saal. Er
holte seine Geige, und wenige Minuten später standen wir im Zimmer des
sterbenden Kindes.

Und wieder rieselten die wundervollen Klänge gleich perlenden Toncascaden
von den bebenden Saiten, schwellend, wogend, säuselnd wie mildes
Frühlingswehen, innig wie liebenden Herzens Pochen, erhaben wie frommer
Gottgedanke. Und wie ein Gruß aus Engels Munde umschmeichelten die
lieblichen Melodien die entfliehende Kindesseele und umgaukelten sie mit
tönenden Zauberbildern.

Und wieder schlug der Knabe in entzücktem Lauschen sein Auge auf, und
seine schmalen, bleichen Lippen lispelten fast unhörbar:

»Er hat es gesagt, er selber, auch ich werde Geigenkönig wie er!«

Ein sanftes, seliges Lächeln verklärte seine Züge, ein zitternder
Seufzer hob die eingefallene Brust, und eingelullt von stolzem
Hoffnungstraum und süßer Harmonien Sang entschlief er.

Oben ward das Weihnachtsfest bis zum hellen Morgen gefeiert. Und als ich
Abschied nahm vom Meister, da wollte mein Mund niedersinken auf des edlen
Menschen Hand, der ruhm- und glückumgeben, der Elenden nicht vergißt und
ihnen Trost und Liebe spendet.



Die Harfenspielerin.


Aergerlich warf Julian die Feder fort, daß die Tinte aufspritzte.

Da sollte der Henker diese mühsamen Rechnungen revidiren, während
vom Hofe herauf unausstehliches Harfengeklimper und eine müde, dünne
Mädchenstimme tönte, die sinnige Volkslieder und rohe Gassenhauer in
wüstem Durcheinander herableierte.

Julian hatte der Sängerin schon eine Geldmünze zugeworfen, auf daß sie
den Platz räume und ihre musikalischen Productionen irgend anderswohin
verlege, wo sie ihn nicht in seiner Arbeit störten. Daran war aber
vorläufig nicht zu denken, denn die ganze Kinderwelt des großen Hauses
stand in einem Kreise um sie herum, ihren schrecklichen Vorträgen freudig
lauschend. Sie wollte sie noch nicht ziehen lassen, und die Harfenistin
blieb gern, auf eine Entlohnung von den Müttern der Kinder hoffend, die
theils an deren Seite stehend, theils von den offenen Fenstern aus dem
Jubel ihrer Kleinen zulächelten.

Nochmals versuchte Julian, in seinen Rechnungen fortzufahren, doch ebenso
erfolglos wie früher. Die Ziffern und Zahlen tanzten ihm wie kleine,
neckende Kobolde vor den Augen. Bald wußte er nicht mehr, wie viel Rest
bleibe von achtundzwanzig Mark sieben Pfennige, nach Abzug von siebzehn
Mark zweiunddreißig Pfennige.

»In der Weidlingau ist der Himmel blau --« klang es ihm in die Ohren.

»Sechs Mark achtundzwanzig Pfennige. -- Nein, gefehlt!«

»Ach, es wär' so schön gewesen --«

»Sieben Mark fünfzehn Pfennige. -- Wieder falsch!«

»Wenn die Schwalben heimwärts zieh'n --«

»Zum Teufel auch, wenn diese verdammte Schwalbe nur heimwärts zöge!
-- Fünf Mark sechzehn Pfennige. -- Abermals gefehlt! -- Nein, so geht es
nicht, absolut nicht! Da könnte man verrückt werden.«

  »Wann's Mailüfterl weht,
  Zergeht draußd' im Wald der Schnee --«

Julian sprang von seinem Sitze auf. Er wollte lieber abwarten, daß Ruhe
würde, als sein Gehirn foltern mit solch vergeblicher Anstrengung. Was er
unter diesen Umständen herausrechnete, würde doch nur ein Unsinn sein.

Jetzt stimmte das Mädchen das von Mendelssohn in Musik gesetzte alte
Volkslied an:

  »Es ist bestimmt in Gottes Rath,
  Daß man vom Liebsten, das man hat -- muß scheiden.«

Julian liebte dies Lied ungemein. Er hatte es als Knabe oft gesungen.
Allerlei sanfte Erinnerungen erwachten in ihm: an das Elternhaus, an die
Gefährten, an seine frohe, glückliche Kindheit. Und jetzt ertappte
er sich dabei, wie er, gleich den Kindern im Hofe, der dünnen, etwas
umflorten Stimme der von ihm soeben noch so zornig verwünschten Sängerin
lauschte. Und jetzt trat er gar an das Fenster, öffnete es und blickte
hinab in den Hofraum, wo der Gegenstand seines Aergers mitten unter der
Schaar der entzückten Kleinen stand, spielte und sang. Ihre schwächliche,
hagere Gestalt beugte sich nach vorn über die Harfe, das Gesicht sah er
nicht, denn ein hoher, unmoderner Strohhut mit großen, gelben, schmutzigen
Seidenbändern und zerknüllten Kunstblumen von derselben Farbe geziert,
entzog es seinen Blicken. Ein verwaschenes Kattunröckchen und ein blaues,
mit weißen Schnüren benähtes Sammetjäckchen vervollständigten ihren
Anzug. Man sah es deutlich, diese Kleider waren, unbrauchbar geworden,
von ihren früheren Eigenthümern statt weggeworfen zu werden, der
armen Harfenistin geschenkt worden. Sie sah komisch genug aus in dieser
verwitterten, theatralischen Gewandung. Man hätte darob lächeln mögen,
hätte ihre Armseligkeit nicht so traurig gestimmt. Und noch verschärft
wurde dieser Eindruck durch das Lied, das sie eben sang, dies Volkslied,
das in seiner schlichten Wehmuth so ergreifend wirkt:

  »Es ist bestimmt in Gottes Rath,
  Daß man vom Liebsten, das man hat -- muß scheiden --«

klang es wieder in schrillem, von der Uebermüdung schon heiserem Tone von
den Lippen der jungen Bänkelsängerin; ihre Finger griffen mechanisch die
Accorde in der alten Harfe und die großen gelben Bänder und Blumen auf dem
lächerlichen Hute nickten und flatterten im Winde.

