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Title: Buch und Bildung - Eine Aufsatzfolge
Author: Oldenbourg, Friedrich
Language: German
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    Anmerkungen zur Transkription


    Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text
    ist _so ausgezeichnet_.

    Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des
    Buches.



    Friedrich Oldenbourg

    Buch und Bildung

    Eine Aufsatzfolge

    C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung
    München 1925



Vorwort


Vor einem Fest stellt man sich wohl an einen Spiegel und prüft, ob
der Anzug sitzt, ob die Binde in Ordnung, ob das Haar richtig liegt.
Wer aber Feste richtig zu feiern versteht, der bleibt nicht bei
diesen eitlen Äußerlichkeiten. Er blickt sich richtig ins Gesicht, d.
h. er prüft auch, ob er als Mensch zu dem bevorstehenden Fest paßt;
er scheut nicht davor zurück, auch dem inneren Menschen den Spiegel
vorzuhalten, und wenn er dann manchen Mangel entdeckt, macht er eine
mehr oder minder große Schublade auf und entnimmt ihr allerlei gute
Vorsätze, glättet mit ihnen hier eine Falte, deckt damit dort einen
allzu störenden Fleck, und glücklich, wenn es gelingt, nach solcher
Arbeit mit dem Bewußtsein vollen Erfolges unter die Festgesellschaft
zu treten. Er kann wirklich feiern, auch wenn er weiß, daß der Ernst
seiner guten Vorsätze harten Werktag in Aussicht stellt; denn ein
wahrer Festtag ist nicht nur der schöne Abschluß nach einer Zeit der
Arbeit, er ist auch der Auftakt des morgigen Schaffens. Blieben wir
nicht alle dem Gestern etwas schuldig, daß wir uns des Morgen mit
seinen Möglichkeiten freuen müssen, wenn wir heute ein Fest wirklich
feiern wollen?

Der deutsche Buchhandel feiert in diesem Jahr sein großes Fest, und
nicht nur seine Angehörigen, sondern auch alle Verwandten und Freunde,
ja auch alle, die mit ihm mehr pflichtmäßig als aus Zuneigung
verkehren, werden mitfeiern. Der Absicht, ihnen allen, meinen
Berufsgenossen in erster Linie, zu solcher Spiegelschau zu verhelfen,
verdankt das vorliegende Buch seine Zusammenfügung aus zunächst
unabhängig voneinander entstandenen Reden und Aufsätzen.

Ich weiß, es entstand kein Spiegel aus herrlichem Kristallglas, auch
das Metall der Hinterlegung ist nicht fleckenfrei, und der Rahmen
ist weder aus edler Bronze noch von kunstvoller Schnitzerei. So mag
mancher, der vom Spiegelbild nicht entzückt ist, ruhig lieber dem
Spiegel die Schuld geben, ehe er sich die Laune verderben läßt.
Bedenken möge aber jeder, daß uns manchmal der bescheidenste Scherben
gute Dienste leisten kann, wenn Besseres nicht greifbar ist. Würde ich
nicht den Glauben haben, daß mein unvollkommenes Machwerk doch da und
dort durch Anregung oder wenigstens durch Widerspruch etwas wirken
kann, dürfte ich es nicht geschrieben haben. Daß ich es aber nicht nur
schrieb, sondern auch durch Druck vervielfältigen lasse, entsprang
nicht meiner Unbescheidenheit, sondern der Liebe zu meinem Beruf, Beruf
in jenem höheren Sinne des Schaffens zur Erfüllung einer gottgegebenen
Pflicht. Liebe aber ist am glücklichsten im Schenken, und hat sie
nichts anderes, so ist ihr auch bescheidene Gabe lieber als leere Hände.

    München, April 1925.

            _Dr. Friedrich Oldenbourg_



Politische Bildung und staatsbürgerliche Erziehung


In Zeiten des politischen Tiefstandes eines Volkes wird gerne nach
Wegen gesucht, die es ermöglichen, wieder emporzuklimmen. Jede Partei,
jeder Stand, ja fast jeder Einzelmensch weiß dann irgendein Mittel,
das zur Gesundung dienen soll. So viele Meinungen das Übel zu bannen
versprechen, so gewiß ist das eine, daß nur die dahinterstehende gute
Absicht wirklich wertvoll ist. Sie ist das einzig Zusammenschließende
in dem Vielerlei und insoferne auch der einzig brauchbare
Ausgangspunkt; denn alle empfohlenen Mittel, auch wenn sie noch so gut
sind, müssen richtig und zu passender Zeit angewendet werden, sind also
nicht an sich gut, sondern nur, wenn ihre Voraussetzungen erfüllt sind.

Soll aber dieser gemeinsame Wille der Hilfsbereitschaft sich auswirken
zum Segen des Ganzen, so muß die Bahn frei gemacht werden nach der
Richtung, in der allein politisches Leben zu finden ist, in Richtung
auf den Staat. Nicht ein Staat ganz bestimmter Form kann hiebei in
Frage kommen -- die Wege würden da ja gleich auseinanderführen --,
zunächst handelt es sich nur um das Bewußtsein, daß Politik ohne
Staat unmöglich ist. Erst dieses Bewußtsein schafft die Möglichkeit,
weiterzuplanen.

Darum ist der Inhalt der Überschrift dieses Aufsatzes von mir als
die Frage gedacht: Können politische Bildung und staatsbürgerliche
Erziehung uns heute helfen, helfen in jenem eindeutigen Sinne?

Nun glaube ich nicht, daß ich allein die richtige Antwort geben kann;
ich bin aber überzeugt, daß die Aufwerfung der obigen Frage an sich
schon Wert besitzt. Je mehr das gleiche tun, desto sicherer wird sie
geklärt, auch wenn die Antworten weit auseinandergehen. Irgendwie wird
dann der sachlich unantastbare Kern gefunden, losgelöst von den Schalen
persönlicher Gebundenheiten.

Diese Gebundenheiten eines Buchhändlers, der sich an der Universität
geisteswissenschaftlichen Studien hingab und dann als Offizier
den Krieg mitmachte, sind nicht schwer zu erkennen, ja um so
mehr faßbar, wenn man genau verfolgt, welche Zeugen er für seine
Begriffsbestimmungen anführt. Diese aber sind die Voraussetzungen für
alles Weitere; denn der Hauptgrund dafür, daß die Menschen soviel
aneinander vorbeireden, ist der, daß sie mit den gleichen Worten
Verschiedenes ausdrücken.

In der von mir gewählten Überschrift sind im ganzen vier Begriffe, die
verdeutlicht werden müssen.

»Alle _Politik_ ist Kunst.« Mit diesem Wort begann Heinrich von
Treitschke seine Vorlesungen über Politik, und wenn man ein beliebiges
Wörterbuch aufschlägt, so findet man als erste verdeutlichende
Übersetzung des Wortes Politik »Staats_kunst_«. Es ist wohl das Beste,
daran festzuhalten, daß alle weiteren Worterklärungen vom wahren
Sinn des Wortes abirren. Es hat schon Leute gegeben, die Politik als
Wissenschaft hinstellen wollten. Sie wurden dazu verleitet, weil die
Politik des wissenschaftlichen Rüstzeuges nicht entraten kann. Es
wird aber wohl niemandem einfallen, die Malerei als Wissenschaft zu
bezeichnen, weil sie sich bei uns z. B. der Mathematik in Form der
Perspektive bedient. »Alle Politik ist Kunst« heißt: nur ein Künstler
kann sie beherrschen. Muß man darüber noch mehr sagen in einer Zeit,
wo von allen Seiten nach dem Manne gerufen wird, der den politischen
Knoten unserer Zeit löst, und sei es durch scharfen Hieb? In einer
Zeit, in der Bismarcks letzter Erinnerungsband die ganze Kümmerlichkeit
aller jener Politiker zum Bewußtsein bringt, die dem großen Meister
nicht etwa nachfolgten, sondern genug zu »können« wähnten, um eigene
Wege zu gehen?

Es läge nun nahe, daß ich an zweiter Stelle erklärte, was ich
unter einem Staatsbürger verstehe; damit würde ich aber nahezu die
Hauptsache meiner Ausführungen vorwegnehmen, denn man wird aus der
Überschrift herausgefühlt haben, daß ich eben der politischen Bildung
die staatsbürgerliche Erziehung gegenüberstelle. Dazu kommt, daß
ich mich nicht ohne weiteres an Treitschke anschließen kann, dem
ich für den Begriff der Politik folgte. »Es ist eine aus Frankreich
herübergenommene radikale Schrulle, wenn man in dem Worte Untertan
etwas Ehrenrühriges sieht und dafür Staatsbürger einsetzt. Untertan und
Staatsbürger sind zwei sich ganz und gar deckende Begriffe, nur daß
in jenem mehr Verpflichtung, in diesem mehr die Berechtigung betont
wird.« Aber seit Treitschke dies aussprach, ist das Wort Untertan noch
mehr in Verruf gekommen; es gibt keine »Regierenden und Regierten«
mehr wie damals Anfang der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts.
Das Volk regiert sich ja selbst! Diese Andeutung, daß gerade der
Staatsbürgerbegriff die große Frage der Überschrift dieser Ausführungen
umschließt, muß hier zunächst genügen.

Einer eingehenden Auslegung aber bedürfen noch die Begriffe »Bildung«
und »Erziehung«. Ich möchte hier geschichtlich vorgehen; wir erhalten
dadurch, wie sich bald zeigen wird, einen besonders klaren Ausblick auf
den Weg, der zurückgelegt werden soll.

Das Wort Bildung hat manche Wandlung in seiner Bedeutung erlebt. Es
wurde zwar häufig in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gebraucht,
aber immer im Sinne von Gestalt; man sagte z. B. von einer schönen
Frau, sie sei von ausgezeichneter Bildung. Erst in der klassischen
Zeit, hervorwachsend aus der Aufklärungsphilosophie, bahnt sich das
Wort in seiner geistigen Bedeutung den Weg.

Die vielleicht klarste Verwendung in der neuen Bedeutung finden wir bei
Schiller in den philosophischen Schriften. Er, der ja die ästhetische
Erziehung als Forderung aufstellt, mußte ja auch am ehesten an den
ursprünglichen Wortsinn anknüpfen können. Was Plato sich von jedem
Ding dachte, das Vorhandensein einer Idee, eines idealen Vorbildes in
einer besseren Welt, das beherrscht Schiller besonders im Hinblick auf
den Menschen in jeder Hinsicht, vornehmlich aber in geistiger. »Nicht
der Masse qualvoll abgerungen, schlank und leicht, wie aus dem Nichts
entsprungen, steht das Bild vor dem entzückten Blick.« Diese Verse
aus dem Gedicht »Das Ideal und das Leben« verdeutlichen am besten,
wie Schiller sich jenes Bild der besseren Welt der Gedanken dachte im
Gegensatz zu dem in Wirklichkeit erscheinenden.

Kurz sei Goethes Persönlichkeitsideal erwähnt. Erst beim alten Goethe
-- in Wilhelm Meisters Wanderjahren und im zweiten Teil des Faust --
bezieht er Staat und Gesellschaft mit ein, also in jener Zeit, die den
politisch so entscheidenden Jahren um die Jahrhundertwende erst folgte.

Die Betrachtung gerade dieser Zeit aber ist aus begreiflichen
Gründen für uns von ausschlaggebender Bedeutung. Es ist die
Zeit der geistigen Geburt des neuen deutschen Staates: Aus den
weltbürgerlichen Strebungen der Aufklärungszeit und denen unseres
klassischen Zeitalters wächst das Ideal des Nationalstaates hervor.
Am Anfang dieser Entwicklung steht Wilhelm von Humboldt; er wird
auch in der klassischen Darstellung dieser Entwicklung durch den
Berliner Historiker _Meinecke_ an die Spitze gestellt. Wohl mutet
er uns noch allzusehr von weltbürgerlichen Idealen erfüllt an, doch
werden Sie den Fortschritt, den wir Humboldt hier verdanken, sofort
erkennen, wenn Sie sich einerseits die Beziehungslosigkeit unserer
klassischen Dichter zum deutschen Staatsgedanken vergegenwärtigen und
dann folgende Worte Humboldts in sich aufnehmen: »Die Zivilisation
ist die Vermenschlichung der Völker in ihren äußeren Einrichtungen
und Gebräuchen und der darauf Bezug habenden Gesinnung. Die Kultur
fügt dieser Veredlung des gesellschaftlichen Zustandes Wissenschaft
und Kunst hinzu. Wenn wir aber in unserer Sprache _Bildung_ sagen, so
meinen wir damit etwas zugleich Höheres und mehr Innerliches, nämlich
die Sinnesart, die sich aus der Erkenntnis und dem Gefühle des gesamten
geistigen und sittlichen Strebens harmonisch auf die Empfindung und
den Charakter ergießt.« Selbst noch Weltbürger, hat er mit dieser
Aufstellung des _deutschen_ Bildungsbegriffes im Gegensatz zu den aus
der Fremde übernommenen Begriffen »Zivilisation« und »Kultur« für
das Deutschtum nach meiner Ansicht mehr geleistet als mit all seinen
staatsphilosophischen Betrachtungen, soviel auch diese sonst in der
Geschichte des deutschen Nationalstaates eine Rolle spielen mögen.

Indem ich für diese Geschichte hinsichtlich der Einzelheiten auf
Meinecke verweise, wende ich mich nun zu jener Gestalt, die eben jenen
deutschen Bildungsbegriff, gedrängt durch das Gefühl für Deutschlands
tiefste Erniedrigung, aus der Enge der Gedankenwelt einzelner, über
ihrer Zeit stehender Persönlichkeiten hinaustrug in den Kampf mit der
Not der Zeit: zu Fichte. Es wäre eine Aufgabe für sich, an der Hand der
»Reden an die deutsche Nation« im einzelnen der Frage nachzugehen, wie
Fichte mit diesem Hinaustreten in die Arena des Zeitkampfes nicht nur
die politische Gleichgültigkeit der »Gebildeten« bekämpfte, sondern
gerade jenes Bildungsideal der klassischen Zeit zur politischen Waffe
umschmiedete. Hier kann nur in enger Zusammenfassung das Wesentliche
herausgehoben werden. Ich schicke zwei Sätze der ersten Rede voraus:
»So ergibt sich denn also, daß das Rettungsmittel, dessen Anzeige ich
versprochen, in der Bildung bestehe zu einem durchaus neuen und bisher
vielleicht als Ausnahme bei einzelnen, niemals aber als allgemeines und
nationales Selbst dagewesenes Selbst und in der Erziehung der Nation.«
Und: »Wir wollen durch die neue Erziehung die Deutschen zu einer
Gesamtheit bilden, die in allen ihren einzelnen Gliedern getrieben
und belebt sei durch dieselbe eine Angelegenheit.« Aus diesen beiden
Sätzen läßt sich alles Wesentliche entnehmen: Fichte faßt erstens
die Nation als ein Wesen auf, das wie die Einzelpersönlichkeit eine
bestimmte Willensrichtung haben kann, und er fordert, daß dieser Wille
zur Aufwärtsentwicklung, zur Bildung der nationalen Persönlichkeit
angespannt werde; zweitens aber ist er sich klar darüber, daß das
Idealbild zunächst nur bei den schon Gebildeten in reinster Form
als Ziel erkannt werden kann, und darum ist es Pflicht eben jener
Gebildeten, an der _Erziehung_ der übrigen Teile der Nation so zu
arbeiten, daß sie mit richtigem Zielstreben erfüllt werden.

Damit haben wir zum erstenmal eine klare Trennung zwischen »Bildung«
und »Erziehung«: Bei der Erziehung ist das Bild, zu dem ein Mensch
herangebildet wird, nicht in ihm selbst, es ist vielmehr das Ideal
des Erziehers. Wohl dachten ein Schiller oder Humboldt wie auch
Goethe nicht nur an die »Sichbildung«, wie sie Fichte an einer Stelle
nennt, auch sie waren sich klar darüber, daß der Mensch in seinem
Bildungsgang auch von außen beeinflußt wird; allein sie stellen,
selbst starke Persönlichkeiten, diesen äußeren Einfluß so weit unter
die »Sichbildung«, daß z. B. Goethe in Wilhelm Meisters Lehrjahren
nur Wilhelms Bildungsstreben herausarbeitet, alle Personen seiner
Umwelt erscheinen als von ihm benütztes Mittel zum Zweck, nicht als
durch bewußte Erziehung wirkende Personen. Erst in den Wanderjahren
tritt bewußte Erziehungstätigkeit in Erscheinung, und mich dünken
diese Teile weniger ursprünglich. Humboldt widmet zwar in seinem Buch
über den Staat das 8. Kapitel der Sittenverbesserung, ist aber weit
davon entfernt, den Begriff der Erziehung dabei zu berühren; er gibt
vielmehr fast nur einen Abriß der Philosophie Schillers, in dem er
die Überwindung des Sinnlichen durch das Schöne im weitesten Sinn des
Wortes verlangt. Die Not der Zeit, von Fichte tiefinnerlich empfunden,
brachte die Wendung: Fichte erkannte, daß den Deutschen nur geholfen
werden kann, wenn die Wirkung der deutschen Bildung, wie wir sie vorhin
in einem Worte Humboldts kennenlernten, auf die breite Masse des Volkes
ausgedehnt werde, und dazu bedarf es der Erziehung.

Man sieht, durch meine geschichtliche Betrachtung führte ich längst
über jene zur Verständigung notwendige Begriffsbestimmung hinaus.
Wir stehen schon mitten im Kernpunkt der Aufgabe, das Verhältnis
von »politischer Bildung« und »staatsbürgerlicher Erziehung« zu
bestimmen. Wir können feststellen, daß von Fichte jedenfalls
ein Unterschied gemacht wurde zwischen Bildung, Sichbildung und
Erziehung. Das ist wichtig; denn wenn wir nun in großen Zügen die
geschichtliche Betrachtung weiterführen, so zeigt sich, daß einerseits
die Philosophie, ich erinnere besonders an Herbart, andrerseits die
praktische Erziehungsreform Pestalozzis und seiner Nachfolger die
Erziehung immer mehr zum Mittelpunkt machten: Wir erhielten dadurch
eine aufs höchste entwickelte Erziehungswissenschaft -- gewiß eine
nicht zu unterschätzende Errungenschaft. Allein die Kehrseite von
dieser Entwicklung ist höchst unerfreulich: Wir verloren jene Bildung
der Persönlichkeit aus eigenem Streben heraus. Der Idealismus verlor
dadurch die Bedeutung, die er sich in der klassischen Zeit erobert
hatte. Es trat eine Versachlichung eben dieses Ideals ein, was man
vielleicht am besten dadurch bezeichnet: An die Stelle des Ziels trat
der Zweck. Wir kamen so weit, daß man unter einem gebildeten Menschen
den verstand, der z. B. wußte, welcher Anzug der jeweils richtige
ist; wir sanken also bis auf die Stufe jener Zeit zurück, in der
höfische Etikette die Hauptsorge kleiner verschuldeter Fürstenhöfe
war. Gewiß war der allgemein zunehmende Materialismus schuld; aber
es sei nicht vergessen, daß auch die einseitige Entwicklung der
Erziehungswissenschaft die Verantwortung mit zu tragen hat, wobei
allerdings zu fragen ist, ob eben diese Entwicklung nicht selbst eine
Äußerung des Materialismus darstellt.

