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Title: Estella - Novelle
Author: Danöfen, Lydia
Language: German
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  ESTELLA


  NOVELLE VON

  L. DANÖFEN

  [Illustration: Decoration]

  BERLIN-LEIPZIG
  MODERNES VERLAGSBUREAU
  CURT WIGAND
  1907



In sanften Wellen breitet sich die Landschaft aus. Die Natur hat hier
aufgehört, Grandioses zu ersinnen, vor dem erschrocken der Mensch in
Betäubung steht; auch hat sie nicht verschwendet in üppiger Schönheit,
dass er ihr berauscht am Busen liegt, -- sondern sie hat mit sanfter,
friedlicher Hand einfache, ruhevolle Linien in dieses Stück Welt
gezeichnet und hängt sich ihm vertraulich an den Arm und schweigt selber,
damit sie ihn höre.

Überall Äcker und Felder, stille dunkelbraune Erde, die sich leise zu
schmücken beginnt, aus deren Schollen sich mühsam und zaghaft junges,
weiches Grün schiebt, -- dieses lichte, siegende Grün, das die schwere
Farbe so bald verdrängt und sich sonnenfroh unter dem weiten Himmel dehnt.

Dazwischen Wälder, blaugrün, dunkel, duftumsponnen, die ernstere Töne
mit in diese Landschaft bringen und hier und dort ein unvermittelt aus den
grünen Tälern aufstrebender Felsen, der als blendender Hügel verwegen
in dem königlichen Blau des Himmels steht und hochmütig auf die uralte
Geschichte seines Landes hinweisend, in seinem porösen, kalkigen Gestein
ein Stück einstigen Lebens umschlossen hält. Träumende Pflanzen und
träge Schnecken, die überrascht worden sind in ihrer Beschaulichkeit von
der umstürzlerischen Erde und endlich in langen Jahrtausenden erstarrten
und versteinerten. --

Nichts verbildet ringsum, nichts verbaut. Nur manchmal ein stilles Dorf. So
still, dass man glaubt, es wohne seit Menschengedenken niemand hier, -- als
hätten die Leute vor langem ihr Bündel geschnürt und seien fortgezogen
auf den schweigenden Strassen, die vereinzelt wie trübe Bänder um diese
Weiler liegen und sie zusammenhalten in dürftigem Verkehr.

Ein altmodischer Kirchturm schaut aus jedem Dorfe, gar einfältig
mit seinem braunen, moosigen Schindeldach aus vergangenen Zeiten. Man
erschrickt fast, wenn aus einem dieser Türme die Glocke plötzlich anhebt
zu schlagen -- ein Lebenslaut kann auch bestürzen, wo man ihn nicht
erwartet hat. Man glaubt, die Glocken müssten längst gerostet sein,
da sie für niemand zu läuten brauchen in diesen grauen, verschollenen
Häusern, die um jene Kirche stehen.

Nur wenn man spät abends von einem der Hügel weg über diese Landschaft
schaut und hier und dort ein mattes, rötliches Lichtlein aus den Fenstern
eines dieser Dorfhäuser blinken sieht, so glaubt man es, dass auch
Menschen hier wohnen, Menschen, die mit fleissigen Händen Furchen durch
diese Erde ziehen und ihre Saaten in sie legen.

Aber es müssen seltsame Leute sein, altmodische, die zurück sind und
stehen geblieben -- und feindlich geworden gegen die grosse, schnelle,
bewegliche Welt.

       *       *       *       *       *

Es war ein Abend im Mai. Die immer gleiche Einsamkeit über der Gegend. --
Ein noch junger Mann, der auf einer Ruhebank oben am Buchensaum des Waldes
sass, lauschte ihrer mit bangen Zügen. Er hatte sich zurückgelehnt, den
Hut abgenommen und den Blick nach Westen gerichtet, wo der Himmel schon im
Abendträumen lag.

Es waren ein paar aufschreiende Augen, die wie vor Feuersbrünsten standen,
nicht vor einem stillen, träumigen Bilde solch schlichter Art. Diese Augen
hatten wohl viel gesehen und geschaut. Schönheit und Schrecken -- und sie
waren beweglich geworden, ruhelos und auffahrend.

Über ihnen aber thronte das Massiv der Stirne. Das hatte sich aufgebaut
und breit gemacht wie eine Festung. War gebildet und erstarkt in Trotz und
Selbständigkeit. Im ganzen Antlitz lag nicht der Ausdruck des Feierns
und Fertigseins, trotz aller Reife, sondern schweren, rastlosen inneren
Arbeitens. Etwas mühsam Errungenes, schwer Gehaltenes. Man fühlte
sogleich, hier war nicht irgend einer, sondern Einer, ein Eigener.

Müde legte er die beiden Arme auf die Rücklehne der Bank und wollte sich
losreissen von dem zwingenden, rastenden Bilde, das hier so weit und gross
vor ihm lag. Aber es waren tausende von Widerhaken der Schönheit in
ihm, die ihn festhielten, -- wie sich die ruhenden Wellen der Erde so in
biblischer Breite und Feierlichkeit vor ihm hindehnten.

In wem es so friedlich aussehen könnte, wie in diesem Land! Ein gequälter
Ausdruck ging über das Gesicht. Der Mensch fällt in solcher Einsamkeit
auf sich selbst zurück und da muss es etwas Gutes und Lauteres sein,
das von der eigenen Seele herauszieht und was einem diese Stille
zurückschickt.

Und als er so sass und sich sträubte, wirbelte plötzlich helles, loses
Lachen durch diese schwere Ruhe und brach die bedrückende Macht der
einsamen Landschaft.

Junge Mädchen in lichten Gewändern, auf denen das letzte Tageslicht
spielte, kamen leichtfüssig über die Wiese her. Sie sprangen und liefen
und lachten und schrien und weder das Schlafengehen der Natur noch
der unbekannte Mann da drüben vermochte sie in ihrer geräuschvollen
Heiterkeit zu stören. Es lag etwas Rücksichtsloses in diesem Lärmen, wie
so die lauten Stimmen unbekümmert in die Stille des Abends schlugen, --
aber auch etwas Sorgloses, Glückliches, das Vorrecht der selbstherrlichen
Jugend.

Wer jetzt das Gesicht des Mannes hätte sehen können, der wäre
erschrocken an dem veränderten Ausdruck desselben; als wären Hunde
aufgefahren, die zuerst an Ketten lagen, und hätten alles schönere Leid
daraus vertrieben. Geblieben waren nur müde, dreiste Blicke, die sich
rassekundig in die jungen Leiber bohrten und sie nach unschönen Werten
abschätzten.

Gelangweilt gähnend erhob er sich jetzt, den Ärger und damit die
Aufmerksamkeit der jungen Mädchen zu erregen.

Sie kamen indessen hart an ihm vorbei; weisse, rote, blaue Kleider, frische
Gesichter voll Jugendlust, braune und blonde Haare, die im Abendwind
flogen. Da gähnte er noch einmal, weil sie gar so reizend waren und
er sich zu wenig beachtet fühlte. Es hatte Erfolg. Als sie es hörten,
machten sie hochmütige Gesichter -- denn ihr Lärmen sollte doch auch
geheissen haben: »Hellauf! Wir sind da! Platz gemacht!« Und ein blondes,
schlankes Ding sah erstaunt zu dem ungalanten Fremden hinüber, der so
wenig Art zeigte und guten Geschmack.

Wie es so in beginnender Dämmerung schon an ihm vorbeigeschritten, den
Kopf ein klein wenig zurückbeugte, sah es in dem Duft ihrer Jugend und
Zartheit wie ein flüchtig in die Luft gehauchtes Bild aus.

Die Mädchen waren vorüber. Das Lachen verhallt. Die heitern Farben
erloschen. Und die Schatten, die hinter den Büschen und Bäumen hockten,
krochen hervor, wuchsen ins Riesenhafte und wälzten sich über das ganze
müde Land.

Der Fremde war nun doch überrascht gewesen von dem reizvollen Anblick.
Schönheit, in welcher Form sie auch kam, war es allemal wieder, die sich
leise zu den freundlichen Geistern in seiner Seele schlich und sie
weckte. Auch diesmal. Doch nur auf kurz, dann schauten wieder die alten,
hässlichen, kalten durch seine Augen, wie zuerst.

Langsam schritt er nun in der Richtung zu, wo die fröhliche Schaar
verschwunden war. Es ging an den Buchen entlang, durch einen dünnen
Tannenschlag den Hang hinunter, wieder über Wiesen, die anstiegen, und
schon sah man hinter dem nächsten Hügel einen stattlichen Kirchturm
aufragen. Er ging rasch weiter, die Anhöhe hinauf. Die einsame Landschaft
war gewaltiger geworden mit jedem Augenblick -- sie kam hinter ihm her und
trieb ihn dazu.

Nun lag vor ihm in tiefer Dämmerung die kleine, einst berühmte alte
Stadt, die er aufsuchen wollte. Die vielstöckigen Giebelhäuser, schon ein
wenig altersschief, waren umfriedet von einer mittelalterlichen Mauer
voll seltsamer Tore und Türmlein; ein breiter Wall umzog sie, in dessen
sumpfigem Graben einst mancher Feind in kriegerischen Zeiten seinen Tod
gefunden.

Damals gab es hellere Köpfe im Lande und schnellere Füsse. Da gab es
zu tun, da musste man sich drehn. Wunden stillen. Lieder singen. Lorbeer
winden. -- Und über all' dem Wandelbaren inmitten der Häuserreihen stand
von altersher in stiller Majestät die hohe gotische Kirche und besann
sich, zu welcher Zeit die Menschen am meisten unter ihr Dach gelaufen
kamen.

Wie dieser Dunstkreis einer belebten Stadt ihn anzog, wie das Bewusstsein
baldiger Gemeinschaft ihn wohlig durchrieselte! Und als er nach kurzem
Wandern durch eines der alten Stadttore eingetreten war und ihm vollends
aus der geöffneten Tür eines erleuchteten Gasthofes ein Bild bunten
Lebens in Farben und Klängen entgegenschlug -- da sah er mit Mut in die
grosse einsame Landschaft da draussen zurück.

Bei seinem Eintritt in die saalartige, dichtgefüllte Gaststube war es
einen Augenblick ganz ruhig. Etwas wie leichtes Erschrecken war durch
die Reihen gefahren, wie es das erstmalige Ansichtigwerden eines
neuen Gesichtes so gerne mit sich bringt, besonders in den
gewohnheitsschläfernen Augen solcher Kleinstädter.

Rasch und blitzend war der Kopf auch, von anderm Geiste als der ihre;
-- dunkelhaarig, und von nervösem Ausdruck das Gesicht, schlank und
geschmeidig die Gestalt. -- Die Kleidung war die eines verwöhnten
Grossstädters, doch ohne Bedacht getragen.

Ein neugieriges Schauen rings in der Runde, indessen er Platz nahm und
mit vornehmer Art zu speisen begann, -- bis _er_ dann schaute und die
Anwesenden betrachtete. Da waren alle die Blicke mit einem Mal aufgefahren
wie ein Mückenschwarm und hatten sich ringsherum, anderswo niedergelassen.

Seine Betrachtungen lohnten sich nicht besonders; lauter Alltagsgesichter,
geworden und befestigt in einer vergessenen kleinen Stadt, in einer toten,
ereignislosen Zeit, in der so recht der Werkeltag des Lebens allem sein
nüchternes Gepräge verleiht.

Blos da drüben ein anziehenderer Tisch voll Jugend -- ei! Das waren ja
die lachenden Mädchen wieder! Das eine dunkle mit den schweren Augen, das
andere mit dem runden Gesicht, den aufgeregten Backfischwangen und
braunen, prallen Zöpfen um den lustigen Kopf und dort das mit der weissen,
milchigen Haut -- die Zukunftsfreude und Daseinslust lugte ihnen aus allen
Taschen und Falten.

»Wo ist denn Estella?« rief jetzt der Backfisch und fuhr vom Sessel auf
und alle andern mit und sahen nach allen Tischen -- aber sie war nicht im
Saal. Da gingen einige sie holen und es währte nicht lange, so traten
sie mit ihr ein. Eigentlich war es nur eine, die eintrat, denn die andern
schoben sich ungesehen neben ihr zur Türe herein. Alles sah nach Estella.
Wie besonders sie war!

Des Fremden Auge leuchtete auf und er erkannte befriedigt das zarte Bild
des blonden Mädchens wieder, das da draussen bei den Buchen nach ihm
umgesehen hatte.

Es kam mit ihr etwas Erfrischendes, eine köstliche Atmosphäre in
das dumpfe Lokal. Es wehte förmlich von ihr weg, wie wenn schnee- und
reifbehangen man von draussen in die warme Stube kommt und denen drinnen
ein Stück des frischen Winters mit hereinbringt. Nur dass sie den Lenz mit
sich gebracht!

Er hing ihr von den Haaren und lachte ihr aus dem Antlitz. So etwas
Frühlingshaftes hatte er nie gesehen. Ihm fielen die herben Gärten ein,
die schon voll von Blüten stehen und da und dort noch Schnee in ihren
Winkeln haben.

Schade, dass nicht das Schleiergewand von Boticelli's Frühling den
schlanken Leib umwehte, dass die verschnittene Tracht unserer Zeit falsche
Linien schuf, dass schwere Schuhe die zarten Gelenke umzwangen und ein
modischer Hut auf dem feinen Kopfe sass.

Das Mädchen fühlte den Eindruck, den es hervorrief, und die Art wie es
sich auf einen Stuhl niederliess, war fast ein wenig eitel. Langsam nahm es
den Hut ab, wie jemand, der eine Überraschung in Vorbereitung hat. Es war
auch eine, denn um wie viel schöner war das Mädchen ohne den! Unter ihm
hatte das gefesselte Haar tausend feine, rotgoldene Fäden gesponnen, die
nun gross taten und Feuer schlugen und gerne dabei sein wollten, solchen
Festtagsglanz noch zu erhöhen.

Jetzt konnte man das Gesicht ganz deutlich sehen. Nichts absolut Schönes
oder gar Klassisches. Stille, graue Augen, eine feste, mutige Nase, ein
frischer, intelligenter Mund mit guten Zähnen und eine rosige Haut. Daran
war ja nichts Ausserordentliches, sondern das lag im Gesamteindruck,
im Ausdruck der Reinheit, der Unberührtheit, des Jungen, der lichten
Zartheit.

Nun, als Estella sass, fing sie laut und lebhaft zu sprechen an -- lustiges
Zeug, über das man lachen musste -- und auch sollte. Aber der innerliche
Reiz, der so bestrickend für den in Betrachtung Versunkenen über ihrer
Erscheinung lag, war verschwunden. Der Traum war aus. Der Traum,
der sekundenlang den einsamen Mann umfangen hatte. Es fliegt eine
Künstlerseele so leicht von der Erde auf! Hier war ein hübsches Mädchen,
wie viele andere -- wozu die Andacht? Sie ärgerte ihn. Und dennoch konnte
er seine Augen nicht abwenden.

Bei jedem Menschen, der ihm das erste Mal in den Weg trat, hatte er das
bestimmte Empfinden: der kommt in Betracht, der nicht. Auch hier. --

Die Zeit verstrich schnell in dem stetigen Hin und Her der Gäste. Es wurde
gelacht und gespielt, getanzt und gesungen. Manch einer sang ein lustiges
Lied, mancher ein trauriges. Aber der wurde ausgelacht. Man mochte nichts
wissen von Ernst und Feierlichkeit. Die Mädchen wollten lachen und tanzen
und ein wenig laut sein dabei.

Immer ausgelassener riefen sie nach der Musik, die zu langsam sei, und sie
wollten sich schneller drehn.

Da trat, ohne etwas zu sagen, der Fremde an's Klavier, dass es das
erschrockene Fräulein davor jäh aus seinem behaglichen Rhythmus riss und
es eilig aufstand, ihm Platz zu machen.

Er fing zu spielen an. Alles horchte. Das war eine Tanzmusik! Die sprang
auf, so trotzig und boshaft, rannte den Takt und die Regeln über und
über, -- stand jetzt stille und wirbelte dann plötzlich in rasender
Schnelle dahin. --

Das war eine seltsame Tanzmusik -- aber lustig und feurig wie keine! Die
hatte gezündet und fortgerissen und es war ein Schleifen und Beben und
Schwanken und Dröhnen! Die Paare rasten durch die Luft, Staub flog auf,
Röcke flatterten, verfingen sich und wurden lachend losgerissen, Wangen
glühten, Augen blitzten und dem Backfisch flogen die Zöpfe hoch vom Kopf;
ihm kam so etwas Wildes gerade recht. In stillem Entzücken glänzten die
Mütter dazu, nur die Väter schüttelten die ernsten Köpfe.

Die Blondine war auch sehr ausgelassen; es stand ihr aber nicht: sie
verdarb ihre Art und als sie eben erschöpft und atemlos ihren Tänzer
entliess und sich nach einem Ruheplatz umsah, begegnete sie mitten im
Getümmel einem Blick des Fremden, der fest und durchdringend auf sie
geheftet war. Dieser Blick durchschnitt gleichsam die heisse Atmosphäre
kalt und hart wie Stahl. Und da die Musik in diesem Augenblick innehielt
und mit ihr sofort alles andere Lärmen, so half die allgemein plötzlich
stockende Bewegung wirkungsvoll dabei mit.

Es sträubte sich quasi der ganze Saal und lehnte sich auf ob des feinen
Mädchens uneigener Art.

Estella erschrak, wurde stiller, erschrak darüber noch mehr und beeilte
sich wilder als zuvor herumzutollen. »Es ist wirklich albern!« sagte
sie, gerade am Klavier vorbeiwirbelnd, sehr laut und vernehmlich zu ihrem
Tänzer; aber der wusste nicht was und hat es auch nicht erfahren. --

Es war sehr spät, weit über Mitternacht, als Alles aufbrach. Väter,
Mütter, Alt und Jung verliessen den Gasthof und gingen müde nach Hause.

Estella Brand, die bei einem Verwandten, dem reichen Privatier Brand, in
dem kleinen Städtchen zu Gast war, wohnte ausserhalb der Stadtmauer in
einer vornehmen, kleinen Villa. Dort verbrachte sie viele Monate jedes
Jahr, meist Frühling und Sommer, und freute sich, da zu sein.

»Onkel«, rief sie lachend jedesmal bei ihrer Ankunft, »jetzt lege ich
mich unter Deine Rosen und schlafe die Grossstadt aus!« Und der alte Brand
lachte mit und war froh, dass in seinem schönen Garten eine so passende,
feine Gestalt war. Er liebte sie sehr; zuerst kam auf der Welt sein Bruder,
ihr Vater, ein grosser, einsamer Mensch und Gelehrter, dann sie in seinem
Herzen.

Als sie nun heute ihrem Onkel Gute Nacht gesagt hatte, ging sie in ihr
Zimmer und schaute noch lange in die stumme Maiennacht und in ihre eigene
Seele. Sie mochte es immer so gerne haben, dass, wenn sie sich abends zur
Ruhe legte, alles glatt und eben in ihr war, was der Tag gebracht. Aber
heute lag die Ebene nicht so weit und übersehbar da, als sonst. Sie
tastete in sich herum und fand sich nicht so klar und dachte an den
merkwürdigen Abend, ihr auffälliges Benehmen, an den Fremden, sein
bizarres Spiel und seinen herausfordernden, seltsamen Blick. Während
sie sich langsam entkleidete, gelitten ihre Gedanken weg, zu dem jungen
Forstmann hin der sie seit langem liebte und ihrem Wankelmut und all ihrem
Jungsein geduldig zusah und es gerne abwarten wollte.

Sonst hatte sie oft gespöttelt über diese Treue, dass gar so schnurgerad
sie sei, -- wie eine lange Landstrasse, ein wenig reizlos und ohne
Spannung. Aber heute beruhigte sie der Gedanke an diese Liebe; es war eine
Zuflucht zu etwas Festem, Starkem.

       *       *       *       *       *

Für einige Tage später ward ein grosser Ausflug geplant, an dem sich
die Gesellschaft des ganzen Städtchens beteiligen sollte. Es waren Wagen
bestellt und man hatte sich eine Fahrt tief ins württembergische Land
hinein vorgenommen, zu einigen, weitberühmten Ruinen, da die Stadt unfern
der Grenze gelegen war.

Am frühen Morgen, noch angetan mit warmen Kragen und Mänteln,
versammelten sich alle bei einem der alten Türme der Stadtmauer.

Wie erstaunte Estella, als der Fremde von neulich unter den Anwesenden war.
Er hatte sich bekannt gemacht und schloss sich der Partie an. Sein Name war
Leo Makassy; er war Maler und zwecks Studien hierher gekommen.

Alles stieg ein und freute sich einen so angenehmen Tag vor sich zu haben.
Man dachte mit Behagen an all' die schlummernde Arbeit in Schreibpulten,
Flickkörben und Suppentöpfen, die man sorglos zu Hause gelassen.

Als man sich's warm und gemütlich gemacht auf den seitlichen Polstern
des einen Wagens, wollte man vor allem diesem Eindringling auf den Grund
kommen. Man musste dies vorerst erledigen, damit man sich darnach verhalte.

Es stellte sich heraus, das er seit langem in der Welt herum reise, sie als
Künstler zu studieren und sich Anregung zu verschaffen. Zuletzt hatte er
das patriarchalische Württembergerland durchstreift und sich ergötzt
an seinem jungfräulichen Landschaftsreiz und nun sei ihm noch die
altehrwürdige Stadt genannt worden, von der er sich Skizzen machen wollte.

»Wo waren Sie denn vorher überall?« frug verbindlich der Oberamtsrichter
der Stadt aus seiner Wagenecke heraus. Es war ihm zwar ganz gleichgiltig,
er wollte nur dazu kommen, seine eine und einzige Reise nach Ostende mit
der erschütternden Pointe zum Besten zu geben: wie einmal das Meer in
breiter Woge dahersauste und ihn -- den Oberamtsrichter Larsen -- mit
Haut und Haar beinahe verschlungen hätte. Und wenn dann all den
Liebenswürdigen das erwünschte Gruseln kam, dann konnte er sanft sein und
tröstlich wie nie. Aber da die ganze Stadt es längst auswendig wusste
und schon ganz ausgegruselt war, sah man die Erzählung des Herrn
Oberamtsrichters wie ein Gewitter heraufziehen und rettend rief diesmal der
kecke Backfisch schnell dazwischen:

»Makassy ist ein seltener Name, Sie sind gewiss von weit her?«

»Bis von Ungarn« sagte er lächelnd.

»Ist's dort schön?«

»Ein fruchtbares Land voll von Getreide«, fiel der Pastor ins Wort.

Aber niemand wollte Näheres darüber wissen und eilig hiess es weiter:

»Waren Sie auch schon in Frankreich, in Italien -- ach, in Italien, mit
seinen blauen Himmeln und schönen Mandarinenknaben?«

Und als er es bejahte, bestürmte ihn Alles, von Italien zu erzählen. Man
rückte zurecht, streckte die Köpfe vor und horchte. Das war etwas anderes
als das ewige Getreide, von dem der Pastor so gerne sprach und von Gottes
Segen, und die erschütternde Meereswelle des Oberamtsrichters.

Und der fremde Künstler fing zu erzählen an und wurde wärmer und
lebhafter mit jedem Wort und seine Augen gingen mit über die Städte
hin, über die Lande von denen er sprach, und gingen weiter in unsichtbare
Fernen und -- eine düstere Sehnsucht stand in ihnen. Nach und nach
verstummten alle Einwände und Fragen. Man fühlte etwas Überlegenes, vor
dem man sich nicht gerne hören liess.

Er sprach von dem Geiste lapidarer Vergangenheit, der dort über Ruinen
weht, von stolzen Bauten, die auf Felsen thronen, und von der einen
meerentstiegenen Marmorstadt, durch die die Gondeln ziehn, -- er sprach
von dem leuchtenden Meere, in das sich Zauberhaine neigen, von schimmernden
Palästen, die im tiefblauen Himmel stehen, von einsamen Gestaden, wo
Böcklins Fabelwesen hausen, von dräuenden Klippen, an die die Wogen
gischtend schlagen, von rätselhaften Märchenblumen, die träumend von
den Sträuchern hängen, von versonnener Poesie, die in stillen, duftenden
Gehegen steht, sprach er, -- auch von rauschenden Spitzenschleppen,
die dort achtlos über Marmortreppen fegen und -- last not least -- von
Frauenschönheit, die in Tropengärten sich ergeht und sinnend über die
Unergründlichkeit stiller Teiche neigt, auf denen Lotosblumen schwimmen.

Als er endlich schwieg, war der herrschende Kleinstadtgeist aus dem Wagen
geflogen. Aber mit ihm das Behagen.

Das durfte man sich nicht bieten lassen, dagegen musste man sich wehren,
und dies geschah so, dass man sich befreite von dem Eindringling, indem man
ihn behutsam, rund und reinlich umging, ohne ihn auch nur einmal mehr zu
streifen.

Ein kleines Intermezzo kam diesem Bestreben noch hilfreich entgegen.

Nämlich die Pferde, die gemütlich trabend mit einem regelmässigen
Aufklappern der Hufe ihres Weges getrottet waren, mussten plötzlich
stärker angezogen haben, so dass ein leichtes Schwanken des Wagens
erfolgte. Alles stiess an einander, kreischte ein wenig -- und Berta,
der wilde Backfisch mit dem unternehmungslustigen Gesicht und den
blitzschnellen Augen: dies sehen und ein furchtbares Geschrei aufschlagen
war eins.

Daraufhin fuhr alles von den Sitzen auf und schrie gerade hinaus, puffte
um sich, fiel vornüber, drängte nach der Wagentüre, riss sie auf, wollte
hinaus und rief entsetzt nach dem Kutscher, der so viel wertvolles Leben
auf's Spiel setzte.

Der hatte gehalten, schaute auf die schreckliche Verwirrung hinter ihm,
schaute nach Blut, sah keines, begriff gar nichts und schwieg verstockt.

Die Mütter fielen über ihn her, er sei gewissenlos, ja das sei er! Ob er
die fünf Kinder erziehe, wenn sie mutterlos wären? »Und meine drei!«
klagte blass die noch junge Frau Pastor. Und eine sehr dicke, rote Dame
schrie, sie glaube, sie stürbe noch hintennach am Schrecken.

Da drehte sich der Kutscher langsam nach ihr um, ob es schon gleich wäre.

Die anderen Wagen, die voraus waren, hielten an, entleerten sich und es
entstand ein grosser Kreis von jammernden und tröstenden Gestalten, ein
Erklären, ein Fragen. Der vermeintliche Sündenbock stand immer noch stumm
in der Mitte, schüttelte den Kopf, als rechnete er die Kinder zusammen,
die er zu versorgen habe, und verweigerte jede Auskunft.

Da drang durch die Versammlung ein Aufkichern. Alle Köpfe flogen nach der
Richtung, staunend ob dieses neuen Phänomens und man konnte eben diese
wilde Berta, das frische, rotwangige, jüngste der Mädchen seitwärts
stehen sehen, das Taschentuch vor das Gesicht gepresst, berstend schier vor
lauter Lachen. Es war ihr Werk! Sie hatte einfach aufgeschrien, die andern
ein wenig zu erschrecken und auch, -- weil das Schreien so lustig ist, und
-- welche Wirkung!

Durch die erhitzten Köpfe fuhr ein plötzliches Aufdämmern. Erst
Beschämung, dann Ärger und endlich ein mildes Gefühl gegen die junge
Missetäterin, -- da es doch so gut abgelaufen war, nachdem man dem kalten
Tod ins Auge geschaut. In schöner Dankbarkeit für das wiedergefundene,
warme Leben sagte man gediegene Worte von Verzeihen zu ihr, aber niemand
mehr wollte den unartigen Backfisch bei sich im Wagen haben. Der Vater
desselben sagte einiges Strenge, Verweisende, wie es sich für einen
würdevollen Mann geziemt, der stark in seinen erzieherischen Grundsätzen
zu sein hat; aber fast wäre dabei dem warmen Menschen ein inkorrektes
Lächeln entschlüpft. Hatte er doch vor diesem Zwischenfall schon das
unruhige Fünklein in des Mädchens übermütigen Augen gesehen und hatte
es nicht gelöscht, bis es immer unternehmungslustiger aufblitzte und
herausstach und auf einmal lichterloh brannte -- da war es zu spät. --

Alles stieg wieder ein, nur Berta musste zur Strafe auf den Bock zum
Kutscher sitzen, der indessen aus seiner Betäubung aufgewacht und es
nun nicht unzufrieden war, mit einem so jungen, schmucken Ding
zusammenzusitzen. In unbeholfener Galanterie breitete er ihr die
Pferdedecke auf den Sitz.

»Das wäre gut hinausgegangen,« dachte er schmunzelnd im Fahren, als er
einmal über des Mädchens dicke, pralle Zöpfe wegsah. --

So fuhr man durch dies weite Land; durch Buchenwälder, durch Felder, deren
lange Ackerfurchen wie träge Schlangen über den Hügeln lagen und
in weichen Windungen und Bogen sich wohlig sonnten in dem flimmernden
Maienglast, der über der aufblühenden Erde stand.

