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Title: Clerambault - Geschichte eines freien Gewissens im Kriege
Author: Rolland, Romain
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Clerambault - Geschichte eines freien Gewissens im Kriege" ***

                          [Cover Illustration]



                      R o m a i n   R o l l a n d

                         C l e r a m b a u l t

                   Geschichte eines freien Gewissens
                               im Kriege


                                1 9 2 2
                L i t e r a r i s c h e   A n s t a l t
                    R ü t t e n   &   L o e n i n g
                     F r a n k f u r t   a .   M .



                    Berechtigte Übertragung aus dem
               Französischen von S t e f a n   Z w e i g


                Druck von Oscar Brandstetter in Leipzig



                        A n   d e n   L e s e r

Dieses Werk ist kein Roman, sondern das Bekenntnis einer freien Seele
inmitten der Qual, die Geschichte ihrer Irrungen, Ängste und Kämpfe. Man
möge keine Selbstschilderung darin erblicken — werde ich eines Tages
über mich selbst schreiben wollen, so wird es ohne Decknamen und Maske
geschehen. Einige meiner Anschauungen habe ich allerdings in meinem
Helden zum Ausdruck gebracht, doch sein Wesen, sein Charakter und seine
Lebensumstände gehören ihm ganz allein zu. Ich wollte in diesem Werke
das innere Labyrinth schildern, das eine schwache, unentschiedene,
erregbare und verführbare, aber doch aufrichtige und in ihrem
Wahrheitswillen leidenschaftliche Natur langsam vorwärtstastend
durchirrt.

In einigen Kapiteln deutet das Werk auf die Art der „Meditationen“
unserer altfranzösischen Moralisten, der stoischen Essays zu Ausgang des
sechzehnten Jahrhunderts zurück. In jenen Zeiten, die den unsern
glichen, ja sie sogar an tragischem Grauen noch übertrafen, schrieb
inmitten der Kämpfe der Liga der erste Präsident Guillaume du Vair mit
unerschütterlicher Seele seine erhabenen Dialoge „Über die
Standhaftigkeit und die Tröstung im allgemeinen Mißgeschick“. Während
die Belagerung von Paris ihren Höhepunkt erreicht hatte, hielt er in
seinem Garten Zwiesprache mit seinen Freunden Linus, dem Weitgereisten,
mit Musée, dem ersten Rektor der medizinischen Fakultät, und dem
Schriftsteller Orphée. Und den Blick noch erfüllt von den tragischen
Bildern, die sie auf der Gasse gesehen — arme Menschen, die vor Hunger
gestorben waren, Frauen, die schrien: die Landsknechte verzehrten im
Temple ihre Kinder — versuchten sie ihren bedrückten Geist zu jenen
Höhen zu erheben, von denen man die geistige Welt der Jahrhunderte
umfängt und das Überdauernde jeder Prüfung sieht. Als ich in den
Kriegsjahren jene Dialoge überlas, fühlte ich mich mehr als einmal
diesem guten Franzosen nahe, der schrieb: „Es heißt ein Unrecht an dem
Menschen begehen, der geschaffen ist, alles zu sehen und alles zu
erkennen, wenn man ihn an eine einzelne Stelle der Erde bindet. Jedes
Stück Erde ist Land für den Vernünftigen... Gott hat uns die Erde
gegeben, daß wir sie alle in Gemeinschaft genießen, freilich mit der
Pflicht, anständige Menschen zu bleiben...“

                                                                   R. R.
 P a r i s, Mai 1920



                         E i n l e i t u n g[A]

Gegenstand dieses Buches ist nicht der Krieg, obzwar der Krieg es
überschattet. Sein wirkliches Thema ist das Versinken der Einzelseele im
Abgrund der Massenseele. Und dies ist für mein Empfinden ein für die
Zukunft der Menschheit viel entscheidenderes Phänomen als die
vorübergehende Oberherrschaft einer oder der anderen Nation.

Mit Absicht habe ich alle politischen Fragen in den Hintergrund
gestellt: ihnen steht gesonderte Betrachtung zu. Aber wie immer auch man
den Ursprung des Krieges begründe, mit welchen Thesen und Gründen man
ihn erklären möge — keine irdische Rechtfertigung entschuldigt das
Kapitulieren der Vernunft vor der öffentlichen Meinung.

Die allgemeine Entwicklung zur Demokratie, die von einem abgestorbenen
Begriff, dem ungeheuerlichen der Staatsräson, gedeckt ist, hat die
Geistigen Europas verleitet, sich zu dem Glaubensartikel zu bekennen, es
gäbe für den Menschen kein höheres Ideal, als Diener der Gemeinschaft zu
sein. Und diese Gemeinschaft nennt man: Staat.

Ich aber scheue mich nicht zu sagen: wer sich zum blinden Diener einer
so blinden — oder verblendeten — Gemeinschaft erniedrigt, wie es die
Staaten von heute sind, in denen eine Handvoll Menschen in ihrer
Unfähigkeit, die Vielfalt der Völker zu begreifen, durch die Lügen der
Presse, den unerbittlichen Mechanismus des vereinheitlichten
Staatswesens den Mitmenschen ihre eigenen Narrheiten,
Leidenschaftlichkeiten und Geschäfte als ihre Gedanken und Taten
aufzwingt — wer dies tut, der dient nicht in Wahrheit der Gemeinschaft,
sondern er knechtet und erniedrigt sie mit sich selbst. Wer den anderen
von Nutzen sein will, muß vorerst frei sein. Auch Liebe ist wertlos,
solange sie die eines Sklaven ist.

Freie Seelen, starke Charaktere — das tut heute der Welt am meisten
not! Auf den verschiedensten Wegen — leichenhafte Unterwerfung durch
die Kirchen, dumpfe Unduldsamkeit der Vaterländer, abstumpfender
Unitarismus im Sozialismus — kehren wir zur Form des Herdenlebens
zurück. Nur langsam hat sich der Mensch dem heißen Lehm der Erde
entrungen. Nun scheint es, als ob seine tausendjährige Anstrengung
erschöpft sei, und er läßt sich wieder in das Weiche zurücksinken. Die
Massenseele schluckt ihn auf, der entnervende Atem der Tiefe reißt ihn
mit sich... Auf darum! Rafft euch zusammen, ihr, die ihr glaubt, daß der
Kreislauf noch nicht erfüllt sei! Wagt es, euch von der Herde
abzusondern, die euch fortzieht! Jeder Mensch muß, so er ein wahrer
Mensch ist, lernen, allein innerhalb aller zu stehen, allein für alle zu
denken — wenn es nottut, sogar auch gegen alle! Aufrichtig denken heißt
für alle denken, selbst wenn man gegen alle denkt. Die Menschheit bedarf
derer, die ihr aus Liebe Schach bieten und sich gegen sie auflehnen,
wenn es not tut! Nicht indem ihr der Menschheit zuliebe euer Gewissen
und eure Gedanken fälscht, dient ihr der Menschheit, sondern indem ihr
ihre Unantastbarkeit gegen gesellschaftlichen Machtmißbrauch verteidigt;
denn sie sind Organe der Menschheit. Werdet ihr euch untreu, so seid ihr
untreu gegen sie.

 S i e r r e, März 1917
                                                                   R. R.

-----

[A] Diese Einleitung wurde im Dezember 1917 mit einer Episode des Romans
in Schweizer Zeitungen veröffentlicht. Eine beigegebene Notiz erklärte
den ursprünglichen Titel des Romans „_L’Un contre Tous_“:

„... Dieser Titel, der sich, nicht ohne Ironie, an jenen La Boëties „_Le
Contre-Un_“ durch Umkehrung anschließt, möge nicht zur Ansicht
verleiten, der Autor habe die Anmaßung, e i n e n Menschen der ganzen
Menschheit entgegenzustellen. Er ruft nur zu dem heute so notwendigen
Kampf des persönlichen Gewissens gegen die Masse auf.“

-----



                              Erster Teil



                                   §

Agénor Clerambault saß im Schatten der Laube seines Gartens von
Saint-Prix und las seiner Frau und den Kindern seine neue Ode vor, die
Ode _Ara Pacis Augustae_, die er zu Ehren des Friedens über den Menschen
und Dingen geschrieben hatte und in der er die nahe Erfüllung der
Weltbrüderlichkeit verkünden wollte.

Es war ein Juliabend. Auf den Gipfeln der Bäume lag letzter rötlicher
Schein, und durch den leuchtenden Dunst, der wie ein Schleier über die
Hügelhänge, die grauen Ebenen und die Ferne geworfen war, flammten die
Fensterscheiben von Montmartre als goldene Funken. Die Abendmahlzeit war
eben zu Ende. Clerambault, auf den noch nicht abgeräumten Tisch
gestützt, ließ im Sprechen seinen Blick voll naiver Freude von einem zum
anderen seiner drei Zuhörer hinwandern, denn er war sicher, bei ihnen
einen Widerglanz seiner Zufriedenheit zu finden.

Seine Frau Pauline hatte einige Mühe, dem Flug seiner dichterischen
Bilder zu folgen: Vorlesen ließ sie immer unaufhaltsam vom dritten Satze
an in einen Zustand von träumerischer Schläfrigkeit versinken, in dem
die häuslichen Sorgen einen ganz ungebührlichen Platz einnahmen.
Gewissermaßen lockte die Stimme des Vorlesenden die Häuslichkeiten
hervor, sich zu regen, wie Kanarienvögel im Käfig. Vergeblich mühte sie
sich, auf den Lippen Clerambaults den Worten zu folgen, deren Sinn sie
nicht mehr wahrnahm, und sie sogar mit den eigenen Lippen
nachzusprechen. Es half nichts: ihre Augen bemerkten doch unbewußt ein
Loch im Tischtuch, ihre Hände krümelten die Brotreste auf dem Tisch
zusammen, ihr Nachdenken beschäftigte sich mit irgendeiner
widerspenstigen Rechnung, bis dann plötzlich der Blick Clerambaults sie
zu ertappen schien. Dann klammerte sie sich hastig an die letzte, gerade
gehörte Silbe und redete sich in eine Begeisterung hinein, indem sie
irgendein Stück Vers nachstammelte (niemals hatte sie auch nur einen
Vers ganz richtig zitieren können):

„Wie hast du das gesagt, Agénor? Geh, wiederhole noch einmal diesen
Satz... Ach, wie das hübsch ist.“

Ihre Tochter, die kleine Rosine, schob die Augenbrauen zusammen, Maxime,
der große Bursche, zog eine spöttische Grimasse und sagte gereizt:

„Mama, unterbrich doch nicht immer.“

Aber Clerambault lächelte und tätschelte zärtlich die Hand seiner guten
Frau. Er hatte sie aus Liebe geheiratet, als er sehr jung, arm und
unbekannt war, sie hatten gemeinsam all die bitteren ersten Jahre
durchgelebt. Sie stand nicht ganz auf seinem geistigen Niveau, und
dieser Unterschied milderte sich mit den Jahren durchaus nicht, aber
Clerambault liebte und respektierte seine alte Gefährtin. Sie gab sich
mit wenig Erfolg viele Mühe, mit ihrem großen Mann, der ihr Stolz war,
gleichen Schritt zu halten; er wiederum hatte für sie eine besondere
Nachsicht. Der kritische Geist war nicht seine Stärke, und er befand
sich gerade dadurch, trotz zahlreicher Irrtümer in seinen Ansichten, im
Leben sehr wohl; denn da er sich immer zugunsten der andern irrte, die
er im schönsten Licht sah, wußten ihm seine Mitmenschen, allerdings mit
einiger Ironie, reichen Dank dafür. Er störte sie nicht in ihrer wilden
Jagd nach Erfolg, und seine provinzlerische Reinheit war für die
Blasierten ein so erfrischendes Schauspiel wie der Anblick eines Stückes
Grün inmitten eines Pariser Häusergeviertes.

Maxime machte sich ein wenig über diese Schwäche seines Vaters lustig,
ohne deshalb seinen Wert zu verkennen. Dieser hübsche Bursche von
neunzehn Jahren hatte mit seinen hellen und lachenden Augen im Pariser
Milieu rasch die Fähigkeit der geschwinden, klaren und spöttischen
Beobachtung angenommen, die sich mehr auf die äußeren Nuancen der Dinge
und Menschen richtet, als auf die Ideen: ihm entging nirgendwo das
Komische, selbst nicht bei jenen, die er liebte. Aber das geschah ganz
ohne Böswilligkeit, und Clerambault war der erste, seiner jungen
Frechheit zuzulächeln. In Wirklichkeit verminderte sie in nichts die
Verehrung Maximes für seinen Vater, sie war nur gewissermaßen ihre
Würze: die jungen Burschen müssen ja auch, um den lieben Gott gern haben
zu können, ihn manchmal am Bart ziehen dürfen!

Rosine blieb still, wie es ihre Art war, und es wäre schwer gewesen,
ihre Gedanken zu erraten. Sie hörte mit vorgeneigtem Körper, gekreuzten
Händen und aufgestützten Armen zu. Es gibt Naturen, die zum Empfangen
geschaffen scheinen wie die schweigende Erde, die sich jedem Korn
eröffnet: viele, die sich darin versenken, bleiben schlafend, und man
vermag nicht zu unterscheiden, welche Frucht tragen werden. So war die
Seele dieses jungen Mädchens. Die Worte des Vorlesenden spiegelten sich
nicht so sichtlich in ihr, wie in den klugen und beweglichen
Gesichtszügen Maximes, aber ein leichtes Rot auf ihren Wangen und der
feuchte Glanz der von den Wimpern überschatteten Augen bezeugten eine
innere Glut und Verwirrung wie auf jenen Bildern der florentinischen
Jungfrauen, die das magische Ave des Erzengels erweckt.

Clerambault verkannte sie nicht. Wenn sein Blick den kleinen Kreis der
Seinen umwanderte, blieb er mit besonderer Freude auf dem blonden
geneigten Haupte ruhen, das dieser zärtlichen Betrachtung wohl bewußt
war.

So bildeten die vier an diesem Juliabend einen reinen Ring von
Zärtlichkeit und Glück, dessen Mittelpunkt der Vater war, das Idol der
Familie.

                                   §

Er wußte, wer er war, und seltsamerweise machte dieses Wissen um sich
ihn nicht antipathisch. Er hatte so viel Freude daran, zu lieben, hatte
so viel Zärtlichkeit für alle in Nähe und Ferne ständig bereit, daß er
es nur natürlich fand, wenn man ihm diese Liebe zurückgab. Eigentlich
war er ein großes Kind. Seit kurzem zur Berühmtheit gelangt, nach einem
Leben von keineswegs goldener Mittelmäßigkeit, hatte er an jener
vergangenen Zeit zwar nicht gelitten, aber die neue, die hellere, tat
ihm wohl, und er genoß sie. Daß er das fünfzigste Jahr überschritten
hatte, sah man ihm kaum an. Zwar glänzten schon einige weiße Haare in
seinem dicken, blonden, gallischen Schnurrbart, aber sein Herz war jung
geblieben mit seinen Kindern. Statt mit dem Strom seiner Generation zu
gehen, gab er sich jeder neuen Welle hin, das Schönste des Lebens schien
ihm im leidenschaftlichen Schwung seiner Erneuerung mit jeder neuen
Jugend zu bestehen, und er kümmerte sich nicht um die Gegensätze, mit
denen immer die neue Jugend sich gegen die frühere stellt, denn diese
Gegensätze lösten sich ganz auf in seinem mehr enthusiastischen als
logischen Gefühl, das überall Schönheit sah und immer von ihr trunken
war. Dazu kam noch ein besonderes Bestreben nach Güte, das zwar nicht
recht mit seinem ästhetischen Pantheismus zusammenstimmte, aber das
seinem eigensten tiefsten Wesen entsprang.

Er hatte sich zum Wortführer aller edlen und menschlichen Ideen gemacht,
sympathisierte mit den radikalsten Parteien, den Arbeitern, den
Unterdrückten, dem Volke — das er übrigens nicht kannte, denn er war
ein reiner Bourgeois, voll von humanen und verschwommenen Ideen. Noch
mehr als das Volk vergötterte er die Menge, er liebte sich in ihr zu
baden, er genoß es als höchstes Glück, sich in der Gesamtseele
aufzulösen (wenigstens glaubte er es von sich). Diese letzte Neigung war
nun allerdings eine ziemlich verbreitete unter den Intellektuellen von
damals, die Mode unterstrich hier, wie gewöhnlich, nur einen besonders
ausgeprägten Zug des Zeitgefühls. Die Menschheit entwickelte sich in
dieser Epoche immer bewußter dem Ideal eines Ameisenhaufens entgegen,
und selbstverständlich drückten die empfindsamsten Wesen, die Künstler
und die Intellektuellen, als erste die Symptome dieser Entwicklung aus.
In ihrer Neigung erblickte man zunächst ein bloßes Spiel und verkannte
den Gesamtzustand, für den diese Symptome nur das Merkzeichen waren.

Die demokratische Entwicklung der Welt seit vierzig Jahren hatte viel
weniger in der Politik die Herrschaft des Volkes verwirklicht, als in
der Gesellschaft den Triumph der Mittelmäßigkeit. Gegen diese
Nivellierung des Geistigen hatte im ersten Augenblick die Elite der
Künstler ganz richtig reagiert. Aber zu schwach, um gegen sie
anzukämpfen, hatte sie sich mit bewußter Übersteigerung ihrer Verachtung
und ihrer Isolierung in das Abseits zurückgezogen: sie predigte eine
seltene, eine artistische Kunst, die unzugänglich blieb für die Masse
und nur aufgetan für Eingeweihte. Nun gibt es nichts Fruchtbareres als
die Flucht in die Einsamkeit, wenn man in sie ein vollwirkendes
Gewissen, einen Überfluß des Gefühls, eine strömende Seele mit bringt.
Aber welch ein Abstand zwischen diesen literarischen Cenaclen des
neunzehnten Jahrhunderts und jenen fruchtbaren Eremitagen, in die sich
die mächtigen Gedanken einstens flüchteten! Diese neuen Abseitigen waren
mehr damit beschäftigt, ihr geistiges Kleingeld aufzuzehren statt es zu
erneuern; um es rein zu erhalten, hatten sie die Münze aus dem
allgemeinen Umlauf gezogen, was zur Folge hatte, daß sie bald jeden Wert
verlor. Das Leben der Gesamtheit ging an ihnen vorbei, ohne sich um sie
zu kümmern, die Kaste dieser Künstler wurde siech und bleichsüchtig bei
ihren raffinierten Spielen. Gewaltige Windstöße zur Zeit der
Dreyfus-Krise entrissen einige Stärkere unter ihnen der Erstarrung, und
kaum daß sie aus ihrem Orchideengarten ins Freie traten, berauschte sie
der Wind der Welt. Mit ebensolcher Übertreibung, wie ihre Vorgänger sie
an die Abseitigkeit von der Menge wandten, stürzten sie sich in die
große vorüberströmende Flut. Sie glaubten, daß das Volk das Heil sei,
das Gute, das Wahre, das Schöne, und trotz aller Enttäuschungen, die sie
bei ihren vergeblichen Versuchen der Annäherung erlebten, inaugurierten
sie eine neue Strömung in der europäischen Kunst und im europäischen
Geistesleben. Sie setzten ihren Stolz darein, sich Interpreten der
Massenseele zu nennen, in Wirklichkeit aber waren es nicht sie, die
eroberten, sondern die erobert wurden. Die Massenseele hatte Bresche
geschossen in den Elfenbeinturm, und die matten Persönlichkeiten der
Denker kapitulierten; um vor sich selbst ihre Abdankung zu verbergen,
nannten sie sie eine freiwillige Hingabe. In ihrem Bedürfnis, sich
selbst zu überzeugen, fabrizierten ihre Philosophen und Ästheten eigene
Theorien, die als Gesetz beweisen sollten, daß man sich dem
allgewaltigen Leben hingeben sollte, statt es zu lenken oder auch nur
bescheiden seinen eigenen braven Weg gelassen hinzugehen. Man trieb
einen Kult damit, nicht mehr sein eigenes Ich zu sein, keine eigene
Vernunft, keinen eigenen individuellen Willen mehr zu haben (die
Freiheit galt diesen Demokratien als alte abgetane Sache), man prahlte
damit, nur mehr ein Blutkügelchen in den Adern des blind dahinwirkenden
Stromes zu sein — die einen sagten, des Stromes der Rasse, die andern,
des Stromes des Instinkts oder des universellen Lebens. Und diese
ansprechenden Theorien, aus denen die Geschickteren in der Kunst und
Philosophie ihr Teil zu ziehen wußten, standen 1914 in schönster Blüte.

Sie hatten auch ganz das Herz des naiven Clerambault gewonnen. Nichts
paßte besser zu seinem zärtlichen Herzen und zu seiner geistigen
Unsicherheit, denn für den, der sich nicht selbst besitzt, ist es
leicht, sich hinzugeben; den andern, dem All, der Vorsehung, dieser
unbekannten und undefinierbaren Macht, lädt man die ganze Last auf, für
einen zu denken und für einen zu wollen. Der große Strom zog vorbei, und
die trägen Seelen, statt ihren Weg selbst am Ufer hinzuziehen, fanden es
viel einfacher und viel berauschender, sich einfach von ihm tragen zu
lassen... Wohin?... Darüber nachzudenken, mühte sich keiner ab. Schön im
Warmen in ihrem Okzident, kamen sie niemals auf die Idee, daß die
Zivilisation einmal alle ihre Errungenschaften auch verlieren könne. Der
Gang des Fortschritts schien ihnen ebenso selbstverständlich wie die
Umdrehung der Erde, denn diese Überzeugung erlaubte ihnen ja, ruhig
zuzusehen und mit gekreuzten Armen alles geschehen zu lassen. Man gab
sich dem Schicksal einfach hin, das unterdessen den Abgrund höhlte und
sie unten erwartete.

Aber als guter Idealist sah Clerambault selten auf seine Füße. Das
hinderte ihn zwar nicht, sich blindlings in die Politik zu mengen, wie
es ja die Leidenschaft der Literaten zu jener Zeit war. Er gab gern
seinen Senf dazu, wenn ihn Journalisten, die gerade ein paar Spalten
brauchten, darum angingen, und ging ganz ernsthaft mit aufrichtigem
Wichtigkeitsgefühl in ihre Netze. Im ganzen ein guter Dichter und guter
Mensch, gescheit und zugleich ein wenig beschränkt, ein reines Herz und
schwacher Charakter, der Bewunderung und dem Tadel sowie allen
Einflüsterungen seines Milieus zugänglich, zwar unfähig zu irgendeinem
häßlichen Gefühl des Neides und des Hasses, unfähig aber auch, es bei
andern zu vermuten, kurzsichtig für das Böse, weitsichtig für das Gute
im Chaos der menschlichen Gefühle, war er so recht der Typus eines
Schriftstellers, der geschaffen ist, den Lesern zu gefallen, weil er
ihre Fehler übersieht und ihre kleinen Tugenden verschönt. Denn selbst
diejenigen, die nicht darauf hineinfallen, sind solchen Schriftstellern
dankbar, denn man will das scheinen, was man nicht ist, und liebt die
Welt von Augen gesehen, in denen das Mittelmäßige des Lebens schön wird.

Diese allgemeine Sympathie, die Clerambault beglückte, war nicht minder
schön für die drei Menschen zu genießen, die in diesem Augenblick bei
ihm weilten. Sie waren stolz auf ihn, als wäre er ihr Werk, denn was man
bewundert, ist immer ein wenig so, als hätte man es selbst getan. Und
wenn man dazu noch einem solchen Mann, einem so verehrten Wesen
zugehört, von seinem eigenen Blute ist, dann unterscheidet man nicht
mehr genau, inwieweit man von ihm stammt oder er von einem. Die beiden
Kinder und die Frau Agénor Clerambaults betrachteten ihren großen Mann
mit den zärtlichen und zufriedenen Augen des Besitzers, und er, der sie
mit seinem glühenden Wort und seinem hohen Wuchs mit den ein wenig
erhobenen Schultern überragte, ließ es ruhig geschehen. Er wußte, daß
der Besitz Herr des Besitzers ist.

                                   §

Clerambault endete seine Vorlesung mit einer Schillerschen Vision der
nahenden brüderlichen Menschheitsfreude. Maxime, trotz seiner Ironie von
Enthusiasmus hingerissen, brach in Beifall zu Ehren des Dichters aus und
trommelte allein seinen begeisterten Applaus. Pauline erkundigte sich
geräuschvoll, ob Agénor sich beim Sprechen nicht zu sehr erhitzt habe.
Rosine, die einzig Schweigsame in der allgemeinen Erregung, legte
heimlich die Lippen auf die Hand des Vaters.

Das Dienstmädchen brachte die Post und die Abendblätter. Keiner hatte
Eile, sie zu lesen. Im Augenblick, da sie aus so strahlender
Zukunftswelt traten, schienen ihnen die Nachrichten aus dem irdischen
Tag nicht sehr eilig; dennoch löste Maxime die Schleife von dem großen
bürgerlichen Tagesblatt, überlas mit einem Blick die vier gedrängten
Seiten und rief, die letzten Nachrichten überfliegend: „Donnerwetter, es
gibt Krieg!“

Keiner hörte auf ihn. Clerambault wiegte sich in den letzten
Schwingungen seiner verflogenen Worte, Rosine war in stiller
Begeisterung. Nur die Mutter, deren Denken auf nichts dauernd achtgeben
konnte und wie eine Fliege nach allen Richtungen hinflatterte, um auf
gut Glück etwas aufzulesen, hörte das letzte Wort und sagte erregt:

„Maxime, sag’ doch keine Dummheiten.“

Maxime protestierte und zeigte in der Zeitung die Kriegserklärung
Österreichs an Serbien.

„An wen?“

„An Serbien.“

„Ach so“, atmete die gute Frau erleichtert auf, als ob sie sagen wollte:
„Was da droben im Mond vorgeht...“

Aber Maxime gab nicht nach und bewies — _doctus cum libro_ — daß im
nächsten Augenblick dieser ferne Brand den Funken ins Pulverfaß werfen
könnte. Clerambault, der langsam aus seinem angenehmen Mattigkeitsgefühl
zu erwachen begann, erklärte sofort, daß nichts geschehen werde.

„Ein Bluff, so wie man schon Dutzende seit dreißig Jahren im Frühjahr
und im Sommer gesehen hat... Eisenfresser, die mit dem Säbel klirren...
Keiner glaubt an den Krieg, keiner will ihn... Ein Weltkrieg ist ja
unmöglich, das ist heute genug bewiesen. Er ist nicht mehr als ein
Schreckgespenst, und man sollte es endlich aus dem Gehirn der freien
Demokratien austreiben.“

Und Clerambault verbreitete sich in ausführlichen Worten über das
Thema...

Die Nacht war still, sanft und vertraulich. In den Feldern zirpten die
Grillen, ein Glühwürmchen leuchtete im Gras, ferne donnerte leise ein
Zug. Die Glyzinen dufteten, ein Springbrunnen tropfte murmelnd nieder,
und vor dem mondlosen Himmel drehte sich der Scheinwerfer vom
Eiffelturm.

Die beiden Frauen gingen in das Haus zurück. Maxime, müde vom langen
Sitzen, lief im Garten mit seinem jungen Hunde um die Wette, durch die
offenen Fenster hörte man, wie Rosine am Klavier mit zurückhaltendem
Gefühl Schumann spielte. Clerambault, allein zurückgeblieben,
langhingestreckt in seinen Strohsessel, atmete, voll Glück zu leben und
Mensch zu sein, mit dankbarem Herzen die Güte dieser Sommernacht.

                                   §

Sechs Tage später.

Clerambault hatte den Nachmittag im Walde verbracht. Wie der Mönch in
der Legende konnte er, am Fuße einer Eiche hingelehnt, dem Vogelsang mit
offenem Mund lauschend, ein Jahrhundert wie einen Tag hinrinnen lassen.
Erst als es Abend wurde, entschloß er sich heimzukehren. Im Eingang trat
Maxime, ein wenig blaß und gezwungen lächelnd, auf ihn zu und sagte:

„Papa, es geht los.“

Er erzählte ihm die letzten Neuigkeiten: Die russische Mobilisation, den
Kriegszustand in Deutschland. Clerambault sah ihn an, ohne ihn zu
verstehen. Seine Gedanken waren so weit weg von diesen traurigen
Torheiten! Er versuchte, die Tatsachen abzustreiten, aber sie waren
unwiderleglich. Alle setzten sich zu Tisch. Aber Clerambault konnte
nichts essen.

Er suchte nach Vernunftgründen, um die Folgen dieser beiden
verbrecherischen Handlungen zu entwerten: das richtige Gefühl der
öffentlichen Meinung, die guten Absichten der Regierungen, die so oft
wiederholte Ankündigung der sozialistischen Partei, die entschlossenen
Worte Jaurès’. Maxime ließ ihn ruhig reden, seine Gedanken waren ganz wo
anders: wie sein junger Hund mit gespitztem Ohr horchte er hinaus auf
jede Regung der Nacht... Und es war eine so reine, eine so zärtliche
Nacht. Alle, die diese letzten Abende im Juli 1914 und jenen noch
schöneren des 1. August erlebt haben, bewahren in ihrer Erinnerung den
wunderbaren Glanz der Natur, die mit ihren zärtlichen Armen und einem
schönen Lächeln des Mitleids die unselige Menschheit umfing, die damals
schon bereit war, sich gegenseitig zu zerreißen.

Es war schon fast zehn Uhr. Clerambault hatte aufgehört zu sprechen. Sie
schwiegen alle mit schwerem Herzen, irgendwie beschäftigt oder bemüht es
zu scheinen, die Frauen mit einer Handarbeit, Clerambault mit einem
Buche, das er aber nur mit den Augen überflog. Maxime war auf die
Terasse getreten und rauchte. An die Rampe gelehnt, sah er auf den
schlafenden Garten und die magische Welle von Mondlicht im Dunkel der
Alleen.

Das Läuten des Telephons ließ sie alle aufschrecken. Man verlangte
Clerambault. Er ging mit schweren Schritten, bedrückt und zerstreut, zum
Apparat. Anfangs verstand er nicht.

„Wer spricht?... Ach, Sie sind’s, lieber Freund?...“ (Ein Pariser
Kollege telephonierte ihm aus der Redaktion seines Blattes.)

Clerambault verstand noch immer nicht:

„Ich verstehe nicht... Jaurès?... wirklich Jaurès?... O mein Gott...!“

Maxime, der, von einer geheimen Ahnung getrieben, von fern dem Gespräche
zuhörte, stürzte an den Apparat, um das Hörrohr aus der Hand des Vaters
zu nehmen, das Clerambault mit einer verzweifelten Geste hatte sinken
lassen.

„Hallo! Hallo!... Was sagen Sie? Jaurès ermordet...!“

Ausrufe der Trauer und des Zornes antworteten sich durch den Draht.
Maxime ließ sich die Details sagen, die er mit geknickter Stimme den
Seinen wiederholte. Rosine hatte Clerambault an den Tisch zurückgeführt.
Wie zerbrochen setzte er sich hin. Der Schatten eines ungeheuren
Unglücks lastete wie das antike Schicksal über dem Hause. Es war nicht
nur der Freund, dessen Hingang das Herz bedrängte — sein gutes,
heiteres Antlitz, seine herzliche Hand, die Stimme, die alles Trübe
hinwegfegte... es war Trauer auch um die letzte Hoffnung der bedrohten
Völker, um den einzigen Mann, der (sie glaubten es wenigstens mit
kindlichem und rührendem Vertrauen) den drohenden Sturm hätte
beschwichtigen können. Nun, da er gefallen war, stürzte, gleichsam als
ob Atlas der Träger hingesunken wäre, der Himmel ein.

Maxime lief an den Bahnhof. Er wollte Neuigkeiten von Paris holen und
versprach, noch in der Nacht zurück zu sein. Clerambault blieb im
einsamen Haus zurück, aus dem man von fern die große Lichtausstrahlung
der Stadt sehen konnte. Er hatte sich nicht von dem Sessel gerührt, in
den er in einem Zustand von Starre gesunken war. Die Katastrophe war
unterwegs, jetzt gab es keinen Zweifel mehr, sie war schon da. Seine
Frau versuchte ihn zu veranlassen, schlafen zu gehen, er wollte nichts
davon hören. Seine Lebensidee war in Trümmer, nichts Festes, nichts
Sicheres konnte er mehr unterscheiden, keine Ordnung machen, keinem
Gedanken folgen. Sein inneres Haus war eingestürzt, und inmitten des
Staubes, der sich aus dem Schutt erhob, vermochte er nicht zu erkennen,
was noch aufrechtgeblieben, und es schien ihm: nichts! Ungeheuerliche
Massen von Leiden — das war alles. Und Clerambault betrachtete sie mit
stumpfem Blick, ohne die Tränen zu fühlen, die über seine Wangen
herabrollten.

Maxime kam nicht zurück. Die Aufregung von Paris hatte ihn gepackt. Um
ein Uhr nachts kam Frau Clerambault, die sich schon schlafen gelegt
hatte, ihren Mann holen, und es gelang ihr, ihn in ihr gemeinsames
Schlafzimmer zu führen. Er legte sich sofort zu Bett. Aber kaum, daß
Pauline eingeschlafen war (die Unruhe hatte sie müde gemacht), stand er
wieder vom Bette auf und kehrte in das Nachbarzimmer zurück. Er stöhnte,
er seufzte, seine Qual war so drückend und dicht, daß sie ihm keinen
Raum zum Atmen ließ. Mit dem prophetisch überreizten Gefühl des
Künstlers, der oft deutlicher das Kommende als das Gegenwärtige sieht,
umfing er alles, was geschehen würde, mit erschreckten Blicken und
gekreuzigtem Herzen. Dieser unvermeidliche Krieg zwischen den größten
Völkern der Welt schien ihm der Bankbruch der Zivilisation, Vernichtung
seiner heiligsten Hoffnung auf die menschliche Brüderlichkeit. Mit
Entsetzen erfüllte ihn die Vision dieser tollen Menschlichkeit, die ihre
kostbarsten Schätze, ihre Kräfte, ihr Genie, ihre höchsten Werte dem
bestialischen Götzen des Krieges hinopferte. Ein moralisches Sterben war
es für ihn, eine schmerzhafte Gemeinschaft mit den Millionen
Unglücklicher. Wozu also, wozu die Mühe von Jahrhunderten! Die Leere
erdrückte ihm das Herz. Er fühlte, daß er nicht mehr leben könne, wenn
sein Glauben an die menschliche Vernunft und die gegenseitige Liebe
zerstört würde, wenn er zugeben müßte, daß sein Credo des Lebens und der
Kunst, daß all sein Hoffen ein Irrtum und die wahre Lösung des
Welträtsels ein dumpfer Pessimismus sei, und er fühlte sich zu schwach,
zu feige, dieser Wahrheit in das Gesicht zu sehen. Voller Grauen wendete
er die Augen ab. Aber das Ungetüm war da und fauchte ihm ins Gesicht.
Und Clerambault betete — er wußte nicht zu wem, und nicht, um was —
daß es nicht geschehen möge, daß es nicht wahr sei. Alles lieber als
eine solche Wahrheit! Doch die mörderische Wirklichkeit stand hinter der
Tür, die sich auftat. Clerambault kämpfte die ganze Nacht, um ihr den
Eingang zu sperren...

Am Morgen aber begann allmählich irgendein Urinstinkt in ihm zu keimen,
der aus einer unbekannten Tiefe kam und die Verzweiflung abzulenken
suchte in das dumpfe Verlangen, eine genaue und sichere Ursache für
dieses Unglück zu finden, sie in irgendeinem Menschen oder einer Gruppe
von Menschen festzustellen und dann auf diese den ganzen Zorn über das
Unglück der Menschheit zu entladen... Nur ein kurzes Aufflammen war es,
aber dennoch schon erste ferne Ausstrahlung einer fremden, dunkeln,
gewalttätigen und finsteren Seele, die in ihn eindringen wollte — der
Massenseele...

Sie nahm deutlichere Formen mit der Ankunft Maximes an, der von ihrem
Dunst durchdrungen war, den er in der Nacht in den Straßen von Paris
eingesogen. Alle Falten seiner Kleider, jedes Haar seines Körpers war
davon durchdrungen. Überreizt, exaltiert, wollte er sich nicht
niedersetzen, er dachte nur daran schon abzureisen. Heute würde ja das
Mobilisationsdekret erscheinen. Der Krieg war sicher, er war notwendig.
Er war eine Wohltat. Man mußte einmal Schluß machen. Die Zukunft der
Menschheit stand auf dem Spiel, die Freiheit der ganzen Welt war
bedroht. Sie hatten die Ermordung Jaurès ausgedacht, um das überfallene
Vaterland uneinig zu machen und zu revolutionieren, aber die ganze
Nation stand wie ein Mann hinter den Führern. Die herrlichen Tage der
großen Revolution würden sich erneuern... Clerambault widersprach keiner
Behauptung, kaum, daß er sagte:

„Meinst du? Bist du wirklich sicher?“

Aber es war gleichsam eine geheime Bitte, Maxime möchte ja sagen und
noch mehr sagen. Die neuen Nachrichten vermehrten das Chaos noch und
trieben es zum Äußersten. Aber gleichzeitig begannen sich die verstörten
Geisteskräfte auf einen bestimmten Punkt hin zu ordnen. Es war wie das
erste Bellen des Hundes, auf das hin sich die Herde zusammenrottet.

Clerambault hatte nur mehr ein Verlangen: sich der Herde anzuschließen,
sich zu reiben an den Menschenwesen, seinen Brüdern, so wie sie zu
fühlen, so wie sie zu handeln. Obwohl er vom vorigen Abend noch
erschöpft war, ging er trotz des Protestes seiner Frau mit Maxime fort,
um den Zug nach Paris zu nehmen. Sie mußten lange am Bahnhof, lange im
Zuge warten. Die Geleise waren verstellt und die Waggons überfüllt. In
der allgemeinen Erregung fanden die Clerambaults eine gewisse
Entlastung. Er fragte, er hörte zu: Alle verbrüderten sich, und alle,
ohne zu wissen, was sie dachten, wußten, daß sie dasselbe dachten: daß
dasselbe Rätsel, dieselbe Qual sie bedrohte. Aber man war nicht mehr
allein, um ihrer Herr zu werden oder ihr zu unterliegen, und das
beruhigte, das erleichterte ein wenig. Sie fühlten alle die gegenseitige
Wärme. Es gab keinen Unterschied der Klassen mehr, keine Bürger und
Arbeiter, man sah nicht auf die Kleider und Hände, man sah sich nur in
die Augen, wo dieselbe Flamme des Lebens leuchtete, wo derselbe Schauer
des Todes schattete. Und alle diese armen Leute waren so sichtlich den
Ursachen der Katastrophe fremd, daß das Gefühl ihrer Unschuld sie ganz
einfältig zwang, den Schuldigen anderswo zu suchen. Auch das war eine
Wohltat, eine Erleichterung für ihr Gewissen.

Als Clerambault in Paris ankam, atmete er leichter; statt der Todesqual
der vergangenen Nacht fühlte er eine stoische und männliche Melancholie.

Aber er stand erst vor der ersten Stufe.

                                   §

Das Dekret der allgemeinen Einrückung war soeben an die Türen der
Gemeindehäuser angeschlagen worden. Schweigend lasen es die Leute, lasen
es noch einmal und gingen, ohne ein Wort zu sagen, weiter. Nach der
angstvollen Erwartung der vorhergehenden Tage, in denen sich die Menge
um die Zeitungskioske drängte, die Leute auf den Steinen saßen, um die
Stunde der Zeitungsausgabe zu erwarten, um sich, wenn die Blätter
endlich ankamen, auf sie zu stürzen, war dies endlich Gewißheit, und sie
bedeutete eine Entspannung. Das ungewisse Unheil, das man kommen fühlt,
ohne zu wissen, wann und woher, regt auf. Aber sobald es einmal da ist,
atmet man freier, sieht ihm ins Antlitz und streift sich die Hemdärmel
auf zum Kampf. Es gab einige Stunden mächtiger Sammlung, Paris hatte
wieder seinen Atem und rüstete seine Fäuste. Und dann: alles, was die
einzelnen Seelen zum Ersticken schwellte, stieß jetzt ins Freie. Die
Häuser leerten sich, und in den Straßen flutete ein Menschenstrom,
dessen Tropfen sich suchten, um sich zu vereinigen.

Clerambault stürzte mitten hinein und wurde aufgetrunken mit einem
einzigen Schluck, kaum daß er aus dem Bahnhof getreten war und den Fuß
auf das Pflaster gesetzt hatte, ohne daß irgendein Wort fiel, ohne
Geste, ohne Zufall. Die ernste Begeisterung des Stromes rauschte auch in
ihm. Noch war dies große Volk frei von Gewalttätigkeit. Es wußte sich
(oder glaubte sich) unschuldig, seine Millionen Herzen glühten in dieser
ersten Stunde, wo der Krieg noch jungfräulich war, von Ernst und
heiligem Enthusiasmus. In diese ruhige und stolze Trunkenheit mengte
sich das Gefühl des erlittenen Unrechts, der berechtigte Stolz auf die
eigene Kraft, auf die Opfer, zu denen es bereit war, mengte sich das
Mitleid mit sich selbst, das Mitleid mit den anderen, die ein Stück
seiner selbst geworden waren. Brüder, Kinder, Geliebte, alle waren sie
aneinander, Leib an Leib, gepreßt, zusammengepreßt durch die
übermenschliche Umklammerung, und sie fühlten das Bewußtsein des
Riesenkörpers, der ihre Einheit bildete, und die Erscheinung des
Phantoms über ihren Häuptern, das der Sinn dieser Einheit war — das
Vaterland. Halb Tier, halb Gott, wie die ägyptische Sphinx oder der
assyrische Stier — aber in jenem Augenblicke sah jeder nur seine
leuchtenden Augen, seine Pranken waren verborgen. Es war das göttliche
Untier, in dem jeder Lebendige sich vervielfältigt fand, die mörderische
Unsterblichkeit, denn die, die sterben sollten, glaubten, daß sie in ihr
weiter leben würden, ein anderes, gesteigertes, von Ruhm umwölktes
Leben. Seine unsichtbare Gegenwart strömte in der Luft wie Wein, und
jeder brachte in die Kufe der großen Weinlese seinen Korb, seine Frucht,
seine Rebe, seine Ideen, seine Leidenschaften, seine Hingabe, seinen
Vorteil. Es gab wohl viel widerliches Gewürm in den Trauben, viel
Schmutz unter den Winzerschuhen, die sie traten, aber der Wein glühte
wie Rubin und ließ das Herz erglühen. Clerambault trank davon bis zum
Übermaß.

In Wirklichkeit wurde er davon nicht verwandelt, seine Seele nicht
verändert. Sie vergaß sich nur. Kaum, daß er mit sich allein war, fand
er sie wieder zurück, stöhnend unter ihrer Qual wie von einer Wunde.
Darum ließ ihn auch sein Instinkt das Alleinsein fliehen. Er versteifte
sich darauf, nicht nach Saint-Prix zurückzukehren, wo die Familie sonst
gewöhnlich die Sommermonate verbrachte, sondern schlug seine Wohnung
wieder in Paris auf, im fünften Stock der Rue d’Assas. Er wollte nicht
einmal eine Woche warten, nicht einmal zurückkehren und bei der
Übersiedlung helfen, so sehr brauchte er diese tierische Wärme, die von
Paris aufstieg und die bis in seine Fenster hinein drang. Jede
Gelegenheit war ihm willkommen, um sich in den warmen Strom
hineinzustürzen, auf die Straße hinabzusteigen, sich den Gruppen
anzuschließen, den Manifestationen zu folgen und sich auf gut Glück alle
Zeitungen zu kaufen, die er sonst in gewöhnlichen Zeiten verachtet
hatte. Wenn er dann zurückkam, spürte er sich immer mehr entpersönlicht,
mehr unempfindlich geworden für alles, was in seiner wahren Tiefe
vorging, entwöhnt seinem eigenen Gewissen, fremd seinem inneren Haus —
seinem Ich. Und deshalb fühlte er sich auf der Gasse wohler als daheim.

                                   §

Frau Clerambault war mit ihrer Tochter nach Paris zurückgekehrt. Gleich
am ersten Abend nach ihrer Ankunft nahm Clerambault Rosine auf die
Boulevards mit.

Die feierliche Glut der ersten Tage war vorbei. Der Krieg hatte
begonnen, die Wahrheit war geknebelt, und die große Lügnerin, die
Presse, schüttete auf die Nationen, die mit offenem Maul zu ihr
aufstarrten, mit vollem Schwung den Alkohol kurzlebiger Siege und
vergifteter Berichte. Paris war beflaggt wie für einen Festtag. Vom Dach
bis zur Schwelle standen die Häuser mit den drei Farben geschmückt, in
den Arbeiterstraßen trug jedes Mansardenfenster ein kleines Fähnchen für
einen Sou wie eine Blume am Hut.

An der Ecke Faubourg Montmartre begegneten sie einem seltsamen Zug.
Vorne marschierte ein großgewachsener Greis mit weißem Bart, ein Banner
in der Hand. Er ging mit großen, geschmeidigen und rhythmisch
abgehackten Schritten, als ob er springen oder tanzen wollte. Seine
Rockschöße schlugen hin und her im Wind. Hinter ihm marschierte eine
kompakte, unbestimmbare, brüllende Masse, Arbeiter und Bürger, Arm in
Arm, ein Mädel wurde hoch auf den Schultern getragen, ein roter
Dirnenschopf zwischen der Mütze eines Chauffeurs und dem Käppi eines
Soldaten. Alle gingen sie, die Brust herausgestemmt, das Kinn gehoben,
den Mund weit aufgerissen, schwarze Löcher, aus denen die Marseillaise
dröhnte. Rechts und links flankierten verdächtige Gesichter vom
Bürgersteig den Zug, bereit, jeden Vorübergehenden zu insultieren, der
zerstreut die Fahne zu grüßen vergessen hatte. Rosine sah mit Entsetzen,
wie ihr Vater barhaupt und singend sich dem Zuge anschloß; lachend und
laut sprechend zog er seine junge Tochter am Arme mit sich, ohne den
Druck der erschreckten Hand zu spüren, die ihn vergebens zurückzuziehen
versuchte.

Heimgekehrt, blieb Clerambault gesprächig und aufgeregt. Er sprach ganze
Stunden hindurch. Die beiden Frauen hörten ihm geduldig zu. Frau
Clerambault gab wie gewöhnlich nicht recht acht und sagte zu allem ja.
Rosine hörte zu, aber sie sagte kein Wort; nur heimlich warf sie von
Zeit zu Zeit einen Blick auf ihren Vater, und dieser Blick war wie ein
tiefer Weiher, der langsam gefriert.

Clerambault begeisterte sich immer mehr. Im tiefsten Grunde war er noch
gar nicht begeistert, aber er mühte sich mit leidenschaftlicher
Gewissenhaftigkeit, es zu werden. Es blieb ihm aber immer noch genug
Hellsichtigkeit übrig, um manchmal über die Fortschritte seiner
Begeisterung zu erschrecken. Der Künstler ist durch seine Sensibilität
mehr als ein anderer allen von außen kommenden Erregungen preisgegeben,
aber er hat auch, um ihnen zu widerstehen, Gegenkräfte, die jenen
anderen fehlen. Selbst der Unbesonnenste unter ihnen, selbst jener, der
sich seinem lyrischen Aufschwung ganz hingibt, besitzt mehr oder minder
eine Fähigkeit der Einsicht, von der Gebrauch zu machen ihm selbst
anheimgegeben bleibt. Verzichtet er darauf, so ist es Mangel an Willen
und nicht an Kraft: dann hat er Angst, sich von zu nahe zu sehen, ein
Bild zu finden, das ihm vielleicht nicht schmeichelhaft erschiene.
Menschen aber, die wie Clerambault statt psychologischer Begabung nur
die Fähigkeit der Aufrichtigkeit haben, waren hinlänglich geschützt, um
ihre Ekstasen überwachen zu können.

Eines Tages, als er allein spazieren ging, sah er auf der anderen Seite
der Straße einen Zusammenlauf. Menschen drängten sich um eine
Kaffeehausterrasse. Vollkommen ruhig ging er über die Gasse hinüber; auf
dem anderen Trottoir kam er in ein wildes Getümmel, das rings um einen
unsichtbaren Punkt wogte. Er hatte einige Mühe, sich in den Wirbel
hineinzudrängen. Aber kaum daß er innerhalb dieses Mühlrades war, so
wurde er selbst ein Teil seiner kreisenden Felge; noch vollkommen
bewußt, bemerkte er, daß seine Vernunft sich mit ihm zu drehen beginne.
Inmitten des wirbelnden Kreises sah er einen Mann, der sich verteidigte,
und ehe er noch den Grund des Wutausbruches der Menge kannte, fühlte er
selbst schon diese Wut. Er wußte nicht, ob es sich um einen Spion
handelte oder um einen unvorsichtigen Schwätzer, der die
Volksleidenschaft aufgeregt hatte. Aber man schrie rings um ihn her, und
er merkte, daß... ja, daß er selbst, Clerambault, plötzlich schrie:

„Schlagt ihn nieder!“

Ein Rückstrom der Menge stieß ihn vom Trottoir zurück, ein Wagen drängte
ihn einen Augenblick von dem Knäuel, und als er den Weg wieder frei
fand, entfernte sich schon die Meute mit ihrem Opfer. Clerambault sah
ihnen nach und hörte noch den Ton seiner eigenen Stimme. Er kehrte um
und ging heim. Aber er war nicht sehr stolz auf sich...

Von diesem Tage an ging er seltener aus. Er mißtraute sich. In seinem
Zimmer aber fuhr er fort, diese Trunkenheit bewußt zu nähren. An seinem
Arbeitstisch glaubte er sich in Sicherheit. Doch er kannte noch nicht
die Ansteckungsgefahr dieser Seuche; sie gleitet durch die Fenster,
durch die Türritzen, durch das bedruckte Papier, durch die Luft, durch
die Gedanken. Die Feinfühlendsten spüren sie schon, bevor sie etwas
gesehen oder gelesen haben, kaum daß sie die Stadt betreten, andere
wieder brauchen sie bloß einmal im Vorübergehen gestreift zu haben: die
Ansteckung wirkt dann schon selbsttätig auch in der Isolierung fort.
Clerambault, obwohl von der Masse entfernt, war doch von ihr angesteckt
worden, und schon kündigte sich die Krankheit durch ihre gewöhnlichen
ersten Symptome an. Dieser mitfühlende und zärtliche Mensch haßte, haßte
aus Liebe. Im geheimen versuchte seine nicht sehr originelle, aber
glühende und aufrichtige Vernunft sich selbst zu betrügen, ihre
Haßinstinkte durch Gründe zu rechtfertigen, die dazu in gar keiner
Beziehung, ja sogar im Gegensatz standen. Er mußte sich die
Ungerechtigkeit und die leidenschaftliche Lüge erst beibringen. Er
versuchte sich zu überreden, daß er die Tatsache des Krieges hinnehmen,
ja sogar mitmachen dürfe, ohne darum seine Friedensliebe von gestern,
seinen Menschenkult von vorgestern und seinen ewigen Optimismus zu
verleugnen. Ganz einfach war dies zwar nicht, aber es gibt ja nichts,
was die Vernunft nicht irgendwie sich vorzureden vermöchte. Fühlt jemand
die zwingende Notwendigkeit, für einige Zeit moralische Grundsätze, die
ihm lästig sind, von sich abzutun, so findet die Vernunft, sein getreuer
Knecht, zu diesen Grundsätzen schon immer die Ausnahmen, die die Regel
bestätigen und sie doch durchbrechen. So begann Clerambault sich eine
Weltanschauung, ein absurdes, paradoxes Ideal zu fabrizieren, das die
Widersprüche irgendwie auflöste, indem er sich sagte: „Der Krieg gegen
den Krieg, der Krieg für den Frieden, für den ewigen Frieden.“

                                   §

Eine große Hilfe war ihm innerlich die Begeisterung seines Sohnes.
Maxime hatte sich sofort gemeldet. Eine Welle heroischer Freude riß
seine Generation hin. Zu lange hatte sie schon — sie wagte schon gar
nicht mehr zu hoffen — gewartet auf irgendeine Gelegenheit zur Tat und
zur Aufopferung.

Die älteren Männer, die sich niemals Mühe gegeben hatten, diese
Generation zu verstehen, waren von ihrer Haltung begeistert. Sie
erinnerten sich ihrer eigenen mittelmäßigen und verpfuschten Jugend, die
nur erfüllt war von kleinlichem Ehrgeiz, beschränkten Ambitionen und
schalen Genüssen. Da sie sich selbst in ihren Kindern nicht erkannten,
schrieben sie dem Kriege das Aufblühen all dieser Tugenden zu, die seit
zwanzig Jahren doch schon neben ihrer Gleichgültigkeit aufwuchsen und
die dieser Krieg nun niedermähen sollte. Selbst neben einem so
großzügigen Vater wie Clerambault war Maxime immer verdunkelt gewesen.
Clerambault war zu beschäftigt, sein überströmendes und verwirrtes Ich
zu verbreiten, um die Menschen, die er liebte, wirklich gut erkennen und
ihnen helfen zu können. Er brachte ihnen den heißen Niederschlag seiner
Ideen, aber er verstellte ihnen das Licht.

Diese jungen Menschen aber, gedrängt von ihrer eigenen Kraft, suchten
vergebens eine Betätigung und fanden sie nicht in der Linie des Ideals
selbst ihrer besten Väter und Vorgänger. Die Menschlichkeitsträumerei
eines Clerambault war für sie zu unbestimmbar, zu wenig greifbar, denn
sie begnügte sich mit angenehmen Hoffnungen ohne Gefahr und ohne Kraft,
wie sie ja einzig aus der Lässigkeit einer Generation entstehen konnte,
die im geschwätzigen Frieden der Parlamente und Akademien hingealtert
war. Die Gefahren der Zukunft boten jenen höchstens rednerische Themen,
aber nie suchten sie ernstlich ihnen entgegenzutreten und noch weniger
die eigene Haltung im voraus festzulegen für den Tag, da das Verhängnis
wirklich einbrechen sollte. Diese Generation hatte nicht die Kraft,
zwischen den entgegengesetzten Idealen der Betätigung innerlich zu
entscheiden. Man war gleichzeitig Patriot und international, man baute
gleichzeitig in Gedanken den Weltfrieden und in Wirklichkeit
Überdreadnoughts. Alles wollte diese Generation verstehen, mit allem
verbunden sein, alles lieben. Nun mochte ja dieser verwässerte
Whitmanismus ästhetisch seinen Wert haben, aber seine praktische
Unentschlossenheit bot den jungen Leuten am Wegkreuz der Entscheidung
keine bestimmte Richtung. Sie stapften immer auf derselben Stelle herum,
erregt von der ungewissen Erwartung und der Sinnlosigkeit ihrer
hinrinnenden Tage...

Der Krieg machte dieser Unentschlossenheit ein Ende. Sie jubelten ihm
zu, denn er traf die Entscheidung für sie. Blindlings folgten sie ihm
nach. In den Tod gehen, gut; aber nur überhaupt gehen, denn gehen heißt
leben. Die Bataillone zogen singend auf den Kriegsschauplatz, bebend vor
Ungeduld, Blumen auf den Mützen, die Gewehre umwunden mit Grün. Die
Zurückgestellten boten sich freiwillig an, Knaben drängten sich zum
Dienst, und ihre eigenen Mütter stießen sie dazu. Man hätte glauben
können, es sei eine Abreise zu den olympischen Spielen.

Auf der anderen Seite des Rheins war die Jugend die gleiche. Hier wie
dort begleiteten sie ihre Götter: Vaterland, Gerechtigkeit, Freiheit,
Fortschritt, die paradiesischen Träume einer erneuerten Welt, jene ganze
Phantasmagorie mystischer Ideen, mit denen sich die Leidenschaften
junger Menschen immer umhüllen. Keiner von ihnen zweifelte daran, daß
ihre Sache die einzig gerechte sei. Mochten andere darüber streiten, sie
waren sich selbst lebendiger Beweis; denn wer sein Leben hingibt,
braucht kein anderes Argument.

Aber auch die alten Männer, die zurückgeblieben waren, meinten, ihr
Denken ausnützen zu müssen. Freilich nicht, um die Wahrheit zu
ergründen, sondern um den Sieg zu sichern. In den Kriegen von heute, die
ganze Völker mitreißen, ist auch der Gedanke dienstpflichtig geworden.
Er tötet ebenso wie die Kanonen, er tötet die Seele, er tötet über Land
und Meere hin, über Zeit und Jahrhunderte: er ist gewissermaßen die
schwere Artillerie, die auf weite Distanzen hin arbeitet.
Selbstverständlich richtete auch Clerambault seine Geschütze. Für ihn
war es längst nicht mehr wichtig, klar zu sehen, weit zu sehen, den
ganzen Horizont zu umfassen, sondern einzig: den Feind zu treffen. Er
war vom Wahn befangen, seinem Sohn im Kampfe beistehen zu müssen.

Mit einer unbewußten und fieberhaften bösen Absicht, die im letzten aus
einem zärtlichen Gefühl stammte, suchte Clerambault in allem, was er
sah, hörte oder las, Argumente, um seinen festen Entschluß, an die
Heiligkeit der nationalen Sache zu glauben, noch stärker und stählerner
zu machen. Er suchte alles zusammen, was beweisen konnte, daß allein der
Feind den Krieg gewollt hätte und Feind des Friedens war, daß demnach
den Feind zu bekriegen gleichbedeutend mit dem Wunsch nach Frieden sei.
Die Beweise dafür fehlten ihm nicht. Sie fehlen ja niemals. Man muß nur
die Augen immer an rechter Stelle zu öffnen und immer an rechter Stelle
zu schließen wissen, dann sieht man alles, was man sehen will. — Aber
dennoch: Clerambault war im letzten Grunde nicht ganz befriedigt. Nur
fand das geheime Unbehagen seines im tiefsten rechtlichen Gewissens an
allen diesen halben Wahrheiten und Wahrheiten mit Lügenschwänzen keinen
andern Ausweg als in einer immer leidenschaftlicheren Erregung gegen den
Feind. Gleichzeitig aber — so wie von den beiden Eimern eines Brunnens
der eine steigt, wenn der andere hinabgeht — wuchs auch sein
patriotischer Enthusiasmus, der schließlich in einer wohltätigen
Trunkenheit seine letzten moralischen Bedenken wegschwemmte.

Von nun an war er in beständiger Jagd auf neue Fakten in den Zeitungen,
die ihm seine neuen Thesen bekräftigen könnten. Obwohl er doch
eigentlich genau wußte, wie unzuverlässig die Wahrhaftigkeit dieser
Zeitungen war, so bezweifelte er doch nie irgendeine Behauptung, sobald
sie seiner gierigen und unruhigen Leidenschaft als Argument dienen
konnte. Dem Feind gegenüber hatte er das Prinzip angenommen: „Das
Schlechte ist eben das Rechte.“ In gewissem Sinne wurde er Deutschland
geradezu dankbar, wenn es ihm durch Akte der Grausamkeit und wiederholte
Verstöße gegen das Völkerrecht eine offenkundige Bestätigung für die
Behauptungen gab, die er auf jeden Fall schon im voraus ausgesprochen
hatte.

Und Deutschland kam ihm darin wirklich zu Hilfe. Noch nie hatte ein
Staat im Kriege es eiliger gehabt, die Meinung der ganzen Welt gegen
sich zu entfesseln. Diese blutübervolle Nation, die an ihrer Kraft
erstickte, hatte sich in einem Delirium von Stolz, Zorn und Furcht auf
den Gegner gestürzt, die Bestie im Menschen, kaum losgelassen, zog
gleich mit den ersten Schritten einen Kreis methodischen Schreckens um
sich. Alle Brutalität des Instinkts und des Glaubens war bewußt von
jenen aufgestachelt worden, die das Volk am Zügel hielten, von seinen
Führern, seinem Generalstab, den einberufenen Professoren und
Militärgeistlichen. Krieg war und wird immer eins mit dem Verbrechen
sein. Aber Deutschland organisierte es, so wie alles, es erhob den
Totschlag und das Niederbrennen zum Kriegsgesetz. Ein zorniger
Mystizismus aus Bismarck, Nietzsche und der Bibel gemengt, goß sein Öl
ins Feuer, der Übermensch und Christus wurden mobilisiert, um die Welt
zu vernichten und zu erneuern. — Die Erneuerung begann in Belgien, und
in tausend Jahren wird man noch davon sprechen. Die entsetzte Welt
erlebte das höllische Schauspiel, wie die alte, mehr als
zweitausendjährige Zivilisation Europas unter den brutalen und
berechneten Schlägen der großen Nation hinbrach, die eine ihrer
Führerinnen war — Deutschlands, das so reich an Intelligenz,
Wissenschaft und geistiger Macht gewesen und das in fünfzehn Kriegstagen
sich dienstfertig erniedrigt hatte. Aber was die Organisatoren der
deutschen Tollheit nicht voraussahen, war, daß sie, so wie Cholera von
einer Armee zur andern, nun ins andere Lager übergehen und, in den
Feindesländern einmal heimisch, nicht mehr zu entfernen sein würde, ehe
nicht ganz Europa davon angesteckt und für Jahrhunderte unbewohnbar
geworden war. Für alle Tollheiten und Gewalttätigkeiten dieses
erbitterten Krieges gab Deutschland das Beispiel, sein kräftiger, besser
genährter Körper bot der Epidemie ein weiteres Wirkungsfeld, und sie
wütete furchtbar; und als das Gift sich in Deutschland abzuschwächen
begann, war es schon in die anderen Nationen in Form eines langsamen und
zähen Fiebers eingedrungen, das von Woche zu Woche tiefer wühlte und bis
in die Knochen hineinsickerte.

Den unsinnigen Reden der deutschen Denker antworteten unverzüglich die
Übertreibungen der Schwätzer in Paris und überall. Wie homerische Helden
waren sie, mit der einzigen Ausnahme, daß sie nicht kämpften, aber sie
schrien dafür um so mehr. Man beschimpfte nicht nur den Gegner, sondern
auch seinen Vater, seinen Großvater, den ganzen Ursprung, ja man
leugnete sogar gegenseitig die vergangene Leistung. Der erbärmlichste
Akademiker arbeitete wie ein Verzweifelter, um den Ruhm großer Menschen,
die längst im Grabesfrieden schlummerten, zu beschmutzen und zu
beschimpfen.

Clerambault hörte, hörte alles und trank es in sich ein... Und doch
gehörte er zu den wenigen französischen Dichtern, die vor dem Kriege
europäische Verbindungen gehabt und dessen Werke Sympathien in
Deutschland gefunden hatten. Als rechtes, altes, verwöhntes
französisches Kind, das sich ja nie die Mühe gibt, die anderen
aufzusuchen, allzu gewiß, daß man zu ihm kommen würde, sprach er keine
andere Sprache. Aber wenigstens nahm er die Fremden gut auf, wenn sie
vom Auslande zu ihm kamen, sein Geist war frei von allen nationalen
Vorurteilen, und die innere Intuition ersetzte genug die Lücken seiner
Bildung, daß er hingebungsvoll ausländische große Geister bewundern
konnte. Jetzt freilich, seit man ihn gelehrt hatte, daß man allem
mißtrauen müsse („Schweig’, sei immer vorsichtig!“), seit er hörte, daß
Kant nur eine Vorstufe für Krupp gewesen, wagte er nicht mehr ohne
offizielle staatliche Garantie irgendetwas zu bewundern. Die
sympathische Bescheidenheit, die ihn zur Friedenszeit wie einem Wort des
Evangeliums allem vertrauen ließ, was gelehrte und geachtete Männer
öffentlich mitteilten, nahm jetzt in der Kriegszeit die Formen einer
unbegrenzten Leichtgläubigkeit an. Er verschlang, ohne mit den
Augenwimpern zu zucken, die erstaunlichen Zeitungsentdeckungen der
Intellektuellen seines Landes, die jetzt die Kunst, die Wissenschaft,
den Geist und die Seele des andern Landes durch Jahrhunderte zurück
durchwühlten und zu Boden stampften — die ganze Arbeit rasender
Böswilligkeit, die dem Feind jede Größe absprach, in seinen erhabensten
Erscheinungen nur Beweise seiner gegenwärtigen Infamie finden wollte,
falls es ihm nicht überhaupt diese berühmten Männer wegnahm und sie
irgendeiner anderen Nation zuwies.

Clerambault aber war davon ganz überwältigt, außer sich, und (freilich,
dies gestand er sich nicht ein) im tiefsten Herzen jubelte er.

                                   §

Um für seine Begeisterung einen Gefährten zu finden und sie mit neuen
Argumenten zu nähren, beschloß Clerambault, seinen Freund Perrotin
aufzusuchen.

Hippolyte Perrotin war eine jener Figuren, wie sie heute selten geworden
sind und die einen Ruhmestitel der französischen Hochschule bildeten,
einer jener großen Humanisten, deren weitblickendes und scharfes
Wissensbedürfnis mit ruhigem Schritt den Garten der Jahrhunderte prüfend
und klassierend, auslesend und pflückend durchwandert. Zu sehr
beobachtende Natur, als daß ihm irgend etwas der Gegenwart entgangen
wäre — die ihn eigentlich am wenigsten interessierte — wußte er jedem
ihrer Geschehnisse seinen Rang im Gesamtbild zuzuweisen. Was anderen als
das Wichtigste galt, war es keineswegs für ihn, und die politischen
Bewegungen dünkten ihm Blattläuse auf einem großen Blatt. Da er aber
nicht Gärtner, sondern nur wissenschaftlicher Beobachter war, glaubte er
sich nicht verpflichtet, die Rosenblätter zu reinigen: einzig sie mit
allen ihren Parasiten zu betrachten, war für ihn Gegenstand einer
dauernden Entzückung. Er hatte den feinsten Sinn für literarische
Schönheit und geistige Vollkommenheit, und seine Wissenschaft, weit
entfernt, ihn dabei zu stören, belebte nur diese Neigung dadurch, daß
sie seinen Gedanken ein festes und begrenztes Feld lebensvoller
Vergleiche und Proben bot. Er gehörte zu jener französischen Tradition
von Gelehrten, die gleichzeitig meisterliche Stilisten waren, jener
Tradition, die von Buffon bis zu Renan und Gaston Paris reichte.
Mitglied der Akademie und von zwei oder drei anderen Gesellschaften,
hatte er durch die Weite seiner Kenntnisse über die bloßen Literaten und
über seine wissenschaftlichen Kollegen nicht nur die Überlegenheit eines
sichern und klassischen Geschmacks, sondern auch eines freieren und dem
Neuen aufgetanen Geistes. Er dünkte sich nicht wie die meisten von
ihnen, sobald sie über die Schwelle der heiligen Kuppelhalle getreten
waren, schon aller Verpflichtung, weiter zu lernen, ledig: mitten in
seiner gereiften Meisterschaft fühlte er sich noch immer als Schüler.
Schon zur Zeit als Clerambault von den übrigen Unsterblichen gar nicht
gekannt war, außer von ein oder zwei lyrischen Kollegen, die, wenn sie
(was selten geschah) von ihm sprachen, es nur mit verächtlichem Lächeln
taten — schon damals hatte er ihn sich entdeckt und in sein Herbarium
eingegliedert. Einige Bilder hatten ihn stutzig gemacht, die
Originalität mancher Wortwendung, der primitive und gewissermaßen nur
naiv komplizierte Mechanismus seiner Phantasie zogen ihn an, schließlich
interessierte ihn dann der Mann selbst. Clerambault, dem er ein
glückwünschendes Wort hatte zukommen lassen, eilte, überströmend von
Erkenntlichkeit, ihm zu danken, und zwischen den beiden Männern entspann
sich allmählich eine Freundschaft.

Sie waren einander durchaus nicht ähnlich, Clerambault mit seiner
lyrischen Gabe und seiner mittelmäßigen Intelligenz, die vom Herzen kam,
und Perrotin, der durchdringende Geist, der sich niemals von der
Leidenschaft der Phantasie verwirren ließ, aber beide verband die
gemeinsame Würdigkeit der Lebensführung, eine intellektuelle
Rechtschaffenheit sowie die reine Liebe zur Kunst und zur Wissenschaft,
die ihre Freude aus sich selbst zog und nicht aus dem möglichen Erfolge,
der ihr entspringen konnte. Freilich hatte das Perrotin niemals, wie man
sehen konnte, gehindert, Karriere zu machen. Die Ehrenstellen waren
gleichsam auf ihn zugekommen. Er suchte sie nicht, aber er wies sie auch
nicht zurück und verabsäumte nichts.

Clerambault fand ihn gerade damit beschäftigt, die wirklichen Ideen
eines chinesischen Philosophen von all den nachträglichen Umhüllungen
rein loszulösen, unter denen sie die Lesarten und Erläuterungen von
Jahrhunderten verborgen hatten. Bei diesem Spiel, das für ihn ein
gewohntes war, kam er natürlich dazu, schließlich gerade das Gegenteil
des bisher augenscheinlichen Sinnes zu finden: ein Ideal wird ja immer
dunkler, wenn es von Hand zu Hand geht.

In dieser geistigen Verfassung empfing Perrotin zerstreut und sehr
höflich Clerambault. Selbst wenn er in Salons anderen zuzuhören schien,
trieb er immer Textkritik. Seine Ironie vergnügte sich dabei auf fremde
Kosten.

Clerambault entlud gegen ihn seine ganze neue Erkenntnis. Sein
Ausgangspunkt war die unbestreitbare Tatsache der offenkundigen
moralischen Minderwertigkeit der feindlichen Nation, und es war
eigentlich nur noch dies für ihn eine Frage, ob man darin den
unheilbaren Niedergang eines großen Volkes erkennen sollte oder einfach
ein Barbarentum feststellen, das von allem Anfang an bestanden, aber
sich nur gut zu verschleiern gewußt hatte. Clerambault neigte zur
letzten Auslegung. Noch ganz erfüllt von dem gerade Gelesenen, machte er
Luther, Kant und Wagner für die gewalttätige Verletzung der belgischen
Neutralität und für die Verbrechen der deutschen Armee verantwortlich.
Wie man gemeinhin zu sagen pflegt: er hatte die Nase nicht selbst
hineingesteckt, da er ja weder von Musik, noch von Theologie, noch von
Metaphysik etwas verstand; ihm genügte die Autorität der Akademiker. Als
Ausnahme ließ er einzig Beethoven gelten, weil er ein Flame war, und
Goethe als Bürger einer Freistadt, die so eine Art Straßburg, also zur
Hälfte französisch war, oder französisch und nur halb deutsch. Nun
wartete er auf eine Zustimmung.

Aber zu seiner Überraschung stieß er bei Perrotin nicht auf eine
Leidenschaftlichkeit, die der seinen entsprach. Perrotin lächelte, hörte
zu, betrachtete Clerambault mit einer gutmütigen und neugierigen
Aufmerksamkeit. Er sagte nicht nein und sagte nicht ja. Bei einigen
Behauptungen machte er vorsichtige Einschränkungen, und als Clerambault
ihm ganz hitzwütig die schriftlichen Aussagen zeigte, die von zwei oder
drei berühmten Kollegen Perrotins unterschrieben waren, machte er nur
eine kleine Gebärde, die sagen konnte:

„Ach, solche Dinge gibt’s in Menge.“

Clerambault wurde immer leidenschaftlicher, und nun veränderte auch
Perrotin den Ton, bezeigte ein „lebhaftes Interesse“ für die „sehr
interessanten“ Bemerkungen seines „verehrten Freundes“, nickte mit dem
Kopf zustimmend zu allem, was er sagte, wich seinen direkten Fragen mit
vagen Worten aus oder stimmte ihnen mit irgendeiner allgemeinen
Höflichkeit zu, wie man eben jemandem antwortet, dem man nicht
widersprechen will.

Clerambault ging, ganz aus der Fassung gebracht und unzufrieden, fort.

Aber er versöhnte sich mit seinem Freunde und war wieder seiner sicher,
als er einige Tage später den Namen Perrotins unter einem
leidenschaftlichen Protest der Akademie gegen die Barbaren fand. Er nahm
den Anlaß wahr, um ihn zu beglückwünschen, und Perrotin dankte ihm mit
einigen vorsichtigen und sybillinischen Worten:

„Mein verehrter Herr — (er benutzte immer in seinen Briefen die
zeremoniösen und gemessenen Formeln derer von Port-Royal) — ich bin
immer bereit, den Wünschen des Vaterlandes zu gehorchen; sie sind
Befehle für mich. Auch mein Gewissen steht ihm zur Verfügung, so wie es
die Pflicht eines guten Bürgers ist...“

                                   §

Eine der merkwürdigsten geistigen Wirkungen des Kriegs war, daß er neue
Bindungen zwischen Menschen erzeugte. Leute, die nicht einen Gedanken
gemeinsam hatten, entdeckten plötzlich, daß sie gleichen Sinnes waren;
und sobald sie sich zusammenscharten, wurden sie einander wirklich
ähnlich. So entstand, was man die _Union Sacrée_, die „heilige
Eintracht“, nannte. Menschen aller Parteien und von verschiedenstem
Temperament, Choleriker, Phlegmatiker, Monarchisten, Anarchisten,
Klerikale, Calvinisten vergaßen plötzlich ihr wirkliches Ich, ihre
Leidenschaften, Narrheiten und Feindseligkeiten. Sie wechselten die
Haut, und man sah sich mit einemmal neuen Wesen gegenüber, die sich
unerwartet wie ein Häufchen gefeilten Eisenstaubes um einen Magneten
zusammenrotteten. Alle alten Beziehungen waren plötzlich verschwunden,
und man staunte gar nicht darüber, sich plötzlich einem Fremden näher zu
fühlen als den ältesten Freunden. Man hätte glauben mögen, daß die
Seelen unterirdisch, mit weitverbreiteten Wurzeln, im Dunkel des
Instinkts verbunden waren, jener allzuwenig bekannten Region, zu der die
Beobachtung selten hinabsteigt. Unsere Psychologie beschäftigt sich
ausschließlich mit jenem Teil unseres Ich, der aus dem Erdreich des
Unbewußten herausragt, sie beschreibt sorgfältig dort jede Einzelheit,
ohne auf alles das zu achten, was nicht gerade Schaft und Blüte der
Pflanze ist. Aber neun Zehntel sind unsichtbar eingegraben und mit den
Füßen anderer Pflanzen verschlungen. Diese ganze tiefe (oder niedere)
Region der Seele ist für gewöhnlich unbewußt und für das Gefühl nicht
merkbar, die Vernunft weiß nichts von ihr. Aber der Krieg ließ
plötzlich, indem er diese unterirdische Welt weckte, moralische
Bindungen zutage treten, die man nie vermutet hätte. So trat zum
Beispiel bei Clerambault eine plötzliche Intimität mit einem Bruder
seiner Frau zutage, den er bisher, und mit gutem Recht, als Typus eines
echten Philisters betrachtet hatte.

Leo Camus war noch nicht fünfzig Jahre alt, groß, mager, ein wenig
vorgekrümmt, hatte einen schwarzen Bart, fahle Farben, schütteres Haar
(seine Kahlköpfigkeit war sogar schon sichtbar, wenn er den Hut noch auf
hatte), sein Gesicht war voll kleiner Falten, die sich nach allen
Richtungen überquerten, wie Maschen eines schlecht geflickten Netzes. Er
hatte meist ein ungesundes, unfreundliches Aussehen und war beständig
verschnupft. Seit dreißig Jahren war er Staatsbeamter, und seine ganze
Karriere war im Schatten eines Hofes im Ministerialgebäude
dahingegangen. Im Laufe der Jahre hatte er das Zimmer gewechselt, aber
er war nie aus diesem Schatten herausgekommen, sein ganzer Fortschritt
war immer im selben Hoftrakt. Für ihn gab es keine Möglichkeit mehr,
diesem Leben zu entrinnen, und jetzt war er endlich Unterdirektor
geworden, was ihm erlaubte, nun seinerseits Schatten zu verbreiten. Er
hatte fast gar keinen Zusammenhang mit Menschen und verkehrte mit der
äußeren Welt nur hinter einem Wall von Registraturen und aufgehäuften
Papierstößen. Er war Junggeselle und hatte keinen Freund, denn sein
Menschenhaß behauptete, es gäbe keine, außer solchen aus Interesse.
Seine einzige Zuneigung galt der Familie der Schwester, und auch diese
äußerte sich nur darin, daß er alles, was jene tat, für schlecht befand;
denn er gehörte zu jenen Leuten, deren unruhige Besorgtheit diejenigen,
die sie lieben, immer kritisiert, und wenn sie jene leiden sehen, nicht
müde werden, ihnen zu beweisen, daß sie durch eigenes Verschulden
unglücklich seien. Bei den Clerambaults machte er nicht sehr viel Effekt
damit, ja es mißfiel Frau Clerambault, die ein wenig träge war, sogar
nicht, ein bißchen gerüttelt zu werden. Was die Kinder betraf, so wußten
sie, daß diese Vorwürfe meistens von kleinen Geschenken begleitet waren:
so steckten sie die Geschenke ein und ließen das Übrige auf sich
niederprasseln.

In bezug auf seinen Schwager hatte die Haltung Leo Camus’ im Laufe der
Jahre einige Veränderungen durchgemacht. Als seine Schwester Clerambault
heiratete, hielt Camus mit seiner Mißbilligung nicht zurück, ein
unbekannter Dichter schien ihm nicht jemand „ernst zu Nehmender“.
Dichter sein (ein unbekannter Dichter), das ist immer nur ein Vorwand,
um nicht zu arbeiten..., natürlich, wenn man „bekannt“ ist, das ist dann
etwas anderes! Camus verehrte sehr Victor Hugo, er kannte sogar Verse
aus den Châtiments und einige von August Barbier auswendig, die aber
waren „bekannt“, und „bekannt sein“ ist eben alles. Nun geschah es aber
eines Tages, daß Clerambault „bekannt“ wurde. Camus erfuhr es durch
seine eigene Zeitung. Von diesem Tag an hatte er sich endlich bewegen
lassen, die Gedichte Clerambaults zu lesen. Er verstand sie nicht, aber
er war darüber nicht ungehalten, denn so konnte er sich brüsten, noch
von der „alten Schule“ zu sein und sich dadurch überlegen dünken. Es
gibt ja viele dieser Art, die sich aus ihrer Verständnislosigkeit einen
Stolz zu machen wissen. Aber ist es nicht recht so in der Welt, daß der
eine auf das pocht, was er hat, und der andere auf das, was er nicht
hat? Übrigens gab Camus zu, daß Clerambault „schreiben“ könne (er mußte
es ja verstehen, da er auch vom Fach war). So hatte er im gleichen Maße,
wie die Zeitung ihn zu schätzen begann, ein immer größeres Interesse an
seinem Schwager und liebte es, mit ihm zu plaudern. Er hatte immer
schon, ohne es je zu sagen, seine herzliche Güte geachtet, und was ihm
besonders an diesem großen (denn jetzt nannte er ihn plötzlich so)
Dichter gefiel, war seine offenkundige Unfähigkeit in Geschäftsdingen,
seine praktische Ignoranz. Auf diesem Gebiete war Camus sein Meister,
und er ließ es ihn deutlich fühlen. Clerambault hatte ein naives
Vertrauen zu den Menschen und zu den Dingen, und nichts war Camus und
seinem aggressiven Pessimismus willkommener als diese Eigenschaft. Dies
hielt ihn immer in Atem. Die meiste Zeit seiner Besuche ging damit hin,
Clerambaults Illusionen in tausend Stücke zu zerpflücken, aber sie
hatten ein zähes Leben, und jedesmal mußte man anfangen, sie von neuem
zu zerstören. Camus ärgerte sich darüber, aber mit einem geheimen
Vergnügen. Er brauchte immer einen neuen Vorwand, um wieder beweisen zu
können, daß die Welt schlecht und die Menschen dumm waren, vor allem
aber fand kein Mann der Politik Gnade vor seinen Augen. Dieser
Staatsbeamte haßte alle Regierungen, ohne eigentlich sagen zu können,
wen oder was er an ihre Stelle gewünscht hätte. Die einzige Form der
Politik, die ihm verständlich war, blieb die Opposition. Er litt eben
daran, sein Leben verdorben, seine Natur unterdrückt zu haben. Als
Bauernsohn war er dazu geschaffen, wie sein Vater Weingärten zu pflegen
oder als Wächter über das kleine Landvolk seinen Autoritätsdrang
auszuleben. Aber es war damals der Rost über die Weingegend gekommen,
andererseits lockte der dumme Stolz zur Bureaukratie, so war die Familie
in die Stadt übersiedelt. Jetzt hätte er zu seiner wirklichen Natur
nicht mehr zurück können, ohne sich herabzuwürdigen, und hätte er es
selbst vermocht, so wäre sie daran verkümmert. Weil er seinen Platz in
der sozialen Gesellschaft nicht fand, machte er die Gesellschaft dafür
verantwortlich, er diente wie tausend Beamte dem Staate als schlechter
Diener, als heimlicher Feind.

