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Title: Wie Hadleyburg verderbt wurde - Nebst anderen Erzählungen Author: Twain, Mark Language: German As this book started as an ASCII text book there are no pictures available. *** Start of this LibraryBlog Digital Book "Wie Hadleyburg verderbt wurde - Nebst anderen Erzählungen" *** Anmerkungen zur Transkription Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter oder unterstrichener Text ist _so ausgezeichnet_. Im Original in Antiqua gesetzter Text ist ~so markiert~. Im Original fetter Text ist =so dargestellt=. Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des Buches. Mark Twains Humoristische Schriften Neue Folge. 6. Band Wie Hadleyburg verderbt wurde Nebst anderen Erzählungen Von Mark Twain Autorisiert Inhalt: Wie Hadleyburg verderbt wurde. -- Das Gesundbeten. -- Die Verschwörung von Fort Trumbull. -- Aus den ›London Times‹ von 1904. -- Das Todeslos. -- Zwei kleine Geschichten. [Illustration] Stuttgart Verlag von Robert Lutz 1903. Alle Rechte vorbehalten. Druck von A. Bonz’ Erben in Stuttgart Inhalt. Seite Wie Hadleyburg verderbt wurde 7 Das Gesundbeten 111 Die Verschwörung von Fort Trumbull 185 Aus den ›London Times‹ von 1904 249 Das Todeslos 275 Zwei kleine Geschichten 297 Wie Hadleyburg verderbt wurde. I. Vor vielen, vielen Jahren war Hadleyburg in der ganzen Gegend wegen seiner Rechtschaffenheit allgemein bekannt. Es hatte sich diesen Ruhm, der seinen größten Stolz ausmachte, schon seit drei Generationen unbefleckt erhalten. Damit der Stadt nun auch in Zukunft nichts davon verloren ginge, war man eifrig bemüht, bereits dem Säugling in der Wiege feste Grundsätze der Ehrlichkeit in Handel und Wandel einzuflößen und die ganze spätere Erziehung der Kinder auf solchen Lehren weiterzubauen. Man sorgte vor allem dafür, daß ihnen während der Entwickelungsjahre jede Versuchung fern gehalten wurde, damit die redliche Gesinnung Zeit hätte, sich zu befestigen und ihnen sozusagen in Mark und Knochen überzugehen. Alle Nachbarstädte waren eifersüchtig, weil Hadleyburg sie an Rechtschaffenheit weit übertraf, und spotteten darüber, daß es sich auf seinen Ruf so viel einbildete. Aber trotzdem konnten sie nicht umhin, anzuerkennen, daß in der Stadt wirklich die unbestechlichste Redlichkeit herrschte, ja sie mußten sogar zugeben, daß es für jeden jungen Mann, der aus Hadleyburg stammte, keiner andern Empfehlung bedurfte, wenn er seinen Geburtsort verließ, um sich auswärts eine Vertrauensstellung zu suchen. Einmal hatte die Stadt jedoch im Laufe der Zeit das Unglück gehabt, einem durchreisenden Fremden eine -- vielleicht ganz absichtslose -- Kränkung zuzufügen. Die Hadleyburger machten sich natürlich keinen Kummer über so etwas, denn sie waren sich selbst genug und das Urteil fremder Leute ließ sie völlig gleichgültig. Dennoch hätten sie klüger gethan, sich diesen Fall mehr zu Herzen zu nehmen, weil der Beleidigte ein verbitterter Mensch von rachsüchtiger Gemütsart war. Ein ganzes Jahr lang dachte er auf allen seinen Wanderungen nur an die erlittene Kränkung und benutzte jeden freien Augenblick, um auf ein Mittel zu sinnen, wie er sich volle Genugthuung verschaffen könne. Ihm fiel mancher gute Plan ein, aber keiner, der ihn ganz befriedigte. Das alles hätte nur eine mehr oder minder große Zahl der Bewohner geschädigt, und er wollte etwas ausfindig machen, wobei die ganze Stadt in Mitleidenschaft gezogen würde und auch nicht ein einziger Mensch mit heiler Haut davon käme. Endlich geriet er auf einen glücklichen Gedanken und helle Schadenfreude blitzte ihm aus den Augen, als der Plan ihm durch den Kopf fuhr. Sofort stand sein Entschluß fest: »Ja, so will ich’s machen,« sagte er bei sich; »ich will die Stadt verführen und verderben.« Ein halbes Jahr war vergangen, da fuhr der Fremde eines Abends gegen zehn Uhr vor dem Hause des alten Bankkassierers in Hadleyburg vor. Er holte einen Sack aus seinem Einspänner, lud ihn auf die Schulter und schwankte unter der Last über den Hof bis zur Hausthür, wo er anklopfte. »Herein!« rief eine Frauenstimme. Der Fremde betrat das Wohnzimmer, stellte den Sack hinter den Ofen und wandte sich dann in höflichem Ton an die alte Dame, die, in ihrem Missionsblatt lesend, bei der Lampe saß: »Ich will Sie nicht stören; behalten Sie, bitte, Platz, Madame. So, jetzt habe ich den Sack so gut wie möglich verborgen; kein Mensch würde etwas davon merken. Könnte ich wohl Ihren Mann einen Augenblick sprechen?« »Nein; er ist nach Brixton gefahren und wird schwerlich vor morgen früh heimkehren.« »So? -- Nun, das schadet weiter nichts. Ich wollte ihm nur diesen Sack übergeben, mit der Bitte, ihn seinem rechtmäßigen Eigentümer zuzustellen, sobald derselbe sich findet. Ich bin hier fremd und Ihr Mann kennt mich nicht. Auf meiner Durchreise wünschte ich, diese Sache, welche mir schon lange am Herzen liegt, ein für allemal zu erledigen. Das ist jetzt geschehen, und ich kann stolz und zufrieden weiterziehen. An dem Sack ist ein Zettel befestigt, aus dem Sie alles Nähere erfahren werden. Gute Nacht, Madame!« Die alte Dame war froh, als der geheimnisvolle Fremde wieder fortging, denn sie fürchtete sich vor dem großen, starken Mann. Doch konnte sie ihre Neugierde nicht lange bezähmen; sie band das Papier von dem Sack los und begann zu lesen: »Sie haben die Wahl, ob Sie dies veröffentlichen, oder auf privatem Wege Erkundigungen nach dem richtigen Manne einziehen wollen; eins ist so gut wie das andere. -- Der Sack enthält Goldmünzen im Gewicht von einhundertsechzig Pfund vier Loth --« »Ums Himmels willen -- und die Thür ist nicht verschlossen!« An allen Gliedern bebend, stürzte Frau Reichard nach der Thür und drehte den Schlüssel um. Dann schloß sie auch die Fensterladen und blieb mitten in der Stube in ängstlichem Sinnen stehen, ob sie nicht noch etwas für die Sicherung des Goldes und ihrer eigenen Person thun könne. Eine Weile horchte sie gespannt auf etwaige Einbrecher, dann trieb die Neugierde sie wieder zu ihrer Lampe zurück und sie las die Schrift bis ans Ende: »Ich bin ein Ausländer und kehre jetzt in meine Heimat zurück, die ich nicht wieder zu verlassen denke. Für alles Gute, das ich unter dem Schutz des Sternbanners genossen habe, werde ich Amerika stets erkenntlich bleiben. Ganz besonderen Dank schulde ich aber einem amerikanischen Bürger und Bewohner Hadleyburgs, der mir vor etwa zwei Jahren die größte Freundlichkeit erwies. Eigentlich hat er mir sogar einen doppelten Dienst geleistet, wie ich des näheren erklären will: Ich hatte mich beim Glücksspiel zu Grunde gerichtet und kam spät abends hungrig und ohne einen Heller in der Tasche hier im Orte an. Bei Tage hätte ich mich geschämt zu betteln, aber im Dunkel der Nacht bat ich einen Herrn auf der Straße um Hilfe. Ich war an den Rechten gekommen. Er schenkte mir zwanzig Dollars und gab mir dadurch nicht nur das Leben wieder, sondern machte mich auch zum reichen Manne. Denn mit jenen zwanzig Dollars gewann ich mir ein Vermögen am Spieltisch. Zugleich aber that er eine Aeußerung, die ich bis auf den heutigen Tag nicht vergessen kann; sie hat mich zur Besinnung gebracht und mir geholfen, meine Spielerleidenschaft zu überwinden. Jetzt bin ich ganz davon geheilt. Leider habe ich keine Ahnung, wer der Mann ist, doch wünsche ich, ihn zu entdecken, denn für ihn ist dies Gold bestimmt. Er kann damit thun, was er will, es verschenken, es fortwerfen oder behalten, ganz nach Belieben. Es soll nur der Ausdruck meiner Dankbarkeit sein. Könnte ich mich längere Zeit hier aufhalten, so würde ich selbst nach ihm suchen, bis ich ihn fände; aber ich zweifle nicht, daß man es auch ohne meinen Beistand bewerkstelligen wird, und setze mein ganzes Vertrauen auf die wohlbekannte Rechtschaffenheit der Bewohner dieser Stadt. Mein Wohlthäter wird sich gewiß noch der Aeußerung erinnern, die er mir gegenüber gethan hat und sich dadurch als der richtige Mann ausweisen. »Falls Sie vorziehen, die Nachforschung auf privatem Wege zu betreiben, brauchen Sie bloß den Inhalt dieses Schreibens demjenigen Ihrer Mitbürger kund zu thun, welcher Ihrer Ansicht nach der richtige Mann sein könnte. Sagt er dann: ›Ja, der bin ich, meine Aeußerung lautete so und so,‹ dann machen Sie die Probe: Wenn Sie den Sack öffnen, werden Sie darin einen versiegelten Umschlag finden, der die bewußte Aeußerung enthält. Stimmt dieselbe mit den Worten des Mannes überein, so kann er den Sack ohne alles weitere mitnehmen, denn er ist sicherlich der Rechte. »Ziehen Sie aber ein öffentliches Verfahren vor, dann lassen Sie meine Zuschrift im hiesigen Tageblatt abdrucken, nebst den folgenden Bedingungen: Am dreißigsten Tage nach dem heutigen Datum soll sich der Bewerber um acht Uhr abends auf dem Rathaus einfinden und dem Herrn Pastor Burgeß (falls dieser so freundlich sein will, die Mühe zu übernehmen) ein versiegeltes Papier abgeben, welches die bewußte Aeußerung enthält. Hierauf soll Herr Burgeß die Siegel des Sacks zerbrechen, denselben öffnen und sich überzeugen, ob die Worte gleichlautend sind. Ist dies der Fall, so bitte ich ihn, meinem wiedergefundenen Wohlthäter das Gold als Beweis meiner aufrichtigen Dankbarkeit einhändigen zu wollen.« Der Zettel hatte Frau Reichard ungewöhnlich aufgeregt -- sie mußte sich niedersetzen. Bald war sie ganz in Gedanken versunken, die ihr im Kopf durcheinander schwirrten. »Was für eine sonderbare Geschichte! ... Der gute Mann, der damals aufs Geratewohl so großmütig war, kann wirklich von Glück sagen! ... Wenn es nur mein Eduard gewesen wäre -- wir sind zwei so arme alte Leute und hätten’s gut brauchen können! ...« Sie seufzte. -- »Mein Mann würde einem Fremden nicht zwanzig Dollars geben, nein, sicher nicht ... Leider, leider ist das außer Frage ... Aber das Gold ist ja im Spiel gewonnen! Mir schaudert, wenn ich nur daran denke. Es ist Sündengeld! Das könnten wir doch nicht annehmen; nicht mit einem Finger würden wir es berühren. Schon seine bloße Nähe scheint mir eine Entwürdigung.« -- Sie rückte ihren Stuhl in die äußerste Ecke ... »Wenn nur Eduard käme und den Sack auf die Bank trüge. Es ist zu schrecklich, so ganz allein mit dem Gold bleiben zu müssen, ohne Schutz vor Dieben.« -- Um elf Uhr kehrte Reichard heim. »Wie freue ich mich, daß du wieder da bist,« rief ihm seine Frau entgegen. Er aber grollte: »Ich bin ganz abgehetzt und müde zum umfallen. Es ist wirklich arg, daß ich so arm bin und noch in meinem Alter diese elenden Fahrten machen muß. Fort und fort in der Tretmühle stecken bei dem lumpigsten Gehalt -- Sklavenarbeit für einen andern thun, der unterdessen in Schlafrock und Pantoffeln behaglich daheim im Lehnstuhl sitzt -- es ist nicht zum aushalten!« »Du weißt wohl, Eduard, wie leid mir das thut. Aber wir haben doch unser tägliches Brot und unsern guten Namen, das ist wenigstens _ein_ Trost.« »Freilich, freilich, Mary, das ist die Hauptsache. Höre nur nicht auf mein Gerede. Mich hat der Aerger einen Augenblick übermannt; es hat nichts auf sich. Gieb mir einen Kuß! So, jetzt ist schon alles wieder gut; du sollst keine Klage mehr hören. Was hast du denn aber bekommen? Was ist in dem Sack?« Nun erzählte die Frau das große Geheimnis, und ihm wurde zuerst ganz schwindelig zu Mute. Endlich sagte er: »Der Sack ist hundertsechzig Pfund schwer. Aber Mary -- das sind ja vierzigtausend Dollars -- ich bitte dich -- ein ganzes Vermögen, wie es kaum zehn Menschen hier am Ort besitzen. Wo ist der Zettel?« Er überflog ihn hastig. »Das klingt ja wie ein Roman,« rief er. »Solche abenteuerlichen Begebenheiten stehen wohl in Büchern, aber im Leben sind sie mir noch nie vorgekommen.« Alle Müdigkeit war jetzt von ihm gewichen. In der besten Laune tätschelte er seiner alten Frau die Wangen. »Denke doch nur, Mary,« scherzte er ausgelassen, »wir sind jetzt mit einemmal reiche Leute. Laß uns das Gold vergraben und die Papiere verbrennen. Wenn der Glücksspieler je wiederkommt, brauchen wir nur kaltblütig auf ihn herabzuschauen und zu sagen: ›Was reden Sie da für ungereimtes Zeug? Ich habe weder von Ihnen noch von Ihrem Goldsack je etwas gehört oder gesehen.‹ Dann würde er ein verblüfftes Gesicht machen und --« »Höre nur jetzt auf mit deinen Späßen und schaffe das Geld fort, ehe die Diebe es holen.« »Da hast du recht. Aber wie wollen wir’s machen -- soll ich private Nachforschungen anstellen? -- Nein, lieber nicht; dabei ginge alle Romantik verloren. Besser wir betreiben die Sache öffentlich. Stelle dir nur vor, was das für Aufsehen machen wird. Alle andern Städte werden uns beneiden, denn sie wissen recht gut, daß der Fremde keiner einzigen solches Vertrauen schenken würde, wie er Hadleyburg erweist. Es ist ein Haupttreffer für uns. Jetzt will ich nur schnell in die Druckerei gehen, es wird sonst zu spät.« »Nein, nein, bleib, Eduard. Laß mich nicht allein mit dem Gold!« Aber er war schon fort, doch nicht auf lange. Wenige Schritte von seinem Hause begegnete er dem Chefredakteur und Eigentümer des Tageblatts, gab ihm den Zettel und sagte: »Hier bringe ich Ihnen etwas Gutes, Cox, lassen Sie es einrücken!« »Wenn noch Zeit ist, Herr Reichard; ich will sehen, ob es sich thun läßt.« Als der Bankkassierer wieder daheim war, hatte er noch ein langes Gespräch mit seiner Frau über das wundervolle Geheimnis. Schlafen konnten sie beide nicht. Die erste zu lösende Frage, wer wohl der Bürger sein könne, der dem Fremden die zwanzig Dollars geschenkt hatte, bot keine Schwierigkeiten; sie beantworteten dieselbe wie aus einem Munde: »Barclay Goodson.« »Jawohl, dem sähe es ähnlich; er hätte so etwas thun können; aber sonst niemand in der ganzen Stadt.« »Das wird dir keiner bestreiten, Eduard. Seit Goodson vor einem halben Jahr gestorben ist, haben wir hier am Ort lauter ehrliche, engherzige, selbstgerechte und geizige Bürger, wie das von jeher so war.« »Wenigstens hat er es immer behauptet, noch bis zu seiner Todesstunde, und vor aller Ohren.« »Deshalb konnte ihn auch niemand leiden.« »Freilich; aber er machte sich nichts daraus. Es war wohl kein Mensch in Hadleyburg so verhaßt wie er, ausgenommen der Pastor Burgeß.« »Burgeß -- nun ja, dem geschieht es ganz recht; von dem hat sich die Gemeinde ein für allemal losgesagt. Kommt es dir nicht sonderbar vor, Eduard, daß der Fremde gerade Burgeß gewählt hat, um das Geld abzuliefern?« »Hm -- ich weiß nicht. Vielleicht kennt der Fremde den Pastor Burgeß besser als unsere Stadt ihn kennt.« »Um so schlimmer für Burgeß.« Reichard schien um eine Antwort verlegen und wich dem fest auf ihn gerichteten Blick seiner Frau soviel wie möglich aus. Endlich sagte er mit unsicherer Stimme: »Weißt du, Mary, ein schlechter Mensch ist Burgeß durchaus nicht.« Sie sah ihn mit unverhohlenem Staunen an. »Nein, er ist nicht schlecht; du kannst mir’s glauben. Seine Unbeliebtheit gründete sich einzig und allein auf jene gewisse Sache -- die damals so viel Lärm gemacht hat.« »Ich meine doch, jene Sache genügte an und für sich vollkommen, um zu beweisen -- --« »Freilich, freilich. Nur war er unschuldig daran.« »Was redest du da für Unsinn. Kein Mensch zweifelte doch an seiner Schuld.« »Mary -- mein Wort darauf -- er hatte die That nicht begangen.« »Das glaube ich nun und nimmermehr. Woher solltest du es auch wissen?« »Ich schäme mich, es dir einzugestehen, aber es muß heraus: Ich war der einzige Mensch, der seine Unschuld kannte; ich hätte ihn zu retten vermocht, aber -- aber -- du weißt ja wie aufgebracht alle Welt gegen ihn war -- ich hatte nicht den Mut, mir die ganze Stadt auf den Hals zu hetzen. Zwar fühlte ich, wie erbärmlich das war; doch dem allgemeinen Haß zu trotzen ging über meine Kräfte.« Mary schwieg eine Weile bekümmert still. Endlich stammelte sie: »Nein, nein; das wäre nichts für dich gewesen. Man muß auch -- die öffentliche Meinung -- berücksichtigen -- und darf nicht -- --« Sie war vom geraden Weg abgekommen und in den Sumpf geraten. Nach einer Weile begann sie von neuem: »Freilich, er thut einem leid -- aber -- Nein, wirklich, Eduard, das hätten wir nicht auf uns nehmen können. Ich wäre trostlos gewesen, hättest du es gethan.« »Ich würde einer Menge Leute vor den Kopf gestoßen haben, Mary, -- sie hätten uns ihr Wohlwollen entzogen, und -- und --« »Es liegt mir nur schwer auf dem Herzen, was Burgeß selbst wohl von uns denken mag, Eduard.« »O, er ahnt nicht, daß ich um seine Unschuld weiß.« »Wirklich? Das ist mir eine große Erleichterung. Sonst würde er doch -- nein, das ändert die Sache gewaltig. -- Ich hätte mir’s übrigens denken können, daß er keine Ahnung hat; würde er uns sonst wohl bei jeder Gelegenheit so freundlich begegnen, ohne die geringste Aufmunterung von unserer Seite? Oefters haben mich die Leute schon deswegen verspottet. Die Wilsons, Harkneß und Wilcox machen sich förmlich ein Vergnügen daraus, mit mir von ›meinem Freund Burgeß‹ zu reden, weil sie wissen, wie mich das in Harnisch bringt. Wenn er nur aufhören wollte, uns mit seiner besonderen Zuneigung zu beehren! Ich begreife gar nicht, was ihn dazu treibt.« »Das will ich dir auch bekennen; bis jetzt habe ich’s selbst vor dir geheim gehalten: Als das Ding zuerst ruchbar wurde und alle so entrüstet waren, daß man beschloß, Lynchjustiz an ihm zu üben, quälte mich mein Gewissen so sehr, daß ich’s nicht länger aushielt. Ich warnte ihn insgeheim, so daß er die Stadt noch rechtzeitig verlassen konnte; erst als ihm keine Gefahr mehr drohte, kam er zurück.« »O Eduard! Wenn die Leute dahinter gekommen wären!« »Schweig still! Mir läuft noch jetzt die Gänsehaut über, wenn ich nur daran denke. Es reute mich auch gleich nachher; nicht einmal dir wagte ich es zu sagen, weil ich fürchtete, man möchte es deinem Gesicht ansehen. Vor lauter Angst schloß ich die ganze Nacht kein Auge zu. Aber niemand hegte Argwohn gegen mich; schon nach einigen Tagen wurde ich ruhiger, und später freute ich mich ordentlich, es gethan zu haben. Ja ich bin noch heute von ganzer Seele froh darüber.« »Ich auch, Eduard. Es wäre gar zu entsetzlich gewesen. Du warst ihm das wirklich schuldig. -- Wie aber, wenn es eines Tages doch noch entdeckt würde? was dann?« »Das ist ganz ausgeschlossen.« »Wieso?« »Weil jedermann denkt, Goodson hätte Burgeß gewarnt.« »Das lag sehr nahe.« »Natürlich. Und er machte sich nichts aus dem falschen Verdacht. Der arme alte Salsberg wurde zu ihm hinübergeschickt, ihn der That zu beschuldigen. Goodson musterte ihn eine Weile mit unaussprechlicher Verachtung von Kopf bis zu Fuß. ›So?‹ sagte er dann, ›Sie stellen wohl die Untersuchungskommission vor?‹ ›Jawohl,‹ erwiderte Salsberg und warf sich in die Brust. ›Hm! Wünschen die Herren etwa alle Einzelheiten zu wissen, oder würde ihnen eine allgemeine Antwort genügen?‹ ›Geben Sie mir nur eine allgemeine Antwort, Herr Goodson; falls Einzelheiten verlangt werden, will ich wiederkommen.‹ ›Sehr wohl; so sagen Sie den Herren nur -- sie sollen sich zur Hölle scheren -- das wird wohl allgemein verständlich sein. Ihnen, Salsberg, möchte ich aber obendrein den Rat geben, wenn Sie wiederkommen gleich einen Korb mitzubringen, um die Ueberreste aufzulesen, die noch von Ihnen vorhanden sein könnten.‹« »Das sieht Goodson ganz ähnlich; man würde ihn gleich daran erkennen. Allen Leuten guten Rat zu erteilen war seine einzige Schwäche; er glaubte das besser zu verstehen als jeder andere.« »Es war unsere Rettung, Mary. Die Sache hatte damit ihr Bewenden; man ließ sie ein für allemal ruhen.« »Du meine Güte, das verstand sich wohl von selbst.« -- Sie kamen nun wieder mit großem Eifer auf den Geldsack zu sprechen. Bald entstanden jedoch Pausen in ihrer Unterhaltung, weil einmal der Mann, einmal die Frau in tiefes Schweigen versank. Immer längere Unterbrechungen des Gesprächs traten ein, bis Reichard sich endlich ganz seinen Gedanken überließ. Lange starrte er wie abwesend auf den Fußboden, dann machte er mit den Händen allerlei nervöse Bewegungen, die seinen geheimen Aerger verrieten. Auch die Frau sprach kein Wort, doch zeugten ihre Gebärden von großem Unbehagen. Zuletzt stand Reichard auf, ging wie ein Nachtwandler, der böse Träume hat, ziellos im Zimmer hin und her und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Plötzlich schien er einen Entschluß zu fassen; stumm griff er nach seinem Hut und schritt eilig zur Thür hinaus. Seine Frau saß indessen da und brütete vor sich hin, ohne auch nur zu merken, daß sie allein war. Von Zeit zu Zeit bewegte sie die Lippen: »Führe uns nicht in Ver ... aber ach, wir sind so arm! Führe uns nicht ... Wem würde es denn Schaden bringen? -- Kein Mensch hätte es je erfahren ... Führe uns ...« sie murmelte nur noch unverständliche Laute. Nach einer Weile sah sie auf; Schrecken und Freude zugleich malten sich in ihren Zügen. »Er ist fort,« rief sie. »Aber ach, vielleicht kommt er zu spät -- zu spät ... Doch wäre es ja möglich, daß er noch zur Zeit ...« Sie erhob sich, preßte die Hände krampfhaft ineinander, und während ihr ein Schauer durch alle Glieder lief, sagte sie stöhnend: »Verzeih mir’s Gott -- das sind schreckliche Gedanken -- aber ... was hilft’s -- wir sind doch nun einmal schwache Geschöpfe!« Sie drehte die Lampe herunter, lief verstohlen zu dem Sack hin, kniete sich auf den Boden, befühlte ihn von allen Seiten und strich liebkosend mit der Hand über jede unebene Stelle. Ihre alten Augen schwelgten förmlich in dem Anblick. Von Zeit zu Zeit erwachte sie wie aus einem Traum und murmelte vor sich hin: »Wenn wir doch gewartet hätten -- nur eine kleine Weile, statt die Sache so zu überstürzen!« * * * * * Cox, der Tagblattbesitzer, war inzwischen aus dem Bureau nach Hause gegangen und hatte seiner Frau alles erzählt, was sich Wunderbares zugetragen. Sie besprachen das Ereignis aufs lebhafteste und kamen überein, daß keiner ihrer Mitbürger, außer dem verstorbenen Goodson, großmütig genug wäre, um einem armen Fremdling zwanzig Dollars zu schenken. Doch bald entstand eine Stille; beide Ehegatten blickten nachdenklich zu Boden; gleich darauf wurden sie unruhig und aufgeregt; endlich murmelte die Frau wie im Selbstgespräch: »Niemand weiß um dies Geheimnis, außer die Reichards und wir ... kein einziger Mensch.« Cox schreckte aus seinen Gedanken auf, sah seine Frau, die ganz blaß geworden war, verständnisvoll an, stand zögernd auf, blickte verstohlen bald auf seinen Hut, bald nach seiner Ehehälfte -- eine stumme Frage. Frau Cox schluckte ein paarmal und räusperte sich, dann nickte sie leise mit dem Kopf. Im nächsten Augenblick war sie allein im Zimmer und die Hausthür fiel klirrend ins Schloß. Von zwei entgegengesetzten Richtungen eilten jetzt Reichard und Cox durch die menschenleeren Straßen. Ganz außer Atem kamen sie gleichzeitig an der Treppe zur Druckerei an und schauten einander beim Laternenschein ins Gesicht. »Weiß außer uns niemand etwas davon?« fragte Cox im Flüsterton. »Keine Menschenseele, auf Ehrenwort,« gab der andere leise zurück. »Vielleicht ist es noch nicht zu spät, um -- --« Eben schickten sich die Männer an hinaufzusteigen, als ein Junge zu ihnen trat. »Bist du das, Johann?« »Ja, Herr Cox.« »Du brauchst die Morgenpost noch nicht wegzuschicken. Laß alles liegen, bis ich’s dir sage.« »Die Postsachen sind schon fort.« »Schon fort?« Es klang unsagbare Enttäuschung aus den Worten. »Ja. Der neue Fahrtenplan für Brixton und Umgegend ist heute ausgegeben worden. Die Zeitungen mußten eine Viertelstunde früher auf der Bahn sein. Ich bin gelaufen was ich konnte; wäre ich zwei Minuten später dagewesen, so -- --« Die Herren entfernten sich langsam, ohne das Ende seiner Rede abzuwarten. Eine Weile schritten sie stumm nebeneinander her, endlich sagte Cox ärgerlich: »Was hat Sie nur geplagt, die Sache so zu übereilen. Es ist mir vollkommen unbegreiflich.« Reichard war ganz betreten. »Jetzt sehe ich’s freilich ein,« sagte er; »vorher hätte ich mir’s gar nicht überlegt, bis es zu spät war. Das nächste Mal will ich gewiß -- --« »Das nächste Mal,« hohnlachte Cox. »So was kommt in tausend Jahren nicht wieder!« Die Freunde trennten sich ohne Gruß und schleppten sich mühselig nach Hause, als hätte sie ein schwerer Schicksalsschlag getroffen. In atemloser Spannung warteten die Frauen daheim; sie lasen den Eintretenden die Entscheidung vom Gesicht ab, es bedurfte keiner Worte. Nun folgte in beiden Häusern eine sehr heftige, wenig freundliche Erörterung, wie sie bisher zwischen den Ehegatten noch niemals stattgefunden. Die Sache verlief hier und dort fast auf die gleiche Weise: »Hättest du nur gewartet, Eduard,« sagte Frau Reichard; »aber nein, in deiner Gedankenlosigkeit läufst du stehenden Fußes nach der Druckerei und posaunst es in der ganzen Welt aus.« »Auf dem Zettel stand doch, es sollte veröffentlicht werden.« »Ach was! Es war dir freigestellt, es auch unter vier Augen abzumachen. Das kannst du doch nicht leugnen.« »Ich weiß wohl. Aber wenn ich an das Aufsehen dachte, und wie schmeichelhaft es für Hadleyburg ist, daß ein Fremder solches Vertrauen in unsere Redlichkeit setzt --« »Das brauchst du mir nicht noch erst lang und breit vorzuhalten. Aber, bei einigem Nachdenken hättest du dir doch sagen müssen, daß sich der rechte Mann gar nicht mehr auffinden läßt, weil er im Grabe ruht und weder Kind noch Kegel, kein einziger Verwandter von ihm am Leben ist. Hätte da das Geld nicht Leuten zu gute kommen können, die es so nötig brauchen wie wir? Kein Mensch wäre dadurch geschädigt worden, und -- und --« Thränen erstickten ihre Stimme; der Mann zerbrach sich vergebens den Kopf, womit er sie trösten könne; endlich sagte er: »So beruhige dich doch, Mary; die Vorsehung hat es nun einmal so gefügt und deshalb muß es zu unserm Heil dienen; ja, ja, es wird wohl so am besten sein, sonst wäre es nicht geschehen.« »Eine bequeme Ausrede, wenn man eine Dummheit begangen hat. -- War es nicht ebenso gut eine Fügung des Himmels, daß das Geld gerade uns zugeschickt wurde? Und du erdreistest dich, die Absicht der Vorsehung zu durchkreuzen -- mit welchem Recht, wenn ich fragen darf? Nichts als gotteslästerliche Anmaßung ist es, die einem demütigen Christenmenschen durchaus nicht zukommt.« »Aber du weißt doch, Mary, daß die ganze Erziehung in Hadleyburg darauf ausgeht, und auch wir unser Leben lang gewöhnt waren, uns keinen Augenblick zu besinnen, wenn es sich um ein Gebot der Redlichkeit handelt; das ist uns zur zweiten Natur geworden.« »Ja, ja doch. Man hat uns das immer und immer wieder vorgepredigt und uns von der Wiege an jede nur mögliche Versuchung aus dem Wege geräumt. Und was ist dadurch erreicht worden? Man hat eine _künstliche_ Ehrlichkeit groß gezogen, die wie Butter an der Sonne zerrinnt, sobald sie einmal auf die Probe gestellt wird -- das haben wir diese Nacht gründlich erfahren. Gott weiß, mir wäre auch nie der Schatten eines Zweifels an meiner durch und durch redlichen Gesinnung gekommen, und die erste wirkliche Versuchung wirft alle meine Grundsätze über den Haufen. Du kannst mir glauben, Eduard, mit der Redlichkeit der ganzen Stadt ist’s um kein Haar besser bestellt; sie ist gerade so fadenscheinig wie meine und deine. Die Leute hier sind engherzig und geizig, und ihre einzige Tugend, auf die sie sich so viel einbilden und deretwegen sie allenthalben berühmt sind, ist auch nicht weit her. Tritt einmal eine große Versuchung an sie heran, so wird ihr ganzer Ruhm zusammenfallen wie ein Kartenhaus -- verlaß dich drauf. So -- nach diesem Bekenntnis ist mir schon leichter ums Herz. Mein Leben lang habe ich der Welt etwas vorgeschwindelt, ohne es zu wissen. Mich soll niemand wieder eine redliche Frau nennen -- das verbitte ich mir gehorsamst.« »Wahrhaftig, Mary, du hast mir ganz aus der Seele gesprochen. Merkwürdig -- ich hätte das nie für möglich gehalten!« Sie schwiegen lange still; beide waren mit ihren Gedanken beschäftigt. Endlich schaute die Frau auf. »Ich weiß, woran du denkst, Eduard.« Reichard machte ein verlegenes Gesicht. »Fast schäme ich mich, es dir einzugestehen, Mary.« »Laß gut sein, Eduard; mir geht dieselbe Frage im Kopf herum.« »Wirklich? Und die wäre?« »Du hast gedacht: ›Wenn unsereins doch nur erraten könnte, was das für eine Aeußerung war, die Goodson dem Fremden gegenüber gethan hat.‹« »Ja, ich will’s nicht leugnen. Es ist eine Sünde und Schande. Schämst du dich nicht auch?« »Nein, ich bin darüber hinaus. Aber laß uns die Sicherheitskette vorhängen. Wir sind für den Sack verantwortlich, bis er morgen früh in das Bankgewölbe geschafft werden kann. -- Du liebe Zeit -- hätten wir nur nicht die Thorheit begangen!« Während der Mann die Thür fest verwahrte, sagte Mary: »Wer doch wüßte, was das ›Sesam, thu’ dich auf‹ ist. Wie kann nur die Aeußerung gelautet haben? -- Aber komm, laß uns zu Bette gehen.« »Und einschlafen?« »Nein, nachdenken.« »Ja, das wollen wir.« -- * * * * * Das Ehepaar Cox hatte unterdessen seinen Wortwechsel, der mit einer Versöhnung schloß, gleichfalls zu Ende geführt und sich zur Ruhe begeben. Doch der Schlaf floh auch ihr Lager. Unruhig wälzten sie sich hin und her und zermarterten sich das Hirn, was Goodson dem verarmten Fremden wohl gesagt haben möchte. Was für goldene Worte mußten das doch gewesen sein -- sie waren ja vierzigtausend Dollars wert! -- * * * * * An jenem Abend blieb das städtische Telegraphenamt länger offen als sonst und zwar aus guten Gründen: Der bei Coxens Zeitung angestellte Faktor war zugleich offizieller Berichterstatter für die Vereinigte Presse der Union. Im gewöhnlichen Lauf der Dinge war dies ein bloßes Ehrenamt, das er bekleidete, denn mehr als viermal im Jahr brachte er keine Depesche zusammen, die als verwendbar angenommen wurde. Doch heute verhielt sich die Sache anders. Auf das Telegramm, in welchem er die große Begebenheit meldete, war eine umgehende Antwort erfolgt: »_Telegraphieren Sie die ganze Geschichte mit allen Einzelheiten -- zwölfhundert Wörter._« Ein riesiger Auftrag! Aber der Faktor führte ihn aus und war über die Maßen stolz auf seine Leistung. Schon am nächsten Morgen zur Frühstückszeit war in ganz Amerika, von Montreal bis zum Golf von Mexico, und von der Gletscherwelt Alaskas bis zu Floridas Orangenhainen nur Hadleyburg und seine unbestechliche Redlichkeit auf aller Lippen. Viele Millionen Menschen sprachen von dem Fremden und seinem Goldsack; man stritt hin und her, ob sich der rechte Mann wohl finden würde, und wartete gespannt auf weitere Nachricht, die hoffentlich in kürzester Frist eintreffen würde. II. Als Hadleyburg an jenem Morgen erwachte, war es eine weltberühmte Stadt; man staunte, man freute sich und war stolz darauf -- unbeschreiblich stolz. Die neunzehn angesehensten Bürger und ihre Frauen schüttelten sich mit überseligem Lächeln die Hände, so oft sie einander trafen, und wünschten sich Glück, daß Hadleyburg von nun an in jedem Konversationslexikon als Muster der Unbestechlichkeit zu finden sein würde; ja selbst die unbedeutenderen Bürger samt ihren Frauen folgten diesem Beispiel. Alt und jung lief auf die Bank, wo der Geldsack zu sehen war, und schon zur Mittagszeit kamen die bekümmerten und neidischen Bewohner Brixtons und der Nachbarstädte in Scharen herbeigeströmt. Gegen Abend und am folgenden Tag trafen Berichterstatter aus allen Himmelsgegenden ein, die den Sack in Augenschein nahmen, sich die Geschichte bestätigen ließen, sie mit allen Einzelheiten von neuem zu Papier brachten und durch kühne Bleistiftskizzen illustrierten. Sie zeichneten nicht nur den Sack ab, sondern auch Reichards Haus, das Bankgebäude, die Kirchen der Presbyterianer- und der Baptistengemeinde, den Marktplatz und das Rathaus, wo die Probe angestellt und der Sack ausgehändigt werden sollte. Ja sie entwarfen sogar scheußliche Porträts von dem Ehepaar Reichard, dem Bankier Pinkerton, von Cox und dem Faktor, von Pastor Burgeß, vom Postmeister und selbst von Jack Halliday, einem gutmütigen, respektlosen Menschen und allgemeinen Lustigmacher, dem Freund aller kleinen Buben und herrenlosen Hunde, der sich als Fischer, Jäger oder Bummler im Ort herumtrieb. -- Der knauserige Pinkerton zeigte den Sack mit selbstgefälligem Grinsen jedem neuen Ankömmling, rieb sich vergnügt die Hände und erging sich in salbungsvollen Reden über den alten, festbegründeten Ruf unantastbarer Rechtlichkeit, dessen sich die Stadt erfreute, was jetzt wieder auf so wunderbare Weise bestätigt worden sei. Er hoffe und glaube nun, daß dies Beispiel in ganz Amerika Nachahmung finden und eine allgemeine sittliche Wiedergeburt erzeugen werde. Im Verlauf der nächsten Woche wurden die Gemüter nach und nach ruhiger; der wilde, stolze Freudenrausch verwandelte sich in ein stilles, wonniges Entzücken, in ein Gefühl tiefen, unaussprechlichen Behagens. Der Ausdruck friedevoller Glückseligkeit lag auf allen Gesichtern. Doch das dauerte nicht lange. Ganz allmählich trat eine Veränderung ein, was zuerst niemand bemerkte, außer Jack Halliday, dem selten etwas entging und der über alles seine Späße machte, es mochte sein, was es wollte. Er fing mit allerlei beißenden Bemerkungen an, weil dieser und jener nicht mehr solche glückstrahlende Miene zur Schau trug, wie vor ein paar Tagen. Dann behauptete er, die Leute würden immer schwermütiger; später schienen sie ihm von unbesiegbarer Trauer ergriffen, und endlich versicherte er sogar, alle seien in einem Grade verstimmt, gedankenvoll und geistesabwesend, daß er sich anheischig machen wolle, selbst dem ärmsten Wicht einen Cent aus der Hosentasche zu stehlen, ohne ihn aus seinem Traumzustand zu wecken. Als die Angelegenheit diesen Punkt erreicht hatte, konnte man zur Schlafenszeit in den neunzehn angesehensten Häusern der Stadt tiefe Seufzer hören, worauf das Haupt der Familie gewöhnlich in die Worte ausbrach: »Ach, was für eine Aeußerung kann denn Goodson nur gethan haben!« »Schweig still,« rief die Hausfrau zusammenschauernd. »Was für schreckliche Dinge wälzest du in deinem Hirn herum. Ums Himmels willen schlage sie dir aus dem Kopf!« Aber am zweiten Abend erfolgte derselbe Ausruf, und der Widerspruch der Frau war schon etwas schwächer. Als der Mann dann am dritten und den folgenden Abenden die Frage immer angstvoller wiederholte, fuhr die Frau nur noch unruhig mit den Händen hin und her; sie öffnete den Mund, sagte aber nichts. Zuletzt fanden beide jedoch die Sprache wieder und seufzten sehnsuchtsvoll: »O, könnten wir es doch erraten!« -- Hallidays Bemerkungen wurden von Tag zu Tag unangenehmer und abfälliger. Er ging in der ganzen Stadt umher und machte sich bald über jeden einzelnen, bald über die gesamte Einwohnerschaft lustig. Außer ihm lachte aber niemand mehr weit und breit, seine Fröhlichkeit bildete den grellsten Gegensatz zu der allgemeinen Trauer; kein Lächeln war irgendwo zu erblicken. Der Spaßvogel trug jetzt eine Zigarrenkiste auf einem Holzgestell mit sich herum, als wäre es eine Camera für Momentaufnahmen. Alle Vorübergehenden hielt er an, stellte seinen Apparat auf und rief: »Fertig! -- Etwas freundlicher, wenn ich bitten darf!« Aber selbst bei diesem köstlichen Witz erheiterte sich keins der trübseligen Gesichter. So vergingen drei Wochen -- noch acht Tage, dann sollte es sich entscheiden. Es war Samstag Abend; Hadleyburg hatte schon zur Nacht gespeist. Statt der Geschäftigkeit und Unruhe in den Läden und dem fröhlichen Stimmengewirr, das sonst um diese Zeit auf den Straßen herrschte, war alles wie ausgestorben. Reichard und seine alte Frau saßen schweigsam und nachdenklich im Wohnzimmer, jedes in seiner Ecke. So trieben sie es jetzt Abend für Abend, während sie früher behaglich beisammen gesessen hatten, lesend, strickend und plaudernd, wenn sie nicht bei den Nachbarn Besuch machten oder diese bei ihnen vorsprachen. Aber das alles schien begraben und vergessen, als sei es nie gewesen -- und war doch erst zwei oder drei Wochen her. Niemand plauderte jetzt, man las nicht, man machte keine Besuche. Alle Leute saßen stumm daheim und quälten sich unter Seufzen und Stöhnen, jene rätselhafte Aeußerung zu erraten. Der Postbote brachte einen Brief. Reichard sah die Aufschrift von unbekannter Hand und den Poststempel gleichgültig an, warf das Schreiben auf den Tisch und verfiel dann wieder in sein nutzloses Grübeln, das ihn ganz elend machte. Zwei oder drei Stunden später stand seine Frau schwerfällig auf, um ohne Gutenachtgruß zu Bette zu gehen -- nach ihrer jetzigen Gewohnheit. Bei dem Brief blieb sie jedoch stehen und starrte eine Weile gedankenlos darauf hin; dann öffnete sie ihn und überflog den Inhalt. Reichard, der in sich zusammengesunken an der Wand saß, hörte plötzlich einen schweren Fall -- seine Frau lag auf dem Boden. Er eilte hin, um ihr zu helfen, aber sie rief: »Laß mich, laß mich, mein Glück ist zu groß. Hier den Brief mußt du lesen!« Er that es. Jedes Wort verschlang er, während sich alles mit ihm im Kreise zu drehen schien. Der Brief kam aus einem entfernten Staat und lautete: »Ich wende mich an Sie, um Ihnen eine Mitteilung zu machen, obgleich ich Ihnen ganz fremd bin. Nach meiner soeben erfolgten Rückkunft aus Mexico wurde mir erzählt, was sich in Ihrer Stadt zugetragen. Natürlich wissen Sie nicht, wer die Aeußerung gethan hat, aber ich weiß es. Ich bin der einzige Mensch auf der Welt, der Ihnen sagen kann, daß es Goodson gewesen ist. Wir kannten uns schon seit Jahren und auf meiner Durchreise war ich an jenem Abend bei ihm zu Gast, bis zur Abfahrt des Mitternachtzuges. Ich stand dabei, als er im Dunkeln in der Hale-Allee jene Aeußerung dem Fremden gegenüber that; auch unterhielten wir uns noch auf dem Heimweg darüber, und bei der Zigarre in seinem Hause. Im Laufe des Gesprächs kam die Rede noch auf viele Ihrer Mitbürger, über die er sich jedoch keineswegs schmeichelhaft aussprach; etwas günstiger beurteilte er nur zwei oder drei derselben, zu denen Sie gehörten, soviel ich weiß. Irgend welche Zuneigung sprach er zwar für keinen einzigen aus, doch erinnere ich mich, daß er sagte, ein Hadleyburger -- ich glaube, er nannte Ihren Namen, doch bin ich meiner Sache nicht ganz gewiß -- hätte ihm einmal einen großen Dienst erwiesen, vermutlich ohne dessen Tragweite selbst zu kennen. Wenn er ein Vermögen besäße, würde er es Ihnen bei seinem Tode vermachen und jedem der andern Bürger seinen Fluch hinterlassen. Waren Sie also derjenige, welcher ihm den Dienst geleistet hat, so sind Sie sein rechtmäßiger Erbe und können den Goldsack als Ihr Eigentum beanspruchen. Ich weiß, daß ich mich auf Ihre Treue und Redlichkeit verlassen kann, denn diese Tugenden erbt ja jeder Hadleyburger ohne Ausnahme von seinen Vätern. So will ich Ihnen denn jene Aeußerung mitteilen, da ich überzeugt bin, Sie werden, falls Sie nicht selbst der rechte Mann sind, nach demselben suchen, bis Sie ihn gefunden haben, und Sorge tragen, daß Goodsons Dankesschuld für den bewußten Dienst wirklich gezahlt wird. Die Aeußerung, um die es sich handelt, lautete: ›_Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch. Geht hin und bessert Euch._‹ Howard L. Stephenson.« »O Eduard, das Geld gehört uns, wie froh und dankbar bin ich. Gieb mir einen Kuß, das hast du seit einer Ewigkeit nicht gethan -- mein Verlangen war gar zu groß -- nach dem Gelde -- nun kannst du dich von Pinkerton und seiner Bank losmachen, du brauchst keines Menschen Sklave mehr zu sein. Es ist, als ob ich Flügel hätte, so leicht wird mir ums Herz vor lauter Freude.« Die halbe Stunde, die das Ehepaar unter Liebkosungen auf dem Sofa zubrachte, gehörte zu den glücklichsten in ihrem Leben. Es war, als sollte die gute alte Zeit noch einmal wiederkehren, die mit dem Brautstand begonnen und keine Unterbrechung erlitten hatte, bis der Fremde das unheilvolle Gold ins Haus brachte. Nach einer Weile sagte die Frau: »Weißt du, Eduard, es war doch ein rechtes Glück, daß du dem braven Goodson solchen großen Dienst geleistet hast. Bisher mochte ich ihn nicht leiden, aber jetzt habe ich ihn ordentlich lieb. Du hast nie damit geprahlt, auch keine Andeutung gemacht -- das war ein schöner und edler Zug von dir. Aber deinem Weibe hättest du es doch anvertrauen sollen; mir scheint, das warst du mir schuldig.« »Ja, siehst du, Mary -- das ging doch nicht an --« »Mache jetzt keine Umschweife, Eduard, sondern sage es mir. Ich habe dich immer lieb gehabt, aber heute bin ich stolz auf dich. Die Leute glaubten, es gäbe nur einen guten, hochherzigen Menschen in der Stadt, und nun stellt sich heraus, daß du -- so sprich doch, Eduard.« »Nein, Mary, ich kann wirklich nicht.« »Du kannst nicht? Aber weshalb?« »Siehst du -- nun ja -- ich habe es ihm versprechen müssen.« Sie maß ihn mit großen Blicken. »Du hast versprochen, mit niemand davon zu reden?« fragte sie eindringlich. »Ist das wirklich der Fall?« »Glaubst du, ich würde dir etwas vorlügen?« Sie schwieg eine Weile sichtlich beunruhigt; dann reichte sie ihm die Hand. »Nein, nein,« rief sie, »Gott behüte! Wir sind schon weit genug vom rechten Wege abgeirrt. All dein Lebtag ist dir noch keine Lüge über die Lippen gekommen -- aber jetzt scheint ja selbst der festeste Grund unter unsern Füßen zu wanken, da -- da --« Die Stimme versagte ihr einen Augenblick, dann stammelte sie: »Führe uns nicht in Versuchung ... Ich glaube an dein Versprechen, Eduard. Laß es dabei bewenden. Ich will nicht weiter in dich dringen. Nun alle Not ein Ende hat, wollen wir unser Glück genießen und es uns durch keinen Schatten trüben lassen.