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Title: Briefe eines Malers an seine Schwester
Author: Sandvoß, Rosalie
Language: German
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SCHWESTER ***



  Briefe eines Malers
  an
  seine Schwester.

  Von
  Rosalie Sandvoß.

  Hamburg.
  Agentur des Rauhen Hauses.

  Druckerei des Rauhen Hauses. 1865.



  Burgwall, den 10. Juni 18--.

Nun bin ich in der Heimath, vorgestern langte ich hier an. Es ist doch ein
eignes Gefühl, wie ein Fremder, den Niemand kennt, den Keiner erwartet,
für den nicht eine Seele einen freundlichen Gruß hat, in die Vaterstadt,
in die Stadt seiner holdesten Erinnerungen zurück zu kehren. Du weißt,
ich bin nicht sentimental, Pauline, aber da Du »Alles wissen willst, was
sich zwischen mir und Burgwall ereignet,« so sei's gestanden, daß ich
eine Art Herzweh fühlte, überall auf meinem Wege zum Gasthause Personen
zu begegnen, die mich höchstens mit dem Blicke der Betrachtung beehrten.
Und nun im Gasthause zu wohnen, ein wirklicher Gast, ein Fremder daheim zu
sein!

Das deutsche Haus, mit seinen Kastanien vor der Thüre -- sie standen
richtig noch da -- lockte mich heimisch an: ihm gegenüber liegt ja das
alte, liebe Haus, das meiner Phantasie immer als Heerd tiefsten Behagens
vorgeschwebt hatte. Du erinnerst Dich gewiß, obgleich Du es als ein Kind
von acht Jahren verließest, es steht mit dem Giebel nach der Straße, hat
im zweiten Stock einen runden Ausbau, ist mit Schnitzwerk überladen und
sieht auswendig gerade aus, wie ein Magister des sechszehnten Jahrhunderts
sich der Welt präsentirt haben mag, künstlich, solid und pedantisch.
Aber inwendig ist das anders. Gerade das Erkerstübchen war ein überaus
behagliches, freundliches Zimmer, mit Blumen, vielem Lichte und duftigen
Vorhängen. Ich erinnere mich, daß es grün decorirt war, und nußholzene
Möbel hatte, die immer wie neu polirt glänzten. In der einen Ecke
stand eine Harfe -- Mutter spielte sie wundervoll -- und mitten in einer
Blumengruppe zog mich immer ein Bild an, ein Christus auf dem Meere. Das
Gesicht der Hauptfigur hatte einen bezaubernden Ausdruck; es schwebt mir
oft vor, und ich habe schon oft es zu malen gewünscht, aber seltsam! mit
diesen Heiligenbildern will es mir nie gelingen. -- Mutter schien sich
stets zu freuen, wenn ich bei den seltenen Gelegenheiten, da sich mir dies
Zimmer öffnete, lange betrachtend vor dem Bilde stand, sie hatte eine
etwas bigotte Richtung, die herrliche Seele, und hat sich, glaube ich,
über die nichtssagendsten Dinge, das Leben schwer genug gemacht. Du hast
Mutter kaum gekannt, Pauline, Du warst erst sechs Jahr alt, als sie starb,
ich sechszehn. Sie war ein Engel -- aber etwas überspannt, ich glaube
nicht, daß Vater ganz glücklich mit ihr war. Von einer alten Tante, so
einer Art Nonne, erzogen, brachte sie eine Last von Vorurtheilen unserm
lebensfrohen, geistvollen Vater zu, und nur seiner Liebe zu ihr ist es wohl
zuzuschreiben, wenn er nie darüber klagte, daß sie in ihrer Ehe stets
ihren eignen Gang ging und sich nicht zu Vaters Lebensanschauung erheben
konnte. Kinder beobachten schärfer als man gewöhnlich glaubt, ich habe
öfter bemerkt, wie still und ernst Mutter ihre Vorkehrungen traf, wenn
Vater Gesellschaft gebeten hatte, wie erschreckt sie von ihrem Buche
aufsah, wenn spät Abends ein munteres Gelächter oder jubelnde Toaste in
das Schlafzimmer hinauf schallten, wo sie uns so sorglich gebettet hatte
und dann lesend des Vaters harrte. -- Erinnerst Du Dich nicht, wie sie uns
beten lehrte? -- Die liebe Heilige! Ich denke nicht ohne Rührung an sie,
aber ich möchte um keinen Preis, daß Du ihr einst glichest. Ich bin
kein Heide, aber mir schaudert vor dieser Pietisterei; sie vergällt die
reinsten, unschuldigsten, harmlosesten Freuden, und verdammt ihre Opfer zur
gänzlich unnöthigen, unfruchtbaren Selbstkasteiung.

Leider sind unsere Verhältnisse der Art, daß ich nicht, wie ich möchte,
auf Deine völlige Ausbildung einwirken kann, wir sind zu selten bei
einander, und sind wir es, so können wir uns selten ungestört sprechen,
immer kommt irgend ein zärtliches Wesen, den geliebten Verzug zu
beaufsichtigen. Vermuthlich befürchten Deine alten Jungfern, ich bezwecke
Dich ehestens aus ihrem verzauberten Schlosse zu entführen, um das kleine
Wunder von Liebenswürdigkeit in der Welt für Geld sehen zu lassen.
Wahrhaftig, ich kann ganz unbesorgt sein, welchen verdächtigen Anstrich
auch zuweilen Deine Aeußerungen haben, eine Heilige wirst Du dennoch
nicht, dafür sorgen besagte Damen mit allen Kräften. So will ich denn
für diesmal meine Erziehungsgedanken fahren lassen und ganz einfach mit
Dir in der Stadt umherspazieren. Hast Du hohe Erwartungen, so stimme herab,
besonders für den heutigen Tag, es hat geregnet und ist grundlos in den
Straßen, Pfütze an Pfütze. Rümpfe aber um alles in der Welt Deine
hübsche Nase nicht, diese Pfützen sind ein Vorzug der guten, alten
Stadt, wie mir Herr Brauer, mein behäbiger Wirth, alles Ernstes
auseinandergesetzt hat. Du glaubst es nicht? -- nun so höre. Zweierlei
Wohlthaten sind die Ursachen dieser kleinen Unannehmlichkeit: reger Verkehr
und herrliches Röhrenwasser. Letzteres macht seine unterirdische Reise in
ausgehöhlten Tannen, die im Laufe der Zeit nicht selten leidend werden, da
wird denn das Pflaster aufgerissen und es kann dann leicht passiren, daß
die Kieselmosaik nicht so recht sorgfältig wieder restaurirt wird. --

Visiten können wir nicht viele machen, es ändert sich in zehn Jahren
unglaublich viel. Die meisten Freunde unsers Vaters sind nicht mehr
vorhanden -- todt, weggezogen, Andere erinnern sich des Knaben Justus Brand
nur sehr nebelhaft, und ich bin nicht just von der Art, ihrem Gedächtnisse
eifrig zu Hülfe zu kommen. Die freundlichste Aufnahme habe ich bei
Bernwachts gefunden, einem außerordentlich töchterreichen Ehepaare.
Wie solche Mädchen doch in die Höhe wachsen, als ich die vier ältesten
zuletzt sahe, waren es Wildfänge zwischen vier und zehn Jahren, mit
hängenden Schuhbändern, fliegenden Locken =et cetera=, jetzt, ich
versichere Dich, man weiß nicht, wohin man die Augen wenden soll, aus
jeder der zahlreichen Nebenthüren der großen Stube schwebt eine neue
Huldin herein. Alle sind bildhübsch, ich bin neugierig zu erfahren,
wie sie sonst beschaffen sind; die Alten haben mich, sehr großherzig,
eingeladen, sie oft zu besuchen.

Auf dem Schlosse bin ich noch nicht gewesen. Brrr! Kannst Du mich nicht
davon erlösen? Fromm und vornehm, eine Heilige und eine Gräfin, alles in
einer Person! Womit werden mich die vortrefflichen Herrschaften regaliren?
Mit erhabenen Worten, hohen Mienen, und einer Weisung in bestimmte Grenzen?
Mit gelehrten Redensarten über Malerei, mit Honigworten christlicher
Liebe? Eins so widerwärtig wie das Andere; o könnte ich allen Dünkel,
alle klugthuende Nichtswisserei und alle Formenreligiosität, die nur die
innere Armuth bemänteln soll, schleudern in das Meer, da es am tiefsten
ist! -- War das nicht etwas -- ja es muß so sein, ich irre nicht --
es erinnert an einen Bibelvers, mir wird ganz besonders dabei. Warum
eigentlich? Widerwille war es nicht -- ich muß sondiren, es liegt
in meiner Natur -- war es etwa ein stummer, schweigender Vorwurf der
»heiligen Schrift?« -- Wundere Dich nicht über mich, ich bin in
Burgwall, Bilder der Kindheit umschweben mich, die alten Klänge werden
wach, der Mann wird wieder zum Kinde, aber nur auf Augenblicke; sieh,
da zieht es schon hin, das magische Blendwerk, all die frommen
Legendengestalten, die ich in dem Giebelhause drüben einst kennen lernte,
und die so mysteriös von ewigen Kronen und himmlischen Palmen sprachen.
Der ganze Traum zerrinnt, fort sind sie. --

Für heute genug. Dein Bruder

  _Justus_.



  Am 11. Juni.

Pauline, ich habe mich wie ein Dummkopf benommen, wie ein vollendeter
Dummkopf! Auf alles Mögliche war ich gefaßt, nur nicht auf eine
liebenswürdige, einfache Frau, die dennoch, eben in ihrer schlichten
Würde, mir gewaltig imponirte.

Es ist sehr gut, daß wir diesen Briefwechsel verabredet haben, Kameraden
sind nicht habhaft, die Burgwaller ersterben in Ehrfurcht vor der
»Herrschaft,« und man kann mit ihnen kein freies, vernünftiges Wort
über diese Halbgötter reden, und ich liebe den Austausch. Aber halt,
was werde ich für meine famosen Berichte bekommen? Wenn nichts weiter,
so bedinge ich Recension, eine detaillirte; ganz entschieden, Pauline, Du
mußt mir gehörig antworten.

Jetzt von der Gräfin.

Es war gegen Mittag, als ich den Schloßberg, versteht sich in Galla,
hinanstieg. Das Wetter war gut und die Gegend ist wirklich schön, der
Spaziergang war ein Genuß; der Weg ist auch besser geworden, überhaupt
ist für Verschönerung der Schloßumgebungen besonders, aber auch für die
der Stadt, viel gethan. -- Eine Wallthür stand offen, und ich ging hinein.
Gleich in der ersten Laube bot sich mir ein hübsches lebendes Bild dar.
Eine junge Dame saß mitten unter einer Fülle herrlicher Blumen und
ordnete sie zu Sträußen. Für einen Maler hat so etwas doppeltes
Interesse, und weil mich die Schöne nicht sehen konnte -- sie hatte mir
den Rücken halb zugedreht und war äußerst eifrig bei ihrer Arbeit --
blieb ich einen Augenblick stehen und sah ihr zu.

»Schnell den Bast, Johanne!« rief sie. Es erschien keine Johanne. Sie
wartete einen Augenblick, sah auf, horchte, und vermuthlich überzeugt,
daß keine Johanne sie gehört habe, gab sie die Hoffnung auf, gleich Bast
zu bekommen, und legte den schön arrangirten Strauß behutsam auf den
Tisch, um zum Ordnen des zweiten zu schreiten. Sie nahm eine Lilie, fügte
Rosen hinzu, zettelte eine Epheuranke unter den Blumen hervor und -- um
das erste Bouquet war's geschehn, es war aus der Fassung gekommen, fiel aus
einander und theilweis zu Boden. Eiligst trete ich vor, ich Narr! und
raffe die Blumen auf, sie der Dame wieder zuzureichen. Sie nahm sie etwas
erstaunt, erwiederte meinen Gruß freundlich, und sah dann zur Laube
hinaus, »wo ihre kleine Johanne wohl geblieben sein möchte.«

»Vielleicht sehe ich sie unterwegs, mein Fräulein,« verhieß ich
Kurzsichtiger, »und werde sie schicken.«

»Wollen Sie in's Schloß?« fragte die Dame. -- Das war ja ganz
vertraulich, ich entgegnete also ganz guter Dinge: »Ja wohl, zur Gräfin,
wenn sie zu Hause ist.«

»Dann nehmen Sie nur den Wallschlüssel mit, Johanne hat ihn ausgezogen,
-- Kinder machen sich so gerne mit Thüren zu schaffen -- und Sie haben
wohl keinen Schlüssel, nicht wahr, die untere Thüre stand offen?«

Ich bejahte, dankte, und weil nicht recht mehr was zu sprechen war, empfahl
ich mich und ging meiner Wege, bereute aber bald nicht länger geblieben
zu sein, es fielen mir, als ich im Vorzimmer wohl eine Viertelstunde warten
mußte, der Fragen noch mancherlei ein. Endlich erschien die Gräfin, und
wer war es? -- mein Fräulein vom Walle! O, ich Blinder! Hätte ich es
der holden Frau nicht gleich ansehen können, daß sie kein gewöhnliches
Menschenkind ist; würde ein Stadt- oder Hoffräulein mir ihren
Wallschlüssel gegeben haben, wäre sie so unbefangen freundlich gewesen?!

Während sie nun um Entschuldigung bat, mich warten gelassen zu haben,
stand ich kümmerlicher Mensch, und konnte mich nicht in die rechte Form
finden, wollte selbst entschuldigen und wußte nicht wie, und fühlte mich
erröthen, wie ein Schüler. Natürlich schien sie nichts davon zu merken,
sie war ganz gesprächig, redete zum Glück bald von Malerei und plauderte
so nett darüber, daß ich meinen stichelnden Gedanken allmählig entrissen
wurde. Die Gräfin scheint von der Sache just nicht viel zu verstehn, aber
sie zu lieben und das ist auch gerade recht. -- Sie wird mir in nächster
Woche sitzen, bis dahin wird sie »das Vergnügen gehabt haben, mich ihrem
Gemahl vorgestellt zu haben.«

Da hast Du die Geschichte; ich werde noch heute diesen Brief absenden, und
grüße Dich herzlich als Dein Bruder

  _Justus_.



  Den 24. Juni.

Mittsommertag, himmlisches Behagen! Ich möchte alle Ecken und Winkel
meines Ichs von diesem Lichte durchströmen, von dieser Wärme erfüllen
lassen. Es ist wundervoll! In meinem Leben habe ich solchen Sommer nicht
kennen gelernt, bin ich so gründlich heiter und befriedigt gewesen, wie in
diesem. Aber, meine Theuerste, Du hast auch keine Ahnung davon, von welcher
Höhe herab ich auf die Auen und Wälder schaue, wie die Natur »zu meinen
Füßen« daliegt. Es ist unbestrittene Wahrheit: je erhabener
unser Standpunkt, desto schöner und harmonischer erscheinen uns die
verschiedenen Einzelnheiten fernab. Steig auf den Kirchthurm, wenn Du's
nicht glauben willst, wie bildhübsch und harmlos wird Dein altes Nest,
Verzeihung! aussehen; die Kinder auf den Straßen spielen so nett und
manierlich mit einander, das Geschrei und Gelärm, welches sie betreiben,
dringt höchstens als sanftes Gemurmel in Deine Region, all die
Häuserchen, die Hüttchen stehen so nett da, als wären sie aus einem
Nürnberger Schächtelchen genommen, genug, es ist so, wie ich sagte. --
Ich residire gegenwärtig auf Schloß Burgwall, vergiß es nicht, es auf
Deinen Briefen gehörig zu bemerken. Meine Residenz ist sehr hoch, ja
wirklich, denn die alten mächtigen Linden, die ihre Kronen bis zu den
Fenstern der Gräfin emporstrecken, sind nur dann von meinem Reiche aus
sichtbar, wenn ich mich aus dem Fenster zu ihnen hinabneige: ich wohne
buchstäblich auf Schloß Burgwall, nämlich in zwei Dachstübchen, dicht
neben dem Thurme.

Keinen Stein auf die Gräfin, ich bitte sehr! Die Zimmer sind ganz meine
Wahl, eben der Aussicht wegen. Als mir die Erlaubniß wurde im Schlosse zu
wohnen, habe ich mir gerade diese kleinen Zimmer gewählt, welche mir schon
früher bei Besichtigung des Schlosses besonders gefielen. In jeder Stube
ist ein großes, tiefes Fenster, ausgezeichnet für die Aufstellung einer
Staffelei geeignet. Für nette Einrichtung wurde sogleich gesorgt, und so
wohne ich hier so angenehm wie möglich.

Seit meinem Umzuge liegen schon zehn Tage dahinten, mir ist heut auf jeden
Fall doch sehr anders zu Sinn, als da ich kam. Tags zuvor war ich dem
Grafen erst vorgestellt. Er ist ein gewichtiger Mann, nicht mehr jung,
gewiß, wenn nicht Funfzig, doch nahe daran; in seinem charakteristischen
Gesichte nehmen die Züge des Wohlwollens und tiefen Ernstes sehr für
ihn ein, und sein ganzes sicheres, bestimmtes und doch durchaus nicht
anmaßendes Wesen beherrscht unwillkürlich seine Umgebung. Die Gräfin
scheint ihn nahezu anzubeten, sie lebt in seinem Lichte. Wenn er spricht,
so ist es gewiß, daß sie nichts anderes hört, tritt er in's Zimmer,
so überfliegt ein Freudenschein ihre holden Züge. Nie habe ich solche
Innigkeit, solch gegenseitiges Glück gesehn, als bei diesen beiden
Menschen, und er ist wenigstens zwanzig Jahre älter als sie. So recht
verständlich ist mir dies nicht; Ehrfurcht und töchterliche Gefühle
könnte ich ihrerseits begreifen, aber sie liebt ihn anders und viel mehr,
als ich überhaupt glaubte, daß man lieben könne.

Tags nach meinem ersten Besuche bei dem Grafen wurde ich zu Tisch geladen,
und da wurde es gleich ausgemacht, daß ich, der Bequemlichkeit wegen, bei
ihnen wohnen sollte. So bin ich denn täglich, außer den Sitzungen -- der
Graf hat den Anfang gemacht -- in der Gesellschaft der liebenswürdigen
Familie. Meine Unbehaglichkeit schwindet immer mehr, und ich weiß nicht,
welcher der edlen Herrschaften ich den Preis höchster Liebenswürdigkeit
zuerkennen soll, ihm oder ihr. Eigentlich sind sie gar nicht zu trennen,
vereint sind sie das Ideal vollendeter Freundschaft und einer rührenden
Liebe. Auch die kleine Johanne, des Paares einziges sechsjähriges
Töchterchen, ist etwas Liebreizendes. Das Kind besucht mich zuweilen, und
letzt brachte sie ein Tractätchen mit und wollte mir etwas vorlesen, fing
auch richtig an und es ging über Erwartung gut, aber ich fand doch für
besser das Thema der Unterhaltung zu wechseln, und erzählte ihr das
Märchen von Schneewittchen. Dabei saß sie auf einem kleinen mitgebrachten
Stuhle und sah mich mit den großen Augen ganz ernsthaft an, während ich
unverdrossen ein in Berlin angefangenes Bild nachfeilte und mich bemühte,
einem winterlichen Himmel mehr das Ansehn zufriedener Ergebung als das der
trostlosen Gleichgültigkeit zu geben, die sich in Berlin über das kleine
Gemälde gelagert hatte.

Als die Geschichte aus war, sagte sie: »Mama ist auch eine Stiefmutter,
Max ist ihr Stiefsohn.«

»Wo ist er?« fragte ich.

»Weit weg,« erwiderte sie, »wo der König wohnt.«

»Was thut er da?«

»Das weiß ich nicht gewiß,« antwortete die Kleine höchst gewissenhaft,
»aber ich glaube, der König gebraucht ihn; Mama sagt, er sei des Königs
treuer Diener.« -- Was für eine Art Diener, ob Page oder Adjutant, das
konnte ich nicht herausbringen.

In der Stadt werde ich, will es mir scheinen, seit ich hier wohne, mit
größerer Zuvorkommenheit behandelt. Ich meine im Allgemeinen, Bernwachts
sind unverändert dieselben. Die Familie, obgleich ganz anders als die
meiner erlauchten Beschützer, wird mir sehr lieb, und ich gehe fast
täglich zu ihnen. Noch eine Bekanntschaft habe ich erneuert, Du könntest
rathen, welche treue Seele ich meine. Julchen Hermann ist es. Sie wohnt im
Hospitale, das heißt in einem neuerbauten Hause, neben der alten Behausung
der Gebrechen und des Alters, für diejenigen Einsamen bestimmt, welche ein
rundes Sümmchen für die Wohlthat sichern Daches und einiger Fuder Holz
zahlen können. Früher wohnte sie in der Vorstadt, bei ihrer alten
Mutter, Du mußt es noch wissen, wir besuchten sie zuweilen, und gingen nie
unbeschenkt und ungeküßt von dannen.

Die alte Mutter kam mir stets mit ihren großen leuchtenden Augen, wie
eine Seherin vor, ihre Worte klangen alle so weise, wie Orakelsprüche.
Sie liegt nun auch auf dem Katharinenhofe, nicht hundert Schritt von dem
Stübchen ihrer Tochter. Julchen zeigte mir das Grab durch das Fenster, und
später habe ich es auch aufgesucht, es ist das wohlunterhaltenste auf dem
ganzen Kirchhofe.

Von unserer Eltern Ruhestätte muß ich Dir etwas mittheilen, was mir
hochpoetisch erscheint. Vater hat kein Monument, unser Vormund hatte es
nicht für gut befunden, das Grab des Ehrenmannes zu bezeichnen, nur ein
Baum, bald nach Vaters Tode von mir gepflanzt, wurzelt daran. An Mutters
Grabe steht ein schönes, hohes Kreuz, Vater hat es setzen lassen. Auch
dieses Grab hat ein Zeichen der Liebe von mir, einen Epheu, der die Jahre
hindurch so mächtig gewachsen ist, daß nicht nur das Grab ganz, und das
Kreuz größtentheils davon umschlungen wurde, sondern er hat auch die
zu ihm niederhängenden Zweige der Traueresche umsponnen, sich an ihnen
aufgerankt, und so stehen beide Gräber auch äußerlich, in der innigsten
Verbindung. Das hat Natur gethan, und mir war es doch als hätten Mutters
feine Finger, still und sinnig, die Zweige in einander geflochten. --


  Später.

Endlich habe ich einen Brief von Dir. Meinst Du wirklich: ich sähe die
Bibel mit den Augen der Weltkinder an, anders als ich sollte? die innere
Bewegung damals, sei eine Warnung meines Engels gewesen?

Liebes Kind, Kind des Lebens und nicht der Welt, Du scheinst wirklich
auf einem andern Wege zu sein, als ich, aber wie natürlich! --
Vergegenwärtige Dir eine Pilgerfahrt, nach irgend einem Heiligthume,
meinetwegen nach dem heiligen Grabe. Es ist kein Kreuzzug, sondern eine
Wallfahrt, Männer, Frauen, Jungfrauen, Greise, begeisterte Kinder --
Alles vereint sich, zu demselben Ziele zu gelangen. Wird Jeder die Reise in
derselben Weise machen, trägt die Mutter nicht das Kind, stützt der Mann
nicht sein Weib, bedarf der Alte nicht des Stabes? Meinst Du nicht, daß
die Kinder, im Gefühl ihrer Schwäche oft auf die Knie sinken, Gott um
neue Kraft anflehend, daß vielleicht ein Stärkerer sich dann über sie
erbarme?

Siehst Du: Ein Ziel; der Eine erreicht es gehobenen, der Andere gebeugten
Hauptes, Dieser stützend, Jener getragen, Einer schaut mit vollem Blick
in das Morgenroth Canaans, während Viele auf ihre wunden Füße
niederblicken, und auf den Weg, den sie wandeln müssen, damit sie
die Steine des Anstoßes darauf vermeiden. -- Wir haben Alle Ein Ziel:
Befriedigung. Du findest es, ich ahnte es, im Glauben, ich suche es im
Leben, in der Kunst, überall. Jetzt bin ich hier, und ich weiß was
hier meine Seele ganz erfüllen könnte -- kommt die Zukunft, die weite,
unbestimmte, Du wirst wohl Ewigkeit sagen, etwas, was über das Grab hinaus
währt, nun, so ist es immer Zeit auch dafür Entschlüsse zu fassen und
zu handeln. Wer kann das früher, ehe er bestimmt weiß, wofür und wie? --
Aber ich habe hier einsehen gelernt, daß bei der Heiligkeit nicht absolut
Gefahr für das Lebensglück ist; kannst Du in dieser Façon Befriedigung
erlangen, nun wohlan, Du hast meine brüderlichen Glückwünsche dazu. --

Laß uns diese Sache nicht als abgemacht betrachten, ich versichere
Dich, daß Dein Widerspruch mich wohl reizt, zum Nachdenken, wiederum zum
Widerspruch, aber keineswegs zum Zorne. Hier meine Hand, liebe Schwester!
Dein Brief hat Dich in meinen Augen um mindestens zehn Jahre erfahrener
gemacht, um nicht älter zu sagen. Wie alt bist Du eigentlich? Achtzehn
rechne ich eben. Wo lerntest Du so ernst sein? -- Grüße Deine alten,
ehrbaren Damen von mir.