Der Rückstoß blieb aber nicht aus: Als Nietzsche sozusagen mit
Posaunentönen das Ideal des »Übermenschen« verkündet hatte, da erlebte
man bald jene Vertreter des rücksichtslosen Auslebens der eigenen
Person: Die Erziehung wurde als Schulmeisterei über Bord geworfen, und
das herrliche Zeitalter des Schwabingertums kam zur Blüte. Die Frucht,
die folgte, haben wir gekostet und der schlechte Geschmack will nicht
von der Zunge weichen. Nietzsche selbst trifft für den Kenner keine
Schuld; er war nur der Auslöser einer naturnotwendigen Bewegung; andere
Geistesgrößen, die zwar auch den Umschwung forderten, aber nicht mit
jenem schmetternden Klang, drangen nicht über eine kleine Gemeinde
hinaus. Ich erinnere nur an Lagarde. Noch stehen wir mitten in dieser
Revolution des Geistes, und die politische Revolution ist nur ein
Ausschnitt aus dem Riesenkampf, der jetzt allenthalben tobt.

Es ist nun fesselnd zu beobachten, wie in dem Ringen um neue geistige
Ziele um die Jahrhundertwende die Forderung nach staatsbürgerlicher
Erziehung auftauchte, und wie man an ihrer Lösung arbeitete: Man
forderte, daß jedem Deutschen auf der Schule gelehrt werde, welche
Rechte und Pflichten er im Staate besitze. Die einen wollten, um mit
Treitschke zu sprechen, durch starke Betonung der Pflichten gute
»Untertanen« erziehen und die Umsturzgefahr bannen. Die anderen wollten
mit Betonung der Rechte die Lust nach mehr erwecken. Ich will hier nur
in großen Umrissen andeuten. Gemeinsam bleibt den ganzen Bestrebungen
ein parteipolitisches Gepräge: Von den ganz Rückständigen, die das
Unmögliche wollten, daß der deutsche Staat immer in der gleichen Form
erscheinen solle, bis zu jenen Phantasten, die in der Zertrümmerung
der Form ihr Ziel sehen, konnte man immer den gleichen Grundfehler
beobachten: Sie setzten die Form für den Staat. Dazu kamen jene, die
mit geschichtlichen und erdkundlichen _Kenntnissen_ dem deutschen
Staatsbürger auf die Beine helfen wollten, ganz verkennend, daß nicht
seine Kenntnisse, sondern die Gesinnung den Menschen zum Staatsbürger
macht, daß also gerade hier die Steigerung der Kenntnisse zum Erlebnis
unumgänglich notwendig ist.

Wir befinden uns im Brennpunkt des Fragenkreises, den ich angeschnitten
habe. Um das empfinden zu lassen, möchte ich zwei kleine Geschichten
erzählen: Nicht lange vor dem Kriege fuhr ein Deutscher nach
Ostafrika. Auf dem Schiff reiste auch der Bruder eines in der
Kolonialgeschichte bekannten Engländers mit. Wie nun die Fahrt durch
den Suezkanal ging, da fragte der Engländer den Deutschen -- und
zwar vollkommen im Ernst --, auf welcher Seite Ägypten läge. Dies
ist die eine Geschichte; nun die andere: Vor einiger Zeit teilte
ein Buchhändler in Deutschböhmen im Börsenblatt für den deutschen
Buchhandel die beschämende Tatsache mit, daß viele Reichsdeutsche in
den Aufschriften der Briefe die deutschen Ortsnamen Böhmens tschechisch
schrieben, obwohl selbstverständlich nur für den tschechoslowakischen
Inlandsverkehr tschechische Aufschrift Gesetz sei, weil ja z. B. auch
Engländer und Franzosen kein Tschechisch können.

In diesen beiden Geschichten hat man die Erläuterung dafür, was ich
von der deutschen Erziehung zum Staatsbürger halte: Man hat bei uns so
gute Kenntnisse, daß man z. B. _Praha_ für Prag schreiben kann, aber
nicht einmal so viel staatsbürgerliche Gesinnung, daß man die unserem
Staate ferngehaltenen Volksgenossen in ihrem Kampf um die Heimkehr
zu uns unterstützt; ja, man fällt ihnen sogar in den Rücken! Auf der
andern Seite sehen Sie den Engländer mit seiner uns unbegreiflichen
geographischen Unbildung; glauben Sie aber, daß er jemals zu solcher
staatsbürgerlicher Gesinnungslosigkeit fähig wäre wie jene nochmal so
gescheiten Deutschen? Dabei handelt es sich bei jenen Deutschen um
Kaufleute, nicht um bewußt »vaterlandslose Gesellen«.

Ich glaube deutlich gemacht zu haben, was ich unter einem Staatsbürger
verstehe: _Ich verstehe darunter einen Menschen, der von den
Lebensnotwendigkeiten seines Staates überzeugt ist._ Der rücksichtslose
Kriegsgewinnler und der Flaumacher passen sowenig unter diesen
Begriff wie der Überläufer und der Meuterer. Ich erwähne dies, um
zu zeigen, daß in Augenblicken der äußeren Gefahr für den Staat
die Überzeugung von den Lebensnotwendigkeiten gar nicht so große
Kenntnisse erfordert; je mehr wir uns aber auf das Gebiet der inneren
Staatsentwicklung begeben, desto größer werden die Anforderungen
an die Gesinnungstüchtigkeit und naturgemäß müssen deshalb bei der
Unvollkommenheit der menschlichen Natur die Stützen der Gesinnung hier
besonders kräftig sein.

Schon vor dem Krieg hatte man erkannt, welche Kräfte man diesem
Zwecke dienstbar machen könne und müsse; der einschlägige Artikel in
dem 1912 erschienenen Handbuch der Politik betont, daß man sich an
den Verstand durch Vermittlung von Kenntnissen, an das Gefühl durch
Weckung des Gemeinschaftsgefühls und an den Willen durch Stärkung
des Verantwortungsgefühls wenden müsse. Man beging aber dabei zwei
Grundfehler: Man dachte viel zu sehr an Menschen, die bis zu einem
gewissen Grad schon eine günstige Einstellung zum Staatsgedanken
mitbrachten, und glaubte deshalb der Schule, vor allem dem höheren
Schulwesen die Hauptaufgabe zuweisen zu können. Zweitens aber war man
sich nicht genügend klar darüber, daß die Willensbildung eben schon
über die Erziehung hinausführt. Gehorsam und die Bereitschaft sich
unterzuordnen sind häufig nur die Folge von Gedankenlosigkeit und
Bequemlichkeit, werden sie aber von einzelnen schon bewußt und mit
innerer Überzeugung dem Staate entgegengebracht, so haben wir das
Gebiet der Erziehung verlassen und stehen mitten in der Selbstbildung.

Damit sind wir an der Stelle angelangt, an der über die politische
Bildung gesprochen werden muß. Politik ist Kunst und Bildung ist
nach Humboldt jene »Sinnesart, die sich aus der Erkenntnis und dem
Gefühle des gesamten geistigen und sittlichen Strebens harmonisch
auf die Empfindung und den Charakter ergießt«. Es hieße blind sein,
wenn man Anforderungen, wie sie nach solcher Deutung die politische
Bildung erfordert, der Gesamtheit eines Volkes zumuten wollte. Die
politische Bildung ist Sache der geistig und sittlich Starken; sie
müssen das Streben haben, über den Untertan- und Staatsbürgerbegriff
hinauszukommen, wie ihn Treitschke gibt; hier handelt es sich nicht
mehr nur um Rechte und Pflichten; hier kommt die Bildung des Willens
zur Einordnung allein nicht mehr in Frage; _gestaltender Wille_,
der zur politischen Tat befähigt, ist hier die Losung. »Ehrgefühl,
Pflichtgefühl, Disziplin, Entschlossenheit, das lernt man nicht aus
Büchern«, sagt Spengler und ich setze hinzu: überhaupt nicht durch
Worte. »Es wird«, fährt Spengler fort, »im strömenden Dasein geweckt
durch ein lebendiges Vorbild«[1]. Ja, nur das Vorbild kann hier
wirken und dieses bildet sich selbst, aus eigenem Willen und eigener
sittlicher Kraft.

Daß die politische Bildung im Deutschen Reiche fehlte, war unser
Unglück. Muß das bewiesen werden? Man denke an die Gesinnung des
Volkes zu Beginn des Krieges und man wird nicht leugnen, daß wir
damals »Staatsbürger« genug hatten, der Mangel an politischer Bildung
aber hat dieses Staatsbürgertum zum Weißbluten gebracht, ohne daß es
zur politischen Tat gekommen wäre; man verzettelte die Kräfte innen-
und außenpolitisch auf schlecht erdachte Einzelziele, ohne sie so
umzuformen, daß politische Leistung hätte erzielt werden können.
Erinnert sei hier an die Polenpolitik und an den Burgfrieden des
Kanzlers, deren Folgen der Verlust deutschen Landes einerseits, der
Umsturz andrerseits war.

Nach meiner Meinung mit einem gewissen Recht wird von manchen Seiten
heute betont, daß alle jene Männer der Kriegszeit, die nun mit großen
Mitteln Kritik an der politischen Leitung während des Krieges üben, mit
ihrer Kritik sich selbst treffen. Sie hätten sich durchsetzen müssen,
wenn in ihrem Innern jenes Bild vom deutschen Staate so klar war. Sie
taten es nicht und bewiesen eben deshalb, daß sie nicht stark genug
waren. Das ist die Schuld der Vielen, die das Verhängnis erkannten: Sie
setzten sich nicht durch.

Gewiß war es ein guter Gedanke, durch staatsbürgerliche Erziehung
im Heere die Stimmung zu heben, doch fehlte es an den politisch
Gebildeten, die Kraft genug hatten, dem ausgesogenen Boden neue
Kraft zu geben, von dem Mangel an lebendigen Kräften gegen die
unwiederbringlich verlorene Stimmung der Heimat ganz abgesehen. Das
»schuldig«, das die Weltgeschichte über Deutschland sprach, trifft uns
alle, nicht nur einen Teil des Volkes.

So erfüllte sich das Schicksal des deutschen Staates; er brach
zusammen, in dem Augenblick, als auch bei den Feinden die innere Kraft
trotz der Amerikahilfe im raschen Abnehmen war. Ja, der Staat brach
so zusammen, daß nicht einmal die Eckpfeiler für den Neubau stehen
blieben. Man baute aus Dachpappe der Weimarer Fabrik eine Baracke.
Trotz aller Flickerei weht der geringste Wind durch die Wände und an
mehr als einer Stelle regnet es herein. Dann lachen immer die, welche
schon im alten Staatsgebäude keine rechte Wohnung hatten, sondern nur
im Hofe biwakierten, und die anderen drängen sich scheu in bessere
Ecken. Das wird so lange dauern, bis Leute aufstehen, die mit klarer
Zielstrebigkeit die formlosen Haufen zur Arbeit am Neubau treiben. Das
wird dann sein, wenn das Schicksal und nicht der Schulmeister die Masse
zu staatsbürgerlicher Gesinnung erzogen hat, so daß politische Bildung
der geistig Hochstehenden zu klarem Führerwillen aufsteigen kann. Wir
hoffen auf diese Zeit und glauben nicht, daß unser Volk durch den
Zusammenbruch des alten, schönen, vielgeliebten Hauses zugrunde geht.
Wir haben die feste Zuversicht, daß ein geräumiges Gebäude entstehen
wird, in dem alle Deutsche Platz haben werden, daß die Mauern stark
sein werden und daß das Haus von jenem Geist erfüllt sein wird, in dem
so viele draußen ihr Leben geopfert haben.

Aber es wäre kläglich, wenn wir uns darauf beschränken wollten
zu warten, bis sich das Schicksal, das wir erhoffen, von selbst
erfüllt. Die Zuversicht muß uns die Kraft geben, selbst gestaltend
mitzuwirken, jeder an seiner Stelle. Ein »Gebildeter« muß die
Entschlußkraft haben, sich aus der Menge loszuringen; er darf sich
nicht treiben lassen, sondern muß sich zu eigenem politischen Wollen
durchringen. Ein politisch Lied mag ein garstig Leid sein, die wirklich
staatsgestaltende politische Tat gehört zum Höchsten, was der Mensch
leisten kann, denn bei ihr spannt er seinen Willen nicht für seine
persönlichen Zwecke, sondern für die der Gesamtheit an.

Wenn man aber fragt, in welcher Richtung diese Willensanspannung
nach meiner Meinung zu gehen hat, dann kann ich allen, die der
staatsbürgerlichen Erziehung entwachsen sind, nur sagen, daß es
nun heißt, sich politische Bildung zu erwerben. Man frage nicht
nach einem Programm hiefür, denn »alles Große bildet, sobald wir es
gewahr werden«, wie Goethe sagt. Wirkliche Bildung kann sich jeder
nur selbst erwerben, von außen kann er nur Erziehung erhalten.
Diese hat aber ihr Teil geleistet, wenn sie die staatsbürgerliche
Gesinnung erreicht hat, die über alles Parteigezänk hinausführt zu der
Überzeugung von den Lebensnotwendigkeiten des Staates. Heute haben
wir Deutsche keinen Staat, er ist heute nur Ziel, das jede Partei mit
anderen Farben ausmalt; die Höhe der politischen Bildung bestimmt,
welche Form der einst entstehende Staat haben wird. Erinnern wir uns
nochmals, daß Politik Kunst und daß Bildung ein Begriff von hoher
sittlicher Größe ist, und wir werden uns durch das Schlagwortgetöse
der Zeit hindurchfinden, denn noch nicht trat bisher der alle Deutsche
umfassende Staat, den unsere Besten erhofften, in die Erscheinung, noch
immer kreisen die Raben um den Berg, obwohl die Zahl der Opfer für
diese Zukunft ins Riesenhafte gewachsen ist.

Halten wir daran fest, daß Bildung ein Werden aus eigenem Willen ist
und daß somit wahre Erziehung nichts Besseres leisten kann als eben
jenen Willen zu stählen, so gewinnen wir auch eine andere Einstellung
zur Sehnsucht der Zeit, ja nicht nur zur Sehnsucht, sondern auch
andrerseits zur Furcht der Zeit.

Während der eine Teil unseres Volkes immer und immer wieder nach dem
»starken Mann« ruft, der in dem Wirrwarr unserer Tage mit sicherer
Hand Ordnung schafft, fürchtet die andere Seite nichts mehr als eine
solche Persönlichkeit, die der nun erreichten, doch so lange ersehnten
Volksherrschaft (Demokratie) ein Ende machen könnte. Wohl möchten
diese Leute, daß der Fähige regiere, aber diese Fähigkeit soll nur
Sachkenntnis sein, nicht ein zäher Wille, der auch der Wählermenge
gegenüber durchgreift, wenn seine sachliche Einsicht es für geboten
hält. Diese Leute wünschen Führer, die ihnen jede Unannehmlichkeit
ersparen und die keine Anforderungen an die Willenskraft der Wähler
stellen. Trotzdem aber sollen sie gut regieren.

Man sollte meinen, daß es nicht schwer zu erkennen wäre, wie unmöglich
das ist. Und doch gibt es viele »Gebildete«, die das nicht begreifen.
Ja, jene Sehnsucht nach dem starken Mann ist aufs engste verwandt
mit dieser Auffassung; denn Sehnsucht allein gibt kein Anrecht auf
Erfüllung. Wenn du Sehnsucht danach hast, auf der Spitze eines Berges
den Blick in die Weite zu genießen, so führt das zu nichts: Erst wenn
du deinen Willen anspannst und im Schweiße deines Angesichts die
steilen Hänge überwindest, ja vielleicht unter Gefahr deines Lebens
Felsen erkletterst, kannst du auf Erfüllung deines Wunsches rechnen.

Nicht anders steht es mit einem Volk, das in die Tiefe gestürzt ist:
es wird aus eigener Kraft mit stärkster Willensanspannung wieder
emporklettern müssen. Einen »Führer«, der es am Seil hochzieht, gibt
es nicht. Wie aber dem, der heiß um den Weg sich bemüht, schließlich
immer klarer die einzuschlagende Richtung in das Bewußtsein tritt, so
wird dem Volk, das mit Anspannung aller Kraft um seinen Aufstieg ringt,
schließlich der Führer entstehen, der auf einfachstem Wege zum Ziel
führt.

Darum verzichte jeder auf den memmenhaften Ruf nach dem starken Mann;
er kralle sich vielmehr an seinem Platz im Gestein fest und strebe
nach oben, er bilde sich zu einem Muskel, einem Nerv, einer Sehne des
Volkskörpers, womit sich dieser Körper emporziehen kann, und er bilde
sich zu einem Geistesfunken, durch den auch jene Zellen dem Streben
nach oben nutzbar gemacht werden können, die heute noch aus sinnlichem
Wohlbehagen in der Mittelmäßigkeit die angenehmste Regierung sehen.

Diejenigen, die bewußt dem deutschen Gedanken dienen wollen, indem sie
den Staat, den dieser Gedanke erfüllt, mit allen Kräften wollen, werden
einen dicken Strich ziehen zwischen sich und jenen, die politisch
unerzogen und ungebildet nur ihrem Vorteil leben. Sie werden mit Goethe
sprechen:

    »Jene machen Partei; welch unerlaubtes Beginnen!
    Aber unsere Partei, freilich, versteht sich von selbst.«


Fußnoten

    [1] Harnack sagte 1902 in einem Vortrag vor dem
        evangelisch-sozialen Kongreß das gleiche (vergl. Reden und
        Aufsätze Bd. II, Gießen 1906): »Lernen können wir alles
        mögliche aus Büchern und unpersönlichen Überlieferungen,
        gebildet werden können wir nur durch Bildner, durch
        Persönlichkeiten, deren Kraft und Leben uns ergreift«.



