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Title: Mimi Lynx - Eine Novelle
Author: Schaukal, Richard von
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Mimi Lynx - Eine Novelle" ***


  [Illustration]



  DIESES BUCH WURDE GEDRUCKT
  IN DER OFFIZIN W. DRUGULIN
  LEIPZIG



  RICHARD SCHAUKAL

  MIMI LYNX


  EINE NOVELLE

  [Illustration]

  INSEL-VERLAG LEIPZIG 1904



Einmal im Herbste, kurz vor Beginn des dritten Semesters, war er zu einem
kleinen Souper geladen. Die Leute standen ihm fern. Er ging ohne Interesse
hin, fast mit Bedauern. Wie immer kam er zu spät ... Damals lernte
Heinrich Mimi Lynx kennen. Ihre Stirne war bleich wie Citroneis, ihre
Brauen rund und dumm wie bei einem Baby. Ihre Augen, von einem wechselnden
Braun-Grün, schimmerten unter müden breiten Lidern. Ebenso müde war die
Unterlippe. Aber die Oberlippe und die viel zu starken Zähne lachten.
Und um die kurze steile Mopsnase mit den heftig vibrierenden sinnlichen
Flügeln spielte etwas wie Hohn. Das Haar war dicht, dunkelblond.
Gewaltsam mit dem Kamme aus der Stirne nach dem Scheitel gezerrt, stand es
halbmondförmig über den schmalen Schläfen und lastete mit einem dicken
Knoten in dem sehr schlanken mädchenhaften Nacken. Ihre Bewegungen
geschahen ruckweise, sie stiess die Arme aus den Schultergelenken heraus,
die Hand gab sie breit wie eine Engländerin und grüsste dabei mit einem
kurzen Zucken des Kopfes über der weichen und immer etwas herausfordernd
gehobenen Büste. Die Arme kreuzte sie gerne, und ihre Füsse in den
ausgeschnittenen Lackschuhen erinnerten wieder an ein Baby. Sie war
zweiundzwanzig Jahre alt, drei Jahre verheiratet und hatte ein kleines
Mäderl, das ihr gar nicht ähnlich sah und dem sie immer wie einem ganz
merkwürdigen, nicht sehr appetitlichen Dinge entgegenkam. Sie liebte
schwermütige Musik, frisches saftiges Obst und Ananaskonfekt. Auf der
Strasse ging sie stets ohne Schirm, beide Hände im Muff oder in den
Taschen der kurzen Jacke, lächelnd und neugierig ... Sie gefiel ihm. Er
war ihr mit geröteten Wangen genaht, was vom schnellen Gehen, von der
Herbstkälte und von Befangenheit gleicherweise herrührte. Sie war auch
verlegen, sagte einige Worte, suchte nach einer Pointe und lächelte. Ihr
Lächeln war ansteckend.

Gabriele d'Aunay, die Hausfrau, machte sich angenehm bemerkbar. Sie sagte
zu ihm: »Warum haben Sie mir eigentlich nicht Ihr Buch gewidmet?« Und zu
Mimi: »Er hat wunderhübsche Augen, nicht wahr?« Sie setzte rechts neben
sich einen ältlichen Rittmeister, der eine enorme Glatze und einen dicken
schwarzen Schnurrbart hatte, und zur Linken placierte sie einen ganz
schmalen kleinen Bezirkskommissär, der von Zeit zu Zeit einen sehr
feinen Witz fallen liess, immer an Gustav Lynx vorbei, der ihn beharrlich
missverstand. Gustav Lynx, Mimis Gatte, trug den linken Arm in der Binde;
er war mit dem Pferde gestürzt. Mimi gegenüber lehnte die schwarze
hindufarbige Helene Kortmann, geborene Gräfin Tuff, eine junge Witwe, und
blickte mit Augen von zartestem Himmelblau den kurzsichtigen Hausherrn an,
der, zwischen zwei zu unterhaltenden Damen, verbindlich an dem blassrosa
Lachsstück auf seinem Teller herumstocherte. Mimi Lynx war Heinrichs
Tischnachbarin.

Heinrich sprach gleich anfangs viel und sehr leise. Er neigte sich beim
Sprechen mit seinem rechts gescheitelten dunkeln, vollen Haare zu ihr hin
und zerknüllte eine Semmel, wie es seine schlechte Gewohnheit war. Er
erzählte der blassen, lächelnden Mimi, die sehr lange, wunderbar
dünne Nägel an den unruhigen Fingern hatte, von seinem Innenleben. Er
entschuldigte sich, dass er über sich spreche. Aber dessenungeachtet
redete er weiter. Seine Stimme war schmeichelnd und hatte einen
gedämpften, wie um ein Rendezvous bittenden Klang. Manchmal blickte er
auf seine gepflegten Hände und legte die Finger ineinander, mit gesenkten
Lidern, so dass die langen schwarzen Wimpern über seine vollen, im Lichte
der elektrischen Hängelampe bleichen Wangen, die sich unter den Augen
und um die starke, gerade Nase leise und im Laufe des Gespräches tiefer
röteten, kleine feine Schatten warfen.

Dann stellte er die Beine auseinander, breitete die silberweisse Serviette
mit den feinen grauweissen Girlanden, die er deutlich bis auf jedes
Blättchen sah, über seine schlanken hohen Kniee, goss sich aus dem
gerippten, silberbeschlagenen Kruge hellgelben Wein in ein grünes
Stengelglas und legte behutsam, lautlos seinen Lackschuh an den linken
Knöchel der jungen Frau. Sie rührte sich nicht. Und einmal sah sie ihn an
mit glänzenden Augen, die jetzt dunkelbraun und sehnend erschienen unter
den müden milchweissen starken Lidern, lange, lange ... Endlich schob sie
ihm ihr Glas hin, so dass der grosse Smaragd, der über die drei Brillanten
an ihrem linken kleinen Finger ragte, an seiner um die Knöchel vor den
vier deutlichen grünblauen Adern starkgeröteten Hand ruhte, und bat ihn
um einen Tropfen Wein ... Sie sprach wenig. Sie liess ihn erzählen. Und
sein Fuss schmiegte sich an ihren Fuss, zärtlich fragend, endlich bittend,
ungestüm flehend. Da gab sie leise, ganz leise Antwort ... Um zwölf Uhr
ging er mit dem kleinen schmalen Bezirkskommissär, der laut gähnte, durch
die stille dunkle Marthastrasse.

»Gefällt Ihnen die Lynx?« fragte Herr von Römer plötzlich.

»Ja ... Sehr gut.« Zögernd, fast misstrauisch.

»Wer hat sie denn jetzt? Wissen Sie's nicht zufällig?«

»Nein.«

Es ärgerte ihn, dass der Mensch ihm das sagen durfte, ihm, der schon ein
Recht auf sie besass. Dann trennten sie sich ...

Er dachte an Mimi Lynx. Jetzt sitzt sie im Wagen, an der Seite ihres
Mannes. Sie lehnt sich an ihn ... Und dann werden sie langsam die stille
Treppe hinaufsteigen, sie müde, mit dem zärtlich zagenden Schritte, der
in die Nacht führt, zum Bette ... Was ist er ihr, ihr Mann? ... Sie haben
keine Scham voreinander. Sie wird sich entkleiden und die Decke fröstelnd
bis zu den Lippen emporziehen. Dann kommt er, wirft sich hin neben sie,
zieht die Taschenuhr auf und löscht das Licht aus. Und das Licht der
Strassenlaternen zittert über den Plafond ... Ob sie an ihn denken wird?
Nein. Sie hat ihn vergessen ... Vergessen? Hat sie denn überhaupt an ihn
gedacht? ... Vielleicht. Einen Moment. Beim Abschied. Im Wagen. Bei der
Berührung ihres Mannes ... Und wie hat sie an ihn gedacht? Mit einem
neugierigen Verlangen? Entkleidet ihr Gedanke den jungen Menschen, der
heute in ihr Leben getreten ist? ... Er blieb stehen und horchte in die
Nacht. Wolken zogen wild über den tiefdunkeln Himmel. Funken sprühten
aus einem grossen Schlot im Hintergrunde. Die Stadt schlief. Die Stille war
lastend, beängstigend. Er wollte etwas hören und stiess den Stahlbeschlag
seines Stockes gegen die Pflastersteine. Dann zündete er sich eine
Cigarette an. Das Streichholz flammte auf, ein warmer Phosphorgeruch stieg
ihm in die Nase. Die Flamme frass sich gierig in das Papier. Er warf das
Streichholz weg. Es leuchtete hell auf, zuckte und erlosch. Auf dem Turme
über der Stadt schlug es ein viertel nach zwölf. Ihn fror. Er steckte
beide Hände in die Taschen seines Überrockes, zog die Schultern herauf
und ging. Er hörte seinen Schritten zu und dem Rauschen seines Blutes ...
Fernes Wagenrollen ... Er liebte Mimi Lynx ...