  _Dein Bruder Justus._



  Am 27. Juli.

Gestern erhielt ich Deinen Brief. Warum ich nicht schon wieder geschrieben?
Es beschäftigte mich Vieles, allerlei Begebenheiten kreuzten sich bunt
durcheinander, ich war mitten darin, und doch waren sie kaum der Art, daß
Dir meine Notizen darüber irgend wie wichtig erschienen wären. -- Mit
großer Liebe habe ich des Grafen Bild vollendet, es ist gelungen und die
Herrschaften finden es auch. Die Gräfin werde ich noch nicht malen, es
sind Gäste hier, aus Schlesien, welche mich mit ihren Aufträgen beehrt
haben, und ich bin jetzt dabei ein Kind zu malen, ein unbeschreiblich
reizendes kleines Gesicht, mit großen, fragenden Augen, die mich
unaufhörlich an Cäcilie Bernwacht, des Bürgermeisters dritte Tochter
erinnern. Nicht, daß das junge Mädchen so schön, wie die kleine
Felicitas, oder überhaupt sehr nach meinem Geschmacke wäre, aber es liegt
etwas Verwandtes in den Augen beider Mädchen, so recht echter Kindersinn,
Seele, viel Seele.

Wenn ich so schöne Augen male, ist es mir oft, als sei in ihnen das
Geschick der Besitzerinnen ausgesprochen. Bei denen der Felicitas denke ich
zum Beispiel: was das Kind nicht Alles glaubt! Es glaubt an einen Himmel
auf der Erde und an einen ewigen Himmel; es wird wahrscheinlich ewig
ein Kind bleiben, und sehr viel vertrauen, und immer das Beste von allen
Menschen denken, es wird auch sehr lieb haben, die ihm Liebes erweisen, und
andere Menschen auch noch, und wird für alle seine Liebe nur etwas Treue
erwarten und sie selten finden, vielleicht gerade dort nicht, wo es am
sichersten darauf gerechnet hatte. Dann werden diese frommen Augen viel
weinen, sehr viel, bis allmählig ihr milder Glanz erlischt, und sie sich
schließen.

»Mache einmal deine Augen zu, Felicitas,« sagte ich letzt zu ihr. Sie
that es; ich sah sie lange an und vergaß in meinen Träumereien ihr zu
sagen, sie könne sie wieder öffnen, bis sie endlich ganz geduldig fragte:
»darf ich dich nun wieder ansehen?« --

Es giebt große Geheimnisse. Pauline, wir begegnen ihnen täglich, die
größten liegen in den Worten Herz und Schicksal. --

Cäcilie Bernwacht ist gerade unter ihren Schwestern die mir fremdeste. Ich
will Dir die kleine Gesellschaft skizziren. Therese, die Aelteste, ist ein
hübsches, besonders verständiges Mädchen; sie ist Braut, und näht
den ganzen Tag an ihrer Aussteuer, was sie indeß nicht verhindert,
theilnehmend zu sein, ich mag sie sehr gern und unterhalte mich am
anhaltendsten mit ihr. -- Ihre zweite Schwester, Ida, ist eine Schönheit,
ja, sie ist wirklich schön und ich muß sie malen, es ist ein Genuß diese
Formen, diese Frische, diese Grazie studiren und copiren zu dürfen. Das
Mädchen ist auch nicht ohne Geist und wird auch wohl ein Herz haben, aber
sie gefällt mir von ihren Schwestern am wenigsten, ihr Witz ist scharf,
sie kann beißend sein, ich mag das nicht an Damen.

Nun kommt Cäcilie, offenbar der Mutter Liebling, ein Mädchen von
siebzehn Jahren, sehr zarter Gestalt, etwas blaß, mit herrlichem Haar und
wundervollen Augen. Cäcilie ist vielleicht, um schön zu sein, etwas zu
klein, und um im Allgemeinen so recht gefallen zu können, zu still, man
kann sie kaum kennen lernen. -- Nun kommen ein Paar prächtige Wildfänge
von dreizehn und elf Jahren, Burga und Berga genannt, Wallburga nämlich
und Luitberga, komische Namen! Wo Burga ist, ist Berga, sie sitzen in einer
Klasse, binden einen Kranz, spielen zusammen Klavier und Versteck,
und umarmen gleichzeitig ihre Mutter, die sich auf ihre stürmischen
Ueberfälle gewöhnlich schon durch Bergung ihrer Mützenbänder mit
Resignation vorbereitet. Kürzlich hörte Berga, daß ihr Vater mein Pathe
ist, und augenblicklich trug sie hocherfreut darauf an, mich Pathe nennen
zu dürfen, Herr Brand gefalle ihr nicht, Herr Justus wäre freilich recht
hübsch, aber ungewöhnlich, Justus schlicht weg, passe sich nicht, Pathing
sei das Beste. Die Mutter schüttelte gewaltig mißbilligend den Kopf und
entschuldigte, ich erlaubte natürlich dagegen der elfjährigen Berga mich
Pathe nennen zu dürfen. »Burga muß aber auch so sagen, sonst kann ichs
doch nicht,« behauptete sie und Burga bequemte sich. Es wurde gelacht, der
Alte zog die Mädchen etwas auf und damit war es abgemacht.


  Am 4. August.

Heute will ich diesen Brief an Dich abschicken. Dein letzter Brief war mehr
als ernst, es sprach sich Unruhe, Besorgniß darin aus. Du schreibst: ich
verkenne das Streben meiner Seele, nicht flüchtige Befriedigung, die
man täglich in irgend einer Sache, einer Creatur finden könne, sei der
Endpunkt derselben, sondern Frieden in Gott. -- Ist das nicht ein Spielen
mit Worten, oder pedantische Festhaltung eines einmal so und nicht anders
geformten Glaubenssatzes? Wir suchen was uns zu unserm Glücke fehlt,
Jeder nach seiner Natur. Du bist ätherischer Natur als ich, und suchst
geistigere, oder rein geistige, oder auch phantastische Genüsse, ich
verstehe Dein Friedensverlangen nicht. Warum ist dieser Friede von Dir erst
zu suchen, wodurch hast Du reines Kind ihn erschüttert, oder gar verbannt?
Und warum ist mein Trachten nach Befriedigung verwerflich, da ich sie nicht
im Unedlen, Rohen, Gemeinen suche? Widerstrebt mein Verlangen dem reinen
Naturgeiste? -- Ich habe vor meiner Vergangenheit in keiner Weise zu
erröthen, und brauche dem Frieden nicht nachzujagen, weil ich ihn habe.
Beunruhige Dich meinetwegen nicht im Geringsten, meine theure Schwester,
ich bin vollkommen glücklich!

Lebe wohl!

  _Dein Bruder Justus._



  Den 16. August.

Es will mir scheinen, als erkalte unser Briefwechsel, Du machst größere
Pausen, als ich wünsche. Um meinerseits nichts dabei zu verschulden,
schreibe ich dennoch, es ist mir wohlthuend -- auch eine kleine
Befriedigung -- wenn ich an Dich schreibe und mich so von Grund aus
ausspreche. --

Weißt Du, wer Dir hier in Burgwall sehr gefallen würde, welche junge Dame
mich oft, nicht an Deine Person, denn Du bist glänzender, aber an Deine
Briefe erinnert? -- Cäcilie. -- Vor ein Paar Tagen hatte ich mehrere
Stunden anhaltend an dem Bilde der Gräfin gemalt -- der Engelskopf der
Felicitas steht auf der Staffelei im Dachstübchen -- der Graf hatte uns
dabei vorgelesen, tiefsinnige, anziehende Sachen, die nachher von uns
besprochen wurden. Pauline, letzt schrieb ich Dir ich sei glücklich, heute
fühle ich mich, und schon seit einigen Tagen stürmisch aufgeregt, und
nicht glücklich, nein! -- Wie kommt es nur, daß sie mich als Einen der
Ihrigen betrachtet hatten, als einen Glaubensgenossen? Weil ich bei ihren
Tischgebeten keine Störung veranlasse, sondern auch meine Hände falte? Es
kann ja sein, daß die ewige Macht ein solcher Vater unser ist, als welchen
sie sie anbeten! Ich bins zufrieden, aber ich weiß nicht obs wahr ist.
Wahrscheinlich ist es wahr, ich glaube es fast, aber ich weiß es nicht,
dabei muß ich verharren. Es mag für Tausende leicht sein, sich bei
solchen Gelegenheiten, wie an jenem Tage, in ein Schweigen der Bewunderung
zu versenken, oder in oftgehörten Phrasen Beifall zu zollen, ich kann es
aber nicht. Ich sagte was ich meinte, und es ward lautlos still im
Zimmer. Das erste Wort, was ich wieder hörte, war die Johannen gegebene
Erlaubniß, das Zimmer zu verlassen. Es zog mir eisig durchs Herz, sie
fürchteten für das Kind den Gifthauch der Gottlosigkeit. Gottlos!
ein schreckliches Wort. Bin ich es? Antworte mir darauf. -- Dieser
verehrungswürdige Mann, diese herrliche Frau schaudern vielleicht vor mir
zusammen, sie beten vielleicht für mich, für den armen Sünder, denn in
ihren Augen giebt es keine größere Sünde, als gottlos zu sein. Aber ich
protestire, ich bin es nicht! An jenem Tage wurde der wunde Punkt nicht
auf das Leiseste mehr berührt, doch fühlte ich mich unbehaglich und ging
bald. Im Zimmer hatte ich nicht Ruhe, ich ging hinaus, durchstreifte
den Wald, das Feld, kam, ohne es beabsichtigt zu haben, in die Nähe des
Kirchhofs und stand an den Gräbern der Eltern. Mutters weißes Marmorkreuz
sah mich matt an, es war mir, als spräche es traurig: gottlos, armer Sohn!
-- »Nein!« rief ich, beugte mich und küßte das Grab. Julchen fiel mir
ein. Sie ist eine Dienerin des Gottes, den ich nicht kenne. Aufgeregt,
wie ich war, sehnte ich mich ihre Meinung zu hören, ich wollte sie schon
geschickt herauslocken, ohne mir eine Blöße zu geben; es braucht nicht
alle Welt zu wissen, daß ich gottlos bin! --

Ich ging dem Hause zu. Ihr Stübchen liegt zu ebner Erde, ich kann es
vorübergehend übersehen. Ich warf einen Blick hinein und sah mit Unmuth,
daß sie nicht allein war, Cäcilie war bei ihr. Als ich jedoch das junge
Mädchen erkannte, kam etwas wie Segen über mich, es wurde stille, ganz
stille in mir, jetzt wieder -- unerklärliche Wonne! --

Ich blieb stehen und sah hinein, hören konnte ich nichts, wollte auch
nicht, und gesehen konnte ich auch nicht werden. Es war Dämmerung und
Julchen lag auf dem Sopha von vielen Kissen unterstützt, vor ihr, mit
den Knien auf dem Estrich, Dielen sind für das Hospital Luxus, kniete das
bleiche Kind, und drückte abwechselnd bald die eine, bald die andere Hand
auf die Stirn der Kranken. Es war ein rührendes Bild. -- Nein Pauline,
ich bin gewiß nicht gottlos, sieh, als ich wieder zwischen den Gräbern
hinschritt, bat ich Mutter, Gott um den schönsten Segen für das stille
Kind anzuflehn, und dieser Wunsch kam aus tiefstem Herzen, ich muß also
glauben, trotz der vielen Wenns und Abers des Verstandes.

Es ist mir ein süßer Gedanke, Cäcilien unter den Schutz meiner Mutter
gestellt zu haben. --

Gute Nacht, Schwester; ich habe eben am Fenster gestanden und auf die
ruhende Welt hinabgeschaut, der Mond hält oben Wacht, es ist sehr schön
draußen. Mein Herz ist in wunderbarer Aufregung, nie habe ich mich so
ernstlich gefragt, ob ich Gott glaube, ob ich gottlos bin. Wie kam es, daß
diese Frage mein Inneres so in Aufruhr gebracht hat? Das Verstummen zweier
Menschen hats vermocht, zweier Menschen, die ich hochschätze. Wenn es
einen persönlichen Gott giebt, Pauline, dann muß er eine unausdenkbare
Größe sein. Denk Dir eine Macht, welche die Welt, die Natur in dieser
wunderbaren Ordnung erhält, denke diesen raffinirten Naturgesetzen nach,
denke Dir dazu eine Liebe, welche dies Alles erschaffen hat und erhält
für Geschöpfe, die ihn verneinen, verhöhnen; ist ein Gott, so ist mir
nicht bange, Gott wird und muß am größesten im Verzeihen sein. Es
ist ein wonnereicher Gedanke: Gott. Entweder beginnt nun für mich ein
besonders reiches Leben, oder ein sehr ödes, kaltes. Meine Seele ist nun
einmal von einem Verlangen erfaßt, diesmal kann es nur Gott befriedigen.

  _Justus._



  Den 3. September.

Die kleine Johanne ist an den Masern erkrankt, die Gäste haben das Schloß
verlassen, und ich treibe mich umher, denn das Bild der Gräfin ruht
natürlich, sie verläßt die Kleine nicht, um sich in Kostüm zu werfen
und mir zu sitzen. Der Graf ist vielbeschäftigt, unsere Unterhaltung bei
Tisch ist einsilbiger und dreht sich meist um die kleine Kranke. -- Ich
erwarte Deinen Brief mit Spannung, aber nicht mehr mit der fieberhaften
Unruhe wie Anfangs: ich weiß was ist, und fühle mich wohl dabei. --

Berga hat mir einen Gruß für Dich aufgetragen. Ida schalt sie dafür, sie
sollte nicht zudringlich sein. »Sie meint es ja ganz gut in ihrer Weise,
Ida,« sagte Cäcilie sanft, »es ist wirklich nichts Unrechtes dabei.«

Ida warf den Kopf sehr auf und erwiderte, Cäcilie scheine heute sehr
gnädig zu sein, gestern habe sie Berga über ein ganz unschuldig
hingeworfenes Wort eine lange Strafpredigt gehalten. Ich war gespannt,
zu erfahren, was das für ein Wort gewesen sein mochte und fragte
mein Pathchen. »Herr Jesus,« antwortete sie und senkte den Kopf ganz
beschämt. -- »Sie thuts nicht wieder,« versicherte Burga, »es thut ihr
selbst leid.« --

Cäcilie sprach kein Wort weiter darüber, ich dachte aber, was würde
Cäcilie sagen, wenn sie in meiner Seele lesen könnte. Später waren
wir im Garten und ich wurde fortwährend von der Versuchung gepeinigt,
Cäcilien zu fragen, was sie von mir denke, nur wartete ich auf eine
günstige Gelegenheit dazu. Endlich waren wir einmal mitten in einem
Laubengange allein und ich fragte mit dürren Worten: »liebes Pathchen,
bin ich ein guter Mensch?«

»Ich bin Ihre Pathin nicht,« erwiederte das junge Mädchen sehr ernst,
»ich war weder Zeugin Ihrer Taufe noch -- fügte sie leise hinzu -- Ihrer
Wiedergeburt.«

Ist das nicht streng von solchem kleinen Mädchen von siebzehn Jahren, das
so sanfte Züge hat? -- es kränkte mich auch etwas, aber es verdroß mich
nicht.

»So wiederhole ich denn Fräulein Bernwacht meine Frage,« sagte ich ganz
treuherzig, und war begierig ihre Antwort zu vernehmen.

»Ich halte Sie für warmherzig,« sagte sie. »Genügt das?« fragte ich.
Sie schüttelte mit dem Kopfe und Ida rauschte heran; ich hätte gern mehr
gehört. --


  Den 10. September.

Dank für Deinen Brief, liebe Schwester. Es ist doch schön um sichere
Liebe, wie die der Geschwister; Gott sei Dank, daß ich Dich habe. Ja, Gott
sei Dank, Du weißt, ich kenne ihn nun. Du hast nie daran gezweifelt, mein
Leben habe es bewiesen, daß ich ihm nicht fern sei, ich hätte ihn
nur durch die dichten Schleier der Selbstüberschätzung, des geistigen
Hochmuths gesehn. Kind, welche Worte! -- Indessen, es ist etwas Wahres
daran, und die Schüchternheit, mit der Du diese harten Behauptungen
aufstellst, und die Freudigkeit, mit welcher Du mich auch ein Gotteskind
nennst, zeigen Deine eigne Demuth und Liebe hinreichend, um mich vor
Bitterkeit zu bewahren.

Da steht weiter: »Aber Du bist kein Christ, Gott führe Dich zu den
Füßen des Heilands, der uns Allen zur Erlösung gegeben ist, und er wird
es thun, ich fühle es mit köstlicher Bestimmtheit. Wenn Du auf meine
tiefsten Herzenswünsche etwas giebst, so lies das neue Testament und suche
die Unterhaltung gläubiger Menschen. Thu es nur zur Probe, wenn Du Deiner
Sache augenblicklich ganz gewiß bist nichts weiter zu Deinem Heile zu
bedürfen, als Deine jetzige Erkenntniß.«

Dein Rath soll befolgt werden. Aber verlange nicht, daß ich aus Respect
vor Euren vermeintlich unantastbaren Wahrheiten verstummen soll. Ist Eure
Religion die beste, so muß sie Widerspruch vertragen können, und ihre
Priester und Priesterinnen dürfen über ein freies Wort nicht gleich den
Stab brechen, oder über den Andersdenkenden den Bann verhängen. --

Mit wahrer Herzenserleichterung habe ich wahrgenommen, daß der Graf
und seine Gemahlin mir nicht ihre Achtung entzogen haben. Wir verkehren
ähnlich wie früher, nun Johanne wieder genesen ist und die Kleine besucht
mich auch wieder. Durch diesen Zwischenact ist dennoch unser Verhältniß
anders geworden, ich fühle etwas wie Mitleid aus der Art und Weise heraus,
wie sich die hohe Frau gegen mich benimmt, und des Grafen Umgehung alles
dessen, was sich auf Religion bezieht, ist es nicht Schonung? -- oder will
er die Perlen nicht in den Bereich des Unreinen werfen? Ich glaube Besseres
und verehre Beide um Vieles inniger noch, als zuvor. Oft wünsche ich,
sie möchten sprechen, und ich würde ihnen dann sagen, wie es nun mit mir
steht. -- Freilich würde es ihnen nicht genügen, aber sie doch vielleicht
erfreuen.

Lebe wohl, liebes Kind, und schreibe bald wieder Deinem Bruder

  _Justus_.



  Den 20. September.

Gestern Abend bin ich bei Julchen Hermann gewesen und habe eine lange
Unterredung mit ihr gehabt. Sie ist das, was Du eine echte Christin nennen
würdest, liebreich, dienstfertig, freudig, genügsam, Alles »um des Herrn
willen,« wie es auf ihrer heitern Stirn und in den großen grauen Augen
klar steht. Ein religiöses Gespräch mit ihr anzuknüpfen, bedarf weiter
keines Vorbedachtes, man kann nur nach einem Warum ihres Thuns fragen und
man hat, was man will. Die Seligkeit, ihre und anderer Menschen, ist ihr
Hauptgedanke, und sie ist der eignen so sicher, daß sie sich unter den
Gräbern ringsum, und in der Gesellschaft eines Dutzend alter, einfältiger
Weiber sogar schon wie im Vorhofe des Himmels fühlt. Ihre Sicherheit
reizte mich mehr, als Du Dir vielleicht denken kannst, und ich ließ mich
von meiner Heftigkeit zu Entgegnungen hinreißen, deren ich mich bei kaltem
Blute schäme. »Toben Sie nur,« sagte sie ganz siegesgewiß und mit
dem gütigsten Lächeln, »dieser Eifer ist mir ganz angenehm, er ist
das Geschrei des angegriffenen alten Menschen, der alte Adam fürchtet
überwunden zu werden.«

»Ich bitte Sie, bestes Julchen,« rief ich anmuthig, »verschonen Sie mich
mit diesen abgeschmackten, Ihrer ganz unwürdigen Redensarten, -- alter
Adam!«

»Fleischeswille, wenn Sie das lieber hören,« erwiederte sie ganz
gelassen.

»Was will denn mein Fleisch?« fragte ich lachend.

»Herrschen, das Sinnliche, die Erde mit ihren Freuden zum Abgott machen.«

»Ich denke nicht daran,« betheuerte ich.

»Sie thaten es aber, und thun es noch,« beharrte sie. --

Ich bat sie, mich dieser Anschuldigung zu überführen, allein sie meinte,
es sei wohl besser, ich thäte das selbst, sie verstehe vom Disputiren
wenig. Sie wisse das aber ganz gewiß, daß sie ohne Christus nicht
bestehen könne, daß sie nur an seiner Hand auf Erden wandeln und im
Himmel selig sein könne. Auf meine Aeußerung solche Ansichten seien
Schwärmerei, schüttelte sie den Kopf und fragte mich, ob ich denn allen
Ernstes glaube, den Himmel verdient zu haben? -- »Verdient,« sagte ich
ihr, »zwar gerade nicht, aber für wen er denn sein solle, wenn nicht für
Menschen, die ein richtiges Leben geführt hätten, ich sei kein Grausamer,
kein Lüstling u. s. w.«

»Sie meinen, Sie haben die Gebote gehalten?« fragte sie.

»Gewiß,« behauptete ich. --

Es erfolgte eine lange Pause, dann sagte sie: »In diesem Falle haben Sie
den Himmel verdient; ich kann das von mir nicht sagen, ich habe keines der
Gebote gehalten.«

Ihr Ton war bei diesem demüthigen Bekenntniß ganz ruhig, ich fühlte, sie
sprach ihres Herzens Meinung aus. Desto größer war mein Staunen. Julchen
Hermann gilt allgemein als eins der vortrefflichsten Wesen, unsere Mutter
war ihre Freundin, ihr ganzes langes Leben wird musterhaft genannt und
sie sagt, sie habe alle Gebote übertreten. Ich dachte an das fünfte, das
sechste, das siebente. »Das ist Selbstverblendung,« rief ich, »die ganze
Stadt würde Ihnen widersprechen!«

»Das ist Selbsterkenntniß,« entgegnete sie, »was weiß die Stadt von
meiner Herzensgeschichte, und das Herz ist der Heerd, der stille, heimliche
Heerd der geschehenen und ungeschehenen nur gewollten Thaten, die vor Gott
alle gleich sind. Das Wort »Du sollst nicht begehren« steht in gleicher
Reihe mit dem »Du sollst nicht fluchen, stehlen« u. s. w. Was die Stadt
nicht weiß, soll Ihrer Mutter Sohn erfahren, und so hören Sie denn etwas
aus dem Leben einer alten, unbescholtenen Jungfrau, und sehen Sie hinein
wie in einen Spiegel, lieber Justus.« --

Die Erzählung, welche ich Dir gewiß mittheilen darf, da Du meiner Mutter
Tochter bist, hat einen nachhaltigen Eindruck auf mich gemacht. Es wird mir
nicht schwer werden, sie Dir ziemlich getreu mit Julchens eigenen Worten zu
überliefern, das Ganze ist mir lebendig gegenwärtig.


Aus Julchen Hermanns Leben.

