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Title: Gretchen Reinwalds letztes Schuljahr: Eine Erzählung für Mädchen von 13-16 Jahren
Author: Sapper, Agnes
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Gretchen Reinwalds letztes Schuljahr: Eine Erzählung für Mädchen von 13-16 Jahren" ***

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SCHULJAHR ***


[Illustration: Gretchen Reinwald gibt der kleinen Ruth Holland
französische Nachhilfstunde.]



                           Gretchen Reinwalds
                           letztes Schuljahr.


                             Eine Erzählung
                     für Mädchen von 13-16 Jahren.

                                  Von
                             Agnes Sapper.

                            Dritte Auflage.


                               Stuttgart.
                         Verlag von D. Gundert.


              Druck der Stuttgarter Vereinsbuchdruckerei.



                            Erstes Kapitel.
                          Der erste Schultag.


„Heute beginnt also dein letztes Schuljahr?“ fragte Herr Reinwald seine
Tochter, die eben zum Ausgang gerichtet ins Zimmer trat.

„Ja, aber erst um neun Uhr,“ antwortete Gretchen und setzte sich noch
einmal zu den Eltern an den Frühstückstisch. „Ich bin eigentlich viel zu
früh daran!“

„Du siehst ja ganz anders aus, als sich’s für ein Schulmädel gehört,
hast keine Schürze an, keine Tafel in der Hand und gehst in einem
Schleppkleid!“

Gretchen und ihre Mutter lachten. „Das lange Kleid ist dir noch
ungewohnt an unserem Kind,“ sagte Frau Reinwald, „sie ist nun eben kein
‚Schulmädel‘ mehr, sondern eine Fortbildungsschülerin.“ „Ja, Vater, du
mußt auch ein wenig Respekt haben vor mir, ich bin fast schon so groß
wie die Mutter; bitte, Mutter, steh einmal auf, der Vater glaubt es
sonst nicht.“

Da standen sie nebeneinander, die Mutter zart und schmächtig, mit
schlichtem, braunem Haar, die Tochter rosig und blühend, mit blonden,
hoch aufgesteckten Zöpfen; und es war schwer zu sagen, welche von beiden
größer war. Aber Herr Reinwald besann sich nicht. „Das beruht alles auf
Täuschung,“ sagte er, „deine Zöpfe sind nur so prahlerisch aufgebaut.
Die Mutter ist doch größer, und sie bleibt’s auch.“ Da lachte Gretchen
und rief: „Ich weiß schon, wie du’s meinst, Vater. Die Mutter bleibt
freilich größer,“ und mit stürmischer Zärtlichkeit umarmte sie die
Mutter. Herr Reinwald verabschiedete sich nun, um seinem Beruf
nachzugehen, und auch Gretchen machte sich fertig.

„Rufe im Vorbeigehen Lene, daß sie das Frühstück abräume,“ sagte Frau
Reinwald.

„Lene? Ja, wenn nur unsre gute Lene noch draußen wäre!“ antwortete
Gretchen; „ich mag gar nicht mehr in die Küche, seitdem so ein fremdes
Wesen darin haust!“

„Ich glaube es wohl, daß dir deine Lene fehlt, die bei uns war, solang
du zurückdenken kannst; aber Franziska scheint mir auch ein tüchtiges
Mädchen zu sein.“

„Ich schicke sie dir herein,“ sagte Gretchen, „und jetzt leb wohl,
Mutter.“

„Viel Glück zum letzten Schuljahr!“

„Danke, ich bin furchtbar neugierig, wie es in der Oberklasse wird!“

Eilig ging nun Gretchen in den kühlen Herbstmorgen hinaus, der Schule
zu. Ihr Weg führte sie durch lange, belebte Straßen. Schon seit ihrem
ersten Schuljahr, in dem Herr Reinwald als Regierungsrat in die Residenz
versetzt worden war, besuchte Gretchen das Institut von Fräulein von
Zimmern. Von Klasse zu Klasse war sie aufgestiegen, und nun stand sie
vor der letzten. Die schöne Feier der Konfirmation lag eben hinter ihr,
Herz und Sinn des jungen Mädchens waren noch bewegt von den tiefen
Eindrücken dieser Zeit; heute aber, auf dem gewohnten Schulweg, überkam
sie das Gefühl, daß nun alles wieder in das werktägliche Geleise
übergehe, und die festtäglichen Empfindungen wichen einer nüchternen
Stimmung.

Ähnlich ging es wohl auch ihren Altersgenossinnen. Manche derselben
waren schon im Frühjahr konfirmiert worden, die meisten aber, wie auch
Gretchen, erst im Herbst, und so wanderten sie heute zum ersten Male als
konfirmierte Mädchen wieder dem Institut von Fräulein von Zimmern zu.
Sie begrüßten sich als alte Kamerädinnen, freundschaftlicher oder
kühler, je nachdem sie einander näher oder ferner standen; aber _ein_
Paar fand sich mit besonderer Herzlichkeit zusammen und stand Seite an
Seite, als könnte es gar nicht anders sein: das war Gretchen Reinwald
und Hermine Braun, zwei Freundinnen, die seit dem ersten Schuljahr treu
zusammen gehalten hatten und von den andern fast wie Schwestern
angesehen wurden. Doch waren sie einander äußerlich nicht ähnlich.
Hermine war kleiner als Gretchen, hatte ein schmales, blasses
Gesichtchen, aber eines, das man gern ansah, denn es sprach eine große
Herzensgüte aus den sanften Zügen. Mit den beiden zugleich trat Ottilie
von Lilienkron in das Schulhaus, und die drei gingen im untern Stockwerk
des Hauses auf eine Zimmertüre zu, die die Aufschrift „Oberklasse“ trug.

Als sie eintraten, fanden sie schon mehrere Mädchen versammelt. Eine
derselben bemühte sich eben, einen Kleiderrechen, der sich von der Wand
losgemacht hatte, wieder zu befestigen. Es war Elise Schönlein, eine
wenig begabte Schülerin. Ottilie redete sie spöttisch an: „Ist das deine
erste Leistung in der Oberklasse, daß du den Kleiderrechen von der Wand
reißst?“

„Ich kann nichts dafür, das alte Ding hält nicht mehr, der Nagel fällt
aus dem Loch. Helft mir doch!“ Hermine Braun kam zu Hilfe. Der
Federkasten mußte als Hammer dienen, der Nagel wurde wieder eingeklopft.
„So, jetzt hält es notdürftig,“ sagte Hermine befriedigt.

„Ja,“ entgegnete Ottilie, „für einen Tag vielleicht, dann fällt’s wieder
herunter. Dies Zimmer ist überhaupt das unschönste Schulzimmer von
allen, die wir noch gehabt haben.“

„Ja, und so kalt, man hätte schon ein wenig einheizen können.“ Die
Neueintretenden stimmten mit ein in diese Klagen, und die ganze junge
Gesellschaft war ziemlich mißvergnügter Laune, als sie sich auf den
alten Schulbänken niederließen und in dem etwas dunkeln, kühlen
Parterrezimmer auf den Anbruch des letzten Schuljahrs warteten.

Es hatte schon neun Uhr geschlagen, und die Mädchen, fünfzehn an der
Zahl, waren alle versammelt, als die Türe aufging. In sicherer Erwartung
ihrer Lehrerin wollten die Mädchen aufstehen. Gretchen, die immer etwas
flinker als andere in ihren Bewegungen war, hatte sich respektvoll
erhoben, aber unter der Türe erschien, statt der erwarteten Lehrerin,
nur ein niedliches, kleines Mädchen, eine Schülerin der dritten Klasse.
Es war Mathilde, die kleine Schwester von Hermine Braun. Errötend
richtete das Kind aus: „Fräulein von Zimmern läßt den Großen sagen, sie
sollen alle mit mir heraufkommen.“ Merkwürdig schnell waren „die Großen“
bereit, das Lokal zu verlassen und der Kleinen zu folgen, die die Treppe
hinauf voranging.

„Was gibt’s wohl? Wohin sollen wir kommen?“ fragten die Mädchen
einander, und immer größer wurde ihre Verwunderung, denn sie wurden
durch beide Stockwerke hindurchgeführt, in denen sie die früheren
Schuljahre zugebracht hatten, bis hinauf in den obersten Stock, den sie
bisher nur betreten hatten, wenn sie in der großen Kammer ihre
Handarbeiten aufbewahren wollten. Neben dieser Kammer war eine Türe,
durch die noch nie eines der Mädchen geschritten war, die Türe selbst
schien auch neu zu sein. Die kleine Führerin öffnete sie und rief in das
Zimmer hinein: „Da sind jetzt die Großen,“ und dann sprang sie wieder
die Treppe hinunter.

In dem freundlichen, von der Sonne beschienenen Gemach, in das die
Mädchen nun eintraten, stand Fräulein von Zimmern, eine würdige, ältere
Dame mit grauem Haar. Sie ging der Mädchenschar entgegen und sprach
freundlich: „Willkommen, meine Großen! Ihr seht euch ganz erstaunt um;
nicht wahr, ihr wußtet nicht, daß hier oben ein so großes, helles Zimmer
sei. Es steht auch noch nicht lange, ich ließ es erst in diesen Ferien
ausbauen und für euch als Klassenzimmer einrichten. Möchtet ihr alle
euer letztes Schuljahr recht glücklich darin verleben!“

Ein Ausruf der freudigen Überraschung folgte auf diese freundliche
Anrede. Die Mädchen sahen sich die neue Umgebung mit großem Wohlgefallen
an. Das Zimmer war wirklich gemütlich eingerichtet: statt der Schulbänke
und dem Lehrerpult stand in der Mitte ein langer, grüner Tisch und um
denselben herum hübsche Rohrsessel. Wenn man da saß, konnte man sich an
einen Familientisch versetzt glauben. Ein großer Strauß von bunten
Astern prangte in der Mitte und fünfzehn kleine, duftende
Resedensträußchen bezeichneten den Schülerinnen ihre Plätze. Die Fenster
waren mit Vorhängen geschmückt und zwischen diesen hindurch sah man weit
hin über die Häuser und Gärten der Stadt bis hinaus in die freie
Landschaft.