Buch und Religion


Harnack sagt einmal in einem seiner Aufsätze[2], daß uns bisher noch
eine Kulturgeschichte des Buches fehle. Und in der Tat -- soviel
einzelne Bemerkungen über die Bedeutung des Buches beigebracht werden
können, eine zusammenfassende Behandlung dieses Themas fehlt, fehlt
uns, deren Kultur von Spengler eine »Bücher- und Leserkultur« genannt
wird. Man mag sich zu dieser Bemerkung Spenglers stellen, wie man
will, eines kann man nicht bestreiten: In keiner Kultur, selbst der
ägyptischen nicht, spielt das Schrifttum eine solche Rolle wie im
Abendland.

Will man nun an die Kulturgeschichte des Buches herangehen, so gehört
eigentlich ein wissenschaftliches Rüstzeug dazu von so unerhörter
Ausdehnung, daß ein Einzelmensch nicht leicht in seinem Besitz sein
kann, denn nicht nur die zusammenfassende Darstellung fehlt bisher,
selbst an Vorarbeiten ist nur sehr wenig geleistet: Wir haben zwar
eine Geschichte des Buchhandels, eine Menge von Einzelarbeiten
über verschiedene Abschnitte dieser Geschichte, wir haben eine
große Reihe von Literaturgeschichten, auch Darstellungen aus der
Geschichte der Wissenschaften, in allen diesen mag mehr oder weniger
zu finden sein über den Einfluß des Schrifttums auf die menschliche
Geistesentwicklung, eine wirklich aufklärende Schrift über das
Verhältnis des Schrifttums zu den verschiedenen Erscheinungsformen der
Kultur, zur Wissenschaft, zur Politik, zur Religion, zur Kunst usw.
gibt es bis heute noch nicht.

Es wäre töricht, aus dieser Tatsache einen Vorwurf zu machen. Denn
ebensowenig wie die hohe Blüte mittelalterlicher Kunst theoretische
Schriften über die Kunst als Kulturerscheinung benötigte, um in
Erscheinung zu treten, ebensowenig hinderte das Fehlen einer solchen
Schrift über die Bedeutung des Schrifttums, dessen stärkste Entfaltung
und Verwertung. Ja, ich gehe noch weiter und sage: Wie erst nach
der letzten großen Stilepoche des Abendlandes, nach dem Barock, die
theoretische Kunstschriftstellerei -- ich erinnere an Winkelmann
und Lessing -- wirklich Boden fand, ebenso wird und muß auch die
abschließende theoretische Betrachtung der Bedeutung des Schrifttums
nachhinken. Zur Selbsterkenntnis gehört ein gewisser Grad von Reife und
ein Leben muß gelebt sein, ehe man darüber schreibt.

Darüber aber kann kein Zweifel sein -- auch wenn man den Gedanken des
Unterganges des Abendlandes ablehnt --; wir haben in Kunst, Literatur,
Musik, Philosophie, ja selbst der Wissenschaft so große Epochen hinter
uns, daß wir uns gestehen müssen: Es lohnt sich Kulturgeschichte
im obigen Sinn zu schreiben, d. h. Rückschau zu halten. Denn wer
kann hoffen, daß gerade unsere Kultur von der Vorsehung mit ewiger
Zeugungskraft begabt sei?

Und weiter: Ist nicht gerade jene Rückschau, so sehr sie im
einzelnen etwas Zersetzendes an sich haben mag, der Nährboden, auf
dem junge Kräfte erst recht zur Entfaltung kommen? Ist nicht z. B.
gerade der Same des Christentums da am besten aufgegangen, wo die
Antike sich gleichsam in sich selbst zurückwandte? Man erinnere sich
an die Bedeutung des Neuplatonismus für das Christentum, oder an
die Tatsache, daß Augustin den Weg zum Christentum über Cicero und
Plato fand. Wer der Zukunft froh werden will, muß einen Summastrich
unter die Vergangenheit ziehen können und die Soll- und Habenseiten
zusammenzählen; nur so weiß er, ob und wie weit er in die Zukunft mit
Verlust oder Gewinn eintritt.

An diesem Vergleich kann man den Kaufmann am Schreiber dieser Zeilen
erkennen. Wie kann der wagen, in solche Rückschau einzutreten?
Selbst wenn man berücksichtigt, daß er mit Büchern handelt, scheint
es vermessen, sich an die Riesenarbeit einer Kulturgeschichte des
Buches heranzuwagen, noch dazu einen Angriffspunkt zu wählen, der ganz
besonders fern zu liegen scheint. Doch habe ich darauf zu antworten:
Ich will gar nicht erschöpfend mein Thema behandeln, ich will vielmehr
aus Blumen, die ich bisher auf _meinem_ Leserweg pflückte, einen Strauß
binden. Es wird ein Feld-, Wald- und Wiesenstrauß sein, wie sie eben
sind: Die eine oder andere Blüte wird unansehnlich sein, manche schon
etwas welk vielleicht, andere dagegen zu wenig aufgeblüht, trotzdem
hoffe ich, daß die Farben und der Duft, der solchen Sträußen anhaftet,
andere auch veranlaßt, solche Sträuße zu pflücken, und vielleicht
findet sich einmal ein Botaniker, der nach streng wissenschaftlichen
Grundsätzen seinen Strauß bindet. Zu weiterem Nachdenken und Forschen
will ich anregen, sonst nichts.

Den ersten Anstoß zu meinen Betrachtungen verdanke ich dem oben
erwähnten Worte Harnacks. Daß ich aber gerade dem Verhältnis von Buch
und Religion meine besondere Beachtung schenkte, hat mehrere Gründe.
Ich war mir von Anfang bewußt, daß die Kulturgeschichte des Buches ein
wichtiges Kapitel der Gesellschaftslehre bildet. Gerade aber in dieser
Wissenschaft sind durch die Untersuchungen von Tröltsch und Max Weber
die religiösen Probleme stark, ja in gewisser Hinsicht vielleicht zu
stark in den Vordergrund gerückt worden. Dann aber wurde mir immer mehr
klar, daß von allen Kulturerscheinungen die Religion die bedeutendste
und bestimmendste ist. Burckhardt sagt in seinen weltgeschichtlichen
Betrachtungen: »Hohe Ansprüche haben die Religionen auf die
Mutterschaft über die Kulturen, ja die Religion ist eine Vorbedingung
jeder Kultur, die den Namen verdient, und kann sogar geradezu mit der
einzig vorhandenen Kultur zusammenfallen.« Und Spengler sagt: »Alle
Wissenschaft ist an einer Religion und unter den gesamten seelischen
Voraussetzungen einer Religion erwachsen.«

Ich durfte also hoffen, daß ich die Kulturgeschichte des Buches in
ihrem Hauptstück erfasse, wenn ich bei der Religion beginne. Darüber
hinaus aber ist es für mich, der ich es von Beruf mit dem Buch zu tun
habe, eine Frage von entscheidender Bedeutung, wie gerade das Höchste
im Menschenleben vom Schrifttum bestimmt wird.

Ich sage wieder wie oben »Schrifttum«; denn es wäre lächerlich, die
Untersuchung erst bei der Entstehung des Wortes Buch oder gar erst bei
der Erfindung der Buchdruckerkunst beginnen zu wollen. Es gilt doch
Grundsätzliches zu gewinnen, darum muß auf den Grund gegangen werden.
Dieser aber ist im vorliegenden Fall die »Schrift«.

Man fürchte deshalb nicht eine unnötige Verbreiterung der Fragestellung
oder gar ein Eingehen auf das religiöse Schrifttum aller Zeiten und
Völker. Wer etwa Heilers Werk über das Gebet kennt, weiß, wie schwer
selbst ein Einzelabschnitt wie dieser von einem Menschen allein
erschöpfend behandelt werden kann. Und doch muß eine soziologische
Untersuchung wie die von mir gewagte auf völkerkundlichen Tatsachen
aufbauen. Dies zeigt sich schon, wenn wir uns die Frage vorlegen nach
den in der Schrift wirksamen Kräften.

Es leuchtet ein, daß die Festhaltung einer Tatsache oder gar eines
Gedankens durch Schriftzeichen, möge es sich um Runenzeichen oder um
primitive Bilderschrift handeln, auf den Naturmenschen einen tiefen,
geheimnisvollen Eindruck macht. Er, der hauptsächlich körperlich,
sinnlich lebt, macht die Erfahrung, daß es ein Mittel gibt, um zeitlich
und räumlich in die Ferne zu wirken. »Projektion der Rede in Zeit und
Raum«[3] muß oft um so zauberhafter anmuten, je mehr die verwendeten
Zeichen von einer Bildzeichnung abweichen, je größere Kenntnisse dazu
gehören, das Schriftsystem zu handhaben. Ein Forscher[4] hat das
Schriftproblem ganz aus dieser magischen Grundlage zu lösen versucht
und ein anderer betont die Bedeutung der Schrift als Zaubermittel[5].
In den meisten völkerkundlichen Schriften ist aber wenig davon
die Rede, daß eben aus jener Besonderheit die enge Verbindung von
Schrift- und Priestertum zu erklären ist. Wohl fand ich in manchen
Ausführungen[6] über das Priestertum Andeutungen, wie sehr gerade bei
den Naturvölkern das Priestertum auf der Überlegenheit in geistiger
Hinsicht beruht, über seine Bedeutung für das Schrifttum ist aber wenig
gesagt, und doch läge gerade bei uns in Deutschland ein Hinweis darauf
so nahe, war doch die Runenschrift ausgesprochen eine Priesterschrift
und beherbergten im Mittelalter doch die Klöster die Vertreter des
Schrifttums.

Doch halten wir als geheimnisvolle Kraft der Schrift die Wirkung in
Zeit und Raum fest. Über die Wirkung in die Zeit wird noch manches
zu sagen sein, darum sei das wenige, was hier über die Wirkung in
den Raum zu sagen ist, vorangestellt. Greifen wir hier in unsere
eigene Geschichte, die des Christentums hinein, so finden wir von
den Briefen der Apostel angefangen bis in die jüngste Zeit hinein
Beispiele einer solchen Wirkung der Schrift in den Raum. Ihr ist es
zu verdanken, daß das Christentum in der antiken Welt trotz des für
damalige Verkehrsverhältnisse übergroßen Raumes des römischen Reiches
sich so rasch ausdehnte und zugleich inneren Zusammenhang fand und
befestigte. Und wie wäre Luthers rasche Wirkung über ganz Deutschland
und darüber hinaus zu erklären, wäre nicht die Verbreitung seiner
Schriften, freilich gesteigert durch die Druckkunst, in einem Grade
möglich gewesen, der nur noch übertroffen wird durch die Verbreitung
aller Nachrichten mit Hilfe der Elektrizität, die jetzt im Zeichen des
Radio einen Höhepunkt erreicht zu haben scheint!

Hier darf auch eine Erscheinung nicht unerwähnt bleiben: die
päpstlichen Hirtenbriefe. Die Anhänger des evangelischen Bekenntnisses
waren bisher zu sehr geneigt, die Macht des Erfolges zu unterschätzen,
wenn in allen Kirchen der ganzen katholischen Welt an einem Tage ein-
und dieselbe Verlautbarung des Kirchenoberhauptes verlesen wird. Bewußt
wird hier die Überwindung des Raumes durch die Schrift in den Dienst
der Zusammengehörigkeit gestellt und es ist gut, daß allenthalben die
Erkenntnis der Bedeutung solcher Verlautbarungen durchbricht.

Doch noch weit mehr als die Wirkung in den Raum hat die in die Zeit
etwas Zauberhaftes an sich. Dieser Zauber mag bei Naturvölkern, die
dem Seelenkult dienten, besonders wirksam sein, so daß hier schon eine
enge Berührung mit dem Religiösen gegeben ist. Und in der Tat scheint
-- wie ich oben schon zeigte -- schon auf niederer Stufe eine enge
Verbindung zwischen Priesterschaft und Schrifttum zu bestehen. Freilich
ist das Priestertum nicht gleichbedeutend mit Religion, aber zweifellos
ist der Priester der Hüter der religiösen Überlieferung. So kommt es,
daß wohl alle Religionen durch heilige Schriften leben und lebten
mit Ausnahme der vedischen des alten Indiens[7]. Die Brahmanen, die
Priesterkaste dieser Religion, kannten nur die mündliche Überlieferung
der alten heiligen Gesänge. Wie die Christen die Bibel, auf deutsch
-- wie man sich immer wieder ins Gedächtnis zurückrufen sollte -- das
»Buch«, der Islam den Koran, die Buddhisten die Reden Buddhas und
die folgenden kanonischen Schriften als Überlieferung besitzen, so
schrieb Laotse, der »alte Lehrer«, im Taoteking seinem Volk, das er
im Zorn über seine sittliche Verworfenheit verließ, die alten Lehren
seiner Religion nieder, damit es sich wieder daran emporraffe; so
waren die Schriften Kungfutses nichts anderes als eine Sammlung der
alten kanonischen Schriften; so besaßen die persischen Anhänger des
Zarathustra im Avesta ihre heilige Schrift.

Daß in Ägypten das Schrifttum im religiösen Leben eine besonders große
Rolle spielte, erklärt sich zwanglos aus dem besonders günstigen
Schreibstoff. So bekam jeder Tote eine Reihe von Papyrusrollen mit ins
Grab, auf denen Zauberformeln geschrieben waren, um die Gefahren der
Seele auf dem Weg in den Himmel zu überwinden. In Hermopolis verehrte
man den Mondgott Thot auch als Erfinder der Schrift.

Aus dem alten Ägypten läßt sich auch ein Beispiel der zeitlichen
Fernwirkung der Schrift melden, wie es kaum ein ähnliches gibt: Im
14. Jhdt. v. Chr. machte Amenophis IV. den Versuch, die Vielgötterei
auszurotten und durch die alleinige Verehrung der Sonnenscheibe,
Aten, zu ersetzen. Mit Hilfe seiner Theologen wurde der Kult
systematisch durchgebildet. Er blieb eine Episode. Aber die
Sonnenspekulationen blieben erhalten, und man wird nicht fehlgehen,
daß die Logosspekulationen des Ägypters Philo in ihnen wurzeln,
jene Logosspekulationen, die durch die christlichen Theologen der
alexandrinischen Schule, Clemens, Origenes und Athanasius, von
entscheidendem Einfluß auf das christliche Dogma wurden, durch dieses
bis auf unsere Zeit, also schon im vierten Jahrtausend, wirksam sind.

Lassen Sie mich hier nur kurz erwähnen, daß auch bei den Griechen eine
reiche mythologische Literatur bestand, daß der auf den Buddhismus
in Indien folgende Hinduismus unter Zurückgreifen auf die vedische
Überlieferung eine reiche Literatur bis auf unsere Tage entwickelt hat,
mit der er in jüngster Zeit durch Vertreter wie Rabindranath Tagore
auch in das Abendland herüberwirkt.

Eingehendere Behandlung der zeitlichen und räumlichen Fernwirkung
des Schrifttums erfordert hier aber das Christentum, wenn ich mich
auch auf eine Reihe von Andeutungen beschränken muß, um mich tiefer
schürfender Betrachtung zuwenden zu können. Man bedenke, daß heute die
Bibel allein von der Britischen Bibelgesellschaft in ganzer Ausdehnung
in 135 Sprachen, das Neue Testament allein in 127, einzelne Teile der
Bibel in 295, insgesamt also in 537 Sprachen vertrieben wird. Man
überlege ferner, daß die Britische Bibelgesellschaft bis zum Jahre
1903 schon gegen 300 Millionen biblische Bücher hinausgab, daß noch
von unzählig vielen Stellen Bibeln gedruckt werden in unbekannt hohen
Auflagen, so erhält man eine räumliche Fernwirkung von nie dagewesener
Ausdehnung, d. h. fast wo ein Mensch des Lesens kundig ist, steht ihm
eine Bibel zur Verfügung.

Daneben steht die um über 1½ Jahrtausend wirkende zeitliche Fernwirkung
der Bibel in der von den Kirchenvätern festgelegten Gestalt, der
die Wirkung der einzelnen Teile des Neuen Testaments um mehrere,
des Alten Testaments um schwer zählbare Jahrhunderte vorangeht. Man
denke der vielen fleißigen Hände, die im Altertum und Mittelalter
durch Abschrift und Übersetzung zur Erhaltung und Verbreitung der
Bibel beitrugen. Fünfzig Evangelienhandschriften ließ Konstantin für
seine Stadt Konstantinopel herstellen, und seit dem 4. Jahrhundert
bürgerte sich der Brauch ein, bei den heiligen Büchern den Schwur
zu leisten. Vor allem aber betrachten Sie in diesem Zusammenhang
Luthers Übersetzungstat, die für uns Deutsche im Verein mit der
Buchdruckerkunst erst den Grund legte zu jener schon erwähnten
märchenhaften Fernwirkung in alle Teile der Bevölkerung. Hier mag
erwähnt sein, daß ich bei einer Buchhändlerfamilie, den Nürnberger
Endter, im 17. und 18. Jahrhundert eine Unzahl von evangelischen
und katholischen Bibelausgaben feststellen konnte, angefangen von
den vielen Ausgaben der Kurfürstenbibel im großen Format bis zu
lateinischen und deutschen Ausgaben der Vulgata, sogar eine ganz auf
Pergament gedruckte lutherische Ausgabe im Oktavformat ging durch meine
Hände.

Weiter sei erwähnt die riesenhafte Verbreitung mancher Andachtsbücher.
Ich erwähne, von den Meßbüchern, Gesang- und Gebetbüchern abgesehen,
als Beispiele das Buch von der Nachfolge Christi des Thomas von Kempen,
das seit dem 15. Jahrhundert in zahllosen Ausgaben und Übersetzungen
weiterwirkt, weiter des evangelischen Theologen Arnd »Wahres
Christentum« und sein »Paradiesgärtlein«, letzteres ein Buch, das im
17. Jahrhundert wohl alle Buchdrucker Deutschlands in ungezählten
Auflagen druckten. Dies mag an Beispielen und Hinweisen für die äußere
Machtentfaltung des Schrifttums auf christlich-religiösem Gebiet
genügen.