»So weit ich zurückdenken kann, ist es unverdiente Liebe, welche mich
gepflegt, gehütet und geführt hat. Meine Mutter haben Sie gekannt, sie
war einzig in ihrer Art, ich könnte stundenlang von ihren Eigenschaften
reden, und hätte sie doch nicht vollständig geschildert. In ihren
frühern Jahren war sie sehr lebendig und hat sich ihre geistige Frische
auch bis ins höchste Alter erhalten, Sie müssen sich noch erinnern
können, wie eindringlich all ihre Worte und wie ausdrucksvoll ihr
Mienenspiel und all ihre Bewegungen waren. Mutters Worte hatten stets die
größte Gewalt über mich. -- Mein lieber Vater war Geschäftsmann und
hatte für meines Bruders und meine Erziehung nur wenig Zeit übrig, Mutter
nahm uns also ganz unter ihre Leitung, und so war ich denn schon früh so
glücklich das Gute in seiner Schönheit kennen, es lieben zu lernen, von
Kind an war ich unsers himmlischen Schöpfers und seines Sohnes Eigenthum,
das er vor tausend Gefahren von seinen Engeln bewachen ließ. Aber trotz
dieser Leitung, trotz dieses Schutzes, trotz meiner Liebe zu dem Heiligen,
habe ich oft tiefes Leid über meine Sündhaftigkeit tragen müssen, sie
steckt zu tief, glauben Sie, wir werden ihrer erst ledig, wenn die Hülle
zerbricht.«

»Als mein Vater starb, der nur ein geringes Vermögen hinterließ, war
mein Bruder auf dem Gymnasium, und ich ein Mädchen von sechszehn Jahren.
Mein Bruder Leopold war sehr befähigt und Mutter und ich wünschten
beide sehr, er möchte Theologie studiren, kein Opfer, welches wir uns zur
Förderung dieses Zweckes auferlegten, schien uns zu schwer, wir entbehrten
mit Freudigkeit und freuten uns über jede neue Bestellung an Näh- und
Stickarbeiten, deren Ertrag für den Bruder zurückgelegt wurde. Leopold
kam wirklich zur Universität und erleichterte Mutter den kostspieligen
Unterhalt durch Stundengeben, so daß vorauszusehen war, es werde Alles gut
gehen. Daß wir's an Bitten bei der rechten Behörde nicht fehlen ließen,
können Sie sich denken -- aber Leopold irrte ab. Er trieb es sehr, sehr
schlimm, mit der Theologie war es aus, er kam zu Haus und es sollte nun
überlegt werden, was nun aus ihm werden könne. Ehe er ankam, war ich in
der vortrefflichsten Stimmung, es war nicht schwer, neben der Mutter das
Rechte zu finden: ich hatte nicht zu richten, sondern nur zu beten und zu
bitten, auch konnte ich meinem lieben Herrn beweisen, bis zu welchem Grade
von Sanftmuth ich es gebracht hatte, ich wollte mit schwesterlicher
Liebe den zu halten suchen, der unbrüderlich den Lohn meines anhaltenden
Fleißes verpraßt hatte, nur Lächeln anstatt Thränen zeigen.«

»Alles gelang, bis Leopold auch in seiner Heimath das schreckliche Leben
wieder begann, und die traurigsten Excesse unter unsern Augen verübte,
obgleich Mutter alles Mögliche, was seine Verblendung zerstören konnte,
anwendete, obgleich ich, nach meiner Meinung, mit der überzeugendsten
Klarheit auseinandersetzte, daß der von ihm eingeschlagene Weg einzig
in den Abgrund bodenloser Verderbtheit und Unheiles führen müsse. Er
_wollte_ also nicht! Nun war es aus mit meiner großen, schönen Liebe, mit
meiner Sanftmuth, da glaubte ich entschieden die Grenze zwischen ihm und
mir gezogen, ich wendete mich kalt von ihm ab und betrachtete ihn mit dem
Blicke der Verachtung. Mein Herz litt unsäglich dabei, aber ich
hüllte mich in ein stolzes Schweigen, den Bruder vermeidend, die Mutter
auffordernd, ihn zu lassen, wie ich es gethan, in mir den Ersatz zu suchen.
Ja, ich wagte das Unglaubliche, ich war so stolz in meiner Tugend, die mich
so hoch über den Bruder stellte -- aber Mutter hatte keine Antwort dafür,
sie sah mich nur an, stumm und verwundert, schmerzlich befremdet.« --

»Am Abende dieses Tages brachten Jünglinge den Leichnam meines Bruders,
aber Gott sei gepriesen! er hatte sich nicht selbst entleibt, wie es
mir bei dem ersten Anblicke qualvoll durch die Seele fuhr, er war
verunglückt.« --

Julchen schwieg einige Augenblicke, aber bald gefaßt, fuhr sie fort:

»Ist es gewiß, daß mein abstoßendes Wesen nicht Ursach war, daß mein
Bruder gerade an diesem Tage das Haus verließ, draußen umherirrte? --
Hatte ich nicht jedenfalls Mutters Liebe von dem Unglücklichen zu reißen
gesucht, hatte ich nicht Uebels von ihm geredet, während ich »ihn
entschuldigen sollte und Alles zum Besten kehren!« --

»Meiner Mutter Haupt richtete sich früher empor als das meinige, sie
hatte ein gutes Gewissen. Aber sie tröstete mich mit liebevollen Worten,
erinnerte mich an Gottes Weisheit und Güte, die Alles voraussieht, immer
wacht, gern verzeiht, und hob mein, in der Seelenqual gesunkenes Vertrauen
zu dem, der das zerbrochene Rohr nicht knickt und den glimmenden Docht
nicht auslöscht. Durch Gottes und ihre Hülfe wurde ich wieder ruhiger,
ich drückte die Hände meiner Freundinnen wieder wärmer, als in der Zeit
des Elends. Viel Worte des Lobes und der Bewunderung wurden in jener Zeit
über mich gesprochen, die öffentliche Meinung überschreitet leicht das
Maaß, im Tadel wie im Lobe, man hinterbrachte sie mir, mich zu erfreuen,
aber ich verbarg mich schamroth vor den kurzsichtigen Beobachtern. Die
freundliche Aufnahme und Vertheidigung, die Leopold Anfangs bei mir
gefunden hatte, dokumentirten aufs Neue mein vortreffliches Herz, meine
spätere Kälte war untrüglicher Beweis meiner reinen Tugendhaftigkeit,
die mit dem Unreinen durchaus keine Gemeinschaft haben könne, und dann,
mein unverkennbar tiefer Schmerz nach Leopolds Tode -- wie rührend
erschien er der Welt, mit welcher Zartheit begegnete man mir seinetwegen!«

»Jahre verstrichen, ich war zwei und zwanzig Jahre alt geworden, und Gott
hatte mir ein Glück geschenkt, das in seinem Umfange vorher nicht zu ahnen
ist: ich meine die Liebe eines Freundes, in dessen Gemeinschaft uns die
Welt verschwindet, wir uns nur selig vor dem Herrn aller Liebe fühlen.
Mein Freund war unendlich mehr als ich, aber ich verstand ihn. Ich staunte
über den Reichthum des innerlichen Lebens, den er mir erst zugänglich
gemacht hatte; er war der Engel der mir lächelnd unser seliges Endziel und
alle Hindernisse auf dem Wege dahin im Lichte der überwindenden Kraft
der Gnade zeigte. Ich bin jetzt ein altes Mädchen, aber wenn ich von ihm
spreche, so verkörpere ich nur ein freudiges Hallen der ihn feiernden
Seele; ich liebe ihn noch, und freue mich ihm entgegen, aber staunen Sie,
Niemand weiß es: ich wurde ihm ungetreu.«

»Gott nahm ihn mir früh, ich sah ihn begraben; aber an seinem Grabe
sprach ich das Gelübde aus, einsam meinen Weg zu wandeln; Keiner sollte
so Theil an mir haben, wie er, Niemand so meine Theilnahme, mein Vertrauen,
meine Freundschaft besitzen; er sollte mein Leitstern bleiben, bis wir
wieder bei Gott vereint sein würden.«

»In diesem Gelübde fand ich neue Kraft, ich hatte die Süßigkeit
der innigsten Gemeinschaft zweier Herzen kennen gelernt und wollte, das
vielleicht lange Leben hindurch, darauf verzichten; wollte mich mit der
sekundairen, laueren Freundschaft derer begnügen, die mein Herz nur
oberflächlich kannten, und in andern Verbindungen größere Befriedigung
fanden.«

»Meine Sehnsucht und Trauer war groß, ich habe Jahre lang viel gelitten,
mehr als ein Christenherz um einen Heimgegangenen leiden sollte. Endlich
erhob ich mich, mit Gottes Hülfe, zu größerer Klarheit, ich empfand
wieder Freude bei seinem Andenken, ich freute mich in seinem Sinne handeln
zu können, richtete meine Blicke und mein Herz wieder fester zu den
Höhen, von wannen die Hülfe kommt. -- Da starb Mutter und ich war ganz
verwaist. Es ist sehr schwer allein zu stehn, wenn man ein warmes Herz
hat. Es fehlt freilich nie an Gelegenheiten zum Gutesthun, aber unsere
Liebesthaten werden da unendlich wohlthätiger wirken, wo die Liebe sie
empfängt; man will auch nicht verschwenden, weil man weiß, wie glücklich
Liebe machen kann. Fühlen Sie, wie es kam, daß die welche als ein Muster
felsenfester Treue galt, allmählig die Wünsche hegte, mit ihrem tiefsten
Seyn, sich an ein anderes lebendes Wesen zu schließen, fühlen Sie aber
auch die Kämpfe, Selbstanklagen und welches Verzagen diese arme Seele
erschütterten? Der geistige Bund, die geistige Ehe, wenn Sie wollen, war
entweihet, auf welche Tugend durfte ich noch bauen, wenn nicht auf diese
Treue, auf mein freiwilliges Gelübde der feurigsten dankerfülltesten
Liebe? -- Auf keine Tugend, keine Kraft war zu rechnen, in mir war kein
Halt.«

»Was giebt mir nun den Muth mich dem Himmel und meinem Freunde dennoch
entgegen zu freuen?« fuhr die Erzählerin fort, »ich will es Ihnen
sagen. Kennen Sie noch Worte wie diese: »Kommet her zu mir Alle, die ihr
mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Nehmet auf euch
mein Joch und lernet von mir, denn ich bin sanftmüthig und von Herzen
demüthig, so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen, und saget den
verzagten Herzen, seid getrost, fürchtet euch nicht; ich bin der Herr dein
Arzt; selig ist der Mann, der die Anfechtung erduldet -- wendet euch zu
mir, so werdet ihr selig -- die Liebe decket der Sünden Menge -- verlasset
euch auf den Herrn ewiglich -- durch Stillesein und Hoffen würdet ihr
stark sein!«

»Jetzt bin ich stark im Glauben, ich bin auch selig in Liebe und
Hoffnung.«

Das treffliche Mädchen schwieg und sah mich mit den leuchtenden Augen
ihrer Mutter an. Ich küßte ihre Hand.

»Haben Sie wirklich alle Gebote gehalten?« fragte sie.

»Nein,« entgegnete ich. Sie drückte mir die Hand, und ich verließ sie
voller bewegten Herzens. --

Wenn ich einmal verheirathet sein werde, dann will ich Julchen Hermann für
mein Haus zu gewinnen suchen, da soll sie noch viel Liebe finden. Meine
Frau soll die Geschichte erfahren, und wenn sie sie jetzt nicht etwa schon
liebt -- man kann's ja nicht wissen -- dann wird sie's nachher sicher.
Julchen wird dieser Frau eine sehr kräftige Stütze werden, ich nenne sie
freilich immer alt, deshalb ist sie aber noch nicht gebrechlich, und hat
sie auch einmal Migräne, so legt meine Frau die Hände auf sie und Alles
ist gut. --

Gott segne alle guten Menschen, Dich auch recht sehr, liebe Pauline!
Schreibe bald wieder.

  _Justus._



  Den 13. October.

Kleines Mädchen, ich fühle mich sehr behaglich auf Gottes schöner
Welt, und er hat mir einen netten Platz und entsprechende Arbeit darauf
angewiesen. Der liebe, großmüthige Herr Gott hat mich ohne Zweifel
wirklich recht lieb, sonst könnte er mir nicht so viele gute Menschen in
den Weg schicken und mein Herz so fröhlich machen.

Sonntags kam ich aus der Kirche, -- ich schäme mich dieses Ganges
keineswegs, ich fühle mich darin ganz behaglich, ganz zu Hause, ich habe
gesungen wie die Andern: Befiehl du deine Wege u. s. w. -- also ich kam aus
der Kirche, und stehe mit der kleinen Johanne, die ihrer Bonne weg- und mir
entgegen gelaufen ist, und plaudere ganz freundschaftlich, als »Grafs«
kamen. Der liebe Engel grüßte, bevor ich meinen Hut herunter hatte, wie
Maienlicht und steuerte auf uns los.

»Wissen Sie, lieber Herr Brand, was wir in dieser Woche für ein Fest
feiern?« frägt sie. Ich wußte von nichts. »Königs Geburtstag, am
15.,« fuhr sie fort, »und ich führe zur Verherrlichung des Tages etwas
im Schilde gegen Sie.« -- Ich stellte mich ihr mit allen meinen Kräften
zur Disposition.

»Eigentlich muthet Ihnen meine Frau ein starkes Stück zu,« bemerkte der
Graf, »aber sie hat ein merkwürdiges Vertrauen zu Ihnen.«

Ich fühlte mich erröthen und sah die edle Dame dankbar an; sie lächelte
und sagte: »O ja, sein Sie dessen ganz gewiß, was ich aber wünsche, ist
gerade nichts Gewaltiges, es handelt sich nur um ein Paar Transparente
zum Festtage, nicht wahr, Sie machen sie gerne? wir wollen recht schön am
Abende illuminiren.«

Sie war dabei so erwartungsfroh wie ein Kind und ich versprach natürlich
mein Möglichstes dabei zu thun. Da stehn sie nun, 3 Rahmen, mit dem
königlichen Namenszuge, Adler, Laubwerk u. s. w., ich habe sie vorhin
probirt, es ist eine wahre Pracht! -- Hast Du wohl beachtet: sie hat
merkwürdiges Vertrauen zu mir!

Uebermorgen Abend also glänzende Illumination, und in der Stadt Ball. Zu
drei Tänzen habe ich bereits engagirt, Theresen zur Polonaise und Ida zum
ersten Walzer und Cottillon. Cäcilie will nicht hingehen, sie wird Burga's
und Berga's Kameradschaften mit Kuchen und =blanc manger= tractiren --
Jeder nach seinem Geschmack! -- Nach dem großen Tage mehr.


  Am 16. October.

Was steckt doch alles in einem und demselben Menschen; ich z. B. bin
überraschend vielseitig, es kommt nur darauf an, mich dahin zu stellen,
wo etwas fehlt, und man erlebt Staunenswerthes! -- Die Tage waren köstlich
und ich werde Dir alles getreulich berichten, es ist ein Vergnügen noch
einmal Alles durchzunehmen.

Die Transparente waren also zur rechten Zeit fertig und ich glaubte bei
den übrigen Vorbereitungen den Zuschauer abgeben zu können, aber weit
gefehlt!

Schon am frühen Morgen des 14. begann ein allseitiges Rumoren, die ganze
Dienerschaft lief durcheinander, schleppte hierhin und dorthin, schrie und
frohlockte, als sei es heute Pflicht und Schuldigkeit Menschen, welche
von der Natur mit zarten Gehörnerven versehen sind, zur Verzweiflung zu
bringen. Wie die Gräfin dies aushält, dachte ich, wo sie wohl steckt,
während dieses Lärmens. -- Der Tag war einzig schön, ich öffnete das
Fenster, setzte mich daran und begann zu malen. Es ging aber nicht, trotz
des besten Willens, so beschloß ich Toilette zu machen und mir den
Wirwarr draußen in der Nähe zu besehn, vielleicht daß ich ihm dann
mehr Geschmack abgewönne. Aber zum ersten Male sah ich mich hier
vernachlässigt, der Toilettentisch entbehrte des Nothwendigsten, wer denkt
an den Maler im Dachstübchen, wenn Königs Geburtstag ist! Ich machte mich
jedoch bemerklich und klingelte, einmal, und noch einmal, und als das
nicht half, lief ich an die Wendeltreppe, und schrie um durchzudringen
mit einigem Kraftaufwande erst nach dem Bedienten und dann ganz energisch
»Waschwasser!« Leichte Schritte wurden in einem benachbarten Zimmer
hörbar, sie entfernten sich, und nichts erfolgte. Nun galt es Geduld zu
üben und mit Ergebung abzuwarten, was geschehen würde.

Es dauerte nicht lange und das Zöfchen erschien, nach meinen Befehlen
fragend, Frau Gräfin schicke sie. »Frisches Wasser, liebes Kind,« gab
ich ganz bescheiden zur Antwort. Also ihre Erlaucht hatte ich vorhin mit
meinem Befehle beehrt!

Nach einer Viertelstunde stand ich im Eßsaale, wo aber ein großes Malheur
passirt war. Ein ungeschickter Bedienter hatte einen Wandleuchter an Ort
und Stelle bringen wollen, sich statt einer Treppe einer Leiter bedient,
war damit auf dem geglätteten Fußboden ausgeglitten, niedergefallen, und
dabei, um die Sache nicht allein abzumachen, hatte er einen in der Nähe
stehenden großen Gypsengel bei einem Flügel ergriffen und ihn glücklich
mit zu Falle gebracht. Mit Mienen stummer Verzweiflung umgab das fast
vollständig gegenwärtige Dienstpersonal die jämmerliche Gestalt
des schwerverletzten Schutzengels, der Sünder selbst stand da, mit
leichenblassem Gesichte. Auch die Gräfin besichtigte den Schaden und
befahl dann die Figur aus dem Saale zu schaffen, als ich bat die Sache
etwas genauer untersuchen zu dürfen. Nun stellte es sich heraus, daß
die Zierde des Saales noch zu retten war, zwar mußte der rechte Flügel
dreimal gekittet und eine starke Schramme auf der Stirn ausgefüllt werden,
aber das war auch das Schwierigste, die andern Defecte waren höchst
unbedeutend. Die Gräfin schüttelte anfangs den Kopf zu meinem Entschlusse
die Operation zu übernehmen, und meinte ein geflicktes Kunstwerk sei keine
Zierde mehr, als ich jedoch erklärte es nicht übel nehmen zu wollen,
wenn man den Geheilten verwerfen würde, und betheuerte ich würde nur sehr
ungern von der Arbeit abstehen, gab sie lächelnd ihre Einwilligung. --
Der Engel genaß vollkommen, jede Narbe verschwand unter einer angemessenen
Dosis Marmormehl und am 15. Morgens war ihm von seinem =salto mortale=
nichts mehr anzusehen. Ob nun zum Lohn für diese Kur oder nicht, das kann
ich nicht entscheiden, genug, ich wurde eingeladen mit der Herrschaft gegen
Abend durch den Park zu fahren, es war ein Genuß, in dieser Gesellschaft
und unter den alten prächtigen Bäumen hin, die indessen schon bedeutend
gelichtet sind und die reichste Schattirung zwischen Grün, Gold und Purpur
bilden. Mehrere dieser Alleen sollten auch illuminirt werden, nur bedauerte
die Gräfin, daß man nicht bei Zeiten daran gedacht habe, die Wege vom
hochdaraufliegenden Laube säubern zu lassen, es sähe schlecht aus, und
lasse sich auch nicht schön darin gehen und sie spaziere doch so gerne
bei solchen Gelegenheiten in diesen Gängen, wo sie so viele freundliche
Gesichter zu sehen bekomme. Der Graf bedauerte es ebenfalls, konnte aber
nur versprechen die dem Schlosse zunächst liegenden Wege sauber herstellen
zu lassen, seine Leute hätten schon reichliche Beschäftigung.

Ganz bescheiden wagte ich es mich ein wenig in die Sache zu mischen und
fragte, ob die armen Leute in der Stadt wohl nicht gern das Laub wegholen
würden, wenn sie nur die Erlaubniß dazu bekämen. »Gern,« erwiederte
der Graf, »aber bei solchen Gelegenheiten kennen die Leute nicht Maß noch
Ziel. Würde ich die Erlaubniß zu morgen früh ertheilen, so könnte
man sicher darauf rechnen, daß noch Mittags, wenn die Gäste kommen, der
Schloßberg mit den Laubharkern besetzt ist, und da weiß ich doch nicht
was vorzuziehen ist, besonders wenn ich bedenke, daß das Wild durch die
Kinder auf mehrere Tage in den Hintergrund des Parkes gescheucht werden
wird, wer kann solche verschiedenartigen, zahlreichen Arbeiten hüten?«

Mir fuhr ein komischer Gedanke durch den Kopf. »Ich will's thun,
Erlaucht,« sagte ich, »es wird mir ein Vergnügen sein.«

»Ebenso wie mit der Natur?« fragte die Gräfin.

»Ja,« antwortete ich, »gestatten Sie nur daß mir ein bespannter Wagen
und eine Menge Säcke zur Verfügung gestellt werden, das Andere werde ich
mit Vergnügen besorgen.« -- Der Graf fand das zwar unmöglich anzunehmen,
aber seine liebe Frau bewies ihm die Möglichkeit ganz einfach.

»Laß dem Herrn nur den Willen,« sagte sie schließlich, »Du hörst
wohl, er thut so etwas gern, es ist gewiß wahr, da er es zweimal
betheuert, und warum auch nicht? ich kann mir das Geschäft auch ganz nett
denken.« -- Erlaucht war überwunden.

Gleich nach der Abendtafel eilte ich in die Stadt, mein Plan war schon
fix und fertig. Der Bürgermeister sollte eine Anzahl Personen nennen,
mit denen etwas aufzustellen war, diese sollten für die Frühstunden des
nächsten Tages zum Laubharken geworben werden, und für die Arbeit bekamen
sie das Laub bis vor die Thüre gefahren. Bernwacht war im Familienzimmer,
dort wurde die Geschichte also verhandelt. »Giebts denn schon was?«
fragte Frau Bernwacht ganz erstaunt, wir haben ja noch gar keinen Frost
gehabt.

»Aber Kastanien Mama, bedenke Kastanien, die schon ganz kahl sind,«
belehrte Berga, »und wie viel ist noch vom vorigen Jahre! Burga und ich
wir gehen in der langen Allee manchmal zum Spaß durch das allertiefste
Laub, und dann raschelt es sehr, Du solltest mal hören.« Für ihre
Vertheidigung der Wichtigkeit meiner Angelegenheit beanspruchte sie für
sich und Burga die Erlaubniß mit zu harken, sie könnten das Laub herrlich
für ihre Kaninchen zum Einstreuen gebrauchen. Ida meinte: so eine Gräfin
ist doch allmächtig, sie darf nur einen Wunsch äußern und man eilt
ihn auszuführen und sollte man auch die merkwürdigsten Metamorphosen
durchmachen.

»Sanfte, liebenswürdige Damen,« entgegnete ich, »haben über jedes
Männerherz zu gebieten.«

»Das ist ja schrecklich,« spottete sie, »da hat ja keine Braut und
Frau das Herz ihres Mannes für sich allein; fürchtest Du Dich nicht,
Therese?«

»Nicht im Geringsten,« erwiederte diese lachend, »ich werde mich
bemühen Theodor als die sanfteste und liebenswürdigste Frau zu
erscheinen, dann bin ich, nach eines Kenners Aussage, seiner größten
Liebe gewiß.«

»Sehr edel von Dir, dennoch theilen zu wollen,« sagte Ida pathetisch
und hob den Kopf gewaltig, »ich meinerseits verlange entweder Alles oder
Nichts.«

An solchen Scherzen betheiligt sich Cäcilie nie. Sie sitzt dann ganz ruhig
und strickt oder näht, oder zeichnet Muster, aber sie sieht oft aus, als
verstände sie von dem, was um sie her vorgeht, nichts, als seien ihre
Gedanken weit, weit weg. Ich möchte wohl wissen, wie es in einem Kopfe und
Herzen wie dem dieses kleinen Mädchens aussieht.

