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Title: Märchen-Almanach auf das Jahr 1826
Author: Hauff, Wilhelm
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Märchen-Almanach auf das Jahr 1826" ***


Märchen-Almanach auf das Jahr 1826

Wilhelm Hauff


Inhalt

 Märchen als Almanach
 Die Karawane (Rahmenerzählung)
 Die Geschichte vom Kalif Storch
 Die Geschichte von dem Gespensterschiff
 Die Geschichte von der abgehauenen Hand
 Die Errettung Fatmes
 Die Geschichte von dem kleinen Muck
 Das Märchen vom falschen Prinzen



Märchen als Almanach

Wilhelm Hauff


In einem schönen, fernen Reiche, von welchem die Sage lebt, daß die
Sonne in seinen ewig grünen Gärten niemals untergehe, herrschte von
Anfang an bis heute die Königin Phantasie. Mit vollen Händen spendete
diese seit vielen Jahrhunderten die Fülle des Segens über die Ihrigen
und war geliebt, verehrt von allen, die sie kannten. Das Herz der
Königin war aber zu groß, als daß sie mit ihren Wohltaten bei ihrem
Lande stehen geblieben wäre; sie selbst, im königlichen Schmuck ihrer
ewigen Jugend und Schönheit, stieg herab auf die Erde; denn sie hatte
gehört, daß dort Menschen wohnen, die ihr Leben in traurigem Ernst,
unter Mühe und Arbeit hinbringen. Diesen hatte sie die schönsten Gaben
aus ihrem Reiche mitgebracht, und seit die schöne Königin durch die
Fluren der Erde gegangen war, waren die Menschen fröhlich bei der
Arbeit, heiter in ihrem Ernst.

Auch ihre Kinder, nicht minder schön und lieblich als die königliche
Mutter, sandte sie aus, um die Menschen zu beglücken. Einst kam
Märchen, die älteste Tochter der Königin, von der Erde zurück. Die
Mutter bemerkte, daß Märchen traurig sei, ja, hier und da wollte ihr
bedünken, als ob sie verweinte Augen hätte.

„Was hast du, liebes Märchen“, sprach die Königin zu ihr, „du bist seit
deiner Reise so traurig und niedergeschlagen, willst du deiner Mutter
nicht anvertrauen, was dir fehlt?“

„Ach, liebe Mutter“, antwortete Märchen, „ich hätte gewiß nicht so
lange geschwiegen, wenn ich nicht wüßte, daß mein Kummer auch der
deinige ist.“

„Sprich immer, meine Tochter“, bat die schöne Königin, „der Gram ist
ein Stein, der den einzelnen niederdrückt, aber zwei tragen ihn leicht
aus dem Wege.“

„Du willst es“, antwortete Märchen, „so höre: Du weißt, wie gerne ich
mit den Menschen umgehe, wie ich freudig auch bei dem Ärmsten vor
seiner Hütte sitze, um nach der Arbeit ein Stündchen mit ihm zu
verplaudern; sie boten mir auch sonst gleich freundlich die Hand zum
Gruß, wenn ich kam, und sahen mir lächelnd und zufrieden nach, wenn ich
weiterging; aber in diesen Tagen ist es gar nicht mehr so!“

„Armes Märchen!“ sprach die Königin und streichelte ihr die Wange, die
von einer Träne feucht war, „aber du bildest dir vielleicht dies alles
nur ein?“

„Glaube mir, ich fühle es nur zu gut“, entgegnete Märchen, „sie lieben
mich nicht mehr. Überall, wo ich hinkomme, begegnen mir kalte Blicke;
nirgends bin ich mehr gern gesehen; selbst die Kinder, die ich doch
immer so lieb hatte, lachen über mich und wenden mir altklug den Rücken
zu.“

Die Königin stützte die Stirne in die Hand und schwieg sinnend.

„Und woher soll es denn“, fragte die Königin, „kommen, Märchen, daß
sich die Leute da unten so geändert haben?“

„Sieh, die Menschen haben kluge Wächter aufgestellt, die alles, was aus
deinem Reich kommt, o Königin Phantasie, mit scharfem Blicke mustern
und prüfen. Wenn nun einer kommt, der nicht nach ihrem Sinne ist, so
erheben sie ein großes Geschrei, schlagen ihn tot oder verleumden ihn
doch so sehr bei den Menschen, die ihnen aufs Wort glauben, daß man gar
keine Liebe, kein Fünkchen Zutrauen mehr findet. Ach, wie gut haben es
meine Brüder, die Träume, fröhlich und leicht hüpfen sie auf die Erde
hinab, fragen nichts nach jenen klugen Männern, besuchen die
schlummernden Menschen und weben und malen ihnen, was das Herz beglückt
und das Auge erfreut!“

„Deine Brüder sind Leichtfüße“, sagte die Königin, „und du, mein
Liebling, hast keine Ursache, sie zu beneiden. Jene Grenzwächter kenne
ich übrigens wohl; die Menschen haben so unrecht nicht, sie
aufzustellen; es kam so mancher windige Geselle und tat, als ob er
geradewegs aus meinem Reiche käme, und doch hatte er höchstens von
einem Berge zu uns herübergeschaut.“

„Aber warum lassen sie dies mich, deine eigene Tochter, entgelten“,
weinte Märchen. „Ach, wenn du wüßtest, wie sie es mit mir gemacht
haben; sie schalten mich eine alte Jungfer und drohten, mich das
nächste Mal gar nicht mehr hereinzulassen.“ „Wie, meine Tochter nicht
mehr einzulassen?“ rief die Königin, und Zorn rötete ihre Wangen. „Aber
ich sehe schon, woher dies kommt; die böse Muhme hat uns verleumdet!“

„Die Mode? Nicht möglich!“ rief Märchen, „sie tat ja sonst immer so
freundlich.“

„Oh! Ich kenne sie, die Falsche“, antwortete die Königin, „aber
versuche es ihr zum Trotze wieder, meine Tochter, wer Gutes tun will,
darf nicht rasten.“

„Ach, Mutter! Wenn sie mich dann ganz zurückweisen, oder wenn sie mich
verleumden, daß mich die Menschen nicht ansehen oder einsam und
verachtet in der Ecke stehen lassen?“

„Wenn die Alten, von der Mode betört, dich geringschätzen, so wende
dich an die Kleinen, wahrlich, sie sind meine Lieblinge, ihnen sende
ich meine lieblichsten Bilder durch deine Brüder, die Träume, ja, ich
bin schon oft selbst zu ihnen hinabgeschwebt, habe sie geherzt und
geküßt und schöne Spiele mit ihnen gespielt; sie kennen mich auch wohl,
sie wissen zwar meinen Namen nicht, aber ich habe schon oft bemerkt,
wie sie nachts zu meinen Sternen herauflächeln und morgens, wenn meine
glänzenden Lämmer am Himmel ziehen, vor Freuden die Hände
zusammenschlagen. Auch wenn sie größer werden, lieben sie mich noch,
ich helfe dann den lieblichen Mädchen bunte Kränze flechten, und die
wilden Knaben werden stiller, wenn ich auf hoher Felsenspitze mich zu
ihnen setze, aus der Nebelwelt der fernen, blauen Berge hohe Burgen und
glänzende Paläste auftauchen lasse und aus den rötlichen Wolken des
Abends kühne Reiterscharen und wunderliche Wallfahrtszüge bilde.“

„O die guten Kinder!“ rief Märchen bewegt aus. „Ja, es sei! Mit ihnen
will ich es noch einmal versuchen.“

„Ja, du gute Tochter“, sprach die Königin, „gehe zu ihnen; aber ich
will dich auch ein wenig ordentlich ankleiden, daß du den Kleinen
gefällst und die Großen dich nicht zurückstoßen; siehe, das Gewand
eines Almanachs will ich dir geben.“

„Eines Almanachs, Mutter? Ach!—Ich schäme mich, so vor den Leuten zu
prangen.“

Die Königin winkte, und die Dienerinnen brachten das zierliche Gewand
eines Almanachs. Es war von glänzenden Farben und schöne Figuren
eingewoben.

Die Zofen flochten dem schönen Mädchen das lange Haar; sie banden ihr
goldene Sandalen unter die Füße und hingen ihr dann das Gewand um.

Das bescheidene Märchen wagte nicht aufzublicken, die Mutter aber
betrachtete es mit Wohlgefallen und schloß es in ihre Arme. „Gehe hin“,
sprach sie zu der Kleinen, „mein Segen sei mit dir. Und wenn sie dich
verachten und höhnen, so kehre zurück zu mir, vielleicht, daß spätere
Geschlechter, getreuer der Natur, ihr Herz dir wieder zuwenden.“

Also sprach die Königin Phantasie. Märchen aber stieg hinab auf die
Erde. Mit pochendem Herzen nahte sie dem Ort, wo die klugen Wächter
hauseten; sie senkte das Köpfchen zur Erde, sie zog das schöne Gewand
enger um sich her, und mit zagendem Schritt nahte sie dem Tor.

„Halt!“ rief eine tiefe, rauhe Stimme. „Wache heraus! Da kommt ein
neuer Almanach!“

Märchen zitterte, als sie dies hörte; viele ältliche Männer von
finsterem Aussehen stürzten hervor; sie hatten spitzige Federn in der
Faust und hielten sie dem Märchen entgegen. Einer aus der Schar schritt
auf sie zu und packte sie mit rauher Hand am Kinn. „Nur auch den Kopf
aufgerichtet, Herr Almanach“, schrie er, „daß man Ihm in den Augen
ansiehet, ob er was Rechtes ist oder nicht!“

Errötend richtete Märchen das Köpfchen in die Höhe und schlug das
dunkle Auge auf.

„Das Märchen!“ riefen die Wächter und lachten aus vollem Hals, „das
Märchen! Haben wunder gemeint, was da käme! Wie kommst du nur in diesen
Rock?“

„Die Mutter hat ihn mir angezogen“, antwortete Märchen. „So? Sie will
dich bei uns einschwärzen? Nichts da! Hebe dich weg, mach, daß du
fortkommst!“ riefen die Wächter untereinander und erhoben die scharfen
Federn.

„Aber ich will ja nur zu den Kindern“, bat Märchen, „dies könnt ihr mir
ja doch erlauben.“

„Läuft nicht schon genug solches Gesindel im Land umher?“ rief einer
der Wächter. „Sie schwatzen nur unseren Kindern dummes Zeug vor.“

„Laßt uns sehen, was sie diesmal weiß!“ sprach ein anderer.

„Nun ja“, riefen sie, „sag an, was du weißt, aber beeile dich, denn wir
haben nicht viele Zeit für dich!“

Märchen streckte die Hand aus und schrieb mit dem Zeigefinger viele
Zeichen in die Luft. Da sah man bunte Gestalten vorüberziehen;
Karawanen mit schönen Rossen, geschmückte Reiter, viele Zelte im Sand
der Wüste; Vögel und Schiffe auf stürmischen Meeren; stille Wälder und
volkreiche Plätze und Straßen; Schlachten und friedliche Nomaden, sie
alle schwebten in belebten Bildern, in buntem Gewimmel vorüber.

Märchen hatte in dem Eifer, mit welchem sie die Bilder aufsteigen ließ,
nicht bemerkt, wie die Wächter des Tores nach und nach eingeschlafen
waren. Eben wollte sie neue Zeichen schreiben, als ein freundlicher
Mann auf sie zutrat und ihre Hand ergriff. „Siehe her, gutes Märchen“,
sagte er, indem er auf die Schlafenden zeigte, „für diese sind deine
bunten Sachen nichts; schlüpfe schnell durch das Tor; sie ahnen dann
nicht, daß du im Lande bist, und du kannst friedlich und unbemerkt
deine Straße ziehen. Ich will dich zu meinen Kindern führen; in meinem
Hause geb’ ich dir ein stilles, freundliches Plätzchen; dort kannst du
wohnen und für dich leben; wenn dann meine Söhne und Töchter gut
gelernt haben, dürfen sie mit ihren Gespielen zu dir kommen und dir
zuhören. Willst du so?“

„Oh, wie gerne folge ich dir zu deinen lieben Kleinen; wie will ich
mich befleißen, ihnen zuweilen ein heiteres Stündchen zu machen!“

Der gute Mann nickte ihr freundlich zu und half ihr, über die Füße der
schlafenden Wächter hinüberzusteigen. Lächelnd sah sich Märchen um, als
sie hinüber war, und schlüpfte dann schnell in das Tor.



Die Karawane

Wilhelm Hauff


Es zog einmal eine große Karawane durch die Wüste. Auf der ungeheuren
Ebene, wo man nichts als Sand und Himmel sieht, hörte man schon in
weiter Ferne die Glocken der Kamele und die silbernen Röllchen der
Pferde, eine dichte Staubwolke, die ihr vorherging, verkündete ihre
Nähe, und wenn ein Luftzug die Wolke teilte, blendeten funkelnde Waffen
und helleuchtende Gewänder das Auge. So stellte sich die Karawane einem
Manne dar, welcher von der Seite her auf sie zuritt. Er ritt ein
schönes arabisches Pferd, mit einer Tigerdecke behängt, an dem
hochroten Riemenwerk hingen silberne Glöckchen, und auf dem Kopf des
Pferdes wehte ein schöner Reiherbusch. Der Reiter sah stattlich aus,
und sein Anzug entsprach der Pracht seines Rosses; ein weißer Turban,
reich mit Gold bestickt, bedeckte das Haupt; der Rock und die weiten
Beinkleider waren von brennendem Rot, ein gekrümmtes Schwert mit
reichem Griff an seiner Seite. Er hatte den Turban tief ins Gesicht
gedrückt; dies und die schwarzen Augen, die unter buschigen Brauen
hervorblitzten, der lange Bart, der unter der gebogenen Nase herabhing,
gaben ihm ein wildes, kühnes Aussehen.

Als der Reiter ungefähr auf fünfzig Schritt dem Vortrab der Karawane
nahe war, spornte er sein Pferd an und war in wenigen Augenblicken an
der Spitze des Zuges angelangt. Es war ein so ungewöhnliches Ereignis,
einen einzelnen Reiter durch die Wüste ziehen zu sehen, daß die Wächter
des Zuges, einen Überfall befürchtend, ihm ihre Lanzen
entgegenstreckten.

„Was wollt ihr“, rief der Reiter, als er sich so kriegerisch empfangen
sah, „glaubt ihr, ein einzelner Mann werde eure Karawane angreifen?“

Beschämt schwangen die Wächter ihre Lanzen wieder auf, ihr Anführer
aber ritt an den Fremden heran und fragte nach seinem Begehr.

„Wer ist der Herr der Karawane?“ fragte der Reiter.

„Sie gehört nicht einem Herrn“, antwortete der Gefragte, „sondern es
sind mehrere Kaufleute, die von Mekka in ihre Heimat ziehen und die wir
durch die Wüste geleiten, weil oft allerlei Gesindel die Reisenden
beunruhigt.“

„So führt mich zu den Kaufleuten“, begehrte der Fremde.

„Das kann jetzt nicht geschehen“, antwortete der Führer, „weil wir ohne
Aufenthalt weiterziehen müssen und die Kaufleute wenigstens eine
Viertelstunde weiter hinten sind; wollt Ihr aber mit mir weiterreiten,
bis wir lagern, um Mittagsruhe zu halten, so werde ich Eurem Wunsch
willfahren.“

Der Fremde sagte hierauf nichts; er zog eine lange Pfeife, die er am
Sattel festgebunden hatte, hervor und fing an in großen Zügen zu
rauchen, indem er neben dem Anführer des Vortrabs weiterritt. Dieser
wußte nicht, was er aus dem Fremden machen sollte; er wagte es nicht,
ihn geradezu nach seinem Namen zu fragen, und so künstlich er auch ein
Gespräch anzuknüpfen suchte, der Fremde hatte auf das: „Ihr raucht da
einen guten Tabak“, oder: „Euer Rapp’ hat einen braven Schritt“, immer
nur mit einem kurzen „Ja, ja!“ geantwortet.

Endlich waren sie auf dem Platz angekommen, wo man Mittagsruhe halten
wollte. Der Anführer hatte seine Leute als Wachen aufgestellt; er
selbst hielt mit dem Fremden, um die Karawane herankommen zu lassen.
Dreißig Kamele, schwer beladen, zogen vorüber, von bewaffneten Führern
geleitet. Nach diesen kamen auf schönen Pferden die fünf Kaufleute,
denen die Karawane gehörte. Es waren meistens Männer von vorgerücktem
Alter, ernst und gesetzt aussehend, nur einer schien viel jünger als
die übrigen, wie auch froher und lebhafter. Eine große Anzahl Kamele
und Packpferde schloß den Zug.

Man hatte Zelte aufgeschlagen und die Kamele und Pferde rings
umhergestellt. In der Mitte war ein großes Zelt von blauem Seidenzeug.
Dorthin führte der Anführer der Wache den Fremden. Als sie durch den
Vorhang des Zeltes getreten waren, sahen sie die fünf Kaufleute auf
goldgewirkten Polstern sitzen; schwarze Sklaven reichten ihnen Speise
und Getränke. „Wen bringt Ihr uns da?“ rief der junge Kaufmann dem
Führer zu.

Ehe noch der Führer antworten konnte, sprach der Fremde: „Ich heiße
Selim Baruch und bin aus Bagdad; ich wurde auf einer Reise nach Mekka
von einer Räuberhorde gefangen und habe mich vor drei Tagen heimlich
aus der Gefangenschaft befreit. Der große Prophet ließ mich die Glocken
eurer Karawane in weiter Ferne hören, und so kam ich bei euch an.
Erlaubet mir, daß ich in eurer Gesellschaft reise! Ihr werdet euren
Schutz keinem Unwürdigen schenken, und so ihr nach Bagdad kommet, werde
ich eure Güte reichlich belohnen denn ich bin der Neffe des
Großwesirs.“

Der älteste der Kaufleute nahm das Wort: „Selim Baruch“, sprach er,
„sei willkommen in unserem Schatten. Es macht uns Freude, dir
beizustehen; vor allem aber setze dich und iß und trinke mit uns.“

Selim Baruch setzte sich zu den Kaufleuten und aß und trank mit ihnen.
Nach dem Essen räumten die Sklaven die Geschirre hinweg und brachten
lange Pfeifen und türkischen Sorbet. Die Kaufleute saßen lange
schweigend, indem sie die bläulichen Rauchwolken vor sich hinbliesen
und zusahen, wie sie sich ringelten und verzogen und endlich in die
Luft verschwebten. Der junge Kaufmann brach endlich das Stillschweigen:
„So sitzen wir seit drei Tagen“, sprach er, „zu Pferd und am Tisch,
ohne uns durch etwas die Zeit zu vertreiben. Ich verspüre gewaltig
Langeweile, denn ich bin gewohnt, nach Tisch Tänzer zu sehen oder
Gesang und Musik zu hören. Wißt ihr gar nichts, meine Freunde, das uns
die Zeit vertreibt?“

Die vier älteren Kaufleute rauchten fort und schienen ernsthaft
nachzusinnen, der Fremde aber sprach: „Wenn es mir erlaubt ist, will
ich euch einen Vorschlag machen. Ich meine, auf jedem Lagerplatz könnte
einer von uns den anderen etwas erzählen. Dies könnte uns schon die
Zeit vertreiben.“

„Selim Baruch, du hast wahr gesprochen“, sagte Achmet, der älteste der
Kaufleute, „laßt uns den Vorschlag annehmen.“

„Es freut mich, wenn euch der Vorschlag behagt“, sprach Selim, „damit
ihr aber sehet, daß ich nichts Unbilliges verlange, so will ich den
Anfang machen.“

Vergnügt rückten die fünf Kaufleute näher zusammen und ließen den
Fremden in ihrer Mitte sitzen. Die Sklaven schenkten die Becher wieder
voll, stopften die Pfeifen ihrer Herren frisch und brachten glühende
Kohlen zum Anzünden. Selim aber erfrischte seine Stimme mit einem
tüchtigen Zuge Sorbet, strich den langen Bart über dem Mund weg und
sprach:

„So hört denn die Geschichte vom Kalif Storch.“

Als Selim Baruch seine Geschichte beendet hatte, bezeugten sich die
Kaufleute sehr zufrieden damit. „Wahrhaftig, der Nachmittag ist uns
vergangen, ohne daß wir merkten wie!“ sagte einer derselben, indem er
die Decke des Zeltes zurückschlug. „Der Abendwind wehet kühl, und wir
könnten noch eine gute Strecke Weges zurücklegen.“ Seine Gefährten
waren damit einverstanden, die Zelte wurden abgebrochen, und die
Karawane machte sich in der nämlichen Ordnung, in welcher sie
herangezogen war, auf den Weg.

Sie ritten beinahe die ganze Nacht hindurch, denn es war schwül am
Tage, die Nacht aber war erquicklich und sternhell. Sie kamen endlich
an einem bequemen Lagerplatz an, schlugen die Zelte auf und legten sich
zur Ruhe. Für den Fremden aber sorgten die Kaufleute, wie wenn er ihr
wertester Gastfreund wäre. Der eine gab ihm Polster, der andere Decken,
ein dritter gab ihm Sklaven, kurz, er wurde so gut bedient, als ob er
zu Hause wäre. Die heißeren Stunden des Tages waren schon
heraufgekommen, als sie sich wieder erhoben, und sie beschlossen
einmütig, hier den Abend abzuwarten. Nachdem sie miteinander gespeist
hatten, rückten sie wieder näher zusammen, und der junge Kaufmann
wandte sich an den ältesten und sprach: „Selim Baruch hat uns gestern
einen vergnügten Nachmittag bereitet, wie wäre es, Achmet, wenn Ihr uns
auch etwas erzähltet, sei es nun aus Eurem langen Leben, das wohl viele
Abenteuer aufzuweisen hat, oder sei es auch ein hübsches Märchen.“
Achmet schwieg auf diese Anrede eine Zeitlang, wie wenn er bei sich im
Zweifel wäre, ob er dies oder jenes sagen sollte oder nicht; endlich
fing er an zu sprechen:

„Liebe Freunde! Ihr habt euch auf dieser unserer Reise als treue
Gesellen erprobt, und auch Selim verdient mein Vertrauen; daher will
ich euch etwas aus meinem Leben mitteilen, das ich sonst ungern und
nicht jedem erzähle: die Geschichte von dem Gespensterschiff.“

Die Reise der Karawane war den anderen Tag ohne Hindernis fürder
gegangen, und als man im Lagerplatz sich erholt hatte, begann Selim,
der Fremde, zu Muley, dem jüngsten der Kaufleute, also zu sprechen:

„Ihr seid zwar der Jüngste von uns, doch seid Ihr immer fröhlich und
wißt für uns gewiß irgendeinen guten Schwank. Tischet ihn auf, daß er
uns erquicke nach der Hitze des Tages!“

„Wohl möchte ich euch etwas erzählen“, antwortete Muley, „das euch Spaß
machen könnte, doch der Jugend ziemt Bescheidenheit in allen Dingen;
darum müssen meine älteren Reisegefährten den Vorrang haben. Zaleukos
ist immer so ernst und verschlossen, sollte er uns nicht erzählen, was
sein Leben so ernst machte? Vielleicht, daß wir seinen Kummer, wenn er
solchen hat, lindern können; denn gerne dienen wir dem Bruder, wenn er
auch anderen Glaubens ist.“

Der Aufgerufene war ein griechischer Kaufmann, ein Mann in mittleren
Jahren, schön und kräftig, aber sehr ernst. Ob er gleich ein
Ungläubiger (nicht Muselmann) war, so liebten ihn doch seine
Reisegefährten, denn er hatte durch sein ganzes Wesen Achtung und
Zutrauen eingeflößt. Er hatte übrigens nur eine Hand, und einige seiner
Gefährten vermuteten, daß vielleicht dieser Verlust ihn so ernst
stimme.

Zaleukos antwortete auf die zutrauliche Frage Muleys: „Ich bin sehr
geehrt durch euer Zutrauen; Kummer habe ich keinen, wenigstens keinen,
von welchem ihr auch mit dem besten Willen mir helfen könntet. Doch
weil Muley mir meinen Ernst vorzuwerfen scheint, so will ich euch
einiges erzählen, was mich rechtfertigen soll, wenn ich ernster bin als
andere Leute. Ihr sehet, daß ich meine linke Hand verloren habe. Sie
fehlt mir nicht von Geburt an, sondern ich habe sie in den
schrecklichsten Tagen meines Lebens eingebüßt. Ob ich die Schuld davon
trage, ob ich unrecht habe, seit jenen Tagen ernster, als es meine Lage
mit sich bringt, zu sein, möget ihr beurteilen, wenn ihr vernommen habt
die Geschichte von der abgehauenen Hand.“

Zaleukos, der griechische Kaufmann, hatte seine Geschichte geendigt.
Mit großer Teilnahme hatten ihm die übrigen zugehört, besonders der
Fremde schien sehr davon ergriffen zu sein; er hatte einigemal tief
geseufzt, und Muley schien es sogar, als habe er einmal Tränen in den
Augen gehabt. Sie besprachen sich noch lange Zeit über diese
Geschichte.

„Und haßt Ihr den Unbekannten nicht, der Euch so schnöd’ um ein so
edles Glied Eures Körpers, der selbst Euer Leben in Gefahr brachte?“
fragte der Fremde.

„Wohl gab es in früherer Zeit Stunden“, antwortete der Grieche, „in
denen mein Herz ihn vor Gott angeklagt, daß er diesen Kummer über mich
gebracht und mein Leben vergiftet habe; aber ich fand Trost in dem
Glauben meiner Väter, und dieser befiehlt mir, meine Feinde zu lieben;
auch ist er wohl noch unglücklicher als ich.“

„Ihr seid ein edler Mann!“ rief der Fremde und drückte gerührt dem
Griechen die Hand.

Der Anführer der Wache unterbrach sie aber in ihrem Gespräch. Er trat
mit besorgter Miene in das Zelt und berichtete, daß man sich nicht der
Ruhe überlassen dürfe; denn hier sei die Stelle, wo gewöhnlich die
Karawanen angegriffen würden, auch glaubten seine Wachen, in der
Entfernung mehrere Reiter zu sehen.

Die Kaufleute waren sehr bestürzt über diese Nachricht; Selim, der
Fremde, aber wunderte sich über ihre Bestürzung und meinte, daß sie so
gut geschätzt wären, daß sie einen Trupp räuberischer Araber nicht zu
fürchten brauchten.

„Ja, Herr!“ entgegnete ihm der Anführer der Wache. „Wenn es nur solches
Gesindel wäre, könnte man sich ohne Sorge zur Ruhe legen; aber seit
einiger Zeit zeigt sich der furchtbare Orbasan wieder, und da gilt es,
auf seiner Hut zu sein.“

Der Fremde fragte, wer denn dieser Orbasan sei, und Achmet, der alte
Kaufmann, antwortete ihm: „Es gehen allerlei Sagen unter dem Volke über
diesen wunderbaren Mann. Die einen halten ihn für ein übermenschliches
Wesen, weil er oft mit fünf bis sechs Männern zumal einen Kampf
besteht, andere halten ihn für einen tapferen Franken, den das Unglück
in diese Gegend verschlagen habe; von allem aber ist nur so viel gewiß,
daß er ein verruchter Mörder und Dieb ist.“

„Das könnt Ihr aber doch nicht behaupten“, entgegnete ihm Lezah, einer
der Kaufleute. „Wenn er auch ein Räuber ist, so ist er doch ein edler
Mann, und als solcher hat er sich an meinem Bruder bewiesen, wie ich
Euch erzählen könnte. Er hat seinen ganzen Stamm zu geordneten Menschen
gemacht, und so lange er die Wüste durchstreift, darf kein anderer
Stamm es wagen, sich sehen zu lassen. Auch raubt er nicht wie andere,
sondern er erhebt nur ein Schutzgeld von den Karawanen, und wer ihm
dieses willig bezahlt, der ziehet ungefährdet weiter; denn Orbasan ist
der Herr der Wüste.“

Also sprachen unter sich die Reisenden im Zelte; die Wachen aber, die
um den Lagerplatz ausgestellt waren, begannen unruhig zu werden. Ein
ziemlich bedeutender Haufe bewaffneter Reiter zeigte sich in der
Entfernung einer halben Stunde; sie schienen gerade auf das Lager
zuzureiten. Einer der Männer von der Wache ging daher in das Zelt, um
zu verkünden, daß sie wahrscheinlich angegriffen würden. Die Kaufleute
berieten sich untereinander, was zu tun sei, ob man ihnen entgegengehen
oder den Angriff abwarten solle. Achmet und die zwei älteren Kaufleute
wollten das letztere, der feurige Muley aber und Zaleukos verlangten
das erstere und riefen den Fremden zu ihrem Beistand auf. Dieser zog
ruhig ein kleines, blaues Tuch mit roten Sternen aus seinem Gürtel
hervor, band es an eine Lanze und befahl einem der Sklaven, es auf das
Zelt zu stecken; er setze sein Leben zum Pfand, sagte er, die Reiter
werden, wenn sie dieses Zeichen sehen, ruhig vorüberziehen. Muley
glaubte nicht an den Erfolg, der Sklave aber steckte die Lanze auf das
Zelt. Inzwischen hatten alle, die im Lager waren, zu den Waffen
gegriffen und sahen in gespannter Erwartung den Reitern entgegen. Doch
diese schienen das Zeichen auf dem Zelte erblickt zu haben, sie wichen
plötzlich von ihrer Richtung auf das Lager ab und zogen in einem großen
Bogen auf der Seite hin.

Verwundert standen einige Augenblicke die Reisenden und sahen bald auf
die Reiter, bald auf den Fremden. Dieser stand ganz gleichgültig, wie
wenn nichts vorgefallen wäre, vor dem Zelte und blickte über die Ebene
hin. Endlich brach Muley das Stillschweigen. „Wer bist du, mächtiger
Fremdling“, rief er aus, „der du die wilden Horden der Wüste durch
einen Wink bezähmst?“

„Ihr schlagt meine Kunst höher an, als sie ist“, antwortete Selim
Baruch. „Ich habe mich mit diesem Zeichen versehen, als ich der
Gefangenschaft entfloh; was es zu bedeuten hat, weiß ich selbst nicht;
nur so viel weiß ich, daß, wer mit diesem Zeichen reiset, unter
mächtigem Schutze steht.“

Die Kaufleute dankten dem Fremden und nannten ihn ihren Erretter.
Wirklich war auch die Anzahl der Reiter so groß gewesen, daß wohl die
Karawane nicht lange hätte Widerstand leisten können.

Mit leichterem Herzen begab man sich jetzt zur Ruhe, und als die Sonne
zu sinken begann und der Abendwind über die Sandebene hinstrich,
brachen sie auf und zogen weiter.

Am nächsten Tage lagerten sie ungefähr nur noch eine Tagreise von dem
Ausgang der Wüste entfernt. Als sich die Reisenden wieder in dem großen
Zelt versammelt hatten, nahm Lezah, der Kaufmann, das Wort:

„Ich habe euch gestern gesagt, daß der gefürchtete Orbasan ein edler
Mann sei, erlaubt mir, daß ich es euch heute durch die Erzählung der
Schicksale meines Bruders beweise. Mein Vater war Kadi in Akara. Er
hatte drei Kinder. Ich war der Älteste, ein Bruder und eine Schwester
waren bei weitem jünger als ich. Als ich zwanzig Jahre alt war, rief
mich ein Bruder meines Vaters zu sich. Er setzte mich zum Erben seiner
Güter ein, mit der Bedingung, daß ich bis zu seinem Tode bei ihm
bleibe. Aber er erreichte ein hohes Alter, so daß ich erst vor zwei
Jahren in meine Heimat zurückkehrte und nichts davon wußte, welch
schreckliches Schicksal indes mein Haus betroffen und wie gütig Allah
es gewendet hatte.“ Die Errettung Fatmes

Die Karawane hatte das Ende der Wüste erreicht, und fröhlich begrüßten
die Reisenden die grünen Matten und die dichtbelaubten Bäume, deren
lieblichen Anblick sie viele Tage entbehrt hatten. In einem schönen
Tale lag eine Karawanserei, die sie sich zum Nachtlager wählten, und
obgleich sie wenig Bequemlichkeit und Erfrischung darbot, so war doch
die ganze Gesellschaft heiterer und zutraulicher als je; denn der
Gedanke, den Gefahren und Beschwerlichkeiten, die eine Reise durch die
Wüste mit sich bringt, entronnen zu sein, hatte alle Herzen geöffnet
und die Gemüter zu Scherz und Kurzweil gestimmt. Muley, der junge
lustige Kaufmann, tanzte einen komischen Tanz und sang Lieder dazu, die
selbst dem ernsten Griechen Zaleukos ein Lächeln entlockten. Aber nicht
genug, daß er seine Gefährten durch Tanz und Spiel erheitert hatte, er
gab ihnen auch noch die Geschichte zum besten, die er ihnen versprochen
hatte, und hub, als er von seinen Luftsprüngen sich erholt hatte, also
zu erzählen an: Die Geschichte von dem kleinen Muck.

„So erzählte mir mein Vater; ich bezeugte ihm meine Reue über mein
rohes Betragen gegen den guten kleinen Mann, und mein Vater schenkte
mir die andere Hälfte der Strafe, die er mir zugedacht hatte. Ich
erzählte meinen Kameraden die wunderbaren Schicksale des Kleinen, und
wir gewannen ihn so lieb, daß ihn keiner mehr schimpfte. Im Gegenteil,
wir ehrten ihn, solange er lebte, und haben uns vor ihm immer so tief
wie vor Kadi und Mufti gebückt.“

Die Reisenden beschlossen, einen Rasttag in dieser Karawanserei zu
machen, um sich und die Tiere zur weiteren Reise zu stärken. Die
gestrige Fröhlichkeit ging auch auf diesen Tag über, und sie ergötzten
sich in allerlei Spielen. Nach dem Essen aber riefen sie dem fünften
Kaufmann, Ali Sizah, zu, auch seine Schuldigkeit gleich den übrigen zu
tun und eine Geschichte zu erzählen. Er antwortete, sein Leben sei zu
arm an auffallenden Begebenheiten, als daß er ihnen etwas davon
mitteilen möchte, daher wolle er ihnen etwas anderes erzählen, nämlich:
Das Märchen vom falschen Prinzen.

Mit Sonnenaufgang brach die Karawane auf und gelangte bald nach Birket
el Had oder dem Pilgrimsbrunnen, von wo es nur noch drei Stunden Weges
nach Kairo waren—Man hatte um diese Zeit die Karawane erwartet, und
bald hatten die Kaufleute die Freude, ihre Freunde aus Kairo ihnen
entgegenkommen zu sehen. Sie zogen in die Stadt durch das Tor Bebel
Falch; denn es wird für eine glückliche Vorbedeutung gehalten, wenn man
von Mekka kommt, durch dieses Tor einzuziehen, weil der Prophet
hindurchgezogen ist.

Auf dem Markt verabschiedeten sich die vier türkischen Kaufleute von
dem Fremden und dem griechischen Kaufmann Zaleukos und gingen mit ihren
Freunden nach Haus. Zaleukos aber zeigte dem Fremden eine gute
Karawanserei und lud ihn ein, mit ihm das Mittagsmahl zu nehmen. Der
Fremde sagte zu und versprach, wenn er nur vorher sich umgekleidet
habe, zu erscheinen.

Der Grieche hatte alle Anstalten getroffen, den Fremden, welchen er auf
der Reise liebgewonnen hatte, gut zu bewirten, und als die Speisen und
Getränke in gehöriger Ordnung aufgestellt waren, setzte er sich, seinen
Gast zu erwarten.

Langsam und schweren Schrittes hörte er ihn den Gang, der zu seinem
Gemach führte, heraufkommen. Er erhob sich, um ihm freundlich
entgegenzusehen und ihn an der Schwelle zu bewillkommnen; aber voll
Entsetzen fuhr er zurück, als er die Türe öffnete; denn jener
schreckliche Rotmantel trat ihm entgegen; er warf noch einen Blick auf
ihn, es war keine Täuschung; dieselbe hohe, gebietende Gestalt, die
Larve, aus welcher ihn die dunklen Augen anblitzten, der rote Mantel
mit der goldenen Stickerei waren ihm nur allzuwohl bekannt aus den
schrecklichsten Stunden seines Lebens.

Widerstreitende Gefühle wogten in Zaleukos Brust; er hatte sich mit
diesem Bild seiner Erinnerung längst ausgesöhnt und ihm vergeben, und
doch riß sein Anblick alle seine Wunden wieder auf; alle jene
qualvollen Stunden der Todesangst, jener Gram, der die Blüte seines
Lebens vergiftete, zogen im Flug eines Augenblicks an seiner Seele
vorüber.

„Was willst du, Schrecklicher?“ rief der Grieche aus, als die
Erscheinung noch immer regungslos auf der Schwelle stand. „Weiche
schnell von hinnen, daß ich dir nicht fluche!“

„Zaleukos!“ sprach eine bekannte Stimme unter der Larve hervor.
„Zaleukos! So empfängst du deinen Gastfreund?“ Der Sprechende nahm die
Larve ab, schlug den Mantel zurück; es war Selim Baruch, der Fremde.

Aber Zaleukos schien noch nicht beruhigt, ihm graute vor dem Fremden;
denn nur zu deutlich hatte er in ihm den Unbekannten von der Ponte
vecchio erkannt; aber die alte Gewohnheit der Gastfreundschaft siegte;
er winkte schweigend dem Fremden, sich zu ihm ans Mahl zu setzen.