Die Unterhaltung floss wieder in alten, behaglichen Bahnen seicht und
sorglos dahin. Die Mädchen sangen Lieder und schielten dazu ein wenig nach
dem fremden jungen Mann hinüber, weil er so gar nicht nach ihrem Geschmack
sein wollte. Keine seiner Fragen oder Antworten schien ohne irgend eine
Absicht und gar das abgestossene Lachen klang unangenehm, denn es entbehrte
wahrer Heiterkeit, des ansteckenden Reizes -- im Gegenteil, wenn es
auffuhr, verstummte allsogleich jedes andere frohe Lachen. Irgend etwas
hatte der vor; das glaubten sie zu fühlen. Allein um Skizzen zu machen,
blieb der nicht in so kleiner, weltabgelegener Stadt. Was trieb ihn dazu?
Doch da dies heute nicht mehr zu entscheiden war, vergassen sie ihn wieder.

Später verliess man die Wagen und wanderte langsam den Ruinen zu, die aus
sagenseliger Zeit Grüsse in die Gegenwart schickten. Gleich einer schönen
Fee, so geheimnisvoll, wundersam und unnahbar schwebte das Märchen über
sie hin, und der Saum ihres Schleiergewandes streifte die zerborstenen
Mauern.

Nur eine war zurückgeblieben und mischte sich nicht in das allgemeine
leere Gerede; Estella Brand. Ihr war es zu schön ringsum und des Fremden
weitausschauendes Auge hatte sie unbewusst fortgewiesen aus der engherzigen
Umgebung.

Sie ging so für sich hin -- wie in lauter rosigen Wölkchen, denn
das dünne, faltenreiche, rötliche Kleid umflatterte und umblähte
fortwährend den schlanken Leib. Wie sie so ging und die schmalen Füsse
aufsetzte, das war prachtvoll anzuschauen. Es war der Gang einer Königin.
Stolz und sieghaft der Tritt. Flüchtig und leicht das Schreiten. Sah man
sie vor einem dunklen Walde gehen oder weitete sich hinter ihr die helle
Landschaft, immer hob sich diese Mädchengestalt triumphierend als ein
eigenster schöner Schöpfungsgedanke glänzend davon ab.

Der Maler, der sie bis jetzt absichtlich unbeachtet gelassen hatte, kam zu
ihr und redete allerlei Äusserliches, was so ein erstes Begegnen mit sich
bringt. Aber nicht lange; dann machte die Unterhaltung jenen unbemerkten
Sprung ins Subjektive, von wo aus sie nicht mehr zurückfinden kann.
Dabei sah er sie unausgesetzt an, dass sein beharrlicher Blick sie bald
belastete.

Sie ging ohne Hut und die losen Waldlichter trieben ihr ausgelassenes Spiel
auf dem hellen, flimmernden Haar und Antlitz, bis der Schatten irgend
eines grossen Blattes oder Zweiges es auf Augenblicke einstellte. Diese
wechselnde Beleuchtung brachte etwas Schwankendes, Verschwommenes mit
sich und verwischte die festen, sicheren Linien. Der Künstler hatte das
Empfinden einer in nächster Sekunde zerrinnenden, schönen Vision.
Wenn Estella sich vom Boden weggehoben hätte, aufgeflogen und dem
Waldesdickicht entschwebt wäre, er hätte nicht aufgeschrieen; es wäre
etwas Erwartetes gewesen.

Und der Wille entstand in ihm, festzuhalten.

Er wich nicht mit seinen Augen und fühlte immer mehr, dass ihn diese
eigenartige Schönheit beschäftigen würde. Wie gerne liess er das
geschehen; es kam ihm gerade recht in seiner Übersättigung und
Langeweile; es sollte eine seiner köstlichsten Episoden werden.

Dreister und deutlicher wurden seine Blicke und legten sich lähmend
über sie. Selbst ihr leichter Gang litt darunter. Er wurde schwerer,
tastender. --

Da blieb sie plötzlich jäh und unvermittelt stehen und sah ihn fest und
ruhig an. Hierin lag so viel Selbständigkeit, so viel unbequemer eigner
Wille, dass er stutzte. Sie war stark und wehrte sich, bevor man nach ihr
langte; sie hatte vorsichtig Lichter um sich gestellt, damit sie niemand
streife, die Reine, Feine.

Etwas wie Scheu empfand er, sie sah es an seinem Gesichte und wollte schon
froh sein darüber, doch kam er ihr zuvor und schnitt diese Freude
kalt entzwei. In sein ganzes Gebahren legte er etwas so Wegwerfendes,
Rücksichtsloses, dass es sie verletzte; und diese Demütigung fiel in ein
junges, eitles Herz, schlug Lärm darinnen und schrie nach Rache.

Zuerst besann sie sich ein wenig und lachte leise vor sich hin,
zuversichtlich. Dann liess sie eine Verwandlung mit sich vorgehen.

Sie hob sich gleichsam auf die Fussspitzen, neigte sich um, hinüber in
all' ihr leichtes, lichtes Wesen, breitete die Arme aus, reckte sich aus
der eignen Schwere, lockte sich in ein Tanzen hinüber, und wirbelte ihm
all' ihre keusche Grazie vor seine Seele.

Sie erzählte und lachte und sang in den Himmel hinauf, Da war nichts
Gekünsteltes mehr, sie war ganz sie selbst geworden und fühlte sich frei
und herrschte. Und dies Bewusstsein berauschte sie und entriss ihr immer
mehr eine sprühende Laune.

Sie sprach von ihrer Kindheit; wie ihr einst die Mutter einen Apfel nahm
und sie ein grässliches Geschrei aufschlug, dann aber plötzlich unter
wilden Tränen schwieg, weil sie eine Birne liegen sah, die nahm und
lachend rief: »Hab i nicht 'n Apfl, hab i doch a Birn!« So sei sie
auch geblieben, nur noch viel gescheidter geworden, weil sie jetzt selber
wegwerfe, was nicht gut für sie ist. Und wenn sie noch gescheidter werden
sollte, wozu doch alle Aussicht wäre, dann lange sie überhaupt nicht mehr
nach dem Falschen. Das müsse vortrefflich werden, wenn dann Gedanken und
Gefühle einst so quasi wie Äpfel und Birnen vor ihr auf dem Tische liegen
würden und sie sich stündlich besinnen könne, was sie davon wegnehmen
wolle und was nicht. Dazu ihr Lachen, ihre Leichtigkeit, ihre jungen,
schnellen Augen, die wie Waldbäche ohne Tiefe und Schwere über blanke
Gedanken rieselten, -- man musste es ihr glauben, sie hatte sich in all
ihre natürliche Fröhlichkeit hinübergelacht und gedacht und gesungen.

Zuerst hatte er die Augen zusammen gekniffen und hinter ihre Reden
geschaut, aber nichts dort gefunden als die Offenherzigkeit einer
kerngesunden Mädchenseele. Das entwaffnete ihn.

Die Buchen wölbten ihre jungen, seidenen Blätter über sie und hatten die
braunen, alten als knisternden Teppich auf den Boden geworfen. Kuckucksrufe
von weit her erhöhten die Einsamkeit des Waldes. Estella verdoppelte ihren
Schritt, denn sie waren weit zurückgeblieben von den andern.

»Jetzt kommt sie ab von dem geraden Wege, werden sie untereinander
sagen. Sie wissen ja nichts von Estella Brands hellen Augen, die ihn
nicht verfehlen können!« rief sie laut und übermütig nach den andern
hindeutend und war froh, dass das gesagt war, und fing zu laufen an, dass
er gerade zu tun hatte, hinterher zu kommen, und liess ihn allein mit dem
hingeworfenen Worte, das ihr so zuverlässig erschien.

»So der grossen Masse nach, das ist sicher der rechte Weg!« rief er ihr
spottend nach. --

Der letzte Anstieg zu den Ruinen kam. Träumend von andern Zeiten schauten
sie von ihrem Berge über das weite Land. Oben bei ihnen war es wundervoll.
Rings umgeben von altem, verwitterten Gemäuer, an das sich einst zaghaft
dieser Epheu schmiegte, der es jetzt mit stämmig gewordenen Krallen
umklammert und später vielleicht zusammenhalten wird, wenn es vollends
Staub und Erde werden will, -- hoch auf dem lachenden Hügel, um den sich
in kühnen Weiten die köstliche Landschaft bis an des Himmels Ende dehnte,
da hob auch die Phantasie ein wenig ihre Flügel und trug aus der Gegenwart
fort. Man sah bärtige Ritter mit erzenen Füssen, und feine Frauen mit
schleppenden Atlasgewändern und Federnhüten auf den goldenen Locken durch
diese einstigen Tore schreiten, die jetzt fast zerfallen waren, in denen
Vögel nisteten und Unkraut wucherte. Man hörte grosse, weisse, schlanke
Hunde bellen, das Hüfthorn schallen und die Laute schlagen. Man sah
aus den geborstnen Fensterbogen, auf dessen Simsen Schlehdorn wuchs und
Holunder, sich eine wundersame Jungfrau neigen, mit Geschmeide behangen und
langen, schweren Perlentropfen an den feinen, durchsichtigen Ohren.

Auf der zerbröckelnden Mauer, die aussen am Hang herumführte und die
einst strahlende Feste umschlossen haben mag, wiegten sich indessen tausend
Glockenblumen auf ihren zarten Stengeln im Maienwind. Und wer zurücktrat,
bis nichts mehr zu sehen war als diese Mauer und dieselbe gleichsam in der
Luft stand, der konnte das Blau der Glocken in dem Blau des Himmels stehen
sehen. -- Estella hatte es getan und gesehen und rief erfreut:

»Wer zu mir herkommt, der kann was Schönes sehen!« Der Oberamtsrichter
und der Pastor kamen, weil sie gerade in der Nähe standen, und schauten
und sahen nichts. Sie zeigte es ihnen voll Eifer, als hätte sie den lieben
Gott selber zu vertreten; da klopfte ihr der Pastor wohlwollend auf die
Schulter und sagte:

»Nun, nun, wir wollen sehen, wann Estella Brand einmal vernünftig wird,«
und der Oberamtsrichter, der sich gefoppt vorkam, rief brüsk:

»Dazu bin ich mir zu alt; wenn man -- -- -- --« schon in Ostende war,
wollte er sagen, aber das Mädchen war bereits verschwunden und hatte die
beiden allein gelassen.

Alles ging nun den Hügel wieder hinunter, durch die Wälder zurück.
In einem Tannenwald, dem letzten derselben, der wieder vor der offenen
Landschaft lag, liess man sich nieder, setzte sich auf Baumstümpfe oder
legte sich ins Moos, labte sich und sah hinauf in die rauschenden Tannen
und hinweg über die maigrünen Erdwellen.

Man ass und trank, die gute Laune wuchs und man sprach davon, wie schön
das Leben sei.

»Gar so schön ist es nicht«, dachte der Maler Makassy, der seitwärts
sass, bei sich. Weil er über sein Leben zurücksah, darum dachte er das.
Da stand sprungbereit auch schon seine Vergangenheit vor ihm, rückhaltlos,
unerbittlich, mit boshaft funkelndem Auge und rollte ihre düstersten
Bilder grinsend vor ihm auf.

Wie ein Leichenzug glitt es an ihm vorüber mit traurigen, blassen
Gesichtern, weinenden Augen und schleppenden Füssen. Die trugen die
Hoffnung zu Grabe. Und dann kam das Andere.

Ein wüstes Leben. Liderliche Genossen, halb nackte Weiber. Ateliers
mit abgegessenen Tafeln und entblätternden Rosen darauf, die faul und
süsslich rochen; dahinter zerwühlte Divans mit zerknitterten Kissen und
Decken.

Er roch noch diesen dicken Dunst von Wein, Rauch, Parfüm und Fäulnis.
Ach! Und diese erbärmlichen Morgen, wenn über die Reste solch einer
schändlichen Nacht das kalte nüchterne Tageslicht fuhr, rücksichtslos,
nichts verschonend mit seiner durchdringenden Helle, -- wenn der Körper so
widerlich schlaff war, der Kopf wie zerschlagen, der Gedanke träge und die
Hand schwer, die den Pinsel zu neuer Arbeit führen sollte!

Das Erinnern an solche Nacht kroch gleich Würmern am Leib empor und,
wollte man diesen grässlichen Ekel abschütteln, biss er sich fest und sog
die letzten Reste der Kraft aus Seele und Leib. Er umklammerte das
Herz, dass das Blut stagnierend durch den Körper floss, die Lebenskraft
erstickend wie in einem schlammigen Bach. Dieses ermattete Suchen und
Tasten gleich wieder erlahmt in Trägheit! Und dabei das zum Wahnsinn
treibende Wimmern der begrabenen Seele, die faulen musste und nicht sterben
konnte.

Ein grausames Leben fürwahr, eine qualvolle, entsetzliche Marter, ein
Fliehen vor sich selbst, ein Rennen und Rasen von Furien gepeitscht -- den
Tag hindurch -- bis der Abend da war und die Nacht -- und man mit starrem
Entsetzen fühlte, wie das Verlangen wieder kam und die Gier nach Genuss
und Betäubung -- und wie sich die Sinne umnebelten und anfingen zu tanzen
und zu locken -- und wie es einen durch die Gassen trieb -- wie schon die
Hand auf der Klinke lag, kraftlos wurde, -- niedersank, -- wie die Türe
sich öffnete und durch die Spalte Qualm und wüste Lieder drangen und der
Branntwein roch -- wie es winkte und gleisste -- wie man nach heissem Leben
rang -- lechzte -- langte mit gewalttätiger Hand -- wie man willenlos
wurde, taumelte, irrte, nach dem Falschen griff -- und eintrat in die
kotige Spelunke -- zu betrunkenen Gesellen, die zu den Tieren gingen statt
den Menschen -- wie man Arm in Arm mit denen sich künstlich hinauftrieb
in den Rausch -- und wie am Ende die giftigen Wellen wieder über einem
zusammenschlugen .......

-- -- Makassy war hastig aufgesprungen, wie ein wehrlos Überfallener;
so feindlich war ihm seine Vergangenheit noch nie gegenübergestanden.
Erschrocken sah er um sich und musste erst zurechtkommen mit seiner
Umgebung, den Menschen und dem Lande.

Ja, das waren brave, zufriedene Alltagsmenschen aus einer vergessenen,
kleinen Stadt mit einer armen, aufgeputzten, hochmütigen Moral, die sie in
behaglicher Erbpacht hatten.

Doch die Landschaft da draussen, wie friedvoll die war. Wie die Blumen
über den Wiesen lagen und die Bäume auf ihnen standen, wie ein Hügel
aufstieg und wie ein Hügel abfiel, wie ein Wald anfing und ein Wald
aufhörte, und wie ein Acker begann und ein anderer endete, das war alles
so einfach und gross und ruhevoll dabei. Mit Demut sah er hinaus -- -- da
stand der grosse, schöne Friede auf, der über der Welt lag, und gesellte
sich zu ihm.

Estella sah dies alles; sie hatte die Qual der Gedanken in diesem Antlitz
und die erschrocken von innen kommenden Augen gesehen, die ängstlich die
Gegenwart suchten und dann da draussen über den Hügeln etwas Schönes
gefunden haben mussten.

Vor ihr lagen viele einzelne Teile, himmelweit verschieden von einander,
aber mit der Unzulänglichkeit ihrer Jugend konnte sie deren Zusammenhang
nicht finden. Und sie sah das Rätselvolle mit staunenden Kinderaugen und
sie sah das Gute darin. Das nahm sie leise auf und legte es schweigend in
ihr Herz.

       *       *       *       *       *

Einige Tage später sass in der eleganten Villa des reichen Privatiers
Brand der junge Forstmann Richard von Thieben. Er war gekommen Estella zu
sehen und auch sie zu fragen, ob sie die Selbstherrlichkeit ihrer 20 Jahre
jetzt noch nicht aufgeben und mit ihm ziehen wolle in das baumumrauschte
Forsthaus, das drüben zwischen den Hügeln des Schwarzwaldes lag.

Wie war es ihm wohl in diesem Hause, wo er sie wusste, wo sie an Allem
hing, an allen Möbeln und Geräten.

Er hatte eine von den Empfindungen, die wie Gold sind, so blank, solide und
schwer.

Der Onkel war ein Rechtlicher, Gerader. Fast ein wenig starr dabei. Mit dem
erlaubten Behagen, das ein arbeitreiches Leben gewährt, lebte er die Jahre
seiner Ruhe.

Für den Forstmann Thieben hatte er grosse Sympathien. Das ganz
Übersehbare seiner Charakteranlage gefiel ihm: da war alles klipp und klar
und gab's nirgends dunkle Ecken. Er war vermögender Eltern Kind, gut und
recht erzogen, gut und recht geworden. So waren die Thiebens alle, den
ganzen Stammbaum zurück; ein reinliches Buch, in dem man nirgends ein
Blatt zu überschlagen brauchte. Seit langem harrte er der schönen
Estella; er hatte nie um sie gekämpft, sondern wollte einfach warten, bis
sie zu ihm kam. Vielleicht wäre es besser gewesen, er hätte sie an sich
gerissen mit dem Egoismus einer fordernden Liebe, wenigstens hätte das
bei ihr die Energie der Entscheidung ausgelöst. So war sie ein gaukelnder
Schmetterling, der nicht gehalten sein wollte und gerne um dies wie um
jedes andere warme Licht geflattert war.

Als er sie nun heute frug, ob sie mit ihm gehen wolle, da sagte sie, sie
möchte lieber dableiben, und dachte, dass ihm das so angenehm sein werde
wie ihr. --

Der Onkel hatte dem enttäuschten Manne stumm die Hand gedrückt und dann
heftig und geräuschvoll nach dem alten Jagdhund gerufen und ihn polternd
ausgescholten, ihn, der schon seit Jahren keinem mehr ein Leid getan, ihn,
der ein alter, fetter Hund geworden war, die Bequemlichkeit überaus liebte
und alles andere längst aufgegeben hatte.

Aber die bangen Minuten waren indessen vorüber gegangen.

Estella war hinausgeschlendert in den Garten, zupfte verdorrte Blätter aus
den Rosenstöcken, die voll von Knospen waren, hob ab und zu eine Erdbeere
auf und schob sie in den Mund. Wie gut die waren!

Später rief sie nach Onkel und Thieben. Die beiden Männer kamen, sie
sagte ihnen entgegen, dass sie Einkäufe in der Stadt zu machen habe, wer
mitgehe.

Der Alte sah über sie weg, Thieben holte schweigend seinen Hut.

Da dachte sie, was das für langweilige Menschen seien.

Als er zurückkam, lag ihr ein spottendes Wort auf den Lippen; es blieb
aber ungesagt, als sie in sein langes Gesicht sah, auf dem derb und hart
die Kraft niedergerungenen Schmerzes stand.

Wohl redete sie gute Worte, als sie mitsammen durch das alte Städtchen
gingen, aber innerlich musste sie ihn allein lassen und er war einsamer
denn je.

Da und dort holte sie etwas in einem Laden; er wartete heraussen und blieb
stehen so wie er stand, als sie ihn verlassen hatte. »Wie ein umgefallenes
Pferd, so steif und hilflos«, dachte sie dann drinnen und kam tapfer und
entschlossen heraus, ihm aufzuhelfen. Aber das hielt schwer; ihm fehlte die
Elastizität.

Vor der Kirche blieb Estella stehen und zeigte ihm eifrig die hohen,
spitzen Fenster, die geschnitzten Tore, die Wasserspeier und den
wunderschönen Apostel Paulus, und als aussen nichts mehr zu sehen und zu
finden war, schleppte sie ihn noch hinein in das Innere und da sollte er
wieder schauen und bewundern; sie bot alles auf, ihn zu zerstreuen und von
sich zu befreien.

Aber der hohe, feierliche Dom, der sein düsteres Dach über ihm
zusammenschlug, verdüsterte seine Seele immer mehr. Er sah, die er liebte,
oben am Altare stehen, umwallt von einem weissen Schleier, er hörte sie
das beglückende Wort sprechen, fühlte seine junge Frau an seinem Arme
schreiten und sah blühende Kinder, die ihr glichen, unter den Bäumen
spielen, die draussen um sein Forsthaus standen ...........

Es war, als Estella eben sagte:

»Sehen Sie, das eine Glasfenster da oben ärgert mich jedesmal. Diese
18jährige Mutter Maria hat einen so alten Sohn in ihren Armen. Darunter
leidet die überzeugende Wahrhaftigkeit dieses Vorwurfs und damit seine
Eindringlichkeit; ich wenigstens könnte z. B. an einem Pferde mit fünf
Füssen keine Freude haben, wenn es noch so schön gemalt wäre. Wie soll
man an so was glauben? --«

Aber, ebenso gut hätte sie schweigen können, denn er hörte nichts. Und
so verliessen sie die Kirche wieder. »Den kann ich doch nicht aus sich
herausziehen« dachte sie.

Die Sonne brannte heiss herunter und prallte blendend und stechend von den
Häusern ab, wo sie draussen kosend von den Bäumen gehangen und segnend
über die Felder gegangen wäre. Herinnen in dem Winkelwerk und Gekünstel
von Menschenhand wusste sie nichts anzufangen mit all' ihrer Fülle und
Kraft. Wie ein machtvolles Organ, dessen grosser Ton sich stolz durch
einen Dom trägt, an engen Stubenwänden zerschellt und misstönig davon
zurückschlägt.

Die schmalen Gassen waren schwül und von einem schlechten Geruch erfüllt.
Ein paar Geschäftsleute stunden gähnend vor ihren Läden, aber die
Kauflustigen sassen hinter ihren beschatteten Fenstern und sahen schläfrig
auf die Strasse -- ausser Estella. Doch auch sie drängte nach Hause
und schlug einen der schattigen Wallwege, die aussen um die Stadtmauer
herumführten, vor.

Da hörten beide einen eiligen Schritt hinter sich herkommen und Jemand
rief:

»Guten Tag, gnädiges Fräulein, wollen Sie nicht ein wenig warten, ich
möchte um etwas fragen?!«

Atemlos kam der Maler Makassy über das holprige Pflaster dahergelaufen.

Die Beiden warteten. Das Mädchen stellte die Herrn einander vor.

Ein schnelles Auffliegen von Blicken. Es waren zwei, von denen keiner den
andern übersehen konnte.

»Um kurz zu sein und Sie nicht aufzuhalten, eine Bitte an Sie, mein
Fräulein; es soll nur eine bescheidene Frage sein, aber ich bange vor der
Entscheidung -- ist es mir gegönnt, Ihr schönes Bild auf meine Leinwand
zu übertragen?«

Bei den glatten Worten und beredten Blicken sah Thieben rasch auf; selbst
Estella fühlte sich nicht angenehm berührt.

»Verzeihen Sie,« rief hochfahrend Makassy. »Künstler sind Enthusiasten!
Die Kunst ist ihr Leben und was ihr dient, verehren sie.«

»Ach ja«, beeilte sich das Mädchen in grossem Tone zu sagen. »Ich
verstehe das; wir sind nur Objekt, Mittel zum Zweck -- darin liegt gar
nichts Persönliches.«

Dabei sah sie nach Thieben, denn sie hatte Angst, es könnte sich
dies erfreuliche Anerbieten zerschlagen oder er möchte es beim Onkel
hintertreiben.

»Also darf ich?« rief der Maler ungestüm.

»Ich weiss nicht, ob Fräulein Brand Modell steht!« platschte es da
schwerfällig in die aufquellende Freude.

»Davon kann nicht die Rede sein«, sprudelte Estella heraus, den
bedrohlichen Ernst der Situation überschwemmend. »Ich will der Kunst ein
Opfer bringen; wer da kommt um blos zu nehmen, der tut ein Unrecht an
ihr; es wäre falsch, dies Anerbieten abzulehnen. Malen Sie mich nur, Herr
Makassy!«

Der lächelte über den Eifer, der den andern verletzte, und sagte laut:

»Es freut mich Ihre Zusage; ich wusste ja, dass ich hier Verständnis
finden würde. Doch allerdings, wenn Ihr Herr -- -- -- Herr von Thieben es
nicht zugibt -- --«

In Thiebens Gesicht zuckte es; auch dieses boshafte Wort hatte seinen Weg
gefunden. Er wollte erwidern, aber Estella sagte schnell:

»Aber ich bitte, diese kleine Angelegenheit leitet sich ja ein, so
ernsthaft wie ein Trauerspiel, -- und es ist doch so belanglos und lustig,
gemalt zu werden!«

»Jetzt hat sie das hohe Lied vom Opfer schon vergessen« dachte Makassy
amüsiert bei sich, als sie ihm schon zurief:

»Also auf Wiedersehen! Kommen Sie zur Besprechung. Villa Brand vor dem
roten Tore!«

Ihre Augen winkten ihm nochmals zu, einverstanden, aufmunternd.

Aber es wäre unnötig gewesen; ihm hatte ungewollt ihre verheissungsvolle
Schönheit unwiderstehlicher gewinkt als ihre Worte und Blicke. Auch war
er keiner, den Schwierigkeiten schreckten; im Gegenteil, Widerstand reizte
ihn.

Sie war mit dem Forstmann weitergegangen. Der zeigte ihr noch einmal seine
schöne Seele in vollem Glanz.

Es war ein kurzes, trauriges Bitten und Reden.

Er bat sie von ihrem Vorhaben abzusehen.

»Es ist nicht gut, es kann nicht gut sein« klagte er. Er bat für sie
selbst und dann noch für sich. Aber sie wollte nicht hören. Und so langte
sie mit ahnungslosen Kinderhänden nach dem Ungewissen und liess das Gute
liegen. --

Zu Hause angekommen, sagte Thieben zum alten Brand, dass seine Nichte
gemalt werden sollte und dies sehr zu begrüssen wäre, weil es ihr so viel
Freude mache. Das war für den Onkel bestimmend und die Zustimmung auch von
dieser Seite gesichert.

Aber das Mädchen fühlte sich bedrückt; das Geschenk war zu gross.

       *       *       *       *       *

Die Staffelei war seit einigen Tagen im Garten der Villa vor dem roten
Tore aufgeschlagen. Estella sass in schlichtem, blauen Kleide auf einer
Gartenbank. »Recht lässig,« hatte der Maler Makassy gesagt. Aber sie
brachte es nicht fertig; in ihr war zu viel Spannung.

»Stützen Sie sich mit dem einen Arm auf die Seitenlehne,« rief er. Aber
dies sah so unwiderstehlich komisch aus, dass beide lachen mussten.

»Es wird nichts werden« rief sie, »ich sollte so eine spitzenbesetzte
Prinzessin sein mit einer recht fertigen, ausgeruhten Seele; wie schön
gelassen wollte ich mich vor Sie setzen!«

Das Haar trug sie einfach geknotet wie stets. »Ist meine Frisur so
recht?« frug sie.

»Frisur ist das überhaupt keine« antwortete er. »Aber es ist gerade
recht so wie es ist. Es soll kein Feiertagsbild werden -- obwohl es
jedesmal Festtag für mich ist, wenn ich kommen und Sie malen darf.«

»O, es ist sehr -- -- -- --« angenehm -- wollte sie sagen, »sehr
komisch,« vollendete sie rasch, »dass Sie Maler sind!«

Sie war so freudig und er hatte das lieblichste Modell.

Alle die kleinen Übertriebenheiten der ersten Zusammenkünfte lagen ihr
fern.

Aber er vergass hinter allen Worten und Reden seine Absicht nicht. Schritt
für Schritt drängte er vorwärts und sah mit Genugtuung, dass sie immer
mehr vergass, nach ihren wachsamen Lichtern zu sehen, die sie so vorsichtig
um sich gestellt. --

Ganz ernst war es ihm nur mit Einem auf der Welt, mit seiner Arbeit; sie
war das Einzige, was ihm im Leben geblieben war. Vor ihren unerbittlichen
Augen bangte ihm -- und bei diesem Bilde besonders auch vor seiner derben,
spröden Kunst, wenn er in dieses zarte Antlitz sah, und bald spannte sich
sein grosses, dunkelgraues Auge wie in Angst weit offen darüber, dann
wieder blendete er das Licht ab und holte es sich durch halbgeschlossene
Lider.

Und je mehr er malte, desto heisser wurde der Kampf. Er wollte
Ausserordentliches leisten. Ein wilder Ehrgeiz fuhr ihm in die Zügel und
riss seine Energien auf zu immer rastloserem Arbeiten. Er wollte, er musste
es versuchen mit all' diesem schimmerigen Liebreiz, der so schwer haltbar
war und ihm zerrinnend durch die Finger floss, wenn er ihn zu fassen
wähnte.

Fast inbrünstig wallte es in ihm auf und er rief die ganze Kraft seines
Künstlertums an um Gelingen.

Bei besonderen Aufgaben fürchtete er auch die Tücken der Technik, die
ihm so manchmal schon boshaft und hartnäckig zwischen Pinsel und Leinwand
gesessen waren.

Und _er_ hatte einst auf der Akademie am lautesten darüber gelacht
und dem Lehrer den Pinsel hingeworfen und seinen Austritt erklärt -- --
war aber seitdem manchesmal bebend vor einem Bilde gestanden, das das
Wollen eines Genialen mit sieghafter Unmittelbarkeit trug, ohne dass einer
der göttlichen Funken durch eine hinkende, mühselige Technik verschleppt
und verloren war.

Dennoch hatte er durchgesetzt, dass seine Bilder Mittelpunkt der
Ausstellungen wurden, berühmt und berüchtigt.