Man hätte meinen sollen, ein Wesen dieser Art, ein so düsterer,
verbitterter, menschenfeindlicher Geist müßte durch den Krieg ganz außer
sich geraten sein, aber gerade das Gegenteil trat ein: der Krieg
beruhigte ihn. Für die wenigen freien Geister, die auf das Weltall
hinblicken, war die Zusammenrottung zu bewaffneten Horden gegen den
Feind ein Zusammenbruch. Aber für die Menge all derer, die in der
schöpferischen Unfähigkeit eines ziellosen Egoismus leben, ist der Krieg
eine Erhebung, er trägt sie zur höheren Stufe des zielvollen, des
organisierten Egoismus empor. Camus wachte eines Tages mit dem Gefühl
auf, zum erstenmal nicht allein auf der Welt zu sein.

Der Instinkt des Vaterlandes ist vielleicht der einzige, der in den
gegenwärtigen Zeitläuften dem Brandmal der Alltäglichkeit entgeht. Alle
anderen Instinkte, alle natürlichen Triebe, das Verlangen zu lieben und
zu handeln, werden in der Gesellschaft niedergehalten, erstickt oder
gezwungen, durch das Joch der Entsagung und der Kompromisse zu gehen.
Wenn ein Mann auf der Höhe seines Lebens sich zurückwendet, um seine
einstigen Neigungen zu betrachten, und sieht auf ihnen die Brandmarken
seiner Niederlage und seiner Nachgiebigkeit, dann schämt er sich ihrer
und seiner selbst, Bitternis im Munde. Einzig der Instinkt des
Vaterlandes bleibt in der gegenwärtigen Gesellschaft ausgeschaltet, er
tritt nicht in Aktion und wird deshalb nicht beschmutzt. Wenn er aber
einmal in Erscheinung tritt, so ist er unberührt, und die Seele, die
sich ihm hingibt, wirft ihm zugleich die Glut aller ihrer
niedergehaltenen und erniedrigten Instinkte, Liebe, Verlangen und
Ehrgeiz entgegen, die das Leben verraten hat. Ein halbes Jahrhundert
unterdrücktes Leben nimmt seine Rache, Millionen kleiner Zellen des
sozialen Gefängnisses öffnen sich, endlich, endlich einmal... die alten
Leidenschaften, die angeschmiedeten Instinkte recken ihre erstarrten
Glieder, sie fühlen, daß sie das Recht haben, ins Freie zu stürzen und
zu schreien. Das Recht? Sie haben jetzt die Pflicht, sich dahinstürmen
zu lassen, als mächtige, stürzende Masse. So werden plötzlich die
Millionen einzelner Schneeflocken zur Lawine.

Die Lawine riß auch Camus mit. Der kleine Bureauchef ging ganz in ihr
auf, und zwar ohne irgendwelche Leidenschaft, ohne Gewalttätigkeit. Er
fühlte plötzlich eine große Kraft, eine große Ruhe, er fühlte sich
„wohl“, körperlich wohl, seelisch wohl. Seine Schlaflosigkeit war
verschwunden. Zum erstenmal seit Jahren quälte ihn nicht mehr sein
Magenleiden, vielleicht weil er es vergessen hatte, er verbrachte den
ganzen Winter — ein nie dagewesener Fall — ohne Schnupfen, man hörte
ihn nicht mehr das und jenes bekritteln und beklagen, er schimpfte nicht
über alles, was geschah oder nicht geschehen war. Irgendeine heilige
Ehrfurcht überkam ihn vor dem ganzen sozialen Organismus, vor diesem
Wesen, das das seine war, nur noch stärker, schöner und besser, er
fühlte sich brüderlich mit allen jenen, die durch ihren Zusammenhang
dieses Wesen bildeten wie ein Bienenschwarm, der an einem Ast hängt. Er
beneidete die jungen Menschen, die zur Front reisten, sein Vaterland zu
verteidigen, er betrachtete mit zärtlichen Augen seinen Neffen Maxime,
der sich heiter rüstete, und am Bahnhof, als der Zug die jungen Menschen
wegführte, umarmte er Clerambault, drückte unbekannten Eltern, die ihre
Söhne begleiteten, die Hand, Tränen der Verzweiflung und von Glück
zugleich standen in seinen Augen. In diesen Stunden hätte Camus alles
hingegeben. Es waren seine Flitterwochen mit dem Leben. Die einsame
Seele, die es sich immer versagt hatte, sieht plötzlich das geliebte
Leben nahekommen und umfaßt es... Doch das Leben geht weiter. Das
Wohlbefinden eines Camus war nicht angetan, zu dauern. Aber wer einmal
das Leben in einer solchen Stunde gekannt, lebt einzig nur mehr von
dieser Erinnerung und um sich immer wieder diesen Augenblick zu beleben.
Er dankte den seinen dem Kriege. So war der Friede sein Feind, und
Feinde alle, die den Frieden wollten.

                                   §

Clerambault und Camus tauschten ihre Gedanken aus. Sie tauschten sie so
vollkommen aus, daß Clerambault am Ende gar nicht mehr wußte, wohin die
seinen gekommen waren. Und je mehr er sich selber verlor, um so
zwingender empfand er das Bedürfnis, etwas zu tun. Das war für ihn die
beste Form, sich zu betätigen... Sich zu betätigen...?
Verhängnisvollerweise war es Camus, den er betätigte. Trotz seiner
Überzeugung und seiner gewohnten Leidenschaft war er doch nur ein Echo
geworden, und ein Echo welch’ erbärmlicher Stimmen!

Er begann Kriegsdithyramben zu schreiben. Darin wetteiferten ja damals
die Dichter hinter der Front. Ihre Schöpfungen laufen allerdings nicht
Gefahr, das Gedächtnis der Zukunft allzusehr zu belästigen. Nichts in
ihrer früheren künstlerischen Laufbahn bestimmte diese armen Gesellen zu
solcher Aufgabe, und, ob sie auch das möglichste taten, um ihre Stimmen
aufzublähen und alle Register der Rhetorik spielen zu lassen, die
Soldaten im Schützengraben zuckten doch darüber die Achseln. Aber den
Leuten des Hinterlandes gefiel ihr Pathos viel besser als jene
lichtlosen und gleichsam schmutzfarbenen Erzählungen, die aus dem
Schützengraben kamen. Die klare Vision eines Barbusse hatte damals noch
nicht diesen schattenhaften Schwätzern ihre Wahrheit aufgezwungen. Für
Clerambault bedeutete es keine große Anstrengung, in diesem Wettkampf
der Beredsamkeit die Palme zu erringen. Er hatte die verhängnisvolle
Gabe jener rhythmischen und wortreichen Beredsamkeit, die die Dichter
von der Wirklichkeit trennt, indem sie sie mit ihrem Spinnennetz
umhüllt. In Friedenszeiten hing dieses unschuldige Netz an Busch und
Baum, der Wind klang durch, und die sanfte Arachne suchte in ihren
Maschen nichts anderes einzufangen als das Licht. Jetzt aber, da die
Dichter in sich ihre blutgierigen (glücklicherweise schon zahnlosen)
Instinkte aufzüchteten, sah man in der Mitte ihres Netzes ein bösartiges
Tier eingefangen, dessen Auge auf eine Beute lauerte. Sie sangen den Haß
und die heilige Schlächterei. Clerambault tat wie die anderen, sogar
besser als die anderen, denn seine Stimme war besser als die der
anderen, und vor lauter Schreien kam dieser brave Mensch schließlich
dazu, selbst Leidenschaften zu fühlen, die er gar nicht hatte. Den Haß
„endlich zu kennen“ (es war das „erkennen“ im biblischen Sinn), dieses
neue Gefühl hatte etwas vom Kitzel niedrigen Stolzes, den ein Gymnasiast
empfindet, wenn er zum erstenmal aus einem zweifelhaften Hause
herauskommt. Denn jetzt erst fühlte er sich als ein ganzer Mann. Und
wirklich, es fehlte ihm nichts mehr, um der Niedrigkeit der anderen
ähnlich zu sein.

Die ersten intimen Vorlesungen jedes seiner Gedichte waren Camus
vorbehalten, dem er sie ja verdankte. Und Camus wieherte vor
Begeisterung, denn er erkannte sich selbst darin. Clerambault fühlte
sich geschmeichelt, weil er jetzt hoffte, in einem Rhythmus mit dem
Volke zu fühlen und ganz in sein Blut zu dringen. Die beiden Schwäger
verbrachten die Abende zusammen. Clerambault las vor, Camus trank die
Verse in sich ein. Er wußte sie auswendig, er erzählte jedem, der es
hören wollte, Victor Hugo sei auferstanden und jedes dieser Gedichte
bedeute einen Sieg. Seine lärmende Bewunderung enthob die anderen
Mitglieder der Familie davon, ein Urteil aussprechen zu müssen. Rosine
suchte immer nach einem Vorwande, aus dem Zimmer hinauszuschlüpfen, wenn
die Vorlesung zu Ende war, was der Eigenliebe Clerambaults nicht
entging. Er hätte gern den Eindruck auf seine Tochter gewußt, fand es
aber klüger, sie nicht darum zu befragen, und redete sich lieber selbst
ein, daß dieses Zurückziehen ein Zeichen von Bewegung und Scheu sei.
Aber doch, es verstimmte ihn. — Bald aber ließ ihn die Zustimmung des
Publikums diese kleine Peinlichkeit vergessen. Seine Gedichte waren in
den großen bürgerlichen Blättern erschienen und wurden für Clerambault
der glänzendste Triumph seiner ganzen künstlerischen Laufbahn. Keines
seiner Werke hatte einen so einhelligen Enthusiasmus hervorgerufen. Ein
Dichter ist ja immer geneigt, seinem letzten Werk den Titel seines
besten zugebilligt zu hören und ist es in noch höherem Maße, wenn er
selbst weiß, daß es das wertloseste ist. Clerambault war sich darüber
vollkommen im klaren, und eben darum genoß er mit einer fast kindlichen
Eitelkeit die Speichelleckereien der Presse. Abends ließ er sie laut von
Camus im Familienkreise vorlesen. Er strahlte vor Vergnügen. Am liebsten
hätte er gesagt, sobald Camus fertig war: „Noch einmal.“

Der einzige leise Mißton in diesem Konzert der Lobeshymnen kam von
Perrotin. (Natürlich redete sich Clerambault ein, er hätte sich in ihm
getäuscht, er sei kein rechter Freund.) Der alte Gelehrte hatte
allerdings Clerambault, der ihm den Band seiner Kriegsgedichte
zugeschickt hatte, in höflicher Weise beglückwünscht. Er lobte sein
großes Talent, sagte aber durchaus nicht, daß dieses Buch sein schönstes
Werk sei. Ja er riet ihm sogar, „nun, nachdem er der kriegerischen Muse
seinen Tribut gebracht hätte, ein Werk des reinen Traumes, losgelöst von
der Gegenwart, zu schreiben“. Was wollte er damit sagen? Gehört sich
das, daß, wenn ein Künstler ein Werk vorlegt und Zustimmung fordert, man
ihm antwortet: „ich möchte ein anderes lesen, das diesem nicht gleicht?“
— Clerambault sah darin ein neues Zeichen für die bedauerliche Lauheit
des Patriotismus, die er schon vorher bei Perrotin bemerkt hatte, und
dieser Mangel an Verständnis für seine Verse erkältete gänzlich sein
Gefühl für den alten Freund. Er sagte sich, der Krieg sei die Goldprobe
der Charaktere, eine Umwertung der Werte, wo man auch die Freundschaft
neu prüfen müsse, und gab sich nicht Rechenschaft darüber, daß der
Verlust eines Perrotin nur unzulänglich ersetzt sei durch die Erwerbung
eines Camus und so vieler neuer Freunde, die geistig freilich
minderwertiger waren, aber jedenfalls schlichten und warmen Herzens...

Und doch, oft in der Nacht hatte Clerambault Minuten der Bedrängnis und
Angst. Er wachte plötzlich unruhig, erschreckt und gedemütigt auf. Er
fühlte sich unzufrieden und beschämt... Aber weshalb denn? Tat er denn
nicht seine Pflicht?

                                   §

Die ersten Briefe Maximes waren ein Trost, ein Herzstärkungsmittel, von
dem ein Tropfen genügte, um alle Mutlosigkeit entschwinden zu lassen.
Man lebte ganz in ihnen während der langen Zwischenräume, in denen seine
Nachrichten eintrafen. Und trotz der Unruhe während dieser Pausen, wo
eine jede einzelne Sekunde dem geliebten Wesen verhängnisvoll werden
konnte, teilte sich doch diese seine Zuversicht (die er vielleicht aus
Liebe zu den Seinen oder aus einem Aberglauben übertrieb) allen mit.
Seine Briefe strömten über von Jugend und einer begeisterten Freude, die
ihren höchsten Gipfel in den Tagen erreichte, die dem Sieg an der Marne
folgten. Die ganze Familie war gleichsam gegen ihn hingestreckt, ein
einziger Körper, eine Pflanze, deren Blüte in Licht getaucht ist und zu
der der Schaft zitternd in mystischer Verehrung emporsteigt...

Wie erstaunlich war auch dieses Licht, das jene Seelen badete, die
gestern noch verzärtelt und erschlafft gewesen waren und die nun das
Schicksal in den teuflischen Feuerkreis des Krieges warf! Es war das
Licht des Todes oder des Spiels mit dem Tode! Maxime, dieses große,
zarte, verzärtelte und gelangweilte Kind, das in der Friedenszeit sich
wie eine kleine Mätresse aufputzte, fand einen unerwarteten Genuß in den
Entbehrungen und harten Anforderungen seines neuen Lebens. Begeistert
von sich selbst, kehrte er dieses Gefühl in seinen ein wenig
großsprecherischen Briefen hervor, die das Herz seiner Eltern
entzückten. Nun war weder seine Mutter eine Heldin Corneilles, noch sein
Vater ein Römer, und der Gedanke, ihr Kind einer barbarischen Idee
hinzuopfern, wäre ihnen entsetzlich gewesen. Aber die plötzliche
Verwandlung ihres Kleinen in einen Helden gab ihnen eine Fülle nie
gefühlter Zärtlichkeit. Und trotz ihrer Unruhe erfüllte sie die Extase
ihres Maxime beide mit einer neuen Trunkenheit, die sie undankbar machte
für das Leben von einst, das gute, friedliche, stille Leben, das
zärtliche, mit seinen langen, eintönigen Tagen. Maxime hatte für jene
Zeit eine amüsante Verachtung. Sie schien ihm eng, klein, lächerlich,
wenn man einmal gesehen hatte, was „da draußen“ vorging... „Da draußen“
war man zufrieden, drei Stunden jede Nacht auf der harten Erde zu
schlafen oder auf einem Bündel Stroh, zufrieden, sich um drei Uhr früh
auf die Beine zu machen und sie mit dreißig Kilometer Marsch zu
erwärmen, mit dem Tornister auf dem Rücken ein Schwitzbad von acht bis
zehn Stunden zu nehmen, und zufrieden vor allem, endlich einmal den
Feind zu erwischen und aus der gedeckten Stellung auf den Boche
hinzupfeffern... Der kleine Cyrano erzählte, daß der Kampf geradezu eine
Erholung nach dem Marschieren sei, und er schrieb über ein Scharmützel
wie über ein Konzert oder ein Kinostück. Der Rhythmus der Geschosse, der
Krach ihres Abschusses und ihre Explosion erinnerten ihn an die
Paukenschläge im göttlichen Scherzo der Neunten Symphonie, und wenn
diese stählernen Fliegen mutwillig, wild, heimtückisch, bösartig oder
bloß mit einer liebenswürdigen Ungezwungenheit über ihren Köpfen ihre
Luftmusik machten, hatte er das Gefühl eines Pariser Lausbuben, der aus
dem Hause stürzt, um eine schöne Feuersbrunst anzuschauen. Es gab keine
Müdigkeit mehr, der Geist und der Körper waren frisch. Wenn endlich das
lang erwartete „Vorwärts, marsch“ ertönte, sprang man mit einem Ruck
leicht wie eine Feder auf zur nächsten Deckung, quer durch den
Eisenschauer, mit einer wilden Freude am Aufspüren, wie ein Hund, der
das Wild wittert. Man kroch auf allen Vieren, man schlängelte sich auf
dem Bauch nach vorwärts, man lief gekrümmt geradeaus, machte schwedische
Gymnastik durch die Verhaue, und das ließ einen vergessen, daß man nicht
mehr marschieren konnte. Kam dann die Nacht, so sagte man sich: Was, es
ist schon Abend? Was haben wir denn heute gemacht? „Langweilig ist im
Kriege nur“, so beschloß der kleine gallische Hahn seine Erzählung,
„das, was man auch im Frieden macht, nämlich das Marschieren auf der
Landstraße.“

So sprachen die jungen Leute in den ersten Monaten des Feldzuges, die
Soldaten der Marneschlacht, des Bewegungskrieges. Hätte er weiter
angedauert, so wäre vielleicht die Rasse der Sansculotten der Revolution
neu erstanden, die, sobald sie einmal für die Eroberung der Welt
ausgezogen waren, nicht mehr haltmachen konnten.

Aber sie mußten doch haltmachen. Und vom Augenblicke an, wo sie in den
Schützengräben eingepökelt waren, änderte sich der Ton. Er verlor seinen
Schwung, seine knabenhafte Sorglosigkeit, er wurde von Tag zu Tag
männlicher, stoischer, zurückhaltender, beherrschter; Maxime fuhr fort,
seine Überzeugung vom Endsieg zu betonen. Schließlich sprach er nicht
einmal davon mehr, er sprach nur noch von der notwendigen Pflicht, und
bald hörte er auch davon zu sprechen auf, seine Briefe wurden trocken,
grau, müde.

Im Hinterland aber verminderte sich die Begeisterung durchaus nicht.
Clerambault ließ nicht nach, wie ein Orgelbalg weiterzudröhnen. Aber von
Maxime klang nicht mehr das erwartete und erhoffte Echo.

                                   §

Plötzlich kam er auf einige Tage Urlaub zurück. Er hatte niemanden zuvor
verständigt. Auf der Treppe blieb er stehen, seine Füße waren ihm
schwer. Obwohl er kräftiger aussah, wurde er rascher müde, und dann: er
war erregt. Aber er faßte wieder Atem und stieg die Treppe vollends
empor. Seine Mutter öffnete auf sein Klingeln, sie schrie auf vor
Überraschung. Clerambault, der in der Wohnung in ewiger Langeweile und
Erwartung hin und her trottete, lief lärmend herbei. Es gab ein lautes
Wiedersehen. Nach einigen Minuten ließen die Umarmungen und das
zusammenhanglose Reden nach, Maxime mußte zum Fenster, sich ins Licht
hinsetzen und sich von ihren entzückten Blicken betrachten lassen. Sie
waren begeistert über seine braune Hautfarbe, seine vollen Wangen, sein
gutes Aussehen; sein Vater tat die Arme auf und rief ihn an: „Mein
Held!“ — Und Maxime, mit zusammengeballten Händen, fühlte plötzlich,
daß es ihm unmöglich sei, etwas zu sagen.

Bei Tisch verzehrte man ihn mit den Blicken, man trank seine Worte. Aber
er sprach beinahe nichts. Die übertriebene Begeisterung der Seinen hatte
sein erstes leidenschaftliches Gefühl irgendwie gebrochen.
Glücklicherweise merkten sie es nicht. Sie schoben sein Schweigen der
Müdigkeit und dem Hunger zu. Übrigens sprach Clerambault für zwei, er
erzählte Maxime, wie es in den Schützengräben zugehe, und die gute Frau
Pauline wurde in seinen Worten die Cornelia des Plutarch. Maxime sah sie
an, aß, sah sie von neuem an: ein Abgrund war zwischen ihnen.

Zu Ende der Mahlzeit, als er im Zimmer seines Vaters in einem Fauteuil
saß und seine Zigarre rauchte, konnte er nicht anders, als endlich die
Erwartung der guten Leute zufriedenzustellen. Er begann also, in
ruhiger, sachlicher Weise seine Tageseinteilung zu schildern, und in
einer besonderen Schamhaftigkeit war er darauf bedacht, in seinen
Erzählungen jedes übertriebene Wort und vor allem die tragischen Bilder
zu vermeiden. Sie hörten zu, zitternd vor Erwartung, und sie warteten
noch immer, als er schon zu Ende war. Dann gab es ihrerseits einen
ganzen Sturm von Fragen, Maxime antwortete darauf mit wenigen Worten,
hastig und ohne Feuer. Schließlich versuchte Clerambault, „seinen
lustigen Jungen“ aufzumuntern und gab ihm jovial einige Stöße.

„Na also, erzähl’ ein bißchen... so von einem Gefecht bei euch..., das
muß aber schön sein..., was für eine schöne Sache doch dieser heilige
Glaube ist... bei Gott, das möchte ich einmal sehen, ich möchte gern an
deiner Stelle sein.“

Maxime antwortete:

„Alle diese schönen Dinge siehst du besser von hier aus.“

Seit er im Schützengraben war, hatte er keinen Kampf mehr und kaum
irgendeinen Deutschen gesehen. Einzig den Dreck und das Wasser. — Aber
sie glaubten es ihm nicht, sie dachten, er rede so aus dem
Widerspruchsgeist, den sie bei ihm von Kind an kannten.

„Du Spaßvogel“, sagte Clerambault lachend. „Also was macht ihr denn den
ganzen Tag da in euren Gräben?“

„Man verkriecht sich und schlägt die Zeit tot, die ist unser größter
Feind.“

Clerambault stieß mit dem Ellenbogen Maxime in die Seite.

„Aber was, andere schlagt ihr doch auch tot!“

Maxime wendete sich zur Seite, sah den guten, neugierigen Blick seines
Vaters und seiner Mutter und sagte:

„Nein, reden wir über andere Dinge.“

Und nach einem Augenblick:

„Wollt ihr mir ein Vergnügen machen, dann fragt mich heute nichts mehr.“

Erstaunt gaben sie ihm nach und redeten sich ein, er sei erschöpft und
bedürfe der Ruhe. Sie erwiesen ihm alle möglichen kleinen
Aufmerksamkeiten, aber dennoch brach Clerambault jeden Augenblick gegen
seinen eigenen Willen in begeisterte Ansprachen aus, die eine Antwort
oder eine Zustimmung erforderten. Das Wort „Freiheit“ war der Kehrreim
aller dieser Tiraden. Maxime lächelte blaß und beobachtete Rosine, deren
Benehmen seltsam schien. Als ihr Bruder eingetreten war, hatte sie sich
ihm in die Arme geworfen, aber dann hielt sie sich zurück, fast in einer
gewissen Distanz. Sie nahm nicht teil an den Fragen ihrer Eltern, und
statt die Mitteilungen Maximes zu provozieren, schien sie sie eher zu
fürchten. Die Zudringlichkeit ihres Vaters war ihr peinlich, und die
Furcht vor dem, was ihr Bruder hätte sagen können, verriet sich in
unmerklichen Bewegungen oder flüchtigen Blicken, die einzig Maxime
erfaßte. Er wieder fühlte die gleiche Scheu und vermied es, mit ihr
allein zu bleiben, und doch waren sie einander nie im Geiste so nahe
gewesen. Nur wagten sie sich nicht einzugestehen, warum.

Maxime mußte es sich gefallen lassen, allen Bekannten des Vaters
vorgeführt zu werden. Man schleppte ihn in Paris zu seiner Zerstreuung
herum. Trotz ihrer Trauerkleider zeigte die Stadt wieder ihr lachendes
Antlitz. Das Unglück und die Sorgen verbargen sich zu Hause oder in der
Tiefe der stolzen Herzen, der ewige Jahrmarkt aber breitete in den
Straßen, in den Zeitungen seine zufriedene Maske aus. Das Publikum der
Kaffeehäuser und der Teesalons war bereit, zwanzig Jahre durchzuhalten,
wenn es not tat. Maxime, der mit den Seinen an einem kleinen Tischchen
in der Konditorei inmitten des heiteren Geschwätzes und dem Duft der
Frauen saß, sah plötzlich den Unterstand, wo sie sechsundzwanzig Tage
mit Geschossen bombardiert worden waren, ohne aus dem glitschigen Graben
heraus zu können, in dem ihnen die Leichen als Schutzwand dienten... Die
Hand seiner Mutter legte sich auf die seine. Er wachte auf, sah die
zärtlichen Augen der Seinen, die nach seiner Sorge fragten, sofort
machte er sich Vorwürfe, die armen Leute zu beunruhigen, lachte, schaute
herum, und zwang sich, lustig zu sprechen. Seine übermütig knabenhafte
Leichtigkeit kam wieder, und das Antlitz Clerambaults, das sich für
einen Augenblick verdüstert hatte, wurde hell, sein Blick dankte
unbewußt Maxime.

Aber er mußte noch weiter auf der Hut sein. Als sie aus der Konditorei
herauskamen (Clerambault stützte sich auf den Arm seines Sohnes),
begegneten sie auf der Straße einem Militärbegräbnis. Es gab Kränze,
Uniformen, irgendeinen Alten von der Akademie, seinen Säbel zwischen den
Beinen, und eine Blechmusik, die ihre heroische Klage anstimmte. Die
Menge bildete ernste Reihen. Clerambault blieb stehen und nahm mit
großer Geste den Hut ab. Seine linke Hand drückte den Arm Maximes
fester. Da fühlte er ihn zittern und sah seinen Sohn an. Er sah, daß er
eine seltsame Miene machte, glaubte, daß Maxime erschüttert sei und
wollte ihn wegziehen. Aber Maxime rührte sich nicht. Maxime war nur
erstaunt:

„Ein Toter“, dachte er, „so viel Getue für einen Toten... dort draußen
trampelt man darüber hinweg... fünfhundert Tote in der Tagesmeldung, das
ist unser Durchschnitt...“

Ein kleines böses Lachen fuhr ihm über die Lippen. Erschrocken zog ihn
Clerambault am Arme fort.

„Komm!“ sagte er.

Sie gingen weiter.

„Wenn sie sehen würden“, dachte sich Maxime, „wenn diese Leute einmal
wirklich sehen würden... die ganze Gesellschaft würde zusammenbrechen...
aber sie werden es ja nie einsehen, denn sie wollen ja nicht sehen.“

Und seine plötzlich schmerzhaft scharf sehenden Augen sahen mit einem
Male rings um sich... den Feind: die Gleichgültigkeit der Welt, die
Dummheit, den Egoismus, den Wucher, die Wurstigkeit, den Kriegsgewinn,
den Kriegsgenuß, die Lüge bis zu ihren letzten Wurzeln, die in
Sicherheit Sitzenden, die Drückeberger, die Polizeiknechte, die
Munitionsfabrikanten mit ihren frech fahrenden Autos, die Kanonen
glichen, sahen deren Frauen mit den hohen Schuhen und den knallroten
Lippen, diese gierigen Leckermäuler... ah, sie sind zufrieden, alles
geht gut... das kann noch lange dauern... Eine Hälfte der Menschheit
frißt die andere auf.

Sie kehrten heim. Am Abend nach dem Essen war Clerambault schon ganz
ungeduldig, Maxime sein letztes Gedicht vorzulesen. Die Absicht, aus der
er es geschrieben, war rührend und ein wenig lächerlich, denn aus Liebe
zu seinem Sohn versuchte er wenigstens im Geiste, sein Gefährte im Ruhm
und in der Qual zu sein. Von ferne beschrieb er darin „das Morgenrot im
Schützengraben“. Zweimal stand er auf, um das Manuskript zu holen. Aber
immer, wenn er die Blätter schon hielt, hinderte ihn eine Scham. Er
setzte sich mit leeren Händen wieder hin.

Die Tage gingen rasch vorbei. Sie fühlten sich körperlich nahe, aber
ihre Seelen berührten einander nicht. Keiner von ihnen wollte es
eingestehen, und jeder wußte es. Traurigkeit stand zwischen ihnen, und
sie zwangen sich, ihre wirkliche Ursache nicht zu sehen, und zogen vor,
sie der nahen Rückreise zuzuschieben. Von Zeit zu Zeit machte der Vater
oder die Mutter einen neuen Versuch, die alte Intimität
wiederherzustellen. Jedesmal war es die gleiche Enttäuschung, Maxime
fühlte, daß er sich mit ihnen und mit keinem vom Hinterland verständlich
machen könne, daß seine und ihre Welt zwei verschiedene geworden waren.
Würden sie einander niemals wiederfinden?... Und doch verstand er sie
nur zu gut! War er doch selbst dem gefährlichen Einfluß, der auf ihnen
lastete, früher unterlegen und erst dort draußen wach geworden an der
Berührung mit den Leiden und dem wirklichen Tode. Aber gerade weil er
selbst ein Opfer gewesen war, wußte er, daß es unmöglich sei, die
anderen mit Worten zu heilen. So schwieg er, ließ die anderen reden,
lächelte, nickte, ohne zuzuhören. Was das Hinterland beschäftigte, das
Gebrüll der Zeitungen, die persönlichen Streitigkeiten (und welcher
Persönlichkeiten, der alten Hanswurste und gierigen Politiker!), das
patriotische Geschwätz der Schreibtischstrategen, die Aufregung über das
schlechte Brot und die Zuckerkarte, oder über die Tage, an denen die
Konditoreien geschlossen waren — all das erfüllte ihn mit einem Ekel
der Langeweile, einem unendlichen Mitleid mit diesem Volk des
Hinterlandes, dem er sich bis ins Tiefste fremd fühlte.

So schloß er sich immer mehr in ein rätselhaftes, dumpfes Schweigen ein.
Nur für Augenblicke zwang er sich heraus, wenn er an die kurze Zeit
dachte, die er noch mit den guten Menschen zu teilen hatte, die ihn so
sehr liebten. Dann begann er plötzlich belebt zu sprechen, gleichgültig
worüber. Das Wichtigste war ja doch, daß man Worte machte, wenn man
schon seine Gedanken nicht sagen durfte. Natürlich fiel man immer wieder
auf die Gemeinplätze des Tages zurück, die politischen, militärischen,
die allgemeinen Fragen, alle die Dinge, die sie ebenso gut in ihrer
Zeitung hätten lesen können. „Die Zerschmetterung der Barbaren“, der
„Triumph des Rechtes“ füllten die Reden, die Gedanken Clerambaults aus.
Maxime hörte seine Predigten gläubig an und sagte, wenn die Messe zu
Ende war, sein „_cum spirito tuo_“. Aber beide warteten nur auf eines:
d a ß d e r a n d e r e e n d l i c h a n f a n g e n w ü r d e z u
s p r e c h e n.

Sie warteten so lange, bis schließlich der Tag der Trennung kam. Kurz
vor seiner Abreise trat Maxime in das Zimmer seines Vaters. Er war
entschlossen, sich mit ihm auseinanderzusetzen:

„Papa, bist du eigentlich ganz sicher?...“

Die Verwirrung auf dem Antlitz seines Vaters hinderte ihn
weiterzusprechen. Ein plötzliches Mitleid überkam ihn. Und er fragte
nur, ob sein Vater wirklich sicher sei über die Stunde der Abfahrt.
Clerambault nahm das Ende dieser Frage mit allzu sichtlicher
Erleichterung auf, und kaum daß er nochmals die Auskunft gegeben hatte
— auf die Maxime gar nicht hörte — begann er von neuem, seinen
Redestrom loszulassen und sich in den gewöhnlichen idealistischen
Deklamationen zu ergehen. Maxime schwieg enttäuscht. Während der letzten
Stunde sagten sie sich nur Oberflächlichkeiten. Alle, außer der Mutter,
fühlten, daß sie das Wirkliche verschwiegen. Äußerlich hatten sie alle
heitere und vertrauensvolle Worte, sichtliche Erregung, im Herzen den
ewigen Seufzer: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Schließlich ging Maxime. Im tiefsten Herzen war er erleichtert, wieder
an die Front zurückzukehren. Der Abgrund, den er zwischen der Front und
dem Hinterlande fühlte, schien ihm tiefer zu sein als alle
Schützengräben, und er wußte, daß das Mörderischste nicht die Kanonen
waren, sondern die Ideen. Wie er am Fenster des wegrollenden Waggons die
erschütterten Gesichter entschwinden sah, dachte er:

„Arme Leute! Ihr seid ihre Opfer! Und wir sind die euren!...“

                                   §

Am Tage nach seiner Rückkehr an die Front brach die große
Frühlingsoffensive los, die dem Feind von den redseligen Zeitungen
bereits seit längeren Wochen angedroht worden war. Mit ihr hatte man die
Hoffnung der ganzen Nation während des dumpfen Winters der Erwartung und
der totenähnlichen Starre unablässig genährt. Ein Schauer ungeduldiger
Freude erhob sich im ganzen Volke, man war des Sieges sicher und rief
ihm das „endlich!“ zu.

Die erste Nachricht schien dieser Hoffnung recht zu geben. Sie erzählte,
wie es der Brauch ist, natürlich nur von den Verlusten des Feindes. Alle
Gesichter strahlten. Die Eltern, deren Kinder, die Frauen, deren Männer
draußen waren, fühlten sich erhoben bei dem Gedanken, daß ihre Schöpfung
und ihre Liebe teil hatte am blutigen Liebesmahl. In ihrer Begeisterung
kamen sie kaum auf den Gedanken, daß der Ihre auch ein Opfer sein
konnte. Dieser Fieberzustand war derartig, daß Clerambault, der doch ein
zärtlicher, liebevoller und für die Seinen besorgter Vater war, nur
fürchtete, sein Sohn sei vielleicht noch nicht rechtzeitig zurück
gewesen, um an dem „glorreichen Tag“ teilzunehmen. Sein ganzer Gedanke
war, er möchte dabei gewesen sein, seine glühendsten Wünsche warfen ihn
in den Abgrund hinein. Er opferte ihn auf, er gab ihn und sein Leben
hin, ohne sich zu fragen, ob der Wille seines Kindes selbst damit
einverstanden war. Da er, Clerambault, sich selbst nicht mehr gehörte,
konnte er es einfach nicht mehr verstehen, daß ein anderer seiner
Nächsten sich noch selbst gehörte. Die dunkle Gewalt des Masseninstinkts
hatte alles aufgezehrt.

Und doch, manchmal ließ ihn irgendein Rest von Selbstanalyse einige
Spuren seiner früheren Natur wiederfinden. Es war immer, wie wenn man
einen empfindlichen Nerv berührt — ein dumpfer Schlag, ein Schatten von
Schmerz. Aber er geht vorbei, und man leugnet ihn dann.

Nach drei Wochen stapfte die erschöpfte Offensive noch immer auf den
blutgedüngten Kilometern herum. Die Zeitungen begannen die
Aufmerksamkeit abzulenken, indem sie das Interesse auf irgendein anderes
Thema lockten. Maxime hatte seit seiner Abreise nicht mehr geschrieben.
Man suchte, um sich zu gedulden, irgendeinen jener Vorwände, wie sie die
Vernunft ja so gefällig gibt, aber das Herz glaubt nicht an sie. Wieder
gingen acht Tage vorbei. Untereinander tat jeder der drei so, als ob er
zuversichtlich wäre. Aber in der Nacht, wenn jeder allein in seinem
Zimmer war, schrie die Seele in ihrer Angst auf. Ganze Stunden lang war
das Ohr auf der Lauer, horchte, die Nerven zum Zerreißen angespannt auf
jeden Schritt, der die Treppe emporkam, lauschte auf die Klingel oder
die Berührung einer Hand, die an die Tür streifte.

Allmählich kamen die ersten offiziellen Nachrichten über die Verluste.
In mehreren befreundeten Familien zählte man schon einige Tote und
Verwundete. Jene, die alles verloren hatten, beneideten diejenigen,
denen ihre Lieben vielleicht blutend und verstümmelt, doch wenigstens
würden wiedergegeben werden. Einige hüllten sich in ihre Toten ein wie
in die Nacht, für sie war der Krieg zu Ende, das Leben zu Ende. Bei
anderen aber blieb in erstaunlicher Weise die ursprüngliche Exaltation
beharrlich: Clerambault sah eine Mutter, die ihr Patriotismus und ihre
Trauer so fieberig entflammten, daß man fast das Gefühl hatte, sie freue
sich am Tod ihres Sohnes. Sie sagte mit fanatischer und leidenschaftlich
zusammengeballter Freude: „Ich habe alles gegeben, ich habe alles
hingegeben“, so wie eine, die im Taumel der letzten Sekunden spricht,
ehe sie sich mit ihrem Geliebten ins Wasser stürzt. Aber Clerambault,
schwächeren Wesens oder schon aus seinem Taumel erwachend, dachte immer
nur:

„Auch ich habe alles gegeben — sogar das, was mir nicht mehr gehörte.“

Er wandte sich an die militärische Behörde. Man wußte noch nichts. Acht
Tage später kam die Nachricht, daß der Sergeant Clerambault Maxime als
„vermißt“ seit der Nacht vom 27./28. des vergangenen Monats verzeichnet
war. In den Pariser Büros konnte Clerambault keine weiteren Einzelheiten
erfahren. Er fuhr nach Genf, suchte das Rote Kreuz, das Büro der
Gefangenen auf, erfuhr nichts, stürzte sich auf jede Fährte, erhielt die
Erlaubnis, in den Hospitälern und Etappendepots die Kameraden seines
Sohnes befragen zu dürfen, die ganz entgegengesetzte Auskünfte gaben.
(Die einen sagten, er sei gefangen, die anderen hatten ihn tot gesehen
— am nächsten Tage gaben beide zu, daß sie sich geirrt hatten... o
Qual... Gott, was für ein Henker bist du!...) Und nach zehn Tagen kam er
endlich von diesem Passionsweg gealtert, gebrochen, erschöpft heim.

Er fand seine Frau in einem Paroxismus lauten Schmerzes, der sich bei
diesem gutmütigen Wesen in einen rasenden Haß gegen den Feind verwandelt
hatte. Sie schrie nur Rache und Rache. Zum erstenmal antwortete ihr
Clerambault nicht. Es blieb ihm keine Kraft mehr zu hassen — er
verbrauchte seine ganze im Leiden.

Er schloß sich in sein Zimmer ein. Während dieser ganzen furchtbaren
zehntägigen Pilgerfahrt hatte er sich kaum ein einziges Mal seinen
Gedanken gegenübergestellt. Nur eine Idee hatte ihn Tag und Nacht
hypnotisiert, so wie einen Hund auf der Fährte: nur schneller, nur
rascher vorwärts kommen. Die Langsamkeit der Wagen und Züge hatte ihn
verzehrt. Es war vorgekommen, daß er ein Zimmer für die Nacht bestellte
und doch noch am selben Abend wieder abreiste, ohne sich Zeit zur
Erholung zu lassen, und dieses Fieber der Hast und Erwartung hatte alles
aufgeschluckt. Es machte ihn unfähigen (zu seinem Glück), irgendwie im
Zusammenhang zu denken. Aber jetzt war die Hetzjagd zu Ende, die
Vernunft fand sich wieder, atemlos und röchelnd. Clerambault war jetzt
gewiß, daß Maxime tot sei. Er hatte es seiner Frau nicht gesagt und ihr
einige Mitteilungen verschwiegen, die ihm jede Hoffnung raubten, denn
sie war eine jener Naturen, für die es ein Lebensbedürfnis ist, sich
selbst gegen alle Vernunft einen Schein von Lüge zu bewahren, der sie so
lange noch aufrecht hält, bis die große Flut des Schmerzes ein wenig
verebbt ist. Vielleicht wäre Clerambault vordem auch einer dieser
Menschen gewesen, aber jetzt erkannte er schon zu gut, wohin dieser
Selbstbetrug geführt hatte. Er wagte noch nicht zu richten, versuchte
überhaupt noch kein Urteil, er lag nur da in seiner Nacht, zu schwach,
sich aufzurichten, rings um sich zu tasten, lag wie einer, der nach
einem Sturz seinen zerschmetterten Körper regt und erst an seinem
Schmerze gewahr wird, daß er noch lebt und sich bemüht, zu verstehen,
was ihm eigentlich zugestoßen sei. Der weit aufgerissene tiefe Abgrund
dieses Todes starrte ihn an und bezauberte ihn. Dieses schöne Kind, das
man mit so viel Lust, mit so viel Mühe erzogen hatte, dieser Reichtum an
blühender Hoffnung, das kleine, unvergleichliche Weltall, das ein junger
Mensch bedeutet, dieser Baum von Jesse, dieses kommende Jahrhundert...
all das zerstört in einer Stunde... und wofür? Wofür?

Er versuchte sich wenigstens zu überreden, daß es für etwas sehr Großes
und Notwendiges geschehen sei. Mit Verzweiflung klammerte sich
Clerambault in den folgenden Tagen und Nächten an diese Boje, er wußte,
wenn seine Finger sie losließen, müsse er ertrinken. Noch gewaltsamer
suchte er die Heiligkeit der Sache zu betonen, obwohl er es vermied,
darüber zu diskutieren. Aber seine Finger klammerten sich immer
schwächer an, bei jeder Bewegung sank er mehr hinab in die Tiefe, bei
jeder neuen Bekräftigung des Rechtes und der Gerechtigkeit erhob sich
aus seinem Gewissen wie ein finsterer Donner eine Stimme, die sagte:

„Und wenn ihr auch zwanzigtausendmal mehr Recht hättet in eurem Kampf,
kauft dies, daß eure Vernunft recht behält, das entsetzliche Unglück
darum schon zurück, mit dem es bezahlt ist? Wiegt euer Recht die
Millionen Unschuldigen auf, die als Pfand des Unrechts und des Irrtums
der andern fallen? Wäscht ein Verbrechen das andere rein, ein Mord den
andern? War es wirklich nötig, daß eure Söhne nicht nur Opfer, sondern
auch Mitschuldige waren, nicht nur Ermordete, sondern auch Mörder?“

Er sah im Geiste noch einmal den letzten Besuch seines Sohnes, hörte
ihre letzten Gespräche, und alles wiederholte sich in seinem Herzen.
Wieviel Dinge verstand er jetzt, die er damals nicht verstanden hatte!
All das oftmalige Schweigen Maximes, die Vorwürfe seiner Augen... Aber
das Schlimmste von allem für ihn kam, als er sich darüber klar wurde,
daß er sie schon damals verstanden hatte, damals, als sein Sohn noch da
war, und daß er sie nur nicht hatte verstehen wollen.

Und diese Entdeckung, die er schon seit einigen Wochen wie eine finstere
Drohung über sich schweben fühlte — diese Entdeckung seiner inneren
Lüge erdrückte ihn.

                                   §

Rosine Clerambault war bis zum gegenwärtigen kritischen Augenblick
gleichsam verloschen gewesen. Die anderen, und beinahe sie selbst,
wußten nichts von ihrem Innenleben, kaum ihr Vater hatte davon eine
deutliche Ahnung. Ohne Freundinnen oder gleichalterige Kameradinnen
hatte sie die ganze Zeit unter dem Schutzmantel der Wärme
selbstsüchtiger und erstickender Familienzärtlichkeit dahingelebt. Die
Eltern standen zwischen ihr und der äußeren Welt, sie war schon daran
gewöhnt, in ihrem Schatten dahinzuleben; sehnte sie sich dann, als sie
herangewachsen war, aus dieser Sphäre herauszukommen, so wagte sie es
nicht, wußte auch gar nicht, was mit sich anfangen. Denn kaum, daß sie
aus dem Familienkreise heraustrat, fühlte sie sich gehemmt, ihre
Bewegungen wurden ungelenk, sie konnte kaum sprechen, und das allgemeine
Urteil fand sie unbedeutend. Sie wußte das und litt daran, denn sie war
nicht ohne Selbstgefühl. So ging sie so wenig als möglich aus, blieb in
ihrem Kreise, still, einfach und natürlich, und diese Stille war nicht
die Folge einer Trägheit des Denkens, sondern der Geschwätzigkeit der
anderen. Der Vater, die Mutter, der Bruder waren alle überschwänglich,
so schloß sich dieses kleine Wesen aus Gegensätzlichkeit in sich selbst
ein. Aber sie hielt Zwiesprache mit sich in ihrem Herzen.

Sie war blond, groß und schmal, hatte die Formen eines Knaben, hübsches
Haar, dessen Locken leicht über die Wangen spielten, einen großen und
ernsten Mund. Die untere Lippe war gegen die Mundwinkel zu etwas voll,
sie hatte große, stille, träumerische Augen, fein und zart gezogene
Brauen und ein hübsches Kinn. Auch ihr Hals war hübsch, ihre Brust zart
und ebenso die Hüfte, nur die Hände etwas rot und groß mit vollen Adern.
Ein Nichts konnte sie erröten machen. Der Reiz ihrer Jugend lag in der
Stirn und im Kinn, die Augen fragten nur herum, träumten, aber verrieten
nichts.

Ihr Vater hatte eine Vorliebe für sie, ebenso wie die Mutter für den
Sohn: es gab zwischen ihnen geheime Beziehungen. Ohne es zu wollen,
hatte Clerambault unaufhörlich sich des Mädchens seit dessen Kindheit
mit seiner Zärtlichkeit bemächtigt und hielt es unablässig darin
gefangen. Er hatte zum Teil selbst Rosinens Erziehung geleitet und sie
mit der oft ein wenig aufdringlichen Naivität des Künstlers zu seiner
Vertrauten gemacht. Dazu verführte ihn sein überströmendes Wesen, sein
Bedürfnis, sich mitzuteilen, und das geringe Echo, das er bei seiner
Frau fand: dieser guten Frau, die vor ihm auf den Knien lag und dort
gewissermaßen liegen geblieben war. Sie sagte „ja“ zu allem, was er
sagte, bewunderte ihn voll Vertrauen, aber sie verstand ihn nicht und
merkte es nicht einmal, daß sie ihn nicht verstand. Das Wichtigste waren
für sie nicht die Ideen ihres Mannes, sondern er selbst, seine
Gesundheit, seine Zufriedenheit, seine Bequemlichkeit, seine Kleidung
und Nahrung. Clerambault als dankbare Natur fällte kein Urteil über
seine Frau, ebensowenig wie Rosine über ihre Mutter, aber beider
Instinkt wußte wohl, was von ihr zu halten war, und dies war ein
geheimes Band, das sie einte. Clerambault bemerkte gar nicht, daß er
allmählich aus seiner Tochter seine wahre geistige Gattin und Gefährtin
gemacht hatte; erst in der letzten Zeit wurde er dessen ahnend gewahr,
als die politische Krise zwischen ihnen die stillschweigende
Übereinstimmung löste und ihm plötzlich die Zustimmung, die geheime
Neigung Rosinens fehlte. Rosine wußte all die Dinge längst vor ihm, sie
vermied nur, ihr Geheimnis näher zu untersuchen. Das Herz braucht für
sein Wissen nicht den Appell an den Verstand.

Seltsames und wundervolles Geheimnis der Liebe, die die Seelen
verbindet! Sie weiß unabhängig zu bleiben von den Gesetzen der
Gesellschaft und selbst der Natur, aber nur wenige Menschen werden
dessen gewahr, und noch wenigere wagen es, sich es einzugestehen, aus
Furcht vor der Plumpheit der Welt, die immer nur Gesamturteile hören
will und sich an den engen Sinn der Gewohnheitssprache hält. Aber in
dieser konventionell abgeschliffenen Sprache, die aus gesellschaftlicher
Vereinfachung mit Absicht ungenau bleibt, sind die Worte weit davon
entfernt, die lebendigen Nuancen der vielfältigen Wirklichkeit zu
offenbaren und aufzuschließen, im Gegenteil, sie fesseln, uniformieren,
versteinern sie und stoßen sie in den Dienst der selbst an die Kette
gelegten Vernunft — jener Vernunft, die nicht aus den Tiefen des
Geistes entspringt sondern — wie eine Fontäne in Versailles — aus
weiten, in das Gefüge der zivilisierten Gesellschaft eingemauerten
Wasserflächen. In diesem gleichsam juristischen Vokabular ist die Liebe
an das Geschlecht, an das Alter, an gewisse gesellschaftliche Klassen
gebunden, und je nachdem, ob sie sich den geltenden Umständen fügt,
entweder als natürlich oder nicht, als legitim oder nicht anerkannt.

Aber was diese Worte erhaschen, ist nur ein dünnes Rinnsal aus den
tiefen Quellen der Liebe. Die unendliche Liebe, gleichsam das
Schwergewichtsgesetz, das die Welten bewegt, kümmert sich nicht um den
Rahmen, den wir um ihr Wesen ziehen. Sie geschieht zwischen Seelen, die
alles innerhalb Raum und Zeit voneinander zu entfernen scheint, über
Jahrhunderte hinweg eint sie die Gedanken von Lebenden und Toten, sie
schlingt enge und keusche Bindung zwischen Alten und Jungen, bringt den
Freund dem Freunde und oft die Seele des Kindes der eines Greises näher,
als sie beide, Mann oder Frau, jemals vielleicht in ihrem Leben
Gefährtin oder Gefährten finden werden. Zwischen Vater und Kind gibt es
oft solche Bindungen, ohne daß beide ihrer gewahr würden. Und „des
Menschen Geschlechte“ (wie unsere Vorväter sagten) zählen so wenig im
ewigen Antlitz der Liebe, daß zwischen Vätern und Kindern die
Beziehungen vertauscht sind und die Kinder oft nicht die Jüngeren sind
von beiden, sondern der Vater das wahre Kind ist. Wieviel Söhne
empfinden fromm eine väterliche Liebe für ihre alte Mutter! Und
geschieht es nicht wieder auch uns, daß wir uns ganz demütig und klein
vor den Augen eines Kindes fühlen? Das Bambino Botticellis läßt auf der
reinen Jungfrau seinen Blick voll einer unbewußten schmerzlichen
Erfahrung ruhen, die so alt ist wie die Welt.

Auch die Zuneigung Clerambaults und Rosinens war von solcher erhabenen
und frommen Wesensart, wie sie Vernunft allein nicht zu erklären vermag.
Und deshalb begann in den Tiefen des bewegten Meeres tief unterhalb
jener Schwankungen und Gewissenskämpfe, die der Krieg entfesselte,
zwischen diesen beiden Seelen, die durch solche heilige Liebe verbunden
waren, ohne Gesten, fast ohne Wort, ein geheimes Drama. Aus diesem
unbewußten Gefühl erklärte sich auch die Zartheit ihres beiderseitigen
Spürens. Zuerst war es das stumme Sichzurückziehen Rosinens, die, in
ihrer Zärtlichkeit enttäuscht, in ihrem geheimen Ehrfurchtskult durch
die Haltung ihres vom Krieg verführten Vaters ernüchtert, sich leise von
ihm weghielt wie eine kleine antike, keusch verhüllte Statue; schon aber
empfand die Unruhe Clerambaults, dessen Feinfühligkeit durch sein
zärtliches Gefühl geschärft war, dieses „_Noli me tangere_“. Es gab
zwischen dem Vater und der Tochter in jener Zeit kurz vor dem Tode
Maximes eine unausgesprochene Entfremdung, die man vielleicht (wenn die
Worte nicht zu grobschlächtig wären) einen Liebeskummer im reinsten
Sinne des Wortes hätte nennen können. Dieser geheime Zwiespalt, der nie
zu einem Wort zwischen ihnen aufschwebte, war für beide eine Kränkung,
er verwirrte das junge Mädchen und reizte Clerambault, denn dieser
kannte wohl die Ursache, nur sein Stolz weigerte sich, sie anzuerkennen.
Aber bald kam er soweit, sich eingestehen zu müssen, daß Rosine im Recht
war, und gern hätte er sich gedemütigt, aber er blieb in falscher Scham
verschlossen. So verschärften sich die Mißverständnisse noch im Geiste,
indes schon das Herz zur Nachgiebigkeit aufforderte.

Während der inneren Verwirrung nach dem Tode Maximes lastete diese Bitte
dringlicher auf ihren schon mehr zur Nachgiebigkeit bereiten Seelen.
Eines Tages, als die drei sich zum Abendessen zusammenfanden — es war
dies die einzige Stunde, die sie verband, denn jeder lebte für sich,
Clerambault ganz seiner Trauer hingegeben, Frau Clerambault immer
ziellos beschäftigt und Rosine den ganzen Tag abwesend bei ihren
Hilfsaktionen — hörte Clerambault seine Frau heftig Rosinen Vorwürfe
machen. Rosine sprach von ihrer Absicht, die Pflege von feindlichen
Verwundeten zu übernehmen, und Frau Clerambault, die dies als Verbrechen
empfand, regte sich darüber auf.

Sie rief ihren Mann als Richter an. Clerambault, dessen müde, dunkle und
leidende Augen zu verstehen begannen, sah Rosine an, die schweigend und
mit gesenkter Stirn seine Antwort erwartete. Dann sagte er:

„Meine Kleine hat recht.“

Rosine errötete vor plötzlicher Erregung, denn das hatte sie nicht
erwartet. Dankend hob sie die Augen zu ihm auf; ihr Blick schien zu
sagen:

„Endlich habe ich dich wiedergefunden.“

Nach der kurzen Abendmahlzeit trennten sich alle drei, jeder blieb für
sich. Clerambault, vor seinem Arbeitstisch, weinte, das Antlitz in den
Händen. Der Blick seiner Tochter hatte sein von Schmerz erstarrtes Herz
aufgelöst. Es war seine verlorene Seele, die seit Monaten erstickte,
dieselbe Seele, die er vor dem Kriege besessen und nun wiedergefunden
hatte. Und sie blickte ihn an....

Er trocknete seine Tränen und lauschte an der Tür... Seine Frau ordnete
wie allabendlich in dem doppelt verschlossenen Zimmer Maximes wieder und
wieder und wieder die Wäsche und die Gegenstände des Toten... Er trat in
das Zimmer seiner Tochter, wo Rosine allein nahe beim Fenster saß und
nähte. Sie war ganz in ihre Gedanken verloren und hörte sein Kommen
erst, als er schon dicht neben ihr stand.

Er neigte seinen ergrauten Kopf gegen sie und sagte:

„Mein kleines Mädchen.“

Da zerschmolz auch ihr Herz, sie ließ ihre Arbeit fallen, nahm das alte
Haupt mit den wirren Haaren zwischen ihre Hände und sagte, während ihre
Tränen sich mit jenen, die sie hinströmen sah, vermengten:

„Lieber, lieber Vater!“

Aber weder der eine noch der andere bedurfte einer Erklärung, weshalb
sie zueinander gekommen waren. Nach einem langen Schweigen, als er seine
Ruhe wiedergefunden, sagte er mit einem Blick auf sie:

„Mir ist, als ob ich aus einem furchtbaren Wahn erwachte.“

Sie streichelte ihm das Haar, ohne zu sprechen.

„Aber du hast über mir gewacht, nicht wahr? Ich habe es gefühlt, immer
bemerkt... hat es dir sehr weh getan?“

Sie nickte mit dem Kopfe, ohne ihn anzusehen. Er küßte ihr die Hände,
richtete sich auf und sagte:

„Mein guter Engel, du hast mich gerettet.“

                                   §

Er kehrte in sein Zimmer zurück.

Sie blieb allein, ohne sich zu rühren, ganz durchdrungen von Erregung.
Lange verharrte sie so gesenkten Hauptes, die Hände über ihren Knien
gefaltet. Die Flut der Gefühle, die wild aus ihr aufquollen, ließen
ihren Atem stocken, ihr Herz war schwer von Liebe, Glück und Beschämung.
Die Demut ihres Vaters verwirrte sie... Plötzlich riß sie ein Schwall
von Zärtlichkeit und leidenschaftlichem Mitleid aus der Starre, die ihre
Glieder und ihre Seele umfing, sie streckte die Arme gegen den Fernen
aus, warf sich verwirrt vor ihrem Bett nieder, dankte Gott und bat ihn
im Gebete, er möge alle Schmerzen auf sie häufen und das Glück ihm
schenken, den sie liebte.

Aber der Gott, den sie beschworen, hatte nicht acht auf ihren Wunsch.
Auf die Augen des Mädchens senkte er den guten Schlaf des Vergessens;
Clerambault indes mußte noch den Gipfel seines Kalvarienberges
erklimmen.

                                   §

In der Nacht seines Zimmers, bei erloschener Lampe, blickte Clerambault
in sich hinein. Er war entschlossen, bis in die letzte Tiefe seiner
verlogenen und ängstlichen Seele, die der Wahrheit entflohen,
hinabzuforschen. Die Hand seiner Tochter, deren Kühle er noch auf seiner
Stirn fühlte, hatte das letzte Zögern weggestreift. Er war entschlossen,
dem Ungeheuer Wahrheit ins Auge zu sehen, auch auf die Gefahr hin, von
seinen Tatzen, die keinen mehr loslassen, den sie einmal erfaßt haben,
zerfleischt zu werden.

Mit Angst, aber mit entschlossener Hand begann er in blutigen Stücken
die Haut der irdischen Vorurteile, der Leidenschaften und fremden Ideen,
die seine Seele ganz umwachsen hatte, von ihr loszulösen.

Zuerst das dicke Fell des tausendköpfigen Tieres, der gemeinsamen
Herdenseele. Aus Angst und aus Schwäche hatte er sich in sie
hineingeflüchtet, denn sie hält warm, fast zum Ersticken warm, man ruht
gut darin, und doch ist sie ein schmutziges Kissen. Aber ist man einmal
drinnen in dieser weichen Masse, so ist es vorbei mit jedem Versuch, aus
ihr herauszukommen, und man will es auch gar nicht mehr. Man braucht
nicht mehr zu denken, zu wollen, man ist geschützt vor der kalten
Zugluft der Verantwortlichkeit. Trägheit und Feigheit... Fort! Weg
damit!... Sogleich stürzt durch die offenen Ritzen der eisige Wind! Man
schauert zurück — aber schon ist durch diesen kalten Stoß die
Schläfrigkeit abgeschüttelt. Die umnebelte Energie richtet sich wankend
wieder auf. Was wird sie draußen finden? Sei es, was es wolle, sie muß
es sehen.

Er sah zuerst, das Herz von Ekel geschüttelt, was er nie geglaubt hätte
— wie tief dieses fettige Fell schon mit seinem Fleische verwachsen
war. Er witterte darinnen gleichsam eine späte faule Ausdünstung der
Urbestie, alle die wilden uneingestandenen Instinkte des Krieges, des
Mordes, des vergossenen Blutes, des von gierigen Kinnladen zerrissenen
Fleisches. Er fühlte die ganze Urkraft des Todes über das Leben, er
fühlte in der Tiefe des menschlichen Seins die Grube des Schlachthauses,
die die Zivilisation, statt sie zuzuschütten, nur mit dem Schwall ihrer
Lüge verhüllt und über der der dumpfe Dunst vergossenen Blutes
schwelt... Dieser widrige Geruch ernüchterte Clerambault vollständig.
Mit Grauen riß er die Haut der Bestie von sich ab, deren Beute er
geworden war.

Ah, wie sie schwer war, heiß, zugleich stinkend und schön, seidenhaarig,
warm und doch blutig. Zusammengefügt aus den niedrigsten Instinkten und
den erlauchtesten Träumen. Was war nicht alles darin verwebt, das
Lieben, Sich-Hingeben, Sich-Aufopfern, ein Körper und eine Seele Sein im
Vaterland, dem einzig Lebendigen!... Aber was ist denn dieses Vaterland,
dieses einzige Leben, dem man nicht nur sein Leben, nein, alle Leben
hinwirft, und dazu noch sein Gewissen, alle Gewissen? Und was ist dies
für eine blinde Liebe, deren anderes Janusantlitz mit den ausgerissenen
Augen nur blinden Haß zeigt?

„Man hat höchst fälschlich den Namen der Vernunft von dem der Liebe
getrennt und sie ohne guten Grund einander gegenübergestellt“, sagt
Pascal. „Die Liebe und die Vernunft sind ein und dasselbe. Es ist ein
vorschnelles Denken, das sich zu einer Seite hinwendet, ohne alles
geprüft zu haben, aber immerhin, es ist eine Art zu denken.“

Nun gut, durchdenken wir das Ganze! Birgt sich nicht gerade in dieser
Form der Liebe bei vielen Furcht, alles zu prüfen, tun sie nicht gleich
dem Kinde, das, um den Schatten an der Wand nicht zu sehen, den Kopf
unter die Decke steckt?

Das Vaterland? Was ist es? Ein Hindutempel: Menschen, Ungetüme und
Götter. Was ist sein eigentliches Wesen? Die heimische Erde? Die ganze
Erde ist unsere gemeinsame Mutter. Oder ist es die Familie? Es gibt hier
Familien und drüben, beim Feind und bei uns, und beide wollen sie nur
den Frieden. Oder sind es die Armen, die Arbeiter, das Volk? Die sind
auf beiden Seiten gleich elend und gleich ausgebeutet. Oder sind es die
Geistigen? Die haben nur ein gemeinsames Feld, und ihre Eitelkeiten und
Streitigkeiten sind ebenso lächerlich im Morgenlande wie im Abendlande.
Die Welt hat anderes zu tun als sich wegen des Gezänkes eines Vadius und
eines Trissotin zu bekämpfen. Ist es also der Staat? Der Staat ist nicht
das Vaterland. Einzig jene, die davon Vorteil haben, mischen diese
beiden Begriffe ineinander. Der Staat ist unsere Kraft, die einige
Menschen ausnützen oder mißbrauchen. Menschen wie wir, die nicht mehr
wert sind als wir selbst und oft weniger, und von denen wir uns in
Friedenszeit sonst nicht narren lassen und die wir im allgemeinen
richtig zu beurteilen wissen. Aber kaum, daß der Krieg da ist, lassen
wir ihnen freie Hand, sie dürfen die niedrigsten Instinkte entfesseln,
jede Kontrolle ersticken, jede Freiheit hinmorden, jede Wahrheit, die
ganze Menschheit. Sie sind dann die Herren, man muß sich in Reih und
Glied drücken, um die Ehre und die Dummheit dieser in Herrenkleider
vermummten Bedienten zu verteidigen. Wir sind einig, sagt man?
Erbärmliches Wortnetz! Einig sind wir ohne Zweifel, wir haben die
schlechtesten und die besten in unseren Völkern beisammen, das ist wahr,
das wissen wir. Aber daß eine Pflicht uns bindet, ihre Ungerechtigkeiten
und Sinnlosigkeiten mitzumachen, das leugne ich...

Die Gemeinsamkeit soll darum nicht verachtet sein. Niemand, denkt
Clerambault, hat mehr als ich ihre Lust gefühlt, ihre Größe gefeiert. Es
ist gut, gesund, stärkend und kräftigend, den nackten, starren und eisig
einsamen Egoismus in jenes Bad des Vertrauens und der brüderlichen
Aufopferung hinabzuwerfen, das die Massenseele bedeutet. Man entspannt
sich, man gibt sich hin, man atmet. Der Mensch bedarf der anderen, er
ist den anderen verpflichtet. Aber er ist ihnen nicht mit seinem ganzen
Wesen verpflichtet. Denn was bliebe ihm sonst für Gott? Er muß sich den
anderen hingeben, doch um geben zu können, muß man etwas haben, man muß
vor allem selbst etwas sein. Aber wie kann man selbst etwas sein, wenn
man ganz in die anderen zerfließt? So viel Pflichten es auch gibt, die
erste ist, sein eigenes Selbst zu sein und zu bleiben bis zur
Aufopferung und Hingabe seines Ich. Das Bad in der Massenseele als
Dauerzustand wäre eine Gefahr. Aus seelischer Hygiene in sie
hinabzutauchen, mag gut tun. Aber man muß wieder heraus, sonst läßt man
alle seine moralische Kraft darin. Und gerade in unserem Zeitalter ist
man ja schon von seiner Kindheit an, ob man will oder nicht, in die
demokratische Badekufe hinabgetaucht. Die Gesellschaft denkt für einen,
ihre Moral will, und ihr Staat handelt für uns, ihre Mode und Meinung
nehmen uns die Luft weg, die wir atmen, trinken unseren Hauch, unser
Herz, unser Licht. Man ward Diener dessen, das man mißachtet, man lügt
in allen seinen Bewegungen, seinen Worten, seinen Gedanken. Man
verzichtet und ist nicht mehr... Aber wer hat den Vorteil davon, wenn
alle verzichten? Zu wessen Wohl verzichtet man? Für die blinden
Instinkte oder für ein paar Lumpenkerle? Wem gehorchen wir? Einem Gott
oder ein paar Scharlatanen, die in seinem Namen die Orakel sprechen? Den
Schleier fort! Ich will sehen, was sich dahinter verbirgt... Das
Vaterland!... Was für ein großes Wort, was für ein schönes Wort. Der
Vater, umschlungen von seinen Brüdern... Aber das ist ja gar nicht das
Vaterland, das ihr mir zeigt, es ist ein falsches Vaterland, ein
Bretterverschlag, ein Tierkäfig, Schützengräben und Barrikaden,
Gefängniswände!... Meine Brüder! Wo sind meine Brüder? Wo sind sie alle,
die rings im Weltall leiden? Ihr Kains, was habt ihr aus ihnen gemacht?
Ich breite ihnen die Arme entgegen, und ein Strom von Blut trennt mich
von ihnen. In meinem eigenen Volke darf ich nicht mehr frei zu meinen
Brüdern reden, ich bin nur mehr ein namenloses Instrument, das morden
soll... Mein Vaterland! Aber ihr seid es ja, die es tötet... Mein
Vaterland war die große Gemeinschaft der Menschheit, und sie habt ihr
zerschlagen. Die Freiheit und der Gedanke haben keine Heimstatt mehr in
Europa... Ich will mir mein Haus wieder aufbauen, unser aller Haus, denn
ich habe keines mehr, das eure ist ein Gefängnis... Wie soll ich es tun?
Wo soll ich suchen? Wo mich verbergen...? Sie haben mir alles genommen!
Es gibt keine Fingerbreite mehr auf der Erde oder im Geiste, die noch
frei ist, alle Heiligtümer der Seele, der Kunst, der Wissenschaft haben
sie geschändet, alles haben sie sich hörig gemacht! Ich bin allein und
verloren, ich habe nichts mehr, ich stürze hin...

                                   §

Als Clerambault alles von sich abgerissen hatte, blieb ihm nichts mehr
als seine eigene nackte Seele. Bis zum Ausgang dieser Nacht drückte sie
sich zitternd und erstarrt an ihn. Aber in dieser zitternden Seele, in
diesem winzigen Wesen, das im Weltall verloren war, glühte leise ein
Funke wie eines jener εἴδωλα, die die primitiven Maler über dem Munde
der Sterbenden schweben lassen. Als es gegen Morgen ging, begann die
fast unsichtbare Flamme, die beinahe in der schweren Umschalung der Lüge
erstickt war, zu erwachen. Im Atem der frischen Luft schlug sie hell
empor. Und nichts konnte sie mehr hindern, frei emporzuwachsen.

                                   §

Langsamer, grauer Tag nach diesem Kampf oder dieser Geburt. Schwere
zerbrochene Ruhe. Tiefe, ungewohnte Stille... Ermattetes Wohlgefühl
vollbrachter Pflicht... Clerambault, das Haupt an die Lehne seines
Fauteuils gestützt, träumte unbeweglich vor sich hin, Fieber im Leib,
das Herz schwer von Erinnerung. Seine Tränen strömten, ohne daß er es
fühlte. Draußen erwachte die melancholische Natur der letzten
Wintertage, die Bäume zitternd, wie er selbst, und noch nackt. Aber
unter dem Eisglanz der Luft bebte schon ein neues Feuer.

Bald wird es das All umfangen.



                              Zweiter Teil



                                   §

Nach acht Tagen begann Clerambault wieder auszugehen. Aus der
furchtbaren Krise, durch die er sich gerungen, ging er gebrochen, aber
entschlossen hervor. Der Überschwang der Verzweiflung war von ihm
gefallen, ihn beseelte einzig mehr ein stoischer Wille, der Wahrheit bis
in ihre letzten Schlupfwinkel nachzudringen. Aber das Erinnern an seine
geistige Verwirrung, in der er sich so wohl befunden, und die Halblüge,
die so lange seine Nahrung gewesen war, machte ihn unsicher und demütig.
Er mißtraute der eigenen Kraft, und um Schritt für Schritt
weiterzukommen, fühlte er sich bereit, den Rat von Erfahreneren als
Führung anzunehmen. Er erinnerte sich, wie Perrotin damals seinen
vertraulichen Überschwang mit ironischer Zurückhaltung aufgenommen.
Damals hatte sie ihn verwirrt, nun zog sie ihn an. Sein erster Besuch
nach der Genesung galt dem klugen Freunde.

Obwohl Perrotin sich besser auf Bücher als auf Physiognomien verstand —
ziemlich kurzsichtig und ein wenig egoistisch, gab er sich selten Mühe,
etwas zu beachten, das er nicht unbedingt brauchte — so konnte er doch
nicht umhin, die Veränderung der Gesichtszüge Clerambaults sofort
staunend zu bemerken.

„Was ist, mein guter Freund“, rief er ihm zu, „waren Sie krank?“

„Ja, wirklich sehr krank“, antwortete Clerambault, „aber es geht mir
schon besser, ich habe mich schon erholt.“

„Ja, das ist für uns der grausamste Schlag“, sagte Perrotin, „in unserem
Alter einen Freund zu verlieren, wie es für Sie Ihr armer Sohn war.“

„Das Grausamste ist noch nicht, ihn verloren zu haben“, antwortete
Clerambault, „sondern selbst mit Schuld an seinem Verlust zu sein.“

„Was sagen Sie da, mein Freund“, fuhr Perrotin erstaunt auf, „was haben
Sie sich da erfunden, um Ihre Qual noch zu steigern?“

„Ich hatte ihm die Augen verschlossen“, sagte bitter Clerambault, „und
er hat sie mir geöffnet.“

Perrotin ließ seine Arbeit liegen, über die er wie gewöhnlich nachsann,
während man zu ihm sprach, und sah Clerambault erstaunt an, der mit
gesenktem Kopf und einer dumpfen, schmerzvoll-leidenschaftlichen Stimme
zu erzählen begann. Es war, wie wenn ein Christ der ersten Zeiten
öffentlich seine Beichte ablegte. Er klagte sich der Lüge an, der Lüge
gegen seinen Glauben, der Lüge gegen sein Herz, der Lüge gegen seine
eigene Vernunft. Der Apostel hatte in seiner Feigheit den Gott
verleugnet, sobald er ihn in Ketten sah, aber soweit hatte er sich doch
nicht erniedrigt, den Henkern seines Gottes Hilfe zu leisten. Aber er,
Clerambault, hatte nicht nur die Sache der allmenschlichen
Brüderlichkeit verlassen, er hatte sie erniedrigt; er hatte nicht
abgelassen, von Brüderlichkeit zu sprechen, während er gleichzeitig zum
Haß aufrief, er hatte wie jene lügnerischen Priester, die das Evangelium
verdrehen, um es in den Dienst ihrer schlechten Absichten zu stellen,
geschickt die erhabensten Gedanken verfälscht, um mit ihrer Maske die
Leidenschaft zum Mord zu verdecken. Er hatte sich einen Pazifisten
genannt, während er den Krieg verherrlichte, und einen Menschenfreund,
indes er den Feind von vornherein aus dem Kreise der Menschheit
ausstieß.... Oh, um wieviel redlicher wäre es gewesen, sich vor der
brutalen Gewalt einfach zu beugen, als mit ihr erniedrigende Kompromisse
einzugehen! Gerade dank solchen Sophismen wie den seinen, war es
gelungen, den Idealismus der jungen Menschen in das Gemetzel zu hetzen.
Denn die Denker, die Künstler, sie, die alten Giftmischer, waren es, die
mit ihrer Rhetorik den grauenhaften Todestrunk versüßten, den ohne ihre
Mitschuld jedes reine Gewissen sofort mit Abscheu zurückgestoßen und
ausgespien hätte....

„Das Blut meines Kindes ist über mir“, sagte Clerambault schmerzlich,
„das Blut aller jungen Menschen Europas, in allen Nationen, spritzt der
Idee Europas ins Antlitz. Überall hat sich die Idee zum Knecht des
Henkers erniedrigt.“

„Mein armer Freund“, sagte Perrotin, indem er sich zu Clerambault neigte
und seine Hand nahm, „Sie übertreiben immer.... Gewiß, Sie tun gut, den
Gefühlsirrtum zu erkennen, in den Sie die öffentliche Meinung
mitgerissen hat, und ich kann Ihnen heute offen sagen, daß mich diese
Täuschung gerade bei Ihnen geschmerzt hat. Aber Sie haben unrecht, wenn
Sie sich und den Sprechenden überhaupt eine so große Verantwortung für
die Geschehnisse von heute zuschreiben. Die einen sprechen, die anderen
handeln, aber es sind nicht diejenigen, die sprechen, die die Tat der
anderen verursachen; beide sind Spielball der Strömung und haben keine
Kraft über diese.“

„Aber ihnen fällt doch die Schuld zu, andere aufgefordert zu haben, sich
mitreißen zu lassen“, antwortete Clerambault. „Statt die noch auf der
Oberfläche Schwimmenden festzuhalten und ihnen zuzuschreien: „Kämpft
gegen den Strom!“ haben sie gesagt: „Laßt euch nur fortreißen!“ Nein,
mein Freund, versuchen Sie nicht, unsere Verantwortlichkeit zu mildern.
Sie ist schwerer als irgend eine andere, denn unser Gedanke war so hoch
gestellt, daß er weit blicken konnte, seine Pflicht war, zu wachen, und
wenn er nicht das Richtige gesehen hat, so war es, weil er nicht sehen
wollte. Wir dürfen nicht unsere Augen anklagen, denn unsere Augen waren
gut, das wissen Sie wohl, und auch ich weiß es jetzt, da ich mich wieder
aufgerafft habe. Dieselbe Vernunft, die mir die Augen verbunden hat, hat
mir das Band wieder abgerissen. Seltsam, daß sie gleichzeitig ein
Instrument der Lüge und ein Instrument der Wahrheit ist!“

Perrotin schüttelte den Kopf.

„Ja, die Vernunft ist so groß und so erhaben, daß sie sich nicht, ohne
sich zu erniedrigen, in den Dienst anderer Mächte stellen darf. Man muß
ihr alles aufopfern. Sobald sie nicht mehr freiwirkend und Herrin ihrer
selbst ist, erniedrigt sie sich, sie wird dann wie der Grieche, der von
dem Römer, seinem Herrn, trotz seiner Überlegenheit erniedrigt wird und
verpflichtet, sein Kuppler zu sein, ein Gräculus, ein Sophist, ein
_leno_... Der Durchschnittsmensch ist gewöhnt, seine Vernunft wie einen
Dienstboten zu allem möglichen zu mißbrauchen, und sie dient ihm dann
mit der unehrlichen und geschmeidigen Geschicklichkeit dieser Art Leute.
Bald begibt sie sich in den Dienst des Hasses, des Stolzes, bald in den
der eigenen Interessen, sie schmeichelt allen diesen kleinen Ungetümen
und verkleidet sie als Idealismus, Liebe, Glaube, Freiheit, soziale
Hingabe, denn wenn ein Mensch die Menschen nicht liebt, so sagt er
immer, er liebe Gott, das Vaterland oder die Menschheit. Bald wird dann
der arme Herr der Vernunft selbst zum Sklaven, zum Sklaven des Staates.
Mit ihrer Drohung zwingt ihn die soziale Maschine zu Handlungen, die ihm
innerlich widerstreben; die brave und gefällige Vernunft redet ihm aber
sofort ein, diese Handlungen seien schön und ruhmvoll, und daß er sie
aus freiem Willen tue. In dem einen Falle wie in dem andern weiß die
Vernunft wohl, woran sie sich zu halten hat. Sie steht immer zu unserer
Verfügung, sobald wir wirklich wollen, daß sie uns die Wahrheit sage.
Aber wir sind es, die sich wohl hüten, von ihr Gebrauch zu machen. Wir
vermeiden sorgsam, mit ihr allein zu sein, wir wissen es immer so
einzurichten, daß wir ihr nur in Gesellschaft begegnen und ihr Fragen
schon in jenem Ton stellen, der die Antwort von vornherein bestimmt.....
Schließlich dreht sich die Erde darum doch — _e pur si muove_ — die
Weltgesetze erfüllen sich, und der freie Geist erkennt sie. Alles andere
ist Eitelkeit. Was wir Leidenschaften und aufrichtigen oder falschen
Glauben nennen, bedeutet nur einen verhüllten Ausdruck für die
Notwendigkeit, die die Welt bewegt, gleichgültig um unsere Idole,
Familie, Rasse, Vaterland, Religion, Gesellschaft, Fortschritt...
Fortschritt? Das ist der größte Wahn von allen. Ist denn die Menschheit
nicht dem Gesetz der höchsten Spannung unterworfen, das verlangt, daß,
sobald sie überschritten ist, eine Klappe sich öffne und der Behälter
sich wieder leere? Kehrt er nicht immer wieder, dieser katastrophale
Rhythmus? Knapp an den Höhen der Zivilisation ist immer der Absturz. Man
steigt, und taucht wieder hinab.“

Perrotin entwickelte ruhig seinen Gedankengang. Seine Idee war sonst
nicht gewöhnt, sich vor anderen auszusprechen, aber sie hatte den Zeugen
vergessen, und so entkleidete sie sich, als wäre sie allein. Perrotins
Weltanschauung war von einer großen Kühnheit, wie es oft jene großer
Menschen sind, die in ihrem Zimmer leben und nicht zur Tat verpflichtet
sind, ja gar nichts auf sie halten und sie sogar verachten. Clerambault
hörte erstaunt, erschrocken, mit offenem Munde zu, manche Worte
erbitterten ihn, manche preßten ihm das Herz zu, er empfand eine Art
Schwindel. Aber er überwand seine Schwäche, um keinen Blick in die
aufgetanen Tiefen zu verlieren. Er bedrängte Perrotin mit Fragen, der
geschmeichelt seine zweiflerischen, gleichzeitig passiven und doch
zerstörenden Visionen gefällig und selbstgefällig vor ihm entrollte.

Sie waren noch ganz vom Gewölke dieser Abgründe umhüllt, und Clerambault
bewunderte die Leichtigkeit dieses freien Geistes, der sicher und fast
zufrieden am Rande dieser Leere hauste, als die Tür sich auftat und der
Diener Perrotin eine Visitenkarte brachte. Sofort lösten sich die
gefährlichen Gespenster des Geistes in nichts auf. Eine Falltür schlug
über dem Abgrund zu und der gewohnte Teppich des Salons verdeckte seine
Spur.... Perrotin, aufgeschreckt, sagte eiligst und beflissen:

„Ja, natürlich, bitte lassen Sie nur eintreten.“

Und indem er sich zu Clerambault wandte: „Sie gestatten doch, lieber
Freund, es ist der Herr Unterstaatssekretär vom Ministerium für
Unterricht und schöne Künste.“

Und schon war er aufgestanden und ging dem Besucher entgegen, einem
jungen Mann mit blau rasiertem Kinn, einem Priester-, Schauspieler- oder
Yankeegesicht. Er trug den Kopf hoch und die Brust breit in seinem
grauen Jackett, das die Rosette der Verdienstvollen und der Kriecher
verzierte. Der alte Mann stellte, nun wieder strahlend, vor: „Herr
Agénor Clerambault... Herr Hyacinthe Monchéri“ und fragte den „Herrn
Unterstaatssekretär“, was ihm die Ehre dieses Besuches verschaffe.

Der „Herr Unterstaatssekretär“, keineswegs erstaunt über den
ehrerbietigen Empfang von seiten des alten Meisters, warf sich breit in
den Fauteuil mit jener familiären Überlegenheit, die ihm sein
offizieller Rang über die beiden Leuchten des französischen Gedankens
verlieh: er stellte ja den Staat dar. Er sprach näselnd, laut und
mißtönend, er schrie wie ein Dromedar. Er übermittelte Perrotin die
Einladung des Ministers, das Präsidium einer feierlichen Sitzung
kriegsbegeisterter Intellektueller von zehn Nationen im großen
Amphitheater der Sorbonne zu übernehmen — einer „Fluchsitzung“, wie er
sagte. Perrotin sagte eiligst zu, ganz beglückt von der großen Ehre.
Sein erniedrigendes Verhalten gegenüber dem staatlich legitimierten
Gimpel stand in seltsamem Gegensatz zu den verwegenen Gedanken, die er
eben entwickelt hatte, und Clerambault, im tiefsten abgestoßen, mußte an
den Gräculus denken.

Sobald sie wieder allein waren, und nachdem Perrotin ihn bis zur
Schwelle begleitet hatte, seinen „Verehrten“, der steifen Halses und
gehobenen Kopfes ging, wie der mit Reliquien beladene Esel, wollte
Clerambault das Gespräch wieder aufnehmen. Er war etwas abgekühlt und
machte kein Geheimnis daraus. Er forderte Perrotin auf, öffentlich das
auszusprechen, was er ihm im Vertrauen gesagt hatte, eine Zumutung, die
Perrotin natürlich, seine Naivität belächelnd, ablehnte. Ja er warnte
ihn sogar in besorgter Weise bezüglich der Versuchung, vor der
Öffentlichkeit zu beichten. Clerambault wurde zornig, begann zu streiten
und blieb hartnäckig bei seiner Forderung. Perrotin, der gerade
aufrichtig gelaunt war, schilderte ihm, um ihn aufzuklären, seine
Umgebung, die großen Intellektuellen der Universität, deren offizieller
Vertreter er war, die Historiker, Philosophen und Schönredner. Er sprach
von ihnen mit einer verschleierten, höflichen, aber tiefen Mißachtung,
die mit ein wenig Bitterkeit gemengt war, denn trotz seiner Vorsicht war
er zu intelligent, um nicht den weniger klugen unter seinen Kameraden
schon verdächtig geworden zu sein. Er schilderte sich als einen alten
Hund, der einen Blinden führt, und sich inmitten der bellenden
Fleischerhunde gezwungen sieht, mit ihnen die Vorübergehenden
anzukläffen....