„Ich errate deine Gedanken“, nahm dieser das Wort, als sie sich gesetzt
hatten. „Deine Augen sehen fragend auf mich—ich hätte schweigen und
mich deinen Blicken nie mehr zeigen können, aber ich bin dir
Rechenschaft schuldig, und darum wagte ich es auch, auf die Gefahr hin,
daß du mir fluchtest, vor dir in meiner alten Gestalt zu erscheinen. Du
sagtest einst zu mir: Der Glaube meiner Väter befiehlt mir, ihn zu
lieben, auch ist er wohl unglücklicher als ich; glaube dieses, mein
Freund, und höre meine Rechtfertigung!

Ich muß weit ausholen, um mich dir ganz verständlich zu machen. Ich bin
in Alessandria von christlichen Eltern geboren. Mein Vater, der jüngere
Sohn eines alten, berühmten französischen Hauses, war Konsul seines
Landes in Alessandria. Ich wurde von meinem zehnten Jahre an in
Frankreich bei einem Bruder meiner Mutter erzogen und verließ erst
einige Jahre nach dem Ausbruch der Revolution mein Vaterland, um mit
meinem Oheim, der in dem Lande seiner Ahnen nicht mehr sicher war, über
dem Meer bei meinen Eltern eine Zuflucht zu suchen. Voll Hoffnung, die
Ruhe und den Frieden, den uns das empörte Volk der Franzosen entrissen,
im elterlichen Hause wiederzufinden, landeten wir. Aber ach! Ich fand
nicht alles in meines Vaters Hause, wie es sein sollte; die äußeren
Stürme der bewegten Zeit waren zwar noch nicht bis hierher gelangt,
desto unerwarteter hatte das Unglück mein Haus im innersten Herzen
heimgesucht. Mein Bruder, ein junger, hoffnungsvoller Mann, erster
Sekretär meines Vaters, hatte sich erst seit kurzem mit einem jungen
Mädchen, der Tochter eines florentinischen Edelmanns, der in unserer
Nachbarschaft wohnte, verheiratet; zwei Tage vor unserer Ankunft war
diese auf einmal verschwunden, ohne daß weder unsere Familie noch ihr
Vater die geringste Spur von ihr auffinden konnten. Man glaubte
endlich, sie habe sich auf einem Spaziergang zu weit gewagt und sei in
Räuberhände gefallen. Beinahe tröstlicher wäre dieser Gedanke für
meinen armen Bruder gewesen als die Wahrheit, die uns nur bald kund
wurde. Die Treulose hatte sich mit einem jungen Neapolitaner, den sie
im Hause ihres Vaters kennengelernt hatte, eingeschifft. Mein Bruder,
aufs äußerste empört über diesen Schritt, bot alles auf, die Schuldige
zur Strafe zu ziehen; doch vergebens; seine Versuche, die in Neapel und
Florenz Aufsehen erregt hatten, dienten nur dazu, sein und unser aller
Unglück zu vollenden. Der florentinische Edelmann reiste in sein
Vaterland zurück, zwar mit dem Vorgeben, meinem Bruder Recht zu
verschaffen, der Tat nach aber, um uns zu verderben. Er schlug in
Florenz alle jene Untersuchungen, welche mein Bruder angeknüpft hatte,
nieder und wußte seinen Einfluß, den er auf alle Art sich verschafft
hatte, so gut zu benützen, daß mein Vater und mein Bruder ihrer
Regierung verdächtig gemacht und durch die schändlichsten Mittel
gefangen, nach Frankreich geführt und dort vom Beil des Henkers getötet
wurden. Meine arme Mutter verfiel in Wahnsinn, und erst nach zehn
langen Monaten erlöste sie der Tod von ihrem schrecklichen Zustand, der
aber in den letzten Tagen zu vollem, klarem Bewußtsein geworden war. So
stand ich jetzt ganz allein in der Welt, aber nur ein Gedanke
beschäftigte meine Seele, nur ein Gedanke ließ mich meine Trauer
vergessen, es war jene mächtige Flamme, die meine Mutter in ihrer
letzten Stunde in mir angefacht hatte.

In den letzten Stunden war, wie ich dir sagte, ihr Bewußtsein
zurückgekehrt; sie ließ mich rufen und sprach mit Ruhe von unserem
Schicksal und ihrem Ende. Dann aber ließ sie alle aus dem Zimmer gehen,
richtete sich mit feierlicher Miene von ihrem ärmlichen Lager auf und
sagte, ich könne mir ihren Segen erwerben, wenn ich ihr schwöre, etwas
auszuführen, das sie mir auftragen würde—Ergriffen von den Worten der
sterbenden Mutter, gelobte ich mit einem Eide zu tun, wie sie mir sagen
werde. Sie brach nun in Verwünschungen gegen den Florentiner und seine
Tochter aus und legte mir mit den fürchterlichsten Drohungen ihres
Fluches auf, mein unglückliches Haus an ihm zu rächen. Sie starb in
meinen Armen. Jener Gedanke der Rache hatte schon lange in meiner Seele
geschlummert; jetzt erwachte er mit aller Macht. Ich sammelte den Rest
meines väterlichen Vermögens und schwor mir, alles an meine Rache zu
setzen oder selbst mit unterzugehen.

Bald war ich in Florenz, wo ich mich so geheim als möglich aufhielt;
mein Plan war um vieles erschwert worden durch die Lage, in welcher
sich meine Feinde befanden. Der alte Florentiner war Gouverneur
geworden und hatte so alle Mittel in der Hand, sobald er das geringste
ahnte, mich zu verderben. Ein Zufall kam mir zu Hilfe. Eines Abends sah
ich einen Menschen in bekannter Livree durch die Straßen gehen; sein
unsicherer Gang, sein finsterer Blick und das halblaut herausgestoßene
„Santo sacramento“, „Maledetto diavolo“ ließen mich den alten Pietro,
einen Diener des Florentiners, den ich schon in Alessandria gekannt
hatte, erkennen. Ich war nicht in Zweifel, daß er über seinen Herrn in
Zorn geraten sei, und beschloß, seine Stimmung zu benützen. Er schien
sehr überrascht, mich hier zu sehen, klagte mir sein Leiden, daß er
seinem Herrn, seit er Gouverneur geworden, nichts mehr recht machen
könne, und mein Gold, unterstützt von seinem Zorn, brachte ihn bald auf
meine Seite. Das Schwierigste war jetzt beseitigt; ich hatte einen Mann
in meinem Solde, der mir zu jeder Stunde die Türe meines Feindes
öffnete, und nun reifte mein Racheplan immer schneller heran. Das Leben
des alten Florentiners schien mir ein zu geringes Gewicht, dem
Untergang meines Hauses gegenüber, zu haben. Sein Liebstes mußte er
gemordet sehen, und dies war Bianka, seine Tochter. Hatte ja sie so
schändlich an meinem Bruder gefrevelt, war ja doch sie die Ursache
unseres Unglücks. Gar erwünscht kam sogar meinem rachedürstigen Herzen
die Nachricht, daß in dieser Zeit Bianka zum zweitenmal sich vermählen
wollte, es war beschlossen, sie mußte sterben. Aber mir selbst graute
vor der Tat, und auch Pietro traute sich zu wenig Kraft zu; darum
spähten wir umher nach einem Mann, der das Geschäft vollbringen könne.
Unter den Florentinern wagte ich keinen zu dingen, denn gegen den
Gouverneur würde keiner etwas Solches unternommen haben. Da fiel Pietro
der Plan ein, den ich nachher ausgeführt habe; zugleich schlug er dich
als Fremden und Arzt als den Tauglichsten vor. Den Verlauf der Sache
weißt du. Nur an deiner großen Vorsicht und Ehrlichkeit schien mein
Unternehmen zu scheitern. Daher der Zufall mit dem Mantel.

Pietro öffnete uns das Pförtchen an dem Palast des Gouverneurs; er
hätte uns auch ebenso heimlich wieder hinausgeleitet, wenn wir nicht,
durch den schrecklichen Anblick, der sich uns durch die Türspalte
darbot, erschreckt, entflohen wären. Von Schrecken und Reue gejagt, war
ich über zweihundert Schritte fortgerannt, bis ich auf den Stufen einer
Kirche niedersank. Dort erst sammelte ich mich wieder, und mein erster
Gedanke warst du und dein schreckliches Schicksal, wenn man dich in dem
Hause fände. Ich schlich an den Palast, aber weder von Pietro noch von
dir konnte ich eine Spur entdecken; das Pförtchen aber war offen, so
konnte ich wenigstens hoffen, daß du die Gelegenheit zur Flucht benützt
haben könntest.

Als aber der Tag anbrach, ließ mich die Angst vor der Entdeckung und
ein unabweisbares Gefühl von Reue nicht mehr in den Mauern von Florenz.
Ich eilte nach Rom. Aber denke dir meine Bestürzung, als man dort nach
einigen Tagen überall diese Geschichte erzählte mit dem Beisatz, man
habe den Mörder, einen griechischen Arzt, gefangen. Ich kehrte in
banger Besorgnis nach Florenz zurück; denn schien mir meine Rache schon
vorher zu stark, so verfluchte ich sie jetzt, denn sie war mir durch
dein Leben allzu teuer erkauft. Ich kam an demselben Tage an, der dich
der Hand beraubte. Ich schweige von dem, was ich fühlte, als ich dich
das Schafott besteigen und so heldenmütig leiden sah. Aber damals, als
dein Blut in Strömen aufspritzte, war der Entschluß fest in mir, dir
deine übrigen Lebenstage zu versüßen. Was weiter geschehen ist, weißt
du, nur das bleibt mir noch zu sagen übrig, warum ich diese Reise mit
dir machte.

Als eine schwere Last drückte mich der Gedanke, daß du mir noch immer
nicht vergeben habest; darum entschloß ich mich, viele Tage mit dir zu
leben und dir endlich Rechenschaft abzulegen von dem, was ich mit dir
getan.“

Schweigend hatte der Grieche seinen Gast angehört; mit sanftem Blick
bot er ihm, als er geendet hatte, seine Rechte. „Ich wußte wohl, daß du
unglücklicher sein müßtest als ich, denn jene grausame Tat wird wie
eine dunkle Wolke ewig deine Tage verfinstern; ich vergebe dir von
Herzen. Aber erlaube mir noch eine Frage: Wie kommst du unter dieser
Gestalt in die Wüste? Was fingst du an, nachdem du in Konstantinopel
mir das Haus gekauft hattest?“

„Ich ging nach Alessandria zurück“, antwortete der Gefragte. „Haß gegen
alle Menschen tobte in meiner Brust, brennender Haß besonders gegen
jene Nationen, die man die gebildeten nennt. Glaube mir, unter meinen
Moslemiten war mir wohler! Kaum war ich einige Monate in Alessandria,
als jene Landung meiner Landsleute erfolgte.

Ich sah in ihnen nur die Henker meines Vaters und meines Bruders; darum
sammelte ich einige gleichgesinnte junge Leute meiner Bekanntschaft und
schloß mich jenen tapferen Mamelucken an, die so oft der Schrecken des
französischen Heeres wurden. Als der Feldzug beendigt war, konnte ich
mich nicht entschließen, zu den Künsten des Friedens zurückzukehren.
Ich lebte mit einer kleinen Anzahl gleichdenkender Freunde ein unstetes
und flüchtiges, dem Kampf und der Jagd geweihtes Leben; ich lebe
zufrieden unter diesen Leuten, die mich wie ihren Fürsten ehren; denn
wenn meine Asiaten auch nicht so gebildet sind wie Eure Europäer, so
sind sie doch weit entfernt von Neid und Verleumdung, von Selbstsucht
und Ehrgeiz.“

Zaleukos dankte dem Fremden für seine Mitteilung, aber er verbarg ihm
nicht, daß er es für seinen Stand, für seine Bildung angemessener
fände, wenn er in christlichen, in europäischen Ländern leben und
wirken würde. Er faßte seine Hand und bat ihn, mit ihm zu ziehen, bei
ihm zu leben und zu sterben.

Gerührt sah ihn der Gastfreund an. „Daraus erkenne ich“, sagte er, „daß
du mir ganz vergeben hast, daß du mich liebst. Nimm meinen innigsten
Dank dafür!“ Er sprang auf und stand in seiner ganzen Größe vor dem
Griechen, dem vor dem kriegerischen Anstand, den dunkel blitzenden
Augen, der tiefen Stimme seines Gastes beinahe graute. „Dein Vorschlag
ist schön“, sprach jener weiter, „er möchte für jeden andern lockend
sein—ich kann ihn nicht benützen. Schon steht mein Roß gesattelt,
erwarten mich meine Diener; lebe wohl, Zaleukos!“ Die Freunde, die das
Schicksal so wunderbar zusammengeführt, umarmten sich zum Abschied.
„Und wie nenne ich dich? Wie heißt mein Gastfreund, der auf ewig in
meinem Gedächtnis leben wird?“ fragte der Grieche.

Der Fremde sah ihn lange an, drückte ihm noch einmal die Hand und
sprach: „Man nennt mich den Herrn der Wüste; ich bin der Räuber
Orbasan.“



Kalif Storch

Wilhelm Hauff


Der Kalif Chasid zu Bagdad saß einmal an einem schönen Nachmittag
behaglich auf seinem Sofa; er hatte ein wenig geschlafen, denn es war
ein heißer Tag, und sah nun nach seinem Schläfchen recht heiter aus. Er
rauchte aus einer langen Pfeife von Rosenholz, trank hier und da ein
wenig Kaffee, den ihm ein Sklave einschenkte, und strich sich allemal
vergnügt den Bart, wenn es ihm geschmeckt hatte. Kurz, man sah dem
Kalifen an, daß es ihm recht wohl war. Um diese Stunde konnte man gar
gut mit ihm reden, weil er da immer recht mild und leutselig war,
deswegen besuchte ihn auch sein Großwesir Mansor alle Tage um diese
Zeit. An diesem Nachmittage nun kam er auch, sah aber sehr nachdenklich
aus, ganz gegen seine Gewohnheit. Der Kalif tat die Pfeife ein wenig
aus dem Mund und sprach: „Warum machst du ein so nachdenkliches
Gesicht, Großwesir?“

Der Großwesir schlug seine Arme kreuzweis über die Brust, verneigte
sich vor seinem Herrn und antwortete: „Herr, ob ich ein nachdenkliches
Gesicht mache, weiß ich nicht, aber da drunten am Schloß steht ein
Krämer, der hat so schöne Sachen, daß es mich ärgert, nicht viel
überflüssiges Geld zu haben.“

Der Kalif, der seinem Großwesir schon lange gerne eine Freude gemacht
hätte, schickte seinen schwarzen Sklaven hinunter, um den Krämer
heraufzuholen. Bald kam der Sklave mit dem Krämer zurück. Dieser war
ein kleiner, dicker Mann, schwarzbraun im Gesicht und in zerlumptem
Anzug. Er trug einen Kasten, in welchem er allerhand Waren hatte,
Perlen und Ringe, reichbeschlagene Pistolen, Becher und Kämme. Der
Kalif und sein Wesir musterten alles durch, und der Kalif kaufte
endlich für sich und Mansor schöne Pistolen, für die Frau des Wesirs
aber einen Kamm. Als der Krämer seinen Kasten schon wieder zumachen
wollte, sah der Kalif eine kleine Schublade und fragte, ob da auch noch
Waren seien. Der Krämer zog die Schublade heraus und zeigte darin eine
Dose mit schwärzlichem Pulver und ein Papier mit sonderbarer Schrift,
die weder der Kalif noch Mansor lesen konnte. „Ich bekam einmal diese
zwei Stücke von einem Kaufmanne, der sie in Mekka auf der Straße fand“,
sagte der Krämer, „Ich weiß nicht, was sie enthalten; euch stehen sie
um geringen Preis zu Dienst, ich kann doch nichts damit anfangen.“

Der Kalif, der in seiner Bibliothek gerne alte Manuskripte hatte, wenn
er sie auch nicht lesen konnte, kaufte Schrift und Dose und entließ den
Krämer. Der Kalif aber dachte, er möchte gerne wissen, was die Schrift
enthalte, und, fragte den Wesir, ob er keinen kenne, der es entziffern
könnte.

„Gnädigster Herr und Gebieter“, antwortete dieser, „an der großen
Moschee wohnt ein Mann, er heißt Selim, der Gelehrte, der versteht alle
Sprachen, laß ihn kommen, vielleicht kennt er diese geheimnisvollen
Züge.“

Der Gelehrte Selim war bald herbeigeholt. „Selim“, sprach zu ihm der
Kalif, „Selim, man sagt, du seiest sehr gelehrt; guck einmal ein wenig
in diese Schrift, ob du sie lesen kannst; kannst du sie lesen, so
bekommst du ein neues Festkleid von mir, kannst du es nicht, so
bekommst du zwölf Backenstreiche und fünfundzwanzig auf die Fußsohlen,
weil man dich dann umsonst Selim, den Gelehrten, nennt.“

Selim verneigte sich und sprach: „Dein Wille geschehe, o Herr!“ Lange
betrachtete er die Schrift, plötzlich aber rief er aus: „Das ist
Lateinisch, o Herr, oder ich laß mich hängen.“ „Sag, was drinsteht“,
befahl der Kalif, „wenn es Lateinisch ist.“

Selim fing an zu übersetzen: „Mensch, der du dieses findest, preise
Allah für seine Gnade. Wer von dem Pulver in dieser Dose schnupft und
dazu spricht: mutabor, der kann sich in jedes Tier verwandeln und
versteht auch die Sprache der Tiere.

Will er wieder in seine menschliche Gestalt zurückkehren, so neige er
sich dreimal gen Osten und spreche jenes Wort; aber hüte dich, wenn du
verwandelt bist, daß du nicht lachest, sonst verschwindet das
Zauberwort gänzlich aus deinem Gedächtnis, und du bleibst ein Tier.“

Als Selim, der Gelehrte, also gelesen hatte, war der Kalif über die
Maßen vergnügt. Er ließ den Gelehrten schwören, niemandem etwas von dem
Geheimnis zu sagen, schenkte ihm ein schönes Kleid und entließ ihn. Zu
seinem Großwesir aber sagte er: „Das heiß’ ich gut einkaufen, Mansor!
Wie freue ich mich, bis ich ein Tier bin. Morgen früh kommst du zu mir;
wir gehen dann miteinander aufs Feld, schnupfen etwas Weniges aus
meiner Dose und belauschen dann, was in der Luft und im Wasser, im Wald
und Feld gesprochen wird!“

Kaum hatte am anderen Morgen der Kalif Chasid gefrühstückt und sich
angekleidet, als schon der Großwesir erschien, ihn, wie er befohlen,
auf dem Spaziergang zu begleiten. Der Kalif steckte die Dose mit dem
Zauberpulver in den Gürtel, und nachdem er seinem Gefolge befohlen,
zurückzubleiben, machte er sich mit dem Großwesir ganz allein auf den
Weg. Sie gingen zuerst durch die weiten Gärten des Kalifen, spähten
aber vergebens nach etwas Lebendigem, um ihr Kunststück zu probieren.
Der Wesir schlug endlich vor, weiter hinaus an einen Teich zu gehen, wo
er schon oft viele Tiere, namentlich Störche, gesehen habe, die durch
ihr gravitätisches Wesen und ihr Geklapper immer seine Aufmerksamkeit
erregt hatten.

Der Kalif billigte den Vorschlag seines Wesirs und ging mit ihm dem
Teich zu. Als sie dort angekommen waren, sahen sie einen Storch
ernsthaft auf und ab gehen, Frösche suchend und hier und da etwas vor
sich hinklappernd. Zugleich sahen sie auch weit oben in der Luft einen
anderen Storch dieser Gegend zuschweben.

„Ich wette meinen Bart, gnädigster Herr“, sagte der Großwesir, „wenn
nicht diese zwei Langfüßler ein schönes Gespräch miteinander führen
werden. Wie wäre es, wenn wir Störche würden?“

„Wohl gesprochen!“ antwortete der Kalif. „Aber vorher wollen wir noch
einmal betrachten, wie man wieder Mensch wird.—Richtig! Dreimal gen
Osten geneigt und mutabor gesagt, so bin ich wieder Kalif und du Wesir.
Aber nur um Himmels willen nicht gelacht, sonst sind wir verloren!“

Während der Kalif also sprach, sah er den anderen Storch über ihrem
Haupte schweben und langsam sich zur Erde lassen. Schnell zog er die
Dose aus dem Gürtel, nahm eine gute Prise, bot sie dem Großwesir dar,
der gleichfalls schnupfte, und beide riefen: mutabor!

Da schrumpften ihre Beine ein und wurden dünn und rot, die schönen
gelben Pantoffeln des Kalifen und seines Begleiters wurden unförmliche
Storchfüße, die Arme wurden zu Flügeln, der Hals fuhr aus den Achseln
und ward eine Elle lang, der Bart war verschwunden, und den Körper
bedeckten weiche Federn.

„Ihr habt einen hübschen Schnabel, Herr Großwesir“, sprach nach langem
Erstaunen der Kalif. „Beim Bart des Propheten, so etwas habe ich in
meinem Leben nicht gesehen.“ „Danke untertänigst“, erwiderte der
Großwesir, indem er sich bückte, „aber wenn ich es wagen darf, möchte
ich behaupten, Eure Hoheit sehen als Storch beinahe noch hübscher aus
denn als Kalif. Aber kommt, wenn es Euch gefällig ist, daß wir unsere
Kameraden dort belauschen und erfahren, ob wir wirklich Storchisch
können.“

Indem war der andere Storch auf der Erde angekommen; er putzte sich mit
dem Schnabel seine Füße, legte seine Federn zurecht und ging auf den
ersten Storch zu. Die beiden neuen Störche aber beeilten sich, in ihre
Nähe zu kommen, und vernahmen zu ihrem Erstaunen folgendes Gespräch:

„Guten Morgen, Frau Langbein, so früh schon auf der Wiese?“

„Schönen Dank, liebe Klapperschnabel! Ich habe mir nur ein kleines
Frühstück geholt. Ist Euch vielleicht ein Viertelchen Eidechs gefällig
oder ein Froschschenkelein?“

„Danke gehorsamst; habe heute gar keinen Appetit. Ich komme auch wegen
etwas ganz anderem auf die Wiese. Ich soll heute vor den Gästen meines
Vaters tanzen, und da will ich mich im stillen ein wenig üben.“

Zugleich schritt die junge Störchin in wunderlichen Bewegungen durch
das Feld. Der Kalif und Mansor sahen ihr verwundert nach; als sie aber
in malerischer Stellung auf einem Fuß stand und mit den Flügeln anmutig
dazu wedelte, da konnten sich die beiden nicht mehr halten; ein
unaufhaltsames Gelächter brach aus ihren Schnäbeln hervor, von dem sie
sich erst nach langer Zeit erholten. Der Kalif faßte sich zuerst
wieder: „Das war einmal ein Spaß“, rief er, „der nicht mit Gold zu
bezahlen ist; schade, daß die Tiere durch unser Gelächter sich haben
verscheuchen lassen, sonst hätten sie gewiß auch noch gesungen!“

Aber jetzt fiel es dem Großwesir ein, daß das Lachen während der
Verwandlung verboten war. Er teilte seine Angst deswegen dem Kalifen
mit. „Potz Mekka und Medina! Das wäre ein schlechter Spaß, wenn ich ein
Storch bleiben müßte! Besinne dich doch auf das dumme Wort, ich bring’
es nicht heraus.“

„Dreimal gen Osten müssen wir uns bücken und dazu sprechen: mu—mu—mu—“

Sie stellten sich gegen Osten und bückten sich in einem fort, daß ihre
Schnäbel beinahe die Erde berührten; aber, o Jammer! Das Zauberwort war
ihnen entfallen, und so oft sich auch der Kalif bückte, so sehnlich
auch sein Wesir mu—mu dazu rief, jede Erinnerung daran war
verschwunden, und der arme Chasid und sein Wesir waren und blieben
Störche.

Traurig wandelten die Verzauberten durch die Felder, sie wußten gar
nicht, was sie in ihrem Elend anfangen sollten. Aus ihrer Storchenhaut
konnten sie nicht heraus, in die Stadt zurück konnten sie auch nicht,
um sich zu erkennen zu geben; denn wer hätte einem Storch geglaubt, daß
er der Kalif sei, und wenn man es auch geglaubt hätte, würden die
Einwohner von Bagdad einen Storch zum Kalif gewollt haben?

So schlichen sie mehrere Tage umher und ernährten sich kümmerlich von
Feldfrüchten, die sie aber wegen ihrer langen Schnäbel nicht gut
verspeisen konnten. Auf Eidechsen und Frösche hatten sie übrigens
keinen Appetit, denn sie befürchteten, mit solchen Leckerbissen sich
den Magen zu verderben. Ihr einziges Vergnügen in dieser traurigen Lage
war, daß sie fliegen konnten, und so flogen sie oft auf die Dächer von
Bagdad, um zu sehen, was darin vorging.

In den ersten Tagen bemerkten sie große Unruhe und Trauer in den
Straßen; aber ungefähr am vierten Tag nach ihrer Verzauberung saßen sie
auf dem Palast des Kalifen, da sahen sie unten in der Straße einen
prächtigen Aufzug; Trommeln und Pfeifen ertönten, ein Mann in einem
goldbestickten Scharlachmantel saß auf einem geschmückten Pferd,
umgeben von glänzenden Dienern, halb Bagdad sprang ihm nach, und alle
schrien: „Heil Mizra, dem Herrscher von Bagdad!“

Da sahen die beiden Störche auf dem Dache des Palastes einander an, und
der Kalif Chasid sprach: „Ahnst du jetzt, warum ich verzaubert bin,
Großwesir? Dieser Mizra ist der Sohn meines Todfeindes, des mächtigen
Zauberers Kaschnur, der mir in einer bösen Stunde Rache schwur. Aber
noch gebe ich die Hoffnung nicht auf—Komm mit mir, du treuer Gefährte
meines Elends, wir wollen zum Grabe des Propheten wandern, vielleicht,
daß an heiliger Stätte der Zauber gelöst wird.“

Sie erhoben sich vom Dach des Palastes und flogen der Gegend von Medina
zu.

Mit dem Fliegen wollte es aber nicht gar gut gehen; denn die beiden
Störche hatten noch wenig Übung. „O Herr“, ächzte nach ein paar Stunden
der Großwesir, „ich halte es mit Eurer Erlaubnis nicht mehr lange aus;
Ihr fliegt gar zu schnell! Auch ist es schon Abend, und wir täten wohl,
ein Unterkommen für die Nacht zu suchen.“

Chasid gab der Bitte seines Dieners Gehör; und da er unten im Tale eine
Ruine erblickte, die ein Obdach zu gewähren schien, so flogen sie
dahin. Der Ort, wo sie sich für diese Nacht niedergelassen hatten,
schien ehemals ein Schloß gewesen zu sein. Schöne Säulen ragten unter
den Trümmern hervor, mehrere Gemächer, die noch ziemlich erhalten
waren, zeugten von der ehemaligen Pracht des Hauses. Chasid und sein
Begleiter gingen durch die Gänge umher, um sich ein trockenes Plätzchen
zu suchen; plötzlich blieb der Storch Mansor stehen. „Herr und
Gebieter“, flüsterte er leise, „wenn es nur nicht töricht für einen
Großwesir, noch mehr aber für einen Storch wäre, sich vor Gespenstern
zu fürchten! Mir ist ganz unheimlich zumute; denn hier neben hat es
ganz vernehmlich geseufzt und gestöhnt.“ Der Kalif blieb nun auch
stehen und hörte ganz deutlich ein leises Weinen, das eher einem
Menschen als einem Tiere anzugehören schien. Voll Erwartung wollte er
der Gegend zugehen, woher die Klagetöne kamen; der Wesir aber packte
ihn mit dem Schnabel am Flügel und bat ihn flehentlich, sich nicht in
neue, unbekannte Gefahren zu stürzen. Doch vergebens! Der Kalif, dem
auch unter dem Storchenflügel ein tapferes Herz schlug, riß sich mit
Verlust einiger Federn los und eilte in einen finsteren Gang. Bald war
er an einer Tür angelangt, die nur angelehnt schien und woraus er
deutliche Seufzer mit ein wenig Geheul vernahm. Er stieß mit dem
Schnabel die Türe auf, blieb aber überrascht auf der Schwelle stehen.
In dem verfallenen Gemach, das nur durch ein kleines Gitterfenster
spärlich erleuchtet war, sah er eine große Nachteule am Boden sitzen.
Dicke Tränen rollten ihr aus den großen, runden Augen, und mit heiserer
Stimme stieß sie ihre Klagen zu dem krummen Schnabel heraus. Als sie
aber den Kalifen und seinen Wesir, der indes auch herbeigeschlichen
war, erblickte, erhob sie ein lautes Freudengeschrei. Zierlich wischte
sie mit dem braungefleckten Flügel die Tränen aus dem Auge, und zu dem
größten Erstaunen der beiden rief sie in gutem menschlichem Arabisch:
„Willkommen, ihr Störche! Ihr seid mir ein gutes Zeichen meiner
Errettung; denn durch Störche werde mir ein großes Glück kommen, ist
mir einst prophezeit worden!“

Als sich der Kalif von seinem Erstaunen erholt hatte, bückte er sich
mit seinem langen Hals, brachte seine dünnen Füße in eine zierliche
Stellung und sprach: „Nachteule! Deinen Worten nach darf ich glauben,
eine Leidensgefährtin in dir zu sehen. Aber ach! Deine Hoffnung, daß
durch uns deine Rettung kommen werde, ist vergeblich. Du wirst unsere
Hilflosigkeit selbst erkennen, wenn du unsere Geschichte hörst.“ Die
Nachteule bat ihn zu erzählen, was der Kalif sogleich tat.

Als der Kalif der Eule seine Geschichte vorgetragen hatte, dankte sie
ihm und sagte: „Vernimm auch meine Geschichte und höre, wie ich nicht
weniger unglücklich bin als du. Mein Vater ist der König von Indien,
ich, seine einzige unglückliche Tochter, heiße Lusa. Jener Zauberer
Kaschnur, der euch verzauberte, hat auch mich ins Unglück gestürzt. Er
kam eines Tages zu meinem Vater und begehrte mich zur Frau für seinen
Sohn Mizra. Mein Vater aber, der ein hitziger Mann ist, ließ ihn die
Treppe hinunterwerfen. Der Elende wußte sich unter einer anderen
Gestalt wieder in meine Nähe zu schleichen, und als ich einst in meinem
Garten Erfrischungen zu mir nehmen wollte, brachte er mir, als Sklave
verkleidet, einen Trank bei, der mich in diese abscheuliche Gestalt
verwandelte. Vor Schrecken ohnmächtig, brachte er mich hierher und rief
mir mit schrecklicher Stimme in die Ohren:

,Da sollst du bleiben, häßlich, selbst von den Tieren verachtet, bis an
dein Ende, oder bis einer aus freiem Willen dich, selbst in dieser
schrecklichen Gestalt, zur Gattin begehrt. So räche ich mich an dir und
deinem stolzen Vater.‘

Seitdem sind viele Monate verflossen. Einsam und traurig lebe ich als
Einsiedlerin in diesem Gemäuer, verabscheut von der Welt, selbst den
Tieren ein Greuel; die schöne Natur ist vor mir verschlossen; denn ich
bin blind am Tage, und nur, wenn der Mond sein bleiches Licht über dies
Gemäuer ausgießt, fällt der verhüllende Schleier von meinem Auge.“

Die Eule hatte geendet und wischte sich mit dem Flügel wieder die Augen
aus, denn die Erzählung ihrer Leiden hatte ihr Tränen entlockt.

Der Kalif war bei der Erzählung der Prinzessin in tiefes Nachdenken
versunken. „Wenn mich nicht alles täuscht“, sprach er, „so findet
zwischen unserem Unglück ein geheimer Zusammenhang statt; aber wo finde
ich den Schlüssel zu diesem Rätsel?“

Die Eule antwortete ihm: „O Herr! Auch mir ahnet dies; denn es ist mir
einst in meiner frühesten Jugend von einer weisen Frau prophezeit
worden, daß ein Storch mir ein großes Glück bringen werde, und ich
wüßte vielleicht, wie wir uns retten könnten.“ Der Kalif war sehr
erstaunt und fragte, auf welchem Wege sie meine. „Der Zauberer, der uns
beide unglücklich gemacht hat“, sagte sie, „kommt alle Monate einmal in
diese Ruinen. Nicht weit von diesem Gemach ist ein Saal. Dort pflegt er
dann mit vielen Genossen zu schmausen. Schon oft habe ich sie dort
belauscht. Sie erzählen dann einander ihre schändlichen Werke;
vielleicht, daß er dann das Zauberwort, das ihr vergessen habt,
ausspricht.“

„O, teuerste Prinzessin“, rief der Kalif, „sag an, wann kommt er, und
wo ist der Saal?“

Die Eule schwieg einen Augenblick und sprach dann: „Nehmet es nicht
ungütig, aber nur unter einer Bedingung kann ich Euern Wunsch
erfüllen.“

„Sprich aus! Sprich aus!“ schrie Chasid. „Befiehl, es ist mir jede
recht.“

„Nämlich, ich möchte auch gern zugleich frei sein; dies kann aber nur
geschehen, wenn einer von euch mir seine Hand reicht.“

Die Störche schienen über den Antrag etwas betroffen zu sein, und der
Kalif winkte seinem Diener, ein wenig mit ihm hinauszugehen.

„Großwesir“, sprach vor der Türe der Kalif, „das ist ein dummer Handel;
aber Ihr könntet sie schon nehmen.“

„So“, antwortete dieser, „daß mir meine Frau, wenn ich nach Hause
komme, die Augen auskratzt? Auch bin ich ein alter Mann, und Ihr seid
noch jung und unverheiratet und könnet eher einer jungen, schönen
Prinzessin die Hand geben.“

„Das ist es eben“, seufzte der Kalif, indem er traurig die Flügel
hängen ließ, „wer sagt dir denn, daß sie jung und schön ist? Das heißt
eine Katze im Sack kaufen!“

Sie redeten einander gegenseitig noch lange zu; endlich aber, als der
Kalif sah, daß sein Wesir lieber Storch bleiben als die Eule heiraten
wollte, entschloß er sich, die Bedingung lieber selbst zu erfüllen. Die
Eule war hocherfreut. Sie gestand ihnen, daß sie zu keiner besseren
Zeit hätten kommen können, weil wahrscheinlich in dieser Nacht die
Zauberer sich versammeln würden.

Sie verließ mit den Störchen das Gemach, um sie in jenen Saal zu
führen; sie gingen lange in einem finsteren Gang hin; endlich strahlte
ihnen aus einer halbverfallenen Mauer ein heller Schein entgegen. Als
sie dort angelangt waren, riet ihnen die Eule, sich ganz ruhig zu
verhalten. Sie konnten von der Lücke, an welcher sie standen, einen
großen Saal übersehen. Er war ringsum mit Säulen geschmückt und
prachtvoll verziert. Viele farbige Lampen ersetzten das Licht des
Tages. In der Mitte des Saales stand ein runder Tisch, mit vielen und
ausgesuchten Speisen besetzt. Rings um den Tisch zog sich ein Sofa, auf
welchem acht Männer saßen. In einem dieser Männer erkannten die Störche
jenen Krämer wieder, der ihnen das Zauberpulver verkauft hatte. Sein
Nebensitzer forderte ihn auf, ihnen seine neuesten Taten zu erzählen.
Er erzählte unter anderen auch die Geschichte des Kalifen und seines
Wesirs.

„Was für ein Wort hast du ihnen denn aufgegeben?“ fragte ihn ein
anderer Zauberer. „Ein recht schweres lateinisches, es heißt mutabor.“

Als die Störche an der Mauerlücke dieses hörten, kamen sie vor Freuden
beinahe außer sich. Sie liefen auf ihren langen Füßen so schnell dem
Tore der Ruine zu, daß die Eule kaum folgen konnte. Dort sprach der
Kalif gerührt zu der Eule: „Retterin meines Lebens und des Lebens
meines Freundes, nimm zum ewigen Dank für das, was du an uns getan,
mich zum Gemahl an!“ Dann aber wandte er sich nach Osten. Dreimal
bückten die Störche ihre langen Hälse der Sonne entgegen, die soeben
hinter dem Gebirge heraufstieg: „Mutabor!“ riefen sie, im Nu waren sie
verwandelt, und in der hohen Freude des neugeschenkten Lebens lagen
Herr und Diener lachend und weinend einander in den Armen.

Wer beschreibt aber ihr Erstaunen, als sie sich umsahen? Eine schöne
Dame, herrlich geschmückt, stand vor ihnen. Lächelnd gab sie dem
Kalifen die Hand. „Erkennt Ihr Eure Nachteule nicht mehr?“ sagte sie.
Sie war es; der Kalif war von ihrer Schönheit und Anmut entzückt.

Die drei zogen nun miteinander auf Bagdad zu. Der Kalif fand in seinen
Kleidern nicht nur die Dose mit Zauberpulver, sondern auch seinen
Geldbeutel. Er kaufte daher im nächsten Dorfe, was zu ihrer Reise nötig
war, und so kamen sie bald an die Tore von Bagdad. Dort aber erregte
die Ankunft des Kalifen großes Erstaunen. Man hatte ihn für tot
ausgegeben, und das Volk war daher hocherfreut, seinen geliebten
Herrscher wiederzuhaben.

Um so mehr aber entbrannte ihr Haß gegen den Betrüger Mizra. Sie zogen
in den Palast und nahmen den alten Zauberer und seinen Sohn gefangen.
Den Alten schickte der Kalif in dasselbe Gemach der Ruine, das die
Prinzessin als Eule bewohnt hatte, und ließ ihn dort aufhängen. Dem
Sohn aber, welcher nichts von den Künsten des Vaters verstand, ließ der
Kalif die Wahl, ob er sterben oder schnupfen wolle. Als er das letztere
wählte, bot ihm der Großwesir die Dose. Eine tüchtige Prise, und das
Zauberwort des Kalifen verwandelte ihn in einen Storch. Der Kalif ließ
ihn in einen eisernen Käfig sperren und in seinem Garten aufstellen.