Damals dachte er viel über sich selbst nach. So gewöhnte er sich immer
mehr und mehr daran, seinem eigenen Handeln zuzusehen. Es kam zu einer
vollständigen Spaltung seines Wesens. Er war sehr ruhig, immer zuwartend,
nicht gerne aus seinem Stuben- und Bücherleben durch gewaltsame Eingriffe
aufgestört, etwa durch Besuche von Freunden, die ihm doch nichts zu sagen
hatten. Resigniert empfing er diese Menschen, wehrte ihren unaufrichtigen
Entschuldigungen und zwang sich zu den Gesprächen, die sie pflegten,
diesem Worteaneinanderreihen über Gegenstände ihrer Tage, ohne Sinn, ohne
innere Bewegung. Wozu reden die Leute immer? fragte er sich. Sie haben doch
kein Bedürfnis zu diesen Kritiken und Reproduktionen banaler Geschehnisse.
Leben die Leute ein Traumleben? Sie stehen auf, studieren oder lesen über
die Worte weg, wandeln spazieren und bleiben vor jedem Bekannten stehen;
sie geben in den »ersten Häusern« Karten ab, gehen spät schlafen,
sehen Menschen bei sich; keiner ihrer Dialoge ist ihnen notwendig, ihre
Lebensregungen entgehen ihnen, weil sie sie nicht verfolgen. Sie lassen
sich leben. Sie empfinden nur die Eindrücke der Oberfläche, sie denken
nicht nach über ihr Gestern, sie sorgen nicht um ihr Morgen. Und dann
treten sie in die Berufe, geben wieder Karten ab, essen, schlafen,
heiraten, sehen Menschen bei sich, bekommen Kinder, deren Sein sie
nicht wollten, streben einflussreiche Posten an und rauchen unzählige
Cigaretten. Endlich werden sie älter, »erfahrener«, und schliesslich
legen sie sich dem Tode in die Arme, ohne Wachstumsringe gefühlt zu haben,
und sterben. Nein, sie lassen sich töten. _Und mit diesen Menschen muss
man umgehen? Man darf sie nicht erschlagen wie Fliegen, die einen ärgern?_
Warum nicht? ...

Er ging zu Mimi Lynx und brachte ihr seine »Nächte«. Sie dankte und
blätterte in den starken schwarzgeränderten Seiten. Dann sah sie ihn
an, lange, unter den müden Lidern heraus mit einem Lächeln um die kurzen
Oberlippen, das ihm vegetabilisch schien, wie Pflanzen lächeln mögen,
wenn die Winde der Zeit an sie stossen, Pflanzen auf ihren locker
wurzelnden Stengeln, die lächeln, bis einer kommt und sie gedankenlos
abbricht, an ihnen riecht und sie fallen lässt ... Er setzte sich neben
sie im Zwielicht der gestickten Stores, verschränkte die Finger über
den schmalen Knieen und dachte angelegentlich daran, dass ihm Schweiss vom
schnellen Gehen auf der Stirne stand und dass seine Lippen brannten vom
vielen Schneuzen ...

Er tastete mit seinen Worten an ihr herum. Er überlegte, ob er eigentlich
jetzt noch von ihr gehen und sie vergessen könnte. Er wusste es nicht.
Mimi Lynx sass gegen die steifen »Eselstaschen« gelehnt und nippte an
einer Cigarette. Er betrachtete sie und sagte ihr: »Sie sind schön und
unbefriedigt. Sie verstehen von den Dichtern nichts als die Worte der
Liebe. Sie haben eine unreine Phantasie. Ihre Lippen vertrocknen, weil sie
nicht zusammenkommen. Sie putzen Ihre Zähne und Ihre Fingernägel drei bis
viermal des Tages, weil es Sie freut, sehr sauber und sehr gut erzogen
zu sein ... Sie würden jeden nehmen, der Ihnen gefällt, wenn es
bequem möglich wäre ... Sie müssen sehr schöne runde Arme haben, die
unmerklich in die Schultern übergehen. Ich sähe Sie gerne mit schmalen
grünen Bändern über den Achseln, mit blossem Nacken und in einem
schwarzen Sammetkleide, das nur bis unter die Schultern reichte und straff
wie ein Mieder wäre. Es würde mir Freude machen, Ihre Haare in einen
festen Knoten zu frisieren, der Ihren Stirnadern weh tun sollte.« Er
dachte Literatur. Es war ihm um den seltsamen Eindruck zu tun. Sie hörte
ihm zu und lächelte. Sie verwies ihm nichts ... Dann kam Gustav, der
Gatte, und sie sprachen vom Tennis, von Wien, dem Turf. Gustav, der Gatte,
machte einige Witze über das Dichten. »Die Mimi dichtet auch.« Sie
lächelte ...

Einmal kam er, um sich zu verabschieden. Sie war im Garten, auf dem die
müde kraftlose Herbstsonne lag, trug ein Rohseidenkleid mit dunkelroten
Handstickereien, und ein breiter Sommerhut hing ihr am Arme. Sie strich
sich die kleinen Haare an den Schläfen zurück und gab ihm die weiche,
kühle Hand. Er hielt diese lange, sah die junge Frau an und liess in seine
Augen eine gewollte Sinnlichkeit steigen. Da zog sie die Hand zurück und
schlenderte ihm voran. Er fragte sie, ob er ihr gelegentlich neue Gedichte
senden dürfe. Sie sagte: »Ja, bitte. Tun Sie das.« -- »Werden Sie mir
antworten?« -- »Ja«. Dann ging er. Sie sah ihm nach. Einmal drehte
er sich um. Sie stand da, schlank und so weich, gleichsam zärtlich im
Nachmittagslichte. Er fühlte: Sie sonnt sich. Er verneigte sich. Sie
lächelte ...



Als er im Coupé sass und die Stadt allmählich in einem trüben
Novemberhimmel verschwand, stieg ihm eine unendliche Traurigkeit in die
Kehle. Er lehnte den Kopf an die Scheiben und zwang seine Augen, die
Aussenwelt zu bemerken. Aber sie gingen immer wieder in seine Seele und
halfen ihm weinen. Das Leben schien ihm herb und hämisch. Es war aus einer
wunderschönen Maske geglitten und zeigte ihm hässliche und höhnische
Züge. Und hinter ihm lag alles, was lebenswert war. Sonst war er mit einem
heftigen Heimweh nach der Mutter geschieden, die er immer, ihre Tränen
erstickend, mit vorgebeugtem Halse, um den Blicken der Menschen ihr Leid zu
entziehen, rasch über den Perron zum Ausgange eilen sah, wenn der Zug
aus der Halle fuhr. Heute war dieses Weh anders und viel heftiger ...
Plötzlich begann er sich in seinem Unglücke zu gefallen. Er kokettierte
mit seiner Traurigkeit, sah sich wieder einmal leiden zu. Er dachte:
»Jetzt bin ich so elend! Und ich fahre nach Wien, in dieses grausame Wien,
das mir sein Leben aufdringt und die nüchterne Geschäftigkeit seiner
teilnahmslosen Menschen. Ich komme in meine Wohnung, die mich nichts
angeht, nichts von mir hat in ihren Mietmöbeln, in ihrer ausgeräumten
Kahlheit, die ich erst wieder zudecken soll.« Er zündete sich eine
Cigarre an und holte ein Buch aus der Tasche hervor, Maupassant, Pierre et
Jean, las einige Seiten. Die Cigarre kohlte ... Er stand auf und trat
in den schmalen Gang hinaus. Langhingedehnte, traurige, traurige Felder.
Mässige Hügel. Eine fürchterliche Oede lag über dieser nebeligen
kühlen Landschaft. Das Gras an den Dämmen war nass und zertreten. Die
Telegraphenstangen flogen an dem Fenstergeländer hin. Der Himmel war grau.
Grau wie die Tage, die ihn erwarteten. »Was werde ich aus diesen Tagen
herausholen, ich, der ich ihnen nichts zu geben habe als meine Sehnsucht?«

Er ging in das Coupé zurück, schob die Türe zu, denn ihn fror, hüllte
sich in seinen Plaid und nahm wieder das Buch vor. Aber das Lesen freute
ihn nicht. Er hatte keine Ruhe. Er sah nach der Uhr. Wie die Zeit zögerte!
Und plötzlich überfiel ihn wieder einmal tiefe Angst vor der Zeit.
»Jetzt scheint sie zu stocken, aber das ist nicht wahr. Sie rennt, sie
stürzt in die Ewigkeit. Ich komme ihr nicht nach. Was will ich alles!
Was habe ich getan? Nicht einmal französisch kann ich so lesen, dass ich
niemals übersetzte, dass mir niemals ein Wort mangelte! Und ich lese
doch fast nur französisch. Was tue ich eigentlich? Wozu bin ich?« Und
er sehnte sich nach dem Freunde, der erst nachkommen sollte. Der half ihm
immer mit seiner Skrupellosigkeit. Der lebte, weil er dem Leben sein Recht
zugestand. Er aber liess keine Stunde unzerzaust an sich vorüber ...
Dann begann er sich zu trösten. Alles sagte er in stummen wohlgefügten
Sätzen, er dachte es nicht: er redete. Und zwischen den Speichen seiner
Rede wanden sich windschnell die Gedanken, und an ihnen hielten sich die
Gedanken über die Gedanken geklammert, und wenn er ein wenig die Zügel
seines Monologes fallen liess, hörte er das alles mit den feinen Ohren
seines Gewissens und fürchtete sich vor dem Wirrwarr seiner Seele ...
Endlich war er in Wien ...