Clerambault verließ ihn, ohne mit ihm zu brechen, aber voll tiefen
Mitleids.

                                   §

Es dauerte einige Tage, ehe er wiederum ausging. Jene erste Berührung
mit der äußeren Welt hatte ihn zu sehr enttäuscht. Der Freund, in dem er
einen Helfer und eine Stütze zu finden gehofft hatte, war kläglich vor
ihm zusammengebrochen. Clerambault fühlte sich ganz verwirrt, denn im
Grunde seines Wesens war er schwach und nicht gewohnt, selbst die
Richtung seines Weges zu finden. So aufrichtig er als Dichter war, er
hatte sich bisher doch noch nie verpflichtet gesehen, ohne die Hilfe der
anderen zu denken. Bisher hatte er sich immer nur von ihren Gedanken
tragen lassen, war mit ihnen eins geworden, um dann ihre ekstatische und
begeisterte Stimme zu werden.... Die Veränderung war nun zu plötzlich
gekommen. Trotz jener Nacht der Krise fiel er immer wieder in
Unsicherheit zurück, denn die Natur kann sich nicht mit einem Schlage
verändern und besonders nicht bei jenen, die — mag ihr Geist auch noch
so geschmeidig geblieben sein — das fünfzigste Jahr überschritten
haben. Und das Licht, das aus einer solchen Erkenntnis aufflammt, bleibt
durchaus nicht so unbeweglich, wie die blendende Schale der Sonne in
einem Sommerhimmel, sondern ähnelt mehr einer elektrischen Lampe, die
zittert und mehr als einmal auslöscht, ehe der Strom regelmäßig und
dauerhaft wird. In den Synkopen dieser zuckenden Pulsschläge des Lichtes
scheint dann natürlich das Dunkel noch viel dunkler und der Geist viel
verwirrter. — Clerambault konnte sich nicht entschließen, auf die
Meinung der anderen von vornherein zu verzichten.

Er beschloß, einen seiner Freunde nach dem andern zu besuchen, deren er
viele in der Literatur und in den Kreisen der Universität und der
intelligenten Bourgeoisie besaß. Es war ja nicht möglich, daß in ihrer
großen Zahl sich nicht einer oder der andere fände, den so wie ihn und
noch besser als ihn ein ahnendes Gefühl jener Probleme bewegte, von
denen er selbst beunruhigt war, und der ihm zu einer Klärung verhelfen
könnte. Ohne sich vorläufig noch zu verraten, ganz vorsichtig, versuchte
er sie zu beobachten, sie auszuhorchen, die Gründe ihrer Gläubigkeit
aufzuspüren. Aber er wurde nicht gewahr, daß seine eigenen Augen schon
verwandelt waren. Und die Vision jener Welt schien ihm, so sehr er sie
zu kennen glaubte, ganz neu und ließ ihn erstarren.

Der ganze Clan der Literatur hatte sich wehrhaft gemacht, man konnte die
einzelnen Persönlichkeiten kaum mehr voneinander unterscheiden. Die
Universität bildete gleichsam ein Ministerium der dienstbaren Vernunft
und hatte das Amt übernommen, die Taten ihres Herrn und Meisters, des
Staates, zu rechtfertigen. Und die einzelnen Arten der Dienstleistung
unterschieden sich einzig durch ihre gewerbsmäßigen Verdrehungen.

Die schöngeistigen Professoren waren in erster Linie Experten für
moralischen Aufschwung und rednerischen Syllogismus. Sie hatten alle die
krankhafte Neigung, das Denken auf eine übermäßige Einfachheit zu
restringieren, verwendeten statt Vernunftsgründen große Worte und
werkelten immer einige wenige Ideen ab, aber Ideen ohne Tiefe, ohne
Nuancen und ohne Leben. Diese Ideen holten sie sich aus dem Arsenal
einer angeblich klassischen Antike, deren Schlüssel durch Jahrhunderte
Generationen akademischer Derwische eifersüchtig bewahrten, und diesen
geschwätzigen und alten Ideen, die man überdies noch „Menschheitsideen“
nannte, obwohl sie in vieler Hinsicht das Gefühl und das Empfinden der
heutigen Menschheit verletzten, prägten sie den Stempel des Römerstaates
auf, als des Prototyps aller europäischen Staaten. Ihre bevollmächtigten
Interpreten waren die Schönredner im Staatsdienst.

Die Philosophen herrschten im Reiche der abstrakten Konstruktion. Sie
exzellierten in der Kunst, das Konkrete durch Abstraktion, das Wirkliche
durch seinen Schatten zu erklären, einige rasch und parteiisch gewählte
Beobachtungen zum System zu erheben und dank ihrer Tüftelei aus diesen
Systemen wieder Gesetze herauszuschwindeln, nach denen das Weltall
wandeln sollte. Ihre ganze Mühe erschöpfte sich darin, das vielfältige
und wandlungsvolle Leben der Einheit des Geistes fügsam zu machen —
natürlich nur der Einheit ihres eigenen Geistes. Dieser Imperialismus
der Vernunft stützte sich auf die willfährige Büberei jahrelang geübter
Sophistik, die gewohnt war, mit Ideen zu spielen. Sie verstanden nur zu
gut, sie auseinander- und wieder zusammenzuziehen, sie zu formen und zu
pressen wie Knetgummi, für sie wäre es nicht schwer gewesen, ein Kamel
durch ein Nadelöhr gehen zu lassen. Sie wußten ebensogut das Weiße wie
das Schwarze zu beweisen, und fanden, ganz wie es ihnen beliebte, in
Immanuel Kant bald die Freiheit der Welt, bald den preußischen
Militarismus.

Die Historiker wieder waren als bewährte Schriftführer, Notare und
Rechtsanwälte des Staates zum Schutz seiner Verträge und Rechte
beigestellt und bis an die Zähne bewaffnet für zukünftige Schikanen....
Die Geschichte! Was ist denn die Geschichte? Einzig die Geschichte des
Erfolges, die Darstellung der vollzogenen Tatsachen, gleichgültig, ob
sie gerecht oder ungerecht waren. An den Besiegten geht die Geschichte
vorbei. Sie hat nur Schweigen für euch, ihr Perser von Salamis, ihr
Sklaven des Spartakus, ihr Gallier, ihr Araber von Poitiers, ihr
Albingenser, Irländer, Indier von West und Ost und ihr Eingebornen der
Kolonien!... Wenn ein ehrlich denkender Mann, der Ungerechtigkeit seiner
Zeit ausgesetzt, zu seinem eigenen Troste seine Hoffnung auf die
Nachwelt setzt, so verschließt er die Augen vor den geringen
Möglichkeiten, die jene Nachwelt hat, sich wahrhaft über die
Vergangenheit Rechenschaft zu geben. Die Nachwelt erfährt immer nur das,
was die Sachwalter der offiziellen Geschichte als vorteilhaft für die
Sache ihres Klienten, des Staates, empfanden, es sei denn, daß der
Rechtsanwalt der Gegenpartei, entweder der einer anderen Nation oder der
einer sozialen oder religiösen unterdrückten Gruppe, seinen Einwand
machte. Aber dafür besteht wenig Aussicht: das Geheimnis ist gut
gewahrt.

Schönredner, Sophisten und Winkeladvokaten, das waren die drei
Korporationen der staatlich patentierten philosophischen Fakultät.

Die „Wissenschaftler“ wären durch die Art ihrer Forschung ein wenig
besser in der Lage gewesen, außerhalb der Beeinflussung und Berührung
der Umwelt zu bleiben — vorausgesetzt, daß sie in ihrer Studienwelt
verharrt hätten. Aber man hatte sie daraus vertrieben. Die praktische
Anwendung der Wissenschaft hat eine so ungemeine Ausdehnung in der
lebendigen Wirklichkeit eingenommen, daß die Gelehrten in die erste
Reihe des Kampfes geschleudert wurden, wo sie unausweichlich der
ansteckenden Berührung der öffentlichen Meinung ausgesetzt waren. Ihre
Eigenliebe fand sich ganz unmittelbar an dem Siege der Allgemeinheit
interessiert, denn diese benötigte ebenso den Heroismus der Soldaten wie
die törichten Ansichten und die Lügen der Presse. Nur ganz wenige unter
ihnen hatten die Kraft sich freizumachen, die meisten aber brachten die
ganze Strenge, Härte und Unerbittlichkeit des geometrischen Geistes mit
sich, dazu noch die professionellen Eifersüchteleien, die ja zwischen
den verschiedenen Gelehrtengruppen der verschiedenen Länder immer sehr
scharfe sind.

Die Schriftsteller schlechtweg, die Dichter, Romanciers, die Schaffenden
ohne staatliche Bindung hätten den Vorteil ihrer Unabhängigkeit
ausnützen können. Leider aber sind nur ganz wenige unter ihnen imstande,
von sich selbst aus Ereignisse zu beurteilen, die die Grenzen ihrer
gewöhnlichen ästhetischen oder geschäftlichen Betätigung überschreiten.
Die meisten unter ihnen, und oft gerade die berühmtesten, sind
ungebildet wie Karpfen. Das Beste wäre nun natürlich für sie gewesen,
sie wären in ihrem beschränkten Gesichtskreise verblieben, wozu sie ihr
natürlicher Instinkt eigentlich hätte leiten sollen. Aber ihre Eitelkeit
fühlte sich törichterweise angestachelt, sich in die öffentlichen
Geschehnisse einzumengen und auch ihrerseits ihr Wort über das Weltall
zu sprechen. Da sie nun selbst nichts darüber zu sagen wußten als
Verkehrtheiten, so inspirierten sie sich mangels persönlicher Meinung an
Gemeinplätzen. Ihre Äußerungen sind bei einem solchen gewaltsamen Anlaß
natürlich ungemein lebhaft, denn sie sind überempfindlich und von einer
krankhaften Eitelkeit, die, da sie keine eigenen Gedanken auszudrücken
vermag, diejenigen der anderen maßlos übertreibt. Dies ist ihre einzige
Originalität, und Gott weiß, wie reichlich sie davon Gebrauch gemacht
haben.

Wer bleibt also? Die Diener der Kirche? Gerade sie handhabten das
schwere Geschütz: die Idee der Gerechtigkeit, der Wahrheit, des Guten
und Gottes, auch sie hatten diese Artillerie in den Dienst ihrer
Leidenschaften gestellt. Ihre unsinnige Anmaßung, die ihnen selbst nicht
mehr bewußt ist, hat von Gott einfach Besitz ergriffen und sich das
Privileg zugeschrieben, ihn _en gros_ oder _en détail_ zu verschleißen.
Es fehlt ihnen dabei nicht so sehr an Aufrichtigkeit, an Tugend und
selbst an Güte wie an Demut; gerade die Demut, die sie verkündigen,
haben sie am wenigsten. Sie besteht für sie einzig darin, ihren Nabel zu
betrachten, wie er sich im Talmud, der Bibel oder dem Evangelium
spiegelt. In ihrem unmäßigen Stolz sind sie nicht weit von jenem
mythischen Narren, der sich selbst für Gottvater hielt. Ist es wirklich
um so viel weniger närrisch und um so viel weniger gefährlich, sich für
seinen Stellvertreter oder seinen Schriftführer zu halten?

Clerambault fühlte entsetzt den krankhaften und fast hinfälligen Zustand
der intellektuellen Klüngel. Das Übermaß der Organisation und der
Gedankenübermittlung in der bürgerlichen Klasse hat etwas Verzerrtes und
Mißgeburthaftes an sich. Das lebendige Gleichmaß ist zerstört, eine
Bureaukratie des Geistes dünkt sich dem einfachen Arbeiter ungemein
überlegen. Sicherlich ist sie nützlich — wer denkt daran das zu
leugnen! Sie rafft ja Gedanken zusammen und ordnet sie in Register, sie
verwandelt und verwendet sie im vielfältigsten Aufbau. Aber wie selten
kommt es ihr in den Sinn, die Substanz, die sie zu ihrem Werk verwendet,
zu prüfen und ihren Ideeninhalt zu erneuern. So bleibt sie die
eifersüchtige Hüterin eines wertlos gewordenen Schatzes.

Wäre wenigstens dieser Irrtum ein ungefährlicher! Aber Ideen, die man
nicht unablässig mit der Wirklichkeit vergleicht, die sich nicht in
jeder Stunde im Strom der lebendigen Erfahrung baden, trocknen ein und
werden dann giftige Substanzen. Sie werfen über das neue Leben ihre
schweren Schatten, die Nacht verbreiten und Fieberschauer ausstreuen.

Wie stupide ist doch diese Behexung durch abstrakte Worte! Was hat es
denn für einen Sinn, die Könige abzusetzen und diejenigen zu verlachen,
die für ihre Gebieter sterben, wenn man an ihre Stelle nur tyrannische
Wesenheiten setzt, die man mit den Flittern jener anderen bekleidet?
Besser ein Monarch mit Fleisch und Knochen, den man sieht, den man
fassen und unterdrücken kann, als diese Abstraktionen, diese Despoten,
die keiner kennt und keiner jemals gekannt hat.... Denn wir haben mit
den großen Eunuchen, mit den Priestern des „verborgenen Krokodils“, wie
Taine es nannte, mit den ränkeschmiedenden Ministern zu tun, die das
Götzenbild sprechen lassen. Ah, wenn diese Schleier doch endlich
zerreißen und wir die Bestie kennen würden, die sich in uns versteckt!
Es wäre weniger Gefahr für den Menschen darin, offenkundig eine Bestie
zu sein, als die Brutalität hinter einem lügnerischen, kranken
Idealismus zu verstecken, der die tierischen Instinkte nicht vernichtet,
sondern sie vergöttlicht. Er idealisiert sie, um sie später zu
rechtfertigen, und da er dies nicht vermag, ohne sie künstlich auf das
Äußerste zu vereinfachen (dies ist ein Gesetz seiner geistigen Natur,
die, um zu verstehen, ebensoviel zerstört als sie aufnimmt), so nimmt er
ihnen, indem er sie nach einer einzigen Richtung hin verstärkt, ihre
wahre Natur. Alles, was sich dann von dieser vorgeschriebenen Linie
entfernt, was die enge Logik seiner geistigen Konstruktion stört, das
leugnet er nicht bloß, sondern schafft es einfach zur Seite und befiehlt
seine Vernichtung im Namen der geheiligten Prinzipien. So richtet er in
der lebendigen Unendlichkeit der Natur riesige Verwüstungen an, damit
nur einzig jene Gedanken stehen bleiben, die er sich ausgewählt hat und
die sich dann in der Wüste und zwischen den Ruinen grauenhaft groß und
einsam entwickeln, wie zum Beispiel die bedrückende Macht der
despotischen Begriffsformen der Familie, des Vaterlandes und der
beschränkten, blinden, tyrannischen Moral, die man in deren Dienst
stellte. Der Unglückliche ist dann noch darauf stolz, obwohl er doch ihr
Opfer ist. Längst würde es die Menschheit nicht mehr wagen, zuzugeben,
daß sie sich für ihren bloßen Vorteil hinschlachtet. Ihres Vorteils,
ihrer Geschäfte, ihrer Interessen rühmen sie sich längst nicht mehr, sie
rühmen sich nur ihrer Ideen, die tausendmal mörderischer sind. Denn der
Mensch sieht in den Ideen, für die er kämpft, seine menschliche
Überlegenheit. Ich sehe seine Narrheit darin. Der kriegerische
Idealismus ist eine Krankheit, die ihm allein vorbehalten ist, und seine
Resultate sind denen des Alkoholismus ähnlich. Er schafft Einlaß für
tausendmal so viel Schlechtigkeit und Verbrechen, halluziniert das
geschwächte Denken mit Wahnbildern, denen er dann die Lebendigen
aufopfert.

Welch ein tolles Schauspiel, wenn man sich in die Menschenschädel hinein
versetzt denkt! Eine wilde Jagd von Gespenstern, die aus fiebernden
Gehirnen aufsteigen: Gerechtigkeit, Freiheit, Recht und Vaterland... Und
alle diese armen Gehirne sind gleich aufrichtig und klagen alle anderen
an, es nicht zu sein. Und von diesem phantastischen Kampf zwischen
mythischen Schatten sieht man von außen nichts als die Zuckungen und die
Schreie der menschlichen Wesen, die von diesen Dämonenscharen besessen
sind.... Und unter diesen blitzgeladenen Wolken, wo diese großen
wütenden Vögel kämpfen, wimmeln und schieben sich die
Wirklichkeitsmenschen, die Geschäftsleute, wie Ungeziefer in einem Pelz
— offene Mäuler, gierige Hände — und hetzen heimtückisch zu dem Wahn,
den sie ausbeuten, ohne ihn zu teilen.

O Gedanke, du furchtbare und schöne Blume, die aus dem Erdreich
jahrhundertealter Instinkte aufwächst, welch ein Element bist du! Du
dringst in den Menschen ein, du durchdringst ihn, aber du stammst nicht
aus ihm, dein Ursprung ist ihm fremd und deine Kraft geht über ihn
hinaus. Die Sinne des Menschen sind ihrem täglichen Gebrauch so ziemlich
angepaßt, der Gedanke aber ist es nicht, er strömt über den Menschen
hinaus. Er bringt ihn zur Verzweiflung. Eine unendlich kleine Zahl von
Menschen vermag es, in diesem Strom ihre eigene Richtung beizubehalten,
die große Masse aber wird ins Zufällige hingeschwemmt. Die ungeheure
Kraft des Gedankens steht nicht im Dienst des Menschen; er versucht
bloß, sich seiner zu bedienen, und die größte Gefahr ist, daß er
vermeint, er sei sein Herr. In Wirklichkeit ist er wie ein Kind, das mit
Explosivkörpern spielt. Es ist ein Mißverhältnis zwischen diesen
gewaltigen Sprengmitteln und dem Zweck, für den sie die schwachen Hände
des Menschen verwerten. Und manchmal sprengen sie eben alles in die
Luft...

Wie dieser Gefahr begegnen? Den Gedanken ersticken? Die trunkenen Ideen
ausroden? Das hieße, den Menschengeist entmannen, ihn des stärksten
Anreizes zum Leben berauben. Und doch ist der Alkohol des Gedankens ein
um so gefährlicheres Gift, als es den Massen meist in gefälschten Drogen
eingegeben wird.... Mensch, werde nüchtern! Schau um dich, reiße dich
los von den fremden Ideen, werde unabhängig von deinen eigenen Gedanken.
Lerne den Riesenkampf dieser rasenden Phantome, die sich untereinander
zerreißen, beherrschen. Vaterland, Recht, Freiheit, ihr großen
Göttinnen, wir wollen euch vor allem eures Nimbusses entkleiden. Steigt
nieder aus dem Olymp, kommt herab in eine Krippe wie Jesus, ohne Schmuck
und ohne Waffen, reich nur durch eure Schönheit und unsere Liebe!... Ich
kenne keine Götter namens Gerechtigkeit und Freiheit! Ich kenne nur
meine Menschenbrüder und ihre Taten, die bald gerecht, bald ungerecht
sind. Und ich kenne die Völker, die alle der wahren Freiheit beraubt
sind, die alle sich nach der Freiheit sehnen und die doch alle sich mehr
oder minder unterdrücken lassen.

                                   §

Der Anblick dieser Welt inmitten ihres hitzigen Fiebers hätte einem
Weisen das Verlangen eingeflößt, sich in irgendeinen Winkel
zurückzuziehen und den Anfall vorübergehen zu lassen. Aber Clerambault
war kein Weiser. Er wußte nur, daß er es nicht war. Er wußte, daß
Sprechen nutzlos sei, und wußte doch zugleich, daß man sprechen müsse,
wußte, daß er sprechen werde. Er trachtete nur, so lange als möglich den
gefährlichen Augenblick zu verzögern, und seine Ängstlichkeit, die es
sich noch nicht ausdenken konnte, allein im Kampfe gegen alle zu stehen,
suchte rings um sich einen Gedankengefährten. Wäre man nur zu zweit oder
dritt, so wäre es doch schon weniger hart, den Kampf zu beginnen.

Die ersten, deren Sympathie er vorsichtig zu suchen begann, waren arme
Menschen, die, wie er, einen Sohn verloren hatten. Der Vater, ein
bekannter Maler, hatte ein Atelier in der Rue Notre-Dame des Champs.
Seit Jahren waren die Omer-Calvilles den Clerambaults liebe Nachbarn,
ein gutes altes Ehepaar, sehr bürgerlich und sehr zärtlich vereint. Sie
hatten jene Milde des Denkens, wie sie einer ganzen Reihe von Künstlern
jener Zeit gemeinsam war, die Carrière nahegestanden und von der Lehre
Tolstois von fern berührt worden waren. Ihre Schlichtheit, obwohl ein
wenig künstlich, kam doch aus einer natürlichen Gutmütigkeit: die
Tagesmode hatte sie nur ein wenig zu sehr unterstrichen. Niemand ist
unfähiger, die Leidenschaften des Krieges zu verstehen, als Künstler
dieser Art, die aufrichtig die religiöse Hochachtung vor allem
Lebendigen zu ihrem Bekenntnis gemacht haben. Selbst in den ersten
Kriegsmonaten hatten sich die Calvilles außerhalb der leidenschaftlichen
Strömung gehalten, sie protestierten nicht dagegen, sie nahmen sie
traurig, würdig hin, wie man eben Krankheit, Tod und die Schlechtigkeit
der Menschheit hinnimmt. Die glühenden Gedichte Clerambaults, die er
ihnen vorlas, hatten sie höflich angehört, doch sie fanden kein Echo bei
ihnen... Aber seltsam, in der gleichen Stunde, wo Clerambault,
ernüchtert vom kriegerischen Wahn, daran dachte, sich mit ihnen zu
vereinen, entfernten sie sich von ihm, denn nun rückten sie an jene
Stelle, die er eben verlassen hatte. Der Tod ihres Kindes hatte auf sie
gerade die gegenteilige Wirkung von jener, die Clerambault verwandelt
hatte: jetzt traten sie linkisch in den Kampf, gleichsam, um den
Verlorenen zu ersetzen; Clerambault fand sie mitten in ihrem Elend, ganz
beglückt durch die Nachricht, Amerika sei bereit, den Krieg zwanzig
Jahre lang zu führen. Er versuchte zu sagen:

„Was bleibt denn noch in zwanzig Jahren von Frankreich, von Europa
übrig?“

Aber mit einer hastigen Erregung schoben jene diesen Gedanken sofort zur
Seite. Es schien, als sei es ihnen unbequem, daran zu denken oder davon
zu sprechen. Jetzt handelte es sich einzig darum, zu siegen. Um welchen
Preis? Das würde man nachher berechnen. — Siegen! — Wenn es dann in
Frankreich keine Sieger mehr gäbe? Gleichgültig! Wenn nur die anderen,
die da drüben, besiegt würden. Nein, das Blut ihres toten Kindes durfte
nicht vergebens vergossen sein!

Und Clerambault dachte:

„Ist es nötig, daß zur Rache für ihn noch andere unschuldige Opfer
hingeschlachtet werden?“

Und im Grunde dieser Seelen, dieser sonst wirklich guten Menschen las
er:

„Warum denn nicht?“

Und er las es bei allen jenen, die wie die Calvilles im Kriege das
Teuerste verloren hatten, einen Sohn, einen Gatten, einen Bruder:

„Mögen die anderen auch leiden! Wir haben auch gelitten! Wir haben
nichts mehr zu verlieren.“

Wirklich nichts mehr? Doch! Eine einzige Sache, die der eifersüchtige
Egoismus verbarg: ihren Glauben an den Nutzen ihres Opfers. Und diesen
Glauben wollten sie sich nicht erschüttern lassen, um keinen Preis. Sie
verboten es sich, daran zu zweifeln, daß es eine heilige Sache sei, für
die ihre Toten gefallen waren. Und das wußten die Herren des Krieges
wohl und verstanden es auf das beste, dieses Lockmittel auszunützen! —
Nein, in diesen Trauerhäusern war kein Raum für den Zweifel Clerambaults
und für sein Mitleid!

„Wer hat Mitleid mit uns gehabt?“ dachten diese Unglücklichen. „Und
warum sollen dann wir welches haben?“

Es gab unter ihnen einige, die weniger hart getroffen waren. Aber was
alle diese Leute der Bourgeoisie charakterisierte, war die Hypnose der
großen Worte der Vergangenheit, unter der sie lebten, „der
Wohlfahrtsausschuß... das Vaterland in Gefahr... Plutarchs
Biographien... der alte Horaz“. Es war für sie unmöglich, die Gegenwart
mit den Augen von heute zu sehen. Aber hatten sie denn überhaupt noch
Augen, um zu sehen? Wieviele innerhalb der Bürgerwelt unserer Tage haben
denn außerhalb des engen Kreises ihrer Geschäfte in den letzten dreißig
Jahren die Kraft und den Willen gehabt, aus Eigenem denken zu wollen?
Das fiel ihnen nicht einmal im Traume ein. So wie ihr Essen, servierte
man ihnen ihre Gedanken fertig und gar gekocht und sogar noch bedeutend
billiger. Für ein Geringes fanden sie sie täglich in der Zeitung. Die
Begabteren, die sie in den Büchern suchten, gaben sich nicht die nötige
Mühe, sie im Leben zu suchen, und behaupteten, daß sich das Leben in den
Büchern spiegle. Wie bei Greisen verkalkten ihre Gliedmaßen,
versteinerte ihr Geist.

In der breiten Herde dieser Wiederkäuerseelen, die ihr Futter von den
Weiden der Vergangenheit nahmen, zeichneten sich damals besonders die
Gruppen der strenggläubigen französischen Revolutionäre aus. Zur Zeit
des 16. Mai und lange nachher noch, hatten sie als Brandstifter in der
immer rückständigen Bourgeoisie gegolten. Nun aber, als gesetzte und
wohlbestallte Fünfzigjährige, erinnerten sie sich mit Stolz, wie
Erwachsene eben auf ihre Jungenstreiche stolz sind, an das Entsetzen,
das ihre einstige, längst vergangene Kühnheit verursacht hatte. Vor
ihrem eigenen Spiegel hatten sie sich nicht verändert, aber die Welt um
sie war eine andere geworden, ohne daß sie dessen gewahr wurden, denn
sie blickten ja immer nur auf die abgelebten Modelle, deren Gedanken sie
nachbeteten. Es gibt einen merkwürdigen Nachahmungsinstinkt, ein
Knechtschaftsbedürfnis des Denkens, das von einem losgelösten Stück
Weltgeschichte nicht mehr loskommt. Statt Proteus, das ewige wandelhafte
Leben, in seinem Fortgange zu verfolgen, rafft es die alte Haut auf, aus
der die junge Schlange längst ausgebrochen ist, und versucht sie wieder
darin einzunähen. Diese fanatischen Pedanten verblichener Revolutionen
behaupten, daß alle zukünftigen Umwälzungen notwendig nach dem Modell
der alten, toten Formen zurechtgeschnitten werden müssen, und vor allem
dulden sie nicht, daß irgendeine neue Freiheit ein anderes Tempo
einschlage und die Grenzen überschreite, an denen jene großmütterliche
von 1793 erschöpft haltgemacht hatte. Ihr Zorn richtet sich darum weit
mehr gegen die Respektlosigkeit der Jugend, die über sie hinaus will,
als gegen das Gekläff der Greise, über die sie selbst hinausgekommen
sind. Und das hat seinen guten Grund, denn an der Existenz dieser Jungen
erkennen sie, daß sie selbst alt geworden sind. Und darum kläffen sie
gegen sie.

In diesen Dingen wird sich nichts ändern. Ganz selten nur gestatten
einige seltene Geister, wenn sie altern, dem Leben, daß es über sie
hinaus seinen Lauf weiter nehme, und genießen großmütig, wenn ihre
eigenen Augen erlöschen, die Zukunft mit den Augen ihrer Nachfolger.
Aber die meisten von jenen, die als Junge die Freiheit geliebt hatten,
wollen aus ihr einen Käfig für die neue Brut machen, sobald sie selber
nicht mehr fliegen können.

Der Internationalismus von heute fand keine erbitterteren Gegner als
jene Diener des national-revolutionären Kultes im Sinne Dantons oder
Robespierres. Sie selber verstanden sich nicht untereinander, die
Anhänger Dantons und Robespierres, zwischen denen sich noch immer der
Schatten der Guillotine aufrichtet, sie beschimpften sich gegenseitig
drohend als Ketzer. Aber in einem waren sie ganz einig: alle jene der
äußersten Bestrafung zuzuführen, die nicht glauben wollten, daß man die
Freiheit mit Kanonenmündungen verbreiten kann, die jede Gewalt
gleicherweise verwarfen, ob sie nun von Cäsar oder von Demos und seinen
Lederzurichtern kam, gleichgültig, ob sie im Namen des „alten Gottes“
gepredigt wurde oder des „jungen“, der Freiheit und des Rechts. Die
Masken ändern sich, aber das blutige Maul unter der Maske bleibt immer
dasselbe.

Clerambault kannte eine ganze Reihe solcher Fanatiker, aber es war
ebenso wenig möglich, sich mit ihnen darüber auszusprechen, ob sich das
Gerade und das Krumme nicht vielleicht doch auf beiden Seiten fände, wie
für einen Manichäer, mit der heiligen Inquisition zu streiten. Auch die
sozialen, die bürgerlichen Religionen haben ihre großen Seminare und
geheimen Gesellschaften, in denen das Beweismaterial der Lehre
sorgfältig aufgestapelt wird. Wer sich davon ausschließt, wird
exkommuniziert, so lange wenigstens, bis er selbst der Vergangenheit
angehört. Dann winkt ihm die Möglichkeit, selbst vergöttlicht und zur
Exkommunizierung Späterer mißbraucht zu werden.

                                   §

Aber wenn Clerambault sich nicht versucht fühlte, diese harten
Intellektuellen, die hinter ihrer engen Wahrheit verschanzt waren, zu
einer Änderung ihrer Gesinnung zu bewegen, so kannte er doch andere, die
diesen Sicherheitsdünkel durchaus nicht hatten. Ganz im Gegenteil: Ihr
Fehler war wiederum allzu große Wandlungsfähigkeit und dilettantische
Nachgiebigkeit. Arsène Asselin war einer dieser Art, ein liebenswürdiger
Pariser Junggeselle aus der guten Gesellschaft, klug und skeptisch
zugleich. Jeder Verstoß im Geschmack oder im Ausdruck beleidigte sein
Empfinden. Wie hätte ihm also diese Übertriebenheit des Denkens gefallen
sollen, diese Treibhaushitze, in der der Krieg hochgezüchtet wurde.
Seine kritische Vernunft, seine Ironie mußten dem Zweifel geneigt sein.
So gab es also keinen rechten Grund, daß er die Ansichten Clerambaults
nicht teilen sollte.... Und wirklich, im Anfang hatte nur ein Haar
gefehlt, daß er so dachte wie Clerambault, seine Entscheidung war nur
ganz zufällig anders gefallen. Aber sobald er einmal den Fuß in die eine
Richtung gesetzt hatte, schien es ihm unmöglich umzukehren, und je mehr
er hineintrieb, um so trotziger wurde er. Die französische Eigenliebe
wird nie einen Irrtum eingestehen, sondern eher sich für ihn töten
lassen. Aber überhaupt, Franzose oder nicht, wie viele Menschen gibt es
denn in der Welt, die den Mut haben zu sagen:

„Ich habe mich getäuscht, jetzt heißt es von vorn anfangen.“ Nein,
lieber die Tatsachen leugnen... Bis ans Ende durch!... Und krepieren.

In einem anderen Sinn merkwürdig war Alexander Mignon, ein
Vorkriegspazifist, ein alter Freund Clerambaults, ungefähr im gleichen
Alter mit ihm, Bourgeois, Intellektueller und Hochschullehrer, von
würdiger Haltung, die mit Recht Respekt einflößte. Man durfte ihn nicht
verwechseln mit jenen ordensgeschmückten Bankettpazifisten, die
Dekorationen aus allen Ländern haben und denen der Schwatz vom Frieden
in windstillen Jahren ein sorgloses Dasein sichert. Mignon hatte durch
dreißig Jahre aufrecht die gefährlichen Quertreibereien der Politiker
und die verdächtigen Spekulanten seines Landes bekämpft, er gehörte der
Liga der Menschenrechte an und hatte das unwiderstehliche Gelüst, für
jeden, der da kam und im Unglück war, eilig das Wort zu nehmen. Ihm
genügte es schon, wenn einer sich unterdrückt nannte, er fragte sich
nie, ob der sogenannte Unterdrückte nicht bloß einer war, dem bisher nur
die Gelegenheit gefehlt hatte, selbst zu unterdrücken. Seine unruhige
Gutmütigkeit hatte ihn bei aller Hochachtung ein wenig lächerlich
gemacht, und er war darüber nicht böse. Sogar ein wenig Unpopularität
hätte ihn durchaus nicht erschreckt, vorausgesetzt freilich, daß er sich
von seiner Gruppe gedeckt fühlte, deren warme Zustimmung ihm aber
unbedingt nötig war. Er war durchaus kein Unabhängiger, wie er glaubte,
sondern nur das Mitglied einer Gruppe, die sich so lange unabhängig
fühlte, als alle ihre Mitglieder zusammenhielten. Die Gemeinschaft macht
die Kraft, sagt man, das ist wahr. Aber sie gewöhnt einen auch daran,
der Gemeinschaft nicht mehr entbehren zu können. Und das mußte Alexander
Mignon an sich erfahren.

Der Hingang Jaurès’ hatte die ganze Gruppe in Verwirrung gebracht.
Sobald die eine Stimme fehlte, die immer als erste das Wort nahm,
verstummten auch alle anderen, denn sie warteten auf das Stichwort, und
keiner wagte es zu geben. Unsicher im Augenblick, wo der Sturm einbrach,
wurden diese hochherzigen und schwachen Menschen durch den Wirbel der
ersten Tage mitgerissen. Sie verstanden die Begeisterung nicht, sie
rechtfertigten sie nicht, aber sie hatten ihr nichts entgegenzustellen.
Schon die erste Stunde riß einige Lücken in ihre Reihen, es zeigten sich
Desertionen, die verschuldet waren durch die schrecklichen Redner, die
den Staat beherrschten, durch jene demagogischen Advokaten, die mit
allen Sophismen der republikanischen Ideologie geschmiert waren, „Krieg
für den Frieden“, „der Weltfriede als Ziel“ (_requiescat!_), und diese
armen Pazifisten sahen in diesen Verdrehungen eine einzige Gelegenheit
— allerdings keine rühmliche, keine, auf die sie sehr stolz waren —
aus der Sackgasse zu kommen. Sie redeten sich ein, durch einen kleinen
Kunstgriff, dessen verbrecherische Größe sie nicht merkten, ihre
Friedensideen mit der Tatsache der Gewalt glücklich in Einklang gebracht
zu haben. Widerstand hätte bedeutet, sich den Kriegsbestien
auszuliefern, die sie mitleidslos zerrissen hätten.

Alexander Mignon hätte wohl den Mut gehabt, diesen blutigen Mäulern
entgegenzutreten, hätte er nur seine kleine Gemeinschaft um sich
gesehen. Aber allein zu kämpfen, das war über seine Kraft. Ohne sich
zuerst offen auszusprechen, ließ er doch alles geschehen. Er litt, er
war verstört und machte eine ähnliche geistige Krise durch wie
Clerambault, aber er konnte sich nicht wie Clerambault ihr entringen. Er
war weniger leidenschaftlich, aber intellektueller; um seine letzten
Bedenken wegzutilgen, umkleidete er sich mit einem Netz logischer
Vernunftgründe. Mit Hilfe seiner Kameraden bewies er mühselig nach der
Methode _a + b_, daß der Krieg eine Pflicht für den zielbewußten
Pazifismus sei. Seine Liga hatte leichte Arbeit, die verbrecherischen
Akte des Feindes aufzudecken; freilich verlor sie keine Zeit damit, auf
jene im eigenen Lager hinzuweisen. In manchen Augenblicken sah Alexander
Mignon deutlich die Unaufrichtigkeit auf allen Seiten. Unerträglicher
Anblick ..... er schloß rasch seine Läden....

Und je blinder er sich in seine Kriegslogik verstrickte, um so schwerer
war es für ihn, sich daraus zu befreien. So verbrannte er seine Schiffe
hinter sich, eins nach dem andern. Er wurde böse wie ein Kind, das durch
einen unbedachten Akt ungeschickter Nervosität einem Insekt den Flügel
ausgerissen hat. Das Insekt ist nun verloren, und das Kind, beschämt
über seine Handlung, rächt sein Leid und seine Scham an dem Tier, das es
nun ganz in Stücke reißt.

So war es leicht vorauszusehen, mit welcher Freude er Clerambault sein
„_mea culpa_“ vortragen hörte. Die Wirkung war überraschend. Mignon,
innerlich ganz unsicher, wurde wütend gegen Clerambault, denn
Clerambault schien ihn anzuklagen, indem er sich beschuldigte. Von
dieser Stunde an wurde er sein erbitterter Feind, und keiner bekämpfte
später gehässiger als Mignon dieses sein lebendiges schlechtes Gewissen.

                                   §

Clerambault hätte mehr Verständnis bei einigen Politikern finden können,
denn die wußten von diesen Dingen ebensoviel, wie er selbst wußte, und
sogar noch einiges mehr, aber das störte durchaus nicht ihren guten
Schlaf. Seit ihrem ersten Sündenfall praktizierten sie munter die
Technik der _combinazioni_, der Gedankenschwindeleien, sie gaben sich
mit Recht der Täuschung hin, ihrer Partei zu dienen auf Kosten von ein
paar Kompromissen. Eins weniger, eins mehr, was macht das aus?...
Geradeaus zu gehen, geradeaus zu denken, war das einzig Unmögliche für
diese Mollusken, die immer krumme Wege nahmen, sich schlangenhaft
vorwärtsschoben, gleichsam nach rückwärts vorrückten, die, um den
Triumph ihres Banners sicher zu machen, es durch den Schmutz schleiften
und bäuchlings zum Kapitol emporgerutscht wären.

                                   §

Schließlich gab es auch da und dort unterirdisch einige Klarblickende.
Aber sie waren mehr zu ahnen als zu sehen. Diese melancholischen
Glühwürmchen löschten vorsichtig ihre Laternen aus, sie hatten
Todesangst, daß man einen Schimmer wahrnehmen könnte. Zwar waren sie
frei von dem Wahn des Krieges, aber sie waren nicht gläubig genug zur
Tat wider den Krieg, sie blieben bloß Fatalisten und Pessimisten.

Clerambault erkannte, daß auch die höchsten Fähigkeiten des Herzens und
des Geistes nur die öffentliche Knechtschaft verstärken, wenn sie nicht
mit persönlicher Energie gepaart sind. Der Stoizismus, der sich den
Gesetzen des Weltalls unterwirft, ist ein Hemmnis im Kampf gegen die
Grausamkeit einzelner Gesetze. Statt zum Schicksal zu sagen: „Nein, hier
ist kein Weg für dich“ (man wird ja sehen, ob es doch hindurchgeht),
tritt der Stoiker höflich zurück und sagt: „Bitte, treten Sie ein!“

Der kultivierte Heroismus, die Neigung für das Übermenschliche, für das
Unmenschliche, macht die Seele durch die Opfer trunken, und je toller
sie sind, um so herrlicher erscheinen sie. Die Christen von heute,
großmütiger als ihr Meister, geben a l l e s dem Cäsar hin. Sobald er
geruht, sie für irgendeinen Anlaß hinzuopfern, erklären sie diesen Anlaß
schon für heilig. Fromm geben sie der Schande des Krieges die Glut ihres
Glaubens hin und ihre Körper dem Scheiterhaufen. Die duldende,
nachgiebige Resignation der Völker macht den Rücken krumm und läßt sich
die Last aufladen: „Mach’ dir nichts draus!“ Zweifellos sind
Jahrhunderte des Elends über diesen Stein dahingerollt. Aber auch der
Stein verbraucht sich schließlich und wird Schlamm.

                                   §

Clerambault versuchte mit dem einen oder dem andern zu sprechen. Überall
aber stieß er auf denselben Mechanismus unterirdischen, halb unbewußten
Widerstandes. Sie waren alle mit dem Willen, nicht zu verstehen, oder
eigentlich mit einem beharrlichen Gegenwillen ehern umgürtet. Von
Gegenargumenten wurde ihre Vernunft so wenig berührt, wie eine Ente vom
Wasser. Im allgemeinen sind die Menschen zum Zweck ihrer Bequemlichkeit
mit einer ganz unschätzbaren Eigenschaft ausgerüstet, sie können sich
nämlich auf Wunsch blind und taub machen, wenn sie etwas nicht sehen
oder hören wollen. Und haben sie schon durch irgendeinen peinlichen
Zufall irgend etwas bemerkt, was ihnen lästig ist, so verstehen sie die
Kunst, es sofort wieder zu vergessen. Wieviele Bürger gab es doch in
allen Vaterländern, die genau wußten, wie es um die beiderseitige
Verantwortlichkeit im Kriege stand, die genau die verhängnisvolle Rolle
ihrer politischen Führer kannten, aber sie zogen vor, sich selbst zu
betrügen und sich so zu stellen, als wüßten sie nichts davon.
Schließlich gelang es ihnen sogar, das genaue Gegenteil zu glauben.

Wenn nun schon jeder, so rasch er konnte, vor sich selber auswich, kann
man sich vorstellen, wie hastig sie erst vor jenen flohen, die wie
Clerambault ihnen behilflich sein wollten, sich selber zu erwischen. Um
sich davonzumachen, schämten sich diese klugen, ernsten und ehrenwerten
Männer nicht, alle jene kleinen Schliche und unredlichen Kniffe
anzuwenden, deren sich sonst nur rechthaberische Frauen und Kinder
bedienen. Aus Angst vor der Diskussion, die sie beunruhigen könnte,
sprangen sie beim ersten ungeschickten Worte Clerambaults auf, rissen es
aus dem Zusammenhange, fälschten es, wie es ihnen paßte, um sich darüber
dann künstlich aufzuregen, laut mit aufgerissenen Augen zu schreien,
sich entrüstet zu stellen und es schließlich wirklich im höchsten Maße
zu werden. Sie schrien Zetermordio, und wenn man ihnen das Gegenteil
bewies und sie zur Richtigstellung zwang, sprangen sie auf, schlugen die
Türen zu: „Jetzt habe ich genug“. Um dann zwei Tage oder zehn nachher
die breitgeschlagenen Themen aufzunehmen, als ob nichts vorgefallen
wäre.

Andere wieder, die noch heimtückischer waren, forderten in bewußter
Absicht die Unvorsichtigkeit Clerambaults heraus, sie reizten ihn durch
freundliches Entgegenkommen, mehr zu sagen, als er eigentlich wollte, um
dann plötzlich loszubrechen. Die Wohlwollendsten beschuldigten ihn, daß
es ihm an gesundem Menschenverstand fehlte. („Gesund“ sollte natürlich
heißen: an „meinem“, an „unserem“.)

Andere wieder waren Schönredner, die vor einem Wortturnier keine Angst
hatten und gern die Diskussion aufnahmen in der Hoffnung, das verirrte
Schaf wieder zur Herde heim zu führen. Sie diskutierten nicht die
Anschauung Clerambaults selbst, sondern nur, ob sie zeitgemäß sei, und
appellierten an seine gute Gesinnung.

„Gewiß, gewiß. Sie haben im Grunde recht, im Grunde denke ich ganz so
wie Sie, fast so wie Sie. O, ich verstehe Sie, lieber Freund... Aber,
lieber Freund, seien Sie vorsichtig, vermeiden Sie es doch, die Gewissen
der Kämpfer zu beunruhigen... Schwächen wir doch nicht ihre Kraft. Man
darf nicht jede Wahrheit aussprechen, wenigstens nicht sofort. Die Ihre
wird sehr schön sein... in fünfzig Jahren. Man darf nicht hastiger sein
wollen als die Natur, man muß warten..., warten bis die Zeit für sie
reif sein wird...“

„Abwarten? Was abwarten? Bis der Appetit der Ausbeuter oder die Dummheit
der Ausgebeuteten müde geworden ist? Können Sie denn nicht verstehen,
daß die klaren und durchdringenden Gedanken der Besseren, wenn sie
zugunsten der Blinden und der Denkungsart niedriger Menschen auf das
Wort verzichten, geradewegs dem Lauf der Natur widerstreben, der sie zu
dienen vorgeben, daß sie gegen den Sinn der Geschichte handeln, unter
den sich zu beugen sie als ihre eigenste Ehre empfinden? Heißt das die
Absichten der Natur in Ergebenheit anerkennen, wenn man einen Teil, und
gerade den besten ihres Sinnes, zum Schweigen bringt? Diese Auffassung,
die dem Leben seine kühnste Kraft entzieht und sie den Leidenschaften
der Masse unterordnet, würde dahin führen, die Vorhut zu vernichten, die
große Masse der Armee ohne Führung zu lassen.... Wenn ein Kahn sich nach
einer Seite neigt, wollt ihr mich hindern, mich auf die andere zu
setzen, um ein Gegengewicht zu schaffen? Oder soll sich die ganze
Besatzung auf die Seite setzen, wo er schon überneigt? Die
fortgeschrittenen Ideen sind das von der Natur gewollte Gegengewicht
gegen die schwere Vergangenheit, die ihnen entgegenwirkt. Ohne sie geht
der Kahn unter. — Wie man diese Ideen aufnimmt, das ist für mich
nebensächlich. Wer sie ausspricht, muß sich darauf gefaßt machen,
gesteinigt zu werden, wer sie aber nicht ausspricht, macht sich ehrlos.
Er ist gleichsam ein Soldat, der mit gefährlicher Botschaft während der
Schlacht ausgesandt wird. Hat er das Recht, sich solchem Auftrag zu
entziehen?“

Sobald sie sahen, daß ihr Zureden ohne Wirkung auf Clerambault blieb,
demaskierten sie ihre Batterien und beschuldigten ihn erbittert einer
lächerlichen und gefährlichen Eitelkeit. Sie fragten ihn, ob er sich
klüger dünke als alle anderen, weil er seine Meinung der der Nation
entgegensetze, und worauf er denn eigentlich sein ungeheuerliches
Selbstgefühl stütze. Es sei Pflicht, demütig zu sein, bescheiden an
seinem Platze inmitten der Gemeinschaft zu verharren, sich zu beugen, wo
sie gesprochen habe, und — ob man sie für nützlich halte oder nicht —
sich ihren Befehlen zu unterwerfen. Wehe dem Aufrührer gegen die Seele
seines Volkes! Gegen sie recht behalten wollen, heißt unrecht haben. Und
das Unrecht wird zum Verbrechen, in der Stunde der Tat. Die Republik
verlangt, daß ihre Kinder ihr gehorchen.

„Die Republik oder der Tod“, sagte Clerambault ironisch. „Schönes Land
der Freiheit. Frei! Ja, es ist frei, aber nur deshalb, weil es dort
immer Seelen wie die meine gegeben hat und geben wird, Seelen, die sich
weigern, ein Joch zu tragen, gegen das sich ihr Gewissen wehrt. Aber
welche Nation von Tyrannen auch! Wir haben nichts damit gewonnen, daß
wir die Bastille eroberten. Einst gebot man ewige Gefängnishaft, wenn
sich einer gestattete, anders zu denken als sein Fürst, und fand den
Scheiterhaufen ganz am Platze für den, der anders dachte als die Kirche.
Heute muß man genau so denken wie vierzig Millionen Menschen, ihnen
nachlaufen in ihren leidenschaftlichen Widersprüchen, heute brüllen
„Nieder mit England!“, dann morgen wieder „Nieder mit Deutschland!“,
übermorgen vielleicht „Nieder mit Italien!“, jede Woche etwas anderes,
heute einem Mann oder einem Gedanken zujubeln, den man morgen wird
beschimpfen müssen. Und wenn man sich weigert, so setzt man sich der
Unehre oder einem Revolverschuß aus. Was für eine erbärmliche
Knechtschaft, die erbärmlichste von allen!... Was für ein Recht haben
denn hundert Seelen, tausend Seelen oder vierzig Millionen Seelen, von
mir zu verlangen, daß ich meine Seele verleugne? Jeder von Ihnen hat
doch wie ich selbst nur eine. Vierzig Millionen Seelen zusammen bilden
allzu oft nur eine Seele, die sich vierzigmillionenmal verleugnet... Ich
denke, was ich denke, so denkt auch ihr, was ihr denkt!

Die lebendige Wahrheit kann nur aus dem Gleichgewicht entgegengesetzter
Ideen entstehen. Damit alle Bürger den Staat ehren können, tut es not,
daß der Staat auch seine Bürger ehre. Jeder von Ihnen hat seine Seele
und hat sein Recht darauf, und seine erste Pflicht ist, sie nicht zu
verraten, niemals den Zusammenhang mit seinem Gewissen zu verlieren....
Ich gebe mich keinem Wahn hin, ich maße meinem Gewissen keine
übertriebene Bedeutung in einem stürzenden Weltall bei. Aber so wenig
wir auch sein mögen, so wenig wir auch tun mögen, das, was man ist, muß
man schlicht und stark sein, das, was man tut, schlicht und stark tun.
Jeder kann sich täuschen, aber ob er sich täuscht oder nicht, er muß
aufrichtig sein. Ein aufrichtiger Irrtum ist keine Lüge, er ist nur ein
Schritt auf die Wahrheit zu. Lüge ist, vor der Wahrheit Angst haben und
sie ersticken wollen. Wenn ihr tausendmal recht habt gegen einen
aufrichtigen Irrtum — im Augenblick, wo ihr zur Gewalt greift, um ihn
zu vernichten, begeht ihr das niedrigste Verbrechen gegen die Vernunft
selbst. Wo die Vernunft verfolgt und der Irrtum verfolgt wird, bin ich
für den Verfolgten, denn der Irrtum ist ebenso ein Recht wie die
Wahrheit... Wahrheit? Wahrheit?... Wahrheit ist das ewige Suchen nach
der Wahrheit. Achtet die Anstrengungen jener, die sich mühen, sie zu
finden. Wenn man einen Menschen, der sich mühsam auf einem anderen Wege
durchringt, verfolgt, weil er eine für den menschlichen Fortschritt
weniger unmenschliche Bahn finden will — und sie vielleicht niemals
findet —, so macht man aus ihm einen Märtyrer. Ihr sagt, euer Weg sei
der bessere, der einzig gute? So geht ihn doch und laßt mich den meinen
gehen! Ich zwinge euch ja nicht, mir zu folgen. Was regt ihr euch so
auf? Habt ihr am Ende Angst, ich könnte recht haben?“

                                   §

Clerambault beschloß, noch einmal Perrotin aufzusuchen. Trotz des
Gefühls traurigen Mitleids, das jene letzte Begegnung in ihm
hervorgerufen hatte, verstand er nun Perrotins ironische und kluge
Haltung gegenüber der Welt besser. Und so sehr auch seine Achtung für
den Charakter des alten Gelehrten nachgelassen hatte, seine Bewunderung
für die hohe geistige Kraft desselben blieb doch unversehrt: noch immer
betrachtete er ihn als einen Führer, der ihm helfen könnte, sich selbst
zu erleuchten.

Man kann sich leicht denken, daß Perrotin sich nicht übermäßig entzückt
zeigte, Clerambault wiederzusehen. Er war doch zu fein veranlagt, um
nicht eine unangenehme Erinnerung an die kleine Feigheit bewahrt zu
haben, die er damals nicht nur begangen (denn daraus machte er sich
längst nichts mehr, daran war er zu gewöhnt), sondern die er
stillschweigend vor dem Blicke eines makellosen Zeugen hatte bekennen
müssen. Er sah eine Auseinandersetzung voraus, und Auseinandersetzungen
mit Menschen von feststehender Überzeugung waren ihm ein Greuel. (Es
gibt ja dann gar kein Amusement mehr, solche Leute nehmen alles ganz
ernst.) Aber als höflicher, eigentlich gutmütiger und schwacher Mensch
war er unfähig sich zu wehren, wenn man ihn geradeaus anpackte. Er
versuchte zuerst, alle ernsten Gespräche auszuschalten. Als er aber
merkte, daß Clerambault wirklich seiner bedurfte, und er ihn vielleicht
von irgendeiner Unbedachtheit zurückhalten könnte, entschloß er sich mit
einem Seufzer, ihm seinen Vormittag zu opfern.

Clerambault entwickelte ihm das Resultat seiner Bemühungen. Er war nun
vollkommen klar darüber, daß die gegenwärtige Welt sich einem andern
Ideal als dem seinen unterwarf. Er selbst hatte ja früher gleichfalls
dies Ideal geteilt, ihm gedient und es gefeiert, und noch heute war er
gerecht genug, ihm eine gewisse Schönheit zuzuerkennen. Bei den letzten
Prüfungen war er aber auch des Sinnlosen und Widrigen dieses Ideals
bewußt geworden und er fühlte, da er sich von ihm losgelöst hatte, sich
nun genötigt, sich zu einem andern zu bekennen, das
verhängnisvollerweise ihn mit dem früheren in Konflikt brachte. In
kurzen und leidenschaftlichen Ausdrücken entwickelte Clerambault dieses
neue Ideal und bat Perrotin, ihm klar und offen mit Hintansetzung jeder
Höflichkeit und jeder Schonung zu sagen, ob er es richtig fände oder
falsch. Perrotin nun, betroffen von Clerambaults tragischem Ernst,
änderte sofort seinen Ton und stimmte ihm zu.

„Habe ich also unrecht?“ fragte Clerambault ganz voll Angst, „ich sehe
gut, daß ich allein bin, aber ich kann nicht anders. Sagen Sie also,
ohne mich zu schonen: ist es ein Unrecht von mir, daß ich das denke, was
ich denke?“

Perrotin antwortete mit Ernst:

„Nein, mein Freund, Sie haben vollkommen recht.“

„Also ist es meine Pflicht, den mörderischen Irrtum der andern zu
bekämpfen?“

„Das ist wieder eine andere Sache.“

„Habe ich also die Wahrheit nur dazu, um sie zu verraten?“

„Die Wahrheit, mein Freund... (nein, sehen Sie mich nicht so an!) Sie
glauben jetzt, daß ich so wie jener andere sagen werde: „Was ist
Wahrheit?“ Nein.... Ich liebe sie ebenso wie Sie und vielleicht länger
als Sie.... Aber die Wahrheit, mein Freund, ist höher, weiter als Sie,
als wir, als alle, die jemals lebten, leben und leben werden.... Immer
wenn wir meinen, dieser großen Göttin zu dienen, dienen wir nur den _Di
minores_, den Heiligen der Seitenkapellen, die von der großen Masse
abwechselnd vergöttert und verlassen werden. Gewiß kann das nicht
unsere, nicht Ihre und nicht meine Wahrheit sein, zu deren Ehre sich die
heutige Welt mit korybantischer Leidenschaft hinschlachtet und
verstümmelt. Das Ideal des Vaterlandes ist das eines großen grausamen
Gottes, das der Zukunft im mythischen Bilde eines Chronos als
Schreckgespenst, oder seines olympischen Sohnes, den Christus
entthronte, erscheinen wird. Ihr Menschheitsideal ist auf einer höheren
Stufe und kündigt einen neuen Gott an. Aber auch dieser Gott wird später
von einem anderen entthront werden, der noch höher steht und noch mehr
vom Weltall umfängt. Das Ideal wie das Leben hören nicht auf, sich zu
entwickeln, und dieses unablässige Werden ist für einen freien Geist der
wirkliche Inhalt der Welt. — Aber wenn es auch dem Geist gegeben ist,
die Stufen dieser Entwicklung ungestraft im Fluge zu überspringen, so
kommt man doch in dieser Welt der Tatsachen nur Schritt für Schritt
vorwärts. In einem ganzen Leben dringt man vielleicht nur um ein paar
Zoll vor.

Die Menschheit hat lahme Beine und Ihr ganzes Unrecht, Ihr einziges
Unrecht ist, daß Sie ihr voraus sind um einen oder mehrere Tagemärsche.
Aber gerade dieses Unrecht verzeiht man einem Menschen am wenigsten....
Und das geschieht vielleicht nicht ohne Grund. Denn wenn ein Ideal, wie
jetzt jenes des Vaterlandes, gleichzeitig mit der Gesellschaftsform, von
der es getragen wird, altert, so wird es bösartig und speit sein
gefährlichstes Feuer aus. Der kleinste Zweifel an seiner Berechtigung
macht es toll, denn der Zweifel steckt schon in ihm selbst. Täuschen wir
uns nicht darüber: Die Millionen Menschen, die sich heute im Namen des
Vaterlandes hinschlachten lassen, haben nicht mehr das junge gläubige
Vertrauen von 1792 oder 1813, obwohl heute viel größere Ruinen und
Trümmer aufrufen. Viele derer, die sterben, und selbst die, die sich
bewußt töten lassen, fühlen im tiefsten Grunde ihrer Seele das
furchtbare Nagen des Zweifels. Aber einmal in die Falle gegangen, zu
schwach, aus ihr auszubrechen oder sich einen Ausweg zu erdenken,
verbinden sie sich die Augen und werfen sich in den Abgrund, während sie
gleichzeitig voll Verzweiflung ihren schon erloschenen Glauben bekennen.
Aber vor allem schleudern sie in der Erbitterung einer uneingestandenen
Rache diejenigen hinein, die durch ihre Worte oder ihre Haltung den
Zweifel in ihnen erweckt haben. Denjenigen, die für einen Wahn sterben,
diesen Wahn nehmen wollen, heißt, sie zweimal sterben lassen.“

Clerambault faßte ihn bei der Hand, damit er nicht weiterspräche. „O,
Sie brauchen mir das nicht zu sagen, was mich ohnehin quält! Glauben Sie
denn, daß ich nicht selbst die Angst fühle, diese Unglücklichen noch
mehr zu verwirren? Ja, ich möchte den Glauben dieser armen Jungen
schonen, nicht einen einzigen dieser Armen unglücklich machen, aber,
mein Gott, was soll ich tun? Helfen Sie mir, aus diesem Zwiespalt
herauszukommen, ob man das Böse ruhig geschehen lassen soll, die andern
ruhig sich vernichten lassen, oder es wagen, ihnen noch mehr wehe zu
tun, sie in ihrem Glauben zu verletzen und sich ihrem Haß auszuliefern
eben dadurch, daß man sie retten will. Welches ist das richtige Gebot?“

„Sich selbst zu retten!“

„Mich selbst retten, heißt mich vernichten, wenn ich etwas auf Kosten
der andern tue. Wenn wir nichts für sie tun — Sie, ich, denn wenn wir
uns auch alle verbinden, sind wir doch noch immer zu wenige — dann geht
Europa, dann geht die Welt zugrunde....“

Perrotin, die Ellbogen auf die Lehne gestützt, die Hände über seinem
Buddhabauch gefaltet und die Daumen drehend, sah Clerambault auf das
gutmütigste an, hob den Kopf und sagte:

„Ihre Menschengüte, Ihre künstlerische Empfindsamkeit täuschen Sie
glücklicherweise, mein Freund. Die Welt ist noch nicht am Ende, die hat
schon andere Dinge gesehen und wird noch andere sehen. Das, was heute
geschieht, ist sicherlich sehr schmerzlich, aber keineswegs abnormal.
Niemals noch hat ein Krieg die Erde gehindert sich weiter zu drehen,
noch das Leben sich weiter zu entwickeln, ja, er ist sogar selbst eine
Form dieser Entwicklung. Erlauben Sie einem alten, gelehrten
Philosophen, Ihrem Heiligen Schmerzensmanne die ruhige Inhumanität
seines Gedankens entgegenzustellen. Vielleicht finden Sie trotz allem
sogar eine Erleichterung. — Diese Krise, die Sie so erschreckt, dieser
Wirrwarr ist im Grunde eigentlich nichts als ein
Zusammenziehungsphänomen, eine kosmische, lärmende, aber doch
gesetzmäßige Kontraktion, ähnlich jenen Faltungen bei der
Zusammenziehung der Erdkruste, die ja auch immer von zerstörenden
Erdbeben begleitet sind. Die Menschheit zieht sich zusammen. Und der
Krieg ist die eine solche Kontraktion begleitende Erschütterung. Gestern
waren es noch in jeder Nation die Provinzen, die einander bekriegten,
vorgestern in jeder Provinz die Städte, und heute, da die völkische
Einheit schon ausgestaltet ist, bereitet sich eine viel umfassendere
Einheit vor. Es ist natürlich sehr bedauerlich, daß diese Entwicklung
durch Gewalt geschieht, aber Gewalt ist eben das natürliche Mittel in
diesem Prozeß. Aus dem Explosivgemenge der zusammenstoßenden Elemente
wird sich ein neuer chemischer Körper entwickeln. Wird es das einige
Abendland, wird es Europa sein? — ich weiß es nicht. Aber sicher wird
die neue Zusammensetzung neue Eigenschaften haben und viel reichere als
die der einzelnen zusammensetzenden Elemente. Und dies ist noch nicht
die letzte Etappe. So schön der gegenwärtige Krieg ist (ich bitte Sie um
Entschuldigung, ich meine „schön“ im Hinblick auf den Geist, für den das
Leiden nicht existiert), so werden noch schönere, noch großzügigere sich
entfalten. Diese armen Kinder von Völkern, die sich einbilden, sie
erbauten schon mit ihrem Kanonendonner den ewigen Frieden — sie werden
noch warten müssen, bis das ganze Weltall durch diese Retorte
hindurchgegangen ist. Der Krieg der beiden Amerika, der des neuen
Kontinents und des gelben Kontinents, dann jener des Siegers mit der
übrigen Erde — das wird uns noch ein paar Jahrhunderte zu schaffen
machen. Und dabei sehe ich nicht einmal weit genug, ahne ich noch nicht
einmal alles. Außerdem wird natürlich noch jeder dieser Zusammenstöße
ausgiebige soziale Kriege zur Folge haben. Und erst dann, wenn dies
alles erledigt ist, vielleicht in zehn Jahrhunderten (obwohl ich glaube,
daß es vielleicht rascher geschehen könnte, als man meint, wenn man die
Gegenwart mit der Vergangenheit in Vergleich setzt, weil sich im Fall
die Geschwindigkeit beschleunigt), erst dann werden wir zu einer ein
wenig ärmeren Synthese gelangen, denn von den Elementen der
Zusammensetzung werden die besten und die schlechtesten unterwegs
vernichtet worden sein; die ersten, weil sie zu zart waren, um den
Unbilden zu widerstehen, die zweiten, weil sie zu widersetzlich waren
und sich zu stark gegen die Amalgamierung wehrten. Dann werden jene
sagenhaften Vereinigten Staaten der Erde erstehen, und ihr Bündnis wird
um so dauerhafter sein, je mehr sich dann die Menschheit wahrscheinlich
von gemeinsamen Gefahren bedroht sehen wird; die Marskanäle, die
Eintrocknung der Planeten, die Erkaltung der Erdkruste, die
geheimnisvollen Erkrankungen, die Pendeluhr Edgar Poes, die Vision des
endgültigen Erlöschens der irdischen Geschlechter.... Ach, was für
schöne Dinge wird es zu betrachten geben. In jenen letzten Ängsten wird
das Genie der Rasse überreizt sein. Freilich, Freiheit wird’s wenig
geben. Die menschliche Vielfalt muß gerade im Verschwinden notwendig zur
Einheit des Gedankens und des Willens drängen (eine Richtung, in die sie
übrigens auch heute schon ganz deutlich zielt); so wird sich ohne
plötzliche Umkehr das Verschiedene in das Eine wieder zurückverwandeln,
der Haß in die Liebe des alten Empedokles.“

„Und dann?“

„Dann? Dann wird wahrscheinlich alles nach einem Weltzeitraum von neuem
anfangen. Ein anderer Kreis, eine andere Kalpa. Die Welt wird sich auf
einem frisch geschmiedeten Rad wieder zu drehen beginnen.“

„Und des Rätsels Lösung?“

„Ein Hindu würde darauf antworten: Schiwa, der Zerstörer und der
Schaffer, der Schaffer und der Zerstörer.“

„Welch ein entsetzliches Traumbild!“

„Das ist Auffassungssache. Die Weisheit macht einen immer frei. Für den
Hindu ist Buddha der Befreier, mir für meinen Teil hilft schon die
Neugierde über alles hinweg.“

„Aber nicht mir: ich kann mich nicht bescheiden mit der Weisheit des
selbstsüchtigen Buddha, der nur sich frei macht und die anderen im
Stiche läßt. Ich kenne wie Sie die Hindus und ich liebe sie. Aber auch
bei ihnen hat Buddha nicht das letzte Wort der Weisheit gesprochen.
Erinnern Sie sich an jenen Bodhisattva, den Meister des Mitleids, der
den Eid geleistet, nicht früher Buddha zu werden, nicht früher sich ins
Nirwana zurückzuflüchten, ehe er nicht alle Übel geheilt, alles Unrecht
gesühnt, alle Seelen getröstet hätte.“

Perrotin neigte sich mit einem sanften Lächeln zu Clerambaults
schmerzlichem Gesicht, streichelte ihm zärtlich die Hand und sagte:

„Mein lieber Bodhisattva, was wollen Sie also tun? Wen wollen Sie also
retten? Was wollen Sie also retten?“

„Ja, ich weiß wohl“, sagte Clerambault und senkte den Kopf, „ich weiß
wohl, wie wenig ich bin, wie wenig ich vermag. Ich kenne die Nichtigkeit
meiner Wünsche und meines Protestes. Halten Sie mich nicht für
eingebildet, aber was kann ich dagegen tun, wenn meine Pflicht mir zu
sprechen gebietet?“

„Ihre Pflicht ist, etwas zu tun, was nützlich und vernünftig ist, nicht
aber, sich vergeblich zu opfern.“

„Was ist das, was Sie „vergeblich“ nennen? Können Sie im vorhinein bei
Samenkörnern dasjenige unterscheiden, das gedeihen wird, und jenes, das
zugrunde geht? Und ist dies ein Grund, den Samen nicht auszuwerfen?
Welcher Fortschritt wäre jemals geschehen, wenn der, in dessen Brust das
Samenkorn wuchs, zurückgeschreckt wäre vor dem ungeheuren Block der
gewohnheitsträgen Vergangenheit, der ihn zu zerschmettern droht?“

„Ich verstehe, daß der Gelehrte die Wahrheit verteidigt, die er gefunden
hat. Aber ist diese soziale Betätigung denn Ihre Mission? Dichter,
bleibe deinen Träumen treu, auf daß deine Träume dir treu bleiben.“

„Ich bin zuerst Mensch, und dann erst Dichter. Jeder anständige Mensch
hat eine Mission.“

„Aber Sie tragen geistige Werte in sich, die zu kostbar sind, und es
wäre Mord, sie hinzuopfern.“

„Ja, nicht wahr, man soll also nur den kleinen Leuten das Opfer
überlassen, die nicht viel zu verlieren haben?“

Er schwieg einen Augenblick und sagte dann:

„Perrotin, es ist mir oft in den Sinn gekommen, daß wir alle nicht
unsere Pflicht tun, wir geistigen Menschen und Künstler alle.... Nicht
nur heute sondern seit langem schon, seit immer. Wir haben bei uns einen
Teil Wahrheit und Erleuchtung, die wir aus Vorsicht in uns
zurückbehalten. Mehr als einmal habe ich das mit dunkeln Gewissensbissen
gefühlt. Aber damals hatte ich noch Angst, in mich hineinzuschauen. Erst
die Prüfung hat mich sehen gelehrt. Wir sind Bevorzugte, wir sind eine
privilegierte Klasse, das gibt uns auch Pflichten, Pflichten, die wir
nicht erfüllen, denn wir haben Angst, uns zu kompromittieren. Die Elite
des Geistes ist eine Aristokratie, die vorgibt, jener des Blutes
nachzufolgen; aber sie vergißt, daß jene im Anfang die Privilegien mit
ihrem Blute bezahlte. Seit Jahrhunderten hört die Menschheit viele Worte
von weisen Männern, aber nur selten sieht sie einen dieser Weisen sich
hinopfern. Und das würde der Welt ganz gut tun, wenn sie hie und da
einmal einen sehen würde, der sein Leben für seinen Gedanken hingibt.
Nichts wahrhaft Fruchtbares kann ohne das Opfer geschaffen werden. Um
die anderen glauben zu machen, muß man selbst gläubig sein, muß
beweisen, daß man gläubig ist. Es genügt nicht das bloße Dasein einer
Wahrheit, damit der Mensch zu ihr aufblicke, es ist nötig, daß dieses
Dasein ein lebendiges Leben habe. Und dieses Leben können, dieses Leben
müssen wir ihr geben — das unsere! Sonst sind all unsere Gedanken nur
Dilettantenspiele, eine Theaterspielerei, die einzig auf Theaterapplaus
ein Anrecht hat. Nur solche Menschen haben die Menschheit
vorwärtsgebracht, die ihr eigenes Leben zur Stufe machten. Dieses ist es
auch, was den Zimmermannssohn von Galiläa über alle unsere großen Männer
erhoben hat. Die Menschheit wußte wohl einen Unterschied zu machen
zwischen den anderen und dem Heiland.“

„Und der Heiland? Hat er sie gerettet?.... ‚Wenn Gott Zebaoth so
beschlossen hat, so schaffen die Völker für das Feuer.‘“

„Ihr Feuerkreis ist das letzte Schreckbild. Der Mensch ist nur dazu da,
um ihn zu zerbrechen, um zu versuchen, sich ihm zu entringen, frei zu
sein.“

„Frei?“, sagte Perrotin mit seinem ruhigen Lächeln.

„Ja, frei! Freiheit ist das höchste Gut, ein ebenso seltenes, wie ihr
Name ein abgebrauchter ist, so selten wie das wahre Schöne, wie das
wahre Gute. Frei nenne ich den, der sich von sich selbst, von seinen
Leidenschaften, seinen blinden Instinkten, von jenen der Umgebung und
des Augenblickes loslösen kann, zwar nicht um seiner Vernunft zu
gehorchen, wie man meist sagt (denn die Vernunft in dem Sinne, wie Sie
sie verstehen, ist ja nur ein anderes Wahnbild, eine andere verhärtete,
vergeistigte und darum fanatisierte Leidenschaft), sondern um zu
versuchen, über die Staubwolken hinauszusehen, die sich von den
Menschenherden auf den Straßen der Gegenwart erheben, um zu versuchen,
den Horizont zu umfassen und alles Geschehen in der Gesamtheit der Dinge
und der Weltordnung zu begreifen.“

„Und sich dann“, unterbrach ihn Perrotin, „den Weltgesetzen zu
unterwerfen und anzupassen.“

„Nein“, erwiderte Clerambault, „um sich ihnen mit vollem Bewußtsein
entgegenzustellen, sobald sie dem Glück und dem wahrhaft Guten
nachteilig sind. Denn darin besteht ja die Freiheit, daß der freie
Mensch in sich selbst ein Weltgesetz ist, ein bewußtes Gesetz, dessen
einzige Aufgabe es ist, das Gegengewicht für die zerschmetternde
Maschine, für den Automaten Spittelers, die eherne Ananke zu bilden. Ich
sehe das Weltwesen noch zu drei Vierteilen in der Scholle, in der Rinde,
im Stein gebunden, den unbarmherzigen Gesetzen der Materie unterworfen,
in die es eingebannt ist. Nur der Blick und der Atem sind frei. „Ich
hoffe“, sagt der Blick. „Ich will“, sagt der Atem. Mit diesen beiden
sucht es sich loszuringen. Der Blick, der Atem, das sind wir, das ist
der freie Mensch.“

„Mir genügt der Blick“, sagte sanft Perrotin.

Clerambault erwiderte:

„Habe ich keinen Atem, so gehe ich zugrunde.“

                                   §

Beim geistigen Menschen bedarf es immer einiger Zeit vom Wort bis zur
Tat, und selbst wenn er schon zu handeln beschlossen hat, findet er noch
immer verschiedene Vorwände, um die Ausführung auf den nächsten Tag zu
verschieben. Er sieht zu deutlich alles, was kommen wird, sieht die
Kämpfe und Mühen voraus, und bezweifelt von vornherein den Erfolg. Um
sich aber selbst über seine Unruhe hinwegzutäuschen, verausgabt er sich
in Kraftreden entweder mit sich allein oder im engsten Freundeskreise,
und verschafft sich so die billige Illusion, schon tätig zu sein. Im
tiefsten Grunde seines Wesens glaubt er jedoch selbst nicht daran, er
wartet wie Hamlet auf die Gelegenheit, die ihn zur Tat zwingen soll.

So tapfer auch Clerambault in seinem Gespräche mit dem nachgiebigen
Perrotin gewesen war, fand er doch, kaum heimgekehrt, alle seine
Bedenken wieder. Seine durch das Unglück geschärfte Feinfühligkeit
spürte nur zu gut die Erregung der Seinen rings um ihn und ließ ihn den
Zwiespalt vorausahnen, den seine einmal ausgesprochenen Worte zwischen
seiner Frau und ihm hervorrufen würden. Und noch mehr: er fühlte sich
der Zustimmung seiner Tochter nicht mehr sicher, er hätte nicht sagen
können, weshalb, aber er fürchtete die Probe zu machen. Für ein
zärtliches Gemüt wie das seine war schon der Versuch eine Qual....

Inzwischen schrieb ihm ein befreundeter Arzt, er hätte in seinem
Hospital einen Schwerverwundeten, der an der Offensive in der Champagne
teilgenommen und Maxime gekannt hatte. Clerambault eilte sofort hin, um
ihn zu sehen.

Er fand auf einem Bett einen Mann unbestimmbaren Alters auf dem Rücken
liegend, unbeweglich ausgestreckt, umschnürt wie eine Mumie. Aus den
weißen Bandagen starrte das magere Gesicht eines Bauern, gegerbt,
zerfaltet, mit großer Nase und grauem Bart. Der freie rechte Unterarm
stützte eine massige und entstellte Hand auf die Decke, vom Mittelfinger
fehlte ein Glied, aber das zählte nicht, das war eine Friedenswunde.
Unter den buschigen Brauen sahen die Augen ruhig und klar: man hätte ein
so mildes graues Licht in dem verbrannten Antlitz nicht erwartet.

Clerambault trat an ihn heran, erkundigte sich nach seinem Zustande, der
Mann dankte höflich, aber ohne sich auf Einzelheiten einzulassen,
gleichsam als ob es nicht nötig wäre, von sich zu sprechen.

„Ich danke Ihnen, mein Herr, es geht gut, es geht ganz gut.“

Aber Clerambault erneuerte liebevoll seine Fragen und es dauerte nicht
lange, so fühlten die grauen Augen, daß in den blauen Augen, die sich zu
ihnen niederneigten, mehr als Neugier sich regte.

„Wo sind Sie denn verwundet“, fragte Clerambault.

„Ach! Das wäre zu lang zu erzählen, mein Herr! Eigentlich ein wenig
überall.“

Und als jener weiterfragte:

„Ich habe es hier und da abgekriegt, überall wo gerade ein Platz war —
und dabei bin ich nicht einmal besonders dick. Ich hätte nie gedacht,
daß es in einem Körper soviel Platz dafür gibt.“

Schließlich erfuhr Clerambault, daß jener ungefähr zwanzig — oder
genauer gesagt siebzehn — Verwundungen hatte. Er war buchstäblich von
einem Schrapnell überschüttet (oder wie er sagte „gespickt“) worden.

„Siebzehn Verwundungen!“, schrie Clerambault.

Der Mann berichtigte:

„Um der Wahrheit völlig die Ehre zu geben: ich habe jetzt nur mehr etwa
zehn.“

„Sind die anderen schon geheilt?“

„Man hat mir die Füße abgeschnitten.“

Clerambault war so erschüttert, daß er fast den Zweck seines Besuches
vergaß. O, diese Fülle von Unglück! Mein Gott! Was ist da das unsere,
dieser Tropfen im Meer! Er legte seine Hand auf die harte Hand des
Mannes und drückte sie. Die ruhigen Augen des Verwundeten betrachteten
Clerambault von oben bis unten, bemerkten das Trauerband am Hute und er
sagte: „Sie haben auch Unglück gehabt?“

Clerambault raffte sich auf.

„Ja“, sagte er, „nicht wahr, Sie haben ihn gekannt, den Sergeanten
Clerambault?“

„Natürlich habe ich ihn gekannt.“

„Das war mein Sohn.“

Ein Bedauern kam in den Blick.

„Ach, Sie armer Herr... Natürlich habe ich ihn gekannt, Ihren tapferen
kleinen Jungen! Wir waren fast ein ganzes Jahr zusammen, und das zählt,
dieses Jahr! Durch Tage und Tage wie die Maulwürfe im selben Loch...
Ach, man hat zusammen viel Elend erlebt.“

„Hat er viel gelitten?“

„Na, mein Herr, manchmal war es hart. Den Kleinen hat es manchmal fest
gepackt, besonders im Anfang. Er war es eben nicht gewöhnt; wir, wir
kennen das.“

„Sie sind vom Lande?“

„Ich war Gutsknecht, da lebt man das Leben mit den Tieren, lebt ein
wenig wie sie selbst... Obwohl, mein Herr, um es offen zu sagen, der
Mensch heutzutage von den Menschen schlechter als das Vieh behandelt
wird... „Seid gut zu den Tieren“, diese amtliche Mahnung hatte irgendein
Spaßvogel in unserem Schützengraben aufgehängt. Aber was für sie nicht
gut ist, war noch immer gut genug für uns... Tut nichts!... Ich beklage
mich ja nicht. Es ist nun einmal so. Und wenn es sein muß, muß es eben
sein. Aber der kleine Sergeant, bei dem merkte man’s, daß er nicht
gewöhnt war an all das. An den Regen und an den Schlamm und die
Niedertracht und vor allem an den Schmutz. Was immer man anrührte, was
man aß, und dann auf einem selbst: das Ungeziefer... Im Anfang, da sah
ich’s, da war er ein paarmal ganz nahe daran zu weinen. Da versuchte ich
ihm ein bißchen zu helfen. Mich lustig zu machen über die Sachen, um ihm
zu helfen — aber so, daß er nicht merkte, daß man ihm helfen wolle,
denn er war stolz, der Kleine, und wollte nicht, daß man ihm helfe —
aber er war doch froh, wenn man’s tat. Und ich war es auch. Dort hat man
ja nötig, zueinander zu rücken und sich zu helfen. Schließlich war er
soweit und so abgehärtet wie ich, hat mir seinerseits auch geholfen. Hat
nie geklagt, wir lachten sogar zusammen, denn man muß doch lachen: Es
gibt ja kein Unglück, das ewig dauert, und das hilft einem über das
Elend hinweg.“

Clerambault hörte bedrückt zu. Er fragte:

„So war er also weniger traurig am Ende?“

„Ja, mein Herr, er hatte sich abgefunden, wie schließlich wir alle. Man
weiß nicht, wieso das kommt, man steht jeden Tag, fast jeder mit
demselben Fuß auf, man ist einander nicht ähnlich, aber schließlich ist
man schon mehr die andern als man selbst. Und das ist besser so, man
leidet nicht mehr so viel, man fühlt sich selbst weniger, man wird eine
einzige Masse. Außer, wenn es Urlaub gibt — dann wird es schlecht für
die, die zurückkommen — und so war’s auch gerade bei dem kleinen
Sergeanten, als er zum letztenmal wiederkam... da geht es dann nicht
mehr gut....“

Clerambault sagte hastig aus gepreßtem Herzen: „Wie, damals, als er
zurückkam...?“

„Ja, da war er sehr niedergedrückt. Niemals hatte ich ihn so kleinmütig
gesehen wie in jenen Tagen.“

Ein schmerzlicher Ausdruck malte sich in Clerambaults Gesicht. Bei einer
Bewegung, die er machte, wendete sich der Verwundete, der, bisher die
Augen zur Zimmerdecke gerichtet, gesprochen hatte, mit dem Blick gegen
ihn, sah und verstand offenbar alles, denn er fügte hinzu:

„Aber er hat sich schon wieder herausgerappelt nachher.“

Clerambault faßte von neuem die Hand des Kranken.

„Sagen Sie mir, was er Ihnen erzählte, sagen Sie mir alles.“

Der Mann zögerte, dann sagte er:

„Ich erinnere mich nicht mehr ganz genau.“

Er schloß die Augen und blieb unbeweglich. Clerambault, über ihn
gebeugt, suchte zu sehen, was diese Augen unter ihren geschlossenen
Lidern in sich erblickten.

                 *        *        *        *        *

Mondlose Nacht. Eisige Luft. Aus der Tiefe des gehöhlten Grabens sieht
man den kalten Himmel und die starren Sterne. Geschosse schlagen in dem
harten Boden auf. Im Schützengraben zusammengeknäuelt, die Knie unter
dem Kinn, rauchen Maxime und sein Gefährte Seite an Seite. Der Kleine
war eben an diesem Tage von Paris zurückgekommen.