Und Estellas Porträt sollte das ganz Besondere werden. Ein
Frühlingsgedanke; und alle, die es einst sehen würden, sollten das
gleiche Empfinden haben wie er, da er sie zum ersten Mal sah. --

Stundenlang währten die Sitzungen; Ermüdung kannte er nicht. Nur das
Mädchen wurde ganz steif und starr vor lauter Sitzen und Stillhalten und
musste ab und zu aufspringen, sich bewegen, und jedesmal wenn es zurückkam
und sich wieder auf die Gartenbank setzte, war es köstlicher und
erfrischter als zuvor. Es eignete sich ihr bewegliches Gesicht schwer zum
längeren Festhalten; die Züge wurden kälter, reizloser; ihr Element war
Bewegung, in dem sie so schön gedieh.

Im Halbbogen um die Bank, auf der sie sass, standen Haselnussstauden --
aber in ehrfürchtiger Entfernung, als wollten sie sich nicht zu nahe an
dieses flammende Haar wagen.

Es war ein heiterer, behaglicher Platz, den sie sich in dem grossen Garten
ausgesucht hatten; ungestört und verschwiegen.

Nach und nach begannen sie mehr miteinander zu reden. Ein Wort holte so
das andere heraus und mit jedem wuchs Estellas Vertrauen. Denn seine Worte
waren schön und glänzend, hinter denen er seine Vorsätze klug verbarg
und auch der Ernst des Ehrgeizes lag so überzeugend über seinem Wesen.

Und sie öffnete die Tore ihrer Seele und liess das Neue einziehen und
zeigte dabei schüchtern all' ihren keuschen Reiz.

Sie erzählte ihm die kleinen, inneren Ereignisse ihres Lebens, ohne
dass er darnach frug. Und was sie sprach, war lauter durch und durch. So
wahrhaftig als spräche sie vor ihrem Richter.

Alle die kleinen Geschichten ihres einfachen Lebens erstanden vor ihm
ungeschmückt, so wie sie sich zugetragen. Da wurde nirgends ein Ecklein
abgerundet oder eines dazu gesetzt, besserer Wirkung zuliebe.

Anders bei ihm, er sprang um mit der Wahrheit wie mit einem Knecht, den er
heute dingen und morgen entlassen kann. Darum war sie gehässig geworden
und verfolgte ihn. Und er fürchtete sie. -- --

Einmal frug ihn Estella -- es war vielleicht am achten Nachmittage, an dem
sie ihm sass -- nach manchem andern, ob er das schon empfunden habe, wie
die Seele auffliegen möchte und nicht kann.

»Warum kann sie es denn nicht?« gab er zurück und mischte die
eigensinnigen Farben beharrlich auf seiner Palette.

»Weil da zu viele kommen mit den Scheren und ihre Flügel stutzen«, sagte
sie mit fast traurigem Gesichte, »und herumschneiden an einer jungen,
flügge werdenden Seele.«

Sie dachte nach und fuhr dann lebhaft fort:

»O, so ein Mädchen wird gut erzogen! Da gibt es Väter, Mütter, Lehrer
in seinem Leben; alle sind alt und voll von Weisheit und sie eilen eifrig
und besorgt an ihre Arbeit. -- Halten Sie das für gut, dass man recht bald
alt und weise werde?«

»Altwerden ist entsetzlich!« rief er heftig und schnell.

»Dieses Altwerden meine ich nicht,« fiel sie ein. »Das ist ein
Absterben. Aber es gibt doch ein schönes Ausreifen und Gewordensein, wo
man neidlos und erhaben, wie von einer Brücke aus, sein Leben der Jugend
vorbeiziehen sieht.«

Da zischelten und züngelten folgende Worte nach ihr hinüber:

»Aber vorher muss man jung gewesen sein, Estella Brand, vorher muss man
aufgejubelt haben und aufgeschluchzt, man muss die Arme ausgebreitet haben
vor Sehnsucht und Seligkeit, -- es muss sich der junge Leib gewunden haben
vor Schmerz und Lust und mit trunk'nen Sinnen muss er geliebt, genossen und
vergessen haben -- gleichviel, um welchen Preis!«

Estella war still geworden. Dann sah sie nach ihrem Leben. Da waren lauter
Gärten mit schönen stillen Blumen und der Ruhe eines Sonntags; aber von
alledem war nichts darin. Langsam suchte sie zurechtzukommen und endlich
hub sie an:

»Nach Abschluss meiner Erziehung kam ich mir vor wie ein fein säuberlich
zusammengestutztes, kreisrundes Bäumchen, das man in den Garten -- von
Serenissimus etwa -- stellt, an dem kein Blatt und kein Zweiglein daneben
stehen darf und an dem in Zukunft geschminkte Frauen auf hohen Absätzen
und Männer mit gepuderten Locken und parfümiertem Taschentuch
vorbeitänzeln und ihrem korrekten Empfinden dadurch Ausdruck geben werden,
dass sie sagen: ›Dieser Baum ist schon zugeschnitten; es ist eine gute
Arbeit.‹ Ach, und ich wäre so gern ein Baum geworden, der draussen
stehen durfte -- auf der Haide zum Beispiel -- und seine Zweige ausdehnen
bis in den Himmel hinein und wachsen wie er wollte.«

Sie sah etwas Spöttisches über sein Gesicht huschen und augenblicklich
verwandelte sich ihr schüchterner, zaghafter Ton und stolzierte und
paradierte hochmütig an ihm vorbei:

»Ich bin nicht in dem ängstlichen Park geblieben, Herr Makassy; ich habe
mir selbst einen Garten angelegt nach meinem Geschmack. Es ist so viel
Schönheit darinnen, Ruhe und Frieden, und ich tauschte mit Keinem!«

Da fuhren seine boshaften Augen los und höhnisch rief er:

»Ihre Idylle ist bezaubernd, aber es gehören Menschen hinein, die
träumen, keine die leben!«

So kämpften sie beide, jeder um seine Welt. Estella in Notwehr. --

Von da ab blieb es still an diesem Nachmittage in dem Garten des Rentiers.
Es wurde nichts mehr gesprochen. Makassy malte nervös, mit Anstrengung.
Sie war ganz leise und rüstete sich in ihrer Seele. Irgend etwas fühlte
sie herannahen, das sie stark empfangen musste.

Als er ging, reichten sie sich stumm die Hände und keines fand in des
andern Auge mehr als leere Förmlichkeit.

Der Maler eilte nach seiner Wohnung. Am andern Ende der Stadt hatte er auf
unbestimmte Zeit gemietet und sich ein Atelier und einen Schlafraum zurecht
gemacht.

Es waren dazu viele Kisten aus der Grossstadt gekommen, mit einer Unmenge
von feinen Dingen, wie seine alte Hausfrau geschäftig erzählte.
Dann seien noch Arbeitsleute dagewesen und wie sie nach einigen Tagen
nachgeschaut habe, sei ihr fast der Verstand stille gestanden, weil sie
ihre eigenen Räume nicht mehr erkannte, so schön waren sie. Über ihn
selber wisse sie nichts zu sagen, nur dass er fleissig male.

»Aber er kann's gar nicht,« versicherte sie in engerem Vertrauen, die
Hand vor dem Munde. Wenn sie da die Öldrucke, die sie von ihrem seligen
Manne habe, dagegen anschaue -- Du lieber Gott, das sei etwas ganz anderes,
das sei eine Kunst, eine saubere, akkurate. Später einmal, wenn er das
Malen besser könne, wolle sie s' ihm schon leihen zum Abmachen. --

Makassy hatte sich, zu Hause angekommen, auf seine Ottomane geworfen, ging
zu Rate mit sich selber und wusste nicht, was er wollte und sollte. Er
wusste nur, wie klein und niedrig er war und wie er hier wieder nach
billigen, wohlfeilen Mätzchen griff, seine Nacktheit zu decken, um seine
Zwecke zu erreichen und Weiber zu fangen, die sonst geflohen wären.

Er dachte an Estella. Und wieder kam es leise zu ihm gegangen, das Schöne.
Das Schöne, dem Einfachen entsprungen. Wie ruhevoll das war. Es lag über
diesem Lande, über den Wäldern, über den Wässern und es lag in dieses
Mädchens Herz.

Was wollte er mit seinem Trieb nach Zerstörung? Beneidete er oder war
es Hass? Im Hass liegt Kraft und Grösse. Das war es nicht. Sondern etwas
Hinterlistiges, Schleichendes, das von rückwärts überfiel und langsam
mordete -- -- um rücksichtslosen, selbstsüchtigen Genuss.

Heute hatte er den ersten Spatenhieb eingestossen in die glatte Erde von
Estellas sonnigem Garten, wie sie ihn selber so treffend hiess -- es war
geschehen, daran war nichts zu ändern -- aber er wollte selber wieder
Blumen an diese Stelle pflanzen; ja, das wollte er.

Er war aufgesprungen und zum Fenster getreten. Misstrauisch sah er um
sich -- aber nichts geschah, niemand lachte. War das Gute so
selbstverständlich?

Nichts geschah. Nur in schweigendem Ernst begann sich die Maiennacht
langsam herunterzusenken. Draussen vor dem Fenster tobte und raste keine
Grossstadt vorbei, sondern auf dunkeln, schlafenden Hügeln stellten sich
still die Sterne auf. Wie feierlich das war!

»Habt ihr euch denn alle zusammengetan, alle gegen mich?« dachte
er. -- -- -- --

Als er das nächstemal in Brands Garten kam, begrüsste er Estella mit
schlichter Herzlichkeit; es klang dürftiger als sonst, so dass sie aufsah.

Woher auch sollte sie wissen, dass es gerade heute wärmer war als je.

Sie setzten sich zur Arbeit und gute Gespräche gingen durch den
Maienmittag.

Ein wenig verfielen sie auf ihre gestrige Unterhaltung, aber mit Grazie
sprang sie über das Verhängnisvolle darin weg und verplauderte es
vollends ganz.

Wieder erzählte sie ihm vom Haus und Schule und er lockte sie immer mehr
aus sich heraus und bat sie zu reden »damit er sie auch von innen sehe.«

Sie hatte ihr ganzes Leben sorgfältig zusammengerafft und war sich selbst
nachgegangen bis in die tiefsten Winkel, darum wusste sie Bescheid und war
klar und geordnet und hatte nicht das Zerfahrene, Unsichere, wie oft
ihr Alter, das über die eigene Unordnung stolpert und sich die Köpfe
zerschlägt. Aber sie war sich mit ihrer Wohlordnung oft kalt und
vernünftig erschienen neben denen, die da irrten und lachten und
weinten. --

»Jetzt muss ich Ihnen noch etwas erzählen, eine kleine Episode aus der
Schule«, sagte sie, »die müssen Sie auch wissen.«

Er nickte eifrig mit dem Kopfe und lächelte ihr aufmunternd zu.

»Also, es war einmal«, begann sie mit grossem Pathos -- »nein, nun im
Ernste -- es ist nämlich eine sehr ernste Geschichte, die ich Ihnen da
erzählen will. Auslachen ist verboten! Also: Wir Schülerinnen sind einmal
von unserm Lehrer für Kunstgeschichte hinausgeschleppt worden aufs Land,
um durch Anschauung den Hort unseres Wissens noch mehr zu bereichern. Es
war irgendwo ein kleines Kirchlein aus alter Zeit, von interessantem Stil,
in demselben aber eine Kopie nach Rubens, das Bild eines hervorragenden
Malers, der es aus Dankbarkeit oder sonst einem Grunde gestiftet haben
mochte.

Zuerst also haben wir von aussen geschaut -- ›es kostet die Fahrt allein
2,50 Mark, vertieft euch‹, sagte der Professor, ›dass es nicht umsonst
ist‹. Wir vertieften uns also um 2,50 Mark und es war sicher sehr
lehrreich. Dann sind wir hineingetreten. Unten im Schiff der Kapelle waren
einige Betende, trotzdem kein offizieller Gottesdienst war. Da wir ganz
zurückstanden, konnten wir nicht vorsehen zum Altar, obwohl helles
Tageslicht zu beiden Seiten durch hohe, weite Fenster hereinfiel.

Ich ging«, fuhr sie, lebhafter werdend, fort, »auf den Chor hinauf,
die andern kamen nach. Da trat ich ganz vor und schaute neugierig auf den
Altar.

Das Auge musste sich erst ein wenig sammeln, es flimmerte so von
natürlichem und künstlichem Lichte und erst allmählich hob sich aus
diesen Nebeln ein ach -- wunderseliges Bild!

Es war die heilige Jungfrau, hoch und schlank, in Wolken halb stehend, halb
schwebend, mit einem Antlitz -- so glänzend, so beseeligend und was das
Merkwürdigste war -- so lebendig, dass man sie schweben sah, dass
man ihren Atem zu spüren glaubte, und dieses Wehen von Weihrauch und
Kerzenschimmer als ihrem Munde entströmt wähnen konnte.

Ich bin nicht fromm, aber der Abglanz einer göttlichen Gnade lag so
überzeugend auf diesem lächelnden Gesichte, dass ich mich gerne vor dem
Bilde niedergekniet hätte. Ich war ganz hingerissen; auch dieses seltsame
Licht erhöhte noch den ausserordentlichen Eindruck, den die grandiose
Majestät einer solchen Kunst so schon erweckt hatte. Ich sah mich um, ich
wusste nicht, ob nach dem Lehrer oder den Mädchen, kurz -- es fiel mein
Blick auf ein kleines Harmonium, das geöffnet dastand und ich rannte in
meiner Begeisterung darauf hin und spielte jenes Schumannsche Lied: »Ave
Maria«. Kennen Sie es? Können Sie sich gerade dieses Wortes Ave Maria
entsinnen? Wie das aufschwillt! Wie es sich erhebt in apotheotischem
Schwung, wie es auffliegt und zum Himmel dringt!«

Er sah sie staunend an und sie errötete, weil sie dachte: »Ich ziehe mich
ganz aus vor ihm und er sieht mich nackt.« Aber dennoch fuhr sie fort:

»Damals habe ich geglaubt, es müssten alle gleichsam den Hut abnehmen
und andächtig mit mir empfinden. -- Ich war noch sehr jung«, fügte
sie entschuldigend bei, »aber es ist mir schlecht ergangen. Der Lehrer
stürzte auf mich zu, die Mädchen hielten mich für verrückt, stiessen
sich in die Seiten und lachten. Man eilte aus dem Gotteshaus, in dem
solches vorkam. Eine Flut von Vorwürfen und Drohungen. Unbildung,
Interessantmacherei, hiess es. Und wenn man auch manchmal ein wenig
absichtlich ist und weiss, dass einem der Hut so besser steht und das
Lächeln so -- da war ich es sicher nicht, Herr Makassy«, versicherte ihm
das schöne Mädchen mit seinem ehrlichen, aufgeschlagenen Gesichte, um
gleich darauf lustig fortzufahren:

»Nun erfuhren es alle -- die ganze Prozession: Vater, Mutter, Lehrer,
Rektor, Pfarrer -- alle stunden sie mit gesträubtem Haar um diesen
erschreckenden Fall herum, der so recht ein Zeichen der niedergehenden
Sitten war. Und sie fingen an, die Scheren zu wetzen mit wildem Eifer,
klipp und klar! Was war da alles nachzuholen!

Aber so heiter nehme ich's erst jetzt -- wo es vielleicht zu spät ist.
Damals schämte ich mich sehr. Und diese Scham nahm etwas fort von mir;
etwas Ursprüngliches -- und -- etwas Mutiges. Ich habe begonnen, auf
die Menschen zu achten, das macht feige -- ich habe begonnen, nach ihrem
Lächeln zu sehen, das macht bedenkend. Ob es gut war, -- ich weiss es
nicht?!

Ach, dieser überquellende, junge Enthusiasmus, der einem so warm übers
Herz rieselt -- -- fast habe ich ihn verlernt, vergessen -- -- bis jetzt,
wo ich etwas Verwandtes erblicke -- -- wo es mich wie durch den Duft einer
bestimmten Blume zurückzieht in meinem Erinnern -- bis jetzt, wo ich
glaube, ihn leben zu dürfen, ohne missverstanden zu werden.«

Er hatte die Pinsel längst beiseite gelegt; es erschien ihm weit
wichtiger, hier zu lauschen. Estella wurde ihm wertvoller mit jedem
Augenblick, da er um sie war. Er hatte sich einen Stuhl zurechtgeschoben,
ihr gegenüber, und zündete sich mit nie gekanntem Behagen eine Zigarre
an. Sie schob ihm einen Aschenbecher zurecht und nahm dazu das abgefallene
Deckblatt einer Pfingstrosenknospe. Für diese kleine Aufmerksamkeit dankte
er ihr viel zu stark -- aber es war darinnen von dem Dank für alles, was
sie ihm gab.

»Reden Sie weiter, ich bitte darum«, sagte er, und wunderte sich, wie
ruhig es in ihm wurde, wenn sie sprach.

Lachend, mit erregten, roten Wangen rief sie:

»Das vorher war eine Geschichte von dem, was einem die Erziehung nimmt.
Nun käme eine von dem, was sie dafür gibt. Da weiss ich aber keine!«

»Ammenmärchen zum Beispiel«, fiel er ihr ins Wort, »Ammenmärchen
setzt sie in Hirn und Herz; die sollen nur schauen, wie sie fertig werden
damit.«

»Das ist wahr«, rief das Mädchen fast jubelnd, als wäre dies die
lustigste Tatsache der Welt.

Einstweilen war _das_ das Lustigste auf der Welt, dass er sie so gut
verstand. Und mit breitem, wohligem Schmerze fuhr sie fort, wie
furchtbar das sei, wenn man das Märchen, das sich auf silbernen Sohlen
eingeschlichen hat durch die stets offenen Pforten einer Kinderseele und
dessen Saat dort eingewurzelt ist und festgewachsen, herausreissen müsse
aus der blutenden Seele.

»Denken Sie, herausreissen aus der blutenden Seele!« wiederholte sie
eindringlich, mit einer überzeugenden Geste; schrecklich genug war das
-- beide konstatierten es, aber beide mit unverwüstlich vergnügten
Gesichtern.

Man sprach noch davon, dass es da fast besser sei, die Erkenntnis komme
nicht so plötzlich, so mit Schrecken, sondern nach und nach, von selber,
etwa wie das langsame Zusammenschmelzen eines Wundermanns aus glitzerndem
Schnee. -- Aber Schmerz bleibe Schmerz, es sei hier nur die Frage, ob
es nicht besser wäre, gleich das Richtige in Kopf und Herz des weichen,
jungen Menschen einzuprägen, nichts Falsches, damit durch die nötig
werdende Umprägung nichts verloren gehe an Werten.

»Ach, wenn ich so zurückdenke an meine Kindheit«, rief sie lachend und
schränkte die Hände hinter dem Kopf, »was gab es da für Wirrnisse und
Qualen! Der ganze grosse Zauberapparat von Religion vor einem winzigen
Kinderhirn! Ich weiss noch, wie meine feine arme Mutter -- die nicht mehr
ist -- mich tröstete. Denn einmal waren es ein paar Heilige, zu denen zu
beten ich vergessen hatte. Da sah ich sie alle im Himmel droben sitzen
und weinen und böse sein auf mich. Ein andermal war ich beim
vierundzwanzigsten Ave Maria eines Rosenkranzes eingeschlafen, tief und
sorglos -- da erwachte ich und sah Maria vor Gott Vater stehen, mit dem
Fusse auf die Wolken stampfen und hörte sie zornig sagen: ›Es ist
unerhört‹. Und Gott Vater hat nach seinen grossen Flüchen gelangt und
einen davon hervorgeholt.«

Beide lachten und angeregt davon, fuhr sie fort: »Ein andermal ist der
heilige Florian, der ganz zu unterst in der Litanei kommt, von weit hinten
atemlos durch den Himmel gelaufen gekommen, bis vor Gottes Thron und hat
gesagt: ›Jetzt hat sie mich vierzehn Tage lang vergessen, ich zünde ihr
das Haus über dem Kopfe an‹. -- Gott Vater hat es ihm nicht verboten;
er wollte ihm die Freude nicht verderben, da er doch so gut ist und ihm die
Heiligen näher stehen als die Menschen. Und so fürchtete ich mich von
dem Tage an und schrie wie besessen, wenn nur die Ladenglocke des Krämers
nebenan ging, weil ich glaubte, es habe angeschlagen. Die Mutter tröstete
mich damals wieder, wie so oft« -- sie seufzte und nickte traurig langsam
mit dem Haupte -- »als ich ihr's erzählte und lächelte ein wenig
dabei, so fein und verhalten; da habe ich hinter ihr Lächeln geschaut und
gedacht: das ist am Ende gar nicht wahr, das vom heiligen Florian. Aber
gesagt habe ich's niemandem, weil Zweifeln Sünde ist.«

Makassy lachte; er unterhielt sich vortrefflich.

»So anmutige Geschichten wüsste ich nicht zu erzählen: nur etwas ist mir
erinnerlich aus diesen Zeiten, aber es ist viel derber und weniger schön.
Wollen Sie es hören?«

»Natürlich, und ob!« Sie klatschte vergnügt in die Hände und setzte
sich von neuem zurecht.

»Ich weiss noch, dass wir Buben uns verpflichtet fühlten, Mut -- sonst
nichts auf der Welt zu zeigen. Mut über Alles. Wir prahlten voreinander,
dass es uns die Haare zu Berge trieb. Einmal kamen ein paar der Ärgsten
zu mir auf das Gut meiner Eltern. Das »Fräulein« -- ich hatte nämlich
alles, Instruktoren, Fräuleins, Religionslehrer, alles -- nur keine
Eltern«, flocht er herb ein -- »das Fräulein nun hatte einen Hut mit
einem ausgespannten grossen Vogel darauf, der wie eine weisse Taube aussah.
Einmal sah ich durchs Schlüsselloch in ihr Zimmer, das neben meinem war;
da lag dieser Hut zufällig gerade so, dass man den weissen Vogel durch die
Spalte sehen konnte. Flugs drehte ich mich herum und rief dröhnend -- denn
ich hielt das entschieden für das Grossartigste und Mutigste, was bisher
dagewesen war -- meinen Kameraden zu: »Da schaut hinein, da ist der
heilige Geist drinn!« Ein Raufen und Balgen vor dem Schlüsselloch.
Mein Mut hatte gezündet; ein schallendes Gelächter ertönte; man wollte
kouragiert mit Gott ein Witzchen wagen.

Aber mit ein paar langen Sätzen kam der Instruktor daher, der hatte es bis
in sein Zimmer hinüber gehört und kühlte sogleich diesen Mannesmut mit
exemplarischen Prügeln. Er haute uns alle der Reihe nach durch; zuerst
mich, dann die andern und zum Abschluss wieder mich.

Und die mutigen Männer fingen jämmerlich zu heulen an. Mir aber ist
seitdem ein Trotz geblieben gegen diesen heiligen Geist, weil er so
unnahbar ist und gar nicht ein wenig mitgelacht hat und auch keinen Finger
rührte, uns zu helfen.«

Estella lachte und antwortete dann nachdenklich:

»Ich frage mich nur, wozu das alles. Solche Umwege! Es ist verkehrt und
gefährlich dabei. Es verbaut den Weg zur Einfachheit immer mehr.«

»Es sind nicht alle Estella Brand«, gab er ihr zurück und blies den
blauen Rauch der Zigarre in die sonnige Maienluft hinaus. Um ihn her war es
zu schön. Ringsum stilles Prangen!

Lila Fliedersträuche auf kurz geschorenem englischen Rasen; dazwischen
graziös gewundene Gartenwege mit dem spitzen gelben Kies bestreut, den
man von den vereinzelten Felsblöcken draussen in der Umgebung gewinnt.
Mächtige Büschel von Pfingstrosen, die ab und zu durch einen Sprung
in ihren runden, prallen Knospen einen Streifen leuchtenden Rotes sehen
liessen. Dort drüben Stauden von Goldregen, der noch spröde seine
Farbe verschloss. Und die Zweige der Bäume wiegten und sonnten ihre kaum
erwachten Blättchen, die noch knittrig und verschlafen waren, und flinke,
schwarze Amseln hüpften auf dem grünen Rasen oder über den schimmernden
Gartenweg.

Die Stunden gingen und kamen ungehört. Es war Abend geworden, als vom
Hause aus der alte Brand nach Estella rief. Beide sprangen erschrocken
auf, sie hatten ihn ganz vergessen und liefen jetzt eiligst nach der
zurückstehenden Villa und baten zum Fenster hinauf, er möchte doch
herunterkommen, es sei gar zu schön heraussen.

Er tat es und alle drei gingen langsam zu den Haselnussstauden. Im Gehen
sagte Brand:

»Sie werden heute tüchtig vorwärts gekommen sein, es ist spät
geworden.«

»O ja«, antwortete der Maler und sah dabei nach dem Mädchen, »ich bin
weiter gekommen -- ich glaube vorwärts.«

Brand liebte unklare, zweideutige Redensarten nicht. »Barrikaden«, sagte
er stets aufbrausend. Sie waren auch nicht dazu angetan, ihn für den
Fremden einzunehmen. Er war so einer von denen, um die man lange werben
musste.

Sie kamen zur Staffelei; das angefangene Bild war derb und roh in seinen
Umrissen auf die Leinwand geworfen. Keines sagte etwas darüber. Makassy
verräumte seine Sachen -- stets mit ungutem Gesicht über solche
Kramladenarbeit.

Die Haushälterin kam und frug, ob man das Abendessen im Freien zu nehmen
gedenke. Natürlich.

Da ging Estella das Tischzeug holen und kam frisch und jung wie der Morgen
über den Rasen her zurück. Schnell und sicher, klipp und klapp schlugen
die kleinen Sohlen auf dem Boden auf, ihn eiligst wieder zu verlassen,
als hätten sie nichts zu tragen von der Last dieses grossen stolzen
Mädchenleibes. Woher nur hatte sie diesen Gang!

Mit rosigen Händen breitete sie das Linnen über den Gartentisch, den
man wieder vor die Bank geschoben hatte und stellte die behaglichen Sessel
ringsum. Sie sah umher, ob alles ordentlich und gemütlich so sei und
verstrich schliesslich noch mit dem Fusse die dunkeln unordentlichen
Furchen, die vom Schieben des Tisches in dem gelben Kiese waren.

Wie anders ist alles, was ein feingeistiger Mensch auch tut, auch das
Unbedeutendste, Alltäglichste -- wenn dahinter nicht gleichsam der Vorhang
fällt.

Aber sie tat ihm leid. »Ist dir wirklich ernst mit all deinem Ordnen und
Vorbereiten?« dachte er, »darin liegt so viel arme ahnungslose Freude.«

Die alte Dienerin brachte die Gartenlampe und einen ganzen Stoss
Zeitschriften. »Für später«, bemerkte sie, um dann mit ausdrucksvollem
Seitenblick auf Makassy zu fragen, ob man servieren dürfe.

Der riss sich energisch los und verabschiedete sich.

»Sie werden froh sein, dieser Idylle zu entkommen«, rief ihm Estella nach
und lachte hinter ihm her -- und alles lachte mit ihr hinter ihm her, das
Haus, der Garten -- --

»Es ist doch ein recht boshaftes Mädchen«, dachte er ärgerlich im
Gehen. --

Aber alle Tage ging er nachdenklicher.

       *       *       *       *       *

Wieder einmal sassen sie beisammen. Das Wetter war nicht so schön heute,
denn es war schwül und fing auch alsbald zu regnen an. Sie packten die
Malsachen zusammen und trugen sie ins Haus; dort wollten sie warten, bis es
aufhörte.

»Kommen Sie«, sagte Estella, »wir schauen indessen da beim Fenster
hinaus; ich habe das Regnen so gern.«

Das Fenster lag gegen Westen; man sah über die grünen Wipfel einer
Baumschule weg, hin an die alte graue Stadtmauer mit ihren teils
vermauerten, lange ausgedienten Schiessscharten. Hinter ihr ragte nur ein
einzelnes, sehr hohes Giebelhaus mit schiefem, etwas eingesunkenem braunen
Dache und der Kirchturm empor. Der graue, schwere Himmel stand still
und nahe über der Erde. Es war überall ganz ruhig, dass man den Regen
auffallen hörte. Er rieselte hastig herunter, platschend aufschlagend auf
den Blättern der Bäume. Er gurgelte hier durch eine am Hause angebrachte
Rinne und fiel plätschernd in das aufgestellte Regenfass darunter, er
trommelte dort auf einige leere, draussen stehen gebliebene Giesskannen und
tropfte vor ihnen eintönig und gleichmässig herunter vom Dache. Es war
ein warmes, eiliges Regnen, das sich schickte, fertig zu werden, um der
Sonne Platz zu machen, die schon hinter den Wolken hervorblinzelte und
wartete.

Sie sogen den frischen, erquickenden Duft der dampfenden Erde ein, sich
zusammen aus dem Fenster lehnend, dass ihre beiden Oberarme sich fest
aneinander pressten.

Allmählich liess draussen das Regnen nach und hörte endlich ganz auf. Auf
den jungen Birnbäumen drüben in der Anpflanzung tropfte es melancholisch
von Ast zu Ast, von Blatt zu Blatt; es war ein sanftes Gleiten, ein Abgeben
und Aufnehmen, ein entlastetes Sichindiehöheheben und ein beschwertes
Hinuntersinken in den nassen Blättern und Zweigen. Unentwegte Bewegung in
den triefenden Bäumen, obwohl die Luft ganz stille stand. Estella war tief
versunken. Aber als sie dieser Versunkenheit nachging, sprang sie hastig
auf und trat zurück aus dem engen Fensterrahmen.