Am andern Morgen ertheilte ich meine Befehle als Laubkommissarius, wie
Burga mich betitelte, und gegen zehn Uhr waren die Wege in schönster
Ordnung, geharkt und gefegt, und als die Gäste durch den Thiergarten
fuhren, war kein einziger Barfüßer mehr zu sehn. -- Um drei Uhr war
großes Diner, es dauerte mehrere Stunden, und ich habe mich unter dem
fremden hohen Adel weder gelangweilt noch gekränkt gefühlt, freilich war
das auch nicht zu befürchten, da die Gäste, außer einigen Herren aus
der Stadt, aus Freunden unserer gräflichen Familie bestanden, die ihnen
natürlich geistesverwandt sein müssen. Einige Unruhe fühlte ich gegen
Ende der langen Sitzung dennoch, ich dachte an das, was noch kommen sollte,
besonders an den Ball auf dem Rathhause; endlich erhob man sich, ich war
frei, und wollte eben aus der Thür schlüpfen, als ich den Blicken der
Gräfin begegnete. Sie winkte. »Sie gehen zu Ball,« sprach sie huldreich,
»und sprechen vorher bei Bernwachts ein, wollen Sie den Kindern nicht
etwas Confect mitnehmen? Sie werden sich sehr dadurch insinuiren.« --
Ich ließ mir das nicht zweimal sagen, füllte einen Teller mit feinen
Süßigkeiten an, nahm ihn ungenirt nach außen, schlug dort die ganze
Bescherung in einen Bogen weißen Papiers und steckte das ansehnliche
Paquet in die Rocktasche. Nun gings in Sätzen den Schloßberg hinunter
-- an der Toilette war nichts mehr zu ändern -- dem bürgermeisterlichen
Hause zu. Man war natürlich noch nicht fort, denn der Papa mußte erst
kommen, und der war bei meinem Abgange noch in ein Gespräch mit dem
Landrathe vertieft, auch wollte man erst die Illumination sehen, denn bei
dem schönen Wetter drohte dem Putze keine Gefahr, man hatte es früher
auch schon gethan, und war ganz entschlossen. Ida in rosa Flor sah
entzückend aus, sie hatte weiße Rosen im Haar und Perlen um Hals und Arme
geschlungen. Als sie mir entgegen kam, blieb ich wie geblendet stehen,
und hielt die Hand über die Augen. Sie lachte anmuthig und sagte: »Nicht
wahr, ich bin wundervoll?« -- »Wundervoll!« echote ich. »Süperb?«
-- »Süperb!« Lachend gab sie Theresen die Hand und länderte durch das
Zimmer. Sie kam mir reizender vor als je. Therese war weiß gekleidet; sie
wäre vielleicht ebenso gern zu Hause geblieben, ihr Bräutigam war nicht
da. -- Cäcilie kam mit einem Schlüsselbunde zum Vorschein und trug
mächtige Körbe mit Aepfeln und Wallnüssen, das erinnerte mich an meine
gespickte Tasche, und Burga und Berga empfingen überglücklich die Sendung
der Gräfin. Darauf kam die Nachricht: die Erleuchtung sei im Gange, der
Papa brachte sie selber, ich half den Damen sich einzuhüllen und nun
gingen wir Alle dem Thiergarten zu.

»Papa und Mama müssen unsere Lootsen sein,« meinte Berga.

»Ja,« wiederholte die Andere, »es ist gewiß« -- »Schweig!« gebot
Ida, »wir wissen allemal im Voraus, was die Zweite von Euch zu sagen hat,
macht nicht so viel unnütze Worte.« --

Die Kleinen hüpften zu Cäcilien, hakten unter und somit war ich auf
die beiden Balldamen angewiesen, die denn auch geruhten mich zum Führer
anzunehmen. --

Oft habe ich Illuminationen gesehn, die diese einfache bei weitem
überstrahlten, aber keine erschien mir so lieblich, kindlich möchte
ich sagen, wie diese, und keine habe ich in so angenehmer Gesellschaft
betrachtet. In den schönen Alleen wogte es nur so von Menschen, und alle
waren mehr oder weniger von dem schönen Schauspiele entzückt. So schön
war es noch nie gewesen, das hörten wir wenigstens zehnmal.

»Das sagen sie alle Jahre,« bemerkte Ida.

»Nein,« widersprach eine der naseweisen Kleinen; »Cäcilie sagt es
selbst, so lieb ist es nie gewesen.« -- Ich sah mich nach dem Dreiblatt
um. »Es ist heut Abend wunderschön,« lächelte das kleine blasse, süße
Gesicht. -- »Ich denke lieb?« fragte ich. -- »Ja, recht lieb.« --

Nun wurden die Transparente sichtbar, und ich erntete indirect
überreichlichen Lohn für meine kleine, gern übernommene Mühe. Es war
an der Stelle, von welcher man sie am besten sehen konnte, ein förmliches
Gedränge. Ida wurde sehr unwillig, ihr Anzug verdürbe auf diese Weise
ganz, sie müsse nur allein gehen und auszuweichen suchen; ich verbeugte
mich und ließ sie gehen. Bald darauf sah sich auch Cäcilie treulos
verlassen, die kleinen Schwestern waren zur Mutter gestürmt, um ihr etwas
Nothwendiges über die Eindrücke zu sagen, welche dies Alles auf sie
hervorgebracht hatte, sie stand ganz allein da und vertiefte ihre Augen
in die Tausende von Sternen, die sich mit einem Male auf den schönen Wald
niedergelassen hatten. »Wir müssen die junge Dame nur unter unsern Schutz
nehmen,« flüsterte ich Theresen zu, und bot Cäcilien meinen Arm an, aber
-- sie dankte! Sie dankte recht sehr, ich möchte es aber -- aber nicht
übel nehmen. --

Ich nahm's ihr dennoch übel. --

Nach einer guten halben Stunde eröffnete Ida an der Seite eines jungen
Militairs den Ball, und man tanzte, tanzte und tanzte, das ist die
Geschichte des Balles. Aber außerhalb des Balles trug sich an diesem
Abende noch Etwas zu. Von Bedeutung? magst du fragen -- je nun, ich meine
fast. Sieh, als ich die beiden Schwestern durch den Saal schweben sah, --
sie sind Beide _sehr_ graciös -- fiel mir plötzlich Cäcilie, die kleine
Unergründliche, ein. Ich dachte: wie sie wohl tanzen würde, gewiß
hinreißender wie die Salome vor Zeiten, denn sie hat eine feenhafte kleine
Gestalt, und schwebt überhaupt mehr als sie geht. Und, dachte ich weiter,
was sie nun wohl treibt, und ob ihr Zuhausebleiben vom Ball wohl wirklich
Geschmackssache war oder ein pietistisches Opfer, ob sie zu Hause wohl den
Kopf ein wenig hängen läßt, und dachte so lange an dergleichen, bis ich
mit einer Art Freude, die mir ganz neu war, mich daran erinnerte, daß mich
ja nichts verhindere sie aufzusuchen, daß ich ja überhaupt so frei sei
wie der Vogel in der Luft. Der Mantel wurde umgeworfen und bald war ich da.
Am Fenster blieb ich lauschend stehn, lauter Gesang hoher Diskantstimmen
schallte mir entgegen: »Heil Dir im Siegeskranz, Herrscher des
Vaterlands!« -- eine schöne sanfte, aber sichere Altstimme führte das
Steuer. Die zusammengezogenen Gardinen waren nicht allzu dicht, ich konnte
vortrefflich hindurchschauen, da saß sie am Claviere und dirigirte; Burga
und Berga mit wenigstens einem Dutzend künftiger Schönheiten standen
ringsum und sangen nach Möglichkeit, Julchen Hermann, mit dem Ausdrucke
innigster Freude, daneben.

»Fühl in des Thrones Glanz,« sie sangen mit ganzer Seele, die Mädchen,
ich mußte einstimmen, was gings mich an, wenn die Nachbarn etwa ihre
Bemerkungen darüber machten, es war ja Patriotismus -- »Die hohe Wonne
ganz, Liebling des Volks zu sein, Heil Liebling Dir!«

Meine Einmischung hatte all die Oehrchen da drinnen gespitzt, Berga
errieth, und sang sich gerade bei der letzten Zeile aus der Hausthür
heraus.

»König heißt es!« rief sie corrigirend, und sang, an meinem Arme
hängend, und meine Variationen noch einmal berichtigend: »Heil
König Dir!« als ich eben mit höflichem Gruße in der Versammlung der
Sängerinnen erschien. Cäcilie nickte mir freundlich zu, ließ sich aber
nicht stören, der Gesang nahm ununterbrochen seinen Fortgang.

»Was wollen Sie denn eigentlich?« fragte mich Julchen, als wir Beide
auf dem Sopha saßen. »Mich ruhen, erholen.« -- »Glaubten Sie hier Ruhe
finden zu können?« -- »Ruhe und Frieden,« antwortete ich und sah ihr
voll in die Augen. Sie lächelte und nickte mit dem Kopfe. »Ja,« sagte
sie dann, »es ist ein großer Unterschied darin, den Lustbarkeiten
Erwachsener sich hinzugeben oder den Spielen der Kinder zuzusehen; ich bin
auch sehr gern unter Kindern.« --

Dieses alte Mädchen hat ein sehr feines Verständniß, aber wenn ich
einmal ein Geheimniß habe, soll sie es theilen.

Nach dem Vortrage diverser Lieder tanzten die Kinder; Cäcilie spielte
mit einer Geduld, welche die meinige ermüdete, endlich erbot sich ein
liebenswürdiges Kind sie abzulösen, und sie setzte sich in unsere Nähe.
Nun könnte ich sie vielleicht tanzen sehn, dachte ich, oder gar selbst mit
ihr tanzen, sie wird aber ein rundes Nein bei der Hand haben, das will ich
doch nicht so schnell riskiren. Da kam Burga und bat sie, und sie tanzte,
nun versuchte ich mein Glück auch, und sie gab mir die kleine Hand ganz
willig. Sie tanzte noch lieblicher, als ich es mir vorgestellt hatte,
leise, leise, sinnig, lache nicht! -- sinnig, wiederhole ich -- sie thut
nichts als in dieser holden Weise. Da war keine Hast, kein innerer Sturm,
der sie trieb, keine Eitelkeit, die sich geltend machen wollte, sie hörte
Musik und bewegte sich harmonisch, das war es; ich, auf dessen Arm sie sich
lehnte, der ihr Führer hätte dabei sein sollen, konnte nicht anders als
sie. Nie hatte ich so getanzt! --

Nun tanzte sie nicht mehr, sie schlug es verschiedenen Kindern ab, ich
wagte es nicht, sie noch einmal zu bitten. Julchen lobte sie deshalb, sie
scheint sie für schwach zu halten. --

Nach einiger Zeit wurde Pause gemacht und Erfrischungen gereicht, Cäcilie
war die Vielbeschäftigte; ich hatte was ich wollte, und ging nach dem
Rathhaussaale zurück, fühlte mich aber nicht sehr zum Tanz mehr aufgelegt
und sah zu, bis der Cottillon kam, den Ida mir zugesagt hatte. Er dauerte
sehr lange, und es schlug bereits vier Uhr als der Pförtner mich zum
Schlosse herein ließ. --

Heut war hier nun eine hübsche Nachfeier, die Armen wurden in den
Laubengängen gespeist, und die Gräfin sah selbst mit ihren fröhlichen
Augen überall hin, ob auch Jeder sein Recht bekomme. Es ist rührend zu
denken, was Alles und wie so ein Frauenherz lieben kann. Spricht diese Frau
von Mann und Kind, oder ruht nur ihr Auge auf ihnen, so ist es Einem, als
füllten diese Geliebten ihre Seele ganz aus. Wer sie gestern zum ersten
Male gesehen hätte, oder überhaupt während die Anstalten zum Feste
gemacht wurden, der würde den Monarchen beneiden, dessen Namenstag mit so
inniger Freude begrüßt wurde, wie von dieser Frau. Ihr Töchterchen lehrt
sie beten für »den theuren König«, den Kindern in der Schule spricht
sie, wie man sagt, begeistert von seiner väterlichen Treue, ihren Gatten
und Sohn nennt sie mit Stolz Diener ihres königlichen Herrn. Heute flammte
wieder der heilige Liebesstrahl in ihren Augen, und für die Armen, die
ihr nichts Liebes erwiesen, die in ihrem innern und äußern Mangel so
himmelweit verschieden von ihr sind. Erbarmen habe ich auch für diese
Menschen -- wozu sage ich übrigens was du weißt und sich von selbst
versteht, -- aber solches Gefühl ist mir fremd. Ich mußte sie oft
betrachten. Ob sie es fühlte, weiß ich nicht, und wenn's der Fall war,
dann muß ich ihr doppelt dankbar sein; einmal als ich in ihrer Nähe
stand, sagte sie: »Wie glücklich bin ich heut, mehr als glücklich! Immer
muß ich an die schönen lieben Segensworte denken: »Alles was ihr gethan
habt Einem dieser Geringsten« -- ihr Auge wurde feucht, und sie brach ab,
aber ganz leise hörte ich neben ihr die Worte flüstern: »das habt ihr
mir gethan.« Es war Johanne, ihr kleines Abbild, welches den Vers so
andächtig ausbetete. Die Mutter küßte sie und sah mich mit einem
strahlenden Blicke an. Ihr Glaube macht sie selig.

Nachmittags ging ich zu Bernwachts, mich nach ihrem Befinden zu erkundigen.
Die Alten waren im Garten, wo neue Anlagen vorbereitet wurden, Therese und
Ida hielten Nachmittagsruhe und Cäcilie saß im stillen Zimmer und brachte
Ida's Florkleid wieder in Ordnung, welches mit den Sporen des jungen
Vaterlandsvertheidigers in unangenehme Berührung gekommen war. Ich
setzte mich ein wenig zu ihr hin und fragte sie, ob sie das Märchen von
Aschenbrödel kenne.

»Sehr gut,« antwortete sie, »es war immer mein liebstes.« -- »Das
läßt sich denken,« bemerkte ich, »wie sieht die Fee aus, sie ist wohl
wunderschön?« -- »Ich denke, wie Ida ungefähr,« sagte sie munter in
den Scherz eingehend, »ein schöneres Mädchengesicht als Ida's kann ich
mir so leicht nicht vorstellen; ich freue mich recht, daß Sie sie malen
wollen.«

»Haben Sie Ida ganz besonders lieb?« forschte ich weiter.

»Die Schwestern sind mir Alle gleich lieb,« entgegnete sie, »ich möchte
sie Alle gern gemalt haben, wenn's eine aber doch nur sein soll, so muß es
die Schönste sein.«

»Sie lieben also das Schöne sehr?«

»Sehr,« wiederholte sie, »ganz außerordentlich.«

»Bei so viel Schönheitssinn,« behauptete ich, »muß ich Talente
voraussetzen, die Sie neidisch verstecken, gewiß malen Sie ausgezeichnet,
oder componiren oder dergleichen.«

»Nichts von Allem,« entgegnete sie, »ich kann nur bewundern und lieben,
aber sehr wenig leisten.« -- »Bewundern, lieben und die Fehler Anderer
wieder gut machen,« sagte ich unwillkürlich, und wieder fiel mir
Aschenbrödel ein. »Sie müssen mir entschieden zu einem Bilde sitzen, ich
lasse Ihnen keine Ruhe anders,« kündigte ich ihr an; sie lächelte
aber und meinte: erst solle ich nur Ida malen, dann könne das Weitere
besprochen werden. Thut sie's, so wird diese Aschenbrödel ein süßes
Bild. Ich gebe ihr etwas mehr Farbe, die ihrige ist fast zu zart, und lasse
sie das herabflatternde Täubchen mit den erstaunten, fast erschrockenen
Wunderaugen begrüßen, die sie so manchmal auf uns richtet, wenn ihr etwas
Unerwartetes passirt, oder ich lasse sie vor der Fee stehn, und diese Augen
mit dem Ausdrucke der Bewunderung auf sie heften, den ich schon manchmal
mit einem zärtlichen Gefühle belauscht habe. Die Fee kann dann Ida sein,
weil sie es gesagt hat, sie wird mit ihrer vollendeten Gestalt und den
tadellosen Zügen prächtig werden. -- Sieh' Schwesterchen, so habe ich
schon wieder eine Freude im Voraus, ich begreife nicht, wie man das Leben
langweilig finden kann, wie z. B. Waldemar es thut, von dem ich erst
kürzlich eine lange Jeremiade über die Nüchternheit des menschlichen
Lebens aus Berlin erhalten habe.

Nun will ich meinen langen Brief absenden und nur noch für den Deinigen
danken. Ja, Julchen ist mir auch sehr theuer geworden, und ich werde sie
öfter besuchen. Lebe wohl!

  _Dein Bruder Justus._



  Den 5. December.

Du bist erstaunt über meine Brauchbarkeit nach so vielen Seiten hin --
liebes Kind; Du weißt so viel wie nichts davon, Du wirst noch ganz andere
Begriffe von mir bekommen, wenn Du diesen Brief gelesen hast. Aber ich
übereile mich nicht damit, es wird ganz =en passant= kommen, ich werde den
Faden des Berichtes da wieder aufnehmen, wo er abgerissen wurde. -- Nach
dem denkwürdigen 15. October beschloß ich sehr fleißig zu arbeiten, weil
mein Bewußtsein etwas unzufrieden geworden war. So vollendete ich denn das
Bild der Gräfin zunächst und begann mit Eifer die Restauration der alten
Familienportraits im Ahnensaale. Der Graf besuchte mich oft bei meiner
Arbeit, sah mit Theilnahme zu und sprach manch gutes, anregendes Wort. Er
ist ein ausgezeichneter Mann. Seine holde Gemahlin begleitet ihn zuweilen
und das Kind kommt am oftesten, bringt mir zuweilen schönes Obst oder ein
Paar Blumen, die es auf dem Walle für mich gepflückt hat, oder fühlt den
Trieb, mir irgend eine wundersame Historie mitzutheilen, die Mama erzählt,
oder es selbst in einem bilderreichen Elberfelder Büchlein gelesen hat.
Dann thut es oft die seltsamsten Fragen, so auch einst, ob ich Joseph oder
Timotheus lieber leiden möchte. Sie ihrerseits war geneigt, dem Jünger
den Vorzug zu geben, obgleich Joseph auch sehr liebenswürdig und
großmüthig gewesen sei, aber zweierlei fand sie nicht schön von ihm,
erstens: daß er die stolzen Träume erzählt hatte, und zweitens: daß er
bei der ersten Rückkehr der Brüder aus Aegypten seinem Vater keinen
Trost gesendet hatte, »und er trug doch Leid um ihn!« sagte sie höchst
mitleidig. Dann zeigte sie mir ein kleines Bild, wo Timotheus als Knabe zu
den Füßen einer alten Frau saß und in der Bibel las. Die Mutter stand
daneben und weidete sich an dem Anblicke. »Ist er nicht sehr nett?«
fragte sie, »sieh nur, wie sie ihn lieb haben, der war schon von klein an
ein Jünger Gottes, und nachher liebte er den Heiland so sehr, und dann
war er des Apostels Paulus lieber Sohn; ich glaube, er ist noch besser als
Joseph, aber Joseph ist auch sehr gut.«

»Joseph war aber ein Jude,« wendete ich ein. »Das schadet nichts,«
sagte sie, »er konnte ja damals nichts Besseres sein; weißt Du nicht, die
Juden waren ja auch Gottes Kinder.«

»Aber jetzt sind sie es wohl nicht mehr?« fragte ich.

Sie sah mich groß an und sagte: »Alle Menschen gehören ja dem lieben
Gott, die armen Heiden ja auch, und der liebe Gott will alle, alle Menschen
in seinen schönen Himmel bringen, in sein großes, großes Reich,
denk mal, wie viel Menschen da zusammenkommen werden; ob ich Dich wohl
wiederfinde?« --

»Der liebe Gott wird's wohl so einrichten,« gab ich ihr zur Antwort. --
»Das ist wunderschön,« rief sie freudig, »ich mag Dich auch sehr gern
leiden.« -- Ich küßte sie für diese wohlthuende Erklärung und nahm
sie auf meine Knie, um meine Mappe mit ihr zu durchblättern: viele von den
Bildern machten ihr große Freude und mir ihr Geplauder noch mehr.

Zuweilen trat ich auch Mittwochs in den Betsaal, wo der Kaplan einen
Vortrag hält und viel gesungen und gebetet wird; diese Versammlungen
werden auch von Mehreren aus der Stadt besucht, namentlich habe ich
Julchen und Cäcilie fast jedesmal dort bemerkt, wenn ich einsah, auch Frau
Bernwacht und Therese zuweilen, Ida sehr selten. Ich blieb nicht immer die
ganze Zeit über da, gewöhnlich während der Rede, oder ich kam gegen das
Ende und wagte mich dann nicht über die Thür hinaus. Das lange Singen
ermüdet mich bald, und die Begleitung ist auch nur sehr mittelmäßig,
auf einem alten Klaviere, welches wahrscheinlich aus Rücksicht auf seine
langjährigen Dienste an dieser Stätte noch in Activität bleibt. Vorigen
Mittwoch war man nun in Verlegenheit, wer das Amt des Organisten in der
Eile übernehmen sollte, der alte Kantor aus der Stadt, ein freundlicher
Greis, der es bis dahin verwaltet, war unterwegs ausgeglitten und hatte
sich die Hand verstaucht; die Gräfin war um ihn bemüht, schickte nach
einem Arzte und bedauerte, daß ihr Mann verreist sei, er spiele so gut
Choräle, der Sekretair spiele zwar auch Klavier, aber so viel sie wisse,
nur moderne Sachen, nun es müsse auch ohne Begleitung einmal gehen, der
Rentmeister sei ein zuverlässiger Sänger, der könne den Ton angeben. --
Nun weißt Du, was geschah. Ja, ich spielte; ein mächtiges Choralbuch war
ja da, und ich fühlte mich ganz wohl dabei; aber eigner Mensch, der
ich bin, ich genirte mich nachher den Blicken Julchens und Cäciliens zu
begegnen. -- Da der alte Mann sich noch schonen soll, werde ich noch einige
Male den Platz am Instrumente einnehmen. Die Gräfin war sehr gütig und
erlaubte mir, den Flügel im Speisesaale nach Gefallen zu benutzen, werde
es aber nicht oft thun, die Zeit fliegt ohnehin fast allzuschnell dahin.

Das ist Mittwochs. Freitags gehe ich mit dem Bürgermeister zu einer
Parthie Schach nach dem Klubb, und Sonntags ist Leseabend bei Bernwachts,
an welchem, außer Julchen, noch ein Paar junge Damen Theil nehmen, die
mir gegenüber sehr schüchtern sind, und von denen ich kaum mehr als die
Namen, und daß sie Cousinen Theodors, des Verlobten Theresens sind, weiß.
-- Die Lectüre wird durch die Mitglieder bestimmt; jede der Damen wird der
Reihe nach für ein Buch sorgen, dann nach Cäcilien, als der Jüngsten,
komme ich, und simulire öfter schon, was ich auswählen soll, um Alle zu
befriedigen, ein solches Buch wird schwer zu finden sein; Dumas wäre etwas
für Ida, Göthe für Theresen, aber ich möchte gar nicht Cäcilien den
Grafen von Monte Christo oder Faust oder die Wahlverwandtschaften vorlesen
hören. Neulich fragte ich sie nach ihren Lieblingsschriftstellern, da
nannte sie mir mehrere Lyriker, dann Andersen, die Bremer, Nathusius,
Namen, die mir zum Theil ganz unbekannt waren. Vielleicht kannst Du mir
etwas vorschlagen.

So unter Arbeit und in angenehmer Gesellschaft verstreicht die Zeit sehr
schnell, und die Wochen entfliehen wie Tage. Als ich kam, blühten die
Rosen, jetzt wirbelt der Schnee um's Fenster und die Raben sitzen auf den
nackten Bäumen, und doch ist's mir, als hätte ich vor Kurzem erst das
liebe Nest nach so manchem Jahr der Abwesenheit wieder gesehen. Gestern
habe ich viel von Dir gesprochen und soll Dich auch von Julchen grüßen.
Ebenso wie sie, hören die Mädchen im Bernwachtschen Hause gerne von Dir;
ich habe Dich vor einigen Tagen, auf Ida's Begehr, vom Kopf bis zu den
Füßen schildern müssen. Zuweilen lese ich ihnen Stellen aus Deinen
Briefen vor, eigentlich nicht ihnen, sondern nur Theresen und Cäcilien,
die sich am meisten dafür zu interessiren scheinen. Sie wünschen Alle,
Du möchtest mal kommen. Ginge es nicht? Freilich nicht vor dem Frühlinge,
und wo bin ich dann? -- Zwar habe ich außer meiner Arbeit hier im Schlosse
noch zwei Bilder anzufertigen versprochen und ein drittes wünsche ich =in
doublo= zu malen, aber zum Frühjahr werde ich mich doch wohl reisefertig
machen müssen. Wohin? -- Das weiß ich noch nicht. Das Leben in den
großen Städten, wo ich nirgends heimisch bin, wird mir nachher schlecht
behagen, ich muß mich wohl irgendwo, auf irgend einem schönen Fleckchen
der weiten Erde häuslich niederlassen. Was meinst Du dazu, erscheine ich
Dir schon gereift genug zu einem Hausherrn, oder glaubst Du, daß ich meine
Lehr- und Wanderjahre noch ausdehnen muß, um später mit um so sicherer
Hand das Fundament zu meinem Lebensglücke zu legen? --

Im Kreise solcher Familien, wie die des Grafen und Bernwachts, steigen bei
dem flatterhaftesten Menschen solide Gedanken auf; ich könnte mir
mein Haus in Zukunft sehr hübsch denken, es würde im Aeußeren etwas
alterthümlich mit Schnitzwerk, Erker und schwerem Messinghammer an
der eichenen Hausthüre sein, es würde tiefe, weite Fensternischen
und behaglich eingerichtete Zimmer haben. Unten wären Empfang- und
Wirthschaftszimmer, oben die des Hausherrn und das Kabinet der Frau, das
wäre ein kleines licht- und blumenreiches Gemach, mit einem Fortepiano,
Bücherschrank und schönen Gemälden, wüßte ich doch jenen Christus
wieder aufzuspüren! -- In dem Erker würde eine Staffelei stehen können,
vielleicht wäre sie der Frau nicht zuwider, und während ich malte,
tauschten wir unsere Gedanken aus, oder sie läse oder spielte.