« Für Eduard war das leichter gesagt als gethan; seine Gedanken irrten ruhelos umher, während er sich zu besinnen suchte, was für einen Dienst er Goodson geleistet hatte. Fast die ganze Nacht that das Ehepaar kein Auge zu. Mary überlegte voll innerer Befriedigung, was sie mit dem Golde thun wolle. Eduard war bemüht, sich den Dienst ins Gedächtnis zurückzurufen. Zuerst hatte er Gewissensbisse wegen der Lüge. Freilich, eine Lüge war und blieb es. Aber hatte das denn solche ungeheure Bedeutung? Unser tägliches Thun und Treiben ist ja voller Unwahrheit. War etwa Mary besser als er? -- O nein; während er fortgeeilt war, um seinen Auftrag redlich zu erfüllen, hatte sie dagesessen und gejammert, daß man die Papiere nicht vernichtet habe, um das Gold behalten zu können. Ist denn Stehlen weniger schlecht als Lügen? -- Ueber diesen Punkt war er also beruhigt -- die Lüge trat in den Hintergrund und störte seinen Frieden nicht mehr. Nun kam die nächste Frage an die Reihe: Hatte er den Dienst wirklich geleistet? -- Goodsons eigenes Zeugnis, von dem Stephensons Brief berichtete, sprach dafür und war der beste und vollgültigste Beweis. Das lag auf der Hand. Also konnte man auch diesen Punkt füglich für erledigt ansehen ... Nein, doch nicht so ganz. Reichard erinnerte sich mit Unbehagen, daß jener Stephenson nicht bestimmt hatte behaupten können, ob er, Reichard, oder ein anderer den Dienst geleistet habe, und, o Jammer, er verließ sich auf seine Ehrenhaftigkeit. Reichard selbst sollte entscheiden, wem das Gold zukäme, und Stephenson war überzeugt, daß er rechtschaffen genug sein würde, den richtigen Mann aufzusuchen, falls er der falsche wäre. Es war ganz abscheulich, einen Menschen in solche Lage zu versetzen. Wozu hatte nur Stephenson diesen Zweifel überhaupt aufgebracht? Das hätte doch recht gut aus dem Brief wegbleiben können. Wie kam es aber, überlegte Reichard weiter, daß gerade sein Name dem Briefsteller im Gedächtnis geblieben war? Das sah doch ganz so aus, als müßte er der rechte Mann sein. Wirklich, es war ein sehr gutes Zeichen; je mehr er darüber nachdachte, um so besser erschien es ihm, und zuletzt betrachtete er es als einen entschiedenen Beweis. Wenn aber etwas einmal erwiesen ist, thut man am besten, sich den Kopf nicht mehr darüber zu zerbrechen, das fühlte Reichard instinktmäßig und schlug sich die Sache sofort aus dem Sinn. Ihm war jetzt schon viel behaglicher zu Mute, nur eine Kleinigkeit ließ ihn noch nicht zur Ruhe kommen. Daß er den Dienst geleistet hatte, stand fest; aber was war es nur für ein Dienst gewesen? Das mußte ihm erst noch einfallen -- dann würde er mit voller Gemütsruhe die Augen schließen und schlafen können. So dachte er denn hin und her an jede nur mögliche Dienstleistung, aber nichts schien ihm groß und bedeutend genug, um Goodsons Wunsch zu rechtfertigen, ihm dafür ein Vermögen hinterlassen zu können. Und leider erinnerte er sich auch gar nicht, etwas der Art wirklich gethan zu haben. Was war es denn nur, wodurch man einen Menschen zu so außergewöhnlichem Dank verpflichten konnte? Vielleicht wenn man seine Seele rettete? Ja, das mußte es sein. Hatte er es sich nicht einmal zur Aufgabe gemacht, Goodson zum Glauben zu bekehren? Gewiß -- und wie lange hatte er daran gearbeitet? -- Zuerst meinte er, wohl ein Vierteljahr, doch bei Lichte besehen schrumpfte es zu einem Monat zusammen, dann zu einer Woche, und schließlich blieb gar nichts übrig. Er erinnerte sich jetzt zu seinem größten Leidwesen mit vollkommener Deutlichkeit, daß Goodson ihm gesagt hatte, er solle zum Donnerwetter machen daß er fortkäme und sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern; ihm sei ganz und gar nichts daran gelegen, mit den Hadleyburgern in den Himmel zu kommen. Reichard war recht entmutigt. Also Goodsons Seele hatte er nicht gerettet, das stand fest. Vielleicht aber sein Haus und Gut. Nein, damit war’s auch nichts -- er besaß keines. Sein Leben? Natürlich -- auf jeden Fall. Daran hätte er doch gleich denken sollen. Nun war er endlich auf der rechten Spur und seine Einbildungskraft hatte freien Spielraum. Zwei Stunden lang beschäftigte er sich eifrig damit, Goodson auf jede erdenkliche und meist sehr gefahrvolle Weise das Leben zu retten. Immer gelang ihm die Heldenthat bis zu einem gewissen Punkt, aber gerade wenn er auf dem besten Wege war, sich zu überzeugen, daß die Sache wirklich geschehen sei, trat ein lästiger Umstand dazwischen, der dies zur Unmöglichkeit machte. Beim Ertrinken zum Beispiel: Reichard war weit hinaus geschwommen und hatte Goodson in bewußtlosem Zustand glücklich ans Land gebracht, während die Menge am Ufer stand und ihm zujauchzte. Er hatte es alles so schön ausgedacht und seine Erinnerung daran wurde immer lebhafter, aber da kam der Rückschlag: Unmöglich -- die ganze Stadt hätte es doch erfahren; Mary würde darum gewußt haben, und in seinem eigenen Gedächtnis wäre die That unauslöschlich verzeichnet gewesen; so etwas vergißt man nicht wieder, es ist auch kein Dienst, dessen ›Tragweite man nicht kennt‹. Obendrein fiel ihm zuguterletzt noch ein, daß er ja gar nicht schwimmen könne. Halt -- diesen Punkt hatte er von vornherein übersehen: Es mußte ein Dienst sein, den er möglicherweise geleistet haben konnte, ›ohne dessen ganze Tragweite zu kennen‹. Das erleichterte die Sache wesentlich. Nach einigem weiteren Kopfzerbrechen kam er denn auch wirklich zu einem befriedigenden Ergebnis: Vor langen Jahren war Goodson einmal nahe daran gewesen, ein liebes, hübsches Mädchen Namens Nancy Hewitt zu heiraten; er hatte jedoch die Verlobung aus irgend einem Grunde wieder aufgelöst. Bald darauf starb das Mädchen, und Goodson wurde mit der Zeit ein verbitterter Hagestolz, der seine Menschenverachtung ganz offen zur Schau trug. Nach Nancy Hewitts Tode hatte sich in der Stadt das Gerücht verbreitet, daß das Mädchen nicht ausschließlich von Weißen abstamme, sondern ein paar Tropfen Negerblut in den Adern gehabt habe. Reichard wälzte diesen Umstand so lange in seinem Haupte, bis ihm war, als tauchten aus der Tiefe seiner Erinnerung allerlei Einzelheiten auf, an die er lange nicht mehr gedacht haben mochte. War er es denn nicht gewesen, der den Flecken in des Mädchens Stammbaum entdeckt und die Sache stadtbekannt gemacht hatte? Natürlich erfuhr Goodson, von wem die Nachricht ausgegangen war und wer ihn davor bewahrt hatte, die entehrende Heirat einzugehen. Und diesen wertvollen Dienst hatte er ihm geleistet, ohne es selbst zu ahnen, also auch, ohne dessen Tragweite zu kennen. Goodson aber, der wohl wußte, mit wie genauer Not er der Gefahr entronnen war, blieb seinem Wohlthäter dankbar bis ans Grab und wünschte sich ein Vermögen, um es ihm zu hinterlassen. Das war alles klar und einfach, je mehr Reichard darüber nachdachte, um so einleuchtender ward es ihm; ja, als er sein Haupt jetzt beglückt und zufrieden in die Kissen schmiegte, stand ihm das Ganze so deutlich vor der Seele, als hätte er es erst gestern erlebt. Mary hatte sich unterdessen für sechstausend Dollars ein Haus gekauft und ein Paar Pantoffeln zum Geschenk für ihren Pastor; dann war sie friedlich eingeschlummert. -- An ebendemselben Samstag Abend hatte der Postbote auch jedem der andern angesehenen Hadleyburger einen Brief gebracht -- neunzehn Briefe alles in allem. Die Couverts waren ganz verschieden und nicht zwei Adressen von der nämlichen Hand, aber die Briefe selbst glichen einander völlig. Es waren genaue Abschriften desjenigen, welchen Reichard erhalten hatte, auch alle von Stephenson selbst geschrieben, nur mit dem einzigen Unterschied, daß darin der Name des jedesmaligen Adressaten an Stelle von Reichards Namen stand. Die ganze Nacht hindurch thaten die achtzehn angesehenen Männer, was ihr Mitbürger Reichard um dieselbe Zeit gethan hatte -- sie waren aus Leibeskräften bemüht, sich auf den wichtigen Dienst zu besinnen, den sie -- ohne es zu wissen -- Barclay Goodson geleistet hatten. Die Arbeit kostete ihnen manchen Schweißtropfen, aber sie wurden doch damit fertig. Was ihre neunzehn Ehegattinnen unterdessen thaten, war nicht so schwer. Sie gaben durchschnittlich siebentausend Dollars von den vierzigtausend aus, die der Sack enthielt -- einhundertdreiunddreißigtausend Dollars im ganzen, wenn man die Summen zusammenzählt. Tags darauf war Jack Halliday höchlich überrascht, zu sehen, daß die Gesichter der neunzehn angesehensten Bürger und ihrer Frauen wieder den früheren glückstrahlenden Ausdruck trugen. Es schien ihm unfaßlich und ihm fiel auch nicht die kleinste witzige Bemerkung ein, um diese himmlische Ruhe zu stören. Das machte ihn nun seinerseits mißmutig und ärgerlich. Wie sehr er sich auch bemühte, dem Rätsel auf den Grund zu kommen, es wollte ihm nicht gelingen. Als er Frau Wilcox begegnete und in ihr verklärtes Antlitz sah, dachte er bei sich: »Ihre Katze hat Junge gekriegt,« aber das war nicht der Fall, wie er auf seine Erkundigung von der Köchin erfuhr. Hatte Billsons Nachbar vielleicht das Bein gebrochen? War Gregor Yates Schwiegermutter gestorben? Hatte Pinkerton ein Zehncentstück einkassiert, das er schon für verloren gehalten? -- Dies und noch vieles andere riet Jack Halliday, als er die seelenvergnügten Mienen der Leute sah; aber meistens erfuhr er, daß er fehlgeschossen hatte, und in den übrigen Fällen blieb die Sache zweifelhaft. Nur _eins_ stand fest, nämlich daß neunzehn Hadleyburger Familien sich augenblicklich wie im Himmel fühlten, und mit dieser Gewißheit mußte sich Halliday fürs erste beruhigen. Ein Bauunternehmer aus dem Nachbarstaat hatte sich vor kurzem am Ort niedergelassen und ein Geschäft eröffnet. Schon seit acht Tagen hing sein Schild heraus, aber noch war kein Kunde gekommen. Das entmutigte ihn sehr und er fing bereits an, sein Unternehmen zu bereuen, als der Wind plötzlich umschlug. Die Frauen der ersten Bürger der Stadt fanden sich eine nach der andern bei ihm ein, um ihn auf den oder jenen Tag der nächsten Woche zu sich zu bestellen. »Reden Sie einstweilen noch nicht davon,« hieß es; »wir haben den Plan, uns ein Haus zu bauen, möchten aber nicht, daß es gleich unter die Leute käme.« Der Mann erhielt elf Aufträge an einem Tage und schrieb noch denselben Abend an seine Tochter, sie solle ihre Verlobung mit dem Studenten auflösen, da sie jetzt eine weit bessere Partie machen könne. Der Bankier Pinkerton und noch ein paar andere wohlhabende Herren gedachten sich Landhäuser zu kaufen -- doch warteten sie die Sache erst ab. Menschen dieses Schlages machen die Rechnung nie ohne den Wirt. Bei Wilsons hatte man den großen Plan gefaßt, ein Kostümfest zu geben. Man äußerte zwar noch nichts Bestimmtes, sondern erging sich den Bekannten gegenüber nur in allgemeinen vertraulichen Andeutungen. »Wir haben es uns vorgenommen,« hieß es, »und wenn es dazu kommt, werden Sie natürlich auch eingeladen.« Alles war erstaunt darüber. »Wie können die armen Wilsons nur an so etwas denken,« sagte eins zum andern; »ihre Mittel erlauben es ihnen doch nicht.« Einige Damen aus der Zahl der neunzehn meinten aber, der Gedanke wäre nicht schlecht, und beschlossen zu warten, bis die armselige Geschichte vorüber sei, und dann einen Ball zu geben, der jenen ganz in den Schatten stellen sollte. Je näher die Zeit rückte, um so mehr wuchs die Verschwendungssucht, immer wilder wurden die Wünsche, immer leichtsinniger die Ausgaben. Es hatte ganz den Anschein, als ob jede einzelne der neunzehn Familien nicht nur mit den vierzigtausend Dollars fertig werden, sondern sich auch darüber hinaus in Schulden stürzen wollte, noch ehe die Entscheidung gefallen war. In ihrer Sorglosigkeit begnügten sich manche nicht damit, Pläne zu schmieden, sie machten wirkliche Einkäufe -- auf Kredit. Bauplätze, Hypotheken, Wiesen und Aecker, Börsenpapiere, kostbare Kleider, Wagen und Pferde nebst vielen andern Dingen schafften sich die Leute an, zahlten ein Draufgeld und machten sich verbindlich, den Rest nach Ablauf von zehn Tagen zu entrichten. Dieser erste Rausch war jedoch bald wieder verflogen und auf vielen Gesichtern begann sich eine entsetzliche Sorge und Angst zu spiegeln, wie Halliday zu seiner Verwunderung bemerkte. Das Rätsel wurde ihm nur noch unerklärlicher. »Die Kätzchen bei Wilcox sind nicht gestorben, weil gar keine zur Welt gekommen waren,« dachte er bei sich; »niemand hat das Bein gebrochen, alle Schwiegermütter sind noch am Leben -- da werde nun einer klug daraus!« Auch ein anderer Hadleyburger war über die Vorgänge in der Stadt höchlich verblüfft, nämlich der Pastor Burgeß. Tagelang konnte er nirgends hingehen, ohne daß jemand ihm folgte oder ihm auflauerte. Kam er an irgend einen entlegenen Ort, so tauchte sicher dieser oder jener seiner Mitbürger auf, drückte ihm verstohlen einen Briefumschlag in die Hand, flüsterte: »Am Freitag Abend im Rathaus zu öffnen,« und verschwand wieder gleich einem Missethäter. Dem Pastor war es von vornherein zweifelhaft gewesen, ob jemand Anspruch auf den Sack erheben werde, denn Goodson war ja tot. Daß die Leute, welche sich an ihn drängten, lauter Bewerber sein könnten, kam ihm daher auch nicht von ferne in den Sinn. Als der wichtige Tag endlich erschien, hatte Burgeß neunzehn versiegelte Briefumschläge in der Tasche. III. Der Rathaussaal hatte noch nie so prächtig ausgesehen. Im Hintergrund der Rednerbühne, sowie längs den Wänden und Galerien war der ganze Raum mit reichem Flaggenschmuck verkleidet und behängt; sogar um die Säulen schlangen sich bunte Fahnen. Dies Festgepränge sollte einen mächtigen Eindruck auf die Fremden machen, die, wie man vorausgesehen hatte, von nah und fern herbeiströmten; unter ihnen auch eine Menge Berichterstatter der hervorragendsten Zeitungen. Der Saal war zum Erdrücken voll. Nicht nur die 412 festen Plätze waren sämtlich besetzt, sondern auch 68 Extrastühle, welche man hier und da verteilt hatte, sowie die Stufen zur Rednerbühne. Auf dieser selbst befanden sich Ehrensitze für die vornehmsten Gäste, und Tische in Hufeisenform, an denen die Herren von der Presse Platz genommen hatten. Die Damen waren in großer Toilette; solchen Staat hatte Hadleyburg noch nie erblickt. Dem Anschein nach fühlten sich einige von ihnen nicht sehr behaglich in den kostbaren Gewändern. Wenigstens machten die Einheimischen diese Bemerkung, was aber wohl daher rühren mochte, daß sie genau wußten, jene Damen hätten in ihrem ganzen Leben noch niemals solche Kleider angehabt. Im Vordergrund der Rednerbühne, auf einem kleinen Tisch, wo alle Welt ihn sehen konnte, lag der Goldsack. Dorthin wandten sich die meisten Blicke mit brennender Begierde und schmerzlich sehnsüchtigem Verlangen, während neunzehn Ehepaare den Sack mit einem liebevollen Eigentumsgefühl betrachteten. Die männlichen Hälften dieser glücklichen Minderzahl wiederholten sich dabei im stillen die hübsche kleine Rede aus dem Stegreif, mit welcher sie alsbald ihren Dank für die Glückwünsche der Menge auszudrücken gedachten. Von Zeit zu Zeit zog bald dieser bald jener Herr ein Stück Papier aus der Westentasche, um seinem Gedächtnis nachzuhelfen. Anfänglich herrschte ein lebhaftes Stimmengewirr; als aber Pastor Burgeß aufstand und seine Hand auf den Sack legte, wurde es totenstill im Saal; man hätte eine Mücke husten hören können. Der Pastor erzählte die wunderbare Geschichte des Sacks und erging sich dann in warmen Worten über Hadleyburgs wohlverdienten Ruf fleckenloser Redlichkeit, auf den die Stadt mit Recht stolz sein könne. Dieser Ruf, sagte er, sei ein Besitz von unschätzbarem Wert, auf welchem auch Gottes Segen sichtlich ruhe. Denn durch jene merkwürdige Begebenheit habe sich Hadleyburgs Ruhm allenthalben verbreitet, so daß die Blicke von ganz Amerika jetzt auf diese Stadt gerichtet seien und ihr Name für alle Zeiten, wie er glaube und hoffe, als Sinnbild unbestechlicher Treue in Handel und Wandel gelten werde. [Beifall.] »Wer aber soll der Hüter dieses kostbaren Schatzes sein? Etwa die ganze Gemeinde? O nein! Jeder Einzelne ist dafür verantwortlich. Von heute ab hat jeder Bewohner dieser Stadt persönlich Sorge zu tragen, daß unser herrlichstes Besitztum unangetastet bleibt. Wollt ihr diese große Verantwortung auf euch nehmen? [Brausende Rufe der Zustimmung.] Dann ist alles wohl bestellt. Vererbt den Schatz auf eure Kinder und Kindeskinder! Bisher hat niemand eure Lauterkeit antasten können -- möge es immer so bleiben. Kein einziger von unsern Mitbürgern würde sich heute verführen lassen, auch nur einen Pfennig anzurühren, der ihm nicht gehört -- sehet zu, daß ihr in solcher Tugend beharrt.« [»Ja, ja, das wollen wir!«] »Hier ist nicht der Ort, um einen Vergleich zwischen uns und andern Gemeinden anzustellen, von denen einige kein Wohlwollen für uns hegen. Sie haben ihre Sitten und Gebräuche und wir die unsrigen -- daran soll uns genügen. [Beifall.] Ich bin zu Ende, meine Freunde. Hier lege ich die Hand auf den Goldsack, dies beredte Zeugnis für die Anerkennung, die ein Fremder unserer Tugend zollt. Sie wird durch ihn jetzt und für alle Zeit in der ganzen Welt verkündet werden. Der Mann ist uns unbekannt, aber ich spreche ihm in euer aller Namen unsern tiefgefühlten Dank aus und bitte euch, mit mir in ein Hoch auf ihn einzustimmen.« Der ganze Saal erhob sich, und minutenlang schallten die Wände von donnernden Hurrarufen wieder. Als die Ruhe hergestellt war, zog Pastor Burgeß einen versiegelten Briefumschlag aus der Tasche, öffnete ihn und nahm einen Papierstreifen heraus. In atemloser Spannung lauschten die Anwesenden auf die Zauberworte, von denen jedes einen Klumpen Gold wert war und die der Pastor jetzt langsam und nachdrücklich vorlas: »Die Aeußerung, welche ich dem armen Fremden gegenüber that, lautete: ›Ihr seid noch lange kein ganz schlechter Mensch. Geht hin und bessert Euch.‹« Dann fuhr Burgeß fort: »Wir wollen uns nun überzeugen, ob diese Aeußerung gleichlautend ist mit den Worten, die der Sack enthält. Dies wird unzweifelhaft der Fall sein, und sobald es bewiesen ist, gehört der Goldsack einem unserer Mitbürger, der fortan bei allem Volk als Inbegriff und Vertreter jener besonderen Tugend gelten wird, die den Ruhm unserer Stadt in ganz Amerika ausmacht. Sein Name ist -- Billson!« Alle hatten sich schon zu einem gewaltigen Beifallssturm gerüstet; jetzt schienen sie plötzlich wie vom Frost erstarrt. Eine unheimliche Stille lagerte über der Versammlung, dann hörte man allmählich ein leises Flüstern, das immer deutlicher wurde: »Billson! Nanu -- wer das glaubt! Zwanzig Dollars hätte der einem Fremden gegeben? Nicht im Traum würde es ihm einfallen. Ja, Prosit -- so was lassen wir uns nicht aufbinden!« Aber ihrer wartete noch eine größere Ueberraschung. Während an einer Stelle des Saales der Kirchenrat Billson mit demütig gesenktem Haupt dastand, hatte sich an einer andern Rechtsanwalt Wilson erhoben. Verwundert schwieg die Menge eine Weile, und die Entrüstung der neunzehn Ehepaare war groß. Billson und Wilson hatten sich umgewandt und starrten einander an. »Weshalb stehen Sie auf, Herr Wilson?« fragte Billson in beißendem Ton. »Weil ich ein Recht dazu habe. Vielleicht würden Sie so freundlich sein, den Anwesenden zu erklären, warum Sie nicht sitzen bleiben.« »Mit Vergnügen. Ich habe den Zettel dort geschrieben.« »Das ist eine unverschämte Lüge. Er ist von _meiner Hand_.« Jetzt war die Reihe an Burgeß, sich zu verwundern. Er stand stumm da und starrte bald den einen, bald den andern an, ohne zu wissen, was er thun sollte. Endlich nahm Wilson das Wort: »Ich ersuche den Vorsitzenden,« sagte er, »den Namen zu lesen, mit welchem das Papier unterzeichnet ist.« Das brachte den Pastor wieder zu sich. »John Wharton Billson,« las er. »Da haben Sie’s,« schrie Billson. »Wie wollen Sie sich nun herausreden und sich wegen der Beleidigung entschuldigen, die Sie mit Ihrer frechen Täuschung nicht nur mir, sondern dieser ganzen Versammlung zugefügt haben?« »Von Entschuldigung ist gar keine Rede. Im Gegenteil, mein Herr, ich klage Sie hiermit öffentlich an, daß Sie dem Pastor Burgeß meinen Zettel entwendet und eine Abschrift untergeschoben haben, auf der Ihr Name steht. Dies ist die einzige Art, wie Sie zur Kenntnis der bewußten Aeußerung gelangt sein können, denn außer mir weiß kein Mensch in der ganzen Welt, wie jene Worte gelautet haben.« Der Sache mußte ein Ende gemacht werden, wollte man nicht das ärgerlichste Aufsehen erregen und der Klatschsucht Thür und Thor öffnen. Alle sahen bestürzt nach den Stenographen hin, die in rasender Eile immer weiter schrieben. »Zur Ordnung! Zur Ordnung!« rief man von allen Seiten dem Vorsitzenden zu, bis dieser mit dem Hammer auf den Tisch klopfte. »Meine Herren, lassen Sie uns die Würde dieser Versammlung aufrecht halten und den Anstand nicht verletzen,« sagte Burgeß. »Offenbar liegt hier ein Irrtum vor, weiter nichts. Wenn Herr Wilson mir ein Couvert gegeben hat, wie mir jetzt erinnerlich ist, so befindet sich dasselbe auch noch in meinem Besitz.« Er zog einen Umschlag aus der Tasche, öffnete ihn, warf einen Blick hinein, machte ein verstörtes, bekümmertes Gesicht, stand eine Weile in ratlosem Schweigen da, erhob dann unwillkürlich die Hand und versuchte mehrmals zu sprechen, brachte aber kein Wort heraus. »Vorlesen! Vorlesen!« riefen viele Stimmen. »Was steht darin?« Mechanisch und wie ein Träumender gehorchte Burgeß der Aufforderung: »Die Aeußerung, welche ich dem unglücklichen Fremden gegenüber that, lautete: ›Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch [die Zuhörer schauten ihn verblüfft an]. Geht hin und bessert Euch.‹« [Gemurmel: »Wunderbar! Was soll das nur bedeuten!«] »Dies ist Thurlow G. Wilson unterschrieben,« sagte der Vorsitzende. »Habe ich’s nicht gesagt,« schrie Wilson; »jetzt ist es sonnenklar. Ich wußte ja gleich, daß mein Brief abgeschrieben worden ist.« »Das ist erlogen,« tobte Billson; »ich verbitte mir dergleichen von Ihnen und Leuten Ihres Gelichters.« _Der Vorsitzende_: »Ich muß Sie zur Ruhe verweisen, meine Herren, und Sie beide ersuchen, Ihre Plätze wieder einzunehmen.« Murrend, unter zornigem Widerspruch folgten sie der Aufforderung. Die Versammelten sahen einander kopfschüttelnd an, keiner wußte sich den seltsamen Fall zurechtzulegen. Endlich stand der Hutmacher Thomson auf. Er wäre gern einer der neunzehn angesehensten Bürger gewesen, allein das war ihm nicht beschieden; für solche Würde war sein Hutlager nicht groß genug. »Ich erlaube mir, dem Vorsitzenden zu bemerken,« sagte er, »daß die beiden Herren dem Fremden gegenüber schwerlich genau dieselben Worte gebraucht haben. Nach meiner Ansicht ist das ein Ding der Unmöglichkeit.« Hier wurde Thomson von dem Lohgerber unterbrochen, der zu den Unzufriedenen gehörte, weil er nicht als ein Neunzehner anerkannt wurde, wiewohl er Anspruch darauf zu haben meinte. Dies gab seiner Art und Weise einen etwas unangenehmen Beigeschmack. »Bah,« rief er, »das ist gar nicht der Punkt, auf den es ankommt. So etwas könnte geschehen -- alle hundert Jahre einmal --; aber das andere liegt außer dem Bereich der Möglichkeit: Keiner von beiden hat die zwanzig Dollars gegeben!« [Schallender Beifall.] _Billson_: »Ich habe es gethan!« _Wilson_: »Nein, ich habe es gethan!« Wieder beschuldigten sie einander des Diebstahls. _Der Vorsitzende_: »Ruhe, sage ich. Setzen Sie sich, meine Herren. Keins der beiden Couverts ist mir auch nur einen Augenblick aus der Hand gekommen.« _Eine Stimme_: »Gut -- damit ist das abgemacht.« _Der Lohgerber_: »Ich weiß, wie es zugegangen sein muß: Einer der Männer hat sich unter dem Bett des andern versteckt und seine Familiengeheimnisse belauscht. Wenn es nicht unparlamentarisch ist, möchte ich die Behauptung aufstellen, daß man allen beiden so etwas zutrauen kann.« [_Der Vorsitzende_: »Zur Ordnung, zur Ordnung!«] »Ich ziehe meine Bemerkung zurück und will nur noch erwähnen, daß, wenn der eine gehört hat, wie der andere die wichtige Aeußerung seiner Frau mitteilte, wir jetzt bald hinter seine Schliche kommen werden.« _Eine Stimme_: »Wieso?« _Der Lohgerber_: »Nichts leichter als das. Die Aeußerung ist von beiden nicht genau in denselben Worten wiedergegeben worden. Das würde den Anwesenden auch aufgefallen sein, wenn die zweite Lesart nicht erst nach einiger Zeit und nach aufregenden Streitigkeiten vorgetragen worden wäre.« _Eine Stimme_: »Was ist der Unterschied?« _Der Lohgerber_: »Auf Billsons Zettel steht das Wort _ganz_ -- auf dem andern nicht.« _Viele Stimmen_: »Richtig, richtig, so ist es!« _Der Lohgerber_: »Wenn nun der Herr Vorsitzende die Probe macht und den Zettel im Sack liest, werden wir erfahren, wer von den beiden Betrügern --« [_Der Vorsitzende_: »Zur Ordnung!«] »wer von diesen zwei Glücksjägern --« [_Der Vorsitzende_: »Zur Ordnung!«] »wer von den beiden Ehrenmännern --« [Gelächter und Beifall] »die Auszeichnung genießen soll, der erste Halunke zu sein, der je in unserer durch ihn entehrten Stadt geboren und erzogen worden ist. Sein fernerer Aufenthalt hier dürfte für ihn etwas unbehaglich werden.« [Lebhafter Beifall.] _Viele Stimmen_: »Oeffnen, öffnen -- den Sack öffnen!!« Burgeß machte einen Schlitz in den Sack, steckte die Hand hinein und zog ein Couvert heraus, welches zwei zusammengefaltete Papiere enthielt. Dann sagte er: »Hier auf diesem Zettel steht: ›Erst zu öffnen, nachdem alle schriftlichen Mitteilungen, die der Vorsitzende etwa erhalten hat, gelesen worden sind.‹ Das andere Papier trägt die Aufschrift: ›Die Probe‹. Mit Ihrer Erlaubnis will ich den Inhalt lesen; er lautet: »Ich verlange nicht, daß die Aeußerung, welche mein Wohlthäter mir gegenüber gethan hat, in ihrer ersten Hälfte dem Wortlaut nach genau wiedergegeben sein soll; sie war unbedeutend und er hat sie möglicherweise vergessen. Die letzten Sätze aber sind so schlagend, daß sie ihm sicherlich im Gedächtnis geblieben sind. Stimmen diese nicht mit der Probe überein, so hat man es mit einem Betrüger zu thun. Mein Wohlthäter begann mit der Bemerkung, daß er selten guten Rat erteile, thäte er es aber einmal, so sei sein Rat auch von erster Güte. Was er nun sagte, hat sich mir unauslöschlich ins Gedächtnis eingeprägt: ›Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch --‹« _Viele Stimmen_: »Das ist entscheidend -- das Gold gehört Wilson. Er soll reden! Wilson hat das Wort!« Die Leute sprangen von ihren Sitzen auf, sie umringten Wilson, schüttelten ihm die Hand und wünschten ihm von Herzen Glück, während der Vorsitzende immer lauter mit dem Hammer auf den Tisch klopfte und rief: »Ruhe! Ordnung, meine Herren! Ich bitte um Ruhe! Lassen Sie mich den Zettel zu Ende lesen. --« Als sich der Sturm gelegt hatte, fuhr Burgeß fort: »›Geht hin und bessert Euch. Thut Ihr es nicht, so werdet Ihr eines Tages sicherlich in Euern Sünden sterben und zur Strafe in die Hölle kommen, oder nach Hadleyburg -- _ersteres wäre noch vorzuziehen_.‹« Eine unheimliche Stille entstand. Zuerst lagerten sich dunkle Zorneswolken auf der Stirn aller Hadleyburger, doch allmählich erheiterten sich die Gesichter wieder, ja es schien, daß sie große Mühe hatten, den Lachkitzel zu unterdrücken, der sich ihrer unwiderstehlich bemächtigte. Die Berichterstatter, die Bürger aus Brixton und sämtliche fremde Gäste hielten sich die Hand vors Gesicht oder saßen mit gesenktem Kopf da, während sie sich aus Höflichkeit aufs äußerste anstrengten, ihre Lachmuskeln zu beherrschen. In diesem verhängnisvollen Augenblick unterbrach Jack Halliday plötzlich das allgemeine Schweigen, indem er mit lauter Stimme rief: »Das Ding ist echt -- ein Rat erster Güte!« Jetzt platzte die ganze Versammlung heraus, Fremde wie Einheimische, und als sogar Burgeß seine Ernsthaftigkeit nicht behaupten konnte, legte sich niemand mehr Zwang auf. Ein ungeheures Gelächter erscholl, das lange kein Ende nehmen wollte. Ein paarmal wischten sich die Leute schon die Augen aus und der Vorsitzende nahm sich gewaltig zusammen, um die Verhandlung fortzusetzen, aber immer von neuem brachen die Lachsalven unaufhaltsam hervor, und es dauerte eine geraume Zeit, ehe Burgeß endlich anhub: »Es würde nutzlos sein, wollten wir versuchen, uns die Thatsache zu verhehlen, daß es sich hier um eine sehr ernste Sache handelt, denn die Ehre und der gute Name unserer Stadt stehen auf dem Spiel. Schon der Umstand, daß die beiden Zettel der Herren Wilson und Billson sich nur durch _ein_ Wort unterschieden, war von schwerwiegender Bedeutung, da derselbe klar bewies, daß einer von ihnen sich des Diebstahls schuldig gemacht hatte --« Die beiden Männer, welche in großer Niedergeschlagenheit dagesessen hatten, sprangen bei diesen Worten wie elektrisiert in die Höhe. »Setzen Sie sich,« befahl der Vorsitzende streng, und sie gehorchten. »Wie gesagt, der Umstand war unheilvoll, doch nur für einen der Beteiligten. Jetzt aber erhält die Sache ein noch weit schlimmeres Ansehen, denn die Ehre beider ist nicht nur bedroht, sondern ich darf wohl sagen unrettbar verloren. Beide haben die letzten Sätze mit den entscheidenden Worten ausgelassen.« Er hielt inne und die lautlose Stille, welche entstand, erhöhte noch die eindrucksvolle Wirkung des Augenblicks. Dann fuhr er fort: »Mir scheint, daß es hier nur _eine_ mögliche Erklärung giebt -- deshalb frage ich die Herren -- geschah dies auf Verabredung -- in heimlichem Einverständnis?« Ein Flüstern ging durch den Saal: »Er hat sie beide in der Falle,« murmelte die Menge. Billson war einer so schwierigen Lage nicht gewachsen; er saß in völliger Hilflosigkeit da. Aber Wilson, der Advokat, hatte sich ermannt; mit bleicher, verstörter Miene richtete er sich empor. »Ich bitte die geehrten Anwesenden um Nachsicht bei der Erörterung dieser höchst peinlichen Angelegenheit. Nur ungern ergreife ich das Wort, denn ich weiß, daß ich durch meine Aussage Herrn Billson, den ich immer geachtet und hochgeschätzt habe, den schwersten Schaden zufüge. Wie alle übrigen habe auch ich bisher geglaubt, daß seine Rechtschaffenheit jeder Versuchung trotzen würde; aber meine eigene Ehre verlangt, daß ich offen zu Ihnen rede. Mit Beschämung muß ich gestehen -- und ich bitte Sie herzlich, es mir zu vergeben --, daß ich mich dem mittellosen Fremden gegenüber ganz so geäußert habe, wie es auf dem Zettel im Sack verzeichnet ist, sogar den schimpflichen Schlußsatz mit inbegriffen. [Große Erregung.] Mir war das noch vollkommen erinnerlich, als ich beschloß, Anspruch auf den Sack zu erheben, der mir von Rechts wegen zukam. Versetzen Sie sich bitte einen Augenblick in meine Lage: Die Dankbarkeit des Fremden war grenzenlos gewesen an jenem Abend; er sagte selbst, er könne unmöglich Worte dafür finden, doch würde er mir die Wohlthat tausendfach vergelten, wenn er je im stande wäre, es zu thun. Nun fragen Sie sich einmal, ob sich bei dieser seiner Gesinnung erwarten ließ, ja, ob es auch nur denkbar war, daß er mir so übel mitspielen würde, jenen ganz unnötigen Schlußsatz auf seinem Zettel beizufügen, mich in die Falle zu locken und in einer öffentlichen Versammlung als Verleumder meiner Vaterstadt bloßzustellen? Dergleichen anzunehmen wäre höchst widersinnig gewesen. Ich zweifelte daher keinen Augenblick, daß auf jenem Papier nur der ganz harmlose Anfang meiner Aeußerung stehen würde. Sie hätten das auch geglaubt und einem Menschen, dem Sie aus der Not geholfen und dem Sie kein Leid gethan, niemals zugetraut, daß er schmählichen Verrat an Ihnen üben würde. So schrieb ich denn mit voller Zuversicht den Eingang nebst den Worten ›Geht hin und bessert Euch‹ und setzte meinen Namen darunter. Als ich den Zettel eben in einen Umschlag thun wollte, wurde ich abgerufen und ließ ihn in meiner Sorglosigkeit offen auf dem Schreibtisch liegen.« Hier hielt der Redner inne, wandte den Kopf langsam nach Billson hin, wartete noch ein paar Sekunden und sagte dann: »Als ich etwas später zurückkam, machte Herr Billson eben meine Hausthür hinter sich zu -- urteilen Sie selbst, was das zu bedeuten hatte.« [Große Erregung.] Doch schon war Billson aufgesprungen: »Es ist eine schändliche Lüge!« schrie er, rot vor Zorn. _Der Vorsitzende_: »Setzen Sie sich! Herr Wilson hat das Wort.« Billsons Freunde zogen ihn auf seinen Platz zurück und suchten ihn zu beruhigen, während Wilson fortfuhr: »Ich teile Ihnen nur Thatsachen mit. Mein Zettel lag nicht mehr an derselben Stelle auf dem Tisch, wohin ich ihn gelegt hatte. Ich sah das wohl, beachtete es aber nicht weiter, in der Meinung, ein Zugwind habe ihn dahin geblasen. Daß Herr Billson ein Privatpapier lesen würde, kam mir nicht in den Sinn; er mußte das als Ehrenmann für unter seiner Würde halten. Hätte sein Gedächtnis ihn nicht im Stich gelassen, so würde er das Wort _ganz_ nicht hinzugefügt haben. Ich bin der einzige Mensch in der Welt, der jene Aeußerung -- auf ehrenhafte Weise -- genau wiedergeben konnte. Weiter habe ich nichts zu bemerken.« Für den schlauen und gewandten Redner ist es von jeher ein Leichtes gewesen, die Denkfähigkeit einer Zuhörerschaft, die an das täuschende Blendwerk der Redekunst nicht gewöhnt ist, zu verwirren und sie zu maßlosen Gefühlsäußerungen fortzureißen. Als Wilson wieder Platz nahm, war sein Sieg gewonnen. Ein nicht enden wollender Beifallssturm erschallte; Freunde und Bekannte umringten ihn, schüttelten ihm die Hand und wünschten ihm Glück. Billson versuchte umsonst in dem Getümmel zu Worte zu kommen. Selbst der Vorsitzende strengte seine Lunge vergebens an, und wie laut er auch mit dem Hammer klopfte, niemand gab acht darauf. Endlich wurde es einigermaßen still. »Fahren wir nun mit der Verhandlung fort!« rief Burgeß. »Was ist denn da noch zu verhandeln?« hieß es; »man braucht ihm doch bloß den Sack zu geben.« _Viele Stimmen_: »Jawohl, jawohl! Wilson soll vortreten!« _Der Hutmacher_: »Ich fordere Sie auf, mit mir Herrn Wilson hoch leben zu lassen, als Inbegriff und Vertreter der besonderen Tugend, welche -- --« »Hoch! hoch! hurra!« hallte es mit Donnergetöse durch den Saal. Wilsons Bewunderer hoben ihn auf ihre Schultern, und man schickte sich eben an, ihn im Triumph auf die Rednertribüne zu geleiten, als die Stimme des Vorsitzenden den Lärm übertönte: »Ruhe! Ordnung! Platz nehmen! -- Erinnern Sie sich doch, meine Herren, daß ich noch ein Schriftstück zu verlesen habe.« -- Es ward wieder still im Saal; Burgeß nahm das zweite Papier zur Hand, legte es aber wieder hin. »Fast hätte ich vergessen, daß ich zuvor alle Zuschriften lesen soll, welche ich erhalten habe.« Er zog ein Couvert aus der Tasche, öffnete es, überflog den Inhalt und schien starr vor Verwunderung. »Was ist es? Vorlesen! Vorlesen!« schrieen zwanzig bis dreißig Stimmen auf einmal. Langsam und bedächtig, als traue er seinen Augen kaum, las Burgeß: »Die Aeußerung, welche ich dem Fremden gegenüber that -- [_Mehrere Stimmen_: »Hallo, wie geht das zu?«] -- lautete: ›Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch. [_Mehrere Stimmen_: »Gerechter Himmel!«] Geht hin und bessert Euch.‹ [_Eine Stimme_: »Da schlag’ doch das Donnerwetter drein!«] Gezeichnet von Herrn Bankier Pinkerton.« Jetzt brach ein Höllenlärm los, über den die besonneneren Leute trauernd ihr Haupt schüttelten. Wer sich nicht mehr halten konnte, lachte daß ihm die Thränen über die Wangen liefen. Die Berichterstatter wälzten sich vor Lachen und machten solche Krakelfüße auf dem Papier, daß es nicht menschenmöglich war, nur ein Wort zu entziffern. Ein Hund, der im Winkel geschlafen hatte, schreckte auf und geriet über das Getöse so in Wut, daß er wie wahnsinnig zu bellen anfing. Jeder schrie und brüllte, was ihm gerade durch den Kopf fuhr. »Oho, immer toller! -- Jetzt besitzen wir zwei Inbegriffe von Treue und Redlichkeit! -- Nein, drei -- man muß auch Billson mitzählen -- je mehr, desto besser! -- Richtig, richtig, Billson gehört dazu! -- Was ist doch Wilson für ein armes Opferlamm -- zwei Diebe haben ihn beraubt!« _Eine mächtige Stimme_: »Stille! Der Vorsitzende holt wieder etwas aus der Tasche.« _Andere Stimmen_: »Hurra! Was giebt es Neues? Vorlesen! Vorlesen!« _Der Vorsitzende_ (liest): »Die Aeußerung, welche ich u. s. w. ›Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch. Geht hin‹ u. s. w. Unterschrift: Gregor Yates.« _Dröhnende Rufe_: »Vier Inbegriffe! -- Der ehrliche Yates soll leben! -- Weiter, weiter!« Das Gebrüll im Saal wollte jetzt kein Ende nehmen; es galt, den Kapitalspaß von Grund aus zu genießen. Als einige von den Neunzehnern aufstanden und sich mit bleichen, angstvollen Mienen nach dem Ausgang hin zu drängen suchten, wurden von allen Seiten Rufe laut: »Schließt die Thüren! Zieht die Schlüssel ab! Kein Ehrenmann darf den Saal verlassen! Hinsetzen! Hinsetzen! Jeder auf seinen Platz!« Alle folgten der Aufforderung. »Immer mehr! -- Vorlesen! Vorlesen!« Burgeß zog abermals ein Couvert hervor und las die wohlbekannten Worte: »›Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch --‹« »Der Name! Der Name! Was steht darunter?« »Ingoldsby Sargent.« »Fünf Auserwählte! Ein ganzer Haufen Inbegriffe! Weiter, weiter!« »›Ihr seid noch lange kein --‹« »Den Namen her!« »Nikolas Whitworth.« »Hurra! hurra! Hoch soll er leben!« »Hoch soll er leben!« fiel der ganze Saal ein; »hoch soll er leben! Dreimal hoch!!!« »Jetzt noch ein Lebehoch für Hadleyburg, das Vorbild unbestechlicher Tugend, und für alle seine Inbegriffe und würdigen Vertreter!« »Hadleyburg und seine Tugendspiegel sollen leben -- hoch!« brüllte der Chor; »dreimal hoch!!!« »Weiter, weiter!« tönte es jetzt aus vielen Kehlen. »Wir wollen mehr hören! Vorlesen! Alles vorlesen, was da ist!« »Jawohl, jawohl! Das wird unsern Ruhm auf ewig begründen.« Jetzt standen einige Männer auf, um Widerspruch zu erheben. Sie sagten, ohne Zweifel hätte sich irgend ein erbärmlicher Spaßvogel dies Possenspiel ausgedacht, das ein Schimpf für das ganze Gemeinwesen sei. Die Unterschriften müßten alle gefälscht sein, nur so ließe sich die Sache erklären. Aber sie predigten tauben Ohren. »Oho! Schweigt nur und setzt euch wieder,« hieß es. »Ihr bekennt euch bloß schuldig -- nächstens werden eure Namen an die Reihe kommen!« »Wir fragen den Vorsitzenden, wie viele solche Briefumschläge er bekommen hat.« »Es waren, glaube ich, neunzehn, alles in allem.« Ein Hohngelächter erfolgte. »Vielleicht enthalten sie sämtlich das Geheimnis. Ich stelle den Antrag, von jedem derartigen Zettel die sieben ersten Wörter und die Unterschrift zu lesen. Wer stimmt dafür?« Der Vorschlag wurde mit lautem Beifall aufgenommen und zum Beschluß erhoben. Da stand plötzlich der arme alte Reichard auf und ihm zur Seite seine Frau, das Haupt gesenkt, um ihre Thränen zu verbergen. Der Gatte gab ihr den Arm, sie zu stützen, und begann mit vor Erregung bebender Stimme: »Freunde und Mitbürger, ihr kennt uns beide, Mary und mich von Jugend auf, und habt uns stets Liebe und Achtung erwiesen --« »Entschuldigen Sie, Herr Reichard,« unterbrach ihn der Vorsitzende; »was Sie sagen, ist zwar die lautere Wahrheit -- die ganze Stadt kennt Sie nicht nur, sondern ehrt und liebt Sie beide, aber --« Hier ließ sich Hallidays Stimme vernehmen: »Wenn das auch die Meinung der Versammlung ist, so schlage ich vor, das Ehepaar Reichard leben zu lassen. Hurra, hoch!« Lautes Beifallklatschen war die Antwort; zahllose Taschentücher wurden geschwenkt und donnernde Hochrufe erschallten. Dann fuhr der Vorsitzende fort: »Ich wollte mir nur die Bemerkung erlauben, Herr Reichard, daß es zwar Ihrem guten Herzen Ehre macht, wir aber in diesem Fall den Missethätern keine Nachsicht gewähren dürfen.« [_Zurufe_: »Nein, nein!«] »Die edle Absicht steht Ihnen im Gesicht geschrieben; allein ich kann nicht gestatten, daß Sie sich für jene Männer verwenden --« »Aber ich wollte ja nur --« »Setzen Sie sich, bitte, Herr Reichard. Wir müssen erst die übrigen Zuschriften lesen. Das verlangt schon die Billigkeit den Leuten gegenüber, deren Schuld wir bereits ans Licht gezogen haben. Sobald dies geschehen ist, wollen wir Sie anhören, das verspreche ich Ihnen.« Zögernd nahm das Ehepaar wieder Platz. »Das Warten ist eine rechte Qual,« flüsterte Reichard seiner Frau zu. »Nun wird unsere Schande um so größer sein, wenn es sich herausstellt, daß wir nur für uns selber um Nachsicht bitten wollten.« Jetzt ging der Spaß von neuem los; die Namen wurden gelesen. »›Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch --‹ Unterschrift: ›Robert Titmarsch.‹ »›Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch --‹ Unterschrift: ›Eliphalet Wenks.‹ »›Ihr seid noch lange kein schlechter Mensch --‹ Unterschrift: ›Oskar Wilder.‹« Als der Vorsitzende so weit gekommen war, gerieten die Zuhörer auf den Einfall, ihn der Mühe zu überheben, jedesmal die sieben Wörter zu lesen, womit er sehr einverstanden war. Er hielt nun nur noch den Zettel in die Höhe und wartete, bis die Versammlung in volltönendem Chor, der fast klang wie die Melodie eines bekannten Kirchenliedes, feierlich die sieben Wörter sang: »Ihr seid noch la-an-ge kein schle-ech-ter Mensch.« Dann las er die Unterschrift: »Archibald Wilcox.« So ging es immer weiter unter allgemeinem Gaudium und zur Qual der unglücklichen Neunzehner. Jedesmal, wenn ein besonders angesehener Name verlesen ward, ließ der Chor den Vorsitzenden warten, sang die ganze Litanei von Anfang an bis zu den Worten: »zur Strafe in die Hölle kommen, oder nach Hadleyburg -- ersteres wäre noch vo-o-or-zu-ziehn« -- und schloß dann mit einem mächtigen »A-a-a-a-men!« Immer kleiner wurde die Zahl der noch zu verlesenden Papiere; Reichard wußte genau, wie viele noch fehlten und zuckte zusammen, so oft ein Name dem seinigen glich. Er wartete in qualvoller Spannung auf den Augenblick, wenn die Reihe an ihn kommen würde. Dann wollte er sich erheben und die Versammlung etwa mit folgenden Worten um Erbarmen für sich und Mary anflehen: »Bisher sind wir unsern Weg unsträflich gewandelt und haben noch nie in eine Sünde gewilligt. Aber wir sind alt und sehr arm, haben auch weder Sohn noch Tochter zur Stütze; die Versuchung war groß und wir sind unterlegen. Als ich vorhin aufstand, wollte ich mein Unrecht bekennen und bitten, daß man meinen Namen nicht öffentlich vorlesen möchte, weil ich glaubte, die Schande nicht überleben zu können; man ließ mich jedoch nicht ausreden. Ich weiß, es ist nur gerecht, wenn wir vor den andern nichts voraus haben; aber die Strafe ist hart. Unser Name war bis jetzt immer unbescholten; habt Erbarmen, denkt, daß wir stets rechtschaffene Leute gewesen sind, und laßt uns den Fehltritt nicht allzuschwer büßen.« So weit war er in seinen Gedanken gekommen, als Mary ihn anstieß, um ihn aus der Träumerei zu wecken. Eben sang der Chor: »Ihr seid noch la-a-nge kein« u. s. w. »Mach’ dich bereit,« flüsterte Mary. »Jetzt ist die Reihe an dir; achtzehn Namen sind schon verlesen.« »Weiter, weiter!