Langsam verliess sie das Fenster und ging aus dem Zimmer, in das das
Westlicht so freundlich schien, durch eine offenstehende Türe in den
angrenzenden, dunkleren Raum, wo in schwerem Ernst tiefrote Vorhänge von
den Wänden hingen und auf dem rotausgeschlagenen Fussboden ein streng
elegantes Mobiliar stand.

Sie trat zum Klavier, schlug den Deckel auf und begann ein ganz einfaches
Volkslied zu spielen. Die schlichte Melodie flog leicht auf; sie kam aus
einem vollen, liederfreudigen Herzen.

Makassy, der ihr nachgekommen war, trat zu ihr und sang dazu; da wurde es
ein ganz anderes Lied. Estella erkannte es kaum wieder und erregt bat sie
ihn, mehr und etwas anderes zu singen.

Er hatte eine vibrierende Stimme, biegsam und hart, wie das Lied es
erheischte; es war kein eitles Singen, denn nie opferte er auch nur
einen Ton oder ein Zeitmass seiner Stimme. Geschlossen, von grossartiger
Auffassung getragen, erhob sich der Gesang, unbekümmert um sie.

Das war ein Singen! Ein innerliches, heisses! Ein schwer gebändigter Strom
von Leidenschaft rauschte in den rasenden Tempi dahin; ein verhaltenes
Glühen und Sehnen stand hinter den stilleren Melodien; ein qualvoller
Schmerz schrie aus zerrissenen Klängen, jauchzende Lust wirbelte voll
bacchantischen Taumels in trunknen Kadenzen dahin!

Und alle die Töne rauschten verwirrend in eine stille, einfache
Mädchenseele. -- --

Die Zeit war wie im Traum verflogen. Als sie endlich geendet hatten, stand
Estella auf, wendete sich ihm zu und suchte aus sich herauszukommen -- aus
all' diesem neuartigen Stürmen und Drängen.

Beide sahen sich forschend an, doch verbargen sie sich ihre Seelen.

Plötzlich entglitt der Deckel des Klaviers den zitternden Händen des
Mädchens und fiel dröhnend zu.

Sie waren froh darüber, denn der brutale Ton des zuschlagenden Deckels
fiel erlösend in ein banges Schweigen. Estella nützte sogleich diesen
günstigen Augenblick und sagte:

»Das war Musik, was ich eben gehört! Wie klein ist meine Art zu
musizieren! -- -- Und wer so mutig sein kann!!«

»Sie haben das Volkslied viel richtiger erfasst als ich«, antwortete
Makassy, »ein solches Lied soll rein und ruhig vor uns stehen, wie es
gedacht ist. Ich hätte es gar nicht singen sollen.« --

Wieder Schweigen.

Dann gingen sie mitsammen in den Garten hinaus, der erfüllt war von
erfrischtem Blumen- und Pflanzenduft und dem würzigen Geruch der feuchten
Erde. Ein paar Vögel streckten und schüttelten sich die Nässe aus den
Flügeln. Schnecken sondierten bedächtig aus ihrem trockenen Haus heraus
den feuchten Weg und ein Bienlein dort auf dem Flieder kämpfte verzweifelt
mit einem Regentropfen.

Estella sah nach dem allen und dies einfache Leben, das sich da in dem
keuschen Tageslicht so offenbar allen abspielte, holte sie heraus aus dem
schillernden Zaubertempel, in den dies Singen sie hineingelockt.

Ihre Augen wurden heiterer, gegenwärtiger und vorsichtig nahm sie
jetzt ihr Kleid zusammen, das zuerst achtlos die nassen Wegränder und
Blumenbüschel gestreift hatte.

Da rief er ihr auch schon zu: »Wie können Sie jetzt darauf achten!? Was
liegt an diesem Kleide?«

Sogleich blieb sie stehen, lehnte sich an einen Lindenstamm, schaute ihn
erst staunend an, dann freudig -- und alle die Blumen ihres Gartens lachten
aus ihrem Angesicht.

Durch diese Frage fühlte sie ihr wachsendes Interesse berechtigt. Ein
wenig zauderte sie dennoch und frug ihn dann, sich ermunternd, nach seinem
Leben, ihn dabei nicht aus den Augen lassend.

Wie in einer Werkstätte ging es in diesem Antlitze zu; ein Funkensprühen,
Zucken, Hämmern und Aufschrecken.

»Fragen Sie nicht darnach«, sagte er und dachte, wie er sonst prahlend
mit seiner Vergangenheit losgelegt und wie feig er jetzt war und sich zum
Trotz schleuderte er ihr entgegen:

»Da müssten Sie Ihr Kleid noch sorgfältiger zusammennehmen, Estella
Brand, wenn Sie davon hörten!«

»Mag sein«, rief sie mutig und ihre Augen leuchteten, »aber ich würde
es gleich zusammengenommen lassen und fest zurückbinden und auch noch die
Ärmel dazu, und mich mutig an die Arbeit stellen. Ja, das würde ich! Das
sollte mir ein gesundes, tüchtiges, prachtvolles Arbeiten werden. Wollen
Sie, Herr Makassy?!«

»Ich habe zu viel an mir herunterbröckeln sehen«, erwiderte er nervös
und begann unruhig auf und ab zu gehen. »Ich brauchte bis an mein
Lebensende mit dieser Arbeit, diesem Ausbessern eines zerfallenen Hauses
und dürfte nichts als Steine tragen und Mörtel, den Kopf zu Boden, und
ich sähe nichts als mein graues, trauriges Haus -- und übersähe die Welt
dabei!«

»Die Welt!« rief sie lebhaft und sah in sein lebensdurstiges Gesicht.
»Was ist denn die Welt, diese Welt? Ich glaube, es ist nicht viel
dahinter. -- Mir erscheint sie wie eine schöne, kluge Frau, die immerfort
Karten schlägt und voll von Rätseln ist, die sie nicht löst und voll von
Versprechungen, die sie nicht hält. Sie sitzt lächelnd vor ihrem Tisch
und schaut sinnend von einem zum andern, -- denkt aber nichts dabei; sie
zeigt mit feinem Finger von dem zu dem und flüstert jedem verheissungsvoll
ein Wort zu, nach dem er gierig lauscht, und diesem Worte jagt er atemlos
nach und wenn er endlich erfahren hat, was es bedeutet, so sieht er, dass
es nicht der Mühe wert war. Da tritt er hin vor die falsche Frau, will
Klage erheben und sie zur Rechenschaft ziehen -- aber sie schaut ihn kalt
an -- sie hat nicht Herz noch Verstand -- -- -- und hält dennoch die
Menschen in Atem -- und Sie, Herr Makassy, sind Einer im Gedränge, Einer
von Tausend!« Sie atmete tief auf.

»Ich baute lieber an dem stillen, grauen Hause, dass es was Rechtes werde,
was Festes, das mich weghöbe über ›diese Welt‹ und beschütze davor.
Da setzte ich mich hinein in diese Festung, die hoch über ihr steht
und schaute in meine ureigenste, innerliche Welt -- und lachte über die
schöne, falsche Frau.«

Aber er war nicht so arbeitslustig; er hatte zu lange gefeiert und bat nun:

»Seien Sie nicht so tüchtig, Estella, streifen Sie Ihre Ärmel wieder
vor und lassen Sie das geschürzte Kleid hinunter -- -- seien Sie wieder so
sonntäglich wie zuvor!«

Und sie tat es und lachte.

»Wenn Sie nicht arbeiten wollen und umbauen, so müssen Sie sich freuen
können darüber, so wie es ist. Nicht hinstehen und jammern oder gar
meinen Sonntag angähnen. Da bin ich Lehrmeisterin -- in der Freude, -- ich
will Sie die Freude lehren!« Lachend drehte sie sich im Kreise herum.

»Sehen Sie um sich, da liegt sie schon -- rings um Sie -- Sie müssen sie
nur nehmen. Sehen Sie, hier und dort und überall!« Dabei zeigte sie nach
allen Richtungen.

»Was gäbe es da alles zu verderben, zu vernichten!« schoss es ihm
blitzschnell durch die Sinne. »Ich sehe gar nichts; ich sehe blos einen
blauen Himmel und einen grünen Baum«, sagte er störrisch.

»Dass der Himmel blau ist, der Baum grün und der Tag hell, das ist eben
die Freude!« erklärte sie eindringlich und dachte: »willst du es denn
gar nicht sehen?«

»Schauen Sie nur näher hin«, lachte sie ihm eifrig zu. »Sie müssen
nicht darüber wegsehen -- so übersehen Sie alle Freude! -- Mehr kann ich
Ihnen nicht bieten!«

»'n bisschen schmale Kost!« rief er. »Vielleicht werde _ich_ noch
Lehrmeister und lehre Estella die Freude.«

Und die schweren, verhaltenen Augen wurden durchbrechend und werbend, wie
vorher beim Singen. So verheissend, dass um sie her der freundliche Tag
verblasste mit seinen liebenswürdigen Gaben.

Das Mädchen wendete sich ab; weg von ihm; ging nach einer Weile zu
einem Fliederbaum, riss einen üppigen Blütenzweig herunter, dass die
aufblitzenden Tropfen ihr auf Gesicht und Haare fielen und gab ihm ohne ein
Wort den feuchten, duftenden Flieder hin. --

Über den Kies her kam der Onkel mit seinem rechtschaffenen Gesicht, ein
wenig gebeugt schon für seine Jahre. Sie rief ihm entgegen, dass sie Herrn
Makassy eben einen Flieder geschenkt habe für sein einsames Atelier. Beide
aber fühlten, dass es sich nicht ganz so verhielt. Der alte Brand, der
gerne gab, riss sogleich noch mehrere Zweige ab und reichte sie ihm hin.

Estella sah, wie Makassy sorgfältig den ihren eigens legte, nur störte
sie dabei ein wenig, dass er dazu nach ihr hinsah, als wollte er sagen:
wunderst du dich nicht auch, wie ich bin -- so wie ich mich wundere?

Man sprach noch einiges mit dem Hausherrn; dann trennte man sich.

Als Estella abends allein in ihrem Stübchen war und bevor sie zu Bett
ging, die Blumen versorgte und nach ihren Sachen sah, war dies alles an
sich nicht mehr von solcher Inhaltlichkeit und solch' ausfüllendem Werte
als sonst. Sie machte es gleichsam rasch ab: den Abend, das Ordnen, das
Schlafen, den Morgen und Vormittag -- bis der Nachmittag da war.

Und Makassy kam jeden Tag glücklicher und sein Gesicht war jeden Tag
fröhlicher.

Vor seiner Leinwand kämpfte er redlich mit seiner spröden Kunst, aber wie
oft war es, dass ein schöner Blick Estellas ihm den Pinsel aus der Hand
legte. Dann setzte er sich zu ihr und konnte alles vergessen um sie, auch
seine Kunst, und ihren Gesprächen lauschen und froh sein wie ein Kind.

»Meine Scheherezade«, sagte er, sich zurücklehnend, leise und
glücklich, durch halbgeschlossene Lippen. --

Selten kam der Herr des Hauses zu ihnen; er zog es vor, im Garten
umherzugehen, da und dort an den Blumen und Sträuchern etwas abzuschneiden
oder aufzubinden, oder an einem andern Platz zu sitzen und zu lesen, oder
im Hause zu sein, etwas zu ordnen oder zu schreiben.

Er kannte seines Bruders Kind, seine Nichte, zu gut und zu lange schon, als
dass er sie mit engherziger Bevormundung gequält hätte. Und dann -- wer
Richard von Thieben widerstehen konnte mitsamt seinem feudalen Forsthause,
der war selbständig und immun gegen alles sonst. Für ihn hätte er ja
gern ein gutes Wort eingelegt, aber auch das unterliess er. --

In diesen Nachmittagen, als eine von den Sitzungen war, mit viel sichtbarem
Eifer begonnen, an so viel Unsichtbarem gescheitert, kamen sie einmal
wieder recht ins Reden.

»Ich möchte so gerne wissen, Fräulein Brand, wie Sie sich eigentlich
Ihre Zukunft denken?« frug er sie.

»Früher«, rief sie fröhlich, »viel früher, da erschien sie mir
als ein Fest, und ich sammelte Blumen, um sie mir dereinst ins Haar zu
stecken.« Und ernster werdend: »Später liess dieser Enthusiasmus nach.
Ich liebte ihn auch nicht an mir. Ein wenig sah ich in der Welt herum, ein
wenig mehr in den Büchern, am meisten in meinem eigenen Innern. Ich habe
offene Augen, das lässt den Kopf hell und ich räumte immer mehr auf mit
jenen unklaren Träumen und sah mehr auf den Boden als in die Luft.«

»Da haben Sie also selbst auch an sich herumgeschnitten und Sie beklagten
sich doch darüber, dass es die andern taten!« fiel er dazwischen.

Ihr Gesicht wurde ein wenig altklug, als sie erwiderte:

»Freilich tat ich das. Ich habe an mir gearbeitet -- ach nein, Makassy,
es ist gar nicht wahr«, unterbrach sie sich hastig, »es war dies kein
so eigentliches ehrliches Arbeiten, als vielmehr ein kluges, vorsichtiges
Abwägen der Dinge, die mir wohl oder wehe tun würden im Leben und ein
eifriges Festhalten des Klügeren. Des Klügeren, nicht des Besseren,
hören Sie? Was das Klügere ist, weiss ich; was das Bessere ist, weiss ich
nicht. Wer könnte mir sagen, was das Bessere, was das Rechte ist? Heute
weiss ich es weniger als je«, fügte sie zaghaft hinzu, um fortzufahren:
»Ich bin weit herumgelaufen und habe gesucht und gefragt und geprüft --
und habe es nicht herausgefunden. Ich liebe die festen, sicheren
Menschen so sehr. Wie sie daherkommen, die Selbstsicheren, in breiter
Selbstverständlichkeit und wissen, was recht ist -- und es den andern
sagen. Und wie sie vor den Richter laufen und klagen über die, die es
nicht glauben. Woher wissen die es denn, was das Rechte ist? Ich bewundere
sie, ich beneide sie. Lauter Majestäten gegenüber den Suchenden,
Unsicheren.«

»Über Sie, Estella«, sagte er weich, »sollte einmal etwas kommen, etwas
Starkes, das Sie über sich hinaustrüge, fort über alles Zweifeln und
Besinnen. Dass nur _ein_ heisses, heftiges Wollen in Ihnen wäre, das
sich aufbäumte in Trotz und ureigenster Majestät. Dann würden Sie sagen
können: das ist das Rechte, weil es so sein muss und nicht anders sein
kann.«

»Das möchte ich -- das möchte ich!« rief sie sehnsüchtig. »Ob ich
dessen fähig bin? Ob ich mich nicht schon zu viel besonnen habe im Leben
-- zu viel besonnen -- -- -- verbesonnen -- --?«

Sie hatte sich zurückgelehnt und nahm sich vor -- auf das Mächtige zu
warten. Wie wollte sie aufpassen, es nicht zu übersehen, falls es käme;
und damit es überhaupt nahen könne, musste sie zugänglicher werden,
anders als bisher.

Noch übersah sie, dass es schon neben ihr stand, gross, unabwendbar!

Hand in Hand mit ihrem Innern ging auch sogleich das äussere Gebahren.
Sie wollte sich von jetzt an recht locker lassen, recht gehen lassen und
sogleich damit beginnen. Sie setzte sich nachlässiger hin als sonst, liess
sich auf der Bank vorgleiten, stellte die Beine leicht gekreuzt geradeaus,
verschränkte die Arme im Nacken und lag so im blanken Sonnenschein in all
ihrer Jugendpracht vor ihm da und -- wartete.

Das kam von ihren zwanzig Jahren, dass sie so war. »Schön ist's
übrigens, wenn man sich lockerer lässt, nicht gar so straff!« dachte
sie.

Eine unaussprechliche Behaglichkeit schien über sie gekommen zu sein. So
dachte sie sich den Anfang.

Makassy sah zu ihr hinüber, insbesondere nach den herben Formen dieses
jungen Leibes, die durch das prall angespannte leichte Sommerkleid
preisgegeben waren und konnte sich nicht losreissen von diesem köstlichen
Ebenmass. Auch staunte er über den Wechsel der Stimmung, den er an ihr
gar nicht kannte -- und er begann ihn aufzuregen. Erst wenig, dann mehr und
immer mehr.

Warum war sie so verändert heute? Warum? Zerstreut malte er an einem
Zipfel des blauen Kleides und dachte immer im Kreis herum.

Dazwischen irrte sein Auge wieder und wieder ruhelos zu ihr hinüber. Warum
war sie so heute?

Haltloser -- unbewaffnet. Und es wurde ihm unbehaglich. Er fühlte sich
allein gelassen, ganz auf sich angewiesen. Ein Schwanken entstand um ihn
und unmerklich entglitt ihm seine mühsam errungene Festigkeit. Auf einmal
sah er etwas bequem vor sich liegen, wozu er einen weiten mühseligen Weg
ersparen konnte. Und das Schwanken wurde stärker und der Wille schwächer
und bevor er's dachte, war er hineingeraten in seine eigene Seele, wo sie
am dunkelsten war.

War es nicht am Ende gleichgiltig, was sie beide zusammenführte. Warum
sollte er hier zaudern? Das unselige Blut seines Vaters begann sich in
seinen Adern zu rühren und regen und ohne dass er's wusste, entschlüpften
ihm die leichtsinnigen Worte:

»So ist's recht, Estella Brand!«

Estella sprang auf, erschrocken über solche Vertraulichkeit -- den ganzen,
wahren Sinn der Worte hatte sie nicht erfasst -- und streckte wie abwehrend
und sich schützend beide Arme vor.

Und noch während sie so stand mit erhobenen Armen, musste sie denken:
»Lass die Posen« und schämte sich. An ihr lag der Fehler; wie durfte
sie sich so gehen lassen; je mehr sie's bedachte, desto mehr fand sie die
Schuld auf ihrer Seite.

Da geschah etwas Schönes.

Zaudernd und errötend ging sie ihm entgegen und bot ihm ihre Hand. Es war
Verzeihen und Abbitte.

Nichts hätte ihn mehr bewegen können und auch er machte sich auf, auch er
wollte sein Bestes geben und begann sich anzuklagen:

»Es ist nicht nur das zu verzeihen, was Sie gehört, sondern vielmehr das,
was Sie überhört haben an meinen Worten,« sagte er und dachte: »Eckig,
wie ein Schulmeister, rede ich daher.«

»Ich habe eine Gedankenschuld gegen Sie, und zwar -- -- -- --«

Weiter kam er nicht; die Wahrheit stand vor ihm, sträubte sich und stellte
sich seinen Worten entgegen.

Gutes wollte er geben, das Geschenk der Wahrhaftigkeit wollte er
darbringen, -- aber, die war gehässig geworden und widerharig, dass er sie
fürchtete. Um Estellas willen wollte er's versuchen, die so schön vor ihm
stand und in glücklicher Erwartung an seinen Lippen hing, das Geständnis
dankbar zu nehmen, welcher Art es auch sei: Aber das Warten war umsonst. --

Verbittert und freudlos zwang er sich vor die Leinwand, aber die Arbeit
schickte auch keinen Trost.

Da verliess er den Garten des Privatiers und zwei traurige Mädchenaugen
schauten ihm nach. -- --

Müde ging Estella in das Haus hinein.

Der Onkel, der ausgegangen war, hatte nachhause sagen lassen, dass
er diesen Abend gar nicht heimkäme, sondern einer Herrengesellschaft
beiwohnen werde. Droben in seinem Arbeitszimmer lägen neue Bücher für
sie zum Zeitvertreib. Wie besorgt er um ihre Einsamkeit war.

Nach dem Abendtisch holte sie sich dieselben auch. Aber dieses
gedankenabwesende Herumblättern hatte gar keinen Sinn.

Energisch stand sie auf, läutete der alten Dienerin, liess sich in der
roten Stube Licht machen, setzte sich ans Klavier und spielte Beethoven.
Zu ihm nahm sie Zuflucht. Es redete ein Grosser zu ihr. Von den Leiden der
Welt, von den Qualen der Seele. Der nahm ihre kleinen Schmerzen mit fort.
Des Mächtigen eigene Worte fielen ihr ein: »Wer meine Musik wahrhaft
versteht, der muss frei werden von all' dem Elend, womit sich die Andern
schleppen«.

Und die Töne schienen ihr vom Himmel geschickt. Die hatte er sich einst
selber von dorten geholt, als seine gigantische Seele im Kampf mit
dem Irdischen lag und er hatte ein Stück Ewigkeit damit auf die Welt
gebracht. --

Stunden waren so vergangen, als plötzlich heftig an der Klingel der
Gartentür gezogen wurde. Sie schreckte zusammen und horchte gespannt auf
den schlürfenden Schritt der Dienerin in dem Kies des Gartens, dann auf
das Klirren und Aufsperren der Schlüssel und auf die ersten Worte eines
kommenden Gesprächs. Als sie aber dessen ruhigen Gleichlaut vernahm,
strich sie liebkosend über die Tasten, weiter zu spielen, weiter zu
träumen, neuen Offenbarungen zu lauschen.

Doch bald sollte sie wieder unterbrochen werden, denn die Alte kam ins
Zimmer und brachte ihr einen Brief für sie.

»Fräulein Brand eigenhändig zu übergeben.« Die Hausfrau des Herrn
Malers habe ihn gebracht.

Da musste sie die Hand aufs Herz pressen -- was wollte er von ihr? Eilig
schloss sie das Klavier, sah mit halben Gedanken nach, ob Alles in Ordnung
sei, rief der Alten Gutenacht in die Küche hinein und eilte in grossen
Sätzen die Treppen hinauf, nach ihrem oben gelegenen Zimmer. Die
Häuslerin war aus der Küche herausgekommen und sah nach dem Fräulein;
ihr Gesicht schillerte förmlich von eben in Empfang genommenen
Neuigkeiten, aber niemand nahm sie ihr ab.

Das Mädchen entkleidete sich mit zitternden Händen. »Zu dumm, dass ich
zittere«, dachte sie, »ich weiss gar nicht warum,« und legte sich
auf das einsame Lager; -- jetzt erst wollte es den Brief lesen, ganz
ungestört, durch nichts unterbrochen, -- und nichts mehr um sich haben
wollte es als die schweigende Nacht und ihre eigenen stillen Gedanken.

Als eine halbe Stunde später die Haushälterin an der Zimmertür
vorbeikam, hörte sie drinnen ein bitteres Weinen.

       *       *       *       *       *

Am anderen Tage war Estellas Wesen gesättigt von einer weichen,
versonnenen Melancholie. Die stellte sich neben sie; sprang mit ihr über
die Stiegen hinauf, setzte sich behaglich mit ihr in den alten breiten
Lehnstuhl, der in der Veranda stand, und schaute mit ihr über den
Garten weg auf die Strasse, wo die Menschen so werktäglich -- ahnungslos
vorübergingen. Diese Melancholie war eigentlich gar nicht traurig.

Im Hause gab es allerlei zu tun und dazwischen zog sie immer wieder den
Brief aus der Tasche und las und las. Wie hinreissend er schrieb! Aber es
war die traurige Geschichte eines schweren Lebens, die sie hier zwischen
den feinen Fingern hielt. Es stand da von seinem Vater, der einem alten,
hochangesehenen Geschlechte entstammte und die glänzenden Güter, die
an der ungarischen Grenze lagen, durch einen leichtsinnigen Lebenswandel
herunterbrachte, -- von seiner Mutter, die ihr qualvolles Leben zu
übertönen suchte mit rauschenden Festen und schreiendem Prunk und endlich
selber darinnen unterging.

»In dieser ›Welt des Scheins‹ wuchs ich heran«, schrieb er, »und
meine junge Seele irrte umher und verfehlte in bangem Suchen den rechten
Weg. Noch manchmal spähte sie aus nach ihm, aber sie fand ihn nicht -- und
bald auch spähte sie nicht mehr, bis -- Dich -- lass heute so Dich nennen,
Estella, -- ich fand!«

Das beglückende Bewusstsein solcher Unentbehrlichkeit gab ihr, all ihrem
Tun und Denken eine feste, zuversichtliche Richtung. Sie sah ihr Leben
wertvoller werden; über der nächsten Zukunft lag ein schönes Streben;
und an jeder kleinsten Arbeit hing ein grosses Stück von dem neuen Werte.

»Heute ist Montag, der grosse Montag der beginnenden Arbeitswoche des
Lebens, Beginn der Lebensarbeit -- soll das schön werden!« dachte sie.

Diesen Nachmittag ging sie ihm entgegen, das erste Mal seit er kam. Fest
und mutig. Als er aber ihre Hände wild und heftig an seine Lippen riss,
erschrak sie dennoch ein wenig. Ihrem Innern durfte man nicht voraneilen,
da durfte man nichts überspringen, es musste der ganze weite Weg Schritt
für Schritt von innen heraus gemacht werden.

Doch sie sollte nichts zu fürchten haben; mit keinem Worte erwähnte er
den Brief, mit keinem Blick trat er ihr zu nahe. --

Glücklich setzten sie sich zur Arbeit.

In solchen Stunden flogen die Farben nur so auf die Leinwand und das Werk
schien in köstlichem Gelingen der Vollendung entgegen zu reifen.

Sie trugen sich gegenseitig auf Händen. Über ihren Gesprächen lag ein
heimlicher Glanz. --

So blieb es viele Tage; bis einmal seine lauernden Sinne, die eine stetige
Angst vor der Haltlosigkeit dieses Zustandes verschärfte, verstohlen das
Mitleid durch ihre Wärme gehen zu hören glaubten. Da war die schöne Ruhe
mit einemmal zerstört und er fing an, hart und hochmütig aus seinem
Leben zu erzählen, insbesondere solches, was dartat, wie selbständig und
unabhängig er sei, wie um nichts er bettle, lieber entbehre und wie er um
nichts bedauert sein wolle.

»Armes, verhetztes Tier,« dachte Estella mit überschwellendem,
mütterlich-warmem Empfinden, »lass Dir doch helfen! Kein wärmerer Freund
im Leid als das Mitleid!«

Hass oder Liebe, dass seien die Elemente seines Lebens, das seien
Fürstenthrone -- zwischendurch dränge sich das Gesindel.

»Ich bin einer von den Makassy's!« rief er hochfahrend. »Die sind das
Betteln nicht gewöhnt -- Herrennaturen -- vielleicht Despoten --«

Jetzt war das ahnungslos überfallene Mädchen aufgesprungen und
kampflustig geworden und gab ebenso, doch mit einem schöneren Stolze
zurück:

»Vielleicht lernen Sie noch einmal die Demut kennen, wenn ein höheres
Empfinden an Ihre Türe klopft?!«

An dem unerschütterlichen Damm ihrer starken Art schlugen die brandenden
Wogen seines Temperaments mit verdoppelter Gewalt empor und rücksichtslos
fuhr er auf:

»Dazu brauch' ich doch die Demut nicht! -- Das empfange ich mit erhobenem
Haupte!«

In solchen Augenblicken konnte er alles vergessen um seinetwillen, er
täuschte und forcierte sich über sich selbst hinaus. Die unterdrückte
Wut eines Sklaven bäumte sich roh auf -- eines Sklaven, der zu lange schon
an den Fesseln und Folgen eines unbändigen Temperaments geschleppt hatte.

»Dann tritt es gar nicht ein; es versagt die Gnade seines Kommens,« sagte
sie feierlich.

»Gerade sie sind alle zu mir gekommen, ungerufen, ungebeten, stolz
empfangen. Ich brauche keine Gnade!« fiel er ihr grossartig ins Wort.
»Sie sind alle gekommen -- der Hass und die Liebe!«

»Ich spreche von höherem Empfinden!« rief sie kalt.

»Nun, die Liebe -- gibt es Höheres?« höhnte er.

»Ach, diese Liebe«, erwiderte sie verächtlich, »die man so
geringschätzig empfangen kann, das ist auch eine darnach! Da muss man
keiner der grossartigen Makassy's sein, da brauchen auch die andern nicht
zu knieen in Ehrfurcht. Die lungert in allen dunklen Gassen und Gängen und
bettelt um Einlass -- da wäre es grösser, sie gar nicht zu empfangen!«

Eine hässliche Antwort lag ihm auf der Zunge, aber an solch' kühlem
Ernste und an so viel klarer, sittlicher Natürlichkeit scheiterten seine
schwankenden Argumente.

Vor einem einfältigen Mädchen wurde er unsicher und zaghaft wie ein
Schulknabe. Das erste Mal im Leben; und es machte ihn mutlos. Dazu kam noch
die Furcht, sie zu verlieren, die hockte wie ein Gespenst zwischen all'
seinen Erwägungen. -- -- Sie zu verlieren, ohne sie besessen zu haben, --
ohne -- diese köstliche Kraft gebrochen zu haben, mit der sie -- lachend,
ohne nach ihm zurückzusehen -- ihre hellen, heiteren Wege weitergewandert
wäre -- -- niemals! Er liebte sie. --

Aber an diesem Nachmittag schieden sie von einander -- hoffnungslos, --
nachdem vergeblich Eines auf ein Wort des Andern gewartet hatte.

       *       *       *       *       *

Doch es war eine Hoffnungslosigkeit von heute auf morgen, schnell geklärt
und vertrieben durch Jugend und Sehnsucht.