Julian's Unmuth war gänzlich verflogen, Mitleid stahl sich in sein Herz.
Er holte noch eine zweite kleine Geldmünze aus seinem Täschchen, wickelte
sie in Papier und warf sie der fahrenden Sängerin vor die Füße. Diese
hatte eben das Lied beendet, sie hob die Münze vom Boden auf, und als sie
den Kopf neigend nach dem Fenster hinauf dankte, in dem Julian lehnte,
sah er in ein blasses Gesichtchen, aus dem ihm dunkle, traurige Augen
entgegenblickten. Er nickte ihr freundlich zu und schaute ihr nach,
als sie, die schwere Harfe auf den Rücken ladend, deren Bürde ihr
schwächlicher Körper schier nicht tragen zu können schien, langsam dem
Hofthor zuschritt. Dann machte er sich an seine unterbrochene Arbeit und
in einer Viertelstunde hatte er die Musikantin in der blauen Sammtjacke und
mit den gelben Blumen auf dem Hute völlig vergessen. Doch wie unbewußt
pfiff er leise die Melodie des Liedchens vor sich hin: »Es ist bestimmt in
Gottes Rath --«

Wie allabendlich schlenderte er auch heute nach Schluß seiner Amtsstunden,
»der Straßen quetschenden Enge« entfliehend, aus der Stadt ins Freie. Er
nahm seinen Weg in die Auwaldungen, die sich den launischen Windungen des
weiter unten die Stadt durchschneidenden Flusses folgend, zwischen dessen
Ufer und einer nach einem fürstlichen Lustschlosse führenden Lindenallee
hinziehen.

Die schon tiefstehende herbstliche Abendsonne stahl sich durch die theils
schon entlaubten, theils in die glühendsten Bronze- und Purpurfarben
getauchten Baumkronen der Buchen und Erlen und durch das niedrige Buschwerk
der Weiden, zitternde Streiflichter über den fahlen Rasenboden und die
herabgefallenen gelben Blätter hinstreuend. Plötzlich aber erloschen die
Lichter und Farben, der Himmel, die Bäume, der Wasserspiegel des
Flusses erkalteten -- die Sonne war gesunken. Und mit einemmale kroch
ein bleifarbener Nebel aus dem Strombette empor, Au und Wald mit seinem
unabsehbaren Mantel umspannend.

Julian trat den Rückweg an. Wenn die Nacht hereinbrach bei solch
dichtem Nebel, konnte er den schmalen Fußweg durch den Wald allzu leicht
verfehlen. So eilte er beschleunigten Schrittes heimwärts, das Tempo erst
mäßigend, als ihm der aus der Ferne auftauchende Laternenschimmer
der Stadt, trotz der rasch hereingebrochenen Dunkelheit, über die
einzuschlagende Richtung Sicherheit gab.

Plötzlich blieb er stehen. Ihm war, als hätte er leises Weinen eines
Kindes vernommen. Scharf aufhorchend, spähte er in das graue, wogende
Nebelmeer, aus dem die näher stehenden Bäume wie Gespenster mit
ausgestreckten Armen emporragten.

Einige Augenblicke blieb alles still, dann hörte er sie wieder, die
klagende Kinderstimme.

»Holla! Was giebt es? Wer ist da?« rief er nun mit voller Kraft in den
dunklen schweigenden Wald hinein.

Er hatte sich nicht getäuscht. Ein ängstlicher Ruf aus kindlicher Kehle
antwortete ihm, und der Richtung desselben nachgehend, stand er in
wenigen Minuten an der Seite eines neben einem Bündel Reisig an dem Boden
kauernden und bitterlich weinenden, etwa zehnjährigen Knaben.

Jetzt freilich versiegten seine Thränen rasch und, das Bündel dürrer
Baumzweige auf den Schultern, neben Julian einhertrabend erzählte er
diesem, wie er, um Holz zu suchen, in die »Au« geschickt worden, von der
Nacht und dem plötzlich einfallenden Nebel überrascht, aber den Heimweg
nicht mehr habe finden können.

Nach rascher Wanderung hatten sie den nach der Stadt zu gelegenen Ausgang
des Waldes bald erreicht. Noch hatten sie einen am Damm des Flusses sich
hinziehenden schmalen Wiesengrund zu überschreiten, um in bewohntes Gebiet
zu gelangen. Schon tauchten die ersten Häuser mit ihren erleuchteten
Fenstern freundlich winkend aus dem Nebel auf, als der Knabe stehen blieb
und, das Holzbündel von der Schulter werfend, seinem Führer für die ihm
geleistete Hilfe dankte.

»Ich bin gleich zu Hause,« sagte er. »Hier wohnen wir.«

Julian blickte um sich. Kein Haus, keine Hütte war zu sehen.

»Da!« sagte der Kleine und streckte die Hand aus. Und jetzt bemerkte
Julian einen dicht an dem einen großen Platz umschließenden Lattenzaun
stehenden, unförmlichen Gegenstand, in welchem er bei näherer
Besichtigung einen jener sonderbaren Wagen erkannte, wie ihn wandernde
Zigeuner oder Seiltänzer minderer Sorte und derartiges fahrendes Volk
als ihre bewegliche Wohnung mit sich zu führen pflegen: einen auf Rädern
stehenden großen grünen Kasten mit zwei winzigen, Schiffsluken ähnlichen
Fensterchen, hinter welchen ein Lichtlein brannte.

»O --!« entschlüpfte es Julian's Lippen, während er einen Seufzer
unterdrückte.

In demselben Augenblicke aber stürzte von der Rückseite des Wagens eine
weibliche Gestalt auf den Knaben zu. »Endlich, endlich!« rief sie. »Wir
glaubten schon, es sei Dir ein Unglück geschehen.« Und sie umarmte und
küßte ihn.

Ihre blonden Zöpfe hingen frei in den Nacken. Der groteske Hut mit den
großen, gelben Blumen saß ihr jetzt nicht auf dem Kopfe, ihr Gesicht zu
verunstalten. Aber das blaue Sammtjäckchen mit den weißen Borten ließ
Julian sogleich die Straßensängerin vom Morgen in ihr erkennen, deren
musikalische Vorträge ihn fast zur Verzweiflung gebracht.