Lange und vergnügt lebte Kalif Chasid mit seiner Frau, der Prinzessin;
seine vergnügtesten Stunden waren immer die, wenn ihn der Großwesir
nachmittags besuchte; da sprachen sie dann oft von ihrem
Storchabenteuer, und wenn der Kalif recht heiter war, ließ er sich
herab, den Großwesir nachzuahmen, wie er als Storch aussah. Er stieg
dann ernsthaft, mit steifen Füßen im Zimmer auf und ab, klapperte,
wedelte mit den Armen wie mit Flügeln und zeigte, wie jener sich
vergeblich nach Osten geneigt und Mu—Mu—dazu gerufen habe. Für die Frau
Kalifin und ihre Kinder war diese Vorstellung allemal eine große
Freude; wenn aber der Kalif gar zu lange klapperte und nickte und
Mu—Mu—schrie, dann drohte ihm lächelnd der Wesir: Er wolle das, was vor
der Türe der Prinzessin Nachteule verhandelt worden sei, der Frau
Kalifin mitteilen.

Als Selim Baruch seine Geschichte beendet hatte, bezeugten sich die
Kaufleute sehr zufrieden damit. „Wahrhaftig, der Nachmittag ist uns
vergangen, ohne daß wir merkten wie!“ sagte einer derselben, indem er
die Decke des Zeltes zurückschlug. „Der Abendwind wehet kühl, und wir
könnten noch eine gute Strecke Weges zurücklegen.“ Seine Gefährten
waren damit einverstanden, die Zelte wurden abgebrochen, und die
Karawane machte sich in der nämlichen Ordnung, in welcher sie
herangezogen war, auf den Weg.

Sie ritten beinahe die ganze Nacht hindurch, denn es war schwül am
Tage, die Nacht aber war erquicklich und sternhell. Sie kamen endlich
an einem bequemen Lagerplatz an, schlugen die Zelte auf und legten sich
zur Ruhe. Für den Fremden aber sorgten die Kaufleute, wie wenn er ihr
wertester Gastfreund wäre. Der eine gab ihm Polster, der andere Decken,
ein dritter gab ihm Sklaven, kurz, er wurde so gut bedient, als ob er
zu Hause wäre. Die heißeren Stunden des Tages waren schon
heraufgekommen, als sie sich wieder erhoben, und sie beschlossen
einmütig, hier den Abend abzuwarten. Nachdem sie miteinander gespeist
hatten, rückten sie wieder näher zusammen, und der junge Kaufmann
wandte sich an den ältesten und sprach: „Selim Baruch hat uns gestern
einen vergnügten Nachmittag bereitet, wie wäre es, Achmet, wenn Ihr uns
auch etwas erzähltet, sei es nun aus Eurem langen Leben, das wohl viele
Abenteuer aufzuweisen hat, oder sei es auch ein hübsches Märchen.“
Achmet schwieg auf diese Anrede eine Zeitlang, wie wenn er bei sich im
Zweifel wäre, ob er dies oder jenes sagen sollte oder nicht; endlich
fing er an zu sprechen:

„Liebe Freunde! Ihr habt euch auf dieser unserer Reise als treue
Gesellen erprobt, und auch Selim verdient mein Vertrauen; daher will
ich euch etwas aus meinem Leben mitteilen, das ich sonst ungern und
nicht jedem erzähle: die Geschichte von dem Gespensterschiff.“



Die Geschichte von dem Gespensterschiff

Wilhelm Hauff


Mein Vater hatte einen kleinen Laden in Balsora; er war weder arm noch
reich und einer von jenen Leuten, die nicht gerne etwas wagen, aus
Furcht, das Wenige zu verlieren, das sie haben. Er erzog mich schlicht
und recht und brachte es bald so weit, daß ich ihm an die Hand gehen
konnte. Gerade als ich achtzehn Jahre alt war, als er die erste größere
Spekulation machte, starb er, wahrscheinlich aus Gram, tausend
Goldstücke dem Meere anvertraut zu haben. Ich mußte ihn bald nachher
wegen seines Todes glücklich preisen, denn wenige Wochen hernach lief
die Nachricht ein, daß das Schiff, dem mein Vater seine Güter
mitgegeben hatte, versunken sei. Meinen jugendlichen Mut konnte aber
dieser Unfall nicht beugen. Ich machte alles vollends zu Geld, was mein
Vater hinterlassen hatte, und zog aus, um in der Fremde mein Glück zu
probieren, nur von einem alten Diener meines Vaters begleitet.

Im Hafen von Balsora schifften wir uns mit günstigem Winde ein. Das
Schiff, auf dem ich mich eingemietet hatte, war nach Indien bestimmt.
Wir waren schon fünfzehn Tage auf der gewöhnlichen Straße gefahren, als
uns der Kapitän einen Sturm verkündete. Er machte ein bedenkliches
Gesicht, denn es schien, er kenne in dieser Gegend das Fahrwasser nicht
genug, um einem Sturm mit Ruhe begegnen zu können. Er ließ alle Segel
einziehen, und wir trieben ganz langsam hin. Die Nacht war angebrochen,
war hell und kalt, und der Kapitän glaubte schon, sich in den Anzeichen
des Sturmes getäuscht zu haben. Auf einmal schwebte ein Schiff, das wir
vorher nicht gesehen hatten, dicht an dem unsrigen vorbei. Wildes
Jauchzen und Geschrei erscholl aus dem Verdeck herüber, worüber ich
mich zu dieser angstvollen Stunde vor einem Sturm nicht wenig wunderte.
Aber der Kapitän an meiner Seite wurde blaß wie der Tod. „Mein Schiff
ist verloren“, rief er, „dort segelt der Tod!“

Ehe ich ihn noch über diesen sonderbaren Ausruf befragen konnte,
stürzten schon heulend und schreiend die Matrosen herein. „Habt ihr ihn
gesehen?“ schrien sie. „Jetzt ist’s mit uns vorbei!“

Der Kapitän aber ließ Trostsprüche aus dem Koran vorlesen und setzte
sich selbst ans Steuerruder. Aber vergebens! Zusehends brauste der
Sturm auf, und ehe eine Stunde verging, krachte das Schiff und blieb
sitzen. Die Boote wurden ausgesetzt, und kaum hatten sich die letzten
Matrosen gerettet, so versank das Schiff vor unseren Augen, und als ein
Bettler fuhr ich in die See hinaus. Aber der Jammer hatte noch kein
Ende. Fürchterlicher tobte der Sturm; das Boot war nicht mehr zu
regieren. Ich hatte meinen alten Diener fest umschlungen, und wir
versprachen uns, nie voneinander zu weichen. Endlich brach der Tag an.
Aber mit dem ersten Anblick der Morgenröte faßte der Wind das Boot, in
welchem wir saßen, und stürzte es um. Ich habe keinen meiner
Schiffsleute mehr gesehen. Der Sturz hatte mich betäubt; und als ich
aufwachte, befand ich mich in den Armen meines alten treuen Dieners,
der sich auf das umgeschlagene Boot gerettet und mich nachgezogen
hatte. Der Sturm hatte sich gelegt. Von unserem Schiff war nichts mehr
zu sehen, wohl aber entdeckten wir nicht weit von uns ein anderes
Schiff, auf das die Wellen uns hintrieben. Als wir näher hinzukamen,
erkannte ich das Schiff als dasselbe, das in der Nacht an uns
vorbeifuhr und welches den Kapitän so sehr in Schrecken gesetzt hatte.
Ich empfand ein sonderbares Grauen vor diesem Schiffe. Die Äußerung des
Kapitäns, die sich so furchtbar bestätigt hatte, das öde Aussehen des
Schiffes, auf dem sich, so nahe wir auch herankamen, so laut wir
schrien, niemand zeigte, erschreckten mich. Doch es war unser einziges
Rettungsmittel; darum priesen wir den Propheten, der uns so wundervoll
erhalten hatte.

Am Vorderteil des Schiffes hing ein langes Tau herab. Mit Händen und
Füßen ruderten wir darauf zu, um es zu erfassen. Endlich glückte es.
Noch einmal erhob ich meine Stimme, aber immer blieb es still auf dem
Schiff. Da klimmten wir an dem Tau hinauf, ich als der Jüngste voran.
Aber Entsetzen! Welches Schauspiel stellte sich meinem Auge dar, als
ich das Verdeck betrat! Der Boden war mit Blut gerötet, zwanzig bis
dreißig Leichname in türkischen Kleidern lagen auf dem Boden, am
mittleren Mastbaum stand ein Mann, reich gekleidet, den Säbel in der
Hand, aber das Gesicht war blaß und verzerrt, durch die Stirn ging ein
großer Nagel, der ihn an den Mastbaum heftete, auch er war tot.
Schrecken fesselte meine Schritte, ich wagte kaum zu atmen. Endlich war
auch mein Begleiter heraufgekommen. Auch ihn überraschte der Anblick
des Verdecks, das gar nichts Lebendiges, sondern nur so viele
schreckliche Tote zeigte. Wir wagten es endlich, nachdem wir in der
Seelenangst zum Propheten gefleht hatten, weiter vorzuschreiten. Bei
jedem Schritte sahen wir uns um, ob nicht etwas Neues, noch
Schrecklicheres sich darbiete; aber alles blieb, wie es war; weit und
breit nichts Lebendiges als wir und das Weltmeer. Nicht einmal laut zu
sprechen wagten wir, aus Furcht, der tote, am Mast angespießte Kapitano
möchte seine starren Augen nach uns hindrehen oder einer der Getöteten
möchte seinen Kopf umwenden. Endlich waren wir bis an eine Treppe
gekommen, die in den Schiffsraum führte. Unwillkürlich machten wir dort
halt und sahen einander an, denn keiner wagte es recht, seine Gedanken
zu äußern.

„O Herr“, sprach mein treuer Diener, „hier ist etwas Schreckliches
geschehen. Doch wenn auch das Schiff da unten voll Mörder steckt, so
will ich mich ihnen doch lieber auf Gnade und Ungnade ergeben, als
längere Zeit unter diesen Toten zubringen.“ Ich dachte wie er; wir
faßten uns ein Herz und stiegen voll Erwartung hinunter. Totenstille
war aber auch hier, und nur unsere Schritte hallten auf der Treppe. Wir
standen an der Türe der Kajüte. Ich legte mein Ohr an die Türe und
lauschte; es war nichts zu hören. Ich machte auf. Das Gemach bot einen
unordentlichen Anblick dar. Kleider, Waffen und andere Geräte lagen
untereinander. Nichts in Ordnung. Die Mannschaft oder wenigstens der
Kapitano mußten vor kurzem gezechet haben; denn es lag alles noch
umher. Wir gingen weiter von Raum zu Raum, von Gemach zu Gemach,
überall fanden wir herrliche Vorräte in Seide, Perlen, Zucker usw. Ich
war vor Freude über diesen Anblick außer mir, denn da niemand auf dem
Schiff war, glaubte ich, alles mir zueignen zu dürfen, Ibrahim aber
machte mich aufmerksam darauf, daß wir wahrscheinlich noch sehr weit
vom Lande seien, wohin wir allein und ohne menschliche Hilfe nicht
kommen könnten.

Wir labten uns an den Speisen und Getränken, die wir in reichem Maß
vorfanden, und stiegen endlich wieder aufs Verdeck. Aber hier
schauderte uns immer die Haut ob dem schrecklichen Anblick der Leichen.
Wir beschlossen, uns davon zu befreien und sie über Bord zu werfen;
aber wie schauerlich ward uns zumut, als wir fanden, daß sich keiner
aus seiner Lage bewegen ließ. Wie festgebannt lagen sie am Boden, und
man hätte den Boden des Verdecks ausheben müssen, um sie zu entfernen,
und dazu gebrach es uns an Werkzeugen. Auch der Kapitano ließ sich
nicht von seinem Mast losmachen; nicht einmal seinen Säbel konnten wir
der starren Hand entwinden. Wir brachten den Tag in trauriger
Betrachtung unserer Lage zu, und als es Nacht zu werden anfing,
erlaubte ich dem alten Ibrahim, sich schlafen zu legen, ich selbst aber
wollte auf dem Verdeck wachen, um nach Rettung auszuspähen. Als aber
der Mond heraufkam und ich nach den Gestirnen berechnete, daß es wohl
um die elfte Stunde sei, überfiel mich ein so unwiderstehlicher Schlaf,
daß ich unwillkürlich hinter ein Faß, das auf dem Verdeck stand,
zurückfiel. Doch war es mehr Betäubung als Schlaf, denn ich hörte
deutlich die See an der Seite des Schiffes anschlagen und die Segel vom
Winde knarren und pfeifen. Auf einmal glaubte ich Stimmen und
Männertritte auf dem Verdeck zu hören. Ich wollte mich aufrichten, um
danach zu schauen. Aber eine unsichtbare Gewalt hielt meine Glieder
gefesselt; nicht einmal die Augen konnte ich aufschlagen. Aber immer
deutlicher wurden die Stimmen, es war mir, als wenn ein fröhliches
Schiffsvolk auf dem Verdeck sich umhertriebe; mitunter glaubte ich, die
kräftige Stimme eines Befehlenden zu hören, auch hörte ich Taue und
Segel deutlich auf- und abziehen. Nach und nach aber schwanden mir die
Sinne, ich verfiel in einen tieferen Schlaf, in dem ich nur noch ein
Geräusch von Waffen zu hören glaubte, und erwachte erst, als die Sonne
schon hoch stand und mir aufs Gesicht brannte. Verwundert schaute ich
mich um, Sturm, Schiff, die Toten und was ich in dieser Nacht gehört
hatte, kam mir wie ein Traum vor, aber als ich aufblickte, fand ich
alles wie gestern. Unbeweglich lagen die Toten, unbeweglich war der
Kapitano an den Mastbaum geheftet. Ich lachte über meinen Traum und
stand auf, um meinen Alten zu suchen.

Dieser saß ganz nachdenklich in der Kajüte. „O Herr!“ rief er aus, als
ich zu ihm hineintrat, „ich wollte lieber im tiefsten Grund des Meeres
liegen, als in diesem verhexten Schiff noch eine Nacht zubringen.“ Ich
fragte ihn nach der Ursache seines Kummers, und er antwortete mir: „Als
ich einige Stunden geschlafen hatte, wachte ich auf und vernahm, wie
man über meinem Haupt hin und her lief. Ich dachte zuerst, Ihr wäret
es, aber es waren wenigstens zwanzig, die oben umherliefen; auch hörte
ich rufen und schreien. Endlich kamen schwere Tritte die Treppe herab.
Da wußte ich nichts mehr von mir, nur hie und da kehrte auf einige
Augenblicke meine Besinnung zurück, und da sah ich dann denselben Mann,
der oben am Mast angenagelt ist, an jenem Tisch dort sitzen, singend
und trinkend; aber der, der in einem roten Scharlachkleid nicht weit
von ihm am Boden liegt, saß neben ihm und half ihm trinken.“ Also
erzählte mir mein alter Diener.

Ihr könnt mir es glauben, meine Freunde, daß mir gar nicht wohl zumute
war; denn es war keine Täuschung, ich hatte ja auch die Toten gar wohl
gehört. In solcher Gesellschaft zu schiffen, war mir greulich. Mein
Ibrahim aber versank wieder in tiefes Nachdenken. „Jetzt hab’ ich’s!“
rief er endlich aus; es fiel ihm nämlich ein Sprüchlein ein, das ihn
sein Großvater, ein erfahrener, weitgereister Mann, gelehrt hatte und
das gegen jeden Geister- und Zauberspuk helfen sollte; auch behauptete
er, jenen unnatürlichen Schlaf, der uns befiel, in der nächsten Nacht
verhindern zu können, wenn wir nämlich recht eifrig Sprüche aus dem
Koran beteten. Der Vorschlag des alten Mannes gefiel mir wohl. In
banger Erwartung sahen wir die Nacht herankommen. Neben der Kajüte war
ein kleines Kämmerchen, dorthin beschlossen wir uns zurückzuziehen. Wir
bohrten mehrere Löcher in die Türe, hinlänglich groß, um durch sie die
ganze Kajüte zu überschauen, dann verschlossen wir die Türe, so gut es
ging, von innen, und Ibrahim schrieb den Namen des Propheten in alle
vier Ecken. So erwarteten wir die Schrecken der Nacht. Es mochte wieder
ungefähr elf Uhr sein, als es mich gewaltig zu schläfern anfing. Mein
Gefährte riet mir daher, einige Sprüche des Korans zu beten, was mir
auch half. Mit einem Male schien es oben lebhaft zu werden; die Taue
knarrten, Schritte gingen über das Verdeck, und mehrere Stimmen waren
deutlich zu unterscheiden—Mehrere Minuten hatten wir so in gespannter
Erwartung gesessen, da hörten wir etwas die Treppe der Kajüte
herabkommen. Als dies der Alte hörte, fing er an, den Spruch, den ihn
sein Großvater gegen Spuk und Zauberei gelehrt hatte, herzusagen:

„Kommt ihr herab aus der Luft,
Steigt ihr aus tiefem Meer,
Schlieft ihr in dunkler Gruft,
Stammt ihr vom Feuer her:
Allah ist euer Herr und Meister,
ihm sind gehorsam alle Geister.“


Ich muß gestehen, ich glaubte gar nicht recht an diesen Spruch, und mir
stieg das Haar zu Berg, als die Tür aufflog. Herein trat jener große,
stattliche Mann, den ich am Mastbaum angenagelt gesehen hatte. Der
Nagel ging ihm auch jetzt mitten durchs Hirn; das Schwert aber hatte er
in die Scheide gesteckt; hinter ihm trat noch ein anderer herein,
weniger kostbar gekleidet; auch ihn hatte ich oben liegen sehen. Der
Kapitano, denn dies war er unverkennbar, hatte ein bleiches Gesicht,
einen großen, schwarzen Bart, wildrollende Augen, mit denen er sich im
ganzen Gemach umsah. Ich konnte ihn ganz deutlich sehen, als er an
unserer Türe vorüberging; er aber schien gar nicht auf die Türe zu
achten, die uns verbarg. Beide setzten sich an den Tisch, der in der
Mitte der Kajüte stand, und sprachen laut und fast schreiend
miteinander in einer unbekannten Sprache. Sie wurden immer lauter und
eifriger, bis endlich der Kapitano mit geballter Faust auf den Tisch
hineinschlug, daß das Zimmer dröhnte. Mit wildem Gelächter sprang der
andere auf und winkte dem Kapitano, ihm zu folgen. Dieser stand auf,
riß seinen Säbel aus der Scheide, und beide verließen das Gemach. Wir
atmeten freier, als sie weg waren; aber unsere Angst hatte noch lange
kein Ende. Immer lauter und lauter ward es auf dem Verdeck. Man hörte
eilends hin und her laufen und schreien, lachen und heulen. Endlich
ging ein wahrhaft höllischer Lärm los, so daß wir glaubten, das Verdeck
mit allen Segeln komme zu uns herab, Waffengeklirr und Geschrei—auf
einmal aber tiefe Stille. Als wir es nach vielen Stunden wagten
hinaufzugehen, trafen wir alles wie sonst; nicht einer lag anders als
früher. Alle waren steif wie Holz.

So waren wir mehrere Tage auf dem Schiffe; es ging immer nach Osten,
wohin zu, nach meiner Berechnung, Land liegen mußte; aber wenn es auch
bei Tag viele Meilen zurückgelegt hatte, bei Nacht schien es immer
wieder zurückzukehren, denn wir befanden uns immer wieder am nämlichen
Fleck, wenn die Sonne aufging. Wir konnten uns dies nicht anders
erklären, als daß die Toten jede Nacht mit vollem Winde zurücksegelten.
Um nun dies zu verhüten, zogen wir, ehe es Nacht wurde, alle Segel ein
und wandten dasselbe Mittel an wie bei der Türe in der Kajüte; wir
schrieben den Namen des Propheten auf Pergament und auch das Sprüchlein
des Großvaters dazu und banden es um die eingezogenen Segel. Ängstlich
warteten wir in unserem Kämmerchen den Erfolg ab. Der Spuk schien
diesmal noch ärger zu toben, aber siehe, am anderen Morgen waren die
Segel noch aufgerollt, wie wir sie verlassen hatten. Wir spannten den
Tag über nur so viele Segel auf, als nötig waren, das Schiff sanft
fortzutreiben, und so legten wir in fünf Tagen eine gute Strecke
zurück.

Endlich, am Morgen des sechsten Tages, entdeckten wir in geringer Ferne
Land, und wir dankten Allah und seinem Propheten für unsere wunderbare
Rettung. Diesen Tag und die folgende Nacht trieben wir an einer Küste
hin, und am siebenten Morgen glaubten wir in geringer Entfernung eine
Stadt zu entdecken; wir ließen mit vieler Mühe einen Anker in die See,
der alsobald Grund faßte, setzten ein kleines Boot, das auf dem Verdeck
stand, aus und ruderten mit aller Macht der Stadt zu. Nach einer halben
Stunde liefen wir in einen Fluß ein, der sich in die See ergoß, und
stiegen ans Ufer. Am Stadttor erkundigten wir uns, wie die Stadt heiße,
und erfuhren, daß es eine indische Stadt sei, nicht weit von der
Gegend, wohin ich zuerst zu schiffen willens war. Wir begaben uns in
eine Karawanserei und erfrischten uns von unserer abenteuerlichen
Reise. Ich forschte daselbst auch nach einem weisen und verständigen
Manne, indem ich dem Wirt zu verstehen gab, daß ich einen solchen haben
möchte, der sich ein wenig auf Zauberei verstehe. Er führte mich in
eine abgelegene Straße, an ein unscheinbares Haus, pochte an, und man
ließ mich eintreten mit der Weisung, ich solle nur nach Muley fragen.

In dem Hause kam mir ein altes Männlein mit grauem Bart und langer Nase
entgegen und fragte nach meinem Begehr. Ich sagte ihm, ich suche den
weisen Muley, und er antwortete mir, er sei es selbst. Ich fragte ihn
nun um Rat, was ich mit den Toten machen solle und wie ich es angreifen
müsse, um sie aus dem Schiff zu bringen. Er antwortete mir, die Leute
des Schiffes seien wahrscheinlich wegen irgendeines Frevels auf das
Meer verzaubert; er glaube, der Zauber werde sich lösen, wenn man sie
ans Land bringe; dies könne aber nicht geschehen, als wenn man die
Bretter, auf denen sie lägen, losmache. Mir gehöre von Gott und Rechts
wegen das Schiff samt allen Gütern, weil ich es gleichsam gefunden
habe; doch solle ich alles sehr geheimzuhalten trachten und ihm ein
kleines Geschenk von meinem Überfluß machen; er wolle dafür mit seinen
Sklaven mir behilflich sein, die Toten wegzuschaffen. Ich versprach,
ihn reichlich zu belohnen, und wir machten uns mit fünf Sklaven, die
mit Sägen und Beilen versehen waren, auf den Weg. Unterwegs konnte der
Zauberer Muley unseren glücklichen Einfall, die Segel mit den Sprüchen
des Korans zu umwinden, nicht genug loben. Er sagte, es sei dies das
einzige Mittel gewesen, uns zu retten.

Es war noch ziemlich früh am Tage, als wir beim Schiff ankamen. Wir
machten uns alle sogleich ans Werk, und in einer Stunde lagen schon
vier in dem Nachen. Einige der Sklaven mußten sie an Land rudern, um
sie dort zu verscharren. Sie erzählten, als sie zurückkamen, die Toten
hätten ihnen die Mühe des Begrabens erspart, indem sie, sowie man sie
auf die Erde gelegt habe, in Staub zerfallen seien. Wir fuhren fort,
die Toten abzusägen, und bis vor Abend waren alle an Land gebracht. Es
war endlich keiner mehr an Bord als der, welcher am Mast angenagelt
war. Umsonst suchten wir den Nagel aus dem Holze zu ziehen, keine
Gewalt vermochte ihn auch nur ein Haarbreit zu verrücken. Ich wußte
nicht, was anzufangen war; man konnte doch nicht den Mastbaum abhauen,
um ihn ans Land zu führen. Doch aus dieser Verlegenheit half Muley. Er
ließ schnell einen Sklaven an Land rudern, um einen Topf mit Erde zu
bringen. Als dieser herbeigeholt war, sprach der Zauberer
geheimnisvolle Worte darüber aus und schüttete die Erde auf das Haupt
des Toten. Sogleich schlug dieser die Augen auf, holte tief Atem, und
die Wunde des Nagels in seiner Stirne fing an zu bluten. Wir zogen den
Nagel jetzt leicht heraus, und der Verwundete fiel einem Sklaven in die
Arme.

„Wer hat mich hierhergeführt?“ sprach er, nachdem er sich ein wenig
erholt zu haben schien. Muley zeigte auf mich, und ich trat zu ihm.
„Dank dir, unbekannter Fremdling, du hast mich von langen Qualen
errettet. Seit fünfzig Jahren schifft mein Leib durch diese Wogen, und
mein Geist war verdammt, jede Nacht in ihn zurückzukehren. Aber jetzt
hat mein Haupt die Erde berührt, und ich kann versöhnt zu meinen Vätern
gehen.“

Ich bat ihn, uns doch zu sagen, wie er zu diesem schrecklichen Zustand
gekommen sei, und er sprach: „Vor fünfzig Jahren war ich ein mächtiger,
angesehener Mann und wohnte in Algier; die Sucht nach Gewinn trieb
mich, ein Schiff auszurüsten und Seeraub zu treiben. Ich hatte dieses
Geschäft schon einige Zeit fortgeführt, da nahm ich einmal auf Zante
einen Derwisch an Bord, der umsonst reisen wollte. Ich und meine
Gesellen waren rohe Leute und achteten nicht auf die Heiligkeit des
Mannes; vielmehr trieb ich mein Gespött mit ihm. Als er aber einst in
heiligem Eifer mir meinen sündigen Lebenswandel verwiesen hatte,
übermannte mich nachts in meiner Kajüte, als ich mit meinem Steuermann
viel getrunken hatte, der Zorn. Wütend über das, was mir ein Derwisch
gesagt hatte und was ich mir von keinem Sultan hätte sagen lassen,
stürzte ich aufs Verdeck und stieß ihm meinen Dolch in die Brust.
Sterbend verwünschte er mich und meine Mannschaft, nicht sterben und
nicht leben zu können, bis wir unser Haupt auf die Erde legten. Der
Derwisch starb, und wir warfen ihn in die See und verlachten seine
Drohungen; aber noch in derselben Nacht erfüllten sich seine Worte. Ein
Teil meiner Mannschaft empörte sich gegen mich—Mit fürchterlicher Wut
wurde gestritten, bis meine Anhänger unterlagen und ich an den Mast
genagelt wurde. Aber auch die Empörer erlagen ihren Wunden, und bald
war mein Schiff nur ein großes Grab. Auch mir brachen die Augen, mein
Atem hielt an, und ich meinte zu sterben. Aber es war nur eine
Erstarrung, die mich gefesselt hielt; in der nächsten Nacht, zur
nämlichen Stunde, da wir den Derwisch in die See geworfen, erwachten
ich und alle meine Genossen, das Leben war zurückgekehrt, aber wir
konnten nichts tun und sprechen, als was wir in jener Nacht gesprochen
und getan hatten. So segeln wir seit fünfzig Jahren, können nicht
leben, nicht sterben; denn wie konnten wir das Land erreichen? Mit
toller Freude segelten wir allemal mit vollen Segeln in den Sturm, weil
wir hofften, endlich an einer Klippe zu zerschellen und das müde Haupt
auf dem Grund des Meeres zur Ruhe zu legen. Es ist uns nicht gelungen.
Jetzt aber werde ich sterben. Noch einmal meinen Dank, unbekannter
Retter, wenn Schätze dich lohnen können, so nimm mein Schiff als
Zeichen meiner Dankbarkeit.“

Der Kapitano ließ sein Haupt sinken, als er so gesprochen hatte, und
verschied. Sogleich zerfiel er auch, wie seine Gefährten, in Staub. Wir
sammelten diesen in ein Kästchen und begruben ihn an Land; aus der
Stadt nahm ich aber Arbeiter, die mir mein Schiff in guten Zustand
setzten. Nachdem ich die Waren, die ich an Bord hatte, gegen andere mit
großem Gewinn eingetauscht hatte, mietete ich Matrosen, beschenkte
meinen Freund Muley reichlich und schiffte mich nach meinem Vaterlande
ein. Ich machte aber einen Umweg, indem ich an vielen Inseln und
Ländern landete und meine Waren zu Markt brachte. Der Prophet segnete
mein Unternehmen. Nach dreiviertel Jahren lief ich, noch einmal so
reich, als mich der sterbende Kapitän gemacht hatte, in Balsora ein.
Meine Mitbürger waren erstaunt über meine Reichtümer und mein Glück und
glaubten nicht anders, als daß ich das Diamantental des berühmten
Reisenden Sindbad gefunden habe. Ich ließ sie in ihrem Glauben, von nun
an aber mußten die jungen Leute von Balsora, wenn sie kaum achtzehn
Jahre alt waren, in die Welt hinaus, um gleich mir ihr Glück zu machen.
Ich aber lebte ruhig und in Frieden, und alle fünf Jahre mache ich eine
Reise nach Mekka, um dem Herrn an heiliger Stätte für seinen Segen zu
danken und für den Kapitano und seine Leute zu bitten, daß er sie in
sein Paradies aufnehme.


Die Reise der Karawane war den anderen Tag ohne Hindernis fürder
gegangen, und als man im Lagerplatz sich erholt hatte, begann Selim,
der Fremde, zu Muley, dem jüngsten der Kaufleute, also zu sprechen:

„Ihr seid zwar der Jüngste von uns, doch seid Ihr immer fröhlich und
wißt für uns gewiß irgendeinen guten Schwank. Tischet ihn auf, daß er
uns erquicke nach der Hitze des Tages!“

„Wohl möchte ich euch etwas erzählen“, antwortete Muley, „das euch Spaß
machen könnte, doch der Jugend ziemt Bescheidenheit in allen Dingen;
darum müssen meine älteren Reisegefährten den Vorrang haben. Zaleukos
ist immer so ernst und verschlossen, sollte er uns nicht erzählen, was
sein Leben so ernst machte? Vielleicht, daß wir seinen Kummer, wenn er
solchen hat, lindern können; denn gerne dienen wir dem Bruder, wenn er
auch anderen Glaubens ist.“

Der Aufgerufene war ein griechischer Kaufmann, ein Mann in mittleren
Jahren, schön und kräftig, aber sehr ernst. Ob er gleich ein
Ungläubiger (nicht Muselmann) war, so liebten ihn doch seine
Reisegefährten, denn er hatte durch sein ganzes Wesen Achtung und
Zutrauen eingeflößt. Er hatte übrigens nur eine Hand, und einige seiner
Gefährten vermuteten, daß vielleicht dieser Verlust ihn so ernst
stimme.

Zaleukos antwortete auf die zutrauliche Frage Muleys: „Ich bin sehr
geehrt durch euer Zutrauen; Kummer habe ich keinen, wenigstens keinen,
von welchem ihr auch mit dem besten Willen mir helfen könntet. Doch
weil Muley mir meinen Ernst vorzuwerfen scheint, so will ich euch
einiges erzählen, was mich rechtfertigen soll, wenn ich ernster bin als
andere Leute. Ihr sehet, daß ich meine linke Hand verloren habe. Sie
fehlt mir nicht von Geburt an, sondern ich habe sie in den
schrecklichsten Tagen meines Lebens eingebüßt. Ob ich die Schuld davon
trage, ob ich unrecht habe, seit jenen Tagen ernster, als es meine Lage
mit sich bringt, zu sein, möget ihr beurteilen, wenn ihr vernommen habt
die Geschichte von der abgehauenen Hand.“



Die Geschichte von der abgehauenen Hand

Wilhelm Hauff


Ich bin in Konstantinopel geboren; mein Vater war ein Dragoman
(Dolmetscher) bei der Pforte (dem türkischen Hof) und trieb nebenbei
einen ziemlich einträglichen Handel mit wohlriechenden Essenzen und
seidenen Stoffen. Er gab mir eine gute Erziehung, indem er mich teils
selbst unterrichtete, teils von einem unserer Priester mir Unterricht
geben ließ. Er bestimmte mich anfangs, seinen Laden einmal zu
übernehmen, als ich aber größere Fähigkeiten zeigte, als er erwartet
hatte, bestimmte er mich auf das Anraten seiner Freunde zum Arzt; weil
ein Arzt, wenn er etwas mehr gelernt hat als die gewöhnlichen
Marktschreier, in Konstantinopel sein Glück machen kann. Es kamen viele
Franken in unser Haus, und einer davon überredete meinen Vater, mich in
sein Vaterland, nach der Stadt Paris, reisen zu lassen, wo man solche
Sachen unentgeltlich und am besten lernen könne. Er selbst aber wolle
mich, wenn er zurückreise, umsonst mitnehmen. Mein Vater, der in seiner
Jugend auch gereist war, schlug ein, und der Franke sagte mir, ich
könne mich in drei Monaten bereithalten. Ich war außer mir vor Freude,
fremde Länder zu sehen.

Der Franke hatte endlich seine Geschäfte abgemacht und sich zur Reise
bereitet; am Vorabend der Reise führte mich mein Vater in sein
Schlafkämmerlein. Dort sah ich schöne Kleider und Waffen auf dem Tische
liegen. Was meine Blicke aber noch mehr anzog, war ein großer Haufe
Goldes, denn ich hatte noch nie so viel beieinander gesehen. Mein Vater
umarmte mich und sagte: „Siehe, mein Sohn, ich habe dir Kleider zu der
Reise besorgt. Jene Waffen sind dein, es sind die nämlichen, die mir
dein Großvater umhing, als ich in die Fremde auszog. Ich weiß, du
kannst sie führen; gebrauche sie aber nie, als wenn du angegriffen
wirst; dann aber schlage auch tüchtig drauf. Mein Vermögen ist nicht
groß; siehe, ich habe es in drei Teile geteilt, einer davon ist dein;
einer davon ist mein Unterhalt und Notpfennig, der dritte aber sei mir
ein heiliges, unantastbares Gut, er diene dir in der Stunde der Not!“
So sprach mein alter Vater, und Tränen hingen ihm im Auge, vielleicht
aus Ahnung, denn ich habe ihn nie wieder gesehen.

Die Reise ging gut von Statten; wir waren bald im Lande der Franken
angelangt, und sechs Tagreisen nachher kamen wir in die große Stadt
Paris. Hier mietete mir mein fränkischer Freund ein Zimmer und riet
mir, mein Geld, das in allem zweitausend Taler betrug, vorsichtig
anzuwenden. Ich lebte drei Jahre in dieser Stadt und lernte, was ein
tüchtiger Arzt wissen muß; ich müßte aber lügen, wenn ich sagte, daß
ich gerne dort gewesen sei; denn die Sitten dieses Volkes gefielen mir
nicht; auch hatte ich nur wenige gute Freunde dort, diese aber waren
edle, junge Männer.

Die Sehnsucht nach der Heimat wurde endlich mächtig in mir; in der
ganzen Zeit hatte ich nichts von meinem Vater gehört, und ich ergriff
daher eine günstige Gelegenheit, nach Hause zu kommen.

Es ging nämlich eine Gesandtschaft aus Frankenland nach der Hohen
Pforte. Ich verdingte mich als Wundarzt in das Gefolge des Gesandten
und kam glücklich wieder nach Stambul. Das Haus meines Vaters aber fand
ich verschlossen, und die Nachbarn staunten, als sie mich sahen, und
sagten mir, mein Vater sei vor zwei Monaten gestorben. Jener Priester,
der mich in meiner Jugend unterrichtet hatte, brachte nur den
Schlüssel; allein und verlassen zog ich in das verödete Haus ein. Ich
fand noch alles, wie es mein Vater verlassen hatte; nur das Gold, das
er mir zu hinterlassen versprach, fehlte. Ich fragte den Priester
darüber, und dieser verneigte sich und sprach: „Euer Vater ist als ein
heiliger Mann gestorben; denn er hat sein Gold der Kirche vermacht.“
Dies war und blieb mir unbegreiflich; doch was wollte ich machen; ich
hatte keine Zeugen gegen den Priester und mußte froh sein, daß er nicht
auch das Haus und die Waren meines Vaters als Vermächtnis angesehen
hatte.

Dies war das erste Unglück, das mich traf. Von jetzt an aber kam es
Schlag auf Schlag. Mein Ruf als Arzt wollte sich gar nicht ausbreiten,
weil ich mich schämte, den Marktschreier zu machen, und überall fehlte
mir die Empfehlung meines Vaters, der mich bei den Reichsten und
Vornehmsten eingeführt hätte, die jetzt nicht mehr an den armen
Zaleukos dachten. Auch die Waren meines Vaters fanden keinen Abgang;
denn die Kunden hatten sich nach seinem Tode verlaufen, und neue
bekommt man nur langsam. Als ich einst trostlos über meine Lage
nachdachte, fiel mir ein, daß ich oft in Franken Männer meines Volkes
gesehen hatte, die das Land durchzogen und ihre Waren auf den Märkten
der Städte auslegten; ich erinnerte mich, daß man ihnen gerne abkaufte,
weil sie aus der Fremde kamen, und daß man bei solchem Handel das
Hundertfache erwerben könne. Sogleich war auch mein Entschluß gefaßt.
Ich verkaufte mein väterliches Haus, gab einen Teil des gelösten Geldes
einem bewährten Freunde zum Aufbewahren, von dem übrigen aber kaufte
ich, was man in Franken selten hat, wie Schals, seidene Zeuge, Salben
und Öle, mietete einen Platz auf einem Schiff und trat so meine zweite
Reise nach Franken an.