Das war ein anderes Lokal als das düstere Parterrezimmer! Die Freude der
Mädchen kam lebhaft zum Ausdruck, aber für den Dank wollten sich nicht
so leicht die Worte finden. Gretchen hatte schon manchmal bei solchen
Gelegenheiten die Sprecherin machen müssen, und als sie eben an eines
der Fenster trat, sich des ungewohnten Fernblicks zu erfreuen, kamen
einige der Freundinnen zu ihr und bedeuteten ihr durch leichte
Rippenstöße, daß man ihrer bedürfe. Sie hatte kaum erfaßt, was von ihr
erwartet wurde, als sie auch schon bei Fräulein von Zimmern stand und
mit dem Ruf: „Wir danken Ihnen für diese wunderschöne Überraschung!“
auch den andern die Zunge löste.

Nie sehen die Menschen so strahlend aus den Augen, als wenn sie andern
eine Freude bereiten, und so lag auch in den Zügen der Vorsteherin in
diesem Augenblick ein solch herzgewinnender Ausdruck, daß die Mädchen,
die von klein an nur mit ehrfurchtsvoller Scheu der gestrengen Lehrerin
genaht waren, sich traulich um sie scharten und in fröhlichem Geplauder
ihre Freude aussprachen.

Es wurde in dieser ersten Unterrichtsstunde, die Fräulein von Zimmern
selbst gab, nicht so viel gearbeitet wie sonst, aber es war doch keine
verlorene Stunde: in all den jungen Herzen war der Wunsch und Wille
erweckt worden, sich dankbar zu zeigen durch treue Pflichterfüllung.

Um zehn Uhr wurde Fräulein von Zimmern bei ihren Schülern abgelöst durch
Miß Hampton, eine Engländerin, die den Unterricht in ihrer Muttersprache
zu erteilen hatte. Ehe die Vorsteherin das Klassenzimmer verließ, sagte
sie zu Gretchen: „Komme um zwölf Uhr einen Augenblick in mein Zimmer,
ich habe etwas mit dir zu besprechen.“ Gretchen hätte gerne gefragt:
„was denn?“; sie konnte sich durchaus nicht vorstellen, was es sein
konnte; ja sie gestattete sich auch während der englischen Stunde mit
Hermine darüber zu beraten, da ohnehin keine musterhafte Stille am
grünen Tisch herrschte. Die junge Engländerin, die heute ihre erste
Stunde erteilte, verstand es noch nicht so recht, in der Klasse Ruhe zu
halten. So erlaubten sich die Mädchen unter die englische Konversation
auch deutsches Geplauder zu mischen, und Miß Hampton verließ nach der
ersten Stunde entmutigt das Schulzimmer in dem Gefühl, daß sie sich,
trotz ihrer guten Kenntnisse, der Aufgabe nicht gewachsen gezeigt habe.

Auf die englische Stunde sollte nach dem neuen Stundenplan ein
französisches Diktat folgen; aber anstatt Fräulein Bertrand, die dieses
Fach zu geben hatte, erschien zur großen Überraschung der Mädchen eine
andere Gestalt. Es war Pfarrer Kern, _der_ Pfarrer, der den Mädchen
schon von der ersten Klasse an Religionsunterricht gegeben hatte, von
dem auch die meisten Schülerinnen dieses Instituts konfirmiert wurden,
und der bei ihnen allen nur „_unser_ Pfarrer“ hieß. Auf dem Stundenplan
für dieses Jahr stand aber keine Unterrichtsstunde von ihm, und deshalb
sahen ihn fünfzehn Augenpaare erstaunt an bei seinem Eintritt. Der
Pfarrer bemerkte es wohl, er begrüßte seine Schülerinnen freundlich und
sagte dann:

„Ihr seht mich alle verwundert an, ja in Gretchen Reinwalds Augen lese
ich ganz deutlich die Frage, die sie mir als kleines Mädchen schon
einmal gestellt hat: „Was will der Mann?“ Diese stumme Frage will ich
euch gleich beantworten. Fräulein von Zimmern ist der Meinung, daß alle
Monate einmal eine der regelmäßigen Stunden ausfallen könnte zu Gunsten
einer Stunde, die ich euch, meinen alten Schülerinnen, widmen würde.
Wenn ich mich nicht irre, so sind wir so gute Freunde, daß wir wohl
gerne einmal monatlich zusammenkommen und eine Stunde miteinander
zubringen. Was meint ihr?“

Die freudige Zustimmung, die von allen Seiten erfolgte, kam den Mädchen
aus dem Herzen, denn es war auch nicht _eine_ unter ihnen, die lieber
französisches Diktat gehabt hätte, als eine Stunde bei ihrem Pfarrer.
Dieser setzte sich nun zu seinen Schülerinnen oben an den grünen Tisch,
und blickte befriedigt über die auch ihm ganz neue Schulstube.

„Unsere ganze Umgebung ist eine andere als bisher,“ sagte er, „und
ebenso wird auch unser Unterricht ein anderer sein. Was uns
vorgeschrieben war – euch zu lernen und mir zu lehren – das haben wir
erfüllt, und für euch gilt es nun, das Gelernte auch ins Leben zu
übertragen. Darüber, wie das geschehen kann, möchte ich in diesem
letzten Schuljahr zu euch heranwachsenden Mädchen reden. Von eurer
Arbeit wollen wir reden, von euren Vergnügungen; von euren Beziehungen
zu den Eltern und Geschwistern, zu den Freundinnen, zu den Dienstboten;
kurz von allem, was ich denke, daß euer Leben ausfüllt, oder von dem,
was _ihr_ gerne besprochen haben möchtet. Hat im Lauf des Jahres eine
von euch den Wunsch, diese oder jene Frage auszusprechen, so mag sie es
jederzeit tun, sei es nun mündlich oder schriftlich, auf
einem Blättchen, das ihr mir zuschicken könnt, mit oder ohne
Namensunterschrift. Es ist eine alte Erfahrung, daß die Menschen sich
oft scheuen, das auszusprechen, was ihre Seele am tiefsten bewegt. Mich
wird es freuen, wenn ihr diese Scheu überwindet und mir manchmal Stoff
gebt zur Besprechung solcher Fragen, die euch beschäftigen. In der
heutigen Stunde wollen wir miteinander darüber reden, was euch dies
letzte Schuljahr bietet und was es von euch fordert, und dazu möchte ich
nun euern neuen Stundenplan sehen.“

Die Schülerinnen von Fräulein von Zimmern mußten sich immer schon am
Schluß eines Schuljahrs den Stundenplan für das kommende Jahr schreiben,
und wer die schönste Handschrift besaß, hatte die Pflicht und das
Vorrecht, ihn auf ein größeres Formular einzutragen, das hübsch verziert
im Schulzimmer hing. Ottilie von Lilienkron hatte in diesem Jahr den
Plan geschrieben, sie brachte ihn nun herbei. Der Pfarrer nahm ihn zur
Hand und saß bald in traulichem Gespräch mit seinen Schülerinnen. Diese
merkten es wohl kaum, daß sie auch in dieser Stunde lernten, und doch
übte der zwanglose Unterricht guten Einfluß aus. Indem der Pfarrer von
der englischen Stunde sprach, wußte er die Herzen der Mädchen für die
fremde, junge Lehrerin zu gewinnen, so daß sie sich im stillen
vornahmen, ihr künftig nicht, wie sie es heute getan hatten, ihren Beruf
noch schwerer zu machen.

Als bei Betrachtung des Stundenplans die Nähstunde an die Reihe kam,
seufzte Gretchen tief auf und bekannte, daß ihr diese Stunde schrecklich
sei, und sie nicht begreifen könne, warum man so pedantisch darauf aus
sei, daß alles fadengerade genäht werde. Der Pfarrer hatte ganz
teilnahmsvoll zugehört. „Davon verstehe ich freilich nicht viel,“ sagte
er, „aber es kommt mir doch vor, als sei das Wort „fadengerade“ kein so
übles Wort. Sage du dir bei der nächsten verzweiflungsvollen Näherei:
Da, längs dieses Fadens geht der gerade Weg, und den will ich nicht
verlassen, wenn er noch so mühsam ist. Hast du das durchgeführt, so hast
du eine schwere Pflicht erfüllt, trotzdem es sich nur um einen Faden
handelt, und seht, das ist’s gerade, was ich möchte, daß ihr so recht
erfaßt: Nichts ist so klein in unsrem Tun, daß es nicht wert wäre, _gut_
getan zu werden, und bei dem geringsten, was wir tun, können wir Gott
vor Augen und im Herzen haben.“

Als der Stundenplan durchgesprochen war, schlug es zwölf Uhr. Der
Pfarrer verabschiedete sich von seinen Schülerinnen für einen ganzen
Monat und wiederholte seine Aufforderung, ihm Fragen zukommen zu lassen,
wenn sie irgend welche auf dem Herzen hätten.