Dürfen wir aber nur diese Lichtseite sehen? Gibt es nicht auch
Nachtseiten des Schrifttums, die auch ihre Schatten auf die Religion
werfen? Nicht von der Unzahl religionsloser oder religionsfeindlicher
Schriften soll hier die Rede sein. Nein, in sich selbst birgt das
Schrifttum einen tödlichen Keim, auch da, wo es edelstes Religionsgut
vermittelt.

Die Schrift ist nur ein Bild des gesprochenen Wortes. Und wie uns auch
das beste Bild eines Menschen uns diesen selbst nicht ersetzen kann,
ebensowenig kann die Schrift das gesprochene Wort ersetzen. Ihr fehlt
der Ton der Stimme, ihr fehlt die Geste. Selbst wenn das Geschriebene
noch so lebendig anmutet, man die hinter ihr stehende Persönlichkeit
greifen zu können meint, die meisten Fäden, die unsichtbar von der
redenden Person zu den Hörern führen, sind zerschnitten. Man erinnere
sich, wie manche Rede oder Predigt, die uns im Innersten gepackt hat,
uns unbegreiflich schal anmutet, wenn wir sie später gedruckt lesen,
wie mancher Satz als platt erscheint, der unter dem Blick der redenden
Persönlichkeit erschütternd wirkte. »Ein Ding soll man wissen,« sagt
Seuse, »so ungleich es ist, wenn man ein süßes Saitenspiel selber hört
süß erklingen, im Vergleich dazu, daß man nur davon hört sprechen,
ebenso ungleich sind die Worte, die in der lauteren Gnade empfangen
werden und aus einem lebendigen Herzen durch einen lebendigen Mund
ausfließen, im Vergleich zu den selbigen Worten, wenn sie auf das
tote Pergament kommen. Denn so erkalten sie, ich weiß nicht wie, und
verbleichen wie die abgebrochenen Rosen.«

Durch die Unzulänglichkeit schriftlicher Übermittlung entsteht eine
doppelte Gefahr: Der Leser liest aus den Worten mit seiner Phantasie
das heraus, was ihm entspricht, er ist weniger »gefesselt« als der
unter dem Bann der Rede Stehende. Das Gespenst der falschen Deutung
oder auch nur des Mißverständnisses erhebt sich drohend. Da aber,
wo dem Leser die Phantasie mangelt, fehlt überhaupt das wichtigste
Organ des Verstehens, das »Sich-in-den-anderen-Hineinversetzen«. Die
Folge ist unfruchtbare Kritik, und an Stelle des Lesens, d. h. des
_Zusammen_lesens der Buchstaben zu Gedanken des Schreibers, tritt ein
_Zer_lesen und Zerpflücken: Die Schrift ist tot, wenn nicht der Leser
ihr Leben gibt! Wie eine gepreßte Blume trotz vielleicht gut erhaltener
Farbe tot ist und erst Leben gewinnt, wenn der Beschauer sie sich auf
blühender Wiese, vom Wind bewegt, von der Sonne beschienen, umgeben von
Gras und anderen Blüten, denkt, so hängt bei der Schrift alles davon
ab, ob ein wirklicher Leser da ist.

Und darum hat Paulus (1. Korinth. 8, 1) recht, wenn er sagt: »Das
Wissen blähet auf.« Denn Wissen ist nur das Ansammeln der toten
Tatsachen. Tat_sachen_ sind tot, solange nicht eine schöpferische
Phantasie aus ihnen Neues baut. Reden die Leute schon viel, so
schreiben sie noch viel mehr aneinander vorbei. Ein wirklich guter
Schriftsteller wird daran erkannt, daß er mit seiner Darstellungsweise
den Leser so anregt, daß mühelos dessen Phantasie in Kraft tritt,
um das an sich tote Satzgefüge zu beleben. Darum ist ein Buch um so
toter, je _wissen_schaftlicher es ist; denn um so mehr ist das mit den
Gedanken des Schreibers eingetreten, was Fendt in seinem Buch über die
Entwicklung der christlichen Gottesdienstformen »Versachlichung« nennt.
Nur nebenbei sei bemerkt, daß die fremdwortwütigen deutschen Gelehrten
ihre Welscherei mit der Wissenschaftlichkeit begründen. Sie haben
recht; aber sie dienen damit eben jenem Wissen, das aufbläht, weil es
keine Phantasie gibt, die diesen toten Wortgebilden Leben einhauchen
kann.

Unter diesen Gesichtspunkten gesehen, gewinnt die Stellung Christi
zum geschriebenen Wort ihren vollen Sinn. »Weh' euch, Schriftgelehrte
und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr gleich seid wie die übertünchten
Gräber, welche auswendig hübsch scheinen, aber inwendig sind sie voller
Totenbeine und alles Unflats!« (Matth. 23, 27.) Das heißt eben, daß die
Schriftgelehrten und Pharisäer Buchstabenwissen die Menge hatten, nicht
aber den Sinn, der hinter der Schrift steht. Matth. 23, 17--22 liest
sich wie eine Predigt gegen die Versachlichung. Zu den Schriftgelehrten
und Pharisäern ist Mark. 3, 28--30 das Wort von der Sünde gegen
den Heiligen Geist gesprochen. An einer Stelle (Luk. 11, 52) tritt
deutlich hervor, daß Jesus nicht wegen der Versachlichung der
alttestamentarischen Überlieferung den Schriftgelehrten und Pharisäern
den Hauptvorwurf macht, sondern deswegen, weil sie diese Versachlichung
zur Norm erhoben, indem sie für sich allein die Schriftkenntnis
beanspruchten: »Weh' euch Schriftgelehrten! Denn ihr habt den Schlüssel
der Erkenntnis weggenommen und wehret denen, die hineinwollen.«
Dieser Schlüssel der Erkenntnis ist nichts anderes als jene
unmittelbare Aneignung des eigentlichen Wortinhalts durch das eigene
Vorstellungsvermögen, durch die ungebrochene Phantasie, wie gewöhnlich
gesagt wird, d. h. eben durch jenes Organ, das im Gegensatz zur
Wissenschaft aufs Ganze geht und auf Zergliederung verzichtet. »Nichts
ist trennender vom Volke als Wissenschaft,« sagt Ricarda Huch[8], »die
Trennung nach der wissenschaftlichen Ausbildung löst im Volke noch mehr
auf als die Trennung nach Adel und Reichtum. Solange die Kultur auf der
Phantasie beruht, ist sie dem ganzen Volke zugänglich; die Wissenschaft
vereinzelt, ohne irgendeine neue Erkenntnis zu schaffen. Sie zerlegt
die einheitliche Idee in Begriffe und macht damit eine Sprache, die nur
von Eingeweihten verstanden werden kann; durch die Vorherrschaft dieser
bewußten Sprache verkümmert die anschauliche, die aus dem Unbewußten
quillt, die bewußte wird immer dürrer und lahmer, da sie des Zustroms
aus der Quelle entbehrt, und putzt sich dementsprechend mit desto
künstlicheren Lappen auf.« Es ist dies eine Wahrheit, die für unsere
wissenschaftsfreudige Zeit schmerzlich ist. Daß sie von einer Frau so
klar ausgesprochen wird, zeigt, daß eben die Frau unberührter von der
Versachlichung unserer Kultur blieb.

Tritt nun hinsichtlich der religiösen Überlieferung eine Trennung
zwischen Eingeweihten und Uneingeweihten ein, so ist die Religion
in der Wurzel getroffen. Das ist die Erkenntnis, von der Jesus
durchdrungen war. Denn ausdrücklich betont er ja, daß er nicht
gekommen sei, um das Gesetz aufzulösen, und Matth. 5, 18 sagt er:
»Bis daß Himmel und Erde vergehe, wird nicht zergehen der kleinste
Buchstabe, noch ein Tüttel vom Gesetze,« und auch Lukas berichtet
Kap. 16, 17 das gleiche. Und wie oft beginnt seine Antwort mit
dem Hinweis: »Es steht geschrieben.« Freilich muß hier auch das
5. Kapitel des Matthäus herangezogen werden, in dem die mehrfache
Gegenübersetzung »Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist« und
dann das »Ich aber sage euch« wie ein Bruch mit dem Alten Testament
erscheint. Dieser soll nicht geleugnet werden, aber gerade aus dieser
Stelle erkennt man, daß dieser Bruch darin besteht, daß Jesus über
das Alte Testament hinausgehen will. Er sagt mit kurzen Worten: Es
genügt nicht, die Verbote des Gesetzes einzuhalten, sondern es gilt,
die schlechte Handlung durch die gute zu ersetzen. Jesus erkannte
klar, daß eben jener Bann, in den die Versachlichung der Überlieferung
seine Zeit geschlagen hatte, nicht nur durch den Hinweis auf den
Schaden selbst -- er hat es ja mit herben Worten den überheblichen
Eingeweihten gegenüber oft getan -- gebrochen werden kann und darum
mußte er über die Gesetzesüberlieferung hinausschreiten in die Welt
der freien, gottbewußten, sittlichen Tat, die weit entfernt ist von
jener buchstäblichen Einhaltung geschriebener Gebote, die noch dazu,
wie er deutlich sah, immer mehr verblaßt waren unter der Einwirkung
menschlicher Gesetze: »Ihr verlasset Gottes Gebot und haltet der
Menschen Aufsätze,« sagt er Markus 7, 8.

Alexander von Humboldt sagt wohl einmal, daß die Sprache nicht nur ein
ἔργον (ergon), ein Werk, sondern auch eine ἐνεργια (energia), eine
lebendige Kraft sei. Das gilt ebenso vom Schrifttum, und Jesus hat
das deutlich erkannt und suchte durch seine Lehre eben jene lebendige
Kraft wirksam zu machen, während die Schriftgelehrten nur das Werk, die
abgeschlossene Sache, kannten.

So steht die religiöse Persönlichkeit des Christus bewußt einerseits im
Gegensatz zu dem Schrifttum, das seiner Jugend Religion vermittelte,
anderseits aber nicht minder bewußt _in ihm_ selbst; nur sieht er es
mit anderen Augen als seine abgestumpfte Zeit. »Hat euch nicht Moses
das Gesetz gegeben? Und niemand unter euch tut das Gesetz.« (Joh. 7, 15
u. ff.) Er reckt sich zur ganzen Größe seiner religiösen Persönlichkeit
und bringt sich selbst zum Opfer, um dem toten Buchstaben wieder neues
Leben zu geben. Er fühlt sich von Gott dazu berufen und seines Sieges
_im Sinne der Schrift_ sicher, darum sagt er: »Wer an mich glaubt, _wie
die Schrift saget_, von des Leibes werden Ströme des lebendigen Wassers
fließen.« (Joh. 7, 32.)

So bekommt der Anfang des Johannesevangeliums seinen Sinn: »Im Anfang
war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.« Dieses
Wort hatte höchste Schöpferkraft, es war Gestaltungskraft und »Sinn
an sich«: »Dasselbige war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch
dasselbige gemacht, und ohne dasselbige ist nichts gemacht, was gemacht
ist.« Seine Lebenskraft wirkte auch in den Menschen: »In ihm war das
Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.« Da aber kommt eben
jene Finsternis der Versachlichung, jene geistlose Buchstabenleserei,
die am Sinn vorbeigeht, indem sie meint, mit dem buchstäblichen
Inhalt das Wesen ergriffen zu haben. »Und das Licht scheinet in die
Finsternis, und die Finsternis hat's nicht begriffen.« Die große
Wendung bringt der Erlöser: »Und das Wort ward Fleisch.« Das heißt:
Durch die Person des Heilands bekam das Wort auch für die Umwelt, der
es toter Buchstabe geworden war, wieder Leben, Sinn und lebendige Kraft.

Ich will mit dieser Deutung nicht etwa das Logosproblem, mit dem sich
so viele vom frühen Christentum bis heute abgequält haben, ähnlich
gewaltsam lösen wie Goethes Faust, der da sagt: »Im Anfang war die
Tat.« Die geheimnisvolle Kraft eben des Wortes, das bei Gott dem
Schöpfer von Anfang an war und das die Welt hervorrief, kann ich so
wenig fassen wie alle jene Denker. Meine Erklärung des Anfangs des
Johannesevangeliums läßt den geheimnisvollen Kern des schöpferischen
Logos unberührt; sie zeigt aber, wie eben jener Kern den Menschen in
Vergessenheit kam, weil sie die Schale für die ganze Nuß nahmen. Durch
die Person Christi wurde diese Schale gesprengt und die Wirksamkeit und
Keimkraft des Kernes den Menschen zurückgegeben.

Gerade die Einstellung Christi zur schriftlichen Überlieferung ist es,
was seiner Lehre das Gepräge gibt. Lassen Sie mich hier kurz Vergleiche
mit dem Buddhismus und dem Islam ziehen.

Wenn Sie die religiöse Gestalt des Buddha betrachten, so -- es ist das
ja allbekannt -- finden Sie manche Züge, die auch bei Jesus zu finden
sind: Er entstammt nicht der Priesterkaste, aber er ist hochgebildet
und setzt wie der zwölfjährige Jesus seine Umwelt durch seine Begabung
in Erstaunen: »Als er in das Jünglingsalter eintrat -- Lernt er das,
was seinem Stande zukommt -- Was bei anderen manches Jahr erfordert --
Leicht und sicher in nur wenigen Tagen«, heißt es in »Buddhas Wandel«,
einer der ältesten Überlieferungen des Buddhismus. Auch aus anderen
Stellen dieser Schrift geht deutlich hervor, daß er reiches Wissen hat
und stolz darauf ist. Nun aber kommt der große Unterschied: Während
Jesus mit seinem religiösen Schöpfertum der alten Überlieferung ihren
Sinn zurückgibt, aus totem Wissen lebendige Religion macht, sucht der
Buddha die alte Lehre seines Landes, die der Seelenwanderung, bewußt
zu verdrängen. Gewiß tut er dies in an sich tief religiöser, aus
stärkstem Erleben hervorquellender Gedankenarbeit, aber der Bruch mit
dem Vorhergehenden ist da, nicht nur äußerlich wie bei Jesus, sondern
innerlich. Wieweit allerdings auch bei Buddha den Anstoß zu seiner
Wirksamkeit eine Versachlichung der religiösen Überlieferung seiner
Zeit gegeben hat, entzieht sich meiner Beurteilung. Bezeichnend für
diesen großen Religionsstifter Indiens ist aber, daß auch er wie Jesus
nichts Schriftliches hinterließ; auch er predigte in lebendiger Sprache
unter Verwendung von vielen Bildern und Vergleichen. Erst seine Jünger
schreiben seine Reden auf.

Anders Mohammed, der Prophet des Islams, der weit unter dem indischen
Großen steht, eben gerade deshalb, weil er selbst seine Lehre in
Schrift erstarren ließ. Eine Menge verschiedenster religiöser
Überlieferungen hatten auf ihn eingewirkt, und aus ihnen baute er seine
neue Lehre. Diese war aber eben aus Überlieferung zusammengesetzt;
sie war keine Auseinandersetzung mit ihr wie bei Buddha oder eine
Zurückeroberung ihres innersten Kerns wie bei Jesus, und darum wurde
sie selbst rasch starre Überlieferung, die dann Jahrhunderte als Geißel
die christliche Welt schlug. Bemerkenswert ist die Erzählung, die
Mohammed selbst von seiner Berufung in der 96. Sure gibt: Allah selbst
oder der Engel Gabriel war ihm erschienen und hatte ihn aufgefordert:

    »Lies im Namen deines Herrn, der dich schuf
    lies, dein Herr ist's, der dich erkor,
    den Menschen schuf aus zähem Blut
    und unterwies mit dem Schreibrohr
    den Menschen unterwies in dem, was er nicht wußte zuvor,«

da las er, die Erscheinung wich von ihm, er erwachte aus seinem Traum
und es war ihm, als trüge er die Worte ins Herz geschrieben. Also
schon in seiner Berufung spielt die Bedeutung der Schreibkunst eine
besondere Rolle.

Deutlich tritt bei Christus, Buddha und Mohammed das Verhältnis zum
Schrifttum hervor. Alle drei stehen in einer religiösen Überlieferung,
nur Mohammed aber schafft selbst schriftliche Überlieferung, während
der Buddha und Jesus mit der ganzen Wucht des gesprochenen Wortes
wirken. Jesus allein aber ist der Kämpfer gegen die Versachlichung
des lebendigen Wortes. Auch in diesem Punkt gibt es eine Nachfolge
Christi. Das möge jeder bedenken, der mit dem Schrifttum zu tun
hat, aber auch jeder, der religiöse Persönlichkeiten oder religiöse
Gemeinschaftsformen auf ihren Wert beurteilen will.

Es liegt nahe, daß man die Gefahr der Versachlichung durch die Schrift
durch Verwerfung der Schrift überhaupt vermeiden möchte. Abgesehen
davon aber, daß man damit die Überlieferung hemmungslos der Willkür
preisgibt, liegt darin doch auch eine Verkennung des Wertes der Schrift
für die Religion. Man würde damit den Kampf in falscher Front fechten:
statt gegen die Versachlichung des Wortes für dessen Auslöschung, statt
für lebendigen Leserwillen für hemmungslose Willkür.

Lebendiger Leserwille! Damit sind wir an dem Punkt, der wenigstens an
zwei Beispielen aus der Geschichte des Christentums herausgearbeitet
werden soll, zwei Beispielen, die trotz aller Ähnlichkeit doch von
größter Verschiedenheit sind: Augustin und Luther.