Es schien, als ob das Glück, sobald ich die Schlösser der Dardanellen
im Rücken hatte, mir wieder günstig geworden wäre. Unsere Fahrt war
kurz und glücklich. Ich durchzog die großen und kleinen Städte der
Franken und fand überall willige Käufer meiner Waren. Mein Freund in
Stambul sandte mir immer wieder frische Vorräte, und ich wurde von Tag
zu Tag wohlhabender. Als ich endlich so viel erspart hatte, daß ich
glaubte, ein größeres Unternehmen wagen zu können, zog ich mit meinen
Waren nach Italien. Etwas muß ich aber noch gestehen, was mir auch
nicht wenig Geld einbrachte: ich nahm auch meine Arzneikunst zu Hilfe.
Wenn ich in eine Stadt kam, ließ ich durch Zettel verkünden, daß ein
griechischer Arzt da sei, der schon viele geheilt habe; und wahrlich,
mein Balsam und meine Arzneien haben mir manche Zechine eingebracht.

So war ich endlich nach der Stadt Florenz in Italien gekommen. Ich nahm
mir vor, längere Zeit in dieser Stadt zu bleiben, teils weil sie mir so
wohl gefiel, teils auch, weil ich mich von den Strapazen meines
Umherziehens erholen wollte. Ich mietete mir ein Gewölbe in dem
Stadtviertel St. Croce und nicht weit davon ein paar schöne Zimmer, die
auf einen Altan führten, in einem Wirtshaus. Sogleich ließ ich auch
meine Zettel umhertragen, die mich als Arzt und Kaufmann ankündigten.
Ich hatte kaum mein Gewölbe eröffnet, so strömten auch die Käufer
herzu, und ob ich gleich ein wenig hohe Preise hatte, so verkaufte ich
doch mehr als andere, weil ich gefällig und freundlich gegen meine
Kunden war. Ich hatte schon vier Tage vergnügt in Florenz verlebt, als
ich eines Abends, da ich schon mein Gewölbe schließen und nur die
Vorräte in meinen Salbenbüchsen nach meiner Gewohnheit noch einmal
mustern wollte, in einer kleinen Büchse einen Zettel fand, den ich mich
nicht erinnerte, hineingetan zu haben. Ich öffnete den Zettel und fand
darin eine Einladung, diese Nacht Punkt zwölf Uhr auf der Brücke, die
man Ponte vecchio heißt, mich einzufinden. Ich sann lange darüber nach,
wer es wohl sein könnte, der mich dorthin einlud, da ich aber keine
Seele in Florenz kannte, dachte ich, man werde mich vielleicht heimlich
zu irgendeinem Kranken führen wollen, was schon öfter geschehen war.
Ich beschloß also hinzugehen, doch hing ich zur Vorsicht den Säbel um,
den mir einst mein Vater geschenkt hatte.

Als es stark gegen Mitternacht ging, machte ich mich auf den Weg und
kam bald auf die Ponte vecchio. Ich fand die Brücke verlassen und öde
und beschloß zu warten, bis er erscheinen würde, der mich rief. Es war
eine kalte Nacht; der Mond schien hell, und ich schaute hinab in die
Wellen des Arno, die weithin im Mondlicht schimmerten. Auf den Kirchen
der Stadt schlug es jetzt zwölf Uhr; ich richtete mich auf, und vor mir
stand ein großer Mann, ganz in einen roten Mantel gehüllt, dessen einen
Zipfel er vor das Gesicht hielt.

Ich war von Anfang etwas erschrocken, weil er so plötzlich hinter mir
stand, faßte mich aber sogleich wieder und sprach: „Wenn Ihr mich habt
hierher bestellt, so sagt an, was steht zu Eurem Befehl?“

Der Rotmantel wandte sich um und sagte langsam: „Folge!“ Da ward mir’s
doch etwas unheimlich zumute, mit diesem Unbekannten allein zu gehen;
ich blieb stehen und sprach: „Nicht also, lieber Herr, wollet mir
vorerst sagen, wohin; auch könnet Ihr mir Euer Gesicht ein wenig
zeigen, daß ich sehe, ob Ihr Gutes mit mir vorhabt.“

Der Rote aber schien sich nicht darum zu kümmern. „Wenn du nicht
willst, Zaleukos, so bleibe!“ antwortete er und ging weiter.

Da entbrannte mein Zorn. „Meinet Ihr“, rief ich aus, „ein Mann wie ich
lasse sich von jedem Narren foppen, und ich werde in dieser kalten
Nacht umsonst gewartet haben?“ In drei Sprüngen hatte ich ihn erreicht,
packte ihn an seinem Mantel und schrie noch lauter, indem ich die
andere Hand an den Säbel legte; aber der Mantel blieb mir in der Hand,
und der Unbekannte war um die nächste Ecke verschwunden. Mein Zorn
legte sich nach und nach; ich hatte doch den Mantel, und dieser sollte
mir schon den Schlüssel zu diesem wunderlichen Abenteuer geben.

Ich hing ihn um und ging meinen Weg weiter nach Hause. Als ich kaum
noch hundert Schritte davon entfernt war, streifte jemand dicht an mir
vorüber und flüsterte in fränkischer Sprache: „Nehmt Euch in acht,
Graf, heute nacht ist nichts zu machen.“ Ehe ich mich aber umsehen
konnte, war dieser Jemand schon vorbei, und ich sah nur noch einen
Schatten an den Häusern hinschweben. Daß dieser Zuruf den Mantel und
nicht mich anging, sah ich ein; doch gab er mir kein Licht über die
Sache. Am anderen Morgen überlegte ich, was zu tun sei. Ich war von
Anfang gesonnen, den Mantel ausrufen zu lassen, als hätte ich ihn
gefunden; doch da konnte der Unbekannte ihn durch einen Dritten holen
lassen, und ich hätte dann keinen Aufschluß über die Sache gehabt. Ich
besah, indem ich so nachdachte, den Mantel näher. Er war von schwerem
genuesischem Samt, purpurrot, mit astrachanischem Pelz verbrämt und
reich mit Gold bestickt. Der prachtvolle Anblick des Mantels brachte
mich auf einen Gedanken, den ich auszuführen beschloß.

Ich trug ihn in mein Gewölbe und legte ihn zum Verkauf aus, setzte aber
auf ihn einen so hohen Preis, daß ich gewiß war, keinen Käufer zu
finden. Mein Zweck dabei war, jeden, der nach dem Pelz fragen würde,
scharf ins Auge zu fassen; denn die Gestalt des Unbekannten, die sich
mir nach Verlust des Mantels, wenn auch nur flüchtig, doch bestimmt
zeigte, wollte ich aus Tausenden erkennen. Es fanden sich viele
Kauflustige zu dem Mantel, dessen außerordentliche Schönheit alle Augen
auf sich zog; aber keiner glich entfernt dem Unbekannten, keiner wollte
den hohen Preis von zweihundert Zechinen dafür bezahlen. Auffallend war
mir dabei, daß, wenn ich einen oder den anderen fragte, ob denn sonst
kein solcher Mantel in Florenz sei, alle mit „Nein!“ antworteten und
versicherten, eine so kostbare und geschmackvolle Arbeit nie gesehen zu
haben.

Es wollte schon Abend werden, da kam endlich ein junger Mann, der schon
oft bei mir gewesen war und auch heute viel auf den Mantel geboten
hatte, warf einen Beutel mit Zechinen auf den Tisch und rief: „Bei
Gott! Zaleukos, ich muß deinen Mantel haben, und sollte ich zum Bettler
darüber werden.“ Zugleich begann er, seine Goldstücke aufzuzählen. Ich
kam in große Not; ich hatte den Mantel nur ausgehängt, um vielleicht
die Blicke meines Unbekannten darauf zu ziehen, und jetzt kam ein
junger Tor, um den ungeheuren Preis zu zahlen. Doch was blieb mir
übrig; ich gab nach, denn es tat mir auf der anderen Seite der Gedanke
wohl, für mein nächtliches Abenteuer so schön entschädigt zu werden.
Der Jüngling hing sich den Mantel um und ging; er kehrte aber auf der
Schwelle wieder um, indem er ein Papier, das am Mantel befestigt war,
losmachte, mir zuwarf und sagte: „Hier, Zaleukos, hängt etwas, das wohl
nicht zu dem Mantel gehört.“

Gleichgültig nahm ich den Zettel; aber siehe da, dort stand
geschrieben: „Bringe heute nacht um die bewußte Stunde den Mantel auf
die Ponte vecchio, vierhundert Zechinen warten deiner.“

Ich stand wie niedergedonnert. So hatte ich also mein Glück selbst
verscherzt und meinen Zweck gänzlich verfehlt! Doch ich besann mich
nicht lange, raffte die zweihundert Zechinen zusammen, sprang dem, der
den Mantel gekauft hatte, nach und sprach: „Nehmt Eure Zechinen wieder,
guter Freund, und laßt mir den Mantel, ich kann ihn unmöglich
hergeben.“ Dieser hielt die Sache von Anfang für Spaß, als er aber
merkte, daß es Ernst war, geriet er in Zorn über meine Forderung,
schalt mich einen Narren, und so kam es endlich zu Schlägen. Doch ich
war so glücklich, im Handgemenge ihm den Mantel zu entreißen, und
wollte schon mit ihm davoneilen, als der junge Mann die Polizei zu
Hilfe rief und mich mit sich vor Gericht zog. Der Richter war sehr
erstaunt über die Anklage und sprach meinem Gegner den Mantel zu. Ich
aber bot dem Jünglinge zwanzig, fünfzig, achtzig, ja hundert Zechinen
über seine zweihundert, wenn er mir den Mantel ließe. Was meine Bitten
nicht vermochten, bewirkte mein Gold. Er nahm meine guten Zechinen, ich
aber zog mit dem Mantel triumphierend ab und mußte mir gefallen lassen,
daß man mich in ganz Florenz für einen Wahnsinnigen hielt. Doch die
Meinung der Leute war mir gleichgültig; ich wußte es ja besser als sie,
daß ich an dem Handel noch gewann.

Mit Ungeduld erwartete ich die Nacht. Um dieselbe Zeit wie gestern ging
ich, den Mantel unter dem Arm, auf die Ponte vecchio. Mit dem letzten
Glockenschlag kam die Gestalt aus der Nacht heraus auf mich zu. Es war
unverkennbar der Mann von gestern. „Hast du den Mantel?“ wurde ich
gefragt.

„Ja, Herr“, antwortete ich, „aber er kostete mich bar hundert
Zechinen.“

„Ich weiß es“, entgegnete jener. „Schau auf, hier sind vierhundert.“ Er
trat mit mir an das breite Geländer der Brücke und zählte die
Goldstücke hin. Vierhundert waren es; prächtig blitzten sie im
Mondschein, ihr Glanz erfreute mein Herz, ach! Es ahnete nicht, daß es
seine letzte Freude sein werde. Ich steckte mein Geld in die Tasche und
wollte mir nun auch den gütigen Unbekannten recht betrachten; aber er
hatte eine Larve vor dem Gesicht, aus der mich dunkle Augen furchtbar
anblitzten.

„Ich danke Euch, Herr, für Eure Güte“, sprach ich zu ihm, „was verlangt
Ihr jetzt von mir? Das sage ich Euch aber vorher, daß es nichts
Unrechtes sein darf.“

„Unnötige Sorge“, antwortete er, indem er den Mantel um die Schultern
legte, „ich bedarf Eurer Hilfe als Arzt; doch nicht für einen Lebenden,
sondern für einen Toten.“

„Wie kann das sein?“ rief ich voll Verwunderung.

„Ich kam mit meiner Schwester aus fernen Landen“, erzählte er und
winkte mir zugleich, ihm zu folgen. „Ich wohnte hier mit ihr bei einem
Freund meines Hauses. Meine Schwester starb gestern schnell an einer
Krankheit, und die Verwandten wollen sie morgen begraben. Nach einer
alten Sitte unserer Familie aber sollen alle in der Gruft der Väter
ruhen; viele, die in fremden Landen starben, ruhen dennoch dort
einbalsamiert. Meinen Verwandten gönne ich nun ihren Körper; meinem
Vater aber muß ich wenigstens den Kopf seiner Tochter bringen, damit er
sie noch einmal sehe.“ Diese Sitte, die Köpfe geliebter Anverwandten
abzuschneiden, kam mir zwar etwas schrecklich vor; doch wagte ich
nichts dagegen einzuwenden aus Furcht, den Unbekannten zu beleidigen.
Ich sagte ihm daher, daß ich mit dem Einbalsamieren der Toten wohl
umgehen könne, und bat ihn, mich zu der Verstorbenen zu führen. Doch
konnte ich mich nicht enthalten zu fragen, warum denn dies alles so
geheimnisvoll und in der Nacht geschehen müsse. Er antwortete mir, daß
seine Anverwandten, die seine Absicht für grausam hielten, bei Tage ihn
abhalten würden; sei aber nur erst einmal der Kopf abgenommen, so
könnten sie wenig mehr darüber sagen. Er hätte mir zwar den Kopf
bringen können; aber ein natürliches Gefühl halte ihn ab, ihn selbst
abzunehmen.

Wir waren indes bis an ein großes, prachtvolles Haus gekommen. Mein
Begleiter zeigte es mir als das Ziel unseres nächtlichen Spazierganges.
Wir gingen an dem Haupttor des Hauses vorbei, traten in eine kleine
Pforte, die der Unbekannte sorgfältig hinter sich zumachte, und stiegen
nun im Finstern eine enge Wendeltreppe hinan. Sie führte in einen
spärlich erleuchteten Gang, aus welchem wir in ein Zimmer gelangten,
das eine Lampe, die an der Decke befestigt war, erleuchtete.

In diesem Gemach stand ein Bett, in welchem der Leichnam lag. Der
Unbekannte wandte sein Gesicht ab und schien Tränen verbergen zu
wollen. Er deutete nach dem Bett, befahl mir, mein Geschäft gut und
schnell zu verrichten, und ging wieder zur Türe hinaus.

Ich packte meine Messer, die ich als Arzt immer bei mir führte, aus und
näherte mich dem Bett. Nur der Kopf war von der Leiche sichtbar; aber
dieser war so schön, daß mich unwillkürlich das innigste Mitleiden
ergriff. In langen Flechten hing das dunkle Haar herab, das Gesicht war
bleich, die Augen geschlossen. Ich machte zuerst einen Einschnitt in
die Haut, nach der Weise der Ärzte, wenn sie ein Glied abschneiden.
Sodann nahm ich mein schärfstes Messer und schnitt mit einem Zug die
Kehle durch. Aber welcher Schrecken! Die Tote schlug die Augen auf,
schloß sie aber gleich wieder, und in einem tiefen Seufzer schien sie
jetzt erst ihr Leben auszuhauchen. Zugleich schoß mir ein Strahl heißen
Blutes aus der Wunde entgegen. Ich überzeugte mich, daß ich erst die
Arme getötet hatte; denn daß sie tot sei, war kein Zweifel, da es von
dieser Wunde keine Rettung gab. Ich stand einige Minuten in banger
Beklommenheit über das, was geschehen war. Hatte der Rotmantel mich
betrogen, oder war die Schwester vielleicht nur scheintot gewesen? Das
letztere schien mir wahrscheinlicher. Aber ich durfte dem Bruder der
Verstorbenen nicht sagen, daß vielleicht ein weniger rascher Schnitt
sie erweckt hätte, ohne sie zu töten, darum wollte ich den Kopf
vollends ablösen; aber noch einmal stöhnte die Sterbende, streckt sich
in schmerzhafter Bewegung aus und starb. Da übermannte mich der
Schrecken, und ich stürzte schaudernd aus dem Gemach. Aber draußen im
Gang war es finster; denn die Lampe war verlöscht. Keine Spur von
meinem Begleiter war zu entdecken, und ich mußte aufs ungefähr mich im
Finstern an der Wand fortbewegen, um an die Wendeltreppe zu gelangen.
Ich fand sie endlich und kam halb fallend, halb gleitend hinab. Auch
unten war kein Mensch. Die Türe fand ich nur angelehnt, und ich atmete
freier, als ich auf der Straße war; denn in dem Hause war mir ganz
unheimlich geworden. Von Schrecken gespornt, rannte ich in meine
Wohnung und begrub mich in die Polster meines Lagers, um das
Schreckliche zu vergessen, das ich getan hatte. Aber der Schlaf floh
mich, und erst der Morgen ermahnte mich wieder, mich zu fassen. Es war
mir wahrscheinlich, daß der Mann, der mich zu dieser verruchten Tat,
wie sie mir jetzt erschien, verführt hatte, mich nicht angeben würde.
Ich entschloß mich, gleich in mein Gewölbe an mein Geschäft zu gehen
und womöglich eine sorglose Miene anzunehmen. Aber ach! Ein neuer
Umstand, den ich jetzt erst bemerkte, vermehrte noch meinen Kummer.
Meine Mütze und mein Gürtel wie auch meine Messer fehlten mir, und ich
war ungewiß, ob ich sie in dem Zimmer der Getöteten gelassen oder erst
auf meiner Flucht verloren hatte. Leider schien das erste
wahrscheinlicher, und man konnte mich also als Mörder entdecken.

Ich öffnete zur gewöhnlichen Zeit mein Gewölbe. Mein Nachbar trat zu
mir her, wie er alle Morgen zu tun pflegte, denn er war ein
gesprächiger Mann. „Ei, was sagt Ihr zu der schrecklichen Geschichte“,
hub er an, „die heute nacht vorgefallen ist?“ Ich tat, als ob ich
nichts wüßte. „Wie, solltet Ihr nicht wissen, von was die ganze Stadt
erfüllt ist? Nicht wissen, daß die schönste Blume von Florenz, Bianka,
die Tochter des Gouverneurs, in dieser Nacht ermordet wurde? Ach! Ich
sah sie gestern noch so heiter durch die Straßen fahren mit ihrem
Bräutigam, denn heute hätten sie Hochzeit gehabt.“

Jedes Wort des Nachbarn war mir ein Stich ins Herz. Und wie oft kehrte
meine Marter wieder; denn jeder meiner Kunden erzählte mir die
Geschichte, immer einer schrecklicher als der andere, und doch konnte
keiner so Schreckliches sagen, als ich selbst gesehen hatte. Um Mittag
ungefähr trat ein Mann vom Gericht in mein Gewölbe und bat mich, die
Leute zu entfernen. „Signore Zaleukos“, sprach er, indem er die Sachen,
die ich vermißte, hervorzog, „gehören diese Sachen Euch zu?“ Ich besann
mich, ob ich sie nicht gänzlich ableugnen sollte; aber als ich durch
die halbgeöffnete Tür meinen Wirt und mehrere Bekannte, die wohl gegen
mich zeugen konnten, erblickte, beschloß ich, die Sache nicht noch
durch eine Lüge zu verschlimmern, und bekannte mich zu den vorgezeigten
Dingen. Der Gerichtsmann bat mich, ihm zu folgen, und führte mich in
ein großes Gebäude, das ich bald für das Gefängnis erkannte. Dort wies
er mir bis auf weiteres ein Gemach an.

Meine Lage war schrecklich, als ich so in der Einsamkeit darüber
nachdachte. Der Gedanke, gemordet zu haben, wenn auch ohne Willen,
kehrte immer wieder. Auch konnte ich mir nicht verhehlen, daß der Glanz
des Goldes meine Sinne befangen gehalten hatte; sonst hätte ich nicht
so blindlings in die Falle gehen können. Zwei Stunden nach meiner
Verhaftung wurde ich aus meinem Gemach geführt. Mehrere Treppen ging es
hinab, dann kam man in einen großen Saal. Um einen langen,
schwarzbehängten Tisch saßen dort zwölf Männer, meistens Greise. An den
Seiten des Saales zogen sich Bänke herab, angefüllt mit den Vornehmsten
von Florenz; auf den Galerien, die in der Höhe angebracht waren,
standen dicht gedrängt die Zuschauer. Als ich bis vor den schwarzen
Tisch getreten war, erhob sich ein Mann mit finsterer, trauriger Miene;
es war der Gouverneur. Er sprach zu den Versammelten, daß er als Vater
in dieser Sache nicht richten könne und daß er seine Stelle für diesmal
an den ältesten der Senatoren abtrete. Der älteste der Senatoren war
ein Greis von wenigstens neunzig Jahren. Er stand gebückt, und seine
Schläfen waren mit dünnem, weißem Haar umhängt; aber feurig brannten
noch seine Augen, und seine Stimme war stark und sicher. Er hub an,
mich zu fragen, ob ich den Mord gestehe. Ich bat ihn um Gehör und
erzählte unerschrocken und mit vernehmlichen Stimme, was ich getan
hatte und was ich wußte. Ich bemerkte, daß der Gouverneur während
meiner Erzählung bald blaß, bald rot wurde, und als ich geschlossen,
fuhr er wütend auf: „Wie, Elender!“ rief er mir zu, „so willst du ein
Verbrechen, das du aus Habgier begangen, noch einem anderen aufbürden?“

Der Senator verwies ihm seine Unterbrechung, da er sich freiwillig
seines Rechtes begeben habe; auch sei es gar nicht so erwiesen, daß ich
aus Habgier gefrevelt; denn nach seiner eigenen Aussage sei ja der
Getöteten nichts gestohlen worden. Ja, er ging noch weiter; er erklärte
dem Gouverneur, daß er über das frühere Leben seiner Tochter
Rechenschaft geben müsse; denn nur so könne man schließen, ob ich die
Wahrheit gesagt habe oder nicht. Zugleich hob er für heute das Gericht
auf, um sich, wie er sagte, aus den Papieren der Verstorbenen, die ihm
der Gouverneur übergeben werde, Rat zu holen. Ich wurde wieder in mein
Gefängnis zurückgeführt, wo ich einen schaurigen Tag verlebte, immer
mit dem heißen Wunsch beschäftigt, daß man doch irgendeine Verbindung
zwischen der Toten und dem Rotmantel entdecken möchte. Voll Hoffnung
trat ich den anderen Tag in den Gerichtssaal. Es lagen mehrere Briefe
auf dem Tisch. Der alte Senator fragte mich, ob sie meine Handschrift
seien. Ich sah sie an und fand, daß sie von derselben Hand sein müßten
wie jene beiden Zettel, die ich erhalten. Ich äußerte dies den
Senatoren; aber man schien nicht darauf zu achten und antwortete, daß
ich beides geschrieben haben könne und müsse; denn der Namenszug unter
den Briefen sei unverkennbar ein Z, der Anfangsbuchstabe meines Namens.
Die Briefe aber enthielten Drohungen an die Verstorbene und Warnungen
vor der Hochzeit, die sie zu vollziehen im Begriff war.

Der Gouverneur schien sonderbare Aufschlüsse in Hinsicht auf meine
Person gegeben zu haben; denn man behandelte mich an diesem Tage
mißtrauischer und strenger. Ich berief mich zu meiner Rechtfertigung
auf meine Papiere, die sich in meinem Zimmer finden müßten; aber man
sagte mir, man habe nachgesucht und nichts gefunden. So schwand mir am
Schlusse dieses Gerichts alle Hoffnung, und als ich am dritten Tag
wieder in den Saal geführt wurde, las man mir das Urteil vor, daß ich,
eines vorsätzlichen Mordes überwiesen, zum Tode verurteilt sei. Dahin
also war es mit mir gekommen. Verlassen von allem, was mir auf Erden
noch teuer war, fern von meiner Heimat, sollte ich unschuldig in der
Blüte meiner Jahre vom Beile sterben.

Ich saß am Abend dieses schrecklichen Tages, der über mein Schicksal
entschieden hatte, in meinem einsamen Kerker; meine Hoffnungen waren
dahin, meine Gedanken ernsthaft auf den Tod gerichtet. Da tat sich die
Türe meines Gefängnisses auf, und ein Mann trat herein, der mich lange
schweigend betrachtete. „So finde ich dich wieder, Zaleukos?“ sagte er;
ich hatte ihn bei dem matten Schein meiner Lampe nicht erkannt, aber
der Klang seiner Stimme erweckte alte Erinnerungen in mir, es war
Valetty, einer jener wenigen Freunde, die ich in der Stadt Paris
während meiner Studien kannte. Er sagte, daß er zufällig nach Florenz
gekommen sei, wo sein Vater als angesehener Mann wohne, er habe von
meiner Geschichte gehört und sei gekommen, um mich noch einmal zu sehen
und von mir selbst zu erfahren, wie ich mich so schwer habe verschulden
können. Ich erzählte ihm die ganze Geschichte. Er schien darüber sehr
verwundert und beschwor mich, ihm, meinem einzigen Freunde, alles zu
sagen, um nicht mit einer Lüge von hinnen zu gehen. Ich schwor ihm mit
dem teuersten Eid, daß ich wahr gesprochen und daß keine andere Schuld
mich drücke, als daß ich, von dem Glanze des Goldes geblendet, das
Unwahrscheinliche der Erzählung des Unbekannten nicht erkannt habe. „So
hast du Bianka nicht gekannt?“ fragte jener. Ich beteuerte ihm, sie nie
gesehen zu haben. Valetty erzählte mir nun, daß ein tiefes Geheimnis
auf der Tat liege, daß der Gouverneur meine Verurteilung sehr hastig
betrieben habe, und es sei nun ein Gerücht unter die Leute gekommen,
daß ich Bianka schon längst gekannt und aus Rache über ihre Heirat mit
einem anderen sie ermordet habe. Ich bemerkte ihm, daß dies alles ganz
auf den Rotmantel passe, daß ich aber seine Teilnahme an der Tat mit
nichts beweisen könne. Valetty umarmte mich weinend und versprach mir,
alles zu tun, um wenigstens mein Leben zu retten. Ich hatte wenig
Hoffnung; doch wußte ich, daß Valetty ein weiser und der Gesetze
kundiger Mann sei und daß er alles tun werde, mich zu retten. Zwei
lange Tage war ich in Ungewißheit: Endlich erschien auch Valetty. „Ich
bringe Trost, wenn auch einen schmerzlichen. Du wirst leben und frei
sein; aber mit Verlust einer Hand.“ Gerührt dankte ich meinem Freunde
für mein Leben. Er sagte mir, daß der Gouverneur unerbittlich gewesen
sei, die Sache noch einmal untersuchen zu lassen; daß er aber endlich,
um nicht ungerecht zu erscheinen, bewilligt habe, wenn man in den
Büchern der florentinischen Geschichte einen ähnlichen Fall finde, so
solle meine Strafe sich nach der Strafe, die dort ausgesprochen sei,
richten. Er und sein Vater haben nun Tag und Nacht in den alten Büchern
gelesen und endlich einen ganz dem meinigen ähnlichen Fall gefunden.
Dort laute die Strafe: Es soll ihm die linke Hand abgehauen, seine
Güter eingezogen, er selbst auf ewig verbannt werden. So laute jetzt
auch meine Strafe, und ich solle mich jetzt bereiten zu der
schmerzhaften Stunde, die meiner warte. Ich will euch nicht diese
schreckliche Stunde vor das Auge führen, wo ich auf offenem Markt meine
Hand auf den Block legte, wo mein eigenes Blut in weitem Bogen mich
überströmte!

Valetty nahm mich in sein Haus auf, bis ich genesen war, dann versah er
mich edelmütig mit Reisegeld; denn alles, was ich mir so mühsam
erworben, war eine Beute des Gerichts geworden. Ich reiste von Florenz
nach Sizilien und von da mit dem ersten Schiff, das ich fand, nach
Konstantinopel. Meine Hoffnung war auf die Summe gerichtet, die ich
meinem Freunde übergeben hatte, auch bat ich ihn, bei ihm wohnen zu
dürfen; aber wie erstaunte ich, als dieser mich fragte, warum ich denn
nicht mein Haus beziehe! Er sagte mir, daß ein fremder Mann unter
meinem Namen ein Haus in dem Quartier der Griechen gekauft habe;
derselbe habe auch den Nachbarn gesagt, daß ich bald selbst kommen
werde. Ich ging sogleich mit meinem Freunde dahin und wurde von allen
meinen Bekannten freudig empfangen. Ein alter Kaufmann gab mir einen
Brief, den der Mann, der für mich gekauft hatte, hiergelassen habe.

Ich las: „Zaleukos! Zwei Hände stehen bereit, rastlos zu schaffen, daß
Du nicht fühlest den Verlust der einen. Das Haus, das Du siehest, und
alles, was darin ist, ist Dein, und alle Jahre wird man Dir so viel
reichen, daß Du zu den Reichen Deines Volkes gehören wirst. Mögest Du
dem vergeben, der unglücklicher ist als Du.“ Ich konnte ahnen, wer es
geschrieben, und der Kaufmann sagte mir auf meine Frage: Es sei ein
Mann gewesen, den er für einen Franken gehalten, er habe einen roten
Mantel angehabt. Ich wußte genug, um mir zu gestehen, daß der
Unbekannte doch nicht ganz von aller edlen Gesinnung entblößt sein
müsse. In meinem neuen Haus fand ich alles aufs beste eingerichtet,
auch ein Gewölbe mit Waren, schöner als ich sie je gehabt. Zehn Jahre
sind seitdem verstrichen; mehr aus alter Gewohnheit, als weil ich es
nötig habe, setze ich meine Handelsreisen fort; doch habe ich jenes
Land, wo ich so unglücklich wurde, nie mehr gesehen. Jedes Jahr erhielt
ich seitdem tausend Goldstücke; aber, wenn es mir auch Freude macht,
jenen Unglücklichen edel zu wissen, so kann er mir doch den Kummer
meiner Seele nicht abkaufen, denn ewig lebt in mir das grauenvolle Bild
der ermordeten Bianka.


Zaleukos, der griechische Kaufmann, hatte seine Geschichte geendigt.
Mit großer Teilnahme hatten ihm die übrigen zugehört, besonders der
Fremde schien sehr davon ergriffen zu sein; er hatte einigemal tief
geseufzt, und Muley schien es sogar, als habe er einmal Tränen in den
Augen gehabt. Sie besprachen sich noch lange Zeit über diese
Geschichte.

„Und haßt Ihr den Unbekannten nicht, der Euch so schnöd’ um ein so
edles Glied Eures Körpers, der selbst Euer Leben in Gefahr brachte?“
fragte der Fremde.

„Wohl gab es in früherer Zeit Stunden“, antwortete der Grieche, „in
denen mein Herz ihn vor Gott angeklagt, daß er diesen Kummer über mich
gebracht und mein Leben vergiftet habe; aber ich fand Trost in dem
Glauben meiner Väter, und dieser befiehlt mir, meine Feinde zu lieben;
auch ist er wohl noch unglücklicher als ich.“

„Ihr seid ein edler Mann!“ rief der Fremde und drückte gerührt dem
Griechen die Hand.

Der Anführer der Wache unterbrach sie aber in ihrem Gespräch. Er trat
mit besorgter Miene in das Zelt und berichtete, daß man sich nicht der
Ruhe überlassen dürfe; denn hier sei die Stelle, wo gewöhnlich die
Karawanen angegriffen würden, auch glaubten seine Wachen, in der
Entfernung mehrere Reiter zu sehen.

Die Kaufleute waren sehr bestürzt über diese Nachricht; Selim, der
Fremde, aber wunderte sich über ihre Bestürzung und meinte, daß sie so
gut geschätzt wären, daß sie einen Trupp räuberischer Araber nicht zu
fürchten brauchten.

„Ja, Herr!“ entgegnete ihm der Anführer der Wache. „Wenn es nur solches
Gesindel wäre, könnte man sich ohne Sorge zur Ruhe legen; aber seit
einiger Zeit zeigt sich der furchtbare Orbasan wieder, und da gilt es,
auf seiner Hut zu sein.“

Der Fremde fragte, wer denn dieser Orbasan sei, und Achmet, der alte
Kaufmann, antwortete ihm: „Es gehen allerlei Sagen unter dem Volke über
diesen wunderbaren Mann. Die einen halten ihn für ein übermenschliches
Wesen, weil er oft mit fünf bis sechs Männern zumal einen Kampf
besteht, andere halten ihn für einen tapferen Franken, den das Unglück
in diese Gegend verschlagen habe; von allem aber ist nur so viel gewiß,
daß er ein verruchter Mörder und Dieb ist.“

„Das könnt Ihr aber doch nicht behaupten“, entgegnete ihm Lezah, einer
der Kaufleute. „Wenn er auch ein Räuber ist, so ist er doch ein edler
Mann, und als solcher hat er sich an meinem Bruder bewiesen, wie ich
Euch erzählen könnte. Er hat seinen ganzen Stamm zu geordneten Menschen
gemacht, und so lange er die Wüste durchstreift, darf kein anderer
Stamm es wagen, sich sehen zu lassen. Auch raubt er nicht wie andere,
sondern er erhebt nur ein Schutzgeld von den Karawanen, und wer ihm
dieses willig bezahlt, der ziehet ungefährdet weiter; denn Orbasan ist
der Herr der Wüste.“

Also sprachen unter sich die Reisenden im Zelte; die Wachen aber, die
um den Lagerplatz ausgestellt waren, begannen unruhig zu werden. Ein
ziemlich bedeutender Haufe bewaffneter Reiter zeigte sich in der
Entfernung einer halben Stunde; sie schienen gerade auf das Lager
zuzureiten. Einer der Männer von der Wache ging daher in das Zelt, um
zu verkünden, daß sie wahrscheinlich angegriffen würden. Die Kaufleute
berieten sich untereinander, was zu tun sei, ob man ihnen entgegengehen
oder den Angriff abwarten solle. Achmet und die zwei älteren Kaufleute
wollten das letztere, der feurige Muley aber und Zaleukos verlangten
das erstere und riefen den Fremden zu ihrem Beistand auf. Dieser zog
ruhig ein kleines, blaues Tuch mit roten Sternen aus seinem Gürtel
hervor, band es an eine Lanze und befahl einem der Sklaven, es auf das
Zelt zu stecken; er setze sein Leben zum Pfand, sagte er, die Reiter
werden, wenn sie dieses Zeichen sehen, ruhig vorüberziehen. Muley
glaubte nicht an den Erfolg, der Sklave aber steckte die Lanze auf das
Zelt. Inzwischen hatten alle, die im Lager waren, zu den Waffen
gegriffen und sahen in gespannter Erwartung den Reitern entgegen. Doch
diese schienen das Zeichen auf dem Zelte erblickt zu haben, sie wichen
plötzlich von ihrer Richtung auf das Lager ab und zogen in einem großen
Bogen auf der Seite hin.

Verwundert standen einige Augenblicke die Reisenden und sahen bald auf
die Reiter, bald auf den Fremden. Dieser stand ganz gleichgültig, wie
wenn nichts vorgefallen wäre, vor dem Zelte und blickte über die Ebene
hin. Endlich brach Muley das Stillschweigen. „Wer bist du, mächtiger
Fremdling“, rief er aus, „der du die wilden Horden der Wüste durch
einen Wink bezähmst?“

„Ihr schlagt meine Kunst höher an, als sie ist“, antwortete Selim
Baruch. „Ich habe mich mit diesem Zeichen versehen, als ich der
Gefangenschaft entfloh; was es zu bedeuten hat, weiß ich selbst nicht;
nur so viel weiß ich, daß, wer mit diesem Zeichen reiset, unter
mächtigem Schutze steht.“

Die Kaufleute dankten dem Fremden und nannten ihn ihren Erretter.
Wirklich war auch die Anzahl der Reiter so groß gewesen, daß wohl die
Karawane nicht lange hätte Widerstand leisten können.

Mit leichterem Herzen begab man sich jetzt zur Ruhe, und als die Sonne
zu sinken begann und der Abendwind über die Sandebene hinstrich,
brachen sie auf und zogen weiter.