Jetzt lief sie zu dem Wagen zurück. »Er ist da, Mutter!« schrie sie
in das offene Fensterchen hinein. »Er ist zurück, es ist ihm nichts
geschehen!« Des fremden Begleiters ihres Bruders wurde sie in der Hast
und Freude des Wiedersehens gar nicht gewahr. Und Julian machte sich nicht
bemerkbar. Er drückte ein paar kleine Münzen in die Hand des Knaben und
verschwand im Nebel.

Am anderen Abend aber saß Julian auf seinem über dem kühlen Grasboden
gebreiteten Ueberzieher vor dem grünen Karren der Spielleute und ließ
sich erzählen von ihrem Leben und Schicksal. Es war ein trauriges Lied,
aber kein selten gehörtes. Der Vater -- der Ernährer -- todt, die Mutter
erkrankt vor Noth und Mühsal, die Familie dem Elend preisgegeben, hätte
Elvira -- dies war der Name der kleinen Harfenistin, und Roland hieß ihr
Bruder -- sich nicht entschlossen, das von ihrem Vater -- der Dirigent
einer von einem Circus engagirten Musikkapelle war -- ererbte und so gut
es ging, entwickelte Talent zum Broterwerb für sich und die Ihrigen zu
verwerthen. So zogen sie von Stadt zu Stadt, von Land zu Land. Bei Tage
sang und spielte Elvira vor den Fenstern der Häuser, Abends in Kneipen
und Kaffeeschänken. Schon nahte die Stunde, da sie sich wieder auf den Weg
machen mußte nach dem Wirthshause, für welches sie heute bestellt war.
Meist begleitete sie ihr Brüderchen auf diesen Gängen. Die Mutter wollte
es so, da sie zu krank war, sie selbst zu begleiten. Lieber blieb sie
die langen, öden Stunden des späten Abends allein in ihren engen vier
Holzwänden, als daß sie das Mädchen allein hätte ziehen lassen. Auch
half Roland ja selbst zum Erwerb, denn schon führte er den Bogen, und
manche Hand, die sich dem Mädchen verschloß, öffnete sich mildthätig
für das blasse Kind, das auf seiner auch vom Vater ererbten Geige mit dem
Ernste eines großen Künstlers Tänze und Märsche herabfiedelte.

Acht Tage noch wollte die Musikantenfamilie in der Stadt verweilen.
Dann war die Zeit zu Ende, für welche sie von der Behörde
Aufenthaltsbewilligung erhalten hatte. Jeden Abend kam Julian, um ein
Stündchen in ihrer Mitte zu verweilen und irgend eine kleine Gabe, wie sie
seine bescheidenen Verhältnisse ihm eben gestatteten, mitzubringen, etwas
Geld oder Eßwaaren, die er gekauft oder von seinem Mittagsmahle erübrigt
hatte, oder ein altes, noch brauchbares Kleidungsstück, dessen er
glaubte, sich entledigen zu können oder das seine Hausfrau ihm für seine
Schützlinge geschenkt. Immer wurde er mit Jubel empfangen, nicht nur wegen
seiner kleinen Unterstützungen, sondern mehr noch um der freundlichen
Theilnahme willen, die sie bei ihm fanden.

Eines Abends jedoch -- es war der letzte ihres Aufenthaltes -- kam Roland
nicht, wie er es sonst immer gethan, ihm freudig entgegengelaufen. Weder
der Knabe noch seine Schwester ließen sich auf dem Platze vor dem Wagen
blicken. Näher schreitend war Julian schon im Begriffe, seine Anwesenheit
durch Rufen kundzugeben, als er, etwa zehn Schritte von sich entfernt,
in einem Winkel des Lattenzaunes, zwei dunkle, eng aneinander geschmiegte
Gestalten bemerkte. Es war Elvira. Ihr zur Seite stand ein Julian
unbekannter Mann, seine Arme um ihren Hals geschlungen, während ihr Kopf
auf seiner Schulter lehnte.

Julian fühlte sein Herz sich zusammen schnüren. Die alte Geschichte --
wie hätte es denn auch anders sein können unter solchen Verhältnissen!
Und doch, ach -- wie leid that es ihm um das junge Mädchen.

Er überlegte. Sollte er sich unbemerkt von dannen schleichen -- oder die
Mutter aufsuchen, die sicherlich im Wagen saß? -- Wenn er jetzt gleich
wieder fort ging, wie sollte er den Leuten die Flasche Wein und den kalten
Braten zukommen lassen, die er ihnen zur Wegzehrung auf ihrer morgigen
Wanderschaft mitgebracht.

Da lösten sich die beiden Gestalten aus ihrer Umarmung, der Mann eilte
raschen Schrittes der Stadt zu, Elvira aber, die Arme auf einen Pfosten des
Zaunes, den Kopf in die Hände gestützt, brach in bitterliches Schluchzen
aus.

In zwei Sätzen stand Julian neben ihr.

»Was ist geschehen? Warum weinen Sie?« drang er in das Mädchen, ihr den
Kopf streichelnd, wie man einem weinenden Kinde thut.

Sie antwortete nicht sogleich, die Thränen erstickten ihre Stimme. Endlich
aber faßte sie sich. Und nun erfuhr Julian, um was es sich handelte.

Der junge Mann, der eben von ihr gegangen, liebte sie. In einem kleinen
Gasthause, wo sie zuweilen sang und er sein Abendbrot zu nehmen pflegte,
hatte sie ihn kennen gelernt. Heute nun, da er wußte, daß sie am
nächsten Tage fortwandern sollten, war er gekommen, ihr zu sagen, daß
es ihm Ernst sei, daß er sie heiraten und mit der Mutter gleich alles
Nöthige besprechen und festsetzen wolle.

»Nun --?« fragte Julian, als das Mädchen stockte.

»Ich werde ihn wohl nie im Leben wiedersehen,« fuhr sie mit zitternder
Stimme leise fort. »Ich hab' ihn abgewiesen und ihm Lebewohl gesagt.«

»Sie lieben ihn also nicht?«

Da schluchzte sie laut auf.