Als er wieder in seinem Zimmer stand, vor dem unausgepackten Koffer, fiel
ihn diese grausame Sehnsucht von neuem an, alle Fänge hackte sie ihm ins
Herz, das sich krümmte und blutend zuckte. Er presste seine Hände an die
Augen, bis sie schmerzten, so dass rote und blaue Lichter wilde Kreise vor
seinen geblendeten Blicken schwangen, als er sie frei gab. Dann seufzte er
auf und rief nach dem Mädchen. Er wollte einen Menschen in seiner Nähe
haben ... Sie half ihm beim Einräumen der Kasten ... Jedes Stück hatte
ihm die Mama sorgfältig in den Koffer gelegt, ein Hauch von ihr war noch
um all die Sachen, der sich jetzt verflüchtigte, als sich der Raum rasch
und rascher leerte. Endlich schlug er den Deckel zu. Hell klirrte das
Schloss. Er war wieder zu Hause ... Schnell zog er sich um. Er musste
fort. Zu Menschen. Lachen hören, Gesichter sehen, reden, reden. Und schon
fürchtete er sich vor dem Nachhausekommen. Da fiel ihm die Rettung ein:
trinken wollte er, bis er müde würde, zum Umfallen müde ... Er eilte in
die Stadt.



Als der Hans kam und von der Sonne begehrte, dass sie ihm zuliebe erst um
zwölf Uhr mittag aufgehen sollte, als er mit seiner ausgelassenen Laune
eines, der die Zügel über den Kopf geworfen hat, nach »Festen« rief,
gewann alles ein anderes Aussehen. Die Strassen, die sie Arm in Arm
durchwanderten, weiteten sich, die Häuser grüssten freundlich mit ihren
prunkenden »Auslagen« und den spiegelblank geputzten Fenstern, die Leute
hatten ihre besten Kleider angezogen und trugen ein pfiffiges Lächeln um
die Mundwinkel: »O wir verstehens auch!« ...

Ihre Wohnung bestand aus zwei grossen Zimmern im zweiten Stocke eines
Hauses in der Alserstrasse, die von dem Vermieter, einem Agenten in
Majolikawaren, mit Vasen, Krügen und Jardinieren vollgeräumt waren. Sie
verrückten alle Sophas, schoben Tische und Tischchen herum, drapierten
die Wände und pfiffen in den Sonnenschein ... Frau Martha L. schrieb an
Heinrich ... Der Sommer erstand vor ihm.

Sie hatte mit einem alten guten Gatten und einem Töchterchen in den
Zopfjahren ein nur selten durch Stadtbesuche unterbrochenes Landleben
geführt. Aber man erzählte allerhand. Den Heinrich reizte es, dass sie
ihn als Kind gekannt hatte und stundenlang seinen Spielen zugesehen haben
sollte. Diese Frau mit dem graziösen Halse und den feuchten schwarzen
Augen, die ihn als Buben von fünfzehn Jahren einmal durch ihre spröde
unnatürliche Stimme aus aller Fassung gebracht hatte, zu besitzen, lockte
seine nach seltsamen Begebnissen lüsterne Phantasie. An einem drückend
heissen Julimittage kam er zu ihr, verschwitzt, sonnenrot, verlegen
und eigentlich unberührt. Er war den Berg hinaufgerannt. In einem
schwarzweisskarierten englischen Kleide empfing sie ihn, freudig,
wirklich angenehm gestimmt durch seinen Besuch, der durchaus nicht der
heranwachsenden Tochter galt. Sie sah ihn an, lächelte und dachte: »Wie
hübsch er ist!« Er sagte ihr seine Neigung in langsamen, um Vergebung
bittenden Worten, und sie fand ihn »eigen« ... Der Ahornbaum vor dem
offenen Fenster verschattete das kühle weite Zimmer mit den zahllosen
Photographien und den schweren Salontisch-Prachtwerken. Alles wurde so
unwirklich, seltsam gedämpft durch diesen milden alten Baum ... Sie gab
ihm die Hand. »Ich habe Ihre Gedichte gelesen. Sie sind ja ein wahrer
Poet!«

Was sie sagte, war sehr dumm. Sie sprach überhaupt selten anders als
dumm ... Ihm aber schien es, als sei erst mit ihren Worten die Krone der
Vollendung auf seine Stirne gedrückt worden. Er hätte sie küssen mögen
nur um dieser dummen Worte willen.

Er wollte ihr erwidern, aber er fühlte, es werde etwas ungemein
Läppisches herauskommen. Da schwieg er.

Sie sprach weiter. Ihm gegenüber war sie ja so stark. »Und werden Sie die
Dichtkunst auch weiterhin betreiben?«

Als ob sie ihn gefragt hätte: »Und werden Sie das Rasieren auch weiterhin
betreiben?« Er wurde irre an ihr. Er ärgerte sich fast. Und da sagte er:
»Gewiss. Aber ›betreiben‹ ist doch wohl nicht das richtige Wort.«
»Excusez, monsieur«, sagte sie. Sie liebte französische Brocken.

Er trocknete sich den Schweiss von der Stirne und war wieder ganz klein,
ganz erbärmlich ... Da kam ihr Mann. Das war auch einer von denen, die
lächelnd umhergehen, »guten Tag« sagen und blind für das nächste sind.
Er war sehr jovial und freute sich »riesig«.

Sie dachte: »Ob Ernst eifersüchtig sein wird auf das Kind? ...« Es war
gut, dass Ernst nicht da war. Denn das war der Mann, vor dem ihre arme
Seele kniete ... Dann rief die kleine Grete zum Tee ... Das war im Sommer
gewesen.

Jetzt schrieb sie ihm:

  »Es war sehr freundlich von Ihnen, sich Ihres Versprechens zu erinnern
  und danke herzlichst hierfür -- bis jetzt war ich noch nicht in Wien
  -- vielleicht komme ich noch vor Weihnacht, Einkäufe besorgen und
  wieder mal Grossstadtluft atmen -- bezüglich des Nichterscheinens
  meines Photo muss ich um Entschuldigung bitten usw. -- Und nun à dieu,
  mein junger Freund, seien Sie usw.«

Ein Stil! Ja, sie war dumm. Dumm und schön. Eigentümlich. Keine andere
Frau war so überzeugend Weib, so ganz dazu da, dass die Männer hingehen
und verrückt werden vor Begehren.

Er sass an dem polierten Schreibtisch, der seinem verwöhnten Geschmacke
oftmals Qualen bereitete, und sah in die dunkeln Fensterscheiben. Die
Lampe spiegelte sich in der linken unteren. Er kam sich ungemein bleich,
»pensif« vor. Er betrachtete diese undeutliche Wiedergabe seines
Gesichtes unter den zerzausten welligen Haaren. Dann schrieb er ein paar
Verse. Der letzte wollte keinen Reim dulden. Unwillig schob er das Papier
in die Mappe ... Da kam der Hans. Natürlich von der Paula. Eine Gardenie
im Knopfloch, eine »Festrübe«, eine »Flor de Cuba«, im Munde. Er
warf Überrock und Cylinder auf den türkischen Diwan unter der
Petroleum-Hängelampe, rieb sich die Hände, pfiff durch die Zähne und
wollte gefragt sein. Aber Heinrich hatte keine Lust. Endlich tat er ihm
die Freude ... Die Paula war seine Entdeckung. Eine kleine blonde
Schauspielerin, eine »Bestie«. Er hatte sie auf der Strasse angesprochen.
Sie war anfangs entrüstet gewesen, diese kleine, blasse, à la Botticelli
frisierte Person mit den zärtlichen grossen rehbraunen Augen. Da liess er
einen Namen fallen, langsam, siegesgewiss: Rose Barune Merony. Das wirkte.
Eine Freundin. »Meine beste Freundin.« Und dann wurde er für Montag zum
Tee geladen. Er kam und fand bei ihr die Seiler, eine Choristin aus der
Josephstadt. Die Paula gefiel ihm. Sie lebte in einem geschmackvollen
Bric-à-Brac von Stand-Lampen mit Abas-Jours, japanischen Ofenschirmen,
Blumen und Bildern, zeigte einen sehr schönen winzigen Fuss in einem
nagelneuen Lackschuh und zerbiss mit herzigen Mauszähnchen Konfekt. Er
lud sie zu sich ein. Sie nahm an. »Die Giesi muss mit«. »Gewiss. Sehr
gern« ... Um acht Uhr holte er sie aus dem Theater. Sie wolle sich noch
umkleiden. Er dürfe hinauf, aber »Ehrenwort, anständig sein!« --
»Ehrenwort!« -- Und er hatte es gehalten ... Sie waren allein in der
Wohnung gewesen, ganz allein. Er sass vor dem roten, gelbgezeichneten
Sekretär und las: Karl Maria H..., »Gedichte«. Sie wechselte im
Nebenzimmer die Toilette. Er hörte das Rauschen der Seide. Denn es gab
keine Türflügel, keine Portieren zum Schlafgemache ... Endlich kam sie,
lächelnd ... Er war sich damals ungemein läppisch vorgekommen.