« schrie die ungeduldige Menge. Langsam und zitternd erhob sich das alte Ehepaar. Burgeß steckte die Hand in die Tasche und schien einen Augenblick zu suchen. »Ich muß die Zettel alle gelesen haben,« sagte er dann. Fast überwältigt von freudiger Ueberraschung sanken Reichard und seine Frau auf ihre Plätze zurück. »Gerettet!« flüsterte Mary; »Gott sei Dank. Er hat unsern Zettel verloren. Hundert Goldsäcke würden mich nicht so glücklich machen!« Der Chor brüllte nun noch ein Lebehoch auf Hadleyburgs Redlichkeit und die achtzehn unsterblichen Vertreter seiner Tugend. Dann stand Wingate, der Sattler, auf, um den wackersten Mann in der Stadt leben zu lassen, den einzigen aus der Klasse der angesehensten Bürger, der keinen Versuch gemacht habe, das Gold zu stehlen -- Eduard Reichard. Die Menge stimmte mit wahrer Begeisterung ein, und man pries Reichard laut, als den einzigen treuen Hüter der geheiligten Hadleyburger Ueberlieferung. »Aber wer bekommt nun den Sack?« fragte eine Stimme. _Der Lohgerber_ (mit bitterem Spott): »Das liegt doch auf der Hand. Das Gold muß unter die achtzehn Tugendhelden verteilt werden. Jeder von ihnen hat dem armen Fremdling zwanzig Dollars gegeben -- und jenen kostbaren Rat. Zweiundzwanzig Minuten hat es gedauert, bis sie einer nach dem andern bei ihm vorübermarschiert sind. Was sie für den Fremden eingezahlt haben, betrug alles in allem dreihundertsechzig Dollars; sie möchten nur ihr Geld und die Zinsen zurückhaben -- die sich mit dem Kapital auf vierzigtausend Dollars belaufen.« »Hahaha! Die armen Leute!« Allgemeines Hohngelächter. _Der Vorsitzende_: »Ich bitte um Ruhe, damit ich die letzte Zuschrift des Fremden vorlesen kann. -- Sie lautet: ›Falls sich niemand meldet, um Anspruch auf den Sack zu erheben, [Lautes Seufzen und Stöhnen aus der Menge] so soll das Geld unter die ersten Bürger der Stadt verteilt werden, damit sie es aufs beste verwenden, um den ehrenwerten Ruf Hadleyburgs auch ferner zu erhalten und immer weiter auszubreiten. Dafür, daß sie dies nach besten Kräften thun werden, bürgt schon ihre eigene Unbescholtenheit und allgemein anerkannte Vortrefflichkeit.‹ [Spöttische Beifallsrufe von allen Seiten und lautes Händeklatschen.] Halt! Ich bin noch nicht zu Ende -- hier ist eine Nachschrift: »›~P. S.~ -- Bürger von Hadleyburg! Die ganze Sache beruht auf Erfindung -- kein Mensch hat jene Aeußerung gethan. [Unbeschreibliche Aufregung.] Sowohl der fremde Bettler als die geschenkten zwanzig Dollars samt dem guten Rat und Segenswunsch sind vollkommen aus der Luft gegriffen. [Großes Gewirr verwunderter und belustigter Stimmen.] Erlaubt, daß ich euch mit wenigen Worten meine Geschichte erzähle: Als ich eines Tages durch Hadleyburg reiste, that man mir eine schwere, unverdiente Beleidigung an. Jeder andere hätte sich damit begnügt, ein paar von euch umzubringen, aber bei meiner Gemütsart würde mich eine so geringfügige Rache kaum entschädigt haben. Konnte ich euch auch nicht allen das Leben nehmen, so wollte ich doch jeden Insassen der Stadt, ob Mann oder Weib, empfindlich schädigen, wenn auch nicht an Leib und Gut, so doch an ihrer Eitelkeit -- der Stelle, wo schwache und thörichte Menschen am verwundbarsten sind. Verkleidet kam ich zurück und lernte euch näher kennen. Euch beizukommen war nicht schwer. Ihr besaßet einen Schatz, den ihr wie euern Augapfel hütetet, den altbewährten, hohen Ruhm unantastbarer Redlichkeit, der euern ganzen Stolz ausmachte. Sobald ich sah, daß ihr mit der größten Sorgfalt und Wachsamkeit jede Versuchung von euch und euern Kindern fernhieltet, war mein Plan gefaßt. Ihr einfältigen Menschen! Es giebt ja nichts Schwächeres auf Erden, als eine Tugend, die nicht im Feuer der Prüfung bewährt ist. Meine Absicht war, dem tugendstolzen Hadleyburg seinen Ruhm zu nehmen und fast ein halbes Hundert bisher untadeliger Männer und Frauen, die in ihrem ganzen Leben noch keine Unwahrheit gesagt und keinen Pfennig gestohlen hatten, zu Dieben und Lügnern zu machen. Eine Liste von Namen hatte ich bald entworfen; nur Goodson, der kein eingeborener Hadleyburger war, stand meinem Plan im Wege. Hätte ich euch damals meinen Brief vorlegen lassen, so würdet ihr ohne Zweifel gesagt haben: ›Goodson ist der einzige Bürger unserer Stadt, der einem armen Teufel zwanzig Dollars schenken könnte‹ -- und ich fürchte, ihr wäret nicht in meine Falle gegangen. Sobald aber der Himmel Goodson von dieser Welt abgerufen hatte, warf ich den Köder mit vollster Zuversicht aus -- ich wußte, ihr würdet anbeißen. Vielleicht fange ich nicht alle Männer, an welche ich die erdichtete Aeußerung mit der Post geschickt habe, die meisten jedoch sicherlich, wie ich den Charakter der Hadleyburger kenne. Bei ihrer verkehrten Erziehung und inneren Haltlosigkeit wird selbst der Umstand, daß das Geld im Glücksspiel gewonnen ist, sie nicht hindern, es fälschlich an sich zu bringen. So hoffe ich denn, euern Stolz auf ewige Zeiten zu Grunde gerichtet zu haben, und Hadleyburg in einen ganz neuen Ruf zu bringen, der sich allenthalben verbreiten wird und den es nie wieder loswerden soll. Wenn mein Zweck erreicht ist, so öffne man den Sack und ernenne einen Ausschuß zur Erhaltung und Verbreitung des Hadleyburger Ruhmes.‹« _Viele Stimmen_: »Der Ausschuß ist bereits erwählt. Die achtzehn Tugendhelden sollen vortreten!« Jetzt trennte Burgeß den Sack auf und nahm eine Handvoll großer gelber Münzen heraus, die er durcheinander schüttelte und genau betrachtete. »Werte Freunde,« sagte er, »es sind nur Scheiben aus vergoldetem Blech.« Lautes Gelächter folgte auf diese Neuigkeit. Vergebens rief man nach den Mitgliedern des Ausschusses, um ihnen das Gold einzuhändigen, keiner rührte sich vom Platz. Endlich nahm der Sattler das Wort: »Von allen unsern vornehmen Bürgern hat sich nur einer als redlich bewährt. Der Mann braucht Geld und verdient eine Unterstützung. Ich schlage daher vor, daß Jack Halliday den Auftrag erhält, den Sack voll vergoldeter Zwanzigdollarstücke hier öffentlich zu versteigern und den Ertrag Herrn Eduard Reichard zu übermitteln, denn er ist ein Mann von echtem Schrot und Korn, dem Hadleyburg mit Freuden alle Ehre erweist.« Die Leute klatschten Beifall, der Hund bellte und die Versteigerung begann. Zuerst bot der Sattler einen Dollar; mehrere Bewohner von Brixton und Barnums Vertreter trieben sich gegenseitig in die Höhe. Bei jedem neuen Angebot jubelte die Menge; die Aufregung wuchs, die Bietenden wurden hartnäckiger und kühner. Von einem Dollar stieg der Preis auf fünf, auf zehn, auf zwanzig, auf fünfzig, auf hundert und immer höher. Als der Antrag zuerst gestellt wurde, hatte Reichard seiner Frau in kläglichem Ton zugeflüstert: »O Mary, das dürfen wir nicht gestatten; es ist ein Zeugnis für die Reinheit unseres Charakters, ein Ehrengeschenk, und -- und -- wir können es doch nicht dulden! Sollen wir nicht lieber aufstehen und -- Mary, was fangen wir nur an -- was meinst du, daß wir --« (_Hallidays Stimme_: »Fünfzehn für den Sack! Fünfzehn zum ersten -- zwanzig -- danke bestens -- dreißig -- dreißig zum -- höre ich recht? -- Vierzig -- bieten Sie weiter, meine Herren -- fünfzig zum ersten, zum zweiten, zum -- siebzig -- neunzig -- bravo! immer höher! -- hundert -- hundertzwanzig -- vierzig -- noch ist es Zeit! -- hundertfünfzig -- zweihundert -- zweihundertfünfzig -- keiner mehr? --«) »Es ist eine neue Versuchung, Eduard -- ich zittere an allen Gliedern. Aus der ersten sind wir glücklich errettet worden; das sollte uns zur Warnung dienen --« [»Habe ich recht gehört? Sechs -- meinen Dank -- sechshundertfünfzig -- siebenhundert.«] »Und doch, wenn man’s recht bedenkt, -- kein Mensch argwöhnt --« [»Achthundert Dollars! Hurra! Neunhundert wäre noch besser! -- Haben Sie neunhundert gesagt, Herr Parsons? -- Ganz recht -- also dieser schöne Sack, mit echtem Blech gefüllt, soll samt der Vergoldung für nur neunhundert Dollars -- tausend -- sehr verbunden! Will niemand elfhundert bieten für den Sack, der als eine der berühmtesten Raritäten in den Vereinigten Staaten --«] »O Eduard,« schluchzte Mary, »wir sind so arm -- aber -- thu’ was dir am besten dünkt -- ich hindere dich nicht.« Eduard erlag der Versuchung, das heißt, er saß still und beschwichtigte sein Gewissen damit, daß die Umstände ihm keine Wahl ließen. * * * * * Während der ganzen Zeit war ein Fremder, welcher aussah wie ein als englischer Graf verkleideter Geheimpolizist, den Verhandlungen mit dem größten Interesse gefolgt. Jetzt trug sein Gesicht einen hochbefriedigten Ausdruck, und was er bei sich dachte, war ungefähr folgendes: »Die achtzehn Tugendhelden bieten nicht mit, das ist nicht in der Ordnung, es verstößt gegen die poetische Gerechtigkeit. Sie müssen im Gegenteil den Sack kaufen, den sie stehlen wollten, und einen ordentlichen Preis dafür zahlen -- denn es sind reiche Leute darunter. Außerdem hat der einzige Hadleyburger, der meine Berechnung zu Schanden gemacht hat, eine hohe Prämie verdient, und sie darf ihm nicht entgehen. Der arme alte Reichard ist ein ehrlicher Mann, das muß ich zugeben, obgleich es mir unfaßlich scheint. Jedenfalls soll er den Glückstopf ausleeren, wie es ihm von Rechts wegen gebührt. Daß er mich Lügen gestraft hat, will ich ihm nicht nachtragen.« Gespannt beobachtete der Fremde den weiteren Verlauf der Auktion. Nachdem tausend Dollars geboten waren, ging der Preis nur noch langsam in die Höhe. Ein Liebhaber nach dem andern zog sich zurück. Nun bot der Fremde selbst ein paarmal mit, erst fünf Dollars mehr, jemand steigerte ihn noch um drei Dollars, dann fügte er rasch fünfzig hinzu und der Sack wurde ihm für eintausendzweihundertundzweiundachtzig Dollars zugeschlagen. Die Menge brach in schallende Hochrufe aus, doch trat gleich darauf eine lautlose Stille ein, als der Fremde mit der Hand winkte und zu reden begann: »Gestatten Sie mir ein Wort, geehrte Anwesende. Ich bin Raritätenhändler und habe in der ganzen Welt Verbindungen mit Leuten, die seltene Münzen sammeln. Zwar könnte ich den Sack, so wie er ist, mit Gewinn verkaufen, aber einen ungleich größeren Vorteil würde ich daraus ziehen, wenn Sie mir eine Bitte gewähren wollten, welche ich Ihnen sogleich vortragen werde. Ich könnte dann jede einzelne dieser blechernen Münzen mindestens für ein echtes Zwanzigdollarstück verkaufen und würde gern einen Teil meines Profits Ihrem Mitbürger, Herrn Reichard, überlassen, dessen unerschütterliche Redlichkeit heute von Ihnen mit vollem Rechte anerkannt und gepriesen worden ist. Sein Anteil würde zehntausend Dollars betragen, die ich ihm morgen einhändigen will.« [Großer Beifall der Menge; Reichard und seine Frau wurden dunkelrot bei dem Lob, das schadete jedoch nichts, man legte es ihnen als Bescheidenheit aus.] »Der besondere Wert einer Rarität hängt meistens davon ab, ob sie die Wißbegierde reizt oder viel besprochen wird. Deshalb möchte ich Sie bitten, mir zu erlauben, daß ich auf diese vergoldeten Blechmünzen hier die Namen der achtzehn Herren stempeln lassen darf, welche --« Mit Ausnahme einer kleinen Minderheit erhob sich die ganze Versammlung wie ein Mann, um unter Lachen und Beifallklatschen ihre Zustimmung zu geben. Als jedoch der Fremde seinen Dank dafür aussprechen wollte, daß man so bereitwillig auf seinen Vorschlag eingegangen war, erhoben sämtliche Tugendhelden außer Doktor Harkneß den heftigsten Widerspruch; sie wollten es sich nicht gefallen lassen, daß man ihnen solchen Schimpf anthäte, und stießen sogar Drohungen gegen den Fremden aus, der jedoch ganz ruhig blieb. Während nun die andern Siebzehn fortfuhren, zu bitten und zu drohen, benutzte Harkneß die günstige Gelegenheit, welche sich ihm bot. Er und Pinkerton waren die reichsten Männer der Stadt und Gegenkandidaten bei der Abgeordnetenwahl, um die ein heißer Kampf zwischen ihnen entbrannt war. Im Repräsentantenhaus verhandelte man gerade über den Bau einer neuen Eisenbahn; beide Männer besaßen große Strecken Landes und jeder hoffte, es bei der Regierung dahin zu bringen, daß die Bahn durch sein Besitztum geleitet würde, was ihm ein Vermögen einbringen mußte. Eine einzige Stimme konnte dabei vielleicht den Ausschlag geben. Vor einer gewagten Spekulation zurückzuschrecken, war Harkneß’ Sache nicht, und hier galt es ein hohes Spiel. Der Fremde saß in seiner Nähe und die Unruhe im Saal war groß. Rasch beugte sich Harkneß vor und sagte: »Wieviel verlangen Sie für den Sack?« »Vierzigtausend Dollars.« »Ich biete Ihnen zwanzigtausend.« »Nein.« »Fünfundzwanzig.« »Nein.« »Was sagen Sie zu dreißig?« »Ich fordere vierzigtausend Dollars und keinen Pfennig weniger.« »Sehr wohl; ich will den Preis zahlen. Morgen früh um zehn Uhr komme ich zu Ihnen ins Hotel; doch möchte ich nicht, daß es bekannt würde; ich wünsche Sie allein zu sprechen.« Der Fremde war damit einverstanden; dann erhob er sich, um sich bei der Versammlung zu verabschieden; er dankte den Anwesenden nochmals für die Gewährung seiner Bitte, ersuchte den Vorsitzenden, ihm den Sack bis morgen aufzuheben und Herrn Reichard einstweilen drei Fünfhundertdollarscheine einzuhändigen. Nachdem Burgeß dieselben in Empfang genommen, fuhr der Fremde fort: »Morgen früh um neun will ich den Sack abholen und um elf Uhr Herrn Reichard den Rest der zehntausend Dollars persönlich in seinem Hause übergeben. Gute Nacht!« Er entfernte sich rasch aus dem Saal, wo der Lärm jetzt von neuem anhob: Hurrarufe, Zischen, Beifallklatschen, Hundegebell, und dazwischen der Chorgesang: »Ihr seid noch la-a-nge kein schle-e-ech-ter Mensch --« erschallten in wildem Durcheinander. IV. Zu Hause angekommen mußte das Ehepaar Reichard noch bis Mitternacht fortwährend Glückwünsche und Lobsprüche über sich ergehen lassen. Als sie endlich allein waren, saßen sie mit betrübten Mienen stumm und traurig da, bis Mary zuletzt tief aufseufzte: »Glaubst du, Eduard, daß wir sehr, sehr unrecht gethan haben?« fragte sie und schaute nach den Beweisen ihrer Schuld, den drei großen Kassenscheinen, welche die Leute vorhin mit so verlangenden Blicken betrachtet und kaum anzurühren gewagt hatten. Eduard schwieg eine Weile, dann kam ein Seufzer auch aus seiner Brust. »Wir -- wir konnten nichts dafür, Mary -- es war eine Fügung des Himmels -- wie alles in dieser Welt,« erwiderte er zögernd. Mary sah ihn mit großen Augen an, aber er senkte den Blick. »Ich war der Meinung,« sagte sie, »daß Lob und Anerkennung der Menschen immer Freude machten -- aber jetzt scheint mir -- höre, Eduard?« »Was denn?« »Wirst du deine Stelle bei der Bank behalten?« »N -- nein.« »Was willst du thun?« »Morgen früh meinen Abschied schriftlich einreichen.« »Das wird wohl am besten sein.« Reichard starrte unverwandt vor sich hin. »Bisher hatte ich keine Furcht, wenn mir auch das Geld anderer Leute stromweise durch die Hände floß,« murmelte er. »O Mary, ich bin müde zum Umfallen.« »Laß uns zu Bette gehen.« * * * * * Am andern Morgen um neun Uhr holte der Fremde den Sack ab und fuhr damit in einer Droschke nach dem Hotel. Dort hatte Harkneß um zehn ein Privatgespräch mit ihm. Der Fremde ließ sich fünf Wechsel -- zahlbar an den Ueberbringer -- auf eine New Yorker Bank ausstellen, einen zu vierunddreißigtausend Dollars und vier zu fünfzehnhundert Dollars. Von letzteren steckte er einen in sein Taschenbuch, alle übrigen legte er in ein Couvert und schrieb ein Briefchen dazu, nachdem Harkneß fort war. Um elf Uhr klingelte er am Reichard’schen Hause; Mary guckte erst durch den Fensterladen, dann nahm sie an der Thür das Couvert in Empfang, welches ihr der Fremde einhändigte, ohne ein Wort zu sagen. In großer Erregung kehrte sie ins Zimmer zurück. »Schon gestern abend kam es mir vor, als müßte ich ihn früher irgendwo gesehen haben; aber jetzt habe ich ihn wiedererkannt.« »Es ist wohl der Mann, der den Sack gebracht hat?« »Ja, ich möchte darauf schwören.« »Dann ist er auch der angebliche Stephenson, der die Bürger mit seinem erfundenen Geheimnis zum Narren gehalten hat. Wenn er uns nun Wechsel statt Geld bringt, sind wir noch einmal angeführt, während wir uns eben in Sicherheit wiegten. Nach der Nachtruhe war mir schon ganz behaglich zu Mute, aber dies Couvert verdirbt alles wieder, es ist viel zu dünn. Achttausendfünfhundert Dollars, selbst in den größten Banknoten, wären ein dickeres Paket.« »Was hast du denn gegen Wechsel einzuwenden?« »Wenn sie dieser Stephenson ausgestellt hat! -- Ich habe mich zwar darein gegeben, die achttausendfünfhundert Dollars in Banknoten anzunehmen, weil es der Himmel nun einmal so gefügt hat. Aber Wechsel einzulösen, welche jene verhängnisvolle Unterschrift tragen -- nein, dazu fehlt mir der Mut. Es könnte eine Falle sein. Schon einmal hat mich der Mensch fast in seine Hände bekommen, und wir sind ihm wie durch ein Wunder entgangen. Jetzt versucht er es auf andere Weise. Wenn Wechsel in dem Couvert sind --« »O Eduard, wie schrecklich!« Weinend hielt sie die Wechsel in die Höhe. »Wirf sie ins Feuer, rasch, damit wir nicht in Versuchung kommen. Es ist nur eine Hinterlist, um uns ins Verderben zu locken -- uns dem Hohn und Spott der Leute preiszugeben wie die andern. Wenn du es nicht thun kannst, gieb sie mir.« Er riß ihr die Wechsel aus der Hand und wankte damit zum Ofen. Doch er war Kassierer von Beruf und konnte nicht umhin, zuvor noch einen Blick auf die Unterschrift zu werfen. Fast wäre er in Ohnmacht gefallen. »Mary, Mary, halte mich -- sie sind so gut wie Gold!« »O Eduard, wie herrlich! Aber ist es auch ganz gewiß?« »Harkneß hat die Wechsel ausgestellt. Das ist mir ein unerklärliches Rätsel.« »Glaubst du denn, Eduard --« »So sieh doch nur her! Fünfzehn -- fünfzehn -- fünfzehn -- vierunddreißig! Achtunddreißigtausendfünfhundert! -- Was sagst du dazu, Mary? -- Der Sack ist keine zwölf Dollars wert und Harkneß hat offenbar diese Riesensumme dafür gezahlt.« »Und du glaubst, das alles soll uns gehören? Nicht nur die versprochenen zehntausend?« »Es hat ganz den Anschein. Ueberdies lauten die Wechsel auf den ›Ueberbringer‹.« »Ist das günstig, Eduard? Was hat das zu bedeuten?« »Man kann das Geld bei jeder beliebigen Bank erheben. Vielleicht wünscht Harkneß nicht, daß die Sache hier ruchbar wird. Was ist denn das -- -- ein Brief?« »Ja, er lag bei den Wechseln.« Das Schreiben war von Stephensons Hand, trug aber keine Unterschrift. Reichard las: »Ich habe mich in Ihnen getäuscht; Ihre Ehrlichkeit ist über jede Versuchung erhaben. Als ich das Gegenteil annahm, that ich Ihnen unrecht, und bitte Sie aufrichtig, es mir zu verzeihen. Sie verdienen meine vollste Hochachtung, und Ihre Mitbürger sind nicht wert, Ihnen die Schuhriemen aufzulösen. Ich bin mit mir selbst eine Wette eingegangen, daß sich in Ihrer tugendstolzen Stadt neunzehn Männer zur Unredlichkeit verführen lassen würden. Die Wette habe ich verloren. Nehmen Sie den ganzen Einsatz; er gebührt Ihnen von Rechts wegen.« Reichard that einen tiefen Atemzug: »Das brennt, als wäre es mit Feuer geschrieben,« sagte er. »Mir ist wieder ganz erbärmlich zu Mute, Mary.« »Mir auch. Ach, hätten wir doch -- --« »Stelle dir nur vor, Mary -- er _glaubt_ an mich.« »Schweig’ still davon -- ich halte es sonst nicht aus.« »Wenn ich dies schöne Lob verdiente -- und Gott weiß, ich glaube, früher war das der Fall -- so gäbe ich wahrhaftig die vierzigtausend Dollars dafür hin. Sein Schreiben aber würde ich heilig aufbewahren, es wäre mir mehr wert, als Gold und Juwelen. Doch jetzt müßte es uns ein ewiger Vorwurf sein, darum fort mit ihm.« Er warf das Papier in die Flammen. -- Indem kam ein Bote, der einen Brief brachte. Burgeß hatte ihn geschickt; er lautete: »Sie waren mein Retter zur Zeit der Not. Zum Dank dafür habe ich Sie gestern gerettet. Ich mußte es auf Kosten der Wahrheit thun, doch habe ich das Opfer gern gebracht, es reut mich nicht. Es weiß doch keiner Ihrer Mitbürger so gut wie ich, daß Sie ein braver, wackerer und edler Mensch sind. Sie wissen, welches Fehltritts man mich anklagt, und da man allgemein von meiner Schuld überzeugt ist, kann ich auf Ihre Achtung keinen Anspruch machen. Aber der Gedanke, daß Sie mich wenigstens nicht für einen Undankbaren halten, wird mir die Last erleichtern, die ich tragen muß. Burgeß.« »Wieder von einer Angst befreit und unter welchen Bedingungen!« Er warf den Brief ins Feuer. »Ich -- ich wollte, ich wäre tot, Mary, da hätte die Sache ein für allemal ein Ende.« »Das sind jetzt rechte Leidenstage für uns, Eduard. So viel Großmut muß einem schier das Herz zermalmen -- und das geht immer Schlag auf Schlag.« -- Drei Tage vor der Abgeordnetenwahl wurde jedem der zweitausend Wähler als kostbares Erinnerungszeichen eine der wohlbekannten falschen Doppelkronen zugestellt. Auf der einen Seite der Münze las man am Rand die Inschrift: ›Die Worte, die ich zu dem armen Fremdling sagte, lauteten --‹ Auf der andern Seite stand: ›Geht hin und bessert Euch! Pinkerton.‹ So wurde alles, was noch von dem großen Possenspiel an Unrat übrig geblieben war, über ein einziges Haupt ausgegossen, und die Wirkung war verhängnisvoll. Das furchtbare Hohngelächter begann von neuem und richtete sich ausschließlich gegen Pinkerton, so daß bei Harkneß’ Wahl von einem Kampf überhaupt nicht mehr die Rede war. * * * * * Herr und Frau Reichard hatten inzwischen Zeit gehabt, ihr Gewissen über die Annahme der Wechsel zu beruhigen; sie machten sich keine Vorwürfe mehr wegen ihrer Sünde. Doch sollten sie noch inne werden, welche Schreckensgestalt eine böse That annehmen kann, sobald die Möglichkeit ihrer Entdeckung vorhanden scheint. Die Sünde selbst gewinnt dadurch eine völlig neue Bedeutung und Wichtigkeit. Am nächsten Sonntag war die Predigt in der Kirche ganz so wie immer. Dieselben alten Sachen wurden in hergebrachter Weise vorgetragen. Die Eheleute hatten das alles schon tausendmal gehört, ohne sich davon getroffen zu fühlen; es war oft ordentlich schwer gewesen, nicht dabei einzuschlafen, weil es ihnen so unerheblich und abgedroschen vorkam. Aber auf einmal war das ganz anders. Die Predigt schien voller Anschuldigungen und ganz besonders auf Leute gemünzt, die eine schwere Sünde vor der Welt verbergen möchten. Als der Gottesdienst zu Ende war, wich das Ehepaar so viel wie möglich der sie beglückwünschenden Menge aus; von unbestimmter Furcht und Bangigkeit erfüllt, kehrten sie in tiefster Niedergeschlagenheit heim. Unterwegs sahen sie zufällig von ferne Herrn Burgeß, der um die Straßenecke bog, ohne ihren Gruß zu erwidern. Er hatte sie nicht gesehen, aber da sie das nicht wußten, fragten sie sich besorgt, was es wohl bedeuten möchte. Sollte er erfahren haben, daß Reichard seine Unschuld damals hätte an den Tag bringen können? Vielleicht wartete er nur eine günstige Gelegenheit ab, um die Rechnung mit ihm ins reine zu bringen. -- Daheim fingen sie vor lauter Angst an, sich einzubilden, ihre Magd müsse sie im Nebenzimmer belauscht haben, als Reichard seiner Frau erzählte, er wisse, daß Burgeß unschuldig sei. Sie glaubten sich sogar zu erinnern, daß sie damals dort ein Rascheln gehört hätten; kein Zweifel, Sara war die Verräterin. Sie riefen die Magd ins Zimmer und stellten ihr so unzusammenhängende, wunderliche Fragen, daß Sara bald auf den Gedanken kam, der Verstand der alten Leute müsse bei dem plötzlichen Glückswechsel gelitten haben. Als sie nun unter ihren forschenden, mißtrauischen Blicken errötend ängstlich und befangen wurde, sah das Ehepaar dies für den deutlichen Beweis ihrer Schuld an. Sobald Sara das Zimmer verließ, redeten sie weiter über diese Entdeckung und quälten sich mit den gewagtesten Trugschlüssen und Vermutungen. Plötzlich stöhnte Reichard laut auf. »Was giebt es? -- Fehlt dir etwas?« »Burgeß’ Brief geht mir im Kopf herum. Jetzt erst verstehe ich seinen beißenden Spott. Man kann ja zwischen den Zeilen lesen, wie gut er weiß, daß ich seine Unschuld kannte. Und ich Narr nahm sein Lob für bare Münze. Du weißt doch, Mary --« »Daß er dir deine Abschrift nicht wiedergeschickt hat -- den Zettel mit der erlogenen Aeußerung. Ja, das ist entsetzlich.« »Er behält ihn, um uns damit zu Grunde zu richten. Einigen Leuten muß er ihn schon gezeigt haben; ich sah es ihnen nach der Kirche am Gesicht an. Nein, ich täusche mich nicht. Er hätte doch auch unsern Gruß erwidert, wenn er nichts Böses gegen uns im Schilde führte.« In der Nacht wurde der Arzt zu Reichard gerufen und am Morgen verbreitete sich das Gerücht, die alten Leute seien ernstlich erkrankt. Die gewaltige Aufregung über das Glück, welches ihnen so unerwartet in den Schoß gefallen war, das späte Aufbleiben und die vielen Gratulationsbesuche seien schuld daran, meinte der Doktor. Die Hadleyburger hörten es mit großer Betrübnis, denn dies Ehepaar war ja das einzige, worauf sie noch stolz sein konnten. Zwei Tage später lautete der Bericht noch schlimmer: Reichard lag im Fieber und benahm sich sehr sonderbar. Nach Aussage der Wärterinnen hatte er seine Wechsel sehen lassen, die aber nicht auf achttausendfünfhundert Dollars, sondern auf die Riesensumme von achtunddreißigtausend Dollars ausgestellt waren. Wie kamen die Leute zu einem so ungeheuern Vermögen? Tags darauf wußten die Wärterinnen noch wunderbarere Dinge zu erzählen. Sie hatten die Wechsel in Verwahrung nehmen wollen, damit sie nicht beschädigt würden, aber als man danach suchte, fand man sie unter dem Kissen des Kranken nicht mehr; sie waren und blieben verschwunden. »Was wollt ihr mit meinem Kissen?« hatte Reichard gefragt; »laßt mich in Ruhe!« »Wir möchten nur, daß die Wechsel --« »Die werdet ihr nie mehr erblicken, sie sind vernichtet. Es war Satanswerk; ich habe das Brandmal der Hölle darauf gesehen; ihr Zweck war, mich in Sünde und Schande zu stürzen.« Dann begann er schreckliche Reden zu führen über ganz unverständliche Dinge und der Doktor ermahnte die Umstehenden, nichts davon weiterzusagen. Doch mußte eine Wärterin wohl im Schlaf die Fieberphantasien des Kranken ausgeplaudert haben, denn bald darauf sprach man in der ganzen Stadt davon. Die Leute erzählten sich, Reichard hätte so gut wie die andern Anspruch auf den Sack erhoben, was durch Burgeß zuerst verheimlicht und dann aus Bosheit verraten worden sei. Als man Burgeß dies vorhielt, leugnete er standhaft und meinte, es sei ungerecht, den Worten, die ein kranker alter Mann im Fieberwahn geredet, irgend welche Bedeutung beizumessen. Allein der Argwohn war nun einmal wach geworden und jeder ließ seiner Zunge freien Lauf. Nach zwei Tagen lag auch Frau Reichard im Fieber, und was sie sprach, war nur eine Wiederholung von ihres Mannes Reden. Da zweifelte niemand mehr, daß es auch mit der Vortrefflichkeit des einen unbescholtenen Bürgers, den Hadleyburg noch unter seinen ersten Familien besessen hatte, nicht sonderlich beschaffen sein könne, und mit dem Stolz auf ihn war es ein für allemal vorbei. Wieder vergingen sechs Tage, da lag das alte Ehepaar im Sterben. Kurz vor seinem Tode kam Reichard noch einmal zu klarem Bewußtsein und ließ Burgeß rufen. Der Pastor bat die Anwesenden, das Zimmer zu verlassen, da der Kranke gewiß wünsche, mit ihm allein zu reden. »Nein,« sagte Reichard, »ich muß Zeugen haben. Ihr alle sollt mein Bekenntnis hören, denn ich will wie ein Mann sterben und nicht wie ein elender Heuchler. Ich war rechtschaffen, aber nur gewohnheitsmäßig -- wie alle übrigen Hadleyburger, und gleich meinen Mitbürgern bin ich der ersten wirklichen Versuchung unterlegen. Ich unterschrieb eine Lüge, um in den Besitz des erbärmlichen Sackes zu gelangen. Pastor Burgeß erinnerte sich, daß ich ihm einmal einen Dienst erwiesen hatte; aus Dankbarkeit behielt er meinen Brief zurück, um meine Ehre zu retten. Er wußte nicht, daß ich die Anklage, welche vor Jahren gegen ihn geschleudert wurde, durch mein Zeugnis hätte entkräften können. Aber ich war ein Feigling und gab ihn der Schande preis --« »Nein, nein, Herr Reichard, Sie haben -- --« »Meine Dienstmagd hat ihm dies Geheimnis verraten --« »Kein Mensch hat mir ein Sterbenswort gesagt --« -- »und darauf that er etwas, das vollständig natürlich und gerechtfertigt war. Seine Güte und Nachsicht gegen mich reute ihn und er offenbarte meine Schuld, wie ich es verdiente.« »Niemals -- das schwöre ich --« »Ich vergebe es ihm von ganzem Herzen.« Des Pastors Beteuerungen waren umsonst, er predigte tauben Ohren. Der Sterbende hauchte seinen letzten Seufzer aus, ohne noch zu erfahren, daß er dem armen Burgeß wiederum ein Unrecht zugefügt hatte. In der folgenden Nacht starb auch die alte Frau Reichard. So war denn der letzte der Neunzehner eine Beute des teuflischen Sackes geworden, und die Stadt hatte ihren alten Ruhm für ewige Zeit eingebüßt. Ihre Trauer darüber trug sie zwar nicht zur Schau, aber sie war tief und aufrichtig. Nach vielen Bitten und Eingaben erhielt Hadleyburg von der Regierung die Erlaubnis, einen andern Namen anzunehmen (einerlei welchen, ich will ihn nicht ausplaudern), und aus dem uralten Motto seines Stadtsiegels _ein_ Wort fortzulassen. Es ist jetzt wieder eine rechtschaffene Stadt, und wer sie noch einmal überrumpeln wollte, der müßte früh aufstehen. [Illustration: ~Altes Motto~ ~Führe uns nicht in Versuchung~ ~Neues Motto~ ~Führe uns in Versuchung~ ] Das Gesundbeten. I. Als ich vorigen Sommer nach meiner glücklichen Kur in der Appetitsanstalt[1] nach Wien zurückkehrte, machte ich einen Abstecher in die Berge. Dabei fiel ich im Dämmerlicht eine Felswand hinunter und brach mir einige Arme und Beine, sowie sonst noch dies und das. Zum guten Glück fanden mich einige Landleute, die einen verlorenen Esel suchten, und schafften mich in ihr Haus. [1] Siehe Mark Twain, Humor. Schriften, Neue Folge Bd. 5. Das nächste Dorf war etwa eine Viertelstunde entfernt; es wohnte dort ein Pferdedoktor, aber kein Chirurg. Dieser Umstand war nicht gerade trostverheißend für mich; denn ganz offenbar handelte es sich bei mir um einen chirurgischen Fall. Doch da fiel den guten Leuten ein, daß in jenem Dorf eine Bostoner Dame in der Sommerfrische weilte, und daß sie eine Doktorin der Christlichen Wissenschaft wäre und alles und jedes heilen könnte. Es wurde also nach ihr geschickt. Da inzwischen die Nacht angebrochen war, so konnte sie anständigerweise nicht gut mehr selber kommen; sie ließ mir aber Bescheid sagen: Das mache weiter nichts, die Sache hätte keine Eile; sie würde mir sofort ›Abwesenheitsbehandlung‹ verabfolgen und am anderen Morgen ihren Besuch machen; unterdessen möchte ich nur ruhig und guter Dinge sein und nicht vergessen, daß mit mir nichts weiter los wäre. Ich dachte, da müßte wohl irgend ein Mißverständnis vorliegen und fragte: »Sagten Sie ihr nicht, daß ich eine fünfundsiebzig Fuß hohe Felswand heruntergefallen bin?« »Ja.« »Und daß ich unten auf einen Granitblock aufstieß und einen Purzelbaum schlug?« »Ja.« »Und daß ich nochmals aufschlug und einen zweiten Purzelbaum machte?« »Ja.« »Und daß ich zum dritten Male aufschlug und den dritten Purzelbaum machte?« »Ja.« »Und daß die Granitblöcke in Stücke gingen?« »Ja.« »Na, dann kann ich mir’s erklären; sie denkt, es handele sich um die Steinblöcke. Warum haben Sie ihr nicht gesagt, daß ich ebenfalls zu Schaden gekommen bin?« »Das hab’ ich ja gesagt. Ich sagte ihr alles, was Sie mir aufgetragen hatten: daß Sie vom Haarschopf bis zu den Hacken bloß noch eine unzusammenhängende Reihenfolge von komplizierten Knochenbrüchen bildeten, und daß Sie infolge des Hervorragens der verschiedenen Knochenteile aussähen wie ein Kleiderriegel.« »Und nachdem sie dies gehört hatte, meinte sie, ich sollte nicht vergessen, daß mit mir nichts weiter los wäre?« »So sagte sie wörtlich.« »Das versteh’ ich nicht. Ich glaube, sie hat der Diagnose des Falls nicht die gebührende Aufmerksamkeit gewidmet. Sah sie aus wie eine Person, die sich in Theorien ergeht, oder wie eine, die selbst schon mal in einen Abgrund gestürzt ist und ihre abstrakte Wissenschaft auf die Basis persönlicher Erfahrungen gründet?« »Bitte?« Meine letzten Ausdrücke standen augenscheinlich nicht in des Stubenmädchens Wörterbuch; sie gingen über ihren Horizont. Ich ließ daher die Sache auf sich beruhen und bestellte etwas zu essen und zu rauchen, dazu heißes Getränk, einen Korb, um meine Beine hineinzulegen, und einen Menschen, der dazu befähigt wäre, mir zum Zeitvertreib fluchen zu helfen. Aber nichts von alledem war zu haben. »Warum nicht?« fragte ich. »Sie sagte, Sie hätten dies alles nicht nötig.« »Aber ich bin hungrig und durstig und habe scheußliche Schmerzen!« »Sie sagte, Sie würden sich das einbilden, aber Sie dürften darauf nicht achten. Ganz besonders ersucht sie Sie, Sie möchten daran denken, daß es so etwas wie Hunger und Durst und Schmerz gar nicht gibt.« »Ersucht sie mich? Das ist nett von ihr.« »Sie sagte so.« »Sieht sie aus, als ob sie im vollen Besitz eines normal funktionierenden Intellekts sei?« »Bitte?« »Läßt man sie frei herumlaufen, oder hat man sie angebunden?« »Angebunden?« »Na, gute Nacht; gehen Sie nur. Sie sind ein gutes Mädel, aber Ihr geistiges Geschirr ist nicht auf leichte und anregende Gespräche eingerichtet. Lassen Sie mich nur mit meinen ›Einbildungen‹ allein.« II. Natürlich gab es für mich eine qualvolle Nacht -- wenigstens hielt ich sie dafür, denn es waren alle Symptome vorhanden --, doch schließlich nahm auch sie ein Ende, und die Doktorin der Christlichen Wissenschaft kam, und ich war froh darüber. Sie stand in mittleren Jahren, war breit, knochig und hoch gewachsen, hatte ein strenges Gesicht, eine auf Entschlossenheit deutende Kinnlade und eine römische Adlernase, war eine Witwe in der dritten Potenz und hieß Fuller. Ich wünschte sehr dringend, daß sie sofort ans Werk ginge, damit ich Erleichterung fände, aber sie war von einer Umständlichkeit, die mich beinahe zur Verzweiflung brachte. Zunächst hatte sie Nadeln auszuziehen, Knöpfe aufzumachen und Schleifen zu lösen; nachdem sie dies -- immer hübsch eins nach dem anderen -- getan, nahm sie ihre Sachen ab, strich mit der Hand etliche Falten glatt und hängte die Artikel auf. Dann streifte sie die Handschuhe ab und verwahrte sie, zog ein Buch aus ihrer Handtasche, schob einen Stuhl neben mein Bett, ließ sich -- aber ohne jede Uebereilung -- auf diesen nieder, und ich -- ließ meine Zunge heraushängen. Darauf sagte sie mitleidig, ober ohne jede Aufregung: »Ziehen Sie sie in ihr Behältnis zurück. Wir haben’s mit der Seele zu tun und nicht mit deren unbelebten Werkzeugen.« Nach meinem Puls zu fühlen, konnte ich ihr nicht anbieten, da das Handgelenk gebrochen war; aber sie merkte, daß ich mich dieserhalb entschuldigen wollte, ehe ich auch nur Worte dafür gefunden hatte, und deutete mir durch eine abwinkende Kopfbewegung an, daß der Puls ebenfalls zu den unbelebten Werkzeugen gehörte, wofür sie keine Verwendung hätte. Ich dachte nun, es wäre am besten, wenn ich ihr sagte, wie mir zumute wäre, damit sie danach meinen Fall beurteilen könnte; aber das war wiederum ein Irrtum von mir: sie brauchte so etwas nicht zu wissen. Ja, meine Bemerkung darüber, wie ich mich fühlte, war sogar eine ganz falsche Ausdrucksweise. »Man fühlt nicht,« sagte sie verweisend; »Gefühl gibt’s überhaupt nicht; wenn Sie also etwas nicht Vorhandenes als vorhanden bezeichnen, so ist das ein Widerspruch. Materie existiert nicht; existieren tut nur die Seele; die Seele aber kann keinen Schmerz fühlen, sie kann ihn sich nur vorstellen.« »Aber wenn’s trotzdem weh tut, so ist das doch ...« »Es tut nicht weh. Etwas Unwirkliches kann nicht als Wirklichkeit sich äußern. Schmerz ist unwirklich; also _kann_ Schmerz nicht weh tun.« Sie machte eine Handbewegung, um zu veranschaulichen, wie sie den eingebildeten Schmerz aus dem Gebiet der Seele herausscheuchte; dabei ritzte sie sich die Hand an einer in ihrem Kleid versteckt sitzenden Stecknadel, sagte »Autsch!« und fuhr ruhig fort: »Sie sollten niemals davon sprechen, wie Sie sich fühlen, und sollten auch anderen nicht erlauben, eine derartige Frage an Sie zu richten; Sie sollten niemals zugeben, daß Sie krank sind und sollten auch andere Leute nicht in Ihrer Gegenwart von Krankheit oder Tod oder derartigen Nichtwirklichkeiten sprechen lassen. Solcherlei Gerede ermutigt nur die Seele, sich noch weiterhin ihren inhaltlosen Einbildungen hinzugeben.« Gerade in diesem Augenblick trat das Stubenmädchen der Katze auf den Schwanz, und das Tier schrie in wahnsinnigem Schmerz auf, wie es eben eine Katze tut, die nichts von höheren Dingen versteht. Ich fragte mit möglichst unschuldigem Gesicht: »Ist die Meinung, die eine Katze über Schmerzen hat, von irgend welchem Wert?« »Eine Katze hat keine Meinung; Meinungen kommen nur aus der Seele; die niederen Tiere, die in alle Ewigkeit der Vergänglichkeit geweiht sind, haben keine Seele erhalten; ohne Seele aber ist eine Meinung unmöglich.« »Das ist eigentümlich und interessant. Ich möchte wohl wissen, was eigentlich mit der Katze los war. Denn da es wirklichen Schmerz nicht gibt, und da die Katze nicht im stande ist, sich einen nur in der Einbildung vorhandenen Schmerz vorzustellen, so hat allem Anscheine nach Gott in seinem Erbarmen die Katze zum Ausgleich mit irgend einer geheimnisvollen Gemütsbewegung ausgerüstet, die sich in dem Augenblick bemerkbar macht, wo das Tier auf den Schwanz getreten wird. In dieser Gemütsbewegung stimmen dann Katze und Christenmensch gewissermaßen überein, indem ...« Aber sie fiel mir ärgerlich ins Wort. »Genug davon! Die Katze fühlt nichts, der Christenmensch fühlt nichts. Ihre eitlen und törichten Vorstellungen sind ruchlose Gotteslästerung, die Ihnen schlecht bekommen könnte. Es ist klüger und besser und frömmer, wenn Sie anerkennen und offen zugeben, daß Krankheit oder Schmerz oder Tod nicht existieren.« »Ich bin voll von eingebildeten qualvollen Schmerzen,« antwortete ich, »aber mir könnte nicht elender zumute sein, wenn es wirkliche Schmerzen wären. Was muß ich tun, um sie los zu werden?« »Es handelt sich nicht darum, sie loszuwerden; denn sie existieren ja gar nicht. Es sind nur Sinnestäuschungen, die durch die Materie weiter verbreitet werden, und Materie existiert nicht. Es gibt gar keine Materie.« »Das klingt ganz richtig und klar, trotzdem aber doch außerordentlich unbestimmt; es schlüpft einem durch die Finger, wenn man gerade eben denkt, man halte es gepackt.« »Wieso?« »Na, zum Beispiel: wenn Materie gar nicht existiert, wie kann Materie was weiterverbreiten?« In ihrem Mitleid lächelte sie beinahe. Sie würde sogar wirklich gelächelt haben, wenn es so was wie Lächeln überhaupt gäbe. »Es ist ganz einfach,« sagte sie; »die Grundlehren der Christlichen Wissenschaft beweisen es, und diese sind in den folgenden vier keines Beweises bedürftigen Lehrsätzen zusammengefaßt: 1. Gott ist alles in allem. 2. Gott ist gut. Gott ist Seele. 3. Gott, Geist ist alles, also nichts ist Materie. 4. Leben, Gott, allmächtiger Guter: unmöglich Tod, Uebel, Sünde, Krankheit. »Da -- da haben Sie’s!« Mir kam es etwas nebelhaft vor; es schien mir mit der von mir aufgeworfenen Schwierigkeit, nämlich wie nicht vorhandene Materie Wahnvorstellungen weiter verbreiten kann, nicht das allergeringste zu tun zu haben. Ich sagte daher etwas zögernd: »Be ... beweist das wirklich etwas?« »Na, etwa nicht? Es stimmt ja sogar, wenn’s rückwärts gelesen wird!« Mit neu aufkeimender Hoffnung bat ich sie darum. »Sehr gern: Krankheit Sünde Uebel Tod unmöglich Gott allmächtiger Guter Leben Materie ist nichts also alles ist Geist Gott Seele ist Gott Gut ist Gott alles in allem ist Gott. So -- verstehen Sie’s jetzt?« »Es ... es ... hm, es ist klarer als vorher; indessen ...« »Na?« »Könnten Sie es vielleicht noch auf andere Arten versuchen?« »Auf so viele Arten, wie Sie nur wünschen: die Bedeutung bleibt immer dieselbe. Sagen Sie die Worte kreuz oder quer wie Sie wünschen: es kann niemals eine andere Bedeutung ergeben. Weil es nämlich vollkommen ist! Machen Sie einen Kuddelmuddel daraus: ganz einerlei -- es kommt immer dasselbe heraus, wie es beim ersten Mal da war. Nur aus einem wunderbaren Geist konnten diese Lehrsätze hervorgehen. Als eine geistige Kraftleistung haben sie nicht ihresgleichen; sie sind gleichzeitig einfach, faßbar und unergründlich tief.« »Ja, ich fühle mich ganz brägenklüterig davon.« »Wie fühlen Sie sich?« »Ich meine -- die Leitsätze sind ein wunderbares Gewebe -- eine Zusammenstellung, sozusagen, von tiefem Gedanken -- von unausdenkbaren Gedanken -- von ...« »Das stimmt. Lesen Sie sie rückwärts oder vorwärts oder senkrecht oder in irgend einer Diagonale -- stets werden Sie finden, daß unsere vier Leitsätze in Behauptung und Beweis zusammenstimmen.« »Ah -- Beweis! Nun kommen wir dazu! Die Behauptungen stimmen; sie stimmen zu ... zu ... na, jedenfalls _stimmen_ sie; das habe ich gemerkt. Aber was beweisen sie denn nun eigentlich -- ich meine: im Besonderen?« »I, mein Gott, es kann ja nichts Klareres geben! Sie beweisen: »1. Gott -- Grundsatz, Leben, Wahrheit, Liebe, Seele, Geist, Vernunft. Begreifen Sie das?« »Ich -- hm, ja, es kommt mir so vor. Bitte, weiter!« »2. Mensch -- Gottes Weltidee, individuell, vollkommen, ewig. Ist das klar?« »Es -- ich glaube, ja. Fahren Sie fort.« »3. Idee -- eine geistige Vorstellung. Der unmittelbare Gegenstand des Erkennens. Da haben Sie’s -- das ganze erhabene Geheimnis Christlicher Wissenschaft in einer Nuß. Finden Sie irgendwo eine schwache Stelle daran?« »Hm -- nein; es sieht stark aus.« »Ganz recht. Aber noch weiter: diese drei Begriffe bilden die Wissenschaftliche Definition der unsterblichen Seele. Dann haben wir zunächst noch die Wissenschaftliche Definition der menschlichen Seele. Nämlich so: _Erster Grad_: Entartung: 1. Physisch: Leidenschaften und Begierden, Furcht, verkümmerter Wille, Stolz, Neid, Vorstellung, Haß, Rachsucht, Sünde, Krankheit, Tod.« »Phantasmen, meine Gnädige, Unwirklichkeiten, wenn ich Sie recht verstehe!« »Ja, alle ohne Ausnahme! _Zweiter Grad_: Das Uebel auf dem Abzuge. 1. Moralisch; Ehrenhaftigkeit, Zuneigung, Mitleid, Hoffnung, Glaube, Sanftmut, Enthaltsamkeit. Ist das klar?« »Wie Kristall!« »_Dritter Grad_: Geistige Erlösung. 1. Geistig: Glaube, Weisheit, Kraft, Reinheit, Erkenntnis, Gesundheit, Liebe. Sie sehen, wie fein ausgeklügelt, wie koordiniert, von einander abhängend, wie anthropomorph das alles ist. In diesem dritten Stadium -- das wissen wir durch die Offenbarungen der Christlichen Wissenschaft -- verschwindet die menschliche, nicht unsterbliche Seele.