Erst jetzt fiel es Gretchen wieder ein, daß sie nun bei Fräulein von
Zimmern erscheinen sollte. Im Hinuntergehen sagte sie zu Hermine Braun:
„Warte ein wenig an der nächsten Ecke auf mich, damit ich dir gleich
berichten kann,“ und dann verschwand sie hinter der Türe, an der
angeschrieben stand: Zimmer der Vorsteherin. Diesen Raum hatte Gretchen
in den vielen Schuljahren, die sie hinter sich hatte, nur sehr selten
betreten und meist mit einem gewissen Bangen, denn hieher wurden die
Schülerinnen nur beschieden, wenn Fräulein von Zimmern etwas Besonderes
mit ihnen zu besprechen hatte, und dieses Besondere war selten etwas
Angenehmes. Heute hatte nun Gretchen das Gefühl, daß unmöglich etwas
Schlimmes kommen könne, und guten Muts trat sie zu der Vorsteherin, die
an einem Schreibtisch saß, nun die Feder weglegte und Gretchens Gruß
erwiderte.

„Gretchen,“ begann sie dann, „deine Mutter hat mir einmal mitgeteilt, du
habest große Lust, Lehrerin zu werden. Ist das noch immer so?“

„O ja,“ sagte Gretchen, „in einer solchen Schule, wie unsere ist, da
möchte ich gerne Lehrerin sein.“

„Gut, ich will dir deshalb einen Vorschlag machen. Es ist eine
neunjährige Schülerin neu eingetreten, Ruth Holland, Tochter des
Forstrats Holland. Die Familie lebte bisher auf dem Land, und das Kind
hatte in seiner Schule noch keinen französischen Unterricht. Sie sollte
nun das Wenige nachlernen, was ihre Altersgenossinnen hier schon gelernt
haben. Willst du nun, so kannst du dem Kind diesen französischen
Unterricht erteilen, wozu ich dir Anleitung geben würde. Du kannst bei
dieser Gelegenheit erproben, ob du wirklich Freude am Lehren und
Geschick im Umgang mit Kindern hast. Was meinst du dazu?“

„Ich tue es furchtbar gern,“ rief Gretchen voll Eifer.

„Keine solchen Ausdrücke, Gretchen! Das Eigenschaftswort ‚furchtbar‘ ist
als Bestimmungswort für ‚gern‘ nicht zulässig.“

„Ich tue es _sehr_ gern,“ verbesserte Gretchen, „aber ob es wohl die
andern nicht auch alle gern täten? Zum Beispiel Hermine Braun, und sie,
als erste, hat doch mehr Recht darauf, als ich.“

„_Recht_ hat keine von euch darauf; übrigens hätte ich allerdings
Hermine lieber als dich in Vorschlag gebracht, da sie durch ihre kleinen
Geschwister mehr Erfahrung mit Kindern hat, als du; aber sie hat
Musikstunden und deshalb weniger freie Zeit, als du. So frage denn deine
Eltern, ob –“

„O, meine Eltern sind jedenfalls –“

„Nicht unterbrechen, Kind; es ist eine schlechte Gewohnheit, die bei
Gebildeten nicht vorkommen sollte, merke dir das! Frage deine Eltern,
und wenn sie einverstanden sind, dann kannst du gleich Donnerstag
beginnen, im Klassenzimmer Nro. 3, nachmittags vier Uhr. Was wolltest du
vorhin sagen?“

„Daß meine Eltern sich jedenfalls nur darüber freuen. Ist es wohl ein
nettes Mädchen?“

„Ich glaube, daß die kleine Ruth ein gutes, aber etwas verschüchtertes
Kind ist, das vielfach falsch behandelt wurde. Du mußt trachten, ihr
Vertrauen zu gewinnen und sie zu ermutigen.“

„O ja, das will ich tun, ich freue mich schrecklich – ich wollte sagen
_sehr_ – auf eine so herzige, kleine Schülerin!“

„Nun, so wollen wir das beste hoffen! Ich werde dir mit gutem Rat
beistehen.“ Fräulein von Zimmern reichte Gretchen die Hand, diese
verneigte sich, wie es in diesem Hause üblich war, ging sehr sittsam zur
Türe hinaus und rannte dann nicht ganz so sittsam bis an die nächste
Straßenecke, wo Hermine sie erwartet hatte.

In großem Eifer erzählte Gretchen von dem Vorschlag, den ihr Fräulein
von Zimmern gemacht, und dann sah sie prüfend ihre Freundin an und
fragte: „Hätte es dich sehr gefreut, wenn _dir_ der Unterricht
übertragen worden wäre?“

„Ach nein, wirklich nicht, ich habe so viel mit den Aufgaben meiner
Geschwister zu tun, muß zum Beispiel täglich meiner Schwester bei den
französischen Lektionen helfen, so daß es mir nichts Neues mehr ist; ich
habe mir auch nie gewünscht, Lehrerin zu werden.“

„Ja, das weiß ich; dann freut mich’s um so mehr, daß Fräulein von
Zimmern gerade an mich kommt. Ich denke es mir ganz reizend!“ Die
Freundinnen trennten sich nun und Gretchen kam zu Hause gerade recht zum
Mittagessen. Sie fand bei Vater und Mutter volle Teilnahme für all ihre
Schulerlebnisse, und sie wußte dies Glück wohl zu schätzen.

Frau Reinwald war in den letzten Jahren mehrmals schwer krank gewesen,
und so war Gretchen der Gedanke schon wiederholt nahe getreten, daß dies
treue Herz bald aufhören könnte, für sie zu schlagen. Gegenwärtig aber
war Frau Reinwald gesund, und Gretchen freute sich täglich darüber; es
war eine stille Übereinkunft zwischen ihr und dem Vater, daß der Mutter
alles Schwere möglichst abgenommen, und sie gehegt und gepflegt würde,
obwohl Frau Reinwald selbst nie Rücksicht für sich verlangte. Aus diesem
Grund war es auch Gretchen lieb, daß sie nicht mehr so viele
Schulstunden hatte wie in den früheren Schuljahren und so der Mutter im
Haushalt manches abnehmen konnte. Wenn sie nur schon mehr von den
häuslichen Geschäften verstanden hätte, oder wenn Lene noch dagewesen
wäre, sie anzuweisen! War auch Lene manchmal etwas grob gewesen, sie
hatte doch Gretchen geliebt und wäre für sie durchs Feuer gegangen. Aber
vor einigen Wochen hatte sie sich verheiratet.

Franziska, die nun draußen in der Küche waltete, war nie grob, nein, sie
hatte feine Manieren und redete Gretchen mit „Fräulein“ an; aber
Gretchen schien es doch, als ob sie ein wenig spöttisch gegen das junge
Fräulein wäre, das sich bisher noch wenig um die Hausarbeit gekümmert
hatte. So war es ihr unbehaglich zumute, als sie hörte, daß sie in der
nächsten Woche zum erstenmal mithelfen sollte beim Wäsche legen und
bügeln. Aber die Mutter machte ihr Mut: „Du bist ja nicht allein mit
Franziska,“ sagte sie, „ich bin auch dabei. Wie schnell wird künftig
alles erledigt werden, wenn meine große Tochter mithilft! Darauf habe
ich mich schon gefreut, wie du noch ein ganz kleines Dirnchen warst!“

„Wirklich?“ fragte Gretchen, „dann muß es freilich nett werden, und ich
freue mich darauf, trotz Franziska!“



                            Zweites Kapitel.
                                 Lene.


In den nächsten Tagen, als Gretchen eben von der Schule heimkam, sagte
Frau Reinwald zu ihr: „Du hast einen lieben Besuch versäumt, Frau Bauer
war da.“

„Frau Bauer? Die kenne ich gar nicht.“

„Die kennst du nicht? Deine Lene?“

„Lene! Ach, wie sonderbar, daß man nun Frau Bauer zu ihr sagt! Wie geht
es ihr denn? was hat sie erzählt?“

„Mir scheint, es geht nicht sonderlich gut, sie hat viel
Schwierigkeiten, und als sie davon erzählte, kamen ihr sogar die
Tränen.“

„O, wenn Lene einmal weint, dann muß es schon recht arg sein! Ist denn
ihr Mann nicht gut gegen sie?“

„Doch, der Mann wohl, aber du weißt ja, daß er Kutscher ist und fast
immer auf der Fahrt, dann ist Lene allein mit den drei Kindern, die sie
angetreten hat, und die machen ihr das Leben recht sauer. Es sind drei
wilde, verwahrloste Buben und überdies scheinen sie gegen Lene
aufgehetzt zu werden. Es wohnt eine Verwandte, eine alte Base, wie Lene
sagt, in der Nähe, die besorgte vorher den Haushalt und war gegen die
Heirat. Die legt nun alles böse aus, was Lene tut.“

„Lene soll sie doch nicht mehr ins Haus lassen!“

„Sie kommt auch nicht, aber sie lockt die Kinder zu sich und fragt sie
aus. Wenn Lene ihre Wohnung schön rein und ordentlich macht, wie sie es
bei uns gewöhnt war, und nicht leiden will, daß die Kinder alles gleich
wieder schmutzig machen, dann heißt es: ‚Die Base sagt, du seiest eine
Putznärrin‘; wenn Lene sparen will, dann heißt man sie geizig, und wenn
sie die Buben zurechtweist, dann sagen sie: ‚Wärest du nicht zu uns
gekommen, wenn wir dir nicht recht sind!‘“

„Aber Mutter, das ist ja ganz empörend, nein, unsere gute Lene so zu
behandeln! Die sind es gar nicht wert, daß sie sie bekommen haben!“

„Das mußte ich auch denken. Wie sollten sie glücklich sein, daß ihr
verwahrlostes Hauswesen in Ordnung gebracht wird!“

„Ja,“ sagte Gretchen, „und gegen die Kinder ist sie gewiß immer gut.
Weißt du noch, Mutter, wie sie sich um mich angenommen hat, wie du krank
warst? Sie hat mit mir gespielt und mir Geschichten erzählt und ganz für
mich gesorgt. So macht sie es gewiß auch mit den drei Buben, die jetzt
doch ihre Kinder sind, und die sind so undankbar! Was hast du denn Lene
zum Trost gesagt, Mutter?“

„Leider ist uns ein Besuch dazwischen gekommen, und ich konnte ihr nur
noch versprechen, daß wir bald und oft nach ihr sehen würden. Du
könntest manchmal nach deiner Nachmittagsschule zu ihr hingehen, von der
Schule aus ist’s nicht mehr so weit.“

„Ja, das tue ich. Wenn dann nur die drei wilden Buben aus dem Weg
wären!“

„Die sitzen wohl nachmittags nicht viel daheim, du wirst Lene leicht
allein treffen.“

„Ich gehe zu ihr, so bald ich kann!“ Gretchen konnte ihre Gedanken gar
nicht mehr von Lene losbringen, und ganz empört erzählte sie mittags dem
Vater, was sie gehört hatte. Herr Reinwald beschwichtigte. Er meinte,
aller Anfang sei schwer, sie würden sich allmählich schon besser
zusammenleben.