Am andern Tage schon, als Makassy kam, schien all' das Schwere versunken
und das Leichte, Frohe zur Oberfläche gestiegen. Sogar äussere Ereignisse
gewannen an Wert und erfüllten sie beide ganz.

Makassy hatte Einladungskarten zu einem Künstlerfeste mitgebracht, das in
der Hauptstadt des Landes in einigen Tagen stattfinden sollte. Künstler
der ganzen Gegend mit Frauen und Töchtern und eine kleine Schar Geladener
würden kommen, es sollte ein zwangloses Gartenfest werden mit Tanz und
Maiwein.

»Da wollen wir uns festlich machen und alle graue Weisheit vertreiben und
verwirbeln im Tanzen und Lachen!« rief sie entzückt.

»Wieviel poetischer ist doch Estella Brand ohne allzuviel
Gründlichkeit!« scherzte er und ein Verlangen kam über ihn, sie einmal,
wenn auch nur auf Stunden, herauszuholen aus der gewohnten Umgebung in
weitere Verhältnisse -- -- heraus aus dem ängstlichen Garten -- -- über
die Heide mit ihr auf wilden Pferden -- -- allein! --

Der alte Brand kam durch den Garten her und erfuhr die Neuigkeit. Erst mit
Zurückhaltung, wie einer, dem nichts Übereiltes passieren darf, -- dann
mit Wärme, als er des Mädchens Freude sah. Dachte er doch an seine eigene
Jugend, wo er auch gerne ein Tänzchen schlug. Das vergass er nicht, wie
das sonst dem Alter gerne passiert. Und wenn damals die blasse Maria Hagen
nicht gestorben wäre -- mit ihrem wundervollen dunkeln Haar -- dann hätte
er vielleicht selbst eine Tochter mit 20 Jahren, die er zu einem Feste
führen müsste. Das war schliesslich auch ein Grund. So sagte er dem Maler
Dank und gab ihm seine bestimmte Zusage.

Es begannen Tage voll heiterer Arbeit für Estella. Sie richtete sich ihren
Staat zusammen, ein weisses Seidenkleid, dessen viereckiger Halsausschnitt
vergrössert wurde, da der Hals zu hübsch war und -- Makassy ihn noch
nicht gesehen hatte. Für alles sorgte sie selber, es war ein Eifer, ein
Vorbereiten, ein verhaltener Jubel.

»Wie ist doch alle Gegenwart wichtig und wertvoll,« dachte sie vergnügt,
»wenn Zukunft dahinter steckt!«

Sie konnte es kaum erwarten bis sie am nächsten Vormittage mit ihren
hübschen Sachen im Köfferchen am Bahnhof stand und die beiden Herren
ihr in den Wagen halfen. Auf der Fahrt sprach sie nicht viel; es war ein
Hindrängen auf den Abend, ein Vollsein von Gedanken.

Die Gegend wurde während der dreistündigen Fahrt immer reizloser und
eintöniger. Lange graue Ebenen, arme einsame Dörfer, dünne, dürftige
Wälder -- bis man endlich am Bahnhofe der Hauptstadt ankam.

Brand und das Mädchen fuhren nach einem Hotel; Makassy wollte sie um 8 Uhr
am Eingang des berühmten Stadtgartens, wo die Feier stattfand, erwarten.

Estella machte sorgfältigst Toilette. Der Onkel lachte über ihre
Ausdauer, sonst ging das so schnell bei ihr und sie war sich leicht gut
genug. Als sie aber um ½8 aus ihrem Zimmer trat -- da tat er selber
schnell noch einmal einen Schritt vor den Spiegel, ob er nicht allzusehr
abstechen würde von ihr und führte dann seine Nichte mit breitem Stolz
zum Tanz.

Sie fuhren nach dem Stadtgarten. Das Mädchen sonst mit dem angenehmen
Bewusstsein, heute mit dem bangen Wunsche, zu gefallen. Und heute wollte
sie doch nur einem gefallen, sonst Vielen.

Nun stiegen sie aus, traten durch die äussere Pforte in den Park und hier
erst wölbte sich ein zweites Tor, die eigentliche Eingangspforte empor,
mit Tannenguirlanden umwunden und bunten Bändern. Dazwischen sassen
unzählige Glühlichter, die noch zaghaft leuchteten, da der scheidende Tag
noch nicht gegangen war.

Man sah ein buntes Gedränge und erst jetzt fiel es ihr ein, dass noch wer
anderer als Makassy allein bei dem Feste sein werde.

Der Maler kam auf sie zu. Als er Estella sah, erschrak er, weil sie
so schön war. Sein Künstlerauge war geblendet, seine Künstlerseele
berauscht -- aber es war nicht das, warum er erschrak. Der Weltgewandte,
Aalglatte fand kein Wort, das er ihr hätte sagen können. Er war wie
benommen und ganz dunkel ward ihm bewusst, dass er ja Gäste vor sich
habe und Brand und das Mädchen einführen müsse. Ihnen den Weg bahnend,
führte er sie an einen der geschmückten Tische.

Die Beiden sahen sich um.

Es war zauberisch schön unter diesen hohen, uralten Bäumen, die in
gleichmässigen Entfernungen voneinander in den prächtigen Anlagen
standen. Da waren plätschernde Fontänen und Blumenboskette, üppige
südländische Palmen und Blattpflanzen, dazwischen knirschende Wege mit
feinem roten Sande bestreut. Es waren Buden aufgeschlagen und Weinkneipen,
wo die Künstler selber den Maiwein kredenzten. Mitten in einem der
Rasenplätze war ein origineller Stand für den Glückshafen errichtet,
gefüllt mit interessanten Skizzen und Bildern und Plastiken und überall
wehten Wimpeln und farbige Tücher, für die nur Künstler die rechten
Plätze zu finden wissen. Ein anderer kurzgeschorener Rasenplatz bildete
den Tanzboden.

Nach und nach wurden auch die Lampions angezündet und standen trotz ihrer
hundert bunten Farben in einem milden, ruhigen Lichte zwischen den dunkeln
Bäumen.

Ein Leben und Treiben entwickelte sich, die Musik hatte begonnen und der
Tanz, Reden voll Geist und Witz klangen durch die Nacht, Gesänge huben an,
hübsche Frauen und Mädchen in wallenden Gewändern drängten sich zu den
Buden, die Weinkneipen wurden umlagert, Lose wurden lachend aufgerissen --
es war ein Leben und eine Lust, wie es Estella nie gesehen.

Es hatten sich Maler und Bildhauer um das schöne Mädchen gedrängt, es
wurde gefeiert und mit Blumen übersät. Die Künstler haben offene Seelen
und offene Hände, wo sie bewundern.

Sie war entzückt von allem: von dem Feste, den Menschen, dem Wein, ihren
Erfolgen und sie war heiter und ihr schönes Lachen erklang in einemfort.

Nur manchmal, wenn ihr Blick sorglos von aussen dahergeflattert kam,
verfing er sich in Makassy's zwingenden Augen und blieb angstvoll
minutenlang darinnen liegen.

Es waren Stunden vergangen, seit er seine beiden Gäste wie im Traum von
der geschmückten Pforte zu dem Tische geführt hatte. Estella war indessen
ungezählte Male aufgestanden und weggegangen zu den Buden und zum Tanz
und wiedergekommen, immer umringt und in Anspruch genommen von einem
Kreise huldigender Künstler, die sich mit überströmendem Eifer um sie
bemühten.

Wie betäubt sass er an seinem Platze.

Er hatte alles wie im Nebel an sich vorbeiziehen sehen; er hatte kein Ohr
für den Lärm, kein Auge für das Getriebe, kein Wort für Estella. Alle
Pläne für dieses Fest waren dahin. So vieles hatte er sich vorgenommen
für diesen Abend; er wollte gerade heute das junge Geschöpf umgeben mit
Frohsinn und Heiterkeit, er wollte ihr alles bieten, was in seinen Kräften
stand, er wollte sie mit komischen Einfällen ergötzen, ihr Blumen
schenken, interessante Künstler vorstellen, schöne Frauen zeigen -- und
mit ihr tanzen wollte er und fröhlich sein. Sie sollte ein rauschendes
Künstlerfest erleben, das _er_ ihr geboten.

Aber die Freude versagt so oft ihr Erscheinen, wo man sie recht vorbereitet
erwartet hat.

An ihrem Aussehen war mit einem Mal all sein Vorhaben gescheitert. Nur das
dumpfe, niederdrückende Bewusstsein eines hoffnungslosen Zustandes war
über ihn gekommen.

War es die plötzliche volle Erkenntnis seiner Leidenschaft für das
schöne Mädchen, als er es in seinem Liebreiz an der Pforte stehen sah?

Erschrak er über seine eigene Empfindung oder erschrak er für Estella?

Noch war es Zeit; noch konnte er fliehen. Ein heftiger Kampf war in ihm,
sollte er sie freigeben, konnte er dies Opfer bringen, das ihm jetzt vor
der Entscheidung übermenschlich gross erschien?

Konnte er entsagen -- -- herrschen über sich selbst? Held sein! Und das
Nachschauen haben, wenn sie mit ihrem flüchtigen Schritt lachend von ihm
gegangen wäre?

Ach, und er erbebte, wenn nur ein Laut ihres Lachens zu ihm herüberdrang.
Es zog ihn zu ihr mit allen Fasern seiner unbändigen Natur.

Oder sollte er sie mit sich ziehen in heissem Geniessen einem dunkeln
Schicksal entgegen? Sein Blut schlug dumpf an seine Ohren, nur mit
äusserster Anstrengung konnte er sich der quälenden Aufregung erwehren,
die bei diesem Gedanken sich seiner zu bemächtigen drohte. Wie das winkte,
wie das lockte! Sein wildes Wesen brach aus allen Fugen. --

Hatte er denn ganz vergessen, was sie ihm einst bei den Ruinen sagte --
dass sie klug festhalte an dem, was ihr gut sein würde im Leben? Dass sie
ihren Kopf helle gelassen und wachend über die blinden Mächte gestellt
habe?

Er kannte das. Solche Ideen in stillen Jahren geboren -- in einem einzigen
Sturm verloren.

Sein Auge glitt zu ihr hinüber.

Wie ihr hoher Hals so stolz und sicher das zaghafte, scheinumwobene
Köpfchen von den geraden herben Schultern weghob! Nun hörte er wieder
ihrem leichtgeöffneten Munde dieses zuversichtliche Lachen entquellen
-- da fühlte er sich wie ein Verbrecher mit seinen abwägenden Plänen.
Sollte er bittend vor sie treten, dass sie ihm helfe, dass sie ihn mit
reiner Hand in ihr kühles friedvolles Reich führe?

Ein Verlangen nach dieser keuschen Hand ergriff ihn -- jäh,
unaufschiebbar.

Schwerfällig erhob er sich -- ein düsterer Freier -- und trat vor sie
hin.

»Fräulein Brand, ich bitte auch um einen Tanz!«, sagte er, und erschrack
über das Donnern dieser einfachen Worte.

Sogleich erhob sie sich, verliess alles um sich und ging mit ihm.

Sie kamen zum Tanzplatz. Hunderte von Paaren wirbelten lustig darauf herum;
die Musik brauste und die Lichter glühten still darüber.

Noch immer brachte er nichts über die Lippen.

Sie stellte sich tanzbereit vor ihn hin -- er rührte sie nicht an,
nur seine Augen standen gross und flackernd vor ihrem unschuldigen
Antlitz. -- -- --

Da endlich nahm er sie hochaufatmend in seine Arme und tanzte mit ihr.

Die Seide ihres Gewandes knisterte leise auf und der Duft ihrer Jugend
wehte ihm entgegen.

Bebend fühlte er ihren ruhevollen Tanz und ein sorgloses Vertrauen durch
ihre Haltung gehen.

Das erste Umfangen dieses jungen Leibes und dessen leichtes Folgen jeder
seiner Bewegungen hatten in ihm ein wildes Entzücken, ein berauschendes
Präludium seines Besitzes ausgelöst.

»Estella!« stöhnte er auf. Das eine Wort schrie in ihre Seele um Liebe,
um Hilfe.

Er hatte sie mit sich fortgezogen aus dem Gedränge, hin wo die köstlichen
Anlagen in einen natürlichen Wald übergingen. Dort war es dunkel und
einsam um sie und dort legte er seine Arme schmerzend schwer auf ihre
beiden Schultern und sein heisser Atem strich verwirrend über sie hin --
und kaum noch fühlte sie es, dass seine brennenden Lippen lechzend und
unstillbar auf ihrem Antlitz lagen. -- --

Später sind sie wieder zu den andern gegangen, haben getanzt und
gesungen, doch sie wussten es kaum. Das Fest der Künstler rauschte eine
verschwommene Melodie zu dem Feste ihrer Liebe. --

Jetzt ward ihr Schifflein abgestossen vom Ufer und den stürmenden Wellen
vertraut.

       *       *       *       *       *

Es kamen Tage voll heissen Glücks. Makassy umgab Estella mit wahrhaft
fanatischem Kult und sie schritt durch alle diese Gaben hindurch stolz und
zaghaft wie eine junge Königin.

Seine Blicke umschlossen sie fast unaufhörlich und alles was sie tat war
von einem neuen, anderen Werte.

Auch sie vermochte sich nicht loszureissen von seinem Antlitz, in dem
sie ein langsames Gesunden zu sehen wähnte -- von diesen dunkelgrauen,
innerlichen Augen, aus denen allmählich das Ruhelose, Zermarterte zu
weichen schien.

Und wenn einmal durch eine Redensart oder irgend etwas Unvorgesehenes ein
kleiner Rückfall zu bemerken war, so konnte sie ihn mit einem einzigen
ihrer guten Blicke zurückrufen und in Dank und Freude bot sie ihm dann all
die Herrlichkeiten ihrer schönen Seele. --

Von den Menschen hatte sie sich fast gänzlich abgeschlossen, sie war so
gerne allein, dass sie erschrack, wenn die Gartentüre aufging und irgend
ein buntes Kleid dahinter erschien, denn das war sicher jemand für sie.

Ihr Verhalten hatte dann auch etwas so Gezwungenes, ihr Lachen klang arm
und notgedrungen, ihre Blicke waren so anderswo und in ihrer Unterhaltung
lag nach jedem Satze etwas so Abschliessendes, zu Ende Gekommenes, dass
mancher der Gäste plötzlich aufstand und sich verabschiedete.

Was war da sonst oft für ein heiteres Leben, wenn um die behaglichen
Gartentische die jungen, fröhlichen Mädchen sassen und über ihre
gegenwartsfrohen Gespräche weg, verstohlen in den Glanz ihrer Zukunft
lugten. Da schien ein Bündnis der Jugend erstanden -- im Sonnenschein --
unzertrennlich -- ohne Ende.

Aber so schnell schon sollte eine aus ihrer Mitte gehen -- die Eine, die
still anerkannte Seele des Kreises, die immer mit unsichtbaren Händen,
ungewollt voll höheren Geistes allem das Gepräge verlieh.

Doch die Abschiedsgesänge, die der Geschiedenen erschallen wollten,
mussten zerschellen an ihrer Unnahbarkeit und auch an dem Schrecken
auferstandener, schnell um sich greifender Gerüchte in der kleinen alten
Stadt.

Estella musste vieles ihren Händen entfallen sehen, aber es konnte ja
nicht anders sein, sie empfing auch so überreich und all' das erschien ihr
so unsäglich viel wertvoller, dass sie es geschehen liess. -- --

       *       *       *       *       *

Einmal nach diesen Tagen hatten sie mit dem Onkel einen grossen Spaziergang
gemacht in der weiteren Umgebung der Stadt. Sie gingen auf den Höhenzügen
den reichen Waldungen zu.

Der Mai war längst zu Ende und das Getreide stand schon hoch auf den
Feldern. Ein leichter Wind wehte über die schimmernden Ähren weg und ein
schwaches Wogen entstand auf den Hügeln -- den stehenden Wellen der Erde.
Die niederen Dörfer waren versunken in einem Meere von Fruchtbarkeit und
schwimmend lagen auf ihm die braunen Dächer der Häuser.

Auch über die Bäume weg fuhr sachte die bewegte Luft und ihre Zweige
erbebten und ihre Blätter legten sich zitternd um und schlugen leise
klingend an einander. Schmetterlinge gaukelten über die Wiesen hin und die
Gräser und Blumen alle wiegten auf zarten Stengeln ihre Knospen und
Sterne und Glocken wohlig im Wind. Darüber wölbte sich weit und hoch das
Firmament und glänzende Wolken zogen in seiner tiefen Bläue stetig dahin.

Die drei schritten langsam durch diese schöne Welt. Der alte Brand gab
in lauten Worten seiner Bewunderung Ausdruck, Makassy und Estella sagten
nichts. Einmal blieb das Mädchen stehen, so recht erfüllt. Es hielt
Gottesdienst in seinem Herzen, dabei hatte es das Gehen gestört.

»Siehst Du nicht die Tränen, die über der Erde liegen?« frug sie
plötzlich Makassy, »die musst Du sehen lernen, Weib, dann kannst Du ganze
Schönheit schauen, der Erde ganzen, qualvoll-wehen Reiz!«

»Bei mir ist das einfacher,« antwortete Estella, »hier ist die
Welt, hier bin ich -- dazwischen liegt nichts. Ich schaue nur -- -- Du
komplizierst sie und zerstörst Dir ihre grosse, einfache Linie. Will Dir
das Einfache nicht genügen oder kann es Dir nicht mehr genügen?! Dann
allerdings wirst Du bald am Ende sein. Überfordere das Leben nicht!!
Entkräfte es nicht!! Komm,« rief sie abbrechend, »komm, die Rosen
blühen!«

»Die morgen welken,« erwiderte er. »Siehst Du Estella, das ist so arm,
so einfach: die morgen welken, -- darum muss ich multiplizieren, muss
vertausendfältigen im Genuss, darum muss ich heute im Genusse sie
zerstören! Ausleben -- Schönheitstaumel .... selbst ausleben, selbst zu
Ende leben -- wollüstiges Willenswerk! Sich nicht zu Ende leben lassen --
Ewigkeitstat!«

Sie überlachte es und sagte: »Ich hatt' einmal einen Traum, den will ich
Dir erzählen: Es war ein schönes, grünes Land, weit und herrlich. Ein
König nannte es sein Eigen. »»Du reicher König,«« dachte ich »»der
Du ein so schönes Land hast.«« Aber er selber war nicht darinnen --
es genügte ihm nicht. Dann kam ich in sein Schloss. Da blitzt' es und
gleisst' es vor Pracht, dass das Auge erbebte. Dort sass der König, »»Du
verwegener König,«« dacht' ich, »»der Du Dir solch ein Schloss über
die Welt gebaut.«« Er aber -- verblendet und krank -- schaute hinaus ins
Land, das, grau und trüb, ihn dieses bunte Schloss erbauen liess; --
noch grauer und noch trüber erschien es ihm jetzt. »»Du armer, armer
König.«« dachte ich jetzt und weinte.«

»Urgesunde,« sagte Makassy, »mutig ist Dein Lachen und weise Dein
Märchen!«

Sie gingen weiter.

Ausser der Bewegung, die der Wind schuf, rührte sich nichts allumher.
Ein einziger dunkler, grosser Vogel hob sich mit weiten Schwingen in
feierlichem Kreisen in den Äther auf und verschwand endlich hoch oben als
ein kleiner, schwarzer Punkt in den Wolken.

»So ist das Auffliegen des Menschengeistes, der auf der Erde gross
erscheint und zusammenschwindend sich dem Ewigen naht,« dachte Estella, --
doch das Lachen der Erde rief zurück aus den Fernen und ihr Auge blieb auf
dem sonnigen Wiesengrunde liegen.

Da lag die Schöpfung in Unschuld. Zwischen Rotbuchen- und Haselnussstauden
und graugrünen Wachholderstöcken standen stolze hohe Königskerzen,
Büschel weisser, blanker Margeriten, zitternde Federnnelken und dazwischen
schickte ab und zu hart vom Boden weg eine niedere Genziane, einem
Aufschrei gleich, ihr in Not erstarktes Dunkelblau. Doch mit gleichem Kosen
glitt ein goldnes Sonnenwerben von den Königskerzen bis zu ihnen hin.

»Aus diesen Blumenwesen müssen gute Gedanken kommen und über die Erde
ziehen« sagte Estella, »was haben sie schon frohe Poesie zu den Menschen
geschickt -- --«

»Weil sie unwissend sind« fiel er dazwischen und zitierte mit fast
boshaftem Behagen die Verse vor sich hin:

  »Blumen, ihr ahnt nicht mit eurem Duft,
  Dass ihr erblühet auf einer Gruft.
  Euer Standort, der Hügel, der ist ja nur
  Eine tote Welle erstarrter Natur.
  Ihr selber müsst sterben, wie alles dereinst --
  Mein Liebchen, auch wir -- mein Liebchen, Du weinst ...«

Sie schwieg; sie wollte nicht hören. --

Bald darauf umfing sie der Wald; er begann hier sehr jäh. Da war noch
die sonnige Halde und dort schon standen die trotzigen Tannen in finster
geschlossener Reihe. Es gibt oft ein so allmähliges Übergehen in den
Wald, wo zuerst Büsche und Sträucher vermittelnd und vorbereitend
entgegenkommen und uns sachte hineingeleiten -- aber da war es wie das
Eintreten in einen Dom, in dem man mit einem einzigen Schritte aus grellem,
buntfarbigen Leben stehen kann.

Makassy stand im Walde und wandte sich nach ihr um, die sie noch draussen
war im Sonnenglanz. Doppelt erschien sie durchleuchtet, von der Sonne und
der eigenen Seele. Das rosige Tüllgewand, das sie heute wieder trug, und
das lichte Haar folgten leise der Richtung des Windes wie die Blüten alle
um sie her. Es war ein gemeinsames Flattern und Fliegen und Neigen nach
vorne, denn der Wind ging dem Walde zu und nahm die leichten Falten des
Kleides, die entfesselten Wellen des goldenen Haares und die erschrockenen
Köpfchen der Blumen mit sich.

»Schau,« sagte sie lächelnd mit einer solidarischen Bewegung über die
Blumen weg, »wir wollen alle zu Dir!« »In die Dunkelheit« rief er und
beobachtete ihre Mienen. Aber sie umging die Antwort auch diesmal.

Rasch betrat sie den Wald, um sofort weiterzuschreiten, vorbei an ihm, --
den Onkel einzuholen. Makassy jedoch ging gleichen Schrittes mit ihr
und behütete sie ängstlich, sie hier von irgend einem kleinen Abhang
zurückreissend wie vor einem Abgrund oder ihr dort über eine harmlose
Baumwurzel helfend, wie über das schwierigste Hindernis. Aber das konnte
sie nicht freuen. War das wirklich nichts als Sorge um sie? Es geschah mit
einer Heftigkeit, die ihr zu stark erschien für diese winzigen Gefahren.
Warum tat er das?

Er wusste Antwort. Lust war es -- -- und Angst. Lust, sie zu berühren,
Angst sie zu verlieren. Seine unglückselige Art liess ihn sie umlauert
sehen von Gefahren. Er zitterte um sein junges Lieb, von dem er so viel
erhoffte.

Erhoffte für sich. Selbsterrettung, Lust zum Kampfe mit all' dem
Stagnierten, Verwesenden in ihm. --

Weiter gingen die Gedanken.

Sollte er wirklich das alles aufrütteln zum Leben, was so faul und träge,
sterbend schon, in dem Satz des Bodens lag? War das nicht unbequem und ohne
Freude?

Und weiter gingen die Gedanken.

Auferstehung! -- Wie pathetisch für einen Makassy! -- Mit neuem Hemdkragen
und frischgeputzten Zähnen zum Halleluja singen -- --

Aber hinter seinem zynischen Hohne lauerte die Furcht, ganz klein. Die
wollte er nicht sehen. Ihm fehlte der Mut zur Reinheit, -- er wusste nichts
anzufangen damit. -- Das war's. --

Indessen waren sie mit dem alten Brand zusammengekommen und unterhielten
sich mit ihm. Estella schob ihren Arm in den seinen, obwohl er, nicht
gewöhnt an Frauennähe, etwas steif in solchem Falle war und erst wieder
doppelt herzlich wurde als sie ihn wieder freigab.

Aber sie hatte sich in den kurzen Augenblicken erholt an diesem Gleichmass,
dieser Unerschütterlichkeit einer geklärten Natur. »So von einem
Ruheplatz aus über das sturmgepeitschte Meer schauen,« dachte sie, »muss
auch schön sein -- aber inmitten der Wogen ....« Erschrocken über ihre
eigenen Gedanken irrten ihre Augen zu Makassy hin. »Was er nur hat, -- er
wird immer seltsamer,« grübelte sie. »Er macht so müde, ich kann ihm
kaum folgen, -- ich werde den Boden unter mir verlieren -- doch was liegt
daran, wenn ich nur mitkomme -- wenn ich nur mitkomme ...!«

Sie hatten sich wieder von einander entfernt.

Brand war stehen geblieben und vertiefte sich in die jungen, hellgrünen
Ansätze eines Tannenbaumes und wunderte sich, dass dieselben in seinem
Garten noch nicht so weit waren. Dass sie in des Pastors Garten zum
Beispiel zurück waren, beunruhigte ihn nicht. »Ein Garten ist eben kein
Wald« hatte er neulich erst begütigend zu ihm gesagt. Aber _sein_
Garten, -- das war schliesslich doch etwas anderes.

Die beiden anderen waren weitergegangen. Makassy, der dieses Einhängen
des Mädchens in Onkels Arm misslaunig beobachtet hatte, liess es rauh an:
»Suchst Du Zuflucht? -- Du gehörst zu mir, wisse das!«

Da war sie ganz nahe zu ihm getreten und stellte sich wohlig an die
leichtentflammte Glut dieser Leidenschaft.

»Küsse mich,« herrschte er sie an und riss sie mit wilder Geste an sich
und sich aufreckend fuhr er fort:

»Initiative, Weib! Ich dürste darnach!«

»Siehst Du«, rief sie in wachsendem Schmerz, »siehst Du, ich bin nicht
der mächtige Baum geworden -- ich bin verbildet und verschnitten --
verstümmelt bin ich -- --«

Aber er hörte ihre Worte kaum, er hatte sich berauscht und vergessen an
der Nähe ihres blühenden Leibes und küsste sie ..... küsste sie .....

Bei ihr führte der Weg von innen heraus; langsam, Schritt um Schritt.

»Vergiss mich nicht, wenn Du mich an Dein Herz nimmst!!« rief sie
erschrocken.

Der Wald um sie her rauschte vor Pracht. In die dunkeln Tannenwälder
hatten sich Eichen- und Buchenstände eingeschoben. Es war ein Zittern und
Schwanken von Licht und von Schatten, ein irres Hüpfen von Sonnenflecken
und -Streifen und -Kreisen ringsum.

Und langsam führte sie der Weg aus diesen lebensvollen Wäldern in einen
ganz anders gearteten uralten Lärchenhain, der wie ein vergessenes,
stehengebliebenes Stück Welt, das das Sterben übersehen hatte, aus
langvergangenen Zeiten anmutete.

Zerfetzte, silbergraue Lärchen standen riesenhoch wie die dräuenden
Greise des Waldes auf dem graubraunen, verdorrten Grasboden und streckten
ihre dürren, vertrockneten Arme gespenstisch in die Luft. Rötlich
schimmerte es durch die Risse und Rinnen der dicken, violetten,
zerborstenen Rinde der Stämme und da und dort sickerte eine schwere,
grosse Zähre durch sie und rann langsam, langsam zur Erde nieder -- oder
blieb erstarrt auf ihrem mühseligen Wege stehen. Und mächtigen Adern, die
noch ein spätes Leben fristen, glichen die Wurzeln der Bäume, die aus dem
Boden gequollen waren und die ein uralter, graugrüner Schimmel umzog. Aus
den abgestorbenen, bleichen Ästen ohne Rinde und Laub wucherten weisse
und gelbgrüne Flechten und wehten graue, lange Bärte, in denen die
abgefallenen, rostigbraunen Nadeln zitternd hingen. Und nur an manchen
Spitzen dieser entnadelten, filzig umwachsenen Zweige waren noch einige
stehen gebliebene Nadeln, die wie durch die Patina stiller Jahrhunderte zu
steifen, blaugrünen Sternchen erstarrt schienen.

Ein Windstoss fegte über den Wald, dass es das verdorrte, gelbe Gras,
das wie auf verlassenen Gräbern lag, knisternd in die Höhe hob, dass
die dürren Äste klappernd aneinanderschlugen, die modrigen Bärte wilder
wehten und ihnen die rostigen Nadeln klingend entfielen, dass ein paar
aufflatternde Vögel kreischend den Wald verliessen und ein schwarzes
Eichkätzchen erschrocken über den verfallenen Weg huschte.

Die drei Menschen standen ganz klein und verloren in dem hohen, seltsamen
Walde.

Das gesunde, furchtlose Mädchen wehrte sich am ersten gegen seine Macht.
All' seine Klarheit erhob Protest gegen dies düstere Grauen.

»Sing ihm ein Lied zum Trotz«, raunte es Makassy zu.

Und der schlug innerst erleichtert sogleich ein, langte eilig zurück nach
einer der alten, fast vergessenen Weisen -- hub zu singen an, wie kein
Anderer singt -- -- und sein Lied zitterte heiss und hastig durch den toten
Wald. Es schlüpfte zwischen den dürren Ästen durch, streifte die alten,
vertrockneten Bärte, lief über die knisternden Grashügel weg, flog zu
den kahlen Wipfeln hinauf, huschte durch die Moose und Flechten und sprang
über den verlassenen Weg.