Verzehrt von der Glut sinnlicher Leidenschaft suchte Augustin durch
die Philosophie den inneren Seelenfrieden zu erringen. Ciceros
Hortensius vermochte aber nicht die Bande zu lösen. Es folgte eine
Zeit, in der Augustin auf philosophischem Wege sich christliche Ideen
aneignet. Die Predigt des Bischofs Ambrosius von Mailand mag den Weg
dahin gebahnt haben, daß es Augustin gelang, weiterhin tief beeinflußt
von Gedankengängen des Neuplatonismus, zu einer verstandesmäßigen
Erfassung der christlichen Heilslehre vorzudringen. Von dem Einfluß der
Predigten des Mailänder Bischofs abgesehen, durchlief also Augustin
im wesentlichen eine ganze Stufenleiter literarischer Eindrücke, und
auch seine erste Erfassung des Christentums war rein literarisch, wie
aus seiner Erzählung im 6. Kapitel des 8. Buches seiner Bekenntnisse
deutlich wird. Vor allem in den Schriften des Apostel Paulus hatte er,
wie er erzählt, häufig gelesen. Erst aber die Erzählung des Pontidianus
von jener Bekehrung vor den Toren Triers führte Augustin zu jenem
Höhepunkt[9] in seinem Leben, in dem auf einmal das literarische Wissen
Leben gewann, um wie ein Sturzbach die ganze Persönlichkeit mitzureißen.

Um diesen Vorgang zu erfassen, muß ich kurz jene Bekehrungsgeschichte
an der Hand von Augustins Bekenntnissen ins Gedächtnis zurückrufen:
Pontidianus hatte sich mit drei Freunden vor den Toren Triers ergangen,
er und einer der Freunde hatten sich zufällig von den beiden andern
getrennt. Diese aber waren auf ihrem weiteren Weg zu einer Hütte
gelangt, die Mönchen gehörte. Sie fanden darin ein Buch über das Leben
des heiligen Antonius. Der eine las, »Staunen erfaßte ihn, und er
fing Feuer, und beim Lesen kam ihm der Gedanke, selber so ein Leben
zu ergreifen«. Sie sehen also, worin bei Augustin das Erlebnis beim
Hören dieser Geschichte bestanden haben muß: Er erkannte plötzlich,
daß er bisher nur Buchstaben gelesen hatte, während jener vor Trier
Bekehrte eben jenen lebendigen Leserwillen aufgebracht hatte, der das
hinter den Buchstaben verborgene Leben selbst erfaßt; er erkannte, daß
ihm die eigene Aufgeschlossenheit der Überlieferung gegenüber bisher
gefehlt hatte. Mit dieser Erkenntnis aber war das Tor aufgestoßen zu
einem neuen Leben: Er war für das Christentum, das Christentum für ihn
gewonnen.

Anders bei Luther. Sie wissen alle, wie Luther nach seinem Eintritt
ins Kloster nicht nur mit Fasten und Beten, sondern auch mit eifrigem
Studium um den inneren Frieden rang. Gewiß erinnert dieses Ringen
im gewissen Sinne an jenes philosophische Bemühen Augustins, aber
für Luther stand von vornherein fest, daß er als Christ, als der er
aufgewachsen und erzogen war, jenes Heil finden müsse, für ihn kam
eine Wendung, wie sie Augustin von der sterbenden Antike zum jungen
Christentum machen mußte, nicht in Frage. Gerade darum aber konnte
ihm kein solches Erlebnis wie das des Augustin plötzlich das Tor
öffnen. Mit zähem Fleiß und nüchterner Geduld mußte er jenen Schutt
der »Versachlichung« hinwegräumen, den die Kirche aufgehäuft hatte.
Dann aber stand er erst an der Überlieferung, wie sie durch die Bibel
gegeben war. Augustin hatte die paulinischen Schriften gelesen, mußte
aber erst noch jenes Erleben haben, um sein Damaskus zu erleben. Luther
brauchte kein Damaskus in diesem Sinne, gerade darum aber wurden
für ihn die Schriften des Paulus zum Schlüssel für die biblische
Überlieferung.

Dadurch war es ihm auch möglich, für das Leben der christlichen
Überlieferung zu kämpfen, und die größte Tat in diesem Kampf war eben
die Bibelübersetzung. Mit ihr war der Weg frei für jeden, der eben mit
seinem lebendigen Leserwillen an die Schrift heranging.

Mit diesem Vergleich der Stellung Augustins und Luthers zum Schrifttum
ist nichts gesagt über den Wert der religiösen Persönlichkeiten.
Die hier berührten Vergleichspunkte zeigen gerade, wie verschieden
der Weg Augustins und der Luthers trotz aller Ähnlichkeiten sind.
Im Zusammenhang dieser Betrachtungen aber sind sie zwei, wenn auch
ganz verschiedene Zeugen für den Wert religiöser Überlieferung durch
die Schrift, gleichzeitig aber auch zwei Zeugen, wenn auch ganz
verschiedene, für die Notwendigkeit, daß der Leser das Wesentliche dazu
geben muß, um dem Geschriebenen Leben zu verleihen; denn was bedeutet
letztlich Luthers »allein durch den Glauben« anderes als die Aneignung
der Heilsüberlieferung aus innerer Seelenkraft?

Wenn Sie die Galerien Europas durchwandern und die Darstellungen
der »Verkündigung« betrachten, so werden Sie bei den alten Meistern
fast immer die gleiche Darstellung der »Verkündigung« finden: Maria
kniet am Betschemel, auf dem aufgeschlagen das Gebetbuch liegt. Sie
liest aber nicht mehr darin, sondern sie hat den Blick weggewendet,
dem Verkündigungsengel zu. Noch deutlicher aber zeigt ein alter
rheinischer Meister der Münchner Pinakothek, wie der religiöse Mensch
zum Buch steht: Vor dem noch aufgeschlagenen Buch kniet der heilige
Franziskus, sein Blick aber richtet sich in die Höhe, wo in den Wolken
der Gekreuzigte erscheint, von dem die Strahlen ausgehen, die dem
Heiligen die Wundmale Christi aufdrücken. Im Hintergrund aber sitzt
ein Genosse des Heiligen, tiefgebeugt über ein Buch. Er liest noch,
während der Heilige das Gelesene erlebt. Deutlicher kann die Bedeutung
des Buches für den »religiösen Akt« nicht veranschaulicht werden.
Dieser aber gehorcht, wie Scheeler sagt, einer Eigengesetzlichkeit. Und
Otto hat in seinem bekannten Buch über das Heilige deutlich gesagt,
wie eben dieses Heilige jenseits aller geistiger Arbeit liegt: »Es ist
nicht lehrbar, nur erweckbar aus dem Geiste. Man behauptet bisweilen
dasselbe von der Religion überhaupt und im ganzen. Mit Unrecht. In ihr
ist sehr vieles lehrbar, d. h. _in Begriffen überlieferbar_ und auch in
schulmäßigen Unterricht überführbar. Nur eben nicht dieser ihr Hinter-
und Untergrund. Er kann nur angestoßen, angeregt, erweckt werden. Und
dies am wenigsten durch bloße Worte.«

Luther sagt das gleiche nicht minder deutlich: »Wenn du es im Herzen
wahrhaft fühlest, so wird dir's ein groß' Ding sein, daß du vielmehr
stillschweigen wirst, denn etwas davon sagen.« Auch Augustins Größe
soll hier nochmal sprechen: »Es spricht zu allen,« sagt er, »aber
die verstehen's nur, die das Vernommene drinn in ihrer Seele mit der
Wahrheit zu vergleichen wissen.«

Damit stehe ich am Ende meiner Betrachtungen. Deutlich heben sich zwei
Dinge heraus: Einmal die Kraft der schriftlichen Überlieferung als
»Reiz und Veranlassung« und damit ihr hoher Wert für den religiösen
Menschen, zum andern aber ihre Belanglosigkeit für den eigentlichen
Kern aller Religion. Die Persönlichkeit des Lesers wird darum zur
entscheidenden Kraft.

Mancherlei Fragen tauchen nun auf, von denen nur zwei berührt seien:
Ist mit solcher Erkenntnis nur für die Religion die Grenze der
Wirksamkeit des Buches gegeben? Ich glaube: Nein; auch alle anderen
Gebiete menschlicher Kultur stehen unter dem gleichen Gesetz, soweit
die Wirksamkeit des Schrifttums in Frage kommt.

Weiter aber: Was ist die _praktische_ Folgerung für uns? Doch wohl
nichts anderes als die Prüfung unserer religiösen Literatur daraufhin,
wieweit sie Versachlichung ist, Sprache, die nicht mehr tönt oder
vielleicht nie getönt hat. Nur so werden wir die anregende Kraft der
Überlieferung nutzbar machen, nur so entsteht religiöse Erkenntnis.
Bescheiden aber sollen wir bekennen, daß über dieser Erkenntnis
der Glaube steht. Dieser Glaube aber ist, wie ein junger Schweizer
Theologe[10] schön sagt, »ein Innewerden, daß alle Erkenntnis etwas
anderes meint, als sie selber gibt, etwas hinter ihr selbst, daß sie
nur ein Hinweis ist auf etwas Urlebendiges, jenen Ursprung, der unser
Freiseinkönnen und den Reichtum des Lebens erst möglich macht«. Dieser
Glaube ist »ehrfürchtige Anschauung des göttlichen Wunders«. Darum läßt
sich nicht leicht Tieferes über das Verhältnis des religiösen Menschen
zum Buch sagen als die Schlußworte des Cherubinischen Wandersmanns:

    »Freund, es ist immer genug. Im Fall du mehr wilt lesen,
    So geh' und werde selbst die Schrift und selbst das Wesen.«


Fußnoten

    [2] Über Anmerkungen in Büchern (siehe »Aus Wissenschaft und
        Leben«, Gießen 1911.)

    [3] Hoernes, Natur- u. Urgeschichte d. Menschen, Wien u.
        Leipzig 1909

    [4] Dawzel, Die Anfänge der Schrift, Leipzig 1912

    [5] Weule, Vom Kerbstock zum Alphabet, Stuttgart 1915

    [6] Schurtz, Urgeschichte der Kultur, Leipzig u. Wien 1900,
        Hoernes a. a. O. bringt eine sehr treffende Stelle aus
        Vierkandt, Naturvölker und Kulturvölker

    [7] Ich halte mich in der folgenden Darstellung an Richter, Die
        Religionen der Völker, München und Berlin 1923

    [8] Der Sinn der heiligen Schrift, Leipzig 1919

    [9] Harnack, Aus der Friedens- und Kriegsarbeit, Gießen 1916

    [10] Emil Brunner, Erlebnis, Erkenntnis und Glaube, 2. u. 3.
        Aufl., Tübingen 1923



Buchhandel als Beruf


In einer Buchhändlerzeitschrift las ich den Satz: »Beruf ist, wozu
sich einer berufen fühlt.« Das ganze Elend unserer Zeit kann nicht
besser gekennzeichnet werden, als durch diese Behauptung. Denn ist
sie richtig, wie viele Menschen haben dann einen Beruf? Fühlt sich
ein Straßenkehrer zum Straßenkehren berufen? Hat sich nicht manch
einer, der frei seinen Beruf wählte, einmal berufen gefühlt, merkt
nun aber, daß er falsch gewählt hat, sei es, weil er den »Beruf«
falsch beurteilt, sei es, daß er seine Begabung, seine Kräfte falsch
eingeschätzt, oder, daß er die Zukunftsmöglichkeiten nicht richtig
erkannt hat? Es ist gar nicht auszudenken, welches Elend der Seele
mit diesem Satz als unabänderlich festgelegt ist: Die ganze Tragik
unerfüllter und unerfüllbarer Wünsche dieses Erdenlebens ist in diesem
Satz, so wie er in jener Zeitschrift gemeint ist, beschlossen.

Es gibt eine Geschichte des Wortes Beruf; sie wurde von dem Berliner
Theologen Holl in einem Sitzungsbericht der preußischen Akademie der
Wissenschaften kurz dargestellt von den Anfängen bis zu Luther. Dort
findet man, daß es anfänglich im Christentum nur eine Berufung gab
und das war die Berufung des Christenmenschen durch das Evangelium.
Dann war die Berufung etwas, was nur dem Mönch zuteil wurde, also eine
Berufung persönlichster Art, die nur die besonders Auserwählten unter
den Christen erlebten. Im Mittelalter »gerät das Berufsbewußtsein
in Spannung mit demjenigen Selbstgefühl, das der fortgehende
wirtschaftliche und politische Aufstieg bei den schaffenden Ständen
hervorrief.« Noch aber haben diese Stände nur einen Dienst, keinen
Beruf. Einen entscheidenden Schritt vorwärts hat die Mystik getan:
Eckart übersetzt 1. Korinth. 7, 20: »Es sind nicht alle Leute in einen
Weg zu Gott gerufen« und darum ist ihm auch der niederste Stand mit der
Erlangung des Höchsten vereinbar. Deshalb soll man auch in seinem Stand
bleiben und Tauler bezeichnet sogar das Amt als eine »Ladung«, einen
»Ruf«, der an uns ergeht. Das Wort Beruf war aber eine Bezeichnung,
die auch bei Luther noch anfänglich rein kirchlich-religiöses Gepräge
hatte. Erst Luthers Lehre vom allgemeinen Priestertum brachte die große
Wandlung: Die Erfüllung der von einem Stand auferlegten Pflichten ist
Gehorsam auf einen Befehl Gottes. Und so sagt Luther: »Es ist Gott
nicht um das Werk zu tun, sondern um den Gehorsam.«

Hier bricht die geschichtliche Betrachtung Holls ab. Hätte er sie
weitergeführt, so hätte er von solchem Höhepunkt immer mehr, wenn
auch in Wellenlinien herunterführen müssen bis zu so selbstsüchtigen
Deutungen, wie die eingangs erwähnte. Immer mehr ist die sittliche
Größe eines jenseitigen Ziels dem persönlichen Nutzen, der Erfüllung
diesseitiger Wünsche zum Opfer gefallen. Als einzigen Lichtpunkt sehe
ich noch jenen Bildungsbegriff der klassischen Zeit und des Idealismus,
der wenigstens ein jenseitiges Vollkommenheitsbild kennt, wenn ihm auch
die religiöse Prägung mangelt. Zuletzt aber kommt die fast unverhüllte
Diesseitigkeit zum Durchbruch, begründet mit »der berüchtigten
Forderung des Lebens«.

Gewiß regt es sich unter der Kruste solcher Versachlichung und
angenehmster Broterwerb gilt nicht mehr als die Summe sozialen
Fortschritts. Man erkennt auch langsam, daß der Kampf etwa zwischen
humanistischen und realistischen Bildungsanstalten ganz falsche Fronten
zeigte, denn auf beiden Seiten war das Stoffliche mit drückender
Schwere über das Sittlich-Geistige gelegt und das Berechtigungswesen
machte sich auch in diesen Kämpfen mit seiner ganzen Unsittlichkeit
breit. Ist aber der Bann wirklich schon gebrochen?

Verzichten wir auf eine umfassende Antwort und beschränken wir uns
darauf, den Buchhandel als Beruf im Rahmen der Zeitlage zu betrachten.
Es wird gar viel von den Kulturpflichten des Buchhändlers geredet und
gar mancher ist tatsächlich Buchhändler geworden, weil er damit der
Kultur näher zu sein glaubte, als beim Handel etwa mit Heringen. In
Wirklichkeit aber verschrieb er sich im besten Fall einem tragischen
Konflikt, im schlechteren wurde er zur Possenfigur.

Was ich mit dem tragischen Konflikt meine? Nun, ein tragischer Konflikt
mehr oder minder ist jedem Beruf gegeben: Der Industriearbeiter leidet
unter dem Fluch allein vom Marktwert der Ware Arbeitskraft abzuhängen,
der Kapitalist unter dem, daß er meint, er besitze Kapital, obwohl
das Kapital von ihm Besitz ergriffen hat; der Bauer stöhnt unter
der Abhängigkeit vom Wetter, der König unter der Einsamkeit seiner
Stellung und so fort und fort. Der Buchhändler aber ist mit dem Fluch
beladen, mit _geistigen_ Gütern _handeln_ zu müssen und darum ist er
entweder nie ganz ein wirklicher Kaufmann oder es verfolgt ihn der Haß
der Geistigen, die behaupten, daß er Riemen aus ihrer Haut schneide.
Es ist eine besondere Tragik: so eingekeilt zwischen erdenschwerer
wirtschaftlicher Notwendigkeit und aufstrebender Geistigkeit zu leben.

Gewiß gibt es viele, die das nicht fühlen, aber verlieren Einsame
wie Friedrich der Große an Tragik, weil es eine Menge Fürsten gab,
die sich nur der Lichtseite ihres Daseins zuwandten? Sind nicht die
wenigen Arbeiter, die nicht nur gedankenlose Gewerkschaftsmitglieder
sind, maßgebender für das Elend ihres Standes, als jene Masse, die im
Grund genommen das Streben nach oben der »Organisation« überlassen? Ist
nicht _der_ Dichter menschlich der wertvollere, der immer und immer
wieder empfindet, daß sein Werk aus der Bloßstellung seines Innersten
entsteht? Und wiederum so fort und fort durch alle Stände und Berufe.

Der Buchhändler aber, der die Schwere seines Amtes nicht nur geistig
erkennt, sondern auch sittlich fühlt, hat erst das richtige »Gefühl«,
wozu er berufen ist: Er ist berufen seine Pflicht zu tun, »gehorsam«
zu sein. Es ist lächerlich, zu glauben, daß uns die Vorsehung beruft,
mit einer möglichst angenehmen Beschäftigung das Brot zu erwerben.
Es ist darum im Grunde ganz gleich, ob einer Buchhändler wird ganz
aus freier Wahl oder als Sohn seines Vaters, wegen seiner Freude an
Büchern oder weil gerade beim Buchhändler eine Lehrstelle frei war:
Maßgebend für seine Wertung ist nichts als seine Einstellung zu seiner
Berufspflicht. Das Gebiet sittlicher Wertung kennt keine Erklärungen
und Entschuldigungen aus Lust- und Unlustgefühlen.

Will also der Buchhandel auf der Höhe des Sittengesetzes stehen, dann
muß er alles Kulturgeschwätz zu Hause lassen und klar und deutlich
Stellung zu seiner Berufung nehmen. Er muß wie der Held in der Tragödie
über dem Schicksal bleiben, auch wenn er an diesem Schicksal zugrunde
geht; sonst hat er seinen Beruf nicht richtig erfaßt.

Wie kann er ihn aber richtig erfassen? Es ist so leicht darauf zu
antworten, wenn man eben jene beiden Spannungspole im Auge behält, die
ich oben andeutete! Als Kaufmann muß der Buchhändler sachlich handeln,
muß nüchtern rechnen, muß Angebot und Nachfrage in das richtige
Verhältnis bringen, muß tun, was rechnerisch Nutzen bringt, und lassen,
was zum Schaden seiner Wirtschaftskraft dient. Als Mensch aber muß
er der Herkunft seiner Ware aus den Landen geistiger Sehnsucht Ehre
erweisen.