„Aber die wilden Buben!“ rief Gretchen.

„Wilde können gezähmt werden.“

„Aber die Base!“

„Basen können sich beruhigen,“ sagte Herr Reinwald in unerschütterlicher
Ruhe. Das befriedigte Gretchen nicht, sie fand den Vater nicht
teilnehmend genug.

„Die arme Lene, sie hat sogar geweint,“ sagte sie.

„Die ‚arme Lene‘ macht vielleicht auch manchen Fehler, ein Engel ist
auch sie nicht. Ehe man so unbarmherzig den Stab bricht über ihre
Angehörigen, müßte man doch mehr Einblick in die Verhältnisse haben.“

„Aber Lene hat ja der Mutter alles erzählt!“

   „_Eines_ Mannes Red
   Ist keines Mannes Red,
   Man muß sie hören alle beed.“

Dieser Spruch brachte Gretchen vollends in Verzweiflung. „O Mutter,“
rief sie, „sprich doch auch ein Wort für Lene, der Vater hat gar kein
Herz mehr für sie!“ Frau Reinwald legte sich ins Mittel. „Sei nur
zufrieden, ich gehe in der nächsten Zeit einmal hin und sehe, wie es
steht.“

Gretchen war nun still, aber sie mußte immer an Lene denken, bis dieser
Kummer durch den Gedanken an die französische Stunde verdrängt wurde,
die sie heute zum erstenmal erteilen sollte. Sie hätte sich nur gefreut
auf diese Stunde, wenn sie über _einen_ Punkt beruhigt gewesen wäre: ob
Fräulein von Zimmern den Stunden beiwohnen würde. Sie war überzeugt, daß
sie _allein_ ihre Sache viel besser machen würde und bald gut Freund
wäre mit der fremden Kleinen, für die sie schon eingenommen war, ehe sie
dieselbe kannte, aber in Gegenwart von Fräulein von Zimmern traute sie
sich nichts zu. Als sie nun um vier Uhr ins Schulhaus kam, stürmten die
Kinder alle die Treppe herunter, und es war ihr ganz eigen zumute, daß
_sie_, als Lehrerin, dem Strom entgegen hinaufging.

Die dritte Klasse hatte sich eben entleert, _ein_ Kind saß allein noch
auf der letzten Bank, und Gretchen konnte leicht erraten, daß das ihre
künftige Schülerin war. So einsam im Schulzimmer zurückbleiben müssen,
wenn alle Kamerädinnen hinausspringen, so auf der letzten Bank sitzen
und warten, bis eine ganz fremde Lehrerin kommt, das ist keine
glückliche Lage, und Gretchen mit ihrem warmen Herzen fühlte das sofort.
Sie hatte eigentlich warten wollen, bis Fräulein von Zimmern sie in
aller Form der Schülerin vorstellen würde, aber als sie das Kind so
verlassen sah, kam es ihr anders. Schnell ging sie auf sie zu, setzte
sich neben sie auf die Bank, legte den Arm um sie und sagte: „Gelt, du
möchtest jetzt gewiß lieber mit den andern fort, als bei mir französisch
lernen? Aber ich mach’s gar nicht lang; sieh, da legen wir meine Uhr her
und sowie der Zeiger da auf halb ist, hören wir auf.“

Die Kleine antwortete nicht auf diese freundliche Anrede. Gretchen
erinnerte sich an Fräulein von Zimmerns Wort: „verschüchtert“. Ja, so
erschien sie und so zeigte sie sich auch, als jetzt Fräulein von Zimmern
eintrat. Sie blieb sitzen, während Gretchen vortrat und grüßte. Fräulein
von Zimmern, die sonst jede kleine Unhöflichkeit zu tadeln pflegte,
übersah es bei diesem Kind und sprach milder, als sonst ihre Art war.
Gretchen merkte wohl, daß es ihr am Herzen lag, die Kleine zu ermutigen.

„Das ist Ruth Holland, deine Schülerin; Ruth, sieh, das ist Fräulein
Reinwald.“

Gretchen war ganz betroffen, sich so vorgestellt zu hören; aus dem Munde
der Vorsteherin lautete das „Fräulein Reinwald“ gar zu ungewohnt.

Fräulein von Zimmern zeigte nun Gretchen, wo Ruth, die erst seit kurzem
angefangen hatte, Französisch zu lernen, in ihrem Lehrbuch stand.
Gretchen sollte zuerst die kleine schriftliche Arbeit korrigieren und
die gelernten Wörter überhören, dann die neue Lektion durchgehen. Ein
heller Platz in der vordersten Bank wurde für die kleine Schülerin
bestimmt und dann wies Fräulein von Zimmern auf einen Sessel, den sich
Gretchen vor den Platz der Kleinen stellen sollte. Gretchen wagte eine
Einsprache.

„Ich säße viel lieber neben ihr auf der Bank, es ist viel traulicher;
darf ich?“

„Die niedrige Bank ist für dich unbequem, doch magst du das einrichten,
wie du willst.“

Im Nu saß Gretchen neben Ruth, schlang den Arm wieder um sie, während
sie mit der andern Hand das Heft nahm, in dem eine Übersetzung zu
korrigieren war. „_La mère_“ hießen die ersten Worte und auf „_mère_“
fehlte der Akzent; eifrig bemühte sich nun die junge Lehrerin, ihrer
Schülerin zu erklären, warum dies kleine Zeichen nicht fehlen dürfe. Sie
beachtete nicht mehr die Gegenwart von Fräulein von Zimmern, sie war
viel zu sehr bei der Sache, und so bemerkte sie auch den wohlwollenden
Blick nicht, den die Vorsteherin auf die kleine Gruppe warf, ehe sie
nach einer Weile das Zimmer verließ.

Die halbe Stunde erschien Gretchen fast zu kurz, sie hätte in ihrem
Eifer gerne noch weiter gemacht, aber sie dachte an ihr Versprechen und
machte pünktlich Schluß. Sie half der Kleinen, ihr Jäckchen anzuziehen,
freute sich an dem zierlichen Gestältchen und fing an, mit Ruth zu
plaudern. Aber die Unterhaltung blieb ganz einseitig, und sobald das
Kind fertig war, huschte es mit kaum hörbarem Gruß zur Türe hinaus.
„Jetzt ist sie natürlich noch schüchtern, aber in der nächsten Stunde
wird sie schon zutraulich werden,“ sagte sich Gretchen, während sie das
Schulzimmer hinter sich abschloß, das ihr, still und unbelebt, wie es um
diese Zeit war, fast fremd erschien.

Sie schlug nicht den Heimweg ein, es zog sie unwiderstehlich zu Lene,
sie mußte einmal nach ihr sehen. In einem kleinen Gäßchen der Altstadt
wohnte der Kutscher Bauer, ein sehr zuverlässiger Mann, den Lene in
früheren Jahren oft für Herrn Reinwald zu Ausfahrten bestellt hatte.
Gretchen war kurz nach Lenes Heirat schon einmal dagewesen, um ein
Hochzeitsgeschenk zu überbringen. So war ihr die Wohnung nicht
unbekannt. Man mußte an dem Vorderhaus vorbei durch einen Hof in das
Hintergebäude gehen. Dort war der Pferdestall und die Wagenremise und
daneben die kleine Parterrewohnung, die der Kutscher bewohnte. Gretchen
klopfte an der Zimmertüre, und als niemand „herein“ rief und sie doch
von innen Gepolter hörte, klopfte sie noch lauter. Da wurde die Türe
aufgerissen und sie stand einem etwa zwölfjährigen Knaben gegenüber, der
sie anredete: „Wollen Sie zum Kutscher?“ Gretchen wußte sofort, daß das
einer der drei wilden Buben war; sie sah auch, daß ein zweiter mitten
auf dem Tisch stand, sah, daß dieser Tisch tadellos weiß gefegt war und
daß der Bub, der darauf stand, schmutzige Stiefel hatte. In einem
Augenblick hatte sie das alles bemerkt; jetzt antwortete sie auf die
Frage des Großen: „Ich möchte zu Lene, zu Frau Bauer.“