  Es rast im Tanze
  Das wilde Weib.
  Es lockt im Glanze
  Ihr schöner Leib.
  Züngelnde Locken
  Umspielen die Brust.
  Rundum hocken,
  Entfacht in Lust,
  Männer und Frauen,
  Die trunken schauen.
  Alle die Lichter
  Schieben sie nah,
  Gier'ge Gesichter
  Man da sah. --
  Doch auf einmal -- o Entsetzen! --
  Löst sich der Schleier
  Und die Fetzen
  Fangen Feuer!
  Alle johlen,
  Nur einer stürzt hin.
  Der musst' verkohlen
  Samt der Tänzerin. --
  Wer voller List
  Blos hat geschaut,
  Entkommen ist
  Mit heiler Haut.

Sie hatten den Wald vergessen. Sie waren voll des Liedes.

Makassy schien in der Ferne zu sein. Estella lauschte mit angstvoll
gespannten Sinnen weit über das Lied hinaus. Da war etwas, das sie
erschrecken liess; etwas Wildes, Dämonisches, zu dem sie sich nie erheben
konnte. Da war etwas Ursprüngliches, Elementares, das ihr fehlte, eine
glühende Sinnlichkeit, die sie nicht kannte.

Da war ein Strom, stolz und grossartig, der sich durch Felsen brach -- hier
ein dünnes Bächlein, das verzagt um alle Steine lief. --

Brand ärgerte sich über das Lied, an seiner faktischen, praktischen Natur
scheiterte dessen Poesie; auch genierte ihn dieses nackte Frauenzimmer, das
da so zügellos um ihn -- den Privatier Brand -- herumhüpfte.

Als sie endlich den Wald verliessen, war es spät geworden und leichter
atmend betraten sie die freien Höhen.

Es schien fast, als wollte an diesem Tage die Natur selber sich überbieten
in verschwenderischem Geben. Denn sie schickte dem reichen Tage einen
märchengleichen Abend nach.

Feierlich langsam rollte die Sonne, die feurige Kugel, die blauschwarzen
Hügel hinunter und schickte dann einen Gruss zurück, der das weite,
abendliche Land noch einmal weckte aus seinen Sommerabendträumen. Eine
blutrote, mächtige Flamme schlug auf am Horizonte und die Hügel alle und
die schweigenden Dörfer und Felder und Wälder, die schwer und dunkel in
dem Tale lagen, erhoben sich langsam zu einem neuen, anderen, verklärten
Leben. Sie waren jetzt wundersam durchglüht und ihr violettes Leuchten
warf einen nebligen, flimmernden Schein rings um sie in den weiten,
magischen Feuerschein, der wie eine erstarrte Lohe über der trunkenen Erde
stand.

So ruhte die grosse, stille Welt in verklärtem Lichte.

Allmählich begann ein langsames Umfärben, bis das tiefe Rot des
Horizontes in ein dunkelgoldenes Orangegelb hinübergesunken war und alles
weit umher träumte in vergeistigtem Sein.

Jetzt schwebten die Hügel der Erde, immer körperloser werdend, wie
verwehende Silhouetten, als hätte das Glühen sie ausgeschmolzen und
wesenlos gemacht; -- und allumher begannen sich langsam wieder Farben
und Lichter zu lösen und verschwanden allmählich in dem dunklen, kalten
Weltenraum.

Brand und das Mädchen waren vorausgegangen. Fest und sicher zeichneten
sich ihre schwarzen Umrisse in den hellen Horizont. Die Jugend mit den
schwellenden, zaghaften Linien; starr und hart das Alter. Hier der junge,
werdende Mensch, dort das gewordene, unbewegliche Alter.

»Du Junge«, dachte der Maler, »renne nur mutig den hohen Berg hinauf,
der vor dir steht. Bis du da droben atemlos ankommst, bist du von selber
müder und stiller geworden und kannst ruhiger den enttäuschenden Anblick
ertragen, der sich dir bieten wird. Du hast gemeint, da droben sei das
Glück, ein endliches Ruhen und Verweilen; einstweilen ist dort oben
nur ein schmaler, schwindelnder Felsenplatz, nicht geschaffen für
Menschenrast.

Und weiter wirst du eilig müssen, wieder hinab; ein anderer hoffender
Mensch, der nächste, will kommen und schauen, und freudlos wirst du
hinuntersteigen, arm geworden. Der glückliche Eifer ist erloschen.

Hinuntersteigen, Schritt für Schritt, zähe, ächzende Mühsal --
hinuntersteigen -- -- Hinunterstürzen! Enden im Werden, enden im Vortraum
des Gewordenseins! -- -- trotze, Weib, mit deinen jungen Kräften und
Sinnen und sauge dem armen Leben die Freude bis auf die letzten Reste
wollüstig aus den Adern!«

So unbemerkt hatten ihn seine Gedanken wieder fortgenommen, dass er sich
zurückzwingen musste ins Gegenwärtige, Gute, Einfache. -- Die schlichte
Idylle des Brandschen Gartens lastete auf einmal bange auf ihm. Er musste
sie sich aus seinem Erinnern in weite Fernen schieben. Dort verlor sie an
Wirkung.

Wollte ihn sein eigenes Lied aus diesem Paradiese vertreiben?

Sich übertönend rief er hastig und lärmend: »Fräulein Estella, Herr
Brand, -- warten Sie doch! Sie gehen da schnurstracks in den goldenen
Himmel hinein und lassen ...«

»Den armen Makassy allein!« rief mit etwas starrem Humor das Mädchen
zurück und wartete, während der Onkel weiterging. Dem war nahezu alles
unausstehlich geworden, was der sagte. --

»Estella!« rief Makassy leise und leidenschaftlich und presste ihre
zarten Handgelenke, dass es sie schmerzte, »schau über die Welt! Siehst
Du, wie sie sich plagen?! Siehst Du, wie sie sich aufrecken, hinausdehnen
über sich selbst -- ewigkeitwärts?!!

Ihre Farben, ihre Klänge, ihre Bauten, ihre Altäre, die langen hinauf
mit verwegener Hand nach der Gottähnlichkeit -- voll Sehnsucht, voll
Verlangen, voll Trunkenheit!!! Diese Trunkenheit, ja -- die trägt fort
über Gemeinheit, über das Menschsein, über das Erdentum!

Aber allemal in solch' kühnem Aufflug, den Gott im Auge, Gott nahe --
zieht die Erdenschwere roh zurück in die eigene Erbärmlichkeit.

Und siehst Du, Weib, die ungestillte Sehnsucht, diese armen, stolzen
Kräfte, die heischen Sättigung -- ich dürste, Estella, ich darbe, ich
friere -- -- -- ich muss mich zum Hass und zum Bösen wenden, da fühl' ich
starkes, heisses Leben, das mich sättigt!!!

Das Gute ist so einfach, so selbstverständlich. Hinter allem steht die
Erschöpfung, aber nirgends näher als hinter dem Guten. Es geht auch so
bescheiden und leise -- man hört sich selber zu sehr dabei. Das Böse
ist laut und aufwieglerisch, -- es ist mannigfaltig und hat ein dröhnend
Gefolge .....«

Er schwieg erregt, um nach einer Weile mühsam mit tonloser Stimme zu
sagen:

»Doch Du verstehst mich nicht. Du bist so jung; durchsichtig, glockenklar
bist Du; aber das verstehst Du nicht. Verzeih', dieses stille Land da hat
sich wieder an meine Ferse geheftet.«

»Und dieses wilde Lied!« schrie sie gemartert auf und ihr Auge stand
forschend vor dem seinen.

Aber ohne Antwort, tief und dunkel lag seine Nacht vor ihr.

Sie gingen beide, den Kopf zu Boden gesenkt, und horchten in sich hinein
und atmeten schwer.

»Sie müssen auseinanderführen, diese Wege«, dachte sie verzweifelt. --

Dann fingen sie mitsammen zu reden an, laut und leer. --

Hilflos spannte sie auf diesem Heimwege ihr zartes Wesen weit über ihre
Kräfte hinaus. Sie suchte sich ängstlich und verzweifelt über sich
selbst hinauszusteigern, hinaufzuheben.

Sie wurde laut und unnatürlich, ihre Bewegungen waren wild und aufgeregt
-- sie betrog sich damit um all ihre ureigenste Schönheit.

Sie jagte ihm nach, sich verlierend, angstvoll, verhetzt -- -- und
sie hatte ihn doch zu sich herüberziehen wollen. Und er sah nur das
Unzulängliche, das Verdorbene -- nicht die Qual, nicht die Angst, nicht
die Liebe.

Als wenn ein Kind sagte: »Mutter, ich trage Dich, wenn du nicht mehr gehen
kannst«; die eine Mutter wird glücklich sein und antworten: »Wie gut
von dir; hast du mich so lieb!?« Und die andere wird sagen: »Wie dumm von
dir. Fühlst du nicht, dass du zu schwach dazu bist!?« -- --

Bevor sie auseinandergingen, nahe beim roten Tore der alten verwitterten
Stadtmauer, da riss er sie in seine Arme -- über alles weg was war; er
küsste sie wie von Sinnen und eine wilde, ausirrende Sehnsucht stand in
seinen Augen.

Und wieder wollte sie sich wehren und aufschreien: »Ich bin Estella Brand,
weisst du, dass ich es bin?« Und wenn er es bejaht hätte, wie glücklich
wäre sie gewesen! --

Als sie endlich nach Hause kam in ihr Zimmer, liess sie sich schwer und
todmüde auf ihr Lager fallen. War das wirklich nur ein einziger Tag, der
hinter ihr lag?

»Wir leben zu schnell, es wird bald zu Ende sein«, dachte sie mit
Entsetzen.

Als sie aber eine Zeitlang ruhig lag und der müde Körper sich erholte,
zogen auch durch das zerquälte Hirn ruhiger die Gedanken. Sie überdachte
alles, Stunde um Stunde, was sich heute zugetragen. Auch das Schöne darin
-- -- und immer mehr das Schöne. Es ist etwas so Rührendes um ein junges,
elastisches Menschenherz.

Sie dachte an ihn; sie dachte an das Faszinierende, das von ihm ausging;
an sich, an das wilde Stürmen, das ihr klares Wesen durchrüttelte und
durchtobte, in dem sie mutig, staunend Stand hielt. -- Alles, was er tat
und sagte und unterliess, und wie er es tat und sagte und unterliess, war
neu und eigenartig, von einem bestrickenden Reize und gleichsam mit Einsatz
seiner selbst.

Sein Liebkosen war ein Quälen -- und sie liess es geschehen, war erfüllt
davon, währenddessen er immer unersättlicher wurde an ihrer wunschlosen
Herbheit.

Wird er nicht bald fordern kommen, dass auch sie gebe, war er nicht schon
gekommen und wird sie dann geben können?

Es fiel ihr ein, wie sie sich heute hinausmühte über sich selbst, wie sie
einmal förmlich zu ihm hinschrie -- es war am letzten Teil des Heimwegs,
als schon das alte Städtchen in seinem Abendfeiern vor ihnen auftauchte,
unweit dem roten Tore -- da hatte sie hingeschrien zu ihm:

»Sieh, die Sonne ist fortgegangen!«

Es hatte wahrhaft deklamatorischen Schwung und polterte wertlos und
unbeholfen durch den leisen Abend. Wie verkehrt das war. Sie hatte es an
seinem Gesichte deutlich gesehen, wie es irritiert aufzuckte.

Sie musste lachen und schämte sich ein wenig dahinter -- und lachte
dennoch -- und Tränen stiegen ihr in die Augen -- -- und Tränen fielen
über die Wangen -- -- -- und aus dem Lachen war ein Weinen geworden.

       *       *       *       *       *

An einem der kommenden Tage war es, dass zwei Ereignisse dieses äusserlich
so ruhig fliessende Leben durchkreuzten. Als Estella am Abend mit ihrem
Onkel beisammen sass, er sehr heiter und wortreich, sie mit einem schwer
verhaltenen, übervollen Herzen, nur mit Anstrengung Worte der
Erwiderung findend, erinnerte er sich plötzlich, dass die eingelaufene
Tageskorrespondenz noch durchzusehen sei.

Das Mädchen brachte sie ihm und riss in Gedanken schon geizig die Zeit
ungestörten Nachdenkenkönnens an sich.

Es gab so viel zu denken, zu entwirren, -- umzubilden, aufzubauen. --

Sie sah sich in einem fremden Lande, kannte die Wege nicht, vermochte sich
nicht zurechtzufinden, -- -- und wusste keinen Rat.

Doch beim Eröffnen des zweiten Briefes schon sagte Brand erfreut:

»Denke, Estella, Thieben will kommen!«

»Was will er denn?« rief sie auffahrend. Nichts hätte ihr störender
sein können in ihrer neuen heimlichen Welt. Sie glaubte, dass der
Ungerufene in ihre Kreise treten würde, sie sah ihn traurig wie bei einem
Sarge bei dem Feste ihrer Liebe stehen.

Sie fühlte seine klagenden Augen beschwerend auf sich ruhen, sie hörte
ihn händeringend sagen wie einst: »Es ist nicht gut, es kann nicht gut
sein!«

Sie sah ihn im Geiste schon steif und stämmig wie einen Pfahl mit seiner
rechten, geraden Art neben dem sturmgepeitschten Manne stehen und nebendort
den Onkel mit Verkündermiene bei solch' sinnfälligem Unterschiede.

Erstaunt sah Brand in das zornige Gesicht seiner Nichte. Jetzt erst wusste
er es, dass für Thieben nichts zu hoffen war. Und dem Fernen schlug in
dieser Stunde ein warmes Freundesherz.

Lange und eindringlich redete der alte Mann zu ihr. Oft gesprochene Worte,
im Wind verhallt: Von dem Werte solchen Besitzes, von dem Werte einer
abgeklärten Natur, von Beruf und Lebenszweck und dem kostbaren Gut der
Treue.

Aber der gequälte Ausdruck in dem sonst so ruhevollen Antlitz des
Mädchens liess ihn verstummen.

Ein anderer Gedanke stieg in ihm auf, eine trübe Ahnung, die auf dem
Spaziergang neulich ihn zum erstenmal beschlichen hatte, und hastig musste
er noch einmal den Mund auftun und fast drohend hinzusetzen:

»Den Frieden musst Du suchen, Mädchen, den Frieden der Seele«, und
schwer aufatmend, sich über den Tisch nach ihr hinüberbeugend: »Du bist
auf falscher Spur!«

Erregt fiel sie ihm ins Wort:

»Mich langweilt Euer Frieden; ich suche Kampf, Arbeit, Glanz -- ich muss
um etwas ringen müssen!! Ach« -- -- und ihr Antlitz erhellte sich wie
die durchbrechende Sonne -- »ach, um das Höchste, um eine Seele ringen
müssen -- dürfen, wie grossartig das sein muss!«

Brand fühlte sich verletzt in seinem ehrlichen Rate und das erstemal, seit
sie in seinem Hause weilte, ward es ihm bewusst, dass es nicht sein eigenes
Kind war. --

Allein gelassen, eilte sie mit ihren Gedanken zu dem Geliebten. Nicht um zu
ruhen in seinen Armen, sondern tätig und tüchtig mit ihm auszuschreiten
auf einem weiten mühseligen Wege. Einen langen, bangen Schatten wird sie
werfen, die grosse, hässliche Vergangenheit und wir werden weit im Dunkeln
gehen müssen -- aber dann, dann muss die Sonne kommen.

So schlichtete und ordnete sie und scheuerte alle Stuben blank, bis der
grosse Sonntag einst kommen würde.

       *       *       *       *       *

Am andern Morgen begab sich Estella frühzeitig hinunter in den Garten, wo
in der Rebenlaube zum Frühstück gedeckt war.

Der Onkel, der sie gestern Abend so kurz verlassen hatte, begrüsste sie
auch heute knapp und mit Zurückhaltung und streifte dabei nur flüchtig
mit den Blicken ihr Gesicht. Nach einer Weile erst wurde er freundlicher
und legte etwas Verzeihendes in sein Verhalten.

Sie liess beides unbeachtet, denn ihr lag der kommende Tag schwer genug in
allen Gliedern.

Mechanisch begann sie in ihrer Tasse umzurühren und sah vertieft nach
einem nassen, zerfallenden Stück Zucker.

»So geht's allen«, dachte sie, -- ein wenig stumpfsinnig, -- »den
Mutigen und den Feigen -- am Ende ist es gleichgültig.« Dann drehte sie
die Augen langsam so ringsumher.

Die flatternden Blätter der Reben vertrieben fortwährend das Sonnenlicht,
das sich auf dem weissen, glatten Tischtuch prunkend niederlassen wollte.
Jetzt kam es herunter in blendenden Kreisen, gleich wurden die vertrieben,
verschoben, zusammengequetscht zu Ovalen und Dreiecken, und kaum wollten
die brillieren, wurden sie zerschnitten in Stücke, die zitterten und
schwankten und flimmerten. Das war ein Anfliegen und Verschwinden, ein
Auseinanderfahren, Aufblitzen und Zerstieben. Nett war das! Etwas bewegte
sich auf dem Tischtuch, etwas Schmales, Langes, das nie ganz verschwand.
Sie schaute prüfend nach dem gewölbten Dach der Laube. Ein Räupchen
liess sich da voller Unschuld an seinem eigenen Faden säumig herunter im
warmen Sonnenschein. Nun doch etwas besorgt, sah sie nach ihrer Tasse, ob
der Weg nicht gerade da hinein führte. Dann schaute sie wieder so
rund herum. Behaglich wars da herinnen. Grünes Licht, Sommerweben,
Mückensummen. Behaglich wars im ganzen Garten. Behaglich wars auf der
ganzen Welt. Ja, das war es, Aber ihr gehörte es nicht mehr. »Schade«,
dachte sie und lehnte sich betrachtend zurück, -- als plötzlich die
Gartentüre aufgerissen und unsanft ins Schloss zurückgeschleudert wurde
und sehr erregt Makassy über den Kies daher kam.

»Da brennts schon wieder«, dachte ärgerlich Brand und streifte zuerst
langsam und gründlich die Asche seiner Zigarre ab, um ihn dann erst mit
einer Gelassenheit zu begrüssen, die sich immer noch frühzeitig genug
kam.

Des Künstlers grosses, unruhiges Auge suchte zuerst Estella mit
alarmierendem Blick. Sein Blick war ein Ereignis jedesmal wenn er sie traf.

Dann bat er um Entschuldigung ob der frühen Störung, aber er wolle nur
mitteilen, dass er heute nicht zur Sitzung kommen könne, da er auf einige
Zeit verreisen müsse, bis an die ungarische Grenze, wo die Güter seines
verstorbenen Vaters lägen und seine Anwesenheit dringend notwendig
geworden sei behufs Regelung testamentarischer Bestimmungen.

Alle sahen aneinander vorbei, denn jedes hatte etwas zu verbergen. Der alte
Brand die Freude, die beiden andern den Schmerz.

Und um doch etwas zu sagen, erzählte Makassy einiges über ungarische
Verhältnisse und Zustände, aber keines interessierte sich dafür.

Bis endlich Brand aufstand, ins Haus hineinzugehen und dort einiges
anzugeben. --

Die Morgensonne spielte so sorglos über der Laube, indessen darunter zwei
Augenpaare schwer ineinander ruhten in bitterhartem Abschiednehmen.

Trennungsgedanken, Trennungsqual war ihm neuer, belebender Reiz.

»Ich habe Dir noch etwas mitzuteilen, ehe Du gehst«, sagte nun Estella
leise und gepresst: »Thieben wird kommen.«

Ein kleines Mücklein summte und sauste über die Tassen weg, liess
sich hastig irgendwo nieder, um gleich wieder aufzufliegen und
weiterzusurmeln. --

»So reise ich nicht«, sagte er jetzt mit fremder Stimme durch die Laube
herüber.

Sie hatte es erwartet und ein Jubel über solche Liebe stieg in ihr auf,
dass sie berauscht von ihrem Reichtum freigebig rief: »O reise nur, reise
nur!«

Er verstand sie nicht, dachte an Thieben und frug lauernd:

»Willst Du es also, soll ich das Feld räumen?« Und dann, als er ihre
schöne Freude sah, es bereuend und irreleitend:

»Ich verliere ein Vermögen, um mich nicht von Dir trennen zu müssen und
Du gebietest einfach ruhevoll: reise doch!«

Treuherzig sah sie ihn mit ihren guten Augen an und sagte, das klare
Köpfchen leise schüttelnd:

»Das ist es nicht. Dich hält ein anderer Grund.«

Da flammte er auf:

»Steck' Dir die Blumen ans Herz, zerlege und zerfasere sie nicht!«

Inzwischen kam Brand zurück, -- aber um gleich wieder umzukehren, als er
hörte, der Maler habe sich anders besonnen und bleibe hier, »seine Arbeit
nicht zu unterbrechen.«

»Es erscheint mir wichtiger, da zu sein«, sagte Makassy leichthin.

Seine Gewandtheit, der schnell veränderte Gesichtsausdruck und der so
geschmeidig umspringende Ton seiner Stimme bedrückten manchmal ihren
feinfühligen Sinn, auch jetzt. Aber schon wieder brannten seine Augen in
den ihren -- da gab es kein Besinnen mehr, sie musste mit ihm! Geblendet
schloss sie die Lider und abwehrend wie in Not streckte sie beide Arme vor
und rief:

»Ich will nicht in den Himmel schauen, wenn ich doch auf Erden bleiben
muss.« --

Sie hatte Angst vor dem unheimlichen Glanz dieser Liebe; sie hatte Angst,
sich nicht dahin erheben zu können, wohin sie diese Augen riefen.

»Was ist das Rechte?« frug sie ratlos und Niemand konnte es ihr sagen.

       *       *       *       *       *

Nachmittags stand Estella am Fenster der Veranda des eleganten Hauses. Der
Privatier Brand hatte es schon verstanden, sich sein Heim mit Geschmack und
Wohlbehagen auszugestalten. Blank und schmuck stand es da im Sonnenschein
und schaute hoffärtig über den Garten hinaus auf die breite, vornehme
Strasse. Und manches Jüngere und ältere Mädchen blinzelte im Vorbeigehen
ärgerlich hinein und dachte: »Recht albern ist er doch, der Herr Brand,
dass er sich so allein in dieses hübsche Ding da setzt.«

Klematis und Jerichorosen kletterten in lustigen Gewinden tausendknöspig
an der Veranda empor und die offnen Blumen webten weisse und violette
Sterne dazwischen. Hinter den Blumenfenstern aber stand ein stilles
Mädchenangesicht.

Estella wollte auf den warten, den sie heute Vormittag so zwiespältig
verlassen hatte ..... aber ein anderer sollte ihm zuvorkommen, einer, der
dennoch zu spät kam.

Von draussen herein winkte der mit steifer Zärtlichkeit und wie ein
glückliches Kind schwenkte er jetzt mit dem Hute. So arm war das, so
traurig.

Thieben wars, gerade, hochgewachsen, freudig -- aber seine Bewegungen waren
unbeholfen und hatten nichts von der wilden Grazie und der elastischen
Sicherheit Makassys.

»Thieben kommt«, rief sie dem Onkel zu, der sich sogleich anschickte,
ihm entgegenzugehen. Langsam kam auch sie hinterher und in seiner
geräuschvollen Begrüssung konnte sie dem gefürchteten ersten fragenden
Blick entkommen.

Des alten Brand überschwellende Liebenswürdigkeit machte den Forstmann
unruhig und mit halbem Ohre hörte er die lauten Worte. Dann gingen die
beiden Männer ins Haus, »um abzulegen und sich's heimisch zu machen«,
wie Brand sagte.

Erleichtert sah Estella die beiden von dannen gehen und wendete den Blick
jetzt nicht mehr ab von der Gartentüre, bis sie endlich den eiligen
Schritt des sehnlichst Erwarteten vernahm. Es schien fast, als sei er
sorgfältiger gekleidet als sonst -- und es wollte eben ein Stück ihrer
alten Heiterkeit losbrechen, als er schon verbeugend in nachlässigem Tone
sagte, dass er sich mit dem Umkleiden verhalten habe und deshalb verspätet
gekommen sei, denn er habe Farbenflecken an seinen andern Anzug gebracht.

Ihr Gesicht war weit offen; da stand schon wieder helllichterloh die
Wahrheit, über die er so leicht hinüberkam, während ihr das nicht
gelang, -- auch wenn sie's versuchte. In den langen Jahren der Beachtung
hatte sie sich breit gemacht und häuslich niedergelassen bei ihr und war
herrschsüchtig geworden und unumgänglich.

Er schaute böse nach ihren Mienen und mit gesteigerter Übellaunigkeit
zankte er über den ekelhaften, umständlichen Apparat, den man zum
Ausüben der Kunst brauche, der ihm nächstens die ganze Malerei verleide
und von den ungezählten grossen und kleinen Hindernissen überhaupt,
die die Welt versperren und den Fortschritt hemmen. »Ketten, Knechtung
überall« rief er zornig.

Ihr Schweigen reizte ihn -- er trat nahe vor sie hin, tat ihr Gewalt an mit
seinen wilden Augen, umschloss sie mit seinem ganzen heissen Wesen und frug
schnell und erregt:

»Verstehst Du mich, kannst Du mich je verstehen?! ... Dass mir die Kraft
geblieben ist zum Trotz, zum Zorn, zum Hass, dass ich verneinen kann und
zerstören -- wie reich bin ich!« Und sich noch näher zu ihr neigend,
frug er bebend:

»Verstehst Du die Lust am Töten, Weib?«

Sie antwortete nichts und erschrocken schlüpfte sie hastig aus seinen
schrillen Augen in das blasse, ruhige Tageslicht hinaus. Und er sah, wie
sie da draussen das einfache Leben und Weben begrüsste und herzte. -- --

Da liess er sie draussen bei den Blumen und Bäumen und gab sie frei -- und
kam dann selber zu ihr.

Er bat sie, Platz zu nehmen und malen zu dürfen. »Wollen wir fleissig
sein, Estella!« sagte er schlicht. »Stelle Dich noch einmal mutig mit mir
zur Arbeit -- wie einst! Du kannst so tüchtig zugreifen.«

Sie setzte sich auf die Gartenbank unter die Haselnussstauden und errötete
bis zu den Haarwurzeln, denn sie stand beschämt vor der Kraft ihrer
eigenen Seele.

»Du köstlicher Mensch«, dachte er und konnte sich nicht trennen mit den
Augen. So schlicht sass sie da mit ihrem lichtblauen Kleide -- so einfach
in ihrem Herzen -- -- so unberührt in ihrer Seele.

»Bist Du denn glücklich, kann es denn sein? Ich quäle Dich ja nur!«
frug er bewegt.

Erfüllt, wunschlos sass sie da und hörte seine Worte.

»Du blühest immerfort aus Dir heraus, Estella«, setzte er hinzu.

Und sie atmete kaum vor Glück. Dann ging sie zurück zu all' den
unvergessenen Stunden, die sie mit ihm gelebt. Was nur hatten sie an diesem
stillen Platze alles zueinander getragen!

Was war an ihrer staunenden Seele alles vorbeigezogen! Wie er empfand und
dachte und es wiedergab, das war mit fortreissend und glänzend; er hatte
sie durch Länder geführt, weit und grossartig. -- Dann wieder hatten sie
zusammen geplaudert von den Ländern der Erde, von Bergen und Seen, von
Wäldern und dem Meere. Dem Meere zum Beispiel. Da erinnerte sie sich,
wie er einmal davon erzählte mit solcher Anschaulichkeit und prachtvoller
Gestaltungsgabe, dass sie ein schwankendes Gefühl bekam und erschrocken
um sich sah, als stünde sie auf unsicherem Boden mitten in der Flut. Er
merkte es und sie mussten beide herzlich lachen.

»Wenn Du nasse Kleider hast«, scherzte er damals, »hänge sie über den
Blütenstrauch zum Trocknen und gehe mit mir nackt über die Felder. Du
erschrickst? Hältst Du mich für so verdorben, dass es nicht in Reinheit
geschehen könnte?«

Einmal hatte sie ihm erzählt, wie schön das sei, wenn man abends im
Winter -- draussen fällt langsam der Schnee hernieder und seine
Flocken glitzern auf der stillen Erde -- in warmer Stube bei traulichem
Lampenschein sitze und sinne im Reiche seiner Gedanken spazieren gehe, da
war er ihr ins Wort gefallen: »Schön nennst Du das, wenn Dir die
Lampe über Deinem Hirne siedet, wenn die engen Wände der Stube sich
zusammenschieben und Dich zu erdrücken versuchen, wenn die einfältig
umherstehenden Zimmermöbel Dich an Dein armseliges Menschsein erinnern:
hier sitz'st Du, hier iss't Du, hier liegst Du, hier denkst Du -- auf
diesem Quadratmeter hier mit dem anregenden Tintenfass -- dazu hämmert
Dir die Wanduhr zähe Sekunde um Sekunde in die Ohren -- -- und draussen im
Schnee kommt der Nikolaus mit der Rute und entscheidet über Gut und
Böse -- -- -- schön, nennst Du das ..... schön, -- -- ach, Estella, ich
bräuchte Königsräume -- Paläste!!«

Und in des Mädchens Erinnern war die alte, singende, trauliche Lampe
seiner Mädchenstube erloschen.