« »Nicht früher?« »Nein, nicht eher, als bis die Unterweisung und die Vorbereitung auf die dritte Stufe vollendet ist.« »Also erst auf dieser Stufe ist der Mensch im stande, sich die Christliche Wissenschaft in wirksamer Weise und mit richtigem Verständnis für die Seelenverwandtschaft zu eigen zu machen, wenn ich Sie recht verstehe. Das heißt also: während der im zweiten Stadium sich vollziehenden Vorgänge ließe sich ein solcher Erfolg nicht erreichen, weil da noch einige Reste von gemeiner Vernunft[2] vorhanden sein würden; und deshalb -- aber ich habe Sie unterbrochen. Sie wollten des näheren auf die guten Ergebnisse eingehen, die bei der scharfen Seelenbearbeitung des dritten Grades bemerkbar werden. Es ist sehr interessant; fahren Sie, bitte, fort!« [2] In der Uebersetzung läßt sich Mark Twains boshaftes Jonglieren mit den Phrasen der ›Christlichen Wissenschaft‹ nicht in allen Feinheiten wiedergeben. So hat z. B. das Wort ~mind~ die Bedeutungen: Gemüt, Sinn, Seele, Absicht, Wille, Geist, Verstand und noch viele andere. Der Uebersetzer hat es für richtig gehalten, in der Wiedergabe auf den Gleichklang der Worte zu verzichten und dafür, wo es nur irgend anging, die spöttische Absicht des Humoristen erkennbar werden zu lassen. »Ja, wie ich eben sagte, in diesem dritten Stadium verschwindet die menschliche, nicht unsterbliche Seele. Unsere Wissenschaft stellt das, was den körperlichen, menschlichen Sinnen für Augenschein gilt, vollständig auf den Kopf, und wir erkennen in unseren Herzen die Wahrheit des Bibelwortes: ›Die Letzten sollen die Ersten sein, und die Ersten sollen die Letzten sein.‹ Von nun an kann Gott und sein Begriff für uns allumfassend sein -- worin ja eben Göttlichkeit besteht und, ihrem Wesen nach, notwendigerweise bestehen muß.« »Prachtvoll! Mit welch erschöpfender Genauigkeit bekräftigen Ihre so sorgfältig gewählten Worte den unumstößlichen Beweis von der machtvollen Wirkung des dritten Grades! Der zweite Grad könnte wahrscheinlich nur eine zeitlich beschränkte Geistesabwesenheit hervorrufen, dem dritten ist es vorbehalten, sie zu einer dauernden zu machen. Ein Lehrsatz der in der Atmosphäre des zweiten Stadiums gemodelt wäre, könnte noch eine gewisse Bedeutung an sich haben -- ich meine, er könnte trügerischer Weise den Anschein erwecken, daß mit ihm ein bestimmter Begriff zu verbinden wäre -- und nur unter dem magischen Einfluß des dritten Grades kann dieser Mangel verschwinden. Es ist daher ohne Zweifel der dritte Grad, dem die Christliche Wissenschaft eine weitere, sehr bemerkenswerte Eigenschaft verdankt: nämlich leichtes Gleiten klingenden Wortschwalls und Rhythmus und Schwung und Glätte! Dies muß doch wohl auf einer ganz besonderen Ursache beruhen?« »Ja -- Gott-All, All-Gott, Guter Gott, Nichtmaterie, Materialisation, Geist, Knochen, Wahrheit.« »Das erklärt die Sache!« »Nichts gibt es in der Christlichen Wissenschaft, was unerklärlich wäre; denn Gott ist Eins, Zeit ist Eins, Individualität ist Eins; diese letztere aber kann Eins in einer Serie sein, Eins unter Vielen, wie zum Beispiel ein individueller Mensch, ein individuelles Pferd. Gott dagegen ist Eins -- nicht Eins in einer Serie, sondern Eins für sich allein und ohne seinesgleichen.« »Das sind edle Gedanken! Sie erwecken in einem den brennenden Wunsch, mehr zu erfahren. Wie erklärt die Christliche Wissenschaft die geistige Beziehung zwischen systematischer Dualität und accidentieller Deflektion?« »Die Christliche Wissenschaft kehrt die scheinbaren Beziehungen zwischen Seele und Körper völlig um -- sie macht den Körper der Seele tributpflichtig. In gleicher Weise hat die Astronomie die menschlichen Vorstellungen von der Bewegung des Sonnensystems umgekehrt. Die Erde bewegt sich, die Sonne dagegen steht still -- obwohl der Mensch, wenn er die Sonne aufgehen sieht, unwillkürlich denkt, es sei doch unmöglich, daß die Sonne sich nicht bewege. So ist auch der Leib nur der niedrige Diener der unbewegten Seele, obwohl es den beschränkten Sinnen anders erscheint. Aber dies werden wir niemals begreifen, so lange wir glauben, daß die Seele sich im Körper befinde, oder daß die Materie belebt sei und daß im Unbegreiflichen der Mensch Ereignis werde. Seele ist Gott, unveränderlich und ewig; und der Mensch existiert neben der Seele und bietet ein Spiegelbild von ihr: denn das Alles-in-Allem bedeutet das Allzusammen und das Allzusammen umfaßt das All-Eins, Seelengeist, Geistseele, Liebe, Geist, Knochen, Leber -- Eins von einer Serie, allein und ohnegleichen.« Es ist sehr eigentümlich, zu beobachten, wie bei der Christlichen Wissenschaft die Worte hervorschießen. Besonders im dritten Stadium; da prasselt’s, daß man an Cholera denken möchte. Aber diesen Gedanken behielt ich für mich. »Welchen Ursprung hat die Christliche Wissenschaft? Ist sie ein Geschenk Gottes, oder kam sie nur zufällig zum Vorschein?« »Gewissermaßen ist sie ein Geschenk Gottes. Das will sagen: ihre wirkungsvollen Eigenschaften stammen von ihm; der Ruhm dagegen, diese Eigenschaften und ihre Verwendbarkeit entdeckt zu haben -- dieser Ruhm gebührt einer Amerikanerin.« »Ah! Wann fand denn das Ereignis statt?« »Im Jahre 1866. Ja, das ist das ewig denkwürdige Jahr, in welchem Schmerz und Krankheit und Tod auf Nimmerwiederkehr von der Erde verschwanden. Das heißt: es verschwanden die Einbildungen, die man mit diesen Ausdrücken bezeichnet. Die Dinge selber hatten überhaupt niemals existiert; man brauchte daher nur zu bemerken, daß es solche Dinge nicht gäbe, um auch die Einbildungen schnell los zu werden. Die Geschichte und Natur der großen Entdeckung sind in diesem Buch hier niedergelegt und ...« »Schrieb die Dame das Buch?« »Ja, sie schrieb es von Anfang bis zu Ende, eigenhändig. Der Titel lautet: _Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift_ -- denn sie erklärt die Bibel, die zuvor kein Mensch begriffen hat. Nicht mal die zwölf Apostel. Sie beginnt folgendermaßen -- ich will’s Ihnen vorlesen.« Aber sie hatte ihre Brille vergessen. »Nun, das macht nichts,« sagte sie; »ich habe die Worte im Gedächtnis -- wie überhaupt alle in die Christliche Wissenschaft Eingeweihten das Buch auswendig können; das ist sogar für unsere Praxis unbedingt notwendig. Sonst könnten wir Versehen machen und Schaden anrichten. Sie beginnt also: ›Im Jahre 1866 entdeckte ich die Wissenschaft der metaphysischen Heilung und nannte sie Christliche Wissenschaft.‹ »Und sie sagt weiter -- meiner Meinung nach sind das herrliche Worte: ›Durch die Christliche Wissenschaft ist der Religion und der Medizin eine göttlichere Natur, ein lebendiger Geist eingehaucht; Glaube und Erkenntnis erhalten neue Schwingen, vereinigen sich verständnisvoll mit Gott.‹ Das sind ihre eigenen Worte.« »Sie sind elegant. Und auch der Gedanke ist schön -- Medizin mit Religion zu vermählen statt nach der alten Mode mit dem Totengräber. Denn Religion und Medizin gehören so recht eigentlich zusammen, sie bilden ja die Grundlage aller geistigen und körperlichen Gesundheit ... Was für Medizin geben Sie für die gewöhnlichen Krankheiten, wie zum Beispiel ...« »Wir geben überhaupt niemals und unter keinen Umständen Medizin. Wir ...« »Aber, meine Gnädige, es lautet doch ...« »Wie es lautet, ist mir völlig einerlei, und ich wünsche nicht darüber zu sprechen.« »Es tut mir leid, wenn ich Ihnen zu nahe getreten bin; aber es schien doch in dem Angeführten eine gewisse Inkonsequenz zu liegen, und ...« »Es gibt keine Inkonsequenzen in der Christlichen Wissenschaft. Das ist ganz ausgeschlossen, denn unsere Wissenschaft ist absolut. Anders kann es auch gar nicht sein, denn sie stammt unmittelbar von dem Alles-in-Allem und dem Allzusammen: Seele, Knochen, Glaube, Eins in einer Serie, allein und ohnegleichen. Unsere Wissenschaft ist Mathematik, die von materiellen Schlacken gereinigt und vergeistigt ist.« »Das sehe ich wohl, aber ...« »Sie beruht auf der unverrückbaren Grundlage eines apodiktischen Prinzips.« Dieses Wort wollte nicht in mein Gehirn hinein, und ich kam dadurch ein bißchen in Verwirrung; doch bevor ich mich nach der Bedeutung erkundigen konnte, verbreitete sie schon das nötige Licht über die Dunkelheit, indem sie fortfuhr: »Dieses apodiktische Prinzip ist das absolute Prinzip unserer Wissenschaftlichen Geistesheilkunst, die unumschränkte Omnipotenz, die uns Menschenkinder von Schmerz, Krankheit, Kräfteverfall befreit und überhaupt von jedem Uebel, das des Fleisches Erbteil ist.« »Aber doch gewiß nicht von jeder Krankheit, von jedem Kräfteverfall?« »Von allem und jedem! Ausnahmen gibt’s nicht; Kräfteverfall existiert nicht; dieser Begriff ist eine Unwirklichkeit.« »Aber wenn Sie Ihre Brille nicht bei sich haben, können Sie mit Ihrer geschwächten Sehkraft nicht ...« »Meine Sehkraft kann nicht geschwächt sein; keine einzige unserer Fähigkeiten kann schwächer werden; die Seele ist Meister, und die Seele kennt keinen Rückschritt!« Sie stand unter dem begeisternden Einfluß des dritten Stadiums; es konnte daher keinen Zweck haben, die Unterhaltung in dieser Richtung fortzusetzen. Ich verließ also dieses Gebiet und wandte mich mit meinen Fragen wieder der Entdeckerin der Christlichen Wissenschaft zu: »Kam die Entdeckung plötzlich, wie Klondike, oder war sie das Ergebnis einer langen sorgfältigen Berechnung, wie Amerika?« »Ihre Vergleiche sind nicht respektvoll, denn sie ziehen nichtige Dinge heran, aber darüber wollen wir hinweg sehen. Ich will Ihnen mit der Entdeckerin eigenen Worten antworten: ›Gott hat mich gnädiglich viele Jahre lang vorbereitet, die Offenbarung des absoluten Prinzips Wissenschaftlicher Geistesheilkunst zu empfangen.‹« »Viele Jahre lang. Wie viele?« »Achtzehnhundert.« »All-Gott, Gott-All, Wahrheit, Knochen, Leber, Eins in einer Serie, allein und ohnegleichen -- das ist erstaunlich!« »Ja, das mögen Sie wohl sagen, mein Herr. Aber es ist nichts als die reine Wahrheit. Diese amerikanische Dame, unsere verehrte und heilige Religionsgründerin, ist klar und deutlich bezeichnet und angekündigt im zwölften Kapitel der Offenbarung Johannis. Sankt Johannes hätte sie gar nicht deutlicher beschreiben können, selbst wenn er ihren Namen genannt hätte.« »Wie seltsam, wie wunderbar!« »Ich will aus dem ›Schlüssel zur Heiligen Schrift‹ ihre eigenen Worte anführen: ›Das zwölfte Kapitel der Offenbarung enthält eine ganz besondere Hindeutung auf unser neunzehntes Jahrhundert.‹ Beachten Sie ja diese wichtigen Worte!« »Ja ... aber ... was bedeuten sie?« »Hören Sie zu -- und Sie werden den Sinn verstehen! Ich zitiere abermals die ihr von Gott eingegebenen Worte: ›Bei der Eröffnung des sechsten Siegels‹ -- ein Sinnbild für das sechste Jahrtausend, das seit Adams Tagen verflossen -- findet sich eine ganz eigentümliche Einzelheit, die in besonderem Maße auf unser gegenwärtiges Zeitalter zu beziehen ist. Nämlich: »›Offenbarung XII, 1. Und es erschien ein groß Zeichen am Himmel, ein Weib mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen, und auf ihrem Haupt eine Krone mit zwölf Sternen.‹ »Das ist unser Oberhaupt, unsere Entdeckerin der Christlichen Wissenschaft -- nichts kann einfacher und gewissenhafter sein! Und bemerken Sie ferner: »›Offenbarung XII, 6. Und das Weib entfloh in die Wüste, da sie hatte einen Ort bereitet von Gott.‹ -- Das ist Boston.« »Ich erkenn’ es, gnädige Frau. Dies sind erhabene Dinge, die einen tiefen Eindruck machen. Ich habe diese Bibelstellen früher niemals richtig verstanden; bitte, fahren Sie fort mit den ... mit den ... Beweisen.« »Sehr gern. Hören Sie: »›Offenbarung X, 1, 2. Und ich sahe einen anderen starken Engel vom Himmel herab kommen, der war mit einer Wolke bekleidet, und ein Regenbogen auf seinem Haupte, und sein Antlitz wie die Sonne, und seine Füße wie die Feuerpfeiler. »›Und er hatte in seiner Hand _ein Büchlein_ aufgetan ...‹ »Ein Büchlein, ganz einfach ein Büchlein --, können Worte sich bescheidener ausdrücken? Und doch von welch überwältigender Bedeutung ist diese Stelle! Wissen Sie, was für ein Buch das war? Ich hab’ es hier in meiner Hand -- die ›Christliche Wissenschaft.‹« »Liebe, Lebern, Licht, Knochen, Wahrheit, Nieren, Eins von ’ner Serie, allein und ohnegleichen -- es ist ein Wunder, das alle menschliche Einbildungskraft übersteigt!« »Hören Sie unserer Gründerin beredte Worte: ›Dann wird eine Stimme aus der Himmelsharmonie rufen: -- Gehe hin und nimm das Büchlein; nimm’s und iß es; es wird deinen Magen bitter machen, in deinem Munde aber wird es sein wie Honig. -- Sterblicher, gehorche der himmlischen Botschaft. Nimm das Buch von der göttlichen Wissenschaft. Lies es von Anfang bis zum Ende. Studiere es mit heißem Bemühen! Ja, der erste Geschmack wird dir süß vorkommen, wenn du Heilung darin findest; aber murre nicht gegen die Wahrheit, wenn du die Verdauung bitter findest!‹ Sie kennen jetzt, mein Herr, diese Geschichte unserer geliebten und geheimen Wissenschaft; Sie wissen nun, daß nicht ihr Ursprung, sondern nur ihre Entdeckung von dieser Welt ist. Ich will Ihnen das Buch hier lassen und will jetzt gehen, aber machen Sie sich darum keine Sorgen -- ich werde Ihnen von jetzt bis zum Schlafengehen die Abwesenheitsbehandlung verabfolgen.« III. Unter dem machtvollen Einfluß der Nah- und der Fernbehandlung begannen meine Knochen sich allmählich wieder nach innen zu ziehen und von der Oberfläche zu verschwinden. Nachdem die Sache erst mal ordentlich in Schuß gekommen war, ging es sogar sehr schnell. Mein Körper reckte und streckte sich emsiglich, bald nach der einen, bald nach der anderen Seite, je nachdem, wie’s gerade der Heilungsprozeß erforderte, und alle paar Minuten hörte ich inwendig einen dumpfen Knax; dann wußte ich, daß wieder die zwei Enden einer Bruchstelle sich glücklich zusammengefunden hatten. Dieses gedämpfte Knaxen und Reiben und Schieben dauerte ununterbrochen die nächsten drei Stunden hindurch; dann hörte es auf -- alles hatte sich wieder zurechtgeschoben. Das heißt: die Verrenkungen blieben noch; indessen diese waren nur sieben an der Zahl, nämlich in je zwei Hüft-, Schulter- und Kniegelenken und außerdem noch im Genick. Diese kleinen Schäden waren also bald behoben; eins nach dem anderen glitten die Glieder in ihre richtige Lage hinein; das gab jedesmal einen Ton, wie wenn in der Ferne ein Pfropfen ausgezogen wird. Dann sprang ich auf; mein Knochengestell war wieder so gut wie neu, und ich ließ den Pferdedoktor holen. Hierzu war ich genötigt, weil ich Magendrücken und schweres Kopfweh hatte; ich wollte aber diese Sachen nicht länger in den Händen einer mir unbekannten Frauensperson lassen, zu deren Fähigkeiten in Bezug auf die Behandlung gewöhnlicher Krankheiten ich jedes Vertrauen verloren hatte. Und das mit Recht; denn sie hatte ja den Kopfschmerz und das Leibschneiden von Anfang an gleichzeitig mit den Knochenbrüchen in ihre Behandlung genommen, und es hatte sich nicht ein bißchen damit gebessert. Das Leibschneiden wurde sogar immer heftiger, wahrscheinlich, weil ich so lange Zeit gar nichts gegessen und getrunken hatte. Der Pferdedoktor kam; ein netter Mann, der seinen Beruf ernst nahm und ein hoffnungsvolles Interesse für meinen Fall bezeigte. Er roch sehr aromatisch, man merkte ihm den Umgang mit Pferden an, und ich versuchte daher, ihn zu einer Fernbehandlung zu bereden; indessen darauf war er nicht eingerichtet, und so bestand ich aus Zartgefühl nicht weiter darauf. Er besah sich meine Zähne und befühlte meine Knieflechsen und sagte, mein Alter und Allgemeinbefinden wären einer tatkräftigen Behandlung günstig; er wollte mir daher etwas eingeben, um aus dem Magendrücken eine Kolik und aus dem Kopfweh die Drehsucht zu machen; dann wäre er auf seinem heimischen Gebiet und wüßte, was er zu tun hätte. Er machte einen Eimer voll Kleienmengfutter zurecht und sagte, davon sollte ich alle zwei Stunden eine Schöpfkelle voll und abwechselnd damit ein gleiches Quantum von einer Pferdemedizin einnehmen, als deren Hauptbestandteile ich Terpentin und Wagenschmiere erkannte; er sagte, diese beiden Mittel zusammen würden mir binnen vierundzwanzig Stunden jedes Unwohlsein aus dem Körper treiben oder mich in anderer Weise dermaßen interessieren, daß ich darüber die augenblicklich vorhandenen Leiden vergessen würde. Die erste Dosis verabreichte er mir selber und empfahl sich dann, indem er noch sagte, ich könnte essen und trinken, was ich möchte, und so viel ich möchte. Aber ich war nicht im geringsten mehr hungrig, und machte mir nichts aus dem Essen. Ich nahm das Büchlein von der Christlichen Wissenschaft und las die erste Hälfte davon, dann nahm ich eine Kelle voll Medizin und las die andere Hälfte. Die Erfahrungen, die ich dabei machte, waren recht interessant und voll Abwechselung. Während es infolge der Verwandlung des Leibwehs zur Kolik und des Kopfwehs zur Drehsucht in meinem Inneren knurrte und rummelte, konnte ich den edlen Streit beobachten, den das Mengfutter und der Terpentintrank und die Literatur um die Oberherrschaft führten. Schließlich nahm der Kampf ein Ende, und es war ein schöner Sieg; aber ich glaube, der Erfolg hätte sich mit Aufgebot geringerer Mittel erreichen lassen. Ich bin überzeugt, daß das Kleiengemengsel nötig war, um aus dem Magendrücken eine richtige Kolik zu machen, aber zur Erzeugung der Drehsucht hätte wohl die Literatur allein genügt. Ich glaube ferner, daß eine auf diesem Wege zu stande gebrachte Drehsucht von besserer Qualität und dauerhafter wäre, als ein Pferdedoktor sie jemals mit seinen gekünstelten Prozessen erzielen könnte. Denn von allen seltsamen, verrückten, unbegreiflichen und jeder Erläuterung spottenden Büchern, die die menschliche Phantasie gezeitigt hat, ist dieses Buch ganz gewiß die Krone. Es ist mit einer grenzenlosen Selbstzuversicht geschrieben und mit einer stürmischen, ernsthaften Leidenschaft, die oft den Eindruck von Beredsamkeit macht, selbst wenn die Worte anscheinend gar keinen Sinn und Verstand haben. Es gibt viele Leute, die sich einbilden, sie verständen dieses Buch -- das weiß ich sehr wohl, denn ich habe mit solchen Leuten gesprochen; aber das waren ausnahmslos zugleich auch solche, die sich einbildeten, Schmerz, Krankheit und Tod gäbe es nicht, und Wirklichkeiten wären überhaupt nicht auf der Welt vorhanden. Dadurch scheint mir der Wert ihres Zeugnisses geschmälert zu werden. Wenn diese Herrschaften von der Christlichen Wissenschaft reden, so machen sie’s wie Frau Fuller, sie sprechen nicht ihre eigene Sprache, sondern die des Buches; sie sprudeln die prunkvollen Ungereimtheiten des Buches hervor, und überlassen es dem Hörer, selber herauszufinden, daß sie keine eigenen Gedanken äußerten, sondern nur fremde zitierten; sie scheinen den Band auswendig zu wissen und ihn zu verehren, als wär’s eine Bibel -- eine zweite Bibel, sollte ich vielleicht sagen. * * * * * Keinem Menschen -- mir jedenfalls nicht! -- ist es zweifelhaft, daß der Geist einen mächtigen Einfluß auf den Körper ausübt. So lange die Welt steht, haben der Zauberer, der Traumdeuter, der Wahrsager, der Charlatan, der Quacksalber, der Kurpfuscher, der wissenschaftlich gebildete Arzt, der Mesmerist und der Hypnotist sich des Klienten _Einbildung_ zu nutze gemacht. Sie alle haben die Bedeutung und Verwendbarkeit dieser Kraft erkannt. Aerzte heilen manchen Patienten mit einer Pille von Brotkrume; sie wissen, daß in Fällen, wo die Krankheit nur auf Einbildung beruht, des Patienten Vertrauen zum Doktor die Brotpille wirksam macht. _Glaube an den Arzt._ Vielleicht ist das das Ganze. Wenigstens sieht es so aus. In alten Zeiten heilte der König den Kropf[3] durch die Berührung mit seiner königlichen Hand. Er machte oft ganz erstaunliche Kuren. Hätte sein Lakai das fertig bringen können? Nein -- nicht in seinen eigenen Kleidern. Hätte er’s gekonnt, wenn er als König verkleidet gewesen wäre? Ich glaube, wir dürfen daran nicht zweifeln. Ich glaube, wir können als sicher annehmen, daß in allen diesen Fällen nicht des Königs Berührung die Heilung bewirkte, sondern des Kranken Glaube an die Wirksamkeit des königlichen Handauflegens. Sehr bemerkenswerte unanzweifelbare Heilungen sind durch Berühren mit den Reliquien von Heiligen erfolgt. Würde nicht höchstwahrscheinlich irgend ein anderer Knochen denselben Erfolg bewirkt haben, wenn dem Kranken die Unterschiebung unbekannt geblieben wäre? In meiner Knabenzeit stand eine Bauernfrau, die nicht weit von unserem Dorfe wohnte, in großem Ruf als ›Glaubensdoktorin‹ -- so nannte sie sich selber. Aus der ganzen Gegend kamen Leidende zu ihr, sie legte ihre Hand auf sie und sprach: »Glaubet -- weiter ist nichts nötig!« Und die Leute gingen von dannen und waren ihre Schmerzen los. Sie war nicht religiös und machte keinen Anspruch darauf, über geheime Kräfte zu verfügen. Sie sagte, nur des Patienten Glaube an sie bringe die Wirkung hervor. Mehrmals sah ich selbst, wie sie heftige Zahnschmerzen auf der Stelle kurierte. Die Leidende war meine eigene Mutter. Aehnliche Beispiele ließen sich aus fast allen Ländern der Welt anführen. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts sind in Amerika verschiedene Sekten aufgetaucht, die sich mit der Behandlung von Krankheiten befassen. Sie haben mit ihrem arzneilosen Heilverfahren beträchtliche Erfolge aufzuweisen. Ich nenne hier nur die Glaubenskur, die Gebetskur, die Christliche Wissenschaft. Offenbar vollbringen sie alle ihre Wunder mit Hilfe desselben alten erprobten Werkzeuges: der Einbildung ihrer Kranken. Ihre Namen sind verschieden, aber ihr Verfahren ist überall das gleiche. Nur wollen sie dies nicht zugeben; jede Sekte behauptet, daß ihr Vorgehen ein nur ihr allein eigentümliches sei. [3] Der Kropf heißt englisch ~the kings evil~. Sie alle haben gewisse Heilerfolge aufzuweisen -- darüber kann kein Zweifel obwalten. Und die Glaubenskur und die Gebetskur richten wahrscheinlich keinen Schaden an, selbst wenn sie nichts Gutes leisten sollten. Denn sie verbieten dem Patienten nicht, der Kur mit ärztlicher Behandlung zu Hilfe zu kommen, wenn er das Bedürfnis danach empfindet. Die anderen aber wollen von Medizinen nichts wissen und behaupten, jede erdenkliche menschliche Krankheit durch die bloße Anwendung ihrer geistigen Kräfte heilen zu können. Sie behaupten, sie könnten Krebs beseitigen, auch andere Leiden, die sich, seitdem Menschen auf der Erde sind, als unheilbar erwiesen haben. So etwas scheint mir nicht ganz gefahrlos zu sein. Die Leute versprechen wohl etwas zu viel. Das Publikum würde wahrscheinlich mehr Vertrauen haben, wenn weniger versprochen würde. Alle anderen Sekten bekennen, daß sie nicht Gottes Gleichen seien; nur die Christliche Wissenschaft erhebt öffentlich den Anspruch, Gleiches zu leisten wie die Gottheit; ja nach der verbesserten Bibel der Christlichen Wissenschaft halten die Herrschaften sich sogar für mehr. In der gewöhnlichen Bibel werden Schmerz, Krankheit und Tod als Tatsachen hingestellt; aber die von der Christlichen Wissenschaft wissen’s besser. Wissen’s besser und sagen’s ohne Zaudern frei heraus. Frau Fuller war nicht im stande, mein Magendrücken und mein Kopfweh zu kurieren; aber der Pferdedoktor that’s. Dies bringt mich zu der Ueberzeugung, daß die Christliche Wissenschaft zu viel verspricht. Meiner Meinung nach sollte sie sich mit inneren Krankheiten nicht abgeben, sondern sich auf Knochenbrüche und Wunden beschränken. Jedem das Seine. Der Pferdedoktor verlangte mir dreißig Kreuzer ab, ich gab ihm das Doppelte. Frau Fuller schickte mir eine spezifierte Rechnung über die Heilung von 234 Knochenbrüchen -- für jeden Bruch einen Dollar! »Nichts existiert als die Seele?« »Nichts!« antwortete sie. »Alles andere ist substanzlos, alles andere ist imaginär.« Ich gab ihr einen imaginären Check, und jetzt hat sie mich auf substantielle Dollars verklagt. Das scheint inkonsequent zu sein. IV. Nehmen wir einmal als feststehend an, daß wir alle teilweise geisteskrank sind. Dadurch werden wir uns gegenseitig besser verstehen, manches Rätsel wird sich lösen und gar vieles, was uns jetzt verworren und dunkel erscheint, wird sich als klar und einfach herausstellen. Auch die von uns, die sich nicht in einer Irrenanstalt befinden oder nicht in eine solche hineingehören, sind ohne Zweifel in einer oder zwei Einzelheiten verrückt -- ich glaube, dies müssen wir alle zugeben; aber ich glaube zugleich auch, daß wir dabei in allem übrigen geistig gesund sind. Wenn wir alle von einem Ding die gleiche Meinung haben, so steht es meines Erachtens unwiderleglich fest, daß, soweit dieses eine Ding in Betracht kommt, unser Verstand vollkommen gesund ist. Nun gibt es ja etliches, worüber wir alle einer Meinung sind; wir nehmen die Tatsachen als feststehend hin und streiten uns nicht darüber. So zum Beispiel lassen wir alle, die wir nicht in einer Anstalt sind, folgende Sätze gelten: Wasser bemüht sich stets, eine wagerechte Oberfläche anzunehmen Die Sonne gibt Licht und Wärme. Feuer verzehrt brennbare Stoffe. Nebel ist feucht. Sechs mal sechs ist sechsunddreißig. Zwei von zehn gibt acht. Acht und sieben gibt fünfzehn. Diese Sätze sind vielleicht die einzigen, worüber wir einig sind. Aber wenn es auch so wenig sind, so sind sie doch von unschätzbarem Wert, denn sie bieten einen untrüglichen Maßstab für geistige Gesundheit. Wer diese Sätze anerkennt, der ist für uns hinreichend zurechnungsfähig, er ist in allem Wesentlichen geistig gesund. Wer auch nur einen einzigen von diesen Sätzen bestreitet, von dem wissen wir, daß er völlig geisteskrank ist -- reif fürs Irrenhaus. Schön. Dem Menschen, der keinen von diesen Sätzen bestreitet, erkennen wir das Recht zu, frei umhergehen zu dürfen -- aber mehr können wir ihm auch nicht einräumen. Denn wir wissen, daß in allen Dingen, wo es sich um eine bloße Meinung handelt, der Mann geisteskrank ist -- gerade so geisteskrank wie wir selbst, gerade so geisteskrank wie Shakespeare war, wie’s der Papst ist. Und wir können genau, sozusagen mit dem Finger, die Stelle seiner Geisteskrankheit bezeichnen: geisteskrank ist er in allem, worin seine Meinung von der unsrigen abweicht. Das ist eine einfache Regel, die sich sehr leicht behalten läßt. Wenn ich, als denkender und vorurteilsfreier Presbyterianer, den Koran prüfe, so weiß ich, daß ohne jede Frage jeder Mohammedaner geisteskrank ist. Wenn ein denkender und vorurteilsfreier Mohammedaner den Westminsterschen Katechismus prüft, so weiß er, daß ohne jede Frage Mark Twain geisteskrank ist. Ich kann ihm nicht beweisen, daß er geisteskrank ist, denn einem Wahnsinnigen kann man überhaupt niemals etwas beweisen, -- das gehört eben zu seiner Geisteskrankheit und beweist auf das schlagendste das Vorhandensein derselben. Er kann auch mir nicht beweisen, daß ich geisteskrank bin, denn mein Verstand leidet an denselben Mängeln wie der seinige. In Amerika sind alle Demokraten verrückt, aber keiner von ihnen merkt es; nur die Republikaner und die Mugwumps wissen’s. Alle Republikaner sind verrückt, aber nur die Demokraten und Mugwumps sind im stande, es zu bemerken. Die Regel trifft immer zu: _in allen Ansichtssachen sind unsere Gegner verrückt_. Wenn ich um mich blicke, so erfüllt es mich oft mit großem Bedauern, so viele Geisteskranke sehen zu müssen! Diese Erkenntnis sollte uns nun veranlassen, duldsam gegen die Verrücktheiten unseres Nächsten zu sein. Ich sehe, daß in seinem besonderen Glauben der Anhänger der Christlichen Wissenschaft geisteskrank ist, denn er glaubt ja nicht dasselbe wie ich; trotzdem aber begrüße ich ihn als Bruder und Genossen, weil ich ebenso verrückt bin, wie er -- verrückt von _seinem_ Standpunkt aus, und sein Standpunkt hat ebensoviel Berechtigung wie der meinige und ist ebensoviel wert. Nämlich einen roten Heller. In Fragen der Religion oder Politik ist die Meinung des blödesten Schwachkopfes soviel wert wie die des erleuchtetsten Geistes -- einen roten Heller. Warum? Sehr einfach: Die positive Meinung eines Schwachkopfes wird aufgehoben durch die negative Meinung eines anderen Schwachkopfes, seines Nachbarn -- es kommt also zu keinem Ergebnis. Die positive Meinung des Geistesriesen Gladstone wird aufgehoben durch die negative Meinung des Geistesriesen Kardinal Newman -- es kommt also ebenfalls zu keinem Ergebnis. Meinungen, die nichts beweisen, sind natürlich wertlos. Wir müssen daher die freilich wenig schmackhafte Wahrheit zugeben, daß in Streitfragen über Politik und Religion die Meinung eines Menschen nicht mehr wert ist als die seinesgleichen; und daraus folgt, daß keines Menschen Meinung irgend welchen tatsächlichen Wert besitzt. Der Gedanke ist demütigend, aber man kommt nicht darum herum: es ist eine ganz einfache Tatsache -- so klar und einfach, wie 7 + 8 = 15. Nachdem ich dies vorausgesetzt habe, darf ich wohl, ohne jemanden damit zu beleidigen, wiederholen, daß die Anhänger der Christlichen Wissenschaft verrückt sind. Darin soll keine Unhöflichkeit liegen; ich bilde mir nicht ein und werfe ihnen noch viel weniger vor, daß sie verrückter seien als die anderen Menschen. Aber ich glaube, ihre Verrücktheit ist grotesker als viele andere gangbare Verrücktheiten. Zugleich aber bin ich fest überzeugt, daß sie in einer sehr wichtigen und sehr wertvollen Einzelheit vernünftiger sind als die große Mehrzahl ihrer Mitmenschen. Warum sind sie verrückt? Ich sagte es bereits: weil ihre Meinungen nicht die unsrigen sind. Einen anderen Grund kenne ich nicht -- und ich brauche auch keinen. Ihre Verrücktheit ist nur dadurch interessanter als deine oder meine, weil sie so grotesk ist. Da ist zum Beispiel das ›Büchlein‹, wovon ich vorhin sprach. -- Dieses ›Büchlein‹, das vor achtzehn Jahrhunderten der flammende Engel der Offenbarung hoch oben am Himmel zeigte, und das jetzt in unseren Tagen der Frau Mary Baker G. Eddy aus Newhampshire eingehändigt und von ihr Wort für Wort -- mit etlicher Nachhilfe -- ins Englische übertragen wurde. Sie hat’s veröffentlicht und in Hunderten von Auflagen abgesetzt, und sie hat an jedem Exemplar einen Reingewinn von 700 Prozent! Dieser Profit gehört offenbar eigentlich dem apokalyptischen Engel -- mag er nur versuchen, ihn einzukassieren. Das Büchlein wird von den Anhängern der Christlichen Wissenschaft sehr häufig einfach als ›das Büchlein‹ bezeichnet -- die Gänsefüßchen dürfen ja nicht vergessen werden -- um sich stets frohlockend seinen erhabenen Ursprung zu vergegenwärtigen. Das ›Büchlein‹ führt das Bibelgebäude ganz neu wieder auf und malt und schmückt es frisch aus und setzt ein neues Dach oben drauf mit Mansarden und Blitzableitern und allen ›Bequemlichkeiten der Neuzeit‹. Das Büchlein zieht jetzt anscheinend an einer Deichsel und Seite an Seite mit der Bibel, aber in einem halben Jahrhundert wird’s mit ihr Tandem fahren, und zwar wird dann das Büchlein _vorn_ ziehen. Vielleicht verlege ich diese Tandemfahrt in eine zu ferne Zukunft. Vielleicht stimmt es besser, wenn ich statt fünfzig Jahre deren fünf annehme, denn eine Wiener Dame erzählte mir neulich abends von einigen Beobachtungen, die sie in der Bostoner Moschee der Christlichen Wissenschaft gemacht habe, und wonach es allerdings den Anschein hat, als ob wir kein halbes Jahrhundert mehr auf das vorhin in Aussicht gestellte Schauspiel zu warten brauchen. An der einen Wand bemerkte sie eine Anzahl Sprüche aus dem Neuen Testament; diese waren unterzeichnet mit des Heilands Initialen: ~J. C.~ An der gegenüberstehenden Wand waren Sprüche aus dem ›Büchlein‹. Diese waren ebenfalls unterzeichnet -- wohl ebenfalls mit den Initialen der Verfasserin? fragt man mich. O nein -- mit dem voll ausgeschriebenen Namen Mary Baker G. Eddy. Vielleicht hat der Engel der Offenbarung seine Freude an solcher Freibeuterei. Ich sprach darüber ganz leichthin mit einem Bekenner der Christlichen Wissenschaft, aber er nahm meine Bemerkung gar nicht leichthin auf, sondern sagte, ich triebe meinen Spott mit heiligen Dingen. Er sagte, von Freibeuterei wäre nicht die Rede, denn der Engel hätte das Buch nicht verfaßt, sondern es nur auf die Erde gebracht -- »Gott verfaßte es«. Ich hätte darauf erwidern können, daß es trotzdem Freibeuterei bliebe; die betreffenden Sprüche müßten mit des Verfassers Initialen unterzeichnet sein, und wenn statt dessen der voll ausgeschriebene Namenszug der Uebersetzerin darunter stände, so hieße gerade dies ›seinen Spott mit heiligen Dingen treiben‹. Das hätte ich erwidern können -- aber ich tat es nicht; denn jener Bekenner der Christlichen Wissenschaft ist ein großer und breitschulteriger Mann, und ich wußte, daß er mir einen imaginären Faustschlag versetzen könnte, an dessen imaginären Schmerzen ich eine volle Woche genug haben würde. Die Dame erzählte mir ferner, in der Moschee seien zwei Kanzeln; auf der einen stehe ein Mann mit der alten Bibel, auf der anderen eine Frau mit Frau Eddys apokalyptischem Anhang, und aus diesen Büchern werde von dem Mann und von der Frau abwechselnd Vers um Vers vorgelesen. Ist das grotesk? Die Wiener Dame erzählte mir noch, in einer Seitenkapelle der Moschee sei ein Porträt oder ein Standbild der Frau Eddy, und es brenne davor eine ewige Lampe. Ist das grotesk? Wie lange wird es wohl dauern, bis die von der Christlichen Wissenschaft vor diesem Bilde anbetend knieen werden? Wie lange wird es wohl dauern, bis sie verkünden daß Frau Eddy ein Heiland wie Christus und Christi Gleichen sei? Schon spricht die Heerschar ihrer Jünger ehrfurchtsvoll von ihr als ›Unserer Mutter‹. Wie lange wird’s dauern bis sie sie auf die Stufen des Thrones stellen -- neben die Jungfrau, und bald eine Stufe höher. Zuerst heißt es: die Jungfrau Maria und die Mutter Maria; nachher wird mit dem Vortritt gewechselt und es heißt: die Mutter Maria und die Jungfrau Maria. Aus Mary Baker G. Eddy wird Maria -- was kann es einfacheres geben? Mögen nur die Künstler Leinwand und Pinsel bereit halten: die neue Renaissance ist im Anzug, und mit Altarbildern wird viel Geld zu verdienen sein -- tausendmal so viel als die Päpste und ihre Kirche je den klassischen Meistern zufließen ließen --, denn deren Reichtümer waren armselig im Vergleich mit den Schätzen, die so ganz allmählich in die Geldschränke der Eddyschen Päpsterei zusammenströmen. Darüber wollen wir uns keinen Täuschungen hingeben. Der ›Boom‹ der Christlichen Wissenschaft ist noch keine fünf Jahre alt; und doch hat sie in Amerika bereits 500 Kirchen und eine Million Mitglieder ... Nun, das ist ein Anfang -- und zwar ein phänomenaler! Dabei schwillt in der letzten Zeit die Bewegung lawinenartig an. Und sie hat bessere Aussichten nicht nur auf Ausbreitung, sondern auch auf Dauer, als irgend ein anderer ›Ismus‹ -- denn sie hat ›_mehr zu bieten_‹. Die Geschichte lehrt uns, daß eine derartige Bewegung, wenn sie Erfolg haben soll, keine bloße philosophische, sondern daß sie eine religiöse sein muß; daß sie ferner keinen Anspruch auf vollkommene Originalität machen, sondern sich damit begnügen muß, nur als Verbesserung einer _bereits vorhandenen_ Religion gelten zu wollen; nachher, wenn sie stark und blühend ist, kann sie selbständig auftreten. Beispiel: Der Mohammedanismus. Ferner muß Geld da sein -- und zwar viel Geld. Ferner muß Macht und Autorität und Kapital ausschließlich in den Händen einer kleinen und unverantwortlichen Klique vereinigt sein, und kein Draußenstehender darf an den Maßnahmen herumnörgeln oder unbequeme Fragen stellen. Endlich muß die Angel -- wie bereits vorher erwähnt -- mit einem neuen und leckeren Köder versehen sein, wie ihn andere Religionen nicht bieten können. Verfügt eine neue Bewegung über eins oder mehrere von diesen Erfordernissen -- wie zum Beispiel der Spiritismus -- so kann sie auf einen bedeutenden Erfolg rechnen; erfüllt sie die wesentlichen Vorbedingungen -- wie zum Beispiel der Mohammedanismus -- so ist sie sicher, ihren Eroberungszug über weite Länder ausdehnen zu können. Der Mormonismus verfügte über alle Erfordernisse außer einem: sein Köder bot nichts Neues und nichts Wertvolles; außerdem wandte er sich nur an die Dummen und Unwissenden. Dem Spiritismus fehlte die sehr wichtige Vereinigung von Geld und Autorität in den Händen einer unverantwortlichen Klique. Eine Vereinigung der oben genannten Erfordernisse ist etwas Ausgezeichnetes, Bewundernswertes, Gewaltiges; aber es ist noch nicht die Vollkommenheit. Es fehlt noch eins, das ebensoviel und mehr wert ist als andere zusammengenommen: _eine neue Persönlichkeit zum Anbeten_. Das Christentum hatte den Heiland, aber im Anfang und noch auf Generationen hinaus fehlte ihm Geld und konzentrierte Macht. In Frau Eddy besitzt die Christliche Wissenschaft die neue Persönlichkeit zum Anbeten; außerdem aber hat sie -- schon jetzt in den ersten Anfängen -- einen tadellos wirkenden Apparat zur Ausbreitung ihrer Lehre. Die mohammedanische Religion hatte anfangs kein Geld; und sie hat ihren Anhängern niemals anderes zu bieten gehabt als den Himmel -- hienieden gewährt sie nichts von Wert. Die Christliche Wissenschaft verheißt ebenfalls den Himmel nach dem Tode, außerdem aber bietet sie -- gegen Barzahlung -- hier auf Erden _Gesundheit und fröhliches Gemüt_, und im Vergleich mit diesem Köder sind alle anderen Köder unserer Erdenwelt armselig und jämmerlich. Reich und arm, hoch und niedrig, der Gebildete und der Unwissende, der Kluge und der Dumme, der Bescheidene und der Eitle, der Weise und der Narr, der Krieger und der Bürger, der Held und der Feigling, der Faulenzer und der Arbeiter, der Fromme und der Gottlose, der Freie und der Knecht, der Erwachsene und das Kind, der Kranke und der Gesunde, der kranke Freunde hat -- sie alle folgen dem Ruf. Mit einem Wort: ihre Gefolgschaft ist die Menschheit. Wird die Christliche Wissenschaft sich ausbreiten? Ich fürchte, ja! V. Man vergesse ja nicht -- das große Hauptversprechen der Christlichen Wissenschaft lautet: Befreiung des Menschengeschlechts von Schmerz und Krankheit. Kann sie das? In weitem Umfange: ja! Wie viele von den Schmerzen und Krankheiten, die es auf der Welt gibt, werden durch die Einbildung der Leidenden hervorgerufen und bestehen durch dieselbe Einbildung weiter! Vier Fünftel? Ich glaube, viel wird nicht daran fehlen. Kann die Christliche Wissenschaft diese vier Fünftel verschwinden machen? Ich glaube, ja. Kann irgend eine andere (organisierte) Kraft dies? Mir ist keine bekannt. Würde unsere Welt nicht eine ganz neue Welt und eine viel fröhlichere sein -- nicht nur für uns Gesunde, sondern auch für die Siechen und ächzenden Jammergestalten? Würde es uns nicht vorkommen, als hätte die Sonne niemals so hell geschienen? Ich glaube, ja! Dabei würden aber wohl die Doktoren der Christlichen Wissenschaft eine tüchtige Menge Patienten ins Grab bringen? Ich glaube, ja. Mehr Patienten, als bei den jetzigen wissenschaftlich anerkannten Methoden dran glauben müssen? Dieser Frage werde ich mich sogleich zuwenden. Zuvörderst aber möchte ich mich mit einigen Leistungen der Christlichen Wissenschaft beschäftigen, die in ihrer Zeitschrift ›~The Christian Science Journal~‹ vom Oktober 1898 mitgeteilt werden. Zunächst gibt uns ein baptistischer Geistlicher folgende getreue Schilderung ›eines rechtgläubigen Durchschnittsmenschen‹ -- und er hätte hinzufügen können, es sei eine getreue Schilderung eines (zivilisierten) Durchschnittsmenschen. »Er ist ein nervöser, aufgeregter, ängstlicher Mann; er hat Angst vor sich selber und seinen sündhaften Lüsten, er hat Angst vor Erkältung und Fieber, er hat Angst, er könnte auf eine Schlange treten oder irgend was Giftiges hinunterschlucken.« Dann kommt das Gegenstück dazu: »Der Anhänger der Christlichen Wissenschaft hat alle Angst und Aufregung unter die Füße getreten. Er steht da als Sieger über Furcht und Sorge -- und das kann man von dem Durchschnittschristen nicht sagen!« _Er hat alle Angst und Aufregung unter die Füße getreten._ Welchen Teil unseres Verdienstes oder Einkommens würden wir wohl mit Freuden hergeben, wenn wir _jahraus, jahrein_ in solcher Gemütsverfassung lebten? Es wäre in der Tat kein Preis zu hoch dafür! Wo kann sie sich ein Mensch, und wäre er der reichste, kaufen? In welchem Laden oder in welcher Kirche? Nur bei der Christlichen Wissenschaft. Nun ist es aber gerade die fortwährende Angst vor Erkältung und Fieber und Zugluft und schwer verdaulichen Speisen, die uns den Magen verderben könnten -- gerade diese Angst, sage ich, ist es, die uns den Schnupfen und das Fieber und das Magendrücken und die meisten anderen Krankheiten in den Körper bringt. Und wenn die Christliche Wissenschaft diese Angst beseitigen kann, so glaube ich, sie kann damit vier Fünftel aller Krankheiten und Schmerzen aus der Welt bringen. In der erwähnten Oktobernummer der Zeitschrift treten viele ›Erlöste‹ als Zeugen auf und bedanken sich; und zwar nicht etwa kühl und obenhin, sondern in leidenschaftlicher Dankbarkeit. Fast alle erscheinen wie trunken von der neu erlangten Gesundheit, von der Ueberraschung und Verwunderung, wie geblendet von dem unbeschreiblichen Glorienschein, der das Wunderbare umgibt, und der ihnen um so heller erscheint, nachdem sie eine so lange, trostlose Zeit hindurch nichts anderes getan haben, als sich eingebildete Krankheiten auszudenken und sich mit Arzneikram vollzustopfen. Der erste Zeuge erklärt, als ›diese wunderschöne Wahrheit ihm zuerst dämmerte‹, da hätte er ›beinahe alle Krankheiten gehabt, die des Fleisches Erbteil sind‹. Und die er nicht gehabt, die hätte er sich dazu gedacht. Was war die natürliche Folge gewesen? Natürlich wäre er ›eine Milchkuh für Doktoren und Apotheker gewesen und eine Abladestelle für alle Geheimmittel der ganzen Welt.‹ Die Christliche Wissenschaft kam ihm zu Hilfe, und alle die alten Krankheitszustände verschwanden. Und so war er jetzt gesund und fröhlich und -- erstaunt. Aber ich bin nicht erstaunt. Denn ich weiß ganz genau, wie’s dabei hergegangen ist. Ich vermute, daß seine ganze Methode darin bestand, fortwährend zu sagen: »Ich bin wohl! Ich bin gesund! Gesund und wohl! Wohl und gesund! Vollkommen gesund, vollkommen wohl! Ich habe keine Schmerzen; Schmerzen gibt’s überhaupt nicht. Ich habe keine Krankheit; Krankheiten gibt’s überhaupt nicht. Nichts ist wirklich als die Seele; alles ist Geist, All-Gott, Gott-Gott, Leben, Seele, Leber, Knochen u. s. w. u. s. w.