Das Bild ist verlockend, ich muß es bedecken, mich davon abwenden,
vielleicht ist es ebenso unerringbar wie jener spurlos verschwundene
Christus. -- Doch genug, ich muß heute noch einen weiten Spaziergang
machen und schließe mit einem Gruße warmer, brüderlicher Liebe.

  _Justus._



  Den 13. December.

Liebe Schwester, ich habe eine Menge Aufträge für Dich. Du schriebst im
letzten Briefe, Du würdest vor Weihnachten noch einmal nach Berlin reisen,
das paßt ganz zu meinen Wünschen. Burga hat es nämlich bei ihren Eltern
dahin gebracht, daß ich die Erlaubniß erhielt, den heiligen Abend des
Weihnachtsfestes bei ihnen zuzubringen, und nun wollte ich Dich bitten,
in Berlin passende Geschenke für die Familie auszusuchen. Ich denke,
eine hübsche Schreibmappe mit schönem Papier würde Theresen nicht
unwillkommen, eine Auswahl neuer Tänze oder irgend ein Putzgegenstand für
Ida nicht unpassend sein. Burga und Berga müssen etwas Egales haben, oder
Gemeinschaftliches, Noten zu vier Händen etwa, oder Spiele, oder eine
wohleingerichtete Kochanstalt, was Du willst, Du wirst schon das Richtige
treffen. Für Cäcilie etwas zu wählen, ist schon schwerer; ich habe an
Scrivers Werke gedacht -- ich habe in diesen Büchern gelesen, sie stehen
in der mir zugänglichen Bibliothek des Grafen -- aber wie könnte ich es
wagen, ihr ein Erbauungsbuch zu schenken! Aber wenn Du dennoch meinst,
es ginge, dann schicke sie, in recht würdigem, gediegenem Einbande.
Vielleicht machten ihr auch Märchen, mit vielen Bildern im Text, Freude,
es müßte aber schon etwas _sehr Gutes_ sein, gehaltvoll, in der Form
gelungen, und jedenfalls in einer Prachtausgabe; erkundige Dich doch, was
es Bestes in der Art giebt. Auch habe ich an Schmucksachen gedacht: ein
Perlenhalsband mit schönem, goldenem Schlosse würde ihr vortrefflich
stehn; doch Perlen bedeuten Thränen, mein Geschenk soll weiter keine
Bedeutung haben, als ein Andenken an diesen heiligen Abend, die der
Thränen gewiß nicht, und so ist es auch mit einem goldenen Kreuze,
welches sie vielleicht trüge, aber nein, Kreuz bedeutet Leid.

Du siehst wohl, für Cäcilien weiß ich garnichts, suche Du nur etwas aus,
was für ein frommes, sinniges und schönes junges Mädchen paßt, vergiß
aber nicht, mir auch all die Sachen, welche ich angedeutet habe, mit zu
besorgen, es könnte doch sein, daß mir das Eine oder Andere davon noch
wünschenswerth für sie erschiene. Gern malte ich ihr etwas, aber was? Sie
hat so viel Schönheitssinn, so viel Kunstverstand, werde ich ihr in der
kurzen Zeit, neben den mir aufgetragenen Arbeiten, noch etwas Würdiges
schaffen können? Ich bezweifle es. Für die kleine Johanne habe ich
ein Album machen lassen, welches ich mit Zeichnungen aus der biblischen
Geschichte schmücke, ein kleines Büchlein nur. Ein Album wäre auch etwas
Passendes für Cäcilie, aber ich müßte es ihr fast leer überreichen,
und das möchte ich nicht. Höre, Kind, besorge doch auch eine Prachtmappe
von Sammet und einfachem Golddruck, es könnte sein, daß ich unter meiner
Sammlung noch so viel Gutes zusammenfände, was ich ihr, ohne lächerlich
zu erscheinen, anbieten dürfte. --

Lebe wohl, liebes Kind, ich habe es sehr eilig.

  _Dein Bruder Justus._

Um allem Irrthum vorzubeugen, füge ich diesem Briefe ein einfaches
Register derjenigen Dinge bei, welche ich für Cäcilien besorgt zu haben
wünschte: 1) Scrivers Werke, 2) Märchen, 3) ein Perlenhalsband, 4) ein
goldenes Kreuz, 5) eine Mappe, und 6) Verschiedenes, durch welches Dein
Geschmack meiner Rathlosigkeit zu Hülfe kommen könnte.

  J.

Was meinst Du, schenke ich auch den Alten etwas? Es wäre wohl nicht gut
angebracht, aber Julchen muß etwas haben; sinne nach, was es sein kann.
Spare ja nicht, ich lege einen Wechsel von 50 Rthl. bei, und reicht das
Geld nicht, so lege nur für mich aus.

  _Dein Bruder._



  Den 20. December.

Welche Wichtigkeit ein Bräutigam ist! Kommt so ein Mensch in's Haus, so
erschallt vom First bis in's Souterrain ein Jubel: er ist da, Heil, er ist
gekommen! Selbst Cäcilie, ja gerade Cäcilie läuft mir da heute Morgen
entgegen, daß die schwarze Sammetschleife im Haar in ungewohnten Schwung
kommt, sieht mich mit beiden Augen freudenvoll an und ruft: »Theodor ist
hier!« -- »So?« fragte ich ganz kühl; ich fühlte gar keine so große
Veranlassung zur Freude. -- »Ja, und bleibt bis acht Tage nach Neujahr,
kommen Sie, ich werde Sie vorstellen,« und hin ging's zu dem Herrn
Theodor, der doch auch Seinesgleichen in der Welt hat. Sonst ist er ganz
nett, -- er hat in der That etwas sehr Einnehmendes, und durch die Briefe
seiner Braut von meiner Einbürgerung im schwiegerväterlichen Hause
benachrichtigt, reichte er mir mit offener Herzlichkeit gleich die Hand
zur Einleitung eines freundschaftlichen Verkehres. -- Ich bin neugierig
zu wissen, ob man mit mir, wenn ich einmal Bräutigam sein werde, auch so
viele Umstände macht. --

Deine Sendung ist noch nicht angekommen, ich erwarte sie täglich. -- Die
Vorfreuden des Festes beginnen, Pfeffernüsse durchduften fast alle Häuser
seit längerer Zeit, und Tannenbäume schleichen in der Dämmerung durch
die Straßen, um unbemerkt in die Häuser zu schlüpfen, die Geheimnisse
mehren sich.

Die Gräfin ist ganz Glück, so recht in ihrem Elemente, aber wann ist sie
dies nicht? -- Ohne Unterlaß gehen Boten mit Commissionszetteln nach
allen Himmelsgegenden; verschiedene alte und junge sanfte Frauengesichter
erscheinen geheimnißvoll mit großen Körben voller Sachen im Schlosse
und ziehen sich, ihrer Bürde entledigt, mit augenscheinlicher Befriedigung
wieder zurück. Sie scheinen den Frommen anzugehören, denn diese mögen
alt oder jung, hübsch oder häßlich sein, ein gemeinsames Kennzeichen
haben sie Alle, sie zeigen fast beständig ein heiteres Gesicht,
ein ruhiges Auge, die Seufzer über das menschliche Elend sind nur
vorübergehend, der liebe Herr macht alles, was uneben ist, ihnen wieder
gerade. Julchen ist mir das Ideal solcher Frommen. Man möge diese Leute
in Zukunft in meiner Gegenwart nicht wieder angreifen, ich werde sie
entschlossen, mit dem Muthe der Ueberzeugung vertheidigen. Sehr möglich,
daß es auch unter ihnen Heuchler giebt, aber wo giebt es keine? Wie viele
Freigeister, die ihre Thaten ihr Gottsein beweisen lassen wollen, verbergen
bedächtig viele ihrer schmutzigen Werke vor den Augen der Welt, verstecken
unter Phrasen über Berechtigung, Freiheit und dergl. die an sich
wohl erkannten Flecken. Hier ist es anders, und wer sich wohl fühlen,
vereinfachen will, wieder in das Paradies der Kindheit zurückversetzen
möchte, komme nach Burgwall, wo nichts von der verschrieenen Kopfhängerei
an den Gläubigen zu merken ist, wo Hoch und Niedrig das Band Einer Liebe,
Eines Glaubens verbindet. Halte mich wegen dieses Zeugnisses aber ja nicht
für einen mit ihnen in Christo Verbündeten, Du würdest sehr irren. Ich
möchte es wohl sein, weil ich sehe, wie innigst befriedigt sich diese
Menschen fühlen, welche Geduld sie beweisen, welche Todesfreudigkeit sie
haben. Auch das habe ich nicht aus Schilderungen, denn fern ist diesen
Leuten Proselytenmacherei; sie brauchen nicht klüglich zu sprechen, um
für sich und ihre Lehre zu werben, sie sind anziehend, das ist mehr
als Jenes. -- Ich hörte öfter von einem alten, sehr leidenden Manne im
Bernwachtschen Hause reden, und ging eines Abends zu ihm. Möchte ich einst
so heiter sterben, wie dieser Greis! -- Als ich ihn fragte, ob ich ihm
irgendwie dienen, ihn mit etwas erquicken könnte, deutete er auf ein
Buch und einen Gesang, den ich ihm daraus vorlesen sollte; ich that es mit
Schüchternheit, das kindliche Verlangen nach der frohen Ewigkeit, welches
in diesem Liede lebte, war mir fremd, der Alte kannte es. Und dann wie
dankbar war er. »Der Herr wird es Ihnen lohnen,« verhieß er. Einige
Tage später war er bei seinem Herrn. Ich sagte es Bernwachts, als ich
es gehört hatte, sie wußten es schon, und Cäcilie sagte mit freudigen
Augen: »Wie schön wird er Weihnachten feiern!«

Solch ein Glaube kann da schwerlich einziehen, wo er so lange belächelt
ist; ich habe ihn nicht, aber ich muß ihn ehren. --

Gestern Abend nach Tisch war ich noch im Familienzimmer, wo wir
ausnahmsweise gegessen hatten, als die Gräfin ein dickes Buch hervorholte,
um ein Weihnachtslied auszuwählen. Der Graf, der sich mit mir unterhielt,
wurde zu Rath gezogen, und endlich ein Gesang zum Festliede ausersehen.
Es gefiel auch mir besonders, und als die Gräfin Anstalt machte es
abzuschreiben und viele Quartblätter schnitt, welche zeigten, daß sie es
in vielen Exemplaren haben wollte, bot ich meine Hülfe an. Ein freudiger
Blick lohnte mir. »Finden Sie das Lied schön?« fragte sie. -- »Ja,«
erwiederte ich, »es sagt mir sehr zu.«

»O, das ist auch eine Festfreude,« sagte sie herzlich, und reichte mir
die Hand zum Drucke; ich küßte sie aber demuthsvoll.

»Die Wahrheit ist eine siegreiche Macht,« sprach der Graf, »und eine so
selige,« fügte seine Frau hinzu.

»Aber mein Herz und mein Verstand sind sehr trotzig,« entgegnete
ich, »sie wehren sich selbst dann noch, wenn sie schon die Größe des
Ueberwinders ahnen und ehren.«

»Es wird Ihnen nichts helfen,« sagte der Graf, und drückte mir warm die
Hand; »die Wahrheit bedarf nur geringen Raumes, um bald siegreich das Feld
zu behaupten. Gott segne das Fest an Ihrem Herzen!«

»Amen!« hallte die Gräfin.

Ein Jahr zurück, nur ein halbes, und wie anders damals und jetzt! Was ich
jetzt zu sein wünsche, verlachte ich damals, Glauben nenne ich, was damals
Vorurtheil hieß, Aufklärung, was Befangenheit genannt wurde. Und dieser
Umschwung geschah in aller Stille, und was das Traurige dabei ist, ich
stehe nur draußen vor der Schwelle des Heiligthums, höre mit dem einen
Ohr die Harmonie drinnen, mit dem andern das Spotten ehemaliger Genossen.
Dennoch beschwere ich mich keineswegs, und wenn ich die ganze Wahrheit
sagen soll, so bin ich auf die Entwickelung dieses Seelenprozesses
neugierig. Wie und wann werde ich so glückselig werden wie der Graf,
oder sein Gärtner, oder Julchen, oder wird eine Reaction eintreten? Ich
wünschte, jene Leute wären wirklich in der Wahrheit, und Gott hülfe mir
auch dazu zu kommen. Gottes und Marien Sohn! --

Julchen sagte vor einigen Tagen zu mir: »Worin liegt denn eigentlich das
Unglück, wo steckt der Knoten?«

»Ich möchte gern ein Christ sein, wie andere mir liebe Menschen, und bin
es nicht im Stande.«

»Warum wollen Sie es denn sein?«

»Weil ich das Beste nicht für zu gut für mich halte, als Gottes Kind
könnte ich ja auch wohl ein Christ sein.« -- Sie lächelte, mußte aber
wieder fragen, warum ich das Christenthum für »das Beste« hielte,
und ich sagte ihr, daß ich die Wirkungen seiner Vortrefflichkeit nun
hinlänglich wahrgenommen hätte, um zu diesem Schlusse zu kommen, und
zweitens gedächte ich zuweilen mit einem peinvollen Gefühle an meine
mögliche Verblendung, an meine Undankbarkeit, wenn Christus nämlich
wirklich der wäre, den ich nicht glauben könne.

»Wenn es so steht, dann wenden Sie sich nur mit Ihrem Verlangen an Ihren
Schöpfer, beten Sie nur das schönste Gebet, welches wir haben, Sie beten
dann zu Ihrem Gott, und ganz im Sinne dessen, den Sie suchen, mit seinen
eigenen Worten.« --

»Das thue ich auch, und lasse es nun auf Ihn ankommen, lese auch fleißig
in der Bibel. Zuweilen prüfe ich, da nicht zu verkennen ist, daß ich
gewissermaßen mich der Kindheit wieder nähere, ob ich in meinem Urtheile
über andere Dinge auch anders, etwa schwächer, geworden bin, ob mein
Auswendiges gelitten hat, so fest hänge ich an Vorurtheilen! Aber lachend
muß ich mir gestehen, daß ich noch alle meine Gaben gut bei einander
habe, und mein der Freude so gern offenes Herz mit vielen schönen
Gefühlen angefüllt ist.

Das Lied will ich Dir abschreiben, es ist von Gerhard Tersteegen und
heißt:

    Jauchzet ihr Himmel! frohlocket ihr englischen Chöre,
  Singet dem Herren, dem Heiland der Menschen zu Ehre;
  Sehet doch da! Gott will so freundlich und nah
  Zu den Verlornen sich kehren.

    Jauchzet ihr Himmel, frohlocket ihr Enden der Erden!
  Gott und der Sünder, die sollen zu Freunden nun werden;
  Friede und Freud' wird uns verkündiget heut';
  Freuet euch Hirten und Heerden.

    Sehet dies Wunder, wie tief sich der Höchste hier beuget!
  Sehet die Liebe, die endlich als Liebe sich zeiget!
  Gott wird ein Kind, träget und hebet die Sünd':
  Alles anbetet und schweiget.

    Gott ist im Fleische, wer kann dies Geheimniß verstehen?
  Hier ist die Pforte des Lebens nun offen zu sehen,
  Gehet hinein, macht euch dem Kinde gemein,
  Die ihr zum Vater wollt gehen.

    Hast du denn, Höchster, auch meiner noch wollen gedenken?
  Du willst dich selber, dein Herze der Liebe, mir schenken?
  Sollt' nicht mein Sinn innigst sich freuen darin
  Und sich in Demuth versenken? --

    König der Ehren, aus Liebe geworden zum Kinde,
  Dem ich auch wieder mein Herze in Liebe verbinde,
  Du sollst es sein, den ich erwähle allein,
  Ewig entsag' ich der Sünde.

    Süßer Immanuel, werd' auch geboren inwendig,
  Komm doch, mein Heiland, und laß mich nicht länger elendig,
  Wohne in mir, mach mich ganz Eines mit dir,
  Und mich belebe beständig.

    Menschenfreund Jesu, dich lieb' ich, dich will ich erheben,
  Laß mich doch einzig nach deinem Gefallen nur leben,
  Gieb mir auch bald, Jesu, die Kindesgestalt,
  An dir alleine zu kleben.

Zuweilen drückt sich der Verfasser ein bischen wunderlich aus, aber paßt
das Gedicht nicht genau auf mich und meinen gegenwärtigen Zustand? So
finde ich es auch mit vielen Bibelstellen, oft finde ich Worte des
Rathes in der Bibel, die mir fast wie ein Wunder vorkommen, denn vor fast
zweitausend Jahren geschrieben, beantworten sie genau eine nur gedachte
Frage der Gegenwart. Wenn Jesus doch noch auf Erden lebte! -- Das sieht
nun aus wie der fromme Seufzer eines Heiligen, während ich, weit davon
entfernt, durchaus ein Kind dieser Welt bin, und den Heiligen eigentlich so
ziemlich gänzlich verleugne. --

Gute Nacht, liebe Schwester; es ist bei meinem Schreiben spät geworden.
Wie die Sterne draußen funkeln! Der Schnee liegt hoch, weit und breit, die
Natur feiert auch auf ihre Weise. -- Ich lege diesen Brief auf ein
Bild, welches Du Dir längst gewünscht hast, und schicke es Dir mit den
wärmsten Grüßen. Lebe wohl!

  _Dein Bruder Justus._



  Am 2. Weihnachtsfeiertage.

Es läutet eben zum Nachmittagsgottesdienst, die Sonne lacht heiter in's
Fenster und läßt die vergoldeten Aepfel an meinem Weihnachtsbaume hell
erglühen. Dein Brief, der mit all den vielen empfangenen Geschenken
darunter liegt, redet mir zu zu schreiben, und -- hier bin ich.

Ich bin in einer wundervoll friedereichen Stimmung. Das Leben ist
kein Traum, aber ein Räthsel, ein unerschöpflicher Glückesborn, ein
sinnreicher Lehrmeister, der zugleich beschämt und beseligt. Warum es
mir so einzig im Kopf und Herzen klingt, kann ich nicht genau
auseinandersetzen, in Summa aber ist es die Liebe, die mich jubeln und
danken läßt. Liebe überall! -- »Also hat Gott die Welt geliebt«
-- kennst Du das auch, daß irgend eine Strophe oder ein anderes Wort
unablässig im Ohre klingt, daß man es gar nicht los werden kann? So geht
es mir heute mit den Worten: »also hat Gott die Welt geliebt.« --
Die Welt hat diese Liebe begriffen, wie entzückt sieht sie aus, wie
verschwenderisch ist sie im Nachahmen jener Liebe, auch ich werde damit
überschüttet, aber ich erwiedere, verlaß Dich darauf! --

Ich möchte, ich könnte Dir auch all die schönen Sachen zeigen, die mir
am heiligen Abend bescheert wurden, da liegen sie festlich im Sonnenglanze:
ein neues Testament von der Frau Gräfin, ein warmer, weicher Reisepelz
von dem Grafen, von Johannen der Baum -- das süße Geschöpf mit seinen
prächtigen Einfällen! -- Nun kommen die aus dem Bernwachtschen Hause:
eine Specialkarte der Provinz vom Alten, ein riesiger Pfefferkuchen
von Frau Bernwacht; Therese hat mir eine Uhrschnur gearbeitet, Ida ein
Notizbuch gestickt, Cäcilie drei Lesezeichen, Burga und Berga ein
Paar farbenreiche Morgenschuhe. Auch von Julchen liegt etwas da, etwas
Rührendes: es ist ein Brief von unserer Mutter, ich will ihn Dir
abschreiben.

Liebes Julchen. Hier schicke ich Dir das Probehemdchen für Paulinen, die
neuen müssen aber eine handbreit länger und weiter gemacht und auch in
den Aermeln verhältnißmäßig größer werden. Gern hätte ich es Dir
selbst gebracht, Du weißt, ich wünschte schon am Sonntag bei Euch zu
sein, aber mein Justus ist unwohl, und ich mag ihn, da er so stürmisch
ist und seine Vorsätze leicht vergißt, nicht verlassen, er könnte leicht
etwas thun, was ihm schadete, das Mutterherz ist so ängstlich! --

Gott befohlen!

  _Deine Marie._

Die alte Zeit lebt auf, ich sehe der Mutter zarte Gestalt, ihr sorgsames
Auge. Das Wort, das längst ungewohnte, _mein_ Justus, weckte ein Sehnen
in mir, oder schärfte es nur -- aber ich will nicht mehr stürmisch sein,
Pauline, meine guten Vorsätze sollen erstarken.

Wie es im Feste war? Schön. Erst allgemeine Bescheerung hier im Schlosse,
die ganze Bewahranstalt, alle Waisenkinder waren da. Ehe sie in den
Speisesaal, wo Alles arrangirt war, eingelassen wurden, war Andacht im
daranstoßenden Betsaale, ähnlich wie schon manchmal, nur viel freudiger
noch. Auch die Bernwachtschen Töchter waren sämmtlich da. »Mama baut
auf,« flüsterte Berga, »freuest Du Dich nicht schrecklich?« -- »Nein,
ich freute mich recht schön, für Niemanden zum Erschrecken, ganz sanft
wie ein gutes Kind, ähnlich vielleicht wie Cäcilie.« --

Die von der Gräfin für die Kinder bestimmten Geschenke waren durch
freiwillige Beiträge aus der Stadt bedeutend vermehrt; ich entdeckte auch
hübsche, braun- und rothgestreifte Schürzchen, welche ich unter Theresens
Händen entstehen gesehen, und eine Menge kleiner gestrickter Handschuhe
wollten mich an ein junges Mädchen erinnern, dessen Fleiß ich in den
Leseabenden zu bewundern Gelegenheit gefunden hatte. -- Allgemeine Freude
auf dem Schlosse und ebenso bei Bernwachts, Jeder gab, Jeder empfing und
war in bewegter Stimmung. --

Deine Einkäufe habe ich mit vieler Freude empfangen und ausgetheilt,
doch anders wie ich anfangs beabsichtigte. Als ich den Berg Geschenke für
Cäcilie erblickte, stieg's wie Spott über meine Zuversichtlichkeit in mir
auf: mit welchem Rechte durfte ich sie so auffallend vor ihren Schwestern
auszeichnen? Nur Amarant, welches ich Deiner Wahl verdankte, und das mich
gleich, nachdem ich hineingesehn und ein Paar Verse gelesen hatte, für
sich entschied, legte ich, nebst einem frischen Bouquet aus dem Treibhause,
auf ihren Platz unter dem Baume, das andere Buch, »die weite, weite
Welt,« will ich für die Leseabende aufheben. Therese erhielt zu ihrer
Briefmappe die Perlen, Ida zu den Noten das Kreuz, Julchen außer dem Muff
Scrivers Werke, und den Kleinen steckte ich die Mappe voll Zeichnungen.
Alle fanden sich sehr reich beschenkt; noch an demselben Abend sah ich
Cäciliens Wangen sich höher färben durch -- Amarant. Sie findet es
schön, und hat es ihrerseits zum Beitrag für die Leseabende bestimmt,
obgleich Theodor sie mit den herrlichen Briefen »Wilhelm von Humboldts an
eine Freundin,« beschenkt hat. -- Nun auch Dir Dank, Schwesterherz!
Dank für jeden Ausdruck Deiner Liebe. -- Dein Rath, mich mit meinen
Ansiedlungsplänen nicht zu übereilen, ist begründet, und soll befolgt
werden -- ich sagte es Dir ja, ich habe nicht die leiseste Hoffnung,
daß der süße Traum einst verwirklicht werden könne; ich will nichts
übereilen, sondern still abwarten, wie Gott es will. Mein herzliches
Lebewohl!

  _Justus._



  Den 15. Februar.