Wenn er jedesmal gesättigt empfunden hatte, was er zerstört mit
grausamer Lust, dann allerdings baute er in masslosem Verschwenden und
überschwenglichem Kult ein Denkmal an die leergewordene Stelle, das nur zu
unvergänglich in des Mädchens Erinnern stehen sollte. --

Jetzt sahen beide Brand und Thieben aus dem Hause kommen. Estella beeilte
sich, aus ihrem Innern herauszukommen, um fest in der äusseren Situation
zu fussen.

Zuerst allgemein notdürftige Begrüssung, -- dann bat Makassy, weiter
malen zu dürfen, was man zuerst nicht verneinen wollte.

Allsogleich drehte sich das Mädchen um, das aufgestanden war und eilte
erleichtert der Gartenbank zu; es vergass Thieben gänzlich in diesem
Augenblick und wie es sich setzte und niederliess vor dem Künstler in
der kindlichen Freude einer wohlbekannten, längst vertraut gewordenen,
heissgeliebten Gewohnheit und wie es zu ihm aufsah -- das war ein solch
restloses Sichwegschenken, eine so grenzenlose Hingabe an eine wunschlose
Gegenwart, dass der Forstmann, der Estella nicht aus den Augen gelassen
hatte, es mit stummem, rasch um sich greifendem Schmerze sah. Jetzt
bemerkte er auch das um einen Schatten trüber gewordene Gesicht und das
inwendige Auge, das nicht mehr den sicheren, stets anwesenden Blick von
ehedem hatte.

Alles dies sah er.

Der grosse, starke Mann mit dem erzenen Antlitz musste sich schwer auf
den Gartentisch stützen -- -- und dabei versuchte er, sich sein Forsthaus
vorzustellen -- ohne sie.

Makassy hatte ihn beobachtet; es war ein Schmerz, stolz und stark getragen,
das musste er zugeben, und er hielt angstvoll die Geliebte durch Blicke
an sich, damit sie es nicht wahrnehmen und in ihrem guten Herzen kein
wärmeres Gefühl aufkeimen möge, das er ihm missgönnte.

»Ich meine«, fiel der Onkel in das Schweigen, und es war ihm dabei, als
hielte er eine grosse, feierliche Rede, »es wäre doch besser, mit dem
Malen heute auszusetzen.« Er hatte Angst, mit Thieben allein zu sein. Und
so ergab sich ein freudloses Umhersitzen auf den Stühlen und Bänken, eine
gezwungene Höflichkeit, ein kaltes Lachen und verschlossene Mienen -- --
bis endlich, endlich der Abend kam und der Forstmann sagte, dass er heute
noch zurückfahren werde.

       *       *       *       *       *

Da sass er nun im Wagen, der ihn seiner verödeten Heimat entgegenführen
sollte. »Was wird sie für ein Schicksal haben?« dachte er immerzu, als
er mit sich selber notdürftig zurechtgekommen war. Er wusste sich keine
Antwort oder nur eine trostlose. Makassys Art war ihm fremd, beängstigend,
ohne Gewähr, wie gleich das erstemal, als er ihn sah.

Schwerfällig stieg er aus und ging dem hochgelegenen Wohnhause zu, um
das es so einsam war und um das die hohen dunkeln Bäume melancholisch
rauschten. Dort oben in seinem Hause, in dem Erkerzimmer mit den vielen
hohen Fenstern wollte er einst ihr Bild haben, das er sich heute bei dem
Künstler erbitten und bestellen wollte. An der hellen, lichtreichen
Wand dort hätte es hängen müssen und später einmal, in einem Jahre
vielleicht -- wären sie davorgestanden, sie beide, Hand in Hand und
lächelnd hätte er gesagt:

»Jetzt ist mein einstiges Schmerzenskind auch bei uns, es ist alles so gut
geworden.«

       *       *       *       *       *

Der flimmernde Sternenhimmel spannte sich über die nächtigen Hügel des
Schwarzwaldes bis weit fort über die Buchenwellen des Württembergschen
Landes und weiter über die kleine, alte vergessene Stadt, in der zwei
Menschen auch ruhelos nach ihm hinaufsahen. Nicht in selbstvergessenem
Träumen, sondern in bangem Suchen nach einem Ausweg. Beide wussten nur zu
gut, dass es so nicht bleiben könne. Der Gedanke an die nächste Zukunft,
an die Gestaltung des äusseren Verkehrs oder gar an eine Ehe war ihnen
beiden noch nicht in den Sinn gekommen. Ihr Streben und Weiterdrängen lag
auf andern Wegen.

_Sie_ hatte ihr ganzes Sein und innerliches Leben still in seinen
Dienst gestellt; es sollte dazu sein, ihn über Hemmnisse wegzuführen und
dadurch vorwärts zu bringen -- und dabei selber an ihm emporzureifen. Und
_er_, er hatte tausend Pläne aufgebaut und tausend umgeworfen, --
nur eines hatte er stets gewollt und es war stets das Gleiche geblieben: er
wollte seine Seele ausruhen an dieser kühlen, schönen Reinheit -- -- und
dann? Wollte er sich dann mit verdoppelter Lust ihre schlummernden Sinne,
ihre ganze Herbheit wach und lebendig küssen -- und was dann?

So frugen sich heute Beide in dieser funkelnden Sternennacht, die in
erhabenen Ewigkeitsgedanken träumend über der Erde hing. --

       *       *       *       *       *

Am andern Morgen, schon ganz frühe, trieb es Makassy vor das rote Tor zu
Brands Villa.

Da lag in keuschem Morgenschlummer das ganze ihm so teuer gewordene
Besitztum. Durch den tauigen Garten lief -- ach so wohlbekannt -- der
schmale, heckengesäumte Fussweg, der zu der schmucken Eingangspforte der
Villa führte, die heute noch verschlossen und abweisend das behagliche,
ruhende Haus beschützte.

Wie kam er nur aus weiten Fernen auf dieses verborgene Stückchen Erde, das
da so wohlig und friedlich hinter der lauten, lärmenden Welt emporgeblüht
war?

Die Blumen, die Hecken, die Bäume, das Haus selbst mit seinen leichten
Giebeln und luftigen Schornsteinen, das hatte alles etwas so frisch
Aufstrebendes -- es wuchs aus der Erde und stieg unvermittelt zum Himmel
auf. Da heraus war Estella geworden, da hinein war sie geschaffen -- dort
hätte er sie lassen sollen.

Aber er konnte nicht. _Konnte_ nicht?

Jetzt -- ein Augenblick des Mutes -- drang er rücksichtslos in sich hinein
und riss das letzte, verschlossene Tor vor seinem Innern auf und sah mit
hellen verwegenen Augen hinein, -- das verschob er immer und immer wieder,
denn er fürchtete sich vor dem, was er sehen würde, -- -- -- und es
stand vor ihm mit unverhüllter Klarheit: Er _wollte_ auch nicht. Da
drinnen, da hatte er sich selber wieder gefunden. Das war doch eigentlich
erst er selbst. Der Echte, Wahre, Sichere. Alles andere war ein
künstlicher Zustand gewesen, ohne Lebensfähigkeit.

War es nicht am Ende komisch, wie er sich mühselig bückte nach der
Waldquelle, um einen Schluck Wassers, er, dem man die schäumenden Becher
kredenzt?!

Hastig drückte er auf die Klinke der Gartentüre, als wollte er eilends in
diese schützende Umfriedung gelangen und fliehen vor sich selbst, vor dem
Gespenst des Hohnes, das ihm so manchmal schon im Leben zerstörend über
den Weg gelaufen war.

Und wie ein freundliches Wunder war es, als sich jetzt die schwere, eichene
Haustür öffnete und warm und weich die geliebte, traute Mädchengestalt
dahinter erschien und aller Qual mit einem Mal ein Ende machte. Von ihrem
Gesichte hatte der junge Tag noch nicht so ganz Besitz ergriffen; es
herrschte auf ihm noch unüberwunden die vergangene schwere Nacht.

»Was ist Dir, Estella?« frug er. »Es war eine seltsame, grüblerische
Nacht, nicht wahr? Musst Du Dich auch erst mit dem Tag befreunden, -- musst
Du Dich des morgens auch erst von neuem an die Welt gewöhnen?«

»_Dieser_ Tage schon«, sagte sie lächelnd, »denn ich werde Dich
entbehren müssen. Denke, Onkel will auf einige Tage verreisen, da kannst
Du nicht kommen.«

Beide gingen vor jedem weiteren Besinnen zu ihren alten schützenden
Haselnussstauden, hinter denen sich schimmernd und glänzend die mächtigen
Linden und Pappeln in die Morgenluft hinausdehnten. Sie trugen ihre Liebe
aus dem offenen Tage in ein Refugium, denn sie war nicht mitteilsam, nicht
laut und heiter.

War das ein Lachen und Lustigsein sonst oft, wenn eine junge Braut in
dem kleinen Städtchen war oder ein Liebespaar auf dem Wallweg oder dem
Tanzplatz zusammenkam!

Immer mehr hatte sich ein schwerer Ernst über ihre Herzen gelegt und immer
erdrückender wurde diese Last. Wenn ihre Augen ineinander lagen, waren
sie ohne dies glückliche Festtagsgefunkel junger Liebe, sondern von fast
drohendem Ausdruck.

Als ganz junges Ding hatte sie sich die Liebe so lustig gedacht, wie nichts
auf der Welt. Schöne Kleider. Bänder. Rosen. Ein lachend Gekose.

Es war anders gekommen. Wenn sie Makassy in den Arm nahm, war die
Heiterkeit über alle Berge. Düsteres Ringen; schmerzende Umarmungen. Und
dennoch harrte sie ihnen entgegen, wie die herben Frühlingsknospen der
Sonne. Aber es war eine sengende Sonne. --

Mit stiller Wärme und Eindringlichkeit, die ihr wertvoller, weil
bleibender erschien, frug er nun bei den Haselnussstauden:

»Glaubst Du, dass wir Tage vergehen lassen könnten, ohne uns zu sehen?«

»Es wird aber dennoch so sein müssen, Du kannst nicht kommen in das
herrenlose Haus, -- und auf den Strassen herumschleichen, das will ich
nicht!« sagte sie gepresst.

Da tat er einen Schritt zu ihr hin und flüsterte ihr zu: »Dann kommst Du
zu mir -- wir können ja doch nicht ohne einander sein«.

Sie erschrack so heftig, dass sie unwillkürlich von ihm zurückwich.

»Was fürchtest Du?« frug er schnell und gespannt.

»Mich nicht -- und Dich auch nicht,« erwiderte sie kühn und aufgeregt.

»Also die Leute!« höhnte er. »Da hast Du recht; sorge nur, dass Du vor
denen bestehen kannst, dass sie Dir mit ihren goldenen Fingern wohlwollend
auf die Schultern klopfen und Du ja nicht anders seiest als sie.«

»Willst Du mich zum Kommen zwingen? Nimmst Du's so entgegen? Braucht es
nicht Geschenk zu sein?« frug sie hastig zurück.

»Einerlei .... wenn Du nur kommst .... wenn ich Dich nur habe! Wenn wir
zusammen sind, dann sollst Du mir sagen, warum Du gekommen bist! -- Komm'!
Komm' auf ein paar einsame, weltvergessene Stunden in mein stilles Atelier.
Wir wollen Erinnerungen feiern und alles Gewesene wieder auferstehen
lassen. Weisst Du es noch, Geliebte, auf dem Künstlerfeste -- da war
unser Tanzen wie ein Träumen unter den schimmernden Glühlichtern und den
taumelnden Bäumen? Das war das Rechte!«

In seinen Augen war ein Locken und Winken und Verheissen, das sie
bestürzte und zugleich reizte, diese wilden Flammen zu löschen.

»Ich komme nicht« schrie sie auf in Angst und Trotz, als hätte sie noch
jemand anderen davon zu überzeugen als ihn allein.

»Warum nicht?« frug er rasch.

»Ich komme nicht, weil ich mich schämte vor Dir, so ohne Willen zu
sein,« antwortete sie.

Sachte hob er ihr Köpfchen in die Höhe und suchte ihre Augen. Mit
Vertraulichkeit in Ton und Blick fuhr er fort:

»Estella, kann zwischen Dir und mir etwas sein, dass uns zu trennen
vermag?«

Da geschah Unerwartetes.

Fast brutal rief sie vor sich hin, mit kaltem, hartem Gesichte:

»Wann soll ich kommen, -- um Mitternacht mit den Dieben und Dirnen?«

Er horchte auf; -- befriedigt glaubte er zu erkennen, dass sie unter
seiner Macht litt und dies ein zorniges ohnmächtiges Wehren, der gequälte
Aufschrei eines untergehenden eigenen Willens war.

»Komme, wenn es Abend ist!« sagte er jetzt. »Um 9 Uhr -- -- wie
gleichgiltig kann es Dir sein, ob neben Dir ein Dieb geht oder ein König.
Die _eigene_ Majestät, Estella!!! Siehe, Du schütztest Dich einfach
durch die Dunkelheit vor den Blicken der Menschen, die Dich doch nicht
verständen, wenn Du ihnen auch sagtest, was für einen schönen Gang Du
tust. Denn schön nenne ich diesen Gang zu mir. Er ist ein Darleben Deiner
Liebe, das mit Überwindung geschieht. Also habe Mut und komme!«

Angstvoll abbrechend sagte sie: »Ich binde mich nicht .... ich binde mich
nicht ....« und setzte sich hastig auf die Gartenbank, ihn damit zum Malen
auffordernd.

Er selber wollte heute noch energisch vor seine Kunst treten, nachdem
er auf Tage davon abgehalten werden sollte und folgte ihrer stummen
Aufforderung.

Und dann musste er sich auch von dem jungen Weibe befreien -- am Ende
hätte er es erschreckt durch seine Eindringlichkeit und abwendig gemacht
-- und dazu bot die Arbeit die einzige Möglichkeit. --

Als er prüfend und vergleichend das Bild übersah, fiel ihm der starke
Kontrast zwischen Porträt und Wirklichkeit auf.

Das eine ein lachendes, sorgloses Mädchengesicht, das andere ein
innerliches, gedankenschweres Antlitz.

»Es stimmt nicht mehr, nicht wahr? Ich bin so nach und nach aus dem Lachen
heraus- und in das Weinen hineingekommen,« sagte sie still und dachte:

»Da baut man sich in Jahren stolze Gedanken mit seinem Verstande auf,
-- es kommt ein einziger Sturm als Wandler aller Dinge. Denn die Gedanken
waren nicht tiefgründig, weil nicht im Herzen, im eigenen Mark gewurzelt.
Übernommenes -- nicht Selbsterworbenes, aus sich selbst Gewordenes, mit
eigenem Herzblut getränkt -- darum hat sie alle der Sturm verweht.«

Er trat jetzt weit zurück von dem Bilde und betrachtete es gleichsam
als Fremder. Es war nicht gut. Starr und steif wie eine Mauer waren das
lachende Mädchen und die grünen Stauden in einander gemörtelt -- und
die ganze lichte, leichte Frühlingsseele lag darunter begraben. Träge,
schwere Farben. Wie waren seine Bilder sonst oft aus einem Guss, voll
rücksichtslosem Trotz und Mut. Aber hier war es, als hätte nicht einer
gemalt, sondern viele, und keiner mit ganzer Kraft.

Allein selbst diese Erkenntnis konnte ihn heute nicht betrüben; er war zu
voll der Erwartung auf morgen. Morgen -- ja -- --

Der Gedanke, dass dieses junge, reine, feine Mädchen zu ihm kommen würde,
erregte ihn immer mehr. Dieses Vertrauen war doch ausserordentlich, nachdem
sie ihn kannte und liebte.

»Ich will es Dir danken,« dachte er und kam sich vor wie ein seltener
Mensch -- -- dann aber auf einmal gingen die guten schönen Gedanken
ums Eck herum und kamen in eine andere Strasse und bekamen eine andere
Richtung.

»Es wird das Vertrauen auf sich selber sein,« überlegte er, »dass sie
mir in mein Haus kommt« und zwinkerte die Lider zusammen als wollte er
diese neue, abkühlende Erwägung ungestört vor sich haben. Und kaum hatte
er sie ins Auge gefasst, erschien sie ihm sympathischer, reizvoller, --
weil kampftauglich ..... entbindend .....

Die Sammlung zum Malen war dahin. Estella erhob sich -- abschliessend.

Es war nicht mehr das Alte. Es schien ihr vieles umgeworfen, was von jetzt
an unbeachtet am Boden liegen würde. Schöne, innere Dinge von stillem,
grossem Werte. Zertretene Blumen, über die man achtlos hinwegsteigen
würde, einem gleissenden Ziele zu.

Sie bat ihn zu gehen und sich vom Onkel zu verabschieden. Schweigend
schritten sie durch den Garten zurück ins Haus.

Ringsum Rosen. Von allen Stöcken und Stauden funkelten sie rot und
leuchteten weiss und dufteten aus tausend Kelchen. Das Violett des Flieders
war lange gegangen, auch die Flammen der Pfingstrosen waren erloschen. Das
feine Gras des Rasens lag zum ersten Mal geschnitten in der Sonne und sein
würziger Geruch mischte sich unter den Blumenduft. Winzige Äpfelchen, aus
den Blüten geboren, lugten schon durch die Blätter der Obstbäume.

Die Verabschiedung von Brand war schnell erledigt; allzu grosser
Trennungsschmerz verlängerte sie nicht. Die beiden Männer waren sich in
den langen Wochen nicht um einen Schritt näher gekommen.

Makassy sagte nun zu Estella sehr vernehmlich: »Adieu und auf Wiedersehen,
wenn Herr Brand wieder zurück ist,« und leise ..... so ein wenig
leichthin ..... zwischen den Zähnen durch:

»Morgen um 9 Uhr.«

»Wie wenn das selbstverständlich wäre,« dachte sie zornig. Nichts
erschien ihr überflüssiger und hätte ihr peinlicher sein können
als diese Art routinierter Vertraulichkeit, die gar so gemütlich und
zuversichtlich Arm in Arm mit ihr ging.

Und es fiel ihr auf einmal der Unterschied auf, der zwischen ihnen war. Sie
erschien sich reiner, anders als er, fasste sich selber wieder ins Auge
und fiel sich auf in ihrer Sauberkeit -- sie lauschte sich nach -- und fand
sich beglückt und erleichtert dadurch selber wieder.

Als er schon längst gegangen war, hielt dieses Staunen über sich selber
noch an. Das war ja noch die alte Estella mit dem klaren, hellen Kopfe, der
sich so leicht und fröhlich trug!

Und voll Kraft und Freude war sie auf die eignen Füsse gesprungen in
dem köstlichen Bewusstsein wiedererlangter Selbständigkeit. Diese
entkräftende Benommenheit war gewichen, die ihr jede freie Entscheidung
aus den Händen rang. So musste sie nicht -- so konnte sie! -- -- --

Voll schüchternen Jubels eilte sie in den Garten, von da in ihr Stübchen,
wieder hinunter in das Musikzimmer -- und riss die Türen hastig auf als
brächte sie freudige Botschaft, als wollte sie sich zeigen in ihrer neuen,
eigensten Gestalt.

»So war ich,« dachte sie »so will ich wieder werden.«

Fast heiter begleitete sie später den Onkel auf den Bahnhof und fand alles
auf dem Wege dorthin so fremd geworden und doch so vertraut und es klopfte
ihr zaghaft auf die Schultern und frug leise: »Kennst Du mich noch?«

Diese gute alte Strasse mit den frommen Gärtlein zu beiden Seiten und
den steifen, braven Laternen dazwischen, -- und dort drüben das
»Löwenhaus«. Das kleine, ängstliche Häuslein mit der grossen
fensterlosen Wand, die einst so festlich schön gelb gestrichen sein
musste, deren Farbe jetzt aber in einander geflossen war und als
Wahrzeichen einen grossen leuchtenden Flecken hinterlassen hatte, der wie
ein springender Löwe aussah. Sie hatten es das Löwenhaus genannt. Und was
war am Löwenhaus schon alles! Da traf man sich -- alle Jugend -- zu
einem interessanten Spaziergang, da klatschte man ein wenig in wohligem
Einverständnis, da stand man kichernd und verabredete sich zum nächsten
Gartenfest, ob die Schleifen im Haar blau seien oder rot, -- -- es war am
Ende alles so gleichgültig -- aber was ist es nicht? -- doch heiter wars
und ohne Arg -- und die weisen Gedanken blieben jedem unbenommen.

Sie waren zum Bahnhofe gekommen und bevor Brand in den Wagen stieg, frug
er:

»Hast Du mir gar nichts zu sagen und gar nichts mit auf den Weg zu
geben?«

Da begriff sie, wohin es ihn trieb. Er wollte Gutes tun, aber sie hatte
nichts hinzuzulegen.

Als sie dem Zuge noch eine Weile nachgehorcht, bis er verdröhnte und
verhallte, ging sie langsam wieder nach Hause zurück. Immer stiller.
Immer trüber. Immer trauriger. All der schöne Jubel war verflogen und die
schwere Leidenschaft dieser Liebe breitete allmählich wieder die dunkeln
Fittiche aus und verscheuchte das zaghafte Stücklein Sonne, das sie so
stürmisch begrüsst hatte.

Wieder war sie in die stille, alte Strasse gekommen, die aber hatte ihren
Glanz verloren.

Von Ferne hörte sie Stimmen. Als die näher kamen, sah sie, dass es
Bekannte waren, einige ältere Frauen. Plötzlich blieben sie zaudernd
stehen; erst unschlüssig, dann streckte die Eine den Arm vor, deutete
auf die andere Strassenseite -- und gleich darauf gingen alle drei unisono
hinüber.

Estella wusste warum; sie lachte hart auf; es hatte ihr weh getan. --

Unter vielen bangen Gedanken schlich der lange, einsame Abend dahin und
die Nacht, die schlafarme, traumschwere -- bis der Morgen kam und mit dem
erwachenden, wachsenden Tag auch die Sehnsucht wuchs und das Verlangen
-- -- und sie erlöste aus ihren Zweifeln.

Als es Mittag war, stand ihr Entschluss fest. Sie wollte zu ihm!

Lächelnd verwarf sie ihre Ideen von der Selbständigkeit, die ihr gestern
so grossartig und begehrenswert erschienen waren und von dem blassen
Frieden. Es fiel ihr ein, wie er einmal scherzend sagte:

»Die wahrhaftige Liebe tritt auf zwischen 30 und 40 Jahren bei
vorgerücktem Gehalte und Pensionsberechtigung.«

Dieser nichtssagende kleine Scherz hatte sie auf seine munteren Flügelchen
genommen und aus den Sorgen fortgetragen.

       *       *       *       *       *

Makassy hatte sein Atelier verwandelt und geschmückt wie für eine
heimziehende Braut. Er konnte nicht genug ersinnen, es weich und warm
auszugestalten, damit sich das scheue Mädchen heimisch fühlen möchte.
Beim ersten und einzigen Gärtner der Stadt hatte er seltene, wertvolle
Blumen bestellt, dass der sich tief vor ihm zur Erde neigte.

Zuletzt, als alles fertig war, übersah er prüfend den ganzen Raum und
warf dann noch, um Erklärungen und Verstimmungen vorzubeugen, ein paar
alte Briefe, die gerade so obenauf lagen, in den Ofen nebst einem kleinen,
koketten Frauenschuh -- -- dem goldgestickten Atlasschuh einer bekannten
spanischen Tänzerin -- und zündete an -- -- -- ein reizender Schuh, der
da auf den züngelnden Flammen lag -- -- -- ein feiner Fuss, der da mit der
Spitze gerade ihm gegenüber stand, als käme er auf ihn zu -- -- -- das
Feuer leckte immer gieriger nach dem gleissenden Atlas -- -- er besann sich
und zauderte -- -- der Schuh der Diega Felipa wars -- der Diega Felipa mit
dem braunen, prachtvollen Leib, von dem sie einmal -- -- damals!! -- --
in kühner Nacktheit bei einem ihrer wilden, rasenden Tänze die letzten
Hüllen riss -- dass die roten Schleierfetzen wie Blut aus ihren Händen
quollen -- wie herrlich das war!! -- Unvergessen!!! -- -- -- -- -- --

Und hastig nahm er den Schuh wieder aus der Glut und versperrte ihn eilig
in einer Schublade ......... Ängstlich sah er um sich -- dann nach der
Uhr. Es war schon bald neun.

Ob sie kam? -- --

Und er ging die Fenster schliessen und die Lichter verhängen.

       *       *       *       *       *

Spät abends, als es schon dunkel war, verliess indessen ein schüchternes
Kind zitternd das ehrliche Haus. Es ging auf den Fussspitzen ganz leise
durch den Garten, musste aber stets dazwischen stehen bleiben, um Atem zu
schöpfen. »Wie wenn es Berge wären.«

Behutsam öffnete und schloss es die Gartentüre, die sonst so leicht und
laut ins Schloss gefallen war und schaute nun zurück über Garten und Haus
-- als wollte es Abschied nehmen -- als ginge da eine, die nicht wiederkam,
ein letztes Mal diesen lieben Weg.

Eine unnennbare Sehnsucht schwoll in Estella's Herzen empor nach all der
sorglosen Heiterkeit, mit der sie da in ruhigen Stunden gelebt.

Heimlich, wie eine verbotene Liebkosung, irrte ihr Blick hinauf zu den
Fenstern ihres Zimmers mit den trauten, blühenden Geranien davor. Wie sie
die einst hegte und pflegte. Jedes Knösplein war ein Ereignis. Jede Blüte
ein Fest. Und wenn das erste schrille Rot zwischen den grünen Blättern
sass und nach ein paar spannenden Tagen die feuerroten Büschel wie Flammen
in den Fenstern standen und hundert bunte Gedanken damit -- -- Gott, was
für reiche, einfache Stunden waren das! Die waren alle davongeschlichen
als sie der fremde Mann an seine Brust genommen ..... und haben sich im
Weiten verloren und nicht mehr zurückgefunden.

Ein kleines Stück war sie weitergegangen, dann wieder stehen geblieben --
an der Stelle, wo ihr gestern die Leute ausgewichen waren. Heute sollten
die sie sehen, wie sie dahinschlich in dunkler Nacht -- allein -- den
Kopf zur Erde geduckt -- da hätten die bösen, eifrigen Zungen das letzte
mordende Wort gefunden. Für die freute sie's eigentlich, dass sie es tat
-- aber es war eine dürftige Freude.

Wie schwer verlässt man ein erstes Mal im Leben den offenen, geraden Weg.
Die Sonntagsstrasse, die breite, behagliche mit dem lichtfrohen Lachen und
dem billigen, eiteln Putz junger, unversuchter Tugend!

Jetzt traten ihr drei trübe Gestalten in den Weg und an diesen
wohlbekannten Gesichtern glaubte sie zu erkennen, worin ihr Unrecht lag. Da
stand ihr Vater und schaute sie an; gross und kummervoll. Er hatte einst zu
der Mutter warnend gesagt:

»Bilde ihre Vernunft, es kommt eine kalte Zeit, in der sie not tut.« Und
die feine, blasse Frau, die schon lange vor ihnen gegangen war, tat es --
legte aber heimlich Rosen dazu.

Sie stand jetzt auch dabei und konnte nicht mehr lachen wie einst. Sie
dachte an ihre Rosen und weinte.

Und der ehrliche alte Mann, der Thieben trösten gegangen war und dessen
Vertrauen ihr so selbstverständlich zufiel, der war auch dabei und der
Kummer schaute ihm aus allen Falten seines Gesichtes. Alle drei standen und
sahen nach ihr mit traurigen Augen und schauten ihr nach und schüttelten
die Köpfe.

Da riss sie sich los von allem, was sie beschwerte und zurückrief
und stürmte weiter, vorbei an ihnen, an allem, an der ganzen schönen
Vergangenheit vorbei.

Wie oft glitt sie aus auf dem holperigen Pflaster der alten Stadt und sah
zusammenfahrend zu Boden -- aber es schwammen nur dunkle Kreise und
Flecken vor ihren Augen, die irre führten, wuchsen, gross wurden, bis
sie erschrocken innehielt; und wenn ihr Blick dann angstvoll floh und
aufflatterte an den steilen Wänden der Häuser, prallte er zurück von
diesen dräuenden Mauern, die in düsteren Reihen zu beiden Seiten des
Weges standen. Wie dunkle Klötze standen sie da -- unheilbrütend mit
unzähligen, schwarzen Fenstern, die lauerten wie falsche Augen.

Zischelte und tuschelte es nicht dahinter?

Wie erbärmlich erschien sie sich, dass sie vor irgend einem Hergelaufenen
erschrecken musste --

Da drüben auf der andern Seite, da ging eine Dienstmagd -- -- hoch trug
sie den Kopf, das durfte sie auch -- -- aber sie, Estella Brand, die zum
Geliebten gehen wollte -- --? Grossartiger hatte sie sich diesen Gang
wahrlich gedacht. --

Und weiter hastete sie, an den drohenden, klotzenden Häusern vorbei --
noch eine letzte Ecke, dann endlich musste sie am Ziel sein; -- ihr Sinn
spähte voraus: was wird werden?!