Zu beidem muß einiges gesagt werden: Man könnte einwenden, daß die
harten Notwendigkeiten des Geschäftslebens sich nie mit jenen Idealen
vertragen können. Und in der Tat, es gibt Buchhändler, denen es ganz
gleichgültig ist, was sie verkaufen, wenn sie nur verkaufen. Sie
sehen von jeder Beziehung zum geistigen Inhalt der Bücher ab. Ja,
ich wage die Behauptung, es ist bei weitem die Mehrzahl. Und doch
ist das ganz falsch gedacht, gerade kaufmännisch falsch gedacht,
weil eben dadurch das verloren geht, was der gute Kaufmann braucht,
die Warenkenntnis. Nur so ist zu erklären, daß der Buchhandel der
geistigen Produktion so ratlos gegenübersteht. Eine Unmenge Verleger
und noch mehr Sortimenter quälen sich ab, zwischen 30000 und 40000
literarische Geistesfrüchte marktfähig zu machen. Ich glaube, daß der
Teil solcher Ernte, der letzten Endes in die Stampfmühle wandert,
erschreckend groß ist. Arbeit und Kapital sind daran verloren. Das
merken aber nur wenige Außenstehende, weil ganz im geheimen jener Weg
zur Stampfmühle zurückgelegt werden kann. Die beteiligten Buchhändler
aber könnten das oft bei richtiger Markt- und Warenkenntnis vermeiden:
Der Verleger ließe manches ungedruckt, der Sortimenter nähme vieles
nicht auf Lager. Heute meinen aber die meisten, der Wille, bei einem
kaufmännischen Vermittlungsgeschäft Nutzen herauszuschlagen, mache zum
Kaufmann. Ich stelle den Satz dagegen, daß kaufmännischer Erfolg, der
ohne Warenkenntnis erzielt wird, kein »Verdienst« ist, sondern ein
Glückszufall. Mit Beruf hat das wenigstens gar nichts, aber auch gar
nichts zu tun.

Anderseits wird man mir entgegenhalten, daß viele trostlos schlechte
Bücher in Massen verkauft würden, der Buchhändler, Verleger wie
Sortimenter, kenne also den Markt! Darauf ist zu erwidern, daß -- ich
werde das noch genauer darlegen -- selbstverständlich die große Menge
der Bücherkäufer in ihren primitiven Bedürfnissen leicht erkennbar ist.
Vom Standpunkt des Berufes aber kommt es auch da auf die wertvolle
Oberschicht an. Wenn diese eben in ihren Bedürfnissen nicht richtig
erkannt wird, so fehlt jede Möglichkeit, ein Werturteil über die
kaufmännische Leistung abzugeben, denn zur Befriedigung niederer
Instinkte gehört kein Können, sondern nur Mangel an Gewissen.

Hier muß aber gesagt werden, daß es auch verfehlt ist, den Buchhandel
für die Durchschlagskraft minderwertigen Geschreibsels verantwortlich
zu machen. Er steht zwischen Schreibern, die solches Zeug verbrechen,
und Lesern, die es nicht nur kaufen, sondern zu kaufen verlangen. Jedes
Volk hat nicht nur die Regierung, sondern auch den Buchhandel, den es
verdient. Trösten kann hier nur die Äußerung, die Jakob Burckhardt in
seinen weltgeschichtlichen Betrachtungen machte: »Eine einzelne Zeile
in einem vielleicht sonst wertlosen Autor kann dazu bestimmt sein, daß
uns ein Licht aufgeht, welches für unsere ganze Entwicklung bestimmend
ist.« Wenn sich aber einer »berufen fühlt«, durch den Verkauf von
literarischen Schmarren sein Brot zu verdienen, so kommt der Ruf aus
diesseitigen Gefilden und hat nichts zu tun mit jenem Beruf, der aus
dem Jenseits kommt.

Das aber ist das Elend unserer Zeit, daß man eben die Jenseitigkeit
von Luthers Berufsbegriff wie vom idealistischen Bildungsbegriff
verloren hat. »Das Neueste in der Welt«, sagt wieder Burckhardt, »ist
das Verlangen nach Bildung als Menschenrecht, welches ein verhülltes
Begehren nach Wohlleben ist.« Besser kann gar nicht gekennzeichnet
werden, wohin wir abgerutscht sind: Jeder fühlt sich »berufen«, so
angenehm wie möglich zu leben, und auch im Buchhandel ist dieser
Grundsatz Trumpf. Wir werden vom Schicksal solange auf die Finger
geklopft werden, bis wir die Abwegigkeit solcher Gesinnung nicht nur
erkannt haben, sondern auch die Nutzanwendung aus solcher Erkenntnis
gezogen haben: »Nicht auf das Werk kommt es an, sondern auf den
Gehorsam.«

Das hat nichts mit frömmelnder Gesinnung oder mit Spenglers Periode
der zweiten Religiosität zu tun. Im Gegenteil, es ist nur das
Erwachen aus dem Rausche sinnlicher Diesseitigkeit zur Nüchternheit
des Geistes. Gerade aber, weil der Buchhandel zwischen geistigem
Höhenflug und niederziehender Erdenschwere eingespannt ist, könnte er
»berufen« sein, die Wende zu bringen: Er könnte am ehesten frei sein
von der Überheblichkeit jener Geistigen, die, weil sie literarisch,
wissenschaftlich oder künstlerisch arbeiten, nicht fühlen, wie sehr sie
nur Ausdruck ihrer Zeit sind; er könnte aber auch die Kurzsichtigkeit
des Wertens nur nach dem wirtschaftlichen Nutzen als das kennzeichnen,
was sie ist: als den absolutistischen Regierungsfehler des Fürsten
dieser Welt.



Vom buchhändlerischen Markt oder über Grenzen der Wirksamkeit des
Buches


Zwei geistige Eigenschaften sind es, die den tüchtigen Kaufmann
auszeichnen: einmal die ausgebildete Begabung, die Beschaffenheit
seiner Ware zu beurteilen, zum andern aber die Urteilskraft, die den
Markt für seine Ware richtig einschätzt. Von der ersten Fähigkeit
hängt die Warenkenntnis ab, die es an sich nur mit der inneren und
äußeren Eigenschaft der Ware zu tun hat. Aus der zweiten Fähigkeit
aber entsteht die Marktkenntnis, die, für sich betrachtet, nur die
absetzbare Masse bestimmt. Auf den Buchhandel angewandt, richtet sich
also die Warenkenntnis zunächst nur auf die Fragen: Ist der Inhalt des
Buches gut? ist es gut geschrieben? wie ist das Papier? der Druck?
der Einband? Die Marktkenntnis aber kann die Fragen beantworten: Wie
viele Käufer kommen in Frage? wie verhält sich zu dieser Menge die
zur Verfügung stehende Auflage? Nun ist es aber klar, daß Waren-
und Marktkenntnis meist in stärkster innerer Wechselwirkung stehen.
Edelste Ware ist nicht in Masse herstellbar, und Massenware muß auf das
Hauptkennzeichen der Edelware verzichten: auf die Einzigartigkeit des
Einzelstücks. Ein wirklicher Massenartikel kann nicht aus edelstem und
darum seltenem Stoff hergestellt werden. Darum druckt man z. B. ein
Rechenbuch für Volksschulen nicht auf feinstes Hadernpapier und bindet
es nicht in Schweinsleder; Luxusdrucke aber werden beziffert, um damit
ihrer Seltenheit Ausdruck zu geben.

Nun ist es leicht, für ein solches Rechenbuch die mögliche Absatzziffer
zu bestimmen, weil man die Zahl der dafür in Betracht kommenden Schüler
feststellen kann, und auch bei manchem wissenschaftlichen Buch kann
man fast auszählen, wie viele Büchereien, wie viele Institute und wie
viele private Abnehmer dafür in Frage kommen. Bei der großen Menge des
allgemeinen Schrifttums ist aber solch leichte Bestimmungsmöglichkeit
nicht gegeben und die Festsetzung der Auflagenhöhe darum ein
Glücksspiel. Und doch läßt sich der Zufall in mancher Hinsicht
einschränken, wenn man die Frage ernstlich prüft: Wer kann alles für
das Buch in Frage kommen? Wo sind die Grenzen der Wirksamkeit eines
Buches? Jeder Verleger legt sich diese Frage bei der Bestimmung der
Auflage, jeder Ladenbuchhändler sich die gleiche beim Einkauf vor.
Er beantwortet sie aber nur gefühlsmäßig. Und doch muß es trotz der
Unendlichkeit aller Möglichkeiten wenigstens einige Gesetze geben,
die den Zufall zwar nicht einschränken, seine Möglichkeiten aber
gesetzmäßig bestimmen.

Zunächst ist die Frage aufzuwerfen, ob es räumliche Grenzen für die
Wirksamkeit des Buches gibt. So häufig es vorkommen mag, daß die in
Frage kommenden Leser eines Buches räumlich geschlossen zusammenwohnen,
so ist doch damit keine räumliche Grenze für die Wirksamkeit eines
Buches gegeben, einfach deshalb, weil der Geist keine räumliche Grenzen
kennt. Ein Buch, das z. B. in dem besonderen Dialekt einer Gegend, ja
eines Dorfes geschrieben ist, wirkt schon über dessen Raum hinaus,
wenn ein Forscher von außerhalb sich mit jenem Dorf oder der Gegend, in
der es liegt, beschäftigt, ganz abgesehen davon, daß ja die Bewohner
des Dorfes nicht festgebunden sind und den Raum ihrer engeren Heimat
nicht nur verlassen können, sondern wohl auch häufig verlassen. Warum
sollte nicht ein Siedler im brasilianischen Urwald mit Freuden ein
Buch seiner engeren Heimat lesen, auch wenn wenige Kilometer von
dieser Heimat entfernt die Mehrzahl der Menschen den Inhalt des Buches
aus sprachlichen oder sonstigen Gründen nicht mehr verstehen oder
wenigstens nicht mehr würdigen können. Man kann also ruhig sagen:
Räumliche Grenzen gibt es für die Wirksamkeit des Buches nicht.

Es läge nun nahe, auch die zeitlichen Grenzen für die Wirksamkeit
des Buches zu leugnen, weil wir jahrtausendalte schriftliche
Überlieferungen besitzen und lesen können. Und in gewissem Sinne gibt
es für das Buch eine zeitlich unbegrenzte Wirkung; d. h. solange es
Menschen gibt, die den Willen haben, schriftliche Überlieferung zu
lesen, kann ein Buch wirken. Die so gezogene Grenze erscheint uns
wenigstens ebenso belanglos wie die Tatsache, daß die Wirksamkeit des
Buches räumlich auf diese Erde beschränkt bleibt.

Wer tiefer eindringt, der fühlt aber doch noch eine andere zeitliche
Grenze. Er fühlt, daß alte Überlieferungen zwar in gewissem Sinne
weiterwirken, daß aber ein Teil abstirbt, ich glaube, sogar ein
wesentlicher. Ich bin z. B. der festen Überzeugung, daß wir der
Weltanschauung etwa der Zeit, in der das Nibelungenlied geschrieben
ist, so fremd gegenüberstehen, daß wir zwar die große künstlerische
Form, gewisse allgemein menschliche Züge der Helden u. a. einigermaßen
erfassen können, das Lied selbst aber als Persönlichkeitsäußerung
ist für uns wie eine zersprungene Glocke: Wir sehen die schöne Form,
wir erkennen das gute Metall der Legierung, sie siegt aber nicht
mehr. Da hilft keine Nacherzählung, da hilft kein Film, auch wenn er
künstlerisch höher stünde als unser jetziger Nibelungenfilm mit seinen
Pappdeckelwäldern, dem auslaufenden Drachenauge und der blutenden
Siegfriedwunde. Wir müssen uns damit abfinden, daß der Buchstabe das
Bild eines gestorbenen Lautes, der geschriebene Satz das Bild eines
Gedankens ist, das nur solange lebendig wirkt, als die Menschen fähig
sind, ebenso zu denken. Es mag Gedanken geben, die aller Menschheit
begreiflich sind, solange es eine Menschheit gibt -- ich bin sogar vom
Bestehen solcher ewiger Wahrheiten überzeugt --, das ändert aber nichts
an der Tatsache, daß ein Buch, das aus einer Menge Gedanken besteht,
eben doch in gewissem Sinne mit seiner Zeit stirbt. Mit Spengler glaube
ich, daß wir z. B. die Antike niemals wirklich verstehen können,
womit nicht gesagt ist, daß der Einfluß _unserer Auffassung_ einer
vergangenen Menschheitsepoche nicht von größter Bedeutung sein kann.

Damit ist gezeigt, wo die eigentlichen Grenzen der Wirksamkeit
des Buches zu suchen sind: auf rein geistigem Gebiet. Ich deutete
schon oben an, daß die Sprache eine dieser Grenzen ist: Ein Buch in
französischer Sprache ist einem Deutschen, der nicht Französisch
gelernt hat, unverständlich. Ich behaupte noch mehr: Wer nicht ganz in
französischem Wesen aufgewachsen und erzogen ist, dem bleibt vieles
letzten Endes auch unverständlich, wenn er Französisch gelernt hat.
Eine restlose Übersetzung einer Dichtung in eine andere Sprache ist
unmöglich, es bleibt immer ein mehr oder minder wesentlicher Teil
unübersetzbar.

Es leuchtet auch ein, daß ein Buch über die Relativitätstheorie nur dem
physikalisch und philosophisch Gebildeten verständlich ist. Bei vielen
Büchern liegen also gewisse Grenzen ihrer Wirksamkeit offen zutage,
und doch fehlt auch hier Wesentliches: Es sind nur die Kenntnisse
gegeben, die Vorbedingung für das Verständnis des Buches sind, nichts
ist aber über die Fähigkeit ausgesagt, die zur Aufnahme des Inhalts
unbedingt notwendig sind. Nun wird man zwar einwenden, daß auch die
Kenntnisse gewisse Fähigkeiten beweisen; beschäftigt man sich aber mit
der Begabung der Leserwelt überhaupt, so erkennt man, wie nahe das
Nichtverstehen auch bei den »Gebildeten« liegt. Wir wundern uns oft,
wie es möglich ist, daß oft eine wichtige Erkenntnis nur langsam und
mit größten Schwierigkeiten weitere Kreise erfaßt. Stellt man aber
eine Untersuchung über die Verteilung der Begabung in der menschlichen
Gesellschaft an, so erklärt sich diese Tatsache leicht.

Schon um die Mitte des vorigen Jahrhunderts hat sich ein Engländer mit
der Begabung des Volkes befaßt, Francis Galton (Hereditary Genius,
London 1869). Von einem Deutschen, Otto Ammon, wurde auf diese
Untersuchungen aufgebaut und freilich mit gar manchem Trugschluß und
unter der Einwirkung eines einseitigen Darwinismus Wertvolles zur
Begabungsschichtung einer Bevölkerungsmasse klargestellt. Ich folge
dem deutschen Buch (Die Gesellschaftsordnung und ihre natürlichen
Grundlagen, 1. Auflage, Jena 1895), um das Wesentliche herauszuarbeiten.

Jedes Lebewesen vererbt auf seine Nachkommen eine Summe von
Einzeleigenschaften. Die Gesetzmäßigkeit dieser Vererbung steht nach
dem Mendelschen Gesetz heute wissenschaftlich fest. Die mögliche
Mischung der Eigenschaften ist aber bei der Riesenzahl von Einzelwesen,
die sich zur Zeugung von Nachkommen zusammenfinden können, eine
sehr große. Auf dieser Tatsache aufbauend, läßt sich eine Rechnung
aufmachen, deren Grundlagen sich am besten am Würfelspiel verdeutlichen
lassen.

Man denke sich z. B. die Begabung einer Bevölkerung im wesentlichen
auf 4 Grundlagen aufgebaut, deren jede in 6 verschiedenen Graden in
Frage kommt, so kann man jeder sozusagen einen Würfel zuteilen, jedem
Grad eine Seite dieses Würfels. Nun ergibt sich, daß der günstigste
Wurf mit 4 mal 6 Augen und der ungünstigste mit 1 mal 1 Auge nur
je in einer Zusammenstellung möglich ist, die Würfe aber mit der
Quersumme 2 und 5 sind schon mit je 4, die mit Quersumme 22 und 6
schon mit je 10 verschiedenen Zusammenstellungen möglich. Die größte
Zahl von Mischungen liegt in diesem Fall bei der Quersumme 14, die
146 verschiedene Möglichkeiten der Mischung gibt. Stellt man dieses
mathematische Ergebnis der verschiedenen Mischungsmöglichkeiten
zeichnerisch dar, so erhält man die gestrichelte Kurve der Abb. 1:

[Illustration]

Nun ist die Vierteilung der Begabung natürlich durchaus willkürlich,
denn jede dieser Gruppen läßt sich wieder in eine Unzahl
Einzelbegabungen auflösen. Fragt man nun, wie die Verhältnisse bei der
Annahme von mehr Begabungsgruppen liegen, so ergibt sich, daß die Zahl
der Mittelmäßigkeit zu, die der Spitzenbegabungen, sowohl im guten
wie im schlechten Sinne, abnimmt; bei Begabungsgruppen gibt es eben
die günstigste Quersumme von 48 und die ungünstigste von 8 nur einmal
unter im ganzen 1679616 Möglichkeiten der Begabungsmischung, während im
obigen Beispiel die Quersumme 24 und 4 einmal unter 1296 möglich war.

Gleiche Einwirkung auf die Kurve ergibt sich, wenn man statt 6 Graden
der Begabung deren mehr annimmt. Nimmt man z. B. wie Galton in seiner
Untersuchung über die Begabung von 1 Million Menschen 16 Grade an, so
erhält man die ausgezogene Kurve der Abb. 1.