Er war bedrückt und gab auf Fragen keine Antwort, er verschloß sich in
einem bösen Schweigen. Der andere hatte ihn den ganzen Nachmittag mit
Absicht allein gelassen, damit er mit seiner Qual fertig werde; aus dem
Augenwinkel heraus beobachtete er ihn, und als er dann im Dunkeln den
Augenblick gekommen sah, näherte er sich ihm. Er wußte, der Kleine würde
jetzt von selbst mit ihm sprechen. Der Anschlag einer Kugel, die über
ihre Köpfe fuhr, ließ eine vereiste Scholle Erde sich loslösen.

„Heda, du Totenvogel“, sagte der andere, „du hast es eilig.“

„Wenn es nur schon vorüber wäre“, sagte Maxime, „sie wollen es ja alle.“

„Was, um den Boches eine Freude zu machen, ließest du dich umbringen? Du
bist wirklich ein guter Kerl.“

„Es sind nicht nur die Boches allein, alle schaufeln sie zusammen an
unserem Grab...“

„Wer denn?“

„Alle! Die von dort hinten, von wo ich komme, die von Paris, die
Freunde, die Verwandten, die Lebendigen, die vom anderen Ufer. Wir, wir
sind ja schon tot.“

Ein Schweigen. Der Flug eines Projektils heulte durch den Himmel. Der
Kamerad tat einen tiefen Zug aus der Pfeife.

„Also, es hat dir hinten nicht gefallen, mein Kleiner? Ich habe es mir
gleich gedacht.“

„Warum denn?“

„Weil, wenn der eine schuftet und der andere nicht, so haben die beiden
einander nichts zu sagen.“

„Aber sie leiden ja auch....“

„Ja, aber es ist nicht dasselbe Brot. Du kannst noch so geschickt sein,
du wirst niemals einem, der ihn nicht kennt, den Zahnschmerz erklären
können. So versuche mal denen da hinten, die in ihren Betten liegen,
begreiflich zu machen, was hier vorgeht. Für mich ist es nicht neu, ich
habe den Krieg nicht nötig gehabt... Ich habe das mein ganzes Leben
gekannt. Aber glaubst du, wenn ich mich auf der Erde abrackerte und mir
das Mark aus den Knochen schwitzte, daß andere sich darüber beunruhigt
haben? Ich sage damit nicht, daß sie deshalb schlecht sind. Sie sind
nicht gut, sind nicht schlecht, sind eben wie fast alle Welt ist.
Können’s halt nicht auffassen. Um etwas zu verstehen, muß man’s selber
spüren, die Sache auf sich nehmen, die ganze Qual auf sich nehmen. Wenn
nicht — und man tut es ja nicht, mein Junge — da muß man eben das
Kreuz darüber machen, versuch’s nicht zu erklären. Die Welt ist eben so
wie sie ist. Da ist nichts zu ändern.“

„Das wäre zu furchtbar. Dann lohnte es ja nicht mehr zu leben.“

„Warum denn nicht, zum Teufel? Ich habe es ganz gut ertragen, und du
bist nicht weniger wert als ich. Du bist klüger, du kannst lernen, man
lernt alles ertragen. Alles. Und dann — etwas zusammen zu ertragen, ist
zwar noch keine Freude, aber es ist nicht mehr ganz eine Qual. Allein zu
sein, das ist das härteste. Du bist nicht allein, mein Kleiner.“ Maxime
sah ihm ins Gesicht und sagte:

„Dort hinten war ich’s, hier bin ich es nicht mehr...“

                 *        *        *        *        *

Aber der Mann, der mit geschlossenen Augen auf seinem Bette hingestreckt
lag, sagte nichts von dem, was er in sich sah. Als er jetzt wieder ruhig
die Augen aufschlug, fand er den verängstigten Blick des Vaters auf sich
gerichtet, der ihn anflehte, zu sprechen.

Und da versuchte er mit einer linkischen und zärtlichen Gutmütigkeit zu
erklären, daß der Kleine offenbar deshalb traurig gewesen war, weil er
die Seinen hatte verlassen müssen, aber daß „man“ ihn schon wieder
aufgerichtet hätte. „Man“ verstand ja seine Not.... Er selbst, der
Krüppel, hätte ja nie einen Vater gekannt, aber als Kind hätte er davon
geträumt, welches Glück es für die, die einen haben, sein müsse.

„So habe ich mir erlaubt... und habe zu ihm gesprochen, mein Herr, so,
als ob ich Sie wäre... und der Kleine hat sich beruhigt. Er sagte mir,
daß man doch eine Sache diesem verfluchten Krieg danke, nämlich daß er
einem gezeigt habe, es gäbe viel arme Teufel auf der Erde, die sich
nicht kennen und die aus demselben Holz geschnitzt sind. Man hört es oft
genug, daß wir Brüder seien, von den Anschlagzetteln oder aus den
Predigten, nur glaubt man’s eben nicht. Um es wirklich zu wissen, muß
man einmal miteinander geschuftet haben... und da hat er mich umarmt.“

Clerambault stand auf, neigte sich über das umwickelte Gesicht des
Verwundeten und küßte ihn auf die rauhe Wange.

„Sagen Sie, was ich für Sie tun kann“, fragte er.

„Sie sind sehr gut, mein Herr, aber viel ist nicht mehr zu tun. Ich bin
sozusagen fertig. Ohne Beine, mit einem gebrochenen Arm, mit fast nichts
Gesundem mehr, wozu wäre ich noch gut? Übrigens ist ja noch gar nicht
gesagt, daß ich überhaupt davonkomme. Na, es wird eben gehen, wie es
geht. Fahre ich ab, dann gute Reise, und bleibe ich, so wird man schon
sehen. Man muß warten, es gibt ja immer Züge.“

Clerambault bewunderte seine Geduld. Der andere wiederholte immer seinen
Refrain: „Ich bin halt eben daran gewöhnt, es ist kein großes Verdienst,
geduldig zu sein, wenn man nicht anders kann... und dann, wir kennen das
ja schon, ein bißchen mehr oder ein bißchen weniger... für uns dauert
der Krieg das ganze Leben lang.“

Clerambault bemerkte, daß er in seinem Egoismus noch gar nicht nach
Einzelheiten aus dem Leben des andern gefragt hatte, ja nicht einmal
seinen Namen wußte.

„Mein Name? Der paßt gut zu mir: Courtois Aimé. Aimé ist der Vorname.
Paßt wie ein Handschuh zu einem, der im Dreck sitzt.... Und dazu noch
Courtois, ein guter Witz. Meine Eltern habe ich nicht gekannt, ich bin
ein Findelkind. Der Pfleger vom Hilfshaus, ein Pächter in der Champagne,
hat es übernommen, mich aufzuziehen, und er verstand sich darauf, der
Kerl.... Ich bin gut herausgearbeitet worden! Na, ich habe wenigstens zu
rechter Zeit schon gewußt, was mich im Leben erwartet. Es hat gut in
meinen Napf geregnet.“

Und dann erzählte er mit ein paar kurzen trockenen Sätzen, ohne
irgendwelche Erregung, die ganze Reihe der Unglücksfälle, die sein Leben
zusammensetzten: die Ehe mit einem Mädchen, wie er ohne einen Pfennig
Geld, der „Hunger, der den Durst heiratet“, Krankheiten, Todesfälle, den
Kampf gegen die Natur — und das alles wäre noch nichts gewesen, hätte
nicht noch der Mensch vom Seinen dazugetan. _Homo homini_... _homo_....
Die ganze soziale Ungerechtigkeit, die auf den Leuten der unteren
Schichten lastet. — Clerambault konnte seine Erbitterung nicht
verbergen, wie er ihm so zuhörte, aber Aimé Courtois regte sich durchaus
nicht auf. Es ist eben so, es war immer so und wird immer so sein. Die
einen sind da, um zu leiden, die anderen nicht. Es gibt keine Berge ohne
Täler. Der Krieg war ihm als ein Blödsinn erschienen, aber er hätte
nicht einen Finger gerührt, um ihn zu verhindern. In seiner Art war die
ganze fatalistische Passivität des Volkes, das auf gallischer Erde sich
in eine ironische Sorglosigkeit hüllt, das „Man darf sich nichts daraus
machen“ der Schützengräben. Und es war auch die ganze falsche Scham der
Franzosen darin, die vor nichts so Furcht haben wie vor dem
Lächerlichen, die tausendmal lieber für eine Tollheit und sogar für
eine, die sie selbst als solche erkennen, sich opfern würden, als sich
dem Spott für irgendeine vernünftige Handlung auszusetzen, die nur nicht
an der Tagesordnung war. Sich dem Kriege entgegenstellen, das wäre so,
wie sich gegen das Gewitter stellen. Wenn’s hagelt, kann man halt nichts
tun als, wenn es noch geht, die Fenster zuschließen und nachher sich die
zugrunde gerichtete Ernte anschauen. Und dann fängt man wieder an bis
zum nächsten Hagel, bis zum nächsten Krieg — in alle Ewigkeit. „Man
darf sich halt nichts daraus machen“ — nie kam ihm der Gedanke, daß der
Mensch den Menschen ändern könnte.

Clerambault erbitterte sich innerlich über diese heroische und dumme
Resignation, die wohl dazu angetan ist, die privilegierten Klassen zu
begeistern, denn ihr verdanken sie ja die eigene Erhaltung, — die aber
andererseits aus der menschlichen Rasse und ihrer tausendjährigen
Anstrengung ein Danaidenfaß macht, da sich ihr ganzer Mut, ihre ganze
Tugend, ihre ganze Arbeit darin erschöpfen, auf anständige Art zu
sterben.... Als aber seine Augen sich wieder auf das verstümmelte Stück
Mensch richteten, das da vor ihm lag, bedrückte ihn ein unendliches
Mitleid. Was konnte er tun, was konnte er wollen, dieser Mann des
Elends, dieses Symbol des hingeschlachteten und verstümmelten Volkes? So
viele Jahrhunderte leidet und blutet es schon vor unseren Augen, ohne
daß wir, seine glücklicheren Brüder, ihm mehr geben als irgendein
nachlässiges Lob von fern, das unser Wohlergehen gar nicht stört und das
Volk sogar aufmuntert, nur so fort zu tun! Welche Hilfe bringen wir ihm
denn? Da wir schon nichts für dieses Volk tun, widmen wir ihm nicht
einmal unser Wort! Von der freien Entfaltung unseres Denkens — die wir
doch seinen Opfern danken — bewahren wir die Frucht für uns, ja wir
wagen nicht einmal, es davon kosten zu lassen. Wir haben Furcht vor dem
Lichte, Furcht vor der frechen Meinung und den Herren der Stunde, die
sagen: „Löschet das Licht! Ihr, die ihr es habt, trachtet es zu
verbergen, damit man nichts davon sieht, wenn ihr wollt, daß man es euch
verzeihe.“ — Genug der Feigheit! Wer soll sprechen, wenn nicht wir? Die
anderen sterben mit dem Knebel im Munde....

Ein Schatten von Qual lief über das Antlitz des Verwundeten. Seine Augen
sahen starr zur Decke, sein großer verkrümmter Mund, hartnäckig
verschlossen, wollte keine Antwort mehr geben. — Clerambault entfernte
sich. Er hatte seinen Entschluß gefaßt. Das Schweigen des Volkes auf
seinem Totenbett hatte ihn bestimmt, das Wort zu ergreifen.



                              Dritter Teil



                                   §

Clerambault kam vom Spital zurück, schloß sich in sein Zimmer ein und
begann zu schreiben. Madame Clerambault versuchte einmal einzudringen,
sah mit einer Art Mißtrauen nach, was er machte. Es war, als ob ein bei
dieser Frau sehr seltenes Ahnungsvermögen — sie merkte sonst nie etwas
— ihr ein dunkles Angstgefühl vor dem, was ihr Mann vorbereitete,
einjagte. Es gelang ihm, seine Abgeschlossenheit zu verteidigen, bis er
fertig war. Sonst ersparte er den Seinen nichts von dem, was er
geschrieben hatte, es war ein Genuß für seine naive, liebevolle
Eitelkeit, aber auch zärtliche Pflicht, auf die er ebensowenig wie die
anderen hätte verzichten können. Diesmal nahm er davon Abstand, ohne
sich den Grund dafür selbst klar zu machen. Obwohl er noch weit davon
entfernt war, die ganze Tragweite seiner Tat zu überschauen, hatte er
doch Furcht vor Widerspruch, denn er fühlte sich seiner noch nicht
sicher genug, sich ihm auszusetzen. So zog er es vor, die anderen lieber
vor die vollendete Tatsache zu stellen.

Sein erster Schrei war eine Selbstanklage:

            „I h r   T o t e n   v e r z e i h e t   u n s!“

Diese öffentliche Beichte trug als Motto die Melodie einer alten Klage
des Königs David, der an der Leiche seines Sohnes Absalon weint:

[Illustration: _Fi-li mi, Fi-li mi, Fi-li mi, Fi-li mi, Fi-li mi!_]

„Ich hatte einen Sohn. Ich liebte ihn. Und ich habe ihn getötet. Ihr
Väter des trauernden Europa, nicht für mich allein, für euch alle
spreche ich, ihr Millionen Väter, verwitwet an euren Söhnen, Feinde oder
Freunde, und alle bedeckt von ihrem Blute gleich mir. Ihr alle sprecht
durch die Stimme eines der Euren, durch meine arme Stimme, die leidet
und Buße tut.

Mein Sohn ist für die Euren, durch die Euren (ich weiß es nicht), ist
wie die Euren getötet worden. Und wie ihr habe ich den Feind dafür
angeklagt und den Krieg. Aber den Hauptschuldigen sehe ich erst heute
und ich klage ihn an: ich bin es. Ich bin es, und dieses Ich seid Ihr.
Wir sind es. Könnte ich Euch doch zwingen, das zu hören, was Ihr wohl
wißt und nicht wissen wollt!

Mein Sohn war zwanzig Jahre alt, als er dem Krieg zur Beute fiel.
Zwanzig Jahre lang habe ich ihn zärtlich geliebt, habe ihn geschützt
gegen Hunger, Kälte, Krankheiten, gegen die geistige Dunkelheit, gegen
Unwissenheit, Irrtum, gegen alle Fallstricke, die das Leben in seinem
Schatten birgt. Aber was habe ich getan, um ihn zu verteidigen gegen die
aufsteigende große Gefahr?

Dabei habe ich niemals zu jenen gehört, die mit den Leidenschaften des
eifersüchtigen Nationalismus gemeinsame Sache machten. Ich liebte die
Menschen, und es war mir eine Freude, an ihre zukünftige Brüderlichkeit
zu denken. Warum habe ich also nichts getan gegen das, was sie bedrohte,
gegen das schleichende Fieber, gegen den lügnerischen Frieden, der mit
einem Lächeln auf den Lippen schon zum Mordanschlag ausholte? Es war
vielleicht Furcht, zu mißfallen, Furcht vor Feindschaften? Ich liebte es
zu sehr, zu lieben und vor allem geliebt zu werden. Ich fürchtete,
erworbenes Wohlwollen zu gefährden, hielt zu viel auf die zerbrechliche
und kraftlose Gemeinschaft mit jenen, die um uns sind, auf diese
Komödie, die man mit sich und den anderen spielt und mit der man sich ja
gar nicht selbst betrügt, denn von beiden Seiten fürchtet man immer, das
Wort auszusprechen, das den Mörtel abfallen ließe und das zerfressene
Haus zeigte. Ich hatte Furcht, klar in mich selbst zu sehen, war erfüllt
von jener inneren opportunistischen Unsicherheit, die alles schonen
will, die die alten Instinkte und den neuen Glauben verbinden will, die
Kräfte, die sich gegenseitig vernichten und aufheben, Vaterland,
Menschheit, Krieg und Frieden. Ich habe nie genau gewußt, auf welche
Seite ich mich hinneigen sollte, und bin von der einen zur anderen wie
eine Schaukel geschwankt. Ich hatte Angst vor der Anstrengung, mich zu
entscheiden und eine Wahl zu treffen.... Faulheit war es und Feigheit!
Ich übertünchte all das mit einem gefälligen Glauben an die Güte der
Dinge, die alles schon — so dachte ich — von selbst in schönste
Ordnung bringen würden. Und wir begnügten uns, zuzuschauen, den
unfehlbaren Lauf des Schicksals noch zu verherrlichen — wir Höflinge
der Gewalt! Da wir verzichtet haben, Einfluß zu erlangen, so haben die
Dinge — oder die Menschen, andere Menschen als wir — für uns
entschieden. Und wir haben das erst bemerkt, als wir schon getäuscht
waren. Aber das Eingeständnis war für uns so entsetzlich, wir waren so
dessen entwöhnt, wirklich wahrhaft zu sein, daß wir auch dann weiter so
getan haben, als wären wir mit dem Verbrechen im vollen Einverständnis.
Und als Bürgschaft unseres Einverständnisses haben wir unsere Söhne
ausgeliefert....

Ach, wir haben sie sehr geliebt! Sicher mehr als unser eigenes Leben —
ach, hätte es sich nur darum gehandelt, unser Leben hinzugeben! Aber wir
haben sie nicht mehr geliebt als unseren Stolz, der verzweifelt bemüht
war, unsere moralische und sittliche Verwirrung zu verbergen, die Leere
unseres Geistes und die Nacht unseres Herzens.

Alle diese Dinge wären aber noch verzeihlich bei solchen, die an das
alte Idol, an das heimtückische, neidische, mit getrocknetem Blut
überdeckte Götzenbild glaubten — an das barbarische Vaterland. Wenn
jene ihre und der anderen Kinder opferten, so töteten sie, aber sie
wußten wenigstens nicht, was sie taten — diejenigen aber, die nicht
mehr daran glauben, die nur mehr daran glauben wollen (und das bin ich,
das sind wir) — die opfern ihre Kinder, indem sie sie einer Lüge
darbieten (denn im Zweifel Ja sagen, heißt lügen), und sie opfern sie,
um sich selbst ihre Lüge zu beweisen. Und jetzt, da unsere Lieben für
unsere Lüge gestorben sind, arbeiten wir uns, statt den Irrtum offen
zuzugeben, nur noch tiefer, bis über die Augen hinein, nur um nichts
mehr zu sehen, denn wir wollen, daß nach den unseren noch die anderen,
alle anderen, für unsere Lüge sterben.

Aber ich, ich kann das nicht mehr, ich denke an die noch lebenden Söhne.
Was soll mir das Gutes tun, daß andern Böses geschieht? Bin ich ein
Barbar aus den Zeiten Homers, um zu glauben, daß ich den Schmerz meines
toten Sohnes, seinen Hunger nach Licht lindern könne, wenn ich auf die
Erde, die ihn hinabgeschlungen hat, das Blut anderer Söhne hingieße?
Haben wir noch immer diese Vorstellungen? — Nein! Jeder neue Mord tötet
meinen Sohn noch einmal, läßt auf seinem Gebein den schmutzigen Schlamm
des Verbrechens lasten. Mein Sohn war die Zukunft, und wenn ich ihn
retten will, muß ich die Zukunft retten, muß ich künftigen Vätern den
Schmerz ersparen, der auf mich gefallen ist. Zu Hilfe! Helft mir!
Verwerfen wir diese Lüge! Geht denn der Kampf zwischen den Staaten,
dieses Brigantentum des Weltalls, wirklich um unseretwillen vor sich?
Was tut uns denn wahrhaft not? Die erste Freude, das erste Gesetz, ist
es nicht jenes Lebensgesetz des Menschen, der gleich einem Baum gerade
aufsteigt und sich in dem zugewiesenen Kreis Erde erfüllt, der durch
seinen freien Saft und seine stille Arbeit, sein vielfältiges Leben in
sich und seinen Söhnen sich ruhig entfalten sieht? Wer von uns Brüdern
der Welt ist eifersüchtig auf den anderen, wer will ihm solch gerechtes
Glück nehmen? Was haben wir zu tun mit den Ambitionen und Rivalitäten,
mit der Habgier und den geistigen Krankheiten, mit denen die Schänder
des Wortes den Namen des Vaterlandes bedecken? Das Vaterland sind wir,
die Väter. Das Vaterland sind unsere Söhne. All unsere Söhne. Retten wir
sie!“

                                   §

Ohne irgend jemand zu fragen, überbrachte er diese Seiten, kaum daß er
sie geschrieben hatte, einem kleinen sozialistischen Verleger seines
Viertels. Er kam erleichtert zurück und dachte:

„So, jetzt habe ich gesprochen. Jetzt beschäftigt es mich nicht mehr.“

Aber in der kommenden Nacht belehrte ihn plötzlich ein Stich in der
Brust, daß es ihm mehr als je naheging. Er wachte auf. „Was habe ich
denn getan?“ Er fühlte eine schmerzliche Scham, der Öffentlichkeit
seinen heiligen Schmerz ausgeliefert zu haben. Ohne daran zu denken, daß
seine Worte Zorn erregen könnten, hatte er doch ein Vorgefühl von
Unverständnis, von grobschlächtiger Auslegung, die er als Profanation
empfand.

Die nächsten Tage gingen vorüber. Es geschah nichts. Schweigen. Der
Aufruf war in der allgemeinen Unaufmerksamkeit untergegangen. Der
Verleger gehörte zu den wenig bekannten, die Versendung der Broschüre
war nachlässig geschehen, und es gibt keinen gefährlicheren Tauben als
den, der nicht hören will. Die wenigen Leser, die der Name Clerambault
angezogen hatte, legten nach den ersten Zeilen die unwillkommene Lektüre
zur Seite. Sie dachten: „Der arme Mann, sein Unglück ist im Begriff, ihm
den Kopf ganz zu verdrehen“, was ein guter Vorwand für sie war, das
Gleichgewicht ihres Herzens nicht in Erschütterung zu bringen.

Ein zweiter Artikel folgte. Clerambault nahm darin Abschied von dem
alten, blutigen Götzenbild Vaterland, oder vielmehr, er stellte dem
großen fleischfressenden Untier, dem sich die armen Menschen jener Zeit
als Fraß hinwarfen, der römischen Wölfin, die erhabene Mutter alles
Lebendigen entgegen: das Weltvaterland!

             „A n   d i e   e i n s t   G e l i e b t e !“

„Kein bittererer Schmerz, als Abschied zu nehmen von der, die man einst
geliebt. Sie aus meinem Herzen zu reißen, heißt mein Herz selbst
ausreißen. Du Teure, Du Gute, Du Schöne — ach, hätte man wenigstens den
blinden Vorzug jener leidenschaftlichen Liebhaber, die alles vergessen
können, die ganze Liebe, das ganze Gute und Schöne von einst, um nur das
Böse zu sehen, das man heute von der Geliebten erleidet, und zu
erkennen, wie tief sie gesunken ist! Aber ich kann nicht, ich kann nicht
vergessen. Ich werde Dich immer so sehen, wie ich Dich liebte, als ich
noch an Dich glaubte, als Du mein Leitstern warst und mein bester Freund
— Du, mein Vaterland! Warum hast Du mich verlassen? Warum hast Du uns
verraten? Wäre ich allein mit meinem Leiden, ich verhehlte vielleicht
die traurige Erkenntnis unter meiner hingegangenen Zärtlichkeit. Aber
ich sehe Deine Opfer, die Völker, die jungen gläubigen und begeisterten
Männer (und erkenne unter ihnen den, der ich einst war)... Wie hast Du
uns betrogen! Deine Stimme schien uns die der brüderlichen Liebe, Du
riefst uns zu Dir, um uns zu vereinen. Es sollte keine Einsamen mehr
geben, alle sollten wir Brüder sein! Jedem liehest Du die Kräfte von
tausend anderen, Du ließest uns unseren Himmel, unsere Erde und das Werk
unserer Hände lieben, und wir liebten uns alle, indem wir Dich
liebten..... Wohin hast Du uns jetzt geführt? Waren Deine Absichten,
indem Du uns vereintest, einzig die, uns zahlreicher zu machen für den
Haß und den Mord? Ach, wir hatten ja genug an unserem Einzelhaß. Jeder
hatte sein Bündel von schlechten Gedanken, aber zumindest wußten wir,
wenn wir ihnen nachgaben, daß es schlechte waren. Du aber, Du
Vergifterin der Seele, Du nennst sie heilige...

Wofür diese Kämpfe? Für unsere Freiheit? Du machst ja Sklaven aus uns.
Für unser Gewissen? Das schändest Du ja. Für unser Glück? Das plünderst
Du doch. Für unser Wohlergehen? Unsere Erde ist zerstampft.... Wozu
bedürfen wir neuer Eroberungen, da schon das Feld unserer Väter uns zu
groß wurde: einzig nur für die Habgier von einigen Ausbeutern? Ist es
denn die Aufgabe des Vaterlandes, diese Bäuche mit dem allgemeinen Elend
zu füllen?

Vaterland, das Du Dich den Reichen verkauft hast, den Händlern mit der
Seele und den Körpern der Völker, Vaterland, das Du Mithelferin und
Verbündete geworden bist und ihre Niederträchtigkeit mit Deiner
heroischen Gebärde deckst — hüte Dich! Die Stunde ist gekommen, wo die
Völker ihr Ungeziefer von sich abschütteln, ihre Götter und ihre Herren,
die sie mißbrauchen. Mögen sie unter sich selbst die Schuldigen
verfolgen. Ich gehe geradeaus zum Herrn, dessen Schatten sie alle
bedeckt. Du aber, das Du unbewegt thronst, indes die Massen sich in
Deinem Namen hinschlachten, Du, das sie alle anbeten, indem sie einander
alle hassen, Du, das Du Dich ergötzst, die blutige Brunst der Völker zu
entzünden, Du Weibwesen, beutegierige Gottheit, Du falsche Christin, die
Du über dem Gemetzel schwebst mit kreuzgefalteten Flügeln und
Habichtsklauen — wer wird Dich aus unserem Himmel herabreißen, wer gibt
uns die Sonne und die Liebe unserer Brüder zurück?...

Ich bin allein. Ich habe nichts als meine Stimme, die ein Hauch
auslöschen kann, aber ehe sie hinschwindet, schreie ich auf:

Du wirst fallen, Tyrann, Du wirst fallen! Die Menschheit will leben. Die
Zeit wird kommen, wo der Mensch Dein lügnerisches Joch zerbrechen wird.
Die Zeit kommt. Die Zeit ist da.“

          „D i e   A n t w o r t   d e r   G e l i e b t e n“

„Dein Wort, mein Sohn, ist wie der Stein, den ein Kind gegen den Himmel
wirft. Es erreicht mich nicht, es fällt auf Dich selbst zurück. Die Du
schmähst und die meinen Namen fälschlich angenommen, ist ein Götzenbild,
das Du Dir selbst geformt hast. Nach Deinem Bilde ist es geschaffen,
nicht nach dem meinen. Das wahre Vaterland ist das des Allvaters,
gemeinsam alle umfangend, und es ist nicht seine Schuld, wenn Ihr es
klein macht nach Eurem eigenen Wuchs.... Ihr Unglücklichen, Ihr
beschmutzt alle Eure Götter, es gibt nicht eine große Idee, die Ihr
nicht erniedrigt. Das Gute, das man Euch erweisen will, verwandelt Ihr
in Gift, das Licht, mit dem man Euch überschüttet, dient, Euch zu
verbrennen. Ich war zu Euch gekommen, um Eure Einsamkeit zu erwärmen,
ich habe Eure fröstelnden Seelen zu Herden vereinigt, aus Eurer
zerstreuten Schwäche ein Bündel geformt. Denn ich bin die brüderliche
Liebe, die große Bindung. Und gerade meinen Namen, o Tolle, habt ihr
gewählt als Vorwand, um Euch zu vernichten.

Seit Jahrhunderten bemühe ich mich, Euch von den Ketten der Roheit zu
befreien, Euch aus Eurer harten Selbstigkeit herauszutreiben. Keuchend
schreitet Ihr vorwärts auf der Straße der Zeit. Die Provinzen und die
Nationen sind die tausendjährigen Grenzen, die bisher als Rastpunkt
Eurer Erschöpfung gesteckt waren. Eure Hinfälligkeit allein hat sie
aufgerichtet. Um Euch weiter zu führen, muß ich warten, bis Ihr wieder
Atem geholt habt.... Aber Ihr seid so schwach an Atem und am Herzen, daß
Ihr aus Eurer Unfähigkeit eine Tugend macht. Ihr bewundert Eure Helden
um der Grenze willen, vor denen sie erschöpft halt machen mußten, und
nicht deshalb, weil sie sie als erste erreichten. Ihr aber, die Ihr
mühelos dorthin gekommen seid, wo jene heldischen Vorläufer hingesunken
sind, glaubt nun, selbst schon Helden zu sein.... Was habe ich mit Euren
Schatten der Vergangenheit heute noch zu schaffen? Das Heldentum, dessen
ich bedarf, ist nicht mehr das eines Bayard, einer Jeanne d’Arc, der
Ritter und Märtyrer einer längst überwundenen Sache. Ich fordere Apostel
der Zukunft, große Herzen, die sich für ein größeres Vaterland, für ein
höheres Ideal aufopfern. Vorwärts! Überschreitet die Grenzen! Da Ihr
aber noch Krücken braucht für Eure Schwäche, so rückt die Grenzen
wenigstens weiter hinaus, an die Tür des Abendlandes, an das Ende
Europas, bis Ihr Schritt um Schritt zum Ziel kommt, und die ganze
Menschheit Hand in Hand rings den Erdball umschlingt.

Du erbärmlicher Schreiber, der Du Schmähreden gegen mich richtest,
steige in Dein Selbst hinab und prüfe Dich selbst! Ich habe Dir die
Macht des Wortes gegeben, daß Du die Männer Deines Volkes führest, und
Du hast sie benützt, um Dich selbst zu betrügen und sie zu verwirren. Du
hast die, die Du retten solltest, tiefer in ihren Irrtum hinabgestoßen,
Du hattest den traurigen Mut, Deiner Lüge jenen hinzuopfern, den Du
liebtest — Deinen Sohn. Wirst Du wenigstens jetzt, Du arme Ruine,
wagen, Dich den anderen als Schaubild hinzustellen und zu sagen: „Da,
sehet mein Werk, ahmt es nicht nach!“ Geh hin, und möge Dein Unglück
andere, die später kommen, vor gleichem Schicksal beschützen! Wage es zu
sprechen, schreie ihnen zu: Völker, ihr seid toll, ihr tötet das
Vaterland, indes ihr glaubt, es zu verteidigen. Das Vaterland seid ihr,
ihr alle, eure Feinde sind eure Brüder! Umarmt euch, ihr Millionen
Lebendiger.“

                                   §

Das gleiche Schweigen schien auch diesen neuen Schrei hinabzuschlucken.

Clerambault lebte außerhalb jener niederen Volkskreise, wo die warme
Sympathie der schlichten und gesunden Herzen ihm gewiß nicht gefehlt
hätte. So aber bemerkte er nichts von irgendeinem Echo seiner Ideen.

Aber obwohl er sich allein sah, wußte er doch, daß er es nicht war. Zwei
verschiedene Gefühle, die einen Gegensatz zu bilden schienen — seine
Bescheidenheit und sein Glaube — vereinten sich, um ihm zu sagen: „Was
du denkst, denken auch andere, deine Wahrheit ist zu groß, und du bist
zu klein, als daß sie nur in dir allein existieren könnte. Das, was du
mit deinen schlechten Augen hast wahrnehmen können, dieses Licht
strahlt, so wie zu dir, auch in andere Augen. In diesem Augenblicke
neigt sich der Große Bär zum Horizont, tausend Blicke schauen vielleicht
zu ihm auf, du siehst nicht diese Blicke, aber das ferne Licht vereint
sie mit dem deinen.“

Die Einsamkeit des Geistes ist nur eine Illusion, eine bittere und
schmerzhafte, aber eine, der keine tiefe Wirklichkeit entspricht. Selbst
die Losgelöstesten von uns gehören doch alle zu einer sittlichen
Familie, und diese Gemeinschaft der Geister ist nicht innerhalb eines
Landes oder einer Zeit, sondern ihre Elemente sind verstreut durch die
Völker und Jahrhunderte. Für einen konservativen Geist sind sie in der
Vergangenheit, die Revolutionäre und die Verfolgten finden sie in der
Zukunft. Zukunft und Vergangenheit sind nicht weniger wirklich als die
augenblickliche Gegenwart, deren Mauer die zufriedenen Blicke der großen
Menge einengt. Und selbst die Gegenwart ist nicht so, wie es die
willkürlichen Abgrenzungen der Staaten, Nationen und Religionen glauben
machen möchten. Die gegenwärtige Menschheit stellt einen Jahrmarkt von
Gedanken dar. Ohne sie voneinander zu scheiden, hat man sie in Haufen
aufgeschichtet, die rasch aufgerichtete Regale voneinander trennen: so
sind oft Brüder von den Brüdern geschieden und unter Fremde geschichtet.
Jeder Staat umschließt ganz verschiedene Rassen, die keineswegs geartet
sind, gemeinsam zu denken und zu handeln, und jede der ideellen Familien
oder Schwägerschaften, die man Vaterland nennt, umschließt Naturen, die
in Wirklichkeit zu ganz anderen Familiengruppen der Gegenwart, der
Vergangenheit oder der Zukunft gehören. Da die Staaten sie nicht
aufsaugen können, so unterdrücken sie sie, und sie können sich der
Vernichtung nur durch allerlei Schleichwege entziehen — entweder durch
scheinbare Unterwerfung und innere Auflehnung, oder durch die Flucht,
indem sie freiwillige Emigranten werden — „Heimatslose“. Wirft man
ihnen vor, daß sie dem Vaterland unbotmäßig seien, so ist das ebenso
unberechtigt, als wollte man den Irländern oder Polen vorwerfen, daß sie
sich der Aufsaugung durch England oder Preußen zu entziehen suchen. Hier
wie dort bleiben diese Menschen ihren wahren Vaterländern treu.

Oh, ihr, die ihr vorgebt, dieser Krieg habe die Aufgabe, jedem Volke das
Selbstbestimmungsrecht zu geben, wann werdet ihr dies Recht der über die
Welt hin verstreuten Republik der freien Seelen geben?

Diese Republik fühlte Clerambault in all seiner Einsamkeit als eine
Wirklichkeit. Wie das Rom des Sartorius lebte sie in ihm. Und ganz in
all jenen einander Unbekannten, für die sie das wahre Vaterland ist.

                                   §

Plötzlich fiel die Mauer von Schweigen, die das Wort Clerambaults
umschloß. Aber es war nicht die Stimme eines Bruders, die der seinen
Antwort gab. Wo die Kraft der Sympathie zu schwach gewesen war, um die
Schranken zu zerbrechen, hatten die Dummheit und der Haß blindlings eine
Bresche geschlagen.

Schon glaubte sich Clerambault nach einigen Wochen vergessen und dachte
an eine neue Veröffentlichung, als eines Morgens Leo Camus mit Getöse
bei ihm eintrat. Er krümmte sich vor Zorn. Mit tragisch erhobener Stirne
reichte er Clerambault eine aufgefaltete Zeitung hin.

„Lies!“

Und während Clerambault las, sagte er, hinter ihm stehend:

„Was hat diese Niedertracht zu bedeuten?“

Clerambault sah ganz niedergeschmettert sich von einer Hand gemeuchelt,
die er für eine Freundeshand hielt. Ein bekannter Schriftsteller, zu dem
er in guter persönlicher Beziehung stand, ein Kollege Perrotins, ein
ernster ehrenwerter Mensch, hatte, ohne zu zögern, die Rolle übernommen,
ihn in der Öffentlichkeit zu denunzieren. Obwohl er Clerambault lange
genug kannte, um an der Reinheit seiner Absichten nicht zweifeln zu
können, stellte er ihn doch in einer entehrenden Weise vor die
Öffentlichkeit. Als Historiker darin geübt, mit Texten umzugehen, hatte
er aus der Broschüre Clerambaults einige verstümmelte Sätze herausgelöst
und schwenkte sie empor wie einen Beweis von Verrat. Seine tugendhafte
Erbitterung hatte sich nicht mit einem privaten Brief begnügt, gerade
die lärmendste Tageszeitung, das niedrigste Erpresserblatt hatte sie
sich ausgesucht, das eine Million Franzosen verachtet, während sie
gleichzeitig seine Aufschneidereien mit offenen Mäulern einschluckt.

„Das ist nicht möglich“, stammelte Clerambault, den diese unerwartete
Gehässigkeit wehrlos überfiel.

„Da ist kein Augenblick zu verlieren“, sagte Camus, „du mußt antworten.“

„Antworten? Was denn?“

„Zuerst natürlich diese niederträchtige Erfindung dementieren.“

„Aber das ist doch keine Erfindung“, sagte Clerambault, der den Kopf
gehoben hatte und Camus ansah.

Nun war es an Camus, wie vom Donner gerührt zu sein.

„Das ist keine...? Das ist keine...?“ stammelte er vor Überraschung.

„Die Broschüre ist von mir“, sagte Clerambault, „aber ihr Sinn ist durch
den Artikel entstellt...“

Camus hatte das Ende des Satzes nicht abgewartet, er brüllte los:

„Du hast so etwas geschrieben, du, du,...“

Clerambault versuchte seinen Schwager zu beruhigen, bat ihn, doch nicht
zu urteilen, ehe er alle Einzelheiten wüßte. Aber der andere behandelte
ihn hartnäckig wie einen Wahnsinnigen und schrie:

„Ich kümmere mich nicht um das alles. Hast du gegen den Krieg, gegen das
Vaterland geschrieben oder nicht?“

„Ich habe geschrieben, daß der Krieg ein Verbrechen ist, und daß alle
Vaterländer sich damit beschmutzt haben.“

Camus fuhr auf, ohne Clerambault die Möglichkeit zu geben, sich weiter
zu erklären, machte eine Bewegung, als ob er ihn am Halse fassen wollte,
hielt sich aber zurück und schleuderte ihm ins Gesicht, daß e r der
Verbrecher sei, und daß er verdiente, sofort vor das Kriegsgericht zu
kommen.

Auf sein Geschrei hin begann das Mädchen an der Tür zu horchen, Madame
Clerambault lief herbei, versuchte mit einem Strom von Worten über sein
aufgebrachtes Wesen ihren Bruder zu beruhigen. Clerambault, ganz
betäubt, bot vergebens Camus an, ihm die beschuldigte Broschüre
vorzulesen, aber Camus verweigerte es mit einem Zornesausbruch und
sagte, ihm genüge schon, das von diesem Dreck zu kennen, was die
Zeitungen davon gebracht hatten. (Er nannte die Zeitungen Lügner,
bestätigte aber ihre Lügen.) Schließlich trat er als Richter auf,
forderte Clerambault auf, unverzüglich und in seiner Gegenwart eine
briefliche öffentliche Abschwörung zu schreiben. Clerambault zuckte die
Achseln und sagte, er sei niemandem Rechenschaft schuldig als seinem
Gewissen, er sei frei.

„Nein!“ schrie Camus.

„Wie? Ich bin nicht frei, ich habe nicht das Recht zu sagen, was ich
denke?“

„Nein, du bist nicht frei! Nein, du hast nicht dieses Recht“, schrie
Camus ganz außer sich. „Du hast Rücksichten zu nehmen auf das Vaterland
und vor allem auf deine Familie. Sie hätte das Recht, dich einsperren zu
lassen.“ Er verlangte, daß der Brief sofort geschrieben würde,
augenblicklich! Clerambault wandte ihm den Rücken. Camus ging weg,
schlug die Tür zu und schrie, er würde nie mehr den Fuß hierher setzen,
zwischen ihnen sei alles zu Ende.

Nachher mußte Clerambault noch die Fragen seiner in Tränen aufgelösten
Frau über sich ergehen lassen, die, ohne zu wissen, was er getan hatte,
seine Unvorsichtigkeit beklagte und ihn fragte, warum in aller Welt er
denn nicht schweige. Hätten sie denn noch nicht Unglück genug, wozu
dieses Bedürfnis zu reden und vor allem diese unsinnige Sucht, anders
reden zu wollen als die anderen.

Rosine kam von einer Besorgung zurück. Clerambault nahm sie zum Zeugen,
erzählte ihr wirr die peinliche Szene, die sich eben abgespielt hatte,
bat sie, sich an seinen Tisch zu setzen, damit er ihr den Artikel
vorlesen könne. Ohne sich die Zeit zu nehmen, die Handschuhe auszuziehen
oder den Hut abzulegen, setzte sich Rosine zu ihrem Vater, hörte still
und klug zu. Als er geendigt hatte, stand sie auf, umarmte ihn und
sagte:

„Ja, das ist schön!... Aber, Papa, wozu hast du das getan?“

Clerambault war ganz verstört.

„Wie? Wie? Wozu ich das getan habe? Ist es denn nicht richtig?“

„Ich weiß nicht, ja, ich glaube... es muß wohl richtig sein, da du es
sagst.... Aber vielleicht war es nicht nötig, es zu schreiben.“

„Nicht nötig? Wenn es richtig ist, so ist es auch nötig.“

„Aber es macht ja einen solchen Lärm.“

„Ist das ein Grund dagegen?“

„Aber wozu die Leute aufreizen?“

„Sieh, Kind, du glaubst doch auch, was ich geschrieben habe?“

„Ja, ich glaube, Papa...“

„Warte. Du glaubst... Du verabscheust den Krieg; wie ich, möchtest du
ihn beendet sehen. Alles, was ich hier gesagt habe, habe ich dir schon
früher gesagt, und du dachtest genau so wie ich....“

„Ja, Papa.“

„Also du findest es richtig?“

„Ja, Papa.“

Sie legte ihre Arme um seinen Hals.

„Aber es ist doch nicht notwendig, alles niederzuschreiben.“

Clerambault versuchte, traurig, ihr zu erklären, was ihm ganz klar
schien. Rosine hörte zu und gab ruhig Antwort. Aber das einzig Klare
war, daß sie nichts verstand. Um ein Ende zu machen, umarmte sie
nochmals ihren Vater und sagte:

„Ich habe dir meine Ansicht gesagt, aber du weißt das ja besser als ich.
Es steht mir nicht zu, darüber zu entscheiden.“

Sie lächelte ihrem Vater zu und kehrte in ihr Zimmer zurück, ohne zu
ahnen, daß sie ihm seine beste Stütze genommen hatte.

                                   §

Der beschimpfende Angriff blieb nicht vereinzelt. Sobald einmal die
Schellen gelöst waren, hörten sie nicht mehr auf zu klingeln. Nur hätte
sich in der allgemeinen Verwirrung ihr Lärm verloren ohne die erbitterte
Anstrengung einer Stimme, die gegen Clerambault den ganzen Chor
vielfältigster Bösartigkeit dirigierte.

Es war die eines seiner ältesten Freunde, des Schriftstellers Octave
Bertin. Sie waren zusammen im Lyzeum Henri _IV._ Schüler gewesen. Dort
hatte der junge, feine, elegante, frühreife Pariser Bertin das linkische
und enthusiastische Entgegenkommen dieses großen Burschen gern
angenommen, der aus der Provinz kam, geistig ebenso unbeholfen wie
körperlich (seine Arme und Beine schienen in den zu kurz gewordenen
Kleidern kein Ende nehmen zu wollen), und der ein ganz seltsames Gemisch
von Unschuld, naiver Unwissenheit, schlechtem Geschmack, von Pathos und
überschäumender Kraft, von originellen Einfällen und packenden Bildern
darstellte. Weder die Lächerlichkeiten noch der innere Reichtum
Clerambaults waren den klugen und scharfen Augen Bertins entgangen, und
er hatte ihn schließlich als intimen Freund aufgenommen, wobei die
Bewunderung Clerambaults für ihn keinen geringen Einfluß auf diesen
seinen Entschluß hatte. Durch mehrere Jahre hatten sie im geschwätzigen
Überschwang ihre jugendlichen Gedanken geteilt. Beide träumten davon,
Künstler zu werden, lasen einander ihre Versuche vor und bekämpften
einander in endlosen Diskussionen. Bertin behielt immer das letzte Wort,
wie er ja in allem die Überlegenheit behielt, die übrigens Clerambault
ihm zu bestreiten niemals die Absicht hatte. Er hätte sie viel eher mit
Faustschlägen jedem aufgezwungen, der sie geleugnet hätte. Mit offenem
Munde bestaunte er die gedankliche und stilistische Virtuosität dieses
blendenden jungen Mannes, der gleichsam im Spiel auf der Universität
alle Erfolge davontrug, und den seine Lehrer von vornherein zu den
höchsten Stellungen berufen sahen — womit sie natürlich meinten, zu
allen offiziellen und akademischen. Auch Bertin verstand es so. Er hatte
Eile emporzukommen und dachte, daß die Frucht des Ruhmes am besten
schmecke, wenn man sie mit den Zähnen eines Zwanzigjährigen zerbeiße.
Noch ehe er die Schule verlassen hatte, fand er eine Möglichkeit, in
einer großen Pariser Revue eine Serie von Essays zu veröffentlichen, die
sofort seinen Namen bekannt machten, und ohne nur Atem zu schöpfen,
brachte er dann Schlag auf Schlag einen Roman in der Art d’Annunzios,
eine Komödie im Stile Rostands, ein Buch über die Liebe, ein anderes
über die Reform der Gesetzgebung, eine Enquete über den Modernismus,
eine Monographie Sarah Bernhardts und schließlich jene „Dialoge der
Lebendigen“ heraus, deren sarkastische und klug abgewogene
Geschmeidigkeit ihm die Pariser Chronik in einem der ersten
Boulevardblätter verschaffte. Nun einmal in den Journalismus
eingetreten, blieb er darin. Er gehörte schon zu den Sternen des
literarischen _Tout Paris_, als der Name Clerambaults noch unbekannt
war. Clerambault dagegen nahm erst ganz langsam von seiner inneren Welt
Besitz. Er hatte zuviel damit zu tun, gegen sich selbst zu kämpfen, als
daß er viel Zeit auf die Eroberung der Öffentlichkeit hätte verwenden
können. So kamen auch seine ersten Bücher, die er mit Not hatte zum
Druck bringen können, kaum über einen Kreis von zehn Lesern hinaus. Man
muß Bertin die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er zu diesen Zehn
gehörte, daß er das Talent Clerambaults zu schätzen wußte und dies sogar
gelegentlich aussprach. Und solange Clerambault noch unbekannt war,
leistete er sich den Luxus, ihn zu verteidigen, allerdings nicht ohne
dem Lob einige freundschaftliche Ratschläge von oben herab beizufügen,
die Clerambault nicht immer befolgte, aber immer mit dem gleichen
zärtlichen Respekt anhörte.

Dann wurde Clerambault bekannt, schließlich sogar berühmt. Bertin war
darüber sehr erstaunt, eigentlich aufrichtig zufrieden mit dem Erfolg
seines Freundes und doch darüber ein wenig verärgert. Er ließ
durchblicken, daß er ihn übertrieben fände, daß für ihn der beste
Clerambault der unbekannte war — jener vor dem Ruhm. Er versuchte es
manchmal, dies Clerambault zu erklären, der nicht nein und nicht ja
sagte, denn er wußte nichts darüber und befaßte sich damit kaum, er
hatte immer nur ein neues Werk im Kopfe. Die beiden alten Kameraden
waren in ausgezeichneten Beziehungen verblieben, aber sie waren
allmählich mehr voneinander abgerückt.

Der Krieg hatte aus Bertin einen wilden Scharfmacher gemacht. Früher im
Lyzeum hatte er den provinzlerischen Clerambault immer erschreckt durch
seine freche Respektlosigkeit gegen alle politischen oder
gesellschaftlichen Werte, gegen Vaterland, Moral und Religion, und hatte
auch dann in seinen literarischen Werken diesen Anarchismus wohlgefällig
zur Schau getragen, allerdings in einer skeptischen, mondänen und matten
Form, mit der er ja dem Geschmacke seines reichen Leserkreises am besten
entsprach. Mit diesem Leserkreis und dessen Lieferanten, den Kollegen
von der Boulevardpresse und den Boulevardtheatern, diesen Enkelchen
eines Parny und des jüngeren Crébillon, richtete er sich plötzlich als
Brutus auf, der bereit ist, seine Söhne zu opfern. Er hatte vielleicht
dafür die Entschuldigung, daß er keine besaß, aber das tat ihm
möglicherweise leid.

Clerambault hatte ihm nichts vorzuwerfen und dachte auch nicht daran.
Aber noch weniger dachte er daran, daß sein alter Kamerad, der
Amoralist, ihm gegenüber den Anwalt des beleidigten Vaterlandes spielen
würde; war er aber wirklich nur der des Vaterlandes? Die zornerbitterte
Schmähschrift, die Bertin Clerambault entgegenschleuderte, schien ihm
irgendwie einen persönlichen Haß zu enthüllen, den Clerambault sich
nicht erklären konnte. Bei der allgemeinen Verwirrung der Geister wäre
es verständlich gewesen, daß Bertin von den Gedanken Clerambaults empört
gewesen und sich dann offen unter vier Augen mit ihm auseinandergesetzt
hätte. Aber ohne ihn vorher zu verständigen, begann er mit einer
öffentlichen Abschlachtung. Auf der ersten Seite seines Blattes fiel er
ihn mit einer unerhörten Heftigkeit an und beschimpfte nicht nur seine
Ideen, sondern auch seinen Charakter. Die tragische Gewissenskrise
Clerambaults deutete er als einen Anfall literarischer Großmannssucht,
die durch den übermäßigen Erfolg seiner Werke verursacht sei, und es
machte den Eindruck, als hätte er eigens die Ausdrücke gesucht, die für
Clerambaults Selbstgefühl am verletzendsten sein mußten. Der Aufsatz
endete in einem Ton beleidigender Überhebung und forderte die sofortige
Zurücknahme des Irrtums.

Die Vehemenz des Artikels, der bekannte Name des Chronisten machten
sofort aus dem „Fall Clerambault“ ein Pariser Ereignis. Er beschäftigte
die Presse beinahe eine ganze Woche, was für jene Spatzenhirne viel
bedeutet. Fast niemand nahm sich die Mühe, die Texte Clerambaults selbst
zu lesen: das war ja nicht nötig, Bertin hatte sie ja gelesen. Die
Kollegenschaft hat nicht die Gewohnheit, eine überflüssige Arbeit noch
einmal zu machen, es handelte sich auch nicht darum, zu lesen, es
handelte sich darum, jemand zu richten. Eine seltsame Art von
Burgfrieden kam auf Kosten Clerambaults zustande. Klerikale, Jakobiner
waren darin einig, ihn tot zu machen. Von einem Tag zum andern war ohne
Übergang der gestern bewunderte Mann in den Schlamm gezogen, der
nationale Dichter ein Feind der Gemeinschaft geworden. Alle die
Myrmidonen der Zeitung beteiligten sich an der heroischen Beschimpfung
und die meisten brachten gleichzeitig mit ihrer ursprünglichen bösen
Absicht auch eine ganz unwahrscheinliche Unbildung zutage. Denn nur
wenige von ihnen kannten die Werke Clerambaults, kaum wußten sie seinen
Namen und den Titel eines seiner Bücher, aber das hinderte sie
ebensowenig, ihn heute herunterzureißen, wie es sie gestern gestört
hatte, ihn in den Himmel zu heben, als er noch in Mode war. Jetzt fanden
sie in allem, was er geschrieben hatte, Spuren von „Bochismus“. Ihre
Zitate waren übrigens regelmäßig ungenau, einer von ihnen bedachte sogar
Clerambault im Feuer seiner Anklage mit der Autorschaft des Werkes eines
andern, der dann, bleich vor Furcht, sofort mit Entrüstungsprotesten
jede Solidarität mit dem gefährlichen Kollegen öffentlich ablehnte.
Clerambaults Freunde, beunruhigt über ihre Intimität mit ihm, warteten
nicht darauf, daß man sie ihnen vorwarf. Sie trafen ihre Vorkehrungen
und richteten an ihn „offene Briefe“, die die Zeitungen an bester Stelle
veröffentlichten. Die einen, wie Bertin, fügten ihrem öffentlichen Tadel
eine pathetische Beschwörung bei, _mea culpa_ zu machen, andere wandten
sich, selbst ohne diesen milden Vorbehalt, in bitteren und beleidigenden
Worten von ihm ab. Diese Fülle von Gehässigkeit machte Clerambault ganz
wirr. Sie konnte doch nicht durch seine Aufsätze allein verursacht sein,
sie mußte doch längst schon in den Herzen dieser Menschen gebrütet
haben. Mein Gott, soviel verborgener Haß.... Was hatte er ihnen denn
getan?... Der erfolgreiche Künstler ahnt nicht, daß mehr als einer unter
denen, die ihm mit einem freundlichen Lächeln folgen, unter diesem
Lächeln die Zähne verbirgt, die nur auf die Stunde warten, da sie
zuschnappen können.

Clerambault bemühte sich, vor seiner Frau die Beschimpfungen der
Zeitungen verborgen zu halten. Wie ein Schulbub, der seine schlechten
Noten verschwinden läßt, lauerte er auf den Postboten, um die bösartigen
Zeitungen rechtzeitig beiseite zu schaffen. Aber ihr Gift drang
schließlich bis in die Luft, die sie atmeten. Frau Clerambault und
Rosine bekamen in der Gesellschaft verletzende Anspielungen, kleine
Beleidigungen und Beschimpfungen zu hören. Mit dem eingebornen Instinkt
für Gerechtigkeit, der für das menschliche Wesen und besonders für die
Frau so charakteristisch ist, machte man sie verantwortlich für die
Ideen Clerambaults, die sie kaum kannten und nicht guthießen.
(Diejenigen, die sie beschuldigten, kannten sie allerdings ebensowenig.)
Die Höflichsten unter ihnen übten die Technik des Verschweigens, sie
vermieden es sichtlich, nach Clerambault zu fragen oder seinen Namen
auch nur auszusprechen.... „Man spricht nicht vom Strick des Henkers im
Hause des Gehenkten.“ Dieses berechnete Schweigen wirkte dann noch
beleidigender als ein Tadel: es war, als ob Clerambault eine
betrügerische Schwindelei oder ein Sittlichkeitsverbrechen begangen
hätte. Frau Clerambault kam erbittert heim. Rosine tat so, als kümmerte
sie sich nicht darum, aber Clerambault merkte, daß sie daran litt. Eine
Freundin, die ihnen auf der Straße begegnete, ging auf das andere
Trottoir hinüber und wandte den Kopf weg, um nicht grüßen zu müssen.
Rosine wurde aus einem Wohltätigkeitskomitee ausgeschlossen, wo sie seit
mehreren Jahren aufopferungsvolle Arbeit tat.

In dieser allgemeinen patriotischen Mißbilligung zeichneten sich vor
allem die Frauen durch ihre Erbitterung aus. Nirgends fand der Ruf
Clerambaults zur Annäherung und Versöhnung wütendere Gegner. Und so war
es überall. Die Tyrannei der öffentlichen Meinung, diese vom modernen
Staat geschaffene Unterdrückungsmaschine, die noch despotischer ist als
er selbst, hat während des Krieges keinen grausameren Handlanger
gefunden als gewisse Frauen. Bertrand Russel erzählte den Fall eines
armen Kerls, eines Straßenbahnschaffners, der, verheiratet,
Familienvater und vom Heere zurückgestellt, sich aus Verzweiflung über
die Beschimpfungen, mit denen die Frauen von Middlesex ihn verfolgten,
das Leben nahm. In allen Ländern sind tausende Unglückliche wie er von
diesen Bacchantinnen des Krieges gehetzt, verrückt gemacht und an die
Schlachtbank geliefert worden.... Seien wir darüber nicht überrascht. Um
diese fanatische Wildheit nicht erwartet zu haben, mußte man zu jenen
gehören, die so wie Clerambault bisher im Einklange mit der öffentlichen
Meinung und in der Idealistik des allgemeinen Ruhezustandes gelebt
haben. Trotz aller Anstrengung der Frauen, immer dem lügnerischen Ideal
zu gleichen, das sich der Mann zu seiner Zufriedenheit und seiner
Beruhigung ersonnen hat, ist doch die Frau, mag sie selbst so
bleichsüchtig, verfeinert und veredelt sein wie die von heute, doch noch
mehr dem Urmenschen verwandt als der Mann. Sie lebt näher der Quelle der
Instinkte und ist stärker begabt mit jenen Kräften, die weder moralisch
noch unmoralisch, sondern ganz einfach animalisch sind. Wenn auch die
Liebe ihre wesentliche Funktion ist, so ist es doch keineswegs die durch
die Vernunft sublimierte Liebe, sondern die blinde und überschwengliche
Liebe im Urzustand, wo sich Egoismus und Opfertum vermengen, beide
gleich unbewußt und beide im Dienste der dunkeln Ziele der Rasse. Alle
die zarten und blütenhaften Verzierungen, unter denen dieses Paar jene
Gewalten zu verbergen sucht, vor denen es selbst erschrickt, sind
gleichsam ein Geflecht von Schlingpflanzen über einem Sturzbach. Ihr
Zweck ist, über die Wirklichkeit hinwegzutäuschen. Würden die
schwächlichen Seelen der Menschen geradeaus den ungeheuren Kräften, von
denen sie fortgerissen werden, ins Auge schauen, so könnten sie das
Leben nicht ertragen. Darum bemüht sich ihre erfindungsreiche Feigheit,
sich geistig ihrer Schwäche anzupassen. Sie lügen in ihrer Liebe, sie
lügen im Hasse, lügen in Bezug auf die Frau, lügen in Bezug auf das
Vaterland und seine Götter. Aus Angst, die sichtbar werdende
Wirklichkeit könnte sie aus dem Gleichgewicht bringen und erschüttern,
ersetzen sie sich diese Wirklichkeit durch die matten Farben ihres
Idealismus.

Der Krieg nun hatte diesen schwächlichen Schutzwall hinstürzen lassen.
Clerambault sah, wie das Kleid der katzenhaften Höflichkeit, mit der
sich die Zivilisation umhüllte, zu Boden fiel. Nun wurde das grausame
Tier sichtbar.

Die Nachsichtigsten unter den früheren Freunden Clerambaults waren jene,
die zur politischen Welt gehörten, die Abgeordneten, die Minister von
gestern oder von morgen. Gewohnt, die Menschenherde an der Nase
herumzuführen, wußten jene, wie wenig sie wert ist. Ihnen schien die
kühne Äußerung Clerambaults recht naiv. Sie selbst dachten noch zehnmal
Böseres, fanden es aber töricht, diese Erkenntnis auszusprechen,
gefährlich, sie niederzuschreiben, und am allergefährlichsten, auf sie
zu antworten. Denn was man offen angreift, macht man dadurch bekannt,
und was man verurteilt, dem mißt man doch eine Bedeutung bei. Nach ihrer
Meinung wäre es daher am besten gewesen, klug zu den unbequemen
Schriften zu schweigen, die ja die verschlafene und verdöste öffentliche
Meinung von selbst gar nie bemerkt hätte.

Diese Art Technik war ja während des Krieges in Deutschland von oben aus
anbefohlen und befolgt worden. Dort erstickten die öffentlichen
Machthaber die unbotmäßigen Schriftsteller, wenn sie sie nicht ohne Lärm
erdrosseln konnten, unter Blumengewinden. Aber der politische Geist der
französischen Demokratie ist offener und gleichzeitig beschränkter. Sie
verstehen sich dort nicht auf Schweigen. Statt ihren Haß zu verstecken,
reißen sie ihn auf die Tribüne, um ihn dort in die Welt zu donnern. Die
französische Freiheit ist so, wie Rude sie dargestellt hat: brüllend,
mit aufgerissenem Mund. Wer nicht ganz so denkt wie sie, ist allsogleich
ein Verräter; es findet sich gleich irgendein kleiner Journalist, der
erzählt, um wie viel Geld diese freie Stimme gekauft sei, und zwanzig
Besessene hetzen gegen sie die Tollwut der Maulaffen. Ist dann einmal
der Tanz im Gang, so kann man nichts tun, als warten, bis sich die
Tollheit durch ihr Übermaß erschöpft hat; solange: rette sich, wer kann!
Die Vorsichtigen bringen sich in Sicherheit oder heulen mit den Wölfen.

Der Leiter jener Tageszeitung, die seit einigen Jahren sich eine Ehre
daraus gemacht hatte, die Gedichte Clerambaults zu veröffentlichen, ließ
ihm vertraulich sagen, er fände diesen ganzen Lärm lächerlich, und die
ganze Sache sei kein Hundshaar wert, aber zu seinem großen Bedauern sehe
er sich genötigt, um seiner Abonnenten willen ihm eins zu versetzen...
natürlich in aller Höflichkeit... Selbverständlich in aller Form.... Und
nichts für ungut, nicht wahr? Und wirklich, der Angriff war gar nicht
gewalttätig, er beschränkte sich bloß darauf, Clerambault lächerlich zu
machen. Und selbst Perrotin — wie kläglich ist doch das
Menschengeschlecht! — ironisierte ihn in einem Interview auf
geistreichste Weise, ließ die Leute auf seine Kosten lachen, gedachte
aber dabei heimlich sein Freund zu bleiben.

In seinem eigenen Hause fand Clerambault keine Unterstützung mehr. Seine
alte Gefährtin, die seit dreißig Jahren nur durch ihn dachte und seine
Gedanken wiederholte, ehe sie sie selber verstand, war erschrocken und
zornig über seine neuen Worte, warf ihm bitter vor, diesen Skandal
heraufbeschworen, seinen Namen und den der ganzen Familie ins Unrecht
gesetzt und das Andenken ihres toten Kindes, die Idee der heiligen Rache
und des Vaterlandes geschädigt zu haben. Rosine ihrerseits liebte ihn
noch immer, aber sie verstand ihn nicht mehr. Eine Frau kann selten die
Forderungen des Geistes anerkennen, sie kennt nur die Forderungen des
Herzens. Ihr hatte es genügt, daß ihr Vater sich nicht mit Worten des
Hasses verband, daß er mitleidsvoll und gut blieb, doch wünschte sie
keineswegs, daß er diese Gefühle in Theorien verwandelte, und noch
weniger, daß er sie öffentlich aussprach. Sie hatte den zugleich
zärtlichen und praktischen gesunden Menschenverstand einer, die die
Forderungen des Herzens gewahrt wissen will und sich mit dem Übrigen
abfindet. Aber das unbeugsame logische Bedürfnis, das den Mann treibt,
die äußersten Konsequenzen seines Glaubens zu ziehen, war ihr
unverständlich. Soweit konnte sie nicht mit. Ihre Stunde war vorüber,
die Stunde, wo sie unbewußt die Aufgabe übernommen und erfüllt hatte,
mütterlich ihren schwachen, unsicheren und zerbrochenen Vater
aufzurichten und ihn unter ihrem Flügel zu bergen, sein Gewissen zu
retten und ihm die Fackel wieder in die Hand zu drücken, die er fallen
gelassen hatte. Jetzt, da er sie wieder in Händen trug, war ihre Aufgabe
erfüllt. Sie war wieder das liebende, unscheinbare „kleine Mädchen“
geworden, das die großen Geschehnisse der Zeit mit ein wenig
gleichgültigen Blicken sieht, und nur im Grunde ihrer Seele blieb etwas
zurück von dem feurigen Licht der überirdischen Stunde, die sie gelebt
hatte, die sie fromm bewahrte und deren Sinn sie nicht mehr verstand.

                                   §

Ungefähr um dieselbe Zeit empfing Clerambault den Besuch eines jungen
Urlaubers aus einer befreundeten Familie. Daniel Favre, Sohn eines
Ingenieurs und selbst Ingenieur, dessen lebendige Intelligenz aber nicht
durch seinen Beruf beschränkt wurde, hatte seit langem eine Leidenschaft
für Clerambault gefaßt: der mächtige Aufschwung der modernen
Wissenschaft hatte sein Gebiet seltsam jenem der Dichtung angenähert,
war doch die Technik gewissermaßen selbst das größte der
zeitgenössischen Gedichte geworden. Daniel war ein enthusiastischer
Leser Clerambaults. Sie hatten innige Briefe gewechselt und der junge
Mann, dessen Familie mit der Clerambaults in Beziehungen stand, kam oft
zu ihnen, und vielleicht auch nicht bloß, um dem Dichter zu begegnen.
Die Besuche dieses liebenswerten, etwa dreißigjährigen Menschen, eines
großen, gutgewachsenen Burschen mit festen Zügen, einem scheuen Lächeln,
mit hellen Augen im sonnverbrannten Gesicht, wurden immer freudig
aufgenommen, und Clerambault war nicht der einzige, den sie erfreuten.
Für Daniel wäre es leicht gewesen, sich einen Hinterlandsdienst in
irgendeiner Metallfabrik zu sichern, aber er hatte selbst gefordert,
seinen gefährlichen Posten an der Front nicht verlassen zu müssen, wo er
sich rasch den Leutnantsgrad erworben hatte. Der Urlaub bot ihm
Gelegenheit, Clerambault zu besuchen.

Clerambault war allein, seine Frau und seine Tochter waren ausgegangen.
Freudig empfing er den jungen Freund. Aber Daniel schien befangen, und
nachdem er längere Zeit auf die Fragen Clerambaults recht und schlecht
geantwortet hatte, schnitt er geradewegs die Sache an, die ihm am Herzen
lag. Er sagte, er hätte an der Front von den Artikeln Clerambaults
gehört, und dies hätte ihn verwirrt. Man sagte... oder man behauptete...
schließlich, man sei ja so streng... er wisse ja, daß es ungerecht
sei... aber er sei gekommen — und dabei faßte er die Hand Clerambaults
in einer Art zärtlicher Scheu — um ihn zu bitten, sich nicht von jenen
zu trennen, die ihn liebten. Er erinnerte ihn an die Ehrfurcht, die der
Dichter, der einst die französische Erde und die innere Größe der Rasse
gefeiert hatte, allgemein einflöße.... „Bleiben Sie, bleiben Sie mit uns
in dieser Stunde der Prüfungen....“

„Nie bin ich mehr mit euch gewesen“, antwortete Clerambault. Und er
fragte ihn:

„Sie sagen mir, lieber Freund, daß man das, was ich geschrieben hätte,
verunglimpfe. Was denken Sie selbst davon?“

„Ich habe es nicht gelesen“, sagte Daniel. „Ich wollte es nicht lesen.
Ich hatte Furcht, in meiner Zuneigung für Sie gekränkt oder an der
Erfüllung meiner Pflicht gehindert zu sein.“

„Dann haben Sie wenig Vertrauen zu sich, wenn Sie fürchten, durch das
Lesen von ein paar Zeilen in Ihrer Überzeugung erschüttert zu werden.“

„Ich bin meiner Überzeugung sicher“, antwortete Daniel ein wenig
gereizt, „aber es gibt gewisse Dinge, für die es besser ist, wenn man
sie nicht in die Diskussion zieht.“

„Seltsam“, sagte Clerambault, „das ist ein Wort, das ich mir nicht von
einem Mann der Wissenschaft erwartete. Was hat die Wahrheit dabei zu
verlieren, wenn man sie untersucht?“

„Die Wahrheit nichts, aber die Liebe. Die Liebe zum Vaterland.“

„Mein lieber Daniel, Sie sind viel kühner als ich. Ich stelle die
Wahrheit nicht in einen Gegensatz zur Vaterlandsliebe. Ich versuche nur,
sie in Einklang zu bringen.“

Daniel schnitt kurz ab. „Man diskutiert nicht über das Vaterland.“

„Es ist also“, sagte Clerambault, „ein Glaubensartikel?“

„Ich glaube an keine Religion“, protestierte Daniel, „an keine, und
gerade darum denke ich so. Was bliebe denn noch auf Erden, wenn es nicht
das Vaterland gäbe?“

„Nun, ich denke, es gibt auf der Erde viele gute und schöne Dinge, das
Vaterland ist bloß eines davon. Ich liebe es auch. Und ich stelle auch
nicht die Liebe zum Vaterland in Frage, sondern nur die Art, es zu
lieben.“

„Es gibt nur eine“, sagte Daniel.

„Und die wäre?“

„Ihm gehorchen.“

„Also die Liebe mit geschlossenen Augen, so wie im antiken Symbol. Ich
meinerseits möchte sie ihr lieber öffnen.“

„Nein, lassen Sie uns, wie wir sind! Unsere Aufgabe ist schon ohnehin
hart genug, machen Sie sie uns nicht noch grausamer.“ Und mit einigen
nüchternen, abgehackten, von Erregung bebenden Sätzen stellte Daniel die
furchtbaren Bilder jener Wochen hin, die er eben im Schützengraben
verlebt hatte, den Ekel und den Abscheu vor all dem, was er gelitten
hatte, leiden gesehen und leiden gemacht hatte.

„Aber mein lieber Freund“, sagte Clerambault, „wenn Sie diese
erbärmliche Schande selber sehen, warum sollen wir sie denn nicht
verhindern?“

„Weil es unmöglich ist.“

„Um das zu wissen, käme es erst auf einen Versuch an.“

„Das Gesetz der Natur ist der Kampf der Wesen gegeneinander. Zerstören
oder zerstört werden. So und nur so ist es.“

„Und wird sich das nie ändern?“

„Nein“, sagte Daniel mit einem Ton hartnäckigen Schmerzes, „es ist ein
Gesetz.“

Es gibt Männer der Wissenschaft, denen die Wissenschaft so sehr die
Wirklichkeit, die sie umschließt, verbirgt, daß sie sie unter dem Netz
nicht mehr sehen; sie hat sich ihnen entzogen. Sie umfassen die ganze
von der Wissenschaft umspannte Zone, halten es aber für unmöglich und
sogar lächerlich, dieses Reich über die einmal von der Vernunft gezogene
Grenze hinaus zu erweitern. Sie glauben bloß an einen Fortschritt, der
an die Innenseite der Umfriedung gekettet ist. Clerambault kannte nur zu
gut das spöttische Lächeln, mit dem die großen Gelehrten der offiziellen
Schulen ohne jede nähere Prüfung die Eingebungen der Erfinder ablehnen.
Eine gewisse Art der Wissenschaft ist mit Folgsamkeit vollkommen
vereinbar. Wenigstens verband Daniel mit der seinen keine Ironie,
vielmehr den Ausdruck einer stoischen und unbeirrbaren Traurigkeit. Es
fehlte ihm nicht an geistiger Kühnheit, aber die hatte er einzig in den
abstrakten Dingen. Dem Leben selbst gegenübergestellt, bot er eine
Mischung — oder besser eine Aufeinanderfolge — von Ängstlichkeit und
Starrsinn dar, von zögernder Bescheidenheit und trotziger Überzeugung.
Wie die meisten Menschen war er ein zusammengesetztes, zwiespältiges
Wesen, aus einzelnen Teilen und Stücken bestehend, nur daß bei einem
Intellektuellen und besonders bei einem Mann der Wissenschaft die
einzelnen Stücke nicht ganz ineinanderpassen und daß die Fugen sichtbar
werden.

„Aber“, sagte Clerambault, die Betrachtungen, die in der Stille durch
seinen Sinn gingen, laut zu Ende führend, „selbst die Voraussetzungen
der Wissenschaft sind doch in Umformung begriffen. Seit zwanzig Jahren
durchlaufen die Grundvorstellungen der Chemie und der Physik eine Krise
der Erneuerung, die sie gleichzeitig erschüttert und doch fruchtbar
macht. Und einzig die sogenannten Gesetze, die die menschliche
Gesellschaft oder, besser gesagt, das chronische Räubertum der Nationen
regieren, sollten unveränderlich sein? Habt ihr in eurem Gedankenkreis
keinen Raum für die Hoffnung einer höheren Zukunft?“

„Wir könnten nicht kämpfen“, sagte Daniel, „hätten wir nicht die
Hoffnung, eine gerechtere und menschlichere Weltordnung zu begründen.
Viele meiner Gefährten sind der Überzeugung, dieser Krieg mache allen
Kriegen ein Ende. Ich teile diese Hoffnung nicht, ich verlange nicht so
viel. Ich weiß nur das eine, daß unser Frankreich in Gefahr ist, und daß
seine Niederlage die der ganzen Menschheit wäre.“

„Die Niederlage jedes Volkes ist eine der ganzen Menschheit, denn alle
sind für sie notwendig. Die Vereinigung aller Völker wäre der einzige
wahrhafte Sieg. Jeder andere richtet ebenso die Sieger wie die Besiegten
zugrunde. Jeder Tag, der diesen Krieg verlängert, läßt das kostbare Blut
Frankreichs fließen, und es ist in Gefahr, für immer erschöpft zu
werden.“

Daniel gebot diesen Worten mit einer erregten und schmerzlichen Geste
Einhalt. Ja, das wußte er.... Das wußte er.... Wer wußte es besser als
er, daß Frankreich hinstarb, Tag für Tag, an seiner heroischen
Anstrengung, daß die Blüte seiner Jugend, seiner Kraft, seiner
Intelligenz, das lebendige Mark der Rasse in Sturzbächen hinströmte und
zugleich der Reichtum, die Arbeit und der Kredit des französischen
Volkes.... Frankreich, blutend an allen Gliedern, ging den Weg, den
Spanien vier Jahrhunderte zuvor gegangen war und der zu den Einsamkeiten
des Eskurial führt.... Aber er wollte nicht, daß man ihm von den
Möglichkeiten eines Friedens, der diese Qual beendigte, spräche, ehe der
Feind gänzlich zu Boden geschmettert. Man dürfe nicht auf die Angebote,
die Deutschland damals machte, antworten, nicht einmal, um sie in
Erwägung zu ziehen. Man dürfe nicht einmal sprechen darüber. Und wie die
Politiker, die Generale, die Journalisten und die Millionen armer
Geschöpfe, die tollwütig die Lektion, die man ihnen eingelernt hatte,
wiederholten, schrie auch Daniel: „Bis zum letzten Mann!“

Clerambault sah mit zärtlichem Mitleid diesen wackeren, scheuen und
heldenmütigen Burschen an, der von dem Gedanken erschreckt wurde, das
Dogma in Frage zu ziehen, dessen Opfer er war. Hatte dieser
wissenschaftliche Geist gar keinen Widerstand gegen den Widersinn eines
solchen blutigen Spieles, dessen Einsatz der Tod ebenso für Frankreich
wie für Deutschland — und vielleicht für Frankreich mehr als für
Deutschland — war?

Ja, er wehrte sich dagegen, aber er raffte sich trotzig zusammen, um es
sich nicht einzugestehen. Von neuem beschwor Daniel Clerambault. „Ja,
diese Gedanken mögen vielleicht wahr und gerecht sein, aber nur nicht
jetzt, jetzt sind sie nicht an der Zeit... in zwanzig oder fünfzig
Jahren!... Lassen Sie uns nur zuerst unsere Aufgabe erfüllen, zu siegen
und die Freiheit der Welt, die Brüderlichkeit der Menschen durch den
Sieg Frankreichs begründen.“

Ach, der arme Daniel! Sah er denn nicht selbst im günstigsten Falle die
Überhebung voraus, die verhängnisvoll diesen Sieg beschmutzen würde, und
daß es dann am Besiegten sein würde, den krankhaften Wunsch und Willen
zur Revanche und zum gerechten Sieg für sich zu erneuern? Jede Nation
will das Ende aller Kriege durch ihren eigenen Sieg. Und von Sieg zu
Sieg stürzt die Menschheit tiefer in ihre Niederlage hinab.

Daniel erhob sich, um Abschied zu nehmen. Er drückte Clerambaults Hand
und erinnerte ihn mit Ergriffenheit an seine Gedichte von einst, in
denen er das heroische Wort Beethovens wiederholte, um das schöpferische
Leiden zu feiern, das Wort: „Durch Leiden Freude.“

„Ach! ach! Wie ihr uns mißversteht!... Wir besingen das Leiden, um uns
davon zu befreien, aber ihr begeistert euch dafür. So wird unser Hymnus
der Befreiung für die anderen Menschen ein Sang der Knechtung.“

Clerambault gab keine Antwort. Er liebte diesen jungen Menschen; diese
armen Kerle, die sich aufopfern, wissen wohl, daß sie nichts im Kriege
zu gewinnen haben. Aber je mehr Opfer man von ihnen verlangt, desto
gläubiger werden sie. Mögen sie dafür gesegnet sein!... Aber wenn sie
nur nicht mit sich selbst auch die ganze Menschheit hinopfern wollten!

                                   §

Clerambault hatte Daniel gerade bis zur Wohnungstür geleitet, als Rosine
zurückkam. Als sie den Besucher sah, hatte sie eine Bewegung entzückter
Überraschung. Auch das Antlitz Daniels erhellte sich, und Clerambault
entging nicht die freudige Belebtheit der beiden jungen Leute. Rosine
forderte Daniel auf, noch einmal zurückzukommen und die Unterhaltung
fortzusetzen, Daniel war schon im Begriff es zu tun, zögerte dann,
lehnte ab, sich noch einmal niederzusetzen, und schützte dann mit einem
schmerzlich gespannten Gesichtsausdruck irgendeinen vagen Vorwand vor,
der ihn zwinge fortzugehen. Clerambault, der im Herzen seiner Tochter
las, bestand freundschaftlich darauf, daß er wenigstens noch einmal vor
seinem Urlaubsende wiederkäme. Daniel, in die Enge getrieben, sagte
zuerst nein, dann ja, ohne sich fest zu verpflichten, um dann
schließlich, dem Drängen Clerambaults nachgebend, einen bestimmten Tag
festzusetzen. Dann nahm er in einer etwas kühlen Weise Abschied.
Clerambault kehrte wieder in sein Arbeitszimmer zurück und setzte sich
nieder. Rosine blieb unbeweglich und gedankenverloren mit schmerzlichem
Ausdruck stehen. Clerambault lächelte ihr zu. Sie kam zu ihm und umarmte
ihn.

Der festgesetzte Tag ging vorüber, Daniel kam nicht zu ihnen herauf. Man
wartete noch den nächsten Tag und den übernächsten, aber er war schon an
die Front zurückgegangen. Auf Betreiben Clerambaults machte kurz darauf
seine Frau mit Rosine den Eltern Daniels einen Besuch. Sie wurden von
ihnen mit eisiger und beinahe verletzender Kälte empfangen. Frau
Clerambault erklärte, als sie zurückkam, sie wolle nie mehr in ihrem
Leben diese unerzogenen Leute sehen. Rosine hatte Mühe, ihre Tränen zu
verbergen.

In der Woche darauf kam ein Brief von Daniel an Clerambault. Ein wenig
beschämt über sein Verhalten und das seiner Eltern, versuchte er
weniger, es zu entschuldigen als zu erklären. Er machte eine zarte
Anspielung, er hätte Hoffnung gehabt, einmal Clerambault näher zu stehen
als bloß durch die Bande der Bewunderung, des Respektes und der
Freundschaft. Aber, fuhr er fort, Clerambault hätte seine Zukunftsträume
durch seine bedauerliche Rolle zunichte gemacht, die er glaubte in der
Tragödie auf sich nehmen zu müssen, bei der es um das Leben des
Vaterlandes ginge, und durch den Widerhall, den seine Stimme gefunden
hätte. Seine Worte, die zweifellos falsch verstanden aber sichtlich
unklug gewesen waren, hätten einen frevelhaften Charakter enthüllt, der
die öffentliche Meinung aufgewühlt hätte. Unter den Offizieren der Front
sei ebenso wie bei seinen Freunden im Hinterland die Erbitterung darüber
die gleiche. Seine Eltern, die von jenem Traum des Glückes gewußt
hätten, legten jetzt Protest ein, und so sehr er darunter leide, glaube
er doch nicht das Recht zu haben, die Bedenken beiseite zu stoßen, deren
Quelle ein tiefes Mitleid mit dem gekränkten Vaterland sei. Die
öffentliche Meinung würde es nicht verstehen können, daß ein Offizier,
der die Ehre hatte, sein Blut dem Vaterlande darbieten zu dürfen, an
eine Verbindung denken könne, die man als eine Zustimmung zu so
verderblichen Ideen ausdeuten könne. Freilich, die öffentliche Meinung
hätte zweifellos unrecht, aber man müsse immer mit der öffentlichen
Meinung rechnen. Denn die öffentliche Meinung eines Volkes, selbst wenn
sie scheinbar übertrieben und ungerecht ist, will doch geachtet sein,
und dies gerade sei der Irrtum Clerambaults gewesen, sie herausfordern
zu wollen. Daniel drängte Clerambault noch einmal, seinen Irrtum zu
bekennen und öffentlich abzuschwören, durch neue Aufsätze den
beklagenswerten Eindruck zu verwischen, den die ersten hervorgebracht
hätten. Er stellte es ihm als eine Pflicht dar, eine Pflicht gegen das
Vaterland, eine Pflicht gegen sich selbst, und eine Pflicht — er ließ
es deutlich durchblicken — gegen jene, die ihnen beiden so teuer war.
— Der Brief schloß mit verschiedenen anderen Betrachtungen, in denen
noch zwei- oder dreimal der Name der öffentlichen Meinung wiederkehrte;
sie nahm in seinem Denken den Rang der Vernunft und selbst des Gewissens
ein.