« Ich will nicht behaupten, daß dies genau die Formel war, die der Mann brauchte; aber zweifelsohne war es der Geist seiner Worte. Der Mann selber legte jedenfalls Wert auf die _genaue_ Formel und auf die religiöse Bedeutung, die er mit ihrer Anwendung verband. Ich glaube, _jede_ beliebige Formel hätte den meisten, wenn auch nicht allen, die gleichen Dienste getan. Für einen religiösen Mann aber war gewiß die Hinzufügung des religiösen Elements zu der Formel eine sehr bedeutsame Verstärkung ihrer Heilkraft. Ein anderer Zeuge ist ein alter Kampfgenosse aus dem Sezessionskriege. Als die Christliche Wissenschaft ihn auffand, hatte er folgende Gebresten auf Lager: Verdauungsbeschwerden; Rheumatismus; Katarrh; kalkige Ablagerungen in den Schultergelenken, Ellbogengelenken, Handgelenken; Muskelschwund in Armen, Schultern; Steifheit aller dieser Gelenke; Schlaflosigkeit; fast unaufhörliche, fürchterliche Schmerzen. Diese Gebresten sehen nicht nach Einbildung aus. Sie stammten von den Kriegsstrapazen. Die Aerzte taten alles, was sie konnten -- aber das war nicht viel. Man versuchte es mit Gebeten -- ›aber davon verspürte ich niemals auch nur die geringste Erleichterung.‹ Nach dreißigjähriger Marter wandte er sich an einen Doktor der Christlichen Wissenschaft, ließ sich eine Stunde lang behandeln _und ging ohne Schmerzen heim_. Zwei Tage darauf begann er zu essen ›wie ein Gesunder.‹ Dann ›verschwanden die Gebresten -- einige sofort, andere nach und nach‹; schließlich ›sind sie beinahe gänzlich fort‹. Und jetzt -- das ist nämlich das Allerwertvollste dabei -- ist er ›zufrieden und glücklich‹. Diese letztere Wirkung ist, wie bereits bemerkt, die besondere Spezialität der Christlichen Wissenschaft. Die Methodistische Kirche hatte sich einunddreißig Jahre lang bemüht und hatte dieses Glück und diese Zufriedenheit dem geplagten Krieger nicht verschaffen können. Und so geht die Litanei weiter: Zeugen auf Zeugen beschreiben ihre Leiden, erklären, daß sie sofort geheilt seien, und singen Frau Eddys Entdeckung Lob und Preis. Die schwersten Krankheiten verschwinden im Handumdrehen: Nervenschwäche wird geheilt, Schwindsucht wird geheilt, Veitstanz -- ein Kinderspiel. Ab und zu finden wir in diesen Blättern eine interessante Bereicherung unserer Ausdrucksweise. Da haben wir zum Beispiel ›Demonstrationen über Frostbeulen‹ und dergleichen. Dies soll, wie es scheint, ein abgekürzter Ausdruck sein für ›Demonstrationen der Macht, welche die Wahrheit der Christlichen Wissenschaft über jene Phantasiegebilde ausübt, die sich unter dem Namen »Frostbeulen« maskieren.‹ Die Kinder nehmen ebensogut wie Erwachsene an den Segnungen der Wissenschaft teil. »Durch das Studium des ›Büchleins‹ lernen sie gesund, artig und vernünftig sein.« Manchmal werden sie von ihren kleinen Leiden durch berufsmäßige Vertreter dieser christlichen Heilkunst befreit; ältere Kinder aber sagen manchmal einfach die Formel auf und kurieren sich selber. Aus dem fernen Westen schreibt ein kleines, neunjähriges Mädchen -- das man seiner Ausdrucksweise nach für eine Erwachsene halten möchte -- gibt sein Alter an und fährt fort: ›Ich dachte, ich wollte Ihnen eine Demonstration schreiben‹. Sie war von einem Pony abgeworfen, über dessen Kopf geflogen und auf einen Felsen aufgeschlagen. Sie rettete sich vor dem Unheil, indem sie, in den Lüften schwebend, daran dachte schnell zu sagen: ›Gott ist All‹. Ich hätte das nicht gekonnt. Ich würde nicht mal daran gedacht haben. Ich wäre zu aufgeregt dazu gewesen. Nur die Christliche Wissenschaft konnte das Kind in stand setzen, unter solchen Umständen so ruhig und vernünftig zu handeln. Sie schlug mit ihrem Kopf gegen den Felsen an und hätte sich, nach menschlichem Ermessen, unbedingt den Schädel zerschmettern müssen; aber durch die ›Formel‹ wurde das verhindert, und sie kam -- buchstäblich -- mit einem blauen Auge davon. Am Montag-Morgen war es immer noch geschwollen und ließ sich nicht öffnen. In der Schule ›tat es recht häßlich weh --‹ das heißt es _schien_ so. Daher ›wurde ich als krank entschuldigt und ging in den Keller hinunter und sagte: »Bis jetzt vertraue ich auf Mama anstatt auf Gott, und ich _will_ auf Gott Vertrauen anstatt auf Mama.«‹ Ohne Zweifel hätte dies Glaubensbekenntnis bereits völlig genügt; zur Sicherheit aber spannte sie auch noch Frau Eddy vor und sagte die ›Wissenschaftliche Darstellung des Seins‹ her -- das ist wohl, wie ich vermute, eine ihrer vornehmsten Hymnen. Dann ›fühlte ich, wie mein Auge aufging.‹ Natürlich, eine Auster wäre ja aufgegangen! Ich glaube, es gibt kaum ein rührenderes Kinderbildchen: die kleine fromme Ratte da unten im Keller, wie sie die ›Wissenschaftliche Darstellung des Seins‹ herunterschnurrt! In der Zeitschrift kommt auch noch ein anderes gutes Kind vor: Klein Gordon. Klein Gordon ›kam auf die Welt ohne Hinzuziehung eines Arztes und ohne Anwendung eines Schmerzbetäubungsmittels.‹ Er war ›eine Demonstration.‹ Und zwar eine schmerzlose; daher erweckte seine Ankunft: Freude und Dankbarkeit gegen Gott und die Entdeckerin der Christlichen Wissenschaft. Diese Zusammenstellung der beiden hohen Wesen ist überhaupt ein charakteristischer, immer wiederkehrender Zug; auch von den ›Beiden Bibeln‹ ist fortwährend die Rede. »Als Klein Gordon zwei Jahre alt war, spielte er Pferdchen auf dem Bett, wo ich mein ›Büchlein‹ hatte liegen lassen. Ich bemerkte, wie er plötzlich sein Spiel unterbrach, das Buch behutsam in seine Händchen nahm, es zärtlich küßte und es dann auf den höchsten sicheren Platz legte, den seine Aermchen erreichen konnten.« So berichtet die Mutter. Ein paar Tage darauf lag die Familienbibliothek -- das heißt die Schriften der Christlichen Wissenschaft -- auf einer Fensterbank. Das war wieder ’ne gute Gelegenheit für das heilige Kind. Der Junge verließ sein Spiel, ging an die Fensterbank und schob alle Bücher zur Seite -- außer dem ›Anhang‹. _Diesen_ nahm er in beide Hände und hob ihn langsam an seine Lippen; dann legte er das Büchlein sorgfältig wieder hin und setzte sich daneben in die Fensternische. Das erstemal war das Benehmen des Kindes der Mutter so wunderbar erschienen, daß sie kaum ihren Augen trauen wollte; nun aber war sie überzeugt, ›daß es keine Sinnestäuschung war, und daß auch kein Zufall irgend was damit zu tun hatte.‹ Später ließ Klein Gordon sich auch von dem Urheber seiner Tage bei seinem Tun beobachten. Von da an tat er’s oft; wahrscheinlich jedesmal, wenn einer zusah. _Das_ Kind hätte ich lieber haben mögen als irgend einen Oelfarbendruck! Unter den Zeuginnen tritt auch eine auf, die an ›springendem Zahnweh‹ litt, und zwar so stark, daß sie mehrmals in Versuchung kam zu glauben, die Materie sei doch von Gefühl belebt; doch trug jedesmal die Macht der Wahrheit den Sieg davon. Sie verbot dem Zahnarzt, Kokain anzuwenden, sondern setzte sich hin und ließ ihn bohren und raspeln und drehen und ziehen und den Nerv töten und Knochensplitter aus dem Kiefer herausgraben -- und wollte nicht einmal zugeben, daß es weh täte. Und sie glaubt bis auf diesen Tag, es habe nicht weh getan, und ich bezweifle nicht im geringsten, daß sie zu neun Zehnteln recht hat, und daß ihre Christliche Wissenschaft ihr bessere Dienste leistete, als das Kokain es hätte tun können. Es wird auch von einem Knaben berichtet, der bei einem Unfall in lauter kleine Stücke zerbrochen wurde; er sagte ganz einfach die ›Wissenschaftliche Darstellung des Seins‹ auf und ein anderes derartiges Gebet und war gesund und munter, ohne irgend welchen wirklichen Schmerz gelitten zu haben, und ohne daß ein Doktor sich eingemischt hätte. Dies kann ich wohl glauben, denn mein eigener Fall war ja ziemlich ähnlich, wie sich aus den Eingangskapiteln ergibt. Ferner wird mitgeteilt, daß durch Anwendung der Christlichen Wissenschaft ein schwer verunglücktes _Pferd_ in einer einzigen Nacht vollkommen wiederhergestellt worden sei. Ich kann ziemlich viel vertragen, aber das scheint mir denn doch übers Bohnenlied zu gehen. Das Pferd hatte nicht weniger als fünfzig Beschädigungen: wie konnte nun _das Pferd_ diese ›demonstrieren‹? Konnte es das: All-Gott, Gut-Gut, Gott-Gott, Leben, Knochen, Wahrheit u. s. w. hersagen? Konnte es die ›Wissenschaftliche Darstellung des Seins‹ anstimmen? Nein, bitte: _konnte_ das Pferd das? Hätte es nicht einen Rückfall davon kriegen können? Wir wollen doch lieber bei Pferden die Grenzlinie ziehen. Bei Pferden und bei Möbeln. In der Zeitschrift werden noch eine Menge andere Zeugnisse angeführt; aber ich denke, die mitgeteilten Beispiele werden genügen. Sie erläutern den einen Teil des Geschäftsbetriebes der Christlichen Wissenschaft. Nun kommen wir auf die Frage zurück: Bringt sie hier und da und ab und zu einen Patienten um die Ecke? Wir müssen dies zugeben. Bietet sie dafür Ersatz? Wenn sie einen Menschen von jahrelangen Schmerzen befreit, so gibt sie ihm das Leben wieder. Denn beständige Schmerzen sind beständiges Sterben. Ich glaube, sie kann sich noch einen erklecklichen Posten an ihr Haben schreiben. VI. »Wir erklären aus voller Ueberzeugung, daß, ›Wissenschaft und Gesundheit, nebst Schlüssel zu den Heiligen Schriften‹ sowie auch die Verfasserin dieses Buches, Mary Baker Eddy, im zehnten Kapitel der Offenbarung vorher angekündigt worden sind. Sie ist der ›starke Engel‹ oder Gottes höchster Gedanke für unsere gegenwärtige Zeit (Vers 1), der uns den Geistesinhalt der Bibel in dem ›Büchlein _aufgetan_‹ verdolmetscht (Vers 2). Somit beweisen wir: Die Christliche Wissenschaft ist die Wiederkehr Christi -- Wahrheit -- Geist.« (Vorlesung von George Tomskins, Doktor der Theologie, Doktor der Christlichen Wissenschaft.) Da haben wir’s in dürren Worten! Sie ist der starke Engel, sie ist der auserkorene himmlische Sendbote, der Gottes höchsten Gedanken überbringt. Einstweilen _bringt_ sie nur die Wiederkehr Christi. Wir müssen annehmen, daß sie, ehe sie fünfzig Jahre im Grabe gelegen hat, für ihre Anhänger einfach _der zweite Christus selber_ ist. Angebetet wird sie bereits, und wir müssen erwarten, daß dieses Gefühl sich nicht nur räumlich ausbreitet, sondern auch immer mehr sich vertieft.[4] [4] Eine ihrer Jüngerinnen hatte _ein totes Kind ins Leben zurückgerufen_ und schließt ihren Bericht an Frau Eddy mit den Worten: »... und möchten doch wir alle Sie immer mehr lieben und so leben, daß die Welt wisse: Christus ist gekommen!« So zu lesen im ›Indepedent Statesman‹ (Concord, Newhampshire) vom 9. März 1899. Wenn das keine Anbetung ist, so ist es eine gute Nachmachung davon. ~M. T.~ Besonders nach ihrem Tode, denn dann wird -- dies begreift wohl ein jeder -- Eddy-Anbetung in den Sonntagsschulen und auf den Kanzeln der Glaubensgemeinschaft gelehrt werden. Schon jetzt ist jeder Gegenstand, auf den sie ihr Warenzeichen setzt, heilig und wird von ihren Jüngern eifrig und voll leidenschaftlicher Dankbarkeit gekauft und zu Hause wie ein Fetisch verehrt. Ich sage ›gekauft‹ -- denn der Bostoner Christian Science-Trust gibt nichts weg; was er hat, ist zum Verkauf bestimmt. Die Bedingungen sind Barzahlung: und zwar nicht nur Bar-, sondern Vorausbezahlung. Sein Gott ist in erster Linie: Frau Eddy; ein zweiter: der Dollar. Und zwar kein Phantasiedollar, sondern ein richtiger mit Geldwert. Auf den Dollar wird in jeder möglichen Form Jagd gemacht; die Bostoner Mutterkirche der Christlichen Wissenschaft und ihr Handelskontor gehen mit allerlei geistlicher Ware bei ihren Gläubigen hausieren; die Preise sind ausnahmslos gepfeffert, und die Zahlungsbedingungen sind immer dieselben: ›gegen bar, pränumerando‹. Nicht einmal der Engel der Apokalypse würde sein ›Büchlein‹ dort auf Kredit kriegen. Viele, viele köstliche Dinge hat die Christliche Wissenschaft zu verkaufen -- gegen bar natürlich: Bibel-Unterweisung, Gesangbuch der Christlichen Wissenschaft, Baugeschichte der Mutterkirche, ganze Haufen von Predigten, Kommunionshymne ›Seht Ihr meinen Heiland?‹ von Frau Eddy, das Stück zu einem halben Dollar, ›Abdruck des Textes mit Frau Eddys besonderer Erlaubnis‹. Ferner haben wir Frau Eddys und des Engels kleinen Bibelanhang in acht verschiedenen Einbänden zu acht verschiedenen Preisen, darunter ein süßes Ding in Leder mit runden Ecken, Goldschnitt und so weiter, pränumerando _sechs Dollars_, und wenn man ’ne Million auf einmal bezieht, kriegt man vier Prozent Rabatt, aber nur ›pränumerando‹. Ferner haben wir Frau Eddys ›Vermischte Schriften‹ zu vornehm hohen Preisen, in allen möglichen Einbänden, aber alle zu Erpresserpreisen, und ebenfalls mit vier Prozent Rabatt, wenn man eine ganze Auflage auf einmal bezieht. Dann kommt ›Christus und Weihnacht‹ von der fruchtbaren Frau Eddy -- _ein Gedicht_; ich gäbe was drum, es mal sehen zu können! -- Preis drei Dollars pränumerando. Dann folgen noch fünf andere Schriften von Frau Eddy, natürlich zu Straßenräuberpreisen, in allen möglichen Ausstattungen, mit Lederecken, Goldschnitt, Doppelschrauben, Dampfsteuerung und allen anderen Bequemlichkeiten der Neuzeit. Und bei demselben Handelskontor erscheint auch das Christian Science-Journal, ein -- aber ich will lieber nicht sagen, was es ist; es ist besser, man ist höflich, als daß man deutlich ist. Die literarische Oleomargarine der Christlichen Wissenschaft ist ein Monopol der der Mutterkirche gehörenden Hauptfabrik in Boston; ›nur echt, wenn mit der Handelsmarke des Trust versehen‹. Zu beziehen ist die Ware nur von Boston -- selbstverständlich pränumerando. Der Trust hat aber auch noch andere Einnahmequellen. Frau Eddy ist Vorsitzende -- und vielleicht Eigentümerin? -- des vom Trust geleiteten Metaphysical College in Boston. Dort vervollkommnet sich in einem zweiwöchigen Kursus der Student, der sich drei Jahre lang auf eigene Hand in der Heilkunst der Christlichen Wissenschaft geübt hat: für die vierzehn Tage bezahlt er bloß einhundert Dollars. Und ich habe unter meinen statistischen Notizen einen Fall, wo für einen Kursus von drei Wochen dreihundert Dollars bezahlt wurden. Der Trust liebt den Dollar -- aber er darf kein Phantasiedollar sein. Um den Absatz von Frau Eddys Bibelanhang recht lebhaft zu erhalten, darf niemand -- mag er auf dem Metaphysical College gewesen sein oder nicht -- die Heilkunst der Christlichen Wissenschaft ausüben, wenn er nicht ein Exemplar dieses heiligen Machwerks besitzt. Das bedeutet für den Trust ein großes und beständig wachsendes Einkommen. Keine Christian Science-Familie wird sich für aufrichtig, fromm und schmerzgefeit halten, wenn sie nicht ein oder zwei Exemplare vom ›Anhang‹ im Hause hat. Das sichert dem Trust schon für die allernächste Zukunft ein jährliches Einkommen nicht von Tausenden, sondern von Millionen. Kein Mitglied einer der Christlichen Wissenschaft angehörigen Kirche kann Mitglied bleiben, wenn es nicht jedes Jahr dem Bostoner Trust ›Kopfsteuer‹ zahlt. Damit hat der Trust -- in allernächster Zukunft -- wieder Jahreseinnahmen, die in die Millionen gehen. Man kann ohne Uebertreibung annehmen, daß es im Jahre 1910 in Amerika zehn Millionen und in Großbritannien drei Millionen Anhänger der Christlichen Wissenschaft geben wird, und daß diese Zahlen im Jahre 1920 verdreifacht sein werden. 1910 wird die Christliche Wissenschaft in Amerika eine politische Macht sein, 1920 wird sie überwältigenden Einfluß haben, 1930 wird sie die Regierung der Republik übernehmen -- um sie für immer zu behalten. Und ich glaube, man darf mit Fug und Recht annehmen, daß der Trust -- der jetzt bereits recht schroff in seinem Auftreten ist -- alsdann der rücksichtsloseste, unbedenklichste und tyrannischste politisch-religiöse Gewalthaber sein wird, der jemals seit den glorreichen Tagen der Inquisition ein Volk beherrscht hat. Und ein stärkerer Gewalthaber, als jemals auf Erden war: denn er wird über eine finanzielle Macht verfügen, wie keiner seiner Vorgänger sie sich auch nur hat träumen lassen; er wird über einen konzentrierten, unverantwortlichen Einfluß verfügen, wie keiner vor ihm; in Eisenbahnen, Telegraphen, subventionierten Zeitungen wird er bisher ungeahnte Beeinflussungs- und Kontrollmittel besitzen; und nach einer oder zwei Generationen wird er sich wahrscheinlich mit der katholischen Kirche in die Christenheit teilen. Die Römische Kirche verfügt über eine vorzügliche Organisation und hat _ihre Kräfte_ in sehr wirksamer Weise zentralisiert -- _aber nicht ihr Geld_. Ihre zahlreichen Bischöfe sind reich, aber sie behalten diese Reichtümer im weitesten Maße in ihren eigenen Händen. Sie beziehen Gelder von 200 Millionen Menschen, aber der Hauptteil dieser Eingänge bleibt im Lande. Der Bostoner Papst -- den wir mit der Zeit haben werden -- wird seine Dollarkopfsteuer von 300 Millionen erheben, und der ›Bibelanhang‹ sowie die anderen Artikel des Verlagsgeschäftes werden das doppelte dieser Summe einbringen. Dazu kommen dann noch: das Metaphysical College, die alljährlichen Pilgerzüge zu Frau Eddys Grab -- Eintrittsgeld: ein Christlicher Wissenschaftsdollar (pränumerando) -- Verkauf von geweihten Glasperlen, Kerzen, Gedenklöffeln, Chromobildern der Stifterin mit goldenem Heiligenschein, nachgemachten Autographen der Frau Eddy, Geldopfern vor ihrem Altarschrein (Krücken von geheilten Krüppeln werden nicht angenommen, Nachbildungen von wunderbar kurierten gebrochenen Beinen und Hälsen nur, wenn sie aus dem heiligen Metall hergestellt sind und sich auf dem Prüfstein als echt erwiesen haben). Für die im Grabe gewirkten Wunder wird bares Geld genommen. Aus diesen Geldquellen -- und aus tausend anderen, die erst noch zu erfinden sind -- wird eine Jahreseinnahme von mindestens einer Milliarde Dollars fließen. Und der Trust allein wird die Verfügung darüber haben! Bischöfe werden nicht angestellt, wenn sie sich nicht verpflichten, neunzig Prozent vom Fang abzuliefern. Wenn es erst so weit ist, wird der Trust nicht nur den Verkauf des ›Anhangs‹, sondern auch den des Alten und Neuen Testaments monopolisieren; er wird dieselben Preise nehmen wie für den ›Anhang‹, er wird seine Gläubigen _verpflichten_, auch diese Bibelausgaben zu kaufen -- und das wird auch wieder etliche hundert Millionen einbringen. Der Trust wird dann täglich ein Einkommen von fünf Millionen Dollars haben -- und davon gehen keine Spesen ab; er hat keine Steuern zu zahlen, _und er gibt nichts für wohltätige Zwecke_. Der Leser wolle nicht so leicht hierüber weglesen; die Sache ist wohl einiger Aufmerksamkeit wert. Keine Wohltätigkeitsanstalten zu unterhalten. Nicht mal zu solchen beisteuern. Vergebens sucht man in den vom Trust ausgehenden Ankündigungen und in den auf den Kanzeln der Christlichen Wissenschaft gehaltenen Predigten nach einer Spur, daß sie auch nur einen Pfennig für solche Zwecke ausgeben. Nichts für Witwen und Waisen, für entlassene Sträflinge, Krankenhäuser, Stadtmission, Heidenmission, Volksbibliotheken, Altersversorgung und sonst etwas, das sich auf dem Umwege durch das Menschenherz an des Menschen Börse wendet.[5] [5] In den letzten beiden Jahren beliefen sich die von den Bekennern der englischen Hochkirche geleisteten freiwilligen Beiträge für derartige Zwecke auf 15 Millionen Pfund Sterling. Eine Kirche, die Geld hergibt, hat nichts zu verheimlichen. ~M. T.~ Ich habe mich erkundigt, erkundigt, erkundigt, in Briefen und auf sonstige Weise, und es ist mir nicht gelungen, auch nur einen Dreier aufzuspüren, den der Trust für irgend einen nennenswerten Zweck ausgegeben hätte. Nichts macht den ›Scientisten‹ so ungemütlich, als wenn man ihn fragt, ob ihm ein Fall bekannt sei, daß die Christliche Wissenschaft etwas für wohltätige Zwecke ausgegeben habe -- sei es im Kreise ihrer Mitglieder, sei es an Draußenstehende. Er _muß_ die Frage verneinen. Und dann entdeckt man, daß dem Befragten dieselbe Frage schon oftmals vorher gestellt ist, und daß ihm die Sache allmählich eklig wird. Warum eklig? Weil er an seine Führer geschrieben und voll hoher Zuversicht sie um eine Antwort gebeten hat, die die Fragesteller zu Boden schmettern wird -- und weil die Führer nicht geantwortet haben! Er hat abermals geschrieben -- und noch einmal -- aber diesmal nicht voll Zuversicht, sondern sehr bescheiden und hat flehentlich gebeten, man möge ihn doch mit Munition versehen, um die Position der Christlichen Wissenschaft verteidigen zu können. Endlich kommt eine Antwort, sie lautet etwa: Wir müssen auf Unsere Mutter vertrauen und uns mit der Ueberzeugung begnügen, daß alles was Sie[6] mit dem Gelde tut, in Uebereinstimmung steht mit Geboten vom Himmel, denn Sie vollzieht keine Handlung, ohne zuvor darüber demonstriert zu haben. [6] Ich führe vielleicht die Schreibung mit dem großen S ein bißchen zu früh ein, aber auf dem Wege ist sie. ~M. T.~ Damit ist der Fall erledigt -- soweit der Jünger in Betracht kommt. Sein ›Geist‹ ist von der Antwort vollkommen befriedigt; er schlägt den ›Anhang‹ auf und stimmt ein oder zwei Gebete an. Seine Seele ist ruhig -- bis mal wieder ein Neugieriger mit indiskretem Finger an die wunde Stelle tippt. Durch Freunde in Amerika habe ich etliche Fragen stellen lassen. In einigen Fällen erhielt ich bestimmte und verständliche Antworten; in anderen war der Bescheid unbestimmt und wertlos. Aus den bestimmten Antworten entnehme ich, daß die ›Kopfsteuer‹ obligatorisch ist und einen Dollar beträgt. Auf die Frage: ›Wird irgend ein Teil des Geldes zu wohltätigen Zwecken verwandt?‹ lautete die von einer der maßgebenden Persönlichkeiten erteilte Antwort: ›Nein; _nicht in dem Sinn, den man gewöhnlich mit diesem Wort verbindet_.‹ (Daß diese letzten elf Worte gesperrt gedruckt werden, geschieht auf meine Veranlassung.) Die Antwort ist vorsichtig. Und doch deutlich -- obwohl der Wortlaut nebelhaft ist. Die Christliche Wissenschaft ist überhaupt nebelhaft, unklar, wortreich. Der Schreiber wußte ganz gut, daß das erste Wort eine vollständige Antwort auf meine Frage war; aber er konnte nicht anders, er mußte noch elf Worte von dunklem Sinn hinzusetzen. Worte ohne Sinn und Verstand -- wenn der Mann sie mir nicht erklärt. Höchstwahrscheinlich -- so verstehe ich wenigstens seine Andeutung -- hat die Christliche Wissenschaft eine neue Art von Wohltätigkeit erfunden; was für eine das ist, können wir mit ziemlicher Sicherheit erraten: das vom Trust da hinein gesteckte Kapital wird gewiß 500 Prozent Reingewinn abwerfen. Indessen: Erraten ist noch kein Wissen. Der Trust versteht sich aufs Geschäft. Er läßt sich nicht in die Karten gucken. Nicht von uns unverschämten Neugierigen und nicht einmal von seinen eigenen Jüngern. Höchstens erfährt man, es sei eine ›Demonstration vorgenommen worden.‹ Ab und zu erzählt einer von den Laienbrüdern der Christlichen Wissenschaft mit freudigem Stolz, Frau Eddy sei ungeheuer reich. Aber damit hat seine Mitteilsamkeit ein Ende; ob ein Teil des Geldes wohltätigen Zwecken zufließt, darüber kann er keine Auskunft geben. Der Trust besteht aber doch aus Menschen; und darum kann man wohl mit Recht annehmen, daß wir gewiß bald etwas davon hören würden, falls der Trust in seinen Rechnungen Ausgaben für Wohltätigkeitszwecke hätte, deren er sich nicht zu schämen brauchte. Der Wahlspruch der Christlichen Wissenschaft lautet: ›Jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert‹. Und nachdem wir bei uns selber ›eine Demonstration darüber vorgenommen haben,‹ finden wir als wahre Bedeutung dieses Spruches die Lehre: ›Uebernehmt alle und jede Arbeit, die ihr bekommen könnt; laßt sie euch bar bezahlen und zwar pränumerando‹. Der Trust scheint mir eine Reinkarnation zu sein. Exodus, 32,4.[7] [7] Der Vers lautet: Und er nahm sie (die goldenen Ohrringe) von ihren Händen und entwarf es mit einem Griffel und machte ein gegossen Kalb u. s. w. A. d. Ueb. Ich habe keine Achtung vor Frau Eddy und den anderen Mitgliedern des Trust -- wenn’s überhaupt andere Mitglieder gibt -- aber ich habe volle Achtung vor der aufrichtigen Ueberzeugung der Laien, die sich zur neuen Kirche bekennen. Ohne jeden Zweifel sind diese Laien völlig ehrlich in ihrem Glauben, und ich glaube, daß jede ehrliche Meinung stets Achtung verdient, ganz gleich, aus welcher Quelle sie sich ihre Ueberzeugung geholt hat. Ich will damit dem Menschengeschlecht kein Kompliment machen, ich spreche damit nur meine Meinung aus. Worin liegt denn nun die Ursache des Erfolges, den die Christliche Wissenschaft bereits gehabt hat und in unendlich viel größerem Maße noch haben wird? In dem gut gewählten Namen? Ich glaube, dieser Umstand hat nur zu einem ganz kleinen Teil dazu beigetragen. Ich glaube, das Geheimnis liegt anderswo: Die Christliche Wissenschaft hat ihr Geschäft _organisiert_! Und das war ganz gewiß eine riesenhafte Idee! Darin liegt mehr Geisteskraft, als man zur Abfassung von ein paar Millionen Eddyschen Bibelanhängen brauchen würde. So lange die Erde steht, war Elektrizität in unbegrenzter Menge in der Luft, in der Erde und überall vorhanden; kein Mensch dachte daran, diese Kraft auszunutzen. In unserer Zeit aber haben wir diese überall verstreute wandernde Kraft _organisiert_. Wir lassen sie für uns arbeiten, wir unterstützen die Arbeit mit unserem Kapital, wir konzentrieren ihre Anwendung in den Händen einiger weniger Sachverständiger -- und wir haben die Ergebnisse, die ein jeder sieht. Die Christliche Wissenschaft hat sich einer Kraft bemächtigt, die in jedem Menschen unbenutzt lag, so lange es Menschen gibt; sie hat diese Kraft organisiert, Kapital in das Geschäft gesteckt und den ganzen Betrieb im Bostoner Hauptquartier in den Händen eines kleinen und sehr sachverständigen Trust zentralisiert. _Und darum sind die Erfolge da!_ Die Verschwörung von Fort Trumbull. Folgendes ist die Geschichte, die der Major mir erzählte; ich gebe sie wieder, so genau ich es vermag: Im Winter 1862/63 war ich Kommandant von Fort Trumbull bei New London, Connecticut. Vielleicht war unser Leben dort nicht so munter wie das Leben ›vorm Feinde‹; immerhin war’s auf seine Art lebhaft genug -- es war keine Gefahr, daß unsere Gehirnsubstanz zusammenbackte, denn es fehlte niemals an irgend etwas, um unsere Gedanken zu beschäftigen. So schwirrte damals -- um nur eins anzuführen -- im Norden die ganze Luft von geheimnisvollen Gerüchten: Rebellenspione sollten überall sich herumschleichen, um unsere Forts in die Luft zu sprengen, unsere Gasthöfe niederzubrennen, verpestete Kleidungsstücke in unsere Städte zu schicken und was dergleichen mehr war. Sie werden sich dessen erinnern. Dies alles war geeignet, uns wach zu halten und die herkömmliche Langeweile des Garnisonlebens nicht aufkommen zu lassen. Zudem hatten wir Rekruten auszubilden, und das bedeutet, daß wir kein bißchen Zeit hatten, um zu faulenzen, zu träumen oder Maulaffen feil zu halten. Indessen trotz all unserer Wachsamkeit entwischte uns von den Rekruten, die wir tagsüber einstellten, die Hälfte noch in derselben Nacht. Das Handgeld war so unmäßig hoch, daß der Rekrut einer Schildwache drei- oder vierhundert Dollars bezahlen konnte, damit sie ihn weglaufen lasse, und doch noch so viel übrig behielt, daß es für einen armen Mann ein Vermögen bedeutete. Also wie gesagt, auf der faulen Haut lagen wir nicht. Eines Tages war ich allein in meinem Zimmer, wo ich irgend etwas zu schreiben hatte, als ein bleicher, zerlumpter Bursche von vierzehn oder fünfzehn Jahren eintrat, eine zierliche Verbeugung machte und mich ansprach: »Ich glaube, hier werden Rekruten angenommen?« »Ja.« »Wollen Sie mich bitte einreihen, Herr Major?« »Ach du lieber Gott, nein! Du bist zu jung und zu klein, mein Junge.« Enttäuschung malte sich auf seinem Gesicht und ging sofort in einen Ausdruck von tiefster Verzagtheit über. Er drehte sich um, als wollte er gehen, dann zögerte er, wandte sich wieder zu mir und sagte in einem Ton, der mir zu Herzen ging: »Ich habe kein Obdach und keinen Freund auf der Welt. Ach, wenn Sie mich doch einstellen könnten!« Dies war natürlich ganz ausgeschlossen, wie ich ihm so freundlich wie möglich auseinandersetzte. Dann hieß ich ihn sich an den warmen Ofen setzen und fügte hinzu: »Sofort sollst du etwas zu essen bekommen. Du bist doch wohl hungrig?« Er antwortete nicht, aber das war auch nicht nötig; der dankbare Blick seiner großen sanften Augen sprach beredter als alle Worte es vermocht hätten. Er setzte sich an den Ofen, und ich schrieb weiter. Ab und zu warf ich einen verstohlenen Blick auf ihn. Ich bemerkte, daß seine Kleider und Schuhe, wenngleich schmutzig und zerlumpt, doch von gutem Schnitt und Stoff waren. Das gab zu denken. Zudem war seine Stimme leise und wohllautend, sein Auge tief und schwermütig, und sein ganzes Benehmen deutete auf gute Herkunft. Augenscheinlich war das arme Bürschchen in arger Bedrängnis. Kurz und gut, er flößte mir Teilnahme ein. Indessen vertiefte ich mich nach und nach immer mehr in meine Arbeit und vergaß gänzlich, daß der Junge im Zimmer war. Ich weiß nicht, wie lange dies währte, aber schließlich sah ich zufällig einmal auf. Der Knabe hatte mir den Rücken zugedreht, aber er hielt den Kopf so, daß ich seine Wange sehen konnte -- und über diese Wange rann ein Strom von stillen Tränen. »Ach du lieber Gott!« sagte ich bei mir selbst. »Ich vergaß, daß der arme Bursch sterbenshungrig ist.« Und um meine Rücksichtslosigkeit wieder gut zu machen, rief ich ihm zu: »Komm her, mein Junge, du sollst mit mir speisen. Ich bin heute allein.« Wieder sah er mich mit seinen dankbaren Augen an, und ein Freudenstrahl erhellte sein Gesicht. Bei Tisch blieb er stehen, die Hand auf die Stuhllehne gelegt, bis ich Platz genommen hatte; erst dann setzte er sich. Ich nahm Messer und Gabel zur Hand und -- nun, ich behielt sie in der Hand und rührte mich nicht; denn der Knabe hatte sein Haupt geneigt und sprach leise ein Dankgebet. Tausend geheiligte Erinnerungen an Elternhaus und Kinderzeit drangen auf mich ein, und ich seufzte bei dem Gedanken, wie fremd mir Religion geworden war, und wie doch der Glaube ein Balsam für die wunde Seele, wie er Trost, Hort und Stütze ist. Im Verlauf unserer Mahlzeit bemerkte ich, daß der junge Wicklow -- Robert Wicklow hieß er mit vollem Namen -- mit seiner Serviette umzugehen wußte, und mit einem Wort, ich merkte, daß er unerachtet seines Aussehens von guter Herkunft war. Dazu hatte er eine einfache Freimütigkeit, die mich für ihn einnahm. Wir sprachen hauptsächlich über ihn selbst, und ohne Schwierigkeit holte ich seine Geschichte aus ihm heraus. Als er erwähnte, daß er in Louisiana geboren und aufgewachsen sei, wurde ich warm, denn ich hatte selbst einige Zeit dort gelebt. Ich kannte den ganzen Küstenstrich am Mississippi; ich liebte die Gegend und hatte sie erst vor kurzem verlassen, sodaß mein Interesse dafür noch nicht verblaßt war. Ich freute mich schon, wenn ich nur die Namen jener Orte aus seinem Munde hörte, und ich brachte deshalb absichtlich das Gespräch auf jene Gegend. Baton Rouge, Plaquemine, Donaldsonville, Sixtymile-Point, Bonnet-Carré, Börsen-Landeplatz, Carollton, der Dampfboot-Landeplatz, der Dampfschiff-Landeplatz, New Orleans, Tchoupitchoulas Street, die Esplanade, die Rue des Bons Enfants, das St. Charles-Hotel, Tivoli Circle, Shell Road, der Pontechartrain-See -- wie klang das alles vertraut! Und eine ganz besondere Wonne war es für mich, wieder einmal von ›R. E. Lee‹, ›Natchey‹, ›Eklipse‹, ›General Guitman‹ ›Duncan F. Kenner‹ und anderen altbekannten Dampfbooten zu hören. Es war mir fast als sei ich wieder dort, so lebhaft riefen diese Namen mir die Schiffe und Oertlichkeiten selbst ins Gedächtnis zurück. Kurz zusammengefaßt, war folgendes Klein-Wicklows Geschichte: Als der Krieg ausbrach, lebte er bei seiner altersschwachen Tante und seinem Vater in der Nähe von Baton Rouge auf einer großen reichen Pflanzung, die schon seit fünfzig Jahren im Besitz der Familie gewesen war. Der Vater war ein Anhänger der Union. Er wurde darum auf alle mögliche Weise verfolgt, blieb aber standhaft bei seinen Grundsätzen. Endlich brannten eines Nachts maskierte Männer sein Haus nieder, und die Familie mußte fliehen, um das nackte Leben zu retten. Sie wurden von Ort zu Ort gehetzt und lernten Armut, Hunger und Elend gründlich kennen. Die alte Tante wurde schließlich erlöst: Hunger und Unbilden der Witterung töteten sie, sie starb auf freiem Felde wie ein Bettelweib unter dem strömenden Regen und dem krachenden Donner. Nicht lange darauf wurde der Vater von einer bewaffneten Bande gefangen genommen, und während der Sohn bat und flehte, vor dessen Augen aufgeknüpft. (Hier schoß ein haßerfüllter Blick aus des Knaben Augen, und er sagte, wie wenn er mit sich selber spräche: »Wenn ich nicht eingestellt werden kann -- macht nichts! Ich werde einen Weg finden -- ja, ich werde einen Weg finden.«) Nachdem die Leute festgestellt hatten, daß der Vater tot war, sagten sie dem Sohn, wenn er nicht binnen vierundzwanzig Stunden aus der Gegend verschwunden wäre, so würde es ihm übel ergehen. Er schlich sich während der Nacht zum Flußufer hinunter und verbarg sich dicht bei der Anlegestelle einer Pflanzung. Nach einiger Zeit hielt der ›Duncan F. Kenner‹ dort an, und er schwamm an den Dampfer heran und verbarg sich in dem Boot, das im Kielwasser des Schiffes schwamm. Vor Tagesanbruch war das Dampfboot in New Orleans bei der Börsen-Landungsbrücke, und er schlüpfte aus dem Kahn heraus und schwamm an Land. Er marschierte die drei Meilen von dieser Stelle bis zum Hause eines Onkels, der in Good-Childrenstreet in New Orleans wohnte, und dann war er für eine Zeit lang aus der Not. Aber sein Onkel hielt es ebenfalls mit der Union und kam sehr bald zur Ueberzeugung, daß er besser täte, den Süden zu verlassen. Er machte sich also mit dem jungen Wicklow heimlich davon und sie fuhren mit einem Segelschiff nach New York, wo sie im ›Astor House‹ abstiegen. Jung-Wicklow führte nun eine Zeit lang ein ganz angenehmes Leben, schlenderte auf dem Broadway herum und studierte das für ihn neue Leben im Norden. Schließlich aber kam eine Wendung -- und zwar nicht zum Besseren. Der Onkel war zuerst guter Dinge gewesen, mit der Zeit aber fing er an, unmutig und kleinlaut dreinzuschauen, ja, er wurde verdrießlich und reizbar, sprach von den vielen Geldausgaben und den wenigen Einnahmen -- ›nicht genug mehr für einen, geschweige denn für zwei.‹ Dann, eines Morgens, war er nicht da -- kam nicht zum Frühstück. Der Junge erkundigte sich im Hotelbureau und erfuhr, sein Onkel habe den Abend vorher seine Wohnung bezahlt und sei abgereist -- nach Boston, meinte man, wußte es aber nicht bestimmt. Der Junge stand allein und ohne Freunde auf der Welt da. Er wußte nicht, was er anfangen sollte, aber es schien ihm das beste, wenn er versuchte, seinen Onkel wiederzufinden. Er ging zum Dampfschiff-Landeplatz und erfuhr, daß das bißchen Geld, das er in der Tasche hatte, für die Fahrt nach Boston nicht ausreichte, daß er dafür aber nach New London kommen könnte. Er fuhr also nach diesem Hafen, indem er darauf hoffte, daß die Vorsehung ihn die Mittel würde finden lassen, um den Rest der Reise zurückzulegen. Jetzt war er drei Tage und Nächte lang in den Straßen von New London herumgelaufen und hatte hier und da um der Barmherzigkeit willen einen Bissen bekommen oder ein Eckchen zum Schlafen angewiesen erhalten. Aber jetzt konnte er nicht mehr, Mut und Hoffnung waren entschwunden. Wenn er als Rekrut eintreten könnte, so würde er überaus dankbar sein; wenn er nicht Soldat werden könnte, wäre er dann nicht als Trommlerjunge zu brauchen? O, er würde so fleißig sein und so dankbar! So lautete mit Weglassung einiger Kleinigkeiten die Geschichte des jungen Wicklow, genau wie er sie mir erzählte. Ich sagte: »Junge, du bist jetzt unter Freunden -- mach’ dir keine Sorgen mehr.« Wie glänzten da seine Augen! Ich rief den Sergeanten John Rayburn herein -- er war aus Hartford und wohnt jetzt dort; vielleicht kennen Sie ihn -- und sagte: »Rayburn, geben Sie dem Jungen hier Quartier bei den Musikern. Ich werde ihn als Trommlerjungen einstellen, und es ist mir lieb, wenn Sie ein Auge auf ihn haben und darauf sehen, daß er gut behandelt wird.« Der Verkehr zwischen dem Festungskommandanten und dem Trommlerjungen hörte jetzt natürlich auf, aber die Gedanken an den freundlosen armen kleinen Burschen lagen mir trotzdem schwer auf der Seele. Ich behielt ihn im Auge, in der Hoffnung, er würde sich aufheitern und fröhlich und lustig werden. Aber nein! Ein Tag verging nach dem anderen, und er blieb wie er war. Er verkehrte mit keinem Menschen, war immer geistesabwesend und in Gedanken versunken, und sein Gesicht war immer traurig ... Eines Morgens bat Rayburn mich um eine vertrauliche Unterredung. »Ich hoffe, Sie nehmen’s nicht übel, Herr Major,« sagte er. »Aber die Sache steht so: die Musiker sind so außer sich, daß ja wohl einer sprechen muß.« »Na, was ist denn los?« »’s ist wegen des Jungen, des Wicklow, Herr Major. Die Musiker haben eine Wut auf ihn -- Sie können sich’s gar nicht denken.« »Nu, nu! Warum nicht gar. Was hat er denn angestellt?« »Betet, Herr Major!« »Er betet?« »Jawohl, Herr Major. Die Musiker wissen ihrer Seele keine Ruhe mehr vor des Bengels Beten. Kaum ist er Morgens wach -- betet er; Mittags -- betet er; und Nachts -- na Nachts, da ist er gerade als wäre er besessen mit seinem Beten. Schlafen? Ach herrje, sie _können_ ja nicht schlafen. Er hat’s Wort, wie man zu sagen pflegt, und wenn er mal seine Gebetmühle in Bewegung gesetzt hat, da gibt’s kein Unterbrechen. Zunächst nimmt er den Kapellmeister vor und betet für den; dann kommt der erste Hornist dran, für den betet er auch; dann kriegt der Mann mit der großen Trommel sein Teil und so weiter, die ganze Kapelle hindurch, bis jeder sein Gebet hat, und das alles mit einer Inbrunst, als dächte der Junge, er hätte nur noch eine kurze Weile auf Erden zu leben und könnte im Himmel nicht glücklich sein, wenn er nicht seine Regimentsmusik für sich hätte, und man sollte meinen, er suchte sich seine Kapelle aus, um ihm da oben in einem der Oertlichkeit angemessenen Stil unsere Nationalhymne vorzuspielen. Schön und gut -- Stiefel nach ihm schmeißen nützt ganz und gar nichts; es ist dunkel im Saal, und außerdem ist er bei seinem Beten auch noch niederträchtig, er kniet nämlich hinter der großen Trommel, und da macht es ihm nichts aus, wenn Stiefel auf ihn hageln; er muckt nicht ’mal dabei und plappert weiter, als wäre es bloß Beifallsklatschen. Und sie brüllen: ›Oho, Mund halten!‹ ›Laß uns in Frieden!‹ ›Schmeißt ihn ’naus!‹ ›O, scher’ dich zum Teufel!‹ u. s. w., u. s. w. Aber was nützt das alles? Ihn rührt es nicht. Er merkt es gar nicht.« Und nach einer Pause fuhr Rayburn fort: »Dabei ist er ein gutmütiger kleiner Narr; steht frühmorgens eher auf und trägt alle Stiefel auf einen Haufen und sortiert sie und setzt jedem Mann sein Paar auf den richtigen Platz. Und sie sind so oft nach ihm geschmissen, daß er jetzt jeden Stiefel kennt -- kann sie mit geschlossenen Augen sortieren.« Wieder eine Pause, die ich natürlich nicht unterbrach; dann fuhr er fort: »Aber nun kommt noch das Allerschlimmste der Geschichte: Wenn er mit Beten fertig ist -- wenn er endlich und endlich überhaupt mal damit fertig ist, dann legt er los und fängt an zu singen! Na, Sie wissen ja, was für ’ne honigsüße Stimme er schon hat, wenn er spricht, Sie wissen, er könnte damit einen gußeisernen Hund von der Schwelle locken, um ihm die Hand zu lecken. Nun, auf mein Wort, Herr Major, gegen sein Singen ist das noch gar nichts! Flötentöne sind rauh im Vergleich mit des Burschen Gesang. Es geht ihm so sanft und so süß und so lieblich aus der Gurgel, daß man denkt, man ist im Himmel.« »Aber was ist denn da Schlimmes dabei?« »O, das ist’s ja gerade, Herr Major! Man hört ihn singen: So wie ich bin -- unglücklich arm und blind -- ja, das hört man ihn bloß einmal singen, und da schaut man auf und ’s Wasser kommt einem in die Augen. Einerlei was er singt -- es geht einem, hast du nicht gesehen!, an die Nieren -- geht einem tief hinein, da wo’s Leben ist -- und ’s packt einen jedesmal. Hören Sie ihn bloß ’mal singen: Kind von Sünd’ und Sorgen, Voll von Angst und Not, Warte nicht bis morgen, Folge _heute_ Gott -- Stoß’ nicht fort die Vaterhand, Die vom fernen Himmelsland ... und wie’s weiter geht. Man kommt sich dabei vor, wie der verruchteste, undankbarste Kerl, der auf der Erde ’rumläuft. Und wenn er dann die Lieder singt vom Elternhause, und von der Mutter und den Kindertagen und den alten Erinnerungen, und von längst entschwundenen Dingen und von alten Freunden, die tot oder fern sind -- ach, das bringt einem alles vors Auge, was man je in seinem ganzen Leben geliebt und verloren hat -- und ’s ist so wunderschön, ja, ’s ist göttlich, wenn man’s anhört, Sir -- aber, ach du lieber gütiger Herrgott, wie herzbrechend ist’s auch! Die Kapelle -- jawohl, _alle_ heulen sie! Der größte Lump unter ihnen schluchzt dabei -- und gibt sich nicht ’mal Mühe, es zu verbergen. Und dieselben Kerls, die vorher ihre Stiefel nach ihm geschmissen hatten -- auf einmal springen sie alle von den Pritschen und laufen in der Finsternis zu ihm hin und herzen ihn und schlecken ihn ab -- jawohl, das tun sie -- und geben ihm Schmeichelworte und bitten ihn, er möge ihnen verzeihen. Und wenn in _dem_ Augenblick ein Regiment käme, um dem Bürschchen ein Haar zu krümmen -- wahrhaftig sie gingen gegen das Regiment, und wenn’s ein ganzes Armeekorps wäre!« Wieder eine Pause. Dann fragte ich: »Ist das alles?« »Jawohl, Herr Major.« »Nun, du lieber Gott, was gibt’s denn da zu klagen? Was wollen denn die Leute?« »Was sie wollen!? Aber ich bitte Sie, Herr Major -- sie möchten, daß Sie ihm das Singen verbieten.« »Was für ein Einfall! Sie sagten ja selber, sein Gesang sei überirdisch schön.