»O -- wie ich ihn liebe!« Und dann, nach kurzem, stillem Hinweinen:
»Sehen Sie, ich kann ihn nicht heiraten, ich darf nicht, weder ihn noch
einen Anderen. Wenn ich seine Frau würde, müßte ich meinen Erwerb
aufgeben. Er würde es nicht dulden, daß ich als Harfenistin durch
Straßen und Schenken ziehe. Er ist Buchbindergeselle und erwirbt genug
für uns Beide. Wovon sollten aber die Mutter und Roland leben, wenn ich
aufhörte, zu singen? Er hat nicht genug, um auch sie zu ernähren, und
selbst, wenn er es könnte, so möchte ich doch nicht, daß sie das bittere
Brot der Gnade äßen.«

Sie schwieg. Und Julian fand kein tröstendes Wort. Es war ihm weh zu
Muthe.

Da wurden nahende Schritte hörbar. Es war Roland, der in der Stadt einige
kleine Einkäufe besorgt hatte.

Elvira raffte sich auf. »Kommen Sie, gehen wir zu den Anderen!«
flüsterte sie. Und dann, ganz leise: »Sagen Sie der Mutter nicht, daß
ich geweint habe. Sie weiß, daß ich ihn abgewiesen habe, aber sie soll es
nicht erfahren, daß ich ihn lieb habe. Es würde sie zu traurig machen.«

Am anderen Tage auf dem Heimwege von seinem abendlichen Spaziergange lenkte
Julian wieder, ohne selbst recht zu wissen, warum, seine Schritte nach
dem Wiesenplatze vor dem Auwald. Leer, öde und still lag er heute da.
Das kurze Gras um die Stelle, wo der Wagen gestanden, war zertreten und
zerstampft, und daneben, wo sie den kleinen eisernen Herd hingestellt
hatten, auf dem Elvira die Suppe und Kartoffeln für das Abendessen kochte,
lagen Stückchen halbverkohlten Holzes auf der Erde.

Wo sie wohl jetzt weilen mochten? -- Was die Zukunft ihnen bringen würde?
-- Immer nur Mühe, Entbehrung, Lasten und Sorge? -- Oder auch Glück und
Freude? -- dachte Julian. Und während er am Ufer des leise rauschenden
Flusses langsam weiter schritt, auf dessen sanft dahingleitenden Wellen die
Gasflammen und elektrischen Bogenlichter der Straßen- und Brückenlaternen
sich spiegelnd aufblitzten wie herabgefallene, auf dem Wasser schwimmende
Sterne, klang ihm wieder das Lied im Ohre:

  »Es ist bestimmt in Gottes Rath,
  Daß man vom Liebsten, das man hat -- muß scheiden --«

Arme Elvira! Als sie es vor seinem Fenster gesungen, ahnte sie wohl nicht,
wie bald es sich an ihr erfüllen sollte!



Sein Bild.


Es giebt bekanntlich Menschen, die sich nie, selbst in den glücklichsten
Lebenstagen nicht glücklich fühlen, und Andere dagegen, die sehr wenig
bedürfen, um froh und zufrieden zu sein. Die Ersteren -- sie sind leider
in der Mehrzahl -- haben die unglückliche Gewohnheit, ihre eigenen
Verhältnisse immer mit solchen der besser situirten Leute zu vergleichen
und an diesen abzumessen, wobei sie selbstverständlich zu dem Resultate
kommen, ihre Lage als eine bedauernswerthe zu betrachten. Statt ihr
Augenmerk darauf zu richten, was das Geschick ihnen Gutes beschert hat,
ziehen sie nur in Erwägung, was es ihnen versagt. Wohnen sie in einer
kleinen Stadt, so beklagen sie es, die Vortheile eines Aufenthaltes in
einer Großstadt entbehren zu müssen, werden sie nach einer solchen
versetzt, so bemitleiden sie sich dafür, nicht den Sommer auf dem
Lande zubringen zu können; wird auch dies ihnen ermöglicht, so ist
es sicherlich nicht der ihren Wünschen entsprechende Punkt, wohin die
Umstände sie geführt haben.

Martin Jost gehörte nicht zu dieser Kategorie von Menschen. Er gehörte zu
der kleinen Zahl jener Anderen, die sich mit dem bescheidensten Lose --
so es nur erträglich -- zufrieden geben; die sich des flüchtigsten
Lichtblickes in ihrem Dasein freuen und selbst dann, wenn ihr
Schicksalshimmel, mit trüben Wolken verhängt, düster auf sie
herniederblickt, unbewußt die tiefe Lebensweisheit üben, daß sie
geduldig auf eine Besserung warten. Seit fünfzehn Jahren bei einem
Rechtsanwalte als Schreiber bedienstet, bezog Martin einen Monatssold, der
gerade ausreichte, daß er nicht hungern und nicht frieren mußte und
nicht in schmutzigen oder zerrissenen Kleidern einherzugehen brauchte.
Er bewohnte eine kleine, schlicht möblirte Stube bei einer ältlichen
Beamtenswitwe, bereitete sich eigenhändig seinen Morgenkaffee, aß seit
vielen Jahren in demselben bescheidenen Gasthause, in demselben Zimmer, an
demselben Tische zu Mittag und trug unverändert denselben grauen Rock und
denselben schwarzen Filzhut. Allerdings wurden Hut und Rock, wenn sie
sich als vom Zahne der Zeit allzu scharf mitgenommen erwiesen, durch
neue ersetzt. Da der Nachkömmling jedoch immer genau so aussah wie sein
Vorgänger, so machte es den Eindruck, als ob Martin mit seinen Kleidern
verwachsen wäre. Nur wenn er -- dies war der einzige Luxus, den er sich
gönnte -- das Theater besuchte, vertauschte er den grauen mit einem
schwarzen Rocke, mit demselben schwarzen Rocke, den er vor fünfzehn Jahren
gelegentlich der behufs Erlangung seiner Dienststelle bei dem Advocaten
unternommenen Präsentationsvisite getragen hatte.