„Die ist nicht da.“

„Ist sie ausgegangen? Kommt sie wohl gleich wieder?“

„Sie ist ausgegangen, aber ob sie wohl gleich wieder kommt oder noch
eine Stunde lang schwätzt, weiß ich nicht.“

„Schwätzen tut sie nicht, das weiß ich,“ rief Gretchen, deren Zorn gegen
die Buben gleich hell aufloderte. „Ich kenne die Lene besser als ihr,
sie war vierzehn Jahre bei uns!“

„Meinetwegen hätte sie auch vierundzwanzig Jahre bei euch bleiben
können!“

„Ich wollte auch, sie wäre bei uns geblieben,“ rief Gretchen mit
zunehmender Erbitterung, „bei uns hat sie es gut gehabt, ich habe sie so
lieb und sie mich, und ihr seid so häßlich gegen sie!“

„So? Woher wißt Ihr denn das? Hat sie uns schon verklagt?“

„Wenn sie euch auch nicht verklagt hätte,“ entgegnete Gretchen, „so
hätte ich das schon selbst gemerkt, wenn du gleich sagst: ‚sie
schwätzt!‘ und wenn der andere dort auf dem frisch geputzten Tisch
herumsteigt, daß Lene gerade wieder von vorn anfangen muß zu putzen!“

„Was kümmert’s Euch?“ rief trotzig der Große, „das ist _unser_ Tisch und
unsere Stub, da habt Ihr nichts drein zu reden! Wir können tun, was wir
mögen, und Euch geht’s nichts an!“

„Das geht mich freilich an, wenn ihr meine Lene so unglücklich macht,“
rief Gretchen in höchster Erbitterung und mit Tränen der Erregung.

Der Große lenkte ein. „So schlecht sind wir auch nicht, daß wir jemand
unglücklich machen! Da ist doch die Bas viel unglücklicher, die heult
den ganzen Tag, weil sie aus dem Haus gemußt hat und ganz allein ist,
und Eure Lene ist noch nicht ein einziges Mal zu ihr hinübergegangen und
hat ihr noch nie einen Teller Suppe gebracht. Das ist doch auch nicht
recht, das schreit zum Himmel, sagt die Bas.“

Gretchen horchte hoch auf. „Ist denn die Base arm?“ fragte sie.

„Wenn sie doch keinen Verdienst mehr hat!“

„Das weiß gewiß die Lene nicht!“

„Was wird sie’s nicht wissen!“

„Nein, sie weiß es nicht,“ beharrte Gretchen, „man muß es ihr nur sagen,
dann bringt sie der Base gleich etwas!“

Der Kleine, der mittlerweile doch vom Tisch heruntergestiegen war, hatte
nun auch etwas zur Sache zu bemerken.

„Ich hab’ der Bas einmal ein Stück Fleisch zugetragen,“ erzählte er,
„dann wie die neue Mutter dahintergekommen ist, hat sie mich gescholten.
Ja, und sie will uns gar nimmer zur Bas hinüber lassen, die ist ihr
schon zu gering, und alles will sie schöner haben, als es vorher war,
weil sie der Hochmut plagt, sagt die Bas.“

Gretchen mußte an ihren Vater denken, er hatte wohl recht, Lene machte
vielleicht auch nicht alles ganz gut. „Es ist aber auch recht schön bei
euch,“ sagte sie begütigend; „wie ich voriges Jahr einmal in eurer Stube
war, um den Kutscher zu bestellen, da hat es anders ausgesehen.“

„Schön ist’s, das ist richtig,“ gab der Große zu, „wer ins Haus kommt,
rühmt, daß es bei uns so sauber aussehe,“ und er sah mit Stolz um sich.

„Und gut ist sie auch, die Lene!“ rief Gretchen eifrig. „Wie ich noch
klein war, hat sie mir am Sonntagnachmittag oft Geschichten erzählt und
vorgelesen und mit mir gespielt. Mit euch hat sie gewiß auch schon
gespielt?“

„Nicht ein einziges Mal!“

„Aber vorgelesen oder erzählt?“

„Das ist bei uns nicht der Brauch, das hat sie halt bei euch getan, aber
wir sind ihr viel zu gering.“

Gretchen dachte nach. „Mir hat sie auch nie erzählt, wenn sie sich über
mich hat ärgern müssen, bloß wenn ich brav war. Aber paßt auf! Wischt
den Tisch schön ab, macht alles sauber, daß ihr’s gefällt, wenn sie
heimkommt, und dann sagt zu ihr: Einen schönen Gruß von deinem Gretchen
und du sollst uns heute abend die Geschichte von der Feuersbrunst im
Gefängnis erzählen. Dann tut sie’s gewiß und die Geschichte ist
wunderschön.“

„Was kommt darin vor?“ frug der Kleine.

„Ich kann’s jetzt nicht erzählen, ich muß nach Hause, und Lene kann’s
viel schöner als ich.“ Gretchen ging.

Sie war nicht mehr so entrüstet wie am Anfang ihres Besuchs, sie dachte
ein wenig milder über die Buben und über die Base, sie fühlte, daß da
große Schwierigkeiten zu überwinden waren, und es stand fest bei ihr,
die Mutter mußte zu Lene kommen und alles ins gute Geleise bringen.

Während sie in diesen Gedanken heimwärts ging, wurde in der Stube des
Kutschers der Tisch abgerieben und alles, was in Unordnung geraten war,
aufgeräumt. Der dritte Bruder kam nun auch heim. Er ahnte nichts von der
neuen Ordnung der Dinge; als er sich aber beikommen ließ, einen
Apfelbutzen auf den Boden zu werfen, was die beiden andern noch vor
einer Stunde ebenso gemacht hätten, wurde er von seinen Brüdern hart
angelassen, so daß er große Augen machte. Sobald er aber erfaßt hatte,
um was es sich handelte, daß nämlich die Mutter dafür gewonnen werden
sollte, eine Geschichte von der Feuersbrunst im Gefängnis zu erzählen,
trat er in das Komplott ein, und so kam es, daß Lene alles in tadelloser
Ordnung vorfand, als sie nach einiger Zeit von ihren Ausgängen heimkam.
Sie merkte gleich, daß etwas nicht war, wie sonst. Es herrschte Frieden,
Ruhe und Ordnung, und sie selbst wurde mit einem gewissen Interesse
angesehen, wie wenn sie eine neue Erscheinung wäre. Und in der Tat sahen
die Kinder sie daraufhin an, daß sie so innig geliebt wurde von einem
jungen, feinen Mädchen. Sie dachten daran, daß dieses Mädchen Tränen
vergossen und gesagt hatte, Lene sei unglücklich und sie seien schuld
daran.

„Was schaut ihr mich so an?“ fragte Lene.

„Sag’s doch,“ drängte der Jüngste den Ältesten, und nun kam stockend
Gretchens Auftrag heraus. Lene war es sehr leid, daß sie Gretchens
Besuch versäumt hatte, und sie wollte genau wissen, was die Kinder mit
Gretchen gesprochen hatten, ob sie auch höflich gegen sie gewesen seien.
Aber sie bekam nur sehr spärliche Antworten; die Kinder hüteten sich
wohl, zu erzählen, daß ihre Unterredung nicht sehr freundlicher Art
gewesen sei. Lene gab sich schließlich zufrieden und dachte, sie müßten
doch ganz nett miteinander geplaudert haben, wenn die Rede auf
Geschichtenerzählen gekommen sei. Sie versprach, nach dem Abendessen
ihre Geschichte zu erzählen, wenn es die Buben auch so halten wollten,
wie Gretchen Reinwald: vor dem Essen ihre Aufgaben schreiben und lernen
und sich überhören lassen, ob alles gut gehe, und nach dem Essen das
Zimmer wieder in Ordnung bringen. Diese Bedingungen wurden angenommen,
die Erwartungen waren so hoch gespannt, daß die Wünsche der Mutter alle
bereitwilligst erfüllt wurden. Der Vater war heute erst spät zu
erwarten, die einfache Mahlzeit war bald vorüber, und alle Hände halfen
heute den Tisch abzuräumen, das Geschirr in der Küche abzuwaschen und
wieder an seinen Platz zu stellen. Der Jüngste, der kleine Fritz, stand
sehr unter dem Eindruck ungewohnter Tugend, und als alle so tätig waren,
fragte er die Mutter: „War dein Gretchen _noch_ bräver als so?“ „Nein,“
antwortete Lene, „_so_ war sie und so habe ich die Kinder gern!“

Bald darauf saßen sie alle eng aneinander gedrängt in einer Ecke der
Stube, Lene fing an zu erzählen, und die Buben, die wilden, sie waren
gezähmt; regungslos saßen sie da und hörten zu. Nie in ihrem Leben hatte
ihnen jemand eine Geschichte erzählt, gelesen hatten sie auch nicht
viel. So lauschten sie in atemloser Spannung, und Lene, da sie all die
Augen auf sich gerichtet sah, machte die Sache noch fesselnder und
schauriger als sonst. Zuletzt ging alles gut hinaus, die Bösen wurden
bestraft, die Guten belohnt; es war ganz herrlich!

An diesem Abend fühlte sich Lene nicht unglücklich; die Freude, die sie
bereitet hatte, war das erste Band zwischen ihr und ihren drei Wilden.



                            Drittes Kapitel.
                          Häusliche Geschäfte.