« »Das ist’s ja eben. Er ist zu überirdisch. Kein gewöhnliches Menschenkind kann ihn vertragen. Es regt einen so fürchterlich auf, das Herz im Leibe dreht sich einem dabei um; es zerrt einem alle Gefühle zu Fetzen, man fühlt sich elend und verflucht und denkt, man sei bloß noch zum Sterben gut. Man ist dermaßen in einem ewigen Zustand von Zerknirschung, daß einem kein Essen mehr schmeckt und man am ganzen Leben keine Lust mehr hat. Und dann das Heulen -- verstehen Sie, jeden Morgen schämen sie sich vor einander und können sich nicht ins Gesicht sehen.« »Hm, das ist ja ein sonderbarer Fall und eine merkwürdige Beschwerde. Sie verlangen also wirklich, daß das Singen aufhört?« »Ja, Herr Major, so denken sie. Sie möchten nicht um zu viel bitten; sie wären ja mächtig froh, wenn die Beterei aufhörte, oder wenn er wenigstens damit ein Haus weiter ginge. Aber die Hauptsache ist die Singerei. Wenn sie bloß das Singen los werden, so denken sie, das Beten können sie aushalten, wenn es gleich ein hartes Stück ist, in solcher Weise heruntergeputzt zu werden.« Ich sagte dem Sergeanten, ich würde die Sache in Erwägung ziehen. In derselben Nacht schlich ich mich zu den Musikern ins Quartier und horchte. Der Sergeant hatte nicht übertrieben. Ich hörte die laute betende Stimme in der Dunkelheit; ich hörte die Flüche der ermüdeten Mannschaften; ich hörte den Stiefelregen durch die Luft sausen und die Geschosse rund um die große Trommel herum mit Gepolter niederfallen. Die Sache rührte mich, aber sie belustigte mich zugleich. Dann folgte eine eindrucksvolle Stille. Nach einer Weile begann das Singen. O Gott, diese Begeisterung, die darin lag, dieser bezaubernde Ausdruck! Niemals, so lange ich auf der Welt war, hörte ich etwas so Süßes, so Anmutiges, so Zartes, so Heiliges, so Rührendes. Ich ging sehr bald fort, denn ich begann eine Bewegung zu verspüren, wie sie sich für den Befehlshaber einer Festung nicht schickt. Am nächsten Tag gab ich Befehle aus, die dem Beten und Singen ein Ende machten. Dann folgten drei Tage so voll vom Spektakel, wobei ausgelassene Rekruten ihr Werbegeld vertranken, daß ich gar nicht an meinen Trommlerjungen dachte. Aber eines Morgens kommt Sergeant Rayburn und sagt: »Der neue Junge benimmt sich mächtig sonderbar, Herr Major.« »Wieso?« »Hm, er schreibt die ganze Zeit über.« »Schreibt? Was schreibt er denn? Briefe?« »Weiß ich nicht, Herr Major. Aber sobald er keinen Dienst hat, streicht er immer mutterseelenallein stöbernd und schnüffelnd im Fort herum -- hol mich der ..., wenn ich glaube, ’s gibt noch ’ne Ecke oder ’n Loch, wo er noch nicht hineingekrochen ist. Und alle paar Augenblicke bringt er Papier und Bleistift heraus und kritzelt was nieder.« Dies erregte in mir ein höchst unangenehmes Gefühl. Ich hätte mich gerne darüber lustig gemacht, aber es war damals nicht die Zeit dazu, sich über das Geringste lustig zu machen, was irgendwie etwas Verdächtiges an sich hatte. Rund um uns herum, überall im Norden, gingen Dinge vor, die uns veranlassen mußten, immer auf dem Sprunge zu sein und immer guten Ausguck zu halten. Ich erinnerte mich an den Umstand -- der viel zu denken gab -- daß der Junge aus dem Süden stammte und sogar aus dem äußersten Süden, Louisiana, und dieser Gedanke war unter den obwaltenden Verhältnissen nicht gerade ermutigend. Immerhin kostete es mich innerlich einen Stoß, Rayburn die Befehle zu geben, die ich ihm erteilen mußte. Mir war zumute, wie einem Vater, der sich auf etwas einläßt, wodurch er sein eigenes Kind in Schimpf und Schande bringen kann. Ich befahl Rayburn, zu schweigen, seine Zeit abzuwarten und mir irgendwas von den Schreibereien zu verschaffen, wenn er’s tun könnte, ohne daß der Junge es merkte. Und vor allen Dingen sollte er nichts tun, wodurch der Knabe gewahr werden könnte, daß er beobachtet würde. Ich befahl ferner, dem Jungen seine gewohnten Freiheiten zu belassen, ihm aber in einiger Entfernung zu folgen, sobald er in die Stadt ginge. Während der nächsten beiden Tage erstattete Rayburn mir mehrmals Bericht. Kein Erfolg. Der Junge schrieb zwar noch immer, aber er steckte jedesmal, wenn Rayburn in seiner Nähe erschien, mit einer unbefangenen Miene sein Papier in die Tasche. Zweimal war er in der Stadt in einen alten verlassenen Stall hineingegangen, war eine Minute oder zwei darin geblieben und dann wieder herausgekommen. Man konnte solche Dinge nicht auf die leichte Achsel nehmen -- sie sahen sehr verdächtig aus. Nun muß ich selber eingestehen, daß ich anfing, mich unbehaglich zu fühlen. Ich begab mich in meine Privatwohnung und ließ den nächsthöheren Offizier holen -- einen klugen Offizier von gesundem Urteil, Sohn des Generals James Watson Webb. Er war überrascht und beunruhigt. Wir besprachen die Angelegenheit des langen und breiten und kamen zu dem Schluß, es sei wohl angebracht, eine geheime Nachforschung anzustellen. Ich übernahm dies selber. So ließ ich mich denn um zwei Uhr morgens wecken und war einen Augenblick später im Schlafsaal der Musiker. Auf dem Bauch zwischen den schnarchenden Soldaten den Boden entlang kriechend, gelangte ich schließlich, ohne jemanden aufzuwecken, zur Pritsche meines schlummernden kleinen Vagabunden, erfaßte seine Kleider und seinen Tornister und kroch vorsichtig wieder zurück. In meiner Wohnung fand ich Webb, der in großer Erwartung des Ergebnisses harrte. Wir gingen sofort an die Untersuchung. Die Kleider enttäuschten uns; wir fanden in den Taschen unbeschriebenes Papier und einen Bleistift, sonst nichts außer einem Taschenmesser und allerhand nichtigem Tand, womit Knaben sich herumzuschleppen pflegen. Wir gingen hoffnungsvoll an den Tornister heran. Wieder bloß ein Fehlschlag. Eine kleine Bibel lag darin, und auf dem Vorsatzblatt stand geschrieben: ›Fremder, sei freundlich zu meinem Knaben, um seiner Mutter willen.‹ Ich sah Webb an -- er schlug die Augen nieder; er sah mich an -- ich schlug die meinigen nieder. Keiner von uns sprach ein Wort. Ich legte das Buch ehrfürchtig wieder auf seinen Platz. Plötzlich stand Webb auf und ging weg, ohne ein Wort zu sagen. Nach einer Weile nahm ich mich zusammen, um meine nicht gerade angenehme Aufgabe zu vollenden, und brachte den Plunder wieder an seinen Ort. Ich kroch dabei wieder wie vorher auf dem Bauch; das schien mir auch für eine solche Tätigkeit die einzig angemessene Haltung zu sein. Ich war aufrichtig froh, als alles vorüber und fertig war. Um die Mittagsstunde des nächsten Tages kam Rayburn wie gewöhnlich, um Meldung zu machen. Ich fuhr ihn an und sagte: »Hören Sie jetzt auf mit diesem Unsinn! Wir machen einen Popanz aus einem armen kleinen Burschen, der so harmlos ist, wie ein Gesangbuch!« Der Sergeant machte ein erstauntes Gesicht und sagte: »Hm, Sie wissen doch, es war Ihr eigener Befehl, Herr Major, und ich habe etwas von seiner Schreiberei erwischt!« »Und was soll’s damit? Wie bekamen Sie’s?« »Ich guckte durch das Schlüsselloch und sah ihn schreiben. Als ich dachte, er wäre wohl ungefähr damit fertig, hustete ich ein bißchen, und da sah ich, wie er’s zusammenknäuelte und ins Feuer warf; dann guckte er sich nach allen Seiten um, ob jemand käme, und dann setzte er sich so bequem und harmlos wie nur irgend einer zurecht. Und dann kam ich herein und sagte ihm freundlich Guten Tag und schickte ihn mit einem Auftrag weg. Er sah durchaus nicht verlegen drein, sondern ging ohne weiteres. Im Kamin war eben ein Kohlenfeuer angemacht; das Geschreibsel lag hinter einem Kohlenblock verborgen; aber ich holte es heraus, und hier ist es; es ist, wie Sie sehen, kaum eben angesengt.« Ich sah mir das Papier an und las einen oder zwei Sätze. Hieran schickte ich den Sergeanten fort und ließ durch ihn Webb sagen, er möchte zu mir kommen. Der Zettel lautete wörtlich: Fort Trumbull, den 8. Herr Oberst! Ich war im Irrtum betreffs des Kalibers der drei Geschütze, die ich am Schluß meiner Liste aufführte. Es sind Achtzehnpfünder; im übrigen ist jedoch die Armierung so, wie ich angab. Die Garnison ist noch so, wie ich zuletzt berichtet; indessen bleiben die beiden Kompanien leichte Infanterie, die nach dem Kriegsschauplatz abgehen sollten, augenblicklich noch hier -- für wie lange noch, das kann ich jetzt nicht sagen, werde es aber bald herausbekommen. Wir sind der Meinung, daß es in Anbetracht der ganzen Sachlage besser sei, es noch zu verschieben bis ... Hier brach das Schreiben ab -- gerade an dieser Stelle hatte Rayburn gehustet und den Schreiber unterbrochen. Alle meine Zuneigung zu dem Knaben, all meine Achtung vor ihm und mein Mitleid wegen seiner trostlosen Lage schwanden augenblicklich angesichts dieser Schurkerei, die eine kaltblütige Niederträchtigkeit enthüllte. Doch darum handelte es sich jetzt nicht. Hier gab es Arbeit -- Arbeit, die eine tiefgehende Aufmerksamkeit erforderte, und zwar augenblicklich. Webb und ich betrachteten die Sachlage von allen Seiten und Gesichtspunkten, und Webb sagte: »Wie jammerschade, daß er unterbrochen wurde! Irgend etwas soll verschoben werden, bis ... bis wann? Und was ist das für ein ›es‹? Möglicherweise hätte er’s noch erwähnt, das heuchlerische kleine Reptil.« »Ja,« sagte ich, »wir haben eine Gelegenheit verpaßt. Und was bedeutet das ›Wir‹ in dem Brief? Bezieht sich das auf Verschwörer innerhalb oder außerhalb des Forts?« In dem ›Wir‹ lagen recht unbequeme Möglichkeiten angedeutet. Indessen es lohnte sich nicht, uns darüber in Vermutungen zu ergehen, und so gingen wir zu Sachen über, die eine praktischere Bedeutung hatten. Vor allen Dingen beschlossen wir die Schildwachen zu verdoppeln und die allerstrengste Wachsamkeit zu beobachten. Sodann dachten wir daran, uns Wicklow kommen zu lassen und ihn zum Sprechen zu bringen; das schien uns indessen doch nicht das Klügste zu sein, solange nicht alle anderen Methoden uns im Stich ließen. Wir mußten uns noch einiges mehr von seinen Schreibereien beschaffen; hierauf richteten wir also unsere Pläne. Und da hatten wir einen Einfall. Wicklow ging niemals zum Postamt -- vielleicht war der leerstehende Stall sein Postbureau. Wir ließen meinen Privatsekretär kommen, einen jungen Deutschen, Namens Stern, der eine Art von geborenem Detektiv war. Wir machten ihn mit den näheren Umständen bekannt und sagten ihm, er möchte ans Werk gehen. Binnen einer Stunde bekamen wir Bescheid, daß Wicklow wieder etwas schreibe. Kurz darauf kam die Meldung, er habe um Stadturlaub gebeten. Er wurde eine kurze Weile hingehalten, und in der Zwischenzeit lief Stern in die Stadt und versteckte sich im Stall. Nach einiger Zeit sah der Deutsche, wie Wicklow hereingeschlendert kam, sich nach allen Seiten umsah, dann etwas unter einem Schutthaufen im Winkel versteckte und sich gemächlich wieder entfernte. Stern fiel über den versteckten Gegenstand her -- es war ein Brief. Er brachte ihn uns. Das Schreiben hatte weder eine Adresse noch eine Unterschrift. Zunächst waren darin die Sätze wiederholt, die wir bereits gelesen hatten, dann hieß es weiter: Wir halten es für das beste, es aufzuschieben bis die beiden Kompanien fort sind. Ich meine damit, daß die vier drinnen so denken; mit den anderen habe ich mich nicht in Verbindung setzen können -- befürchte Aufmerksamkeit zu erregen. Ich sage ›vier‹, weil wir zwei verloren haben; sie waren kaum eben angeworben und ins Fort gekommen, als sie eingeschifft wurden, um zur Front abzugehen. Es wird unbedingt notwendig sein, an ihrer Stelle zwei andere hier zu haben. Die beiden Abgegangenen waren die Brüder von Thirtymile-Point. Ich habe etwas von der größten Wichtigkeit mitzuteilen, darf es aber diesem Verkehrsweg nicht anvertrauen. Werde es auf dem anderen versuchen. »Der kleine Schuft!« rief Webb. »Wer hätte auch annehmen können, daß er ein Spion wäre? Indessen, lassen wir das! Wir wollen einmal die einzelnen Umstände, so wie sie sind, aufrechnen und sehen, wie die Angelegenheit in diesem Augenblick steht. Erstens: Wir haben in unserer Mitte einen Rebellenspion, den wir kennen. Zweitens: Wir haben in unserer Mitte noch drei andere, die wir _nicht_ kennen. Drittens: Diese Spione sind durch das einfache und leichte Mittel, sich als Soldaten in die Unionsarmee einreihen zu lassen, in das Fort hineingeschmuggelt worden -- und offenbar sind zwei von ihnen dabei angeführt worden, indem sie nach dem Kriegsschauplatz abrücken mußten. Viertens: Es sind noch verbündete Spione ›draußen‹ vorhanden; Zahl derselben unbestimmt. Fünftens: Wicklow ist im Besitz sehr wichtigen Materials, das er sich nicht getraut auf dem ›gewöhnlichen Wege‹ mitzuteilen -- will’s ›auf dem anderen versuchen‹. So steht also der Fall zur Zeit. Sollen wir Wicklow beim Kragen packen und ihn zum Geständnis zwingen oder sollen wir die Person abfangen, die die Briefe aus dem Stall abholt, und sollen wir diese zum Sprechen bringen? Oder sollen wir uns ruhig verhalten, um noch mehr zu erfahren?« Wir entschieden uns für das letztere. Es schien uns nicht nötig, schon jetzt zu durchgreifenden Maßregeln überzugehen, denn aller Wahrscheinlichkeit nach würden die Verschwörer warten, bis die beiden Kompanien leichte Infanterie ihnen nicht mehr im Wege wären. Wir gaben Stern ziemlich weitgehende Vollmachten und sagten ihm, er müsse sich die größte Mühe geben, um Wicklows anderes Verkehrsmittel ausfindig zu machen. Wir gedachten ein kühnes Spiel zu spielen und wollten zu dem Zweck die Spione so lange wie möglich nicht merken lassen, daß wir Verdacht geschöpft hatten. Wir befahlen daher Stern, sofort wieder nach dem Stall zu gehen und dort, wenn er die Luft rein fände, Wicklows Brief wieder an dem Ort zu verstecken wo er ihn hergenommen, und ihn dort zu lassen, damit die Verschwörer ihn finden möchten. Die Nacht brach an, ohne daß sich etwas Weiteres ereignet hätte. Es war kalt und finster; ein rauher Wind blies und brachte Hagelschauer. Trotzdem verließ ich in dieser Nacht mehrere Male mein warmes Bett und machte in eigener Person die Runde, um nachzusehen, ob alles in Ordnung, und ob jede Schildwache auf dem Posten wäre. Ich fand sie stets wach und aufmerksam. Augenscheinlich war ein Gewisper von geheimnisvollen Gefahren umgegangen, und die Verdoppelung der Wachtposten hatte diesen Gerüchten einen gewissen Rückhalt verliehen. Gegen Morgen begegnete ich bei einer solchen Runde Webb, der sich dem schneidend kalten Wind entgegen seinen Weg bahnte; ich hörte von ihm, daß er ebenfalls mehreremale die Runde gemacht, um nach dem Rechten zu sehen. Der nächste Tag brachte die Ereignisse in ziemlich lebhaften Schwung. Wicklow schrieb abermals einen Brief. Stern lief nach dem Stall voraus und sah, wie er ihn dort niederlegte; er nahm ihn an sich, sobald Wicklow wieder draußen war, dann schlich er sich ebenfalls hinaus und folgte dem kleinen Spion in einiger Entfernung. Ihm selber war ein Detektiv in Alltagskleidern unmittelbar auf den Fersen, denn wir hielten es für ratsam, für den Notfall gleich die Hilfe des Gesetzes zur Hand zu haben. Wicklow ging nach dem Bahnhof und lungerte dort herum, bis der Zug von New York einlief; dann musterte er scharfen Blickes die Gesichter der Passagiere, die den Wagen entströmten. Auf einmal kam ein alter Herr mit grüner Brille und einem Stock herangehinkt, blieb in Wicklows Nachbarschaft stehen und begann sich umzusehen, als ob er jemanden erwartete. Blitzschnell trat Wicklow vor, drückte ihm einen Briefumschlag in die Hand, glitt hinweg und verschwand im Gedränge. Im nächsten Augenblick hatte Stern den Brief erhascht; er eilte an dem Geheimpolizisten vorüber und flüsterte diesem zu: »Folgen Sie dem alten Herrn; verlieren Sie ihn nicht aus den Augen!« Dann entfernte er sich eiligst mit der Menge und begab sich geraden Weges nach dem Fort. Wir berieten bei geschlossenen Türen und wiesen den Wachtposten draußen an, daß wir durchaus keine Störung haben wollten. Zunächst öffneten wir den im Stall abgefangenen Brief. Er lautete: _~Heilige Allianz!~_ Fand in der gewöhnlichen Kanone Befehle vom Meister, die in der vergangenen Nacht dort hinterlassen waren; die Weisungen, die ich bisher vom untergeordneten Kommando empfing, sind dadurch umgestoßen. Ließ in der Kanone das gewöhnliche Zeichen, daß die Befehle in die richtige Hand gekommen sind ... Hier unterbrach Webb mich mit der Frage: »Ist denn der Bursche jetzt nicht unter beständiger Beobachtung?« Ich bejahte dies; er wäre seit der Beschlagnahme des vorigen Briefes unablässig streng bewacht worden. »Wie konnte er dann irgendwas in eine Kanone stecken oder etwas herausnehmen, ohne dabei gefaßt zu werden?« »Nun ja,« sagte ich, »dies gefällt mir ganz und gar nicht.« »Mir erst recht nicht,« bemerkte Webb. »Es bedeutet ganz einfach, daß sogar unter den Schildwachen Verschwörer sind. Wenn diese nicht in der einen oder der anderen Weise mit im Einverständnis wären, so wäre die Sache nicht möglich gewesen.« Ich ließ Rayburn kommen und befahl ihm, die Batterien zu durchsuchen und sich Mühe zu geben, etwas zu finden. Dann las ich den Brief weiter: Die neuen Befehle lauten sehr bestimmt: die ~M.M.M.M.~ sollen morgen früh um 3 Uhr ~F.F.F.F.F.~ sein. Zweihundert werden in kleinen Trupps mit der Eisenbahn und auf anderen Wegen aus verschiedenen Richtungen ankommen und zur rechten Zeit am verabredeten Ort sein. Ich werde heute das Zeichen verteilen. Erfolg ist augenscheinlich sicher, obwohl irgend etwas ausgekommen sein muß, denn die Schildwachen sind verdoppelt worden und die höheren Offiziere machten letzte Nacht mehreremale die Runde. ~W.W.~ kommt heute von Süden her und wird heute geheime Befehle empfangen -- auf dem andern Wege. Ihr müßt alle sechs genau um 2 Uhr morgens in 166 sein. Dort findet ihr ~B.B.~, der euch genaue Weisungen geben wird. Losungswort dasselbe wie letztesmal, nur umgekehrt -- setzt erste Silbe hinten und letzte Silbe vorne an. ~_Gedenket_ XXXX!~ Vergeßt das nicht! Seid guten Mutes; bevor wieder die Sonne aufgeht, werdet ihr Helden sein! Euer Ruhm wird ewig sein und ihr werdet der Weltgeschichte ein unvergängliches Blatt hinzugefügt haben. ~_Amen_.~ »Donner und Mars!« rief Webb »Aber da kommen wir ja, wie mir scheint, in eine ganz brenzliche Geschichte hinein!« Ich antwortete, es sei keine Frage, daß die Sache sehr ernst auszusehen anfinge. »Ein verzweifeltes Unternehmen,« sagte ich, »ist im Gange, das ist ganz klar. Diese Nacht ist die dafür angesetzte Zeit -- das ist ebenfalls klar. Die wahre Natur des Anschlags -- ich meine die Art und Weise der Ausführung -- ist durch diese Bündel von ~F~ und ~M~ verschleiert, aber das Endziel, scheint mir, ist die Ueberrumpelung des Forts. Jetzt gilt es scharf zu überlegen und schnell zu handeln. Ich glaube mit Fortsetzung der geheimen Ueberwachung Wicklows kann nichts mehr erreicht werden. Wir _müssen_ wissen, und zwar so schnell wie möglich, wo ›166‹ gelegen ist, sodaß wir um zwei Uhr in der Frühe die Bande dort fangen können; die schnellste Methode, diese Kenntnis zu erlangen, besteht ohne Zweifel darin, daß wir den Burschen zum Geständnis zwingen. Aber vor allen Dingen muß ich, ehe wir irgend einen wichtigen Schritt vornehmen, den Sachverhalt dem Kriegsdepartement unterbreiten und um Vollmachten bitten.« Es wurde ein chiffriertes Telegramm aufgesetzt; ich las und genehmigte es und sandte es sofort ab. Damit schloß unsere Beratung in betreff des Spionenbriefes, und ich öffnete den anderen, welchen Stern dem lahmen Herrn aus der Hand gerissen hatte. Er enthielt nichts weiter, als zwei vollkommen unbeschriebene Blätter aus einem Notizbuch! Das war ein kalter Guß auf unsere hochgespannten heißen Erwartungen. Einen Augenblick lang kamen wir uns so leer vor wie das Papier, und zweimal so albern. Aber das dauerte nur einen Augenblick, denn natürlich dachten wir unmittelbar darauf an ›sympathetische Tinte‹. Wir hielten das Papier dicht übers Feuer und dachten, nun würden unter dem Einfluß der Hitze die Buchstaben gleich zum Vorschein kommen, aber es erschien nichts als ein paar schwache Striche, aus denen wir nicht klug werden konnten. Wir ließen darauf den Regimentsarzt rufen und beauftragten ihn, alle ihm bekannten chemischen Verfahren anzuwenden, bis er auf das richtige träfe. Sobald er die Schriftzeichen an die Oberfläche brächte, sollte er mir sofort den Inhalt des Briefes mitteilen. Der Fehlschlag war uns im höchsten Grade ärgerlich, und natürlich tobten wir über die Verzögerung; denn wir hatten steif und fest erwartet, durch den Brief einige von den wichtigsten Geheimnissen der Verschwörung zu erfahren. Nun erschien Sergeant Rayburn. Er zog aus der Tasche ein etwa fußlanges Stück Bindfaden mit drei Knoten und hielt es in die Höhe. »Ich fand es in einer Kanone an der Wasserseite,« sagte er. »Ich nahm die Mündungsdeckel von allen Geschützen ab und sah ganz genau nach; diese Schnur war das einzige, was in irgend einer Kanone war.« Dies Endchen Bindfaden war also Wicklows Zeichen, wodurch er kundgab, daß des ›Meisters‹ Befehle nicht in falsche Hände gekommen waren. Ich befahl, jeden Mann, der während der letzten vierundzwanzig Stunden in der Nähe jenes Geschützes Schildwache gestanden war, sofort in Einzelgewahrsam zu setzen und mit keinem Menschen ohne meine ganz besondere Erlaubnis verkehren zu lassen. Vom Staatssekretär des Kriegsdepartements kam ein Telegramm, welches folgendermaßen lautete: Suspendieret Habeascorpus-Akte. Erkläret die Stadt in Belagerungszustand. Veranlaßt die notwendigen Verhaftungen. Handelt energisch und schnell. Haltet das Kriegsdepartement auf dem Laufenden. Jetzt waren wir soweit, daß wir ans Werk gehen konnten. Ich schickte Leute aus, die ohne Aufsehen zu erregen den lahmen Herrn verhafteten und ihn ebenso unauffällig ins Fort brachten; ich gab ihm eine Schildwache und verbot, mit dem Mann zu sprechen oder ihn anzuhören. Anfangs hatte er Lust großen Lärm zu machen, aber das ließ er bald. Dann kam eine Meldung, es sei beobachtet worden, wie Wicklow zweien von unseren neuen Rekruten etwas zugesteckt habe; die Leute seien, so wie er den Rücken gedreht, festgenommen und in Haft gebracht worden. Bei jedem von ihnen fand man einen kleinen Papierzettel, worauf mit Bleistift geschrieben stand: ~Adlers Dritter Flug. Gedenke XXXX.~ 166. Meinen Weisungen gemäß telegraphierte ich dem Departement in Chiffren, welche neuen Entdeckungen wir gemacht und beschrieb zugleich die neu gefundenen Zettel. Unsere Stellung schien jetzt stark genug zu sein, um Wicklow gegenüber die Maske fallen lassen zu können; ich ließ ihn also holen. Ferner ließ ich den mit sympathetischer Tinte geschriebenen Brief wieder einfordern; der Regimentsarzt sandte ihn zurück mit der Bemerkung, daß seine Bemühungen bisher vergeblich gewesen seien, es gebe aber noch andere Verfahren, die er anwenden könne, falls ich es wünschen sollte. Wicklow trat ein. Es lag etwas Müdes und Erwartungsvolles in seinem Blick, aber er war gefaßt und unbefangen, und wenn er irgend einen Verdacht hegte, so trat dieser jedenfalls in seinen Gesichtszügen und in seinem Benehmen nicht zu Tage. Ich ließ ihn ein paar Augenblicke stehen; dann sagte ich freundlich: »Na, mein Junge, warum gehst du denn so oft nach dem alten Stall?« Er antwortete einfach und ohne Verlegenheit: »Ja, Herr Major, das weiß ich selber nicht recht; es ist eigentlich kein besonderer Grund vorhanden, als daß ich gerne allein bin, und daß ich mich dort unterhalte.« »Ach so, du unterhältst dich dort?« »Jawohl, Herr Major,« antwortete er so einfach und unschuldig wie zuvor. »Und weiter tust du da nichts?« »Nein, Herr Major,« sagte er, und dabei sah er mich mit einem Ausdruck kindlicher Verwunderung in seinen großen sanften Augen an. »Weißt du das auch ganz gewiß?« »Jawohl, Herr Major, ganz gewiß.« Nach einer Pause fragte ich weiter: »Wicklow, warum schreibst du so viel?« »Ich? Ich schreibe nicht viel, Herr Major.« »Nicht?« »Nein, Herr Major. O, wenn Sie ›kritzeln‹ meinen -- kritzeln tue ich manchmal zu meiner Unterhaltung.« »Was machst du denn mit deinem Gekritzel?« »Nichts, Herr Major -- ich werfe es weg.« »Schickst du’s niemals an irgend jemand?« »Nein.« Plötzlich hielt ich ihm den Brief an den ›Oberst‹ vors Gesicht. Er fuhr leicht zusammen, faßte sich aber sofort wieder. Eine flüchtige Röte überzog seine Wangen. »Wie kamst du dann aber dazu, _dieses_ Gekritzel abzuschicken?« »Ich dach ... ich dachte mir gar nichts Böses dabei, Herr Major!« »Nichts Böses dabei! Du verrätst die Armierung des Forts und die Stärke der Besatzung und denkst dir nichts Böses dabei?« Er ließ den Kopf hängen und schwieg. »Höre, sprich frei von der Leber weg und laß das Lügen sein! Für wen war dieser Brief bestimmt?« Er verriet jetzt Zeichen von Angst; doch schnell hatte er sich wieder zusammengenommen und erwiderte im Tone tiefsten Ernstes: »Ich will Ihnen die Wahrheit sagen, Herr Major -- die ganze Wahrheit. Der Brief war überhaupt niemals für irgend einen Menschen bestimmt. Ich schrieb ihn bloß für mich selbst, um mir einen Spaß zu machen. Ich sehe jetzt ein, wie verkehrt und wie albern das war; aber das ist auch das einzige Anstößige dabei, Herr Major, bei meiner Ehre.« »Ah, das freut mich. Es ist gefährlich, solche Briefe zu schreiben. Ich hoffe, du bist sicher, daß dies der einzige ist, den du schriebst.« »Jawohl, Herr Major, vollkommen sicher.« Diese Verstocktheit war verblüffend. Er sagte seine Lüge mit dem ehrbarsten Gesicht von der Welt. Ich wartete einen Augenblick, um den in mir aufsteigenden Aerger niederzuzwingen; dann sagte ich: »Wicklow, rüttle jetzt mal ein bißchen dein Gedächtnis auf und sieh zu, ob du mir nicht bei zwei oder drei kleinen Sachen helfen kannst, die ich gerne wissen möchte.« »Ich will mir die allergrößte Mühe geben, Herr Major.« »Also, zunächst: Wer ist der ›Meister‹?« Meine Frage hatte die Wirkung, daß er schnell einen unruhigen Blick über unsere Gesichter gleiten ließ. Aber das war auch alles. In einem Augenblick war er wieder heiter und antwortete ruhig: »Ich weiß es nicht, Herr Major.« »Du weißt es nicht?« »Ich weiß es nicht.« »Du weißt es _ganz bestimmt_ nicht?« Er bot alle Kraft auf, um mir fest in die Augen zu sehen; aber das war zu viel für ihn. Sein Kinn sank langsam auf die Brust nieder und er schwieg. Er stand da und drehte nervös an einem Knopf. Er sah kläglich aus, und ich fühlte unwillkürlich trotz seinen niederträchtigen Handlungen Mitleid mit ihm. Dann unterbrach ich plötzlich die Stille mit der Frage: »Was ist die ›Heilige Allianz‹?« Er zuckte sichtlich zusammen und machte eine halb unbewußte Bewegung mit den Händen, wie ein verzweifeltes Geschöpf, das um Mitleid fleht. Aber kein Laut kam über seine Lippen. Er hielt hartnäckig seine Augen auf den Fußboden geheftet. Wir sahen ihn an und warteten, daß er sprechen möchte, und da bemerkten wir, wie die dicken Tränen anfingen, ihm über die Backen zu rollen. Aber er blieb still. Nach einer kleinen Weile sagte ich: »Du mußt mir antworten, mein Junge, und mußt mir die Wahrheit sagen. Wer ist die ›Heilige Allianz‹?« Er weinte leise weiter. Schließlich sagte ich ziemlich scharf: »Antworte auf die Frage!« Er bemühte sich, seiner Stimme wieder Herr zu werden; dann sagte er mit einem flehenden Blick auf uns und die Worte mühsam zwischen seinem Schluchzen herauspressend: »O haben Sie Erbarmen mit mir, Herr Major! Ich kann nicht antworten, denn ich weiß nichts!« »Was?!« »Gewiß, Herr Major, ich spreche die Wahrheit. Ich habe bis zu diesem Augenblick niemals was von der ›Heiligen Allianz‹ gehört. Bei meiner Ehre, Herr Major, so ist es!« »Himmelherrgott ... Sieh mal hier deinen zweiten Brief an. Da, siehst du hier die Worte: ›_Heilige Allianz_‹? Was sagst du jetzt?« Er starrte mir ins Gesicht mit dem beleidigten Blick eines Menschen, dem man ein großes Unrecht angetan hat. Dann sagte er in empfindlichem Ton: »Das ist irgend ein grausamer Scherz, Herr Major. Und wie konnte man mir so was antun -- mir, der sich alle Mühe gab, das Rechte zu tun, und der niemals einem Menschen etwas zuleide getan hat! Irgend einer hat meine Handschrift nachgemacht; ich schrieb niemals eine Zeile davon; ich habe diesen Brief nie vorher gesehen.« »O, du über alle Maßen frecher Lügner! Sieh her, was sagst du hierzu?« Und ich riß den Brief mit der sympathetischen Tinte aus meiner Tasche und hielt ihm denselben vor die Augen. Sein Gesicht wurde weiß! -- so weiß, wie wenn er ’ne Leiche gewesen wäre. Er schwankte auf den Füßen und faßte mit der Hand nach der Wand, um sich zu stützen. Einen Augenblick darauf fragte er mit so schwacher Stimme, daß man’s kaum hören konnte: »Haben -- Sie’s gelesen?« Unsere Gesichter mußten die Wahrheit geantwortet haben, bevor meine Lippen das falsche »Ja!« hervorbringen konnten, denn ich sah deutlich, wie der Mut wieder in des Jungen Augen kam. Ich wartete darauf, daß er etwas sagen sollte, aber er blieb still. So sagte ich denn zuletzt: »Nun, was hast du zu den Enthüllungen zu bemerken, die in diesem Brief enthalten sind?« Er antwortete völlig gefaßt: »Nichts -- ausgenommen, daß ich gänzlich harmlos und unschuldig bin; sie können keinem Menschen Schaden tun.« Ich war jetzt ein wenig in der Klemme, sintemalen ich seine Behauptung nicht Lügen strafen konnte. Ich wußte nicht recht, wie ich weiter vorgehen sollte. Es kam mir indessen zum Glück ein guter Gedanke und ich sagte: »Du weißt ganz bestimmt nichts von dem ›Meister‹ und der ›Heiligen Allianz‹ und schriebst ganz bestimmt auch den Brief nicht, der, wie du sagst, eine Fälschung ist?« »Nein, Herr Major -- ganz bestimmt nicht!« Ich zog langsam den geknoteten Bindfaden hervor und hielt ihm denselben hin ohne ein Wort zu sprechen. Er sah ihn gleichgültig an, dann wandte er sich mit einem fragenden Blick zu mir. Meine Geduld war jetzt an der Grenze angelangt. Ich bezwang indessen meinen Aerger und sagte in ruhigem Tone: »Wicklow, siehst du dies?« »Ja, Herr Major.« »Was ist es?« »Es scheint ein Stück Bindfaden zu sein.« »_Scheint?_ Es _ist_ ein Stück Bindfaden. Erkennst du es?« »Nein, Herr Major!« antwortete er auf die ruhigste Art von der Welt. Seine Kaltblütigkeit war geradezu wunderbar! Ich machte jetzt eine Pause von mehreren Sekunden, um durch das Schweigen den Worten, die ich äußern wollte, einen größeren Nachdruck zu verleihen. Dann stand ich auf, legte meine Hand auf seine Schulter und sagte ernst: »Dein Lügen, armer Junge, wird dir auf der ganzen Welt nicht gut tun. Dies Zeichen für den ›Meister‹, dieser geknotete Bindfaden, der in einer der Kanonen an der Wasserseite gefunden ...« »Gefunden _in_ der Kanone?! O, nein, nein, nein! Sagen Sie nicht in der Kanone, sondern in einer Fuge des Mündungsdeckels -- er _muß_ in der Fuge gewesen sein!« Und er fiel auf die Kniee und faltete seine Hände und hob sein Antlitz zu uns empor, ein Antlitz so bleich und angstverzerrt, daß er einem Mitleid einflößte. »Nein, er war _in_ der Kanone.« »O, dann ist etwas nicht in Ordnung! Mein Gott, ich bin verloren!« Und er sprang auf und strebte sich den Händen zu entwinden, die sich nach ihm ausstreckten. Er wollte durchaus entfliehen. Aber das war natürlich ganz undenkbar. Dann warf er sich wieder auf die Kniee, schrie aus Leibeskräften und umklammerte meine Beine, und ließ mich nicht los und bat und flehte und rief: »O, haben Sie Erbarmen mit mir! O, seien Sie gnädig mit mir! Verlassen Sie mich nicht; sie würden keinen Augenblick mein Leben verschonen. Beschützen Sie mich, retten Sie mich! Ich will alles gestehen!« Wir brauchten ziemlich lange Zeit, um ihn zu beruhigen und ihm die Angst auszureden und ihn wieder in eine einigermaßen vernünftige Geistesverfassung zu bringen. Dann begann ich ihn auszufragen: Er antwortete demütig, mit niedergeschlagenen Augen, von Zeit zu Zeit die unablässig rinnenden Tränen abwischend. »Du bist also in deinem Herzen ein Rebell?« »Ja, Herr Major.« »Und ein Spion?« »Ja.« »Und hast nach gemessenen Befehlen von außerhalb gehandelt?« »Ja.« »Mit Freuden, vielleicht?« »Ja. Es hätte keinen Zweck, das zu leugnen. Der Süden ist mein Vaterland; mein Herz gehört der Sache des Südens -- Herz und Leib und Seele!« »Dann war also die Geschichte, die du mir von euren Leiden und den Verfolgungen gegen deine Familie erzähltest, reine Erfindung?« »Sie -- sie befahlen mir es zu sagen, Herr Major!« »Und du wolltest also die Leute, die dir aus Mitleid Obdach gaben, verraten und vernichten? Begreifst du, wie gemein das ist, du armes, mißleitetes Geschöpf?« Er erwiderte darauf nur mit einem Schluchzen. »Nun, lassen wir das! Zur Sache! Wer ist der ›Oberst‹ und wo ist er?« Er fing herzbrechend an zu weinen und bat himmelhoch, ihm die Antwort zu erlassen. Er sagte, man würde ihn töten, wenn er spräche. Ich drohte ihm, ich würde ihn in die dunkle Zelle einsperren lassen, wenn er nicht mit der Sprache herauskäme. Gleichzeitig versprach ich ihm, ihn gegen jede Gefahr zu beschützen, wenn er durch ein Geständnis sein Gewissen erleichterte. Er antwortete nicht, sondern preßte die Lippen zusammen und setzte eine verstockte Miene auf. Es war nichts mit ihm anzufangen. Schließlich nahm ich ihn mit nach der dunklen Zelle, und der bloße Blick in ihr Inneres brachte ihn herum. Er brach in ein leidenschaftliches Weinen und Flehen aus und erklärte, er wolle alles sagen. Ich nahm ihn also wieder mit nach meinem Zimmer und er gab den Namen des ›Obersten‹ an und beschrieb dessen Erscheinung ganz genau. Er wäre im vornehmsten Gasthof der Stadt in bürgerlicher Kleidung zu finden. Dann mußte ich neue Drohungen anwenden, bis er mir endlich auch den ›Meister‹ mit Namen nannte und beschrieb. Er sagte, der Meister würde in New York, Bondstreet Nr. 15 zu finden sein; er wohnte dort unter dem Namen R. F. Gaylord. Ich telegraphierte Namen und Personalbeschreibung an den Polizeipräsidenten der Metropole und bat, Gaylord zu verhaften und festzuhalten, bis ich ihn abholen lassen könnte. »Nun,« sagte ich, »befinden sich, wie es scheint, verschiedene von den Verschwörern ›außerhalb‹, vermutlich in New London. Nenne und beschreibe sie!« Er nannte und beschrieb drei Männer und zwei Frauen -- sämtlich im ersten Gasthof von New London wohnend. Ich schickte Leute in die Stadt und ließ sie nebst dem ›Oberst‹ in aller Ruhe verhaften; bald saßen sie auf dem Fort in sicherem Gewahrsam. »Jetzt wünsche ich noch ganz genaue Auskunft über deine drei Mitverschwörer, die hier im Fort sind.« Es kam mir vor, als wollte er mir wieder Lügen erzählen; ich brachte aber die beiden geheimnisvollen Papierschnitzel zum Vorschein, die bei den Rekruten gefunden worden waren, und dies übte eine heilsame Wirkung auf ihn aus. Ich sagte ihm, wir hätten zwei von den Leuten schon in unserer Gewalt, und er müßte uns noch den dritten bezeichnen. Dies jagte ihm einen fürchterlichen Schreck ein und er rief: »O, bitte, erlassen Sie mir das; er würde mich auf der Stelle töten.« Ich sagte ihm, das sei alles Unsinn. Ich würde ihm jemand zum Schutze mitgeben, außerdem würden die Mannschaften ohne Waffen antreten. Ich befahl, daß alle unausgebildeten Rekruten zum Appell kommen sollten; dann mußte der arme, zitternde, kleine Kerl herauskommen; er schritt die Front ab, wobei er sich bemühte, so gleichgültig wie möglich dreinzusehen. Schließlich sprach er zu einem von den Leuten ein einziges Wort, und ehe er fünf Schritte weiter war, war der Mann auch schon verhaftet. Sobald Wicklow wieder bei uns war, ließ ich die drei Soldaten vorführen. Einer von ihnen mußte vortreten und ich sagte: »Nun, Wicklow, denke dran: weiche nicht um eines Haares Breite von der strengsten Wahrheit ab. Wer ist der Mann, und was weißt du von ihm?« Da er nun doch einmal ›festsaß‹, so setzte er alle Gedanken an etwaige Folgen beiseite, heftete seine Augen auf des Mannes Gesicht und sagte ohne jedes Zögern: »Sein wahrer Name lautet: George Brichow. Er ist aus New Orleans; war vor zwei Jahren zweiter Steuermann auf dem Küstendampfer ›Capitol‹; ist ein verzweifelter Charakter und ist schon zweimal wegen Totschlags im Gefängnis gewesen: das einemal, weil er einen Matrosen Namens Hyde mit einer Handspake getötet hatte, das anderemal, weil er einen Schiffsarbeiter totschlug, der sich weigerte, das Lot zu heben, womit auch ein solcher Schiffsarbeiter nichts zu tun hat. Er ist ein Spion und wurde in dieser Eigenschaft vom Obersten hergeschickt Er war dritter Steuermann auf dem ›St. Nicholas‹, als dieser Dampfer in der Nähe von Memphis in die Luft flog, im Jahre 1858, und er wäre beinahe gelyncht worden, weil er die Toten und Verwundeten ausplünderte, während sie in einem leeren Holzboot an Land gebracht wurden.« Und so weiter, und so weiter! Er lieferte eine vollständige Lebensbeschreibung des Mannes. Als er fertig war, sagte ich zu diesem: »Was haben Sie dazu zu bemerken?« »Nichts für ungut, Herr Major -- aber das ist die teuflischste Lüge, die je gesprochen wurde!« Ich schickte ihn wieder in Arrest und ließ die beiden anderen einzeln vortreten. Dasselbe Ergebnis. Der Junge gab über jeden von ihnen eine bis in die kleinsten Einzelheiten gehende Geschichte, ohne jemals sich auf ein Wort oder eine Tatsache besinnen zu müssen; aber alles, was ich aus den beiden Kerlen herauskriegen konnte, war die entrüstete Versicherung, es sei alles gelogen. Sie wollten nichts gestehen. Ich ließ sie wieder in Haft abführen und dann die übrigen Gefangenen, einen nach dem anderen, antreten. Wicklow gab die ausführlichste Auskunft über sie -- aus welchen Städten im Süden sie waren, und schilderte mit allen Einzelheiten ihre Beteiligung an der Verschwörung. Aber sie bestritten sämtlich seine Angabe und kein einziger von ihnen bekannte das Geringste. Die Männer tobten, die Weiber weinten. So wie sie es darstellten, waren sie alle unschuldige Leute aus dem Westen und liebten die Union über alles in der Welt. Voll Ekel ließ ich die Bande wieder einsperren und fuhr in Wicklows Verhör fort: »Wo liegt Nr. 166 und wer ist ~B. B.~?« Aber hier war die Grenze, die er sich selber gesetzt hatte. Weder Schmeicheln noch Drohen übte irgend welche Wirkung auf ihn. Die Zeit flog dahin -- es war unumgänglich nötig, zu scharfen Maßregeln zu greifen. Ich ließ ihn also an den Daumen gebunden hochziehen. Als die Schmerzen ärger wurden, stieß er ein herzzerreißendes Geschrei aus, das ich kaum anzuhören vermochte. Aber ich blieb fest, und sehr bald schrie er heraus: »O, bitte, bitte, lassen Sie mich herunter; dann will ich sprechen!« »Nein -- du wirst sprechen, bevor ich dich herunterlasse.« Jeder Augenblick bedeutete Todesqual für ihn. Und so kam’s heraus: »Nr. 166, Adler-Gasthof!« Dies war der Name einer verrufenen Wirtschaft drunten am Hafen, wo gewöhnliche Arbeiter, Küstenschiffer und zweifelhaftes Gesindel zu verkehren pflegten. Ich ließ ihn also los und verlangte sodann Auskunft über den Zweck der Verschwörung. »Das Fort heute nacht zu nehmen,« sagte er mürrisch und schluchzend. »Habe ich alle Häupter der Verschwörung erwischt?« »Nein. Sie haben sie alle mit Ausnahme derer, die sich bei 166 treffen sollten.« »Was bedeutet: ›_Gedenke_ ~XXXX~!‹?« Keine Antwort. »Wie lautet das Losungswort für 166?« Keine Antwort. »Was bedeuten diese Haufen Buchstaben: ~FFFFF~ und ~MMMM~? Antworte, oder du kriegst es noch einmal zu fühlen!« »Ich werde _niemals_ antworten. Lieber sterbe ich. Nun tun Sie, was Ihnen beliebt!« »Ueberlege dir, was du sprichst, Wicklow! Ist das dein letztes Wort?« Er antwortete standhaft und ohne ein Zittern in seiner Stimme: »Es ist mein letztes Wort. So wahr ich meine mißhandelte Heimat liebe und so wahr ich alles hasse, was hier im Norden die Sonne bescheint: ich sterbe eher, als daß ich diese Dinge enthülle!« Ich ließ ihn abermals an den Daumen hochziehen. Als er die furchtbarsten Schmerzen litt, da war es herzbrechend, des armen Wesens Schreie mit anzuhören -- aber wir brachten nichts anderes aus ihm heraus. Auf jede Frage kreischte er dieselbe Antwort: »Ich kann sterben und ich will sterben. Aber sprechen werde ich niemals!« Nun, wir mußten es aufgeben. Wir waren überzeugt, daß er ganz bestimmt lieber sterben als gestehen würde. Wir ließen ihn daher herunter und setzten ihn unter strenger Bewachung in Haft. Dann hatten wir ein paar Stunden lang alle Hände voll zu tun, um die telegraphischen Berichte an das Kriegsdepartement abzuschicken und alle Vorbereitungen für unseren Ueberfall von Nr. 166 zu treffen. Es ging aufgeregt her in jener schwarzen bitterkalten Nacht. Es war allerlei durchgesickert, und die ganze Garnison war auf dem Posten. Die Schildwachen waren verdreifacht, und kein Mensch hätte sich drinnen oder draußen rühren können, ohne durch eine Gewehrmündung vor seinem Kopf zum Stehen gebracht zu werden. Webb und ich waren indes jetzt weniger in Sorgen als zuvor, weil die Verschwörung notwendigerweise in ziemlich krüppelhaftem Zustande sein mußte, seitdem so viele von den hervorragendsten Führern in unsere Klauen geraten waren. Ich beschloß, beizeiten bei Nr. 166 zu sein, ~B. B.~ zu fesseln und zu knebeln und somit fertig zu sein, wenn die übrigen ankämen. Ungefähr ein viertel nach eins in der Frühe schlich ich mich an der Spitze von einem halben Dutzend kräftiger und beherzter altgedienter Soldaten aus der Festung heraus; bei uns hatten wir den Knaben Wicklow, dem die Hände auf den Rücken gebunden waren. Ich sagte ihm, wir wären auf dem Weg nach Nr. 166, und wenn ich fände, er hätte uns abermals belogen und uns auf eine falsche Fährte gebracht, so müsse er uns den richtigen Ort zeigen, oder er hätte die Folgen auf sich zu nehmen. Wir erreichten verstohlen und unter Beobachtung aller Vorsichtsmaßregeln das Wirtshaus. In der kleinen Schänkstube brannte ein Licht; sonst war das ganze Haus dunkel. Ich versuchte die Haustür zu öffnen; sie gab nach, und wir traten leise ein, die Türe hinter uns schließend. Dann zogen wir unsere Stiefel aus, und ich ging voran nach der Schänkstube. Da saß der deutsche Wirt in seinem Lehnstuhl und schlief. Ich weckte ihn vorsichtig und sagte ihm, er solle seine Stiefel ausziehen und uns den Weg zeigen, dabei aber keinen Laut äußern. Er gehorchte ohne Widerrede, war aber augenscheinlich in fürchterlicher Angst. Ich befahl ihm, uns zum Zimmer Nr. 166 voranzugehen. Wir stiegen leise wie die Katzen zwei oder drei Treppen hinan und gingen einen großen Flur entlang bis fast zu seinem äußersten Ende. Dort war eine Tür, durch deren matte Glasscheibe wir bemerkten, daß drinnen ein trübes Licht brannte. Der Wirt tastete sich in der Dunkelheit zu mir heran und wisperte mir zu, es wäre 166. Ich faßte den Türgriff an -- die Tür war von innen verschlossen. Dann flüsterte ich einem von meinen stärksten Soldaten einen Befehl zu; wir stemmten unsere breiten Schultern gegen die Tür und sprengten sie mit einem einzigen Druck aus ihren Angeln. Ein schneller Blick zeigte mir undeutlich eine Gestalt, die in einem Bett lag -- ich sah wie der Kopf sich der Kerze näherte; aus ging das Licht, und wir standen in pechschwarzer Finsternis! Mit einem einzigen großen Satz war ich auf dem Bett und hielt den darin Liegenden mit meinen Knieen nieder. Mein Gefangener wehrte sich kräftig, aber ich kriegte seine Gurgel mit meiner linken Hand zu packen, und das war eine gute Hilfe für meine Kniee. Dann riß ich flugs meinen Revolver heraus, spannte ihn und legte den kalten Lauf zur Warnung gegen seine Wange. Dabei rief ich: »Jetzt zünde schnell einer ein Licht an! Ich hab’ ihn sicher.