Ist so qualvoll der Weg zum Glück? --

Die Kniee schwankten, als sie endlich am Ziel war. Da schimmerten trübe
die verhangenen Fenster des Ateliers -- und das arme, verhetzte Auge sah
den Vorhang sich bewegen -- und die arme verhetzte Seele fühlte seine
Nähe und eine heisse Sehnsucht schlug wie eine Woge über das Deck ihrer
ausschauenden, schwankenden Gedanken und fegte alle Zweifel und Qualen
fort. -- --

In kindlichem Stolze, als zaghaft Gebende stand sie auf seiner Schwelle.

Er öffnete die Türe -- und als er sie in all ihrem Reize, so fein und
holdselig vor sich stehen sah, da zog er sie wortlos zu sich hinein .......

»Du Estella, Du -- also doch!« schrie er auf und riss sie in einem
Übermass von Entzücken an seine Brust, umschlang ihren Leib, presste ihn
an sich als wollte er ihn nie wieder frei geben, legte beide Arme um ihren
Hals und zerküsste das süsse Gesicht; Augen, Stirne, Wangen, den Mund,
den herben, keuschen. Fast wurden ihr diese wilden Küsse zur Qual.

Dann nahm er sie wie berauscht in seine Arme und trug jubelnd die
köstliche Last hinein in die Heimstätte seiner Kunst.

Sanft und vorsichtig wie ein unersetzliches, kostbares Gefäss, liess er
sie aus seinen Armen gleiten und setzte sie vorsichtig auf einem Ruhebett
nieder.

»Das ist alles für Dich, Du Heissgeliebte!« sagte er und deutete mit
einer schenkenden Geberde rings um sich.

Estella sass wie in Betäubung. Glückselig hob sie ihr Antlitz und
schickte ein dankbares Lächeln zu ihm hin; lange blieb ihr Blick in seinen
Augen liegen.

Welche Macht zog sie zu diesem Manne hin?! Wie sie ihn liebte, wie
seine Welt zu ihr herüberschimmerte mit all ihrer Lebenstollheit und
Trunkenheit! Wie sich ihre junge Seele von Neuem auftat in Zukunftsglauben!

»Das muss das Glück sein, das muss es sein, wonach die Menschen jagen!«
flüsterte sie ihm hastig zu und das Geständnis ihrer erregten Worte
versank in seinen lechzenden Sinnen.

»Ist es über Dich gekommen, Weib!?« rief er ausser sich. »Ist es
endlich über Dich gekommen -- -- --?!«

Da erschrak sie vor ihrem eigenen Empfinden und wandte abwehrend den
Blick. --

Und nun sah sie umher und fand sich in einem prunkenden, seltsamen Gemache,
durch das in zaubrigen Tönen mattes, dämmeriges Licht zog. Überall
Schalen voll wundersamer Blumen, denen betäubender Duft entquoll, der in
dem stillen Raume träumend stehen blieb. -- Dicke, dunkle Teppiche. Tiefe,
schwere Falten, die jeden Laut einsogen.

Da lagen seidene Decken, wertvolle, ausländische Stoffe und auf dem
Ruhebett, auf dem sie sass, war etwas Feines, Flimmerndes ausgebreitet.
Freudlose Landschaftsbilder in breiten, düstergoldenen Rahmen hingen
schwermütig von den stoffenen Wänden. Nirgends ein heiterer Gedanke in
dem halben, huschenden Lichte.

Beide schwiegen und lauschten dieser verwirrenden Umgebung. Etwas
Berückendes ging von ihr aus.

Dieses unausgesprochene Licht, das durch buntseidene Hüllen sickerte
und mühsam und verhalten durch den Raum zitterte, diese bestrickenden,
einsamen Farbentöne, die von den Wänden klangen, diese versonnene Ruhe,
die an allen Gegenständen hing!

Erstorben jeder Laut.

Der Duft, der aus den Blumenschalen stieg und verschwebte, legte sich
schmeichelnd, doch immer schwerer und betäubender um die Sinne. Dazu eine
vibrierende Stille, die bedrückende Last einer aufregenden Ruhe und in ihr
ein ungehörtes Huschen und Gleiten, das über die Blumen und Möbel und
Wände ging.

Sie sah ihn fragend an -- so bange war dieses Versunkene, Weltweite.
Aber banger noch waren seine Augen und angstvoll flohen ihre Blicke aus
denselben. Sie bohrten sich in den Teppich und fielen auf einen seiner
Füsse, die in Sandalen stacken.

Ihr Herz fing an heftiger zu schlagen, denn sie glaubte zu sehen, wie sein
Fuss sich einkrallte in dem dunkeln, dicken Teppich. Suchte er Halt? Wovor?

Sein unbeweglicher Blick rief sie zurück und umschloss den ihren -- -- und
drückender wurde die Stille und furchtbarer das Schweigen. Keines getraute
sich auch nur den Finger zu rühren, keines mehr hatte den Mut des anderen
Auge zu verlassen.

Die Leidenschaft dieser Liebe wuchs mit jedem Augenblick und zog sie mit
glühendem Wunsche zu einander ....

Estella sprang auf mit übermenschlicher Kraft -- -- -- er stand ihr
gegenüber mit fliegenden Pulsen und flammenden Sinnen -- -- -- --
angstvoll hielt sie ihn mit den Blicken umfangen und gefesselt. Keine
Wimper zuckte, kein Glied rührte sich, kein Atemzug war hörbar.

Es war ein verzweifeltes Schweigen und Ringen und Ansichhalten -- -- -- --

Da plötzlich -- sein Blick hatte sich leise gewendet und einen Augenblick
lang losgelöst von ihr, war haltlos durch's Zimmer geirrt und musste dort
etwas Ausserordentliches wahrgenommen haben -- -- ging eine Verwandlung in
seinen Mienen vor ......

Sie wollte aufschreien in rasender Angst: »Halt ein ..... Du wendest Dich
ab ..... Du wendest Dich von allem Glück .....«

Sie kannte den Ausdruck dieser unheilvollen Augen, er redete eine deutliche
Sprache ...... Aber das Entsetzen stand steil und schrill vor ihr und
lähmte ihre Zunge.

Dann einen Augenblick wurde es dunkel um sie, das Herz drohte still zu
stehen ...... sie sah in lauter Elend. Ringend griff sie nach dem Herzen
-- -- die erste Bewegung in dem bangen, regungslosen Raum -- -- da war der
Bann gebrochen!!!

Makassy nahte sich ihr wie von Sinnen -- ein Anderer geworden -- despotisch
-- -- über ihre Seele weg.

Sie wehrte sich: »Ich bin Estella Brand -- siehst Du das nicht?! -- -- Ich
frage Dich zum letzten Mal -- -- --!!«

»Was liegt daran!?« fiel er ihr atemlos ins Wort.

Verzweifelt schrie sie auf in höchster Not. »An mir liegt nichts!!! Nimm
mich!! -- Nimm alles, nimm mein Leben!!! -- Nur darf es _so_ nicht
geschehen -- --

In dieser Stunde verstehe ich die Kraft, die in Dir liegt, die zum Bösen
greift, zum Morde, zum Verbrechen -- -- aber wohin _jetzt_ sich Deine
Sinne wenden, da seh' ich weder Kraft noch Schönheit. Du bist abgekommen
von den Wegen, wohin ich Dir folgen kann, wohin ich Dir nachgerast --
händeringend -- Du bist auf anderer Fährte -- abwärts -- -- -- -- --

Da hinunter kann ich nicht, fühlst Du das nicht? -- -- der Ekel,
Makassy ..... der Ekel -- --!!!«

Lockend, sich überstürzend mit leiser, bebender, verheissender Stimme
rief er, sie zu umfassen suchend:

»Unten bist _Du_, Estella, oben bin _ich_! Komm zu mir! Du --
Du klebst an der Erde, _Du_ lässest Dir vom Nächstbesten sagen, was
recht ist und rein, Du lässest Dir vom Nächstbesten entscheiden über Gut
und Böse -- -- -- geben Weib -- geniessen, verderben, -- aber weg über
die schüchterne engbrüstige Welt, die Dir den Atem nimmt, -- -- eigener
Flug in trunkenem Zorn, in trunkener Lust!!! -- Lass die Seele, die die
Menschen verstümmelt haben, die fromme, bange -- ohne Lust und Weh: sie
betrügt Dich um das heisse Leben -- lass die Tugend: sie betrügt Dich um
Dein junges Blut -- lass die Reue: sie betrüge Dich um den Sinnenglanz --
lass das Gute: es betrügt Dich um die Satanslust des Bösen, -- -- lass
die Reinheit, sie hat Mass und Art!!! -- In der Niedrigkeit liegt Lust und
Raserei!! -- -- Tier sein, wer nicht Gott werden kann!!! Mensch sein ist
erbärmlich! Vergiss ........... komm ausser Dich!! ..... Schenke ....
strauchle ... sinke ..... sinke Weib!!! Dann sind wir erlöst .....«

Und so wollte er sie umfangen, -- -- zügellos, entartet -- ausbrechend --
mit weit offenen, brennenden Augen.

Aber ein Blitz zuckte auf! Estella ward wach -- sie hatte entschieden!!
-- Pfeilgerade stand sie da, Kraft gegen Kraft, -- erhoben das Haupt,
-- unbeweglich das Antlitz. Als wäre sie aufgewachsen weit über ihn --
unerreichbar -- -- --

Da wich er von ihr zurück und auflachend wie ein Kranker warf er sich in
die Kissen des Ruhebettes und verbarg sein Gesicht. -- -- --

Ihr Leib war schwer, ihr Kopf verworren. Die Schläfen stachen, ein
Übelsein überkam sie und schwerfällig schleppte sie sich zum Fenster,
es zu öffnen. Der hässliche, betäubende Geruch strömte hinaus und in
kalten, klaren Wogen die Nachtluft herein. --

Langsam wandte sie sich um, zurück ins Zimmer, mühselig aus sich
herauskommend. Hoffnungslos geworden. Angestrengt musste sie sich besinnen
auf alles um sich her -- --

Was sah sie dort in der Ecke des Zimmers? Was war das? Sie sperrte die
Augen auf, um durch all den Nebel sehen zu können. Drang dort nicht ein
dicker Qualm aus den Fugen einer Schublade -- -- was war das?

Aber sie konnte nicht mehr erschrecken, -- in dieser Stunde hatte sie es
verlernt.

Die junge Seele, die so gerne aufgestiegen wäre in erhabener Linie, wie
ein schönes Lied, war lahm geworden.

Sie kämpfte diese schwerste Stunde ihres Lebens mit Todesmut. Krampfhaft
presste sie die kalten Hände in einander und fühlte unaufhaltsam eine
schwere, erdrückende Last auf ihre armen Gedanken heruntersinken, so dass
sie ihnen mühsam klare Erinnerung an das Geschehene entringen musste.

Einen Sieg hatte sie errungen, einen Sieg ohne Freude, und dafür ihr
heisses Glück hingegeben.

Warum jubelte sie denn nicht auf, sie, Estella, die Reine, -- wo war denn
der Glanz ihrer Selbstherrlichkeit hingekommen? Jetzt, in der Not, da war
er von dannen geschlichen -- --

Dass solcher Schrecken nicht tötet?!

Ihre Gedanken standen auf und sahen entsetzt umher -- weit hinaus -- hinaus
in die Zukunft -- da gab es Leid und Qual -- zähe Jahre der Erinnerung --
ein elendes Leben.

Dann umschloss sie wieder die Gegenwart mit ihren engen, düsteren Mauern.

Was war? Wie war es? Hartnäckig drang sie in die Tiefe und auf
alles stiess sie -- Bild auf Bild löste sich aus der Dunkelheit mit
unerbittlicher Klarheit.

Du wirst hineingelockt in ein einsames Haus. Abgeschnitten von der Welt.
Tiefe Nacht. Die Türen schliessen sich still hinter dir. Die Fenster
sind verhangen und die Lichter -- -- verwirrende, unklare Pracht. Du bist
allein. Allein mit ihm. Du schaust bebend in das Antlitz deines Herrgotts
-- deine Seele weitet sich -- -- und während du schaust .... lässt
der langsam eine Maske fallen; -- du erstarrst im Entsetzen -- du willst
schreien doch vermagst es nicht -- -- dein Mörder steht vor dir mit
verzerrtem Gesichte -- --!!

So wars -- -- jetzt wusste sie's. Morden wollte er sie und dann an sich
reissen. Wars am Ende das Rechte und sie hatte es nicht erkannt? -- Nein,
nein, das ist unmöglich, sonst hätte es geschehen _müssen_. Kann es
aber das Rechte sein, wenn es so furchtbar zu tragen ist!?

Wie unbegreiflich sich das gewendet hatte! Seit sie ihn liebte, bangte sie,
sich nicht erheben zu können und jetzt hatte sie ihn verloren, weil sie
sich nicht erniedrigen konnte.

Warum habt ihr mich alle so gut erzogen?! Sie suchte Tränen, aber die
kamen nicht.

Dafür kam hilfreich ein wilder Zorn über sie, ein Aufflackern letzter
Energie, und führte sie über die nächste Stunde fort.

Sie fing an den Raum zu zerstören, in dem solches geschah; sie riss die
Blumen aus den Schalen und warf sie aus dem Fenster, -- sie zerrte die
seidenen Hüllen von den Lampen weg, dass ein helles, blendendes Licht
senkrecht, herrisch durch den dämmrigen Raum fuhr und alles Liegende,
Träge, Matte, Unklare daraus vertrieb.

Es ekelte ihr vor diesem Gemach, über dem eine Absicht lag, ein Vorsatz.
Was wollten diese Decken mit ihrem Flimmern, diese Blumen mit ihrem Duft,
diese Lampen mit ihren Schleiern? -- »Damit betäubt man meine Seele
nicht, damit lädt man Dirnen in sein Haus.«

Ei, und dort in der Ecke qualmte es -- dicker und undurchdringlicher mit
jedem Augenblick. Das war lustig, das half ihr zerstören -- --

Makassy erhob sich. Alt und elend mit leeren Augen in dunkeln Höhlen
-- aber hochmütig, undurchdringlich. Das zerwühlte Haar klebte wirr
an seiner Stirne und zeichnete entstellende Linien in das bleiche
Antlitz -- -- und dennoch, wie sie umherirrte in diesem Gesichte --
spähend, aufgeregt, atemlos -- sie fand nicht was sie suchte, sie fand
nicht was sie erflehte, -- sie musste achten -- -- und ihr Elend türmte
sich auf! --

Er sah umher in dem verwüsteten Raum; Blicke und Gedanken blieben auf
jener Schublade dort liegen, aus der der Rauch drang. Von da war es
ausgegangen, dahin war vorher sein Blick auch gefallen, von da hatte er wie
an einem einzigen Faden das ganze Netz seiner Ideen aufgezogen, von da, wo
der Schuh der leichtsinnigen Tänzerin, den er aus den Flammen der alten
Briefe gezogen hatte, fortzuglimmen schien und zu rauchen begann. Da war
sie vor ihm aufgefunkelt, die schöne Spanierin, in einstigem Glanz -- und
hatte höhnisch aufgeblickt und ihm mit ihren wilden Augen zur rechten
Zeit gerufen, als er begann sich zu verirren -- sich zu verlieren -- zu
verfahren in toten Geleisen.

Diega Felipa prangte vor ihm auf in berückender Kraft und Fülle,
in bachantischer Lust! Und die Luft, die ihr Tanz vertrieb, fuhr ihm
verwirrend über das Gesicht. Die blauschwarzen Lockenringel peitschten --
wie damals -- ihre braunen, nackten Glieder bei den wilden, heissen Tänzen
-- wie damals, wo sie die Schleier jauchzend zerriss und ihr grosses,
glühendes Auge hinschoss zu ihm, aufloderte, und sie ihm zurief:

»Nimm!! -- Wie Du willst ...... für Deine Kunst und -- für Dich!«

Grossartig war das! Voll Pracht und Grösse. Da gehörte er hin, in diese
Arme, das war sein Reich! Königspaläste! -- -- Königsgeschenke gibt, wer
sich lachend verschenkt, wer lachend sein Schicksal in den Wind zerstreut!!

Entfesselt, Dirne, hast Du mich, -- jetzt ist es vorbei mit den frommen
Episoden! Ihn ärgerten auf einmal diese weit offenen, staunenden
Mädchenaugen -- -- dieses Warten und Prüfen und Klagen und Denken, wie
feige das war, wie bettelarm, -- -- ja, ja, sie hatte sich verbildet,
verstümmelt und nun Krücken statt der Flügel. Sie kannte diese
Trunkenheit nicht, die sich über das Menschtum aufbäumt, die der Gottheit
trotzt und taumelnd zu den Tieren geht!

Sie suchte das Rechte in den engen Winkeln armseliger Erdenmoral -- er
konnte nicht mit ihr gehen. »Ich kann nicht mich selbst begraben gehen.«

Schwerfällig bewegte er sich gegen sie hin und sagte hart und kalt aus
seinen Gedanken heraus:

»Du hast es gut gemeint, Estella -- aber es war umsonst!« --

»Die Vergangenheit hat ihn zurückgefordert,« dachte sie mit letzter
Anstrengung.

       *       *       *       *       *

Und sie wandte sich zum Gehen ohne ein Wort. An der Türe drehte sie sich
noch einmal um und sah mit verhüllten, begrabenen Augen nach ihm zurück.

Diese Augen schauten ihn noch an, als sie lange, lange schon gegangen
war und er liess sie gesättigt jedesmal auf sich liegen -- ein
Zerstörungsbild. --

Jetzt war die Klinke ins Schloss gefallen -- kurz und knapp -- und in des
Mädchens umdüsterter Seele das letzte Licht erloschen. -- --

Furchtlos schritt sie durch die dunkle Stadt zurück. Die Häuser, die sie
vorher so drohend und unheilvoll umstanden und umlauert hatten, lagen in
weiten Fernen und Nebeln; die gingen sie nichts mehr an. --

Aus einem Gasthause kam laut lachend eine grössere Gesellschaft. Durch
die offenstehende Türe fiel ein breiter Lichtstreifen über die dunkle
Strasse. Aber ganz gleichmässig ging sie Schritt für Schritt vorwärts;
vom Schatten in das Licht und vom Lichte wieder in den Schatten.

Als trüge sie ein schweres, übervolles Gefäss, das nicht ins Schwanken
kommen darf, so sicher und gleichmässig ging sie, -- so vorsichtig, doch
eigentlich ohne Vorsicht.

Die Leute steckten die Köpfe zusammen, das war ja unerhört, was sie hier
sahen! »Wenn es nur schon Morgen wäre«, dachten sie. --

Am andern Tage kam Berta, der Backfisch, an Brand's Gartenzaun vor dem
roten Tore draussen vorbei und als sie Estella dahinter sah, wurde sie
dunkelrot und verdoppelte ihren Schritt, um eilends daran vorbei zu kommen.

Estella sah es wohl. Gleichgiltig ging sie ins Haus hinein und nach einer
Weile wieder aus ihm heraus. -- Sie tat alles, was so der Tag mit sich
brachte. Arbeiten, essen, lesen, schlafen, -- nur unterschied sich keines
von dem andern.

Alle Wege waren gleich lang. Alle Gegenstände gleich schwer. Alle Farben
gleich trübe. Alle Klänge gleich dumpf. Die Welt rauschte vorbei an ihr,
sie hörte sie nicht.

Ihre sonst so flinken Augen blieben stehen wo sie gerade standen --
interesselos, bis irgend etwas anderes in ihren Sehkreis trat, sie ein
Stückchen weitertrieb und sie wieder stille standen. --

Der alte Brand kam von der Reise zurück; sie redete mit ihm wie mit allen
anderen. --

Ein junges Mädchen, eine Altersgenossin von ihr, war in dem kleinen
Städtchen plötzlich gestorben an einer akuten Erkrankung. Alles
wallfahrtete zum Kirchhof, war ausser sich und rang die Hände; die
Mädchen insbesondere wollten sich die Augen aus dem Kopfe weinen.

Estella vergoss keine Träne. Lang und steif stand sie am offenen Grabe.
»Die verdorbene Person,« sagten die Leute. --

Ganz deutlich sah sie es, wenn manchmal ein Blick länger auf ihr weilte.

»Suche nur,« dachte sie, »Du findest doch nichts, finde ich ja selbst
nichts mehr. -- Ich habe gar nicht gewusst, wie still es auf der Welt
ist.«

Brand schrieb an Richard von Thieben, dass Estella so vernünftig geworden
sei: Der Maler Makassy habe die Stadt verlassen, aber sie rede nie von
ihm. Es sei ihr auch ganz gleichgiltig gewesen, ob sie oder er das Porträt
behalten sollte, als man ihr die Frage vorlegte. Da habe er es mitgenommen.
»Wahrscheinlich ist es ihr nicht hübsch genug, denn eitel sind sie doch
alle« hiess es in dem Briefe. Thieben aber, der dieses Schreiben am
Morgen erbrach und las, sass Mittags bereits im Zuge, der ihn an die
württembergische Grenze bringen sollte. Er fand keine Ruhe, er musste sie
selber sehen.

Aber auch er fühlte sich in ihrer Nähe beruhigter. In ihren Augen fand
er auf eine stumme, bange Frage keine Antwort; wie eine stille, graue Mauer
standen sie vor ihrer Seele.

So reiste er zuwartend wieder ab.

Als er aber nach zwei Monaten einen Brief ähnlichen Inhaltes vom alten
Brand erhielt, nur mit dem Vermerk, dass sie sehr wenig zu sich nehme
und immer stiller werde -- da hörte er die Not um Hilfe schreien --
und entschloss sich zu einem Wagnis. Hier musste eingegriffen werden,
gleichviel um welchen Preis.

Er forschte die Adresse des Malers Makassy aus und erhielt sie nach vielen,
mühseligen Schreibereien. Hierauf schickte er eine grosse Summe Geldes,
die indess retourniert wurde, an ihn, mit der Bitte, das Porträt Fräulein
Brands an die Adresse des Privatier Brand abzuschicken. Zugleich gab er
an letzteren einen dicken, festverschlossenen Brief auf, in dem er alles
erklärte, wie er es sah und was geschehen müsse. Erschüttert müsse ihre
Seele werden, ihren Bann zu lösen, -- aufgerissen müssten erschreckend
rasch geschlossene Wunden werden, sie zu heilen. -- -- --

Es währte keine Woche, als Estella eines Abends wieder wie immer
gleichmütig in ihr Zimmer hinaufging.

Die alte Magd, die ihr geleuchtet hatte, zündete das Licht an und
schlüpfte hinaus. »Die wird Augen machen,« dachte sie im Gehen. --

Estella war allein.

Langsam begann sie, sich zu entkleiden und durch die dadurch verursachte
leichte Bewegung fühlte sie auf einmal einen feinen Duft durchs
Zimmer wehen -- -- -- vorüber an ihr -- -- -- wie eine ferne, weite
Erinnerung. -- -- -- --

Sie lauschte auf -- angstvoll -- mit gespannten Sinnen -- -- war das nicht
der wohlbekannte Terpentingeruch -- -- -- aus Sommerszeiten -- -- -- -- --
Gequält sah sie um sich -- -- -- und ihr starres Auge blieb wie
entgeistert auf ihrem eigenem Bildnis liegen, das fast erdrückend gross
und schwer in dem kleinen Raume von der Wand hing. -- -- -- -- --

Da vollzog sich eine furchtbare Umwandlung in ihr. --

Dem alten Manne, der draussen vor der Türe wachte, zitterten die Kniee;
er presste stumm die Hände in einander. Und als er endlich, weit nach
Mitternacht drinnen das erste Aufschluchzen hörte, da liefen auch ihm die
Tränen über die zuckenden alten Wangen.

Seine Zeit war gekommen; vorsichtig öffnete er die Tür, trat leise zu
ihr -- aber es dauerte lange, lange -- bis er das erste Wort zu sprechen
vermochte.

       *       *       *       *       *

In dieser Stunde noch durchflog eine Botschaft die sich lichtende Nacht. --
Ein Bote eilte dem hochgelegenen Forsthause drüben im Schwarzwalde zu und
eine bebende Männerhand riss das Telegramm an sich, das die wenigen Worte
enthielt: »Sie weint. Sie hat zurückgefunden.« -- -- Zurückgefunden zu
sich selber.

       *       *       *       *       *

  Hast einen Garten dir emsig gebaut
  Und nur in Blumen und Blumen geschaut.
  Da öffnest das Tor du, herein dringt das Meer
  Und feget dein blühendes Gärtelein leer.

  Das Meer, es erglänzet und funkelt und dröhnt,
  Darunter dein sterbender Garten stöhnt. --
  Hoch auf den Fluten, da schimmert's vor Pracht!
  Vergessen die Blumen, verhöhnt und verlacht.

  Das Meer tritt zurück, der Glanz ist dahin,
  Über sumpfige Ufer die Wolken zieh'n. --
  Da schaust du hinaus mit irrendem Blick:
  Die Blumen sind fort, das Meer und das Glück.

[Illustration: Decoration]



[Illustration]

Thüringer Verlagsdruckerei · Jena-Ziegenhain.



[ Hinweise zur Transkription


Darstellung von Hervorhebungen in gesperrter Schrift: _gesperrt_.

Der Text des gedruckten Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten,
mit folgenden Ausnahmen,

  Seite 7:
  im Original "Über ihnen aber tronte das Massiv der Stirne."
  geändert in "Über ihnen aber thronte das Massiv der Stirne."

  Seite 10:
  im Original "denn die andern, schoben sich ungesehen"
  geändert in "denn die andern schoben sich ungesehen"

  Seite 25:
  im Original "und die Gier noch Genuss und Betäubung"
  geändert in "und die Gier nach Genuss und Betäubung"

  Seite 26:
  im Original "das baumumrauschte Fortshaus, das drüben"
  geändert in "das baumumrauschte Forsthaus, das drüben"

  Seite 26:
  im Original "dass ihm das so angenehm sein werde wir ihr"
  geändert in "dass ihm das so angenehm sein werde wie ihr"

  Seite 28:
  im Original "Wie soll man an so was glauben? --"
  geändert in "Wie soll man an so was glauben? --«"

  Seite 28:
  im Original "stechend von der Häusern ab"
  geändert in "stechend von den Häusern ab"

  Seite 39:
  im Original "auch manchmal ein wenig absichtich"
  geändert in "auch manchmal ein wenig absichtlich"

  Seite 39:
  im Original "Sitten war. und sie fingen an"
  geändert in "Sitten war. Und sie fingen an"

  Seite 51:
  im Original "in ihrem Stübchen war und vor sie zu Bett ging"
  geändert in "in ihrem Stübchen war und bevor sie zu Bett ging"

  Seite 53:
  im Original "losreissen von diesem köstilchen Ebenmass"
  geändert in "losreissen von diesem köstlichen Ebenmass"

  Seite 66:
  im Original "das Ruhelose, Zermartete zu weichen"
  geändert in "das Ruhelose, Zermarterte zu weichen"

  Seite 68:
  im Original "Schmetterlinge gauckelten über die Wiesen hin"
  geändert in "Schmetterlinge gaukelten über die Wiesen hin"

  Seite 68:
  im Original "hier ist die Welt, hier bin ich"
  geändert in "»hier ist die Welt, hier bin ich"

  Seite 73:
  im Original "Zerfetzte, sibergraue Lärchen standen riesenhoch"
  geändert in "Zerfetzte, silbergraue Lärchen standen riesenhoch"

  Seite 77:
  im Original "hinausdehnen über sich selbst -- ewigkeit wärts?!!"
  geändert in "hinausdehnen über sich selbst -- ewigkeitwärts?!!"

  Seite 83:
  im Original "zumsammengequetscht zu Ovalen und Dreiecken"
  geändert in "zusammengequetscht zu Ovalen und Dreiecken"

  Seite 85:
  im Original "Seine Gewandheit, der schnell veränderte"
  geändert in "Seine Gewandtheit, der schnell veränderte"

  Seite 86:
  im Original "in lustigen Gewinden tausenknöspig an der Veranda"
  geändert in "in lustigen Gewinden tausendknöspig an der Veranda"

  Seite 88:
  im Original "hänge sie über den Blütenstrauch"
  geändert in "»hänge sie über den Blütenstrauch"

  Seite 91:
  im Original "mit verdoppelter Lust ihre schlummernden Sinnne"
  geändert in "mit verdoppelter Lust ihre schlummernden Sinne"

  Seite 94:
  im Original "nicht kommmen in das herrenlose Haus"
  geändert in "nicht kommen in das herrenlose Haus"

  Seite 94:
  im Original "Du ja nicht anders seiest als sie."
  geändert in "Du ja nicht anders seiest als sie.«"

  Seite 98:
  im Original "so gemütlich und zuversichlich Arm in Arm"
  geändert in "so gemütlich und zuversichtlich Arm in Arm"

  Seite 99:
  im Original "Immer stiller. Immer trüber. Immer traurier."
  geändert in "Immer stiller. Immer trüber. Immer trauriger."

  Seite 103:
  im Original "dem holperigen Pflaster der alten Stad"
  geändert in "dem holperigen Pflaster der alten Stadt"

  Seite 104:
  im Original "so fein und holselig vor sich stehen sah"
  geändert in "so fein und holdselig vor sich stehen sah"

  Seite 113:
  im Original "Alle Farben gleich trübe. Alle Känge gleich dumpf."
  geändert in "Alle Farben gleich trübe. Alle Klänge gleich dumpf."

  Seite 114:
  im Original "Die alte Magd, die ihr geleuchtete hatte"
  geändert in "Die alte Magd, die ihr geleuchtet hatte" ]





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