Du mahnst mich an mein Versprechen, keine Lücke in unserm Briefwechsel
entstehen zu lassen, so will ich schreiben, es ist jedoch wenig zu
berichten. -- Des Tags bin ich meist sehr fleißig, und die Abende
verfließen in Dir bekannter, lieber Weise, nur lesen wir zweimal in der
Woche, statt einmal. Wir sind bei der weiten, weiten Welt, und mit Ausnahme
Ida's, die gleich durch den etwas breiten Anfang des Buches gegen dasselbe
eingenommen wurde, findet es allgemeinen Beifall, besonders bei meinem
kleinen, frommen Lieblinge, der Cäcilie. Sie schwärmt für Helene
Montgomery, für Alice und St. John, sie liebt Master Vanbrunt, und
entschuldigt -- auf Ida's Angriffe -- selbst alle vorkommenden kleinen
Teufeleien, welche die wilde kleine Person, Helenens Plagegeist, ausübt,
damit, daß das Alles nachher ihr leid genug gethan habe, und mehr
könne man nicht verlangen. -- Da fällt mir noch etwas Anderes bei, was
charakteristisch ist. Vor einiger Zeit war ich Nachmittags bei Bernwachts.
Draußen, vom wildesten Schneegestöber umstürmt, standen ein Mann und ein
junges Mädchen, er drehte die Orgel, sie sang, und sang mit einer Ruhe und
Resignation, aber dennoch melancholischer Stimme und Weise, das Lied -- ich
weiß seinen Anfang nicht -- welches zum Refrain die Worte hat: »Das Leben
ist ja nur ein Traum.«

Frau Bernwacht schickte einige Münze hinaus und sagte: »Die junge Person
hätte besser gethan, in ihrem Dorfe zu bleiben, als in der Welt herum
zu reisen; was hat sie nun davon? Ich sollte denken, die schwerste Arbeit
wäre ein Vergnügen gegen diese Lebensweise.«

»Sie mag aus der Stadt sein, Mama,« entgegnete Therese nachdenklich,
»und Du weißt, wie schwer es Vielen in den großen Städten wird, sich
ehrlich zu ernähren, sie hat vielleicht schon Mancherlei vergeblich
versucht und nothgedrungen dies Wanderleben begonnen.«

»Vielleicht hat sie eine arme, kranke Mutter zu Haus,« sagte Cäcilie
mitleidig, und betrachtete sie ernst mit ihren warmen Blicken; »sie sieht
recht so aus, als wenn ihr das Herz weh thäte.«

»In dem Falle hätte sie lieber die Barmherzigkeit der Menschen ansprechen
sollen, und die Mutter pflegen,« beharrte die Bürgermeisterin, »dies
Vagabondiren ist der Ruin für solche Mädchen. War es vorhin für sie
schwer, ein Unterkommen oder Unterhalt zu finden, dann wird es ihr nachher
fast unmöglich sein. Wer nimmt wohl ein Mädchen, was sich zu solchem
Leben einmal bequemt hat, in Dienst? ich gewiß nicht.«

Ida war auch theilnehmend geworden und vertheidigte das Mädchen: sie
arbeite ja auch, das sei, nach ihrer Meinung, immer besser als betteln. So
lange man irgend Kräfte habe, müsse man Andern doch nicht lästig fallen
wollen. Wenn sie z. B. in so unglücklicher Lage wäre zwischen Betteln und
Straßensingen wählen zu müssen, so würde sie ihr Angesicht verhüllen
und singen.

»Ich nicht,« sagte Cäcilie erregt, und reichte dem vorübergehenden
Mädchen ein winziges, weißes Päckchen aus dem Fenster, »mir würde das
Bitten gar nicht so schwer werden. Das Geben ist ja eine Freude, man
kann sich ja mit seinen Bitten an solche Leute wenden, die dadurch nicht
belästigt werden, und nun gar für Andere! -- ich habe doch mehr Muth als
Du, Ida.«

»Demuth,« sagte die Mutter. Cäcilie erschrak fast und senkte die Augen;
sie sah gerade so aus, als dächte sie: Demuth -- ich?

»Demuth -- ja,« wiederholte Ida kühn, »aber Muth -- nein: Du
würdest lieber vergehen, als ein Leben führen, was unter dem Banne
der öffentlichen Meinung steht, Du würdest fürchten im Bereiche des
Niedrigen und Unreinen auch bei Dir selbst zu verlieren, Du bist überhaupt
nicht sicher, trotz Allem, immer stehen zu können.«

»Nein, das bin ich nicht,« erwiederte die Schwester sanft, »ich mache
ja alle Tage die Erfahrung, daß ich der göttlichen Hülfe und Gnade
bedarf.« --

Bin ich ein Thor, Pauline, daß ich der Neugierde den Zügel schießen
ließ, daß ich mich in ihre kleinen Geheimnisse eindränge? Ich habe das
singende Paar in einer Spelunke aufgesucht und mir das Zettelchen zeigen
lassen. Hergeben wollte ihn das Mädchen um keinen Preis, ich bot ihr viel,
aber sie blieb fest, und warum soll ich ihr den Talisman, den Engelgruß
nehmen, da sie ein armes, elendes Geschöpf ist, was vielleicht nichts
Heiliges weiter in der Welt hat! -- Auf dem Zettel, auf dem noch deutlich
die Spur des eingewickelten Geldstückes zu sehen war, stand:

  Habe Gott vor Augen und im Herzen, und hüte Dich, daß Du in keine
  Sünde willigest, noch thuest wider Gottes Gebot. -- Wirf dein Anliegen
  auf den Herrn, der wird Dich versorgen. Gott sei mit Dir, Amen.

Ich beschenkte sie reichlich und sie trug mir auf, der jungen Dame zu sagen
-- was natürlich wohl nie geschehen kann -- daß sie nie wieder so singen
würde. Sie sei einer allzu strengen Herrin entlaufen, Angehörige habe
sie nicht mehr, ein Dienst sei nicht zu finden gewesen, sie habe Schulden
machen müssen -- so sei es gekommen. Nun sollte ein anderes Leben begonnen
werden. -- Ob ich ihr nicht den Namen des Fräuleins sagen wolle, sie wolle
ihn dem lieben Gott nennen. »Glauben Sie denn an Gott?« fragte ich schon
in der Thüre. »Ach,« seufzte sie da, »Sie dachten, ich wäre ganz
verworfen!«

Ida's Bild ist bald fertig; ich habe Dir wohl noch nicht geschrieben, daß
die Familienhäupter sich dem Aschenbrödelproject entschieden widersetzen.
Die jungen Damen fanden es ganz hübsch und hätten ihre Einwilligung
vielleicht nicht versagt. Zu Anfang der nächsten Woche gedenke ich
Cäcilien zu malen, hier im Schlosse bin ich bald fertig. Noch bin
ich unschlüssig, wohin ich von hier gehe, zuweilen denke ich an das
Morgenland, es wären interessante Studien dort zu machen, und vielleicht
-- ich träume wieder! nein, ich will nur in der Nähe bleiben. --

Weißt Du, ich habe ein Lied gehört, das Du Dir in einer
Musikalienhandlung suchen mußt. Von wem es gedichtet und componirt ist,
weiß ich nicht, aber ich habe es singen hören, kann Dir auch den Text
schreiben. -- Ida war bei der letzten Sitzung mißgestimmt, und ich wollte,
weil ich diese Linien des Verdrusses nicht in das Portrait einfließen
lassen mochte, zu malen aufhören, als Therese Cäcilien bat, dies Lied
zu singen, sie meinte mit Recht, dann würde die Wolke wohl verfliegen.
Du magst den Text sehr einfach finden, vielleicht ganz unbedeutend, ich
versichere Dich aber, das Ganze war von ergreifender Wirkung.

      Du Tropfen Thau, seh ich dich an,
  Kommt mir die Thräne süß und still,
  Weil du so treu dein Blümlein liebst,
  Wie ich wohl einmal lieben will.

      Und trennt dich auch an jedem Tag
  Von deinem Lieb der Sonnenschein,
  Du kehrst am Abend stets zurück,
  So muß wohl treue Liebe sein.

      Und stirbt dein Lieb vom Sonnenbrand,
  Dann stirbst auch du im letzten Kuß,
  Ich seh dich an und sinne still;
  Wie solch ein Tod beglücken muß! --

Wie ich wohl einmal lieben will! Sie weiß es nicht, das Kind, und doch
dieser hinreißende Vortrag, dieser unvergleichliche Ausdruck! Es liegt
gewiß darin, daß es ihr angeboren ist, nie Mißgriffe zu begehen, in
Allem vollendet zu sein. -- Ida wurde ganz sanft und schön, ich unruhig,
mir klopfte das Herz vor schmerzlicher Wemuth. Cäcilie und ich, welch ein
Unterschied! Kannst Du mir nichts nennen, was die Kluft ausfüllen könnte?
Doch wie spreche ich, wie solltest Du junges Kind wissen, was der Weiseste
auf Erden nicht erdenken könnte. Lebe recht, recht wohl!

  _Justus._



  Am 2. März.

Bin bei der süßesten Arbeit, Du weißt bei welcher. Natürlich sind wir
nie allein, aber wozu auch? ich würde ihr doch nichts sagen, nicht von
fern meine schneeweiße Lilie beunruhigen. Wir plaudern herrlich unbefangen
mit einander und ich bin auch, ihr gegenüber, vollständig befriedigt. Was
könnte ich noch Schöneres wünschen, als sie ansehen, ihre freundliche
Stimme hören zu dürfen, die mir des Lieblichen so viel sagt: -- Sie ist
ganz vertrauungsvoll, und plaudert, was ihr in den Sinn kommt. »Was wird
Theodor sagen,« meinte sie gestern, »wenn er wiederkommt und mich auch
gemalt sieht; ich habe es immer für Scherz gehalten, wenn Sie davon
sprachen.« -- »Warum,« fragte ich, »sah ich so spaßhaft dabei aus?«

»Auch wohl, und ich bleibe ja bei den Eltern.« --

»Ida ja auch,« wendete ich ein, als wäre das kein Grund. Sie lächelte.
»Wenn Sie wieder kommen, müssen Sie Theresen auch malen,« fuhr sie
fort, »in spätestens zwei Jahren ist ihre Hochzeit und dann verläßt sie
Burgwall.«

»Komm ich denn wieder?« fragte ich.

»Ich dachte,« antwortete sie ganz erstaunt.

»Und so bald?« fuhr ich zu fragen fort.

»Das müssen Sie am besten wissen.« -- Ich schüttelte den Kopf; es
schien mir gerade in diesem Augenblicke, als sei es doch besser, ich kehre
in Jahr und Tag nicht wieder hierher zurück. -- Zuweilen erzählt sie
etwas aus ihrer Kinderzeit, und wie frisch lacht sie dabei! Neulich wurde
das Gespräch zwischen ihr und den Schwestern sehr lebhaft, man neckte sie
mit vergangenen Zeiten, da hatte sie sich zu vertheidigen, und dann mußte
sie wieder lachen, sie wurde ganz unruhig auf ihrem Stuhle und wendete sich
bald hier und bald dorthin, ich vergaß das Malen darüber und sah sie an.
Plötzlich fiel ihr Blick auf mich, wie ich dasaß, nichts that und sie
betrachtete, sogleich setzte sie sich in Positur, neigte sich mir etwas
entgegen und flüsterte: »Sie sind eigentlich sehr gut -- nicht wahr
Mama?«

»Was denn?« fragte diese.

»Herr Brand ist sehr gütig, so geduldig zu warten.« --

Hätte sie die Sache nicht unter uns lassen können? -- aber nein, sie hat
nichts zu verheimlichen, was mich angeht.

Julchen Hermann hatte, als sie an der Reihe war, kein Buch mitgebracht, und
appellirte an die Großmuth der Jugend, die da nichts verlangen werde, wo
nichts sei, sie habe keine belletristischen Bücher. Sie kam aber mit
ihren schönen Reden nicht durch, sondern mußte sich bequemen frei eine
Erzählung aus dem Leben vorzutragen, und wenn nicht aus ihrem eigenen
Leben, so doch aus ihrer Zeit.

Nach einigem Weigern that sie's, und ich will sie Dir copiren.


Der Sohn der Wittwe.

Nicht weit von der Försterei zu Drosehalm, liegt ein kleines Haus, welches
vor mehreren Jahren einer Wittwe gehörte, die mit ihrem einzigen Sohne,
einem lebhaften, gescheuten Knaben, in der einförmigsten Weise darin
lebte. Während Ludwig, so hieß der kleine Wildfang, der die Gedanken der
stillen Frau fast beständig beschäftigte, in der Schule war, besorgte sie
das kleine Hauswesen, führte die Ziegen auf die Weide, arbeitete in dem
Gärtchen, welches die Vorüberfahrenden, wenn sie um die Waldecke bogen --
das Haus lag an der Landstraße -- vom Frühling bis zum Herbste, wie
ein unerwarteter, freundlicher Gruß, durch seine lachenden Blumen
überraschte, oder sie saß auch im Zimmer und spann. That sie Letzteres,
dann konnte man sicher daraus rechnen, daß irgend ein Erbauungsbuch, die
Bibel war ihr das liebste, aufgeschlagen neben ihr lag, denn durch die
jahrelange Uebung hatte sie es dahin gebracht, daß sie neben dem Spinnen
auch lesen konnte. -- Zuweilen erhielt die Wittwe auch Besuch aus der
Stadt, von Solchen, die ihr befreundet waren, und die auf der Reise nach
der Nachbarstadt, vor ihrer Thüre vorbei mußten, oder von dieser oder
jener armen Frau, die in großer Verlegenheit war, und Frau Schmidt um
Rath, Unterstützung oder Fürsprache bitten wollte, denn es war bekannt,
daß die einfache Frau im Waldhause unter den vornehmen Damen Gönnerinnen
hatte, die sie an manchem lieblichen Abende in ihrem stillen Hause
aufsuchten. Alle Besuchenden fanden dieselbe Aufnahme, sie erhielten
sämmtlich zum Gruße ein freundliches Gesicht, die Hand zum Drucke und
ein herzliches Willkommen. Alle gingen auch in der Regel befriedigt von
ihr fort, die Bittenden, nachdem sie erhalten, was sie wünschten, die
Trostesbedürftigen mit erneutem Muthe im Herzen, denn Frau Schmidt hatte
stets guten Muth, sie konnte unter allen Umständen, zu jeder Zeit davon
mittheilen. Auch die großmüthigen Damen, welche die Wittwe dann und wann
besuchten -- obgleich sie, trotz der Bitten der Kinder namentlich, nie
in ihren Häusern in der Stadt zu sehen war -- fanden sich in ihrer
Gesellschaft und der stillen Stube, welche im Sommer eine schöne Linde
beschattete, sehr behaglich. Die Kinder, welche sie mitbrachten, tummelten
sich, während die Frauen sich drinnen unterhielten, auf dem freien
Platze vor dem Hause, herum, oder näherten sich vorsichtig dem kleinen
Flüßchen, das noch sehr jung und unerfahren, mit großer Eile, über
Stock und Stein, durch den grünen Thalgrund, dem größeren, bedächtiger
fließenden Fluße zu eilte, der sich um die Stadt schlingt. In den Garten
zu gehen, wagten sie erst dann, wenn Frau Schmidt es ihnen ausdrücklich
erlaubte, oder wenn Ludwig aus der Schule kam, der dann sogleich sein
Bücherpaquet sammt Riemen in die erste, beste Ecke schleuderte, um als
galanter Wirth sich seinen Gästen zur Disposition zu stellen. Heidi, dann
gings lustig zu! kein ansehnlicher Schmetterling war seines Lebens
sicher, er mochte flattern wo er wollte, über dem Bache oder über den
Lilienkelchen, ihm wurde rücksichtslos nachgestellt. Ferner wurde den
kleinen, schlanken Fischen aufgelauert, die ganz harmlos schaarenweise,
zwischen den bemoosten Steinen, sich so wohlig dahinwanden; zuweilen war
denn auch wohl eine schöne bunte Forelle darunter, die durfte dann nie
entwischen, denn Forellen sind theure wohlschmeckende, vornehme Fische,
wohlgeeignet für die Tische reicher Leute und Ludwig schenkte gerne. Er
hatte sich dazu einen Topf mit durchlöchertem Deckel, von seinem Spargelde
gekauft, damit er, so oft das Glück ihm wohlwollte, lebendige Forellen,
auf seinem Schulwege der Frau Pastorin, oder Stadträthin, oder irgend
einer namhaften Dame, mitnehmen konnte. Von vorn herein hatte er sich so
zu stellen gewußt, daß man ihm solche Lieferungen nicht bezahlen konnte,
nein, er nahm nichts, er durfte auch nicht, er dankte sehr, höchstens
waren ihm ein Paar Aepfel aufzunöthigen, und die nahm er dann mit einer so
tiefen Verbeugung, und bedankte sich so ernst, daß es aussah, als glaubte
er, der besonders, hauptsächlich Beschenkte zu sein.

Aber Ludwig war durchaus nicht so bescheiden, wie es im Allgemeinen von ihm
hieß, er war vielmehr stolz, und baute nicht, wie er durfte, Hoffnungen
auf seine ihm von Gott verliehenen Gaben, sondern er pochte auf sie. Er war
klug, geschickt und muthig, was lag nun daran, daß er nur eines schlichten
Bergmannes Sohn und nicht der Sprößling einer Patrizierfamilie war? Das
Blättchen kann sich wenden im Leben, dachte er, und blickte stolz dabei
umher, was niedrig ist, kann hoch, und was hoch ist, kann ganz klein
werden.

Einmal hörte seine Mutter einen solchen laut gewordenen Gedanken, da
sagte sie: »Wenn Gott will -- aber dem Demüthigen giebt Er Gnade.« --
»Erkundige Dich doch, was die Leute von mir sagen,« entgegnete ihr der
vierzehn Jahre alte Knabe, »Niemand wird mich hochmüthig nennen.« --
»Du kannst wohl Menschen, aber nicht Gott betrügen,« erwiederte ihm
seine Mutter sehr ernst, und nun hütete er sich wohl, seine innersten
Gedanken wieder laut werden zu lassen.

Ostern darauf wurde Ludwig eingesegnet und zu einem geschickten Tischler
in die Lehre gebracht, obgleich er seine Mutter fast fußfällig um die
Erlaubniß bat, einen höhern Beruf wählen zu dürfen. Auch seine Lehrer
riethen der Wittwe, dem Sohne eine umfassendere Ausbildung geben zu
lassen, als die Schule es bisher thun konnte, denn seine Gaben seien nicht
unbedeutend, und ein in ihm wohnender, nicht zu verkennender Ehrgeiz werde
ihn spornen, ihre Opfer zu vergelten. Aber die sonst so sanfte Mutter
zeigte hier eine große Festigkeit und blieb beharrlich bei ihrem
Entschlusse, den Sohn ein Handwerk erlernen zu lassen, welches -- das möge
er selbst bestimmen. Eben sein Ehrgeiz sei es, der sie in dieser Sache so
entschlossen mache, sie wolle das Ihrige dazu thun, diesen hochstrebenden
Sinn zu demüthigen, damit er einst fähig werden könne, nach wahrhaft
hohen Dingen zu trachten.

»Mutter, ist es denn etwas Gefährliches, ein guter Lehrer oder gar
Prediger werden zu wollen?« fragte Ludwig mit Thränen in den Augen,
»kann ich nicht dem lieben Gott viel besser dienen, wenn ich den Beruf
habe von seiner Größe und Liebe den Menschen zu erzählen, als wenn ich
dastehe und schmiede, oder leime, oder so etwas?«

»Wenn Du wirklich viel von seiner Größe wüßtest, und von heiliger
Liebe getrieben würdest, mein Sohn, dann würdest Du demüthiger sein,«
antwortete die Mutter, »etwas Sündlicheres kann ich mir kaum denken, als
einen Geistlichen, der auf die Kanzel mit dem Gedanken kommt: heute werde
ich gewiß bewundert werden, der mit seiner Predigt sich verherrlichen
will; der das Kreuz predigt und den eigenen Ruhm vor Augen hat. Nein,
Ludwig, bleib in unserm Stande, Du kannst darin sicherer selig werden.«

Ludwig sah sehr finster dazu aus, und er seufzte tief über der Mutter
schreckliche, sein Lebensglück zerstörende, Verblendung, aber er konnte
nichts dagegen ausrichten und so wurde er ein Tischlerlehrling.

Sein Meister nannte ihn musterhaft: er war fleißig, anständig in seiner
äußern Erscheinung, zuvorkommend, ernst, zuverlässig, sein Lob ertönte
reichlich, namentlich fand der Lehrherr es so rühmenswerth, daß er stets
pünktlich an Ort und Stelle war, sei es zur Arbeit, zu Tisch, zur Kirche,
oder sonst irgendwo, einem Versprechen oder Auftrage zu folgen; was er
versprach, hielt er mit gewissenhafter Genauigkeit.

»Er wird einmal ein gemachter Mann,« prophezeihete er, »ich sehe schon
den künftigen Gewerksvorsteher, wenn nicht Senator der Stadt in ihm.« --
Wohl freute sich die Mutter über das Lob ihres Lieblings, aber sie bat den
Meister inständig, es den Knaben nicht hören zu lassen.

»Glauben Sie, es ist Wasser auf seine Mühle,« stellte sie ihm vor, »es
bewegt seinen Sinn die leidige Eitelkeit ohnehin genug.«

»Nun was schadet die Eitelkeit?« entgegnete der Meister fast unwillig,
»wenn sie das Rad der Thätigkeit in Bewegung setzt und den Jungen alle
seine Kräfte mit Lust gebrauchen läßt? Nichts für ungut, Frau Schmidt,
aber Weibererziehung ist nicht für solchen aufstrebenden kleinen Menschen,
Ihr möchtet aus lauter Zaghaftigkeit alle frischen Sproßen seiner
kernigen Wurzel streng beschneiden, damit sie möglicher Weise nicht zu
einer Wildniß heranwachsen.«

»Gott hat ihm doch den Vater genommen, und mich für ihn bestellt,«
erwiederte die Mutter ganz sicher, »darum muß ich ihn nach der Einsicht
erziehen, die Er mir gegeben hat.«

Die Lehrzeit verfloß. Zwei Jahre blieb Ludwig noch am Orte, dann schnürte
er sein Bündel und ging in die Fremde. Der Abschiedstag war ein schwerer
für seine Mutter, sie hatte nichts weiter auf der Welt, daran ihr Herz
so ganz hing, wie diesen einen Sohn, und trotz seiner Fehler, als Sohn
war Ludwig musterhaft! Aber es mußte geschieden sein, und die Liebe macht
stark, besonders eine Mutter, welche freudigen Glauben zu Gott dem Herrn
hat, sie küßte und segnete ihn, begleitete ihn auch über das Weichbild
der Stadt hinaus und kehrte dann ergeben in ihr einsames Haus zurück. --
Ihre Lebensweise blieb dieselbe wie bisher, nur daß sie nicht mehr wie
früher, Sonntags auf der Brücke, die über den kleinen Fluß führte,
stand und nach der Stadt hinsah, von welcher ihr Sohn sonst kam, und daß
sie jetzt noch mehr betete als las.

Ein Festtag war allemal für sie, wenn der Postbote auf ihr Haus zuschritt.
O, ihr Herz fühlte dann einen wahren Freudenrausch! -- Die Nachrichten
waren anfangs meist gut, Ludwig hatte fast immer in großen Städten Arbeit
gesucht und gefunden, und schrieb gewöhnlich erfreut über das Gute, das
man auf Reisen kennen lernen und einsammeln kann. Selten klagte er, auch
vom Heimweh hatte er nicht gerade zu leiden, doch war seine innige Liebe
zur Mutter unverkennbar. Mehr als es der bescheidenen Frau lieb war,
deutete er an, wie er es ganz anders für die Zukunft mit ihr beabsichtige,
sie sollte einst bequemer, schöner wohnen, ein Haus in der Nähe der Stadt
haben, schon damit der Kirchweg ein kürzerer sei; er wollte dieses Haus
mit den schönsten Möbeln schmücken, für wen er denn sonst etwas lerne,
wenn nicht für sie? In diesem Tone schrieb er oft, wenn auch die Mutter
zu mäßigen suchte, und darauf hinwies, daß ihr Glück nicht im
Aeußerlichen bestehe, daß sie auch für ihren Stand und ihre Gewohnheit
hinreichend mit dem Nöthigen, ja Angenehmen versehen sei.

Jahre verstrichen wieder, die Wittwe hatte ein ganzes Kistchen voller
Briefe, sie hatte auch des Sohnes Bild und freute sich sehr darüber: es
lächelte sie an und sah stattlich aus, der Jüngling war zum Manne heran
gereift, nur schien es ihr, als wisse diese breite Stirn von Trotz, als
läge in der ganzen Haltung eine Energie, die sich gegen jede zugemuthete
Unterwerfung sofort empören würde. Aber seine Briefe waren ja so
liebevoll, _ihr_ war er doch ergeben, das war gewiß, sie wollte auch nicht
zu ängstlich sorgen, sondern alle ihre Sorge auf Ihn werfen, der für uns
sorgen will.