« Ein Streichholz flammte auf. Ich sah mir meinen Gefangenen an und -- Himmeldonnerwetter! es war ein junges Frauenzimmer. Ich ließ sie los und sprang vom Bett herunter. Ich kam mir ziemlich dämlich vor. Jeder von uns sah verdutzt seinen Nachbar an. Es war, als hätten wir alle die Vernunft verloren, so plötzlich und überwältigend wirkte die Ueberraschung. Das junge Frauenzimmer begann zu schreien und bedeckte sich das Gesicht mit dem Bettlaken. Der Wirt sagte in demütigem Ton: »Meine Tochter hat wohl was getan, das nicht recht ist, nicht wahr?« »Ihre Tochter? Ist das Ihre Tochter?« »O ja, das ist meine Tochter. Die ist gerade heute abend von Cincinnati ein klein bißchen krank nach Hause gekommen.« »Verflucht nochmal, der Bengel hat also wieder gelogen! Das ist nicht die richtige Nr. 166, das ist nicht ~B. B.~ Höre, Wicklow, jetzt wirst du uns die richtige Nr. 166 finden, sonst -- hallo! wo ist denn der Junge?« Fort war er -- das war bombensicher. Und noch mehr, es gelang uns nicht, eine Spur von ihm zu finden. Das war eine eklige Klemme! Ich verwünschte meine Dummheit, daß ich ihn nicht an einen von den Leuten angebunden hatte; aber es hatte ja keinen Zweck, jetzt darüber zu fluchen. Was sollte ich unter den obwaltenden Umständen tun? -- Das war die Frage. Das Mädchen _konnte_ immerhin doch ~B. B.~ sein. Ich glaubte das allerdings nicht, aber es wäre ja nicht angängig gewesen, Zweifel für Gewißheit anzunehmen. Schließlich ließ ich meine Leute ein leeres Zimmer auf der anderen Seite des Flurs gegenüber von Nr. 166 beziehen und befahl ihnen, jeden, der sich des Mädchens Zimmer nähere, ohne Unterschied zu verhaften; den Wirt hatten sie bis auf weiteren Befehl unter strenger Bewachung zu halten. Dann eilte ich nach dem Fort zurück, um zu sehen, ob dort alles in Ordnung sei. Ja, da war alles in Ordnung. Und alles blieb in Ordnung. Ich blieb die ganze Nacht auf, um sicher zu gehen. Es passierte nichts. Ich war unbeschreiblich froh, als ich den Morgen dämmern sah und an das Kriegsdepartement telegraphieren konnte, daß die Sterne und Streifen noch immer über Fort Trumbull wehten. Ein ungeheurer Druck war mir vom Herzen genommen. Trotzdem ließ ich natürlich in meiner Wachsamkeit und Tätigkeit nicht nach; dazu lag der Fall zu ernst. Ich ließ die Verhafteten einen nach dem anderen vorführen und machte ihnen ganz gehörig die Hölle heiß, um sie zum Gestehen zu bringen -- aber das nützte mir nichts. Sie knirschten bloß mit den Zähnen und rauften sich die Haare aus, aber sie verrieten nichts. Gegen Mittag kamen Nachrichten über meinen verschwundenen Jungen. Man hatte ihn um sechs Uhr früh etwa acht Meilen von der Stadt auf der Landstraße gesehen. Er wanderte westwärts. Sofort schickte ich einen Kavallerieleutnant mit einem Gemeinen auf seine Spur. Zwanzig Meilen von der Stadt bekamen sie ihn zu Gesicht. Er war über einen Zaun geklettert und schleppte sich ermattet quer über eine morastige Wiese auf ein großes altmodisches Haus zu, das am Ende eines Dorfes lag. Sie ritten durch ein kleines Gehölz hindurch, machten einen Umweg und näherten sich dem Hause von der entgegengesetzten Seite. Dann stiegen sie ab und liefen schnell in die Küche. Da war niemand. Sie schlüpften in das nächste Zimmer, das ebenfalls leer war; die Tür nach dem Vorder- oder Wohnzimmer stand offen. Sie wollten gerade hineingehen, als sie eine leise Stimme hörten: irgend jemand sagte ein Gebet. Sie blieben daher ehrfurchtsvoll stehen, und der Leutnant streckte seinen Kopf vor und sah einen alten Mann und eine alte Frau, die in einer Ecke des Wohnzimmers auf den Knieen lagen. Der Betende war der alte Mann, und gerade als er mit seinem Gebet zu Ende war, machte Jung-Wicklow die Vordertür auf und trat ein. Die beiden alten Leute sprangen auf ihn zu und umarmten ihn voll Zärtlichkeit und riefen: »Unser Junge! Unser Liebling! Gott sei gepriesen! Der Verlorene ist wiedergefunden. Der tot war, ist wieder am Leben!« Nun, mein lieber Herr, was meinen Sie dazu: Die junge Kröte war da in dem Hause geboren und aufgewachsen und war sein ganzes Leben lang nicht weiter als fünf Meilen weg gewesen, bis er vor vierzehn Tagen in meine Wohnung gestrolcht kam und mich mit seiner rührseligen Räubergeschichte an der Nase herumführte! Das ist so wahr wies Evangelium. Der alte Mann war sein Vater -- ein gelehrter alter Geistlicher, der sich zur Ruhe gesetzt hatte, und die alte Dame war seine Mutter. Ich möchte mit ein paar Worten erklären, wie der Junge auf seine Streiche verfallen war. Er war, wie sich herausstellte, ein rasender Leser von Schauergeschichten und Sensationszeitungen -- dunkle Geheimnisse und strahlende Heldentaten waren daher gerade so recht sein Fall. Er hatte in den Zeitungen gelesen, daß sich Rebellenspione fortwährend in unserer Mitte herumtrieben; die Geschichten von ihren grauslichen Absichten und von den zwei oder drei aufregenden Heldentaten, die sie wirklich ausführten, hatten auf seine Einbildungskraft gewirkt, bis sie schließlich in hellen Flammen stand. Mehrere Monate lang war sein beständiger Kamerad ein Yankeejüngling von großer Zungenbegabung und lebhafter Phantasie gewesen. Dieser hatte als ›Dreckschreiber‹ d. i. Unterzahlmeister, auf mehreren von den Dampfbooten gedient, die den Verkehr von New Orleans zwei- oder dreihundert Meilen den Mississippi aufwärts vermitteln -- daher seine Gewandtheit in der Verwendung der Namen und gewisser Einzelheiten, die sich auf jene Gegend bezogen. Nun hatte ich selber in jenem Teil von Louisiana vor dem Ausbruch des Krieges zwei oder drei Monate zugebracht und ich wußte gerade genug, um mit Leichtigkeit auf die Geschichten des Burschen hineinzufallen, während hingegen ein geborener Louisianer ihn wahrscheinlich binnen fünfzehn Minuten bei seinem Schwindeln ertappt haben würde. Und wissen Sie, warum er sagte, er wollte lieber sterben, als gewisse Rätsel seiner Verschwörung erklären? Ganz einfach, weil er sie nicht erklären _konnte_. Sie hatten gar keine Bedeutung; er hatte sie ohne jeden Hinter- oder Vordergedanken reinweg aus seiner Einbildung geschöpft; als nun plötzlich von ihm verlangt wurde, eine Erklärung davon zu geben, da konnte er diese nicht so schnell erfinden. So z. B. konnte er das in dem mit ›sympathetischer Tinte‹ geschriebenen Brief verborgene Geheimnis nicht enthüllen -- aus dem mehr als hinreichenden Grunde, weil darin überhaupt nichts verborgen war; es war bloß leeres Papier. Er hatte nichts in einer Kanone verborgen und hatte nie die Absicht gehabt, es zu tun -- denn seine Briefe waren sämtlich an Personen geschrieben, die nur in seiner Phantasie existierten. Er wußte also auch nichts von dem geknoteten Bindfaden, denn er sah das Ding zum erstenmal, als ich es ihm zeigte. Sobald er aber von mir herausgebracht hatte, wo die Schnur gefunden war, machte er sich den Umstand in seinem romantischen Gemüt sofort zu Nutze und erzielte einige schöne Effekte damit. Er erfand Herrn ›Gaylord‹; es gab zufällig gerade damals gar keine Nr. 15 in Bondstreet -- das Haus war drei Monate vorher abgebrochen worden. Er erfand den ›Oberst‹; er erfand die mit glatter Zunge erzählten Geschichten der unglückseligen Leute, die ich verhaftete und ihm gegenüberstellte. Er erfand ›~B. B.~‹; er erfand sogar, sozusagen, Nr. 166, denn er wußte nicht eher, daß es im Gasthof zum Adler diese Zimmernummer gab, als bis wir mit ihm hingingen. Er war bereit, alles und jedes zu erfinden, wie es gerade erforderlich war. Wenn ich nach Spionen ›außerhalb des Forts‹ fragte, nun da beschrieb er sofort Fremde, die er im Hotel gesehen und deren Namen er zufällig gehört hatte. Ah, er lebte in einer ungeheuerlichen, geheimnisvollen, romantischen Welt während dieser paar Tage, und ich glaube, für ihn war es _Wirklichkeit_ und er hatte an ihr seine Lust bis in die tiefste Tiefe seiner Seele hinein. Aber uns machte er Unannehmlichkeiten genug und wirklich endlose Scherereien. Sie begreifen: auf seine Veranlassung hin hatten wir fünfzehn oder zwanzig Leute aufs Fort gebracht und sie, mit einer Schildwache vor jeder Tür, in Einzelhaft gesetzt. Zum Teil waren die Verhafteten Soldaten und dergleichen Leute, und denen gegenüber brauchte ich mich nicht zu entschuldigen. Aber die übrigen waren Herrschaften erster Güte, aus allen Gegenden der Union, und so viele Entschuldigungen, wie die verlangten, konnte ich gar nicht zu stande bringen! Sie schäumten und tobten einfach vor Wut und machten einen unendlichen Lärm. Und dann die beiden Damen -- die eine war die Gemahlin eines Kongreßmannes aus Ohio, die andere die Schwester eines Bischofs aus dem Westen -- na, _der_ verächtliche Hohn und _die_ ärgerlichen Tränen, womit sie mich überschütteten! Ich dachte mir gleich, die Damen würde ich wohl recht lange im Gedächtnis behalten -- und so ist’s wirklich eingetroffen und wird auch so bleiben. Der lahme alte Herr mit der grünen Brille war ein College-Vorsteher von der Universität Philadelphia, der nach New London gekommen war, um dem Begräbnis eines Neffen beizuwohnen. Er hatte natürlich Jung-Wicklow niemals vorher gesehen. Nun, er versäumte nicht nur die Beerdigung und wurde als Rebellenspion ins Loch gesteckt, sondern Wicklow war in meiner Wohnung vor ihn hingetreten und hatte ihn ganz kaltblütig als Urkundenfälscher, Niggerhändler, Pferdedieb und Brandstifter aus der verruchtesten Schurkenhöhle in Galveston bezeichnet, und das war etwas, was der arme alte Herr anscheinend durchaus nicht verdauen konnte. Und das Kriegsdepartement! -- Aber du lieber Gott, ziehen wir lieber den Vorhang darüber zu! _Anmerkung_: Ich zeigte mein Manuskript dem Major, und er sagte: »Ihre geringe Vertrautheit mit militärischen Verhältnissen hat Sie zu einigen kleinen Mißverständnissen verleitet. Indessen, da sie der Geschichte sogar einen ganz hübschen Aufputz geben -- lassen wir sie stehen. Militärs werden darüber lächeln, und andere Leser werden sie gar nicht bemerken. Sie haben die Hauptzüge der Geschichte richtig erfaßt und sie genau so wiedergegeben, wie sie sich zugetragen haben.« ~M. T.~ Aus den ›London Times‹ von 1904[8] [8] Veröffentlicht wurde diese Phantasie im Jahre 1900. I. Bericht der ›London Times‹. Chicago, den 5. April 1904. Ich setze mittels Kabeltelephons den gestern abgebrochenen Bericht fort. Seit vielen Stunden hat jetzt die ungeheure Stadt -- und mit ihr natürlich auch der übrige Teil des Erdballs -- von nichts anderem gesprochen als von dem außerordentlichen Auftritt, den ich in meinem letzten Bericht erwähnte. Den Weisungen der Redaktion entsprechend will ich jetzt den Roman in seinem ganzen Verlauf schildern, vom Anfang bis zu dem Gipfelpunkt von gestern -- oder heute; nennen Sie den Tag wie Sie wollen. Infolge eines eigentümlichen Zufalls war ich selber in einem Teil des Dramas persönlicher Mitwirkender. Die Eröffnungsszene spielt in Wien. Datum: ein Uhr morgens am 31. März 1898. Ich war den Abend zu Tisch eingeladen gewesen und hatte ungefähr um Mitternacht zusammen mit den Militärattachés der Britischen, der Italienischen und der Amerikanischen Botschaft die Gesellschaft verlassen, um zum Schluß noch eine späte Zigarre zu rauchen. Dies sollte im Hause des Leutnants Hillyer, des dritten von den oben genannten Attachés, vor sich gehen. Bei unsrer Ankunft fanden wir mehrere Besucher im Salon: den jungen Szczepanik; Herrn K., der Szczepaniks Projekte finanzierte; Herrn W., den Sekretär des Herrn K., und Leutnant Clayton von der Armee der Vereinigten Staaten. Der Krieg zwischen Spanien und den Vereinigten Staaten drohte damals gerade auszubrechen, und Leutnant Clayton war in militärischen Angelegenheiten nach Europa geschickt worden. Den jungen Szczepanik und seine beiden Freunde kannte ich recht gut, Clayton dagegen nur oberflächlich. Ich hatte ihn vor Jahren in West Point getroffen, als er dort Kadett war. Es war zur Zeit, als General Merritt Kommandeur der Militärschule war. Clayton galt für einen befähigten Offizier, zugleich aber für leicht erregbar und ziemlich gerade in seinen Worten. Die Herren, die nunmehr im Rauchzimmer versammelt waren, waren zum Teil in geschäftlichen Angelegenheiten erschienen. Dieses Gespräch betraf eine Beratung über die Verwendbarkeit des elektrischen Fernsehers oder Telelektroskops für den militärischen Dienst. Es klingt jetzt sonderbar genug, ist aber trotzdem wahr, daß damals die Erfindung von keinem Menschen ernst genommen wurde, außer vom Erfinder selber. Sogar der Gönner, der das Geld hergab, betrachtete sie lediglich als ein merkwürdiges und interessantes Spielzeug. Er war sogar so überzeugt hievon, daß er einen Vertrag abgeschlossen hatte, durch welchen die Einführung des Fernsehers im Weltverkehr bis zum Ende des zur Rüste gehenden Jahrhunderts hinausgeschoben wurde; für zwei Jahre hatte er nämlich das Recht des ausschließlichen Betriebes einem Syndikat überlassen, das die Erfindung auf der Pariser Weltausstellung auszubeuten gedachte. Als wir das Rauchzimmer betraten, fanden wir Clayton und Szczepanik in einen in deutscher Sprache geführten hitzigen Disput über das Telelektroskop verwickelt. Clayton sagte gerade: »Nun, Sie kennen jedenfalls meine Meinung darüber!« -- und dabei schlug er nachdrucksvoll mit der Faust auf den Tisch. »Und ich mache mir aus Ihrer Meinung nichts!« versetzte der junge Erfinder mit herausfordernder Ruhe in Ton und Haltung. Clayton wandte sich zu Herrn K. und sagte: »Ich kann einfach nicht begreifen, warum Sie Ihr Geld an eine solche Spielerei vergeuden. Ich bin überzeugt, niemals wird der Tag erscheinen, wo sie irgend einem menschlichen Wesen einen wirklichen Dienst leistet, der auch nur einen Farthing wert wäre.« »Das kann sein; ja, das kann sein; trotzdem habe ich mein Geld da hineingesteckt, und ich bin zufrieden, daß ich’s getan habe. Ich glaube selber, daß es nur Spielerei ist; aber Szczepanik stellt seine Erfindung höher, und so wie ich ihn kenne, glaube ich, daß er weiter blickt als ich -- und zwar sowohl mit seinem Telelektroskop als ohne dasselbe.« Die freundliche Antwort kühlte Claytons Aerger nicht ab, sie schien ihn im Gegenteil nur noch mehr zu reizen, und er wiederholte in noch stärkeren Ausdrücken seine Versicherung, er sei überzeugt, daß die Erfindung keinem Menschen jemals für einen Farthing wirklichen Nutzen bringen werde. Diesmal sprach er sogar von einem ›kupfernen Farthing‹. Dann legte er einen englischen Farthing auf den Tisch und fuhr fort: »Nehmen Sie ihn, Herr K., und stecken Sie ihn ein; und wenn der elektrische Fernseher jemals einem Menschen einen wirklichen Dienst leistet -- ich betone: einen _wirklichen_ Dienst -- so schicken Sie ihn mir bitte als Erinnerungszeichen zu, und ich werde alsdann meine Worte zurücknehmen Wollen Sie?« »Ich will’s,« sagte K. und steckte die Münze in die Tasche. Clayton wandte sich nun zu Szczepanik und begann eine höhnische Bemerkung, die er aber nicht zu Ende brachte, denn Szczepanik unterbrach sie mit einem starken Ausdruck und schlug ihm unmittelbar darauf ins Gesicht. Ein paar Augenblicke lang schlugen die beiden Männer aus allen Kräften aufeinander los, dann wurden sie von den Attachés getrennt ... * * * * * Jetzt wird die Szene nach Chicago verlegt. Zeit: Herbst 1901. Sobald der Vertrag für die Pariser Weltausstellung abgelaufen war, wurde der Fernseher dem öffentlichen Gebrauch übergeben, und es dauerte nicht lange, so war er an das Fernsprechernetz der ganzen Welt angeschlossen. Auf einmal wurde auch der verbesserte ›Fernsprecher für unbegrenzte Entfernungen‹ eingeführt, und die Tagesereignisse auf dem ganzen Erdball konnten jetzt von jedermann mit angesehen werden, und Augenzeugen, die unzählige Meilen von einander entfernt waren, konnten sich in bequem verständlicher Weise über die Geschehnisse unterhalten. Nach einiger Zeit kam Szczepanik in Chicago an. Clayton, der inzwischen Hauptmann geworden war, stand dort in Garnison. Die beiden Männer nahmen ihren Wiener Streit vom Jahre 1898 wieder auf. Dreimal gerieten sie an verschiedenen Orten aneinander und mußten durch die Anwesenden getrennt werden. Dann verstrichen zwei Monate, während welcher Zeit Szczepanik von keinem seiner Bekannten gesehen wurde; anfangs nahm man an, er habe eine Vergnügungsreise angetreten und werde bald von sich hören lassen. Aber nein; es kam keine Nachricht von ihm. Darauf dachte man, er sei nach Europa zurückgekehrt. Wieder verging einige Zeit, und man hörte immer noch nichts von ihm. Indessen beunruhigte kein Mensch sich deswegen, denn er war wie die meisten Erfinder und andere Dichtersleute: er folgte in Kommen und Gehen seinen eigenen Launen und pflegte gewöhnlich seine Absichten nicht vorher anzukündigen. Nun kommt die Tragödie. Am 29. Dezember wurde in einem finstern und unbenutzten Raum des Kellers unter Hauptmann Claytons Haus durch eins von Claytons Dienstmädchen ein Leichnam entdeckt. Bekannte Szczepaniks erklärten, es sei dieser. Der Mann war eines gewaltsamen Todes gestorben. Clayton wurde verhaftet, angeklagt und wegen dieses Mordes vor Gericht gestellt. Der Augenschein sprach in jeder Einzelheit und in völlig unanfechtbarer Weise gegen ihn. Clayton gab dieses selber zu. Er sagte, ein vernünftiger Mann, der alle Anzeichen mit leidenschaftslosem Sinn erwöge, müßte dadurch überzeugt werden -- und würde trotzdem sich irren! Clayton schwor, er habe den Mord nicht begangen und sei in keiner Weise daran beteiligt gewesen. Er wurde, wie Ihre Leser sich erinnern werden, zum Tode verurteilt. Er hatte zahlreiche und mächtige Freunde, und sie gaben sich große Mühe, ihn zu retten, denn keiner von ihnen bezweifelte die Wahrheit seiner Versicherung. Ich half nach meinen schwachen Kräften mit, denn ich war jetzt seit langer Zeit eng mit ihm befreundet und glaubte bestimmt zu wissen, daß es nicht in seinem Charakter lag, einen Feind in einen Winkel zu locken und dort zu ermorden. Während der Jahre 1902 und 1903 wurde ihm mehrere Male vom Gouverneur Aufschub der Strafe bewilligt; noch einmal wurde ihm zu Anfang des gegenwärtigen Jahres Frist gewährt und die Vollstreckung des Urteils bis zum 31. März verschoben. Der Gouverneur befand sich vom Tage der Verurteilung an in einer peinlichen Lage -- denn Claytons Gattin ist eine Nichte des Gouverneurs. Die Heirat fand im Jahre 1899 statt, als Clayton 34 und das Mädchen 23 Jahre alt war, und die Ehe war eine glückliche. Es ist ein Kind vorhanden, ein dreijähriges kleines Mädchen. Mitleid mit der armen Mutter und dem Kindchen schloß anfangs den Nörglern den Mund; aber dies konnte nicht immer so bleiben, denn in Amerika spricht bei allen Verhältnissen die Politik mit -- und allmählich begannen des Gouverneurs politische Gegner die öffentliche Aufmerksamkeit darauf zu lenken, daß in diesem Fall dem Gesetz nicht ungehemmter Lauf gelassen werde. Diese Winke wurden in letzter Zeit immer häufiger und immer deutlicher. Natürlich wurden des Gouverneurs eigne Parteigenossen dadurch nervös gemacht. Die Führer der Partei fingen an sich in Springfield einzufinden und lange vertrauliche Besprechungen mit dem Gouverneur zu halten. Dieser befand sich jetzt zwischen zwei Feuern. Auf der einen Seite flehte seine Nichte ihn an, ihren Gatten zu begnadigen, auf der andern bestanden die Parteiführer darauf, er müsse seine klare Pflicht als erster Beamter des Staates erfüllen und dürfe Claytons Hinrichtung nicht länger aufhalten. Das Pflichtgefühl gewann in diesem Kampf die Oberhand, und der Gouverneur gab sein Wort, er werde dem Verurteilten keinen Aufschub mehr gewähren. Dies war vor zwei Wochen; Frau Clayton ging nun zum Gouverneur und sagte ihm: »Jetzt, wo du dein Wort gegeben hast, ist meine letzte Hoffnung geschwunden, denn ich weiß, du wirst es niemals zurücknehmen. Aber du hast für John alles getan, was du konntest, und ich mache dir keinen Vorwurf. Du liebst ihn und liebst mich, und wir wissen, wenn du ihn in Ehren retten könntest, so würdest du es tun. Ich will jetzt zu ihm gehen, ihm beistehen, so gut ich kann, und ihm die paar Tage bis zu der grauenvollen Nacht, die für mich kein Ende haben wird, so angenehm wie möglich machen. Du wirst an jenem Tage bei mir sein? Du wirst mich’s nicht allein tragen lassen?« »Ich will dich selber zu ihm bringen, armes Kind, und ich will bis zum letzten Augenblick dir zur Seite stehen.« Auf des Gouverneurs Befehl wurde Clayton jetzt jede von ihm gewünschte Annehmlichkeit gewährt, die seinen Geist anregen und die Härten der Gefangenschaft ihm mildern konnte. Tagsüber waren Weib und Kind bei ihm; nachts leistete ich ihm Gesellschaft. Er wurde aus der engen Zelle herausgebracht, die er während einer so langen traurigen Zeit bewohnt hatte, und erhielt die geräumige und behaglich eingerichtete Wohnung des Oberaufsehers. Sein Geist beschäftigte sich fortwährend mit der Katastrophe seines Lebens und mit dem abgeschlachteten Erfinder, und so kam es ihm denn in den Sinn, er möchte gern das Telelektroskop haben und sich damit unterhalten. Sein Wunsch wurde erfüllt. Sein Zimmer wurde mit der internationalen Fernsprechstelle verbunden, und Tag für Tag und Nacht für Nacht rief er ein Erdenfleckchen nach dem andern an und betrachtete das Leben und die seltsamen Gewohnheiten und sprach mit den Leuten dort und begriff, daß er dank diesem wunderbaren Instrument fast so frei war wie ein Vogel in der Luft, ob er gleich als Gefangener hinter Schloß und Riegel saß. Selten sprach er mit mir, und ich unterbrach ihn niemals, wenn er mit seiner Lieblingsunterhaltung beschäftigt war. Ich saß in seinem Wohnzimmer und las und rauchte, und die Nächte waren sehr ruhig und verliefen friedlich und angenehm in seiner Gesellschaft. Ab und zu hörte ich ihn sagen: »Bitte Yeddo!«, und dann gleich darauf: »Bitte Hongkong!« und wieder: »Bitte Melbourne.« Und ich rauchte und las in aller Bequemlichkeit, während er fern in der Welt auf der andern Seite des Erdballs herumwanderte, wo die Sonne leuchtend am Himmel stand und die Menschen ihrem Tagwerk nachgingen. Zuweilen interessierte mich das Gespräch, das aus jenen fernen Gegenden kam und vermöge des mit dem Fernseher verbundenen Mikrophons in unsrem Zimmer vernehmbar war, und dann hörte ich zu. Gestern -- ich bleibe dabei, von ›gestern‹ zu sprechen, und zwar aus gewissen, ganz natürlichen, Gründen -- gestern blieb das Instrument unbenutzt, und das war ebenfalls natürlich, denn es war der Tag vor der Hinrichtung. Er verging mit Weinen und Wehklagen und Abschiednehmen. Der Gouverneur und Claytons Weib und Kind blieben bis nachts um viertel nach elf, und die Auftritte, die ich miterlebte, schnitten einem ins Herz. Die Hinrichtung sollte um vier Uhr morgens stattfinden. Kurz nach elf tönte ein Schall von Hammerschlägen durch die stille Nacht, und draußen wurde es hell, und das Kind rief: »Was ist das, Papa?« und lief ans Fenster, ehe man es zurückhalten konnte, und klatschte in die Händchen und rief: »O komm doch, Mama, und sieh was für ein hübsches Ding sie da machen!« Die Mutter wußte, was sie machten -- und sank in Ohnmacht. Es war der Galgen! Sie wurde nach ihrer Wohnung fortgeschafft, die arme Frau, und Clayton und ich waren allein -- allein und brüteten über unseren Gedanken und träumten. So bewegungslos und still saßen wir, daß man uns hätte für Bildsäulen halten können. Es war eine wilde Nacht draußen, denn der Winter war noch einmal zurückgekehrt zu einem kurzen Besuch, wie es in unserer Gegend in der ersten Frühjahrszeit meistens der Fall ist. Der Himmel war sternenlos und schwarz, und ein starker Wind blies vom See her. Das Schweigen im Zimmer war so tief, daß alle Laute von draußen infolge des Gegensatzes übertrieben stark erschienen. Diese Laute paßten zur Stunde, sie entsprachen der Lage und den Umständen; sausend und prasselnd fuhr der Sturm in plötzlichen Stößen über Dächer und Kamine, bis der Lärm an den Wasserrinnen und Häuserecken zu einem Pfeifen und Winseln erstarb; ab und zu schlug knatternd ein Hagelschauer an die Fensterscheiben -- und dazu fortwährend die schauerlichen gedämpften Hammerschläge der Zimmerleute, die im Hofe den Galgen aufrichteten. Als dies fertig war, drang nach einer Ewigkeit ein anderer Ton zu uns -- aus weiter Ferne und nur ganz schwach durch den Aufruhr des Sturmes hindurchklingend -- eine Glocke schlug zwölf! Wieder eine Ewigkeit -- dann schlug es abermals. Und dann -- noch einmal. Dann folgte eine entsetzlich lange Pause und dann tönte wiederum der Geisterklang zu uns herüber: Eins! -- Zwei! -- Drei! -- Und diesmal stockte uns der Atem dabei: Noch sechzig Minuten zu leben! Clayton stand auf und trat ans Fenster. Er schaute hinaus in den schwarzen Himmel und horchte auf das Prasseln des Hagels und das Pfeifen des Windes. Dann sagte er: »Und _das_ sollten eines Mannes letzte Augenblicke auf Erden sein?!« Und nach einer kurzen Weile: »Ich muß noch einmal die Sonne sehen -- die Sonne!« Und im nächsten Augenblick rief er in fieberhafter Erregung: »China! Verbinden Sie mich mit China -- Peking!« Ich selber war in seltsamer Aufregung und dachte bei mir: »Wie unglaublich -- ein gewöhnlicher Mensch vollbringt dieses unermeßliche Wunder: wandelt Winter in Sommer, Nacht in Tag, Sturm in Windstille, gibt einem Gefangenen in seiner Zelle freien Verkehr mit dem ganzen großen Erdball und läßt einen Mann, der in ägyptischer Finsternis stirbt, die Sonne in ihrem nackten Schönheitsglanz schauen!« Ich hörte dem Gespräch zu: »Was für ein Licht! welch ein Glanz! welche Strahlenfülle! ... Das ist Peking?« »Ja.« »Welche Zeit?« »Mitten am Nachmittag.« »Was will die große Menge, was bedeuten die prachtvollen Kleider? Welche Massen und Massen von reicher Farbenpracht und barbarischem Glanz! Und wie sie blitzen und sprühen und glühen in dem flutenden Sonnenlicht! Was bedeutet denn das alles?« »Die Krönung unseres neuen Kaisers -- des Zaren.« »Aber ich dachte, die hätte gestern stattfinden sollen.« »Unser ›heute‹ ist für Sie -- ›gestern‹.« »Ach so, natürlich. Aber ich bin dieser Tage etwas verwirrt -- aus guten Gründen ... Ist dies der Beginn des Festzugs?« »O nein; er fing schon vor einer Stunde an, sich in Bewegung zu setzen.« »Wird noch mehr davon zu sehen sein?« »Der Vorbeimarsch dauert noch zwei volle Stunden. Warum seufzen Sie?« »Weil ich gerne alles gesehen hätte.« »Und warum können Sie das nicht?« »Ich muß gehen -- gleich jetzt im Augenblick.« »Sie haben eine Verpflichtung?« Pause. Dann ein leises »Ja«. Wieder eine Pause. Dann: »Wer sind die Leute unter dem prachtvollen Zeltdach?« »Die kaiserliche Familie und Fürstlichkeiten, die aus allen Gegenden der Welt als Gäste gekommen sind.« »Und wer sind die anderen in den anstoßenden Zelten zur Rechten und zur Linken?« »Unter dem Zeltdach rechts Gesandte mit Familien und Gefolge; zur Linken Fremde ohne amtlichen Charakter.« »Wenn Sie so gut sein wollen, ich ...« _Bumm!_ Wieder erscholl durch das Unwetter von Sturm und Hagel die ferne Glocke und meldete mit schwacher Stimme die halbe Stunde. Die Tür ging auf, und der Gouverneur trat ein; mit ihm Mutter und Kind -- die Frau im Witwengewand! Mit leidenschaftlichen Tränen warf sie sich ihrem Gatten an die Brust und ich -- ich mußte hinaus; ich konnte es nicht ertragen. Ich ging in das Schlafzimmer und schloß die Tür. Dort saß ich und wartete -- wartete -- wartete, und lauschte dem Hagelgeprassel und Sturmesgesause. Mir war’s, als verginge eine lange lange Zeit, dann hörte ich ein Geraschel und Hinundhergehen im Wohnzimmer, und ich wußte, jetzt waren der Geistliche, der Sheriff und der Gefängniswärter eingetreten. Dann wurde leise gesprochen; dann alles still; dann ein Gebet, mit Schluchzen untermischt; auf einmal der Klang von Schritten -- der Aufbruch zum Schafott; und dann noch des Kindes glückliche Stimme: »Ach weine doch nicht mehr, Mama; jetzt haben wir da doch Papa wieder und nehmen ihn mit nach Hause!« Die Tür fiel zu; sie waren fort. Ich schämte mich; ich war des zum Sterben Bestimmten einziger Freund, der keine geistige Kraft, keinen Mut hatte. Ich trat ins Wohnzimmer und sagte laut, ich wollte ein Mann sein und auch hingehen. Aber über uns selbst können wir nicht hinaus -- können es mit dem besten Willen nicht. Ich ging nicht. Aufgeregt lief ich im Zimmer herum; auf einmal ging ich ans Fenster, öffnete es leise -- von dem fürchterlichen Bann erfaßt, den entsetzliche Ereignisse ausüben -- und sah auf den Hof hinunter. Bei dem prahlerischen Licht der elektrischen Lampen sah ich die kleine Gruppe der eingeladenen Zeugen, die Frau, die an ihres Onkels Brust weinte, den Verurteilten, der auf dem Schafott stand. Schon hatte er den Strick um den Hals, seine Arme waren an den Leib gebunden, die schwarze Kappe bedeckte seinen Kopf. Der Sheriff an seiner Seite hielt die Hand am Fallbrett; ihm gegenüber stand der Geistliche barhäuptig und mit dem Buch in der Hand. »_Ich bin die Auferstehung und das Leben_ --« Ich drehte mich um; ich konnte es nicht mit anhören, ich konnte es nicht mit ansehen. Ich wußte nicht, wohin ich ging und was ich tat. Mechanisch und unbewußt legte ich meine Augen an das merkwürdige Instrument, den elektrischen Fernseher -- und da war Peking und der Krönungszug des Zaren. Im nächsten Augenblick beugte ich mich aus dem Fenster hinaus -- atemlos, nach Luft ringend. Ich versuchte zu sprechen, aber ich war gerade infolge der Notwendigkeit, ohne jeden Verzug zu sprechen, wie betäubt. Der Prediger konnte sprechen, aber ich, der ich so dringend Worte finden mußte ... »_Und möge Gott Gnade haben mit deiner Seele. Amen._« Der Sheriff zog die schwarze Kappe herunter und legte die Hand an den Hebel. Da fand ich meine Stimme wieder! »Halt! Um Gottes willen halt! Der Mann ist unschuldig. Kommt her und seht Szczepanik von Angesicht zu Angesicht!« Kaum drei Minuten darauf stand der Gouverneur an meiner Stelle am Fenster und rief: »Nehmt ihm die Fesseln ab und laßt hin frei!« Drei Minuten später waren alle wieder im Zimmer. Der Leser wird sich die Szene vorstellen können; ich brauche sie nicht zu beschreiben. Es war eine Art von wahnsinnigem Freudentaumel. Ein Bote brachte Szczepanik Meldung nach dem Zuschauerzelt, und wir konnten sehen, wie ein angstvolles Erstaunen sein Antlitz überzog, als er die Geschichte vernahm. Dann begab er sich an den Apparat und sprach mit Clayton und dem Gouverneur und anderen. Und die Frau dankte ihm mit überströmendem Gefühl, daß er ihres Gatten Leben gerettet, und küßte ihn in ihrer tiefen Dankbarkeit über zwölftausend Meilen hinweg. Die elektrischen Fernseher auf dem ganzen Erdball traten in Tätigkeit, und viele Stunden lang sprachen Könige und Königinnen -- und ab und zu auch ein Reporter -- mit Szczepanik und priesen ihn; und die wenigen wissenschaftlichen Gesellschaften, die ihn noch nicht zum Ehrenmitglied erhoben hatten, beglückten ihn jetzt mit dieser Gunst. Wie war es zugegangen, daß er aus unserer Mitte verschwand? Dies war leicht erklärt. Er hatte noch nicht die Uebung erlangt, seinen Weltruhm zu tragen, und hatte nicht anders gekonnt als sich vor dem Glück, überall der Löwe des Tages zu sein, aus dem Staube zu machen; denn dieses ›Glück‹ machte jede Ruhe und Selbsteinkehr unmöglich. Er ließ sich also einen Bart wachsen, setzte eine blaue Brille auf, verkleidete sich auch selbst noch ein bißchen, nahm einen falschen Namen an und ging davon, um in Frieden die Welt zu durchwandern. Das ist der Verlauf des Dramas, das im Frühling 1898 mit einem unbedeutenden Streit in Wien begann und im Frühling 1904 beinahe als Tragödie geendet hätte. II. Korrespondenz der ›London Times‹. Chicago, den 1. April 1904. Heute kam von der ›Electric Line‹ mit einem elektrischen Eilschiff und vom Hafen ab mit der elektrischen Eisenbahn befördert, ein Briefumschlag aus Wien an Hauptmann Clayton. Inhalt: ein englischer Farthing. Der Empfänger war recht gerührt. Er ließ sich mit Wien verbinden, begrüßte Herrn K’s wohlbekanntes Gesicht und sagte: »Ich brauche nichts zu sagen; Sie können alles auf meinem Antlitz lesen. Meine Frau hat den Farthing. Seien Sie unbesorgt -- sie wird ihn nicht wegwerfen.« III. Korrespondenz der ›London Times‹. Chicago, den 23. April 1904. Da jetzt die späteren Entwickelungen des ›Falls Clayton‹ ihren Lauf genommen -- und beendigt haben, so will ich das Ganze kurz zusammenfassen. Claytons romantische Rettung vor einem schmachvollen Tode versetzte die ganze Gegend in einen Zaubertaumel von freudiger Ueberraschung. Er hielt die sprichwörtlichen neun Tage an. Dann folgte die Ernüchterung, und einige begannen nachzudenken und zu sagen: »_Aber ein Mann wurde getötet_ -- und Clayton tötete ihn.« Andere antworteten: »Das ist wahr; diesen wichtigen Umstand haben wir übersehen; wir haben uns von unserer Erregung zu weit fortreißen lassen.« Bald hatte man allgemein das Gefühl, Clayton müsse noch einmal vor Gericht gestellt werden. Die nötigen Maßnahmen wurden getroffen und es wurden die erforderlichen Anträge in Washington gestellt; denn in Amerika gehören nach dem neuen Paragraphen, der im Jahre 1889 der Verfassung hinzugefügt wurde, Prozesse zweiter Instanz nicht in den Machtbereich der Einzelstaaten, sondern es sind Nationalangelegenheiten, und sie müssen vor die erhabene Körperschaft des Landes, den ›Höchsten Gerichtshof der Vereinigten Staaten‹ gebracht werden. Die Richter wurden also zur Tagung nach Chicago berufen. Die Sitzung fand vorgestern statt und wurde mit den üblichen eindrucksvollen Förmlichkeiten eröffnet: die neun Richter erschienen in ihren schwarzen Talaren und der neue Höchste Richter (Lemaître) führte den Vorsitz. Der letztere eröffnete die Verhandlung und sprach: »Meiner Meinung nach ist die Sache ganz einfach: Der Angeklagte war beschuldigt, einen gewissen Szczepanik ermordet zu haben; er wurde wegen Ermordung des Szczepanik vor Gericht gestellt; er wurde wegen Ermordung des Szczepanik in aller Form Rechtens schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt. Es stellt sich heraus, daß der Szczepanik überhaupt nicht ermordet wurde. Nach der Entscheidung der französischen Gerichtshöfe im Fall Dreyfus steht es unbestreitbar fest, daß _Entscheidungen von Gerichtshöfen ewig gelten und nicht nachgeprüft werden können_. Wir sind gehalten, diesen Präzedenzfall zu achten und uns zu eigen zu machen. Auf Präzedenzfälle ist das ewige Gebäude der Rechtswissenschaft gegründet. Der Angeklagte ist in aller Form Rechtens wegen Ermordung des Szczepanik zu Tode verurteilt worden, und es gibt meiner Meinung nach in dieser Angelegenheit nur einen einzigen Weg, den wir einschlagen können: er muß gehängt werden!« Richter Crawford sagte: »Aber Exzellenz, er wurde wegen dieser Tat auf dem Schafott begnadigt!« »Die Begnadigung ist nicht gültig und kann nicht gültig sein, denn er wurde begnadigt wegen der Ermordung Szczepaniks -- eines Mannes, den er nicht getötet hatte. Niemand kann wegen eines Verbrechens begnadigt werden, das er nicht begangen hat; das wäre eine Abgeschmacktheit.« »Aber Exzellenz, er tötete einen Menschen!« »Das ist ein außerhalb der Sache liegender Umstand; wir haben damit nichts zu tun. Der Gerichtshof kann sich mit diesem Verbrechen nicht eher beschäftigen, als bis der Angeklagte das andere gesühnt hat.« Richter Halleck bemerkte: »Wenn wir seine Hinrichtung anordnen, Exzellenz, so werden wir damit nur einen Mißgriff der Justiz veranlassen, denn der Gouverneur wird ihn abermals begnadigen.« »Dazu wird er nicht die Macht haben. Er kann keinen Menschen wegen eines Verbrechens begnadigen, das dieser nicht begangen hat. Dies würde, wie ich bereits bemerkte, eine Abgeschmacktheit sein.« Nach einer Beratung mit seinen Kollegen sagte Richter Wadsworth: »Mehrere von uns sind zum Schluß gekommen, Exzellenz, daß es ein Irrtum sein würde, den Angeklagten wegen des an Szczepanik begangenen Mordes zu henken anstatt wegen der Ermordung des anderen Mannes; denn es ist bewiesen, daß er Szczepanik nicht getötet hat.« »Im Gegenteil, es ist bewiesen, daß er Szczepanik tötete. Aus dem französischen Präzedenzfall geht klar hervor, daß wir bei dem Spruch des Gerichtshofes verbleiben müssen.« »Aber Szczepanik lebt ja noch.« »Dreyfus auch.« Kurz und gut, es wurde für unmöglich befunden, den französischen Präzedenzfall zu ignorieren oder ihn zu umgehen. Es war nur ein Ergebnis möglich: Clayton wurde dem Henker überantwortet. Dies bewirkte eine ungeheure Erregung; der Staat Illinois erhob sich wie _ein_ Mann und verlangte Claytons Begnadigung und die _Wiederaufnahme seines Prozesses_. Der Gouverneur sprach die Begnadigung aus, aber der Höchste Gerichtshof mußte sie pflichtgemäß für ungültig erklären; er tat es, und der arme Clayton wurde gestern gehenkt. Die Stadt trauert in Schwarz, und dies kann man in der Tat vom ganzen Staate sagen. Ganz Amerika hallt wider von verächtlichem Zorn gegen ›Französische Gerechtigkeit‹ und gegen die bösartigen Offizierchen, die dies Ding erfanden und andere Christenländer damit straften. [Illustration] Das Todeslos.[9] [9] Nach einer wahren Begebenheit, die ~Carlyle~ in seinen ~Letters and Speeches of Oliver Cromwell~ erwähnt. ~M. T.~ Es war zur Zeit Oliver Cromwells. Oberst Mayfar, der jüngste Offizier dieses Ranges im Heere des Protektors, war erst dreißig Jahre alt, aber trotz seiner Jugend doch ein Veteran, wetterfest und kriegsgewohnt, denn er hatte schon mit 17 Jahren seine militärische Laufbahn begonnen. In vielen Schlachten hatte er gefochten, war von Stufe zu Stufe gestiegen und hatte sich durch Verdienste im Feld nicht nur die allgemeine Achtung, in der er stand, sondern auch seine Stellung im Heere erworben. Aber jetzt bedrückte ihn große Sorge; ein Schatten war auf sein Glück gefallen. Der Winterabend war hereingebrochen; draußen stürmte es in der Dunkelheit; drinnen ein melancholisches Schweigen. Der Oberst und sein junges Weib hatten über ihre Not und Sorge gesprochen, hatten ihr abendliches Bibelkapitel gelesen und das Abendgebet gesprochen. Jetzt blieb nichts mehr zu tun übrig, als Hand in Hand ins Feuer zu blicken und nachzudenken und -- zu warten. Lange würden sie nicht zu warten haben; das wußten sie, und die Frau schauderte bei dem Gedanken. Sie hatten _ein_ Kind -- Abby, 7 Jahre alt; es war ihr Abgott. Sie wußten, es würde sogleich zum Gute-Nacht-Kuß kommen, und der Oberst sagte: »Trockne deine Tränen und laß uns glücklich scheinen -- ihr zulieb. Wir müssen für den Augenblick vergessen, was uns bevorsteht.« »Ja, ich will es versuchen. Ich will versuchen, ob ich den Gram in mein Herz verschließen kann, ohne daß es bricht.« »Und wir wollen auf uns nehmen, was uns zu tragen bestimmt ist, mit Geduld, und nicht vergessen, daß alles, was Er tut, wohl getan ist und zu unserem Besten ...« »Sein Wille geschehe! Ja, ich kann es mit gläubiger Seele sprechen -- ich wollte, ich könnte es auch von ganzem Herzen sagen. O, wenn ich das könnte! Aber der Gedanke, daß diese liebe Hand, die ich zum letztenmal drücke und küsse -- -- --« »Still, mein Schatz, sie kommt.« Eine kleine Gestalt mit lockigem Haar kam im Nachtkleid zur Tür herein und sprang auf den Vater zu, der das Kind an seine Brust drückte und leidenschaftlich küßte, ein, zwei, drei Mal. »Halt, Papa, du darfst mich nicht so arg küssen; du zerzausest mir meine Haare.« »Ach, das tut mir aber furchtbar leid; vergibst du mir, mein Liebling?« »Ei natürlich, Papa. Aber ist’s dir _wirklich_ leid? Tust du nicht bloß so, sondern bist du im Ernst traurig darüber?« »Du wirst’s gleich selber sehen, Abby,« sagte der Oberst, bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen und tat als ob er schluchzte. Das Kind erschrak über diese tragische Wendung, die es verursacht hatte, fing selber an zu weinen, mühte sich, dem Vater die Hände von den Augen zu ziehen und rief: »O, nicht weinen, lieber Papa! Abby hat es nicht bös gemeint; Abby will’s nie, nie wieder tun. Bitte, Papa!« Sie zog an den großen Händen und versuchte, sie auseinanderzuschieben. Dabei erspähte sie zufällig ein Auge hinter denselben und rief: »O, du böser Papa, du hast ja gar nicht geweint; du hast mir bloß ’was vorgemacht! Und Abby geht jetzt zur Mama; die behandelt Abby besser.« Sie wollte von seinem Schoß klettern, aber ihr Vater schlang die Arme um sie und sagte: »Nein, liebes Kind, bleibe bei mir; Papa ist unartig gewesen, aber er gesteht es ein, und es tut ihm leid -- komm, laß ihn deine Tränen wegküssen -- und er bittet dich um Verzeihung, und will zur Strafe alles tun, was Abby sagt; so, jetzt sind sie alle weggeküßt und keine einzige Locke zerzaust -- und was Abby befiehlt -- --« Sogleich trat wieder lachender Sonnenschein auf des Kindes Gesicht; es streichelte seinem Vater die Backen und nannte die Strafe: -- »Eine Geschichte, eine Geschichte!« Horch! Die Eltern hielten den Atem an und lauschten. Schritte, kaum vernehmbar in dem Sausen des Windes, kamen näher, immer näher ... wurden lauter ... immer lauter, dann gingen sie vorbei und erstarben in der Ferne. Die beiden Eltern atmeten erleichtert auf, und der Vater sagte: »Also eine Geschichte? Eine lustige?