Am nächsten Tage lagerten sie ungefähr nur noch eine Tagreise von dem
Ausgang der Wüste entfernt. Als sich die Reisenden wieder in dem großen
Zelt versammelt hatten, nahm Lezah, der Kaufmann, das Wort:

„Ich habe euch gestern gesagt, daß der gefürchtete Orbasan ein edler
Mann sei, erlaubt mir, daß ich es euch heute durch die Erzählung der
Schicksale meines Bruders beweise. Mein Vater war Kadi in Akara. Er
hatte drei Kinder. Ich war der Älteste, ein Bruder und eine Schwester
waren bei weitem jünger als ich. Als ich zwanzig Jahre alt war, rief
mich ein Bruder meines Vaters zu sich. Er setzte mich zum Erben seiner
Güter ein, mit der Bedingung, daß ich bis zu seinem Tode bei ihm
bleibe. Aber er erreichte ein hohes Alter, so daß ich erst vor zwei
Jahren in meine Heimat zurückkehrte und nichts davon wußte, welch
schreckliches Schicksal indes mein Haus betroffen und wie gütig Allah
es gewendet hatte.“



Die Errettung Fatmes

Wilhelm Hauff


Mein Bruder Mustapha und meine Schwester Fatme waren beinahe in
gleichem Alter; jener hatte höchstens zwei Jahre voraus. Sie liebten
einander innig und trugen vereint alles bei, was unserem kränklichen
Vater die Last seines Alters erleichtern konnte. An Fatmes sechzehntem
Geburtstage veranstaltete der Bruder ein Fest. Er ließ alle ihre
Gespielinnen einladen, setzte ihnen in dem Garten des Vaters
ausgesuchte Speisen vor, und als es Abend wurde, lud er sie ein, auf
einer Barke, die er gemietet und festlich geschmückt hatte, ein wenig
hinaus in die See zu fahren. Fatme und ihre Gespielinnen willigten mit
Freuden ein; denn der Abend war schön, und die Stadt gewährte besonders
abends, von dem Meere aus betrachtet, einen herrlichen Anblick. Den
Mädchen aber gefiel es so gut auf der Barke, daß sie meinen Bruder
bewogen, immer weiter in die See hinauszufahren. Mustapha gab aber
ungern nach, weil sich vor einigen Tagen ein Korsar hatte sehen lassen.
Nicht weit von der Stadt zieht sich ein Vorgebirge in das Meer. Dorthin
wollten noch die Mädchen, um von da die Sonne in das Meer sinken zu
sehen. Als sie um das Vorgebirg’ herumruderten, sahen sie in geringer
Entfernung eine Barke, die mit Bewaffneten besetzt war. Nichts Gutes
ahnend, befahl mein Bruder den Ruderern, sein Schiff zu drehen und dem
Lande zuzurudern. Wirklich schien sich auch seine Besorgnis zu
bestätigen; denn jene Barke kam der meines Bruders schnell nach,
überholte sie, da sie mehr Ruder hatte, und hielt sich immer zwischen
dem Land, und unserer Barke. Die Mädchen aber, als sie die Gefahr
erkannten, in der sie schwebten, sprangen auf und schrien und klagten;
umsonst suchte sie Mustapha zu beruhigen, umsonst stellte er ihnen vor,
ruhig zu bleiben, weil sie durch ihr Hin- und Herrennen die Barke in
Gefahr brächten umzuschlagen. Es half nichts, und da sie sich endlich
bei Annäherung des anderen Bootes alle auf die hintere Seite der Barke
stürzten, schlug diese um. Indessen aber hatte man vom Land aus die
Bewegungen des fremden Bootes beobachtet, und da man schon seit einiger
Zeit Besorgnisse wegen Korsaren hegte, hatte dieses Boot Verdacht
erregt, und mehrere Barken stießen vom Lande, um den Unsrigen
beizustehen. Aber sie kamen nur noch zu rechter Zeit, um die
Untersinkenden aufzunehmen. In der Verwirrung war das feindliche Boot
entwischt, auf den beiden Barken aber, welche die Geretteten
aufgenommen hatten, war man ungewiß, ob alle gerettet seien. Man
näherte sich gegenseitig, und ach! Es fand sich, daß meine Schwester
und eine ihrer Gespielinnen fehlten; zugleich entdeckte man aber einen
Fremden in einer der Barken, den niemand kannte. Auf die Drohungen
Mustaphas gestand er, daß er zu dem feindlichen Schiff, das zwei Meilen
ostwärts vor Anker liege, gehöre, und daß ihn seine Gefährten auf ihrer
eiligen Flucht im Stich gelassen hätten, indem er im Begriff gewesen
sei, die Mädchen auffischen zu helfen; auch sagte er aus, daß er
gesehen habe, wie man zwei derselben in das Schiff gezogen.

Der Schmerz meines alten Vaters war grenzenlos, aber auch Mustapha war
bis zum Tod betrübt, denn nicht nur, daß seine geliebte Schwester
verloren war und daß er sich anklagte, an ihrem Unglück schuld zu
sein—jene Freundin Fatmes, die ihr Unglück teilte, war von ihren Eltern
ihm zur Gattin zugesagt gewesen, und nur unserem Vater hatte er es noch
nicht zu gestehen gewagt, weil ihre Eltern arm und von geringer Abkunft
waren. Mein Vater aber war ein strenger Mann; als sein Schmerz sich ein
wenig gelegt hatte, ließ er Mustapha vor sich kommen und sprach zu ihm:
„Deine Torheit hat mir den Trost meines Alters und die Freude meiner
Augen geraubt. Gehe hin, ich verbanne dich auf ewig von meinem
Angesicht, ich fluche dir und deinen Nachkommen, aber nur, wenn du mir
Fatme wiederbringst, soll dein Haupt rein sein von dem Fluche des
Vaters.“

Dies hatte mein armer Bruder nicht erwartet; schon vorher hatte er sich
entschlossen gehabt, seine Schwester und ihre Freundin aufzusuchen, und
wollte sich nur noch den Segen des Vaters dazu erbitten, und jetzt
schickte er ihn, mit dem Fluch beladen, in die Welt. Aber hatte ihn
jener Jammer vorher gebeugt, so stählte jetzt die Fülle des Unglücks,
das er nicht verdient hatte, seinen Mut.

Er ging zu dem gefangenen Seeräuber und befragte ihn, wohin die Fahrt
seines Schiffes ginge, und erfuhr, daß sie Sklavenhandel trieben und
gewöhnlich in Balsora großen Markt hielten.

Als er wieder nach Hause kam, um sich zur Reise anzuschicken, schien
sich der Zorn des Vaters ein wenig gelegt zu haben, denn er sandte ihm
einen Beutel mit Gold zur Unterstützung auf der Reise. Mustapha aber
nahm weinend von den Eltern Zoraides, so hieß seine geliebte Braut,
Abschied und machte sich auf den Weg nach Balsora.

Mustapha machte die Reise zu Land, weil von unserer kleinen Stadt aus
nicht gerade ein Schiff nach Balsora ging. Er mußte daher sehr starke
Tagreisen machen, um nicht zu lange nach den Seeräubern nach Balsora zu
kommen; doch da er ein gutes Roß und kein Gepäck hatte, konnte er
hoffen, diese Stadt am Ende des sechsten Tages zu erreichen. Aber am
Abend des vierten Tages, als er ganz allein seines Weges ritt, fielen
ihn plötzlich drei Männer an. Da er merkte, daß sie gut bewaffnet und
stark seien und daß es mehr auf sein Geld und sein Roß als auf sein
Leben abgesehen war, so rief er ihnen zu, daß er sich ihnen ergeben
wolle. Sie stiegen von ihren Pferden ab und banden ihm die Füße unter
dem Bauch seines Tieres zusammen; ihn selbst aber nahmen sie in die
Mitte und trabten, indem einer den Zügel seines Pferdes ergriff,
schnell mit ihm davon, ohne jedoch ein Wort zu sprechen.

Mustapha gab sich einer dumpfen Verzweiflung hin, der Fluch seines
Vaters schien schon jetzt an dem Unglücklichen in Erfüllung zu gehen,
und wie konnte er hoffen, seine Schwester und Zoraide zu retten, wenn
er, aller Mittel beraubt, nur sein ärmliches Leben zu ihrer Befreiung
aufwenden konnte. Mustapha und seine stummen Begleiter mochten wohl
eine Stunde geritten sein, als sie in ein kleines Seitental einbogen.
Das Tälchen war von hohen Bäumen eingefaßt; ein weicher dunkelgrüner
Rasen, ein Bach, der schnell durch seine Mitte hinrollte, luden zur
Ruhe ein. Wirklich sah er auch fünfzehn bis zwanzig Zelte dort
aufgeschlagen; an den Pflöcken der Zelte waren Kamele und schöne Pferde
angebunden, aus einem der Zelte hervor tönte die lustige Weise einer
Zither und zweier schöner Männerstimmen. Meinem Bruder schien es, als
ob Leute, die ein so fröhliches Lagerplätzchen sich erwählt hatten,
nichts Böses gegen ihn im Sinne haben könnten, und er folgte also ohne
Bangigkeit dem Ruf seiner Führer, die, als sie seine Bande gelöst
hatten, ihm winkten, abzusteigen. Man führte ihn in ein Zelt, das
größer als die übrigen und im Innern hübsch, fast zierlich aufgeputzt
war. Prächtige, goldbestickte Polster, gewirkte Fußteppiche,
übergoldete Rauchpfannen hätten anderswo Reichtum und Wohlleben
verraten; hier schienen sie nur kühner Raub. Auf einem der Polster saß
ein alter kleiner Mann; sein Gesicht war häßlich, seine Haut
schwarzbraun und glänzend, und ein widriger Zug von tückischer
Schlauheit um Augen und Mund machte seinen Anblick verhaßt. Obgleich
sich dieser Mann einiges Ansehen zu geben suchte, so merkte doch
Mustapha bald, daß nicht für ihn das Zelt so reich geschmückt sei, und
die Unterredung seiner Führer schien seine Bemerkung zu bestätigen. „Wo
ist der Starke?“ fragten sie den Kleinen.

„Er ist auf der kleinen Jagd“, antwortete jener, „aber er hat mir
aufgetragen, seine Stelle zu versehen.“

„Das hat er nicht gescheit gemacht“, entgegnete einer der Räuber, „denn
es muß sich bald entscheiden, ob dieser Hund sterben oder zahlen soll,
und das weiß der Starke besser als du.“

Der kleine Mann erhob sich im Gefühl seiner Würde, streckte sich lang
aus, um mit der Spitze seiner Hand das Ohr seines Gegners zu erreichen,
denn er schien Lust zu haben, sich durch einen Schlag zu rächen, als er
aber sah, daß seine Bemühung fruchtlos sei, fing er an zu schimpfen
(und wahrlich! Die anderen blieben ihm nichts schuldig), daß das Zelt
von ihrem Streit erdröhnte. Da tat sich auf einmal die Türe des Zeltes
auf, und herein trat ein hoher, stattlicher Mann, jung und schön wie
ein Perserprinz; seine Kleidung und seine Waffen waren, außer einem
reichbesetzten Dolch und einem glänzenden Säbel, gering und einfach;
aber sein ernstes Auge, sein ganzer Anstand gebot Achtung, ohne Furcht
einzuflößen.

„Wer ist’s, der es wagt, in meinem Zelte Streit zu beginnen?“ rief er
den Erschrockenen zu. Eine Zeitlang herrschte tiefe Stille; endlich
erzählte einer von denen, die Mustapha hergebracht hatten, wie es
gegangen sei. Da schien sich das Gesicht „des Starken“, wie sie ihn
nannten, vor Zorn zu röten. „Wann hätte ich dich je an meine Stelle
gesetzt, Hassan?“ schrie er mit furchtbarer Stimme dem Kleinen zu.
Dieser zog sich vor Furcht in sich selbst zusammen, daß er noch viel
kleiner aussah als zuvor, und schlich sich der Zelttüre zu. Ein
hinlänglicher Tritt des Starken machte, daß er in einem großen
sonderbaren Sprung zur Zelttüre hinausflog.

Als der Kleine verschwunden war, führten die drei Männer Mustapha vor
den Herrn des Zeltes, der sich indes auf die Polster gelegt hatte.
„Hier bringen wir den, welchen du uns zu fangen befohlen hast.“

Jener blickte den Gefangenen lange an und sprach sodann: „Bassa von
Sulieika! Dein eigenes Gewissen wird dir sagen, warum du vor Orbasan
stehst.“

Als mein Bruder dies hörte, warf er sich nieder vor jenem und
antwortete: „O Herr! Du scheinst im Irrtum zu sein. Ich bin ein armer
Unglücklicher, aber nicht der Bassa, den du suchst!“

Alle im Zelt waren über diese Rede erstaunt. Der Herr des Zeltes aber
sprach: „Es kann dir wenig helfen, dich zu verstellen; denn ich will
die Leute vorführen, die dich wohl kennen.“ Er befahl, Zuleima
vorzufahren. Man brachte ein altes Weib in das Zelt, das auf die Frage,
ob sie in meinem Bruder nicht den Bassa von Sulieika erkenne,
antwortete: „Jawohl!“ Und sie schwöre es beim Grab des Propheten, es
sei der Bassa und kein anderer.

„Siehst du, Erbärmlicher, wie deine List zu Wasser geworden ist!“
begann zürnend der Starke. „Du bist mir zu elend, als daß ich meinen
guten Dolch mit deinem Blut besudeln sollte, aber an den Schweif meines
Rosses will ich dich binden, morgen, wenn die Sonne aufgeht, und durch
die Wälder mit dir jagen, bis sie scheidet hinter die Hügel von
Sulieika!“

Da sank meinem armen Bruder der Mut. „Das ist der Fluch meines harten
Vaters, der mich zum schmachvollen Tode treibt“, rief er weinend, „und
auch du bist verloren, süße Schwester, auch du, Zoraide!“

„Deine Verstellung hilft dir nichts“, sprach einer der Räuber, indem er
ihm die Hände auf den Rücken band, „mach, daß du aus dem Zelte kommst!
Denn der Starke beißt sich in die Lippen und blickt nach seinem Dolch.
Wenn du noch eine Nacht leben willst, so komm!“

Als die Räuber gerade meinen Bruder aus dem Zelt führen wollten,
begegneten sie drei anderen, die einen Gefangenen vor sich hintrieben.
Sie traten mit ihm ein. „Hier bringen wir den Bassa, wie du uns
befohlen hast“, sprachen sie und führten den Gefangenen vor das Polster
des Starken. Als der Gefangene dorthin geführt wurde, hatte mein Bruder
Gelegenheit, ihn zu betrachten, und ihm selbst fiel die Ähnlichkeit
auf, die dieser Mann mit ihm hatte, nur war er dunkler im Gesicht und
hatte einen schwärzeren Bart.

Der Starke schien sehr erstaunt über die Erscheinung des zweiten
Gefangenen. „Wer von euch ist denn der Rechte?“ sprach er, indem er
bald meinen Bruder, bald den anderen Mann ansah.

„Wenn du den Bassa von Sulieika meinst“, antwortete in stolzem Ton der
Gefangene, „der bin ich!“ Der Starke sah ihn lange mit seinem ernsten,
furchtbaren Blick an; dann winkte er schweigend, den Bassa wegzuführen.

Als dies geschehen war, ging er auf meinen Bruder zu, zerschnitt seine
Bande mit dem Dolch und winkte ihm, sich zu ihm aufs Polster zu setzen.
„Es tut mir leid, Fremdling“, sagte er, „daß ich dich für jenes
Ungeheuer hielt; schreibe es aber einer sonderbaren Fügung des Himmels
zu, die dich gerade in der Stunde, welche dem Untergang jenes
Verruchten geweiht war, in die Hände meiner Brüder führte.“ Mein Bruder
bat ihn um die einzige Gunst, ihn gleich wieder weiterreisen zu lassen,
weil jeder Aufschub ihm verderblich werden könne. Der Starke erkundigte
sich nach seinen eiligen Geschäften, und als ihm Mustapha alles erzählt
hatte, überredete ihn jener, diese Nacht in seinem Zelt zu bleiben, er
und sein Roß werden der Ruhe bedürfen; den folgenden Tag aber wolle er
ihm einen Weg zeigen, der ihn in anderthalb Tagen nach Balsora
bringe—Mein Bruder schlug ein, wurde trefflich bewirtet und schlief
sanft bis zum Morgen in dem Zelt des Räubers.

Als er aufgewacht war, sah er sich ganz allein im Zelt; vor dem Vorhang
des Zeltes aber hörte er mehrere Stimmen zusammen sprechen, die dem
Herrn des Zeltes und dem kleinen schwarzbraunen Mann anzugehören
schienen. Er lauschte ein wenig und hörte zu seinem Schrecken, daß der
Kleine dringend den anderen aufforderte, den Fremden zu töten, weil er,
wenn er freigelassen würde, sie alle verraten könnte.

Mustapha merkte gleich, daß der Kleine ihm gram sei, weil er die
Ursache war, daß er gestern so übel behandelt wurde; der Starke schien
sich einige Augenblicke zu besinnen. „Nein“, sprach er, „er ist mein
Gastfreund, und das Gastrecht ist mir heilig; auch sieht er mir nicht
aus, als ob er uns verraten wollte.“

Als er so gesprochen, schlug er den Vorhang zurück und trat ein.
„Friede sei mit dir, Mustapha!“ sprach er, „laß uns den Morgentrunk
kosten, und rüste dich dann zum Aufbruch!“ Er reichte meinem Bruder
einen Becher Sorbet, und als sie getrunken hatten, zäumten sie die
Pferde auf, und wahrlich, mit leichterem Herzen, als er gekommen war,
schwang sich Mustapha aufs Pferd. Sie hatten bald die Zelte im Rücken
und schlugen dann einen breiten Pfad ein, der in den Wald führte. Der
Starke erzählte meinem Bruder, daß jener Bassa, den sie auf der Jagd
gefangen hätten, ihnen versprochen habe, sie ungefährdet in seinem
Gebiete zu dulden; vor einigen Wochen aber habe er einen ihrer
tapfersten Männer aufgefangen und nach den schrecklichsten Martern
aufhängen lassen. Er habe ihm nun lange auflauern lassen, und heute
noch müsse er sterben. Mustapha wagte es nicht, etwas dagegen
einzuwenden; denn er war froh, selbst mit heiler Haut davongekommen zu
sein.

Am Ausgang des Waldes hielt der Starke sein Pferd an, beschrieb meinem
Bruder den Weg, bot ihm die Hand zum Abschied und sprach: „Mustapha, du
bist auf sonderbare Weise der Gastfreund des Räubers Orbasan geworden;
ich will dich nicht auffordern, nicht zu verraten, was du gesehen und
gehört hast. Du hast ungerechterweise Todesangst ausgestanden, und ich
bin dir Vergütung schuldig. Nimm diesen Dolch als Andenken, und so du
Hilfe brauchst, so sende ihn mir zu, und ich will eilen, dir
beizustehen. Diesen Beutel aber kannst du vielleicht zu deiner Reise
brauchen.“ Mein Bruder dankte ihm für seinen Edelmut; er nahm den
Dolch, den Beutel aber schlug er aus. Doch Orbasan drückte ihm noch
einmal die Hand, ließ den Beutel auf die Erde fallen und sprengte mit
Sturmeseile in den Wald. Als Mustapha sah, daß er ihn doch nicht mehr
werde einholen können, stieg er ab, um den Beutel aufzuheben, und
erschrak über die Größe von seines Gastfreundes Großmut; denn der
Beutel enthielt eine Menge Gold. Er dankte Allah für seine Rettung,
empfahl ihm den edlen Räuber in seine Gnade und zog dann heiteren Mutes
weiter auf seinem Wege nach Balsora.

Lezah schwieg und sah Achmet, den alten Kaufmann, fragend an. „Nein,
wenn es so ist“, sprach dieser, „so verbessere ich gern mein Urteil von
Orbasan; denn wahrlich, an deinem Bruder hat er schön gehandelt.“

„Er hat getan wie ein braver Muselmann“, rief Muley; „aber ich hoffe,
du hast deine Geschichte damit nicht geschlossen; denn wie mich
bedünkt, sind wir alle begierig, weiter zu hören, wie es deinem Bruder
erging und ob er Fatme, deine Schwester, und die schöne Zoraide befreit
hat.“

„Wenn ich euch nicht damit langweile, erzähle ich gerne weiter“,
entgegnete Lezah, „denn die Geschichte meines Bruders ist allerdings
abenteuerlich und wundervoll.“

Am Mittag des siebenten Tages nach seiner Abreise zog Mustapha in die
Tore von Balsora ein. Sobald er in einer Karawanserei abgestiegen war,
fragte er, wann der Sklavenmarkt, der alljährlich hier gehalten werde,
anfange. Aber er erhielt die Schreckensantwort, daß er zwei Tage zu
spät komme. Man bedauerte seine Verspätung und erzählte ihm, daß er
viel verloren habe; denn noch an dem letzten Tage des Marktes seien
zwei Sklavinnen angekommen, von so hoher Schönheit, daß sie die Augen
aller Käufer auf sich gezogen hätten. Man habe sich ordentlich um sie
gerissen und geschlagen, und sie seien freilich auch zu einem so hohen
Preise verkauft worden, daß ihn nur ihr jetziger Herr nicht habe
scheuen können. Er erkundigte sich näher nach diesen beiden, und es
blieb ihm kein Zweifel, daß es die Unglücklichen seien, die er suchte.
Auch erfuhr er, daß der Mann, der sie beide gekauft habe, vierzig
Stunden von Balsora wohne und Thiuli-Kos heiße, ein vornehmer, reicher,
aber schon ältlicher Mann, der früher Kapudan-Bassa des Großherrn
gewesen, jetzt aber sich mit seinen gesammelten Reichtümern zur Ruhe
gesetzt habe.

Mustapha wollte von Anfang sich gleich wieder zu Pferd setzen, um dem
Thiuli-Kos, der kaum einen Tag Vorsprung haben konnte, nachzueilen. Als
er aber bedachte, daß er als einzelner Mann dem mächtigen Reisenden
doch nichts anhaben noch weniger seine Beute ihm abjagen konnte, sann
er auf einen anderen Plan und hatte ihn auch bald gefunden. Die
Verwechslung mit dem Bassa von Sulieika, die ihm beinahe so gefährlich
geworden wäre, brachte ihn auf den Gedanken, unter diesem Namen in das
Haus des Thiuli-Kos zu gehen und so einen Versuch zur Rettung der
beiden unglücklichen Mädchen zu wagen. Er mietete daher einige Diener
und Pferde, wobei ihm Orbasans Geld trefflich zustatten kam, schaffte
sich und seinen Dienern prächtige Kleider an und machte sich auf den
Weg nach dem Schlosse Thiulis. Nach fünf Tagen war er in die Nähe
dieses Schlosses gekommen. Es lag in einer schönen Ebene und war rings
von hohen Mauern umschlossen, die nur ganz wenig von den Gebäuden
überragt wurden. Als Mustapha dort angekommen war, färbte er Haar und
Bart schwarz, sein Gesicht aber bestrich er mit dem Saft einer Pflanze,
die ihm eine bräunliche Farbe gab, ganz wie sie jener Bassa gehabt
hatte. Er schickte hierauf einen seiner Diener in das Schloß und ließ
im Namen des Bassa von Sulieika um ein Nachtlager bitten. Der Diener
kam bald wieder, und mit ihm vier schöngekleidete Sklaven, die
Mustaphas Pferd am Zügel nahmen und in den Schloßhof führten. Dort
halfen sie ihm selbst vom Pferd, und vier andere geleiteten ihn eine
breite Marmortreppe hinauf zu Thiuli.

Dieser, ein alter, lustiger Geselle, empfing meinen Bruder ehrerbietig
und ließ ihm das Beste, was sein Koch zubereiten konnte, aufsetzen.
Nach Tisch brachte Mustapha das Gespräch nach und nach auf die neuen
Sklavinnen, und Thiuli rühmte ihre Schönheit und beklagte nur, daß sie
immer so traurig seien; doch er glaubte, dieses würde sich bald geben.
Mein Bruder war sehr vergnügt über diesen Empfang und legte sich mit
den schönsten Hoffnungen zur Ruhe nieder.

Er mochte ungefähr eine Stunde geschlafen haben, da weckte ihn der
Schein einer Lampe, der blendend auf sein Auge fiel. Als er sich
aufrichtete, glaubte er noch zu träumen; denn vor ihm stand jener
kleine, schwarzbraune Kerl aus Orbasans Zelt, eine Lampe in der Hand,
sein breites Maul zu einem widrigen Lächeln verzogen. Mustapha zwickte
sich in den Arm, zupfte sich an der Nase, um sich zu überzeugen, ob er
denn wache; aber die Erscheinung blieb wie zuvor. „Was willst du an
meinem Bette?“ rief Mustapha, als er sich von seinem Erstaunen erholt
hatte.

„Bemühet Euch doch nicht so, Herr!“ sprach der Kleine. „Ich habe wohl
erraten, weswegen Ihr hierherkommt. Auch war mir Euer wertes Gesicht
noch wohl erinnerlich; doch wahrlich, wenn ich nicht den Bassa mit
eigener Hand hätte erhängen helfen, so hättet Ihr mich vielleicht
getäuscht. Jetzt aber bin ich da, um eine Frage zu machen.“

„Vor allem sage, wie du hierherkommst“, entgegnete ihm Mustapha voll
Wut, daß er verraten war.

„Das will ich Euch sagen“, antwortete jener, „ich konnte mich mit dem
Starken nicht länger vertragen, deswegen floh ich; aber du, Mustapha,
warst eigentlich die Ursache unseres Streites, und dafür mußt du mir
deine Schwester zur Frau geben, und ich will Euch zur Flucht behilflich
sein; gibst du sie nicht, so gehe ich zu meinem neuen Herrn und erzähle
ihm etwas von dem neuen Bassa.“

Mustapha war vor Schrecken und Wut außer sich; jetzt, wo er sich am
sicheren Ziel seiner Wünsche glaubte, sollte dieser Elende kommen und
sie vereiteln; es war nur ein Mittel, das seinen Plan retten konnte: Er
mußte das kleine Ungetüm töten. Mit einem Sprung fuhr er daher aus dem
Bette auf den Kleinen zu; doch dieser, der etwas Solches geahnt haben
mochte, ließ die Lampe fallen, daß sie verlöschte, und entsprang im
Dunkeln, indem er mörderisch um Hilfe schrie.

Jetzt war guter Rat teuer; die Mädchen mußte er für den Augenblick
aufgeben und nur auf die eigene Rettung denken; daher ging er an das
Fenster, um zu sehen, ob er nicht entspringen könnte. Es war eine
ziemliche Tiefe bis zum Boden, und auf der anderen Seite stand eine
hohe Mauer, die zu übersteigen war. Sinnend stand er an dem Fenster; da
hörte er viele Stimmen sich seinem Zimmer nähern; schon waren sie an
der Türe; da faßte er verzweiflungsvoll seinen Dolch und seine Kleider
und schwang sich zum Fenster hinaus. Der Fall war hart; aber er fühlte,
daß er kein Glied gebrochen hatte; drum sprang er auf und lief der
Mauer zu, die den Hof umschloß, stieg, zum Erstaunen seiner Verfolger,
hinauf und befand sich bald im Freien. Er floh, bis er an einen kleinen
Wald kam, wo er sich erschöpft niederwarf. Hier überlegte er, was zu
tun sei.

Seine Pferde und seine Diener hatte er im Stiche lassen müssen; aber
sein Geld, das er in dem Gürtel trug, hatte er gerettet.

Sein erfinderischer Kopf zeigte ihm bald einen anderen Weg zur Rettung.
Er ging in dem Wald weiter, bis er an ein Dorf kam, wo er um geringen
Preis ein Pferd kaufte, das ihn in Bälde in eine Stadt trug. Dort
forschte er nach einem Arzt, und man riet ihm einen alten, erfahrenen
Mann. Diesen bewog er durch einige Goldstücke, daß er ihm eine Arznei
mitteilte, die einen todähnlichen Schlaf herbeiführte, der durch ein
anderes Mittel augenblicklich wieder gehoben werden könnte. Als er im
Besitz dieses Mittels war, kaufte er sich einen langen falschen Bart,
einen schwarzen Talar und allerlei Büchsen und Kolben, so daß er
füglich einen reisenden Arzt vorstellen konnte, lud seine Sachen auf
einen Esel und reiste in das Schloß des Thiuli-Kos zurück. Er durfte
gewiß sein, diesmal nicht erkannt zu werden, denn der Bart entstellte
ihn so, daß er sich selbst kaum mehr kannte. Bei Thiuli angekommen,
ließ er sich als den Arzt Chakamankabudibaba anmelden, und, wie er es
gedacht hatte, geschah es; der prachtvolle Namen empfahl ihn bei dem
alten Narren ungemein, so daß er ihn gleich zur Tafel einlud.

Chakamankabudibaba erschien vor Thiuli, und als sie sich kaum eine
Stunde besprochen hatten, beschloß der Alte, alle seine Sklavinnen der
Kur des weisen Arztes zu unterwerfen. Dieser konnte seine Freude kaum
verbergen, daß er jetzt seine geliebte Schwester wiedersehen solle, und
folgte mit klopfendem Herzen Thiuli, der ihn ins Serail führte. Sie
waren in ein Zimmer gekommen, das schön ausgeschmückt war, worin sich
aber niemand befand. „Chambaba oder wie du heißt, lieber Arzt“, sprach
Thiuli-Kos, „betrachte einmal jenes Loch dort in der Mauer, dort wird
jede meiner Sklavinnen einen Arm herausstrecken, und du kannst dann
untersuchen, ob der Puls krank oder gesund ist.“ Mustapha mochte
einwenden, was er wollte, zu sehen bekam er sie nicht; doch willigte
Thiuli ein, daß er ihm allemal sagen wolle, wie sie sich sonst
gewöhnlich befänden. Thiuli zog nun einen langen Zettel aus dem Gürtel
und begann mit lauter Stimme seine Sklavinnen einzeln beim Namen zu
rufen, worauf allemal eine Hand aus der Mauer kam und der Arzt den Puls
untersuchte. Sechs waren schon abgelesen und sämtlich für gesund
erklärt; da las Thiuli als die siebente „Fatme“ ab, und eine kleine
weiße Hand schlüpfte aus der Mauer. Zitternd vor Freude, ergreift
Mustapha diese Hand und erklärt sie mit wichtiger Miene für bedeutend
krank. Thiuli ward sehr besorgt und befahl seinem weisen
Chakamankabudibaba, schnell eine Arznei für sie zu bereiten. Der Arzt
ging hinaus, schrieb auf einen kleinen Zettel: Fatme! Ich will Dich
retten, wenn Du Dich entschließen kannst, eine Arznei zu nehmen, die
Dich auf zwei Tage tot macht; doch ich besitze das Mittel, Dich wieder
zum Leben zu bringen. Willst Du, so sage nur, dieser Trank habe nicht
geholfen, und es soll mir ein Zeichen sein, daß Du einwilligst.

Bald kam er in das Zimmer zurück, wo Thiuli seiner harrte. Er brachte
ein unschädliches Tränklein mit, fühlte der kranken Fatme noch einmal
den Puls und schob ihr zugleich den Zettel unter ihr Armband; das
Tränklein aber reichte er ihr durch die Öffnung in der Mauer. Thiuli
schien in großen Sorgen wegen Fatme zu sein und schob die Untersuchung
der übrigen bis auf eine gelegenere Zeit auf. Als er mit Mustapha das
Zimmer verlassen hatte, sprach er in traurigem Ton: „Chadibaba, sage
aufrichtig, was hältst du von Fatmes Krankheit?“

Chakamankabudibaba antwortete mit einem tiefen Seufzer: „Ach Herr, möge
der Prophet dir Trost verleihen! Sie hat ein schleichendes Fieber, das
ihr wohl den Garaus machen kann.“ Da entbrannte der Zorn Thiulis: „Was
sagst du, verfluchter Hund von einem Arzt? Sie, um die ich zweitausend
Goldstücke gab, soll mir sterben wie eine Kuh? Wisse, wenn du sie nicht
rettest, so hau’ ich dir den Kopf ab!“ Da merkte mein Bruder, daß er
einen dummen Streich gemacht habe, und gab Thiuli wieder Hoffnung. Als
sie noch so sprachen, kam ein schwarzer Sklave aus dem Serail, dem Arzt
zu sagen, daß das Tränklein nicht geholfen habe. „Biete deine ganze
Kunst auf, Chakamdababelba, oder wie du dich schreibst, ich zahle dir,
was du willst“, schrie Thiuli-Kos, fast heulend vor Angst, so viel Gold
zu verlieren.

„Ich will ihr ein Säftlein geben, das sie von aller Not befreit“,
antwortete der Arzt.

„Ja! Ja! Gib ihr ein Säftlein“, schluchzte der alte Thiuli.

Frohen Mutes ging Mustapha, seinen Schlaftrunk zu holen, und als er ihn
dem schwarzen Sklaven gegeben und gezeigt hatte, wieviel man auf einmal
nehmen müsse, ging er zu Thiuli und sagte, er müsse noch einige
heilsame Kräuter am See holen, und eilte zum Tor hinaus. An dem See,
der nicht weit von dem Schloß entfernt war, zog er seine falschen
Kleider aus und warf sie ins Wasser, daß sie lustig umherschwammen; er
selbst aber verbarg sich im Gesträuch, wartete die Nacht ab und schlich
sich dann in den Begräbnisplatz an dem Schlosse Thiulis.

Als Mustapha kaum eine Stunde lang aus dem Schloß abwesend sein mochte,
brachte man Thiuli die schreckliche Nachricht, daß seine Sklavin Fatme
im Sterben liege. Er schickte hinaus an den See, um schnell den Arzt zu
holen; aber bald kehrten seine Boten allein zurück und erzählten ihm,
daß der arme Arzt ins Wasser gefallen und ertrunken sei; seinen
schwarzen Talar sehe man im See schwimmen, und hier und da gucke auch
sein stattlicher Bart aus den Wellen hervor. Als Thiuli keine Rettung
mehr sah, verwünschte er sich und die ganze Welt, raufte sich den Bart
aus und rannte mit dem Kopf gegen die Mauer. Aber alles dies konnte
nichts helfen; denn Fatme gab bald unter den Händen der übrigen Weiber
den Geist auf. Als Thiuli die Nachricht ihres Todes hörte, befahl er,
schnell einen Sarg zu machen; denn er konnte keinen Toten im Hause
leiden und ließ den Leichnam in das Begräbnishaus tragen. Die Träger
brachten den Sarg dorthin, setzten ihn schnell nieder und entflohen,
denn sie hatten unter den übrigen Särgen Stöhnen und Seufzen gehört.

Mustapha, der sich hinter den Särgen verborgen und von dort aus die
Träger des Sarges in die Flucht gejagt hatte, kam hervor und zündete
sich eine Lampe an, die er zu diesem Zweck mitgebracht hatte. Dann zog
er ein Glas hervor, das die erweckende Arznei enthielt, und hob dann
den Deckel von Fatmes Sarg. Aber welches Entsetzen befiel ihn, als sich
ihm beim Scheine der Lampe ganz fremde Züge zeigten! Weder meine
Schwester noch Zoraide, sondern eine ganz andere lag in dem Sarg. Er
brauchte lange, um sich von dem neuen Schlag des Schicksals zu fassen;
endlich überwog doch Mitleid seinen Zorn. Er öffnete sein Glas und
flößte ihr die Arznei ein. Sie atmete, sie schlug die Augen auf und
schien sich lange zu besinnen, wo sie sei. Endlich erinnerte sie sich
des Vorgefallenen; sie stand auf aus dem Sarg und stürzte zu Mustaphas
Füßen. „Wie kann ich dir danken, gütiges Wesen“, rief sie aus, „daß du
mich aus meiner schrecklichen Gefangenschaft befreitest!“ Mustapha
unterbrach ihre Danksagungen mit der Frage, wie es denn geschehen sei,
daß sie und nicht Fatme, seine Schwester, gerettet worden sei? Jene sah
ihn staunend an. „Jetzt wird mir meine Rettung erst klar, die mir
vorher unbegreiflich war“, antwortete sie; „wisse, man hieß mich in
jenem Schloß Fatme, und mir hast du deinen Zettel und den Rettungstrank
gegeben.“ Mein Bruder forderte die Gerettete auf, ihm von seiner
Schwester und Zoraide Nachricht zu geben, und erfuhr, daß sie sich
beide im Schloß befanden, aber nach der Gewohnheit Thiulis andere Namen
bekommen hatten; sie hießen jetzt Mirza und Nurmahal.“

Als Fatme, die gerettete Sklavin, sah, daß mein Bruder durch diesen
Fehlgriff so niedergeschlagen sei, sprach sie ihm Mut ein und
versprach, ihm ein Mittel zu sagen, wie er jene beiden Mädchen dennoch
retten könne. Aufgeweckt durch diesen Gedanken, schöpfte Mustapha von
neuem Hoffnung und bat sie, dieses Mittel ihm zu nennen, und sie
sprach:

„Ich bin zwar erst seit fünf Monaten die Sklavin Thiulis, doch habe ich
gleich von Anfang auf Rettung gesonnen; aber für mich allein war sie zu
schwer. In dem inneren Hof des Schlosses wirst du einen Brunnen bemerkt
haben, der aus zehn Röhren Wasser speit; dieser Brunnen fiel mir auf.
Ich erinnerte mich, in dem Hause meines Vaters einen ähnlichen gesehen
zu haben, dessen Wasser durch eine geräumige Wasserleitung
herbeiströmt; um nun zu erfahren, ob dieser Brunnen auch so gebaut ist,
rühmte ich eines Tages vor Thiuli seine Pracht und fragte nach seinem
Baumeister. *Ich selbst habe ihn gebaut*, antwortete er, *und das, was
du hier siehst, ist noch das Geringste; aber das Wasser dazu kommt
wenigstens tausend Schritte weit von einem Bach her und geht durch eine
gewölbte Wasserleitung, die wenigstens mannshoch ist; und alles dies
habe ich selbst angegeben.* Als ich dies gehört hatte, wünschte ich mir
oft, nur auf einen Augenblick die Stärke eines Mannes zu haben, um
einen Stein an der Seite des Brunnens ausheben zu können; dann könnte
ich fliehen, wohin ich wollte. Die Wasserleitung nun will ich dir
zeigen; durch sie kannst du nachts in das Schloß gelangen und jene
befreien. Aber du mußt wenigstens noch zwei Männer bei dir haben, um
die Sklaven, die das Serail bei Nacht bewachen, zu überwältigen.“

So sprach sie; mein Bruder Mustapha aber, obgleich schon zweimal in
seinen Hoffnungen getäuscht, faßte noch einmal Mut und hoffte mit
Allahs Hilfe den Plan der Sklavin auszuführen. Er versprach ihr, für
ihr weiteres Fortkommen in ihre Heimat zu sorgen, wenn sie ihm
behilflich sein wollte, ins Schloß zu gelangen. Aber ein Gedanke machte
ihm noch Sorge, nämlich der, woher er zwei oder drei treue Gehilfen
bekommen könnte. Da fiel ihm Orbasans Dolch ein und das Versprechen,
das ihm jener gegeben hatte, ihm, wo er seiner bedürfe, zu Hilfe zu
eilen, und er machte sich daher mit Fatme aus dem Begräbnis auf, um den
Räuber aufzusuchen.