Clerambault erinnerte sich lächelnd an die Szene Spittelers, wo der
König Epimetheus, der Mann der entschlossenen Überzeugung, in der
Stunde, da er sie auf die Probe stellen soll, sie nicht mehr in die Hand
bekommt, sie entwischen sieht, ihr nachsetzt und, um sie zu fassen, sich
bäuchlings auf die Erde wirft und sie unter seinem Bette sucht.
Clerambault erkannte, daß man gleichzeitig ein Held vor dem Feuer des
Feindes und doch ein ganz kleiner Junge vor der öffentlichen Meinung
seiner Mitbürger sein könne.

Er zeigte Rosine den Brief. Und so ungerecht auch die Liebe sonst sein
mag, Rosine war doch in ihrem Herzen durch die Heftigkeit verletzt, die
ihr Freund der Überzeugung ihres Vaters antun wollte. Sie dachte, Daniel
liebe sie nicht genug, und sagte, sie ihrerseits liebe ihn nicht genug,
um solche Forderungen anzunehmen. Selbst wenn Clerambault ihm nachgeben
wolle, so würde sie es nicht erlauben, denn es sei eine Ungerechtigkeit.

Hier umarmte sie ihren Vater, zwang sich, tapfer zu lachen und ihr
grausames Mißgeschick zu vergessen. Aber man vergißt nicht ein
erträumtes Glück, solange noch irgendeine schwache Möglichkeit vorhanden
ist, es wiederzufinden. Sie mußte immer daran denken, und nach einiger
Zeit fühlte Clerambault, wie sie sich von ihm entfernte. Wer die
Verleugnung besitzt, sich aufzuopfern, besitzt nur selten auch jene
andere, dann nicht jenen gram zu sein, für die er sich aufgeopfert hat.
Gegen ihren eigenen Willen zürnte Rosine ihrem Vater um ihr verlornes
Glück.

                                   §

Ein seltsames geistiges Phänomen trat nun bei Clerambault zutage. Er
fühlte sich niedergeschlagen und doch gleichzeitig gefestigt. Er litt
daran, gesprochen zu haben, und fühlte doch, daß er von neuem sprechen
würde. Er gehörte sich selbst nicht mehr. Seine Schriften hielten ihn
fest, seine Schriften übten einen Zwang auf ihn aus: kaum hatte er seine
Gedanken ausgesprochen, so war er schon an sie gebunden. Das aus dem
Herzen entsprungene Werk wirkt wieder auf das Herz zurück. Geboren aus
einer Stunde geistiger Erregung, verlängert und erneuert es sich diese
Stunde im Geiste, der ohne diesen Aufschwung erschöpft in sich
zusammenstürzte. Denn diese Stunde ist Lichtstrahl aus den letzten
Tiefen, ist das Beste des inneren Wesens, das Ewigste und reißt den
tierhaften Teil des irdischen Wesens mit sich fort. Ob er will oder
nicht, schreitet der Mensch, von seinen Werken getragen und gezogen,
weiter, sie leben außerhalb seiner selbst, erneuern in ihm die verlorne
Kraft, erinnern ihn an seine Pflicht, führen ihn und befehlen ihm.
Clerambault hatte die Absicht zu schweigen. Und doch begann er immer
wieder zu sprechen.

Er war sich seiner Schwäche freilich recht bewußt. „Du zitterst,
Kadaver, weil du weißt, wohin ich dich jetzt führe“, pflegte Turenne vor
einer Schlacht zu seinem Leibe zu sagen. Die Leiblichkeit Clerambaults
bot keinen stolzen Anblick. Wenn auch die Schlacht, in die er sie
führte, eine viel unscheinbarere war, so war es doch kein geringerer
Kampf, denn er stand darin allein und ohne Armee. Das Schauspiel, das er
sich selbst in der Nacht vor der Schlacht darbot, war beschämend: er sah
sich selbst nackt, in seiner Mittelmäßigkeit, einen schwachen Menschen,
scheu von Natur, ein wenig feig, einen Menschen, der der anderen
bedurfte, ihrer Liebe, ihrer Zustimmung. Und es war furchtbar schwer,
alle diese Beziehungen mit ihnen zu zerreißen, gesenkten Kopfes gegen
ihren Haß anzurennen.... Würde er stark genug sein, um Widerstand
leisten zu können?... Wieder stürmten die schon verjagten Zweifel
gewaltsam auf ihn ein. Wer zwang ihn denn dazu, zu sprechen? Wer würde
auf ihn hören? Und wozu das alles? Warum hielt er sich nicht an das
Beispiel der Klügeren, die schwiegen?

Und doch fuhr sein entschlossenes Hirn fort, ihm das zu diktieren, was
er schreiben sollte, und die Hand schrieb es nieder, ohne ein Wort zu
mildern. Er bestand gewissermaßen aus zwei Menschen, aus einem, der
hingestreckt lag, Angst hatte und schrie: „Ich will mich nicht
herumschlagen“, und aus einem anderen, der voll Verachtung für den
Feigling ihn am Genick fortschleppte und sagte: „Vorwärts, du wirst
gehen.“

Und doch wäre es zu viel Ehre, wollte man ihm zuerkennen, daß er aus Mut
so handelte. Er handelte so, weil er nicht anders konnte. Selbst wenn er
hätte innehalten wollen, so mußte er doch nach vorwärts und sprechen....
„Es ist deine Mission.“ Clerambault verstand das nicht und fragte sich,
warum gerade er ausersehen worden war, er, der Dichter, der Zärtliche,
geschaffen zu einem stillen, kampflosen, opferlosen Leben, indessen doch
andere, starke, krieggewohnte, kampfgeartete Menschen mit Athletenseelen
da waren, die unbeschäftigt blieben. „Es hat keinen Sinn sich darüber
den Kopf zu zerbrechen. Gehorche! Es ist nun einmal so.“

Und gerade diese Zwiespältigkeit seiner Natur zwang ihn, sobald einmal
eine der beiden Seelen in ihm die Oberhand behalten hatte, sich ihr
restlos hinzugeben. Ein normalerer Mensch hätte die beiden Naturen
verschmolzen oder verbunden, hätte ein Kompromiß gefunden, bei dem die
Anforderungen der einen und die Vorsicht der anderen zu ihrem Recht
gekommen wären. Aber ein Clerambault war immer nur einseitig, dem einen
oder dem anderen unterworfen. Hatte er einmal einen Weg gewählt, so ging
er ihn ganz geradeaus, ob er ihm gefiel oder nicht. Und aus dem gleichen
Grunde, der ihn früher so leichtgläubig für den Glauben der Welt rings
um ihn gemacht hatte, mußte er jetzt rücksichtslos die Lügen, denen er
zum Opfer gefallen war, offenbaren, sobald er sie erkannt hatte. Andere,
die sich anfangs nicht so hemmungslos hatten narren lassen, hätten sie
nie zu enthüllen vermocht.

So begann der Mutige wider seinen eigenen Willen, ein anderer Ödipus,
den Kampf mit der Sphinx des Vaterlandes, die ihn am Kreuzweg erwartete.

                                   §

Der Angriff Bertins lenkte auf Clerambault die Aufmerksamkeit einiger
Politiker der äußersten Linken, die nicht recht wußten, wie sie ihre
Opposition gegen die Regierung (die ja ihre Existenzbedingung war) mit
jener „heiligen Eintracht“ in Einklang bringen sollten, die zu
Kriegsbeginn gegen den feindlichen Einbruch beschlossen war. Sie
druckten die beiden ersten Artikel Clerambaults in einem jener
sozialistischen Blätter nach, deren Gedankengang damals zwischen diesen
Gegensätzen pendelte. Man bekämpfte dort den Krieg und votierte
gleichzeitig Kriegskredite. Begeisterte internationale Bekenntnisse
standen dort dicht neben Mahnreden von Ministern, die eine
nationalistische Politik trieben. In diesem Schaukelspiel hätten die
Seiten Clerambaults mit ihrem vagen Lyrismus, wo der Angriff maßvoll war
und die Kritik der Vaterlandsideen von tiefem Mitleid umhüllt, den ganz
wertlosen Charakter eines platonischen Protests gehabt, wenn nicht die
Zensur darin einzelne Sätze mit der Zähigkeit einer Termite ausgefressen
hätte. Die Spuren ihrer Zähne lenkten aber gerade die Blicke auf das,
was der allgemeinen Unaufmerksamkeit sonst entgangen wäre. So kratzte
die Zensur in dem Aufsatz „An die einst Geliebte“ das Wort Vaterland,
nachdem sie es zum erstenmal in Verbindung mit einem liebenden Anruf
ruhig hatte stehen lassen, bei allen anderen, bedeutend weniger
schmeichelhaften Stellen rücksichtslos heraus. Ihre Dummheit sah nicht,
daß nun das Wort, linkisch vom Lichtschirm bedeckt, nur noch besser im
Geiste des Lesers aufleuchtete. So gelang es ihr, einem Aufsatz, der
eigentlich recht bedeutungslos war, Bedeutung zu verleihen, wobei
allerdings hinzuzurechnen war, daß in dieser Stunde allgemeiner
Passivität das geringste Wort freier Menschlichkeit, insbesondere aber
ein von einem bekannten Namen ausgesprochenes, sofort eine ganz
außerordentliche und weite Wirkung gewann. Der andere Artikel, „Ihr
Toten verzeihet uns“, war oder konnte durch seinen schmerzlichen Akzent
noch gefährlicher für die große Masse der einfachen, vom Krieg
aufgewühlten Seelen sein. So versuchte die bisher gleichgültige Zensur
bei dem ersten Wind, den sie davon bekam, ihn glatt vor der
Öffentlichkeit zu unterdrücken. Geschickt genug, um nicht auf
Clerambault durch eine öffentliche Maßnahme besondere Aufmerksamkeit zu
lenken, verstand sie es, auf das Journal auf Umwegen einzuwirken. Ein
heftiger Widerstand gegen den Schriftsteller zeigte sich plötzlich in
der internen Redaktion der Zeitung selbst. Natürlich warfen sie ihm
nicht den Internationalismus seines Gedankens vor, sondern sie
beschuldigten ihn bourgeoiser Empfindsamkeit.

Dafür bot ihnen nun Clerambault selbst Argumente mit einem dritten
Artikel, in dem sein Widerstand gegen jede Gewalt ebenso die Revolution
wie den Krieg zu verurteilen schien. Die Dichter sind eben immer
schlechte Politiker.

Es war eine erbitterte Antwort auf jenen „Anruf an die Toten“, den
Barrès, die zitternde Nachteule, von einer Friedhofzypresse
herabwimmerte.

            „A n r u f   a n   d i e   L e b e n d i g e n“

„Der Tod beherrscht die Welt. Ihr, die ihr lebendig seid, schüttelt sein
Joch ab! Es genügt ihm nicht, die Völker zu vernichten, er will, daß sie
ihn auch noch verherrlichen, daß sie ihm singend entgegenlaufen, und
ihre Herren verlangen, daß sie ihre eigene Aufopferung verherrlichen.
„Es ist das schönste Los, das beneidenswerteste, das man erlangen
kann!...“ Sie lügen! Es lebe das Leben! Einzig das Leben ist heilig, und
die Liebe zum Leben ist die erste Tugend. Aber die Menschen von heute
besitzen sie nicht mehr. Dieser Krieg beweist — und beweist bei vielen
schon seit fünfzehn Jahren — (gesteht es euch nur ein!) das
Vorhandensein einer wahnwitzigen Hoffnung auf eine solche Katastrophe.
Ihr liebt das Leben nicht, wenn ihr keine bessere Verwendung dafür habt,
als es dem Tod zum Fraß hinzuwerfen. Euer Leben ist euch eine Last,
euch, ihr Reichen, ihr Bürger, ihr Diener der Vergangenheit, ihr
Konservativen, die ihr darüber greint aus Mangel an Appetit, aus
moralischem Übelbefinden, mit euren vor Überdruß schleimigen und sauren
Seelen und Mäulern — und euch, ihr Proletarier, ihr Armen und
Unglücklichen aus Mutlosigkeit über das Schicksal, das euch zugefallen
ist. In der dumpfen Mittelmäßigkeit eures Lebens, in der
Hoffnungslosigkeit, es jemals zu verwandeln (ihr Kleingläubigen!),
wartet ihr einzig darauf, ihm durch einen Gewaltakt zu entrinnen, der
euch dem Sumpf, zumindest für die Spanne einer Minute, nämlich der
letzten, entreißt. Die Stärksten unter euch, jene, die am besten die
Energie der ursprünglichen Instinkte bewahrt haben, die Anarchisten und
Revolutionäre, appellieren bloß an sich selbst, um diese befreiende Tat
zu erfüllen. Aber die große Volksmasse ist zu müde, um die Initiative zu
ergreifen. Deshalb begrüßt sie mit solcher Gier die mächtige Welle, die
ihre Vaterländer aufrührt: den Krieg! Sie gibt sich ihm mit einer
düsteren Wollust hin. Denn er ist der einzige Augenblick im Leben, wo
diese verschatteten Existenzen sich vom Atem des Unendlichen durchweht
fühlen. Und gerade dieser Augenblick ist der der Vernichtung.

Ah, eine schöne Art, sein Leben anzuwenden.... Es einzig dadurch zu
bejahen, daß man es verneint zugunsten irgendeines menschenfresserischen
Gottes, mag er Vaterland oder Revolution heißen, der zwischen seinen
Kinnladen die Gebeine von Millionen Menschen zerkrachen läßt....

Sterben, Zerstören, was liegt da für ein Ruhm darin! Das einzige
Wichtige wäre, zu leben. Und das versteht ihr nicht. Ihr seid des Lebens
nicht würdig. Nie habt ihr die Segnungen der lebendigen Minute
empfunden, der Freude, die im Lichte tanzt. Oh, ihr hinsterbenden
Seelen, ihr wollt, daß alles mit euch sterbe, kranke Brüder, denen wir
die Hand hinreichen, sie zu retten, und die uns wütend mit sich in den
Abgrund reißen....

Aber nicht mit euch, ihr Unglücklichen, will ich abrechnen, sondern mit
euren Gebietern. Mit euch, den Herren der Stunde, unsern geistigen
Gebietern, den politischen Machthabern, den Herren des Geldes, des
Eisens, des Blutes und des Gedankens! Mit euch, die ihr diese Staaten in
Händen haltet, die ihr diese Armeen in Bewegung setzt, die ihr mit euren
Zeitungen, Büchern, Schulen und Kirchen diese Generation geformt und aus
diesen freien Seelen Herden gemacht habt. Ihre ganze Erziehung — euer
Werk der Knechtung — die Laienerziehung wie die christliche, lobpreist
gleicherweise mit ungesundem Jubel den nichtigen militärischen Ruhm und
seine Glückseligkeit. Am Ende der Angel hält sowohl die Kirche als auch
der Staat den Tod als Köder hin.

Ihr heuchlerischen Schriftgelehrten und Pharisäer, Schande über euch!
Politiker und Priester, Künstler und Schriftsteller, ihr Chorführer des
Todes, ihr seid innen voll von Totengebein und Verwesung. Ach, ihr seid
so recht die Söhne jener, die Christus getötet haben. Wie jene beschwert
ihr die Schultern der Menschen mit entsetzlichen Lasten, zu denen ihr
selbst nicht den Finger aufhebt. Wie jene, so kreuzigt ihr gerade
solche, die den unglücklichen Völkern helfen wollen, solche, die zu euch
kommen, in den Händen den Frieden, den gesegneten Frieden. Ihr sperrt
sie ein und schmäht sie und jagt sie, so wie es geschrieben steht in der
Schrift, von Stadt zu Stadt, bis daß das ganze vergossene Blut der Erde
in Strömen auf euch zurückfällt.

Ihr Kuppler des Todes, ihr arbeitet nur für ihn! Das Vaterland dient
euch nur dazu, um die Zukunft der Vergangenheit hörig zu machen und die
lebendigen Menschen an die vermoderten Toten zu ketten. Ihr verurteilt
das neue Leben in alle Ewigkeit, einzig die leeren Gebräuche der Gräber
ängstlich zu erfüllen.... Aber laßt uns auferstehen! Lassen wir die
Glocken klingen zum Osterfest der Lebendigen!

Ihr Menschen, es ist nicht wahr, daß ihr die Sklaven der Toten seid und
durch sie wie Hörige an die Erde gebunden. Laßt die Toten ihre Toten
begraben und selbst in die Grube fahren. Ihr aber seid Söhne der
Lebendigen und selbst lebendig! Ihr jungen, gesunden Brüder, zerbrecht
die nervenschwache Müdigkeit eurer Seelen, die sich den vergangenen
Vaterländern verschrieben haben und die nur manchmal in plötzlichen
Krämpfen der Raserei sich aufraffen. Werdet selbst die Herren der
Stunde, die Herren der Vergangenheit, Väter und Söhne eurer Werke! Seid
frei! Jeder von euch ist Mensch — nicht der verweste Leib der in den
Gräbern stinkend Vermoderten, sondern das knisternde Feuer des Lebens,
das die Verwesung tilgt, das die Leichen der vergangenen Jahrhunderte
zerstört, das immer neue junge Feuer, das die Erde mit seinen brennenden
Armen umschlingt. Seid frei! Ihr Eroberer der Bastille, ihr habt noch
nicht jene andere erobert, die in euch selbst ist, das falsche
Schicksal, das seit Jahrhunderten alle jene zu eurer Niederhaltung
gebaut haben, die — entweder Sklaven oder Tyrannen (sie sind von der
gleichen Galeere) — Furcht haben, daß ihr euch eurer Freiheit bewußt
würdet. Der wuchtige Schatten der Vergangenheit — Religionen, Rassen,
Vaterländer, die materialistische Wissenschaft — verdeckt eure Sonne.
Geht ihr entgegen! Die Freiheit ist jenseits all jener Wälle und Türme
von Vorurteilen, jener toten Gesetze, jener geheiligten Lügen, die die
Interessen einzelner Auguren, die Meinung der militarisierten Massen und
euere eigenen Zweifel an euch selbst noch behüten. Wagt es, zu wollen!
Und ihr werdet plötzlich hinter der Mauer des trügerischen Schicksals,
kaum daß sie hinstürzt, wieder die Sonne und die unbegrenzte Ferne
sehen.“

                                   §

Statt die revolutionäre Flamme dieses Aufrufes zu erkennen, klammerte
sich das Redaktionskomitee der Zeitung nur an die drei oder vier Zeilen,
in denen Clerambault die Gewalttätigkeiten aus beiden Lagern, von rechts
und links, in denselben Sack zu stecken schien. Woher nahm dieser
Dichter das Anrecht, in einem Parteiblatte den Sozialisten Lektionen
erteilen zu wollen? Im Namen welcher Theorien tat er es? War er denn
überhaupt Sozialist? Ein solcher Bourgeois sollte nur mit diesen
tolstoianischen und anarchistischen Schreibübungen bei der Bourgeoisie
bleiben. Vergebens protestierten einige weitsichtigere Köpfe dagegen und
betonten, jeder freie Gedanke, ob mit, ob ohne politische Etikette,
müsse willkommen geheißen werden, und jener Clerambaults, so wenig er
auch die Parteitheorie kenne, sei in Wahrheit sozialistischer als
mancher der Sozialisten, die sich der nationalen Schlächterei beigesellt
hätten. Dennoch ging man glatt darüber hinweg, und der Artikel wurde,
nachdem er ein paar Wochen in einer Schublade geschlafen hatte,
Clerambault zurückgegeben unter dem Vorwand, sie hätten zuviel aktuelle
Aufsätze und zu wenig Raum.

Clerambault brachte den Artikel einer kleinen Revue, die sich mehr von
seinem literarischen Ruf als von seinen Ideen zum Abdruck verleiten
ließ. Das Resultat war, daß auf Befehl der Polizei die Revue am Tage
nach dem Erscheinen des fast ganz unterdrückten Artikels verboten wurde.

Clerambault aber wurde nur noch hartnäckiger. Gerade diejenigen, die ihr
ganzes Leben unterwürfig gewesen waren, werden die erbittertsten
Revolutionäre, wenn man sie dazu zwingt. Ich erinnere mich, einmal ein
großes Lamm gesehen zu haben, das, von einem Hund beunruhigt, endlich
auf ihn losstürmte, und der Hund, durch diese unerwartete Umkehrung der
Naturgesetze erschreckt, floh vor Entsetzen und Angst bellend davon. Der
Köter Staat ist seiner Zähne zu sicher, um sich über ein paar
unbotmäßige Lämmer zu beunruhigen, aber das Lamm Clerambault berechnete
nicht mehr den Widerstand, sondern stieß mit dem Kopf kreuz und quer.
Die Eigentümlichkeit schwacher aber edler Herzen ist es, ohne Übergang
aus einer Übertreibung in die andere zu verfallen. Aus dem Übermaß eines
Massengefühls war Clerambault mit einem Ruck zu einem Übermaß des
isolierten Individualismus hinübergesprungen, und eben weil er die
Geißel des Gehorsams so gut kannte, sah er überall nur sie, diese
soziale Suggestion, deren Folgen in allen Gesellschaftsklassen gleich
sichtbar waren: die heroische Passivität der Armeen, die man bis zum
Irrsinn gepriesen hatte, die Millionen der von der Hauptschar
eingeschlossenen Ameisen, die Unterwürfigkeit der Parlamente, die den
Chef der Regierung zwar mißachteten, aber doch solange mit ihrer Stimme
unterstützten, bis zufällig einmal der Ausbruch eines einzelnen
Revoltierenden eine Explosion hervorrief, die griesgrämige, aber doch
militärische Unterwürfigkeit selbst der linksstehenden Parteien, die dem
absurden Idol einer abstrakten Einigkeit selbst ihre
Existenzberechtigung aufopfern. Und diese Leidenschaft, den eigenen
Willen preiszugeben, war für ihn der Feind. Er erkannte seine Aufgabe
darin, den Zweifel zu erwecken, den Geist, der die Kette zernagt, und
möglicherweise den großen Wahn zu zerstören.

                                   §

Die Wurzel des Übels war die Idee der Nation. Und diese geschwürige
Stelle durfte man nicht anrühren, ohne daß die Bestie aufschrie.
Clerambault attackierte sie schonungslos.

„... Was habe ich mit euren Nationen zu tun? Ihr verlangt von mir, ich
solle einzelne Völker lieben und einzelne hassen. Ich liebe oder hasse
Menschen. Und es gibt innerhalb jeder Nation vornehme, niederträchtige
und mittelmäßige, nur daß in jeder einzelnen Nation die vornehmen und
die niederträchtigen selten sind, die mittelmäßigen dagegen die große
Masse bilden. Ich liebe einen Menschen oder liebe ihn nicht um
dessentwillen, was er ist, und nicht dafür, was die anderen sind. Und
gäbe es in einer Nation nur einen einzigen Menschen, den ich liebe, so
würde mir das schon genug sein, um sie nicht als Gesamtheit zu
verurteilen. — Ihr sprecht mir von den Kämpfen und dem eingebornen Haß
der Rassen? Die Rassen sind die Farben im Prisma des Lebens, erst aus
ihrem leuchtenden Zusammenspiel entsteht das Licht. Wehe dem, der dieses
Prisma bricht! Ich gehöre nicht einer Rasse an, ich gehöre dem Leben,
dem ganzen Leben. Ich habe Brüder bei allen Nationen, ob sie freundlich
oder feindlich sind, und die mir zunächst Stehenden sind nicht immer
jene, die ihr mir als Landsleute aufzwingen wollt. Die seelischen
Familien sind über die ganze Welt hin zerstreut. Führen wir sie wieder
zusammen! Unsere Aufgabe ist es, die chaotischen Nationen zu zerstören
und an ihrer Stelle harmonische Gruppen zu bilden. Nichts wird dies
verhindern können, und selbst die Verfolgungen werden aus dem
allgemeinen Leiden nur die allgemeine Liebe der gemarterten Völker
formen.“

Und andere Male betonte er in schonungsloser Weise seine persönliche
Loslösung von dem Wettstreit der Nationen, obwohl er die Idee der Nation
nicht leugnete, ja sogar als eine natürliche Tatsache anerkannte; denn
Clerambault versteifte sich nicht auf die Logik, ihm kam es nur darauf
an, das Götzenbild durch alle Lücken seines Harnisches zu treffen. Diese
seine Haltung war nicht minder gefährlich.

„Ich kann keinen Anteil nehmen an den Streitigkeiten eurer Nationen um
die Überlegenheit. Mir ist es gleichgültig, ob im Wettrennen diese oder
jene Farbe den Sieg behält. Wer auch gewinnt, es ist doch immer die
Menschheit, die den Sieg davonträgt. Für mich ist es nur gerecht, daß
das lebendigste, das klügste, das arbeitsamste Volk in dem friedlichen
Kampfe der Arbeit den Triumph erringe. Entsetzlich dagegen wäre, wenn
die zurückgedrängten Nebenbuhler oder diejenigen, die eine
Zurückdrängung befürchten, zur Gewalt griffen, um sich die Konkurrenz
vom Halse zu schaffen. Dies würde die Unterordnung des Interesses aller
Menschen unter einen geschäftlichen Gesichtspunkt bedeuten. Das
Vaterland ist aber kein geschäftlicher Gesichtspunkt. Es ist nun gewiß
traurig, daß das Aufsteigen der einen Nation den Niedergang der anderen
verursacht, aber warum sagt ihr nicht, wenn der große Handel des eigenen
Landes den kleinen Handel des eigenen Landes zugrunde richtet, dies sei
ein Majestätsverbrechen gegen den Staat? Und doch richtet dieser Kampf
viel traurigere und unverdientere Verheerungen an. Das ganze
gegenwärtige ökonomische Gesellschaftssystem der Welt ist verhängnisvoll
und lasterhaft, hier müßte man mit der Heilung einsetzen. Der Krieg
aber, der versucht, den glücklicheren oder geschickteren Konkurrenten
zugunsten des ungeschickteren oder trägeren zu begaunern, vergrößert nur
die Mängel dieses Systems, denn er bereichert einzelne Wenige und
ruiniert die ganze Gemeinschaft.

Es ist unmöglich, daß alle Völker auf derselben Straße im selben Schritt
vorwärtsmarschieren. Abwechselnd überholen bald die einen die anderen
und werden wieder selbst überholt. Aber was tut es, wenn sie nur im
selben Zuge schreiten! Nur keine dumme Eigenliebe! Der Pol der
Weltenergie verändert ständig seine Stelle, selbst im gleichen Lande
verlegt er oft seinen Ruhepunkt. In Frankreich ist er von der römischen
Provence an die Loire der Valois übergegangen, jetzt ist er in Paris,
wird aber nicht immer dort bleiben. Die ganze Erde gehorcht einem
wechselnden Rhythmus fruchtbaren Frühlings und einschlummernden
Herbstes, die großen geschäftlichen Routen bleiben nicht unveränderlich,
und die Schätze unter der Erde sind nicht unerschöpflich. Ein Volk, das
sich durch Jahrhunderte ohne zu rechnen verausgabt hat, geht durch
seinen Glanz dem Ende entgegen. Es kann sich nur erhalten, wenn es auf
die Reinheit seines Blutes verzichtet und sich den anderen vermengt. Es
ist zwecklos, es ist verbrecherisch, seine vergangene Zeit der Reife
angeblich verlängern zu wollen, indem man andere hindert heranzuwachsen
oder, wie unsere alten Leute von heutzutage, die Jungen in den Tod
schickt. Das macht sie nicht jünger, aber sie töten die Zukunft damit.

Ein gesundes Volk versucht, statt sich gegen die Lebensgesetze entrüstet
aufzulehnen, sie zu verstehen. Es sieht seinen wahren Fortschritt nicht
im stupiden Willen, durchaus nicht alt werden zu wollen, sondern in
einer unablässigen Bemühung, mit dem Alter fortzuschreiten, anders und
größer zu werden. Jedes Alter hat seine Aufgabe. Ein ganzes Leben sich
an die selbe anzuklammern, ist Faulheit und Schwäche. Lernt euch zu
verwandeln, der Wandel ist das Leben. Die Werkstätte der Menschheit hat
Arbeit für alle! So arbeiten wir Völker jedes für seinen Teil, und jedes
sei stolz auf die Arbeit aller. Die Mühe und das Genie aller anderen
sind auch die unseren.“

                                   §

Diese Artikel erschienen da und dort, wo es ihnen eben gelang, in
irgendeinem jener kleinen fortschrittlichen, anarchistischen oder
literarischen Blätter unterzukommen, in denen sonst die gewalttätigen
Angriffe gegen Einzelpersonen den wohlbedachten Kampf gegen das Regime
zu ersetzen versuchten. Die Aufsätze waren fast ganz unleserlich, so
hatte die Zensur sie zugerichtet, die übrigens, wenn der Artikel dann in
einer anderen Zeitung nachgedruckt wurde, manchmal mit launischer
Vergeßlichkeit das durchrutschen ließ, was sie gestern verboten hatte,
und das wieder wegschnappte, was sie gestern hatte durchgehen lassen. Es
gehörte eine wirkliche Anstrengung dazu, ihren Sinn zu erfassen.
Seltsamerweise waren es aber nicht die Freunde, sondern die Gegner
Clerambaults, die sich dieser Mühe unterzogen. In Paris sind sonst die
Polemiken von kurzer Dauer, denn die gefährlichsten Gegner, die wahrhaft
Geschulten im Federkrieg, wissen sehr genau, daß Schweigen mehr schadet
als Beschimpfung, und so gebieten sie oft ihrer Gehässigkeit Stille, um
sich gewissere Wirkung zu sichern.

Aber in der hysterischen Krise, die damals die Seelen Europas
schüttelte, gab es keine Richtschnur mehr, nicht einmal mehr eine für
den Haß. Die Heftigkeit der Attacken Octave Bertins brachte Clerambault
jeden Augenblick wieder der Öffentlichkeit in Erinnerung. Es half
nichts, daß Bertin selbst verächtlich die anderen aufforderte: „Reden
wir nicht mehr davon!“ Er redete selbst davon am Ende jedes einzelnen
Artikels, in dem er seine Galle entlud.

Nun kannte Bertin zu genau alle geheimen Schwächen, alle geistigen
Mängel und alle kleinen Lächerlichkeiten seines einstigen Freundes, als
daß er sich das Vergnügen versagen konnte, sie mit sicherem Pfeil zu
treffen. Clerambault, im Tiefsten verwundet und nicht klug genug, seinen
Ärger zu verbergen, ließ sich in den Kampf hineinreißen, antwortete und
zeigte, daß auch er den anderen bis aufs Blut verletzen könne. Eine
brennende Gehässigkeit brach zwischen den beiden los.

Das Resultat war vorauszusehen. Bisher war Clerambault ungefährlich
gewesen. Er beschränkte sich im ganzen auf die sittliche Abhandlung,
seine Polemik trat nicht aus dem gedanklichen Kreis hervor und hätte
ebensogut sich auf Deutschland, England oder auf das Rom von einst
beziehen können wie auf das Frankreich von heute. In Wahrheit verstand
er eigentlich höchst wenig von den politischen Dingen, über die er sich
verbreitete, ebensowenig wie neun Zehntel aller Männer seiner
Gesellschaftsklasse und seines Berufes. So konnte auch das, was er
aufspielte, nicht die Herren der Stunde verwirren. Der lärmende
Federkrieg Clerambaults und Bertins aber, inmitten des Durcheinanders
und Getöses der Zeitungen, hatte eine doppelte Folge. Einerseits
gewöhnte er Clerambault in seinem Gefecht zu feinerer Technik, und das
zwang ihn, sich einen sichereren Grund unter den Füßen zu suchen als den
der bloß logischen Streitigkeiten, andererseits brachte er ihn in
Zusammenhang mit Männern, die die Tatsachen besser kannten und ihm
Unterlagen für seine Aufsätze brachten. Seit einiger Zeit hatte sich in
Frankreich ein kleiner, halb unterirdischer Zirkel gebildet, der sich
mit einer unbeeinflußten Untersuchung und freien Kritik des Krieges und
seiner Ursachen befaßte. Der Staat, der sonst so wachsam jeden Versuch
freien Denkens zermalmte, hielt diese klugen, ruhigen Menschen, die
meist Gelehrte waren, kein lärmendes Aufsehen zu bewirken suchten und
sich mit Privatdebatten begnügten, für ungefährlich. Es schien ihm
politischer, sie bloß zu bewachen, als zwischen vier Mauern
einzusperren. Aber er täuschte sich in seiner Berechnung. Ist einmal die
Wahrheit in bescheidener Mühe gefunden, und sei sie auch nur fünf oder
sechs Menschen offenbar, so kann sie nicht mehr entwurzelt werden: sie
steigt aus der Erde mit unwiderstehlicher Kraft. Clerambault erfuhr
damals zum erstenmal, daß es solche leidenschaftliche Wahrheitssucher
gab, die an jene aus der Zeit des Dreyfusprozesses erinnerten, und ihr
geheimes Apostolat unter der allgemeinen Unterdrückung erinnerte ihn
irgendwie an die kleine christliche Gemeinschaft zur Zeit der
Katakomben. Mit ihrer Hilfe entdeckte er jetzt neben den
Ungerechtigkeiten auch die Lüge des „großen Krieges“. Bisher hatte er
davon nur ein dunkles Vorgefühl gehabt, doch vermochte er nicht zu
ahnen, bis zu welchem Grade unsere nächste Zeitgeschichte gefälscht
worden war. Sein Entsetzen war ungeheuer. Selbst in den Stunden
eindringlichster Prüfung hatte sich seine naive Vorstellungsweise
niemals die trügerischen Untergründe ausdenken können, auf denen ein
solcher Kreuzzug für das Recht beruhte. Und da er nicht der Mann war,
seine Entdeckung für sich zu behalten, schrie er sie in Aufsätzen offen
aus, die sofort von der Zensur untersagt wurden, schob sie dann in
satirischer, ironischer oder symbolischer Form in kleine Erzählungen und
Fabeln in der Art Voltaires ein, die manchmal infolge Unachtsamkeit des
Zensors glücklich durchgingen, aber Clerambault den Machthabern als
einen ausgesprochen gefährlichen Menschen erscheinen ließen.

Die ihn zu kennen meinten, waren sehr von ihm überrascht. Von seinen
Gegnern war er bisher allgemein als Sentimentaler behandelt worden, der
er ja auch im Grunde gewiß war. Weil er es aber wußte und gleichzeitig
Franzose war, besaß er die Gabe, selbst darüber zu lachen und sich
lustig zu machen. Deutschen Sentimentalen mag es passen, blindlings an
sich zu glauben; aber im Grunde der Seele des so beredten und
empfindsamen Clerambault wachte der Blick des Galliers, der immer auf
der Hut ist im tiefsten Dickicht seiner großen Wälder, der beobachtet,
nichts übersieht und immer bereit ist, zu lachen. Und das Seltsamste
war, daß dieser urhafte Trieb gerade in jenem Augenblick bei ihm
ausbrach, wo man es am wenigsten erwartet hätte, in der Zeit der
härtesten Prüfung und drohenden Gefahr. Das Gefühl für das Lächerliche
der Welt belebte Clerambault gleichsam von neuem. Sein Charakter bekam
plötzlich, kaum daß er sich von den Konventionen, in denen er gefangen
war, freigemacht hatte, eine lebendige Vielfalt. Gut, zärtlich,
kampfsüchtig, reizbar, über das Ziel hinausschießend, den Mißgriff
anerkennend und heiter darüber hinweggehend, sentimental, ironisch,
skeptisch und gläubig — immer erstaunte er selbst von neuem, wenn er
sich im Spiegel dessen sah, was er schrieb. Sein ganzes Leben, das er
bisher vorsichtig und bürgerlich in sich verschlossen hatte, brach nun,
durch die moralische Einsamkeit und die gesunde Luft des Kampfes
verstärkt, aus ihm heraus.

Und Clerambault merkte, daß er sich selber nicht kannte. Er war wie
neugeboren seit jener Nacht der Angst, er hatte eine Art Freude kennen
gelernt, von der er nie gewußt hatte, die schwindelige und losgelöste
Freude des freien Mannes im Kampfe. Alle seine Sinne waren wie ein
Bogen, gut und straff gespannt. Und er genoß im Tiefsten dieses
vollkommene Wohlgefühl.

                                   §

Jene aber in seiner nächsten Umgebung hatten von diesem Wohlergehen
keinen Gewinn. Frau Clerambault bekam von dem Kampf nur die
Unannehmlichkeiten zu fühlen, eine allgemeine Feindseligkeit, die
schließlich selbst bei den kleinen Lieferanten ihres Bezirkes zutage
trat. Rosine siechte sichtlich dahin. Die Wunden ihres Herzens, die sie
verbarg, ließen sie schweigend verbluten. Sie selbst beklagte sich nie,
aber ihre Mutter tat es für zwei. Ihre Verbitterung erstreckte sich
gleicherweise auf die Dummköpfe, die sie beschimpften, und den
unvorsichtigen Clerambault, der ihr diese Beschimpfung einbrachte. Bei
jeder Mahlzeit gab es ungeschickte Vorwürfe, die ihn zum Schweigen
bewegen sollten. Aber sie richtete nichts aus, die stummen wie die
lärmenden Anklagen glitten machtlos an Clerambault ab. Zweifellos war er
oft traurig und bedrückt, aber er gab sich jetzt ganz der Leidenschaft
des Kampfes hin, und ein unbewußter, ja sogar ein wenig kindlicher
Egoismus ließ ihn alles ausschalten, was ihm dieses neue Vergnügen hätte
stören können.

Äußere Umstände kamen Frau Clerambault zu Hilfe. Eine alte Verwandte,
die sie aufgezogen hatte, starb und hinterließ den Clerambaults ihren
kleinen Besitz im Berry, den sie bewohnt hatte. Frau Clerambault
benützte diesen Trauerfall, um sich von Paris zu entfernen, das ihr
jetzt zum Abscheu geworden war, und vor allem um ihren Mann diesem
gefährlichen Milieu zu entreißen. Sie schützte außer ihrem Schmerz
praktische Gründe und die Gesundheit Rosinens vor, der diese
Luftveränderung gut tun würde. Clerambault gab nach. Sie reisten alle
drei ab, um ihre kleine Erbschaft in Besitz zu nehmen, und blieben den
Sommer und Herbst über im Berry.

Das altbürgerliche Haus lag auf dem Lande, am Ausgang eines Dorfes. Aus
der Erregung von Paris war Clerambault plötzlich in eine stockende Ruhe
versetzt. Die Stille der Tage unterbrach nur der Ruf der Hähne in den
Bauernhöfen, das Brüllen des Viehes auf der Weide. Aber das Herz
Clerambaults war zu sehr fieberhaft geworden, um sich dem friedfertigen
und langsamen Rhythmus der Natur anzupassen. Einst hatte er ihn bis zur
Vergötterung geliebt, einst war er in Harmonie mit dem Landvolk gewesen,
dem seine eigene Familie entstammte, aber heute machten ihm die Bauern,
mit denen er zu sprechen versuchte, den Eindruck von Menschen eines
anderen Planeten. Zwar waren sie nicht vom Kriegsgift verseucht, sie
zeigten keine Leidenschaft und keinen Haß gegen den Feind, aber sie
zeigten auch keinen gegen den Krieg. Sie nahmen ihn als eine Tatsache
hin, ließen sich nichts über ihn vormachen (gewisse Bemerkungen voll
gutmütiger Ironie verrieten, daß sie wußten, was er wert sei), aber
zunächst beschränkten sie ihre Bemühung darauf, ihn auszunützen. Sie
machten gute Geschäfte. Sie verloren zwar ihre Söhne, aber sie verloren
nicht ihr Hab und Gut. Wenn ihre Trauer sich auch nicht sehr
offensichtlich ausdrückte, so konnte man ihnen doch deutlich anmerken,
daß sie für das Leid nicht unempfindlich waren. Aber schließlich: ein
Menschenleben geht dahin und die Erde bleibt. Sie hatten wenigstens
nicht wie die Bourgeoisie der Städte ihre Kinder aus nationalem
Fanatismus in den Tod geschickt, aber, sobald es einmal geschehen war,
wußten sie ihre Opfer in gute Werte umzusetzen und wahrscheinlich hätten
das sogar ihre hingeopferten Söhne ganz natürlich gefunden. Muß man
denn, wenn man das, was man liebt, verliert, immer auch gleich den Kopf
dazu verlieren? Die Bauern hatten ihn nicht verloren. Man erzählt, der
Krieg habe im französischen Flachland etwa eine Million neuer
Grundbesitzer geschaffen. Die Gedankenwelt Clerambaults fühlte sich hier
ganz einsam und ausgeschlossen. Sein Denken und das ihre sprachen nicht
dieselbe Sprache. Hie und da tauschten sie mit ihm einige allgemeine
bekümmerte Reden aus. Aber die Bauern beklagen sich ja immer, wenn sie
mit dem Städter sprechen. Es ist bei ihnen schon so Sitte, eine Art,
sich gegen einen möglichen Appell an ihren Geldsack zu schützen. Sie
hätten im selben Ton über Maul- und Klauenseuche gesprochen. Clerambault
blieb für sie der Pariser. Was immer sie auch denken mochten, ihm hätten
sie es nie gesagt. Er war für sie von einer anderen Rasse.

Dieses Fehlen jeder Resonanz erstickte das Wort Clerambaults. Leicht zu
beeinflussen, wie er war, kam er dahin, es selbst nicht mehr zu hören.
Stille war um ihn. Die Stimmen der unbekannten und fernen Freunde, die
ihn zu erreichen versuchten, wurden durch die Spionage der Post
aufgefangen — einen jener Schandmale, mit dem sich diese Zeit entehrt
hat. Unter dem Vorwand, die Spionage des Auslandes zu unterdrücken,
machte der Staat damals aus seinen eigenen Bürgern Spione. Er begnügte
sich nicht damit, die Politik zu überwachen, er vergewaltigte auch das
Denken und erzog seine Agenten zum gemeinen Dienst von Horchern an der
Wand. Die Vorteile, die er ihnen für eine solche Niedrigkeit bot,
erfüllten bald das Land (alle Länder) mit freiwilligen Spitzeln, Leuten
der guten Gesellschaft, drückebergerischen Schriftstellern in großer
Zahl, die ihre Sicherheit dadurch erkauften, daß sie die der andern
verrieten und ihre Angebereien mit dem Worte „Vaterland“ deckten. Dank
diesen Angebern war es den frei Denkenden, die sich suchten, nicht
möglich, einander die Hände zu reichen. Das ungeheure Untier Staat hatte
eine mißtrauische Angst vor dem halben Dutzend freier, alleinstehender,
schwacher machtloser Menschen, so sehr brannte es der Dorn seines
schlechten Gewissens. Und jede dieser freien Seelen siechte hin in ihrem
Kerker, umschlossen von einer unsichtbaren Überwachung. Und da einer vom
anderen nicht wußte, daß sie alle das gleiche litten, starben sie
langsam hin in ihrer eisigen Einsamkeit, ihrer Verzweiflung.

Die Seele, die Clerambault in seinem eigenen Leibe trug, war zu
brennend, um sich durch dieses Leichentuch von Schnee ersticken zu
lassen. Aber die Seele allein reicht nicht aus in solchen Krisen. Der
Körper ist eine Pflanze, die der menschlichen Erde bedarf. Der Sympathie
beraubt, gezwungen, sich von seiner eigenen Substanz zu nähren, kränkelt
er hin. Alle Überlegungen Clerambaults, mit denen er sich zu beweisen
suchte, daß sein Gedankengang jenem von Tausenden Unbekannten
entspräche, konnten nicht den lebendigen, leibhaftigen Kontakt mit einem
einzigen schlagenden Herzen ersetzen. Der Geist kann sich mit dem
Glauben begnügen. Aber das Herz ist der ungläubige Thomas, der berühren
muß, um zu glauben.

Clerambault hatte diese seine physische Schwäche nicht vorausgesehen. Es
war wie eine Erstickung: die Haut wird trocken, das Blut vom brennenden
Körper aufgesogen, die Quellen des Lebens versiegen im luftleeren Raum.

Da geschah es eines Abends, als er wie ein Schwindsüchtiger an einem
drückenden Tage von Zimmer zu Zimmer auf der Suche nach einem Atemzug
frischer Luft durch das Haus geirrt war, daß ein Brief ankam, dem es
gelungen war, zwischen den Maschen des Netzes durchzuschlüpfen. Ein Mann
etwa seines Alters, ein Dorflehrer in irgendeinem verlorenen Tale des
Dauphiné, schrieb ihm:

„Der Krieg hat mir alles genommen. Von denen, die ich kannte, hat er die
einen getötet, die anderen erkenne ich nicht mehr. Auf allem, was mir
einst das Leben lebenswert erscheinen ließ, auf meiner Hoffnung eines
Fortschrittes, auf meinem Vertrauen in eine Zukunft geistiger
Brüderlichkeit, stampfen sie mit ihren Füßen herum. Ich siechte hin vor
Verzweiflung, als ich durch einen Zufall dank einer Zeitung, die Sie
beschimpfte, Ihre Aufsätze „Ihr Toten“ und „An die einst Geliebte“
kennen lernte. Ich habe sie gelesen und vor Freude geweint. Man ist also
doch nicht ganz allein? Man leidet also doch nicht allein? Und nicht
wahr, mein Herr, Sie glauben noch an diesen Glauben, sagen Sie es mir,
Sie glauben doch noch an ihn? Er lebt also immer noch und sie werden ihn
nicht töten können? Ach, wie wohl das tut, ich fing schon an zu
zweifeln! Verzeihen Sie es mir, aber man ist alt, man ist allein, man
ist recht müde.... Ich segne Sie, mein Herr. Jetzt werde ich ruhig
sterben können, jetzt weiß ich, dank Ihnen, daß ich mich nicht getäuscht
habe!“

Und es war sofort, als ob die Luft durch irgendeine plötzliche Öffnung
einbräche. Die Lunge spannte sich aus, das Herz begann wieder zu
schlagen, die Quelle des Lebens wieder zu sprudeln, um das
ausgetrocknete Strombett der Seele von neuem zu füllen. O wie doch immer
ein liebender Mensch des andern bedarf! Du Hand, zu mir hinübergereicht
in der Stunde der Angst, du Hand, die du mich fühlen ließest, daß ich
nicht ein abgerissener Zweig war vom Baum des Lebens, sondern
hinabreiche bis zu seinem Herzen — ich rette dich und du rettest mich.
Ich gebe dir meine Kraft und sie stirbt hin, wenn du sie nicht nimmst.
Die einsame Wahrheit ist wie ein Funke, der als einziger, züngelnd und
vergänglich vom Kiesel springt. Wird er nicht verlöschen? Nein. Er hat
eine andere Seele berührt, und ein Stern flammt in der Tiefe des
Horizonts auf.

                                   §

Nur einen Augenblick war es Clerambault vergönnt, ihn zu sehen. Dann
trat er hinter dem Gewölk zurück und verschwand für immer.

Clerambault schrieb noch am selben Abend dem unbekannten Freunde. Er
vertraute ihm mit voller Hingabe seine Prüfungen und seine gefährlichen
Überzeugungen an. Der Brief blieb ohne Antwort. Nach einigen Wochen
schrieb Clerambault nochmals, hatte aber auch diesmal keinen Erfolg;
doch sein Hunger nach einem Freund, mit dem er leiden und hoffen konnte,
war so gierig geworden, daß er mit der Eisenbahn nach Grenoble fuhr und
von dort zu Fuß bis zu dem Dorf ging, dessen Adresse er bewahrt hatte.
Aber als er, das Herz schon ganz selig über die Überraschung, die er
bereiten würde, an die Tür der Schule klopfte, verstand der Mann, der
ihm auftat, nichts von dem, was er ihm sagte. Nach kurzer
Auseinandersetzung erfuhr er, daß der Lehrer, mit dem er sprach, neu in
das Dorf gekommen sei. Sein Vorgänger war vor einem Monat versetzt und
strafweise in eine entfernte Gegend geschickt worden, aber es blieb ihm
erspart, die Reise zu machen. Eine Lungenentzündung hatte ihn am Tage,
ehe er den Ort verlassen sollte, den er dreißig Jahre bewohnt,
dahingerafft. Nun durfte er noch weiter darin wohnen, aber unter der
Erde. Clerambault sah das Kreuz auf dem noch frischen Hügel und erfuhr
niemals, ob der entschwundene Freund wenigstens seine zärtlichen Worte
empfangen hatte. Es war besser für ihn, im Zweifel zu verharren, denn
niemals hatte der entschwundene Freund seine Briefe erhalten, selbst
jenes letzten Lichtscheins hatte man ihn beraubt.

                                   §

Das Ende jenes Sommers im Berry war eine der unfruchtbarsten Epochen im
Leben Clerambaults. Er sprach mit niemandem mehr, er schrieb nicht mehr.
Mit der arbeitenden Bevölkerung in direkten Verkehr zu kommen, bot sich
keine Möglichkeit. Bei den seltenen Gelegenheiten, wo er vordem dem
Volke nahetreten konnte (bei Massenaufläufen, bei Festlichkeiten und bei
der Arbeit an der Volksuniversität), war es ihm immer lieb geworden.
Aber eine Scheu, übrigens eine, die beiderseitig war, hinderte ihn, sich
ganz hinzugeben. Beide Teile hatten immer das bald stolze, bald
peinliche Gefühl der eigenen Minderwertigkeit. Denn Clerambault dünkte
sich in vielen Dingen, und zwar in den wesentlichsten, geringwertiger,
als die intelligenten Arbeiter (und er hatte auch recht, denn aus ihren
Reihen werden die Führer der Zukunft erstehen). Unter der Auslese der
Arbeiterschaft gab es damals anständige und männliche Geister, die
Clerambault wohl hätte verstehen können. Mit ihrem ungebrochenen
Idealismus hielten sie sich fest an die Wirklichkeit und, gewöhnt an den
täglichen Kampf, seine Täuschungen und seinen Betrug, hatten sich diese
Männer, von denen einige, obzwar noch jung, schon Veteranen im sozialen
Kampf waren, zur Geduld erzogen. Sie hätten Clerambault darin belehren
können. Diese Leute wußten wohl, daß alles erarbeitet sein muß, daß man
nichts umsonst bekommt, daß alle diejenigen, die das Glück der
zukünftigen Generation wollen, es mit ihren persönlichen Leiden bezahlen
müssen. Sie wissen, daß der geringste Fortschritt nur Schritt für
Schritt erobert wird und oft zwanzigmal verloren geht, ehe er endgültig
erreicht wird. (Es gibt ja nichts wirklich Endgültiges...) Clerambault
hatte großes Verlangen nach diesen Menschen, die stark und geduldig wie
die Erde waren. Und seine heiße Intelligenz hätte sie bestrahlt und
erwärmt.

Aber zwischen ihnen und ihm bestand das altväterliche, verletzende und
der Gemeinschaft nicht weniger als dem Einzelnen verhängnisvolle System
der Kasten, das zwischen den angeblich gleichen Bürgern unserer
verlogenen Demokratien steht, und das aus der übergroßen Verschiedenheit
der Vermögensverhältnisse, der Erziehung und der Lebensform stammt.
Zwischen den einzelnen Kasten bestand nur eine Verbindung durch die
Journalisten, die, eine Kaste für sich bildend, weder die eine noch die
andere wirklich darstellten. Einzig die Stimme der Zeitungen durchhallte
das Schweigen Clerambaults. Nichts war imstande, ihr „Quorax quorax
breke-ke-kex“ zu stören.

Die unglücklichen Folgen einer neuen Offensive fanden die Journale wie
immer unerschütterlich auf ihrem Posten. Wieder einmal waren die
optimistischen Orakel der Hinterlandspriester zunichte geworden, aber
niemand schien es zu bemerken. Sie ließen nur andere Orakel folgen, die
mit der gleichen Zuversicht verabreicht und verschluckt wurden. Weder
diejenigen, die sie schrieben, noch die, die sie lasen, wollten
eingestehen, daß sie sich getäuscht hatten, und, so aufrichtig sie auch
gegen sich sein mochten, sie merkten nichts davon. Sie erinnerten sich
selber nicht mehr an das, was sie tags zuvor gesagt hatten. Und wie
wollte man auch dies seltsame Wesen mit dem Vogelgehirn fassen? Kopf
oben, Kopf unten — man mußte schließlich ihre Gabe anerkennen, nach
allen Kapriolen immer wieder auf die Füße zu fallen. Jeden Tag hatten
sie eine andere Überzeugung. Sie brauchte nicht dauerhaft zu sein,
nachdem man am anderen Tage wieder eine andere hatte. Zu Ende des
Herbstes begann man in den Zeitungen, um die sinkende Moral des
Hinterlandes, die bei dem Vorgefühl des traurigen Winters nachzugeben
begann, wieder neu zu kräftigen, eine neue Propaganda deutscher Greuel.
Sie erfüllte vortrefflich ihren Zweck. Das Thermometer der öffentlichen
Meinung stieg plötzlich wieder zur Fiebertemperatur auf. Selbst in dem
friedlichen Städtchen des Berry äußerten sich während einiger Wochen
alle Leute in erbittertster Weise. Sogar der Priester steuerte sein
Scherflein bei und hielt eine Rachepredigt. Clerambault, der es von
seiner Frau beim Mittagessen erfuhr, sprach seine Ansicht darüber in
Gegenwart des bedienenden Mädchens ohne Rücksicht aus. Am Abend wußte
schon das ganze Dorf, daß er ein Boche sei, und seitdem konnte es
Clerambault jeden Morgen an seiner Tür angeschrieben lesen. Die Laune
Frau Clerambaults wurde dadurch nicht gebessert. Rosine wiederum, die in
ihrem jugendlichen Kummer über die getäuschte Liebe eine religiöse Krise
durchmachte, war zu sehr mit ihrem eigenen Schmerz und seinen
Verwandlungen beschäftigt, um an die Qual der anderen zu denken. Selbst
die zärtlichsten Naturen haben ihre Stunde eines naiven und vollkommenen
Egoismus.

                                   §

Ganz allein sich selbst hingegeben und der Möglichkeit des Wirkens
beraubt, wandte Clerambault sein ganzes fieberndes Denken gegen sich.
Nichts konnte ihn nunmehr auf dem Wege der bitteren Wahrheit
zurückhalten, nichts mehr ihr grausam scharfes Licht abdämpfen. Er
fühlte in sich die brennende Seele jener _fuorusciti_, die, verstoßen
aus den Mauern ihrer harten Stadt, sie von außen mit mitleidslosen Augen
betrachteten. Nun war es nicht mehr die schmerzhafte Vision jener ersten
Nacht der Prüfung, da die blutenden Wunden ihn noch mit seinem
menschlichen Kreise verbanden. Jetzt waren alle Bande gelöst. Sein
überklarer Geist schwebte, den Abgrund umkreisend, immer tiefer in
langsamen Spiralen einsamen Schweigens in die Hölle hinab....

„Ich sehe euch, ihr Herden, ihr Völker, ihr Myriaden Wesen, die ihr es
nötig habt, euch wie Austern zusammenzudrängen, nur um euch vermehren
und denken zu können. Jede eurer Gruppen hat ihren besonderen Geruch,
der ihr heilig scheint. Ganz wie bei den Bienen, wo die Ausdünstung der
Königin die Einheit des Bienenstockes und die Arbeitsfreude schafft.
Ganz wie bei den Ameisen: Wer dort nicht riecht wie das Ich und seine
Rasse, wird getötet. Ihr Menschenwaben, jede von euch hat ihren
besonderen Geruch von Rasse, Religion, Moral und althergebrachten
Sitten. Dieser Geruch durchdringt eure Körper, euer Werk und eure Brut.
Er bestimmt euer Leben von der Geburt bis zum Tode. Weh dem, der ihn von
sich abzuwaschen sucht.

Wer die Dumpfheit dieses Bienenschwarmgedankens, diesen Schweiß
berauschter Nächte eines Volkes recht genießen will, möge doch einmal
die Gebräuche und Glaubensformeln aus der Distanz der Geschichte
betrachten; er möge sich von Herodot, dem ironischen Spötter, den Film
der menschlichen Verirrungen aufrollen lassen, das lange Panorama der
bald erbärmlichen, bald lächerlichen, aber immer hochgeehrten Gebräuche
bei den Skythen, Issedonen, Geten, Nasomonen, Gindaren, Sauromaten,
Lydiern, Lybiern und Ägyptern, den Zweifüßlern aller Farben von Ost nach
West und von Nord nach Süd. Der Großkönig, ein kluger Kopf, fordert zum
Scherz die Griechen, die ihre Toten verbrennen, auf, sie zu verzehren,
und die Hindus wiederum, die sie verspeisen, sie zu verbrennen, und
belustigt sich dann über ihre beiderseitige Empörung. Der weise Herodot
aber verneigt sich vor seinem Publikum und, unmerklich lächelnd, enthält
er sich zwar eines Urteils, weist aber die zurecht, die sich über jene
lustig machen; denn: würde man allen Menschen vorschlagen, eine Wahl
unter den besten Gesetzen der verschiedenen Länder zu treffen, so würde
sich doch jeder für die seines Vaterlandes entscheiden, denn es ist
gewiß, daß jeder überzeugt ist, es gäbe keine besseren. Es gibt kein
wahreres Wort als jenes Pindars: ‚Die Gewohnheit ist die Königin aller
Menschen.‘

Jeder trinkt gern aus seinem Napf; so sollte er es wenigstens ertragen,
daß der andere aus dem seinigen trinkt. Aber gerade das Gegenteil gilt:
Um sich an dem seinen zu erfreuen, muß man dem andern in seinen Napf
spucken. So will es Gott, denn man braucht ja einen Gott — mag er sein
wie er sei, Mensch oder Tier, oder bloß ein Gegenstand, eine schwarze
oder rote Linie, oder wie im Mittelalter eine Amsel, ein Rabe, irgendein
Wappenschild — nur damit man dann auf ihn die eigenen Torheiten abladen
kann.

Heute, da die Fahne das Wappenschild ersetzt hat, erklären wir uns frei
von jedem Aberglauben. Doch wann war er undurchdringlicher als heute?
Jetzt zwingt uns das neue Dogma der Gleichheit, genau so zu riechen wie
die anderen, wir haben nicht einmal mehr die Freiheit zu sagen, daß wir
nicht frei sind. Das wäre ein Gottesfrevel. Mit dem Tragsattel auf dem
Rücken muß man brüllen: ‚Es lebe die Freiheit!‘ Die Tochter des Königs
Cheops war auf Befehl ihres Vaters Dirne geworden, um mit dem Schandgeld
ihres Körpers die Pyramide aufrichten zu helfen. Um die Pyramide unserer
massigen Republiken zu errichten, müssen Millionen Bürger ihr Gewissen,
ihre Seele und ihre Körper der Lüge und dem Haß prostituieren.... Oh,
wir sind Meister in der großen Kunst des Lügens geworden!... Allerdings,
man hat ja immer gelogen, aber der Abstand zu jenen Frühern besteht
darin, daß sie sich ihrer Lüge bewußt waren, und es beinahe naiv
eingestanden wie ein natürliches Bedürfnis, das man — wie es ja bei den
Menschen des Südens Sitte ist — ungeniert in Gegenwart von
Vorübergehenden abtut. ‚Ich werde immer lügen‘, sagt ganz unschuldig
Darius, ‚denn wenn es nützlich ist zu lügen, so soll man sich darüber
keine Skrupel machen. Diejenigen, die lügen, wünschen dasselbe zu
erreichen wie jene, die die Wahrheit sagen: man lügt in der Hoffnung,
irgendeinen Gewinn davon zu haben, man sagt die Wahrheit, um daraus
Vorteil zu ziehen und sich das Vertrauen zu sichern. So gehen wir zwar
nicht den gleichen Weg, aber doch zum selben Ziele. Denn ohne Hoffnung
auf Vorteil wäre es ja für den, der die Wahrheit sagt, gleichgültig, zu
lügen, und für den, der lügt, ebensogut, er sagte die Wahrheit.‘ Aber
wir, meine lieben Zeitgenossen, wir sind bedeutend schamhafter. Wir
schauen uns selbst nicht zu, wenn wir auf offener Straße lügen... Wir
lügen hinter geschlossenen Türen und Fenstern, wir belügen uns selbst.
Aber wir gestehen es uns niemals ein, selbst nicht in aller Intimität.
Nein, nein, wir lügen nicht, wir „idealisieren“ nur.... Ach, ich möchte,
daß man euer Auge sehe und daß euer Auge sehend würde, ihr freien
Menschen!

Frei! Worin, wovon seid ihr frei? Wer von euch ist heute frei innerhalb
eures gegenwärtigen Staates? Habt ihr die Freiheit, zu handeln? Nein, da
ja der Staat über euer Leben verfügt, euch zu Schlächtern oder
Hingeschlachteten macht. Seid ihr frei, zu sprechen und zu schreiben,
was ihr wollt? Nein, denn man sperrt euch ein, wenn ihr eure Gedanken
aussprecht. Seid ihr frei, wenigstens für euch allein zu denken? Nein,
außer ihr verbergt eure Gedanken gut, und selbst ein tiefer Keller ist
für sie nicht sicher genug. Schweigt! Hütet euch! Ihr seid gut
überwacht... Es gibt Galeerenhüter für die Tat: Unteroffiziere und
Betreßte. Und es gibt Galeerenhüter für den Geist: Kirchen und
Universitäten, die genau vorschreiben, was man glauben und was man
leugnen muß... Worüber beklagt ihr euch? (Aber ihr beklagt euch ja gar
nicht!) Macht euch ja kein Kopfzerbrechen, wiederholt nur die Worte des
Katechismus!

Nun sagt ihr, daß dieser Katechismus in freier Wahl von dem
selbständigen und selbstherrlichen Volk genehmigt worden sei! Eine
schöne Selbstherrlichkeit! Einfaltspinsel, die die Backen aufblasen mit
ihrem Worte Demokratie... Demokratie, das ist die Kunst, sich an die
Stelle des Volkes zu setzen und ihm feierlich in seinem Namen, aber zum
Vorteil einiger guter Hirten die Wolle abzuscheren. In Friedenszeiten
weiß das Volk nichts von dem, was vorgeht, außer dem, was die Leute, die
ein Interesse daran haben, es zu prellen, ihm in ihren geknechteten
Zeitungen zu sagen Lust haben. Die Wahrheit ist unter Verschluß. In
Kriegszeiten macht man das besser, da ist das Volk unter Verschluß.
Selbst wenn es wirklich je gewußt hätte, was es will, so hat es doch
keine Möglichkeit mehr, ein Wort davon zu sagen. Kadavergehorsam... Zehn
Millionen Kadaver... und die Lebendigen taugen auch nicht viel mehr,
nachdem sie vier Jahre im niederdrückenden Regime von patriotischen
Aufschneidereien, von Jahrmarkts-Paraden gestanden haben und dem
Tam-Tam, den Drohungen, Betrügereien, Gehässigkeiten, Angebereien,
Hochverratsprozessen und dem Standgericht ausgesetzt waren. Die
Demagogen haben das letzte Aufgebot der Dunkelmännerei zusammengerafft,
um den letzten verzweifelten Lichtschein der Vernunft in ihren Völkern
zu ersticken und sie völlig zu verblöden.

Ihnen genügt es nicht, sie zu knechten. Man muß die Völker so dumm
machen, daß sie selbst geknechtet sein wollen. Die gewaltigen
Autokratien Ägyptens, Persiens und Assyriens, die mit dem Leben von
Millionen ihr Spiel trieben, schöpften das Geheimnis ihrer Macht aus dem
übernatürlichen Glanz ihrer falschen Göttlichkeit. Jede absolute
Monarchie war unbedingt bis an die äußersten Grenzen der gläubigen
Jahrhunderte eine Theokratie gewesen. In unseren Demokratien aber ist es
unmöglich, an die Göttlichkeit irgend so eines Hanswursts, wie es unsere
höchst anrüchigen und mißachteten Minister sind, zu glauben. Man hat sie
zu sehr von der Nähe gesehen und kennt ihre Schäbigkeiten.... So haben
sie die Erfindung gemacht, die Götter hinter die Leinwand ihres
Jahrmarktzeltes zu stecken. Gott, das ist jetzt die Republik, das
Vaterland und die Gerechtigkeit, die Zivilisation. Am Eingang des Zeltes
sind sie aufgemalt, jede Jahrmarktsbude zeigt in mannigfachen Farben
ihre schöne Riesin, und die Millionen drängen sich nur so hinein, um sie
zu sehen. Freilich, was sie denken, wenn sie aus der Bude herauskommen,
das wird nicht gesagt, und sie wären selbst sehr verlegen, wenn sie sich
etwas dabei denken sollten. Die einen kommen überhaupt nicht mehr
heraus, die andern haben nichts gesehen. Nur jene, die draußen geblieben
sind vor der großen Bude, um zu gaffen, die sehen, für die ist Gott da
(schön aufgemalt). Die Götter sind nichts als das Verlangen, an sie zu
glauben.

Warum aber dann die brennende Wut dieses Verlangens? Weil man die
Wirklichkeit nicht sehen kann. Oder eigentlich: gerade weil man sie
sieht. Das ist ja die ganze Tragik der Menschheit, daß sie nicht sehen
und nichts wissen will. Sie hat nur das verzweifelte Bedürfnis,
irgendwie ihren Schmutz göttlich zu machen. Wir aber wollen ihr ins
Gesicht sehen!

Der Instinkt des Mordes ist in das Herz der Natur geschrieben. Ein
wahrhaft teuflischer Instinkt, weil er die Wesen nicht bloß geschaffen
zu haben scheint, um zu essen, sondern auch, um gegessen zu werden. Eine
Spielart des Kormorans nährt sich von Meerfischen. Die Fischer rotteten
nun diese Vögel aus, da verschwanden die Fische, denn sie wiederum
nährten sich von den Exkrementen der Vögel, die sich von ihnen nährten.
So ist die Kette der Wesen eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt
und sich selber frißt.... Wäre nun wenigstens nicht auch noch das
Bewußtsein geschaffen, daß der Mensch selbst dieser eigenen Marter
zusehen muß! Oh, wie dieser Hölle entfliehen?... Zwei Wege gibt es, zwei
einzige Wege, den Weg Buddhas, der den schmerzhaften Wahn des Lebens zum
Erlöschen bringt — und den Weg des religiösen Wahns, der über
Verbrechen und Schmerzen den Schleier einer blendenden Lüge wirft! Das
Volk, das die andern vernichtet, wird da zum auserwählten Volke, es
wirkt für seinen Gott. Das Gewicht der Ungerechtigkeiten, das die eine
Waagschale des Lebens niederdrückt, findet sein Gegengewicht im Jenseits
der Träume, wo alle Wunden und Qualen gelindert werden. Die Formen
dieses Himmelreiches sind verschieden von Volk zu Volk, von Zeit zu
Zeitalter, und diese Verschiedenheit nennt man dann Fortschritt. Aber es
ist doch immer ein und dasselbe Verlangen nach einem Wahn. Man muß
dieser furchtbaren Bewußtheit das Maul stopfen, die alles sieht und
Rechenschaft verlangt für jede Ungerechtigkeit des Gesetzes. Wirft man
ihr nun nicht rasch einen Brocken zum Fraße hin, irgendeinen Glauben, so
heult sie vor Hunger und Angst. Man muß glauben. Glauben oder
krepieren.... Und darum haben sich die Menschen zu Herden
zusammengedrängt, um sich gegenseitig zu bestärken und zu stützen. Um
aus ihren einzelnen persönlichen Zweifeln eine gemeinsame Sicherheit zu
machen.

Was tun wir aber jetzt mit der Wahrheit? Die Wahrheit — jetzt ist sie
ja für jene der Feind. Freilich, das gestehen sie nicht ein. In einem
stillschweigenden Übereinkommen nennen sie Wahrheit das widerliche
Gemisch von ein bißchen Wahrheit und vieler Lüge, wobei das bißchen
Wahrheit dazu dient, die Lüge zu übertünchen, die Lüge und die
Knechtschaft, die ewige Knechtschaft... Nicht die Monumente des Glaubens
und der Liebe sind die dauerhaftesten, sondern weit mehr jene der
Knechtschaft. Reims und das Parthenon stürzen in Ruinen, aber die
Pyramiden Ägyptens inmitten der Wüste, den Luftspiegelungen und dem
wandernden Sand trotzen den Jahrhunderten... Wenn ich an die Tausende
unabhängiger Menschen denke, die der Geist der Knechtschaft im Laufe der
Jahrhunderte verschlungen hat — die Ketzer und Revolutionäre, die
Unbotmäßigen gegen Staat und Kirche —, so wundere ich mich nicht mehr
über die Mittelmäßigkeit, die nun über der Welt wie eine dicke fettige
Brühe schwimmt...

Wir aber, die wir uns noch auf der düstern Oberfläche halten, die wir
noch nicht untergetaucht sind, was sollen wir gegenüber dieser
unbarmherzigen Welt tun, wo ewig der Starke den Schwächeren zermalmt und
ewig wieder einen noch Stärkeren findet, der ihn seinerseits vernichtet?
Sollen wir uns aus schmerzlichem Mitleid und aus Ermüdung zur
freiwilligen Hinopferung entschließen, oder sollen wir mittun an der
ewigen Erdrückung des Schwachen, ohne innerlich nur den Schatten einer
Erkenntnis zu haben von der blinden Grausamkeit des Weltalls? Was bleibt
uns denn sonst noch? Sollen wir etwa versuchen, uns aus dem
hoffnungslosen Kampf wegzuschleichen aus Egoismus oder aus Weisheit, die
ja doch nur eine andere Form des Egoismus ist?...“

In dieser Krise ätzenden Pessimismusses, die Clerambault in jenen
Monaten der menschenfremden Isolierung durchwühlte, sah er überhaupt
keine Möglichkeit des Fortschrittes mehr, jenes Fortschrittes, an den er
einst geglaubt hatte wie andere an den lieben Gott. Jetzt sah er die
menschliche Rasse einem mörderischen Geschick rettungslos geweiht.
Nachdem sie soviel andere Wesen auf ihrer Erde vernichtet hatte, war es
ihr Schicksal, sich nun mit eigener Hand zu vernichten und damit ein
Gesetz der Gerechtigkeit zu erfüllen. Denn der Mensch ist Herr dieser
Erde nur durch Raub, durch Betrug und Kraft geworden (hauptsächlich aber
durch Betrug), wertvollere Wesen, als er ist, sind vielleicht, gewiß
sogar, unter seinen Schlägen hingeschwunden, die einen hat er zerstört,
die anderen erniedrigt, zu Tieren gemacht. Seit den Tausenden von
Jahren, die er das Dasein mit den andern Wesen teilt, tut er so, als
verstünde er sie nicht (er lügt), als wüßte er nicht, daß sie zu ihm
Bruderwesen wären, leidend, liebend und träumend wie er. Um sie besser
ausbeuten und ohne Gewissensbisse quälen zu können, hat er sich von
seinen geistigen Führern bestätigen lassen, daß diese Wesen nicht
denkfähig seien, daß er allein dieses Privileg besitze. Heute ist er
nicht mehr weit davon entfernt, dies auch von den anderen
Menschenvölkern zu sagen, die er bekämpft und vernichtet... Henker!
Henker, du bist mitleidslos gewesen. Mit welchem Recht verlangst du
heute Mitleid für dich?

                                   §

Von den alten Freundschaften, die einst zum Kreise Clerambaults gehört
hatten, war ihm eine einzige noch geblieben, die mit Frau Mairet, deren
Mann vor kurzem im Argonnenwald gefallen war.

François Mairet, der noch nicht das vierzigste Lebensjahr erreicht
hatte, als er unbemerkt im Schützengraben zugrunde ging, war einer der
ersten französischen Biologen, ein bescheidener Gelehrter, ein großer
Arbeiter gewesen, in dem ein geduldiges Genie schlummerte, das der Ruhm
später gewiß entdeckt hätte. Er hatte aber gar keine Eile, den Besuch
dieser schönen Dirne zu empfangen, man teilt ja ihre Gunst mit zu vielen
Undankbaren. Ihm genügte die stille Freude, die die innige Beziehung zur
Wissenschaft ihren Auserwählten gewährt, und ein einziges Herz auf
Erden, um diese Freude mit ihm gemeinsam zu genießen. Seine Frau war die
Hälfte all seiner Gedanken. Ein wenig jünger als er, aus
Hochschulkreisen stammend, gehörte sie zu jenen ernsten, liebevollen,
zugleich schwachen und stolzen Seelen, die das Bedürfnis haben, sich
hinzugeben, die sich aber nur ein einzigesmal hingeben können. Sie lebte
ganz im geistigen Leben Mairets. Vielleicht hätte sie ebensogut das
eines anderen Mannes teilen können, wenn die Umstände sie mit ihm
verbunden hätten. Aber sobald sie Mairet geheiratet hatte, hatte sie ihn
restlos geheiratet. Wie viele Frauen, und gerade die besten von ihnen,
befähigte sie ihre Intelligenz, gerade den zu verstehen, den ihr Herz
erwählt hatte. Sie hatte sich zu seiner Schülerin gemacht, um seine
Gefährtin zu werden, sie nahm Teil an seiner Arbeit, an seinen
Experimenten. Kinder hatten sie keine. Ihre Gemeinschaft war eine der
Gedanken. Beide waren sie freie Geister, voll hoher freigeistiger und
übernationaler Ideale.

Als im Jahre 1914 Mairet einberufen wurde, folgte er dem Rufe, bloß um
seiner Pflicht zu genügen, aber ohne innere Täuschung über die Sache,
die der Zufall der Zeiten und der Vaterländer ihm zu vertreten
auferlegte. Von der Front sandte er stoische und klare Briefe. Nie hatte
er aufgehört, den Krieg als etwas Erbärmliches zu betrachten, aber er
glaubte sich zum Opfer verpflichtet aus Gehorsam gegen das Geschick, das
ihn eben den Irrtümern, den Leiden und Kämpfen jener armen Menschenrasse
beigemengt hatte, die sich langsam einem unbekannten Ziel entgegen
entwickelte.

Er kannte Clerambault. Familienbeziehungen in der Provinz, aus der Zeit,
ehe die einen oder die anderen nach Paris übersiedelten, waren die
Grundlage ihres freundschaftlichen Verhältnisses geworden, das
eigentlich mehr dauerhaft war als intim — denn Mairet gab nur seiner
Frau sein Herz hin — dessen unzerstörbare Grundlage aber eine
beiderseitige reine Achtung war.

Seit Kriegsbeginn hatte jeder einzelne mit seinen Sorgen zu tun, und sie
hatten nicht in Korrespondenz gestanden. Die draußen im Felde schickten
nicht Briefe an viele Freunde herum, sie konzentrierten sie auf ein
einzelnes Wesen, dem sie dann alles sagten. Mairet hatte mehr als jemals
seine Gefährtin zum einzigen Verwalter seines Vertrauens gemacht, seine
Briefe waren ein Tagebuch, wo er gewissermaßen mit lauter Stimme dachte.
In einem seiner letzten Briefe sprach er von Clerambault. Er hatte von
seinen ersten Artikeln durch die nationalistischen Zeitungen (die
einzigen, die an der Front geduldet wurden) erfahren, die zu polemischen
Zwecken Auszüge daraus brachten. Er schrieb seiner Frau, welche
Erleichterung er bei diesen Worten eines anständigen und empörten Mannes
empfunden hätte, und bat sie, Clerambault wissen zu lassen, daß seine
alte Freundschaft für ihn dadurch nur noch inniger und wärmer geworden
sei. Kurze Zeit darauf fiel er, noch ehe er die folgenden Aufsätze
erhielt, die er seine Frau gebeten hatte ihm zu senden.

Als er hingegangen war, suchte sie, die einzig für ihn lebte, sich jenen
Menschen zu nähern, die ihm in den letzten Stunden seines Lebens
nahegestanden hatten. Sie schrieb an Clerambault. Er, der sich in seinem
Provinzwinkel innerlich verzehrte, ohne die Energie zu finden, sich
daraus loszureißen, empfing den Ruf der Frau Mairet wie eine Erlösung.
Er kam nach Paris zurück. Es bedeutete für sie beide ein bitteres
Wohlgefühl, gemeinsam das Wesen des Dahingegangenen wieder zu erwecken,
und sie teilten es sich so ein, daß sie sich einen Abend jeder Woche
einzig dafür frei hielten, um gemeinsam mit ihm beisammen zu sein.
Clerambault war der einzige aus dem Freundeskreis Mairets, der die
geheime Tragödie eines Opfers verstehen konnte, das von keinem
vaterländischen Wahn künstlich vergoldet war.

Zuerst fühlte Frau Mairet eine Erleichterung darin, ihm alles zu zeigen,
was sie empfangen hatte. Sie las ihm die Briefe vor, die vertraulichen
Mitteilungen seiner Enttäuschung. Mit Ergriffenheit durchschritten sie
seine Gedankenkreise und kamen dazu, alle die Probleme aufzurollen, die
den Tod Mairets und jenen von Millionen anderer verschuldet hatten.
Nichts konnte Clerambault bei dieser unerbittlichen Fragestellung
zurückhalten. Auch sie war nicht die Frau, einer Suche nach der Wahrheit
auszuweichen. — Und doch...

Clerambault bemerkte bald, daß seine Worte ihr ein gewisses Unbehagen
verursachten, sobald er laut aussprach, was sie nur zu gut selbst wußte
und was die Briefe Mairets feststellten, nämlich die verbrecherische
Sinnlosigkeit solchen Sterbens, die Fruchtlosigkeit einer solchen
Aufopferung. Sie versuchte, das, was sie ihm anvertraut hatte, gleichsam
wieder zurückzunehmen, sie stritt über den Sinn des Wortlautes mit einer
Leidenschaft, die nicht immer ganz aufrichtig schien, und gab auf einmal
vor, sich gewisser Worte Mairets zu erinnern, die eher eine
Übereinstimmung, ja sogar Zustimmung zur öffentlichen Meinung
bekundeten. Eines Tages bemerkte Clerambault, als sie ihm einen Brief,
den sie schon früher einmal gelesen hatte, wieder vorlas, wie sie über
einen Satz hinwegglitt, in dem sich der heroische Pessimismus Mairets
deutlich verriet. Und als er darauf bestand, schien sie ein wenig
beleidigt. Sie wurde ablehnend, allmählich verwandelte sich ihr
peinliches Gefühl in Kälte, dann in Erregtheit, schließlich sogar in
eine Art geheimer Feindseligkeit. Es endete damit, daß sie Clerambault
mied, und ohne daß ihr Bruch offen eingestanden war, fühlte er, daß sie
ihm böse war und ihn nicht mehr sehen wollte.

Denn in gleichem Maße, wie sich die unerbittliche Analyse Clerambaults
verschärfte und die Grundlagen der ganzen zeitgenössischen Meinungen
negierte, bildete sich bei Frau Mairet ein gegensätzlicher Prozeß im
Sinne einer Wiederherstellung idealer Begriffe heraus. Ihre Trauer
bedurfte der Überzeugung, daß sie trotz allem irgendeinen heiligen Grund
habe. Es fehlte ihr eben der Verstorbene, um ihr zu helfen, die Wahrheit
zu ertragen. Denn zu zweien ist selbst die furchtbarste Wahrheit noch
eine Freude. Aber für den, der allein zurückbleiben muß, wird sie
tödlich.

Clerambault verstand dies, seine bebende Feinfühligkeit spürte, daß er
die Frau leiden gemacht hatte, und er fühlte ihr Leiden in sich selbst.
Es fehlte nicht viel, so hätte er ihrem Widerstande gegen sich selbst
zugestimmt, denn er sah, welch ungeheurer Schmerz in ihr verborgen war
und sah zugleich die ganze Kraftlosigkeit seiner Wahrheit, die ihr keine
Erleichterung brachte. Ja noch mehr: er sah, daß er einem Leiden, das
schon vorhanden war, nur noch ein neues Leiden hinzugefügt hatte....

Unlösbares Problem! Solche unglücklichen Menschen können nicht ohne den
mörderischen Wahn leben, dessen Opfer sie sind. Und man kann ihnen den
Wahn nicht wegnehmen, ohne ihre Leiden unerträglich zu machen. Familien,
die Söhne oder Gatten oder Väter verloren haben, bedürfen eben des
Glaubens, es sei für eine gerechte und wahre Sache geschehen. Die
lügnerischen Staatsmänner sind gezwungen, diese Lüge um der anderen
willen und um ihrer selbst willen aufrechtzuerhalten, denn wenn sie nur
einen Augenblick aufhörten, wäre das Leben weder für sie noch für die,
über die sie gebieten, erträglich. Der unglückliche Mensch ist eben die
Beute seiner eigenen Ideen, und wenn er ihnen auch alles schon
hingegeben hat, so muß er ihnen jeden Tag noch immer mehr hingeben, oder
er findet unter seinen Schritten das Leere und stürzt hinab.... Was?
Nach vier Jahren namenloser Qual und Zerstörung sollten wir zugeben, daß
das alles umsonst war...? ... Nicht nur zugeben, daß selbst der Sieg
eine Vernichtung wäre, sondern daß er es immer sein muß, daß der Krieg
ein Wahnwitz ist und wir uns getäuscht haben.... Niemals! Lieber sterben
bis zum letzten Mann. Schon ein einziger Mensch, dem man die Erkenntnis
aufzwingt, daß sein Leben sinnlos war, gibt sich der Verzweiflung hin.
Wie aber erst, wenn man es einem Volke, zehn Völkern, der ganzen
Menschheit sagt?