Es war ihm nicht an der Wiege gesungen worden, daß er es nicht weiter
bringen sollte als bis zum Schreiber. Ein munterer, aufgeweckter Knabe,
hatten seine Lehrer ihn als einen fleißigen und begabten Schüler sehr
lieb gehabt. Doch als sein Vater plötzlich starb, Frau und Sohn in den
dürftigsten Verhältnissen zurücklassend, da unterbrach der Jüngling
seine zu den schönsten Hoffnungen berechtigenden Studien und trat, da
sich eine bessere Stelle ihm nicht bot, als Diätist in den Dienst des
Rechtsanwaltes, sich und die Mutter von seinem kleinen Gehalte ernährend.
Jetzt war auch die Mutter seit Jahren todt, und da er nun für niemand mehr
als für sich selbst zu sorgen brauchte, brachte er es, so gering seine
Bezahlung auch war, doch fertig, nicht nur ein kleines Sümmchen für
unvorhergesehene Fälle von Krankheit oder Noth jährlich zurückzulegen,
sondern auch sich das Vergnügen eines zeitweiligen Theaterbesuches, des
einzigen und ausschließlichen Vergnügens, das er kannte, zu gestatten.
Niemand ahnte es, welche Begeisterung in dem Inneren dieses stillen,
unscheinbaren Männchens loderte, welches mächtige Echo das Wort des
Dichters in dem Herzen dieses scheinbar trockenen Actenabschreibers fand.
Ein Copist! Wie sollte die Seele eines Menschen, der seit einer Reihe von
Jahren von acht Uhr Morgens bis Mittags, von zwei Uhr Nachmittags bis
sechs Uhr Abends nichts anderes that, als seine Feder in trostloser
Einförmigkeit über das Papier hingleiten zu lassen, anderer Empfindungen
und Gedanken als solcher der nüchternsten Alltäglichkeit fähig sein! Ja,
besaß solch eine Schreibmaschine überhaupt etwas wie eine Seele?

Und doch! Ein Wesen gab es, das in den sinnend vor sich hinblickenden
grauen Augen des von niemanden beachteten, schüchternen und schweigsamen
Mannes zu lesen verstand, ein Wesen, welches wußte, welch eine reiche Welt
zarter und reiner Gefühle, freier und edler Ideen hinter dem durch den
Schein alltäglicher Unbedeutendheit täuschenden Aeußeren verborgen lag.
Dieses eine Wesen war die Blumenmacherin Elise H., die er erst vor wenigen
Jahren kennen gelernt hatte, mit der ihn aber jetzt herzliche Freundschaft
verband.

Im Theater war es gewesen. Sie hatte neben ihm gesessen; durch sein
bescheidenes freundliches Anerbieten, sein Opernglas zu benützen, war ein
Gespräch herbeigeführt worden und im Laufe desselben hatte er die ihm
wundersam scheinende Entdeckung gemacht, daß seine Sitznachbarin von
demselben Enthusiasmus über die sie entzückende Bühnendichtung erfüllt
war, wie er selbst. Da sie allein war und da sie den Weg nach Hause
allein hätte zurücklegen müssen, bot er ihr, seine Schüchternheit
überwindend, seine Begleitung an, welche angenommen wurde. Und nicht nur
das -- sie gestattete ihm auch, sie zu besuchen. Immer reger wurde der
Verkehr zwischen ihnen, immer mehr Freude und Erquickung fanden die beiden
Einsamen in den trauten Stunden ihres Zusammenseins und bald wurde es
ihnen zur Gewohnheit, an bestimmten Tagen der Woche die Abende in Elisens
traulichem Stübchen zu verbringen.

Sie verkehrten wie Geschwister miteinander. Nachdem der Thee getrunken war,
griff Elise wieder zu ihrer Arbeit, Martin aber nach einem Buche, aus dem
er ihr vorlas und über welches sie dann ihre Gedanken austauschten. Sie
empfanden es Beide als ein großes Glück, einander begegnet, Einer in dem
Anderen eine Menschenseele gefunden zu haben, die sie von der trostlosen
Vereinsamung, die jeden bedrückte, erlöste und ihnen Gelegenheit bot,
alles, was in ihnen lebte und webte, ihre durch das stete Schweigen
gleichsam verschleiert gebliebenen Empfindungen, die Ideen, welche
theilweise noch unreif und verworren, nach Klärung rangen, auszusprechen
und sie durch das Urtheil des Anderen frische Nahrung, Erweiterung und
Berichtigung finden zu lassen.

Denn wie Martin war auch Elise solcher Eltern Kind, die für sie ein
besseres Los als das einer Handarbeiterin im Auge gehabt und ihr eine gute
Erziehung hatten angedeihen lassen. Sie hatte viel gelesen und manches
gelernt; doch wies der ihr zutheil gewordene Unterricht zu viele Mängel
und Lücken auf, um sie durch Verwerthung desselben zur Gewinnung der
Mittel ihres Lebensunterhaltes zu befähigen. Und so kam es, daß, als
das Unglück über sie hereinbrach, in rascher Folge ihre beiden Eltern zu
verlieren und, ohne Vermögen, auf eigenen Broterwerb angewiesen zu sein,
ihr bis dahin nur zu ihrem Vergnügen gepflegtes Talent der Erzeugung
zierlicher Kunstblumen zur Quelle der Erwerbung der Subsistenzmittel wurde
für sie selbst und für ihren von schwerem Siechthum befallenen kleinen
Bruder.

Doch während sie so saß und Stunde um Stunde die weißen
Battistblättchen zu Blumen- und Blüthengebilden zusammenfügte, um dann
die zarte Form mit Farbe zu überkleiden, da flatterten ihre Gedanken weit
hinaus aus dem engen Raum, und die reichen, vielgestaltigen Bilder, die
ihre Phantasie erbaute, belebten die gleichförmige Einsamkeit ihres
wirklichen Lebens. Jetzt war dies anders geworden; in Martin hatte Elise
einen Genossen gefunden, der allem von ihr Gedachten und Empfundenen
williges Gehör und Verständniß entgegenbrachte.

Auf diese Weise waren einige Jahre verflossen, als die Verschlimmerung des
Zustandes des kleinen Patienten und schließlich sein Tod im Verkehre
der beiden Freunde eine schmerzliche Unterbrechung herbeiführte. Und als
Martin -- nachdem Elise den von seinen Leiden erlösten Knaben zur Ruhe
bestattet hatte, ihr nun noch vereinsamteres Leben wieder in alter Weise
aufnahm -- auch zur Gewohnheit seiner regelmäßigen Besuche zurückkehren
wollte, da sah er sich plötzlich vor die Alternative gestellt, entweder
auf seinen ihm so lieb gewordenen Verkehr mit der Freundin zu verzichten
oder ihren guten Ruf zu gefährden. Denn jetzt fingen Elisens Nachbarsleute
an, die Köpfe zusammenzustecken, zu zischeln und zu flüstern und Martin's
häufige Besuche bei Elise, die nun nicht einmal mehr den Bruder an
der Seite hatte, dessen stete Anwesenheit die Sache anständiger hatte
erscheinen lassen, als einen die Moral verletzenden Scandal zu bezeichnen.