Ein paar große Waschkörbe voll frisch gewaschener Wäsche standen im
Zimmer; ein langer Tisch war aufgeschlagen, Gretchen hatte eine große,
weiße Hausschürze an und sollte zum erstenmal helfen bei dem Geschäft,
die Wäsche einzuspritzen, zu legen und zum Mangeln und Bügeln
zuzurichten. Zunächst machte sie ein etwas bedenkliches Gesicht dazu;
sie wollte sich zwar gerne nützlich machen im Haus, aber in diesem
Gebiet war sie noch ganz unbekannt, und gemeinsam mit Franziska war sie
überhaupt noch nie tätig gewesen, sie kam sich fremd vor im eigenen
Haus. Frau Reinwald wies ihr den Platz neben sich an, übergab ihr einen
Pack Taschentücher und zeigte ihr, wie dieselben gespritzt und gelegt
werden sollten. Sie selbst und Franziska nahmen größere Stücke aus den
Körben und fingen an, sie auszuziehen und zu legen.

„Sieh zu, wie wir das machen, damit du es ein andermal auch besorgen
kannst,“ sagte Frau Reinwald.

Gretchen sah zu; daß es der Mutter flink von der Hand ging, war wohl
natürlich, daß aber auch Franziska, die erst neunzehn Jahre alt und kaum
größer als Gretchen war, die Sache schon so geschickt angriff, ja, daß
sie gleich ein leinenes Tuch von einem baumwollenen unterscheiden
konnte, wunderte Gretchen sehr und war ihr nicht einmal ganz recht, denn
ihr eigenes Ungeschick kam ihr dadurch nur größer vor. Das Geschäft war
kaum recht im Gang, als die Hausglocke ertönte und Besuch zu Frau
Reinwald kam. Gretchen war sehr ärgerlich, daß die Mutter abgerufen
wurde und sie allein mit dem Mädchen bleiben mußte. So langsam wie
möglich legte sie die Taschentücher, denn sie wußte ja nicht, was sie
nachher in Angriff nehmen sollte, und sie mochte Franziska nicht fragen.
Als endlich, trotz aller Langsamkeit, die Taschentücher doch erledigt
waren, griff Gretchen aufs geratewohl in den Waschkorb, nahm das oberste
Stück heraus und spritzte es ein.

„Aber Fräulein,“ sagte Franziska lachend, „die Herrenhemden werden doch
nicht eingespritzt, die werden doch gestärkt!“ „Ja, das ist wahr,“ sagte
Gretchen, legte das Hemd zurück, nahm ein Stück aus einem andern
Waschkorb und fing wieder an, einzuspritzen. Diesmal lachte Franziska
laut auf. „Aber Fräulein, merken Sie denn nicht, daß das die Servietten
sind, die ich gerade erst gespritzt habe? Dort hinten steht der Korb mit
den Kissenüberzügen, nehmen Sie doch die!“ Gretchen folgte dem Rat und
die beiden verrichteten stillschweigend ihr Geschäft. Mit Lene hatte
Gretchen bei solchen Gelegenheiten immer fröhlich geplaudert und dies
Schweigen war ihr bedrückend. Aber die Mutter hatte ihr anbefohlen, dem
noch fremden Mädchen gegenüber nicht so mitteilsam zu sein, wie sie es
bei Lene gewohnt war; so sagte sie nichts und auch Franziska verhielt
sich ganz stumm. Im stillen verwünschte Gretchen den Besuch, der die
Mutter so zur Unzeit abhielt.

„Wenn sie nur wenigstens kommt, ehe ich die Kissenüberzüge gespritzt
habe und sie gelegt werden müssen, denn sonst lege ich sie sicher
verkehrt!“ In dieser Sorge zögerte sie ihr Geschäft wieder möglichst
lang hinaus, während Franziska um so rascher arbeitete und Stoß um Stoß
auf ihrer Seite entstand.

„Wenn wir heute mit all der Wäsche fertig werden sollen, darf man schon
tüchtig vorwärts machen,“ sagte sie, und Gretchen konnte die Mahnung auf
sich beziehen, denn ihre absichtliche Langsamkeit mußte wohl den
Eindruck von Faulheit machen. Franziska fing nun auch an, Kissenziechen
zu legen, und Gretchen hätte ihr gerne abgesehen, wie sie das machte,
aber vom andern Ende des Tisches konnte sie es nicht so genau
beobachten. Da kam eine erwünschte Unterbrechung – es klingelte wieder
und das Mädchen mußte hinaus, die Türe zu öffnen. Gretchen zog rasch das
von Franziska halbgelegte Stück an sich, um zu sehen, wie es gelegt war;
aber sie stieß dabei an die große, mit Wasser gefüllte Schüssel, diese
kippte um und leerte sich am Rand des Tisches aus. Schnell schob
Gretchen die vom Wasser bedrohten Stöße Wäsche beiseite, sie hatten nur
einen kleinen Spritzer bekommen, auch der Tisch war nicht sehr naß, das
meiste war hinuntergeflossen. „Das ist noch gnädig abgegangen,“ dachte
sie, holte ein Tuch, um zunächst den Tisch wieder trocken zu reiben, den
Boden konnte ja dann Franziska aufwischen. Sie ging mit der fast leeren
Schüssel hinaus, um sie wieder zu füllen. Mit Befriedigung hörte sie,
daß bloß ein Hausierer und nicht etwa ein weiterer Besuch gekommen sei,
und bat Franziska, mit dem Putzlumpen hereinzukommen. Diese tat es ohne
weitere Bemerkung; aber sie war kaum im Wäschezimmer angekommen, als sie
einen großen Lärm anschlug: „Ach du meine Güte, was ist das? Sie haben
ja das Wasser in den Waschkorb geschüttet, in dem die Leintücher und
Tischtücher sind; ja, haben Sie denn das nicht gesehen?“

„Nein,“ sagte Gretchen, „ich habe gar nicht beachtet, daß das Wasser
hinuntergeflossen ist.“

„Ja, es fließt meistens hinunter und selten die Wand hinauf,“ rief
Franziska schnippisch. Gretchen bemerkte erst jetzt, daß der Hauptstrom
sich in den unter dem Tisch stehenden Korb ergossen hatte. Zunächst kam
ihr Franziskas Entsetzen noch übertrieben vor: „Das Unglück wird nicht
so groß sein,“ sagte sie, „es war ja reines Wasser und die Leintücher
noch nicht eingespritzt.“

„Aber sehen Sie doch nur her; meinen Sie denn, so etwas könne man legen?
Es ist ja naß, wie wenn es aus dem Waschzuber käme! Ach du meine Güte,
das muß ich alles noch einmal aufhängen, noch einmal ein Waschseil
aufspannen! Hätten Sie’s doch gleich aus dem Korb genommen, dann wäre
doch nur das oberste naß geworden, aber so ist alles verdorben!“ Und
Franziska nahm ein Stück nach dem andern heraus und bei jedem fing sie
aufs neue an zu jammern. Gretchen war sehr niedergeschlagen und stand
ganz zerknirscht da, als die Mutter, nachdem sich ihr Besuch endlich
verabschiedet hatte, wieder erschien. Frau Reinwald sagte nicht viel,
prüfte den Schaden, sortierte, was noch zu benützen war und was
aufgehängt werden mußte; sie war aber sehr ernst dabei, und Gretchen
empfand es als eine wahre Erlösung, als dieser unangenehme Nachmittag
überstanden war.

Herr Reinwald hatte mittags von Gretchen erfahren, daß sie an diesem
Nachmittage in das Wäschezimmer eingeführt werden sollte, hatte mit ihr
darüber gescherzt und ihr neckend Böses prophezeit. Gretchen war es nun
schon angst, bis der Vater danach fragen und von ihren Mißerfolgen hören
werde. Richtig – sie hatte ihm kaum den Tee eingeschenkt, als er sie
auch schon fragte: „Nun, und wie ist’s meiner großen Tochter heute
nachmittag gegangen?“ Gretchen errötete und die Mutter sagte: „Nicht
besonders gut.“ Aber die erwartete Neckerei blieb aus; der Vater hatte
immer ein feines Gefühl dafür, ob eine Sache scherzhaft oder ernst war;
so sagte er bloß zu Gretchen: „Denke an den Ausspruch: ‚Aller Anfang ist
schwer, am meisten der Anfang der Wirtschaft!‘“ Und dann brachte er das
Gespräch auf ein anderes Thema. Gretchen hätte ihm gern einen Kuß
gegeben aus Dankbarkeit dafür, daß die nassen Leintücher sich nicht auch
noch über den behaglichen Teetisch breiteten.