Clerambault hörte den Schrei der menschlichen Menge:

„Leben um jeden Preis! Retten wir uns um jeden Preis!“

„Aber ihr wollt euch ja gerade nicht retten! Euer Weg führt euch in neue
Katastrophen, in eine Unzahl neuer Qualen.“

„Mögen sie noch so arg sein, sie sind doch nicht so furchtbar als das,
was du uns darbietest. Lieber mit einem Wahn sterben, als ohne einen
Wahn leben! Ohne Wahn, ohne Illusionen leben... das wäre der lebendige
Tod.“

„Derjenige, der das Geheimnis des Lebens erkannt hat und sein Wort
gelesen“, sagt die harmonische Stimme Amiels, des Enttäuschten, „entgeht
dem großen Rad des Lebens, er ist ausgetreten aus der Welt der
Lebendigen.... Ist einmal der Wahn dahin, so tritt wieder das Nichts in
sein ewiges Reich, die farbige Seifenblase ist zergangen im ungeheuren
Raum, die Qual des Gedankens aufgelöst in die regungslose Ruhe des
unbegrenzten Nichts.“

Aber gerade diese Ruhe im Nichts ist ja die fürchterlichste Qual für den
Menschen der weißen Rasse. Lieber alle Qualen, alle Qualen des Lebens!
Nein, nehmt mir sie nicht weg! Wer mir die mörderische Lüge wegnimmt,
von der ich lebe, ist mein Mörder!...

Und Clerambault legte sich bitter den Titel bei, den ihm zum Spott ein
nationalistisches Blatt gegeben hatte: „_L’un contre tous_“. „Der Eine
gegen Alle.“ Ja, er war der gemeinsame Feind, der Zerstörer des Wahns,
von dem die andern leben....

Aber er wollte es eigentlich gar nicht. Er litt zu sehr unter dem
Gedanken, Leiden zu verursachen. Wie aus dieser tragischen Sackgasse
herauskommen? Wohin immer er sich wandte, überall fand er den unlösbaren
Zwiespalt: entweder todbringenden Wahn oder den Tod ohne Wahn.

„Ich will nicht das eine und will nicht das andere.“

„Ob du es willst oder nicht, gib nach! Hier ist kein Durchlaß.“

„Aber ich werde trotzdem zu meinem Ziele kommen.“



                              Vierter Teil



                                   §

Clerambault durchschritt eine neue Gefahrzone. Sein Wandeln in der
Einsamkeit glich einer Bergbesteigung, bei der man sich plötzlich vom
Nebel umhüllt sieht und an den Felsen klammern muß, ohne weiter vorwärts
zu können. Vor sich sah er nichts mehr, und nach welcher Seite immer er
sich wandte, von überall hörte er aus der Tiefe den Sturzbach des
Leidens brausen. Aber doch: er konnte nicht unbeweglich verharren,
obwohl er über dem Abgrund hing und sein letzter Halt nachzugeben
drohte.

Er stand, von Dämmerung umgeben, an einem Wendepunkt. Dazu kam, daß
gerade an diesem Tage die Neuigkeiten, die die Zeitungen belferten, ihm
mit ihrem Wahnsinn die Seele niederdrückten. Wiederum vergebliche
Menschenhekatomben, die der hypnotisierte Egoismus der Hinterlandleser
natürlich fand, wiederum Grausamkeiten auf allen Seiten, verbrecherische
Repressalien für Verbrechen, die aber von diesen, einst doch anständigen
Leuten stürmisch gefordert und bejubelt wurden! Niemals war ihm der
Horizont, der die armen Menschentiere in ihren irdischen Niederungen
umschließt, umdüsterter und mitleidsloser erschienen.

Clerambault fragte sich, ob dieses Gesetz der Liebe, das er in sich
fühlte, nicht vielleicht nur für andere Welten und eine andere
Menschheit Geltung habe. Unter seiner Post fand er einige neue
Drohbriefe, und im Vorgefühl, daß sein Leben in der tragischen
Sinnlosigkeit der Zeiten in den Händen des erstbesten Narren stünde,
wünschte er im stillen, diese Begegnung möge nicht allzulange auf sich
warten lassen. Aber dennoch, von guter Rasse und fest verwurzelt, wie er
war, führte er sein Leben unverändert weiter, erfüllte methodisch seine
täglichen Pflichten und hielt sich zusammen, um aufrecht und ungebeugt
den Weg bis zum Ziele zu schreiten, wohin auch immer er ihn führen
sollte.

An diesem Tage nun erinnerte er sich, daß er seine Nichte Aline besuchen
wollte, die eben eines Kindes genesen war; sie war die Tochter einer
verstorbenen und von ihm geliebten Schwester, nur ein wenig älter als
Maxime und dessen einstige Jugendgespielin. Als Mädchen hatte sie einen
komplizierten Charakter gezeigt: unruhig, unbefriedigt, alles nur auf
sich beziehend, gefallsüchtig, herrschsüchtig, allzu neugierig und von
gefährlichen Abenteuern seltsam angezogen, dabei ein wenig trocken und
doch leidenschaftlich, nachträgerisch, zornig und dann wieder plötzlich
voll der Fähigkeit, zärtlich und verführerisch zu werden. Zwischen
Maxime und ihr war es schon ziemlich weit geraten. Man mußte acht haben
auf die beiden. Maxime ließ sich trotz seiner ironischen Veranlagung von
diesen harten kleinen Augensternen leicht verlocken, die ihn manchmal
mit ihren elektrischen Blitzen tief anstrahlten. Aline wiederum wurde
erregt und angezogen von Maximes Ironie. Sie hatten sich recht geliebt,
und recht aufeinander wütend gemacht. Dann waren sie beide zu anderen
Erfahrungen übergegangen. Sie hatte in zwei oder drei andere Herzen
Verwirrung gebracht und sich schließlich höchst vernünftig, als sie die
Stunde und Gelegenheit für günstig hielt — alles hat ja seine Zeit —,
mit einem ehrbaren Handelsmann, der gute Geschäfte in seinem Kunst- und
Kirchenmöbelladen in der Rue Bonaparte machte, verheiratet. Sie befand
sich gerade in andern Umständen, als ihr Mann an die Front mußte.
Selbstverständlich war sie glühende Patriotin, denn „wer sich selbst
liebt, liebt auch die Seinen“. Und sie wäre eine der letzten gewesen,
bei denen Clerambault Verständnis für seine Gedanken des brüderlichen
Mitempfindens erhofft hätte. Mitempfinden hatte sie wenig für Freunde,
und keines für die Feinde. Sie hätte sie am liebsten in einem Mörser
zerstampft, mit derselben kalten Freude, mit der sie einst Herzen und
Insekten gequält hatte, um sich für irgendwelche, ihr von anderen
zugefügte Unannehmlichkeiten zu rächen.

Aber in demselben Maße, wie die in ihr wachsende Frucht reifte, wandte
sich all ihre Aufmerksamkeit dieser zu, alle Kräfte ihres Herzens
strömten nach innen. Der Krieg entfernte sich für sie, sie hörte nicht
mehr die Kanonade von Noyon. Wenn sie davon sprach — immer weniger
jeden Tag —, so schien es, als handelte es sich dabei um eine
Kolonialexpedition. Sie erinnerte sich wohl der Gefahren ihres Mannes,
und sicherlich, sie hatte ein mitleidiges „Armer Kerl“ für ihn, zugleich
mit einem kleinen gerührten Lächeln, das zu sagen schien: „Er hat
wirklich Pech, er ist ein wenig ungeschickt.“ Aber sie hielt sich bei
diesem Thema nie lange auf, und es ließ, Gott sei Dank, keine Spuren in
ihr zurück. Ihr Gewissen war ja ruhig, sie hatte ihre Zeche bezahlt. Und
schleunigst kehrten Alinens Gedanken zur einzig wichtigen Aufgabe
zurück. Im ganzen weiten Universum war das Ei, das sie zu legen hatte,
anscheinend die einzige Sache von Belang für sie.

Clerambault, mit seinen Kämpfen vollauf beschäftigt, hatte Aline seit
Wochen nicht gesehen und nichts von dieser Änderung ihrer Gesinnung
wahrgenommen. Wenn Rosine einige Worte darüber fallen ließ, so hatte
seine abgewandte Aufmerksamkeit nicht darauf gehört. Ganz plötzlich,
Schlag auf Schlag, innerhalb vierundzwanzig Stunden, empfing er die
beiden Neuigkeiten zugleich: daß das Kind geboren sei und daß Alinens
Gatte, so wie seinerzeit Maxime, „vermißt“ werde. Und sofort malte er
sich den Schrecken der armen jungen Mutter aus. Er sah sie so, wie er
sie immer gekannt hatte, geteilt zwischen einer Freude und einem Leid,
immer befähigter, dieses als jene zu empfinden. Er sah sie, wie sie sich
dem Schmerz ganz hingab und selbst in ihrer Freude irgendeinen Vorwand
für ihr Leiden suchte, sah sie schon leidenschaftlich, bitter,
aufgeregt, herausfordernd gegen das Schicksal und böse gegen alle. Ja,
er war sogar nicht einmal sicher, ob sie nicht gerade jetzt aus dem
Gefühl des Hasses und der Rache gegen ihn persönlich verärgert sein
würde, um seiner Gedanken des Friedens und der Versöhnung willen. Daß
seine Haltung die ganze Familie skandalisierte, wußte er, und bei
niemandem vermeinte er dafür weniger Duldung zu finden als bei Aline.
Aber es war ihm ein Bedürfnis, ob sie ihn nun gut oder schlecht
aufnehmen wollte, mit seinen zärtlichen Gefühlen ihr zu Hilfe zu kommen.
Und den Rücken gleichsam schon beugend vor dem kalten Wassersturz, dem
er entgegenging, stieg er die Treppe empor und klingelte an Alinens Tür.

Er fand sie auf dem Bett hingestreckt, ausgeruhten Antlitzes, verjüngt,
verschönt, zärtlichen Wesens und strahlend vor Glück, neben ihr das
kleine Kind, das sie an die Seite ihres Bettes hatte stellen lassen. Wie
eine leuchtende, ältere Schwester des weißgewickelten Säuglings sah sie
aus, den sie mit dem Lächeln heiterer Bewunderung betrachtete, wie er,
mit offenem Mäulchen auf dem Rücken liegend, in der Luft seine
Fingerchen spreizte wie ein Maikäfer seine Beine. Er schien noch ganz in
die Dumpfheit des unbewußten Lebens versunken, im Traum noch von der
goldenen Nacht und der Wärme des mütterlichen Schoßes.

Sie begrüßte Clerambault mit triumphierendem Überschwang: „Ah, mein
guter Onkel, wie lieb Sie sind! Kommen Sie rasch, schauen Sie mein Süßes
an, meinen Schatz!“

Sie frohlockte, ihr Meisterwerk zeigen zu dürfen, und war jedem dankbar,
der es beschaute. Nie hatte Clerambault sie so zärtlich und so hübsch
gesehen. Er beugte sich über das Kind, aber er sah es fast nicht an,
obwohl er ihm alle höflichen Gesten machte und seiner Bewunderung in
begeisterten Ausrufen Ausdruck gab, die die Mutter zu erwarten schien
und im Flug wie eine Schwalbe einstreifte. Er sah sie an, sah nur dieses
selige Antlitz, diese guten lachenden Augen, dieses gute Kinderlächeln.
Oh, wie schön ist das Glück, wie tut es wohl!... Alles, was er hatte
sagen wollen, war seinem Gedächtnis entschwunden. Er fühlte, es war hier
unnötig, nicht am Platze. Jetzt mußte er nur das Wunder beschauen und
höflich die Ekstase der kleinen Bruthenne teilen. Ach, welches
entzückende, eitle, unschuldige Jubellied!

Manchmal freilich überflog seine Augen der Schatten des Krieges, der
niedrigen und sinnlosen Metzelei, das Bild des toten Sohnes, des
verschwundenen Gatten, und mit einem traurigen Lächeln über das Kind
hingebeugt, mußte er denken: „Ach, wozu Kinder in die Welt setzen, für
eine solche Schlächterei! Was wird der arme Kleine in zwanzig Jahren
vielleicht sehen müssen!“

Aber sie, sie dachte nicht daran. Jeder Schatten schwand hin an dem
Licht, das von ihr strahlte. Von all den nahen und fernen Sorgen — ach,
alle waren jetzt ferne! — nahm sie nichts wahr. Sie strahlte nur: „Ich
habe einen Menschen geboren.“ Den Menschen, den Menschen, in dem sich
für jede Mutter immer alle Hoffnungen der Menschheit verkörpern....
Trauer und Torheit der Stunde, wo seid ihr? Ach, was tut’s! Er ist es ja
vielleicht, er, der sie enden wird! Für jede Mutter ist das Kind ja
immer das Wunder, der Heiland!

Erst am Ende seines Besuches wagte Clerambault ein Wort betrübter
Sympathie in bezug auf ihren Gatten. Sie tat einen tiefen Seufzer: „Ach,
der arme Armand“, sagte sie, „sie haben ihn wohl gefangen genommen.“

Clerambault fragte: „Hast du darüber etwas gehört?“ —

„O nein, aber es ist doch wahrscheinlich.... Ich bin fast ganz
sicher.... Man hätte doch sonst was gehört.“ Sie strich mit der Hand wie
eine Fliege den peinlichen Gedanken fort („Weg mit dir, wie kommst du
daher?“). Und schon trat das kleine Lachen wieder in ihre Augen. „Weißt
du“, fügte sie bei, „es ist vielleicht besser für ihn so... jetzt kann
er sich wenigstens ausruhen... mir ist es lieber, ihn dort zu wissen als
im Schützengraben...?“

Und dann, ganz ohne Übergang, floß das Gespräch wieder zu der weißen
Amsel zurück. „Ach, wie wird er selig sein, wenn er mein Kleines, mein
Liebes, mein Gotteskind sieht!“

Erst als Clerambault sich zum Fortgehen erhob, ließ sie sich herab, auch
daran zu denken, daß es auf dieser Erde noch für andere ein Leiden gäbe.
Sie besann sich des Todes Maximes, und sie sagte ihm freundlich
irgendein kleines Wort der Sympathie. Wie gleichgültig, wie im Grunde
gleichgültig klang es... aber immerhin, es war guten Willens gesagt. Und
der gute Wille war etwas so Neues an ihr. Und Wunder über Wunder! Mitten
in der Zärtlichkeit, mit der das Glück sie überflutete, sah sie eine
Sekunde das müde Antlitz, das müde Herz des alten Mannes. Sie erinnerte
sich dunkel, daß er Unklugheiten begangen und dafür Unannehmlichkeiten
gehabt hatte, und statt ihn auszuschelten, wie es ihre Pflicht war,
gewährte sie ihm schweigend, mit einem großmütigen Lächeln Verzeihung.
Wie eine kleine Prinzessin sagte sie zärtlichen Tones, in dem eine
gönnerhafte Nuance durchschimmerte: „Beunruhige dich nicht, mein guter
Onkel... es wird schon wieder alles in Ordnung kommen... komm, gib mir
einen Kuß.“

Und Clerambault ging lächelnd fort, erheitert von der Trösterin, die er
hatte trösten wollen. Er fühlte, wie wenig unsere Leiden gegenüber der
lächelnden Gleichgültigkeit der Natur sind. Für sie ist es allein
wichtig, im Frühjahr zu blühen. Fallet ab, sterbet hin, tote Blätter!
Der Baum schlägt nur um so schöner aus, und der Frühling blüht dann für
andre.... O Frühling, o du lieber Frühling!

                                   §

Aber wie unbarmherzig bist du, Frühling, gegen alle jene, denen du nicht
mehr entgegenblühst, für alle, die ihre Geliebten, ihre Hoffnungen, ihre
Kraft, ihre Jugend, ihren ganzen Lebenssinn verloren haben!

Die Welt war voll von verstümmelten Seelen und Körpern, die von
Bitterkeiten zerfressen waren, die einen um ihres verlorenen Glückes,
die anderen, noch Bemitleidenswerteren, um eines Glückes willen, das sie
noch gar nicht gekannt hatten und um das man sie in der schönsten
Entfaltung ihrer Liebesfähigkeit und ihrer zwanzig Jahre gebracht hatte!

An einem nebelnassen und kalten Januarabend kehrte Clerambault vom
Anstellen vor einem Holzlager zurück. Der Menge, innerhalb derer er
wartete, bis an ihn die Reihe kam, war schließlich, nachdem sie
stundenlang auf der Straße gewartet hatte, mitgeteilt worden, daß heute
nichts mehr verteilt werde. An der Tür seines Hauses hörte er seinen
Namen aussprechen: ein junger Mann, der einen Brief überbrachte, fragte
nach ihm beim Hausmeister. Clerambault trat auf ihn zu. Der junge Mensch
schien von der Begegnung verwirrt. Sein rechter Ärmel war an die
Schulter aufgesteckt, sein rechtes Auge war unter einer Binde verborgen.
Man sah an seiner blassen Farbe, daß er eine monatelange Krankheit
überstanden hatte. Clerambault sprach ihn auf das herzlichste an und
wollte den Brief entgegennehmen, aber der junge Mann zog ihn rasch
zurück und sagte, es sei jetzt nicht mehr nötig. Clerambault lud ihn
ein, zu einem Gespräch zu ihm hinaufzukommen. Der andere zögerte und
wäre Clerambault ein feiner Beobachter gewesen, so hätte er bemerkt, daß
der Besucher von ihm fort wollte. Aber ein wenig langsam im
Gedankenlesen sagte er nur gutmütig:

„Es ist ja wahr, ich wohne ein wenig hoch....“

Sofort in seiner Eitelkeit gereizt, antwortete der andere:

„Ich kann noch ganz gut hinaufsteigen.“

Und er begann sogleich die Treppen hinaufzusteigen.

Clerambault merkte sofort, daß er außer seinen anderen Wunden noch eine
im Herzen hatte.

Sie setzten sich in seinem ungeheizten Arbeitszimmer zusammen hin. Wie
das Zimmer, so war auch ihre Unterhaltung anfänglich kalt. Clerambault
konnte von seinem Besucher nur steife, harte, ein wenig unklare
Antworten herausbekommen und alle in einem ein wenig gereizten Ton. Er
erfuhr, daß jener sich Julien Moreau nannte, daß er Universitätsstudent
war und drei Monate im Spital Val de Grace gelegen hatte. Er lebte
allein in Paris in einem Zimmer des Quartier Latin, obwohl seine
verwitwete Mutter und einige Verwandten in Orleans waren. Er sagte nicht
gleich, warum er nicht zu ihnen gezogen war.

Plötzlich, nach einem Schweigen, entschloß er sich zu sprechen. Mit
erstickter Stimme, die nur mühsam sich durchzuringen vermochte und erst
allmählich weicher wurde, sagte er Clerambault, welche Wohltat ihm die
Lektüre seiner Aufsätze gewesen wäre, die ein Urlauber an die Front
gebracht hatte, und die dort von Hand zu Hand gingen. Sie entsprachen
dem erstickten Schrei seiner Seele: „Nicht lügen!“ Die Zeitungen und die
Schriften, die die Schamlosigkeit hatten, der Armee ein verlogenes Bild
ihrer selbst zu zeichnen, die gefälschten Briefe von der Front, der
schauspielerische Heroismus, die übel angebrachten Scherze und die
widerlichen Windbeuteleien jener Drückebergerschriftsteller, die aus dem
Tod der anderen pathetische Phrasen drechselten, alle diese Dinge hatten
sie in Wut gebracht. Ein Greuel waren für sie die fetten und schmutzigen
Küsse, mit denen diese Prostituierten von der Presse sie feucht
bedeckten, ein Spott schienen sie ihnen auf ihr Leiden. In ihm, in
Clerambault, hatten sie endlich ein Echo gefunden.... Nicht als ob
Clerambault sie verstanden hätte, denn keiner, der ihr Los nicht geteilt
hatte, konnte sie verstehen. Aber er hatte Mitleid für sie gehabt, er
hatte einfach und mit Menschlichkeit von jenen Unglücklichen unter allen
Fahnen gesprochen, hatte gewagt, die allen Völkern gemeinsamen
Ungerechtigkeiten einmal auszusprechen, die sie alle in gleiche Not
getrieben. Er hatte nicht ihre Qual verschwiegen, sondern sie in eine
Höhe des Verstandenwerdens erhoben, in der sie erträglich war.

„Wenn Sie wüßten, wie sehr man eines Wortes wahrer Sympathie bedarf! Es
hilft nichts, daß man nach alledem, was man gesehen, gelitten und leiden
gemacht hat, hart geworden ist, daß man alt geworden ist (es gibt unter
uns Grauköpfe mit gekrümmten Schultern), wir sind doch alle in gewissen
Augenblicken nur verlorene Kinder, die sich nach ihrer Mutter sehnen, um
sich trösten zu lassen. Und die Mütter... Ach, die Mütter, sie sind ja
so fern von uns!... Man bekommt von seiner eigenen Familie Briefe, die
einen niederschmettern.... Das eigene Blut liefert uns aus.“

Clerambault verbarg sein Gesicht in den Händen und stöhnte.

„Was ist Ihnen?“ sagte Moreau. „Ist Ihnen nicht wohl?“

„Aber Sie bringen mir ja gerade all das Böse, das ich getan habe, in
Erinnerung.“

„Sie? Nein, Sie nicht! Die anderen!“

„Ich ebenso wie alle anderen. Wir alle haben Vergebung zu erflehen.“

„Sie sind der Letzte, der das sagen sollte.“

„Ich muß der Erste sein, denn ich bin einer der wenigen, die sich über
ihr Verbrechen selbst Rechenschaft ablegen.“

Und er begann mit einer Anklage gegen seine ganze Generation, unterbrach
sich aber bald mit einer entmutigten Gebärde.

„Ach, das alles macht ja nichts mehr gut. Erzählen Sie mir lieber, was
Sie gelitten haben!“

Es war in seiner Stimme so viel Demütigkeit, daß sich Moreau von Liebe
für diesen alten Mann, der sich selbst anklagte, gleichsam überflutet
fühlte. Sein Mißtrauen schwand gänzlich hin. Er tat die geheime Tür
seiner bitteren und schmerzgeprüften Gedanken auf. Er erzählte, daß er
schon mehrmals bis an die Tür dieses Hauses gekommen wäre, ohne daß er
sich habe entschließen können, seinen Brief abzugeben (den er übrigens
noch immer nicht zeigen wollte). Seitdem er das Spital verlassen, war es
ihm nicht möglich gewesen, mit einem einzigen Menschen zu sprechen. Die
Leute im Hinterland erbitterten ihn durch die Zurschaustellung ihrer
kleinlichen Sorgen, ihrer Geschäfte, Vergnügungen und der Einschränkung
ihrer Vergnügungen, sie erbitterten ihn durch ihren Egoismus, ihre
Unwissenheit und ihre Verständnislosigkeit. Er fühlte sich unter ihnen
fremder als unter den Wilden Afrikas. Übrigens — er unterbrach sich und
fuhr dann erst wieder mit befangenen und erregten Andeutungen fort, die
ihm nicht aus der Kehle wollten — nicht nur unter ihnen, sondern unter
allen Menschen fühlte er sich ein Fremder, denn er sei vom Leben, von
der allgemeinen Freude und Arbeit durch seine Gebrechen jetzt für immer
abgeschnitten, die aus ihm ein Wrack machten. Es verzehre ihn die
törichte Scham, einäugig und einarmig zu sein. Die Blicke eiligen
Bedauerns, die er auf der Straße bemerkte, ließen ihn erröten, denn sie
waren so von der Seite zugeworfen wie ein Almosen, das man nebenhin
gibt, das Antlitz vom widerlichen Schauspiel abgewandt. In seiner
aufgereizten Eigenliebe übertrieb er seine eigene Entstellung. Er
verabscheute sein Gebrechen, dachte an die verlorenen Freuden, an seine
zerstörte Jugend. Wenn er Liebespaare vorübergehen sah, so fühlte er
Eifersucht und schloß sich ein, um zu weinen.

Aber das war noch nicht alles. Und als er den Hauptteil seiner
Bitterkeit dem Mitgefühl Clerambaults, der ihn zu sprechen ermutigte,
anvertraut hatte, kam er zum eigentlichen Grund der Qual, die er und
seine Gefährten, schauernd wie ein Geschwür, das man nicht anzusehen
wagt, in sich trugen. Aus dem Durcheinander seiner heftigen, dunklen und
gequälten Worte erkannte Clerambault, was eigentlich die Seele all
dieser jungen Menschen zerstörte. Es war nicht allein ihre vernichtete
Jugend, ihr hingeopfertes Leben (obwohl dies schon an sich ein
furchtbarer Schmerz war.... Es ist ja sehr leicht für kalte Herzen, für
alte Egoisten und vertrocknete Intellektuelle, von oben herab diese
Liebe, dies Anklammern an das junge Leben und die Verzweiflung, es zu
verlieren, zu verurteilen). Das Allerfurchtbarste aber für sie war, daß
sie nicht wußten, wofür sie dieses Leben hingeopfert hatten, und dann
der alles vergiftende Verdacht, es sei umsonst vertan. Denn der gemeine
Wille nach sinnloser Weltherrschaft irgendeiner Rasse oder nach einem
Stück Land an der Grenze zweier Staaten, konnte nicht genug sein, um den
Schmerz der Opfer zu mindern. Sie wußten zu gut, daß der Mensch nur ein
Fußbreit Erde braucht, um zu sterben, und daß das Blut aller Rassen die
gleiche Quelle des Lebens ist, die darein verströmt.

Clerambault, dem das Bewußtsein seiner Pflicht, des weitaus Älteren in
der Nähe dieser Jungen, eine ruhige Sicherheit gab, die er sonst für
sich allein nicht besaß, sagte ihrem Vertreter, ihrem Boten Worte der
Hoffnung und der Tröstung.

„Nein, euer Leiden ist nicht verloren. Es ist zwar die Frucht eines
grausamen Irrtums, aber auch der Irrtum ist nicht ohne Sinn. Das Unglück
von heute ist der gewaltsame Ausbruch eines Übels, das Europa seit
Jahrhunderten zerfrißt, das Übel des Stolzes und der Gier, des
gewissenlosen Staatenfanatismusses, der kapitalistischen Pest, jenes
lügnerischen Triebwerkes der Zivilisation, das aus Unduldsamkeit,
Heuchelei und Gewalttätigkeit zusammengesetzt ist. Jetzt bricht alles
zusammen, jetzt ist alles neu aufzubauen. Die Aufgabe ist ungeheuer.
Mutlosigkeit ist jetzt nicht erlaubt, denn keiner Generation war ein
größeres Werk je zugedacht als der euren. Es handelt sich jetzt darum,
klar zu sehen durch das Feuer der Schützengräben und die giftigen Gase,
mit denen euch ebenso wie der Feind die Antreiber des Hinterlandes den
Blick verwirren. Es handelt sich darum, den wahren Kampf zu erkennen,
und der geht nicht gegen ein einzelnes Volk, sondern gegen eine ganze
ungesunde Gesellschaft, die auf die Ausbeutung und die Eifersucht der
Völker gegründet ist, auf die Knechtung des freien Gewissens unter die
Staatsmaschine. Nie hätten die resignierten oder skeptischen Völker
diesen wahren Kampf mit solcher tragischen Gewißheit erkannt, ohne die
Leiden dieses Krieges, der sie zerwühlt. Nicht, daß ich damit das Leiden
segnete — lassen wir diesen Irrtum den Gläubigen der Religionen von
einst; wir von heute lieben nicht den Schmerz, wir wollen die Freude.
Kommt aber ein Schmerz über uns, so soll er uns wenigstens dienlich
sein. Das, was ihr gelitten habt, sollen andere nicht mehr leiden!
Deshalb gebt nicht nach. Man hat euch da draußen gelehrt, daß, wenn in
der Schlacht einmal Order zum Angriff gegeben ist, es noch gefährlicher
ist, zurückzuweichen, als vorzurücken. Seht euch deshalb nicht um, laßt
eure Ruinen hinter euch und stürmt nur nach vorwärts, der neuen Welt
entgegen.“

Clerambault merkte, wie die Augen seines jungen Zuhörers, während er
sprach, zu sagen schienen:

„Mehr! Noch mehr! Gib mir mehr als Hoffnung! Gib mir die Gewißheit, gib
mir den nahen, den baldigen Sieg!“

Allen Menschen, selbst den Besten, ist so sehr das Bedürfnis nach
Betrogenwerden angeboren; es genügt ihnen nicht, ihr Opfer einem
künftigen Ideal zu bringen, sondern sie wollen, daß man ihnen die
Verwirklichung dieses Ideals für recht bald verspricht, oder daß die
Belohnung dann wenigstens ewig währe, wie die Religionen es verheißen.
Jesus fand nur Gläubige, weil man in ihm die Gewißheit eines Sieges in
dieser Welt oder in jener andern sah. Wer aber wahr bleiben will, darf
niemals einen Sieg versprechen. Er darf nicht die Gefahren außer acht
lassen; vielleicht wird das Ziel überhaupt nicht erreicht werden und
keinesfalls vor Ablauf längerer Zeit. Den Anhängern scheint natürlich
ein solcher Gedankengang niederschmetternd in seinem Pessimismus: der
die Lehre aber ausspricht, ist selbst nicht Pessimist. Er hat die Ruhe
des Menschen, der nach einem Aufstieg von der Höhe aus die ganze
Landschaft umfängt. Sie aber sehen nur den nackten Hang, den sie noch
hinaufklimmen müssen. Wie nun kann er ihnen diese Ruhe übermitteln?...
Wenn die Schüler die Lehre ihres Meisters schon nicht mit seinen Augen
zu sehen vermögen, so können sie doch wenigstens seine Augen selbst
sehen, in denen jene Vision widerglänzt, die ihnen noch versagt ist. Sie
können daraus die Gewißheit schöpfen, daß er um die Wahrheit wisse (sie
glauben es wenigstens...) und von ihrer Unruhe befreit sei.

Diese seelische Sicherheit, diese innere Harmonie, die die Augen Julien
Moreaus in denen Clerambaults suchten, besaß Clerambault, der Gequälte
und Beunruhigte, nicht!... Aber besaß er sie wirklich nicht?... Wie er,
demütig lächelnd, gleichsam um sich zu entschuldigen, Julien ansah... da
sah er, daß Julien diese Sicherheit in ihm entdeckt hatte. Und wie man
gleichsam mitten aus dem Nebel aufsteigend plötzlich im Lichte ist,
fühlte er, daß das Licht in ihm war. Es war in ihn gedrungen, weil er
einen andern erleuchten sollte.

                                   §

Erleichtert und erheitert hatte ihn der Unglückliche verlassen.
Clerambault blieb zurück, betäubt von einer leisen Trunkenheit. Er
schwieg, um das ganz seltsame Glück einer im eigenen Leben unglücklichen
Seele zu genießen, die mit einemmal fühlt, daß sie teil hat am Glücke
anderer Seelen in Gegenwart oder Zukunft. Alle Wesen erstreben Glück,
tiefes Erfühlen, Fülle des Seins, aber diese Begriffe bedeuten nicht für
alle das Gleiche. Die einen wollen das Glück als Besitz, für die andern
genügt als Besitz schon das bloße Schauen, für andere wieder ist der
Glaube schon das wahre Sehen. Und sie alle, die dieser Instinkt
verbindet, bilden eine einzige Kette, angefangen von jenen, die nur ihr
eigenes Glück suchen, über jene, die es für ihre Familie und ihr Volk
suchen, bis auf zu jenen Wesen, die die ganzen Millionen der Menschen,
das Glück des Alls umfassen. Wer selbst nicht im Glück lebt, schafft es
doch den andern, so wie jetzt Clerambault, und weiß nicht darum; denn
die andern sehen schon das Licht auf seiner Stirn, indes seine Augen
noch im Schatten sind.

Der Blick des jungen Freundes hatte den armen Clerambault über seinen
unbekannten Reichtum belehrt, und dieses Bewußtsein einer göttlichen
Botschaft, die ihm auferlegt war, stellte seine verlorene Bindung mit
den Menschen wieder her. Sie bekämpften ihn nur, weil er ihr verwegener
Pfadfinder war, ihr Christoph Kolumbus, der mitten auf dem öden Ozean im
Trotz darauf beharrte, den Weg zur neuen Welt zu finden. Sie
beschimpften ihn, aber sie folgten ihm doch. Denn jeder wahre Gedanke,
sei er verstanden oder nicht, ist ein ausgesandtes Schiff, das die
nachzüglerischen Seelen im Schlepptau mit sich schleift.

Von diesem Tage an wandte er die Augen von der unabänderlichen Tatsache
des Krieges und der Toten ab, um sich den Lebenden und der Zukunft, die
in unserer Hand ruht, zuzuwenden. Möge die Anziehung derjenigen, die wir
verloren haben, noch so mächtig sein und uns schmerzlich locken, zu
ihnen hinabzusteigen, so müssen wir uns doch dem gefährlichen Hauch
entreißen, der, wie in Rom, von der Gräberstraße aufsteigt. „Vorwärts!
Halte dich nicht auf, du hast noch kein Recht, so wie jene zu ruhen!
Denn andere bedürfen deiner. Sieh nur auf sie, wie sie gleich den
Trümmern der großen Armee sich hinschleppen und in der düsteren Weite
den verlorenen Weg suchen.“

Clerambault wurde des düsteren Pessimismus gewahr, der sich dieser
jungen Leute nach dem Kriege zu bemächtigen drohte, und diese Erkenntnis
quälte ihn. Die moralische Gefahr war groß, aber um sie kümmerte sich
die Regierung natürlich am wenigsten. Sie handelte wie die schlechten
Kutscher, die mit Peitschenschlägen das Pferd antreiben, um im Galopp
über einen steilen Abhang hinaufzukommen. Das Pferd kommt auch wirklich
hinauf, aber der Weg ist droben noch nicht zu Ende und das Pferd bricht
zusammen. Es ist krumm für sein Leben... Mit welcher Begeisterung waren
doch die jungen Menschen in den ersten Monaten des Krieges in den Sturm
gerast! Dann war die Leidenschaft verraucht, aber das Tier blieb
angeschirrt und von der Deichsel aufrecht gehalten; man peitschte rings
um das müde Wesen eine künstliche Erregung auf, man mischte wundervolle
Hoffnungen in sein tägliches Futter und, ob auch der Alkohol der
Betäubung darin jeden Tag mehr verdunstete, so konnte es doch nicht
zusammenbrechen. Und das gequälte Tier beklagte sich nicht einmal, ihm
fehlte die Kraft zu denken. Und worüber und bei wem hätte es sich
beklagen sollen? Es gab eine stillschweigende Vereinbarung gegen alle
diese armen Opfer, nicht auf sie zu hören, sich taub zu stellen und zu
lügen.

Aber Tag für Tag warf die rücklaufende Flut der Schlachten ihre Trümmer
auf den Sand hin — die Verstümmelten und Verwundeten. Und durch sie kam
zum erstenmal das Brausen der Tiefe dieses menschlichen Ozeans ans
Licht. Die Unglücklichen, die plötzlich von dem Polypen, dessen Glieder
sie bildeten, losgerissen waren, fühlten, daß sie sich im Leeren regten
und nichts mehr erfassen konnten, weder ihre Leidenschaft von gestern,
noch den Traum der Zukunft. Und voll Angst fragten sie sich, die einen
nur dumpf, wenige andre mit einer grausamen Klarheit, wofür sie gelebt
hätten, wofür man lebt....

„Da jener, der zerstört wird, leidet, und derjenige, der vernichtet,
daran keinen Genuß findet und bald ebenso vernichtet wird, so sage mir,
was kein Philosoph zu beantworten weiß, wessen Gefallen, oder wessen
Nutzen dient dieses unglückselige Leben des Weltalls, das sich zum
Schaden und durch den Tod aller Kreaturen, aus denen es gebildet ist,
einzig erhält?“ fragt Leopardi.

                                   §

Es war dringend notwendig, darauf eine Antwort zu geben und für jene
einen Sinn des Lebens zu finden. Ein Mann im Alter Clerambaults hat
einen Sinn des Lebens nicht so nötig. Er hat schon gelebt, ihm kann es
genug sein, sein Gewissen freizumachen: das ist für ihn gleichsam sein
öffentliches Testament. Aber für diese jungen Leute, die ihr ganzes
Leben noch vor sich haben, kann es nicht genug sein, die Wahrheit auf
einem Leichenfelde zu sehen. Wie immer auch die Vergangenheit gewesen
sei, für sie zählt doch nur die Zukunft. Ihnen muß man die Trümmer aus
dem Wege räumen!

Woran leiden diese jungen Menschen am meisten? An ihrer eigenen Qual? —
Nein! Sondern an ihrem Zweifel an dem Glauben, dem sie diese Qual zum
Opfer dargebracht haben. (Würde man denn irgendein Bedauern haben, sich
für die Frau geopfert zu haben, die man liebt, oder für sein Kind?) Und
dieser Zweifel vergiftet sie, er nimmt ihnen die Kraft, auf ihrem Weg
weiter fortzuschreiten, weil sie fürchten, an seinem Ausgang die
Verzweiflung zu finden. Deshalb ruft man euch ja zu: „Hütet euch, das
Ideal des Vaterlandes zu erschüttern! Trachtet lieber, es
wiederherzustellen.“ Welch ein Hohn! Kann man denn wirklich durch seinen
Willen einen Glauben wiederherstellen, den man einmal verloren hat? Man
kann sich höchstens selbst belügen, und das weiß man in seiner tiefsten
Seele. Und gerade dieses uneingestandene Bewußtsein tötet den Mut und
die Freude.

So habt den Mut und verwerft den Glauben, an den ihr nicht mehr glaubt!
Die Bäume müssen, um neu zu grünen, ihr Herbstlaub abschütteln. So sollt
ihr aus euren verlorenen Illusionen, wie die Bauern aus dem welken Laub,
ein Feuer machen, dann wird das neue Grün, der neue Glaube nur schöner
aufwachsen. Denn der neue Glaube kann warten. Die Natur stirbt nicht,
sie verwandelt nur ewig ihre Formen. Laßt doch, wie sie, das
abgestorbene Kleid der Vergangenheit hinsinken!

Seht nur recht hin, zieht die Bilanz dieser harten Jahre! Ihr habt
gekämpft und für das Vaterland gelitten. Und was habt ihr dabei
gewonnen? Ihr habt die Brüderlichkeit der Völker entdeckt, die sich
bekämpfen und miteinander leiden. Ist diese Erkenntnis zu teuer bezahlt?
Nein, wenn ihr nur euer Herz sprechen laßt, wenn ihr wagt, es dem neuen
Glauben aufzutun, der gerade, als ihr es am wenigsten erwartetet, zu
euch gekommen ist.

Das Täuschende und Niederdrückende ist, daß der Mensch an sein
anfängliches Ziel gebunden bleibt. Glaubt er dann nicht mehr an dieses
Ziel, so glaubt er, jetzt sei alles verloren. Nun bringt niemals eine
große Tat gerade jene Wirkung hervor, die man von ihr erwartete, und es
ist gut so, denn fast immer übertrifft die tatsächliche Wirkung die
erwartete und ist ganz anderer Art als sie. Weise sein heißt nicht, mit
seiner fertigen Weisheit schon auszuziehen, sondern sie erst unterwegs
in Aufrichtigkeit zu entdecken. Wagt es, euch einzugestehen, daß ihr
nicht mehr dieselben Menschen seid wie 1914, und wagt es zu sein: Dies
wird dann der Hauptgewinn oder vielleicht der einzige Gewinn dieses
Krieges sein.... Aber werdet ihr es wirklich wagen? So viele Beweggründe
vereinen sich ja, euch zu entmutigen; die Müdigkeit aller dieser Jahre,
die alten Gewohnheiten, die Furcht vor der Anstrengung, in das eigene
Ich hinabzublicken, das Abgestorbene auszujäten, das Lebendige zu
bejahen und dann irgendein abergläubischer Respekt vor dem Alten, die
faule Vorliebe für das, was man schon kennt (sei es selbst schlecht, sei
es selbst tödlich), das träge Bedürfnis nach billiger Klarheit, das
einen lieber ins alte Geleise zurückkehren läßt als neuen
selbstgebahnten Wegen entgegengehen. Ist es denn nicht das Ideal der
meisten Franzosen von Kindheit an, irgendeinen fertigen Lebensplan in
die Hand zu bekommen und ihn nicht mehr zu ändern?... Ach, daß doch
wenigstens dieser Krieg, der so viele eurer Heimstätten zerstört hat,
euch zwingen würde, aus eurem Schutt herauszutreten, eine neue Heimstatt
zu gründen und neue Wahrheiten zu suchen!

                                   §

Vielen dieser jungen Leute fehlte es nicht an Verlangen, mit der
Vergangenheit zu brechen und in neue Welten einzutreten — im Gegenteil:
sie hatten es allzu hastig damit. Noch waren sie aus ihrer alten Welt
nicht heraus, so begannen sie schon, die neue gründen zu wollen. Nur
rasch, nur keinen Übergang! Eine reinliche Scheidung! Entweder bewußte
Unterwerfung unter das Vergangene oder Revolution!

So empfand auch Moreau. Er machte aus der Hoffnung Clerambaults auf eine
soziale Erneuerung eine Gewißheit. Und in seiner Aufforderung, geduldig
Tag für Tag sich die neue Wahrheit zu erobern, hörte er nur einen Appell
zur gewaltsamen Aktion, die sie sogleich erzwingt!

Er führte Clerambault in zwei oder drei Kreise junger Intellektueller
revolutionärer Richtung ein. Sie waren nicht sehr zahlreich, in allen
Zusammenkünften begegnete man immer wieder den selben. Von Staats wegen
wurden sie überwacht, was ihnen eher mehr Bedeutung gab, als wenn das
nicht geschehen wäre. Elende Macht, bis an die Zähne bewaffnet, über
Millionen von Bajonetten, über eine Polizei und eine Justiz, beide
folgsam und zu allem bereit, verfügend, bist du dennoch stets furchtsam
und kannst es nicht ertragen, daß ein Dutzend freier Geister sich
versammelt, um über dich zu richten! Dabei hatten diese jungen Leute
durchaus nicht die Art von geheimen Verschwörern. Im Gegenteil, sie
taten alles mögliche, um verfolgt zu werden, aber ihre ganze Tätigkeit
beschränkte sich auf Worte. Was hätten sie auch anders tun können? Sie
waren isoliert von der großen Menge ihrer geistigen Gefährten, die die
große Maschine des Krieges aufsog, die die Armee verschlang und nur dann
zurückgab, wenn sie für sie unbrauchbar geworden waren. Was gab es denn
noch an europäischer Jugend im Hinterland? Abgesehen von den
Drückebergern, die sich nur allzuoft zu den traurigsten Diensten
mißbrauchen ließen und die anderen zum Kampfe hetzten, damit man
vergesse, daß sie selber nicht kämpften, setzten sich die Repräsentanten
der jungen Generation — _rari nantes_ —, die im Zivildienst verblieben
waren, nur aus gänzlich Kriegsuntauglichen zusammen, zu denen sich
allmählich die Schwerverwundeten wie Moreau gesellten. In diesen
verstümmelten und untergrabenen Körpern war die Seele gleich brennenden
Kerzen in einer Laterne mit zerbrochenen Fenstern: sie verzehrte sich,
sie züngelte und rauchte, ein Windstoß konnte sie auslöschen. Aber da
sie mit ihrem Leben nicht mehr rechneten, schlug die Glut daraus nur um
so höher.

Diese Seelen hatten übergangslose Stimmungen vom äußersten Optimismus
bis zum äußersten Pessimismus. Und diese heftigen Schwankungen des
Barometers entsprachen nicht immer dem Luftdruck der äußeren Ereignisse.
Der Pessimismus war nur zu leicht erklärlich. Erstaunlicher war aber der
Optimismus, für den man kaum hätte Vernunftsgründe finden können. Sie
waren ja nur eine Handvoll, die nichts tun konnte, gar keine Möglichkeit
zur Tat hatte, und jeder neue Tag schien ihre Gedanken sinnloser zu
machen. Aber je schlechter es stand, um so zufriedener schienen sie zu
sein. Sie besaßen einen Desperadooptimismus, jene tolle Gläubigkeit der
fanatischen und unterdrückten Minorität, die den Antichrist braucht,
damit der Christus wiederkehre. Sie erwarteten gerade aus den Verbrechen
der alten stürzenden Weltordnung die neue Weltordnung, und es war ihnen
gleichgültig, ob sie selbst dabei zugrunde gingen mit all ihren Träumen.
Diese jungen Unbedingten, die Clerambault kennen lernte, sahen ihr
Hauptziel darin, eine bloß teilweise Verwirklichung ihrer Träume
innerhalb der alten Ordnung zu verhindern. Alles oder nichts! Die Welt
zu verbessern, schien ihnen lächerlich. Entweder eine vollendete Welt,
oder sie soll zugrunde gehen. Dieser mystische Glaube an den großen
Umsturz, an eine Weltrevolution spukte gerade in jenen Fieberköpfen am
leidenschaftlichsten, die am wenigsten an die Träume der Religionen
glaubten.... Und dabei waren sie selber religiöser als alle Gläubigen
der Kirche.... O tolle irdische Rasse! Es ist immer derselbe Glaube an
das Absolute, der die Narren des Völkerkrieges, die Narren des
Klassenkampfes, die Friedensnarren in dieselbe Trunkenheit, in dieselbe
Vernichtung reißt! Fast möchte man glauben, daß die Menschheit, als sie
aus dem brennenden Schlamm der Schöpfung auftauchte, einen Sonnenstich
empfing, von dem sie nie geheilt ward und der sie von Zeit zu Zeit mit
solchen Fieberanfällen durchschüttelt.

Oder sind vielleicht diese Mystiker der Revolution Wegbereiter von
Verwandlungen, die in der Rasse keimen — vielleicht noch Jahrhunderte
keimen — und die vielleicht niemals aufblühen werden? Denn es gibt in
der Natur immer Tausende von schlummernden Möglichkeiten für eine
einzige Erfüllung innerhalb jener Frist, die unserer Menschheit zuteil
geworden ist.

Vielleicht ist es gerade das dunkle Gefühl dessen, was sein könnte und
doch nie sein wird, das manchmal dem revolutionären Mystizismus eine
andere, seltenere und tragischere Form gibt — den ekstatischen
Pessimismus, der fieberig zum Selbstopfer drängt. Wie viele dieser
Revolutionäre haben wir gekannt, die im geheimen von der
zerschmetternden Übermacht des Bösen, von der unausbleiblichen
Niederlage ihres Glaubens überzeugt waren und sich doch liebend
begeisterten für das besiegte Ideal — „... _sed victa Catoni_“ — und
für die Hoffnung, für es zu sterben, zu vernichten und vernichtet zu
werden. Wie viel tolle Glut hat die zerschmetterte Kommune, nicht durch
ihren Sieg, sondern durch die Art ihrer Zerschmetterung aufflammen
lassen! Es scheint, daß selbst in den Herzen der ärgsten Materialisten
ein Funke der ewigen Flamme, der mißhandelten, verleugneten und doch
immer neu bekundeten Hoffnung lebt, jenes unzerstörbaren Traumes aller
Unterdrückten von einer besseren jenseitigen Welt.

                                   §

Diese jungen Leute nahmen Clerambault mit verehrungsvoller Zuneigung
auf. Sie versuchten, ihn ganz zu dem ihrigen zu machen, die einen, weil
sie in seinen Gedanken das zu lesen glaubten, was sie selber glaubten,
die anderen in der Überzeugung, dieser gute alte Bürger, für den das
Gefühl bisher der einzige, zwar edle aber unzulängliche Führer gewesen,
würde sich nun durch ihr gestrafftes Wissen überzeugen lassen und mit
ihnen bis an die äußersten logischen Konsequenzen ihrer Anschauungen
gehen. Clerambault setzte sich nur schwach zur Wehr, denn er wußte, daß
nichts in der Welt einen jungen Menschen überzeugen konnte, der sich
eben auf ein System festgelegt hat. In diesem Lebensalter ist jede
Diskussion vergebens. Etwas früher, in den vorausgehenden Jahren, wo der
Einsiedlerkrebs noch seine Schale sucht, kann man auf ihn wirken, und
dann wiederum später, wenn die Muschel abfällt oder schon, wenn sie ihn
in seinen Bewegungen stört. Aber solange das Kleid noch neu ist, gilt
nur eines: es ihm zu lassen, denn es ist ihm ja angepaßt. Wächst er es
aus oder wird es ihm zu groß, so drängt es ihn schon selbst, ein anderes
zu suchen. Nur keinen Zwang, aber sich auch von niemandem zwingen
lassen!

Niemand in diesem Kreise dachte, zum mindestens anfangs, daran,
Clerambault zu vergewaltigen. Aber seine Gedanken wurden manchmal ganz
seltsam nach dem Geschmack seiner Gäste verändert und seine Ideen hatten
eine höchst sonderbare Resonanz in ihrem Munde. Clerambault ließ seine
Freunde reden, er selbst sprach nicht viel, und wenn er dann nach Hause
kam, war er verwirrt und ein wenig ironisch.

„Sind das wirklich meine Gedanken?“ fragte er sich.

Wie ist es doch schwer, seine Seele anderen Wesen mitzuteilen.
Vielleicht unmöglich sogar. Und wer weiß — die Natur ist ja um so viel
klüger als wir — vielleicht ist es für uns gut so.

Seine Ideen vollständig aussprechen — kann man es überhaupt, soll man
es überhaupt? Langsam ist man zu ihnen gelangt, mit Mühe, auf dem Wege
vieler Prüfungen, und nun halten sie gewissermaßen die
Gleichgewichtsschwebe zwischen unseren inneren Elementen. Ändert man
diese Elemente, ihre Zusammensetzung und ihre Art, so ist die Formel
natürlich sofort ungültig und bringt ganz andere Wirkungen hervor.
Könnten wir unsere Gedanken plötzlich in ihrer Gänze auf einmal in einen
anderen Menschen hineinschleudern, so bestünde die Gefahr, daß er toll
würde, ja es gibt sogar Fälle, wo der andere, wenn er sie verstände,
daran sterben würde. Aber die weise Natur hat ihre Vorsichtsmaßregeln
getroffen. Der andere versteht uns nicht, er kann uns nicht verstehen.
Sein Instinkt wehrt sich dagegen. Er fühlt nur den Anstoß unserer Idee
gegen die seine, und wie auf dem Billard wird die Kugel wieder
weggestoßen, nur ist es hier weniger leicht vorauszusehen, gegen welche
Stelle der grünen Wand. Die Menschen hören nicht bloß mit dem reinen
Geist, sondern auch gleichzeitig mit ihren Leidenschaften und ihrem
Temperament. Von dem, was man ihnen gibt, nimmt sich jeder nur, was ihm
paßt und wirft den Rest zurück, und zwar aus einem dunkeln Instinkt der
Verteidigung. Die Vernunft tut sich nie einem neuen Gedanken sofort auf,
sie kontrolliert ihn gleichsam am Schalter, ehe sie ihn hereinläßt, und
sie läßt nur das herein, was ihr genehm ist. Was hat man aus den hohen
Gedanken eines Jesus und eines Sokrates gemacht! Zu ihrer Zeit hat man
sie getötet, um dann zwanzig Jahrhunderte später aus ihnen Götter zu
machen, was ja nur eine andere Form ist, sie noch einmal zu töten; denn
man wirft damit ihren Gedanken ins Himmelreich zurück. Würde man ihn
sich in dieser unserer irdischen Welt verwirklichen lassen, so wäre ihr
Ende gekommen. Das wußten sie selbst, und das Größte ihrer Seele ist
vielleicht nicht, was sie ausgesprochen, sondern was sie verschwiegen
haben. Wie pathetisch ist doch die Beredsamkeit des Schweigens bei
Jesus, wie schön der Schleier über den antiken Symbolen und uralten
Mythen, um die schwachen und furchtsamen Augen zu schonen! Allzu oft ist
das Wort, das für einen das Leben bedeutet, für den anderen der Tod
oder, was noch ärger ist, der Mord.

Was also tun, wenn man die Hände voll hat mit Wahrheiten? Soll man die
Saat im vollen Wurfe ausstreuen? Aber dem Samen des Gedankens kann
Unkraut oder Gift entwachsen!....

Vorwärts! Zage nicht! Du bist nicht der Herr des Schicksals, aber du
bist auch selbst Schicksal, du bist eine seiner Stimmen. So sprich! Das
ist die dir zugeteilte Aufgabe! Sag alles, was du denkst, aber sage es
mit Güte! Sei wie eine gute Mutter, der es nicht gegeben ist, aus ihren
Kindern vollkommene Menschen zu machen, sondern nur zu versuchen, sie
geduldig zu unterrichten, damit sie es werden, wenn sie es selber werden
wollen. Man kann andere nicht gegen ihren Willen oder ohne ihre Mithilfe
befreien. Und selbst wenn dies möglich wäre, was hätte es für einen
Sinn? Denn wenn sie sich nicht selbst befreien, fallen sie schon morgen
wieder in ihre Sklaverei zurück. Man muß ein Beispiel geben und sagen:
„Hier ist der Weg! Seht, man kann sich befreien!“

                                   §

Trotz all seinen Bemühungen, männlich zu handeln und die Folgen seines
Tuns den Göttern zu überlassen, war es doch ein Glück für Clerambault,
daß er nicht die ganze Tragweite seiner Ideen überblickte. Denn seine
eigentliche Absicht war ja, ein Reich des Friedens zu gründen, in
Wirklichkeit aber wirkte seine Idee wohl in beträchtlichem Maße an der
Entfesselung des sozialen Kampfes mit. So paradox es scheint, es ist
dies das Schicksal jedes wahren Pazifismus, weil er eine Verurteilung
des Gegenwärtigen bedeutet.

Aber Clerambault war sich im unklaren darüber, daß gefährliche Mächte
eines Tages sich auf ihn berufen würden. Und in einer seltsamen
Gegenwirkung auf die Gewalttätigkeit dieser jungen Leute arbeitete sich
sein Geist gerade unter ihnen immer mehr zu einer gewissen Harmonie
durch. Je weniger jene — sie unterschieden sich darin gar nicht von
vielen Nationalisten, die sie bekämpften — auf das Leben gaben, um so
höher schätzte er es für seinen Teil. Jenen war die Idee fast durchweg
wichtiger als das Leben. (In diesem Wahn erblickt ja die allgemeine
Meinung eine Größe der Menschheit.)

Dennoch fühlte sich Clerambault sehr beglückt, unter ihnen auch einen
Menschen zu finden, der das Leben um des Lebens willen liebte. Es war
ein Kamerad Moreaus namens Gillot, schwer verwundet wie jener, und in
seinem Zivilberufe Zeichner in einer Fabrik. Ein Geschoß hatte ihn von
oben bis unten mit Splittern übersät. Er hatte ein Bein verloren und
sein Trommelfell war gesprengt. Aber Gillot wehrte sich mit mehr Energie
gegen das Schicksal als Moreau. In den lebhaften Augen dieses kleinen
dunkelbraunen Burschen brannte trotz allem eine Flamme der Heiterkeit.
Er war ganz einig mit Moreau in der Verurteilung der Sinnlosigkeit des
Krieges und der Verbrechen der modernen Gesellschaft, sie hatten
dieselben Dinge und dieselben Menschen gesehen, aber mit verschiedenen
Augen. Und es kam oft zu Diskussionen zwischen beiden.

„Ja“, sagte Gillot eines Tages, als Moreau gerade Clerambault eine
grauenhafte Erinnerung aus dem Schützengraben erzählte, „ja so war
es..., nur steckt noch etwas Ärgeres dahinter, nämlich, daß das alles
auf uns keinen, gar keinen Eindruck machte.“

Moreau protestierte empört.

„Auf dich vielleicht, und vielleicht auf zwei oder drei andere, da und
dort. Aber die große Masse!... Schließlich hat man bei den Dingen
überhaupt nichts mehr gefühlt.“

Und Gillot fuhr rasch fort, um einen neuen Protest Moreaus im voraus zu
unterdrücken:

„Ich sage das ja nicht, mein Lieber, um etwas aus uns zu machen — dazu
ist ja wahrhaftig kein Anlaß. Ich sage es nur, weil es eben so ist....
Sehen Sie (er wendete sich jetzt an Clerambault), die Leute, die von
dort zurückkommen und die das in Büchern erzählen, die sagen ja
wirklich, was sie fühlen. Aber diese Leute fühlen eben viel mehr als die
meisten Sterblichen, weil sie Künstler sind. So einen reizt eben alles
in den Nerven auf. Unsereins ist abgebrüht, und wenn ich jetzt daran
denke, scheint mir diese Fühllosigkeit das Ärgste von allem. Wenn Sie
hier eine von den Geschichten lesen, die Ihnen die Haare zu Berge stehen
lassen oder bei denen sich Ihnen der Magen umdreht, so fehlt noch immer
die Pointe daran: nämlich, daß ein paar Burschen dort vorne stehen, ihre
Pfeife rauchen, Witze reißen oder an etwas anderes denken. Und das ist
ja nötig, denn sonst krepierte man ja.... Der Mensch hat eben eine
grauenhafte Fähigkeit, sich an alles anzupassen.... Ich glaube, er würde
ganz gut in einer Düngergrube gedeihen. Es ist ja wahr, man kann ein
Grausen vor sich kriegen, aber ich, der ich da zu Ihnen rede, ich bin
selbst so gewesen. Ich habe nicht, wie es der Kleine da tut, meine Zeit
damit verbracht, herumzusinnieren. Wie alle Welt, fand ich das, was ich
zu tun hatte und tun mußte, blödsinnig. Aber da das ganze Leben eben
blödsinnig ist — ich habe doch recht? —, so tat man eben, was man tun
mußte, tat, soviel eben nötig war und wartete, bis es aufhörte....
Wartete auf irgendein Ende, auf dieses oder jenes, auf das meines
Kadavers oder das des Krieges. Irgend etwas mußte ja doch einmal zu Ende
sein... Zwischendurch hat man eben gelebt, geschlafen, gefressen,
geschissen, Verzeihung, — aber man muß die Wahrheit sagen — und wenn
Sie, mein Herr, den Grund von dem allen wissen wollen — der Grund ist
eben, daß man das Leben nicht liebt. Ja, man liebt es nicht genug. Sie
haben sehr recht, wenn Sie in einem Ihrer Aufsätze sagen, es ist
wundervoll, das Leben. Aber jetzt sind nicht eben sehr viele, die danach
aussehen, als ob sie das glauben würden, zumindest unter denen, die
wirklich wach leben. Eher schon unter jenen, die schlafen und auf den
letzten großen Schlaf warten. Die sagen sich: „So liegt man wenigstens
schon und braucht sich nicht mehr zu rühren.“ Nein, man liebt es nicht
genug, das Leben, man lehrt es uns ja auch nicht, es zu lieben, im
Gegenteil, man tut alles, was man kann, um es uns widerlich zu machen.
Von Kindheit an singt man uns Lobpreisungen auf den Tod, auf die
Schönheit des Todes oder einen Hymnus auf die, die schon gestorben sind.
Die Geschichte, der Katechismus, der „Heldentod für das Vaterland“!
Pfaffen und Patrioten blasen es in einem Atem, und schließlich wird
einem das Leben selber ekelhaft. Man möchte sagen, es geschieht heute
das Möglichste, um es einem so dreckig als möglich erscheinen zu lassen.
Nirgends eine eigene Initiative mehr, alles Mechanismus, und dabei nicht
einmal Ordnung: keiner leistet mehr ganze Arbeit, jeder nur Stückwerk,
und man weiß gar nicht mehr, was für einen Sinn es hat, und meist hat es
auch gar keinen Sinn. Es ist ein verdammtes Durcheinander, von dem man
nicht einmal etwas hat. Wie ein Hering ist man irgendwo eingepackt und
hingeschmissen. Man weiß nicht, warum man lebt. Man lebt und kommt nicht
weiter. Vor grauen Tagen haben, so sagt man, die Großväter für uns die
Bastille erstürmt, und jetzt tun diese Lumpen, die das Heft in der Hand
haben, so, als gäbe es für uns nichts mehr zu tun, als wäre schon das
Paradies auf Erden fertig. Steht es denn nicht auf allen unseren
Denkmälern geschrieben? Und doch weiß man, daß es nicht wahr ist, daß
irgend ein anderer Sturm sich vorbereitet, eine andere Revolution....
Freilich! Jene von damals ist so schlecht gelungen! Und alles ist so
unklar... Nein, man hat kein Vertrauen, man sieht nicht, wohin man geht,
es ist keiner da, der uns über diesem Kot und Sumpf irgend etwas Schönes
und Hohes zeigt.... Ja, sie tun alles, was sie können, jetzt, um uns in
Schwung zu bringen: Gerechtigkeit, Freiheit, Brüderlichkeit.... Aber der
Schwindel zieht nicht mehr.... Man kann zwar dafür sterben, dazu sagt
man niemals nein... aber leben, das ist etwas anderes.“

„Und nun?“ fragte Clerambault.

„Ah, jetzt, jetzt, wo man nicht mehr zurück kann, jetzt denke ich immer
nur: Wenn man noch einmal von vorne anfangen könnte.“

„Und wann hat sich das Gefühl bei Ihnen so geändert?“

„Das ist das Tollste! Sofort nach meiner Verwundung. Kaum war ich mit
einem Bein aus dem Leben draußen, so wollte ich schon wieder ins Leben
zurück. Wie schön es doch eigentlich war — nur hatte man, Esel, der man
war, es nicht bemerkt.... Denken Sie, ich sehe mich noch, wie ich zum
erstenmal zum Bewußtsein kam, dort auf jenem Trümmerfeld, noch mehr
zerfetzt als die Leichen, die dort kunterbunt übereinander und
durcheinander, wie bei einem Kegelspiel, lagen. Die ganz besudelte Erde
schien selbst zu bluten. Es war vollkommen Nacht, und ich fühlte zuerst
nichts, als daß es mich fror. Ich lag ganz starr.... Welches Stück von
mir fehlte mir eigentlich? Ich hatte keine Eile, mit dem Nachsehen zu
beginnen, denn mir graute vor dem, was da zutage kommen könnte, und ich
wollte mich nicht rühren. Sicher war, daß ich noch lebte, vielleicht nur
noch einen Augenblick, aber ich gab verteufelt acht, diesen nicht zu
verlieren....

Ich sah am Himmel ein Raketensignal. Was es bedeutete, darum bekümmerte
ich mich nicht mehr. Aber wie es aufstieg, sich bog und die feurigen
Blumen dann ausschüttete — ich kann Ihnen nicht sagen, wie schön ich
das fand, ich sog es mit allen Sinnen ein.... Und auf einmal sah ich
mich als ganz kleines Kind, bei der Samaritaine am Ufer der Seine, an
einem Abend, wo es Feuerwerk gab, und ich sah dieses Kind, als ob es ein
anderes wäre, das mich amüsierte und mir leid tat. Und dann dachte ich,
daß es doch gut sei, in das Leben hineingepflanzt zu sein und zu wachsen
und irgendetwas, irgendjemand, gleichgültig wen, zu haben und ihn zu
lieben. Sehen Sie, das kam nur von dieser Rakete.... Dann kamen die
Schmerzen, ich begann zu brüllen, ich steckte wieder den Kopf in das
Loch hinein.... Dann kamen die Leute vom Hilfsplatz... ich hatte dort
kein gutes Leben, der Schmerz fraß mir wie ein Hund an den Knochen...
fast wäre es besser gewesen, dort im Loch geblieben zu sein... und
doch... selbst dort, und gerade dort... welches Paradies schien es mir,
noch einmal so leben zu können wie einst, nur zu leben, zu leben ohne
Schmerzen, so wie man jeden Tag lebte... Und man merkte es nicht! Ohne
Schmerzen... ohne Schmerzen... und leben!... Aber das ist ein Traum.
Wenn der Schmerz nur einen Augenblick aufhörte, wenn man nur eine Minute
Ruhe hatte und bloß den Geschmack der Luft auf der Zunge fühlte und den
Körper so leicht nach aller Qual.... Himmel, wie schön das war.... Und
so war früher das ganze Leben gewesen, und man hatte es nur nicht
bemerkt.... Mein Gott, wie dumm man ist, erst dann das alles zu
verstehen, wenn man’s nicht mehr hat. Und wenn man es dann endlich liebt
und um Verzeihung bittet, daß man’s nicht zu schätzen wußte, dann
antwortet einem das Leben: Zu spät!“

„Es ist nie zu spät“, sagte Clerambault.

                                   §

Gillot verlangte nichts sehnlicher, als ihm zu glauben. Dieser gebildete
Arbeiter war für den Lebenskampf viel besser ausgerüstet als Moreau und
selbst als Clerambault. Nichts konnte ihn dauernd niederdrücken: fällt
man einmal hin, so steht man wieder auf. Man wird schon einmal Rache
dafür nehmen. In seinem tiefsten Herzen dachte er bei allen
Schwierigkeiten, die sich ihm in den Weg stellten: „Man wird’s schon
schaffen“, und war bereit, mit der einzigen Pfote, die ihm blieb, darauf
loszumarschieren, so weit es nottat, und je früher, je lieber. Denn auch
er, wie alle anderen, glaubte inbrünstig an die Revolution und reimte
sie mit seinem Optimismus zusammen, der den Umsturz von vornherein in
Milde vollendet sah. Er war ohne jede Gehässigkeit.

Und doch konnte man sich darauf nicht verlassen, denn in diesen Seelen
aus dem Volke sind viele Überraschungen versteckt. Sie sind zu leicht zu
verführen und jeder Veränderung geneigt... So hörte Clerambault eines
Tages, wie Gillot mit seinem Frontkameraden Lagneau, der gerade auf
Urlaub da war, davon sprach, alles krumm und klein zu schlagen, wenn die
Eingerückten wiederkämen und der Krieg zu Ende sei, oder vielleicht noch
früher.... Der Franzose aus dem Volk, der oft so bezaubernd, lebhaft und
munter ist und einen Gedanken, fast ehe man ihn noch ausgesprochen hat,
erfaßt — mein Gott, wie rasch vergißt er auch! Vergißt alles, was man
gesagt hat, was er selber gesagt hat, was er gesehen, geglaubt, gewollt
hat, und glaubt dabei immer dessen sicher zu sein, was er will, was er
sagt, sieht und glaubt. Vor Lagneau entwickelte Gillot ganz ruhig genau
die entgegengesetzten Ideen wie jene, die er gestern gegen Clerambault
verteidigt hatte, und nicht nur seine Ideen hatten sich verwandelt,
sondern auch gewissermaßen sein Temperament. Am Morgen war ihm nichts
wild genug gewesen für sein Bedürfnis nach Tat und Zerstörung, abends
träumte er wiederum von nichts anderem, als irgendwo ein kleines
Geschäft zu haben, dick zu verdienen, gut zu essen, ein paar Kinder
aufzuziehen und sich den Teufel um alles andere zu scheren. Obwohl diese
Leute sich in aller Aufrichtigkeit Internationalisten nannten, gab es
unter den Soldaten doch genug, die den alten französischen Rassenhochmut
— gar nicht bösartig aber fest verankert — gegenüber der ganzen
übrigen Welt hatten, ob sie mit ihnen verbündet oder ihr Feind war. Und
selbst in Frankreich mißachteten die Pariser die aus der Provinz, oder,
wenn sie selber aus der Provinz waren, Paris. Sie waren männliche,
offene Kerle, immer bereit, loszuschlagen wie Gillot, und sicher die
Rechten, um eine Revolution zu machen, sie zu zerstören und noch einmal
zu machen, aber dann gelangweilt das Ganze hinzuschmeißen als Beute für
den ersten besten Abenteurer, der gerade des Weges kommt. Und das wissen
die politischen Schleicher allzu gut. Sie wissen, die beste Taktik, die
Revolution zu töten, ist, wenn die Stunde gekommen ist, sie ruhig
vorbeigehen zu lassen und das Volk dabei zu amüsieren.

Und diese Stunde schien sehr nahe. Etwa ein Jahr vor dem Ende des
Krieges gab es in beiden Lagern einige Monate, einige Wochen, wo die
unermeßliche Geduld der gemarterten Völker zu schwinden und ein Schrei
loszubrechen drohte: „Genug!“ Zum erstenmal hatte sich unter ihnen die
Empfindung verbreitet, daß sie blutig genarrt würden, und man kann die
Erbitterung der Menschen aus dem Volke verstehen, wenn sie feststellten,
wie toll die Milliarden im Kriege ausgegossen wurden, während vor dem
Kriege ihre Herren wegen ein paar hunderttausend Franken für die soziale
Hilfe knauserten. Mehr als alle Reden besaßen gewisse Ziffern die
Fähigkeit, die Leute aufzureizen. Man hatte berechnet, daß im Kriege
ungefähr 75000 Franken verbraucht würden, um einen Menschen zu töten,
und man aus derselben Summe, die zehn Millionen Tote macht, zehn
Millionen Rentner hätte schaffen können. Selbst die Dümmsten wurden nun
des ungeheuerlichen Reichtums der Erde und der verbrecherischen
Verschwendung, die man damit trieb, gewahr, der schamlosen Verschwendung
für einen leeren Wahn. Und vor allem der schändlichsten Schändlichkeit:
daß von einem Ende Europas zum anderen an diesen Toten sich das
Geschmeiß der Kriegsgewinner und Leichenschänder dick fraß.

„Ah“, dachten die jungen Leute, „man rede uns nichts mehr vor vom Kampfe
der Demokratien gegen die Autokratien, es ist immer derselbe Schwindel.“
Überall hat der Krieg den Völkern die Schuldigen für die Rache kenntlich
gemacht: die herrschende Klasse, die erbärmliche, politische,
geschäftliche und geistige Bourgeoisie, die während eines einzelnen
Jahrhunderts der Allmacht mehr verbrach an Gewalttätigkeit, Ruinen und
Tollheiten, als in zehn Jahrhunderten die Geißel der Könige und der
Kirchen.

Und kaum, daß sie fern aus dem Walde die Hacke Lenins und Trotzkis,
dieser heroischen Holzhauer, hallen hörten, zitterten viele dieser
niedergepreßten Herzen von neuer Hoffnung. Mehr als einer in jedem Lande
bereitete schon damals sein Beil vor, um mit loszuschlagen — die
herrschende Klasse aber in beiden feindlichen Lagern, von einem Ende
Europas bis zum andern, sträubte sich gegen die gemeinsame Gefahr. Es
war keine besondere Verständigung nötig, damit sie sich untereinander in
diesem Punkte verstanden: hier sprach ihr Instinkt. Die bürgerlichen
Zeitungen der Gegner Deutschlands ließen stillschweigend dem Kaiser
freie Hand, um die russische Freiheit zu erdrosseln, weil sie die
soziale Ungerechtigkeit, von der sie alle gleicherweise lebten,
bedrohte. In der Tollwut ihres Hasses verbargen sie nur schlecht ihre
Freude, als sie sahen, wie der preußische Militarismus, das Untier, das
sich dann gegen sie selbst wenden sollte, sie an diesen großen Empörern
rächte. Aber gerade dadurch entflammte sich in den großen Massen der
Leidenden und bei den kleinen Gruppen der Unabhängigen eine glühende
Bewunderung für jene Ausgestoßenen, die dem ganzen Weltall Schach boten.

Es kochte im Kessel. Um seine Kraft zu ersticken, hatte ihn die
Regierung hermetisch verschlossen und sich selbst daraufgesetzt. Die
blödsinnige Bourgeoisie aber, die am Ruder war und ständig noch neues
Feuer unter dem Kessel entzündete, war verwundert über das dumpfe
gefahrdrohende Grollen. Sie schob diese Revolte der Elemente dem bösen
Geist einiger freier Sprecher in die Schuhe, oder geheimnisvollen
Intrigen, oder dem feindlichen Geld, oder den Pazifisten. Und sie sah
nicht ein, was ein kleines Kind gesehen hätte, nämlich daß man vor
allem, um die Explosion zu verhindern, das Feuer löschen mußte. Der Gott
aller dieser Mächte, wie immer sie sich nannten, ob Kaiserreich oder
Republik, war doch die Faust, die Kraft, mochte sie sich noch so
verschleiern und überpudern. Innen blieb die harte, selbstsichere
Gewalttätigkeit. Und in natürlichem Rückstoß wurde der Glaube an die
Gewalt auch das Evangelium der Unterdrückten. So entstand ein dumpfer
unterirdischer Kampf zwischen sich entgegenarbeitenden Druckwirkungen.
Wo das Metall verbraucht war — zunächst in Rußland — explodierte der
ganze Kessel. Wo der Deckel nicht so streng niedergehalten wurde — wie
in den neutralen Ländern — fuhr zischend der heiße Dampf aus. In den
kämpfenden Ländern, auf denen die Unterdrückung lastete, herrschte eine
trügerische Stille, die dem Unterdrücker recht zu geben schien. Dort
waren sie ebenso wie gegen den Feind auch gegen ihre Mitbürger
gepanzert, denn die Kriegsmaschine war nach beiden Seiten hin, nach vorn
und nach rückwärts, drohend aufgestellt. Der Verschluß aus härtestem
Stahl schien noch gut zu schließen, die Schrauben preßten ihn eisern an,
so daß es unmöglich war oder schien, daß er jemals aufging. Es sei denn,
daß plötzlich alles in die Luft flöge.

Clerambault, nicht minder unter die furchtbare Schraube gepreßt als die
anderen, sah ringsum die Revolte sich vorbereiten. Er begriff sie, er
hielt sie sogar für unvermeidlich. Aber deshalb liebte er sie noch
nicht. Er fand sich nicht ab mit der bequemen „_amor fati_“. Ihm genügte
es, zu verstehen. Aber keine Tyrannei schien ihm ein Recht auf Liebe zu
haben.

                                   §

Die jungen Leute aber verweigerten ihr die ihre durchaus nicht und waren
erstaunt, daß Clerambault so wenig Begeisterung für das neue Idol aus
dem Norden zeigte, für die Diktatur des Proletariats. Sie hielten sich
nicht lange bei vorsichtigen Bedenken und halben Maßregeln auf, um die
Welt glücklich zu machen — auf ihre Art, wenn nicht auf die seine —,
sie diktierten gleich im ersten Anlauf die Unterdrückung jeder Freiheit,
die ihrer Idee von Freiheit entgegengesetzt wäre. Die abgesetzte
Bourgeoisie sollte des Versammlungsrechtes, des Stimmrechtes, des
Rechtes der öffentlichen Meinungsäußerung beraubt werden.

„Schön“, sagte Clerambault, „aber dann wird sie das neue Proletariat
werden. Dann ändert nur die Gewalt ihren Posten.“

„Aber das wird nur eine Zeitlang dauern. Wir werden die letzte
Unterdrückung sein, die eben die Unterdrückung in alle Ewigkeit töten
wird.“

„Ja, immer der Krieg für Recht und Freiheit; immer der letzte Krieg, der
den Krieg für alle Zeiten töten soll. Aber er befindet sich bisher recht
wohl, und das Recht wie die Freiheit bekommen dabei ihre Fußtritte.“

Sie protestierten unwillig gegen den Vergleich. Sie sahen im Krieg, und
an denen, die ihn führten, nur Gemeinheit.

„Und doch“, sagte Clerambault sanft, „haben eine ganze Reihe von euch
mitgetan und fast alle daran geglaubt.... Nein, nein, protestiert nicht!
Auch in dem Gefühl, das euch damals dazu trieb, war etwas Edles. Man
zeigte euch ein Verbrechen, und ihr seid darauf losgegangen, um es zu
vernichten. Euer Eifer war wundervoll. Nur habt ihr geglaubt, es gäbe
nur dieses eine Verbrechen, und hätte man das aus der Welt geschafft, so
würde sie unschuldig und rein sein wie im goldenen Zeitalter. Die selbe
seltsame Naivität ist mir schon in der Zeit der Dreyfusaffäre
aufgefallen. Damals war es so, als ob alle anständigen Leute Europas
(ich gehörte auch dazu) noch nie gehört hätten, daß bisher jemals ein
Unschuldiger ungerechter Weise verurteilt worden sei. Ihr ganzes Leben
war von dieser Erkenntnis einfach umgestürzt, und sie setzten das
Weltall in Bewegung, um diesen Flecken auszutilgen.... Mein Gott, als
die Wäsche fertig war — eigentlich wurde sie ja nicht einmal fertig,
denn die Wäscher wurden müde mitten in der Arbeit und der Reingewaschene
selbst auch — nun, da war die ganze Welt genau so schmutzig wie vorher.
Es scheint eben, daß der Mensch nicht fähig ist, die Gesamtheit des
menschlichen Elends mit seinem Blick zu umfassen. Er hat zu viel Angst,
die Ungeheuerlichkeit des Bösen zu sehen, und um davon nicht ganz
niedergeschmettert zu sein, sucht er sich immer irgendeine einzelne
Sache aus, lokalisiert in ihr das ganze Böse der Welt und hütet sich,
auf alles andere zu schauen. Das alles, meine Freunde, ist mir
verständlich, weil es menschlich ist. Aber man muß eben mehr Mut haben.
In Wirklichkeit ist das Böse überall, beim Feinde sowohl, wie bei uns
selbst. Ihr habt es allmählich in unserem Staatswesen entdeckt und jetzt
wendet ihr euch mit der gleichen Leidenschaft, die früher alles Böse nur
im Feinde sah, gegen die Regierungsformen, deren Fehler euch aufgegangen
sind. Erst wenn ihr einmal erkennen werdet, daß diese Fehler auch in
euch sind — und das ist zu befürchten, nach den Erfahrungen aller
Revolutionen, die immer leidenschaftlich geworden sind, und in denen
jene, die das Recht bringen wollten, schließlich, ohne es selbst recht
zu verstehen, ihre eigenen Hände und ihr Herz beschmutzt fanden —, dann
werdet ihr euch mit einer düsteren Verzweiflung gegen euch selbst
wenden.... Ihr großen Kinder, wann werdet ihr es euch abgewöhnen, gleich
das Absolute zu wollen.“

Sie hätten ihm darauf antworten können, man müsse das Absolute wollen,
um das Wirkliche zu erreichen. Für den Gedanken könne es Nuancen geben,
aber die Tat dulde keine. Clerambault solle sich zwischen ihnen oder
ihren Gegnern entscheiden! Hier gebe es keine Zwischenmöglichkeit.

Und Clerambault verstand dies. Auf dem Feld der Tat gibt es keine andere
Wahl. Dort ist alles vorausbestimmt. Ebenso wie der ungerechte Sieg mit
notwendiger Gewißheit die Revanche erzeugt, die dann wieder ihrerseits
ungerecht sein wird, so führt die kapitalistische Unterdrückung zur
proletarischen Revolution, die dann wieder nach ihrem Vorbild
unterdrückt werden wird. Es ist eine Kette ohne Ende, in der eine eherne
Dike waltet, die eine klare Vernunft erkennt und sogar als ein
Weltgesetz ehren kann. Aber das Herz weigert sich, diese Gesetze
anzuerkennen, sich ihnen zu unterwerfen, denn seine Aufgabe ist es ja,
das Gesetz des ewigen Krieges zu zerbrechen. Wird es ihm jemals
gelingen? ... Wer weiß? Jedenfalls ist eines gewiß, daß dieses Hoffen,
dieses Wollen des Herzens außerhalb der gewöhnlichen Ordnung steht, daß
es aus einer überirdischen, aus einer geradezu religiösen Welt stammt.

Aber Clerambault, der davon durchdrungen war, wagte noch nicht, sich
dies einzugestehen. Oder er wagte zum mindesten nicht, das Wort
„religiös“ auf sich zu beziehen, das Wort, das die Religionen von heute
— die so wenig religiösen — diskreditiert haben.

                                   §

Hatte Clerambault also selbst noch nicht volle Klarheit in sein Denken
gebracht, so war es für seine Freunde noch schwieriger, sich in seiner
Weltauffassung auszukennen. Und wäre ihnen selbst Gelegenheit dazu
geboten gewesen, sie übersichtlich zu erfassen, so hätten sie sie doch
nie verstanden. Sie konnten es nicht ertragen, daß ein Mann, der so
energisch den momentanen Zustand der Dinge als schlecht und mörderisch
verurteilte, trotzdem nicht ihre radikalsten Maßnahmen billigte, um
diesen Zustand aus der Welt zu schaffen. Von ihrem Gesichtspunkt,
demjenigen der sofortigen Aktion, hatten sie nicht unrecht. Aber das
Feld des Geistigen ist viel weiter; seine Kämpfe spielen sich in
größeren Räumen ab und verzetteln sich nicht in blutigen Plänkeleien.
Clerambault erkannte das ewige Axiom der Tat „Der Zweck heiligt die
Mittel“ nicht an, selbst nicht unter der Voraussetzung, daß diese von
seinen Freunden gepriesene Kampfmethode die erfolgreichste sei. Er war
im Gegenteil der Meinung, daß die Mittel für den wirklichen Fortschritt
von höherer Wichtigkeit seien als die Ziele. Denn Ziele ... gibt es denn
wirklich ein endgültiges Ziel?