An dem Abende lernte sie der Hans kennen und verliebte sich in sie.
Natürlich ... Jetzt steckte er immer mit ihr zusammen. Das kostete sehr
viel Geld. Aber ohne Erfolg ... Und heute wieder wie immer: Causerie,
Dummheiten, ein halbes Dutzend Handschuhe, eine Bonbonniere ... Heinrich
seufzte. Er war sich nie recht klar geworden darüber, ob er sie gern
hätte. Jetzt wusste er es. Auf jede Einzelheit dieser drei regnerischen
Nachmittagsstunden war er eifersüchtig ... Es läutete: der
Briefträger ... Zurückgesandte Manuskripte: »Leider sind wir derzeit
überhäuft ...« Dann ein grosses starkes Kuvert mit einer niedlichen
schiefen Schrift. Er studierte den Poststempel. »Ah!« ...

Geehrter Herr D.!

Besten Dank für die freundliche Übersendung Ihres neuesten Werkes.

Ich habe es bereits gelesen, und es hat mir gut gefallen. Wo soll es denn
zuerst aufgeführt werden? Waren Sie schon bei meiner Schwägerin Nina?
Der müssen Sie's auch zeigen oder noch besser vorlesen. Es grüsst Sie
herzlich

  Mimi Lynx.



Nacht. Heinrich sass an seinem Schreibtische und verfolgte den Schatten
der Feder, die lässig über den glänzend-weissen Bogen zog. Er schrieb an
»Psyche. Ein Mysterium.«

Es war totenstill um ihn. Die Lampe beleuchtete voll die Tischplatte, das
Fenster bis in die halbe Vorhanghöhe und den schweren Spiegelkasten. Keine
Uhr tickte. Von draussen kam gedämpftes Strassenleben herauf: Wagenrollen
und Tramwayklingeln. Er lag über dem Papier und fühlte sich müd und
traurig. Weltverlassen erschien er sich, elend ... Er dachte an den Sommer,
an die Zeit beim Hans, an den Wald und die hohen, hohen weissen Wolken.
Martha L. stieg aus der schwerfälligen Landkalesche und wanderte
leicht und lautlos zur roten kleinen Dorfkirche ... Er dachte an diese
wundervollen Sommernächte. Wie sie beide, er und der Hans, einander
gegenüber in den breiten Betten in ihrem selbstgeschmückten Heim unterm
Dache fast bis in den Morgen hinein gelesen und geplaudert hatten, während
der Mond durch die schmalen Rundbogenfenster ins Zimmer lugte. Oft war
er aufgestanden und ans Fenster getreten. Diese klare silberne Kühle
draussen! Die stillen hohen schwarzen Pappelbäume und drüben der Wald mit
weissen Kronen. Der Himmel rein, dunkelblau, unendlich über dem Berge
und über dem träumenden Garten, der an Eichendorff gemahnte und die
Posthorntage ... So fern alles, vergangen, nie mehr zu haben, nie mehr! ...
Dann sah er die Paula auf der Bühne, unwahr, fremd, mit traditionellen
Gesten, hörte ihre Bühnenstimme und ihr Bühnenlachen ... Die Paula, wie
er sie auf dem »Ring« getroffen hatte, verdrängte die Schauspielerin.
Er konnte sie nicht aus dem Cylinderglänzen und dem trüben
nassen Herbsthimmel bringen, sie wanderte immer an der Seite ihrer
»Gesellschafterin« vor ihm her, immer vor ihm her, er sah ihren
geschmeidigen Rücken in der pelzbesetzten weiten Jacke, die Hand, wie sie
das Kleid hielt, den hohen Absatz, der unter dem Saume erschien ... Dann
schrieb er wieder einige Zeilen ... Plötzlich hielt ihn seine Schöpfung
fest, die Worte wollten ins Leben, er unterlag ihnen, willenlos liess er
sich mitnehmen von der Schönheit ihrer Leidenschaft. Er schrieb, dass die
Feder unwillig krächzte. Sie kam den Gedanken nicht nach, sie wehrte
sich. Und auf einmal überfiel ihn eine namenlose Angst, die Angst vor den
eigenen Worten, vor diesen seltsamen schlanken Versen, die aus ihm
kamen, lautlos, selbstverständlich, und sich ins Sichtbare, ins Gewisse
verwandelten unter der schwarzen Spitze der hässlichen Feder. Hinter
seinem Rücken lag die Finsternis, lag das unheimliche, unhörbare Leben
der Finsternis eines verlassenen Zimmers, dessen Türflügel weit offen
standen. Eine eisige Kälte kroch ihm über den Rücken, seine linke Hand,
die auf dem beschriebenen Bogen ruhte, begann bis in den Arm, bis in die
Schulter zu zittern, er hätte aufgeschrieen, wenn er den Mut dazu
gehabt hätte ... O, wenn der Hans jetzt käme! Diese warme Stimme, diese
lebensfreudigen Schritte, wenn er sie gehört hätte! ... Er hielt inne
und lauschte. Er vernahm nur sein Blut, und dann fiel sein Blick in
die spiegelnde Scheibe, und er sah sich in einem weissen Lichtschimmer,
unwirklich, mit tiefen dunkeln Augenflecken ... Die Angst stieg um ihn in
die Höhe, langsam, feierlich wie Rauchsäulen; in seinen Ohren klang
sie, und etwas Grässliches, Grosses, Eiskaltes nahte, schritt aus der
Finsternis hinter ihm heran ... Jetzt senkte sichs wie eine Hand herab, sie
wollte auf seiner Schulter liegen, er bückte sich, kroch in sich zusammen,
erschauerte vor Kälte ... Da ging die Türe. Er schrak zusammen und
schrie ... »Servus,« sagte der Hans, »was hast Du denn?« Alles war
vorbei. Er drückte ihm zärtlich, dankbar die Hand. »Was hast Du denn?«
»Nichts, nichts.« Und er fühlte mit Entzücken, wie es um ihn lichter
und wärmer wurde, wie ein Ring um seinen Kopf zerfiel, wie seine Glieder
aus ihrem Erstarren sich lösten ... Dann zündete er sich eine Cigarette
an und sah sich im Zimmer um. Da stand ein Diwan, dort das Bett, und die
Tür war offen, und die Klinken glänzten so gemütlich ... Er stand auf
und ging umher ... Der Hans erzählte von der Paula ...



Mimi Lynx war in Wien. Sie hatte an Heinrich ein paar Zeilen gesandt.
Er traf sie bei der Baronin Nina E., ihrer Cousine. »Sie sind in Wien,
gnädige Frau?« »Wie Sie sehen, Herr Heinrich.«

Es war ein warmer Novembernachmittag. In dem kleinen Boudoir der Baronin
Nina wartete ein Strohteetisch mit mehreren Etagen unter einer langen
gravitätischen Reihe dickbauchiger orientalischer Krüge auf einem
Wandbrette. Ein hellgelbes Halbkreissofa war von niedrigen japanischen
Wänden fast umstellt. Dieser Teil des Zimmers mit dem hoch an der halb
getäfelten Wand hinaufreichenden dunkelroten Kamin lag im Schatten. Am
Fenster stand ein Blumentisch und ein überladener zierlicher Schreibtisch
aus goldbemaltem Ebenholz. Ein lebensgrosses Kniestück der Baronin
auf einer schlanken Staffelei zeigte die kleine weiche Frau in grosser
Toilette, einen roten Plüschmantel um die vollen Schultern ... Nina E.
hatte es verstanden, ihren Salon beliebt zu machen. Sie hatte sich die
ganze Gesellschaft erobert durch die unnachahmliche Grazie, mit der sie
allen Leuten Liebes und Gerngehörtes auf eine diskrete Art sagt. Die
jungen Herrn besonders schwärmten von ihr. Und keiner wagte sich mit
Andeutungen an ihre Person. In einem ständigen Verkehre mit diesen Damen
der höheren Halbwelt hatte sie sich rein zu erhalten gewusst und liebte
ihren Mann. »Es ist charmant und soll de facto wahr sein,« hatte sich
die Gräfin Anna Wartnegg-Zierlinska, die »kompetent« war, darüber
geäussert. Nina E. besass zwei blonde Mädchen, deren Lachen das Vestibül
des kleinen Hotels erfüllte, wenn der Besucher dem Diener seinen Mantel
übergab. Denn die Kinder bewohnten das Parterre und machten kein Hehl aus
ihrer Gegenwart. Diese zwei kleinen Stumpfnasen wussten, dass sie im Hause
etwas bedeuteten.