In der nämlichen Stadt, wo er sich zum Arzt umgewandelt hatte, kaufte
er um sein letztes Geld ein Roß und mietete Fatme bei einer armen Frau
in der Vorstadt ein. Er selbst aber eilte dem Gebirge zu, wo er Orbasan
zum erstenmal getroffen hatte, und gelangte in drei Tagen dahin. Er
fand bald wieder jene Zelte und trat unverhofft vor Orbasan, der ihn
freundlich bewillkommnete. Er erzählte ihm seine mißlungenen Versuche,
wobei sich der ernsthafte Orbasan nicht enthalten konnte, hier und da
ein wenig zu lachen, besonders, wenn er sich den Arzt
Chakamankabudibaba dachte. Über die Verräterei des Kleinen aber war er
wütend; er schwur, ihn mit eigener Hand aufzuhängen, wo er ihn finde.
Meinem Bruder aber versprach er, sogleich zur Hilfe bereit zu sein,
wenn er sich vorher von der Reise gestärkt haben würde. Mustapha blieb
daher diese Nacht wieder in Orbasans Zelt; mit dem ersten Frührot aber
brachen sie auf, und Orbasan nahm drei seiner tapfersten Männer, wohl
beritten und bewaffnet, mit sich. Sie ritten stark zu und kamen nach
zwei Tagen in die kleine Stadt, wo Mustapha die gerettete Fatme
zurückgelassen hatte. Von da aus reisten sie mit dieser weiter bis zu
dem kleinen Wald, von wo aus man das Schloß Thiulis in geringer
Entfernung sehen konnte; dort lagerten sie sich, um die Nacht
abzuwarten.

Sobald es dunkel wurde, schlichen sie sich, von Fatme geführt, an den
Bach, wo die Wasserleitung anfing, und fanden diese bald. Dort ließen
sie Fatme und einen Diener mit den Rossen zurück und schickten sich an,
hinabzusteigen; ehe sie aber hinabstiegen, wiederholte ihnen Fatme noch
einmal alles genau, nämlich: daß sie durch den Brunnen in den inneren
Schloßhof kämen, dort seien rechts und links in der Ecke zwei Türme, in
der sechsten Türe, vom Turme rechts gerechnet, befänden sich Fatme und
Zoraide, bewacht von zwei schwarzen Sklaven. Mit Waffen und Brecheisen
wohl versehen, stiegen Mustapha, Orbasan und zwei andere Männer hinab
in die Wasserleitung; sie sanken zwar bis an den Gürtel ins Wasser;
aber nichtsdestoweniger gingen sie rüstig vorwärts. Nach einer halben
Stunde kamen sie an den Brunnen selbst und setzten sogleich ihre
Brecheisen an. Die Mauer war dick und fest; aber den vereinten Kräften
der vier Männer konnte sie nicht lange widerstehen; bald hatten sie
eine Öffnung eingebrochen, groß genug, um bequem durchschlüpfen zu
können. Orbasan schlüpfte zuerst durch und half den anderen nach. Als
sie alle im Hof waren, betrachteten sie die Seite des Schlosses, die
vor ihnen lag, um die beschriebene Türe zu erforschen. Aber sie waren
nicht einig, welche es sei; denn als sie von dem rechten Turm zum
linken zählten, fanden sie eine Türe, die zugemauert war, und wußten
nun nicht, ob Fatme diese übersprungen oder mitgezählt habe. Aber
Orbasan besann sich nicht lange. „Mein gutes Schwert wird mir jede Tür
öffnen“, rief er aus, ging auf die sechste Türe zu, und die anderen
folgten ihm.

Sie öffneten die Türe und fanden sechs schwarze Sklaven auf dem Boden
liegend und schlafend; sie wollten schon wieder leise sich
zurückziehen, weil sie sahen, daß sie die rechte Türe verfehlt hatten,
als eine Gestalt in der Ecke sich aufrichtete und mit wohlbekannter
Stimme um Hilfe rief. Es war der Kleine aus Orbasans Lager. Aber ehe
noch die Schwarzen recht wußten, wie ihnen geschah, stürzte Orbasan auf
den Kleinen zu, riß seinen Gürtel entzwei, verstopfte ihm den Mund und
band ihm die Hände auf den Rücken; dann wandte er sich an die Sklaven,
wovon schon einige von Mustapha und den zwei anderen halb gebunden
waren, und half sie vollends überwältigen. Man setzte den Sklaven den
Dolch auf die Brust und fragte sie, wo Nurmahal und Nürza wären, und
sie gestanden, daß sie im Gemach nebenan seien. Mustapha stürzte in das
Gemach und fand Fatme und Zoraide, die der Lärm erweckt hatte. Schnell
rafften diese ihren Schmuck und ihre Kleider zusammen und folgten
Mustapha; die beiden Räuber schlugen indes Orbasan vor, zu plündern,
was man fände; doch dieser verbot es ihnen und sprach: „Man soll nicht
von Orbasan sagen können, daß er nachts in die Häuser steige, um Gold
zu stehlen!“ Mustapha und die Geretteten schlüpften schnell in die
Wasserleitung, wohin ihnen Orbasan sogleich zu folgen versprach. Als
jene in die Wasserleitung hinabgestiegen waren, nahmen Orbasan und
einer der Räuber den Kleinen und führten ihn hinaus in den Hof; dort
banden sie ihm eine seidene Schnur, die sie deshalb mitgenommen hatten,
um den Hals und hingen ihn an der höchsten Spitze des Brunnens auf.
Nachdem sie so den Verrat des Elenden bestraft hatten, stiegen sie
selbst hinab in die Wasserleitung und folgten Mustapha. Mit Tränen
dankten die beiden ihrem edelmütigen Retter Orbasan; doch dieser trieb
sie eilends zur Flucht an, denn es war sehr wahrscheinlich, daß sie
Thiuli-Kos nach allen Seiten verfolgen ließ. Mit tiefer Rührung
trennten sich am anderen Tag Mustapha und seine Geretteten von Orbasan;
wahrlich, sie werden ihn nie vergessen. Fatme aber, die befreite
Sklavin, ging verkleidet nach Balsora, um sich dort in ihre Heimat
einzuschiffen.

Nach einer kurzen und vergnügten Reise kamen die Meinigen in die
Heimat. Meinen alten Vater tötete beinahe die Freude des Wiedersehens;
den anderen Tag nach ihrer Ankunft veranstaltete er ein großes Fest, an
welchem die ganze Stadt teilnahm. Vor einer großen Versammlung von
Verwandten und Freunden mußte mein Bruder seine Geschichte erzählen,
und einstimmig priesen sie ihn und den edlen Räuber.

Als aber mein Bruder geschlossen hatte, stand mein Vater auf und führte
Zoraide ihm zu. „So löse ich denn“, sprach er mit feierlicher Stimme,
„den Fluch von deinem Haupte; nimm diese hin als die Belohnung, die du
dir durch deinen rastlosen Eifer erkämpft hast; nimm meinen väterlichen
Segen, und möge es nie unserer Stadt an Männern fehlen, die an
brüderlicher Liebe, an Klugheit und Eifer dir gleichen!“

Die Karawane hatte das Ende der Wüste erreicht, und fröhlich begrüßten
die Reisenden die grünen Matten und die dichtbelaubten Bäume, deren
lieblichen Anblick sie viele Tage entbehrt hatten. In einem schönen
Tale lag eine Karawanserei, die sie sich zum Nachtlager wählten, und
obgleich sie wenig Bequemlichkeit und Erfrischung darbot, so war doch
die ganze Gesellschaft heiterer und zutraulicher als je; denn der
Gedanke, den Gefahren und Beschwerlichkeiten, die eine Reise durch die
Wüste mit sich bringt, entronnen zu sein, hatte alle Herzen geöffnet
und die Gemüter zu Scherz und Kurzweil gestimmt. Muley, der junge
lustige Kaufmann, tanzte einen komischen Tanz und sang Lieder dazu, die
selbst dem ernsten Griechen Zaleukos ein Lächeln entlockten. Aber nicht
genug, daß er seine Gefährten durch Tanz und Spiel erheitert hatte, er
gab ihnen auch noch die Geschichte zum besten, die er ihnen versprochen
hatte, und hub, als er von seinen Luftsprüngen sich erholt hatte, also
zu erzählen an: Die Geschichte von dem kleinen Muck.



Die Geschichte von dem kleinen Muck

Wilhelm Hauff


In Nicea, meiner lieben Vaterstadt, wohnte ein Mann, den man den
kleinen Muck hieß. Ich kann mir ihn, ob ich gleich damals noch sehr
jung war, noch recht wohl denken, besonders weil ich einmal von meinem
Vater wegen seiner halbtot geprügelt wurde. Der kleine Muck nämlich war
schon ein alter Geselle, als ich ihn kannte; doch war er nur drei bis
vier Schuh hoch, dabei hatte er eine sonderbare Gestalt, denn sein
Leib, so klein und zierlich er war, mußte einen Kopf tragen, viel
größer und dicker als der Kopf anderer Leute; er wohnte ganz allein in
einem großen Haus und kochte sich sogar selbst, auch hätte man in der
Stadt nicht gewußt, ob er lebe oder gestorben sei, denn er ging nur
alle vier Wochen einmal aus, wenn nicht um die Mittagsstunde ein
mächtiger Dampf aus dem Hause aufgestiegen wäre, doch sah man ihn oft
abends auf seinem Dache auf und ab gehen, von der Straße aus glaubte
man aber, nur sein großer Kopf allein laufe auf dem Dache umher. Ich
und meine Kameraden waren böse Buben, die jedermann gerne neckten und
belachten, daher war es uns allemal ein Festtag, wenn der kleine Muck
ausging; wir versammelten uns an dem bestimmten Tage vor seinem Haus
und warteten, bis er herauskam; wenn dann die Türe aufging und zuerst
der große Kopf mit dem noch größeren Turban herausguckte, wenn das
übrige Körperlein nachfolgte, angetan mit einem abgeschabten Mäntelein,
weiten Beinkleidern und einem breiten Gürtel, an welchem ein langer
Dolch hing, so lang, daß man nicht wußte, ob Muck an dem Dolch, oder
der Dolch an Muck stak, wenn er so heraustrat, da ertönte die Luft von
unserem Freudengeschrei, wir warfen unsere Mützen in die Höhe und
tanzten wie toll um ihn her. Der kleine Muck aber grüßte uns mit
ernsthaftem Kopfnicken und ging mit langsamen Schritten die Straße
hinab. Wir Knaben liefen hinter ihm her und schrien immer: „Kleiner
Muck, kleiner Muck!“ Auch hatten wir ein lustiges Verslein, das wir ihm
zu Ehren hier und da sangen; es hieß:

„Kleiner Muck, kleiner Muck,
Wohnst in einem großen Haus,
Gehst nur all vier Wochen aus,
Bist ein braver, kleiner Zwerg,
Hast ein Köpflein wie ein Berg,
Schau dich einmal um und guck,
Lauf und fang uns, kleiner Muck!“


So hatten wir schon oft unsere Kurzweil getrieben, und zu meiner
Schande muß ich es gestehen, ich trieb’s am ärgsten; denn ich zupfte
ihn oft am Mäntelein, und einmal trat ich ihm auch von hinten auf die
großen Pantoffeln, daß er hinfiel. Dies kam mir nun höchst lächerlich
vor, aber das Lachen verging mir, als ich den kleinen Muck auf meines
Vaters Haus zugehen sah. Er ging richtig hinein und blieb einige Zeit
dort. Ich versteckte mich an der Haustüre und sah den Muck wieder
herauskommen, von meinem Vater begleitet, der ihn ehrerbietig an der
Hand hielt und an der Türe unter vielen Bücklingen sich von ihm
verabschiedete. Mir war gar nicht wohl zumute; ich blieb daher lange in
meinem Versteck; endlich aber trieb mich der Hunger, den ich ärger
fürchtete als Schläge, heraus, und demütig und mit gesenktem Kopf trat
ich vor meinen Vater. „Du hast, wie ich höre, den guten Muck
beschimpft?“ sprach er in sehr ernstem Tone. „Ich will dir die
Geschichte dieses Muck erzählen, und du wirst ihn gewiß nicht mehr
auslachen; vor- und nachher aber bekommst du das Gewöhnliche.“ Das
Gewöhnliche aber waren fünfundzwanzig Hiebe, die er nur allzu richtig
aufzuzählen pflegte. Er nahm daher sein langes Pfeifenrohr, schraubte
die Bernsteinmundspitze ab und bearbeitete mich ärger als je zuvor.

Als die Fünfundzwanzig voll waren, befahl er mir, aufzumerken, und
erzählte mir von dem kleinen Muck:

Der Vater des kleinen Muck, der eigentlich Muckrah heißt, war ein
angesehener, aber armer Mann hier in Nicea. Er lebte beinahe so
einsiedlerisch wie jetzt sein Sohn. Diesen konnte er nicht wohl leiden,
weil er sich seiner Zwerggestalt schämte, und ließ ihn daher auch in
Unwissenheit aufwachsen. Der kleine Muck war noch in seinem sechzehnten
Jahr ein lustiges Kind, und der Vater, ein ernster Mann, tadelte ihn
immer, daß er, der schon längst die Kinderschuhe zertreten haben
sollte, noch so dumm und läppisch sei.

Der Alte tat aber einmal einen bösen Fall, an welchem er auch starb und
den kleinen Muck arm und unwissend zurückließ. Die harten Verwandten,
denen der Verstorbene mehr schuldig war, als er bezahlen konnte, jagten
den armen Kleinen aus dem Hause und rieten ihm, in die Welt
hinauszugehen und sein Glück zu suchen. Der kleine Muck antwortete, er
sei schon reisefertig, bat sich aber nur noch den Anzug seines Vaters
aus, und dieser wurde ihm auch bewilligt. Sein Vater war ein großer,
starker Mann gewesen, daher paßten die Kleider nicht. Muck aber wußte
bald Rat; er schnitt ab, was zu lang war, und zog dann die Kleider an.
Er schien aber vergessen zu haben, daß er auch in der Weite davon
schneiden müsse, daher sein sonderbarer Aufzug, wie er noch heute zu
sehen ist; der große Turban, der breite Gürtel, die weiten Hosen, das
blaue Mäntelein, alles dies sind Erbstücke seines Vaters, die er
seitdem getragen; den langen Damaszenerdolch seines Vaters aber steckte
er in den Gürtel, ergriff ein Stöcklein und wanderte zum Tor hinaus.

Fröhlich wanderte er den ganzen Tag; denn er war ja ausgezogen, um sein
Glück zu suchen; wenn er eine Scherbe auf der Erde im Sonnenschein
glänzen sah, so steckte er sie gewiß zu sich, im Glauben, daß sie sich
in den schönsten Diamanten verwandeln werde; sah er in der Ferne die
Kuppel einer Moschee wie Feuer strahlen, sah er einen See wie einen
Spiegel blinken, so eilte er voll Freude darauf zu; denn er dachte, in
einem Zauberland angekommen zu sein. Aber ach! Jene Trugbilder
verschwanden in der Nähe, und nur allzubald erinnerten ihn seine
Müdigkeit und sein vor Hunger knurrender Magen, daß er noch im Lande
der Sterblichen sich befinde. So war er zwei Tage gereist unter Hunger
und Kummer und verzweifelte, sein Glück zu finden; die Früchte des
Feldes waren seine einzige Nahrung, die harte Erde sein Nachtlager. Am
Morgen des dritten Tages erblickte er von einer Anhöhe eine große
Stadt.

Hell leuchtete der Halbmond auf ihren Zinnen, bunte Fahnen schimmerten
auf den Dächern und schienen den kleinen Muck zu sich herzuwinken.
Überrascht stand er stille und betrachtete Stadt und Gegend. „Ja, dort
wird Klein-Muck sein Glück finden“, sprach er zu sich und machte trotz
seiner Müdigkeit einen Luftsprung, „dort oder nirgends.“ Er raffte alle
seine Kräfte zusammen und schritt auf die Stadt zu. Aber obgleich sie
ganz nahe schien, konnte er sie doch erst gegen Mittag erreichen; denn
seine kleinen Glieder versagten ihm beinahe gänzlich ihren Dienst, und
er mußte sich oft in den Schatten einer Palme setzen, um auszuruhen.
Endlich war er an dem Tor der Stadt angelangt. Er legte sein Mäntelein
zurecht, band den Turban schöner um, zog den Gürtel noch breiter an und
steckte den langen Dolch schiefer; dann wischte er den Staub von den
Schuhen, ergriff sein Stöcklein und ging mutig zum Tor hinein.

Er hatte schon einige Straßen durchwandert; aber nirgends öffnete sich
ihm die Türe, nirgends rief man, wie er sich vorgestellt hatte:
„Kleiner Muck, komm herein und iß und trink und laß deine Füßlein
ausruhen!“

Er schaute gerade auch wieder recht sehnsüchtig an einem großen,
schönen Haus hinauf; da öffnete sich ein Fenster, eine alte Frau
schaute heraus und rief mit singender Stimme:

„Herbei, herbei!
Gekocht ist der Brei,
Den Tisch ließ ich decken,
Drum laßt es euch schmecken;
Ihr Nachbarn herbei,
Gekocht ist der Brei.“


Die Türe des Hauses öffnete sich, und Muck sah viele Hunde und Katzen
hineingehen. Er stand einige Augenblicke in Zweifel, ob er der
Einladung folgen sollte; endlich aber faßte er sich ein Herz und ging
in das Haus. Vor ihm her gingen ein paar junge Kätzlein, und er
beschloß, ihnen zu folgen, weil sie vielleicht die Küche besser wüßten
als er.

Als Muck die Treppe hinaufgestiegen war, begegnete er jener alten Frau,
die zum Fenster herausgeschaut hatte. Sie sah ihn mürrisch an und
fragte nach seinem Begehr. „Du hast ja jedermann zu deinem Brei
eingeladen“, antwortete der kleine Muck, „und weil ich so gar hungrig
bin, bin ich auch gekommen.“

Die Alte lachte und sprach: „Woher kommst du denn, wunderlicher Gesell?
Die ganze Stadt weiß, daß ich für niemand koche als für meine lieben
Katzen, und hier und da lade ich ihnen Gesellschaft aus der
Nachbarschaft ein, wie du siehst.“

Der kleine Muck erzählte der alten Frau, wie es ihm nach seines Vaters
Tod so hart ergangen sei, und bat sie, ihn heute mit ihren Katzen
speisen zu lassen. Die Frau, welcher die treuherzige Erzählung des
Kleinen wohl gefiel, erlaubte ihm, ihr Gast zu sein, und gab ihm
reichlich zu essen und zu trinken. Als er gesättigt und gestärkt war,
betrachtete ihn die Frau lange und sagte dann: „Kleiner Muck, bleibe
bei mir in meinem Dienste! Du hast geringe Mühe und sollst gut gehalten
sein.“

Der kleine Muck, dem der Katzenbrei geschmeckt hatte, willigte ein und
wurde also der Bedienstete der Frau Ahavzi. Er hatte einen leichten,
aber sonderbaren Dienst. Frau Ahavzi hatte nämlich zwei Kater und vier
Katzen, diesen mußte der kleine Muck alle Morgen den Pelz kämmen und
mit köstlichen Salben einreiben; wenn die Frau ausging, mußte er auf
die Katzen Achtung geben, wenn sie aßen, mußte er ihnen die Schüsseln
vorlegen, und nachts mußte er sie auf seidene Polster legen und sie mit
samtenen Decken einhüllen. Auch waren noch einige kleine Hunde im Haus,
die er bedienen mußte, doch wurden mit diesen nicht so viele Umstände
gemacht wie mit den Katzen, welche Frau Ahavzi wie ihre eigenen Kinder
hielt. Übrigens führte Muck ein so einsames Leben wie in seines Vaters
Haus, denn außer der Frau sah er den ganzen Tag nur Hunde und Katzen.
Eine Zeitlang ging es dem kleinen Muck ganz gut; er hatte immer zu
essen und wenig zu arbeiten, und die alte Frau schien recht zufrieden
mit ihm zu sein, aber nach und nach wurden die Katzen unartig, wenn die
Alte ausgegangen war, sprangen sie wie besessen in den Zimmern umher,
warfen alles durcheinander und zerbrachen manches schöne Geschirr, das
ihnen im Weg stand. Wenn sie aber die Frau die Treppe heraufkommen
hörten, verkrochen sie sich auf ihre Polster und wedelten ihr mit den
Schwänzen entgegen, wie wenn nichts geschehen wäre. Die Frau Ahavzi
geriet dann in Zorn, wenn sie ihre Zimmer so verwüstet sah, und schob
alles auf Muck, er mochte seine Unschuld beteuern, wie er wollte, sie
glaubte ihren Katzen, die so unschuldig aussahen, mehr als ihrem
Diener.

Der kleine Muck war sehr traurig, daß er also auch hier sein Glück
nicht gefunden hatte, und beschloß bei sich, den Dienst der Frau Ahavzi
zu verlassen. Da er aber auf seiner ersten Reise erfahren hatte, wie
schlecht man ohne Geld lebt, so beschloß er, den Lohn, den ihm seine
Gebieterin immer versprochen, aber nie gegeben hatte, sich auf
irgendeine Art zu verschaffen. Es befand sich in dem Hause der Frau
Ahavzi ein Zimmer, das immer verschlossen war und dessen Inneres er nie
gesehen hatte. Doch hatte er die Frau oft darin rumoren gehört, und er
hätte oft für sein Leben gern gewußt, was sie dort versteckt habe. Als
er nun an sein Reisegeld dachte, fiel ihm ein, daß dort die Schätze der
Frau versteckt sein könnten. Aber immer war die Tür fest verschlossen,
und er konnte daher den Schätzen nie beikommen.

Eines Morgens, als die Frau Ahavzi ausgegangen war, zupfte ihn eines
der Hundlein, welches von der Frau immer sehr stiefmütterlich behandelt
wurde, dessen Gunst er sich aber durch allerlei Liebesdienste in hohem
Grade erworben hatte, an seinen weiten Beinkleidern und gebärdete sich
dabei, wie wenn Muck ihm folgen sollte. Muck, welcher gerne mit den
Hunden spielte, folgte ihm, und siehe da, das Hundlein führte ihn in
die Schlafkammer der Frau Ahavzi vor eine kleine Türe, die er nie zuvor
dort bemerkt hatte. Die Türe war halb offen. Das Hundlein ging hinein,
und Muck folgte ihm, und wie freudig war er überrascht, als er sah, daß
er sich in dem Gemach befand, das schon lange das Ziel seiner Wünsche
war. Er spähte überall umher, ob er kein Geld finden könne, fand aber
nichts. Nur alte Kleider und wunderlich geformte Geschirre standen
umher. Eines dieser Geschirre zog seine besondere Aufmerksamkeit auf
sich. Es war von Kristall, und schöne Figuren waren darauf
ausgeschnitten. Er hob es auf und drehte es nach allen Seiten. Aber, o
Schrecken! Er hatte nicht bemerkt, daß es einen Deckel hatte, der nur
leicht darauf hingesetzt war. Der Deckel fiel herab und zerbrach in
tausend Stücke.

Lange stand der kleine Muck vor Schrecken leblos. Jetzt war sein
Schicksal entschieden, jetzt mußte er entfliehen, sonst schlug ihn die
Alte tot. Sogleich war auch seine Reise beschlossen, und nur noch
einmal wollte er sich umschauen, ob er nichts von den Habseligkeiten
der Frau Ahavzi zu seinem Marsch brauchen könnte. Da fielen ihm ein
Paar mächtig große Pantoffeln ins Auge; sie waren zwar nicht schön;
aber seine eigenen konnten keine Reise mehr mitmachen; auch zogen ihn
jene wegen ihrer Größe an; denn hatte er diese am Fuß, so mußten ihm
hoffentlich alle Leute ansehen, daß er die Kinderschuhe vertreten habe.
Er zog also schnell seine Töffelein aus und fuhr in die großen hinein.
Ein Spazierstöcklein mit einem schön geschnittenen Löwenkopf schien ihm
auch hier allzu müßig in der Ecke zu stehen; er nahm es also mit und
eilte zum Zimmer hinaus. Schnell ging er jetzt auf seine Kammer, zog
sein Mäntelein an, setzte den väterlichen Turban auf, steckte den Dolch
in den Gürtel und lief, so schnell ihn seine Füße trugen, zum Haus und
zur Stadt hinaus. Vor der Stadt lief er, aus Angst vor der Alten, immer
weiter fort, bis er vor Müdigkeit beinahe nicht mehr konnte. So schnell
war er in seinem Leben nicht gegangen; ja, es schien ihm, als könne er
gar nicht aufhören zu rennen; denn eine unsichtbare Gewalt schien ihn
fortzureißen. Endlich bemerkte er, daß es mit den Pantoffeln eine
eigene Bewandtnis haben müsse; denn diese schossen immer fort und
führten ihn mit sich. Er versuchte auf allerlei Weise stillzustehen;
aber es wollte nicht gelingen; da rief er in der höchsten Not, wie man
den Pferden zuruft, sich selbst zu: „Oh—oh, halt, oh!“ Da hielten die
Pantoffeln, und Muck warf sich erschöpft auf die Erde nieder.

Die Pantoffeln freuten ihn ungemein. So hatte er sich denn doch durch
seine Verdienste etwas erworben, das ihm in der Welt auf seinem Weg das
Glück zu suchen, forthelfen konnte. Er schlief trotz seiner Freude vor
Erschöpfung ein; denn das Körperlein des kleinen Muck, das einen so
schweren Kopf zu tragen hatte, konnte nicht viel aushalten. Im Traum
erschien ihm das Hundlein, welches ihm im Hause der Frau Ahavzi zu den
Pantoffeln verholfen hatte, und sprach zu ihm: „Lieber Muck, du
verstehst den Gebrauch der Pantoffeln noch nicht recht; wisse, wenn du
dich in ihnen dreimal auf dem Absatz herumdrehst, so kannst du
hinfliegen, wohin du nur willst, und mit dem Stöcklein kannst du
Schätze finden, denn wo Gold vergraben ist, da wird es dreimal auf die
Erde schlagen, bei Silber zweimal.“ So träumte der kleine Muck. Als er
aber aufwachte, dachte er über den wunderbaren Traum nach und beschloß,
alsbald einen Versuch zu machen. Er zog die Pantoffeln an, lupfte einen
Fuß und begann sich auf dem Absatz umzudrehen. Wer es aber jemals
versucht hat, in einem ungeheuer weiten Pantoffel dieses Kunststück
dreimal hintereinander zu machen, der wird sich nicht wundern, wenn es
dem kleinen Muck nicht gleich glückte, besonders wenn man bedenkt, daß
ihn sein schwerer Kopf bald auf diese, bald auf jene Seite hinüberzog.

Der arme Kleine fiel einigemal tüchtig auf die Nase; doch ließ er sich
nicht abschrecken, den Versuch zu wiederholen, und endlich glückte es.
Wie ein Rad fuhr er auf seinem Absatz herum, wünschte sich in die
nächste große Stadt, und—die Pantoffeln ruderten hinauf in die Lüfte,
liefen mit Windeseile durch die Wolken, und ehe sich der kleine Muck
noch besinnen konnte, wie ihm geschah, befand er sich schon auf einem
großen Marktplatz, wo viele Buden aufgeschlagen waren und unzählige
Menschen geschäftig hin und her liefen. Er ging unter den Leuten hin
und her, hielt es aber für ratsamer, sich in eine einsamere Straße zu
begeben; denn auf dem Markt trat ihm bald da einer auf die Pantoffeln,
daß er beinahe umfiel, bald stieß er mit seinem weit hinausstehenden
Dolch einen oder den anderen an, daß er mit Mühe den Schlägen entging.

Der kleine Muck bedachte nun ernstlich, was er wohl anfangen könnte, um
sich ein Stück Geld zu verdienen; er hatte zwar ein Stäblein, das ihm
verborgene Schätze anzeigte, aber wo sollte er gleich einen Platz
finden, wo Gold oder Silber vergraben wäre? Auch hätte er sich zur Not
für Geld sehen lassen können; aber dazu war er doch zu stolz. Endlich
fiel ihm die Schnelligkeit seiner Füße ein, „vielleicht“, dachte er,
„können mir meine Pantoffeln Unterhalt gewähren“, und er beschloß, sich
als Schnelläufer zu verdingen. Da er aber hoffen durfte, daß der König
dieser Stadt solche Dienste am besten bezahle, so erfragte er den
Palast. Unter dem Tor des Palastes stand eine Wache, die ihn fragte,
was er hier zu suchen habe. Auf seine Antwort, daß er einen Dienst
suche, wies man ihn zum Aufseher der Sklaven. Diesem trug er sein
Anliegen vor und bat ihn, ihm einen Dienst unter den königlichen Boten
zu besorgen. Der Aufseher maß ihn mit seinen Augen von Kopf bis zu den
Füßen und sprach: „Wie, mit deinen Füßlein, die kaum so lang als eine
Spanne sind, willst du königlicher Schnelläufer werden? Hebe dich weg,
ich bin nicht dazu da, mit jedem Narren Kurzweil zu machen.“ Der kleine
Muck versicherte ihm aber, daß es ihm vollkommen ernst sei mit seinem
Antrag und daß er es mit dem Schnellsten auf eine Wette ankommen lassen
wollte. Dem Aufseher kam die Sache gar lächerlich vor; er befahl ihm,
sich bis auf den Abend zu einem Wettlauf bereitzuhalten, führte ihn in
die Küche und sorgte dafür, daß ihm gehörig Speis’ und Trank gereicht
wurde; er selbst aber begab sich zum König und erzählte ihm vom kleinen
Muck und seinem Anerbieten. Der König war ein lustiger Herr, daher
gefiel es ihm wohl, daß der Aufseher der Sklaven den kleinen Menschen
zu einem Spaß behalten habe, er befahl ihm, auf einer großen Wiese
hinter dem Schloß Anstalten zu treffen, daß das Wettlaufen mit
Bequemlichkeit von seinem ganzen Hofstaat könnte gesehen werden, und
empfahl ihm nochmals, große Sorgfalt für den Zwerg zu haben. Der König
erzählte seinen Prinzen und Prinzessinnen, was sie diesen Abend für ein
Schauspiel haben würden, diese erzählten es wieder ihren Dienern, und
als der Abend herankam, war man in gespannter Erwartung, und alles, was
Füße hatte, strömte hinaus auf die Wiese, wo Gerüste aufgeschlagen
waren, um den großsprecherischen Zwerg laufen zu sehen.

Als der König und seine Söhne und Töchter auf dem Gerüst Platz genommen
hatten, trat der kleine Muck heraus auf die Wiese und machte vor den
hohen Herrschaften eine überaus zierliche Verbeugung. Ein allgemeines
Freudengeschrei ertönte, als man des Kleinen ansichtig wurde; eine
solche Figur hatte man dort noch nie gesehen. Das Körperlein mit dem
mächtigen Kopf, das Mäntelein und die weiten Beinkleider, der lange
Dolch in dem breiten Gürtel, die kleinen Füßlein in den weiten
Pantoffeln—nein! Es war zu drollig anzusehen, als daß man nicht hätte
laut lachen sollen. Der kleine Muck ließ sich aber durch das Gelächter
nicht irremachen. Er stellte sich stolz, auf sein Stöcklein gestützt,
hin und erwartete seinen Gegner. Der Aufseher der Sklaven hatte nach
Mucks eigenem Wunsche den besten Läufer ausgesucht. Dieser trat nun
heraus, stellte sich neben den Kleinen, und beide harrten auf das
Zeichen. Da winkte Prinzessin Amarza, wie es ausgemacht war, mit ihrem
Schleier, und wie zwei Pfeile, auf dasselbe Ziel abgeschossen, flogen
die beiden Wettläufer über die Wiese hin.

Von Anfang hatte Mucks Gegner einen bedeutenden Vorsprung, aber dieser
jagte ihm auf seinem Pantoffelfuhrwerk nach, holte ihn ein, überfing
ihn und stand längst am Ziele, als jener noch, nach Luft schnappend,
daherlief. Verwunderung und Staunen fesselten einige Augenblicke die
Zuschauer, als aber der König zuerst in die Hände klatschte, da
jauchzte die Menge, und alle riefen: „Hoch lebe der kleine Muck, der
Sieger im Wettlauf!“

Man hatte indes den kleinen Muck herbeigebracht; er warf sich vor dem
König nieder und sprach: „Großmächtigster König, ich habe dir hier nur
eine kleine Probe meiner Kunst gegeben; wolle nur gestatten, daß man
mir eine Stelle unter deinen Läufern gebe!“

Der König aber antwortete ihm: „Nein, du sollst mein Leibläufer und
immer um meine Person sein, lieber Muck, jährlich sollst du hundert
Goldstücke erhalten als Lohn, und an der Tafel meiner ersten Diener
sollst du speisen.“

So glaubte denn Muck, endlich das Glück gefunden zu haben, das er so
lange suchte, und war fröhlich und wohlgemut in seinem Herzen. Auch
erfreute er sich der besonderen Gnade des Königs, denn dieser
gebrauchte ihn zu seinen schnellsten und geheimsten Sendungen, die er
dann mit der größten Genauigkeit und mit unbegreiflicher Schnelle
besorgte.

Aber die übrigen Diener des Königs waren ihm gar nicht zugetan, weil
sie sich ungern durch einen Zwerg, der nichts verstand, als schnell zu
laufen, in der Gunst ihres Herrn zurückgesetzt sahen. Sie
veranstalteten daher manche Verschwörung gegen ihn, um ihn zu stürzen;
aber alle schlugen fehl an dem großen Zutrauen, das der König in seinen
geheimen Oberleibläufer (denn zu dieser Würde hatte er es in so kurzer
Zeit gebracht) setzte.

Muck, dem diese Bewegungen gegen ihn nicht entgingen, sann nicht auf
Rache, dazu hatte er ein zu gutes Herz, nein, auf Mittel dachte er,
sich bei seinen Feinden notwendig und beliebt zu machen. Da fiel ihm
sein Stäblein, das er in seinem Glück außer acht gelassen hatte, ein;
wenn er Schätze finde, dachte er, würden ihm die Herren schon geneigter
werden. Er hatte schon oft gehört, daß der Vater des jetzigen Königs
viele seiner Schätze vergraben habe, als der Feind sein Land
überfallen; man sagte auch, er sei darüber gestorben, ohne daß er sein
Geheimnis habe seinem Sohn mitteilen können. Von nun an nahm Muck immer
sein Stöcklein mit, in der Hoffnung, einmal an einem Ort
vorüberzugehen, wo das Geld des alten Königs vergraben sei. Eines
Abends führte ihn der Zufall in einen entlegenen Teil des
Schloßgartens, den er wenig besuchte, und plötzlich fühlte er das
Stöcklein in seiner Hand zucken, und dreimal schlug es gegen den Boden.
Nun wußte er schon, was dies zu bedeuten hatte. Er zog daher seinen
Dolch heraus, machte Zeichen in die umstellenden Bäume und schlich sich
wieder in das Schloß; dort verschaffte er sich einen Spaten und wartete
die Nacht zu seinem Unternehmen ab.

Das Schatzgraben selbst machte übrigens dem kleinen Muck mehr zu
schaffen, als er geglaubt hatte.

Seine Arme waren gar zu schwach, sein Spaten aber groß und schwer; und
er mochte wohl schon zwei Stunden gearbeitet haben, ehe er ein paar Fuß
tief gegraben hatte. Endlich stieß er auf etwas Hartes, das wie Eisen
klang. Er grub jetzt emsiger, und bald hatte er einen großen eisernen
Deckel zutage gefördert; er stieg selbst in die Grube hinab, um
nachzuspähen, was wohl der Deckel könnte bedeckt haben, und fand
richtig einen großen Topf, mit Goldstücken angefüllt. Aber seine
schwachen Kräfte reichten nicht hin, den Topf zu heben, daher steckte
er in seine Beinkleider und seinen Gürtel, so viel er zu tragen
vermochte, und auch sein Mäntelein füllte er damit, bedeckte das übrige
wieder sorgfältig und lud es auf den Rücken. Aber wahrlich, wenn er die
Pantoffeln nicht an den Füßen gehabt hätte, er wäre nicht vom Fleck
gekommen, so zog ihn die Last des Goldes nieder. Doch unbemerkt kam er
auf sein Zimmer und verwahrte dort sein Gold unter den Polstern seines
Sofas.

Als der kleine Muck sich im Besitz so vielen Goldes sah, glaubte er,
das Blatt werde sich jetzt wenden und er werde sich unter seinen
Feinden am Hofe viele Gönner und warme Anhänger erwerben. Aber schon
daran konnte man erkennen, daß der gute Muck keine gar sorgfältige
Erziehung genossen haben mußte, sonst hätte er sich wohl nicht
einbilden können, durch Gold wahre Freunde zu gewinnen. Ach, daß er
damals seine Pantoffeln geschmiert und sich mit seinem Mäntelein voll
Gold aus dem Staub gemacht hätte!

Das Gold, das der kleine Muck von jetzt an mit vollen Händen austeilte,
erweckte den Neid der übrigen Hofbediensteten. Der Küchenmeister Ahuli
sagte: „Er ist ein Falschmünzer.“

Der Sklavenaufseher Achmet sagte: „Er hat’s dem König abgeschwatzt.“

Archaz, der Schatzmeister, aber, sein ärgster Feind, der selbst hier
und da einen Griff in des Königs Kasse tun mochte, sagte geradezu: „Er
hat’s gestohlen.“

Um nun ihrer Sache gewiß zu sein, verabredeten sie sich, und der
Obermundschenk Korchuz stellte sich eines Tages recht traurig und
niedergeschlagen vor die Augen des Königs. Er machte seine traurigen
Gebärden so auffallend, daß ihn der König fragte, was ihm fehle.

„Ah“, antwortete er, „ich bin traurig, daß ich die Gnade meines Herrn
verloren habe.“

„Was fabelst du, Freund Korchuz?“ entgegnete ihm der König. „Seit wann
hätte ich die Sonne meiner Gnade nicht über dich leuchten lassen?“ Der
Obermundschenk antwortete ihm, daß er ja den geheimen Oberleibläufer
mit Gold belade, seinen armen, treuen Dienern aber nichts gebe.