Die Zahl der Einzelbegabungen ist zwar ebenso wie deren möglicher
Stärkegrad in keiner Weise festlegbar, immerhin kann man Galtons
Einteilung der Begabung als grundlegendes Bild gebrauchen, man
muß sich nur klar darüber sein, daß eben wegen der Vielzahl der
möglichen Einzelbegabungen und ihrer Grade in Wirklichkeit der
Aufstieg der Spitze zum »Talent und Genie« noch viel geringer ist, wie
natürlich auch die nach unten gerichtete Spitze der Minderbegabung
weniger abfällt. Die Masse einer Bevölkerung ist also unbedingt der
Mittelmäßigkeit überantwortet. Aus ihr ragen Talent und Genie in
jähem Aufstieg hervor, so daß die Absatzmöglichkeit von Büchern, die
an der Grenze von Mittelmäßigkeit und des Talentes liegen, was die
von ihnen geforderten Ansprüche von Aufnahmefähigkeit anlangt, in
einem Fall noch verblüffend groß, im anderen, wo es sich nur um eine
verhältnismäßig geringe Steigerung der Schwierigkeit handelt, schon
außerordentlich gering sein kann. Obwohl also die Mittelmäßigkeit
vorherrscht, besteht ein großer Trost! Er liegt in der Tatsache, daß
der unter das Mittelmaß der Begabung fallende Mensch sehr wohl in einer
Richtung Höchstbegabung besitzen kann, die nur durch Minderbegabung in
anderer Richtung ausgeglichen wird. Und in der Tat können wir bei ganz
Großen des Geistes oder der Seele ausgeprägte menschliche Schwächen
feststellen, ja, wir tun dies gerne, weil gerade diese Schwächen uns
über den Abstand, der uns im entscheidenden Punkt von ihnen trennt,
hinwegtröstet.

[Illustration:

    Genie

    Talent

    Mittelgut

    Schwachbegabt

    Grenze der Brauchbarkeit
]

Es ist also mit dem Bild der allgemeinen Verteilung der Begabung
nur ein ganz roher Anhaltspunkt gegeben dafür, wo die Grenzen der
Wirksamkeit eines Buches liegen. Immerhin leuchtet das wohl jedem
ein, daß eben gerade das belanglose Schrifttum den breitesten Boden
für Absatz hat. Es hat keinen Sinn, darüber zu jammern, daß etwa
die Tarzan-Bücher einen Absatzerfolg erzielen, der im schreienden
Mißverhältnis zum Absatz der Bücher steht, die menschlich wirklich
wertvoll sind, von den Klassikern gar nicht zu reden.

Man wende nicht ein, daß die Klassiker und auch die Bibel doch in
unzähligen Ausgaben weit verbreitet seien. Wer nüchtern denkt,
der weiß, daß mit der Verbreitung eines Buches noch lange nicht
bewiesen ist, daß dieses Buch auch in dem Umfange gelesen wird,
der seiner Verbreitung entspricht. In all diesen Fällen handelt es
sich um Einflüsse der Mode oder gesellschaftlichen Forderung, die
ein Auseinanderfallen von Markt und Wirkungsmöglichkeit der Bücher
herbeiführen. Die Wirkung der Mode ist fast immer zufällig und nicht
vorherbestimmbar, während uns das Beispiel der Klassiker die Beruhigung
verleiht, daß das wirklich Wertvolle schließlich Allgemeingeltung
erhält. Ich erinnere an die vielen Bücherschränke mit Klassikern in
der guten Stube, die nur dastehen, weil es für »ungebildet« gilt, sie
nicht zu besitzen. Die Zahl derjenigen, die das zur Mode gewordene Buch
Spenglers, »Untergang des Abendlandes«, wirklich gelesen haben, schätze
ich im Vergleich zur Zahl der verbreiteten Stücke dieses Werkes ganz
gering ein. Die meisten können über dieses Buch nur deshalb reden, weil
sie da und dort einige Äußerungen über seinen Inhalt aufgeschnappt
haben. Es hat aber keinen Zweck, sich über diese Verlogenheit zu
wundern; denn für das Mittelmaß sind die höchsten Werke unserer
Klassiker ebensowenig faßbar, wie es Spenglers schwere Kost ist. Man
kann auch nur schwer gegen diese Verlogenheit ankämpfen; denn abgesehen
davon, daß die Menge solch blinder Schatzbesitzer geistig schwer
erreichbar ist -- sie liest ja nur, was sie erfreut, und Vorwürfe
erfreuen nicht --, ist es doch auch eine gute Begleiterscheinung
der häßlichen Tatsache, daß dem hinreichend Begabten eine Unmenge
Gelegenheit geschaffen wird, in die Welt des hochwertigen Schrifttums
einzudringen. Und in der Tat! Wie häufig lesen Raffkes Kinder, was
Raffke nur gekauft hat!

Damit sind wir an einem entscheidenden Punkt: Die Gesamtbegabung
eines Menschen kommt nämlich nie zur vollen Entwicklung! Das sei
gerade am Beispiel Raffkes verdeutlicht: Würde nämlich Raffke seine
Begabung, die er nur seinem wirtschaftlichen Aufstieg widmete, auch
zur Erfassung wertvollen Schrifttums verwandt haben, so wäre er eben
nicht vorwiegend wirtschaftlich vorwärtsgekommen. Zum wirtschaftlichen
Aufstieg gehört nicht nur Gewinnsucht, sondern auch lebendige
Auffassungsgabe, Entschlußkraft und sonst noch manche Eigenschaft,
die ebensogut anderen Gebieten zugewandt werden kann. Unerfreulich an
der echten Raffkegestalt ist ja meistens eben jene Gewinnsucht als
Haupttriebkraft des Willens und der Mangel an sittlicher Bremskraft
beim Einsatz der geistigen Begabung. Daraus erklärt sich ohne weiteres
die Tatsache, daß Raffkes Kinder erfreulichere Gestalten sein können
und auch oft sind: Sie sind zu satt für eine so starke Entwicklung der
Gewinnsucht, und ihre Entwicklung in anderen Lebensumständen ist auch
mehr vor der Überwucherung der Giftpflanze Gewissenlosigkeit geschützt.
Die Verschiebung in der Verwendungsmöglichkeit der Begabung ist in
diesem Fall auch entscheidend für die Aufnahmefähigkeit für wertvolles
Schrifttum.

Gerade darum muß hier eine große Gedankenlosigkeit in dem Ammonschen
Buche als solche gebrandmarkt werden: Ammon wies nämlich, auf der
Einkommensverteilung im Königreich Sachsen fußend, darauf hin, daß
die Bevölkerungspyramide nach dem Einkommen der der Begabung sehr
ähnlich sei, und er sah darin einen Beweis dafür, wie herrlich alles
bestellt sei. Das ist natürlich barer Unsinn; denn an der Spitze jener
Einkommenspyramide kann ein, abgesehen von seinen wirtschaftlichen
Fähigkeiten, ganz minderwertiger Kerl stehen, während manches Talent,
ja Genie nicht das zum Leben nötigste Einkommen hat. Ja noch mehr:
Wer seine ganze Willenskraft, seine geistige Begabung, seine Zeit
ganz der Wirtschaft widmet, wird eben nur dort seinen Erfolg haben,
und die Begrenzung seiner sonstigen Begabung ist belanglos, wenn
man nach seinem _wirtschaftlichen_ Erfolg fragt. Der gleiche Mann
kann körperlich und seelisch ein Krüppel, auf gewissen geistigen
Gebieten ein Trottel sein. Auch muß man sich darüber klar sein, daß
alle Massenuntersuchungen, also auch eine über die Möglichkeiten der
Einkommensverteilung einer Bevölkerung einen ähnlichen Kurvenverlauf
wie den der Galtonschen Begabungskurve ergeben müssen. Entsprechen
also die Tatsachen der Kurve der Möglichkeiten, so ist das nicht
weiter verwunderlich, im vorliegenden Fall aber auch keineswegs sozial
befriedigend.

Für die hier einschlägige Frage nach den Grenzen der Wirksamkeit
des Buches ergibt sich aus dem Gesagten klar, daß wirtschaftliche
Leistungsfähigkeit und Aufnahmefähigkeit für hochwertiges Schrifttum
nicht nur nicht zusammenfallen, sondern sich oft geradezu ausschließen.
Diese Kluft zu überbrücken ist edelste soziale Aufgabe nicht zum
wenigsten des Buchhandels, der hier durch billiges Angebot ausgleichend
wirken kann.

Ich zeigte oben, wie die Masse der Bevölkerung hinsichtlich der
Begabung dem Mittelmaß angehört. Gerade darum aber ist es ein
Verbrechen, wenn unnötige Schwierigkeiten zu den schon bestehenden
gehäuft werden. Das geschieht leider häufig, indem die Schwierigkeiten,
die der Inhalt des Buches an sich bietet, noch um die weitere vermehrt
wird, daß die Darstellung in einer Sprache gegeben wird, die jede
lebendige Vorstellung ertötet. Am schlimmsten steht es in dieser
Hinsicht mit der Gelehrtensprache, die oft in ein für breitere Kreise
vollkommen unverständliches Kauderwelsch verfällt. Dadurch wird die
Wissenschaft vom Volke abgesondert, sie wird zur Geheimwissenschaft.
Die Folgen können nicht schlimmer in Erscheinung treten, als sie bei
uns in Erscheinung getreten sind: Man vergegenwärtige sich nur einmal
das geistige Verhältnis der sozialistischen Wähler zum Inhalt der
sozialistischen Lehre! Die Masse dieser Wählerschaft ist mit der Lehre
nur durch die Hoffnung verknüpft, daß sie diese Lehre aus ihren Nöten
herausführen könne. Der eigentliche Inhalt aber ist für sie hinter
ihrem Sprachschatz fremder Schlagworte verborgen.

Es erscheint mir immer unbegreiflicher, daß gerade von Gelehrten, die
Großes von ihrem sozialen Gewissen halten, nicht eingesehen wird, daß
die Lebendigkeit der Wissenschaftssprache nicht weniger soziale Pflicht
ist wie die des Besitzenden, sein Kapital flüssig zu machen. Es ist die
Abschließung von der breiten Masse auf Grund des Besitzes von Geld-
und Sachgütern nicht verwerflicher als die auf Grund von geistigen
Kenntnissen. Man entgegne nicht, daß die Wissenschaft der starken
Verwendung von Fremdworten nicht entraten könne, ohne zu verflachen. Es
gab und gibt bedeutende Gelehrte, die ihre Werke in lebendiger Sprache
verfaßten.

So komme ich zu meinem ketzerischen Schluß: Die Absatzmöglichkeit
eines Buches ist nahezu unbeschränkt, wenn es in lebendiger Sprache
geschrieben ist. Die wenigsten Schriftsteller und Gelehrten haben
hinsichtlich ihrer Fähigkeiten einen so weiten Abstand vom
Durchschnitt der Bevölkerung, daß sie die Einsamkeit des Genies für
sich als Entschuldigung in Anspruch nehmen können, wenn sie nur von
einem kleinen Kreis verstanden werden. Es gibt Schlemmerlokale, die
nur Frack, Smoking und Lackschuhe dulden. Möge es auf geistigem Gebiet
bei uns keine solchen Schlemmerlokale geben, in denen nur der geduldet
wird, der seinen Geist in volksfremde Sprache kleidet!



Über die Zukunft des Buches


Es ist eine gefährliche Sache, sich über die Zukunft des Buches zu
äußern; denn mit solchen Äußerungen haben schon eine große Menge
Menschen ihre Unfähigkeit bewiesen, die Zukunft vorherzusagen: Als
das moderne Zeitungswesen immer mehr anschwoll, hieß es, das sei der
Tod des Buches; kurz vor dem Krieg konnte man im Börsenblatt für
den deutschen Buchhandel lange Auseinandersetzungen lesen über die
Frage, ob das Kino dem Buchabsatz schade oder nütze, und durch diese
Auseinandersetzungen klang als Unterton die Angst, daß dem Buch schwere
Gefahr drohe. Trotz Zeitung und trotz Kino wuchs aber die deutsche
Bucherzeugung jährlich zu immer größerem Umfang an. Dann kam der Krieg,
und rasch war man mit der Bemerkung zur Hand, nun sei es mit dem
Buchabsatz zu Ende. Und wie wurde es? Der Stellungskrieg schuf eine
Menge neuer Leser, und gegen Ende des Kriegs waren die Verlagslager gar
mancher Verleger nahezu leer. Nun gibt es Leute, die mit ängstlicher
Miene der Befürchtung Ausdruck gaben, daß das Radiofieber dem Buch den
Todesstoß versetzen werde. Schon aber kann man hören von Riesenauflagen
der Radiobücher, von unerwartet großem Absatz von Operntexten der für
Fernübertragung aufgeführten Opern.

Aber schon das letzte Beispiel kann uns zeigen, daß es wohl überhaupt
falsch ist, von der Zukunft _des_ Buches zu sprechen. Rein äußerlich
ist ja gewiß der Begriff Buch etwas Feststehendes: Man denkt an
gefalzte und zusammengebundene Papierbogen, auf denen mit einer
Maschine Buchstaben in Druckerschwärze aufgedruckt sind, deren
Reihenfolge einen mehr oder minder erträglichen Sinn gibt. Es ist aber
doch wohl eine müßige Frage, ob das Buch unabhängig von seinem Sinn
Zukunft hat.

Schneidet man aber die Frage nach der Zukunft des Buches unter
Berücksichtigung des Buchinhaltes an, so zerfällt die Frage in
Tausende von Einzelfragen. Das würde allen Leuten sofort einleuchten,
wenn eben jene Naturgeschichte des Buches geschrieben wäre, die
geistesgeschichtlich aufzeigen müßte, welche Stellung das Buch jeweils
in den verschiedenen Zweigen des Geisteslebens eingenommen hat. Es
würde nicht genügen, wenn diese Naturgeschichte des Buches nur den
Zusammenhang großer geistiger Bewegungen, etwa der des Humanismus oder
der Aufklärung, mit den im Buch liegenden Möglichkeiten aufzeigen
würde. In mühevoller Kleinarbeit müßte die Bedeutung des Schrifttums
an sich für alle Zeiten und Völker, die des gedruckten Buches als
Massenerzeugnis im besonderen untersucht werden.

Wie auch die Ergebnisse solcher Arbeit sein werden, eines zeigt sich
schon bei flüchtigem Überblick: Nicht nur die Zeiten wandeln sich,
sondern auch der Begriff »Buch«, selbstverständlich nach seinem Inhalt
genommen. Man vergegenwärtige sich nur einmal, welche Wandlung z. B.
die Zeit der Reformation uns Deutschen für den Buchbegriff brachte:
Die Bibelübersetzungen, die Luthers voran, ermöglichten dem Volke,
die schriftliche Überlieferung der Heilslehre selbst zu lesen, der
Heilslehre, die im Mittelalter trotz mittelbarer Überlieferung das Volk
mächtig ergriffen hatte. Mit einem Schlage fast bekam damit das Wort
Buch einen anderen Sinn.

Und heute, in einer Zeit, die nach der klassischen Literaturepoche
liegt, ist wieder die Bedeutung eine andere für die Allgemeinheit als
etwa vor 200 Jahren: Wir stellen an das »unterhaltende« Buch andere
Anforderungen, als sie damals überhaupt gestellt werden konnten.

Und weiter: Welche Wandlungen hat das wissenschaftliche
Buch durchgemacht! Der Werkzeugcharakter, den ihm das
naturwissenschaftlich-technische Zeitalter immer mehr gab, wird wohl
nicht mehr ganz verschwinden, so sehr sich von allen Seiten die
Versuche mehren, auch der Wissenschaft wieder Werke zu schenken, die
mehr eine Zusammenschau, eine Eingliederung in ein allgemeines Weltbild
ermöglichen. Die Zeiten, in denen ein Mensch das Wissen seiner Zeit
etwa so in sich vereinigen konnte wie noch Alexander von Humboldt, ist
für uns vorbei, und darum muß auch unser Verfahren, zu einem Weltbild
zu kommen, ein anderes sein. Das wird besonders deutlich am Werk
Spenglers, der den Gedanken, den der Titel seines Werkes ausspricht,
kühn voranstellt, um ihm dann seine wissenschaftlichen Stützen zu
geben. Gewiß mag er dem Verfasser vom »Untergang des Abendlandes«
zuerst aufgeblitzt sein, als er auf einem Gebiet, etwa der Geschichte
der Mathematik, von unten anfangend eine Entwicklungslinie suchte,
aber alle seine anderen Untersuchungen standen dann unter der Gewalt
der zunächst einseitig gewonnenen Erkenntnis. So berechtigt vor
wenigen Jahrzehnten die Ablehnung der Arbeitsweise Spenglers als
unwissenschaftlich gewesen wäre, so notwendig ist heute gerade als
wissenschaftliche Forderung eine solche Einseitigkeit, um den toten
Punkt zu überwinden, den uns das zunehmende Fachgelehrtentum mit seinem
Zug zur Vereinzelung gebracht hat.

Dies Wenige mag zeigen, daß jede Zeit nicht nur dem Buch allgemein,
sondern auch seinen verschiedenen Gattungen eine bestimmte
Geistesrichtung zur Pflicht macht. Ist man sich über diese Tatsache im
klaren, so ergibt sich notwendig eine andere Einstellung zu der Frage
über die Zukunft des Buches. Ganz von selbst bleibt man dann nicht mehr
so an der Oberfläche hängen wie die Vorkriegsbetrachtungen über das
Kino, die ich erwähnte. Man sucht vielmehr die Regungen des Zeitgeistes
zu erfassen, die insofern für »das Buch« von entscheidender Bedeutung
sind, als sie nicht nur geeignet sind, in das Schrifttum einzudringen,
um dessen Inhalt zu ändern, sondern auch die Wirkung haben, zum
Schrifttum hin oder von ihm wegzuführen.

Solcher Einstellung fällt es nicht schwer zu zeigen, warum die
gewaltige Entwicklung der Tagespresse einen Rückgang der Bucherzeugung
nicht gebracht hat: Diese Entwicklung brachte eine ganz neue Technik
des Lesens, die im stärksten Gegensatz zu der früherer Zeiten steht.
Nicht mehr die beschauliche Erfassung der künstlerischen Einheit von
Stoff und Form steht im Vordergrund, sondern die möglichst rasche
Erfassung dessen, was der Leser wissen will. Der Leser sucht nur das
ihm Wesentliche zu erfassen, und wie die Zeitung »überflogen« wird,
so auch das Buch. Das aber ergibt, daß in wesentlich kürzerer Zeit
größere Mengen »gelesen« werden können. Ich leugne nicht, daß es auch
heute noch Leute geben mag, die noch im alten Sinne lesen, die Masse
der Bücherkäufer aber arbeitet nach jener neuzeitlichen Lesetechnik, in
der Wissenschaft nicht weniger als in der schönen Literatur. Immer mehr
prägt sich dies auch auf dem Büchermarkt selbst aus, denn ganz andere
Mengen können verschlungen werden, und natürlicherweise folgte der so
entstandenen gesteigerten Nachfrage ein größeres Angebot.