»Nehmen Sie eine Tasse Tee, Herr von D.?« fragte die Hausfrau mit
ihrem gütigen Lächeln, das die alltäglichsten Worte zu kostbaren
Liebenswürdigkeiten umschuf.

»Bitte, Baronin, sehr gern.«

Und nun sassen sie beim Tee, und Mimi naschte Bonbons aus einem grossen
violetten Ridikül, rauchte Cigaretten mit Goldmundstück und spielte
mit drei ernsten Pagoden wie ein kleines Mädel. Er freute sich, sie war
übermütig, und Nina gab dem Ganzen die milde Weihe. Er dachte: »Wenn
diese Frau dabei sässe, würde eine Marquis de Sade-Scene zu einem
Kinderstubenscherz an einem schulfreien Nachmittage.« Endlich küsste
er den Damen die Hand, nahm seinen Hut und Stock und verneigte sich.
»Besuchen Sie uns in der Oper, wenn Sie wollen, Herr von D.,« sagte die
kleine weiche Frau und nickte mit dem schlanken Madonnenhalse: »Erster
Rang 26.«

Nach dem Theater wollte Mimi eine Strecke zu Fuss gehen. Die Baronin Nina
schickte den Wagen voraus, und sie schritten schweigend über den Ring.
Heinrich sah auf ihre Schatten und freute sich, wenn Mimis Schatten und
sein eigener aneinander gerieten. Einmal kam er mit seiner rechten Hand
an ihren Handschuh. Es durchfröstelte ihn. Und er versuchte, das leise
Anstreifen zu wiederholen. Sie gelangten an die Tramwaygeleise. Die
Laternen hörten auf, die Schatten verschwanden. Da nahm er seinen ganzen
Mut zu einem Wagnis zusammen und ergriff Mimis kleinen Finger. Sie liess
ihm den Finger. Er drückte ihn, dann umschmeichelte er die ganze Hand. Sie
steckte ihren kleinen Finger in die Oeffnung seines Handschuhes über
dem Gelenk und tastete höher nach der Handfläche. Er sah sie an. Schon
näherten sie sich wieder den Laternen. Da griff er in die Tasche, holte
eine Cigarettendose hervor, liess das Schloss Ninas wegen laut knacken und
zog dann den rechten Handschuh aus. Die Berührung war jetzt unmittelbarer.
Er bebte am ganzen Körper ... Wieder Laternen: die Schatten kamen rasch um
ihre Gestalten herum und wuchsen vor ihnen in die Länge. Klar und scharf
wanderten sie vor ihren Füssen. Er steckte beide Hände in die Taschen
und begann auf einmal allerhand Dummheiten zu erzählen. Manchmal kam die
Stimme der Baronin herüber wie aus der Ferne, sänftigend ... Der Wagen
wartete. Die Damen stiegen ein. Er zog den Hut. Beim Handkuss hatte er
Mimis Hand umgedreht und seine Lippen in die Oeffnung des Leders gepresst.
Sie stand vor ihm und verbarg seinen geneigten Kopf instinktiv vor Nina ...
Er sah ihr in die Augen. Das volle Licht der Laterne fiel auf sie. Sie
hatte etwas wie Winken in den Augen, ein Leuchten innerer Freude ... Der
Wagen rollte davon ...



Sie schrieben einander. Sie holte sich allwöchentlich ihre Briefe von der
Post. Er erhielt jeden Samstag seinen Bericht. Und die Briefe wurden immer
intimer ... Als er am zwanzigsten December nachmittags halb drei Uhr in ihr
Boudoir getreten war, in dem sie ihn am Fenster hinter den Stores erwartet
hatte, legte er seinen Hut auf den Sessel neben der Türe, zog dann den
Flügel hinter sich zu, versicherte sich überflüssigerweise mit einem
Blicke, dass ausser ihr niemand im Zimmer sei und sagte nur: »Mimi« ...
Sie kam ihm nicht entgegen. Sie wartete. Er machte zwei Schritte und blieb
stehen. Das Zimmer war dunkel. Der Schneehimmel hing tief. Die Glasrahmen
der Photographieständer auf dem Schreibtische glänzten. Das sah er ...
Da machte er noch einen grossen Schritt und umfing sie ... Er sass auf dem
Sofa, hielt sie auf seinen Knieen und küsste ihre Finger, einen nach dem
andern, und dann küsste er die Hand an den feinen blauen Adern entlang
bis unter den Ärmel, und plötzlich packte er sie und küsste sie auf die
Augen, in die Augenhöhlen unter den Brauen, auf die Nasenflügel, an den
Wangen herab bis unter das Kinn und hinter die Ohren. Sie zitterte. Sie
schmiegte sich an ihn, dass er ihr Herz klopfen hörte, und er hielt inne
mit seinen Küssen und lauschte. Da mit einem Rucke warf sie ihren Kopf
zurück, ergriff mit beiden Händen sein Gesicht, zog es zu sich herüber
und presste ihre Lippen in seinen Mund. Sie hielten den Atem an, sie sahen
einander in die Augen, bis sie übergingen. Vor Schmerz liess sie ihn
los und atmete tief ... Da er sie leise wiegte, lehnte sie sich in seinem
linken Arme schwer nach rückwärts und senkte den Kopf hintenüber, bis
sich die Haut an Kinn und Hals so straff spannte wie Papier über einer
Kante, wenn es am zerreissen ist. Er beugte sich zu ihrem Halse und küsste
sie gerade auf die Kehle. Sie lachte und wand sich, weil es sie kitzelte.
Und dann sagte sie leise, ganz leise und durch feuchte, volle Lippen:
»Dummi, kleines Dummi!« ...

       *       *       *       *       *

Er kam oft. Sie erwartete ihn, empfing ihn lächelnd wie immer und verlor
nie den Blick für die Gefahr der Verhältnisse. Das brachte ihn auf böse
Gedanken. Sie schien die Aufregungen einer Liaison zu kennen und erfahren
die Momente des Vergnügens zu arrangieren. Aber da er sie lieb und
zärtlich fand und die Überzeugung, dass er jetzt wenigstens der einzige
sei, sich täglich festete, schüttelte er die unbequemen Beschuldigungen
ab, küsste und freute sich seiner Jugend und der neuen eigentümlichen
Steigerung seines Wesens ... Dabei studierte er zur ersten Staatsprüfung,
bruchstückweise, nicht eigentlich mit Unlust, fast vergnügt,
einen schönen Lohn vor Augen. Ausserdem waren die Festtage da, die
Weihnachtswoche mit den vielen Urlaubern, den lange nicht gesehenen, aus
allen Weltgegenden in der Heimatstadt zusammengeschneiten Bekannten. Es war
ihm wie ein Fest, das man in einer Flucht glänzender Säle gibt. Man geht
umher, reibt sich die Hände, hat ein Lachen um den Mund und spricht da
freundlich, dort ernster, reicht die Finger, drückt die Hand, klopft auf
die Schulter und macht Witze, wie's eben kommt, unantastbar als bekannter
Hausherr, gern gesehen, freudig begrüsst. Dazu das Eislaufen, die lustige,
kühne Bewegung im Freien: leicht gekleidet in der Winterkälte, eine
Cigarette im Munde, und man ist so verwegen, alles zu unternehmen, vor
nichts zurückzuschrecken. Eine schöne, selbstbewusste Zeit. Er war Mimi
dankbar ... Und merkwürdig: ihren Mann gewann er täglich lieber.

Er schrieb eine Salonbluette und las sie ihr vor. Sie sass auf seinen
Knieen, küsste ihn auf die Nasenspitze und trieb Unfug wie ein kleines
Kind ... Manchmal kam der lange bleiche Toni Richterstätten um diese
Nachmittagszeit, ja oft traf er ihn schon an, wenn er ins Zimmer trat,
behaglich rauchend im Fauteuil zurückgelehnt, überlegen, geheimnisvoll
und wie verständnisinnig lächelnd. Anfangs ärgerte er sich. Später
sagte ihm die Gerechtigkeit, dass ihm der Toni ungemein sympathisch sei
mit seiner ruhigen Pose eines Vollkommenen. Und wenn Mimi gar von
seiner Hässlichkeit begann, fühlte er sich so sicher, dass er ihn
verteidigte ...