Diese allzu umfassende und verschwommene Art des Denkens erbitterte aber
die jungen Menschen und bestärkte sie in jener gefährlichen Abneigung
gegen die Intellektuellen, die sich seit fünf Jahren bei der arbeitenden
Bevölkerung herausgebildet hatte. Sicherlich hatten die Intellektuellen
nichts Besseres verdient, denn wie weit waren die Zeiten, wo die
Geistigen an der Spitze der Revolutionen standen! Jetzt schlossen sie
sich mit allen reaktionären Kräften zusammen, und selbst die
verschwindend kleine Zahl derer, die sich außerhalb des Clans gehalten
hatten und seine Irrtümer tadelten, zeigte sich, wie Clerambault,
unfähig, auf ihren Individualismus zu verzichten, der sie einmal
gerettet und nun zu Gefangenen gemacht hatte. Kaum hatten nun die
Revolutionäre die Unfähigkeit selbst der Besten erkannt, sich den neuen
Massenbewegungen einzuordnen, so gingen sie einen Schritt weiter und
proklamierten den Niedergang der Intellektuellen. Der Stolz der
Arbeiterklasse, der sich schon in Artikeln und Reden äußerte,
ungeduldig, sich wie in Rußland bald in Taten manifestieren zu können,
dieser Stolz verlangte, daß die Intellektuellen sklavisch ihren
proletarischen Herren gehorchten. Das Seltsamste dabei war, daß einige
unter den Intellektuellen selbst am leidenschaftlichsten diese
Erniedrigung ihres Standes verlangten — sie hätten gern damit glauben
gemacht, daß sie nicht mehr dazu gehörten und vergaßen es sogar
selbst.... Moreau freilich vergaß es nicht. Aber nur mit noch größerer
Bitterkeit verabscheute er die Klasse, deren Nessushemd ihm auf der Haut
brannte. Seine Erbitterung war ohne Maß.

Er trug jetzt gegen Clerambault seltsam aggressive Gefühle zur Schau. Er
unterbrach ihn in der Diskussion ohne jede Höflichkeit, mit einer
gewissen Art ironischer und gereizter Schärfe, daß man oft das Gefühl
hatte, er wolle ihn bewußt verletzen.

Clerambault nahm es ihm nicht übel. Er war voll Mitleid mit ihm, denn er
wußte, daß Moreau litt, und konnte sich die Bitterkeit eines
hingeopferten jungen Lebens gut vorstellen, dem die sittliche Nahrung,
die für einen fünfzigjährigen Magen gehört — Geduld und Resignation —
nicht recht munden wollte.

Eines Abends, als sich Moreau gegen Clerambault besonders unangenehm
gezeigt hatte und doch ihn durchaus nach Hause begleiten wollte,
gleichsam als könnte er sich nicht entschließen, ihn zu verlassen, und
als er da vor sich hinschweigend und verschlossen an seiner Seite
schritt, blieb Clerambault einen Augenblick stehen und sagte, indem er
freundschaftlich seinen Arm nahm, lächelnd:

„Mein armer Junge, dir geht es wohl nicht gut?“

Moreau war verdutzt, raffte sich zusammen und fragte trockenen Tones,
woran man denn merken könnte, daß „es nicht gut ginge“.

„Nun daran, daß Sie so bösartig waren heute abend“, antwortete
Clerambault gutmütig.

Moreau protestierte.

„O doch! Was für Mühe haben Sie sich gegeben, um mir weh zu tun: Ja,
doch, ein wenig, nur ein ganz klein wenig.... Ich weiß es sehr gut, daß
Sie es nicht ganz ernstlich wollen, aber wenn ein Mensch wie Sie einen
andern leiden machen will, so ist das ein Zeichen, daß er selber
leidet.... Habe ich nicht recht?“

„Verzeihen Sie mir“, sagte Moreau, „es ist wahr. Mir tat es weh, zu
sehen, daß Sie nicht an unsere Aktion glauben.“

„Und Sie selbst?“ fragte Clerambault.

Moreau verstand nicht.

„Und Sie selbst“, wiederholte Clerambault, „glauben Sie denn daran?“

„Und ob ich daran glaube“, rief Moreau entrüstet.

„Aber nein“, sagte Clerambault ganz sanft.

Moreau war nahe daran, zornig auszubrechen. Dann sagte er nachgiebiger:
„Doch, durchaus!“

Clerambault war weitergegangen.

„Nun gut“, sagte er, „das ist ja Ihre Sache, Sie müssen ja besser wissen
als ich, was Sie eigentlich glauben.“

Sie gingen nebeneinander her, ohne zu sprechen. Nach einigen Minuten
faßte Moreau Clerambault am Arm und sagte:

„Wieso konnten Sie das wissen?“

Sein Widerstand war gebrochen. Er enthüllte die Verzweiflung, die sich
unter seinem aggressiven Willen zur Gläubigkeit und zur Tat verbarg.
Innerlich war er von Pessimismus zerfressen, der ja immer eine
natürliche Folge jedes in seinen Illusionen schmerzhaft enttäuschten,
übermäßigen Idealismus ist. Die religiöse Seele von einst war ganz
ruhevoll: sie stellte das Gottesreich hinüber in ein Jenseits, das kein
irdisches Geschehnis erreichen oder zerstören konnte. Aber die religiöse
Seele von heute, die das Gottesreich mitten in unsere Welt stellen will
und es auf dem Grunde der menschlichen Vernunft und der Liebe aufbaut,
die wird lebensüberdrüssig, sobald das Leben ihren Traum einstürzen
läßt. Es gab Tage, wo Moreau sich am liebsten die Adern aufgeschnitten
hätte! Die Menschheit schien ihm wie eine faulende Frucht, voll
Verzweiflung sah er den Zusammenbruch, den Untergang, die Niederlage,
die von allem Anfang im Schicksal der menschlichen Rasse wie ein Wurm in
der Frucht eingesponnen sitzt, und er konnte die Idee dieses unsinnigen
und tragischen Schicksals, dem die Menschen nie entrinnen werden, nicht
ertragen. Wie Clerambault fühlte er in seinen Adern das Gift des Wissens
und der Vernunft; aber indes Clerambault die Krise überstanden hatte und
die Gefahr nur in der Zügellosigkeit des Geistes sah und nicht schon in
seinem Wesen, war Moreau von der Vorstellung besessen, die Vernunft sei
selbst schon von Gift durchtränkt. Seine krankhaft erregte Phantasie
erschöpfte sich selbstquälerisch in immer neuen Vorstellungen, sie
zeigte ihm die Menschheit mit dem unauslöschlichen Brandmal der
Krankheit ihrer Geistigkeit behaftet. Im vorhinein sah er alle
Möglichkeiten von Katastrophen, denen sie zudrängte. Sah man denn nicht
schon das tragische Schauspiel, wie die Vernunft vor Hochmut taumelte
angesichts der ihr von der Wissenschaft ausgelieferten Gewalten,
angesichts jener Dämonen der Natur, die ihr durch die magische Formel
der Chemie untertan waren, und wie sie in Verwirrung über die zu rasch
überhandnehmende Macht diese zu ihrem eigenen Selbstmord mißbrauchte?

Aber Moreau war zu jung, um unter dem Druck solcher Wahnvorstellung zu
verbleiben. Man mußte etwas tun, etwas tun um jeden Preis, um nicht
allein mit dieser Vision zu bleiben.

„Nein, hindern Sie uns nicht an der Tat! Im Gegenteil, feuern Sie uns
dazu an!“

„Mein Freund“, sagte Clerambault, „man darf die anderen nur dann zu
einer gefährlichen Tat ermutigen, wenn man selber mittut. Mir sind die
Aufhetzer, selbst wenn sie aufrichtig sind, unerträglich, all jene, die
andere treiben, Märtyrer zu werden, ohne selbst das Beispiel zu geben.
Es gibt nur einen Typus des wahrhaft heiligen Revolutionärs: das ist der
Gekreuzigte. Aber nur sehr wenige Menschen sind für die Aureole des
Kreuzes geboren. Der Hauptfehler besteht darin, sich selbst
übermenschliche und unmenschliche Pflichten zu setzen. Es ist ungesund
für die Mehrheit der Menschen, sich zum Übermenschen erheben zu wollen,
und vielleicht für sie selbst nur eine Quelle unnützer Qualen. Aber
jeder Mensch kann trachten, in seinem kleinen Kreise das innere Licht
auszustrahlen, Ordnung, Frieden und Güte. Und das ist das wahre Glück.“

„Aber das genügt mir nicht“, sagte Moreau. „Das läßt zuviel Raum für den
Zweifel. Alles oder nichts.“

„Ja, eure Revolution hat keinen Raum für den Zweifel. Für euch heiße und
harte Herzen, für euch geometrische Gehirne heißt es: alles oder nichts.
Nur keinen Übergang! Aber, was wäre das Leben ohne Übergänge? Sind sie
denn nicht seine Schönheit und seine Güte? Eine zerbrechliche Schönheit
freilich, eine kraftlose Güte, überall Schwäche und Hunger nach Liebe.
Man muß lieben, man muß helfen, Tag für Tag und Schritt für Schritt. Die
Welt verwandelt sich nicht mit einem Schlag und niemals ganz, weder
durch Gewaltstreiche, noch durch Gnadenstöße. Aber Sekunde für Sekunde
geht sie ins Unendliche hinüber, und der schlichteste Mann, der das
fühlt, hat Teil an der Unendlichkeit. Nur Geduld! Eine einzige
Ungerechtigkeit, die man beseitigt, erlöst noch nicht die Menschheit,
aber sie verklärt einen Tag. Und es werden andere kommen und andere
Verklärungen, und jeder Tag bringt seine Sonne. Möchten Sie das
verhindern?“

„Wir können nicht warten“, sagte Moreau. „Wir haben keine Zeit. Jeder
Tag, den wir leben, stellt uns Probleme, die uns ganz aufzehren und die
wir sofort lösen müssen. Wenn wir sie nicht beherrschen, werden wir
ihnen untertan. Wir, damit meine ich nicht so sehr unsere Personen, wir
sind ja schon Hingeopferte. Aber alles, was wir lieben, was uns noch dem
Leben verbindet: die Hoffnung auf die Zukunft, das Heil der
Menschheit.... Fühlen Sie doch, wie diese quälenden Fragen um aller
Zukünftigen willen uns bedrücken, um aller, die Kinder haben. Dieser
Krieg ist ja noch nicht zu Ende, und es ist nur allzu klar, daß er durch
seine Verbrechen und seine Lügen neue, nahe Kriege heraufbeschwört.
Wofür zieht man Kinder auf? Wofür wachsen sie heran? Vielleicht für
ähnliche Schlächtereien? Welcher Ausweg ist da möglich? Man hat rasch
ihre ganze Reihe erschöpft.... Man könnte diese toll gewordenen
Nationen, diese närrischen alten Kontinente verlassen und auswandern,
aber wohin? Gibt es denn irgendwo auf dem Erdball noch fünfzig Joch
Erde, die den freien anständigen Menschen Unterschlupf gewähren? Oder
eine Wahl treffen? Sie sehen wohl, man muß sich entscheiden. Entweder
für die Nation oder für die Revolution. Was bleibt denn sonst noch? Das
Nichtwiderstreben gegen das Übel? Scheint Ihnen das wünschenswert? Das
hat doch nur einen Sinn, wenn man gläubig ist, religiös gläubig, sonst
wäre es nur die Resignation von Schafen, die sich hinschlachten lassen.
Aber die meisten, leider Gottes, entscheiden sich für nichts und ziehen
es vor, gar nicht zu denken, schauen krampfhaft von der Zukunft weg und
lügen sich vor, daß das, was sie gesehen und gelitten haben, nun für
ewige Zeiten vorüber sei ... Darum müssen wir für jene eine Entscheidung
fällen, ob sie wollen oder nicht, sie nach vorwärts treiben, sie retten
gegen ihren eigenen Willen. Die Revolution, das sind immer nur einzelne
Menschen, die für die ganze Menschheit etwas wollen.“

„Mir paßte es nicht sehr“, antwortete Clerambault, „wenn jemand anderer
für mich wollte, und ebensowenig, für einen anderen zu wollen. Ich
möchte lieber jedem helfen, frei zu sein, und selbst der Freiheit keines
anderen Menschen im Wege stehen. Aber ich weiß, ich verlange zuviel.“

„Sie verlangen das Unmögliche“, sagte Moreau. „Wenn man einmal beginnt,
zu wollen, darf man nicht auf halbem Wege stehen bleiben. Es gibt nur
zwei Arten Menschen: diejenigen, welche zuviel wollen — Lenin und alle
Großen (es gibt ihrer wohl kaum mehr als zwei Dutzend in der ganzen
Weltgeschichte) und dann die anderen, die zu wenig wollen, die das
Wollen nicht verstehen. Das ist der große Rest, das sind wir, das bin
ich selbst.... Sie haben es nur zu gut erkannt.... Mein ganzer Wille
kommt nur aus Verzweiflung.“

„Warum denn verzweifeln?“ sagte Clerambault. „Das Schicksal des Menschen
formt sich jeden Tag und keiner kennt es. Unser Schicksal ist das, was
wir sind. Sind wir mutlos, so entmutigen wir es.“

Aber Moreau sagte niedergeschlagen:

„Nein, wir werden nicht stark genug sein, wir werden nicht stark genug
sein.... Glauben Sie, ich wüßte nicht, was für lächerlich geringe
Erfolgsaussichten bei uns jetzt die Revolution hat? Jetzt, in der
gegenwärtigen Zeit, nach den Verwüstungen, der ökonomischen Vernichtung,
der Demoralisation, der tödlichen Müdigkeit, nach all diesen Dingen, die
von den vier Kriegsjahren verschuldet sind?“

Und er fügte das Geständnis bei:

„Ich habe schon das erstemal gelogen, als ich Sie sah, als ich
behauptete, alle meine Kameraden fühlten so stark wie wir das Leiden und
die Erbitterung darüber. Gillot hat Sie richtig belehrt: wir sind nur
ganz wenige. Die anderen sind meistens gute Kerle, aber schwache,
schwache Naturen ... Sie beurteilen die Dinge ziemlich richtig, aber
statt mit dem Kopf gegen die Mauer zu rennen, ziehen sie vor, lieber gar
nicht daran zu denken und sich mit Ironie schadlos zu halten. Ach,
dieses französische Lachen, das ist unser Reichtum und auch unser
Untergang! Es ist ja so schön, aber eine wie gute Handhabe für alle
Unterdrücker. „Mögen sie Spottlieder singen, wenn sie nur ihre Steuern
zahlen“, sagte jener Italiener, und bei uns heißt es: „Mögen sie lachen,
wenn sie nur sterben.“ Dazu kommt noch diese furchtbare
Anpassungsfähigkeit, von der Gillot zu Ihnen sprach. Man kann den
Menschen zu den tollsten und qualvollsten Lebensbedingungen treiben —
wenn sie nur lange genug dauern und er sie innerhalb der Herde mitmacht,
so gewöhnt er sich an alles, an das Warme und an das Kalte, an den Tod
und das Verbrechen. Die ganze Kraft, die für den Widerstand nötig wäre,
verbraucht man auf die Gewöhnung, und dann rollt man sich in irgendeine
Ecke, ohne sich zu rühren, aus Angst, man könne mit irgendeiner
Veränderung die eingeschläferte Qual wieder aufwecken. Ach, es lastet
eine solche Müdigkeit auf uns allen! Wenn die Soldaten zurückkommen
werden, dann werden sie nur einen Wunsch haben: zu vergessen und zu
schlafen.“

„Und Lagneau, der Hitzkopf, der Tollkopf, der davon redet, alles krumm
und klein zu schlagen?“

„Lagneau? Den kenne ich seit Kriegsausbruch. Ich habe gesehen, wie er
eins nach dem andern war, Kriegsbegeisterter, Revanchetrompeter,
Annexionist, Internationaler, Sozialist, Anarchist, Bolschewist und
„_Je-m’en-fichiste_“. Er wird schließlich als Reaktionär enden und sich
wieder hinausschicken lassen, um sich mit Hurra und Heil auf jeden
Feind, den sich die Regierung unter unseren heutigen Feinden oder
Freunden aussuchen wird, zu werfen. Und das Volk? Es ist unserer
Ansicht, aber gleichzeitig auch der Ansicht der Gegner. Das Volk hat
immer hintereinander alle Ansichten.“

„Sie sind also Revolutionär aus Verzweiflung?“ sagte lachend
Clerambault.

„Es gibt viele dieser Art unter uns.“

„Aber Gillot ist doch aus dem Krieg optimistischer zurückgekommen, als
er jemals war?“

„Gillot kann vergessen“, sagte bitter Moreau. „Ich neide ihm dieses
Glück nicht.“

„Aber wir dürfen es ihm nicht zerstören“, sagte Clerambault. „Helfen Sie
Gillot. Er hat Sie nötig.“

„Mich?“ staunte Moreau ungläubig.

„Er hat zu seiner Stärke notwendig, daß man an seine Kraft glaubt. So
glauben Sie daran.“

„Kann man denn glauben wollen?“

„Sie wissen ja etwas davon.... Nicht wahr, nein, man kann es nicht ...
Aber man kann glauben aus Liebe“.

„Aus Liebe zu jenen, die gläubig sind?“

„Glaubt man denn nicht immer nur aus Liebe, kann man denn anders gläubig
sein als aus Liebe?“

Moreau war gerührt. Seine intellektuelle, von Wissensdurst brennende und
verzehrte Jugend hatte, wie die der besten in der bürgerlichen Klasse,
am Mangel brüderlicher Zuneigung gelitten. Menschliche Verbrüderung und
Seelengemeinschaft ist ja aus der modernen Erziehung verbannt. Erst
allmählich und mißtrauisch war dieses konstant unterdrückte Urgefühl in
den Schützengräben, in diesen Gräbern der lebendig zusammengedrängten
leidenden Leiber, wieder erwacht. Aber man hatte Scham, sich ihm
hinzugeben. Die gemeinsame Verhärtung, die Furcht vor Sentimentalität,
die Ironie umkrusteten das Herz. Erst seit der Krankheit Moreaus war die
Umschalung von Stolz nachgiebiger geworden, und es kostete Clerambault
keine Mühe, sie gänzlich zu zerbrechen. Die Wohltat, die von diesem
Manne ausging, war, daß bei der Berührung mit ihm die Eigensucht in den
Menschen hinschwand, denn er besaß selbst keine. Man zeigte sich ihm,
wie er sich selbst allen zeigte, mit seiner wahren Natur, seinen
Schwächen und all den Aufschreien, die sonst ein falscher Stolz zu
ersticken sucht. Moreau, der an der Front, ohne es sich offen
einzugestehen, die Überlegenheit seiner Kameraden oder der
Unteroffiziere, also von Menschen aus einer niedrigeren Schicht, erkannt
hatte, fühlte für Gillot Sympathie und war glücklich, daß Clerambault an
sie appellierte. Clerambault hatte seinen geheimsten Wunsch erweckt,
einem andern eine Notwendigkeit zu sein.

Und ebenso flüsterte Clerambault Gillot die Anregung ein, Optimist für
zwei zu sein und Moreau zu helfen. So fanden beide, in ihrem Bedürfnis,
dem andern zu helfen, selbst eine Hilfe nach dem Gesetz des Lebens: „Wer
gibt, der hat.“

In welcher Zeit immer man lebt, und sei es auch eine der Zertrümmerung,
so ist doch nichts verloren, solange noch in der Seele einer Rasse ein
Funke der männlichen Freundschaft lebendig bleibt. Man muß ihn erwecken,
muß die frierenden einsamen Herzen einander annähern, damit wenigstens
eine der Früchte dieses Völkerkrieges die Vereinigung der Elite der
Klassen, die Verbrüderung der beiden Jugenden sei — jener aus der Welt
der Arbeit und jener aus der des Gedankens —, die, indem sie sich
ergänzen, die Zukunft erneuern sollen.

                                   §

Ist der beste Weg zur Einigung der, daß keiner den andern beherrschen
will, so muß auch das Gegenteil gültig sein, nämlich, daß keiner sich
vom andern unterdrücken lassen darf. Gerade dazu aber trieb diese jungen
Intellektuellen dieser revolutionären Gruppen eine seltsame Eigenliebe.
Sie schulmeisterten verächtlich Clerambault im Namen des neuen Prinzips,
das die Intellektuellen in den Dienst des Proletariats stellen wollte
... „Dienen, dienen!“ Das war das Schlußwort des einst so stolzen
Richard Wagner, aber auch das Wort manch eines enttäuschten Stolzes.
Manche wollen, sobald sie sehen, daß sie nicht Herr sein können, sofort
Sklaven sein.

„Am schwersten ist es in dieser Welt“, dachte Clerambault, „anständige
Menschen zu finden, die einfach meinesgleichen sein wollen. Sind diese
aber unauffindbar und bedarf es unbedingt einer Tyrannei, so ziehe ich
noch diejenige, die einen Aesop und Epiktet körperlich zu Sklaven
machte, aber ihren Geist vollkommen frei gab, jener vor, die äußere
Freiheit mit Seelenknechtschaft verbindet.“

Durch diese Unduldsamkeit wurde er sich erst so recht seiner Unfähigkeit
bewußt, sich irgendeiner Partei anzuschließen. Zwischen den beiden
Möglichkeiten, der der Revolution und der des Krieges, konnte er (und er
tat es auch offen) seine Vorliebe für die Revolution bekunden, denn sie
allein bot ihm eine Hoffnung auf Erneuerung, indes die andere jede
Zukunft tötete. Aber eine Partei vorziehen, bedeutet noch lange nicht,
damit schon seine geistige Unabhängigkeit aufzugeben. In den Demokratien
ist gerade die Auffassung so irrig und so widersinnig, daß alle die
gleichen Pflichten hätten und dieselben Aufgaben. In einer kämpfenden
Gemeinschaft sind die Aufgaben sehr verschieden. Während der Hauptteil
der Armee dafür ficht, einen sofortigen Erfolg zu erzielen, müssen
andere die ewigen Werte gegen den Sieger von morgen, wie gegen den von
gestern behaupten, denn sie schreiten ihnen voraus und erleuchten sie
alle: ihr Licht glänzt fernhin auf den Weg, weit hinaus über den Qualm
des Kampfes. Clerambault hatte sich zu lange von diesem Qualm den Blick
trüben lassen, als daß er sich neuerdings in ein solches Getümmel
stürzen wollte. Aber in dieser Welt der Blinden ist schon die Bemühung,
sehen zu wollen, ein Ungehöriges und vielleicht sogar ein Verbrechen.

Diese ironische Wahrheit wurde ihm während einer Unterhaltung so recht
bewußt, in der einer dieser kleinen Saint-Justs ihm gerade den Text
gelesen und ihn recht frech mit dem „Astrologen, der sich in die Tiefe
des Brunnens fallen ließ“, verglichen hatte.

           _... On lui dit: Pauvre bête,_
           _Tandis qu’à peine à tes pieds tu peux voir,_
           _Penses-tu lire au-dessus de ta tête?_

Und da er nicht humorlos war, fand er den Vergleich nicht ganz
unberechtigt. Gewiß, er gehörte ein wenig der Gemeinschaft jener an....

               _... De ceux qui bayent aux chimères,_
               _Cependant qu’ils sont en danger,_
               _Soit pour eux soit pour leurs affaires...._

Aber wollte denn diese Republik auf die Astrologen verzichten, wie die
erste Republik noch auf die Chemiker? Oder meint ihr sie in Reih und
Glied disziplinieren zu können? Dann ist zu erwarten, daß wir alle
zusammen in den Grund des Brunnens hineinfallen. Wollt ihr das wirklich?
Ich würde nicht Nein sagen, handelte es sich nur darum, euer Schicksal
zu teilen. Aber euern Haß will ich nicht teilen!

„Auch Sie haben Ihren Haß“, antwortete ihm einer der jungen Leute.

Gerade in diesem Augenblick trat ein anderer mit einer Zeitung in der
Hand herein und rief Clerambault zu: „Meinen Glückwunsch, Ihr Feind
Bertin ist tot....“

Der reizbare Journalist war innerhalb weniger Stunden von einer
ansteckenden Lungenentzündung dahingerafft worden. Seit sechs Monaten
hatte er wütend alle jene verfolgt, die er im Verdacht hatte, den
Frieden zu suchen oder auch nur zu wünschen. Denn allmählich war er dazu
gekommen, nicht nur im Vaterlande, sondern auch im Kriege selbst eine
heilige Sache zu sehen. Unter den Opfern seiner Böswilligkeit war
Clerambault sein beliebtestes. Bertin konnte nicht verzeihen, daß er
gewagt hatte, seinen Angriffen standzuhalten. Die Erwiderung
Clerambaults hatte ihn anfangs wütend gemacht. Als Clerambault aber dann
verächtlich auf seine Anschuldigungen und Beschimpfungen kein Wort mehr
erwiderte, verlor er jedes Maß. Seine gewaltsam aufgeblähte übermütige
Eitelkeit war davon so verletzt, daß einzig die vollständige, restlose
Vernichtung des Gegners ihn noch befriedigen konnte. Clerambault
erschien ihm nicht mehr bloß als persönlicher Feind, sondern als Feind
des Staates, als Hochverräter, und er setzte alle Mühe daran, dafür
Beweise zu erbringen, stempelte ihn zum Zentrum eines großen
pazifistischen Komplotts, dessen Lächerlichkeit zu jeder anderen Zeit
jedem in die Augen gesprungen wäre. Aber damals hatte man keine Augen
mehr. Gerade in den letzten Wochen überstieg die Polemik Bertins in
Ansprung und Heftigkeit alles, was er bisher geschrieben hatte. Sie
bedeutete eine wirkliche Drohung für all jene, die der Ketzerei des
Friedenswillens schuldig oder verdächtig waren.

Mit lärmender Befriedigung wurde daher die Nachricht von seinem Tode in
der kleinen Versammlung aufgenommen, und man hielt ihm seine Grabrede in
einer Tonart, die an Energie nichts den Meistern dieser Gattung nachgab.
Clerambault, in die Zeitung vertieft, hörte kaum zu, als einer, der an
seiner Seite saß, ihm auf die Schulter klopfte und sagte:

„Nicht wahr, das macht Ihnen Vergnügen?“

Clerambault fuhr auf.

„Vergnügen!“ sagte er. „Vergnügen!“ wiederholte er.

Er nahm seinen Hut und ging weg.

Er trat auf die dunkle Straße, deren Lichter wegen eines
Luftangriffalarms abgelöscht waren.

In seinen Gedanken sah er ein feines Knabengesicht voll warmer Blässe,
mit schönen, zärtlichen, braunen Augen, gelocktem Haar, belebtem und
lachendem Munde, mit klingendem Stimmfall.... Bertin zur Zeit ihrer
ersten Begegnung, als sie beide noch siebzehn Jahre alt waren. Und er
gedachte ihrer langen, einsamen Nachtwachen, ihrer teuren Vertrautheit,
ihrer Gespräche und Träume — denn auch Bertin träumte damals. Trotz all
seines praktischen Sinnes, seiner frühreifen Ironie konnte er sich nicht
unerfüllbarer Hoffnungen erwehren, nicht der edlen Projekte für eine
neue Menschheit. Ach, wie die Zukunft doch ihren Kinderblicken schön
erschienen war, und wie bei solchen Visionen in verzückten Augenblicken
ihre beiden Herzen sich leidenschaftlich in liebender Freundschaft
hingaben!

Und was hatte nun das Leben aus ihnen beiden gemacht! Was für eine
hartnäckige Erbitterung, was für ein haßvolles Bestreben Bertins, seine
eigenen Träume von einst und den Freund, der ihnen treu geblieben, zu
Boden zu stampfen! Und er selbst, Clerambault, der sich vom gleichen
mörderischen Sturm hinreißen ließ, und versuchte, Schlag auf Schlag den
Gegner blutig zu treffen... der — voll Entsetzen gestand er sich’s ein
— im ersten Augenblick, als er vom Tode des einstigen Freundes hörte,
eine Art Erleichterung empfunden hatte.... Was für ein Dämon wirkt doch
in uns, was für schlechte Instinkte steigen in uns auf?

In diesen Gedanken verloren, hatte er seinen Weg verfehlt. Er bemerkte,
daß er in die entgegengesetzte Richtung ging, statt nach Hause. Vom
Himmel her, der vom Lichtkeil der Scheinwerfer durchschnitten war, hörte
man furchtbare Explosionen. Zeppeline waren über der Stadt. Von den
Festungswerken donnerten die Kanonen, Luftkämpfe spielten sich ab. Wofür
zerrissen sich denn diese rasenden Völker? Um alle dorthin zu gelangen,
wo jetzt Bertin war, in jenes Nichts, das gleichermaßen alle Menschen
und alle Vaterländer erwartet, sie und alle anderen, die Revolutionäre,
die andere Gewalttätigkeiten vorbereiten, andere mörderische Ideale den
bisherigen entgegenstellen, neue Götzen der Schlächterei, die der Mensch
sich selbst unablässig erschafft, um seine bösen Instinkte zu adeln.

Mein Gott, fühlen sie denn nicht die Dummheit ihres rasenden Tuns, im
Angesicht der Sterbenden, mit deren jedem die ganze Menschheit in den
Abgrund stürzt? Wie können Millionen Wesen, die doch nur einen
Augenblick zu leben haben, sich so abmühen, diesen Augenblick durch
ihren erbitterten und lächerlichen Ideenkampf sich so zur Hölle zu
machen? Bettler sind sie alle, die einander für eine Handvoll
Kupfermünzen, die man ihnen hinwirft und die überdies falsch sind,
gegenseitig erschlagen! Alle sind sie gleicher Weise verurteilte Opfer,
und statt sich zusammenzuschließen, kämpfen sie wider einander.... Ach,
ihr Unglücklichen, geben wir einander doch den Friedenskuß! Auf jeder
Stirn, die an mir vorübergleitet, sehe ich den Schweiß des
Todeskampfes....

Aber ein Menschenhaufen, Männer und Weiber, an denen er vorüberkam,
brüllte und heulte vor Freude.

„Er fällt! Einer fällt! Die Schweinehunde verbrennen!...“

Und die beutegierigen Vögel wiederum, die da oben schwebten, jauchzten
in ihrem Herzen bei jedem Todeswurf, den sie über die Stadt säten. Waren
sie nicht wie Gladiatoren, die sich gegenseitig in der Arena die Brust
durchstoßen, nur damit ein unsichtbarer Nero zufrieden sei?

Oh, meine armen Brüder in Ketten!



                              Fünfter Teil



    _They also serve who only stand and wait._   M i l t o n

Noch einmal fand er sich in der Einsamkeit wieder. Nun aber schien ihm
die Einsamkeit, so wie er sie nie gesehen, schön und still, mit einem
gütigen Antlitz, zärtlichen Augen und sanften Händen, die ihre
beruhigende Kühle auf seine Stirn legten. Und diesmal wußte er, daß die
göttliche Gefährtin ihn erwählt hatte.

Es ist nicht jedermanns Sache, allein zu sein. Viele klagen mit einem
geheimen Stolz darüber, es zu sein, und durch Jahrhunderte klingt diese
Klage, aber sie beweist, den Klagenden unbewußt, daß sie nicht Erwählte
der Einsamkeit waren, nicht ihre Vertrauten. Sie haben nur die erste Tür
aufgetan und warten gelangweilt im Vorraum. Doch sie haben nicht die
Geduld gehabt zu warten, bis sie an die Reihe kamen, einzutreten, oder
ihr Aufbegehren hat sie wieder ausgestoßen. Man dringt nicht in das Herz
der Einsamkeit ohne die Gabe der Gnade oder ohne fromm erduldete
Prüfung. Es tut not, vor der Türe den Staub des Weges zurückzulassen,
die lärmenden Stimmen der Außenwelt, die kleinen eigensüchtigen, eitlen
Gedanken, den klagenden Aufruhr enttäuschter Liebe und verwundeten
Strebens. Gleich den reinen orphischen Schatten, deren sterbende Stimme
uns auf goldenen Täfelchen erhalten blieb, muß man nackt und allein die
„dem Kreise der Schmerzen entflohene Seele der eisigen Quelle darbieten,
die dem See des Erinnerns entspringt.“

Es ist das Wunder der Auferstehung. Wer seinen sterblichen Leib verläßt
und meint, alles verloren zu haben, entdeckt, daß er erst jetzt in sein
wahres Wesen tritt. Und nicht nur er selbst, auch die anderen sind ihm
nun zurückgegeben, und er sieht, daß er sie bis jetzt noch nie besessen.
Draußen im Getümmel konnte er nie über die Köpfe der Nächsten
hinwegsehen und selbst dem Nächsten, der, gegen seine Brust gepreßt, ihn
fortschob, konnte er nicht lange in die Augen schauen. Es fehlt an Zeit
und fehlt an Abstand. Man spürt nur das Zusammenstoßen von Körpern, die
sich in ihren gemeinsam enggedrängten Schicksalen zerpressen und die der
dichte Strom des Massenschicksals weiterdrängt. Seinen Sohn hatte
Clerambault erst erkannt, als er schon tot war. Und die flüchtige
Stunde, da er und seine Tochter sich erfühlten, war jene, wo schon alle
Bande des verhängnisvollen Wahns vom Übermaß des Schmerzes gelöst waren.

Nun da er auf dem Weg allmählichen Ausschaltens und Auslesens in die
Einsamkeit gelangt und, wie man meinen sollte, von der Leidenschaft der
Lebendigen abgeschieden war, nun fand er sie alle wieder in einer
leuchtenden Vertrautheit. Alle, nicht nur die Seinen, seine Frau, seine
Kinder, sondern alle die Wesen, die er bisher irrig mit seiner
schönrednerischen Liebe zu umfassen gemeint hatte — alle malten sich
auf dem Grunde seiner inneren Dunkelkammer ab. Am nächtigen Strom des
Schicksals, der die Menschheit hinreißt, des Schicksals, das er mit ihr
selbst verwechselt hatte, schienen ihm die Millionen Kämpfender wie
ringende Balken in der Flut, und jeder Mensch war für sich eine Welt von
Freude und Leiden, Traum und Bemühung. Und jeder Mensch war auch das
Ich. Ich neige mich über ihn und sehe mich selbst. „Ich“ sagen mir seine
Augen, „Ich“ sagt mir sein Herz. Ach, wie ich euch jetzt verstehe, wie
doch eure Irrtümer die meinen sind. Selbst in der Erbitterung jener, die
mich bekämpfen, erkenne ich dich, mein Bruder, ich lasse mich nicht
täuschen: ich bin es selbst.

                                   §

Von nun ab begann Clerambault die Menschen nicht mehr mit seinen Augen
zu sehen, mit den Augen unter seiner Stirn, sondern mit seinem Herzen.
Er sah sie nicht mehr mit seiner Idee als Pazifist, als Tolstoianer (was
ja nur wiederum ein anderer Wahn ist), sondern aus dem Denken jedes
einzelnen heraus, indem er sich in ihn verwandelte. Und er entdeckte, er
durchschaute die Menschen seiner Umgebung, gerade diejenigen, die ihm
die feindlichsten waren, die Intellektuellen und die Politiker, er sah
ihre Falten, ihre weiß gewordenen Haare, den bitteren Zug um den Mund,
ihren gekrümmten Rücken und ihre gebrechlichen Beine, sah, wie sie
angespannt, angekrampft waren und jeden Augenblick in Gefahr,
zusammenzubrechen.... Wie waren sie doch gealtert in den letzten sechs
Monaten! Im Anfang hatte die Kampfbegeisterung sie noch aufgestrafft,
aber je länger der Krieg fortdauerte, je mehr (was immer auch für einen
Ausgang er nehmen würde) seine ungeheuren Verheerungen zur Gewißheit
wurden, desto mehr lastete auf jedem die Trauer um Gefallene und die
Furcht, das Wenige, was ihm geblieben war und das für ihn ein
Unendliches bedeutete, zu verlieren. Sie taten alles, um ihre Angst
nicht zu verraten, mit der äußersten Qual preßten sie die Zähne
zusammen, aber selbst bei den Gläubigsten unter ihnen war die Wunde des
Zweifels offen.... Freilich, man mußte schweigen! Darüber durfte man
nicht sprechen; es aussprechen, hieß sich selbst vernichten....
Clerambault, der sich an Madame Mairet erinnerte, gelobte sich, von
Mitleid durchdrungen, zu schweigen. Aber es war schon zu spät, man
kannte seine Anschauungen, er war gewissermaßen die lebendige
Verneinung, das wandelnde Gewissen. Man haßte ihn, aber Clerambault war
ihnen darum nicht mehr böse. Am liebsten hätte er ihnen geholfen, ihre
Illusionen wieder neu aufzubauen.

Von welch tragischer Größe, wie bemitleidenswert wird doch diese
Leidenschaft einer Überzeugung im Innern einer Seele gerade dann, wenn
sie sich selbst ihrer nicht mehr sicher fühlt. Bei den Politikern
bedient sich diese Leidenschaft des lächerlichen Apparats der
scharlatanhaften Deklamation, bei den Intellektuellen des tollen Trotzes
krankhaft überreizter Gehirne. Aber des ungeachtet sah man überall die
unheilbare Wunde, hörte den Angstschrei nach Gläubigkeit, den Schrei
nach dem heroischen Wahn. Bei den jungen und schlichteren Menschen nahm
diese Gläubigkeit einen rührenden Charakter an, bei ihnen gab es nicht
dieses Pathos, dieses vorgetäuschte Allwissen. Nur den Schwur
ekstatischer Liebe kannte sie, die alles hingegeben hat und dafür nur
ein Wort erwartet, die Antwort: „Ja, es ist wahr, du lebst, meine
Geliebte, mein Vaterland, du göttliche Macht, die mir das Leben und
alles, was ich liebte, genommen hat....“ Und man fühlte ein Verlangen,
sich hinzuknien vor diesen armen, kleinen Trauerkleidern, diesen
Müttern, Bräuten und Schwestern, ihre abgemagerten Hände zu küssen, die
vor Hoffnung und Furcht eines Jenseits zitterten, und zu sagen: „Weint
nicht! Ihr werdet getröstet sein!“

Aber wie sie trösten, wenn man nicht an jenes Ideal glaubt, das sie
leben läßt und das sie tötet? Ohne daß er sie kommen gefühlt, war die
lange gesuchte Antwort endlich ihm nahe geworden, die Antwort: „Man muß
die Menschen mehr als den Wahn und mehr als die Wahrheit lieben.“

                                   §

Die Liebe Clerambaults fand keine Gegenliebe. Niemals war er mehr
attackiert worden, obwohl er schon seit Monaten keine Zeile mehr
veröffentlicht hatte, und im Herbst 1917 erreichten die Angriffe gegen
ihn ein ganz unerhörtes Maß von Gewalttätigkeit. Lächerlich war dieses
Mißverhältnis zwischen der schwachen Stimme dieses einzelnen Mannes und
jenen Wutausbrüchen, doch dieses Mißverhältnis ergab sich gleicherweise
in allen Ländern der Welt. Ein Dutzend armseliger, isolierter,
engumschlossener Pazifisten, die keine Möglichkeit besaßen, in
irgendeiner großen Zeitung zu Worte zu kommen, und die ihre gewiß
rechtliche, aber doch nicht weitklingende Stimme kaum erheben konnten,
entfesselte eine wahre Frenesie von Beschimpfungen und Drohungen gegen
sich. Beim kleinsten Widerspruch verfiel das vielköpfige Ungeheuer, die
öffentliche Meinung, sofort in Epilepsie. — Der weise Perrotin, der
sich sonst über nichts wunderte, der klug abseits geblieben war und
Clerambault in sein Verderben rennen ließ (da sein Herz es so wollte),
erschrak im stillen vor diesem aufschäumenden Übermaß tyrannischer
Dummheit. Ist man einmal in der Geschichte um Jahre über solche Zeiten
hinaus, so wird man darüber lächeln, aber von nahe gesehen, merkte man,
daß die menschliche Vernunft damals dicht vor dem Zusammenbruche stand.
Man mußte sich fragen, warum gerade in diesem Kriege die Menschen viel
allgemeiner ihre Ruhe verloren hatten als in jedem anderen der
Vergangenheit. Ist er denn wirklich gewalttätiger gewesen? Kinderei! Und
bewußtes Vergessen alles dessen, was zu unserer Zeit vor unseren Augen
geschehen ist in Armenien, auf dem Balkan, bei der Niederdrückung der
Kommune, in Kolonialkriegen und bei den neuen Konquistadoren Chinas und
des Kongos.... Von allen Wesen der Erde ist, wir wissen es ja, der
Mensch das grausamste Tier. — Oder kam es davon, daß sich die Menschen
besonders auf diesen Krieg vorbereitet hatten? Im Gegenteil! Die Völker
des Abendlandes waren an einem Punkt der Entwicklung angelangt, wo der
Krieg dermaßen absurd wird, daß es unmöglich ist, ihn bei voller, bewußt
bewahrter Vernunft durchzuführen. Deshalb war es nötig, die Vernunft zu
betäuben, zu delirieren, wollte man nicht den Tod erleiden, den Tod
durch Verzweiflung oder durch den schwärzesten Pessimismus. Deshalb
regte auch die Stimme eines einzelnen, der seine Vernunft behalten
hatte, die anderen, die alle gewaltsam vergessen wollten, so zum Zorn
auf, denn sie hatten Angst, diese Stimme könne sie selbst erwecken und
sie würden ernüchtert, nackt sich selbst und ihrer ganzen Schmach ins
Auge sehen müssen.

Überdies war damals die Situation für den Krieg ungünstig. Die große
neuangefachte Hoffnung auf den Sieg und den Ruhm verflüchtigte sich,
denn immer klarer wurde es, von welcher Seite man auch das Problem
betrachtete, daß der Krieg für alle Beteiligten ein sehr schlechtes
Geschäft sein würde. Weder die materiellen Interessen, noch der Ehrgeiz,
noch der Idealismus schienen auf ihre Rechnung zu kommen, und diese
bittere bald bevorstehende Enttäuschung, daß Millionen Menschen ohne
Resultat aufgeopfert sein sollten, ließ die Menschen, die sich moralisch
verantwortlich fühlten, vor Wut schäumen. Sie hatten nur zwei
Möglichkeiten, entweder sich selbst anzuklagen oder sich an anderen zu
rächen. Und da fiel ihnen die Wahl natürlich nicht schwer. Wer diesen
Mißerfolg vorausgesehen und alles daran gesetzt hatte, ihn zu
verhindern, den machten sie nun verantwortlich für das Mißlingen. Jeder
Rückzug in der Armee, jede Dummheit der Diplomaten suchte sich sofort
mit einer pazifistischen Machination zu entschuldigen. Diesen Menschen,
die niemand kannte, die bei niemand beliebt waren und auf die niemand
hörte, schrieben ihre Gegner eine ungeheure Macht zu, eine ganze
Organisation der Niederlage. Und damit niemand sich darüber täusche, daß
sie nicht den starken Sieg wollten, hing man ihnen das Wort „Flaumacher“
um den Hals. Es fehlte nur noch, daß man, so wie einst in der guten
alten Zeit die Ketzer, sie auch verbrannte. Der Henker war noch nicht
zur Stelle, wohl aber die Henkersknechte.

Um in Schwung zu kommen, hielt man sich zunächst an ungefährliche Leute,
an Frauen, Lehrer, die niemand kannte, und die sich schlecht zu
verteidigen wußten. Dann erst suchte man sich die saftigeren Bissen aus.
Für gerissene Politiker war das eine ausgezeichnete Gelegenheit, sich
gefährlicher Rivalen zu entledigen, die einige unangenehme Geheimnisse
ihrer Herren von gestern wußten. Und nach dem alten Rezept vermischte
man dann in geschickter Weise die Anklagen, nähte gemeine Schwindler und
jene Menschen, deren Charakter oder Geist beunruhigte, in denselben
Sack, damit bei diesem Mischmasch das verdutzte Publikum nicht einmal
mehr versuchen konnte, einen anständigen Menschen von einem Lumpen zu
unterscheiden. Wer noch nicht genügend durch seine Tätigkeit
kompromittiert war, galt dann als kompromittiert durch seine
Bekanntschaften und seine Beziehungen. Und fehlten auch diese, so konnte
man sie ja herbeischaffen, sie wurden ganz nach Maß des Anklageaktes
jederzeit rasch zurechtgeschnitten.

War es festzustellen, ob Xavier Thouron im bestellten Auftrage
Clerambault aufsuchte? Es wäre wohl möglich gewesen, daß er aus eigenem
Antrieb kam, freilich, wer konnte sagen, zu welchem Zweck. Wußte er es
selbst? Im Sumpf der Großstadt gibt es immer skrupellose, fieberhaft
tätige arbeitsscheue Abenteurer, die überall wie die Wölfe
herumschnüffeln und suchen, „_quem devorent_“. Ihr Hunger und ihre
Neugier sind ungeheuer und alles dient ihnen dazu, dieses bodenlose Faß
zu füllen. Schwarz oder Weiß, sie tun alles ohne Gewissensbedenken, sie
sind ebenso bereit, einen ins Wasser zu werfen, wie hineinzuspringen, um
ihn herauszuziehen. Um ihr Leben haben sie keine Angst, sie wollen nur
das Tier in sich füttern und amüsieren. Wenn solche Menschen nur für
einen Augenblick aufhörten, ihre Grimassen zu schneiden und zu
schlingen, würden sie an Langeweile und Selbstabscheu zugrunde gehen.
Aber damit hat es keine Not, dazu sind sie zu klug; sie verlieren keine
Zeit damit, darüber nachzudenken, wie sie „in Schönheit sterben“
könnten.

Niemand hätte recht sagen können, was Thouron eigentlich wollte, als er
Clerambault aufsuchte. Wie immer war er ausgehungert, herumgehetzt,
ziellos und nach einem Braten schnuppernd. Er gehörte zu den Seltenen
seiner Klasse (und damit zum Typ der großen Journalisten), die, ohne
sich die Mühe zu nehmen, das, worüber sie sprechen, zuvor zu lesen, sich
doch rasch eine lebendige, blendende und oft wie durch ein Wunder sogar
ziemlich richtige Vorstellung machen können. Ohne zuviel Irrtümer
entwickelte er Clerambaults „Evangelium“ und tat so, als ob er daran
glaube. Vielleicht glaubte er wirklich daran, solange er sprach. Warum
auch nicht? Er war ja auch zu gewissen Stunden Pazifist. Das hing vom
Wind ab, der gerade wehte, von der Haltung gewisser Kollegen, denen er
gerade nachbetete oder denen er widersprach. Clerambault war von seinen
Worten berührt. Nie hatte er sich ganz das kindliche Vertrauen in den
ersten Besten, der ihn um Hilfe bat, abgewöhnen können, und dann war er
von den gegnerischen Zeitungen nicht allzu verwöhnt. In der Überfülle
des Herzens ließ er sich also seine geheimsten Gedanken entlocken. Der
andere nahm sie in scheinbarer Ergebenheit auf.

Eine so eng eingegangene Bekanntschaft konnte nicht auf diesem Punkt
stehen bleiben. Ein Briefwechsel begann zwischen den beiden, in dem der
eine sprach und der andere ihn zum Sprechen verlockte. Thouron wollte
durchaus Clerambault bereden, seine Gedanken in kleinen populären
Traktaten auszusprechen, und bot sich an, sie in den Arbeiterkreisen zu
verbreiten. Clerambault zögerte und sagte schließlich nein, und zwar
nicht deshalb, weil er aus Prinzip (wie es heuchlerisch die Anhänger der
bestehenden Ordnung und Ungerechtigkeit tun) die geheime Propaganda
einer neuen Wahrheit mißbilligte, wenn keine öffentliche möglich war —
jede unterdrückte Wahrheit flüchtet sich ins Unterirdische, in die
Katakomben —, sondern er sagte nein, weil er sich seinerseits für eine
solche Form der Wirksamkeit nicht bestimmt fühlte. Seine Aufgabe war,
ganz offen zu sagen, was er dachte, und die Folgen seiner Worte auf sich
zu nehmen. Das Wort mußte sich dann durch sich selbst verbreiten —
seine Aufgabe konnte nicht sein, es den Menschen ins Haus zu tragen.
Überdies warnte ihn ein geheimer Instinkt — er wäre errötet, hätte er
sich erlaubt, ihn wach werden zu lassen —, eine Art von Mißtrauen gegen
die dienstfertig angebotene Hilfe seines neuen Commis voyageur. Freilich
konnte er dessen Eifer nicht immer im Zaume halten. Thouron
veröffentlichte in seiner Zeitung eine Verteidigung Clerambaults,
erzählte darin über seine Gespräche und Besuche, entwickelte die
Gedanken seines Meisters und kommentierte sie. Clerambault war sehr
erstaunt, als er seine eigenen Gedanken dort las, denn er kannte sie in
dieser Form nicht wieder. Dennoch konnte er aber seine Vaterschaft nicht
verleugnen, denn in die Kommentare Thourons waren Zitate aus seinen
Briefen eingefügt, deren Text vollkommen korrekt war. Freilich erkannte
er sich in diesen noch weniger, denn die selben Sätze nahmen in den
Zusätzen, in die sie eingepfropft waren, einen Akzent und eine Farbe an,
die er ihnen nie gegeben hatte. Dazu kam, daß die Zensur, besorgt um das
Heil des Staates, hie und da aus den Zitaten eine halbe Zeile oder ganze
Zeilen und ganz unschuldige Absätze herausgeschnitten hatte, deren
Unterdrückung natürlich dem überreizten Gefühl des Lesers die
ungeheuerlichsten Dinge suggerierte. Die Wirkung dieser Veröffentlichung
ließ selbstverständlich nicht auf sich warten; es war Öl ins Feuer, und
Clerambault wußte nicht, welche Heiligen er anrufen sollte, um seinen
Verteidiger zum Schweigen zu bringen. Böse konnte er ihm freilich nicht
sein, denn Thouron bekam auch sein gutes Teil an Drohungen und
Beschimpfungen ab, nahm sie aber entgegen, ohne mit der Wimper zu
zucken. Sein Fell war schon von früher reichlich gegerbt.

Daß sie beide gemeinsam beschimpft worden waren, schien Thouron ein
Verfügungsrecht über Clerambault zu geben. Zuerst versuchte er, ihm
Aktien seiner Zeitung anzuhängen, und nahm ihn dann, ohne ihn vorher zu
verständigen, öffentlich in das Ehrenkomitee seines Blattes auf. Er war
sehr ungehalten darüber, daß Clerambault, der erst einige Wochen später
davon erfuhr, damit nicht zufrieden war, und von nun ab erkalteten ihre
Beziehungen, obwohl Thouron nicht aufhörte, deshalb doch von Zeit zu
Zeit in seinen Artikeln den Namen seines „berühmten Freundes“ wie eine
Fahne zu hissen.... Clerambault ließ es ruhig geschehen, überglücklich,
ihn um diesen Preis los zu sein. Und er hatte ihn schon ganz aus den
Augen verloren, als er eines Tages hörte, Thouron sei verhaftet. Man
beschuldigte ihn irgendeiner schmutzigen Geldangelegenheit, in der die
öffentliche Erregtheit natürlich die Hand des Feindes sehen wollte. Die
dem von höherer Stelle gegebenen Wink immer gehorsame Justiz fand
natürlich zwischen diesen Mogeleien und der sozusagen pazifistischen
Tätigkeit, die Thouron in seinem Blatte abwechselnd mit plötzlichen
Anfällen von Kriegswut ab und zu, aber nie regelmäßig und bewußt,
entwickelt hatte, Zusammenhänge. Selbstverständlich machte man ihn zum
Teilhaber an dem Defaitistenkomplott. Und die Beschlagnahme seiner
Korrespondenz gab nun gute Gelegenheit, alle diejenigen zu
kompromittieren, die man gerade kompromittieren wollte. Thouron hatte
sich sorgfältig alle an ihn gerichteten Briefe aufbewahrt, es waren
darunter solche von allen Parteien, und nun konnte man nach Belieben
auswählen. Und man wählte.

Clerambault erfuhr durch die Zeitungen, daß auch er zu den Erwählten
zählte. Nun jubelten sie! Endlich hatte man ihn erwischt! Jetzt erklärte
sich ja alles. Denn nicht wahr, dafür, daß irgendein Mensch anders
denkt, als die ganze Welt, dafür muß doch irgendein unterirdischer
niedriger Beweggrund vorhanden sein! Man muß ihn nur suchen, dann wird
man ihn schon finden.... Nun hatte man ihn gefunden. Ohne weiteres
abzuwarten, kündigte ein Pariser Blatt öffentlich den „Verrat“
Clerambaults an. In den Akten der Justiz war dafür natürlich kein Beleg,
aber die Justiz ließ es ruhig sagen und berichtigte nicht, es ging sie
ja nichts an. Vergebens bat Clerambault den Untersuchungsrichter, zu dem
er berufen ward, man möchte ihm doch sagen, was für ein Delikt er
begangen habe. Der Richter war höflich, zeigte alles Entgegenkommen, das
einem Mann seines Namens gebührte, schien aber keine Eile zu haben, zu
einem Ende zu kommen. Es war, als ob er noch auf irgendetwas wartete ...
Worauf?... Auf das Delikt.

                                   §

Frau Clerambault hatte nichts von einer antiken Römerin oder von dem
Geiste der stolzen Jüdin in der berühmten Affäre, die Frankreich vor
ungefähr zwanzig Jahren in einem leidenschaftlichen Widerspruch zerriß
— von jenen Frauen, die gerade durch die öffentliche Ungerechtigkeit
gegen ihren Mann nur noch enger mit ihm verbunden werden. Ihr wohnte
jener Instinkt ängstlichen Respekts der französischen Bourgeoisie vor
der staatlichen Justiz inne, und obwohl sie guten Grund hatte zu wissen,
daß die Beschuldigungen gegen Clerambault nicht stichhaltig waren, so
schien ihr die Tatsache selbst, daß er überhaupt unter Anklage stand,
schon eine Unehre, von der sie sich beschmutzt fühlte. Sie konnte nicht
schweigend darüber hinwegkommen. Clerambault fand als Antwort auf ihre
Vorwürfe, ohne es selbst zu wollen, gerade die Form, die sie am meisten
außer sich brachte. Statt ihr zu entgegnen oder zum mindesten sich zu
verteidigen, sagte er nur:

„Du Arme.... Ja, ja, ich verstehe dich ja.... Es ist ein Unglück für
dich.... Ja, ja, du hast ja recht ...“

Und er wartete, bis das Unwetter vorüber war. Diese ruhige Hinnahme
brachte Frau Clerambault, die wütend war, ihm nicht beikommen zu können,
gänzlich aus der Fassung. Denn sie fühlte vollkommen, daß er nichts an
seiner Handlungsweise ändern würde, obwohl er ihr recht gab. Aus
Verzweiflung ließ sie ihm das letzte Wort und schüttete ihre ganze
Erbitterung vor ihrem Bruder aus. Leo Camus war der Letzte, ihr zur
Nachsicht zu raten, er schlug ihr vielmehr vor, sich scheiden zu lassen,
ja, er stellte ihr dies sogar als ihre Pflicht hin. Aber das war zuviel
verlangt. Der traditionelle Abscheu vor der Ehescheidung ließ in dieser
braven Bürgerfrau erst so recht das Bewußtsein ihrer tiefen Treue
erwachen. Das Heilmittel schien ihr schlimmer als das Übel. So blieben
die beiden Eheleute beisammen, aber die Innigkeit ihrer Gemeinschaft war
dahin.

Rosine war fast immer abwesend. Um ihre Qual zu vergessen, bereitete sie
sich für eine Krankenpflegerinprüfung vor und verbrachte den größten
Teil des Tages außerhalb des Hauses. Aber auch wenn sie daheim war,
weilten ihre Gedanken anderwärts. Clerambault hatte die einstige
Stellung im Herzen seiner Tochter verloren, ein anderer hatte sie inne:
Daniel. Sie blieb kühl gegenüber den zärtlichen Annäherungen ihres
Vaters: es war dies für sie eine Art, ihn dafür zu bestrafen, daß er
absichtslos den Bruch mit dem Freunde verursacht hatte. Sie war sich
vollkommen dieser Abwehr bewußt und zu gerecht, um sich daraus nicht
einen Vorwurf zu machen. Aber das änderte nichts an ihrem Verhalten:
ungerecht sein erleichtert das Herz.

Auch Daniel vergaß nicht, daß er unvergessen war. Er mochte seine
Handlungsweise nicht sehr rühmenswert finden und schob, um allen
Gewissensbissen auszuweichen, die Verantwortung dafür seiner Umgebung
zu, deren tyrannischer Meinungszwang ihn gebunden hätte. Aber im
Innersten war er nicht recht befriedigt.

Der Zufall kam den beiden schmollenden Verliebten zu Hilfe. Ernstlich,
wenn auch nicht gefährlich verletzt, wurde Daniel nach Paris
zurückgebracht. Während seiner Rekonvaleszenz begegnete er Rosine vor
dem Bon Marché. Er zögerte einen Augenblick, doch sie tat nicht
desgleichen, sondern kam auf ihn zu; sie gingen zusammen über den Platz
und begannen eine lange Unterhaltung, die nach anfänglichem Zögern und
einem Hin und Her von Vorwürfen und Geständnissen schließlich zu einer
völligen Einigung führte. Und so sehr waren die beiden in ihre zärtliche
Auseinandersetzung vertieft, daß sie Frau Clerambault nicht
vorüberkommen sahen. Die gute Frau, wütend über diese für sie
unerwartete Begegnung, lief schleunigst nach Hause, die Neuigkeit
Clerambault zu übermitteln, denn trotz ihrer Unstimmigkeiten konnte sie
vor ihm nicht schweigen. Auf ihre aufgeregte Erzählung — denn die
Intimität ihrer Tochter mit einem Manne, dessen Familie sie beleidigt
hatte, schien ihr unerhört unstatthaft — erwiderte Clerambault nach
seiner neuen Gewohnheit zunächst nichts. Dann lächelte er, hob den Kopf
und sagte schließlich:

„Das ist ja ausgezeichnet.“

Frau Clerambault unterbrach sich, zuckte mit den Achseln und machte
Miene, aus dem Zimmer zu gehen. Bei der Tür aber wandte sie sich noch
einmal um und sagte empört:

„Diese Leute haben dich und deine Tochter beleidigt, und ihr waret beide
einer Meinung, man solle nicht mehr mit ihnen verkehren. Jetzt macht
deine Tochter, die sich von ihnen hat zurückweisen lassen, ihnen wieder
Avancen und du findest das ausgezeichnet! Das soll der Teufel
verstehen.... Ihr seid ja Narren.“

Clerambault versuchte ihr zu erklären, daß das Glück seiner Tochter
nicht darin bestünde, seiner Meinung zu sein, und daß Rosine nur recht
hatte, für ihren Teil die Dummheiten ihres Vaters gutzumachen.

„Deine Dummheiten ... nun“, sagte Frau Clerambault, „das ist das erste
vernünftige Wort, das du in deinem ganzen Leben ausgesprochen hast.“

„Siehst du“, antwortete Clerambault.

Er ließ sich von ihr versprechen, Rosine nichts zu sagen, damit sie ganz
frei ihren kleinen Liebesroman durchführen könne.

Als Rosine heimkehrte, strahlte ihr Gesicht, aber sie erzählte nichts.
Für Frau Clerambault war es eine große Anstrengung, zu schweigen,
Clerambault dagegen beobachtete mit zärtlichem Behagen, wie das Glück
wieder im Gesicht seiner Tochter strahlte. Er wußte nicht genau, was
vorgefallen war, aber er konnte es sich wohl denken — nämlich, daß
Rosine ihn ganz einfach über Bord geworfen hatte. Zweifellos hatten die
beiden Verliebten sich auf Kosten ihrer Eltern geeinigt und mit
wundervoller Gleichmütigkeit die gegenseitigen Übertreibungen ihrer
alten Leute einander preisgegeben. Daniel war in den Leidensjahren des
Schützengrabens, ohne in seinem Patriotismus erschüttert zu sein, doch
vom engherzigen Fanatismus seiner Familie frei geworden, Rosine wiederum
— sie handelten Zug um Zug — hatte sanft zugegeben, daß ihr Vater im
Irrtum war. Ihr frommes und ein wenig gleichgültiges Herz fand sich
leicht mit der stoischen Unterwerfung Daniels unter die herrschende
Ordnung zusammen, und sie hatten beschlossen, gemeinsam ihren Weg zu
gehen, ohne sich weiterhin zu kümmern um die Zänkereien der Alten, die
vor ihnen waren, und die sie nun hinter sich zurückließen. Über die
Zukunft machten sie sich weiter keine Sorgen. So wie all die Millionen
Wesen verlangten sie von der großen Welt nichts als ihr Teil an
augenblicklichem Glück und schlossen die Augen vor dem Rest.

Frau Clerambault war aus dem Zimmer gegangen, verärgert darüber, daß
ihre Tochter nichts von der Begegnung erzählt hatte. Clerambault und
Rosine träumten vor sich hin, er vor dem Fenster, seine Zigarre
rauchend, Rosine eine Zeitung in der Hand, in der sie nicht las. Vor
ihren inneren Augen versuchte sie, sich noch einmal die Einzelheiten
ihrer eben erlebten Augenblicke wieder vorzumalen, da begegneten sie dem
müden Gesicht ihres Vaters. Es war ein Ausdruck von Melancholie darin,
der sie erschütterte. Sie stand auf, stellte sich hinter ihn, legte ihm
die Hand auf die Schulter und sagte mit einem kleinen Seufzer von
Mitleid, der aber doch ihre innere Zufriedenheit nicht ganz verbergen
konnte:

„Armer Papa!“

Clerambault hob die Augen, sah Rosine an, deren Züge gegen ihren eigenen
Willen noch ganz hell und strahlend waren.

„Das kleine Mädchen aber“, sagte er, „ist also nicht mehr arm?“

Rosine errötete.

„Warum sagst du das?“ fragte sie.

Clerambault drohte mit dem Finger. Rosine neigte sich von rückwärts über
ihn, lehnte ihre Wange an die Wange ihres Vaters.

„Es ist also nicht mehr arm?“ wiederholte er.

„Nein“, sagte Rosine, „im Gegenteil, sie ist jetzt sehr reich.“

„So sag doch ein wenig, was hat sie alles?“

„Sie hat ... natürlich zunächst ihren lieben Papa ...“

„Oh, die kleine Lügnerin“, sagte Clerambault, während er versuchte, sich
von ihr loszumachen und ihr in die Augen zu sehen.

Aber Rosine bedeckte ihm die Augen und den Mund mit der Hand.

„Nein, ich will nicht, daß du mich anschaust, ich will nicht, daß du
noch weiterredest.“ Und sie umarmte ihn und sagte dann nochmals, während
ihre Hand ihn umschmeichelte:

„Armer Papa!“

                                   §

Den Sorgen des Hauses war sie nun glücklich entkommen, und bald flog sie
ganz aus dem Nest. Nach erfolgreicher Absolvierung ihrer
Pflegerinprüfung wurde sie in ein Provinzspital gesandt: nun fühlten die
Clerambaults noch schmerzlicher die Leere ihres Heims.

Der Einsamere von ihnen war aber nicht Clerambault. Er wußte es und
beklagte aufrichtig seine Frau, die weder stark genug war, ihm zu
folgen, noch sich von ihm loszulösen. Er für seinen Teil konnte, was
immer auch geschah, auf gewisse Sympathien zählen, ja, es war sogar
gewiß, daß gerade eine Verfolgung neue erwecken und die bisher
zurückgehaltenen ans Tageslicht bringen würde. Und eben in diesem
Augenblick war eine sehr teure Zuneigung zu ihm gekommen.

Eines Tages, als er allein in seinem Zimmer saß, läutete es, er ging
hinaus und öffnete die Tür. Eine Dame, die er nicht kannte, überreichte
ihm einen Brief und sagte, er sei für ihn bestimmt. Im Dunkel des
Vorraumes glaubte sie anfangs, es mit einem Diener zu tun zu haben, und
merkte erst später ihren Irrtum. Er wollte sie bitten, einzutreten, aber
sie sagte:

„Nein, ich bin nur die Überbringerin.“

Sie ging wieder fort, aber kaum daß sie gegangen war, bemerkte er ein
kleines Veilchensträußchen, das sie auf den Schrank bei der Tür
hingelegt hatte.

Im Briefe aber stand:

            „_Tu ne cede malis, sed contra audentior ito._“

„Sie kämpfen für uns, und Ihr Herz ist in uns. Geben Sie uns Ihre
Leiden, ich gebe Ihnen meine Hoffnung, meine Kraft, meine Liebe — ich,
der ich nicht mehr tätig sein kann, der nur durch Sie tätig zu sein
vermag.“

Die jugendliche Inbrunst und die letzten, ein wenig mysteriösen Worte
bewegten und erregten Clerambault. Er versuchte, sich das Bildnis seiner
Besucherin zu erwecken. Sie war nicht mehr ganz jung gewesen: ziemlich
scharfe Züge, dunkle und ernste Augen, die leise aus dem matten Antlitz
lächelten. Wo hatte er sie nur schon gesehen? Aber trotz aller inneren
Mühe verschwand das Bild immer mehr.

Schon einige Tage später fand er die Fremde in einer Allee des
Luxembourggartens einige Schritte vor sich wieder. Sie ging an ihm
vorbei, aber er überquerte die Allee, um ihr zu begegnen. Sie blieb
stehen, als sie ihn kommen sah. Er dankte ihr und fragte sie, warum sie
so rasch fortgegangen sei, ohne sich ihm bekanntzumachen? In diesem
Augenblick bemerkte er, daß er sie seit langem kannte. Schon oft war er
ihr früher im Luxembourggarten oder den umliegenden Straßen mit einem
großen Jungen, offenbar ihrem Sohne, begegnet, und immer, wenn er an
ihnen vorbei kam, hatten ihn ihre Blicke mit einem leisen Lächeln
vertrauter Ehrfurcht begrüßt und, ohne daß er ihren Namen wußte, ohne
daß er jemals mit ihnen ein Wort gewechselt hatte, gehörten sie für ihn
zu jenen lieben und vertrauten Schatten, die unser tägliches Leben
begleiten, und die wir nicht immer bemerken, solange sie neben uns sind,
die uns aber sofort eine Leere fühlen lassen, sobald sie verschwinden.
Deshalb übertrug sich unbewußt auch sein Gedanke von der Frau vor ihm
auf den jungen Begleiter, der ihm an ihrer Seite fehlte, und er sagte
mit einer plötzlichen unvorsichtigen Eingebung (unvorsichtig, denn wer
weiß in diesen Zeiten der Trauer jene, die noch in der Welt der
Lebendigen sind?):

„War es Ihr Sohn, der an mich geschrieben hat?“ „Ja“, sagte sie, „er
liebt Sie sehr. Wir lieben Sie seit langem.“

„Er soll doch zu mir kommen!“

Ein Schatten von Traurigkeit verhüllte das Antlitz der Mutter.

„Er kann ja nicht.“

„Wo ist er denn? An der Front?“

„Nein, hier.“

Nach einem Augenblick des Schweigens fragte Clerambault:

„Ist er verwundet?“

„Wollen Sie ihn sehen?“ antwortete die Mutter.

Clerambault begleitete sie. Sie schwieg, und er wagte nicht, zu fragen.
Er sagte nur:

„Zum mindesten haben Sie ihn um sich.“

Sie verstand und reichte ihm die Hand.

„Wir stehen einander sehr nahe.“

Er wiederholte:

„Aber Sie haben ihn wenigstens noch.“

„Ich habe seine Seele“, sagte sie.

Sie waren zu dem Haus gelangt, einem jener alten Gebäude aus dem
siebzehnten Jahrhundert, in einer der engen und noch historisch
erhaltenen Straßen zwischen dem Luxembourg und Saint-Sulpice, in denen
noch die zusammengehaltene Schönheit des alten Paris sichtbar geblieben
ist. Die große Tür selbst war tagsüber geschlossen, Frau Froment ging
Clerambault voraus, stieg am Ende des steingepflasterten Hofes ein paar
Schwellen empor und schloß die Tür der ebenerdig gelegenen Wohnung auf.

„Mein kleiner Edme“, sagte sie, während sie die Zimmertür auftat, „eine
Überraschung für dich!... Rate einmal ...“

                                   §

Clerambault sah im Bett einen jungen Mann ausgestreckt, der ihn ansah.
Das blonde Antlitz des Fünfundzwanzigjährigen, dem die Abendsonne einen
rötlichen Schein gab, war von klugen Augen erhellt und schien so gesund
und ruhevoll, daß man gar nicht auf den Gedanken einer Krankheit kam,
wenn man ihn sah.

„Sie!...“ sagte er, „Sie hier!“

Eine freudige Überraschung verjüngte noch mehr seine knabenhaften Züge,
aber weder sein Leib noch seine Arme machten eine Bewegung unter der
Decke. Und Clerambault merkte, daß nur sein Kopf wirklich lebendig war.

„Mama hat mich verraten“, sagte Edme Froment.

„Sie wollten mich also nicht sehen?“ fragte Clerambault und neigte sich
über sein Kissen. „Das will ich nicht sagen“, antwortete Edme, „ich
möchte nur nicht gern gesehen werden.“

„Und warum denn?“ fragte Clerambault gutmütig, mit einer leichten
Anstrengung, heiter zu scheinen.

„Weil man niemand einladet, wenn man nicht mehr zu Hause ist.“

„Wo sind Sie denn?“

„Mein Gott, ich möchte fast darauf schwören ... in einer ägyptischen
Mumie....“

Und er deutete mit einem Blick auf das Bett, in dem sein Körper
unbeweglich lag.

„Es ist kein Leben mehr darin“, sagte er.

„Du bist der Lebendigste von uns allen“, protestierte eine Stimme neben
ihm.

Clerambault bemerkte auf der anderen Seite des Bettes einen jungen Mann
etwa im Alter Edme Froments, der voll Gesundheit und Kraft schien. Edme
Froment lächelte und sagte zu Clerambault:

„Mein Freund Chastenay hat so viel Leben in sich, daß er mir davon
leiht.“

„Ach, wenn ich es dir geben könnte“, sagte der andere.

Die beiden Freunde wechselten einen zärtlichen Blick.

Chastenay fuhr fort:

„Ich würde dir dann doch nur einen Teil dessen geben, was ich dir
verdanke ...“

Und indem er sich an Clerambault wandte:

„Er ist es, der uns alle aufrecht hält, nicht wahr, Frau Fanny?“

Die Mutter sagte zärtlich:

„Mein guter Sohn, das ist wohl wahr.“

„Ihr macht euch den Umstand zunutze“, sagte Edme, „daß ich mich nicht
verteidigen kann....“ (Und zu Clerambault sprechend:) „Sie sehen, ich
bin gefangen und kann mich nicht rühren.“

„Sie sind verwundet?“

„Gelähmt.“

Clerambault wagte nicht, nach Einzelheiten zu fragen.

„Sie haben aber keine Schmerzen?“

„Ach, ich wünschte es mir vielleicht, denn der Schmerz ist immerhin noch
ein Band, das uns mit dieser Welt verknüpft. Aber ich gebe es zu, daß
ich mich an das schwere Schweigen dieses Körpers, in den ich eingetan
bin, langsam gewöhne ... übrigens, sprechen wir nicht mehr davon,
jedenfalls der Geist ist frei. Wenn es auch nicht wahr ist, daß er
„_agitat molem_“, so schlüpft er doch gern heraus.“

„Jüngst“, sagte Clerambault, „war er bei mir zu Gaste.“

„Das war nicht zum erstenmal, er ist oft zu Ihnen gekommen.“

„Und ich glaubte mich so allein....“

„Erinnern Sie sich“, sagte Edme, „an das Wort Randolphs zu Cecil: Die
Stimme eines einzigen Menschen ist imstande, in einer Stunde mehr Leben
in uns zu bringen, als der Lärm von 500 Trompeten, die unaufhörlich
blasen.“

„Das gilt aber auch von dir“, sagte Chastenay.

Froment schien seine Worte nicht gehört zu haben und sagte wieder zu
Clerambault:

„Sie haben uns erweckt!“

Clerambault betrachtete die schönen, tapferen und ruhigen Augen des vor
ihm Liegenden und sagte:

„Diese Augen bedurften dessen nicht!“

„Jetzt bedürfen sie dessen nicht mehr“, antwortete Edme. „Man sieht
besser aus der Entfernung, wenn man aus den Dingen heraus ist. Aber
solange ich nahe, ganz nahe war, konnte ich nichts unterscheiden.“

„So sagen Sie mir, was Sie jetzt sehen?“

„Es ist spät“, antwortete Edme, „und ich bin ein wenig müde. Wollen Sie
vielleicht ein andermal kommen?“

„Ich komme morgen wieder.“

Clerambault trat aus dem Zimmer, Chastenay ging ihm nach. Er fühlte das
Bedürfnis, die Geschichte der Tragödie, deren Held und Opfer sein Freund
geworden war, jemandem anzuvertrauen, der die Qual und die Größe eines
solchen Aktes würdigen konnte.

Edme Froment, den ein Granatsplitter an der Wirbelsäule getroffen und in
seiner Vollkraft gelähmt hatte, war einer der jungen geistigen Führer
seiner Generation, schön, leidenschaftlich, beredt, übervoll von Leben
und Träumen, liebend und geliebt, ehrgeizig im schönsten Sinne, und nun
ein lebendig Toter. Seine Mutter, die ihren ganzen Stolz und ihre ganze
Liebe in ihn gesetzt hatte, sah ihn auf Lebenszeit verurteilt, und ihre
Qual mußte ungeheuer sein. Aber beide verbargen sie voreinander. Diese
gegenseitige Spannung hielt sie aufrecht. Beide waren sie aufeinander
stolz. Sie pflegte ihn, wusch ihn, reichte ihm das Essen wie einem
kleinen Kinde, er wiederum zwang sich zur Ruhe, um sie zu beruhigen, und
trug sie auf den Schwingen des Geistes empor.

„Ach“, sagte Chastenay, „man muß sich schämen, zu leben und gesund zu
sein, noch Arme zu haben, um das Leben zu umfassen, und Gelenke, um zu
gehen und zu springen, und mit vollem Bewußtsein die Frische der Luft zu
trinken.“

Er breitete beim Sprechen die Arme aus, hob den Kopf, und atmete tief
ein.

„Und das Traurigste“, fuhr er fort, indem er Kopf und Stimme beschämt
senkte, „das Traurigste ist, daß ich diese Scham gar nicht wirklich
fühle.“

Clerambault mußte unwillkürlich lächeln.

„Ja, es ist nicht sehr heroisch von mir“, fuhr Chastenay fort, „und doch
liebe ich Froment wie niemand anderen auf der Welt. Sein Schicksal quält
mich unablässig .... und doch, es ist stärker als ich. Wenn ich daran
denke, daß ich unter so vielen Hingeschlachteten das Glück habe, jetzt
hier zu sein, zu fühlen mit allen meinen lebendigen Sinnen, so ist es
mir schwer, meine Freude zu verbergen.... Ach, es ist ja so schön, so
ganz leben zu dürfen!... Der arme Froment ... Aber Sie werden mich
furchtbar egoistisch finden?“

„Nein, durchaus nicht“, sagte Clerambault. „Sie sprechen, wie die
gesunde Natur spricht. Wären alle so aufrichtig wie Sie, so wäre die
Menschheit nicht eine Beute jener gefährlichen Lust der Vergötterung des
Leidens; Sie haben übrigens alles Recht, das Leben zu genießen, nachdem
sie seine härtesten Proben bestanden haben.“

(Und er deutete auf das Kriegskreuz des jungen Mannes.)

„Ich bin hingegangen und gehe wieder zurück“, sagte Chastenay, „aber
glauben Sie mir, es ist meinerseits kein Verdienst dabei. Ich täte es ja
nicht, wenn ich dem Zwang ausweichen könnte. Es hat keinen Sinn, sich
Staub in die Augen zu streuen: wenn man in das dritte Jahr des Krieges
kommt, so hat man nicht mehr jene Liebe zum Wagnis und jene
Gleichgültigkeit wie im Anfang. Damals, das muß ich zugestehen, hatte
ich sie noch, damals war ich eine reine Unschuld an Heldentum. Aber es
ist schon lange her, daß ich diese Jungfernschaft verloren habe, die aus
Unbildung und Schönrederei zusammengeflickt war. Ist die einmal weg, so
wird der Irrsinn des Krieges, die Idiotie der Massaker, die Häßlichkeit
und Schauerlichkeit dieser Opfer auch dem Beschränktesten klar. Wenn es
auch gar zu unmännlich wäre, vor dem Unvermeidlichen die Flucht zu
ergreifen, so drängt man sich wenigstens nicht dazu, irgend etwas
Unnötiges zu tun. Der große Corneille war eben auch ein Held des
Hinterlandes. Die an der Front, die ich gekannt habe, die waren fast
alle Helden gegen ihren Willen.“

„Aber das ist ja der wahre Heroismus“, sagte Clerambault.

„Und das ist jener Froments“, antwortete Chastenay, „er ist Held, weil
er nicht anders kann, weil er nicht mehr bloß ein Mensch sein kann. Aber
was ihn uns so teuer macht, ist, daß er trotzdem ein Mensch geblieben
ist.“

                                   §

Die ganze Richtigkeit dieser Worte wurde Clerambault in der langen
Unterhaltung klar, die er am nächsten Nachmittag mit Froment hatte. Es
war um so mehr Verdienst darin, wenn sich der Stolz Froments im
Zusammenbruch seines Lebens nicht verleugnete, als er vordem niemals den
Kult des Verzichts betrieben hatte. Im Gegenteil, er hatte immer große
Hoffnungen und einen starken Ehrgeiz gehabt, den seine geistigen Gaben
und seine glückliche Jugend durchaus rechtfertigten. Nicht einen
einzigen Tag hatte er sich wie Chastenay einer Illusion über den Krieg
hingegeben, sondern sofort seine gefährliche Torheit durchschaut. Diese
Erkenntnis verdankte er nicht nur seinem starken Intellekt, sondern vor
allem der geistigen Führerin, die von Kindheit an die Seele ihres Sohnes
aus dem Reinsten ihres Wesens geformt hatte.

Frau Froment, die Clerambault fast täglich bei seinen Besuchen antraf,
hielt sich abseits beim Fenster und warf von Zeit zu Zeit von ihrer
Arbeit einen Blick voll Zärtlichkeit auf ihren Sohn. Sie war eine jener
Frauen, die zwar nicht eine außerordentliche Intelligenz, aber doch ein
Genie des Herzens besitzen. Als Witwe eines Arztes, der viel älter war
als sie, und dessen weitreichender Geist den ihren befruchtet hatte,
waren ihr in ihrem Leben nur zwei sehr tiefe, untereinander sehr
verschiedene Neigungen bewußt geworden: die fast kindliche Neigung für
ihren Gatten und die fast zärtliche für ihren Sohn.

Doktor Froment, ein Mann von großer Bildung und eigenartiger Denkweise,
die er unter einer aufmerksamen Höflichkeit verbarg, um die anderen, von
denen er sich unterschied, nicht zu verletzen, war lange Zeit seines
Lebens auf Reisen gewesen. Er hatte fast ganz Europa, Ägypten, Persien
und Indien bereist, und zwar nicht nur aus wissenschaftlichem, sondern
auch aus religiösem Interesse; ihn beschäftigten ganz besonders die neue
Glaubensbewegung in der Welt, der Babismus, die _Christian Science_ und
die theosophischen Lehren. In inniger Beziehung zu der pazifistischen
Bewegung, ein Freund der Baronin Suttner, der er in Wien begegnet war,
sah er seit langem die große Katastrophe voraus, der Europa und
diejenigen, die er liebte, entgegengingen. Aber als Mann von Mut und
innerlich längst gewohnt, dem ewig Ungerechten der Natur ins Auge zu
schauen, versuchte er weder sich noch die Seinigen über das Drohende
hinwegzutäuschen, sondern einzig ihre Seele gegen die kommenden Anstürme
dieser Wogen zu stärken. Noch mehr aber als durch seine Worte war er für
seine Frau — der Sohn war noch ein Kind zur Zeit seines Todes — durch
sein Beispiel eine heilige Erinnerung geworden, denn im langsamen und
grausamen Leiden, das ihn gefangen gehalten hatte — ein Darmkrebs —
hatte er bis zum letzten Tage ruhig seine Aufgabe erfüllt und überdies
noch die Nächsten seiner Umgebung durch seine Ruhe getröstet.