Herr Reinwald ging nach dem Essen noch aus, um eine Versammlung zu
besuchen, und Gretchen hatte die Mutter allein für sich. Es war ein
trauliches Abendstündchen. „Mutter,“ begann Gretchen bittend, „gelt, ich
muß nicht so bald wieder mit Franziska solche Geschäfte tun, es ist mir
unausstehlich.“

„Das habe ich wohl bemerkt, aber ich möchte nicht, daß du den
Schwierigkeiten aus dem Weg gehst, siehe lieber, daß du sie
überwindest.“

„Wohl, aber daß nichts Gescheites herauskommt, wenn Franziska und ich
miteinander arbeiten, hast du ja selbst gesehen.“

„Du wirst nicht jedesmal eine Schüssel umstoßen, du bist ja sonst nicht
so ungeschickt, und etwas Lehrgeld müssen wir alle bezahlen.“

„Aber auch vorher, ehe die Schüssel umfiel, war es so ungemütlich!“

„Nun möchte ich aber doch wissen, warum?“

„Weil ich mich gar nicht auskannte mit der Wäsche und Franziska nicht
fragen mochte; denn wenn sie merkt, daß ich gar nichts verstehe, hat sie
keine Achtung vor mir. So muß ich mich immer stellen, als ob ich etwas
könnte, wo ich doch nichts kann, und das ist mir so zuwider!“

„Das ist auch ganz und gar verkehrt. Glaube nur gar nie, daß du etwas
Gutes erreichst, wenn du dir den Schein gibst, mehr zu sein, als du
bist.“

„Aber wenn sie sieht, daß ich so viel weniger verstehe als sie, so wird
sie keinen Respekt vor mir haben.“

„In deinem Alter braucht man auch noch keinen ‚Respekt‘ zu beanspruchen.
Manierlich wird sie dennoch gegen dich sein, wenn du es gegen sie bist
und wenn sie sieht, daß du deine Pflicht tust, so gut du eben kannst.“

„Hätte ich sie denn heute fragen und mir alles von ihr zeigen lassen
sollen?“

„Ganz gewiß; du kannst jederzeit ruhig zu ihr sagen: wie macht man denn
das, davon habe ich gar keinen Begriff; oder: ich glaube, daß ich alles
ganz verkehrt gemacht habe, wenn ich nur auch schon so geschickt wäre
wie Sie! Das alles wird dem Mädchen den Eindruck machen, daß du
aufrichtig und nicht hochmütig bist, und sie wird dich um dessentwillen
lieb haben. Gibst du dir hingegen den Schein, mehr zu sein als du bist,
so fühlt sie bald die Falschheit heraus, die darin liegt, und freut
sich, so oft dir etwas mißlingt.“

„Aber noch eines, Mutter; du hast doch gesagt, ich solle nicht so viel
mit ihr sprechen, wie mit Lene; es kommt mir aber so unfreundlich vor,
wenn man so schweigend zusammen an _einem_ Tisch arbeitet.“

„So war das auch nicht gemeint. Natürlich darfst du nicht mit einem
Mädchen, das wir so kurz erst kennen, rückhaltslos über unsere
Angelegenheiten reden, wie du es von der Kinderzeit her mit Lene gewöhnt
warst; aber es gibt genug Dinge, über die du mit ihr sprechen kannst.
Denke, wie fremd sie hier ist und wie sie es wohl oft schmerzlich
vermißt, daß niemand etwas weiß von ihrer Heimat und ihren Angehörigen.
Frage sie nach ihrem Heimatsort, ihrer Schulzeit, ihren Geschwistern, da
wird ihr das Herz aufgehen, und es wird ihr wohl tun.“

Wo ein guter Rat auf klaren Verstand und guten Willen trifft, da wirkt
er. Gretchen verstand und wollte.

Am folgenden Tag war Frau Reinwald für den Nachmittag eingeladen. Sie
hatte kaum das Haus verlassen, als Gretchen das Mädchen in der Küche
aufsuchte.

„Franziska, wo sind wohl jetzt die nassen Leintücher?“ fragte sie.

„Sie hängen noch oben in der Dachkammer.“

„Sind sie schon so trocken, daß man sie abnehmen könnte?“

„Warum? Die gnädige Frau ist ausgegangen, allein kann ich sie nicht
legen und überdies muß ich Fenster putzen.“

„Ich frage nur deshalb, Franziska, weil ich doch schuld daran bin, daß
die Wäsche jetzt noch hängt, während die Mutter sie so gerne noch diese
Woche fertig gemacht hätte. Ich dachte, ob wir die Mutter nicht damit
überraschen könnten, daß die Leintücher alle schön gelegt wären, wenn
sie heute abend heimkommt. Ich weiß freilich gar nicht, wie man sie
legt. Sie müßten mir’s eben zeigen und Geduld haben, wenn ich mich
wieder so dumm anstelle, wie neulich.“

Franziska schien unentschlossen, was sie antworten solle.

Gretchen ließ nicht nach. „Geht’s wegen des Fensterputzens nicht recht?“
fragte sie; „ich habe um vier Uhr eine französische Stunde zu geben und
komme erst gegen fünf Uhr heim, bis dahin könnten Sie doch gewiß fertig
sein mit den Fenstern und dann haben wir immer noch zwei Stunden Zeit;
die Mutter kommt gewiß nicht vor sieben Uhr.“

„Meinetwegen,“ sagte Franziska, „ich will die Wäsche nachher aus der
Kammer holen und zurichten, bis Sie aus der Schule kommen.“

„O, das ist recht,“ rief Gretchen und richtete sich zum Gang in die
Schule.

Ihre kleine Schülerin machte ihr wohl Freude, aber still und
verschlossen war sie noch immer, und Gretchen fragte sich, wie lange es
wohl noch dauern würde, bis das verschüchterte Kind endlich Zutrauen
fassen würde? Sie konnte ein solch ängstliches Wesen nicht recht
verstehen. Fräulein von Zimmern, die in jeder Stunde, wenn auch nur auf
einige Minuten, erschien, bemerkte wohl, was Gretchen vermißte, und
ermahnte sie zur Geduld. Auch heute war Ruth wieder ganz einsilbig, und
Gretchen war froh, daß sie nur eine halbe Stunde bei ihr ausharren
mußte. Eilig ging sie nach der Stunde heim. Sie freute sich auf die
geplante Überraschung für die Mutter, fürchtete sich aber auch auf das
schwierige Geschäft.

Franziska hatte wirklich schon alles so weit gerichtet, daß das Werk
gleich beginnen konnte. Zuerst „strecken“, dann „ausschlagen“ und dann
„legen“ und nur nicht auf den Boden streifen, das waren Franziskas
Vorschriften. Diesmal war Gretchens Bestreben nicht: „so langsam wie
möglich“, sie tat alles mit Eifer und fand es gar nicht so schwierig.
Ja, beim vierten Stück brauchte sie schon nicht mehr ihre ganze
Aufmerksamkeit darauf zu wenden und konnte ein Gespräch anknüpfen. Sie
hatte sich wohl der Mutter Vorschläge gemerkt. Erstes Thema: Heimat;
zweites Thema: Schule; drittes Thema: Geschwister. So fragte sie zuerst,
wieviel Franziskas Heimatsort Einwohner habe? Darüber wußte aber
Franziska keinen Bescheid zu geben. Nun kam die Schule an die Reihe;
dies Thema gab schon besser aus. Zuletzt die Geschwister: Zehn! Bei
dieser Frage ging Franziska das Herz auf, und sie war noch im besten Zug
mit Erzählen, als der Korb leer war, offenbar zum Bedauern des Mädchens.
Aber es war doch nicht zu frühe, denn schon kam Frau Reinwald nach
Hause. Sie freute sich über die schön gefalteten Leintücher, freute sich
mehr, als Franziska recht begreifen konnte, die freilich nicht wußte,
daß dieser Stoß Wäsche der Mutter zeigte: Dein Kind geht den
Schwierigkeiten des Lebens nicht aus dem Weg, es überwindet sie!



                            Viertes Kapitel.
                           Die Ringelnatter.


Die Schule ging ihren regelmäßigen Gang. Gearbeitet mußte tüchtig werden
in dem Institut von Fräulein von Zimmern, denn es wurden hohe Ansprüche
an die Oberklasse gemacht; aber das hübsche Schulzimmer übte eine große
Anziehungskraft, und es war ein eifriges Treiben an dem langen, grünen
Tisch. Um zehn Uhr, wenn eine Glocke das Zeichen gab, daß die Jugend ein
freies Viertelstündchen im Hof zubringen durfte, hatten die „Großen“
allein das Recht, im Haus zu bleiben, und ungestört von der großen Masse
der jüngeren Schülerinnen machten sie Spiele auf dem langen Gang des
oberen Stockwerks oder setzten sich gruppenweise zusammen auf der
obersten Treppe und plauderten. Meistens ging es lustig zu, manchmal gab
es auch Ärgernis: wenn Elise Schönlein, die nicht sehr stark war im
Lernen, die Pause benützen wollte, um sich gute Ideen für den Aufsatz
oder sonstige Arbeiten geben zu lassen, und wenn Ottilie, die ihr solche
Hilfe nicht gönnte, sie irre führte oder verhöhnte.

Heute waren die Mädchen mit ihren Gedanken noch bei der Literaturstunde
und Hermine schlug vor, sie wollten sich einander Zitate aus
Dichterwerken aufgeben und erraten, aus welchem Stück sie seien. Das
Spiel war bald im Gang.

Aber auch eine andere Klasse war heute, unbefugter Weise, nicht ins
Freie hinausgegangen, es war die dritte, in der die kleine Ruth war, und
zu der auch Mathilde Braun gehörte. Die Kinder hatten eben
Naturgeschichte gehabt, und ihr Lehrer hatte etwas sehr Interessantes
mitgebracht. Es war eine lebende Ringelnatter; sie lag in einem großen
Glasbehälter, dessen Boden mit Sand bestreut war. Das Glas war oben mit
einem tüllartigen Stoff zugebunden. Der Lehrer hatte den Kindern die
Natter gezeigt und ihnen vieles über ihre Eigenart mitgeteilt. Nach der
Stunde hatte er den Behälter auf einen Seitentisch gestellt, bis er ihn
abholen lassen würde. Als der Lehrer fort war, wollten die Kinder die
Schlange noch besehen und drängten sich alle um den Tisch. Da nun eins
dem andern den Anblick versperrte, erklärte eine wilde kleine Hummel:
„Ich weiß den besten Platz;“ sie erkletterte den Tisch und setzte sich
neben den Glaskasten. Sie betrachtete ihn noch eine Weile, das Tier lag
aber wie leblos in seinem Kasten, und so wurde es den Kindern endlich
langweilig, auch erinnerten sie sich, daß sie eigentlich ins Freie gehen
sollten. So entfernte sich eine nach der andern.