Am zwölften Januar fuhr er wieder nach Wien und stürzte sich in den
Fasching. Mimi kam auch auf ein paar Tage. Aber sie hatten einander nie.
Sie mussten immer vor Leuten verkehren. Das war ermüdend und eigentlich
fad. Zu all dem drängte das Lernen. Oft schlief er beim Buche ein in der
behaglichen Ofenwärme des neu gemieteten kleinen »altdeutschen« Zimmers,
wenn unten im Hofe ein Leierkasten melancholisch werkelte ... Endlich
packte er seine Sachen und fuhr, einem plötzlichen Entschlusse folgend,
Hals über Kopf nach Hause. Es war im März. Schon meldete sich der
Frühling. Der Schnee zerging in den Glacis-Anlagen, viele Vögel sassen
auf den Telephondrähten, die Bäume waren schwarz, und die Leute rannten
halbe Tage spazieren ... Er rettete sich von der Spätsaison, was zu retten
war, selbst die Neigung der spröden, blassen Helene Savines, die allen
schnippische Antworten gab und unbeliebt war in der »exklusiven«,
titelsüchtigen Provinzgesellschaft. Es war ein pikanter Flirt. Sie
stritten eigentlich immer miteinander, kämpften spöttisch mit schmalen
spitzen Bonmots, aber sie suchten einander und unterhielten sich ... Mimi
blasste etwas ab. Sie wurde zur Gewohnheit. Die schlanke Helene war neuer,
unberührter, sie reizte durch die Hecken, die stachlig und kraus um sie
sprossten.

Von ferne liess er alle seine Wünsche manchmal zu der Baronin Lili
Grossmölk fliegen. Die übersah ihn gänzlich. Das kränkte seine
Eitelkeit. Aber er studierte die jeweiligen Günstlinge und beneidete sie.

Mit Mimi sprach er oft von der biegsamen, graziösen Frau, deren
Kameengesicht so unbewegt blieb durch Tanz und Wein.

Helene ward ihm verleidet durch ihr Kokettieren. Sie hatte dabei eine
Art, über ihn weg zu reden, die ihn bei ihrer sonstigen Vertraulichkeit
verdross.

Überhaupt fiel ihm plötzlich ein, der ganze Unsinn sei nicht nötig. Er
fuhr wieder nach Wien.



Mitte Mai kam er zurück. Er spielte den Blasierten und hielt lange Reden
über Nichtigkeiten. Merkwürdigerweise war er auch ins systematische
Studieren geraten. Daneben forcierte er das Rudern. Er gefiel sich in dem
glatten Trikot, mit den mageren weissen Knabenarmen. Und jetzt verliebte er
sich eigentlich erst recht in Mimi.

Einmal kam er zu ihr am Nachmittage. Sie war im Gartenhause, lag auf einer
grünen Bank und schien gelesen oder geträumt zu haben. Damals war sie ihm
etwas ganz Neues, Seltsames. Sie kam ihm wie nackt vor. Sie hatte ein
sehr weites hellblaues Bebékleid an, das eine Gürtelschnur um die vollen
Hüften zusammenhielt, und so feine schwarze Seidenstrümpfe, dass ihre
Waden unter seinem Blicke zu erröten schienen. Als er sich zu ihr setzte,
legte sie ihm beide Füsse in den Schoss. Er zitterte. Sie schob sich
langsam, die blossen Arme unter dem lockeren dichten Haare gekreuzt, zur
sanft gewölbten Kopflehne hinauf. Dabei stemmte sie ihre Beine gegen ihn
und seufzte. Dann lächelte sie wieder mit ihren starken Raubtierzähnen
und schloss die breiten weissen Augenlider. Ihm war heiss vom Gehen. Das
verdunkelte Gemach roch nach süssem Parfum, »Kirschblüten«. Er beugte
sich und küsste ihren Fuss über der Masche an dem zarten Lackschuh. Sie
streifte die Schuhe ab und schleuderte sie in die Mitte des Zimmers. Dabei
verschob sich das Kleid bis unter das rechte Knie. Ihn ängstigte die
schwüle Stille ...

Die Türe knarrte. Er sprang auf. Knox, der stichelhaarige Irishterrier
drängte sich mit schnuppernder Nase herein. Und nun setzte die Aussenwelt
wieder ein, die Blätter vor den Fenstern rieselten wieder im grellen
weissen Lichte, die Schmetterlinge flogen über die Beete, und die Kieswege
vereinigten sich vor dem grossen roten Majolika-Pilze des Bassins ...
Später sassen sie zusammen unter der alten Linde am Gitter, das nach dem
Hofe ging, und tranken Tee. Die hübsche schwarze Pepi mit den lüsternen
Augen unter den zusammengewachsenen Brauen bediente sie, eine hochbusige,
schmalhüftige, braune Wienerin, auf die die Mimi sehr stolz war. »Sie
hat Rasse, das Mädel. Gefällt sie Dir nicht?«, hatte sie ihn schon oft
gefragt. Und »Warum küsst Du sie nie? Küss' sie einmal vor mir! Ich
möchte sehen, was sie macht?« Diese Reden hatten ihn immer geärgert. Und
er schämte sich vor der Pepi, wenn er sie fragte, ob die gnädige Frau zu
Hause sei. Heute schien sie ihm besonders mokant und innerlich überlegen
lächelnd. Er sagte das der Mimi. »Sie hat recht, die Pepi,« sagte die
junge Frau in dem zarten hellblauen Kinderkleide und setzte die goldrandige
Tasse vom Munde. Die feuchten roten Lippen in dem blassen Gesichte
dunkelten wie blutende Wunden. »Du bist auch ein ganz fürchterlich
dummes, dummes Bubi!« »Warum?« Er presste sein Knie an ihr Knie, das
nackt und kalt sich fühlen liess. »Warum?« ... Sie trank, leckte
sich die Mundwinkel mit der raschen hellrosa Zunge und lehnte sich im
Schaukelstuhle zurück. »Weil Du das nicht nimmst, was man Dir geben
will.« Er sah sie an, lächelte, wie er meinte, unsäglich dumm, errötete
dann über sein Lächeln und schneuzte sich ... Da kam der Gatte mit drei
grossen Doggen und gab ihm die Hand. Es schlug fünf ...



Er war traurig, unendlich traurig. Dass er sich immer ja noch einmal
erschiessen konnte, genügte ihm heute nicht. Das war doch gar zu
schmählich. Und ist es damit auch aus? Ja, sagt man. Wer ist das »man?«
Also nicht einmal das hatte man sicher! Wozu dann das Ganze? Er liebte
Mimi. Gut. Übrigens, ob das wahr war? Immerhin durfte er sich's einbilden.

Er lernte für die erste Staatsprüfung, diesmal »Siegel, deutsche
Rechtsgeschichte«. Über den »Stadtbüchern« kamen ihm diese
Gedanken ... Ein Frühlingsregen ging nieder. Er nahm einen grünen Band
mit rotem Schnitt: »Brandes, Naturalismus in England«. Nicht einmal das
hatte er ausgelesen! Und es interessierte ihn doch, es freute ihn. Ja,
faul war er, faul! Er sagte es sich laut vor, dann warf er sich über
die ausgestreckten Arme auf den Schreibtisch und schloss die Augen ...
Er musste gähnen. Und Mittag würde er wieder essen, mit Appetit essen.
Suppe, Rindfleisch mit Schinkenreis und grünen Erbsen, drei, vier Stück
Hausbackwerk, zwei Glas Wein, zwei Äpfel, ein Stück Brot, zwei Schalen
schwarzen Kaffee. Dann würde er lesen bei einer Cigarre um achtzehn
Kreuzer. Vielleicht Gottfried Keller, vielleicht Balzac, Père Goriot,
wenn er die rechte Aufmerksamkeit haben würde. Und etwas von Baudelaire
übersetzen, mit dem Wörterbuche, die verkohlende Cigarre in der Hand ...
Oder zur Mimi gehen und dort bis fünf bleiben. Und später bei der
Grossmutter sitzen, »Über Land und Meer« anschauen und in einem alten
Taschenbuche blättern mit stockfleckigen Stichen ... Das ist Leben! Elend,
elend! ... Eigentlich sollte er lernen, fest lernen! Es langweilte ihn so.