Martin fühlte sich tief unglücklich und wußte keinen Ausweg. Die
Freundin dem Gerede verleumderischer Lästerungen preisgeben wollte er
nicht, auf sie Verzicht zu leisten, dies glaubte er aber nicht über sich
bringen zu können, denn -- jetzt erst ward er sich darüber klar -- nicht
freundschaftliche Gefühle allein waren es, die ihn an sie fesselten. Nein,
die Freundschaft hatte sich in seinem Herzen in Liebe umgewandelt. Aber so
sorgsam hatte er das Geheimniß gehütet, daß er bis zu diesem Augenblicke
selbst nicht wußte, was in seinem Inneren lebte.

Ein Anderer würde an seiner Stelle nicht gezögert haben, Elisen seine
Liebe zu gestehen und sie zu fragen, ob sie seine Frau werden wolle. Er
aber fand hierzu den Muth nicht. Seine Schüchternheit und die aus diesem
Gefühle geborene Ueberzeugung der Unmöglichkeit, daß er im Stande sein
sollte, die Neigung eines weiblichen Wesens, am allerwenigsten aber die
Elisens, die er in seinem Urtheile unerreichbar hoch über sich stellte,
zu erwerben, banden ihm die Zunge. Und so kam es, daß er, statt einen
entscheidenden Schritt zu thun, mit eigenen Händen den Weg verrammelte,
der ihn an das gewünschte Ziel hätte bringen können; er ließ seine
Besuche bei Elisen immer seltener werden und blieb, allerlei Vorwände
suchend, schließlich ganz aus.

Indem er glaubte, daß Elise nichts ahnte von dem, was in ihm vorging und
was die Ursache war seines plötzlichen Abbrechens ihres Verkehres,
hatte er sich jedoch sehr getäuscht. Nicht nur war der Klatschbasen
mißbilligendes und verleumderisches Geflüster über ihre vertraulichen
Beziehungen zu Martin auch ihr, ebenso wie ihm, ja noch früher zu Ohren
gekommen, sie hatte auch das in seinem Herzen glühende Feuer gar lange
schon wahrgenommen. Ja, sie hatte es bereits erkannt, daß sie von ihm
geliebt sei, bevor er sich selbst dessen bewußt geworden.

Einige Wochen waren vorübergegangen, ohne daß Martin die Schwelle des
trauten Zimmers mit dem mit geblumten Kattun überzogenen Sopha, in dessen
Ecke er so oft gelehnt, mit dem Lederfauteuil, auf welchem er Elise so oft
sitzen gesehen, das blasse, nicht schöne und doch so anziehende Gesicht
mit den freundlich und klar blickenden Blauaugen nach vorne über den
großen Arbeitstisch geneigt, ohne daß er die Schwelle dieses Zimmers,
nach dem es ihn so mächtig zurückzog, überschritten hatte. Anfänglich
war es ihm schwer, ach, furchtbar schwer gefallen, seinen Entschluß
durchzuführen. Oft hatte er das Haus, das ihn unwiderstehlich lockte,
umschritten, war an dessen Thor stehen geblieben, hatte bebenden Herzens
nach den zwei Fenstern hinaufgeblickt, durch deren zugezogene Vorhänge
der gedämpfte Lichtschein der Lampe fiel. Aber betreten hatte er das
Haus nicht. Denn er wußte, daß wenn er erst im Flur stünde, er der
Versuchung, seinen Vorsatz zu brechen, nicht widerstehen würde. Er
glaubte, daß es seine Pflicht sei, diesen Vorsatz auszuführen. Und das
Bewußtsein erfüllter Pflicht war ihm mehr werth als sein Glück.

Da erhielt er eines Tages ein Briefchen von Elise, worin sie ihn bat, sie
Abends zu altgewohnter Stunde zu besuchen; sie habe ihm eine Mittheilung zu
machen, seinen Freundesrath in wichtiger Angelegenheit zu erbitten.

Er kam. Und als er das liebe Gesichtchen wieder sah, noch blasser als sonst
-- oder ließen nur das Trauerkleid und die schwarze Halskrause es so
blaß aussehen? -- und um die Augenbrauen ein seltsam nervöses Zucken,
als wohnte hinter dieser Stirn ein neuer Kummer, ein Kummer, dessen Ursache
vielleicht er war, da ward ihm zu Muthe, als müßte er vor sie hintreten,
ihre Hand fassen und ihr alles sagen, wie es ihm ums Herz sei.

Doch er bezwang sich und schwieg.

»Sie wollen mir etwas mittheilen, meinen Rath hören,« sagte er mit
erzwungener Ruhe.

»Ja, freilich! Doch davon später, nach dem Thee,« antwortete sie. »Denn
heute will ich zu Ehren Ihres Besuches mir Feierabend gönnen.«

Und nun ging sie daran, den Tisch zu decken. Für kalten Aufschnitt,
Sardellenbutter, geröstete Brotschnitten, auch Backwerk daneben, hatte sie
bereits gesorgt, und nun ordnete sie alles in ihrer stillen, geräuschlosen
Art. Dabei knisterte und flackerte das Feuer im Ofen, denn es war Winter,
und das Wasser im Theekessel summte ein trauliches Liedchen.

Martin wurde es immer wohler und zugleich immer weher in seiner Seele. Und
er glaubte vergehen zu müssen bei dem Gedanken, wie glücklich er werden
könnte, wenn -- ja wenn --

Dann fing sie zu plaudern an von allen möglichen Dingen -- ganz wie
früher, als sie noch gewohnt waren, einander alle kleinen Begebenheiten,
alle Freuden und Leiden ihres einfachen Lebens mitzutheilen. Auch von dem
todten Brüderchen sprach sie, und wie sie jetzt, seitdem es ihr genommen,
sich noch viel einsamer fühle als früher, so lange sie für ihn zu sorgen
und zu schaffen hatte.