Es hat keinen Zweck, hierüber zu jammern; denn der auflösenden Wirkung,
die solche Entwicklung haben muß, stehen auch Vorteile gegenüber, vor
allem der, daß eine viel größere Zahl von Schriftstellern zu Worte
kommt. Das ist deshalb von Bedeutung, weil wir nicht gut verlangen
können, daß unser Schrifttum etwa ständig auf der Höhe der klassischen
Zeit bleibe. Nicht jede Zeit kann Größen wie Goethe und Schiller, Kant
und Fichte haben.

Eine Folge aber der neuen Lesetechnik ist der immer lauter ertönende
Ruf nach der Abbildung, die ein viel rascheres Ergreifen des
Inhalts möglich macht, als es die zu Worten und Sätzen geordneten
Buchstaben vermögen. Heute ist kein geographisches Lehrbuch ohne
reichliche Beigabe von Bildern und Skizzen mehr möglich, und das
medizinische Lehrbuch wird fast in erster Linie nach der Güte der
gebotenen Abbildungen eingeschätzt. Die Riesenauflagen von bebilderten
Zeitschriften, ja solchen, in denen das Bild fast allein erzählt,
beweisen, daß die große Masse der Leser zum Bilderbuch übergegangen ist.

Das Kino ist eine Erscheinung, die ganz in diesen Rahmen paßt: Der
rein sachliche Inhalt eines Romans kann ja viel rascher im Kino
erfaßt werden als durch das Lesen eines Buches, und es ist lächerlich
zu glauben, daß der eifrige Kinobesucher als Romanleser je zu einer
Erfassung Kellerscher Kunst in dem Sinne kommen kann, wie die Leser
der Kellerschen Zeit sie als selbstverständlich ansahen. Damit ist
nicht ausgeschlossen, daß er auf ganz anderem Weg zu einem Genuß der
Kunst Gottfried Kellers kommen kann; in diesem Fall ist aber eben
dann der sachliche Inhalt ganz zurücktretend, das Künstlerische und
Reinmenschliche wird »ohne Spannung« genossen, rein beschaulich, die
Spannung des modernen Bilderromans ist schon wegen der Raschheit, in
der sie erzeugt und gelöst wird, so etwas ganz anderes als die des
alten Romans, daß Vergleiche nicht mehr gezogen werden können.

So kommt es, daß große Teile unseres Schrifttums nur aus
»geschichtlicher« Einstellung auf einen anderen, vergangenen
Zeitgeist genossen werden. Man wird einwenden, daß doch viele Bücher
des schöngeistigen Schrifttums unserer Zeit in keiner Weise dem
Kinogeschmack entsprechen und doch weite Verbreitung finden. Dem ist
entgegenzuhalten, daß zweifellos eine große Menge Gebildeter dem Kino
wenn nicht feindlich, so doch ablehnend auch heute noch gegenübersteht,
d. h. nicht in dem Maße von der Sucht zu sehen statt zu lesen ergriffen
sind, daß sie nicht auch noch den guten »literarischen« Roman genießen
könnten. Darüber hinaus gibt es noch Leute, die mit snobistischer
Gönnerhaftigkeit die gute Literatur »pflegen«, besonders wenn sie gut
angezogen ist. Das alles ändert aber nichts an der Tatsache, daß die
breite Lesermasse ganz anders geartet ist: Als Beweis nenne ich nur den
Erfolg von Tarzan und den der Magazine, mit denen wir innerhalb eines
Jahres beglückt wurden.

Daneben läuft eine andere Erscheinung, die der geistigen Lage unserer
Zeit ebenso entspricht wie die Freude am Bild: Es ist die Beliebtheit
seelischer Zerfaserung, wie sie z. B. gerade von den großen Russen
gepflegt wurde. Sie ist in ihrer Unerbittlichkeit dem Kino verwandt;
denn wie dieses beschränkt sie die Phantasie des Lesers und bindet
ihn an eine strenge Eindeutigkeit. Das wird mit einem Schlage klar,
wenn man sich fragt, ob auch nur eine Person der neuzeitlichen Romane
in dem Maße als das eigene seelische Abbild betrachtet werden könnte,
wie das mit Goethes Werther der Fall war. Es ist klar, daß der Leser
sich um so leichter in einer Romangestalt wiederfinden kann, je mehr
deren Schilderung mit allgemein menschlichen Zügen aufgebaut ist, je
weniger Einzelzüge berücksichtigt sind, die der Vorstellung vom eigenen
Ich widersprechen. So zeigt sich auch hier, daß der Leser unserer
Zeit beim Lesen viel weniger Anteil nimmt, als er betrachtet. Selbst
die Form wird mehr kritisch-ästhetisch gewertet, als daß die Seele im
gleichen Rhythmus mitschwingt. Es ist eine Versachlichung literarischer
Kunst eingetreten, die der vorwiegend geschichtlich eingestellten
Kunstbetrachtung entspricht.

Schon aber bahnt sich eine neue Entwicklung an, die in noch
durchgreifenderer Weise vom Schrifttum wegführt als die Sucht nach
bildlicher Darstellung: Das gesprochene Wort, der lebendige Klang
gewinnt wieder mehr Bedeutung. Die junge Lyrik, wie sie mit den
»Neutönern« begann, suchte zuerst wieder Klang in die Dichtung zu
bringen, hatten ihre Vertreter doch erkannt, daß der Ton unserer
Dichtung in vieler Hinsicht stumpf geworden war, daß die Glocke einen
Sprung hatte, daß das Metall, der Stoff zwar noch Laut gab, aber keinen
singenden Ton. »Ihr hört mit tauben Ohren, Und sprecht mit stummem
Mund«, lautete der Vorwurf von Arno Holz an die alten Dichter. Diese
Erkenntnis aber einer geistigen Oberschicht konnte sich nur in einer
Bewegung auf schmalster Grundlage auswirken. Die breite Masse des
Volkes war noch nicht so weit, daß sie unter der Tonlosigkeit der
Zeitstimme litt. Erst die Aufrüttelung durch Krieg und Revolution
brachte hier Wandlung, wenn auch gern zugegeben sein soll, daß
die Jugendbewegung schon vorher bis in die Arbeiterkreise hinein
die Sehnsucht nach Klang in sich trug. Sie suchte aber mehr unter
Anknüpfung an geschichtlich Überliefertes das Lied zurückzugewinnen,
als daß sie ganz allgemein die Stumpfheit unserer Sprache im gesamten
Schrifttum empfand. Die Erschütterungen seit Kriegsbeginn aber zeigten,
daß mit dem geschriebenen und gedruckten Wort eben nur der begnadete
Künstler tief wirken kann. Der aber fehlte und fehlt einstweilen noch,
und so erklärt sich die Erscheinung, daß der Redner auch da geradezu
triumphierte, wo sich der geistige Inhalt seiner Rede in keiner Weise
mit den Leitartikeln der Presse messen konnte: Die Gewalt des mit dem
Klang der innerlich ergriffenen Persönlichkeit gesprochenen Wortes
zeigte sich dem feingeschliffenen gedruckten Wort weit überlegen, und
zwar nicht nur beim »Volk«, sondern auch bei weitesten Kreisen der
Gebildeten. Ich erlebte es, daß ein ausgewählter Kreis von führenden
Leuten des Handels und der Industrie, dazu Beamte bis zu Ministern,
einem bekannten Volksredner über zwei Stunden in atemloser Spannung
lauschte und die meisten erst hinterher gewahr wurden, daß der Redner
ja über den Gegenstand, über den er eigentlich sprechen sollte, so gut
wie nichts gesagt hatte.

Die Entwicklung des Radio wird der Neigung zum gesprochenen Wort wohl
noch weiter Vorschub leisten, doch glaube ich, daß sehr bald die
Sehnsucht nach der lebendigen Gebärde auch diese Entwicklung wieder in
andere Richtung lenken wird; denn das Wesentliche unserer Zeitrichtung
ist die Flucht vor allem Toten, die Sehnsucht nach dem Ausdruck
lebendiger Persönlichkeit.

Darum bewegen wir uns in gewissem Sinn vom Buch immer mehr weg trotz
aller Vergrößerung buchgewerblicher Erzeugung. Diese verdankt ihren
Aufschwung der Tatsache, daß das Buch zum Werkzeug wurde, nicht nur
in der Wissenschaft, nicht nur als Schulbuch in weitestem Sinne,
sondern nicht minder das »schöne« Buch, das in einem Fall Text
zu einem Kinostück, im anderen zu einem Radiovortrag oder zu der
beliebten Seelenanatomie ist. Man beachte, wie viele Leute heute
Goethes Tasso wirklich nur mehr als Text zu einer schauspielerischen
Leistung eines bestimmten Bühnenkünstlers genießen, wie sehr etwa bei
Darstellern wie Pallenberg die Frage nach dem Gehalt des Stückes,
nach seinem künstlerischen Wert zurücktritt gegenüber der Freude an
der Lebendigkeit der vorgezauberten Bühnenfigur. Man prüfe in diesem
Zusammenhang den Erfolg eines Buches wie das von Ford. Wurde es von den
meisten nicht deshalb zur Hand genommen, weil man in ihm brauchbare
Rezepte vermutete?

Man werfe mir nicht vor, daß ich zu schwarz male. Diese Betrachtungen
haben nichts zu tun mit Weltschmerz. Würden wir heute in einer Zeit
blühenden Schrifttums stehen wie etwa zur Zeit Goethes, dann wäre
uns das Buch eben deshalb etwas, weil es das beste oder eines der
besten Ausdrucksmittel unserer Zeit wäre. Da wir aber heute kein
Schrifttum haben, das uns in diesem Sinne bestes Ausdrucksmittel
unseres Empfindens ist, weil wir keine Vertreter schriftstellerischer
Kunst haben, die uns ergreifen könnten nicht nur allgemein menschlich,
sondern gerade als Menschen unserer aufgewühlten Zeit, so können wir
eben nicht mit Literatur unser seelisches Gleichgewicht herstellen;
denn sie ist zwar Ausdruck unserer Zeit, nicht mehr aber hat sie die
künstlerische Kraft, um die Spannung zu lösen, die uns alle in Bann
hält. Wir können, einzeln genommen, vielleicht durch ein Gedicht
Mörikes, Kellers oder auch durch das eines neuzeitlichen Dichters
erschüttert werden, ja gar mancher flieht vielleicht zu Goethe oder
noch weiter zurück zu einem Großen unseres Schrifttums, das ist aber
nicht entscheidend für die große Masse, die wie zu allen Zeiten _ihre_
Kunst haben will, die Kunst, die vollendeter, Spannung lösender
Ausdruck ihrer Zeit ist, die Stil ist. Ist es schwarz gesehen, wenn
man gesteht, daß man in einer Zeit lebt, die ihr Innerstes durch
schriftstellerische Kunst nicht ausdrücken kann? Wäre es nicht
feige, diesem Geständnis auszuweichen? Ja noch mehr, wäre es nicht
undankbar gegenüber dem Segen an künstlerischem Schrifttum, den unser
Volk aufweisen kann, wollte man die Pause nicht wahr haben, die nun
eingetreten ist auf dem Gebiete des künstlerischen Schrifttums?
Ebensowenig wie der einzelne Mensch kann auch ein Volk immerzu
schöpferisch sein auf allen Gebieten. Das ist die traurige, aber doch
menschlich große Erkenntnis unserer Zeit. Daß sie Spengler mit so
großem Erfolg aussprach, verdankt er dem Umstand, daß er damit die Zeit
von dem Druck eines ungewissen Etwas befreite, das man wohl gefühlt,
aber nicht erkannt hatte.

Am wenigsten ist Grund, mir als Buchhändler Schwarzseherei vorzuwerfen,
denn der Möglichkeiten des Buches als Werkzeug sind heute noch so
viele, daß die Notwendigkeit des Rückgangs der Erzeugung solcher Bücher
weit ab liegt. Ja noch mehr, es ist eine der Aufgaben unserer Zeit, dem
Buch als Werkzeug einerseits eine immer zweckmäßigere Form, andrerseits
eine immer größere Verbreitung zu geben.

Man wird nun sagen, daß es doch trostlos wäre, wenn nur diese nüchterne
Seite des Buches als Wirkungsfeld bliebe. Auch wird man die Frage
aufwerfen: »Gibt es denn keine Ewigkeitswerte unseres Schrifttums?«
Beide Einwendungen sind mehr als berechtigt. Aber gerade aus ihrer
Verbindung läßt sich die Antwort für beide gewinnen. Der Wert, den
unser klassisches Schrifttum in sich birgt und der als überzeitlich
bezeichnet werden kann, ist nicht ein Wert, der ohne weiteres erkannt
noch viel weniger nutzbar gemacht werden kann, denn er wurzelt in
persönlichstem Künstlertum. Nirgends gilt der Satz, daß das Ererbte
erworben werden muß, wenn man es besitzen will, mehr als in diesem
Zusammenhang. Es ist Aufgabe genug, in dieser Richtung alles zu tun,
was geschehen muß, um diese Quellen offen zu halten. Wir müssen uns
klar darüber sein, daß jede Zeit eine andere Einstellung zu Goethe z.
B. hat, daß die Wege, auf denen man ihr die Größe dieser Persönlichkeit
nahe bringen muß, verschieden sind. Diese Wege zu bahnen durch
sinnvolle Zusammenstellung und Auswahl sowohl, wie durch entsprechende
äußere Form, ist eine Pflicht, deren Erfüllung gerade dann am wenigsten
versäumt werden darf, wenn das Schrifttum der eigenen Zeit die Größe
nicht erreichen kann, die jenem Erbe entspricht. Man bedenke, daß
Krieg und Revolution eine vollkommen neue Schicht von Lesern erzeugt
hat, die zwar Leser im neuzeitlichen Sinne sind, in deren Reihen aber
viele sind, die für Wertvolleres gewonnen werden können als für den
Kitsch des Tages. Ihnen unsere Schätze so billig als möglich und doch
geschmackvoll zu bieten, ist zwar eine in Angriff genommene, aber noch
nicht erfüllte Aufgabe. Sie beginnt schon beim Lesebuch in der Schule
und es ist einer der wichtigsten Fortschritte unserer Zeit, daß die
Schule keine Lesebücher mehr will, die nach dem belehrenden Inhalt
zusammengestellt sind, daß das literarisch wertvolle Buch die Forderung
des Tages ist; bedauerlich ist nur die Wegerziehung vom Buch als
künstlerisch geschlossenes Ganzes, die in dem Augenblick in gewissen
Schulkreisen einsetzte, wo erste Kräfte bemüht sind, den Erwachsenen
das Lesebuch als künstlerisch berechtigte Form der Darbietung unseres
»Erbes« nahezubringen.

Weiterhin gilt es, sich dem Schrifttum unserer Zeit nicht zu
verschließen. Denn in ihm liegt eine wichtige Möglichkeit, das
Gesicht unserer Zeit den folgenden Geschlechtern zu bewahren; auch
diese sollen uns dereinst zu verstehen suchen, wie wir dem Sinn der
Geschichte nachgraben.

Wir müssen unser Schrifttum dafür gewinnen, daß es in vermehrtem
Maße dazu hilft, das große Erbe an die neu heranreifenden Schichten
heranzubringen, denn die Leserschaft ist bestimmend dafür, daß unser
Schrifttum in seinen wertvollen Teilen als lebendige Kraft erhalten
bleibt. Ein wesentlicher Teil unseres heutigen schriftstellerischen
Schaffens gehört aber der Tagespresse und in dieser Tatsache liegen
bisher nur ganz unvollkommen genützte Möglichkeiten. Der Großteil
der Presse und des ihm dienenden Schrifttums hat gewiß den guten
Willen, seine Leser zum guten, wertvollen Buch hinzuführen, aber die
Planlosigkeit mit der dieser Wille sich auswirkt, bringt sie um den
Erfolg des Bemühens. Nur mit Hilfe des Schrifttums unserer Zeit können
wir uns der Geschichte überliefern, aber auch nur mit seiner Hilfe
können wir das zur Geschichte gewordene Schrifttum unserer großen
Zeiten als lebendige Kraft erhalten.

Aus der Geschichte heraus wird uns aber auch dereinst ein neuer Morgen
des Schrifttums anbrechen, der Morgen eines Tages, an dem neue Blüten
aufbrechen werden an den Sträuchern und Bäumen, die heute vielleicht
nur buntes Laub tragen.

Wie wir in der Nacht leichter in uns hineinsehen, uns auch der Ewigkeit
mehr aufschließen können, als im Getriebe des Tages, so gilt es auch
heute, das Gestern mit prüfendem Sinn zu überdenken, der Möglichkeit,
ja der unbeschränkten Möglichkeit des Morgen, die Seele zu öffnen auch
dadurch, daß wir durch Ruhe Kräfte sammeln. Es gibt eine Ruhe, die
der erste Auftakt zur Leistung ist. Ich höre, wie die deutsche Seele
in sich hineinhorcht. Sie mag zunächst erschrecken über die Stille,
die der »Untergang« der Sonne um sie verbreitet. Schon aber hat sie
begonnen, die Ewigkeit wieder zu vernehmen, die ihr in der Zeit des
Erfolges von Wissenschaft und Technik zu einem Rechenbegriff geworden
war. Je tiefer wir in diese Ewigkeit hineintauchen, um so gekräftigter
wird uns das Morgen finden, denn aller Wert der Persönlichkeit ist
bestimmt durch die Überwindung toter Versachlichung und durch die
in die Ewigkeit wirkende Kraft wirklichen Lebens. Der Gehalt an
Persönlichkeit aber bestimmt auch die Zukunft des Buches.



Inhalt


    Vorwort                                                 5

    Politische Bildung und staatsbürgerliche Erziehung      7

    Buch und Religion                                      29

    Buchhandel als Beruf                                   59

    Vom buchhändlerischen Markt oder über Grenzen
    der Wirksamkeit des Buches                             69

    Über die Zukunft des Buches                            87



    Weitere Anmerkungen zur Transkription


    Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Der
    Schmutztitel wurde entfernt.



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