« »Nein, Papa, eine schreckliche.« Papa versuchte, sie zu einer lustigen zu überreden, aber die Kleine bestand auf ihrem Recht, daß der Papa alles tun sollte, was sie befehlen würde. Er war ein guter puritanischer Soldat und hatte sein Wort gegeben -- er sah, daß er es halten müsse. »Papa,« rief Abby, »wir müssen nicht immer lustige Geschichten haben. Meine Betty sagt, daß die Leute nicht lauter lustige Zeiten hätten. Ist das wahr, Papa? Sie sagt so.« Die Mutter seufzte, und ihre Angst legte sich wieder schwer auf ihr Herz. Der Vater antwortete freundlich: »Ja, das ist wahr, mein Schatz. Die Sorgen bleiben nicht aus. Das ist leider so.« »O, dann erzähle _davon_ eine Geschichte, Papa, -- eine recht schreckliche, so daß es uns allen gruselt, als ob _wir_ es wären. Komm ganz dicht hierher, Mama, und nimm eines von Abbys Händchen. Weißt du, wenn’s dann zu schrecklich wird, können wir es leichter aushalten, wenn wir alle beieinander sitzen und du meine Hand hältst. So Papa, jetzt kannst du anfangen.« »Nun also ... es waren einmal drei Obersten ...« »O das ist fein! Ich weiß ganz gut was Obersten sind, weil du auch einer bist, und ich kenne ihren Anzug. Bitte weiter, Papa.« »Und in einer Schlacht hatten sie sich gegen die Disziplin vergangen.« Das fremde Wort gefiel dem Kind; voll Neugier und Staunen sah es auf und sagte: »Ist das etwas Gutes zum Essen, Papa?« Die Eltern lachten beinahe, und der Vater antwortete: »Nein, Kind, das ist ganz etwas anderes. Sie überschritten ihre Befehle.« »Ist das etwas -- -- --« »Nein, das ist ebensowenig zu essen, wie das andere. Sie hatten den Befehl, in einer unglücklichen Schlacht einen Scheinangriff auf eine feste Stellung zu machen, um den Soldaten den Rückzug zu ermöglichen. Aber in ihrem Eifer überschritten sie ihre Befehle, denn sie machten einen wirklichen Angriff, nahmen die Stellung im Sturm und gewannen die Schlacht. Der Obergeneral war zwar ihres Lobes voll, aber sehr erbost über ihren Ungehorsam und schickte sie nach London, damit dort über ihr Leben vor Gericht entschieden würde.« »Ist das er große General Cromwell, Papa?« »Ja.« »O, _den_ habe ich gesehen, Papa! Wenn er so stolz auf seinem großen Pferd mit den Soldaten bei unserem Hause vorbeikommt, dann macht er ein Gesicht ... so ... ich weiß selbst nicht recht wie, aber er sieht aus, als ob er unzufrieden wäre, und man kann sehen, daß die Leute Angst vor ihm haben. Aber ich habe keine Angst vor ihm, denn mich hat er nicht so angesehen.« »O du liebe kleine Plaudertasche! Also die Obersten wurden gefangen nach London gebracht und auf Ehrenwort entlassen, um ihre Familien noch zum letztenmal ...« Horch! Sie horchten. Wieder Schritte; doch sie gingen abermals vorbei. Die Mutter lehnte ihren Kopf an des Gatten Schulter, um ihre Blässe zu verbergen. »Sie sind heute morgen angekommen.« Die Augen des Kindes öffneten sich weit. »Sag’ mal, Papa, ist es denn eine _wahre_ Geschichte?« »Gewiß, Herzchen.« »O, wie fein; das ist ja viel viel besser; bitte Papa, wie geht die Geschichte weiter? Ei Mama ... liebe Mama, weinst du denn?« »Komm, laß mich, Kind. Ich dachte nur an die ... an die armen Familien.« »Aber du mußt nicht weinen, liebe Mama; es wird noch alles gut werden, du wirst sehen; das ist immer so bei Geschichten. Bitte Papa, erzähle weiter, bis wo es heißt: Und sie lebten glücklich bis an ihr Ende. Nicht wahr, Mama, dann weinst du nicht mehr? Papa, bitte erzähle weiter.« »Zuerst brachte man die Gefangenen in den Tower, ehe man sie nach Hause gehen ließ.« »_Ich_ kenne den Tower! Wir können ihn von hier aus sehen.« »Im Tower saß das Kriegsgericht eine Stunde lang über sie zu Gericht und fand sie schuldig. Sie wurden verurteilt, erschossen zu werden.« »_Tot_geschossen, Papa?« »Ja.« »O wie abscheulich! Liebe Mama, du weinst ja wieder; nicht weinen Mama! Die Geschichte wird gleich an die gute Stelle kommen, du wirst schon sehen. Mach’ schnell, Papa, der Mama zulieb; du erzählst nicht schnell genug.« »Du hast ganz recht; das kommt wohl daher, daß ich mich so oft besinnen muß.« »Aber du mußt dich nicht besinnen Papa, du mußt immer weiter erzählen.« »Ja, mein Kind -- diese drei Obersten ...« »Kennst du sie, Papa?« »Ja, ich kenne sie.« »O wenn ich sie nur auch kennen würde! Ich habe alle Obersten so gern. Glaubst du, daß sie sich von mir küssen ließen?« Des Obersten Stimme zitterte ein wenig, als er antwortete: »_Einer_ von ihnen sicher. Komm’, küsse mich statt seiner.« »Da Papa -- -- und diese zwei sind für die beiden andern. Ich glaube doch, sie würden sich von mir küssen lassen; ich würde sagen: ›Mein Papa ist auch ein Oberst, und sehr tapfer; er würde ganz ebenso gehandelt haben wie ihr, und so kann es nichts Böses sein, mögen die Leute sagen, was sie wollen. Ihr braucht euch also nicht ein kleines bißchen zu schämen‹. Dann würden sie sich küssen lassen, nicht wahr Papa?« »Mit Freuden, das weiß Gott, mein Kind!« »Mama! O nicht weinen, gute Mama; jetzt kommt gleich die Stelle, wo sie alle glücklich werden. Papa, bitte erzähle weiter.« »Dann waren einige von ihnen traurig -- sie alle waren es; ich meine das Kriegsgericht. Und sie gingen zum Obergeneral, und sagten, sie hätten ihre Pflicht getan, -- denn weißt du, es _war_ ihre Pflicht -- und jetzt bäten sie darum, daß zwei von den Obersten begnadigt würden, und bloß einer erschossen werden sollte. Das würde genügen, um bei der Armee ein Exempel zu statuieren. Aber der Obergeneral war sehr streng und lehnte ihre Bitten ab, denn wenn _sie_ ihre Pflicht getan und nach ihrem Gewissen gehandelt hätten, so wolle _er_ sich seiner Pflicht auch nicht entziehen und seine Soldatenehre nicht beflecken. Sie aber erwiderten, daß sie ihn um nichts gebeten hätten, was sie nicht auch tun würden, wenn sie an seiner Stelle stünden und das hohe Vorrecht hätten, Gnade zu üben. Das machte Eindruck auf ihn, er überlegte eine Weile und die Härte wich etwas aus seinen Zügen. Dann hieß er sie warten und zog sich in sein Zimmer zurück, um sich im Gebet bei Gott Rat zu erholen. Als er wiederkam, sagte er: ›Sie sollen das Los ziehen; einer muß sterben; zwei sollen leben‹.« »Haben sie gelost, Papa? Und welcher muß sterben? Ach, der arme Mann!« »Nein, sie haben sich geweigert.« »Sie wollen es nicht tun, Papa?« »Nein.« »Weshalb nicht?« »Sie sagten, daß derjenige, welcher das Todeslos zöge, sich durch seine eigene freiwillige Handlung zum Tod verurteilte und das sei nichts anderes als Selbstmord, man möge sagen was man wolle. Sie aber seien Christen, und die Bibel verböte ihnen, sich das Leben zu nehmen. Diese Antwort schickten sie dem Obergeneral und ließen ihm sagen, sie seien bereit, man solle das Urteil des Kriegsgerichts vollstrecken.« »Was heißt denn das, Papa?« »Daß sie ... daß sie alle erschossen werden.« Horch! Der Wind? Nein. Trapp -- trapp -- trapp -- r-r-rumbledibum, r-r-rumbledibum -- -- -- »Im Namen des Obergenerals, macht auf!« »Papa, sieh’ nur, es sind Soldaten! Ich habe die Soldaten so gern! Darf ich ihnen aufmachen? Bitte, bitte, Papa!« Sie sprang herunter, lief zur Tür und machte sie auf, indem sie vergnügt rief: »Kommt nur herein, kommt nur herein! Abby macht euch auf. Hier sind sie, Papa! Grenadiere! Die Grenadiere kenn’ ich zu gut!« Die kleine Abteilung marschierte herein und stellte sich in Linie auf, Gewehr in Arm; ihr Offizier grüßte, der verurteilte Oberst stand aufrecht da und erwiderte den Gruß, sein Weib stand neben ihm, totenbleich und mit schmerzdurchwühlten Zügen -- aber sonst verriet sie durch kein Zeichen ihren trostlosen Jammer. Das Kind sah auf die Szene mit leuchtenden Augen ... Eine lange Umarmung von Vater, Mutter und Kind; dann der Befehl »zum Tower -- Marsch!« Mit fester Haltung und militärischem Schritt verließ der Oberst sein Haus, gefolgt von der Abteilung. Dann schloß sich die Tür. »O Mama, war das nicht wunderschön! Ich habe dir’s ja immer gesagt, daß die Geschichte so ausgehen würde. Und jetzt gehen sie zum Tower, und da kann er die Obersten sehen. Er -- -- --« »Komm in meine Arme, du armes unschuldiges Ding! ...« * * * * * Am andern Morgen war die unglückliche Mutter nicht imstande, das Bett zu verlassen. Aerzte und barmherzige Schwestern saßen bei ihr und flüsterten ab und zu miteinander; Abby durfte nicht ins Zimmer kommen; man hatte ihr gesagt, sie solle auf die Straße gehen und spielen -- Mama sei sehr krank. Ganz eingepackt in dicke Wintersachen ging das Kind vors Haus und spielte eine Weile; dann kam ihr der Gedanke, es sei doch sonderbar und eigentlich unrecht, daß Papa so lange im Tower bliebe, während Mama so krank war. Sie wollte mal nach Papa sehen. Eine Stunde später trat das Kriegsgericht vor den Obergeneral. Aufrecht, mit finsterer Miene, die Fingerknöchel auf den Tisch gestützt, stand er da und bedeutete dem Wortführer durch eine Gebärde, zu sprechen. Dieser sagte: »Wir haben sie dringend ersucht, sich die Sache noch einmal zu überlegen; wir haben sie beschworen, allein sie bleiben bei ihrer Weigerung, das Los zu ziehen. Sie sind willens, zu sterben, aber nicht die Vorschriften ihrer Religion zu übertreten.« Der Protektor machte ein finsteres Gesicht, jedoch er schwieg. Eine Zeitlang blieb er in Gedanken versunken, dann sprach er: »Sie sollen nicht alle sterben; das Los soll _für sie gezogen werden_.« Die Anwesenden vernahmen es voll Dankbarkeit. »Holt sie her! Führt sie in dieses Zimmer hier! Dort sollen sie sich aufstellen. Mit dem Gesicht nach der Wand, die Hände hinter sich gekreuzt. Meldet mir, wenn sie da sind.« Als Cromwell wieder allein war, setzte er sich und gab einem Adjutanten den Befehl: »Bringen Sie mir das nächste beste kleine Kind herein, das draußen vorbei geht!« Kaum hatte sich die Tür hinter dem jungen Offizier geschlossen, als er auch schon wieder zurückkam, mit Abby an der Hand, auf deren Kleidern der Schnee schimmerte. Die Kleine ging ohne Scheu auf das Staatsoberhaupt zu, bei dessen bloßem Namen Fürsten und Könige zitterten; sie kletterte ihm auf den Schoß und sagte: »_Dich_ kenne ich; du bist der Obergeneral; ich habe dich schon gesehen, als du einmal an meinem Haus vorbeigekommen bist. Alle hatten Furcht vor dir, aber _ich_ nicht, weil du _mich_ nicht so bös angesehen hast. Nicht wahr, das weißt du noch! Ich hatte mein rotes Kleid an -- das mit den blauen Dingern vorne. Weißt du das nicht mehr?« Ein Lächeln ging durch die harten Züge des Protektors, und er zögerte diplomatisch mit der Antwort. »Ja, doch ... ich muß mich besinnen, ... es war ...« »Ich stand gerade vor dem Haus, vor _meinem_ Haus, weißt du.« »Hm! ... du liebes kleines Ding, es ist ja eine Schande, aber ich weiß wirklich ...« Das Kind unterbrach ihn vorwurfsvoll: »Ach, du hast es _doch_ vergessen. Aber _ich_ nicht.« »Ich schäme mich auch wirklich darüber, aber jetzt will ich dich gewiß nicht mehr vergessen, auf mein Wort. Nicht wahr, du vergibst mir, und wir wollen von jetzt an immer gute Freunde sein?« »O, natürlich, obgleich ich nicht verstehe, wie du mich hast vergessen können. Du mußt recht vergeßlich sein, aber das bin ich auch manchmal; meine Betty hat es mir gesagt. Doch, ich verzeihe dir, denn ich glaube, du bist doch gut, ebenso gut wie ... aber du mußt mich besser auf deinen Schoß setzen, und in den Arm nehmen, so wie Papa -- es ist kalt.« »Komm’, schmieg dich nur ordentlich an, du kleine neue Freundin; von jetzt ab bist du dann meine _alte_ Freundin, nicht wahr? Du erinnerst mich an mein kleines Mädchen -- jetzt ist es freilich schon lange nicht mehr klein -- aber es war ein liebes, süßes, zierliches kleines Dingelchen und hatte denselben Zauberreiz wie du, du kleine Fee. Mit deinem holdseligen Vertrauen zu jedermann, ob Freund oder Fremder, machst du alle zu willigen Sklaven, auf die dein Zauberbann fällt. So wie du jetzt, lag sie auch früher in meinen Armen, vertrieb mir die Müdigkeit und Sorge aus dem Herzen und gab ihm Frieden, gerade so, wie du jetzt. Und wir zwei waren Freunde und Spielkameraden. Es ist lange, lange her, daß dieser Himmel voller Freuden für mich verschwunden ist im Dunkel der Zeit, und du bringst ihn mir jetzt wieder; -- nimm dafür den Segen eines Mühseligen und Beladenen, du kleines Ding, das mir Last und Sorge für England abnimmt, dieweil ich ruhe.« »Hast du sie arg, arg, _arg_ gerne gehabt?« »Das kannst du daran sehen: Sie brauchte nur zu befehlen, und ich gehorchte!« »Du bist so gut! Willst du mich küssen?« »Von ganzem Herzen ... ich bin sogar stolz darauf. Da -- der ist für dich ... und der ist für sie. Du hast mich darum gebeten, und du hättest es mir befehlen können, denn du vertrittst jetzt ihre Stelle, und was du mir befiehlst, muß ich ausführen.« Das Kind klatschte in die Hände vor Freude über diese neue Machtstellung, dann schlug ein Geräusch an ihr Ohr: der gleichmäßige Schritt marschierender Männer. »Soldaten! Soldaten! Abby möchte sie so gerne sehen.« »Du sollst sie sehen, mein Kind; aber warte einen Augenblick, ich habe einen Auftrag für dich.« Ein Offizier trat ein, grüßte und sprach: »Die Verurteilten sind zur Stelle, Sir.« Dann grüßte er wieder und ging. Das Staatsoberhaupt gab Abby drei kleine Kugeln aus Siegelwachs. Zwei davon waren weiß und eine rot; diese sollte den Oberst, der sie erhielt, zum Tod verurteilen. »O, was für eine schöne rote! Sind die alle für mich?« »Nein, Herzchen, sie sind für andere Leute. Die Türe dort, die der Vorhang verdeckt, ist offen, gehe hindurch in das anstoßende Zimmer; dort wirst du drei Männer in einer Reihe stehen sehen, mit den Händen auf dem Rücken, -- so -- und jeder hält eine Hand offen, wie eine Schale. In jede von den drei offenen Händen lege eine von diesen Kugeln und komme dann zurück zu mir.« Abby verschwand hinter dem Vorhang und der Protektor blieb allein. Er sagte mit heiliger Ehrfurcht: »In meiner Verwirrung kam mir dieser Gedanke gewiß von Ihm, der eine allgegenwärtige Hilfe ist denen, die bedrängt sind und seinen Beistand suchen. Er weiß, auf wen die Wahl fallen soll, und hat mir diesen sündenreinen Boten geschickt, damit sein Wille geschehe. Wir Menschen können irren, aber Er irret nie. Wunderbar sind Seine Wege und unergründlich Seine Weisheit ... gelobet sei sein heiliger Name!« Als die kleine Elfe den Vorhang hinter sich fallen ließ, betrachtete sie einen Augenblick mit lebhafter Neugier das Zimmer, die unbeweglichen Gestalten der Soldaten und die drei Gefangenen. Dann glitt ein Leuchten über ihr Gesicht und sie dachte bei sich: »Einer davon ist Papa; ich kenne ihn von hinten. Er soll die schönste haben!« Vergnügt lief sie hinzu und legte die Wachskugel in die offenen Hände; dann wandte sie, unter dem Arm ihres Vaters hindurchguckend, diesem ihr lachendes Gesicht zu und rief: »Papa, Papa! Sieh’ nur, was du bekommen hast. _Ich_ habe es dir gegeben!« Der Oberst warf einen Blick auf die unheilvolle Gabe, sank in die Kniee und drückte, überwältigt von Liebe und Leid, die unschuldige kleine Vollstreckerin seines Todesurteils an die Brust. Soldaten, Offiziere, die beiden begnadigten Obersten, alle standen einen Augenblick wie gelähmt von der Ungeheuerlichkeit dieser Tragödie, dann aber übermannte sie die Rührung über den jammervollen Auftritt; ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie schämten sich nicht zu weinen. Ein feierliches, tiefes Schweigen herrschte während der nächsten Minuten, dann ging der Offizier der Wache mit Widerstreben auf seinen Gefangenen zu, berührte ihn an der Schulter und sagte in sanftem Ton: »So leid es mir tut, Sir ... aber meine Pflicht gebietet mir.« »Gebietet was?« fragte das Kind. »Ich muß ihn wegführen ...« »Wegführen? Wohin denn?« »Nach ... nach ... Gott stehe mir bei! ... nach einem anderen Teil der Festung.« »Aber das geht jetzt wirklich nicht. Meine Mama ist krank und ich hole ihn nach Haus.« Sie wand sich los und kletterte ihrem Vater auf den Rücken, indem sie ihre Arme um seinen Hals schlang: »Komm, Papa, wir wollen jetzt gehen.« »Mein ärmstes Kind, ich kann nicht. Ich muß mit ihm gehen.« Das Kind sprang zu Boden und sah verwundert um sich. Dann lief es auf den Offizier zu, stampfte mit dem kleinen Fuß ärgerlich auf den Boden und rief: »Ich habe dir doch gesagt, daß meine Mama krank ist, und du hast es wohl gehört. Laß’ _ihn_ gehen -- du _mußt_!« »Armes Kind, wollte Gott, ich könnte es, aber ich kann nicht anders, ich muß ihn wegführen. Achtung, Wache! ... das Gewehr über! ...« Wie ein Blitz war Abby davongeschossen. Im nächsten Augenblick kam sie wieder, den Obergeneral an der Hand hinter sich herziehend. Bei dieser gefürchteten Erscheinung rafften sich alle zusammen, die Offiziere grüßten und die Wache salutierte. »Befiehl du es ihnen! -- Meine Mama ist krank und braucht meinen Papa; ich hab’s ihnen _gesagt_, aber sie hören gar nicht auf mich und wollen ihn fortführen.« Der Obergeneral schien wie vom Schlag gerührt. »_Dein_ Papa, Kind? Ist das dein Papa?« »Natürlich! Das war _immer_ mein Papa. Würde ich wohl sonst die hübsche rote Kugel ihm und keinem andern gegeben haben, wenn ich ihn nicht so lieb hätte? Gewiß nicht!« Bestürzung malte sich in des Protektors Zügen, und er sagte: »Gott helfe mir! Durch des Satans Tücke habe ich das Grausamste begangen, das je ein Mensch tat -- und keine Hilfe, keine Hilfe! Was soll ich, was kann ich tun?« Ungeduldig und betrübt zugleich rief Abby: »Du kannst ihnen doch befehlen, daß sie ihn gehen lassen!« und sie begann zu schluchzen. »So sage es ihnen doch! Du hast mir versprochen, ich dürfe nur befehlen, und jetzt, das erste Mal, daß ich sage, du sollest etwas tun, tust du es doch nicht!« Ein milder Schimmer breitete sich über das rauhe Gesicht des alten Kriegers. Er legte seine Hand auf das Haupt der kleinen Tyrannin und sprach: »Gott sei Lob und Dank für den rettenden Zufall dieses gedankenlosen Versprechens; und Heil dir, daß du, von Ihm geleitet, mich daran erinnert hast. Gottes Auge ruht auf dir, mein Kind! Wache! Gehorcht ihrem Befehl, -- sie spricht durch meinen Mund. Der Gefangene ist begnadigt; gebt ihn frei!« [Illustration] Zwei kleine Geschichten. Erste Geschichte: Der Mann mit einer Mitteilung an den Generaldirektor. Vor einigen Tagen, im zweiten Monat des Jahres 1900, besuchte mich nachmittags ein Freund hier in London. Wir sind beide in dem Alter, wo Männer, wenn sie ihre Pfeife rauchen und sich etwas erzählen, weniger von den Annehmlichkeiten des Lebens sprechen, als von dessen Widerwärtigkeiten, und allmählich fing mein Freund an, auf das Kriegsministerium zu schimpfen. Es stellte sich heraus, daß ein Freund von ihm etwas erfunden hatte, das für die Soldaten in Südafrika von großem Nutzen gewesen wäre. Es war ein leichter, sehr billiger Stiefel, der vollständig wasserdicht war und bei Regenwetter seine Form und Festigkeit behielt. Der Erfinder wünschte, die Aufmerksamkeit der Regierung hierauf zu lenken, aber er war ein unbekannter Mann und wußte, daß die hohen Beamten einer Mitteilung von ihm keine Beachtung schenken würden. »Das beweist, daß Ihr Freund ein Esel war -- wie wir’s ja alle sind,« sagte ich unterbrechend »Doch erzählen Sie nur weiter!« »Aber wie kommen Sie zu dieser Bemerkung? Der Mann sprach die Wahrheit.« »Der Mann hat gelogen. Machen Sie nur weiter.« »Ich will Ihnen _beweisen_, daß er ...« »Sie können gar nichts beweisen. Ich bin sehr alt und sehr weise. Sie müssen nicht mit mir rechten wollen; das ist unehrerbietig und beleidigend. Fahren Sie, bitte, fort.« »Nun gut, Sie werden ja sogleich sehen. Ich bin nicht unbekannt und doch war selbst _ich_ nicht imstande, die Mitteilung meines Freundes beim Generaldirektor des Schuhleder-Departements anzubringen.« »Das ist wieder eine Lüge. Erzählen Sie nur weiter.« »Aber ich versichere Sie auf Ehrenwort, daß es mir nicht gelang.« »O gewiß. _Das_ wußte ich. Sie brauchten mir das gar nicht zu sagen.« »Ja, worin besteht denn dann die Lüge?« »Die Lüge liegt in Ihrer Behauptung, daß Sie _nicht imstande_ waren, die sofortige Aufmerksamkeit des Generaldirektors auf die Mitteilung Ihres Freundes zu lenken. Das ist eine Lüge, denn Sie _hätten_ seine sofortige Aufmerksamkeit auf die Sache erreichen können.« »Ich sage Ihnen aber doch, daß ich’s nicht konnte. In Zeit von drei Monaten ist es mir nicht gelungen.« »Ohne Zweifel. Das brauchten Sie mir gar nicht zu erzählen. Aber Sie _hätten_ sofortige Beachtung gefunden, wenn Sie es auf eine vernünftige Weise angegriffen hätten; ebenso hätte es Ihr Freund können.« »Ich _habe_ es auf eine vernünftige Weise angegriffen.« »Das haben Sie nicht.« »Was wissen denn _Sie_? Was wissen Sie denn über die näheren Umstände?« »Ueber die weiß ich rein gar nichts. Aber Sie haben die Sache nicht auf vernünftige Weise angefangen. Soviel ist sicher.« »Wie können Sie das behaupten, wenn Sie nicht wissen, welche Methode ich anwandte?« »Das sagt mir der Erfolg Ihrer Methode; der ist mir Beweis genug. Sie sind unvernünftigerweise vorgegangen. Ich bin sehr alt und sehr w ...« »Ja, ja, das weiß ich. Aber darf ich Ihnen erzählen, _wie_ ich zu Werke ging? Ich glaube das wird entscheiden, ob es Unvernunft war oder nicht.« »Nein; das ist schon entschieden. Aber wenn Ihnen so sehr daran liegt, sich zu blamieren, so erzählen Sie die Geschichte nur. Ich bin sehr alt ...« »Ja, gewiß, gewiß. Ich setzte mich hin und schrieb einen sehr höflichen Brief an den Generaldirektor des Schuhleder-Departements, in dem ich ihm auseinanders ...« »Kennen Sie ihn persönlich?« »Nein.« »Gibt einen Punkt auf meiner Seite. Sie haben unvernünftig angefangen. Bitte weiter.« »In dem Brief legte ich den großen Wert und die große Billigkeit der Erfindung dar, und bot mich an ...« »Ihm einen Besuch zu machen? Natürlich! Ein zweiter Punkt gegen Sie. Ich bin s ...« »Drei Tage lang blieb ich ohne Antwort.« »Na, das ist doch klar. Nur weiter.« »Dann schrieb er mir drei elende Zeilen, dankte für meine Mühe und schlug mir ...« »_Nichts_ vor.« »Ganz richtig; er schlug mir -- gar nichts vor. Dann schrieb ich ihm einen sorgsam ausgearbeiteten Brief und ...« »Punkt drei ...« »... bekam überhaupt keine Antwort. Nach Ablauf einer Woche bat ich dann schriftlich mit einem Anflug von ungehaltener Grobheit um Antwort auf den Brief.« »Vier. Weiter.« »Darauf kam Antwort, der fragliche Brief sei nicht angekommen, und man bitte um eine Abschrift desselben. Ich reklamierte bei der Post und es stellte sich heraus, daß der Brief tatsächlich doch angekommen war; aber ich sagte nichts und schickte eine Abschrift ab. Zwei Wochen verstrichen ohne weitere Nachricht für mich. Inzwischen hatte ich mich wieder abgekühlt, bis zur richtigen Temperatur für höfliche Briefe. Ich schrieb abermals und erbot mich, am folgenden Tag persönliche Rücksprache zu nehmen. Ich sagte, wenn ich keine Nachricht erhielte, so nehme ich das als stillschweigende Einwilligung.« »Fünfter Punkt für mich.« »Um zwölf Uhr erschien ich und bekam einen Stuhl angeboten mit der Weisung, zu warten. Ich wartete bis halb Zwei; dann ging ich weg, ärgerlich und beschämt. Ich wartete wieder eine Woche um mich abzukühlen; dann bat ich um eine Audienz für den nächsten Mittag.« »Punkt sechs.« »Er antwortete, zustimmend. Ich kam pünktlich und hielt bis halb Drei einen Stuhl warm. Dann ging ich fort und schüttelte den Staub dieses Direktorialgebäudes für immer von meinen Schuhen. Was Grobheit, Unfähigkeit, Indolenz, Gleichgültigkeit gegenüber den Interessen der Armee anbelangt, so ist der Generaldirektor des Schuhleder-Departements nach meiner Ans ...« »Still! Ich bin sehr alt und sehr weise und habe viele anscheinend gescheite Leute gesehen, die nicht genug gesunden Menschenverstand hatten, um eine so einfache und leichte Sache wie diese richtig anzufassen. Sie sind für mich nichts Neues; ich habe persönlich Millionen und Billionen von Menschen gekannt wie Sie. Sie haben ganz unnötig drei Monate Zeit verloren; der Erfinder hat drei Monate verloren, die Soldaten haben drei Monate verloren -- macht zusammen neun Monate. Jetzt will ich Ihnen eine kleine Geschichte vorlesen, die ich gestern nacht geschrieben habe. Dann mögen Sie morgen mittag beim Generaldirektor vorsprechen, und Ihre Sache durchführen.« »Famos! Kennen Sie ihn?« »Nein; aber hören Sie jetzt meine Geschichte.« Zweite Geschichte: Wie sich der Kesselflicker beim Sultan Gehör verschaffte. I. Der Sommer war gekommen und die Starken gingen gebeugt unter der Last der furchtbaren Hitze und viele von den Schwachen waren zusammengebrochen und starben. Im Heer wütete eine Ruhrepidemie, die Geißel des Krieges, und Hilfe war keine zu erwarten. Die Aerzte waren in Verzweiflung; der Erfolg ihrer Wissenschaft und ihrer Arzeneien -- und er war immer ein recht zweifelhafter gewesen -- war ein Ding der Vergangenheit und zwar für immer, wie es schien. Der Sultan befahl den berühmtesten Aerzten, zu einer Beratung vor ihm zu erscheinen, denn er befand sich in großer Sorge. Er war sehr streng mit ihnen und sagte, sie seien dafür verantwortlich, daß sie seine Soldaten sterben ließen und fragte sie, ob sie ihr Geschäft verstünden oder nicht, und ob sie wirkliche Helfer seien oder bloße Massenmörder. Der Ober-Massenmörder, der zugleich der älteste Arzt im Reich war und von äußerst ehrwürdiger Erscheinung, antwortete darauf und sagte: »O Herr und Gebieter! Wir haben getan, was wir konnten, und deshalb ist es nur wenig. Keine Arzenei und kein Arzt kann diese Krankheit heilen; nur eine gute Konstitution und die Natur vermögen das. Ich bin alt und ich weiß es. Kein Arzt und keine Arzenei können sie heilen -- ich wiederhole es und betone es. Manchmal scheint es, als ob sie der Natur ein wenig helfen würden -- ein ganz klein wenig -- aber in der Regel schaden sie bloß.« Der Sultan war ein jähzorniger und leidenschaftlicher Mensch und überschüttete die Aerzte mit rauhen und häßlichen Worten und trieb sie von seinem Angesicht. Am nächsten Tag wurde er selbst von der grausamen Krankheit erfaßt. Die Schreckensnachricht flog von Mund zu Mund und brachte Bestürzung über das ganze weite Reich. Es wurde von nichts anderem gesprochen, als von dem betrübenden Unglück, und alle Gemüter waren niedergedrückt, denn nur wenige hatten Hoffnung. Der Sultan selbst war sehr melancholisch und sagte: »Der Wille Allahs geschehe! Ruft mir die Massenmörder wieder; ich will mich drein fügen.« Sie kamen und fühlten seinen Puls und besahen seine Zunge und holten ihren Arzeneivorrat, den sie in ihn hineinleerten. Dann setzten sie sich geduldig nieder und warteten -- denn sie wurden nicht pro Fall bezahlt, sondern erhielten ein jährliches Gehalt. II. Achmet war ein gescheiter Bursche von 16 Jahren, aber er gehörte nicht zur Gesellschaft; dazu war sein Rang zu niedrig und seine Beschäftigung zu gemein. Ja, es war überhaupt die niedrigste aller Beschäftigungen, denn er war bloß der Gehilfe seines Vaters, welcher Kotgruben leerte und nachts in einem Karren den Straßenkehricht wegschaffte. Achmets bester Freund war Ali, der Kesselflicker, ein schmächtiger kleiner Kerl von vierzehn Jahren, ehrbar, fleißig und von gutem Herzen, denn er unterstützte seine bettlägerige Mutter mit seiner Hände Arbeit. Ungefähr einen Monat nachdem der Sultan erkrankt war, begegneten sich diese zwei Burschen eines Abends so gegen neun Uhr. Achmet war auf dem Weg zu seiner Nachtarbeit und natürlich nicht in seinen Festtagskleidern, sondern in seinem scheußlichen Arbeitsanzug, und roch nicht eben nach Rosenwasser. Ali war auf dem Heimweg zu seiner Mutter, mit rußigem Gesicht und Händen; er hatte seinen Lötofen bei sich und seinen Lötkolben nebst Hammer und Blechschere. Sie hockten sich nieder und schwatzten und sprachen natürlich über das Unglück des Reiches und die Krankheit des Sultans. Niemand sprach ja von etwas anderem. Ali aber trug sich mit einem großen Plan und brannte darauf, ihn seinem Freund mitzuteilen. Er sprach: »Achmet, ich kann den Sultan heilen. Ich weiß wie.« Achmet war überrascht. »Was! Du?« »Ja, ich.« »Du Narr, die besten Aerzte können’s ja nicht.« »Ist mir einerlei; ich kann’s. In fünfzehn Minuten kann ich ihn heilen.« Alis Miene war so ernst, daß Achmet an keinen Spaß glauben konnte. Deshalb sagte er: »Ich glaube, dir ist es ernst, Ali; kannst du wirklich den Sultan heilen?« »Ich gebe dir mein Wort.« »Sage mir doch: wie willst du ihn denn heilen?« »Ich will ihm sagen, er soll eine Schnitte von einer reifen Wassermelone essen.« Das kam Achmet ziemlich unvermutet, und er lachte laut auf über die Absurdität dieses Gedankens, ehe er noch an sich halten konnte. Aber sein Lachen verstummte plötzlich, als er sah, daß er Ali damit gekränkt hatte. Er schlug ihn begütigend aufs Knie, und sagte: »Es tut mir so leid, daß ich gelacht habe, Ali; es war gewiß nicht bös gemeint, und ich will’s nicht wieder tun. Weißt du, es schien mir so furchtbar spaßig, denn überall wo ein Soldatenlager ist und die Ruhr, da pflanzen die Aerzte ein Zeichen auf, welches besagt, daß jedermann, den man hier mit einer Wassermelone antrifft, mit der neunschwänzigen Katze zu Tode gepeitscht wird.« »Ich weiß -- diese Narren!« sagte Ali, Tränen und Aerger in der Stimme. »Es gibt so viele Wassermelonen und nicht ein einziger von all den Soldaten hätte es nötig gehabt, zu sterben.« »Aber Ali, wie kommst du zu dieser Meinung?« »Das ist keine Meinung, das ist eine Tatsache. Kennst du den alten grauköpfigen Neger? Der hat schon eine Menge von unsern Freunden geheilt; das hat meine Mutter selbst mit angesehen und ich auch. Man braucht nur eine oder zwei Scheiben Wassermelone zu essen und man ist kuriert, einerlei ob die Krankheit alt oder neu ist.« »Komisch, so etwas. Aber wenn es wirklich so ist, so sollte man’s dem Sultan doch sagen.« »Natürlich, und meine Mutter hat’s auch anderen Leuten gesagt, in der Hoffnung, sie könnten es ihm sagen. Aber es sind alles arme Leute und wissen nicht, wie sie es anfangen sollen, damit es der Sultan erfährt.« »Das ist klar, daß es diese Dummköpfe nicht wissen,« sagte Achmet verächtlich. »_Ich_ will es ihm sagen.« »Du? du Mistfink?!« Und diesmal mußte Ali lachen. Aber Achmet erwiderte mit Ueberzeugung: »Lache du nur; _ich_ tu’s.« Das klang so sicher, daß es einen Eindruck auf Ali machte und dieser frug: »Kennst du den Sultan?« »Ob _ich_ ihn kenne? Wie du wieder redest! Ich kenne ihn freilich nicht.« »Dann sage mir bloß, wie du es dem Sultan sagen willst?« »Das ist sehr leicht und einfach. Wie würdest du es denn anfangen?« »Ich ginge in den Bazar und ließe mir von einem Schreiber einen Brief schreiben. Den würde ich ihm schicken. Merkwürdig, daß ich bis jetzt nicht daran dachte. Ich wette, so willst du es auch machen.« »Ich wette das Gegenteil. Jeder Narr im ganzen Reich macht es ebenso. Hast du denn daran gar nicht gedacht?« »Wirklich nicht,« sagte Ali beschämt. »Du hättest daran denken _können_, wenn du nicht so jung und unerfahren wärest. Weißt du, wenn irgend ein gewöhnlicher Pascha, oder ein Dichter, oder der Hofkoch oder sonstwer, der ein bißchen bekannt ist, krank wird, so empfehlen alle Narren ihre ›unfehlbaren‹ Quacksalbereien zur Anwendung. Und wenn es sich nun gar um den Sultan selber handelt ...« »So machen sie es natürlich noch ärger,« sagte Ali etwas verlegen. »Selbstverständlich! Glaube mir, Ali, jede Nacht führen wir unsere fünf, sechs Karren voll solcher Briefe aus dem Hinterhofe des Palastes fort. Achtzigtausend Briefe in einer Nacht! Glaubst du denn, daß die überhaupt gelesen werden? Bah! Kein einziger! Mit deinem Brief würde es gerade so gehen. Aber es führt mehr als ein Weg nach Mekka, und den zu des Sultans Ohren kenne ich. Verlaß’ dich drauf.« »Aber so sage mir nur, wie du es angreifen wirst,« bat Ali. Achmet fühlte sich und hub an: »Kennst du das zerlumpte arme Wesen, das sich einbildet, ein Schlächter zu sein, weil es mit einem Korb herumläuft und Katzenfleisch und halbverfaulte Lebern verkäuft? Dem werde ich es _zunächst_ sagen.« Ali war schwer enttäuscht und verdrossen. »Das ist eine Schande, so zu reden, Achmet; das ist nicht schön von dir. Du weißt doch, daß mir die Sache am Herzen liegt.« Achmet gab ihm einen liebevollen Klaps und sagte: »Du brauchst dich nicht zu beunruhigen, Ali. _Ich_ weiß, was ich will. Du wirst es schon sehen. Dieser Katzenfleischkrämer wird es dem alten Krüppel erzählen, der die Krapfen an der Straßenecke verkäuft -- das ist sein bester Freund -- wenn ich ihn darum bitte. Der wiederum wird es seinem reichen Onkel sagen, der im Bazar die Früchte verkauft, und der wieder seinem Busenfreund, dem Hammelschlächter; und der erzählt es seinem Freund von der Leibwache, und der seinem Hauptmann, und der dem Muezzin; dieser erzählt es dem Kadi, der Kadi dem Mudir, der Mudir dem Oberst von der Leibwache, der läuft zu seinem Freund, dem ...« »Bei Mohammed, das ist ein wundervoller Plan, Achmet. Wie kamst du nur auf ...« »... Kontre-Admiral und der Kontre-Admiral erzählt es dem Vize-Admiral, und der Vize-Admiral dem Admiral der Ruderflotte, und der sagt’s dem Admiral der Segelflotte, und dieser dem Ober-Admiral beider Flotten, und der dem Wesir, und der Wesir dem ...« »Weiter, Achmet, weiter!« »... Scharfrichter, und der erzählt es dem Ober-Scharfrichter, und der dem Pascha, und der Pascha dem Mufti, und der Mufti dem Hofjagdmeister, und der Hofjagdmeister sagt es dem Hofmarschall, der Hofmarschall dem Ober-Stallmeister, der Ober-Stallmeister dem Ober-Küchenmeister, dieser erzählt es dem Zeremonienmeister des Harems, der dem Ober-Eunuchen, und der Ober-Eunuch sagt es dem kleinen jungen Lieblingssklaven des Sultans, der ihm die Fliegen vom Gesicht fächert, und der wird vor dem Sultan niederknieen und es ihm zuflüstern, -- und das Spiel ist gewonnen.« Ali war aufgesprungen. »Das ist die größte Idee, die je ein Weiser hatte. Wie kamst du nur darauf?« »Setze dich hier neben mich, und höre mir zu; ich will dir ein Körnlein Weisheit schenken, behalte es solange du lebst. Nun denn, wer ist dein bester Freund, dem du nie im Leben etwas abschlagen möchtest und könntest?« »Der bist du, Achmet, das weißt du.« »Angenommen, du hättest eine ziemlich große Gefälligkeit von dem Katzenfleisch-Händler zu erbitten. Nun kennst du ihn aber nicht, und er würde dir die Pest wünschen, wenn du ihn bitten wolltest, denn er ist nun mal so ein Kauz. Aber er ist mein bester Freund nach dir, und würde sich die Beine ablaufen, um mir einen Gefallen zu erweisen, -- _jeden_ Gefallen, ganz einerlei welchen. Jetzt frage ich dich: Was ist vernünftiger -- wenn _du_ zu ihm gehst und ihn bittest, er solle dem Krapfenmann von deiner Melonenkur erzählen, oder wenn du zu _mir_ kommst, damit _ich_ ihn für dich bitte?« »Natürlich wenn ich zu dir gehe, damit du es für mich tust. Ich hätte wirklich nie daran gedacht, Achmet; es ist großartig!« »Es ist eine _Lebensweisheit_. Sie beruht darauf: Jedermann auf dieser Welt, groß oder klein, mächtig oder nicht, hat _einen_ speziellen Freund, einen Freund, dem er mit _Vergnügen_ behilflich ist -- nicht mit Widerwillen, sondern mit _Vergnügen_ -- mit Vergnügen bis ins Innerste. Und so, ganz einerlei von wo du ausgehst, kannst du bei jedem Gehör finden, stehe er noch so hoch und du noch so niedrig. Es ist ja so einfach: Du brauchst nur den _ersten_ Freund zu finden, das ist alles; damit ist dein Teil an der Arbeit schon geleistet. Er findet dann den nächsten Freund schon von selbst, und dieser findet den dritten, und so fort, Freund nach Freund, Glied nach Glied, wie bei einer Kette; diese führt dich hinauf oder hinunter, so hoch wie du willst oder so tief wie du willst.« »Das ist herrlich, Achmet!« »Es _ist_ so leicht und einfach, wie einen Esel zu prügeln; aber hast du je gehört, daß jemand danach gehandelt hätte? Nein; ein jeder ist ein Narr. Er geht zu einem Fremden, ohne irgendwelche Einführung, oder schickt ihm einen Brief, und erreicht natürlich nichts, -- und das geschieht ihm gerade recht. Der Sultan kennt mich nicht, aber das verschlägt mir nichts. Morgen wird er seine Wassermelone essen; du wirst sehen. Hallo! Halt! Es ist der Katzenfleischkrämer, ich will ihn einholen. Allah beschütze dich, Ali!« Er holte ihn ein und sagte: »Bitte, willst du mir einen Gefallen tun?« »Habe ich es je nicht getan, wenn du mich darum batest? Sage mir, was ich tun soll und ich werde eilen, wie der Wind.« »Geh’ zu dem Krapfenverkäufer; er soll alles stehen und liegen lassen und seinem besten Freund mitteilen, daß der Sultan geheilt werden kann, wenn er zwei Scheiben einer reifen Wassermelone ißt. Und dieser Freund soll es _seinem_ besten Freund weitersagen und so fort, -- bis zum Sultan.« Der Katzenfleischverkäufer flog davon. In diesem Augenblick war die frohe Botschaft des kleinen Kesselflickers an den Sultan unterwegs. III. Um Mitternacht des nächsten Tages saßen die Aerzte im Krankenzimmer des Sultans und flüsterten leise miteinander, denn sie waren in großer Not, da es um den Sultan sehr schlimm stand. Sie konnten es sich nicht verhehlen, daß, so oft sie ihn mit einer neuen Quantität Arzeneien auffüllten, sein Zustand immer bedenklicher wurde. Das machte sie traurig, denn sie hatten das erwartet. Der arme abgezehrte Sultan lag bewegungslos da mit geschlossenen Augen, und sein Lieblingssklave, der ihm die Mücken fortwedelte, weinte still vor sich hin. Da hörte der Knabe einen seidenen Vorhang hinter sich rauschen, drehte sich um und gewahrte den Ober-Eunuchen, der ihm aufgeregt winkte, zu ihm zu kommen. Geräuschlos auf den Zehenspitzen schlich der Sklave zu seinem geliebten Freund, welcher sagte: »Nur du kannst ihn überreden, mein Kind, denn du bist des Sultans Liebling. Nimm dies hier. Wenn es der Sultan ißt, so ist er gerettet.« »Bei Allah, er wird es essen.« Es waren zwei große Scheiben rötlicher Wassermelone, frisch und saftig. IV. Durch das ganze Reich flog am nächsten Morgen die Nachricht, daß der Sultan wieder wohl und gesund sei, und die Köpfe seiner Aerzte die Zinnen seines Palastes schmückten. Eine Freudenwoge wälzte sich über das ganze Land, und man rüstete sich zu einem großen Jubelfest. Nach dem Frühstück saß der Herrscher auf seinem Diwan und überlegte. Seine Dankbarkeit war unaussprechlich, und er sann über ein Geschenk nach, das reich genug wäre seinem Wohltäter seine Dankbarkeit darzutun. Er rief seinen kleinen Sklaven, und fragte ihn, ob er die Kur erfunden hätte. Der Knabe sagte nein, -- er hätte sie vom Ober-Eunuchen erfahren. Der Sklave wurde weggeschickt und der Sultan überlegte wieder. Er würde dem Ober-Eunuchen den Palast und die Ländereien eines Paschas schenken, der in Ungnade gefallen war, sowie ihm dessen jährliches Einkommen anweisen. Er ließ ihn rufen, und fragte ihn, ob er der Erfinder des Heilmittels sei. Aber der Ober-Eunuch war ein ehrlicher Mann und sagte, er hätte es vom Zeremonienmeister des Harems erfahren. Er wurde weggeschickt und der Sultan überlegte von neuem. Er könnte den Ober-Eunuchen absetzen, und den Zeremonienmeister an seine Stelle setzen. Dazu sollte er vier Pferde aus seinem Stall zum Geschenk bekommen. Er wurde aber vom Zeremonienmeister an den Ober-Küchenmeister verwiesen. Abermals überlegte der Sultan, und dachte sich ein geringeres Geschenk aus. Der Koch aber verwies ihn an den Ober-Stallmeister und dieser an den Hofmarschall, und jedesmal mußte der arme Sultan wieder überlegen und sich ein kleineres Geschenk ausdenken. Das war ihm jedoch zu langweilig, und um die Sache zu beschleunigen, ließ er seinen Hohen Geheimen Ober-Detektive kommen, und befahl ihm, herauszufinden, wer die Melonenkur erfunden hätte, damit er seinen Wohltäter nach Gebühr belohnen könne. Um neun Uhr abends kam der Detektive wieder. Er hatte der ganzen langen Kette von Freunden nachgespürt, bis hinunter zu einem kleinen Burschen, Namens Ali, einem Kesselflicker. Der Sultan sagte mit tiefem Gefühl: »Ein braver Junge! Er hat mir das Leben gerettet und soll es nicht bereuen.« Und er schickte ihm ein Paar seiner eigenen Schuhe, und zwar das zweitbeste Paar, das er besaß. Sie waren zu groß für den kleinen Ali, aber sie paßten dem grauköpfigen Neger gerade, und so war alles gut und der rechte Mann belohnt. Schluß der ersten Erzählung. »Nun -- haben Sie die Idee ergriffen?« »Zu meiner Freude kann ich Sie dessen versichern. Und so wie Sie sagten, wird es geschehen: morgen werde ich die Sache meines Freundes durchführen. Ich bin eng befreundet mit des Generaldirektors bestem Freund. Der wird mir einige Zeilen zur Einführung schreiben und betonen, daß die Erfindung tatsächlich für die Regierung von Wichtigkeit ist. Diese Empfehlung werde ich mit meiner Visitenkarte ganz einfach abgeben, und ich brauche sicher keine halbe Minute im Vorzimmer zu warten.« Dies bestätigte sich, und die Regierung nahm die Stiefelerfindung an. [Illustration] Mark Twains Ausgew. humoristische Schriften. _Inhalt_: Bd. I. =Tom Sawyers Streiche und Abenteuer.= Bd. II. =Abenteuer und Fahrten des Huckleberry Finn.= Bd. III. =Skizzenbuch.= Bd. IV. { =Leben auf dem Mississippi.= { =Nach dem fernen Westen.= Bd. V. =Im Gold- und Silberland.= Bd. VI. =Reisebilder u. verschiedene Skizzen.= Preis des einzelnen Bandes M. 2.50 gebunden. Preis aller 6 Bände, zusammen bezogen, M. 13.50 gebunden. _Neue Folge_: Bd. I. =Tom Sawyers _Neue_ Abenteuer.= Bd. II. =Querkopf Wilson.= Bd. III./IV. =Meine Reise um die Welt.= 2 Abt. Bd. V. =Adams Tagebuch= u. a. Erzähl. Bd. VI. =Wie Hadleyburg verderbt wurde= u. a. Erzähl. Preis des _einzelnen_ Bandes M. 3.-- gebunden. Preis _aller 6 Bände_, zusammen bezogen, M. 17.-- gebunden. Weitere Anmerkungen zur Transkription Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Die Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht. Fehlerhafte Anführungszeichen der wörtlichen Reden wurden berichtigt. Die Vorspannseiten mit dem Kapitelnamen wurden entfernt. Korrekturen: S. 52: einhundertdreiunddreißig → einhundertdreiunddreißigtausend {einhundertdreiunddreißigtausend} Dollars im ganzen S. 128: Duolität → Dualität zwischen systematischer {Dualität} *** End of this LibraryBlog Digital Book "Wie Hadleyburg verderbt wurde - Nebst anderen Erzählungen" *** Copyright 2023 LibraryBlog. All rights reserved.