Und wozu das? Beamter werden, »eingeführt« werden in Häuser, die
ihn nichts angingen, spazieren gehen in diesem Neste mit »Freunden«,
willenlos auf und abgehen, bis es ein Uhr schlägt und man nachhause muss.
Und in Zeitungen schreiben, zwei-, dreimal die Manuskripte zurückbekommen,
da und dort angenommen werden, bekannt werden in Literaturkaffeehäusern
und in ostpreussischen Dichterblättern. Pfui! Zu Hause sitzen und zusehen,
wie Menschen und Tiere älter werden und trauriger. Oder zu Bekannten gehen
und zusehen, wie die Leute dicker und selbstsicherer werden, wie sie an
goldenen Uhrketten spielen und Kognak trinken, zuhören, wie sie über ein
neues Stück sprechen und über nordamerikanische Silberpolitik oder über
die Avancementverhältnisse bei der Landwehr. Pfui! ... Und war er denn
seiner Sache so sicher, dass er wirklich etwas anderes sei als die Leute,
die mit goldenen Uhrketten spielten und über die Avancementverhältnisse
bei der Landwehr sprachen? War nicht sein ganzer Stolz das bissel Dichten
und Gescheitsein? Gott, Gescheitsein! Andere sinds auch und wissen viel
mehr und beherrschen vier, fünf Sprachen und sind doch nichts! Und war das
ein Leben, dazusitzen und dem Geticke der zwei Taschenuhren zuzuhören, die
vor ihm lagen, dann in das Buch zu starren und schliesslich Rindfleisch zu
essen? ... Er schrieb einige Zeilen auf ein beschmutztes Blatt Papier, die
ihm schal und dumm vorkamen, dann spuckte er mitten ins Zimmer und ärgerte
sich, dass der Kakadu schrie. Endlich nahm er den gelben Überrock, steckte
Cigaretten ein und ging spazieren.



Mimi schrieb kleine blaue Karten, oft zweimal im Tage. »Mein Kleines! Mir
ist bang nach Dir! Wenn Du kommst, so komm unter dem Vorwand, mir ein
Buch zu bringen, ¼3 zu mir. Vielleicht sind wir dann einen Augenblick
allein.« ...

Dann war sie vierzehn Tage bei ihrer Mama, Frau von Wirt, in der Villa. Er
war ungehalten wegen böser Gerüchte, die sie ihm in ungünstigem Lichte
zeigten. Sie schrieb:

»Lieber Herr!

Diese reizenden Sacherln, die Sie sich jetzt in den Kopf zu setzen
belieben, -- bitte ich Dich, Freitag daheim zu lassen. Ich finde sie
viel zu dumm, als dass ich Ihnen erst lange versichern wollte, dass Ihre
Befürchtungen grundlos sind. Altes Dummi! wann wirst Du mir endlich
glauben??? Ein Bussi, Du.

Aber Herzi, sei gut! Bis Du das nächste Mal kommst, darfst Du mit mir
Kirschen reissen ... Die Helli K. ist drei Tage bei mir. Wir liegen
zusammen und plauschen Nachts unglaubliche Dinge. Auch von Dir ...«

Er fuhr nach Stechnitz. Es war sehr heiss. Der Wagen rumpelte durch die
Felder. Der kleine rote Kirchturm ragte aus dem Grün. Das Kreuz glänzte
in der Nachmittagssonne ... Frau von Wirt schlief. Die jungen Damen seien
im Walde, sagte der Diener, ein verbrannter Mensch, der in Hemdärmeln am
Brunnen sass und eine Cigarre rauchte. Das Haus lag still. Alle Jalousien
waren herabgelassen. Die Sträucher standen steif und staubig. Das
dumpfe Geräusch der schweren Hufe der Pferde im Stallstroh hatte etwas
Kühles ...

Er gab dem Diener seinen Mantel und den Weinbeerstock, steckte beide Hände
in die Taschen und schritt, die kurze englische Pfeife im Munde, durch den
Weingarten zum Walde ... Dort war es noch stiller. Manchmal ein Specht, ein
Rascheln im Laube vom Vorjahr, ein niederflatterndes Blatt. Zwischen den
Stämmen war es kühl und dunkel. Das Moos roch ... Die Damen lagen in
einer laubgefüllten Grube. Helene Kortmann war ganz in Weiss, eine grosse
Schärpe mit braunroten und atlasglänzenden Zeichnungen um die Taille.
Sie hatte weisse Halbhandschuhe an. Ihr Hut war so breitrandig, dass er ihr
kleines dunkles Gesicht fast verbarg. Aber ihre grossen himmelblauen Augen
schimmerten. Sie gab ihm langsam die Hand und rührte sich kaum. Mimi, in
ihrem Bebékleide mit blossem Nacken, blossen Armen, ein goldenes Herz, wie
es Kinder tragen, an einem dünnen Bande um den Hals, war aufgesprungen.
Unter den Augen brannten ihr die Wangen, sonst war sie gleichmässig blass.
Er küsste ihr die Hand, sie gab ihm einen leichten Schlag über den Mund.
»Das für Ihre Gedichte von vorgestern,« sagte sie. »Wir haben sie
zusammen gelesen. Die Helen' hätt ihnen solche Schlechtigkeiten gar
nicht zugetraut.« Helene sagte nichts. Sie sah ihn nur mit ihren grossen
himmelblauen schimmernden Augen an. Er lächelte verlegen. Es ärgerte
ihn, dass das alles so officiell war. Er brauchte diese Kortmann nicht
als Vertraute. Er zürnte Mimi, die gleich seinen Unmut fühlte. »Ja, wir
haben keine Geheimnisse,« lachte sie und legte sich zu Helene. »Nicht
wahr, Heli?« Helene reichte ihr langsam die Wange zum Kusse. Er hätte am
liebsten beide geschlagen. Oder noch besser ... Es überkam ihn plötzlich
wie ein Rausch. »Legen Sie sich nur auch her, Herr Harry,« sagte Mimi
und machte ihm Platz zwischen sich und Helene. Er liess sich langsam,
vorsichtig nieder. Ihn schwindelte, als er sich über die beiden Frauen
beugte. Sie waren ihm beide so nahe, sie dufteten so stark, sie hatten die
ganze süsse Müdigkeit des Frühlingsnachmittags in den Gliedern.

Er sah zu Mimi hinüber. Er erblickte ihr Gesicht von unten, zuerst
das volle weiche Kinn, dann diesen sündenfrohen lächelnden Mund, die
weitaufgerissenen Nasenflügel, durch die die Sonne schien, und die
seltsamen Kinderaugen unter der weissen halbmondförmigen Stirn. Er dachte:
»Mit diesen beiden wunderschönen Frauen im Walde, im Frühling. Mimi ganz
weiss, ganz weich und leuchtend, mit einem dünnen rosa Schleier, Rosen
über den ganzen Körper gestreut, Helene, braun und glänzend wie eine
Haselnuss, in ihre schwarzen, langen Haare gehüllt, die Arme unter
dem Kopfe verschränkt, die grossen himmelblauen Augen träumend in den
Wipfeln, ich selbst, ein Ephebe, schlank und schön, o so schön, dass
diese Frauenschönheit neben mir erbliche, so schön wie ein Lied der
Sappho, bartlos, ganz bartlos mit langen, langen, schwarzen Wimpern und
müde vom Lieben, müde von der eigenen Schönheit ...«

Und dann sagte er, was er gedacht hatte, sagte mehr und blickte dabei
fortwährend in das Blau über ihm, in dem die hohen dünnen Wipfelzweige
bebten und Sonnenstaub flimmerte ... Der Kuckuck rief. Mimi richtete sich
auf. »Wielange leb ich noch?« Ihre Augen horchten in Erwartung. Sie
stemmte einen Arm gegen die Böschung und zählte halblaut: »Eins, zwei,
drei ...« Da schwieg der Kuckuck ... Eine Wolke zog über die Sonne. Aus
ihren Augen schwand das Licht. Es war kühler geworden ... Stille ... Nur
leise, leise rührten sich hoch oben die Blätter ...

Helene erhob sich und schüttelte ihr Kleid. Dann sagte sie: »Ich hole ein
Buch. Herr von D. soll uns etwas vorlesen.« Er war aufgestanden, verneigte
sich; dann sah er Mimi an. Ihre Augen riefen etwas. Und in ihm schmetterte
Fanfarenmusik. Mimi sagte: »Aber Helene, Du wirst doch nicht den Weg
machen ...?« -- »Wirst Du ihn machen?« -- »Aufrichtig, nein. Aber ...«
-- »Wir können nicht so hier liegen, wenn Deine Mama kommt. Und unten
bleiben will ich auch noch nicht.« Sie ging. »Ich werde mich nicht
hetzen.« ... Man hörte ihre leichten Schritte auf den abgestorbenen
Blättern. Dann verschwand sie hinter den Stämmen. Es raschelte noch ...
Sie wagten nicht, einander anzusehen. Es war zu gewiss. Sie fühlten, wie
es näher kam, näher, näher, wie ein Viergespann kam es um eine Säule.
Sie hielten den Atem an. Und plötzlich wandten sich beide zu einander. Mit
einem Male, wie auf Befehl. Sie sahen einander in die Augen ... Er nahm sie
um den Leib und trug sie. Er sagte nur fortwährend: »Liebe, liebe, liebe,
liebe Mimi!« Sie hing an ihm, schwer, angst-bleich und mit geschlossenen
Lidern ...