Dann kam aber eine Zeit, da seine Briefe das deutliche Gepräge des
Mißmuthes trugen; er klagte, es werde den Abhängigen zu schwer gemacht
sich den, ihren Fähigkeiten gemäßen, Standpunkt zu erringen, der Lohn
sei im Verhältniß zur Arbeit zu gering, die Behandlung nicht selten
unwürdig, die Besitzenden seien meistentheils herzlos -- die Mutter
wisse es nur nicht, wie es in der Welt zugehe, und er danke Gott, daß sie
dieselbe nicht gebrauche. Die Mutter hatte genug zu ermahnen und
schrieb auch, wenn es ihm draußen nicht gefalle, dann möchte er doch
wiederkommen, sie sehne sich ohnehin so sehr nach ihm. Gewiß hätte er so
viel gelernt, um die Innung mit einem Meisterstück zufrieden stellen zu
können, dann könnte er in der großen Stube seine Werkstatt aufschlagen
und sie würden Beide ein so recht seliges Leben, nach der langen Trennung
mit einander führen. Diese liebevolle Einladung hatte aber eine sehr
heftige Entgegnung zur Folge. Ob er darum so weit und lange gereist sei, um
mit leerer Hand, als ein armseliger Gesell wieder zu kehren, und der Mutter
Besitz zu seiner Etablirung zu benutzen? Nimmermehr! Er fühle hinlänglich
Kraft in sich, es mit der Feindseligkeit einer ganzen verkehrten Welt
aufzunehmen!

Dieser harte Brief kam im Waldhause bei Winterszeit an, als der Schnee hoch
lag und die Wittwe schon wochenlang nicht aus dem Hause gekommen war. Wie
sehnte sie sich nach der Kirche! Zwar war ihr Herz selber ein dem Herrn
geweihter Tempel, und Haus und Garten und der stille Wald kannten den
Austausch ihrer Gefühle gegen den Segen himmlischen Trostes, aber dort, wo
sie die Weihe der Sakramente empfangen, sie und ihr Sohn, dort betete sie
besonders freudig für den geliebten Fernen. Nun ging es nicht, sie konnte
kaum zur Försterin kommen, um sich in ihrer Herzensbeklemmung an einigen
freundlichen Worten der Försterin zu erquicken, sie war mit ihrer Unruhe
in das Haus gebannt. »Dein Wille geschehe wie im Himmel, also auch
auf Erden, hilf dazu!« das waren Worte, die sich oft, vielleicht ihr
unbewußt, über die Lippen drängten, ihr Herz fühlte das Flehen
beständig.

Und die Zeit der Finsterniß ging vorüber, der Schnee schmolz, die Sonne
lachte heiter durch die kleinen Scheiben des Fensters, wo über Rosen- und
Myrthenstöcken des Sohnes Bild hing; er schien die Mutter anzulächeln
und -- o der Freude! da kam auch der Mann mit der Briefmappe wieder, kaum
konnte die Mutter sein herzliches »Gott grüß!« erwiedern, so bewegt
war sie von der Erwartung, ob der liebe Herr, ihr treuer Helfer, des Sohnes
Herz gemildert habe, ob er, der Ferne, auch Sonnenschein um sich sehe und
in sich spüre. Und es war gut, Alles gut! Er schrieb reuig, bat wegen
seiner Heftigkeit um Verzeihung, erzählte von bessern Tagen, die ihm
angebrochen, und von der Aussicht auf Verwirklichung seiner Wünsche. -- An
diesem Tage hätte Mutter Schmidt sich recht gern arm geschenkt, vielleicht
hätte sie dies überhaupt schon längst gethan, wenn sie den Sohn nicht
gehabt hätte. Zum Glück sah sie, noch ehe die Sonne unterging, die
liebe, freundliche, theilnehmende Sonne! auf dem Wege drüben ein Paar
arme Kinder, die holte sie, fragte redselig wie nie, nach ihren geheimsten
Wünschen, und fand sich so reich, diese befriedigen zu können. Einen
so seligen Tag hatte sie lange nicht gehabt. Ja, das Herz ist tief zu
bejammern, welches so gerne opfern möchte, und keinen Altar finden kann,
auf dem es geschehen könnte. Es gehört zuweilen Muth dazu, ihn zu suchen
und viel Zeit, ihn zu finden, aber es giebt ihrer unzählige um uns herum.
Möge Gott zu allen Zeiten unsere Augen leiten, daß wir das Rechte sehen,
und unser Herz, daß wir das Rechte thun!

Vergiß nicht, Pauline, daß ich nur wieder erzähle, ich spreche das
Gehörte nach, aber ich spreche auch mit. Ja, Gott helfe allewege! --

Nach wenigen Wochen kam abermals ein Brief, und diesmal von einem reichen
Geschenke von Kleidungsstücken begleitet. Das war nicht nach dem Sinne der
Mutter, sie wurde wieder nachdenklicher, aber der Frühling wollte es nicht
leiden, er lockte sie nach draußen und zeigte ihr die Verschwendung an
Prachtgewändern, welche der liebe Gott den Blumen gestattete. Tausende
blühten gestern und lagen heute welk, verblüht zu den Füßen
Neugeschmückter, das ganze Thal war im farbenreichsten zartesten Schmucke,
der Reichthum sproßte als saftige Zweige aus den Bäumen, breitete sich
als bunt gewirkte Decke über die Hügel, wogte in der Farbe der Hoffnung
über die im Herbst bestellten Aecker. Das Leben däuchte ihr wieder
wunderschön, selbst so getrennt von dem geliebtesten Kinde, sie übergab
ihn wieder beruhigt der Obhut des reichen Gottes, dessen Ehre die Himmel
erzählen, und des Vaters voller Gnade und Treue, von dessen wundervoller
Liebe die Erde, seiner Hände Werk, fröhliches Zeugniß ablegte. --

Ludwigs Briefe wurden zwar von nun an etwas seltener, enthielten aber
immer verständlichere Andeutungen eines innern Triumphes. Es war viel von
Manneskraft und Aufsichselbstverlassen die Rede, nur blieb es dunkel, was
eigentlich Bedeutendes erreicht war. Seit jenem freudenreichen Briefe
im Frühjahre datirten alle Briefe aus einem kleinen Orte an der Ostsee,
welcher aber in Ludwigs Atlas von dem Sohne des Försters durchaus nicht
zu entdecken war. Er hielt sich daselbst beim Gastwirth auf, der sein Haus
ausbauen ließ, und noch längere Zeit Arbeit für ihn haben würde. Wie
dieses Verhältniß Ludwigs ehrgeizige oder liebevolle Pläne fördern
konnte, war schwer zu ergründen; nach der Mutter Meinung hätte er da,
in dem armen kleinen Orte, als welchen er ihn selbst bezeichnete, nur
bescheidener in seinen Wünschen werden müssen. --

So verstrich ein Jahr unter Hoffen und Fürchten. Zu Weihnachten war
wieder eine bedeutende Sendung schöner Sachen angekommen: Kaffee, Zucker,
Gewürze, selbst schöner Wein, aber die Mutter ließ den Ueberfluß für
kommende Zeiten liegen und blieb bei ihrer einfachen Lebensweise. -- Als
der Frühling wieder erschien, wurde ihr sehr bang um's Herz, denn die
Briefe ihres Sohnes blieben ganz aus; vergebens hatte sie gehofft, zu
ihrem Geburtstage, den Ludwig stets als Festtag betrachtet hatte, durch
Nachricht, vielleicht gar seines baldigen Kommens erfreut zu werden, aber
die Blumensträuße, welche ihre alten und jungen Freundinnen ihr gebracht
hatten, verwelkten, ohne das Gesicht der Gefeierten im Lichtglanze der
Freude gesehen zu haben.

Als dieser qualvolle Zustand einige Monate gedauert hatte, wurde Frau
Schmidt heiterer, sie lächelte wieder, wurde sehr thätig -- in ihrer
Herzensangst hatte sie oft, die Hände in den Schooß gelegt, dagesessen
-- ging auch nach dem Gottesdienste eines Sonntags in das Pfarrhaus zum
Besuch, mit einem Worte, sie schien ganz aufzuleben. Aber man sollte noch
Ungewohnteres, als Besuche in der Stadt, an ihr erleben; zuerst kam die
Reihe des Erstaunens an die Försterin, welche gebeten wurde, die Ziegen
und Hühner der alten Frau bei ihrem Vieh aufzunehmen, und dann und wann
so gütig zu sein, einen Blick nach ihrem Heimwesen zu werfen, weil sie es
verlassen müsse. Eine innere Stimme ermahne sie beständig, ihren Ludwig
aufzusuchen, der in Noth wäre, sie sei dazu entschlossen, und schon am
nächsten Tage solle die Reise angetreten werden. -- In aller Frühe des
folgenden Morgens brach sie auf, und mancher der Vorübergehenden blieb an
diesem Tage dem Hause gegenüber stehen, und dachte darüber nach, was es
wohl mit den verschlossenen Laden für eine Bewandtniß haben könnte. Es
wurde auch von einer entschlossenen Frau daran geklopft, die Schmidt konnte
ja heftig erkrankt sein und hülflos daliegen, es antwortete aber weder ein
Wort noch ein Seufzen, und kopfschüttelnd ging die gute Frau ihrer Wege.
Dies geschah im Juni. Zwei Monate vorher hatte auch Ludwig eine Reise
angetreten, aber ehe ich sage wohin, muß ich erst von _Pranbeck_ reden,
und von der Zeit, die Ludwig darin verlebte.

Als er vor fast anderthalb Jahren nach der, von dem Kirchdorfe Pranbeck
ungefähr fünf Meilen entfernten größeren Hafenstadt wandern wollte, und
in das Gasthaus des kleinen Ortes trat, war er so recht zerfallen mit der
Welt, die so viel des Lockenden und Reizenden für ihn hatte, es ihm,
wie er meinte, höhnisch vorhielt, und, so oft er die Hände darnach
ausstrecken wollte, schnell entzog. Selten hatte er etwas Vollkommenes
gefunden, besonders in den letzten Jahren: war der Meister gut, so taugten
die Gesellen nichts; fand er Gelegenheit viel zu verdienen, so war die
Familie seines Vorgesetzten entweder aufgeblasen oder gar zu ungebildet,
so daß er sich nicht mit ihr befassen konnte. Ging er in diesem letztern
Falle seinen eigenen Weg, so fehlte es wieder nicht an bornirten Versuchen,
sich über ihn lustig zu machen. Nein, dies Beugen und Fürliebnehmen
war zu unausstehlich, und wurde ihm immer lästiger! Hätte er es nur
verstanden Geld zusammen zu scharren wie diese Pilze, deren Herz gegen
jedes gute Gefühl durch einen Harnisch geschützt war, diese Schwämme,
die alles in ihrer Nähe Befindliche gewissenlos aussaugen, und dann
wohlgefällig auf ihre magern Nachbarn herabblicken, ja dann, dann konnte
er zeigen, wie der Hausstand eines christlichen Handwerkers eingerichtet
sein müsse, wie man sich den Lernenden, Helfenden gegenüber zu betragen
habe. -- Freilich, beschränkte Menschen, das stand fest, würde er nie in
seine Werkstatt aufnehmen, sondern nur solche, deren tüchtiger Verstand
sich gleich durch ein anständig freies Wesen bekunde, was auf den ersten
Blick von der tölpelhaften Selbstgefälligkeit einfältiger Menschen zu
unterscheiden sei. --

So ungefähr dachte und sprach Ludwig, der Sohn der demüthigen,
zufriedenen Wittwe im Waldhause, mit dieser Neigung die gesellschaftlichen
Zustände von ihrer trübsten Seite aufzufassen und zu verurtheilen, sah er
zum ersten Male das Meer in seiner unabsehbaren Ausdehnung. Es machte
einen tiefen Eindruck auf ihn, aber keinen guten, es half nur in seiner ihm
unverständlichen Größe seine Ansichten befestigen. Es war ein trauriger
Tag, als Ludwig zum ersten Male an einer Küste stand, der Wind stürmte
seewärts auf ihn ein und trieb die schäumenden Wogen, dunkel wie der
wolkenbedeckte Himmel, stürmisch gegen den niedern Hügel, von dessen
Rücken er in das unruhige Element schaute. »Ja,« sprach er bei sich
selbst, »Woge auf Woge, Tag auf Tag! Es ist alles einerlei, Seelen- und
Geschickeszwang und Zwang in der Natur, Niemand und Nichts kann gegen sein
Verhängniß; kann er Gefallen daran finden, der liebe Gott im Himmel, wie
die Mutter sagt?« --

Ein verächtliches Lächeln entstellte sein sonst hübsches Gesicht, und er
drehte dem Meere den Rücken, um ein Obdach zu suchen.

Nun ist Pranbeck zwar nur ein kleiner Ort, und auch kein sehr wohlhabender,
aber ein stattliches Gasthaus befindet sich doch da, und ein ebenso
stattlicher Wirth, ein ganz gewandter Mann, dessen Bildung auch für ein
Hôtel ausgereicht haben würde, darin. Als Ludwig durchnäßt, denn es
hatte den ganzen Morgen geregnet, auf seiner Schwelle erschien, beging er
nicht den Mißgriff, ihn in die ordinaire Gaststube nach dem Hofe hinaus,
wo Knechte, Boten, lotterige Handwerksburschen und dergl. placirt wurden,
zu verweisen, sondern er führte ihn mit einigen freundlichen Worten des
Bedauerns ob des schlechten Reisewetters in das behagliche Zimmer, wo
Landherrschaften und die Honoratioren des Dorfes sich häufig des Abends
zu versammeln pflegten, das des Tages aber in der Regel nur ganz flüchtige
Besuche Solcher empfing, die nicht ausgehen konnten, ohne im Wirthshause
die Frage: Was giebts Neues? auszusprechen, und ein Gläschen zu trinken.
Selten kamen Reisende anderer Art, als die Genannten, nach Pranbeck, daher
mochte es kommen, daß die Erscheinung des für einen Handwerksburschen
sehr nobel gekleideten Fremden dem Wirthe sehr angenehm war. -- Bald hatte
Ludwig seine Kleider gewechselt, etwas Stärkendes genossen und war mit
dem Wirthe in der besten Unterhaltung, die damit endete, daß er versprach
vorläufig in Pranbeck zu bleiben, um dem einzigen Tischler des Ortes, dem
die Gesellen wegen seiner zänkischen Hausfrau allzuschnell davon liefen,
zu helfen und die obere Etage des noch unvollendeten Wohnhauses mit den
nothwendigen Tischlerarbeiten zu versehen. Dabei wurde gleich abgemacht,
daß Ludwig im Gasthause selbst und nicht bei dem Meister wohnen solle. --

So weit war Alles gut, aber das Schlimme lauerte dahinter. Nicht daß
Ludwig ein Schlemmer wurde, und wie so mancher tägliche Besucher des
Gasthauses, dem Laster des Trunkes fröhnen lernte -- er fühlte einen
Abscheu vor solcher Verirrung, er wendete sein Auge weg, wenn so ein
lallender, schwankender Mensch versuchte Witze zu reißen oder zu beweisen,
daß er wirklich nur »angetrunken sei, nur genippt habe!« -- Eine solche
Erniedrigung war für ihn nicht zu befürchten, seine Mutter dachte kaum
daran; Ludwig war ja stolz, wie konnte er sich zum Gegenstande des Ekels,
des Spottes herabwürdigen! --

Der Wirth war ein reicher Mann, er hatte Felder und Wiesen, Haus und Hof,
und ein reich versorgtes Waarenlager, da er das Recht hatte Handel zu
treiben. Sein Verkehr als Handelsmann war ganz großartig, doch wußten
nicht Viele genau darum, er ging meist in der Stille der Nacht vor sich,
aber dafür war er desto ergiebiger. Nach kaum einem Monate war Ludwig
Mitwisser dieses geheimnißvollen Verkehrs, und wenige Wochen später
Compagnon des Wirthes. Nun wurde der Ton zwischen beiden Männern noch
verbindlicher und das nächtliche Geschäft noch gewinnbringender, denn
Ludwig war höchst thätig, umsichtig und kühn, gerade ein solcher Mann,
wie er für den Wirth paßte, und dieser war die Freundschaft selbst gegen
ihn.

Zum ersten Male hatte es nun Ludwig so, wie er es wünschte: einen
gescheuten, aufgeklärten Vorgesetzten, achtungsvolle Behandlung,
Anerkennung seiner Fähigkeiten und Leistungen, und reichlichen Gewinn.
Dennoch sah er nicht aus wie ein Mensch, über dem die Glückssonne
strahlt; er war viel schweigsamer geworden, sein Blick hatte an Offenheit
verloren und über sein Gesicht flog oft etwas dem Argwohn ähnliches; sein
durchdringender Blick schien dann zu fragen: wer wagt es, mein Thun und
Lassen zu beurtheilen? Ich, ich allein bin Herr meiner Entschlüsse und
Handlungen!

Pranbeck liegt ganz nahe an der Grenzlinie, und der Wirth war durch kühn
getriebene Schmuggelei reich geworden. Aus Zuneigung zu Ludwig, wie er
sagte, hatte er ihm gezeigt, wie leicht man es dahin bringen könne, die
oft langweilige Berufsarbeit nur =pro forma= zur Hand zu nehmen, wenn man
nämlich nur genug Entschlossenheit besitze, mit einigen Vorurtheilen
zu brechen. Und dann hatte der Wirth ihm in fließender Rede auseinander
gesetzt, wie ungerecht die Besteuerung der ausländischen Produkte sei,
das arme Volk müsse sie fast ganz entbehren, mäßig Begüterte sie mit
äußerster Einschränkung genießen, während man höher hinauf damit
schwelge und sie verprasse. In solche Behauptungen stimmte nun zwar Ludwig
nicht mit ein, aber in ihre Consequenzen, er vergaß die Worte: »seid
unterthan der Obrigkeit, die Gewalt über euch hat,« und »gebet dem
Kaiser, was des Kaisers ist,« -- und ward Schleichhändler wie sein
Verführer.

Die Geschäfte gingen nach Wunsch, denn von den drei Officianten, welche in
Pranbeck stationirt waren, drückten zwei ihre Augen bei den nächtlichen
Affairen des Wirthes zu, denn dieser wußte ebenso gut zu zahlen wie
zu sprechen, und der Dritte war schon ein älterer Mann, der leicht zu
täuschen war. Bald war Ludwig so gut bei Kasse wie nie vorher, daraus
erklären sich seine Hoffnungen, Briefe und Geschenke nach Waldhaus.

Etwas länger als ein Jahr mochte Ludwig in Pranbeck sein, als bei
furchtbaren Aequinoctialstürmen ein Schiff in der Nähe des Oertchens
strandete. Die Mannschaft rettete sich, und die reichen Waaren, die es
trug, wurden glücklich im Wachthäuschen auf einem Küstenvorsprunge
und dem daneben stehenden Wachtthurme geborgen. Das Schiff gehörte einem
Lübecker Kaufmanne und war in einer Anstalt versichert, die einen Agenten
in der Provinzialhauptstadt hatte. Dieser, schnell benachrichtigt, war
selbst bei der Bergung zugegen gewesen, hatte die Bekanntschaft des
zuvorkommenden Wirthes und auch Ludwigs gemacht, der bei dem Unglücke
sich sehr muthvoll und menschenfreundlich bewiesen hatte. Am Tage nach des
Agenten Abreise sollten die Sachen auf schon bestellte Wagen gepackt und
ihm nachgeschickt werden.

Die nun hereinbrechende Nacht wurde verhängnißvoll für Ludwig. --

Der Wirth war am Nachmittage schon äußerst splendid mit Wein gewesen,
aufgeregt war man ohnehin von den Begebenheiten. Man redete viel von Muth,
Recht und lächerlicher Peinlichkeit, und endlich stand so viel fest,
daß, wer es wage die geborgenen Sachen sich zuzueignen, einen Hauptstreich
ausführe, der ersprießlichere Folgen haben werde, als die Arbeit
von wenigstens zwanzig Jahren, und der Verlust sei nur der der
Versicherungsgesellschaft, komme auf Niemanden eigentlich merklich.

Ludwig stand auf und wollte der Versuchung entfliehen, sein Zimmer
aufsuchen, aber dort war es ihm zu eng, er hüllte sich dicht ein und
ging zum Dorfe hinaus, wo das Rauschen des Meeres -- ein wunderlicher
Sirenengesang! -- ihn zog und lockte, bis er am Strande stand.

Weithin ringsum hörte man nichts anderes als Wind und Wasser, und wäre
auch ein leises Geräusch entstanden, es wäre ungehört erstorben in
diesem unnachahmlichen Zwiegespräch. Da kam der Wirth mit seinem Knechte
in der Dunkelheit daher, auch die beiden ungetreuen, eidbrüchigen
Grenzbeamten folgten. Sie schritten so eilig dem alten Wachtthurme zu, als
beflügle der Pflichteifer ihre Schritte, als seien sie so ganz sicher, auf
richtigen Wegen zu gehen. Ludwigs Blut pulsirte heftig, er sollte Mitwisser
dieses Unternehmens werden, halber Theilnehmer, und keiner Gewinn davon
haben, wo so großer Gewinn zu hoffen war? Es kostete dem Wirth nur wenige
Worte und Ludwig ging mit ihm. Es war freilich eine That, die er nie,
selbst nicht in Zukunft seinem Weibe vertrauen durfte, aber für seine
Ueberwindung zahlte sie auch mit dem eigenen Herde!

Nur eine Schwierigkeit war bei der Geschichte zu fürchten, und das war die
mögliche Widersetzlichkeit des Wächters. Zwar war er ein bequemer Mann
und hatte bei der Schmuggelei oft seine Hand zur Hülfe geliehen, aber hier
war's gefährlich für ihn, und wenn er sich weigerte, gemeinschaftliche
Sache mit ihnen zu machen, dann mußte man auf den Fang verzichten. Es war,
wie man gefürchtet hatte, der Wächter war unbestechlich. Vergebens
waren all die glatten Worte des Wirthes, der Plan schien dem Alten zu
handgreiflich: ohne Zuchthaus, meinte er, könnte das unmöglich enden.

Der Knecht erhielt von seinem Herrn einen Wink und begab sich wieder nach
Pranbeck zurück, die Uebrigen schienen ihre verbrecherischen Wünsche
aufgegeben zu haben, der Wirth schmollte zwar etwas, nahm aber die
Einladung zu einer Parthie Landsknecht an, und setzte sich zum Spiele an
den Tisch.

»Halt!« rief er plötzlich nach einer Weile, »ich habe einen
unbezahlbaren Einfall. Wir wollen unsern Aerger hinunterspülen. Einen
Bohrer her!«

»Wozu?« fragte der Strandwächter.

»Sollt schon sehen, altes Hasenherz. Wo ist der Schlüssel zur Remise?«

»Gut verwahrt,« erhielt er lachend zur Antwort.

»Keine Dummheiten!« schalt Jener, »glaubt Ihr denn, wir werden Euch
wider Willen die Sachen wegnehmen, die Ihr nicht theilen wollt? Nein, das
führte höchstens zu einem Jahre Wolle spinnen in Gesellschaft, aber wir
wollen die hübschen Fäßchen ein Bischen erleichtern, und Eure Gesundheit
in gekapertem Weine trinken.«

»Geht doch nicht an,« wehrte der Alte, »'s ist gleich zu merken, sie
brauchen bloß das Faß anzurühren, so --«

»Giebts denn kein Wasser in der Welt mehr?« unterbrach ihn der Wirth
lachend, »nur einen Bohrer her, für das Uebrige werde ich sorgen.«

Der Wächter, nach dem verführerischen Getränke lüstern, war's
zufrieden; bald war Wein in Fülle da, und von Neuem begann ein
lästerliches Trinken und Durcheinandergerede schlechter Dinge. Ludwig war
nur Zuschauer dieser Scene geblieben; das, was er hörte, war ihm ekelhaft,
er hätte dies gern gesagt, oder durch sein Entfernen angedeutet, aber er
merkte, daß der Wirth noch etwas im Schilde führte, sah deutlich seinen
Triumph, als der Wächter, von dem reichlich genossenen Weine betäubt und
verwirrt, allmählig ein albernes Gewäsch zu reden anfing, in welches der
feine Wirth lustig mit einstimmte, dann mit übersichtigen Augen, wie
im Traume, bald hier, bald dorthin starrte, und endlich sich in die Ecke
lehnte und einschlief. Jedenfalls wollte er abwarten, wie die Geschichte
sich noch entwickeln würde.