Und dann -- ganz plötzlich -- rückte sie mit dem heraus, was sie
eigentlich vorhatte, ihm mitzutheilen. Sie hege die Absicht, sich zu
verheiraten, sagte sie ihm. Der Mann ihrer Wahl sei ein guter, braver
Mensch, arm wie sie selbst. Aber sie Beide stellen ja keine großen
Ansprüche an das Leben und sie seien gewohnt, zu arbeiten. Und -- was die
Hauptsache -- sie liebe ihn. Da sie aber zu einem so wichtigen Schritt sich
nicht entschließen wolle, ohne seinen Rath zu hören, so bäte sie ihn um
sein Urtheil. Er werde gleich Gelegenheit haben, den Erwählten kennen zu
lernen, denn sie habe diesen gebeten, heute Abend auch zu ihr zu kommen.
Martin schnellte von seinem Sitze empor. Kreidebleich stand er vor ihr.
Sein Herz hämmerte in so wuchtigen Schlägen, daß er kaum zu sprechen
vermochte.

»Wie?« stammelte er. »Er kommt hierher? Jetzt, hier soll ich ihm
begegnen? Nein, Elise, das fordern Sie nicht von mir! Das nicht! Lassen Sie
mich gehen, bevor er kommt.«

»Sie wollen mir Ihren Freundesrath vorenthalten?« fragte Elise. »Mir ist
an Ihrem Urtheile viel gelegen.«

»Ach, welchen Nutzen haben Sie davon? Nein, ich will nicht hier bleiben,
ich will nicht!« rief Martin fast verzweifelt und rannte im Zimmer umher,
um Hut und Ueberrock zu suchen, die er nicht fand, obgleich beides
vor seinen Augen an einem Haken an der Thür hing. Elise aber blieb
unerbittlich.

»Warum wollen Sie ihm nicht begegnen?« fragte sie. »Sagen Sie mir, warum
Sie es nicht wollen.«

Da trat Martin dicht an sie heran, und indem er die Hände wie bittend
ineinander legte, sagte er: »Warum? -- Weil -- weil -- Ach, Elise, Sie
quälen mich nutzlos. Sie ahnen nicht --«

Er vollendete den Satz nicht und wandte sich ab. Hut und Rock vom Nagel
reißend, wollte er aus dem Zimmer stürzen.

Elise hielt ihn zurück.

»Wenn Sie meine Bitte durchaus nicht erfüllen wollen, wohlan, gehen Sie,
ich halte Sie nicht auf. Doch sein Bild sehen Sie sich an. Hier ist es, so
sieht er aus. Und nun sagen Sie mir, ob er Ihnen gefällt, ob Sie glauben,
daß meine Wahl eine gute, ob ich sie nicht zu bereuen haben werde.«

Und sie hielt dem Widerstrebenden eine Photographie vor die Augen. Es war
seine eigene --

Martin stieß einen leisen Schrei aus und im nächsten Augenblicke lag
Elise in seinen Armen. Er glaubte nicht, daß ihre Wahl keine gute sei --
und sie hatte sie nie zu bereuen.



Collection Hartleben.

Eine Auswahl

der hervorragendsten Romane aller Nationen.

Preis des Bandes eleg. geb. 40 Kr. = 75 Pf. = 1 Fr.

Pränumeration für ein Jahr (26 Bände) 10 fl. = 19 M. = 25 Fr.


Inhalt des ersten Jahrganges.

        I.-IV. Carlén, Emilie. Der Vormund.

        V.-VI. Dumas, Alexander. So sei es.

    VII.-VIII. Sue, Eugen. Miß Mary.

           IX. Jokai, Mor. Hallil Patrona. (Die weiße Rose.)

            X. Sand, Georg. Die kleine Fadette. (Die Grille.)

      XI.-XII. Mügge, Theod. Verloren und gefunden.

    XIII.-XIV. Thackeray, William. Die Geschichte Heinrich Esmond's.

           XV. Turgénjew, Iwan. Frühlingsfluthen.

          XVI. Maquet, Aug. Liebe und Verrath.

    XVII.-XIX. Dumas, Alex. Sohn. Roman aus dem Leben einer Frau.

           XX. Léval, Paul. Der schwarze Bettler.

    XXI.-XXII. Sandeau, Jul. Valcreuse.

  XXIII.-XXIV. Berthet, Elie. Der Wolfmensch.

    XXV.-XXVI. Ainsworth, Harisson. Der Verschwender.


Inhalt des zweiten Jahrganges.

       I.-III. Kraszewski, J. I. Am Hofe August des Starken (Gräfin
               Cosel).

           IV. Rovetta, Gerolamo. Der erste Liebhaber.

        V.-VI. Delpit, Albert. Theresine.

          VII. Rosegger, P. K. Streit und Sieg.

         VIII. Dumas, Alex. Sohn. Diana de Lys.

       IX.-XI. Herloßsohn, K. Wallenstein's erste Liebe.

          XII. Besozzi, Max. Späte Einsicht.

    XIII.-XIV. Sue, Eugen. Kinder der Liebe.

           XV. Degré, Al. Blaues Blut.

    XVI.-XVII. Sand, George. Erkenntnisse eines jungen Mädchens.

    XVIII.-XX. Bell, Currer. Die Waise aus Lowood.

    XXI.-XXII. Flaubert, G. Mad. Bovary.

        XXIII. Gaskel, Mrs. Eine böse Nacht.

   XXIV.-XXVI. Dumas, Alex. Chevalier von Maison rouge.


Inhalt des dritten Jahrganges.

       I.-III. Collins, Wilkie. Die neue Magdalena.

        IV.-V. Boisgobey, Fortuné. Die Stimme des Blutes.

           VI. Julius von der Traun. Goldschmiedkinder.

    VII.-VIII. Reyd, Cap. Mayne. Die Scalpjäger.

           IX. Vogel vom Spielberg. Irrende Seelen.

        X.-XI. Schlögl, Friedr. Wiener Blut.

     XII.-XIV. Enault, Louis. Die Geschichte einer Frau.

           XV. Lermontoff, Michael. Der Held unserer Zeit.

          XVI. Feuillet, Octave. Der Roman eines armen jungen Mannes.

  XVII.-XVIII. Schlögl, Friedr. Wiener Luft.

     XIX.-XXI. Smith, Hamlyn. Ein Londoner Geheimniß.

   XXII.-XXIV. Foudras, Marquis. Die Nacht der Rächer.

    XXV.-XXVI. Schlögl, Friedr. Wienerisches.