Abends kam ein Gewitter. Frau von Wirt liess einspannen. Heinrich fuhr mit
Gustav Lynx in die Stadt. Sie rauchten schweigend. Er war stumm vor lauter
Glück, entzückt über den Regen, entzückt über das scharfe Traben
der Pferde, entzückt über die dunkelblaue Nacht, die Cigarre war
vortrefflich. »Und morgen ist mein zwanzigster Geburtstag,« dachte er.



Mimi schrieb:

»Heute war ich im Walde, gerade im grössten Regen. Ah, das war schön!
Ohne Schirm und Hut bin ich hinausgelaufen, zu Hause haben sie rein denken
müssen, ich sei verrückt geworden. Du weisst nicht, wie schön das ist:
allein im Walde, Du, bei schlechtem Wetter! Wie feines Glockengeläute
klingt das Fallen der Tropfen auf dem dürren Laub -- eintönig --, dann
wieder ein Windstoss, dass die alten Bäume erzittern, laut krachend Äste
zu Boden fallen, mir eine ganze Ladung Wasser ins Gesicht spritzend. So
wohl habe ich mich schon lange nicht gefühlt. Die Kälte, die mir langsam
durch alle Glieder kroch, war mir angenehm, ich hätte am liebsten laut
aufgeschrien vor Behagen. Du weisst nicht, wie kalt das ist, wenn Wind
durch völlig durchnässte Kleider fährt. Eine kalte Einpackung ist nichts
dagegen. Und ich hab Kälte so gern. Das reizt mich, regt alle meine Sinne
auf. Ich muss da an einen warmen Körper denken.

Ich stand lange an einen Baum gelehnt und sah dem Stürmen zu. So nun bin
ich trocken. Ich konnte in der Kälte wirklich nicht weiter schreiben, die
Finger waren ganz starr. Ich werde das bald wieder aufführen, weisst Du,
so ein Sturm nimmt all die schwülen hässlichen Gedanken mit. Ich kann
seit gestern ein Gefühl der Scham Dir gegenüber nicht los werden. Du, das
ist mir schrecklich, das Gefühl hab ich schon lange nicht gehabt -- Du,
ich hab Dich lieb! --«

       *       *       *       *       *

»So ein Regentag auf dem Lande ist rein zum Verzweifeln. Da ist mir meist
bang nach Dir, was ich ja nicht immer sagen kann. Weisst Du, ich glaube,
ich bin gar nicht imstande, jemanden zu lieben. Ich tue das nur, wenn ich
mich recht langweile. Da überkommt mich so ein Gefühl, ich will nicht
sagen Sehnsucht, nein, eher der Wunsch, jemanden bei mir zu haben, der mich
liebt. -- Ich lasse mich gerne lieben, selbst kann ich es nicht.«

       *       *       *       *       *

»Kleinchen, mein süsses, herziges! Vor allem verzeih das Papier --, aber
ich kann jeden Augenblick überrascht werden, da mische ich diesen Bogen
einfach unter einen ganzen Haufen ebensolcher. Da soll dann einer was
herausfinden! Wozu schreibe ich? Es wandert ja doch wie schon so oft ins
Feuer --. Nein, diesmal doch nicht, denn ich will Dir ja sagen, dass ich
von Montag an in der Stadt bin. Wie lange weiss ich noch nicht. Wir fahren
bald fort. Doch nach Ostende. Kleinchen, hast mich sehr lieb? Ich denke,
die Fehler machen Dir nichts, ich hab deren so viele, da kommt's nicht mehr
darauf an, ob die Schrift ordentlich ist. Wer mich nicht mag, wie ich bin,
solls eben bleiben lassen ... Wozu ich Dir das alles schreibe? Als hättest
Du alle diese Wische gelesen! Aus Langeweile ... Nein, Bubi, nicht bös
sein, ich gesteh's ja ein, reuevoll: »Ich hab Dich lieb.«

Er musste lernen, lernen. Wie ihm das jetzt zuwider war! Und abends las er
Dante, und um ein Uhr nachts steckte er sich noch eine Cigarre an und sah
ihren dünnen blauen Rauchstreifen nach ...



Sonntag-Morgen. Frühgeläut über Buchenwipfeln. Der Fluss liegt klar
und spiegelt die Ufer. Alles ist sonnenleuchtend und dabei doch taufrisch.
Längs des Flusses reiten die beiden Freunde, Heinrich und Toni, im
Gespräche. »Glaubst Du noch immer an ›die Frau‹?« sagt der Toni.
»Das ›Ewigweibliche‹ in uns lässt sich halt nicht unterdrücken. Ich
glaube an gar nichts --. Herrgott! der Gaul hustet ja.« Sie entzünden
ihre Cigarren und treiben die Pferde an ... Über Rotlaub vom vergangenen
Winter. Oft springt ein Stein auf und über die Böschung hinab.
Wasserplumpsen und weite vergleitende Kreise. Ein schwerer holpernder
Leiterwagen kommt von der sanft ansteigenden Waldhöhe. Rechts und links
weichen die Reiter aus im Schritt, der am Uferrande vorsichtig. Dann tiefer
hinein in den Wald. »Du hast keine Macht über das Weib, Harry,« sagt der
Jäger. Was der eigentlich glaubte? Wenn er wüsste! ... »Du kannst sie
nicht führen. Sporen geben und hopp!« und damit sprengte er seinen Falben
ein, dass er schäumte. Dann riss er ihn wieder herum und führte das
gischtbedeckte Tier, das zitternd in die Stangen biss, zurück. »Weiber
und Pferde. Wenn nur der Richtige die Zügel hält? Blut muss es setzen!
Du, weisst Du was? Beiss sie einmal in die Hand, aber nicht tändelnd und
so lala, sondern fest, dass sie aufschreit! Schau, das wird ihr gefallen.
Ich kenne sie.« »Hast Du vielleicht selbst schon das Mittel versucht?«
»Ich?!« Und ein schallendes Lachen ...



Er kam, um Abschied zu nehmen. In dem kleinen teppichweichen Boudoir war es
fast dunkel. Der schwere Fenstervorhang verdeckte die Stores.

Im Nebenzimmer dagegen standen die Fenster weit offen. Sonnenstaub tanzte
über dem bronzenen Rauchtische.

Mimi hatte ein weisses Piquékleid an. Sie war sehr bleich. Um ihre grossen
müden Augen lagen tiefe blaue Schatten. Die Lider hingen schwer, die
langen feinen Wimpern senkten sich wie dünne Stacheln. Sie lehnte sich an
ihn und küsste ihn. Plötzlich weinte sie ... So hatte sie schon einmal
geweint, im Walde, als er vor ihr lag und zu ihr emporblickte. Damals war
das so kindlich rührend, gar so lieb-traurig. Er hatte sie damals gefragt:
»Fehlt Dir was, Mimi?« Und sie hatte den Kopf geschüttelt, energisch,
wie um zudringliche Gedanken abzuwehren, und hatte durch Tränen
gelächelt. Es war, wie wenn durch Regenstrahlen die milde Aprilsonne
kommt ... Und wieder wie damals fragte er sie: »Fehlt Dir was, Mimi?«

Sie schluchzte. Er strich ihr über das Haar, leise, zärtlich. So tröstet
man ein Kind, dessen grossem gegenstandslosen Schmerze gegenüber, der
Lebensfurcht, die einen später zerreibt, man ja auch so gar nichts zu
sagen weiss.

»Wein' nicht, Mimi!«

Das Ticken der kleinen Nippesuhr auf dem Sekretär wurde zu laut. Gedanken
brausten durch sein Hirn. Dann war es plötzlich still um ihn, feierlich
still. »So muss es im Tod sein.« Und unwahrscheinlich, seltsam ward
alles um ihn her. Was wollte diese Frau, die da an seiner Brust lehnte, den
braunen Kopf tief geneigt, die Finger um seinen Nacken verschränkt? Was
war er in dieser Situation? ... Allmählich kam die Gegenwart wieder.
Wieder rückte das Pendel auf ihn los. Die Nähe aller Gegenstände ward
drohend. Und er fühlte, wie ihre Brust mit dem Schluchzen rang.

Dann ging er und vergass sie ...



  Diese Novelle wurde mit Genehmigung des Verlegers dem bei _C. F.
  Tiefenbach_ in Leipzig 1901 erschienenen Sammelbande »_Intérieurs,
  Aus dem Leben der Zwanzigjährigen_« (3 Mark broschiert) entnommen.
  Sie ist 1895/96 geschrieben und seither mehrfach im einzelnen geändert
  worden.





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