»Das hat Mühe genug gekostet,« flüsterte der Wirth und deutete auf den
Trunkenen, der von seinen Sinnen nicht wußte, »aber nun schnell, Johann
wird längst mit dem großen Wagen draußen halten; ich wußte, wie
es kommen würde, und habe meine Vorkehrungen getroffen. Hier ist der
Schlüssel, ich stecke die Laterne an und komme nach.«

Ludwig stand noch da, ohne sich zu regen. Ein Rest der alten Gesinnungen
war noch vorhanden, eine Scheu warnte ihn, nicht ein so großes Uebel zu
thun und wider den Herrn seinen Gott zu sündigen. --

»Alle Mann heran!« scherzte frohlockend der Wirth, und rieb sich die
Hände, »das giebt einen köstlichen Spaß!«

»Aber,« wendete Ludwig ein, »Kraaß wird natürlich Alles erzählen.«

»Bewahre!« entgegnete der Andere, »wir rühren hier im Thurme nicht das
Mindeste an. Wenn er morgen aufwacht, wird's sein, daß man ihn,
entsetzt über den leeren Speicher, herausdonnert. Jeder Mensch wird dem
verschlafenen, alten Säufer die Unschuld gleich an der Nase ansehen, und
er wird sich hüten, die auf Verdacht anzuklagen, die als Freunde sehr
vortheilhaft, als Feinde aber sehr gefährlich sein würden.« --

Ludwig betheiligte sich an dem Diebstahle. Es wurde gleich abgemacht, daß
bei der Theilung keine Gewinnstufen stattfinden sollten, nur der Knecht
mußte sich mit einem Antheile von 50 Rthl. zufrieden erklären.

Gegen 2 Uhr Nachts fuhr die erste Ladung in die ungepflasterte Auffahrt des
Wirthshauses. Ludwig begleitete sie, um die Waaren nach Weisung des
Wirthes unterzubringen. Während dieser Zeit belud man den schon harrenden
Einspänner und berechnete, wann Alles abgemacht sein könnte, als der
Wächter laut scheltend und fluchend vor dem Thurme erschien, und mit
vielen Schwüren betheuerte, er werde diesen Diebstahl verhindern. Den
Dieben trat der Angstschweiß auf die Stirn, zum Glück tobte freilich das
Meer, aber der Mann hatte eine gellende Stimme.

»Schweigt, Unsinniger,« sprach der Wirth drohend auf ihn ein, »es ist zu
spät, legt Euch und schlaft, Ihr wißt von Nichts!«

»Oho!« schrie der Andere, »ich weiß von Nichts? -- wir wollen doch
einmal sehen!« und damit ging er trotzig in den Thurm. Wie der Wind war
der Wirth hinter ihm her. Aber da klang es schon durch die Nacht hin --
Glockenschlag -- der Alte hatte die Nothglocke angeschlagen, einmal aber
nur, dann mußte er sich beruhigt haben, vielleicht war er in seiner
Trunkenheit umgefallen. Es wurde ganz still im Thurme. --

Am andern Morgen verbreitete sich mit reißender Schnelligkeit das
Gerücht: der Strandwächter Kraaß sei erdrosselt, und ein großer Theil
der Ladung des gestrandeten Schiffes Hieroglyph gestohlen.

Einer von denen, die durchaus dieses Gerücht nicht glauben konnten, war
der Wirth in Pranbeck, und als sich die Thatsache dennoch herausstellte,
war er eifrig damit beschäftigt zu beweisen, daß Seeleute dies Verbrechen
verübt haben müßten. Trotz seines Unglaubens und seiner Gründe wendete
sich aber der Verdacht sehr bald gegen ihn selbst, und acht Tage nach jener
schrecklichen Nacht ward er, die beiden jüngern Grenzbeamten, sein Knecht
und Ludwig Schmidt, der bei ihm arbeitende Tischlergesell, auf einem Wagen
nach der nächsten Kreisstadt eskortirt. Die Gefangenen waren gefesselt und
zwei Gensdarmen begleiteten sie.

In dieser Zeit war es, als die alte Mutter im Waldhause so vergeblich und
unruhig auf einen Brief von ihrem Sohne wartete. In dieser Zeit beugte sich
auch ein Mensch, der lange Zeit mit seinem Gotte unzufrieden gewesen war,
und ihn gemeistert hatte, mit durchgreifender Zerknirschung tief, tief in
den Staub. Gleich in dem ersten Verhöre hatte er seine Schuld gestanden;
vom Morde wußte er nichts. Das mußte aber erst erwiesen werden; zwei
der andern Gefangenen gingen gerade so weit wie Ludwig, des Diebstahls
bekannten sie sich schuldig, des Mordes nicht, und der Wirth und sein
Knecht wollten anfangs sogar von gar keiner Schuld wissen, die gefundenen
Sachen waren rechtmäßig erworbene Lagervorräthe, alle erschwerenden
Umstände des Verdachtes beklagenswerther Zufall. --

In seiner einsamen Zelle erschienen Ludwig am Tage und in den langen
schlaflosen Nächten liebliche und doch so schmerzenbringende Bilder. Seine
Jugendzeit, das stille, heimische, so oft verachtete Haus, besonders
aber die Mutter mit ihrer reichen Liebe, ihren Thränen und ihren tausend
Opfern. Auch seine stolzen Gedanken von früher und alle seine hohen
Versprechungen kamen zurück und sahen ihn höhnend an. Dann hätte er laut
aufschreien mögen, zu qualvoll war's, zu schrecklich!

»O Mutter, Mutter!« rief er laut. -- Der Schlüssel klirrte im Schlosse,
die Thür ging auf, Ludwig raffte sich auf vom Boden, er hatte auf den
Knien gelegen, aber er stieß einen furchtbaren Schrei aus, verhüllte sein
Antlitz und beugte es ganz hinab, daß es nichts mehr sehen konnte, auch
all sein Elend nicht zeigte. Seine Mutter stand ja vor ihm, wirklich vor
ihm, bleich und liebevoll, weinend ihm entgegen lächelnd. Sie streckte
auch die Arme aus, aber wie hätte er es wagen dürfen, dahinein zu sinken,
er, der Verbrecher im Kerker, in die Arme dieser Mutter!

Aber hatte der Anblick die Mutter denn getödtet? Er hörte ja nichts von
ihr, kein Wort, keine Bewegung. Er mußte es wagen, seine Augen zu ihr zu
erheben. Da lag sie auf ihren Knien, und ihre Hände und Blicke und ihr
ganzes Herz waren nach oben gerichtet, und ihre Lippen bewegten sich ganz
leise. Da das der Sohn sahe, wand er sich kniend zu ihr hin und reichte ihr
die heilige Schrift, wie sie da aufgeschlagen gelegen hatte, und deutete
mit dem Blicke auf eine Stelle, die er täglich wohl hundert Mal gelesen
und immer wiederholt hatte. Und die Mutter warf nur einen Blick hinein,
und dann sprach sie laut und klangvoll, daß das Herz des Sohnes erbebte:
»Herr Gott, Dich lobe ich; dieser mein Sohn war todt und ist wieder
lebendig geworden, er war verloren und ist wieder gefunden worden!«

Ludwigs Abwesenheit vom Schauplatze des Verbrechens zur Zeit des Absterbens
des Alten, stellte sich im Laufe der Untersuchung sicher heraus; er ward
von der Anklage auf muthmaßlichen Mord freigesprochen. Anders war's mit
dem Diebstahle, den er selbst eingestanden, dafür wurde er zu zwei Jahren
Zuchthaus verurtheilt, die er, begleitet von seiner Mutter, die sich
nie wieder von ihm trennen wollte, abbüßte. Die alte Frau,
vom Untersuchungsrichter empfohlen, fand in der Familie eines
Strafanstaltsbeamten ein Unterkommen als Kinderwärterin und durfte
täglich ihren Sohn sehen, auch mit ihm Morgens und Abends in dem großen
Betsaale des Zuchthauses ihr Gebet mit dem seinigen vereinigen.

Als die Strafzeit zu Ende war, kehrten Mutter und Sohn in die Heimath
zurück. Ludwig konnte nach den Gesetzen der Innung nicht Meister seines
Gewerkes werden, aber er fand dennoch allerlei Beschäftigung und viel
weniger hartes Urtheil, als man gewöhnlich über Gefallene hört. Sein
stilles Wesen, sein Fleiß, seine Kindesliebe, und vor Allem seine Demuth
und Anspruchslosigkeit söhnten die Menschen mit ihm aus, und seine Mutter
fühlte sich so glücklich in seiner Gesellschaft wie nimmer zuvor. --

»Lebt sie noch?« fragte Cäcilie.

»Nein,« antwortete Julchen, »aber Du kennst den Sohn ganz gut, es ist
der Missionsbote für unsern Kreis.« --

»Schmidt?« fragten die Mädchen verwundert.

»Ich habe ihn ja immer bei seinem Namen genannt,« erwiederte Julchen
lächelnd.

»Es giebt viele dieses Namens, aber nun weiß ich, wovon er es versteht,
so wunderschöne ausgelegte Kästchen zu verfertigen,« meinte Ida.

»Und warum er, der geschickte Mann, diese Beschäftigung erwählt hat,«
setzte Cäcilie hinzu. »Ja, wie viele Menschen würden wir mit ganz andern
Augen ansehen, wenn wir ihre Geschichte so genau kennten.«

»Und ihr Herz,« sprach ich leise.

»Das gehört ja zusammen,« erwiederte sie nachdenklich, »ich glaube
wenigstens.« --

Ein unerhört langer Brief. Ich habe mehrere Abende daran geschrieben, that
es aber recht gern. Schade daß Du die Augen nicht dazu siehst, die mir
dabei oft vorschwebten. In diesen Augen spiegeln sich treu alle Gefühle:
Besorgniß, Trauer, Hoffnung, Beifall, Andacht, nur eins sah ich noch nicht
darin, werde es auch wohl nie sehen. Zuweilen senken sich auch diese Augen
beharrlich, dann möchte ich erst recht wissen, was sie zu verbergen sich
bemühen. -- Lebe wohl.

  _Dein Justus._



  Am 6. März.

Dank für Deinen lieben Brief, besonders für die Stelle, welche meine
Frage so schön beantwortet. Gemeinsames Streben also, Ein Zier, Ein
Glaube, Eine Liebe, Eine Hoffnung verwischen alle sonstige Verschiedenheit
und bedecken der Flecken Menge. Ein Streben -- ja das ist vorhanden, zur
höchsten Klarheit, aber Glaube, Liebe, Hoffnung, darin erscheint sie mir
vollendet, und ich bin nur ein schüchterner Anfänger darin; es ist nicht
unmännlich, die Wahrheit zu gestehen, sie mag heißen, wie sie will. --

Ich werde jetzt stark in Versuchung geführt, etwas zu wagen: unser
elterliches Haus soll verkauft werden, aber es ist nur eine Versuchung
Unruhe und Schmerzen hervorzurufen, ich will mich davon losreißen. --
Dienstag über acht Tage werde ich abreisen, dann fährt der Graf nach
Berlin und ich mit ihm. Vielleicht ist dies also der letzte Brief aus
Burgwall, er soll Dir innige, treue Grüße bringen. --


  Den 15. März.

Der Brief liegt noch, die letzte Zeit war voller Unruhe, nun will ich
aber unsere Burgwaller Correspondenz schließen. Auf morgen früh ist die
Abreise festgesetzt, der Koffer ist gepackt und die leidigen Visiten sind
überstanden, nur Bernwachts und Julchen habe ich noch aufgespart, die sind
für sich. -- Cäcilie ist seit einiger Zeit leidend, möglich, daß ich
sie nur noch auf Augenblicke sehe. Ich liebe das junge Mädchen, Pauline,
es ist keine Phantasie, keine Passion, es ist ein unwiderstehlicher Zug des
Herzens, der mich an sie fesselt, ich fühle das jetzt mit einer Klarheit,
die mir den Abschied sehr schwer, aber ganz unumgänglich nothwendig macht.
-- Das Kind ist so zart, wenn sie stürbe! Ich zittere bei dem Gedanken.
Wüßte sie, daß ich leide, dann würde sie traurig werden, trauriger muß
ich sagen, denn in ihrem leidenden Zustande sieht sie matt und angegriffen
aus, auch seelenmatt, sie lächelt viel seltener als sonst, aber ihr
würde auch unheimlich dabei, denn sie kennt ja keine Liebe, die Schmerzen
bereitet. Sie sei Gott empfohlen, Seine Engel werden sie beschirmen. --

Ich werde nun in die Stadt gehen, auch auf den Friedhof, und will für Dich
ein Epheublatt mitbringen vom Grabe der Mutter. --

Sobald ich kann, werde ich Dich aufsuchen. Die Zukunft sieht mich
allzuschaal und nüchtern an, kaum mag ich an sie denken. Lebe wohl!

  _Justus._



  Berlin, den 20. März.

Du wirst es gleich diesen Schriftzügen ansehen, daß etwas Großes mit mir
geschehen ist, nicht wahr, Schwesterherz? Falte Deine Hände und bete für
Deinen Bruder, mein Herz ist nicht im Stande, allein dem Herrn die heiligen
Opfer darzubringen, die ihm gebühren, Du mußt helfen dabei! Sei
auch nicht unwillig, wenn ich ungewöhnlich spreche, es ist ja nur Dir
gegenüber, wo das Herz und der Mund klingen dürfen, wie sie wollen, die
Welt hört nichts davon und ich kann ja nicht anders.

Ich schrieb Dir traurig zuletzt, -- da auf den vorigen Seiten steht es noch
-- und beklemmten Herzens ging ich zu Bernwachts hinab.

»Cäcilie ist krank,« flüsterte mir Burga zu, als ich mich dem Hause
näherte, »Du mußt ja leise gehen, und die Thür nicht so hastig
aufmachen, sie ist so schreckhaft.«

»Sie hat das Fieber,« setzte Berga hinzu, »Mama meint, sie fiebere.« --
»Nein,« widersprach die Andere, »sie hat ein Herzleiden. Vorhin war ich
oben bei ihr, und wir sprachen ganz ruhig, ich sagte, das Wetter wäre so
schön zu Deiner Reise, da sah ich, daß sie die Hand auf die Brust
legte. Thut's da weh? fragte ich, da sagte sie: nein, aber es klopft viel
heftiger, als es soll und, darf. Nach einer ganzen Weile sagte sie erst:
so, nun ist es gut.«

Mit Schrecken gedachte ich ihrer stets sehr zarten Farbe und in letzter
Zeit war sie wirklich auffallend blaß gewesen. Die Mutter begegnete mir
auf dem Flur, ich fragte gleich nach Cäcilien und erhielt tröstliche
Nachricht. Es sei durchaus nichts von Bedeutung, sie sei auch unten im
Wohnzimmer. So war es auch. Ich fühlte mich nicht behaglich, der Abschied
lag mir wie eine Bürde auf dem Herzen, daher brach ich früh auf. Alle
sprachen liebe Worte, auch Cäcilie reichte mir ihre liebe Hand und sah
mich lange sanft und freundlich an. »Sie wollen ja nicht wieder kommen,«
sagte sie, »nun will ich mir schon Ihre Züge recht einprägen. Sie sind
stets gütig gegen mich gewesen.«

Ich küßte ihr schweigend die Hand und ging dann zu Julchen und nahm
Abschied von den Gräbern.

Als ich zurückkehrte, sah ich in Cäciliens Zimmer helles Licht, ich
wußte ganz bestimmt, daß diese Stube im obern Stock die ihrige war. Gern
hätte ich noch einen Schimmer ihrer Gestalt gesehn; ich harrte, da kam sie
an das Fenster und sah zum Himmel hinan, droben aber funkelten die Sterne
in wundervoller Pracht! Ich faßte gar keinen Entschluß, ich überlegte
nichts, aber ich ging zu ihr, ich konnte nicht anders.

Niemand begegnete mir, im Dunkeln fand ich mich hin, bald stand ich vor der
Thür und klopfte an: ich durfte eintreten. Sie stand noch am Fenster, nun
wendete sie sich mir zu, ihre Hand legte sie leise aufs Herz, dann setzte
sie sich wie erschöpft, fast wankend auf den Sopha und beugte einen Moment
ihre Stirn in die Kissen nieder. »Sie sind sehr krank,« sagte ich heftig
ergriffen. »Nein,« erwiederte sie, »nur sehr schwach, und ich verdiene
diese Strafe vollkommen.«

»Welche?« fragte ich. »Daß Sie mich so sehen.« Ich verstand sie nicht.
»Ich bin sehr heftig,« fuhr sie fort, »die erste große Versuchung, die
der Herr mir schickt, zeigt mir meine gänzliche Hülflosigkeit, aber im
Bekennen wächst die Kraft, so, nun wird es besser!«

Sie richtete bei diesen Worten ihren Blick mit Begeisterung auf ein Bild
ihr gegenüber, ich folgte und war versucht an Wunder zu glauben; das
Christusbild aus meiner Mutter Kabinet war Cäciliens Eigenthum!

»Ich kenne den Grund Ihrer Selbstanklagen nicht,« sprach ich mit tiefer
Erregung, »ich kann nicht ahnen, was Sie so tief bewegt, aber Sie sollen
wissen, mit welchem Schmerze ich von hier scheide; ich wollte schweigen,
aber ich kann es nicht.«

Und nun erzählte ich ihr all die schönen Träume, die mich in Burgwall
umschwebt, von dem Erkerstübchen, von all den wonnigen Phantasien, die
mit ihm zusammenhingen, daß ich ihnen entsagen müßte, weil ich mich der
vollen Huld eines geliebten Wesens, welches für mich der Inbegriff aller
menschlichen Liebenswürdigkeit sei, unwürdig fühlte, daß ihr ganzes
Benehmen mir auch zeige, wie wenig sie meine Liebe verstanden habe und
erwiedere. Jetzt sei sie leidend, eine dunkle Unruhe hätte mich getrieben,
sie noch einmal aufzusuchen, sie möge verzeihen, um der Liebe willen, die
ihr geweiht sei. Und ich verstummte vor seligem Entzücken, entzündet an
ihrem, an Cäciliens, die mich, mich liebt. Du glaubst es nicht, Du fragst,
ob dies möglich ist; es ist durch Gottes reiche Huld volle köstliche
Wahrheit!

Viel hätte ich zu erzählen von ihrer Demuth, die von Glück sprach,
von ihrer himmlischen Offenheit, die mir gestand, wie sie bei meiner
herannahenden Abreise Blicke in ihr Herz gethan und gefunden habe, daß
es zagte, eine Oede zu werden, wenn sie fern von mir sein würde, wie sie
befürchtet, Gott müsse zürnen, daß sie sein Geschöpf so sehr, zu sehr
liebe. Und sie hat recht: bin ich dessen würdig? -- Aber nun strahlte ihr
kleines blasses, süßes Gesicht im Glanze der Verklärung: Gott war ihren
Gefühlen gnädig, er segnete sie!

Wir gingen Hand in Hand hinab. Nichts von dem allgemeinen Staunen, Du
kannst Dir's denken. Die Alten waren anfangs vor Ueberraschung stumm,
Cäcilie hing aber an ihrem Halse und Burga und Berga umarmten mich,
Therese und Ida kamen auch, da bekamen sie die Sprache wieder und Thränen
dazu, und ich erhielt ihr Engelskind mit dem vollsten wärmsten Segen.

Nur wenige Stunden war ich noch in ihrem Kreise, hatte auch
Geistesgegenwart genug an den Kauf unsers Vaterhauses zu denken, mein
_Schwiegervater_, -- wie klingt das, Pauline? ich sage Dir wie ein Segen!
-- also mein Schwiegervater wird diese Angelegenheit besorgen.

Zum letzten Male erstieg ich den Schloßberg. Ich blieb oft stehen und sah
gen Himmel. Gott, welcher Reichthum droben und hier, ich staune, ich bete
an, ich bitte um Verzeihung! Mein Glück wird endelos sein, Gott hat es mir
gegeben; es ist auch ein solches, welches noch wachsen wird, denn Er wird
es pflegen und behüten, ich fühle es.

Am nächsten Morgen verkündigte ich dieses Glück der gräflichen Familie
und empfing ihre freudigen Glückwünsche, dann nahm ich Abschied von der
verehrten Frau, und bald lag Burgwall hinter mir, aber trotz Abschied und
Ferne, damals und jetzt, erhebe ich meine Hände und mein Herz hinan zum
Himmel, Ihm Dank und Preis darzubringen, der so Großes an mir gethan
hat; der meiner Seele half, als sie rang nach dem neuen Leben, der alle
Dunkelheit und alles Bangen vernichtete, und in seinem Liebesrath mir den
Engel beigesellte, dessen lichte Klarheit mir in Zukunft jeden Schatten von
meinem Pfade verscheuchen wird!

Aber Du mußt sehen, Pauline, Du sollst und mußt Deine Schwester bald
kennen lernen. Zu Pfingsten erwarten wir Dich bestimmt in Burgwall.

Schreibe bald, grüße auch Deine edlen, alten Freundinnen, und sei so
glücklich wie

  _Dein Bruder Justus_.



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Für Frauen und Jungfrauen:


Die Pflegerin.

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Sara Martin, die Schneiderin.

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  cart. 7½ Sgr.

Vier kleine Festgeschichten

  auf Weihnachten, Charfreitag, Ostern und Pfingsten. 3. Aufl. 84 S. br.
  5 Sgr.



[ Hinweise zur Transkription


Das Originalbuch ist in Fraktur gesetzt.

Darstellung abweichender Schriftarten: _gesperrt_, =Antiqua=.

Auf den Seiten 72 und 118 wurde das Währungssymbol für "Reichsthaler"
ersetzt durch die Abkürzung "Rthl."

Der Text des Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten, mit folgenden
Ausnahmen,

  (Seite 21)
  im Original "»Mache einmal deine Augen zu, Felicitas,"
  geändert in "»Mache einmal deine Augen zu, Felicitas,«"

  (Seite 22)
  im Original "um schön zu sei, etwas zu klein"
  geändert in "um schön zu sein, etwas zu klein"

  (Seite 22)
  im Original "dreizehn und elf Jahren Burga und Berga genannt"
  geändert in "dreizehn und elf Jahren, Burga und Berga genannt"

  (Seite 40)
  im Original "Gott nahm ihn mir früh"
  geändert in "»Gott nahm ihn mir früh"

  (Seite 41)
  im Original "fuhr die Erzählerin fort,« ich will es Ihnen sagen"
  geändert in "fuhr die Erzählerin fort, »ich will es Ihnen sagen"

  (Seite 44)
  im Original "»Sie war dabei so erwartungsfroh wie ein Kind"
  geändert in "Sie war dabei so erwartungsfroh wie ein Kind"

  (Seite 47)
  im Original "und betheuerthe ich würde nur sehr ungern"
  geändert in "und betheuerte ich würde nur sehr ungern"

  (Seite 48)
  im Original "die dem Schloße zunächst liegenden Wege"
  geändert in "die dem Schlosse zunächst liegenden Wege"

  (Seite 49)
  im Original "»Ja,« antwortete ich,« gestatten Sie nur"
  geändert in "»Ja,« antwortete ich, »gestatten Sie nur"

  (Seite 60)
  im Original "»es war immer mein liebstes."
  geändert in "»es war immer mein liebstes.«"

  (Seite 78)
  im Original "»Das thue ich auch, und lasse es nun"
  geändert in "Das thue ich auch, und lasse es nun"

  (Seite 89)
  im Original "hier im Schloße bin ich bald fertig"
  geändert in "hier im Schlosse bin ich bald fertig"

  (Seite 96)
  im Original "»Wenn, Gott will -- aber dem Demüthigen"
  geändert in "»Wenn Gott will -- aber dem Demüthigen"

  (Seite 98)
  im Original "Du kannst darin sicherer selig werden."
  geändert in "Du kannst darin sicherer selig werden.«"

  (Seite 124)
  im Original "alle sonstige Verschiedenheit und bedecken"
  geändert in "alle sonstige Verschie-schiedenheit und bedecken"

  (Seite 126)
  im Original "»Cäcilie ist krank, flüsterte mir Burga zu"
  geändert in "»Cäcilie ist krank,« flüsterte mir Burga zu"

  (Seite 127)
  im Original "sagte sie »nun will ich mir schon"
  geändert in "sagte sie, »nun will ich mir schon" ]





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Briefe eines Malers an seine Schwester" ***

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