Inhalt des vierten Jahrganges.

        I.-IV. Mary, Jules. Schuldig, oder nicht?

        V.-VI. Karasin, N. N. Der Brahmane.

    VII.-VIII. Delpit, Albert. Die schöne Frau.

           IX. Jokai, Mor. Clarinus und andere Novellen.

       X.-XII. Kraszewski, J. I. Die Sphinx.

    XIII.-XIV. Sand, George. Der Marquis von Villemer.

           XV. Caballero, Fernan. Spanische Novellen.

   XVI.-XVIII. Beecher-Stowe, H. Wir und unsere Nachbarn.

          XIX. Dumas Alex. Gabriel Lambert.

           XX. Turgénjew, Iwan. Der König Lear der Steppe und andere
               Novellen.

    XXI.-XXII. Reyd, Cap. Mayne. Die Scharfschützen.

  XXIII.-XXIV. Foudras, Marquis. Ein großer Komödiant.

    XXV.-XXVI. Perrin, Maxim. Der Sultan eines Pariser Stadtviertels.


Inhalt des fünften Jahrganges.

        I.-II. Boisgobey, Fortuné. Im Banne der Schuld.

          III. Karasin, N. Das Drama im Grenzfort.

       IV.-VI. Wilson, Aug. Evans. Infelice.

          VII. Vogel vom Spielberg, A. Frau Lear.

         VIII. Delpit, Eduard. Kath. Levallier.

           IX. Beniczky-Bajza, Helene v. Gräfin Ruth.

            X. Mairet, Jeanne. Meeresblume.

      XI.-XII. Ssalis, E. A. Schicksalswege.

     XIII.-XV. Dash, Gräfin. Die schöne Aurora.

          XVI. Lytton, Lord. Der Ring der Amasis.

    XVII.-XIX. A. v. L. Am Hofe von Neapel.

      XX.-XXI. Longfellow, H. W. Hyperion.

   XXII.-XXIV. Dumas, Alexander. Isabella von Bayern.

          XXV. Eliot, George. Der gelüftete Schleier.

         XXVI. Sue, Eugen. Die Marquise von Alfi.


Inhalt des sechsten Jahrganges.

       I.-III. Werthen, S. Opfer der Liebe.

        IV.-V. Beniczky-Bajza, Helene v. Die Würde der Schönheit.

           VI. Mairet, Jeanne. Marca.

    VII.-VIII. Wasserburger, Lina. Die Aloeblüthe.

        IX.-X. Pont-Yest, René de. Claudia.

      XI.-XII. Sienkieviz, Heinrich. Quo vadis?

         XIII. Serao, Mathilde. Fahr' wohl, mein Lieb!

     XIV.-XVI. Boborykin, P. Die Fürstin.

         XVII. Groner, Auguste. Der alte Herr und andere Novellen.

   XVIII.-XIX. Flemming, M. A. Bruderliebe.

           XX. Kreuth, W. Nach dem Schiffbruch. Südamerikanischer Roman.

          XXI. Delpit, Albert. Die Witwe Sorbier.

         XXII. Troll-Borostyáni, Irma v. Novellen.

        XXIII. Brun-Barnow, I. v. Das Verhängniß.

   XXIV.-XXVI. Ohnet, Georges. Der König von Paris.


Inhalt des siebenten Jahrganges.

       I.-III. Black, William. Sabina Bembra.

        IV.-V. Guidi, Orlanda. Isabella Fianelli.

           VI. Brociner, Marco. Das Blumenkind und andere Novellen.

    VII.-VIII. Lesueur, Daniel. Hassende Liebe.

           IX. Josika, Koloman Freiherr von. Comtesse Tini.

        X.-XI. Lancken, B. von der. Der Günstling.

    XII.-XIII. Lowet, Cameron. Ein schwaches Weib.

          XIV. Guglia, Eugen. Das Begräbniß des Schauspielers und
               andere Novellen.

           XV. Cantacuzène, Olga, Prinzessin. Carmela.

    XVI.-XVII. Casetti, Alexander. Das Vermächtniß. Original-Roman aus
               der Gesellschaft.

        XVIII. Roest, Rust. Firma Löwe, Kurt u. Comp. Eine Erzählung.

      XIX.-XX. E. Braddon. Im Verdacht.

    XXI.-XXII. Delpin, Albert. Alle Beide.

  XXIII.-XXIV. Waldow, Ernst von. Die rothe Locke.

    XXV.-XXVI. Mairet, Jeanne. Auf der Höhe.


A. Hartleben's Verlag in Wien, Pest und Leipzig.



[ Hinweise zur Transkription


Das Originalbuch ist in Frakturschrift gedruckt. Darstellung abweichender
Schriftarten (ausgenommen römische Zahlen): =Antiqua= .

Das Inhaltsverzeichnis wurde vom Textende an den Textanfang verschoben.
Wiederholungen von Kopf- und Fußzeilen in der Verlagswerbung wurden
entfernt.

Der Text des Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten, mit folgenden
Ausnahmen,

  Seite 11:
  "unrecht" geändert in "Unrecht"
  (Nicht alles Unrecht, was in der Welt geschieht)

  Seite 23:
  "«," geändert in ",«"
  (»Sie sind Jurist und ich möchte mir Ihren Rath erbitten,«)

  Seite 75:
  "Theoder" geändert in "Theodor"
  (mein Freund Theodor mit lauter Stimme)

  Seite 92:
  "sie" geändert in "Sie"
  (wie vielen Damen Sie diese Tirade schon wiederholt)

  Seite 103:
  "." eingefügt
  (im Forste lag schon tiefes Dunkel.)

  Seite 112:
  "Studienbätter" geändert in "Studienblätter"
  (Skizzen, Studienblätter, Kreide- und Federzeichnungen)

  Seite 125:
  "»" entfernt vor "Hör'"
  (gewiß nicht! Hör' auf, hör' auf!)

  Seite 132:
  "Häusesmeeres" geändert in "Häusermeeres"
  (im Gewühle des Häusermeeres ist es gelegen)

  Seite 161:
  "Kraszwski" geändert in "Kraszewski"
  (Kraszewski, J. I. Am Hofe August des Starken)

  Seite 161:
  "Girolamo" geändert in "Gerolamo"
  (Rovetta, Gerolamo. Der erste Liebhaber.) ]





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