Der König war sehr erstaunt über diese Nachricht, ließ sich die
Goldausteilungen des kleinen Muck erzählen, und die Verschworenen
brachten ihm leicht den Verdacht bei, daß Muck auf irgendeine Art das
Geld aus der Schatzkammer gestohlen habe. Sehr lieb war diese Wendung
der Sache dem Schatzmeister, der ohnehin nicht gerne Rechnung ablegte.
Der König gab daher den Befehl, heimlich auf alle Schritte des kleinen
Muck achtzugeben, um ihn womöglich auf der Tat zu ertappen. Als nun in
der Nacht, die auf diesen Unglückstag folgte, der kleine Muck, da er
durch seine Freigebigkeit seine Kasse sehr erschöpft sah, den Spaten
nahm und in den Schloßgarten schlich, um dort von seinem geheimen
Schatze neuen Vorrat zu holen, folgten ihm von weitem die Wachen, von
dem Küchenmeister Ahuli und Archaz, dem Schatzmeister, angeführt, und
in dem Augenblick, da er das Gold aus dem Topf in sein Mäntelein legen
wollte, fielen sie über ihn her, banden ihn und führten ihn sogleich
vor den König. Dieser, den ohnehin die Unterbrechung seines Schlafes
mürrisch gemacht hatte, empfing seinen armen Oberleibläufer sehr
ungnädig und stellte sogleich das Verhör über ihn an. Man hatte den
Topf vollends aus der Erde gegraben und mit dem Spaten und mit dem
Mäntelein voll Gold vor die Füße des Königs gesetzt. Der Schatzmeister
sagte aus, daß er mit seinen Wachen den Muck überrascht habe, wie er
diesen Topf mit Gold gerade in die Erde gegraben habe.

Der König befragte hierauf den Angeklagten, ob es wahr sei und woher er
das Gold, das er vergraben, bekommen habe.

Der kleine Muck, im Gefühl seiner Unschuld, sagte aus, daß er diesen
Topf im Garten entdeckt habe, daß er ihn habe nicht ein-, sondern
ausgraben wollen.

Alle Anwesenden lachten laut über diese Entschuldigung, der König aber,
aufs höchste erzürnt über die vermeintliche Frechheit des Kleinen, rief
aus: „Wie, Elender! Du willst deinen König so dumm und schändlich
belügen, nachdem du ihn bestohlen hast? Schatzmeister Archaz! Ich
fordere dich auf, zu sagen, ob du diese Summe Goldes für die nämliche
erkennst, die in meinem Schatze fehlt.“

Der Schatzmeister aber antwortete, er sei seiner Sache ganz gewiß, so
viel und noch mehr fehle seit einiger Zeit von dem königlichen Schatz,
und er könne einen Eid darauf ablegen, daß dies das Gestohlene sei.

Da befahl der König, den kleinen Muck in enge Ketten zu legen und in
den Turm zu führen; dem Schatzmeister aber übergab er das Gold, um es
wieder in den Schatz zu tragen. Vergnügt über den glücklichen Ausgang
der Sache, zog dieser ab und zählte zu Haus die blinkenden Goldstücke;
aber das hat dieser schlechte Mann niemals angezeigt, daß unten in dem
Topf ein Zettel lag, der sagte: „Der Feind hat mein Land überschwemmt,
daher verberge ich hier einen Teil meiner Schätze; wer es auch finden
mag, den treffe der Fluch seines Königs, wenn er es nicht sogleich
meinem Sohne ausliefert! König Sadi.“

Der kleine Muck stellte in seinem Kerker traurige Betrachtungen an; er
wußte, daß auf Diebstahl an königlichen Sachen der Tod gesetzt war, und
doch mochte er das Geheimnis mit dem Stäbchen dem König nicht verraten,
weil er mit Recht fürchtete, dieses und seiner Pantoffeln beraubt zu
werden. Seine Pantoffeln konnten ihm leider auch keine Hilfe bringen;
denn da er in engen Ketten an die Mauer geschlossen war, konnte er, so
sehr er sich quälte, sich nicht auf dem Absatz umdrehen. Als ihm aber
am anderen Tage sein Tod angekündigt wurde, da gedachte er doch, es sei
besser, ohne das Zauberstäbchen zu leben als mit ihm zu sterben, ließ
den König um geheimes Gehör bitten und entdeckte ihm das Geheimnis. Der
König maß von Anfang an seinem Geständnis keinen Glauben bei; aber der
kleine Muck versprach eine Probe, wenn ihm der König zugestünde, daß er
nicht getötet werden solle.

Der König gab ihm sein Wort darauf und ließ, von Muck ungesehen,
einiges Gold in die Erde graben und befahl diesem, mit seinem Stäbchen
zu suchen. In wenigen Augenblicken hatte er es gefunden; denn das
Stäbchen schlug deutlich dreimal auf die Erde. Da merkte der König, daß
ihn sein Schatzmeister betrogen hatte, und sandte ihm, wie es im
Morgenland gebräuchlich ist, eine seidene Schnur, damit er sich selbst
erdroßle. Zum kleinen Muck aber sprach er: „Ich habe dir zwar dein
Leben versprochen; aber es scheint mir, als ob du nicht allein dieses
Geheimnis mit dem Stäbchen besitzest; darum bleibst du in ewiger
Gefangenschaft, wenn du nicht gestehst, was für eine Bewandtnis es mit
deinem Schnellaufen hat.“ Der kleine Muck, den die einzige Nacht im
Turm alle Lust zu längerer Gefangenschaft benommen hatte, bekannte, daß
seine ganze Kunst in den Pantoffeln liege, doch lehrte er den König
nicht das Geheimnis von dem dreimaligen Umdrehen auf dem Absatz. Der
König schlüpfte selbst in die Pantoffeln, um die Probe zu machen, und
jagte wie unsinnig im Garten umher; oft wollte er anhalten; aber er
wußte nicht, wie man die Pantoffeln zum Stehen brachte, und der kleine
Muck, der diese kleine Rache sich nicht versagen konnte, ließ ihn
laufen, bis er ohnmächtig niederfiel.

Als der König wieder zur Besinnung zurückgekehrt war, war er
schrecklich aufgebracht über den kleinen Muck, der ihn so ganz außer
Atem hatte laufen lassen. „Ich habe dir mein Wort gegeben, dir Freiheit
und Leben zu schenken; aber innerhalb zwölf Stunden mußt du mein Land
verlassen, sonst lasse ich dich aufknöpfen!“ Die Pantoffeln und das
Stäbchen aber ließ er in seine Schatzkammer legen.

So arm als je wanderte der kleine Muck zum Land hinaus, seine Torheit
verwünschend, die ihm vorgespiegelt hatte, er könne eine bedeutende
Rolle am Hofe spielen. Das Land, aus dem er gejagt wurde, war zum Glück
nicht groß, daher war er schon nach acht Stunden auf der Grenze,
obgleich ihn das Gehen, da er an seine lieben Pantoffeln gewöhnt war,
sehr sauer ankam.

Als er über der Grenze war, verließ er die gewöhnliche Straße, um die
dichteste Einöde der Wälder aufzusuchen und dort nur sich zu leben;
denn er war allen Menschen gram. In einem dichten Walde traf er auf
einen Platz, der ihm zu dem Entschluß, den er gefaßt hatte, ganz
tauglich schien. Ein klarer Bach, von großen, schattigen Feigenbäumen
umgeben, ein weicher Rasen luden ihn ein; hier warf er sich nieder mit
dem Entschluß, keine Speise mehr zu sich zu nehmen, sondern hier den
Tod zu erwarten. Über traurigen Todesbetrachtungen schlief er ein; als
er aber wieder aufwachte und der Hunger ihn zu quälen anfing, bedachte
er doch, daß der Hungertod eine gefährliche Sache sei, und sah sich um,
ob er nirgends etwas zu essen bekommen könnte.

Köstliche reife Feigen hingen an dem Baume, unter welchem er geschlafen
hatte; er stieg hinauf, um sich einige zu pflücken, ließ es sich
trefflich schmecken und ging dann hinunter an den Bach, um seinen Durst
zu löschen. Aber wie groß war sein Schrecken, als ihm das Wasser seinen
Kopf mit zwei gewaltigen Ohren und einer dicken, langen Nase geschmückt
zeigte! Bestürzt griff er mit den Händen nach den Ohren, und wirklich,
sie waren über eine halbe Elle lang.

„Ich verdiene Eselsohren!“ rief er aus; „denn ich habe mein Glück wie
ein Esel mit Füßen getreten.“ Er wanderte unter den Bäumen umher, und
als er wieder Hunger fühlte, mußte er noch einmal zu den Feigen seine
Zuflucht nehmen; denn sonst fand er nichts Eßbares an den Bäumen. Als
ihm über der zweiten Portion Feigen einfiel, ob wohl seine Ohren nicht
unter seinem großen Turban Platz hätten, damit er doch nicht gar zu
lächerlich aussehe, fühlte er, daß seine Ohren verschwunden waren. Er
lief gleich an den Bach zurück, um sich davon zu überzeugen, und
wirklich, es war so, seine Ohren hatten ihre vorige Gestalt, seine
lange, unförmliche Nase war nicht mehr. Jetzt merkte er aber, wie dies
gekommen war; von dem ersten Feigenbaum hatte er die lange Nase und
Ohren bekommen, der zweite hatte ihn geheilt; freudig erkannte er, daß
sein gütiges Geschick ihm noch einmal die Mittel in die Hand gebe,
glücklich zu sein. Er pflückte daher von jedem Baum so viel, wie er
tragen konnte, und ging in das Land zurück, das er vor kurzem verlassen
hatte. Dort machte er sich in dem ersten Städtchen durch andere Kleider
ganz unkenntlich und ging dann weiter auf die Stadt zu, die jener König
bewohnte, und kam auch bald dort an.

Es war gerade zu einer Jahreszeit, wo reife Früchte noch ziemlich
selten waren; der kleine Muck setzte sich daher unter das Tor des
Palastes; denn ihm war von früherer Zeit her wohl bekannt, daß hier
solche Seltenheiten von dem Küchenmeister für die königliche Tafel
eingekauft wurden. Muck hatte noch nicht lange gesessen, als er den
Küchenmeister über den Hof herüberschreiten sah. Er musterte die Waren
der Verkäufer, die sich am Tor des Palastes eingefunden hatten; endlich
fiel sein Blick auch auf Mucks Körbchen. „Ah, ein seltener Bissen“,
sagte er, „der Ihro Majestät gewiß behagen wird. Was willst du für den
ganzen Korb?“ Der kleine Muck bestimmte einen mäßigen Preis, und sie
waren bald des Handels einig. Der Küchenmeister übergab den Korb einem
Sklaven und ging weiter; der kleine Muck aber macht sich einstweilen
aus dem Staub, weil er befürchtete, wenn sich das Unglück an den Köpfen
des Hofes zeigte, möchte man ihn als Verkäufer aufsuchen und bestrafen.

Der König war über Tisch sehr heiter gestimmt und sagte seinem
Küchenmeister einmal über das andere Lobsprüche wegen seiner guten
Küche und der Sorgfalt, mit der er immer das Seltenste für ihn
aussuche; der Küchenmeister aber, welcher wohl wußte, welchen
Leckerbissen er noch im Hintergrund habe, schmunzelte gar freundlich
und ließ nur einzelne Worte fallen, als: „Es ist noch nicht aller Tage
Abend“, oder „Ende gut, alles gut“, so daß die Prinzessinnen sehr
neugierig wurden, was er wohl noch bringen werde. Als er aber die
schönen, einladenden Feigen aufsetzen ließ, da entfloh ein allgemeines
Ah! dem Munde der Anwesenden.

„Wie reif, wie appetitlich!“ rief der König. „Küchenmeister, du bist
ein ganzer Kerl und verdienst unsere ganz besondere Gnade!“ Also
sprechend, teilte der König, der mit solchen Leckerbissen sehr sparsam
zu sein pflegte, mit eigener Hand die Feigen an seiner Tafel aus. Jeder
Prinz und jede Prinzessin bekam zwei, die Hofdamen und die Wesire und
Agas eine, die übrigen stellte er vor sich hin und begann mit großem
Behagen sie zu verschlingen.

„Aber, lieber Gott, wie siehst du so wunderlich aus, Vater?“ rief auf
einmal die Prinzessin Amarza. Alle sahen den König erstaunt an;
ungeheure Ohren hingen ihm am Kopf, eine lange Nase zog sich über sein
Kinn herunter; auch sich selbst betrachteten sie untereinander mit
Staunen und Schrecken; alle waren mehr oder minder mit dem sonderbaren
Kopfputz geschmeckt.

Man denke sich den Schrecken des Hofes! Man schickte sogleich nach
allen Ärzten der Stadt; sie kamen haufenweise, verordneten Pillen und
Mixturen; aber die Ohren und die Nasen blieben. Man operierte einen der
Prinzen; aber die Ohren wuchsen nach.

Muck hatte die ganze Geschichte in seinem Versteck, wohin er sich
zurückgezogen hatte, gehört und erkannte, daß es jetzt Zeit sei zu
handeln. Er hatte sich schon vorher von dem aus den Feigen gelösten
Geld einen Anzug verschafft, der ihn als Gelehrten darstellen konnte;
ein langer Bart aus Ziegenhaaren vollendete die Täuschung. Mit einem
Säckchen voll Feigen wanderte er in den Palast des Königs und bot als
fremder Arzt seine Hilfe an. Man war von Anfang sehr ungläubig; als
aber der kleine Muck eine Feige einem der Prinzen zu essen gab und
Ohren und Nase dadurch in den alten Zustand zurückbrachte, da wollte
alles von dem fremden Arzte geheilt sein. Aber der König nahm ihn
schweigend bei der Hand und führte ihn in sein Gemach; dort schloß er
eine Türe auf, die in die Schatzkammer führte, und winkte Muck, ihm zu
folgen. „Hier sind meine Schätze“, sprach der König, „wähle dir, was es
auch sei, es soll dir gewährt werden, wenn du mich von diesem
schmachvollen Übel befreist.“

Das war süße Musik in des kleinen Muck Ohren; er hatte gleich beim
Eintritt seine Pantoffeln auf dem Boden stehen sehen, gleich daneben
lag auch sein Stäbchen. Er ging nun umher in dem Saal, wie wenn er die
Schätze des Königs bewundern wollte; kaum aber war er an seine
Pantoffeln gekommen, so schlüpfte er eilends hinein, ergriff sein
Stäbchen, riß seinen falschen Bart herab und zeigte dem erstaunten
König das wohlbekannte Gesicht seines verstoßenen Muck. „Treuloser
König“, sprach er, „der du treue Dienste mit Undank lohnst, nimm als
wohlverdiente Strafe die Mißgestalt, die du trägst. Die Ohren laß ich
dir zurück, damit sie dich täglich erinnern an den kleinen Muck.“ Als
er so gesprochen hatte, drehte er sich schnell auf dem Absatz herum,
wünschte sich weit hinweg, und ehe noch der König um Hilfe rufen
konnte, war der kleine Muck entflohen. Seitdem lebt der kleine Muck
hier in großem Wohlstand, aber einsam; denn er verachtet die Menschen.
Er ist durch Erfahrung ein weiser Mann geworden, welcher, wenn auch
sein Äußeres etwas Auffallendes haben mag, deine Bewunderung mehr als
deinen Spott verdient.

„So erzählte mir mein Vater; ich bezeugte ihm meine Reue über mein
rohes Betragen gegen den guten kleinen Mann, und mein Vater schenkte
mir die andere Hälfte der Strafe, die er mir zugedacht hatte. Ich
erzählte meinen Kameraden die wunderbaren Schicksale des Kleinen, und
wir gewannen ihn so lieb, daß ihn keiner mehr schimpfte. Im Gegenteil,
wir ehrten ihn, solange er lebte, und haben uns vor ihm immer so tief
wie vor Kadi und Mufti gebückt.“

Die Reisenden beschlossen, einen Rasttag in dieser Karawanserei zu
machen, um sich und die Tiere zur weiteren Reise zu stärken. Die
gestrige Fröhlichkeit ging auch auf diesen Tag über, und sie ergötzten
sich in allerlei Spielen. Nach dem Essen aber riefen sie dem fünften
Kaufmann, Ali Sizah, zu, auch seine Schuldigkeit gleich den übrigen zu
tun und eine Geschichte zu erzählen. Er antwortete, sein Leben sei zu
arm an auffallenden Begebenheiten, als daß er ihnen etwas davon
mitteilen möchte, daher wolle er ihnen etwas anderes erzählen, nämlich:
Das Märchen vom falschen Prinzen.



Das Märchen vom falschen Prinzen

Wilhelm Hauff


Es war einmal ein ehrsamer Schneidergeselle, namens Labakan, der bei
einem geschickten Meister in Alessandria sein Handwerk lernte. Man
konnte nicht sagen, daß Labakan ungeschickt mit der Nadel war, im
Gegenteil, er konnte recht feine Arbeit machen. Auch tat man ihm
unrecht, wenn man ihn geradezu faul schalt; aber ganz richtig war es
doch nicht mit dem Gesellen, denn er konnte oft stundenweis in einem
fort nähen, daß ihm die Nadel in der Hand glühend ward und der Faden
rauchte, da gab es ihm dann ein Stück wie keinem anderen; ein andermal
aber, und dies geschah leider öfters, saß er in tiefen Gedanken, sah
mit starren Augen vor sich hin und hatte dabei in Gesicht und Wesen
etwas so Eigenes, daß sein Meister und die übrigen Gesellen von diesem
Zustand nie anders sprachen als: „Labakan hat wieder sein vornehmes
Gesicht.“

Am Freitag aber, wenn andere Leute vom Gebet ruhig nach Haus an ihre
Arbeit gingen, trat Labakan in einem schönen Kleid, das er sich mit
vieler Mühe zusammengespart hatte, aus der Moschee, ging langsam und
stolzen Schrittes durch die Plätze und Straßen der Stadt, und wenn ihm
einer seiner Kameraden ein „Friede sei mit dir“, oder „Wie geht es,
Freund Labakan?“ bot, so winkte er gnädig mit der Hand oder nickte,
wenn es hoch kam, vornehm mit dem Kopf. Wenn dann sein Meister im Spaß
zu ihm sagte: „An dir ist ein Prinz verlorengegangen, Labakan“, so
freute er sich darüber und antwortete: „Habt Ihr das auch bemerkt?“
oder: „Ich habe es schon lange gedacht!“

So trieb es der ehrsame Schneidergeselle Labakan schon eine geraume
Zeit, sein Meister aber duldete seine Narrheit, weil er sonst ein guter
Mensch und geschickter Arbeiter war. Aber eines Tages schickte Selim,
der Bruder des Sultans, der gerade durch Alessandria reiste, ein
Festkleid zu dem Meister, um einiges daran verändern zu lassen, und der
Meister gab es Labakan, weil dieser die feinste Arbeit machte. Als
abends der Meister und die Gesellen sich hinwegbegeben hatten, um nach
des Tages Last sich zu erholen, trieb eine unwiderstehliche Sehnsucht
Labakan wieder in die Werkstatt zurück, wo das Kleid des kaiserlichen
Bruders hing. Er stand lange sinnend davor, bald den Glanz der
Stickerei, bald die schillernden Farben des Samts und der Seide an dem
Kleide bewundernd. Er konnte nicht anders, er mußte es anziehen, und
siehe da, es paßte ihm so trefflich, wie wenn es für ihn wäre gemacht
worden. „Bin ich nicht so gut ein Prinz als einer?“ fragte er sich,
indem er im Zimmer auf und ab schritt. „Hat nicht der Meister selbst
schon gesagt, daß ich zum Prinzen geboren sei?“ Mit den Kleidern schien
der Geselle eine ganz königliche Gesinnung angezogen zu haben; er
konnte sich nicht anders denken, als er sei ein unbekannter Königssohn,
und als solcher beschloß er, in die Welt zu reisen und einen Ort zu
verlassen, wo die Leute bisher so töricht gewesen waren, unter der
Hülle seines niederen Standes nicht seine angebotene Würde zu erkennen.
Das prachtvolle Kleid schien ihm von einer gütigen Fee geschickt, er
hütete sich daher wohl, ein so teures Geschenk zu verschmähen, steckte
seine geringe Barschaft zu sich und wanderte, begünstigt von dem Dunkel
der Nacht, aus Alessandrias Toren.

Der neue Prinz erregte überall auf seiner Wanderschaft Verwunderung,
denn das prachtvolle Kleid und sein ernstes, majestätisches Wesen
wollten gar nicht passen für einen Fußgänger. Wenn man ihn darüber
befragte, pflegte er mit geheimnisvoller Miene zu antworten, daß das
seine eigenen Ursachen habe. Als er aber merkte, daß er sich durch
seine Fußwanderungen lächerlich machte, kaufte er um geringen Preis ein
altes Roß, welches sehr für ihn paßte, da es ihn mit seiner gesetzten
Ruhe und Sanftmut nie in die Verlegenheit brachte, sich als geschickter
Reiter zeigen zu müssen, was gar nicht seine Sache war.

Eines Tages, als er Schritt vor Schritt auf seinem Murva, so hatte er
sein Roß genannt, seine Straße zog, schloß sich ein Reiter an ihn an
und bat ihn, in seiner Gesellschaft reiten zu dürfen, weil ihm der Weg
viel kürzer werde im Gespräch mit einem anderen. Der Reiter war ein
fröhlicher, junger Mann, schön und angenehm im Umgang. Er hatte mit
Labakan bald ein Gespräch angeknüpft über Woher und Wohin, und es traf
sich, daß auch er, wie der Schneidergeselle, ohne Plan in die Welt
hinauszog. Er sagte, er heiße Omar, sei der Neffe Elfi Beys, des
unglücklichen Bassas von Kairo, und reise nun umher, um einen Auftrag,
den ihm sein Oheim auf dem Sterbebette erteilt habe, auszurichten.
Labakan ließ sich nicht so offenherzig über seine Verhältnisse aus, er
gab ihm zu verstehen, daß er von hoher Abkunft sei und zu seinem
Vergnügen reise.

Die beiden jungen Herren fanden Gefallen aneinander und zogen fürder.
Am zweiten Tage ihrer gemeinschaftlichen Reise fragte Labakan seinen
Gefährten Omar nach den Aufträgen, die er zu besorgen habe, und erfuhr
zu seinem Erstaunen folgendes: Elfi Bey, der Bassa von Kairo, hatte den
Omar seit seiner frühesten Kindheit erzogen, und dieser hatte seine
Eltern nie gekannt. Als nun Elfi Bey von seinen Feinden überfallen
worden war und nach drei unglücklichen Schlachten, tödlich verwundet,
fliehen mußte, entdeckte er seinem Zögling, daß er nicht sein Neffe
sei, sondern der Sohn eines mächtigen Herrschers, welcher aus Furcht
vor den Prophezeiungen seiner Sterndeuter den jungen Prinzen von seinem
Hofe entfernt habe, mit dem Schwur, ihn erst an seinem
zweiundzwanzigsten Geburtstage wiedersehen zu wollen. Elfi Bey habe ihm
den Namen seines Vaters nicht genannt, sondern ihm nur aufs
bestimmteste aufgetragen, am fünften Tage des kommenden Monats Ramadan,
an welchem Tage er zweiundzwanzig Jahre alt werde, sich an der
berühmten Säule El-Serujah, vier Tagreisen östlich von Alessandria,
einzufinden; dort soll er den Männern, die an der Säule stehen würden,
einen Dolch, den er ihm gab, überreichen mit den Worten: „Hier bin ich,
den ihr suchet“; wenn sie antworteten: „Gelobt sei der Prophet, der
dich erhielt!“, so solle er ihnen folgen, sie würden ihn zu seinem
Vater führen.

Der Schneidergeselle Labakan war sehr erstaunt über diese Mitteilung,
er betrachtete von jetzt an den Prinzen Omar mit neidischen Augen,
erzürnt darüber, daß das Schicksal jenem, obgleich er schon für den
Neffen eines mächtigen Bassa galt, noch die Würde eines Fürstensohnes
verliehen, ihm aber, den es mit allem, was einem Prinzen nottut,
ausgerüstet, gleichsam zum Hohn eine dunkle Geburt und einen
gewöhnlichen Lebensweg verliehen habe. Er stellte Vergleichungen
zwischen sich und dem Prinzen an. Er mußte sich gestehen, es sei jener
ein Mann von sehr vorteilhafter Gesichtsbildung; schöne, lebhafte
Augen, eine kühngebogene Nase, ein sanftes, zuvorkommendes Benehmen,
kurz, so viele Vorzüge des Äußeren, die jemand empfehlen können, waren
jenem eigen. Aber so viele Vorzüge er auch an seinem Begleiter fand, so
gestand er sich doch bei diesen Beobachtungen, daß ein Labakan dem
fürstlichen Vater wohl noch willkommener sein dürfte als der wirkliche
Prinz.

Diese Betrachtungen verfolgten Labakan den ganzen Tag, mit ihnen
schlief er im nächsten Nachtlager ein, aber als er morgens aufwachte
und sein Blick auf den neben ihm schlafenden Omar fiel, der so ruhig
schlafen und von seinem gewissen Glück träumen konnte, da erwachte in
ihm der Gedanke, sich durch List oder Gewalt zu erstreben, was ihm das
ungünstige Schicksal versagt hatte. Der Dolch, das Erkennungszeichen
des heimkehrenden Prinzen, sah aus dem Gürtel des Schlafenden hervor,
leise zog er ihn hervor, um ihn in die Brust des Eigentümers zu stoßen.
Doch vor dem Gedanken des Mordes entsetzte sich die friedfertige Seele
des Gesellen; er begnügte sich, den Dolch zu sich zu stecken, das
schnellere Pferd des Prinzen für sich aufzäumen zu lassen, und ehe Omar
aufwachte und sich aller seiner Hoffnungen beraubt sah, hatte sein
treuloser Gefährte schon einen Vorsprung von mehreren Meilen.

Es war gerade der erste Tag des heiligen Monats Ramadan, an welchem
Labakan den Raub an dem Prinzen begangen hatte, und er hatte also noch
vier Tage, um zu der Säule El Serujah, welche ihm wohlbekannt war, zu
gelangen. Obgleich die Gegend, worin sich diese Säule befand, höchstens
noch zwei Tagreisen entfernt sein konnte, so beeilte er sich doch
hinzukommen, weil er immer fürchtete, von dem wahren Prinzen eingeholt
zu werden.

Am Ende des zweiten Tages erblickte Labakan die Säule El-Serujah. Sie
stand auf einer kleinen Anhöhe in einer weiten Ebene und konnte auf
zwei bis drei Stunden gesehen werden. Labakans Herz pochte lauter bei
diesem Anblick; obgleich er die letzten zwei Tage hindurch Zeit genug
gehabt, über die Rolle, die er zu spielen hatte, nachzudenken, so
machte ihn doch das böse Gewissen etwas ängstlich, aber der Gedanke,
daß er zum Prinzen geboren sei, stärkte ihn wieder, so daß er
getrösteter seinem Ziele entgegenging.

Die Gegend um die Säule El-Serujah war unbewohnt und öde, und der neue
Prinz wäre wegen seines Unterhalts etwas in Verlegenheit gekommen, wenn
er sich nicht auf mehrere Tage versehen hätte. Er lagerte sich also
neben seinem Pferd unter einigen Palmen und erwartete dort sein
ferneres Schicksal.

Gegen die Mitte des anderen Tages sah er einen großen Zug von Pferden
und Kamelen über die Ebene her auf die Säule El-Serujah zuziehen. Der
Zug hielt am Fuße des Hügels, auf welchem die Säule stand, man schlug
prächtige Zelte auf, und das Ganze sah aus wie der Reisezug eines
reichen Bassa oder Scheik. Labakan ahnte, daß die vielen Leute, welche
er sah, sich seinetwegen hierher bemüht hatten, und hätte ihnen gerne
schon heute ihren künftigen Gebieter gezeigt; aber er mäßigte seine
Begierde, als Prinz aufzutreten, da ja doch der nächste Morgen seine
kühnsten Wünsche vollkommen befriedigen mußte.

Die Morgensonne weckte den überglücklichen Schneider zu dem wichtigsten
Augenblick seines Lebens, welcher ihn aus einem niederen, unbekannten
Sterblichen an die Seite eines fürstlichen Vaters erheben sollte; zwar
fiel ihm, als er sein Pferd aufzäumte, um zu der Säule hinzureiten,
wohl auch das Unrechtmäßige seines Schrittes ein; zwar führten ihm
seine Gedanken den Schmerz des in seinen schönen Hoffnungen betrogenen
Fürstensohnes vor, aber—der Würfel war geworfen, er konnte nicht mehr
ungeschehen machen, was geschehen war, und seine Eigenliebe flüsterte
ihm zu, daß er stattlich genug aussehe, um dem mächtigsten König sich
als Sohn vorzustellen; ermutigt durch diesen Gedanken, schwang er sich
auf sein Roß, nahm alle seine Tapferkeit zusammen, um es in einen
ordentlichen Galopp zu bringen, und in weniger als einer Viertelstunde
war er am Fuße des Hügels angelangt. Er stieg ab von seinem Pferd und
band es an eine Staude, deren mehrere an dem Hügel wuchsen; hierauf zog
er den Dolch des Prinzen Omar hervor und stieg den Hügel hinan. Am Fuß
der Säule standen sechs Männer um einen Greis von hohem, königlichem
Ansehen; ein prachtvoller Kaftan von Goldstoff, mit einem weißen
Kaschmirschal umgürtet, der weiße, mit blitzenden Edelsteinen
geschmückte Turban bezeichneten ihn als einen Mann von Reichtum und
Würde.

Auf ihn ging Labakan zu, neigte sich tief vor ihm und sprach, indem er
den Dolch darreichte: „Hier bin ich, den Ihr suchet. „

„Gelobt sei der Prophet, der dich erhielt!“ antwortete der Greis mit
Freudentränen. „Umarme deinen alten Vater, mein geliebter Sohn Omar!“
Der gute Schneider war sehr gerührt durch diese feierlichen Worte und
sank mit einem Gemisch von Freude und Scham in die Arme des alten
Fürsten.

Aber nur einen Augenblick sollte er ungetrübt die Wonne seines neuen
Standes genießen; als er sich aus den Armen des fürstlichen Greises
aufrichtete, sah er einen Reiter über die Ebene her auf den Hügel
zueilen. Der Reiter und sein Roß gewährten einen sonderbaren Anblick;
das Roß schien aus Eigensinn oder Müdigkeit nicht vorwärts zu wollen,
in einem stolpernden Gang, der weder Schritt noch Trab war, zog es
daher, der Reiter aber trieb es mit Händen und Füßen zu schnellerem
Laufe an. Nur zu bald erkannte Labakan sein Roß Murva und den echten
Prinzen Omar, aber der böse Geist der Lüge war einmal in ihn gefahren,
und er beschloß, wie es auch kommen möge, mit eiserner Stirne seine
angemaßten Rechte zu behaupten.

Schon aus der Ferne hatte man den Reiter winken gesehen; jetzt war er
trotz des schlechten Trabes des Rosses Murva am Fuße des Hügels
angekommen, warf sich vom Pferd und stürzte den Hügel hinan. „Haltet
ein!“ rief er. „Wer ihr auch sein möget, haltet ein und laßt euch nicht
von dem schändlichsten Betrüger täuschen; ich heiße Omar, und kein
Sterblicher wage es, meinen Namen zu mißbrauchen!“

Auf den Gesichtern der Umstehenden malte sich tiefes Erstaunen über
diese Wendung der Dinge; besonders schien der Greis sehr betroffen,
indem er bald den einen, bald den anderen fragend ansah; Labakan aber
sprach mit mühsam errungener Ruhe: „Gnädigster Herr und Vater, laßt
Euch nicht irremachen durch diesen Menschen da! Es ist, soviel ich
weiß, ein wahnsinniger Schneidergeselle aus Alessandria, Labakan
geheißen, der mehr unser Mitleid als unseren Zorn verdient.“

Bis zur Raserei aber brachten diese Worte den Prinzen; schäumend vor
Wut wollte er auf Labakan eindringen, aber die Umstehenden warfen sich
dazwischen und hielten ihn fest, und der Fürst sprach: „Wahrhaftig,
mein lieber Sohn, der arme Mensch ist verrückt; man binde ihn und setze
ihn auf eines unserer Dromedare, vielleicht, daß wir dem Unglücklichen
Hilfe schaffen können.“

Die Wut des Prinzen hatte sich gelegt, weinend rief er dem Fürsten zu:
„Mein Herz sagt mir, daß Ihr mein Vater seid; bei dem Andenken meiner
Mutter beschwöre ich Euch, hört mich an!“

„Ei, Gott bewahre uns!“ antwortete dieser, „er fängt schon wieder an,
irre zu reden, wie doch der Mensch auf so tolle Gedanken kommen kann!“
Damit ergriff er Labakans Arm und ließ sich von ihm den Hügel
hinuntergeleiten; sie setzten sich beide auf schöne, mit reichen Decken
behängte Pferde und ritten an der Spitze des Zuges über die Ebene hin.
Dem unglücklichen Prinzen aber fesselte man die Hände und band ihn auf
einem Dromedar fest, und zwei Reiter waren ihm immer zur Seite, die ein
wachsames Auge auf jede seiner Bewegungen hatten.

Der fürstliche Greis war Saaud, der Sultan der Wechabiten. Er hatte
lange ohne Kinder gelebt, endlich wurde ihm ein Prinz geboren, nach dem
er sich so lange gesehnt hatte; aber die Sterndeuter, welche er um die
Vorbedeutungen des Knaben befragte, taten den Ausspruch, „daß er bis
ins zweiundzwanzigste Jahr in Gefahr stehe, von einem Feinde verdrängt
zu werden“, deswegen, um recht sicherzugehen, hatte der Sultan den
Prinzen seinem alten, erprobten Freunde Elfi-Bey zum Erziehen gegeben
und zweiundzwanzig schmerzliche Jahre auf seinen Anblick geharrt.

Dieses hatte der Sultan seinem (vermeintlichen) Sohne erzählt und sich
ihm außerordentlich zufrieden mit seiner Gestalt und seinem würdevollen
Benehmen gezeigt.

Als sie in das Land des Sultans kamen, wurden sie überall von den
Einwohnern mit Freudengeschrei empfangen; denn das Gerücht von der
Ankunft des Prinzen hatte sich wie ein Lauffeuer durch alle Städte und
Dörfer verbreitet. Auf den Straßen, durch welche sie zogen, waren Bögen
von Blumen und Zweigen errichtet, glänzende Teppiche von allen Farben
schmeckten die Häuser, und das Volk pries laut Gott und seinen
Propheten, der ihnen einen so schönen Prinzen gesandt habe. Alles dies
erfüllte das stolze Herz des Schneiders mit Wonne; desto unglücklicher
mußte sich aber der echte Omar fühlen, der, noch immer gefesselt, in
stiller Verzweiflung dem Zuge folgte. Niemand kümmerte sich um ihn bei
dem allgemeinen Jubel, der doch ihm galt; den Namen Omar riefen tausend
und wieder tausend Stimmen, aber ihn, der diesen Namen mit Recht trug,
ihn beachtete keiner; höchstens fragte einer oder der andere, wen man
denn so fest gebunden mit fortfahre, und schrecklich tönte in das Ohr
des Prinzen die Antwort seiner Begleiter, es sei ein wahnsinniger
Schneider.

Der Zug war endlich in die Hauptstadt des Sultans gekommen, wo alles
noch glänzender zu ihrem Empfang bereitet war als in den übrigen
Städten. Die Sultanin, eine ältliche, ehrwürdige Frau, erwartete sie
mit ihrem ganzen Hofstaat in dem prachtvollsten Saal des Schlosses. Der
Boden dieses Saales war mit einem ungeheuren Teppich bedeckt, die Wände
waren mit hellblauem Tuch geschmeckt, das in goldenen Quasten und
Schnüren an großen, silbernen Haken hing.

Es war schon dunkel, als der Zug anlangte, daher waren im Saale viele
kugelrunde, farbige Lampen angezündet, welche die Nacht zum Tag
erhellten. Am klarsten und vielfarbigsten strahlten sie aber im
Hintergrund des Saales, wo die Sultanin auf einem Throne saß. Der Thron
stand auf vier Stufen und war von lauterem Golde und mit großen
Amethysten ausgelegt. Die vier vornehmsten Emire hielten einen
Baldachin von roter Seide über dem Haupte der Sultanin, und der Scheik
von Medina fächelte ihr mit einer Windfuchtel von weißen Pfauenfedern
Kühlung zu.

So erwartete die Sultanin ihren Gemahl und ihren Sohn, auch sie hatte
ihn seit seiner Geburt nicht mehr gesehen, aber bedeutsam Träume hatten
ihr den Ersehnten gezeigt, daß sie ihn aus Tausenden erkennen wollte.
Jetzt hörte man das Geräusch des nahenden Zuges, Trompeten und Trommeln
mischten sich in das Zujauchzen der Menge, der Hufschlag der Rosse
tönte im Hof des Palastes, näher und näher rauschten die Tritte der
Kommenden, die Türen des Saales flogen auf, und durch die Reihen der
niederfallenden Diener eilte der Sultan an der Hand seines Sohnes vor
den Thron der Mutter.