Frau Froment bewahrte in ihrem Herzen dieses edle Bild wie einen inneren
Gott. Die ehrfürchtige Erinnerung für den toten Gefährten wurde in ihrem
Leben das, was bei anderen der religiöse Glaube ist. Da sie an kein
anderes Leben in der Zukunft glaubte, wandte sich ihr Gebet,
insbesondere in den Stunden der Sorge, an ihn, wie an einen immer
gegenwärtigen Freund, der bei einem wacht und einen berät. Durch das
eigenartige Phänomen der Wiedererneuerung, das oft nach dem Tode eines
geliebten Wesens eintritt, schien das Innerste der Seele ihres Mannes in
sie übergegangen zu sein. So erwuchs ihr Sohn in einer von ruhigen
Ausblicken umhüllten Gedankenatmosphäre, die ganz verschieden war von
jener tropisch fieberigen Landschaft, in der die junge Generation vor
1914, unruhig, glühend, aggressiv und vom Warten ungeduldig gemacht,
mannbar wurde.... Als dann der Krieg ausbrach, mußte Frau Froment weder
sich noch ihren Sohn gegen die Verführung der nationalen Leidenschaft
schützen: sie war beiden von vornherein fremd. Sie versuchten auch
nicht, dem Unvermeidlichen zu widerstehen, wußten sie doch schon so
lange, daß dieses Unglück unterwegs war. Für sie handelte es sich einzig
darum, alles zu ertragen, ohne sich ihm zu beugen, um das zu retten, was
gerettet sein mußte: die Treue der Seele zu ihrem Glauben. Frau Froment
glaubte nicht, daß es nötig sei, „über dem Getümmel“ zu bleiben, um es
zu beherrschen, und was zwei oder drei französische, englische, deutsche
Schriftsteller durch ihre Artikel für die internationale Versöhnung
versuchten, das erfüllte sie von sich aus in ihrem beschränkten Kreis
viel einfacher und viel wirksamer.

Sie hatte ihre alten Beziehungen aufrechterhalten, und ohne sich in dem
vom Kriegswahn verseuchten Milieu gehemmt zu fühlen, ohne jemals leere
Demonstrationen gegen den Krieg zu versuchen, schuf sie durch ihre bloße
Gegenwart, durch ihr ruhiges Wort, ihren klaren Blick, ihr beherrschtes
Urteil, durch den Respekt, den ihre Güte einflößte, eine Art Hemmung
gegen die sinnlosen Übertreibungen des Hasses. Sie war es auch, die in
den Kreisen, die sie dafür empfänglich hielt, die Botschaft der freien
Europäer und die Artikel Clerambaults verbreitete, der davon niemals
erfuhr, und sie hatte die Genugtuung, daß sie in den Herzen Widerklang
fanden. Aber ihre größte Freude war, daß ihr Sohn selbst daran geformt
wurde.

Edme Froment hatte nichts von einem Tolstoianer in seinem Pazifismus. Zu
Anfang betrachtete er den Krieg noch viel mehr als Dummheit wie als
Verbrechen. Wäre ihm Freiheit gelassen worden, so hätte er sich, wie
Perrotin, aus der Welt der Tat in den erhabenen Dilettantismus der Kunst
und der Ideen zurückgezogen und niemals versucht, die öffentliche
Meinung zu bekämpfen, weil er diesen Kampf für aussichtslos hielt. Ihm
flößte damals die Narrheit der Welt eher Verachtung als Mitleid ein. Zur
Teilnahme am Kriege gewaltsam gezwungen, sah er erst ein, daß diese
Narrheit durch das Leiden längst überzahlt war, und es überflüssig sei,
auf die Verurteilung des Krieges noch die Verachtung zu häufen. Der
Mensch schuf sich selbst seine Hölle auf Erden, es war nicht notwendig,
ihn noch einmal dafür zu richten. Zu gleicher Zeit hatten ihm die Worte
Clerambaults, die er während seiner Urlaubszeit in Paris kennen lernte,
gezeigt, daß er Besseres zu tun habe, als sich als Richter seiner
gefesselten Kameraden aufzuspielen: nämlich zu versuchen, deren Last zu
teilen und sie davon zu befreien.

Nur ging der junge Schüler darin weiter als sein Lehrer, dessen
liebebedürftige, ein wenig schwächliche Natur glücklich war in einer
Gemeinschaft mit den Menschen, der daran litt, sich von ihnen zu
trennen, selbst wenn sie im Irrtum waren. Clerambault zweifelte stets an
sich. Er sah nach rechts und links, suchte in den Augen der menschlichen
Masse nach einer Zustimmung zu seinen Ideen und erschöpfte sich im
unfruchtbaren Bemühen, sein inneres Gesetz mit den sozialen Bestrebungen
und Kämpfen seiner Zeit in Einklang zu bringen. Für Froment, den
Hingestreckten, der in seinem unterjochten Körper die Seele eines
Führers hatte, bestand kein Zweifel an der absoluten Pflicht für jeden,
dem die Flamme eines großen Ideals anvertraut ist, sie über die Häupter
seiner Gefährten zu erheben. Warum versuchen, das Licht ängstlich
zuzudecken oder es im Schein der andern Leuchten aufgehen zu lassen? Der
Gemeinplatz der Demokratien: „Die ganze Welt ist klüger als der eine
Voltaire“, war für ihn ein Irrtum ... Demokritos sagt: „_Unus mihi pro
populo est_.“ „Ein einziger zählt für mich soviel wie tausend.“ Nach der
Meinung unserer Zeit stellt die staatliche Gesellschaft den Gipfel der
menschlichen Entwicklung dar. Wer kann die Wahrheit dieser Hypothese
beweisen? „Für mich“, sagte Froment, „ist der höchste Gipfelpunkt einzig
im überlegenen Individuum. Millionen Menschen haben gelebt und sind
gestorben, um eine einzige höchste Gedankenblüte zu entfalten. In
verschwenderischer Art geht die Natur zu diesem Ziele, sie opfert ganze
Völker, um einen Jesus, einen Buddha, einen Äschylos, einen Leonardo,
einen Newton, einen Beethoven zu schaffen. Was wären denn die Völker,
was wäre die Menschheit ohne diese Menschen?.... Wir wollen damit nicht
das egoistische Ideal des Übermenschen aufnehmen. Ein großer Mann ist
groß für, ist groß statt aller anderen Menschen. Seine Persönlichkeit
drückt Millionen Menschen aus und führt sie empor, denn sie ist die
Verkörperlichung ihrer geheimsten Kräfte, ihrer höchsten Wünsche. Sie
drängt sie alle in ihrem Wesen zusammen — und schon sind sie
verwirklicht. Die einzige Tatsache, daß ein Mensch Christus gewesen ist,
hat Jahrhunderte der Menschheit erhoben und über die Erde hinweggetragen
und sie mit göttlichen Kräften erfüllt. Und obwohl neunzehn Jahrhunderte
seitdem vergangen sind, haben doch die Millionen Menschen niemals die
Höhe des Vorbildes erreicht und mühen sich noch immer, ihm nachzukommen.
— Wird das individualistische Ideal in dieser Weise verstanden, so ist
es fruchtbarer für die menschliche Gesellschaft als das kommunistische,
das nur zu der mechanisch-technischen Vollendung eines Ameisenhaufens
führt. Zum mindesten ist es aber unentbehrlich als Korrektiv und als
Ergänzung des anderen.“

Dieser stolze Individualismus, den Froment in heißen Worten ausdrückte,
richtete den immer ein wenig schwankenden Geist Clerambaults auf, der
leicht unentschieden blieb, teils aus Güte, teils aus Zweifel an sich
selbst, teils durch die Bemühung, immer auch die anderen zu verstehen.

Noch einen anderen Dienst erwies ihm Froment dadurch, daß er mehr als
Clerambault über die internationalen Gedanken informiert war. Da er
durch seine Familie unter den Intellektuellen aller Länder Beziehungen
hatte und vier oder fünf fremde Sprachen beherrschte, konnte Froment dem
älteren Freunde Kenntnis geben von den anderen großen Einsamen, die in
jeder Nation für das Recht des freien Gewissens kämpften. Er zeigte ihm
die ganze unterirdische Arbeit des niedergehaltenen Gedankens, der sich
bemühte, die Wahrheit zu finden. Und es war dies ein tröstliches
Schauspiel, daß selbst das Zeitalter der furchtbarsten moralischen
Tyrannei, die seit der Inquisition auf der Seele der Menschheit lastete,
es doch nicht zuwege brachte, in der Elite jedes Volkes den unbändigen
Lebenswillen nach Freiheit und Wahrheit zu ersticken.

Freilich, diese unabhängigen Persönlichkeiten waren selten, aber darum
war ihre moralische Macht eine um so größere. Ergreifend zeichnete sich
ihre Silhouette gegen den leeren Horizont ab, und im Sturz der Völker in
die Tiefe des Abgrundes, wo Millionen Seelen zu einem formlosen Brei
sich vermengten, erklang ihre Stimme als das einzige menschliche Wort.
Daß sie tätig waren, wurde vor allem sichtbar durch die Wut derjenigen,
die ihr Tun zu leugnen suchten. Schon vor einem Jahrhundert schrieb
Chateaubriand:

„Kämpfe haben keinen Sinn mehr. Man muß s e i n, das ist die einzige
Sache, die notwendig ist.“

Doch er sah nicht voraus, daß in unserer Zeit „sein“, das heißt „man
selbst sein“, „frei sein“, gerade den allergrößten Kampf erforderte.
Aber die Menschen, die ganz ihr wahres Ich sind, dominieren schon durch
diese einzige Tatsache der Gleichförmigkeit der anderen.

                                   §

Clerambault war nicht der Einzige, der die Energie Froments als so
wohltuend empfand und empfing. Bei jedem seiner Besuche begegnete er am
Krankenlager des jungen Mannes irgendeinem Freund, der gekommen war, um
ihn aufzurichten und — ohne daß er es sich eingestand — von ihm
aufgerichtet zu werden. Zwei oder drei waren junge Leute im Alter
Froments, die anderen ältere Männer, meist schon über fünfzig hinaus,
entweder alte Freunde der Familie oder solche, die Froment schon vor dem
Kriege gekannt hatten. Einer von ihnen, ein alter Hellenist mit feinem
und zerstreutem Lächeln, war sein Lehrer gewesen. Unter den anderen war
noch ein Bildhauer mit grauem Haar, schlaffen und von tragischen Falten
durchzogenem Gesicht, ein Landjunker mit kurzgeschorenen Haaren, roter
Gesichtsfarbe, dem viereckigen Kopf eines Bauern, schließlich noch ein
weißbärtiger Arzt mit einem Ausdruck von Sanftmut in seinem müden
Gesicht, dessen Blick durch den verschiedenen Ausdruck der beiden Augen
überraschte: das eine schien scharf mit einem Zwinkern von Zweifel zu
beobachten, das andere melancholisch vor sich hinzuträumen.

Diese Menschen, die sich manchmal bei dem Kranken vereint fanden,
glichen einander in keiner Weise. Man konnte in dieser kleinen Gruppe
alle Gedankenformen vertreten finden vom Katholiken zum Freigeist und
selbst zum Bolschewisten, als welcher sich einer der jungen Kameraden
Froments bekannte. In ihnen war der Einfluß der verschiedensten
geistigen Ahnen sichtbar wirksam: im alten Hellenisten derjenige des
ironischen Lucian, bei dem Grafen de Coulanges derjenige der alten
französischen Chronisten der Collection Michaud. (Er liebte es, auf
seinem Landgut sich abends von der Tierzucht und den chemischen
Düngungen dadurch zu erholen, daß er die dunkelgoldfarbige Sprache
Froissarts und die gleichzeitig dornige und saftige des spitzbübischen
Gondi las.) Der Bildhauer zermürbte seine Stirn, um eine Metaphysik in
Beethoven und Rodin herauszufinden, der Doktor Verrier, der für Religion
das mitleidige Lächeln des Wissenschaftlers hatte, versetzte die
Wunderwelt, deren er bedurfte, in das Reich der biologischen Hypothesen
und der blendenden Gleichungen der modernen Physik und Chemie. So
schmerzlich ihm auch das Leiden der Zeit war, so entschwand die Ära des
Krieges mit all ihrem blutnassen Ruhm in die Ferne gegenüber den
heroischen geistigen Entdeckungen, die der freie Deutsche Einstein
inmitten der menschlichen Verirrung, ein neuer Newton, vollbrachte.

So schien alles zwischen diesen Menschen widersprechend zu sein, sowohl
ihre geistige Form als auch ihr Temperament. Aber in einem waren sie
alle einig, daß sie keiner Partei zugehörten, nur aus sich selbst heraus
dachten und Ehrfurcht und Liebe für die Freiheit hatten, für die ihre
und für die der anderen! Und das ist doch das Wesentliche! In unserer
gegenwärtigen Epoche zerbrechen die alten Formen, stürzen die
politischen, religiösen oder sozialen Parteien zusammen. Es bedeutet ja
nur einen kleinen Fortschritt, sich statt einen Monarchisten einen
Sozialisten oder Republikaner zu nennen, insolange diese Gruppen sich
noch dem Nationalismus ihres Staates, dem Glauben oder der Klasse
unterwerfen. In Wahrheit gibt es heute nur noch zwei Formen des Geistes:
die einen, die sich in ihre Grenze einschließen, und die anderen, die
allem Lebendigen aufgetan sind, die in sich die ganze Menschheit fühlen,
sogar ihre Feinde. So wenig zahlreich diese Männer auch sein mögen, sie
formen, ohne es zu wissen, die wahre Internationale, jene, die auf dem
Kultus der Wahrheit und des umfassenden und allen gleich zugehörigen
Lebens ruht. Einzeln zu schwach (sie wissen es wohl), ihr unermeßliches
Ideal zu umfassen, umfaßt doch das Ideal sie alle. Und alle in ihm
geeint, wandern sie, jeder auf einem verschiedenen Wege, dem unbekannten
Gott entgegen.

Was nun in diesem Augenblick diese so verschiedenen freien Seelen um
Edme Froment versammelte, war das dunkle Gefühl, er sei der Punkt, wo
sich ihre Zielrichtungen begegneten, der Kreuzweg, von dem man alle Wege
ausstrahlen sieht. Froment war nicht immer ein solcher Mittelpunkt
gewesen; solange er noch Herrschaft über seinen Körper und seine
Gesundheit hatte, ging auch er seinen Weg abseits von den anderen. Aber
seit sein Lauf unterbrochen war, hatte er sich nach einer Periode kurzer
Verzweiflung — die er aber sorgsam den Blicken seiner Umgebung verbarg
— gleichsam als Wegkreuz aufgestellt: gerade weil er selbst nicht mehr
tätig sein konnte, vermochte er die Tat der anderen besser zu
überblicken und im Geist daran teilzunehmen. Er sah in den verschiedenen
Strömungen — Vaterland, Revolution, Staats- und Klassenkampf,
Wissenschaft und Glauben — nur die vermengten Kräfte eines Wildbaches
mit seinen Stromschnellen, Wirbeln und sandigen Stellen; manchmal
scheint er zurückgeworfen oder gebrochen zu werden oder zu schlafen.
Aber die Strömungen gehen doch unwiderstehlich nach vorwärts: selbst die
Reaktion wird immer weiter gerissen. Und er, der junge Gekreuzigte am
Kreuzweg, vermählte sich allen Strömungen, dem ganzen Strom.

Clerambault fand in ihm einige Züge Perrotins wieder. Aber Welten
trennten Froment von Perrotin. Wenn auch er so wie jener nichts
Vorhandenes leugnete und alles zu verstehen suchte, so tat er es doch
mit einer begeisterten Seele. Alles wurde in seinem Herzen Bewegung und
beherrschte Leidenschaft. Alles, Tod und Leben, war bei ihm Gang und
Aufstieg — unbeweglich nur er selbst, sein eigener Leib.

                                   §

Inzwischen war eine dunkle Stunde gekommen. Man hatte die Wende der
Jahre 1917/18 überschritten. Die nebligen Winternächte waren schwer von
der Erwartung des letzten Ansturms der deutschen Armeen. Seit Monaten
war er durch drohende Gerüchte angekündigt, die Streifzüge der Flieger
über Paris schienen schon seine Vorboten zu sein. Die Verfechter des
Krieges „bis zum endgültigen Siege“ spiegelten vollkommene Sicherheit
vor, die Zeitungen fuhren fort zu prahlen, und Clemenceau behauptete,
nie besser geschlafen zu haben. Aber die geistige Spannung verriet sich
in der wachsenden Schärfe des Hasses zwischen den Nichtkämpfern. Man
lenkte die öffentliche Beunruhigung auf die Verdächtigen des
Hinterlandes, auf die Flaumacher ab. Hochverratsprozesse erhitzten und
beschäftigten die Moral des Hinterlandes, die Angeber mit der
Heldengeste Corneilles, die patriotischen Denunzianten, die fanatischen
Zeugen vervielfältigten sich, und das Gebell der öffentlichen Ankläger
kläffte durch Tage zornig hinter den armen, gehetzten Opfern her. Als
dann zu Ende März die über Paris hängende deutsche Offensive losbrach,
erreichte der überhitzte Bürgerhaß seinen Zenith, und es war gewiß, daß,
wenn ein Durchbruch gelungen wäre, noch ehe die feindliche Armee Paris
erreicht hätte, der Galgen von Vincennes, dieser Altar des rächenden und
bedrohten Vaterlandes, seine Opfer empfangen hätte, gleichgültig, ob sie
schuldig oder unschuldig, ob sie nur angeklagt oder abgeurteilt waren.

Clerambault wurde öfters in den Straßen beschimpft. Er regte sich
darüber nicht auf, vielleicht, weil er sich des Gefährlichen der
Situation nicht ganz bewußt war. Eines Tages traf Moreau ihn inmitten
einer Gruppe von Passanten in einer Diskussion mit einem wutschäumenden
jungen Menschen, der ihn in verletzender Weise angegangen hatte. Während
er noch sprach, hörte man ganz in der Nähe die Explosionen der „dicken
Berta“. Clerambault schien es nicht zu merken, er fuhr ruhig fort, vor
dem Zornigen seine Ideen zu entwickeln. In dieser Beharrlichkeit war
eine gewisse Komik, und die Zuhörer, die als gute Franzosen das gleich
merkten, tauschten darüber allerhand, zwar nicht sehr höfliche, aber
doch auch nicht böswillige Witze aus. Moreau faßte Clerambault am Arm,
um ihn wegzuziehen. Clerambault schaute auf, sah die lachenden Leute,
erfaßte nun seinerseits das Komische der Situation und lachte mit den
anderen.

„Was für ein alter Narr ... Nicht wahr?“ sagte er zu Moreau, der ihn
wegzog.

„Es gibt aber auch andere Narren. Man muß sich in acht nehmen“,
antwortete Moreau in recht energischer Weise. Aber Clerambault wollte
ihn nicht verstehen.

Inzwischen war das Untersuchungsverfahren seines Prozesses in eine neue
Phase getreten. Clerambault war des Vergehens gegen das Gesetz vom 5.
August 1914, das „staatsgefährliche Äußerungen während des Krieges“
verhindern sollte, beschuldigt; man klagte ihn der pazifistischen
Propaganda in den Arbeiterskreisen an, in denen Thouron die Schriften
Clerambaults mit seinem Einverständnis verbreitet hätte. Nichts konnte
unrichtiger sein, denn weder wußte Clerambault von einer Propaganda
dieser Art, noch hatte er sie autorisiert, was Thouron auch bezeugen
konnte. Aber nun ergab sich das Seltsame, daß Thouron dies nicht
bezeugte. Sein Verhalten erwies sich als äußerst merkwürdig; statt die
Dinge richtig zu stellen, machte er allerhand Winkelzüge, tat so, als ob
er etwas zu verbergen hätte, ja, er tat es sogar in einer gewissen
absichtlichen Weise und hätte sich gar nicht gefährlicher benehmen
können, wenn es seine innerste Absicht gewesen wäre, solch einen
Verdacht zu erwecken. Verhängnisvollerweise lenkte sich dieser Verdacht
nun gegen Clerambault. Zwar sagte Thouron nichts gegen ihn oder gegen
irgend jemanden aus, er weigerte sich, irgendetwas zu sagen, aber er
ließ immer durchblicken, daß, wenn er reden wollte.... Aber er wollte
nicht. Man konfrontierte ihn mit Clerambault. Er benahm sich tadellos,
geradezu ritterlich, legte die Hand auf das Herz und versicherte den
„Meister“, den „Freund“ seiner kindlichen Verehrung. Clerambault
versuchte ihn voll Ungeduld endlich zu einer klaren Darstellung dessen
zu bringen, was zwischen ihnen vorgegangen war, der andere aber fuhr
immer nur fort, seine „unerschütterliche Ergebenheit“ zu bezeugen. Mehr
könne er nicht sagen, nichts seinen Aussagen hinzufügen, er nehme alles
auf sich.

Dieses Benehmen ließ ihn nach außen sympathisch erscheinen, Clerambault
aber in den Verdacht kommen, als wolle er sich durch Aufopferung seines
Vasallen aus der Affäre ziehen. Die Zeitungen zögerten nicht lange und
beschuldigten ihn der Feigheit. Inzwischen folgte eine Vorladung der
anderen, seit zwei Monaten mußte sich Clerambault zu ganz nichtigen
Verhören begeben, zu denen ihn die Richter zitierten, ohne daß sich
irgendeine Entscheidung anzeigte. Nun sollte man glauben, daß ein Mann,
der solange ohne die geringsten Beweise angeklagt und unter dem
schimpflichen Verdacht gehalten wurde, bei der Öffentlichkeit Sympathien
gefunden hätte. Aber im Gegenteil: sie wurde noch gereizter gegen ihn,
man verzieh es ihm nicht, daß er nicht schon verurteilt war. Die
tollsten Erfindungen zirkulierten in der Presse, man behauptete, die
Sachverständigen hätten an der Form gewisser Buchstaben und an einzelnen
besonderen Schriftzeichen entdeckt, daß eine der Flugschriften
Clerambaults von Deutschen gedruckt und verbreitet worden war. So dumm
diese Erfindungen waren, sie fanden doch Zugang bei der ungeheuren
Leichtgläubigkeit der Leute, die (man behauptete es wenigstens) vor dem
Krieg vernünftig gewesen waren. Es waren erst vier Jahre seitdem
vergangen, aber es schienen schon Jahrhunderte zu sein.

Kurz, die braven Leute verurteilten einen der Ihren ohne weitere
Nachfrage; es war nicht das erstemal und wird nicht das letztemal sein.
Die gut abgerichtete öffentliche Meinung empörte sich darüber, daß
Clerambault noch frei herumging, und die reaktionären Blätter, die
fürchteten, ihre Beute könne ihnen entgehen, klagten die Justiz an,
versuchten sie einzuschüchtern und verlangten, die Affäre müsse dem
Zivilgerichte entzogen und dem Militärgerichte übergeben werden. Rasch
erreichte die Erregung einen jener Paroxismen, die in Paris im
allgemeinen kurz, aber furchtbar zügellos sind. Denn dieses sonst so
vernünftige Volk deliriert von Zeit zu Zeit. Man muß sich fragen, wie
die Leute, die zum großen Teil gar nicht böse sind und von Natur aus zu
gegenseitiger Nachsicht, ja Gleichgültigkeit geneigt, plötzlich zu
solchen Explosionen von zornigem Fanatismus kommen, bei denen sie
gleichzeitig ihren Kopf und ihr Herz verlieren. Manche sagen, dieses
Volk hätte eine Frauennatur, sowohl in seinen Tugenden wie in seinen
Lastern, und daß die Feinheit seiner Nerven und die Sensibilität, der ja
seine Kunst und sein Geschmack den Vorrang verdanken, es plötzlich in
hysterische Krisen verfallen lassen. Ich glaube vielmehr, daß jedes Volk
nur durch Zufall einmal menschlich ist — wenn man unter Mensch ein
vernünftiges Tier versteht (was ja sehr schmeichelhaft, aber gänzlich
unbewiesen ist). Die Menschen machen von ihrer Vernunft nur selten
Gebrauch. Im allgemeinen sind sie von der Anstrengung zu denken, gleich
ermattet, und man tut ihnen wohl, wenn man ihnen das Wollen abnimmt und
für sie nur das will, was die wenigste Anstrengung erfordert. Die
Anstrengung nun, irgendeine neue Idee zu hassen, ist wirklich keine
allzugroße. Aber brechen wir nicht den Stab über sie! Der Freund aller
Verfolgten hat mit seinem nachsichtigen Heroismus gesagt: „Sie wissen
nicht, was sie tun.“

Eine nationalistische Zeitung fand sich bereit, die bösartigen
Instinkte, die in diesen armen Menschen schlummerten, aufzuwecken. Sie
lebte ja einzig nur von der Ausbeutung der Verdächtigung und des Hasses,
was sie „für die Erneuerung Frankreichs arbeiten“ nannte. Für sie
bestand eben Frankreich einzig aus ihr selbst und ihren
Gesinnungsgenossen. Sie veröffentlichte gegen „Cleramboche“ eine Reihe
mörderischer Artikel, ähnlich jenen, die so gut ihr Ziel gegen Jaurès
erreicht hatten, sie hetzte die öffentliche Meinung auf, indem sie
schrie: geheimnisvolle Einflüsse seien am Werk, den Verräter zu
schützen, und man müsse darüber wachen, daß er nicht entkomme. Und
schließlich appellierte sie an die Justiz des Volkes.

                                   §

Viktor Vaucoux haßte Clerambault.

Er kannte ihn nicht. Der Haß braucht ja seinen Gegner nicht zu kennen.
Aber hätte Vaucoux Clerambault gekannt, so hätte er ihn noch mehr
gehaßt. Ehe er wußte, daß es einen Clerambault gebe, war er schon sein
geborener Feind. Es gibt in jedem Land geistige Rassen, die sich
feindlicher sind als die des Blutes oder die der Uniformen.

Er stammte aus begüterter Bürgerschaft im Westen Frankreichs, aus einer
Beamtenfamilie des Kaiserreiches und des Systems von Zucht und Ordnung,
die sich seit vierzig Jahren in den Schmollwinkel einer sterilen
Opposition zurückgezogen hatte. Er besaß Güter in der Charente, dort
verbrachte er den Sommer, die übrige Zeit war er in Paris. Es war eine
dekadente Familie, wie es die jener Gesellschaftsklasse ja gewöhnlich
sind, und sowohl gegen seine Klasse als gegen die eigene Familie wandte
sich sein Herrschinstinkt, für den er im Leben keine andere Verwendung
fand. Die Unterdrückung seiner Herrschbegierde gab ihm einen
tyrannischen Charakter, er despotierte, ohne es zu wissen, die Seinen,
gleichsam aus einem Recht und einer unbestreitbaren Pflicht heraus. Das
Wort Toleranz hatte keinen Sinn für ihn. Für ihn war es gewiß: er konnte
sich nicht irren. Dabei war er intelligent, hatte eine gewisse sittliche
Gesundheit — ja sogar ein Herz, aber das alles unter einer dicken Rinde
wie bei einem alten überwucherten Stamm zusammengepreßt und gebunden.
Seine Kräfte, die sich nicht auswirken konnten, stauten sich und
stockten. Von außen nahm er nichts auf. Wenn er las, wenn er reiste, tat
er es mit feindlichen Augen und dem Verlangen, s i c h wieder zu finden.
Nichts schnitt durch die Rinde in sein innerstes Wesen hinein. Was er an
Leben hatte, kam von unten, von der Wurzel, von der Erde — von den
Toten.

Er war der Typus jener Rassenschicht, die, zwar stark, aber doch schon
gealtert, nicht mehr genug Leben hat, um sich nach außenhin zu
entwickeln, und sich im Gefühl einer aggressiven Verteidigung
zusammenschließt. Sie beobachtet mit Mißtrauen und Antipathie die neuen
jungen Kräfte, die sich rings um sie, innerhalb und außerhalb ihres
Volkes, entwickeln, die aufsteigenden Nationen und Klassen, alle die
leidenschaftlichen und ungeschickten Versuche sittlicher und sozialer
Erneuerung. Solche Leute brauchen, wie der arme Barrès und sein
verkrüppelter Held[B], Mauern, Schranken, Grenzen und Feinde.

In diesem Belagerungszustand lebte auch Vaucoux und ließ die Seinen so
leben. Seine sanfte, gleichmütige, verblühte Frau hatte das einzige
Mittel gefunden, diesem Zustand zu entkommen: sie war gestorben. Allein
mit seiner Trauer zurückgeblieben, die er eifersüchtig behütete — wie
alles, was ihm gehörte —, errichtete er einen Schutzwall um die Jugend
seines einzigen, dreizehnjährigen Sohnes und lehrte ihn, mit dem Vater
zusammen diesen Schutzwall zu bewachen. Wie seltsam, Söhne zu zeugen, um
mit ihnen gegen die Zukunft zu kämpfen! Sich selbst überlassen, hätte
der junge Bursche vielleicht das Leben von sich aus entdeckt, aber im
Gefängnis des Vaters wurde er eine Beute des Vaters. Sie lebten in einem
versperrten Haus mit wenig Beziehungen, wenig Büchern, wenig Zeitungen,
mit Ausnahme einer einzigen, deren versteinerte Prinzipien am besten
Vaucoux’ Bedürfnis nach Erhaltung (im Sinne von Mumifizierung)
entsprachen. Sein Opfer, sein Sohn, konnte ihm nicht entkommen. Er
impfte ihm seine geistige Abirrung ein, wie Insekten ihre Eier in den
lebendigen Körper eines anderen Tieres einpflanzen, und als der Krieg
ausbrach, führte er ihn in das Rekrutierungsbureau und ließ ihn
einschreiben. Für einen Mann seiner Art war das Vaterland das reinste
aller Wesen, das heiligste der heiligen. Er mußte nicht erst, um sich zu
begeistern, die heiße Luft und den Rausch der Menge eintrinken (er hielt
sich weit weg von der großen Masse). Das Vaterland war in ihm. Das
Vaterland: die Vergangenheit, die ewige Vergangenheit.

Und sein Sohn wurde getötet wie derjenige Clerambaults, wie diejenigen
von Millionen Vätern für den Glauben jener Väter an ein vergangenes
Ideal, an das sie selbst gar nicht glaubten.

Aber Vaucoux kannte nicht die Zweifel Clerambaults. Zweifeln? Er wußte
gar nicht, was Zweifeln bedeutete, und hätte er es sich erlaubt, er
würde sich verachtet haben. Dieser harte Mensch liebte seinen Sohn
leidenschaftlich, obwohl er es ihm nie gezeigt hatte, und er wußte keine
andere Art, es nun zu beweisen, als durch einen leidenschaftlichen Haß
gegen diejenigen, die ihn getötet hatten. Freilich zählte er sich nicht
selber zu jenen, die ihn hingeschlachtet hatten.

Für seine Rache waren ihm aber nur begrenzte Möglichkeiten gegeben.
Obwohl er Rheumatiker war und einen steifen Arm hatte, wollte er in die
Armee eintreten, wurde aber nicht angenommen. Er mußte aber doch etwas
tun und vermochte es nur durch Denken. Allein in seinem Haus, als
Gefährten nur seine tote Frau und seinen toten Sohn, gab er sich durch
Stunden leidenschaftlichen Betrachtungen hin. Wie ein Tier im Gefängnis,
das an den Stäben rüttelt, drehten sie sich rasend im Kreise des
Krieges, soweit ihn die Schützengräben zogen, voll Gier auszubrechen und
nach einer Öffnung suchend.

Die Artikel Clerambaults, die ihm durch das Wutgeheul seiner Zeitung
bekannt wurden, brachten ihn außer sich. Was?... Man versuchte ihm den
Knochen des Hasses aus den Zähnen zu reißen?... Schon aus dem wenigen,
was er von Clerambault vor dem Kriege kannte, war dieser ihm
unerträglich gewesen. Der Schriftsteller durch seine Bemühung um neue
Kunstformen, der Mann durch seine Lebens- und Menschenliebe, seinen
demokratischen Idealismus, seinen ein wenig einfältigen Optimismus und
seine europäischen Wünsche. Auf den ersten Blick, mit dem Instinkt des
Rheumatikers (in den Gelenken und im Geiste) hatte Vaucoux Clerambault
unter jene eingereiht, die einen Luftzug im Hause mit den verschlossenen
Fenstern und Türen, im Vaterlande, machen. Im Vaterlande, natürlich so,
wie er es verstand, denn für ihn gab es kein anderes. So brauchte er
nicht die besonderen Aufreizungen der Zeitungen, um in dem Verfasser des
„Aufrufes an die Lebendigen“ und „Ihr Toten, verzeihet uns“ den Agenten
des Feindes — den Feind zu sehen.

Und das Rachefieber, das ihn verzehrte, warf sich auf diese Beute.

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[B] „Simon und ich verstanden nun unseren Haß gegen die Fremden, gegen
die Barbaren und unseren Egoismus, in den wir mit uns selbst unsere
ganze kleine moralische Familie e i n s c h l i e ß e n. Die erste
Aufgabe dessen, der leben will, ist, sich mit h o h e n   M a u e r n
 z u   u m g e b e n. Aber in seinen g e s c h l o s s e n e n Garten
läßt er jene ein, die von ähnlichen Formen des Gefühls und gleichen
Interessen geleitet sind.“ (_Un Homme libre._) In drei Zeilen spricht
dieser „freie Mensch“ also dreimal von „einschließen“, „sich mit Mauern
umgeben“, „verschließen“.

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                                   §

Mein Gott, wie bequem ist es, zu hassen, wenn man diejenigen nicht
versteht, die anderer Meinung sind!

Clerambault war diese Leichtigkeit nicht gegeben, denn er verstand
vollkommen auch jene, die ihn verabscheuten, verstand sie bis ins
Letzte! Diese guten Leute litten bis zur Tollwut an der Ungerechtigkeit
des Feindes — zweifellos deshalb, weil sie ihnen weh tat, aber auch aus
ganz rechtschaffenen Gründen, weil es eben d i e Ungerechtigkeit war,
die Ungerechtigkeit sonder gleichen. Denn kurzsichtig, wie sie waren,
erschien sie ihnen ganz einzigartig ungeheuerlich und erfüllte
verwirrend ihr ganzes Gesichtsfeld. Wie beschränkt ist doch bei einem
gewöhnlichen Menschen die Fähigkeit des Gefühls und des Urteils!
Versinkend in der ungeheuren Weite, klammert er sich an die erstbesten
vorübertreibenden Trümmer, und so wie der Mensch den tausendfältigen
Strom des Lichtes sich zu einigen wenigen Farben vereinfacht, so wird
ihm das Gute und das Böse in den Adern des Weltalls nur erkenntlich,
wenn er es in ein paar selbsterlebte Beispiele wie in Flaschen füllen
kann. Für ihn ist dann d a s ganze Gute, d a s ganze Böse der Welt in
diesen paar etikettierten Beispielen verschlossen, und er konzentriert
auf sie seine ganze Kraft der Liebe und des Hasses. Für tausende sonst
vortreffliche Leute ist die Verurteilung Dreyfus’ oder die Torpedierung
der „Lusitania“ d a s Verbrechen des Jahrhunderts geblieben. Diese guten
Leute sehen eben nicht, daß der ganze Weg der menschlichen Gesellschaft
mit Verbrechen gepflastert ist, über die sie ahnungslos hinwegschreiten,
denn sie alle haben unbewußt ihren Vorteil von unbekannten
Ungerechtigkeiten, die zu verhindern sie niemals die geringste
Anstrengung gemacht haben. Und welche Ungerechtigkeiten sind eigentlich
die schlimmeren, jene, die ein langdauerndes und tiefes Echo im Gewissen
der Welt erwecken, oder die anderen, um die einzig das niedergetretene
Opfer weiß?... Aber diese braven Leute haben nicht genügend lange Arme,
um alles Elend der Welt zu umfassen. Wer zu viel umfaßt, eignet sich nur
wenig an. Deshalb klammern sie sich gewöhnlich nur an irgendeine
einzelne Ungerechtigkeit. Aber die machen sie dann ganz zu ihrer
Angelegenheit. Haben sie sich einmal irgendein Verbrechen ausgewählt für
ihren Haß, dann verbrauchen sie dabei die ganze Kraft der Erbitterung,
die in ihren Eingeweiden lebt. Der Hund hat seinen Knochen gefunden und
knabbert daran. Weh’ dem, der daran rührt!

Clerambault hatte daran gerührt. So hatte er kein Recht, sich zu
beklagen, wenn er nun gebissen ward. Und er beklagte sich auch nicht.
Die Menschen haben ein Anrecht, die Ungerechtigkeit, die sie sehen, zu
bekämpfen, und es ist nicht ihre Schuld, wenn sie davon nur die große
Zehe sehen, so wie Gulliver in Brobdignac. Jeder tut, was er kann.

Und so bissen sie zu.

                                   §

Es war am Karfreitag. Die große Sturzflut der Offensive warf sich gegen
das Herz Frankreichs. Auch der Tag der heiligen Trauer unterbrach das
Massaker nicht, denn der bürgerliche Krieg kennt keinen Gottesfrieden
mehr. Christus war in einer seiner Kirchen bombardiert worden, und die
Nachricht von der mörderischen Explosion in der Kirche Saint-Gervais
gerade um die Vesperstunde verbreitete sich nachts im lichtlosen Paris,
das von Trauer, Zorn und Furcht erfüllt war.

Die Freunde hatten sich in ihrer Betrübnis bei Froment versammelt. Ohne
Verabredung waren sie hingekommen, weil sie sicher waren, einander dort
zu finden. Überall sahen sie Gewalt: in der Vergangenheit, in der
Zukunft, bei dem Feinde, bei den Ihren, im Lager der Reaktion ebenso wie
in dem der Revolution. Ihre Angst und ihre Zweifel vereinigten sich in
einem einzigen Gedanken, und der Bildhauer sagte:

„Vergeblich beruhen unsere heiligsten Überzeugungen, unser Glaube an den
Frieden und die menschliche Brüderlichkeit auf der Vernunft und der
Liebe. Gibt es denn wirklich gar keine Hoffnung, daß sie jemals Macht
gewinnen über die Menschen? Wir sind zu schwach!“

Und Clerambault rezitierte, ganz ohne es zu wollen, die Worte des
Jesaias, die ihm plötzlich in Erinnerung kamen:

„Dunkel bedecken die Erde, und der Schatten umhüllt die Völker....“

Er hielt inne. Aber von seinem kaum erhellten Bett fuhr Froment
unsichtbar fort:

„Stehet auf, denn von den Gipfeln der Berge erscheinet das Licht....“

„Ja, es erscheint“, wiederholte aus dem Dämmer die Stimme der Frau
Froment, die zu Füßen des Bettes an der Seite Clerambaults saß.
Clerambault faßte ihre Hand. Es war wie ein kühler Schauer, der durch
das Zimmer lief.

„Warum sagen Sie das?“ fragte der Graf Coulanges.

„Weil ich Ihn sehe!“

„Ich sehe Ihn auch“, sagte Clerambault.

Der Doktor Verrier fragte:

„Wen?“

Aber ehe die Antwort noch ausgesprochen war, wußten schon alle das Wort
im voraus.

„Der das Licht bringt ..., den Gott, der sie besiegt....“

„Ihr wartet auf einen Gott!“ sagte der alte Hellenist, „Ihr glaubt also
an das Wunder?“

„Das Wunder sind wir. Ist es denn nicht ein Wunder, daß in dieser Welt
unaufhörlicher Gewalttätigkeit wir den Glauben an die Liebe und die
Gemeinschaft der Menschen bewahrt haben?“

Coulanges sagte bitter:

„Seit Jahrhunderten erwartet man den Christus, und immer, wenn er kommt,
erkennt man ihn nicht und kreuzigt ihn. Und alle vergessen ihn dann mit
Ausnahme einer Handvoll Bettler, die gut und beschränkt sind. Diese
Handvoll vermehrt sich, und während eines Menschenalters blüht der
Glaube. Dann aber wird er verfälscht, wird durch seinen Erfolg verraten,
durch seine ehrgeizigen Diener, die Kirche. Und das geht dann durch
Jahrhunderte so dahin.... _Adveniat regnum tuum_ ... Aber wo, wo ist
denn das Gottesreich?“

„In uns“, antwortete Clerambault. „Die Kette unserer Prüfungen und
Hoffnungen formt den ewigen Christus. Wir sollten glücklich sein, wenn
wir daran denken, daß uns das Vorrecht zuteil ward, den neuen Gott in
unserem Herzen beherbergen zu dürfen wie das Kind in der Krippe.“

„Aber was gibt uns das Zeichen, daß er gekommen ist?“ fragte der Arzt.

„Unser Sein“, antwortete Clerambault.

„Unsere Leiden“, antwortete Froment.

„Unser verkannter Glaube“, antwortete der Bildhauer.

„Die einzige Tatsache schon, daß wir sind“, setzte Clerambault hinzu,
„dieser Widersinn, den wir der Natur ins Antlitz schleudern, den diese
aber bestreitet. Hundertmal entflammt sich die Flamme und verlöscht
wieder, ehe sie leuchten bleibt. Jeder Christus, jeder Gott hat sich
vorher zu gestalten versucht in einer ganzen Reihe von Vorläufern.
Überall sind sie, verloren und vereinsamt im Raume und vereinsamt in den
Jahrhunderten. Aber diese Einsamen, die einander nicht kennen, sehen
alle am Horizont den gleichen leuchtenden Punkt, den Blick des Erlösers.
Und er kommt!“

Froment sagte:

„Er ist gekommen!“

                 *        *        *        *        *

Als sie voneinander in einem Gefühl gegenseitiger Liebe und fast wortlos
geschieden waren, um nicht den gläubigen Zauber, der sie umfaßte, zu
zerstören, und jeder sich allein in der Nacht der Straße fand, da
bewahrten sie alle die Erinnerung eines Schauers der Erleuchtung, den
sie nicht verstehen konnten. Der Vorhang war wieder vor ihnen
niedergesunken. Aber sie konnten nicht vergessen, daß er sich für eine
Sekunde ihnen aufgetan hatte.

                                   §

Einige Tage später kam Clerambault, der einer Vorladung des
Untersuchungsrichters Folge geleistet hatte, über und über mit Kot
bedeckt nach Hause. Sein Hut, den er in der Hand hielt, war ganz
zerfetzt und seine Haare naß vom Regen. Das Dienstmädchen stieß bei
seinem Anblick einen Schrei aus, er bedeutete ihr zu schweigen und ging
in sein Zimmer. Rosine war nicht zu Hause. Sonst sahen sich die beiden
Eheleute, die allein in der leeren Wohnung geblieben waren, nur mehr bei
den Mahlzeiten und sprachen sich auch dann so selten als möglich. Aber
der Schrei des Dienstmädchens ließ Frau Clerambault ein neues Unglück
vorausfühlen, und die Erklärungen des Mädchens bestätigten nur ihren
Verdacht. Sie trat in das Zimmer Clerambaults und rief nun ihrerseits
aus:

„Mein Gott, was hast du denn schon wieder gemacht?“

Clerambault in seiner Beschämung lächelte schüchtern und entschuldigte
sich.

„Ich bin ausgerutscht ...“

Er versuchte die Spuren des Überfalls wegzusäubern.

„Du bist ausgerutscht?... Drehe dich doch um ... Wie du dich zugerichtet
hast.... Mein Gott, man hat doch mit dir keinen ruhigen Augenblick....
Du gibst wirklich gar nicht acht.... Bis zu den Augen hinauf hast du
Kotspritzer ... und da auf der Wange....“

„Ja, ich glaube, ich habe mich angeschlagen.“

„Ach, was man für ein Unglück mit dir hat.... ‚du glaubst‘ ... daß du
dich angestoßen hast?... Bist du ausgerutscht?... Bist du gefallen ...?“

Sie sah ihm ins Gesicht. „Es ist nicht wahr!“

„Aber ich sage dir doch ...“

„Es ist nicht wahr ... sage mir doch die Wahrheit ... Man hat dich
geschlagen ...?“

Er antwortete nicht.

„Sie haben dich geschlagen!... Ah, diese wilden Tiere.... Du armer Mann!
Sie haben dich geschlagen! Dich, der du so gut bist, dich, der in seinem
ganzen Leben niemandem Böses getan hat.... Ah, das ist doch zu viel
Gemeinheit....“

Sie umarmte ihn schluchzend.

„Du gute Frau“, sagte er sehr gerührt, „das ist doch nicht so wichtig.
Und dann, ich mache dich ja schmutzig, du darfst mich jetzt nicht
anrühren.“

„Das macht nichts“, sagte sie, „ich habe zu viel auf dem Herzen!
Verzeihe mir!“

„Was soll ich dir denn verzeihen, ... was redest du denn da?“

„Auch ich bin schlecht gegen dich gewesen. Ich habe dich nicht
verstanden ... (ich werde dich ja nie verstehen), aber ich weiß doch
gut, daß, was immer du tust, du nichts als das Rechte willst. Ich hätte
dich verteidigen sollen und habe es nicht getan, ich war dir böse über
deine Dummheit (und bin doch selbst die Dumme), ich war dir böse, daß du
uns mit allen andern auseinandergebracht hast.... Aber jetzt ... nein,
das ist wirklich zu gemein.... Menschen, die nicht würdig sind, deine
Schuhriemen zu lösen, ... und sie haben dich geschlagen! Laß mich doch
dein armes beschmutztes Gesicht küssen!“

Es war so gut, sich wiederzufinden, nachdem man sich so lange verloren
hatte. Sie weinte lange am Halse Clerambaults. Dann half sie ihm sich
umkleiden, wusch ihm die Wange mit Arnika und trug seine Kleider fort,
um sie ausbürsten zu lassen. Bei Tisch behütete sie ihn mit treuen,
unruhigen Augen und versuchte, ihn von seinen Sorgen abzulenken, indem
sie von altvertrauten Dingen sprach. Und wie sie so beide an diesem
Abend allein und ohne Kinder im Hause waren, kam die Erinnerung an lang
vergangene Jahre, an die erste Zeit ihrer Ehe zurück. Und dieses geheime
Wiedererinnern hatte eine melancholische und verklärte Milde, wie das
Vesperläuten über das Dunkel noch ein letztes warmes Leuchten des
verlorenen Mittagläutens hinklingen läßt.

Gegen zehn Uhr abends ging noch einmal die Glocke. Es war Julian Moreau
mit seinem Freunde Gillot. Sie hatten die Abendblätter gelesen, die auf
ihre Art über den Vorfall berichteten. Die einen sprachen von einer
exemplarischen Züchtigung durch die öffentliche Verachtung und rühmten
die „spontane“ Entrüstung der Menge. Die anderen, die ernsten Blätter,
taten so, als ob sie prinzipiell eine Volksjustiz, die sich auf der
Straße Luft machte, für ungehörig erklärten, aber sie schoben die
Verantwortung dafür auf die Schwäche der Regierung, die solange zögerte,
Licht in die Affäre zu bringen. Es war gar nicht unwahrscheinlich, daß
dieser Tadel der Regierung von der Regierung selbst inspiriert war, denn
die geschickten Politiker lassen sich bei manchen Gelegenheiten zu
gewissen Dingen zwingen, die sie gern selbst tun möchten, aber auf die
sie nicht sehr stolz sind. Die Arretierung Clerambaults schien also
unmittelbar bevorzustehen. Moreau und sein Freund waren darüber
beunruhigt, aber Clerambault machte ihnen ein Zeichen, sie sollten in
Gegenwart seiner Frau schweigen und führte sie, nachdem er einige Zeit
über den Vorfall in heiterer Weise gescherzt hatte, in sein Zimmer. Dort
fragte er sie, was sie beunruhigte. Sie zeigten ihm einen haßerfüllten
Artikel jenes nationalen Blattes, das seit Wochen die Hetze gegen
Clerambault aufführte. Die Manifestation von heute hatte jene auf den
Geschmack gebracht, und sie forderten ihre Freunde auf, sie morgen zu
wiederholen. Moreau und Gillot befürchteten Gewalttätigkeiten, wenn sich
Clerambault in den Justizpalast begeben würde, und sie waren gekommen,
um ihn zu überreden, nicht auszugehen. Sie kannten seinen ein wenig
furchtsamen Charakter und glaubten, ihm nicht besonders zusprechen zu
müssen. Aber ebensowenig wie damals, als Moreau ihn mitten in einer
Ansammlung diskutierend getroffen hatte, schien Clerambault sie zu
verstehen.

„Ich soll nicht ausgehen? Warum denn nicht, mir fehlt doch nichts?“

„Aber es wäre klüger!“

„Im Gegenteil, es wird mir gut tun.“

„Aber man weiß nicht, was Ihnen zustoßen kann.“

„Das weiß man niemals, dazu hat man noch Zeit, sobald es einmal
geschehen ist.“

„Also, um aufrichtig zu sprechen: es ist gefährlich. Man reizt schon
seit langem die Leute auf. Sie sind heute verhaßt und Ihr Name genügt,
ein paar von den Dummköpfen, die Sie nur durch ihre Zeitungen kennen,
bis zum Platzen zu ärgern. Und diese Antreiber suchen ja nur einen
Eklat. Gerade durch die Ungeschicklichkeit Ihrer Gegner haben Ihre Worte
mehr Echo gefunden, als Sie dachten. Nun fürchten sie, daß diese Ideen
sich Bahn brechen und wollen ein Exempel statuieren, um alle
abzuschrecken, die Ihrer Meinung sind.“

„Ja, aber“, sagte Clerambault, „wenn es wirklich solche gibt, die meiner
Meinung sind — ich war dessen bisher noch nicht gewiß — so darf ich
mich in einem solchen Augenblick doch nicht zurückziehen. Will man an
mir ein Exempel statuieren, so muß ich es über mich ergehen lassen.“

Er schien so guten Mutes, daß die beiden sich fragten, ob er sie
wirklich verstanden habe. „Ich wiederhole Ihnen“, sagte Gillot nochmals,
„daß Sie viel riskieren.“

„Mein Freund“, sagte Clerambault, „heute riskiert die ganze Welt sehr
viel.“

„Aber es muß doch wenigstens ein Nutzen bei so etwas sein; warum wollen
Sie ihnen eine Gefälligkeit erweisen und sich in den Rachen des Löwen
wagen?“

„Nun, ich glaube wiederum, daß das uns im Gegenteil sehr nützlich sein
kann“, sagte Clerambault, „und daß, was immer auch geschieht, der Löwe
das Nachsehen haben wird. Ich möchte auch das auseinandersetzen.... Sie
verbreiten ja nur unsere Ideen, denn die Gewalttätigkeit heiligt immer
die Sache, die sie verfolgt. Sie wollen Schrecken verbreiten, und sie
werden auch Schrecken verbreiten ... aber bei den Ihren ..., bei denen,
die noch zögern und verängstigt sind. Lassen wir sie nur ungerecht sein,
es geht auf ihre Kosten ...“

Er schien zu vergessen, daß es auch auf die Kosten der Seinen ging.

Als sie aber sahen, daß er entschlossen war, wuchs mit ihrer Unruhe auch
ihr Respekt und sie erklärten:

„In diesem Falle aber kommen wir mit unseren Freunden, um Sie zu
begleiten.“

„Nein, nein, was ist das für ein törichter Einfall! Ihr wollt mich doch
nicht lächerlich machen ... und schließlich, ich bin ja doch sicher, daß
nichts geschehen wird!“

Ihr Drängen blieb ohne jeden Erfolg.

„Mich werden Sie jedenfalls nicht verhindern können, zu kommen“, sagte
Moreau, „ich habe einen ebenso harten Kopf wie Sie. Lieber will ich die
ganze Nacht auf der Bank gegenüber der Tür verbringen, als Sie zu
verfehlen und allein zu lassen.“

„Gehen Sie nur heim in Ihr Bett“, sagte Clerambault, „und schlafen Sie
ruhig. Wenn Sie unbedingt wollen, so kommen Sie eben morgen früh, aber
Sie werden Ihre Zeit verlieren. Es wird nichts geschehen. Auf jeden
Fall: umarmen wir uns.“

Sie umarmten ihn zärtlich.

„Sehen Sie“, sagte Gillot schon an der Türschwelle, „man hat irgendwie
die Pflicht, Sie zu behüten, wir sind ein wenig Ihre Kinder.“

„Ja, das ist wahr“, sagte Clerambault mit einem guten Lächeln.

Er dachte an seinen Sohn. Als er die Tür schloß, vergingen einige
Minuten, bis er bemerkte, daß er aufrechtstehend träumte, mit der Lampe
in der Hand unbeweglich im Vorzimmer stehend, in dem er sich eben von
seinen Freunden verabschiedet hatte. Es war fast Mitternacht, und
Clerambault war müde. Dennoch trat er, statt in das gemeinsame
Schlafgemach zu gehen, ganz unbewußt noch einmal in sein Zimmer zurück.
Das Zimmer, das Haus, die Straße waren eingeschlafen; er setzte sich hin
und fiel wieder in seine Starre zurück. Undeutlich, ohne es eigentlich
zu sehen, betrachtete er den Lichtreflex vor sich auf der Glasscheibe
einer Rembrandt-Radierung, der „Auferstehung des Lazarus“, die an einer
Seitenwand seiner Bibliothek aufgehangen war.... Er lächelte einem
teuren Antlitz zu, das lautlos eingetreten und nun bei ihm war.

„Bist du nun zufrieden?“ dachte er, „das wolltest du doch?...“

Und Maxime sagte: „Ja.“

Und er fügte mit leisem Spott bei:

„Es war nicht ganz ohne Mühe, bis ich dich so weit gebracht habe, Papa.“

„Ja“, sagte Clerambault, „wir haben viel von unseren Kindern zu lernen.“

                                   §

Clerambault legte sich zu Bett. Seine Frau war schon eingeschlafen.
Keine Sorge ließ sie jemals den Frieden jenes tiefen Schlummers
verlieren, in den manche Seelen wie in ein Grab hinabstürzen. Die Seele
Clerambaults hatte weniger Ungeduld, sich zu versenken. Auf dem Rücken
ausgestreckt, blieb er die ganze Nacht unbeweglich mit offenen Augen
liegen.

Blasses Licht erhellte die Straße, zarte Halbdämmerung. Stille Sterne
standen am dunklen Himmel. Einer von ihnen glitt nieder und beschrieb
einen Kreis: es war ein Flugzeug, das über der schlafenden Stadt wachte.
Die Augen Clerambaults folgten seinem Flug und schwebten mit. Sein
waches Ohr hörte nun auch das ferne Sausen des menschlichen Planeten,
diese Sphärenmusik, die die Weisen Ioniens noch nicht geahnt hatten.

Er war glücklich. Sein Körper und sein Geist schienen ihm gleichsam
beschwingt, seine Glieder ebenso wie seine Gedanken entspannt, und so
ließ er sich hinwegtragen und schwebte.... Die Bilder des fiebrigen und
ermattenden Tages zogen noch einmal im Fluge vorbei, doch sie hielten
ihn nicht mehr fest.... Ein alter Mann, von einer Bande junger Bürger
gestoßen ... zuviel Lärm, zuviel Bewegung!... Aber schon sind sie wieder
weit, so wie Gesichter, die man einen Augenblick an den Fenstern eines
vorüberfliegenden Zuges grinsen sieht. Aber der Zug ist vorüber, das
Bild stürzt in das Dunkel des donnernden Tunnels.... Aber auf dem
nächtlichen Himmel gleiten noch immer geheimnisvolle Sterne, und rings
um ihn sind die schweigenden Räume, die dunkle Durchsichtigkeit und
eisige Frische der Luft über der nackten Seele. Oh, Unendlichkeit in
einem Tropfen des Lebens, im Funken eines Herzens, das erlöschen will,
das sich aber freigemacht hat und weiß, wie bald es in seine große
Heimat wiederkehrt!

Und wie der treue Verwalter eines ihm vertrauten Gutes machte
Clerambault noch einmal die Bilanz seines Tages. Er überflog alle seine
Versuche, seine Anstrengungen, seine Anläufe, seine Irrtümer. Wie wenig
blieb übrig von seinem Leben? Fast alles, was er aufgebaut, hatte er
nachher mit seinen eigenen Händen zerstört. Er hatte im gleichen Herzen
verneint, was er vordem bejaht hatte, und nie aufgehört, im Walde der
Zweifel und Widersprüche herumzuirren, müde, blutend, erschöpft und als
einzige Wegzeiger die Sterne, die manchmal zwischen dem Gezweige
auftauchten und wieder verschwanden. Was für ein Sinn war in diesem
langen, stürmischen Lauf, der in Nacht mündete? Ein einziger! Er war
frei gewesen.

Frei ...! Was war denn dies, diese Freiheit, die ihn mit ihrer
herrischen Trunkenheit übermannte, die Freiheit, deren Herrn und Beute
er sich zugleich fühlte, d i e s e r   Z w a n g ,   f r e i   z u
 s e i n ? Er gab sich keiner Täuschung hin, er wußte wohl, daß er
ebenso wie die anderen der ewigen Gebundenheit nicht entfliehen konnte,
aber seine Fron war eine andere (es ist nicht jedem die gleiche
bestimmt). Das Wort Freiheit drückt nur eines der hohen und klaren
Gesetze der unsichtbaren Herrin der Welt aus — der Notwendigkeit. Sie
ist es, die den Aufruhr der Vorkämpfer erweckt und sie in Feindschaft
stellt zur ewigen Vergangenheit, die die dunklen Massen mit sich
hinschleppt. Sie ist das Schlachtfeld der ewigen Gegenwart, wo ewig die
Vergangenheit mit der Zukunft kämpft, und in diesem Kampfe zerbrechen
unausgesetzt die alten Gesetze, um neuen Gesetzen Raum zu geben, die
dann ihrerseits vernichtet werden.

O Freiheit! Immer trägst du Ketten, aber es sind nicht mehr die zu engen
der Vergangenheit. Jede deiner Bewegungen macht dein Gefängnis weiter.
Wer weiß? Wer weiß?... Vielleicht später einmal ... wenn man die Mauern
deines Gefängnisses zertrümmert....

Inzwischen aber bemühen sich alle, die du retten willst,
leidenschaftlich, dich zu verlieren. Du bist der Staatsfeind, „_L’Un
contre tous_“, „der Eine gegen Alle“. (So hatten sie den schwachen, den
unsicheren, den mittelmäßigen Clerambault genannt; aber nicht an sich
selbst denkt er jetzt, sondern an d e n, der immer war, seit Menschen
sind, an d e n, der nicht aufhört, ihre Torheit zu bekämpfen, um sie zu
befreien, d e r   E i n e ,   g e g e n   d e n   s i e   a l l e
 s i n d.) Wie oft haben sie ihn im Laufe der Jahrhunderte zur Seite
gestoßen und niedergeschmettert! Aber im Schoße der Angst überkommt ihn
eine übernatürliche Freude und erfüllt ihn rauschend, denn er ist das
heilige Korn, das Goldkorn der Freiheit. Im dunkeln Schicksal der Welt
rollt seit dem Chaos — aus welcher Ähre mag es gefallen sein? — das
Samenkorn des Lichtes. Schutzlos, hat es sich im Grunde des wilden
Menschenherzens eingekapselt. Im Lauf der Jahrhunderte hat es dem
Ansturm der Urgesetze widerstanden, die das Leben zerknicken und
zerbrechen. Und das goldene Samenkorn wird größer und größer,
unaufhaltsam.

Der Mensch, das waffenloseste Tier, hat sich gegen die Natur erhoben und
sie bekämpft. Jeder seiner Schritte war mit seinem Blut genetzt, und
nicht nur außerhalb seiner selbst, sondern in sich selbst, mußte er die
Natur verfolgen, da er ja selber ihr Teil ist. Und dies ist die
schwerste Schlacht, die der zerteilte Mensch gegen sich selbst führt.
Wer wird siegen? Einerseits die Natur auf ihren erzenen Wegen, die die
Völker und die Welt in den Abgrund reißt, auf der anderen Seite das
freie Wort. Verlacht es nur, ihr Sklaven!... „Lächerlich!“ sagen sie,
diese Anbeter der Gewalt: „Ein armseliger Köter, der hinter den Rädern
eines Schnellzuges herkläfft.“ Ja, so stünde es, wäre der Mensch nur ein
Stück Materie unter dem Prägehammer des Schicksals, das blutet und
vergeblich stöhnt. Aber jener Geist ist in ihm, der Achilles an der
Ferse und Goliath an seiner Stirn zu treffen weiß. Er braucht nur eine
Schraube auszureißen, und der reißende Zug entgleist und sein Lauf ist
zerbrochen.... Rollt hin durch die Jahrhunderte, ihr Planetenkreise, ihr
dunklen Menschenmassen, erhellt von den Blitzen des befreienden Geistes,
von Buddha, Jesus, den Weisen, den Zerbrechern der Ketten.... Der Blitz
naht, ich fühle ihn in meinem Gebein knistern, wie unter dem Hufschlag
des Pferdes der Funken im Stein; die Luft bebt, die große Windwelle
erhebt sich.... Der Schauer, der dem Geschehnis voranläuft.... Die dicke
Wolke des Hasses preßt sich zusammen, häuft und stößt sich.... O Feuer,
bald bist du aufgesprungen!... Ihr, die ihr allein gegen alle seid,
worüber klagt ihr? Ihr seid dem Joch, das euch niederdrückt, entronnen,
und so wie man im Alpdruck sich dem schwarzen Wasser eines Traumes
entringt, wieder kämpfend an die Oberfläche kommt, wieder hinabstürzt
und fast schon erstickt, um dann plötzlich in einem verzweifelten Ruck
aller Glieder sich aus dem Wasser zu reißen und — gerettet! — auf das
harte Gestein des Ufers hinstürzt.... Möge es mein Fleisch schmerzend
zerfetzen! Um so besser, ich erwache doch wieder in freier Luft.

Nun bin ich, du drohende Welt, deiner Fesseln los, du kannst mich nicht
mehr anschmieden. Und ihr, die ihr mich und meinen verabscheuten Willen
bekämpft, wißt, daß dieser mein Wille in euch ist! Ihr wollt, wie ich,
frei sein, und ihr leidet daran, es nicht zu sein. Dies euer Leiden
macht euch zu meinen Feinden. Aber selbst wenn ihr mich tötet, dann ist
es nicht mehr an euch, zu sagen, ihr hättet das Licht, das in mir war,
nicht gesehen, oder, falls ihr es gesehen habt, es zurückzuweisen!
Schlagt also zu! Indem ihr mich bekämpft, bekämpft ihr euch selbst. Von
vornherein seid ihr die Besiegten. Und ich, indem ich mich verteidige,
verteidige euch alle. Der „Eine gegen Alle“ ist der „Eine für Alle“, und
er wird bald der „Eine mit Allen“ sein.

Nein, ich werde nicht allein bleiben, ich bin es nie gewesen. Gruß euch,
ihr Weltbrüder! So weit ihr auch sein möget, über die Welt hingestreut
wie der Samen aus einer Hand, so seid ihr doch alle hier an meiner
Seite: ich weiß es. Denn niemals ist der Gedanke eines einsamen Menschen
so wie er selbst allein. Jede Idee, die in einem Menschen ersteht, keimt
schon in anderen Menschen, und immer, wenn irgendein Unglücklicher,
verkannt, geschmäht, sie in seinem Herzen erwachen fühlt, möge er
freudig sein. Denn es ist die ganze Erde, die erwacht.... Der erste
Funke, der in einer einsamen Seele erglänzt, ist schon die Spitze jenes
Strahls, der die Nacht durchleuchten wird. So komme, Licht, verbrenne
die Nacht, die mich umgibt und die mich erfüllt....!

                                   §

Und es kam. Das klare Licht des Tages war so jung und hell wie nur je.
Der Schmutz der Menschen kann es nicht beflecken, die Sonne trinkt ihn
auf wie einen Nebel.

Frau Clerambault erwachte und sah ihren Mann mit offenen Augen. Sie
meinte, auch er sei eben erwacht, und sagte:

„Du hast gut geschlafen. Du hast dich nicht ein einzigesmal in der Nacht
gerührt.“

Er widersprach nicht, lächelte aber bei dem Gedanken an die lange Fahrt,
die er gemacht hatte. Der Geist, der unruhige Vogel, der durch die Nacht
hinstreift, nun faßte er wieder Fuß. Clerambault stand vom Bette auf.

Zur gleichen Stunde stand ein anderer auf, der ebensowenig wie er in
dieser Nacht geschlafen hatte, und der ebenso das Bildnis seines toten
Sohnes sich vor den Blick gerufen und der an ihn — an ihn, Clerambault,
den er nicht kannte — mit der ganzen Starrheit des Hasses dachte.

Die erste Post brachte einen Brief von Rosine. Sie vertraute ihrem Vater
das Geheimnis an, das er seit langem ahnte. Daniel hatte ihr einen
Heiratsantrag gemacht, und sie würden sich bei seiner nächsten Heimkehr
von der Front vermählen. Der Form halber erbat sie sich die Zustimmung
der Eltern, sie wußte wohl, daß ihr Wille auch der ihrige war. Der Brief
strahlte von einem Glück, das sich seine jubelnde Gewißheit durch nichts
zerstören ließ. Das traurige Rätsel der zerrissenen Welt hatte nun
plötzlich einen Sinn bekommen, ihre junge, alles auftrinkende Seele
empfand das Leiden einer Welt als nicht zu hohen Preis für die Blüte,
die sie von diesem blutigen Rosenstrauch pflücken durfte.... Immerhin
verriet sich auch ihr mitfühlendes Herz. Sie vergaß nicht die anderen
und ihre Qual, den Vater und seine Sorgen. Aber sie rührte sie mit
seligen Armen an, und es war, als wollte sie mit einer naiven und
zärtlichen Übermütigkeit sagen:

„Ihr guten Freunde, quält euch doch nicht immer mit euren Gedanken. Ihr
seid wirklich unklug, man soll nicht traurig sein. Ihr seht, das Glück
kommt schließlich doch.“

Clerambault lächelte gerührt, während er den Brief las.

„Ja, ja, ganz gewiß, das Glück kommt, nur hat nicht die ganze Welt Zeit,
darauf zu warten.... Grüße es von mir, kleine Rosine, und lasse es nicht
mehr von dir.“

                                   §

Gegen elf Uhr kam der Graf Coulanges, sich nach ihm zu erkundigen. Er
hatte Moreau und Gillot unten gefunden, sie bewachten die Tür. Getreu
ihrem Versprechen, wollten sie Clerambault begleiten, aber sie waren
eine Stunde früher gekommen, als es eigentlich notwendig war, und wagten
nicht hinaufzugehen. Clerambault ließ sie heraufrufen und verspottete
sie wegen ihres übermäßigen Eifers. Sie gaben zu, daß sie aus Mißtrauen
gegen ihn gefürchtet hatten, er würde, ohne auf sie zu warten, aus dem
Hause entwischen, und Clerambault mußte zugeben, eine ähnliche Absicht
gehabt zu haben.

Die letzten Nachrichten von der Front waren gut. Seit kurzer Zeit schien
die deutsche Offensive ins Stocken geraten. Seltsame Zeichen der
Ermattung wurden sichtbar und Gerüchte, die nicht unbegründet schienen,
deuteten auf einen geheimen Desorganisationsprozeß in dieser gewaltigen
Masse. Sie hatte, sagte man, die Grenzen ihrer Kraft erreicht und
überschritten: der Riese wurde matt. Man sprach von einer Ansteckung
durch den revolutionären Geist, den die deutschen Truppen von der
Ostfront aus Rußland zurückgebracht hatten.

Mit der Beweglichkeit, die für den französischen Geist so
charakteristisch ist, verkündeten mit einem Male die Pessimisten von
gestern den nahen Sieg. Moreau und Gillot sahen in kurzer Zeit ein
Abflauen der Leidenschaft, die Rückkehr zur Vernunft, die Versöhnung der
Völker und den Triumph der Ideen Clerambaults voraus. Clerambault warnte
sie, sich allzufrüh den Illusionen hinzugeben, und es bereitete ihm
Spaß, ihnen zu beschreiben, was geschehen würde, sobald der Frieden
unterschrieben sei (denn das mußte doch, wann immer auch, einmal
geschehen).

„Mir ist“, sagte er, „als könnte ich, wie der hinkende Teufel nachts
über die Stadt schwebend, den ersten Abend nach dem Waffenstillstand
sehen. Und ich sehe in den Häusern, deren Vorhänge vor dem Jubelschrei
der Straße herabgelassen sind, unendlich viel Herzen in Trauer, Herzen,
die sich krampfhaft während all dieser Jahre mit dem Gedanken eines
Sieges aufrechtgehalten haben, der ihrem Unglück einen Sinn oder den
falschen Schein eines Sinnes gibt. Nun können sie endlich sich
entspannen oder zerbrechen, schlafen oder endlich sterben. Die Politiker
denken natürlich daran, wie sie auf das schnellste und ausgiebigste die
gewonnene Partie ausnützen können oder, wenn sie sich verrechnet haben,
an einen neuen Aufschwung auf dem Trapez. Die Fachleute des Krieges
werden trachten, den Spaß solange als möglich fortdauern oder, wenn
ihnen dies nicht gelingt, den Tanz so bald als möglich wieder beginnen
zu lassen. Die Vorkriegspazifisten werden eilig aus ihren Winkeln und
Löchern hervorkriechen und sich in rührenden Demonstrationen ergehen.
Die alten Bonzen, die durch fünf Jahre die Trommel zum Vormarsch
rührten, werden, Palmenzweige in den Händen, lächelnd und das Herz auf
den Lippen, auftauchen und von Liebe reden. Und die Kämpfer selbst, die
im Schützengraben geschworen haben, niemals zu vergessen, auch sie
werden sich bereitwillig mit allen Erklärungen, Glückwünschen und
Händedrücken, die man ihnen verabreicht, abfinden. Es ist ja auch zu
viel verlangt, nicht zu vergessen. Fünf Jahre aufreibender Strapazen
bereiten den Menschen gut zur Nachgiebigkeit vor, durch die Erschöpfung,
durch das ewige Einerlei, durch den Wunsch nach einem Ende. Die
rauschenden Klänge des Sieges werden die Schmerzensrufe der Besiegten
ersticken. Und die meisten Menschen werden an nichts anderes denken, als
wieder die alten, schläfrigen Gewohnheiten von vor dem Krieg
aufzunehmen. Zuerst wird man auf den Gräbern tanzen, dann wird man
wieder schlafen. Vom Krieg bleibt nichts als eine Prahlerei am
Biertisch. Und wer weiß, vielleicht wird ihnen dies Sichnichterinnern so
gut glücken, daß sie bald wieder dem Tanzmeister, dem Sensenmann, helfen
werden, aufs neue anzufangen. Selbstverständlich nicht sofort, aber
etwas später, wenn man gut ausgeschlafen hat.... So wird überall der
Friede sein — solange, bis überall der neue Krieg da ist, denn Krieg
und Friede, meine Freunde, sind im letzten Sinne, wie sie meist
verstanden werden, nur zwei verschiedene Etiketten für dieselbe Flasche.
Es ist ganz so, wie der König Bomba von seinen tapferen Soldaten sagt:
„Zieht sie rot oder zieht sie grün an, sie werden doch Fersengeld
geben.“ Ihr könnt es Frieden oder Krieg nennen, aber es gibt weder
Frieden noch Krieg, es gibt nur die allgemeine Knechtschaft, die
Bewegung der wie in Ebbe und Flut hingerissenen Massen und es wird
solange so bleiben, bis sich starke Seelen über den menschlichen Ozean
erheben und den scheinbar sinnlosen Kampf gegen das Schicksal beginnen,
das diese schweren Massen in Bewegung setzt.“

„Gegen die Natur kämpfen?“ fragte Coulanges. „Denken Sie daran, ihre
Gesetze vergewaltigen zu wollen?“

„Es gibt“, antwortete Clerambault, „kein einziges unabänderliches
Gesetz. Gesetze leben, verwandeln sich und sterben wie alle irdischen
Wesen, und es ist Pflicht des Geistes, nicht, wie die Stoiker es wollen,
sie einfach hinzunehmen, sondern sie zu verändern, sie auf unser Maß
zuzuschneiden. Die Gesetze sind die Form der Seele. Entfaltet sich die
Seele, so müssen sie mit ihr wachsen. Ein gerechtes Gesetz ist nur
jenes, das auf mich paßt.... Bin ich im Unrecht, wenn ich fordere, daß
der Schuh sich dem Fuße anpasse und nicht der Fuß dem Schuh?“

„Ich sage nicht, daß Sie im Unrecht sind“, erwiderte der Graf. „Den
Versuch, die Natur zu vergewaltigen, machen wir ja auch in der Züchtung.
Wir verändern nicht nur die Form, sondern auch den Instinkt der Tiere,
warum sollte das nicht auch beim Menschen gelingen.... Nein, ich
widerspreche Ihnen nicht, im Gegenteil, ich bin der Meinung, daß es das
Ziel und die Pflicht jedes Menschen, der dieses Namens würdig ist, sein
muß, so, wie Sie sagen, die menschliche Natur gewaltsam weiter
fortzubringen. Das ist die Quelle des wahren Fortschrittes, und es ist
ein wirklicher Wert darin, auch wenn man das Unmögliche will. Freilich,
das soll nicht sagen, daß wir mit dem, was wir versuchen, auch Erfolg
haben werden.“

„Nein, wir werden keinen Erfolg haben, weder für uns noch für die
Unseren. Es ist möglich, es ist sogar wahrscheinlich, daß unsere
unglückliche Nation, vielleicht unser ganzes Abendland, sich auf einem
absteigenden Ast befindet, und ich fürchte, daß der Absturz bald
erfolgen wird, infolge ihrer Laster und Tugenden, von denen diese wie
jene mörderisch sind durch ihren Stolz und ihren Haß, ihre
provinzlerische Eifersucht, durch die endlose Schraube der Revanchen,
durch beharrliche Verblendung, durch die erdrückende Treue zur
Vergangenheit und jene verjährte Auffassung von Ehre und Pflicht, die
sie die Zukunft für Gräber hinopfern läßt. Ich fürchte nur allzusehr,
daß auch die letzte Mahnung dieses Krieges ihren lärmenden und zugleich
trägen Heroismus in nichts belehrt hat.... In früheren Zeiten hätte
dieser Gedanke mich niedergedrückt. Jetzt aber fühle ich mich wie von
meinem eigenen Leib von allem Todgeweihten losgelöst, ich bin ihm nicht
mehr anders als durch das Mitleid verbunden. Aber dafür ist mein Geist
brüderlich mit allem, das — auf welchem Punkte der Erde auch immer —
das neue Licht empfängt. Kennt ihr die schönen Worte des Sehers von
Saint-Jean d’Acre: ‚Die Sonne der Wahrheit ist wie das Himmelsgestirn,
mit vielen Orten des Aufstieges. An einem Tage erhebt es sich im Zeichen
des Krebses, ein andermal im Zeichen der Waage, aber die Sonne ist eine
und eine einzige Sonne. Einmal ging der Strahl der Sonne der Wahrheit
vom Wendekreis Abrahams auf und ging unter im Zeichen Moses und
entflammte den Horizont. Dann erhob sie sich wieder im Zeichen Christi,
glühend und Glanz verbreitend. Diejenigen, die Abraham dienten, wurden
blind am Tage, da das Licht über dem Sinai glänzte. Aber meine Augen
werden stets — von welchem Punkt immer sie sich erhebt — der
aufgehenden Sonne entgegengerichtet sein. Und ginge die Sonne im Westen
auf, es wäre doch die Sonne.‘“

„Und heute kommt uns von Norden das Licht“, sagte lächelnd Moreau.

                                   §

Obwohl die Vorladung auf ein Uhr lautete und es kaum Mittag war, hatte
es Clerambault doch eilig, fortzugehen. Er fürchtete, zu spät zu kommen.

Er hatte nicht weit zu gehen. Seine Freunde hätten ihn nicht gegen die
übrigens sehr spärliche Rotte zu verteidigen brauchen, die ihn beim
Eingang des Justizpalastes erwartete, denn die Nachrichten des heutigen
Tages lenkten von den gestrigen ab. Höchstens hätten einige feige Köter,
die sich mehr lärmend als beunruhigend gebärdeten, versucht, ihm von
rückwärts die Zähne zu zeigen.

Sie waren an die Ecke der Rue Vaugirard und Rue d’Assas gekommen, als
Clerambault bemerkte, daß er etwas vergessen hatte, und seine Freunde
für einen Augenblick stehen ließ, um noch einmal hinaufzugehen und
einige Papiere aus seiner Wohnung zu holen. Sie blieben unten, um auf
ihn zu warten, und sahen, wie er den Fahrweg überquerte. Auf dem
Trottoir gegenüber, bei einem Wagenplatz, trat ihn ein Mann seines
Alters an, ein nicht sehr großer und ein wenig schwerfälliger Mann aus
dem Bürgerstand. Alles geschah so schnell, daß sie nicht einmal Zeit
hatten, einen Schrei auszustoßen: ein Wortwechsel, ein ausgestreckter
Arm, ein Knall. Sie sahen Clerambault wanken und liefen hin. Aber es war
schon zu spät.

Sie streckten ihn auf eine Bank hin, die Menge — mehr neugierig als
erregt — (ach, man hatte so viel solcher Dinge gesehen und gelesen)
drängte sich herzu und gaffte.

„Was ist denn?“

„Ein Flaumacher.“

„So, dann ist es schon gut! Die Schurken haben uns genug geschadet.“

„Nun, es gibt schon ein größeres Verbrechen, als zu wünschen, daß dieser
Krieg einmal zu Ende ist.“

„Es gibt nur eine Möglichkeit, daß er zu einem Ende kommt, und die ist,
ihn bis an das Ende zu führen. Nur die Pazifisten verlängern den Krieg.“

„Sie sind sogar schuld daran! Ohne sie wäre nie einer gekommen, der
Boche hat mit ihnen gerechnet.“

Und Clerambault dachte im Halbbewußtsein an die alte Frau, die ihr Stück
Holz zum Scheiterhaufen des Johann Huß hinschleppte .... _Sancta
Simplicitas_!

Vaucoux hatte nicht die Flucht ergriffen und sich widerstandslos den
Revolver aus der Hand nehmen lassen. Man hielt ihn fest bei den Armen.
Er blieb unbeweglich und sah nur sein Opfer an, das wiederum ihn
betrachtete. Beide dachten an ihre Söhne.

Moreau bedrohte Vaucoux. Aber unerschütterlich und starr in seinem
Haßglauben sagte Vaucoux:

„Ich habe den Feind getötet!“

Gillot, der sich über Clerambault neigte, sah, wie er schwach lächelnd
Vaucoux betrachtete.

„Mein armer Freund“, dachte er, „in dir selbst ist der Feind.“

Er schloß wieder die Augen .... Jahrhunderte gingen vorbei....

„Es gibt keine Feinde mehr!“

Und Clerambault empfand selig den Frieden kommender Welten.

                                   §

Da ihn das Bewußtsein schon verlassen hatte, trugen ihn die Freunde in
das nahe gelegene Haus Froments. Aber ehe sie es betreten hatten, war er
verschieden.

Sie legten ihn auf ein Bett in einem Zimmer neben jenem, in dem der
junge Gelähmte, umgeben von seinen Freunden, ruhte. Die Tür stand offen
und der Schatten des toten Freundes schien bei ihnen zu weilen.

Moreau ereiferte sich bitter über den Widersinn dieses Mordes, der,
statt einen der großen Verbrecher der triumphierenden Reaktion oder
einen der bekannten Anführer der revolutionären Minderheiten zu treffen,
sich gerade gegen einen ungefährlichen, unabhängigen, allen brüderlich
gesinnten und fast zu nachsichtigen Menschen gewendet hatte.

Aber Edme Froment sagte:

„Der Haß täuscht sich nicht. Ihn leitet ein sicherer Instinkt... Nein,
er hat sich sein Ziel gut gesucht. Oft sieht der Feind viel klarer als
der Freund. Versuchen wir nicht, uns einer Illusion hinzugeben: der
gefährlichste Feind der Gesellschaft und der bestehenden Ordnung ist und
war in dieser Welt der Gewalttätigkeit, der Lüge und der anderen
Kompromisse von je und immer her der Mann des vollkommenen Friedens und
des freien Gewissens. Nicht durch Zufall ist Jesus gekreuzigt worden, es
mußte so sein, und er wäre später auch immer wieder zum Schafott
geschleppt worden. Der Mann des Evangeliums ist der radikalste
Revolutionär von allen, denn er ist die unerreichbare Quelle, aus der
durch den Spalt der harten Erde die Revolutionen aufspringen. Er ist das
ewige Prinzip der Nichtunterwerfung des Geistes unter den Cäsar, wer
immer es auch sei, der ewige Auflehner gegen die ungerechte Gewalt. So
erklärt sich der Haß der Staatsknechte und der hörig gemachten Völker
gegen den gemarterten Christ, der auf sie niederschaut und schweigt, und
gegen seine Schüler, gegen uns, die ewigen Dienstverweigerer, die
„_conscientious objectors_“ wider alle Tyranneien, mögen sie nun von
oben kommen oder von unten, mögen sie jene von morgen oder jene von
heute sein — gegen uns, die Verkünder dessen, der größer ist als wir,
der der Welt das Wort des Heiles bringt, dessen, den sie ins Grab
gelegt, des Meisters, den sie zu Tode martern werden bis ans Ende der
Welt, und der doch immer wieder auferstehen wird — der freie Geist,
unser Herr und Gott!“

  S i e r r e 1916 — P a r i s 1920



                     Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Druck- und Rechtschreibfehler wurden korrigiert. Bei
Varianten der Schreibweise wurde die häufigste verwendet.

Die Zeichensetzung wurde nur bei eindeutigen Druckfehlern geändert. Für
dieses eBook wurde ein Cover erstellt, das nun gemeinfrei ist.

[Das Ende von _Clerambault_, von Romain Rolland.]



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