„Hier“, sprach er, „bringe ich dir den, nach welchem du dich so lange
gesehnet.“

Die Sultanin aber fiel ihm in die Rede: „Das ist mein Sohn nicht!“ rief
sie aus, „das sind nicht die Züge, die mir der Prophet im Traume
gezeigt hat!“

Gerade, als ihr der Sultan ihren Aberglauben verweisen wollte, sprang
die Türe des Saales auf. Prinz Omar stürzte herein, verfolgt von seinen
Wächtern, denen er sich mit Anstrengung aller seiner Kraft entrissen
hatte, er warf sich atemlos vor dem Throne nieder: „Hier will ich
sterben, laßt mich töten, grausamer Vater; denn diese Schmach dulde ich
nicht länger!“

Alles war bestürzt über diese Reden; man drängte sich um den
Unglücklichen her, und schon wollten ihn die herbeieilenden Wachen
ergreifen und ihm wieder seine Bande anlegen, als die Sultanin, die in
sprachlosem Erstaunen dieses alles mit angesehen hatte, von dem Throne
aufsprang. „Haltet ein!“ rief sie, „dieser und kein anderer ist der
Rechte, dieser ist’s, den meine Augen nie gesehen und den mein Herz
doch gekannt hat!“

Die Wächter hatten unwillkürlich von Omar abgelassen, aber der Sultan,
entflammt von wütendem Zorn, rief ihnen zu, den Wahnsinnigen zu binden:
„Ich habe hier zu entscheiden“, sprach er mit gebietender Stimme, „und
hier richtet man nicht nach den Träumen der Weiber, sondern nach
gewissen, untrüglichen Zeichen. Dieser hier (indem er auf Labakan
zeigte) ist mein Sohn; denn er hat mir das Wahrzeichen meines Freundes
Elfi, den Dolch, gebracht.“

„Gestohlen hat er ihn“, schrie Omar, „mein argloses Vertrauen hat er
zum Verrat mißbraucht!“ Der Sultan aber hörte nicht auf die Stimme
seines Sohnes; denn er war in allen Dingen gewohnt, eigensinnig nur
seinem Urteil zu folgen; daher ließ er den unglücklichen Omar mit
Gewalt aus dem Saal schleppen. Er selbst aber begab sich mit Labakan in
sein Gemach, voll Wut über die Sultanin, seine Gemahlin, mit der er
doch seit fünfundzwanzig Jahren in Frieden gelebt hatte.

Die Sultanin aber war voll Kummer über diese Begebenheiten; sie war
vollkommen überzeugt, daß ein Betrüger sich des Herzens des Sultans
bemächtigt hatte, denn jenen Unglücklichen hatten ihr so viele
bedeutsam Träume als ihren Sohn gezeigt.

Als sich ihr Schmerz ein wenig gelegt hatte, sann sie auf Mittel, um
ihren Gemahl von seinem Unrecht zu überzeugen. Es war dies allerdings
schwierig; denn jener, der sich für ihren Sohn ausgab, hatte das
Erkennungszeichen, den Dolch, überreicht und hatte auch, wie sie
erfuhr, so viel von Omars früherem Leben von diesem selbst sich
erzählen lassen, daß er seine Rolle, ohne sich zu verraten, spielte.

Sie berief die Männer zu sich, die den Sultan zu der Säule El-Serujah
begleitet hatten, um sich alles genau erzählen zu lassen, und hielt
dann mit ihren vertrautesten Sklavinnen Rat. Sie wählten und verwarfen
dies und jenes Mittel; endlich sprach Melechsalah, eine alte, kluge
Zierkassierin: „Wenn ich recht gehört habe, verehrte Gebieterin, so
nannte der Überbringer des Dolches den, welchen du für deinen Sohn
hältst, Labakan, einen verwirrten Schneider?“

„Ja, so ist es“, antwortete die Sultanin, „aber was willst du damit?“

„Was meint Ihr“, fuhr jene fort, „wenn dieser Betrüger Eurem Sohn
seinen eigenen Namen aufgeheftet hätte?—Und wenn dies ist, so gibt es
ein herrliches Mittel, den Betrüger zu fangen, das ich Euch ganz im
geheimen sagen will.“ Die Sultanin bot ihrer Sklavin das Ohr, und diese
flüsterte ihr einen Rat zu, der ihr zu behagen schien, denn sie
schickte sich an, sogleich zum Sultan zu gehen.

Die Sultanin war eine kluge Frau, welche wohl die schwachen Seiten des
Sultans kannte und sie zu benützen verstand. Sie schien daher, ihm
nachgeben und den Sohn anerkennen zu wollen, und bat sich nur eine
Bedingung aus; der Sultan, dem sein Aufbrausen gegen seine Frau leid
tat, gestand die Bedingung zu, und sie sprach: „Ich möchte gerne den
beiden eine Probe ihrer Geschicklichkeit auferlegen; eine andere würde
sie vielleicht reiten, fechten oder Speere werfen lassen, aber das sind
Sachen, die ein jeder kann; nein, ich will ihnen etwas geben, wozu
Scharfsinn gehört! Es soll nämlich jeder von ihnen einen Kaftan und ein
Paar Beinkleider verfertigen, und da wollen wir einmal sehen, wer die
schönsten macht.“

Der Sultan lachte und sprach: „Ei, da hast du ja etwas recht Kluges
ausgesonnen. Mein Sohn sollte mit deinem wahnsinnigen Schneider
wetteifern, wer den besten Kaftan macht? Nein, das ist nichts.“

Die Sultanin aber berief sich darauf, daß er ihr die Bedingung zum
Voraus zugesagt habe, und der Sultan, welcher ein Mann von Wort war,
gab endlich nach, obgleich er schwor, wenn der wahnsinnige Schneider
seinen Kaftan auch noch so schön mache, könne er ihn doch nicht für
seinen Sohn erkennen.

Der Sultan ging selbst zu seinem Sohn und bat ihn, sich in die Grillen
seiner Mutter zu schicken, die nun einmal durchaus einen Kaftan von
seiner Hand zu sehen wünsche. Dem guten Labakan lachte das Herz vor
Freude; wenn es nur an dem fehlt, dachte er bei sich, da soll die Frau
Sultanin bald Freude an mir erleben.

Man hatte zwei Zimmer eingerichtet, eines für den Prinzen, das andere
für den Schneider; dort sollten sie ihre Kunst erproben, und man hatte
jedem nur ein hinlängliches Stück Seidenzeug, Schere, Nadel und Faden
gegeben.

Der Sultan war sehr begierig, was für ein Ding von Kaftan wohl sein
Sohn zutage fördern werde, aber auch der Sultanin pochte unruhig das
Herz, ob ihre List wohl gelingen werde oder nicht. Man hatte den beiden
zwei Tage zu ihrem Geschäft ausgesetzt, am dritten ließ der Sultan
seine Gemahlin rufen, und als sie erschienen war, schickte er in jene
zwei Zimmer, um die beiden Kaftane und ihre Verfertiger holen zu
lassen. Triumphierend trat Labakan ein und breitete seinen Kaftan vor
den erstaunten Blicken des Sultans aus. „Siehe her, Vater“, sprach er,
„siehe her, verehrte Mutter, ob dies nicht ein Meisterstück von einem
Kaftan ist? Da laß ich es mit dem geschicktesten Hofschneider auf eine
Wette ankommen, ob er einen solchen herausbringt.“

Die Sultanin lächelte und wandte sich zu Omar: „Und was hast du
herausgebracht, mein Sohn?“

Unwillig warf dieser den Seidenstoff und die Schere auf den Boden: „Man
hat mich gelehrt, ein Roß zu bändigen und einen Säbel zu schwingen, und
meine Lanze trifft auf sechzig Gänge ihr Ziel—aber die Künste der Nadel
sind mir fremd, sie wären auch unwürdig für einen Zögling Elfi Beys,
des Beherrschers von Kairo.“

„Oh, du echter Sohn meines Herrn“, rief die Sultanin, „ach, daß ich
dich umarmen, dich Sohn nennen dürfte! Verzeihet, mein Gemahl und
Gebieter“, sprach sie dann, indem sie sich zum Sultan wandte, „daß ich
diese List gegen Euch gebraucht habe; sehet Ihr jetzt noch nicht ein,
wer Prinz und wer Schneider ist; fürwahr, der Kaftan ist köstlich, den
Euer Herr Sohn gemacht hat, und ich möchte ihn gerne fragen, bei
welchem Meister er gelernt habe.“

Der Sultan saß in tiefen Gedanken, mißtrauisch bald seine Frau, bald
Labakan anschauend, der umsonst sein Erröten und seine Bestürzung, daß
er sich so dumm verraten habe, zu bekämpfen suchte. „Auch dieser Beweis
genügt nicht“, sprach er, „aber ich weiß, Allah sei es gedankt, ein
Mittel, zu erfahren, ob ich betrogen bin oder nicht.“

Er befahl, sein schnellstes Pferd vorzufahren, schwang sich auf und
ritt in einen Wald, der nicht weit von der Stadt begann. Dort wohnte
nach einer alten Sage eine gütige Fee, Adolzaide geheißen, welche oft
schon den Königen seines Stammes in der Stunde der Not mit ihrem Rat
beigestanden war; dorthin eilte der Sultan.

In der Mitte des Waldes war ein freier Platz, von hohen Zedern umgeben.
Dort wohnte nach der Sage die Fee, und selten betrat ein Sterblicher
diesen Platz, denn eine gewisse Scheu davor hatte sich aus alten Zeiten
vom Vater auf den Sohn vererbt.

Als der Sultan dort angekommen war, stieg er ab, band sein Pferd an
einen Baum, stellte sich in die Mitte des Platzes und sprach mit lauter
Stimme: „Wenn es wahr ist, daß du meinen Vätern gütigen Rat erteiltest
in der Stunde der Not, so verschmähe nicht die Bitte ihres Enkels und
rate mir, wo menschlicher Verstand zu kurzsichtig ist!“

Er hatte kaum die letzten Worte gesprochen, als sich eine der Zedern
öffnete und eine verschleierte Frau in langen, weißen Gewändern
hervortrat. „Ich weiß, warum du zu mir kommst, Sultan Saaud, dein Wille
ist redlich; darum soll dir auch meine Hilfe werden. Nimm diese zwei
Kistchen! Laß jene beiden, welche deine Söhne sein wollen, wählen! Ich
weiß, daß der, welcher der echte ist, das rechte nicht verfehlen wird.“
So sprach die Verschleierte und reichte ihm zwei kleine Kistchen von
Elfenbein, reich mit Gold und Perlen verziert; auf den Deckeln, die der
Sultan vergebens zu öffnen versuchte, standen Inschriften von
eingesetzten Diamanten.

Der Sultan besann sich, als er nach Hause ritt, hin und her, was wohl
in den Kistchen sein könnte, welche er mit aller Mühe nicht zu öffnen
vermochte. Auch die Aufschrift gab ihm kein Licht in der Sache; denn
auf dem einen stand: „Ehre und Ruhm“, auf dem anderen: „Glück und
Reichtum“. Der Sultan dachte bei sich, da würde auch ihm die Wahl
schwer werden unter diesen beiden Dingen, die gleich anziehend, gleich
lockend seien.

Als er in seinen Palast zurückgekommen war, ließ er die Sultanin rufen
und sagte ihr den Ausspruch der Fee, und eine wunderbare Hoffnung
erfüllte sie, daß jener, zu dem ihr Herz sie hinzog, das Kistchen
wählen würde, welches seine königliche Abkunft beweisen sollte.

Vor dem Throne des Sultans wurden zwei Tische aufgestellt; auf sie
setzte der Sultan mit eigener Hand die beiden Kistchen, bestieg dann
den Thron und winkte einem seiner Sklaven, die Pforte des Saales zu
öffnen. Eine glänzende Versammlung von Bassas und Emiren des Reiches,
die der Sultan berufen hatte, strömte durch die geöffnete Pforte. Sie
ließen sich auf prachtvollen Polstern nieder, welche die Wände entlang
aufgestellt waren.

Als sie sich alle niedergelassen hatten, winkte der König zum
zweitenmal, und Labakan wurde hereingeführt. Mit stolzem Schritte ging
er durch den Saal, warf sich vor dem Throne nieder und sprach: „Was
befiehlt mein Herr und Vater?“

Der Sultan erhob sich auf seinem Thron und sprach: „Mein Sohn! Es sind
Zweifel an der Echtheit deiner Ansprüche auf diesen Namen erhoben
worden; eines jener Kistchen enthält die Bestätigung deiner echten
Geburt, wähle! Ich zweifle nicht, du wirst das rechte wählen!“

Labakan erhob sich und trat vor die Kistchen, er erwog lange, was er
wählen sollte, endlich sprach er: „Verehrter Vater! Was kann es Höheres
geben als das Glück, dein Sohn zu sein, was Edleres als den Reichtum
deiner Gnade? Ich wähle das Kistchen, das die Aufschrift „Glück und
Reichtum“ zeigt.“

„Wir werden nachher erfahren, ob du recht gewählt hast; einstweilen
setze dich dort auf das Polster zum Bassa von Medina“, sagte der Sultan
und winkte seinen Sklaven.

Omar wurde hereingeführt; sein Blick war düster, seine Miene traurig,
und sein Anblick erregte allgemeine Teilnahme unter den Anwesenden. Er
warf sich vor dem Throne nieder und fragte nach dem Willen des Sultans.

Der Sultan deutete ihm an, daß er eines der Kistchen zu wählen habe, er
stand auf und trat vor den Tisch.

Er las aufmerksam beide Inschriften und sprach: „Die letzten Tage haben
mich gelehrt, wie unsicher das Glück, wie vergänglich der Reichtum ist;
sie haben mich aber auch gelehrt, daß ein unzerstörbares Gut in der
Brust des Tapferen wohnt, die Ehre, und daß der leuchtende Stern des
Ruhmes nicht mit dem Glück zugleich vergeht. Und sollte ich einer Krone
entsagen, der Würfel liegt—Ehre und Ruhm, ich wähle euch!“

Er setzte seine Hand auf das Kistchen, das er erwählt hatte; aber der
Sultan befahl ihm, einzuhalten; er winkte Labakan, gleichfalls vor
seinen Tisch zu treten, und auch dieser legte seine Hand auf sein
Kistchen.

Der Sultan aber ließ sich ein Becken mit Wasser von dem heiligen
Brunnen Zemzem in Mekka bringen, wusch seine Hände zum Gebet, wandte
sein Gesicht nach Osten, warf sich nieder und betete: „Gott meiner
Väter! Der du seit Jahrhunderten unsern Stamm rein und unverfälscht
bewahrtest, gib nicht zu, daß ein Unwürdiger den Namen der Abassiden
schände, sei mit deinem Schutze meinem echten Sohne nahe in dieser
Stunde der Prüfung!“

Der Sultan erhob sich und bestieg seinen Thron wieder; allgemeine
Erwartung fesselte die Anwesenden, man wagte kaum zu atmen, man hätte
ein Mäuschen über den Saal gehen hören können, so still und gespannt
waren alle, die hintersten machten lange Hälse, um über die vorderen
nach den Kistchen sehen zu können. Jetzt sprach der Sultan: „Öffnet die
Kistchen“, und diese, die vorher keine Gewalt zu öffnen vermochte,
sprangen von selbst auf.

In dem Kistchen, das Omar gewählt hatte, lagen auf einem samtenen
Kissen eine kleine goldene Krone und ein Zepter; in Labakans
Kistchen—eine große Nadel und ein wenig Zwirn! Der Sultan befahl den
beiden, ihre Kistchen vor ihn zu bringen. Er nahm das Krönchen von dem
Kissen in seine Hand, und wunderbar war es anzusehen, wie er es nahm,
wurde es größer und größer, bis es die Größe einer rechten Krone
erreicht hatte. Er setzte die Krone seinem Sohn Omar, der vor ihm
kniete, auf das Haupt, küßte ihn auf die Stirne und hieß ihn zu seiner
Rechten sich niedersetzen. Zu Labakan aber wandte er sich und sprach:
„Es ist ein altes Sprichwort: Der Schuster bleibe bei seinem Leisten!
Es scheint, als solltest du bei der Nadel bleiben. Zwar hast du meine
Gnade nicht verdient, aber es hat jemand für dich gebeten, dem ich
heute nichts abschlagen kann; drum schenke ich dir dein armseliges
Leben, aber wenn ich dir guten Rates bin, so beeile dich, daß du aus
meinem Lande kommst!“

Beschämt, vernichtet, wie er war, vermochte der arme Schneidergeselle
nichts zu erwidern; er warf sich vor dem Prinzen nieder, und Tränen
drangen ihm aus den Augen: „Könnt Ihr mir vergeben, Prinz?“ sagte er.

„Treue gegen den Freund, Großmut gegen den Feind ist des Abassiden
Stolz“, antwortete der Prinz, indem er ihn aufhob, „gehe hin in
Frieden!“

„O du mein echter Sohn!“ rief gerührt der alte Sultan und sank an die
Brust des Sohnes; die Emire und Bassa und alle Großen des Reiches
standen auf von ihren Sitzen und riefen: „Heil dem neuen Königssohn!“
Und unter dem allgemeinen Jubel schlich sich Labakan, sein Kistchen
unter dem Arm, aus dem Saal.

Er ging hinunter in die Ställe des Sultans, zäumte sein Roß Murva auf
und ritt zum Tore hinaus, Alessandria zu. Sein ganzes Prinzenleben kam
ihm wie ein Traum vor, und nur das prachtvolle Kistchen, reich mit
Perlen und Diamanten geschmückt, erinnerte ihn, daß er doch nicht
geträumt habe.

Als er endlich wieder nach Alessandria kam, ritt er vor das Haus seines
alten Meisters, stieg ab, band sein Rößlein an die Türe und trat in die
Werkstatt. Der Meister, der ihn nicht gleich kannte, machte ein großes
Wesen und fragte, was ihm zu Dienst stehe; als er aber den Gast näher
ansah und seinen alten Labakan erkannte, rief er seine Gesellen und
Lehrlinge herbei, und alle stürzten sich wie wütend auf den armen
Labakan, der keines solchen Empfangs gewärtig war, stießen und schlugen
ihn mit Bügeleisen und Ellenmaß, stachen ihn mit Nadeln und zwickten
ihn mit scharfen Scheren, bis er erschöpft auf einen Haufen alter
Kleider niedersank.

Als er nun so dalag, hielt ihm der Meister eine Strafrede über das
gestohlene Kleid; vergebens versicherte Labakan, daß er nur deswegen
wiedergekommen sei, um ihm alles zu ersetzen, vergebens bot er ihm den
dreifachen Schadenersatz, der Meister und seine Gesellen fielen wieder
über ihn her, schlugen ihn weidlich und warfen ihn zur Türe hinaus;
zerschlagen und zerfetzt stieg er auf das Roß Murva und ritt in eine
Karawanserei. Dort legte er sein müdes, zerschlagenes Haupt nieder und
stellte Betrachtungen an über die Leiden der Erde, über das so oft
verkannte Verdienst und über die Nichtigkeit und Flüchtigkeit aller
Güter. Er schlief mit dem Entschluß ein, aller Größe zu entsagen und
ein ehrsamer Bürger zu werden.

Und den andere Tag gereute ihn sein Entschluß nicht; denn die schweren
Hände des Meisters und seiner Gesellen schienen alle Hoheit aus ihm
herausgeprügelt zu haben.

Er verkaufte um einen hohen Preis sein Kistchen an einen
Juwelenhändler, kaufte sich ein Haus und richtete sich eine Werkstatt
zu seinem Gewerbe ein. Als er alles eingerichtet und auch ein Schild
mit der Aufschrift Labakan, Kleidermacher vor sein Fenster gehängt
hatte, setzte er sich und begann mit jener Nadel und dem Zwirn, die er
in dem Kistchen gefunden, den Rock zu flicken, welchen ihm sein Meister
so grausam zerfetzt hatte. Er wurde von seinem Geschäft abgerufen, und
als er sich wieder an die Arbeit setzen wollte, welch sonderbarer
Anblick bot sich ihm dar! Die Nadel nähte emsig fort, ohne von jemand
geführt zu werden; sie machte feine, zierliche Stiche, wie sie selbst
Labakan in seinen kunstreichsten Augenblicken nicht gemacht hatte!

Wahrlich, auch das geringste Geschenk einer gütigen Fee ist nützlich
und von großem Wert! Noch einen andere Wert hatte aber dies Geschenk,
nämlich: Das Stückchen Zwirn ging nie aus, die Nadel mochte so fleißig
sein, als sie wollte.

Labakan bekam viele Kunden und war bald der berühmteste Schneider weit
und breit; er schnitt die Gewänder zu und machte den ersten Stich mit
der Nadel daran, und flugs arbeitete diese weiter ohne Unterlaß, bis
das Gewand fertig war. Meister Labakan hatte bald die ganze Stadt zu
Kunden; denn er arbeitete schön und außerordentlich billig, und nur
über eines schüttelten die Leute von Alessandria den Kopf, nämlich: daß
er ganz ohne Gesellen und bei verschlossenen Türen arbeitete.

So war der Spruch des Kistchens, Glück und Reichtum verheißend, in
Erfüllung gegangen; Glück und Reichtum begleiteten, wenn auch in
bescheidenem Maße, die Schritte des guten Schneiders, und wenn er von
dem Ruhm des jungen Sultans Omar, der in aller Munde lebte, hörte, wenn
er hörte, daß dieser Tapfere der Stolz und die Liebe seines Volkes und
der Schrecken seiner Feinde sei, da dachte der ehemalige Prinz bei
sich: „Es ist doch besser, daß ich ein Schneider geblieben bin; denn um
die Ehre und den Ruhm ist es eine gar gefährliche Sache.“ So lebte
Labakan, zufrieden mit sich, geachtet von seinen Mitbürgern, und wenn
die Nadel indes nicht ihre Kraft verloren, so näht sie noch jetzt mit
dem ewigen Zwirn der gütigen Fee Adolzaide.

Mit Sonnenaufgang brach die Karawane auf und gelangte bald nach Birket
el Had oder dem Pilgrimsbrunnen, von wo es nur noch drei Stunden Weges
nach Kairo waren—Man hatte um diese Zeit die Karawane erwartet, und
bald hatten die Kaufleute die Freude, ihre Freunde aus Kairo ihnen
entgegenkommen zu sehen. Sie zogen in die Stadt durch das Tor Bebel
Falch; denn es wird für eine glückliche Vorbedeutung gehalten, wenn man
von Mekka kommt, durch dieses Tor einzuziehen, weil der Prophet
hindurchgezogen ist.

Auf dem Markt verabschiedeten sich die vier türkischen Kaufleute von
dem Fremden und dem griechischen Kaufmann Zaleukos und gingen mit ihren
Freunden nach Haus. Zaleukos aber zeigte dem Fremden eine gute
Karawanserei und lud ihn ein, mit ihm das Mittagsmahl zu nehmen. Der
Fremde sagte zu und versprach, wenn er nur vorher sich umgekleidet
habe, zu erscheinen.

Der Grieche hatte alle Anstalten getroffen, den Fremden, welchen er auf
der Reise liebgewonnen hatte, gut zu bewirten, und als die Speisen und
Getränke in gehöriger Ordnung aufgestellt waren, setzte er sich, seinen
Gast zu erwarten.

Langsam und schweren Schrittes hörte er ihn den Gang, der zu seinem
Gemach führte, heraufkommen. Er erhob sich, um ihm freundlich
entgegenzusehen und ihn an der Schwelle zu bewillkommnen; aber voll
Entsetzen fuhr er zurück, als er die Türe öffnete; denn jener
schreckliche Rotmantel trat ihm entgegen; er warf noch einen Blick auf
ihn, es war keine Täuschung; dieselbe hohe, gebietende Gestalt, die
Larve, aus welcher ihn die dunklen Augen anblitzten, der rote Mantel
mit der goldenen Stickerei waren ihm nur allzuwohl bekannt aus den
schrecklichsten Stunden seines Lebens.

Widerstreitende Gefühle wogten in Zaleukos Brust; er hatte sich mit
diesem Bild seiner Erinnerung längst ausgesöhnt und ihm vergeben, und
doch riß sein Anblick alle seine Wunden wieder auf; alle jene
qualvollen Stunden der Todesangst, jener Gram, der die Blüte seines
Lebens vergiftete, zogen im Flug eines Augenblicks an seiner Seele
vorüber.

„Was willst du, Schrecklicher?“ rief der Grieche aus, als die
Erscheinung noch immer regungslos auf der Schwelle stand. „Weiche
schnell von hinnen, daß ich dir nicht fluche!“

„Zaleukos!“ sprach eine bekannte Stimme unter der Larve hervor.
„Zaleukos! So empfängst du deinen Gastfreund?“ Der Sprechende nahm die
Larve ab, schlug den Mantel zurück; es war Selim Baruch, der Fremde.

Aber Zaleukos schien noch nicht beruhigt, ihm graute vor dem Fremden;
denn nur zu deutlich hatte er in ihm den Unbekannten von der Ponte
vecchio erkannt; aber die alte Gewohnheit der Gastfreundschaft siegte;
er winkte schweigend dem Fremden, sich zu ihm ans Mahl zu setzen.

„Ich errate deine Gedanken“, nahm dieser das Wort, als sie sich gesetzt
hatten. „Deine Augen sehen fragend auf mich—ich hätte schweigen und
mich deinen Blicken nie mehr zeigen können, aber ich bin dir
Rechenschaft schuldig, und darum wagte ich es auch, auf die Gefahr hin,
daß du mir fluchtest, vor dir in meiner alten Gestalt zu erscheinen. Du
sagtest einst zu mir: Der Glaube meiner Väter befiehlt mir, ihn zu
lieben, auch ist er wohl unglücklicher als ich; glaube dieses, mein
Freund, und höre meine Rechtfertigung!

Ich muß weit ausholen, um mich dir ganz verständlich zu machen. Ich bin
in Alessandria von christlichen Eltern geboren. Mein Vater, der jüngere
Sohn eines alten, berühmten französischen Hauses, war Konsul seines
Landes in Alessandria. Ich wurde von meinem zehnten Jahre an in
Frankreich bei einem Bruder meiner Mutter erzogen und verließ erst
einige Jahre nach dem Ausbruch der Revolution mein Vaterland, um mit
meinem Oheim, der in dem Lande seiner Ahnen nicht mehr sicher war, über
dem Meer bei meinen Eltern eine Zuflucht zu suchen. Voll Hoffnung, die
Ruhe und den Frieden, den uns das empörte Volk der Franzosen entrissen,
im elterlichen Hause wiederzufinden, landeten wir. Aber ach! Ich fand
nicht alles in meines Vaters Hause, wie es sein sollte; die äußeren
Stürme der bewegten Zeit waren zwar noch nicht bis hierher gelangt,
desto unerwarteter hatte das Unglück mein Haus im innersten Herzen
heimgesucht. Mein Bruder, ein junger, hoffnungsvoller Mann, erster
Sekretär meines Vaters, hatte sich erst seit kurzem mit einem jungen
Mädchen, der Tochter eines florentinischen Edelmanns, der in unserer
Nachbarschaft wohnte, verheiratet; zwei Tage vor unserer Ankunft war
diese auf einmal verschwunden, ohne daß weder unsere Familie noch ihr
Vater die geringste Spur von ihr auffinden konnten. Man glaubte
endlich, sie habe sich auf einem Spaziergang zu weit gewagt und sei in
Räuberhände gefallen. Beinahe tröstlicher wäre dieser Gedanke für
meinen armen Bruder gewesen als die Wahrheit, die uns nur bald kund
wurde. Die Treulose hatte sich mit einem jungen Neapolitaner, den sie
im Hause ihres Vaters kennengelernt hatte, eingeschifft. Mein Bruder,
aufs äußerste empört über diesen Schritt, bot alles auf, die Schuldige
zur Strafe zu ziehen; doch vergebens; seine Versuche, die in Neapel und
Florenz Aufsehen erregt hatten, dienten nur dazu, sein und unser aller
Unglück zu vollenden. Der florentinische Edelmann reiste in sein
Vaterland zurück, zwar mit dem Vorgeben, meinem Bruder Recht zu
verschaffen, der Tat nach aber, um uns zu verderben. Er schlug in
Florenz alle jene Untersuchungen, welche mein Bruder angeknüpft hatte,
nieder und wußte seinen Einfluß, den er auf alle Art sich verschafft
hatte, so gut zu benützen, daß mein Vater und mein Bruder ihrer
Regierung verdächtig gemacht und durch die schändlichsten Mittel
gefangen, nach Frankreich geführt und dort vom Beil des Henkers getötet
wurden. Meine arme Mutter verfiel in Wahnsinn, und erst nach zehn
langen Monaten erlöste sie der Tod von ihrem schrecklichen Zustand, der
aber in den letzten Tagen zu vollem, klarem Bewußtsein geworden war. So
stand ich jetzt ganz allein in der Welt, aber nur ein Gedanke
beschäftigte meine Seele, nur ein Gedanke ließ mich meine Trauer
vergessen, es war jene mächtige Flamme, die meine Mutter in ihrer
letzten Stunde in mir angefacht hatte.

In den letzten Stunden war, wie ich dir sagte, ihr Bewußtsein
zurückgekehrt; sie ließ mich rufen und sprach mit Ruhe von unserem
Schicksal und ihrem Ende. Dann aber ließ sie alle aus dem Zimmer gehen,
richtete sich mit feierlicher Miene von ihrem ärmlichen Lager auf und
sagte, ich könne mir ihren Segen erwerben, wenn ich ihr schwöre, etwas
auszufahren, das sie mir auftragen würde—Ergriffen von den Worten der
sterbenden Mutter, gelobte ich mit einem Eide zu tun, wie sie mir sagen
werde. Sie brach nun in Verwünschungen gegen den Florentiner und seine
Tochter aus und legte mir mit den fürchterlichsten Drohungen ihres
Fluches auf, mein unglückliches Haus an ihm zu rächen. Sie starb in
meinen Armen. Jener Gedanke der Rache hatte schon lange in meiner Seele
geschlummert; jetzt erwachte er mit aller Macht. Ich sammelte den Rest
meines väterlichen Vermögens und schwor mir, alles an meine Rache zu
setzen oder selbst mit unterzugehen.

Bald war ich in Florenz, wo ich mich so geheim als möglich aufhielt;
mein Plan war um vieles erschwert worden durch die Lage, in welcher
sich meine Feinde befanden. Der alte Florentiner war Gouverneur
geworden und hatte so alle Mittel in der Hand, sobald er das geringste
ahnte, mich zu verderben. Ein Zufall kam mir zu Hilfe. Eines Abends sah
ich einen Menschen in bekannter Livree durch die Straßen gehen; sein
unsicherer Gang, sein finsterer Blick und das halblaut herausgestoßene
„Santo sacramento“, „Maledetto diavolo“ ließen mich den alten Pietro,
einen Diener des Florentiners, den ich schon in Alessandria gekannt
hatte, erkennen. Ich war nicht in Zweifel, daß er über seinen Herrn in
Zorn geraten sei, und beschloß, seine Stimmung zu benützen. Er schien
sehr überrascht, mich hier zu sehen, klagte mir sein Leiden, daß er
seinem Herrn, seit er Gouverneur geworden, nichts mehr recht machen
könne, und mein Gold, unterstützt von seinem Zorn, brachte ihn bald auf
meine Seite. Das Schwierigste war jetzt beseitigt; ich hatte einen Mann
in meinem Solde, der mir zu jeder Stunde die Türe meines Feindes
öffnete, und nun reifte mein Racheplan immer schneller heran. Das Leben
des alten Florentiners schien mir ein zu geringes Gewicht, dem
Untergang meines Hauses gegenüber, zu haben. Sein Liebstes mußte er
gemordet sehen, und dies war Bianka, seine Tochter. Hatte ja sie so
schändlich an meinem Bruder gefrevelt, war ja doch sie die Ursache
unseres Unglücks. Gar erwünscht kam sogar meinem rachedürstigen Herzen
die Nachricht, daß in dieser Zeit Bianka zum zweitenmal sich vermählen
wollte, es war beschlossen, sie mußte sterben. Aber mir selbst graute
vor der Tat, und auch Pietro traute sich zu wenig Kraft zu; darum
spähten wir umher nach einem Mann, der das Geschäft vollbringen könne.
Unter den Florentinern wagte ich keinen zu dingen, denn gegen den
Gouverneur würde keiner etwas Solches unternommen haben. Da fiel Pietro
der Plan ein, den ich nachher ausgeführt habe; zugleich schlug er dich
als Fremden und Arzt als den Tauglichsten vor. Den Verlauf der Sache
weißt du. Nur an deiner großen Vorsicht und Ehrlichkeit schien mein
Unternehmen zu scheitern. Daher der Zufall mit dem Mantel.

Pietro öffnete uns das Pförtchen an dem Palast des Gouverneurs; er
hätte uns auch ebenso heimlich wieder hinausgeleitet, wenn wir nicht,
durch den schrecklichen Anblick, der sich uns durch die Türspalte
darbot, erschreckt, entflohen wären. Von Schrecken und Reue gejagt, war
ich über zweihundert Schritte fortgerannt, bis ich auf den Stufen einer
Kirche niedersank. Dort erst sammelte ich mich wieder, und mein erster
Gedanke warst du und dein schreckliches Schicksal, wenn man dich in dem
Hause fände. Ich schlich an den Palast, aber weder von Pietro noch von
dir konnte ich eine Spur entdecken; das Pförtchen aber war offen, so
konnte ich wenigstens hoffen, daß du die Gelegenheit zur Flucht benützt
haben könntest.

Als aber der Tag anbrach, ließ mich die Angst vor der Entdeckung und
ein unabweisbares Gefühl von Reue nicht mehr in den Mauern von Florenz.
Ich eilte nach Rom. Aber denke dir meine Bestürzung, als man dort nach
einigen Tagen überall diese Geschichte erzählte mit dem Beisatz, man
habe den Mörder, einen griechischen Arzt, gefangen. Ich kehrte in
banger Besorgnis nach Florenz zurück; denn schien mir meine Rache schon
vorher zu stark, so verfluchte ich sie jetzt, denn sie war mir durch
dein Leben allzu teuer erkauft. Ich kam an demselben Tage an, der dich
der Hand beraubte. Ich schweige von dem, was ich fühlte, als ich dich
das Schafott besteigen und so heldenmütig leiden sah. Aber damals, als
dein Blut in Strömen aufspritzte, war der Entschluß fest in mir, dir
deine übrigen Lebenstage zu versüßen. Was weiter geschehen ist, weißt
du, nur das bleibt mir noch zu sagen übrig, warum ich diese Reise mit
dir machte.

Als eine schwere Last drückte mich der Gedanke, daß du mir noch immer
nicht vergeben habest; darum entschloß ich mich, viele Tage mit dir zu
leben und dir endlich Rechenschaft abzulegen von dem, was ich mit dir
getan.“

Schweigend hatte der Grieche seinen Gast angehört; mit sanftem Blick
bot er ihm, als er geendet hatte, seine Rechte. „Ich wußte wohl, daß du
unglücklicher sein müßtest als ich, denn jene grausame Tat wird wie
eine dunkle Wolke ewig deine Tage verfinstern; ich vergebe dir von
Herzen. Aber erlaube mir noch eine Frage: Wie kommst du unter dieser
Gestalt in die Wüste? Was fingst du an, nachdem du in Konstantinopel
mir das Haus gekauft hattest?“

„Ich ging nach Alessandria zurück“, antwortete der Gefragte. „Haß gegen
alle Menschen tobte in meiner Brust, brennender Haß besonders gegen
jene Nationen, die man die gebildeten nennt. Glaube mir, unter meinen
Moslemiten war mir wohler! Kaum war ich einige Monate in Alessandria,
als jene Landung meiner Landsleute erfolgte.

Ich sah in ihnen nur die Henker meines Vaters und meines Bruders; darum
sammelte ich einige gleichgesinnte junge Leute meiner Bekanntschaft und
schloß mich jenen tapferen Mamelucken an, die so oft der Schrecken des
französischen Heeres wurden. Als der Feldzug beendigt war, konnte ich
mich nicht entschließen, zu den Künsten des Friedens zurückzukehren.
Ich lebte mit einer kleinen Anzahl gleichdenkender Freunde ein unstetes
und flüchtiges, dem Kampf und der Jagd geweihtes Leben; ich lebe
zufrieden unter diesen Leuten, die mich wie ihren Fürsten ehren; denn
wenn meine Asiaten auch nicht so gebildet sind wie Eure Europäer, so
sind sie doch weit entfernt von Neid und Verleumdung, von Selbstsucht
und Ehrgeiz.“

Zaleukos dankte dem Fremden für seine Mitteilung, aber er verbarg ihm
nicht, daß er es für seinen Stand, für seine Bildung angemessener
fände, wenn er in christlichen, in europäischen Ländern leben und
wirken würde. Er faßte seine Hand und bat ihn, mit ihm zu ziehen, bei
ihm zu leben und zu sterben.

Gerührt sah ihn der Gastfreund an. „Daraus erkenne ich“, sagte er, „daß
du mir ganz vergeben hast, daß du mich liebst. Nimm meinen innigsten
Dank dafür!“ Er sprang auf und stand in seiner ganzen Größe vor dem
Griechen, dem vor dem kriegerischen Anstand, den dunkel blitzenden
Augen, der tiefen Stimme seines Gastes beinahe graute. „Dein Vorschlag
ist schön“, sprach jener weiter, „er möchte für jeden andern lockend
sein—ich kann ihn nicht benützen. Schon steht mein Roß gesattelt,
erwarten mich meine Diener; lebe wohl, Zaleukos!“ Die Freunde, die das
Schicksal so wunderbar zusammengeführt, umarmten sich zum Abschied.
„Und wie nenne ich dich? Wie heißt mein Gastfreund, der auf ewig in
meinem Gedächtnis leben wird?“ fragte der Grieche.

Der Fremde sah ihn lange an, drückte ihm noch einmal die Hand und
sprach: „Man nennt mich den Herrn der Wüste; ich bin der Räuber
Orbasan.“





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