„Hilf mir auch herunter, daß der Tisch nicht knappt,“ rief die Kleine,
die droben saß, Mathilde Braun zu. Der Tisch knappte aber doch, trotz
der Hilfe, er neigte sich, Kind und Glasbehälter kamen gleichzeitig auf
dem Boden an. Das Glas zerbrach, und die Schlange, die so leblos
geschienen hatte, ringelte sich mit äußerster Geschwindigkeit durchs
ganze Zimmer hindurch bis in die hinterste Ecke, wo ein Schirmständer
stand. Hinter diesem verschwand sie. Die Kinder erhoben in ihrem
Schrecken ein furchtbares Geschrei, so daß im Nu nicht nur ihre
Kamerädinnen, sondern auch Schülerinnen anderer Klassen herbeiliefen,
und das Zimmer wäre gleich überfüllt gewesen, wenn sich nicht viele
gescheut hätten, einzutreten, als sie hörten, daß die Schlange frei sei.
Es war ein unerhörtes Durcheinander, ein Schreien, Weinen, Erzählen, das
aber plötzlich verstummte, als Fräulein von Zimmern erschien.

Sie fragte nicht, „was ist geschehen,“ denn sie kannte die junge Welt
und wußte, daß dann zwanzig Stimmen zugleich antworten würden und sie
nachher nicht klüger als vorher wäre. Sie rief den Kindern zu: „Wer mir
genau erzählen kann, was geschehen ist, soll den Finger aufheben.“

Mathilde Braun hob den Finger, und von ihr ließ sich nun Fräulein von
Zimmern berichten, was geschehen war. Sie ging nach der Stelle, die ihr
die Kinder bezeichneten, und sah hinter dem Schirmständer im dunkeln Eck
eine zusammengerollte, dunkelblaue Masse.

„Wißt ihr gewiß, daß euer Lehrer die Schlange eine Ringelnatter genannt
hat?“ fragte Fräulein von Zimmern. Einstimmig wurde diese Frage bejaht.

„Dann ist es ein ganz unschädliches Tier, das man ruhig mit der Hand
anfassen darf,“ entschied Fräulein von Zimmern. „Ja,“ bestätigten die
Kinder, „wir haben es heute schreiben müssen: Die Ringelnatter ist ein
gutartiges Tier, sie ist blauschwarz mit gelben oder weißen Flecken am
Kopf, kann 1½ Meter lang werden und nährt sich von –“ „Genug,“
unterbrach Fräulein von Zimmern, „es handelt sich nur darum, das Tier
einzufangen. Mathilde, rufe das Dienstmädchen herbei und sage ihr, daß
sie einen Deckelkorb mitbringe.“

Das Mädchen erschien mit dem Korbe, aber sie stellte sich sehr
ungeschickt an, als ihr der Auftrag wurde, die Schlange einzufangen. Sie
erklärte sich bereit, das Tier totzuschlagen, aber nicht, es mit den
Händen zu greifen. Was wollte die Vorsteherin dagegen sagen? Sie konnte
von andern nicht fordern, was sie selbst sich nicht zutraute, und sie
wußte sich keinen Rat. Da trat aus der ängstlich an der Türe stehenden
Gruppe der Schülerinnen Mathilde Braun hervor und sagte: „Fräulein von
Zimmern, ich weiß jemand, der Würmer und Salamander und Blindschleichen
anfassen kann, und vielleicht auch Ringelnattern.“

„Wen meinst du?“

„Gretchen Reinwald. Im Sommer, wie wir miteinander auf dem Lande waren,
hat sie immer eine Menagerie gehabt von solchen Tieren; ich glaube, sie
fürchtet sich vor keinem!“ „Schnell gehe hinauf und hole sie herunter.“

Mathilde mit großem Gefolge sprang die Treppen hinauf bis in den
obersten Stock, wo die Großen ahnungslos beisammen saßen und auf die
Nachricht von dem aufregenden Ereignis sofort herunter eilten, ehe sie
nur recht gehört hatten, warum nach ihnen geschickt worden war.

„Gretchen,“ redete Fräulein von Zimmern die Gerufene an, „es handelt
sich darum, die Ringelnatter, die dort in der Ecke liegt, zu fangen und
in den Korb zu bringen. Es ist ein vollkommen unschädliches, harmloses
Tier, und die Scheu, die wir davor haben, ist töricht und grundlos.
Teilst du diese Scheu, oder traust du dir zu, die Schlange zu greifen?“

Gespannt sah die ganze Versammlung auf Gretchen und erwartete die
Antwort.

„Ich mag alle Tiere gern und fasse sie auch an,“ sagte Gretchen, „aber
ob ich sie gleich erwische, weiß ich nicht gewiß, sie sind so flink.“

„Versuche es,“ sagte Fräulein von Zimmern. In diesem Augenblick erhob
sich ein klägliches Stimmchen und rief unter Schluchzen: „Warum denn
gerade _mein_ Fräulein? Es soll’s jemand anders tun, nicht mein
Fräulein!“ Es war die kleine Ruth, die in ihrer Herzensangst ihre
sonstige Schüchternheit vergessen und diese Worte laut gerufen hatte.
Gretchen, ganz gerührt von diesem unwillkürlichen Ausdruck der Liebe
ihrer kleinen Schülerin, ging auf sie zu, herzte sie und beruhigte sie
über das gefahrlose Unternehmen. Fräulein von Zimmern aber befahl nun
allen Kindern, hinauszugehen. Ungern genug gehorchten diese. Die Türe
wurde geschlossen und die Vorsteherin blieb allein mit Gretchen. „Du
mußt die Schlange möglichst nahe am Kopfe fassen, damit sie dich nicht
beißen kann,“ sagte sie, „aber warte noch ein wenig, ich will dir einen
dicken Handschuh holen, damit du besser geschützt bist.“

„O bitte lieber nicht,“ sagte Gretchen, „ich bin vielleicht geschickter
ohne Handschuhe und sie beißt mich gewiß nicht, ich tue ihr ja auch
nichts.“ Gretchen ging zu dem Schirmständer, hinter dem das harmlose
Tier sich ängstlich versteckt hielt, während es doch andern Angst
einjagte. Sowie Gretchen die Hand darnach ausstreckte, ahnte es die
Gefahr und ringelte sich rasch an dem Schirmständer in die Höhe. Dort
schien es einen Augenblick unschlüssig, wohin es sich flüchten solle;
den Moment benützte Gretchen und griff das Tier fest mit der Hand. „So
jetzt haben wir dich,“ sagte Gretchen befriedigt, „ach wie es Angst hat,
sehen Sie nur, Fräulein von Zimmern, wie es zappelt, das arme Tier!“

„Nur rasch in den Korb damit,“ rief Fräulein von Zimmern, die nicht, wie
Gretchen, Lust zu haben schien, die Schlange erst noch nach ihren
Gemütsbewegungen zu betrachten. Gretchen mußte das Tier, das sich ihr um
den Arm gewickelt hatte, erst losmachen; als sie es aber in den Korb
legte, in den Sand gestreut war, verkroch es sich sofort in denselben
und blieb ganz ruhig, es dünkte ihm wohl ein sicherer Schlupfwinkel. Der
Deckel wurde sorgfältig geschlossen, und nun war das Werk gelungen.

„Jetzt aber schnell aus dem Hause mit dem Tier, ich will nicht länger
damit zu tun haben,“ rief Fräulein von Zimmern, und das Dienstmädchen,
nachdem es ängstlich nachgesehen hatte, ob auch nirgends eine Öffnung
sei, durch die die Schlange entwischen könnte, verstand sich dazu, den
Korb in das Haus des Lehrers zu tragen, während die Kleine, die das
Unheil verschuldet hatte, die Trümmer des Glaskastens mit heimnehmen
mußte, um einen neuen zum Ersatz zu besorgen. Als aber alles wieder in
Ordnung war und die ungebührlich lange Freistunde ihr Ende gefunden
hatte, als auch das Klassenzimmer wieder von Sand und Glassplittern
gesäubert war, nahm Fräulein von Zimmern die kleine Ruth mit sich heraus
und besprach etwas leise mit ihr, wobei die Augen der Kleinen glänzten.

Es war wieder Ruhe im Schulhaus und alles ging seinen gewohnten Gang.
Aber um zwölf Uhr, als die Arbeitslehrerin eben die Großen verlassen
hatte, schlüpfte eine kleine Gestalt durch die Türe herein in die Klasse
der Großen, es war Ruth. Sie überreichte Gretchen ein blühendes
Rosenstöckchen und richtete unter schüchternem Erröten aus: „Das schickt
Fräulein von Zimmern ihrem tapfern Gretchen zum Dank!“

Gretchen kam hocherfreut heim, eine solche Anerkennung von der
Vorsteherin war ihr in all ihren Schuljahren noch nie vorgekommen. „Es
war heute überhaupt ein glücklicher Schultag,“ sagte Gretchen zu den
Eltern, „ich habe in der Arbeitsstunde den schrecklich langen Hohlsaum
fertig gebracht, dafür hätte ich wohl eher ein Rosenstöckchen verdient,
ich will doch viel lieber mit Schlangen als mit Hohlsäumen zu tun
haben!“



                            Fünftes Kapitel.
                               Die Base.


Herr Reinwald kam von einer Fahrt heim. Er hatte in einer Ortschaft der
Umgegend geschäftlich zu tun gehabt und der Kutscher Bauer, Lenes Mann,
hatte ihn dorthin gefahren. Frau Reinwald saß allein im Zimmer, als ihr
Mann zurückkehrte. Er setzte sich zu ihr. „Ich habe heute die
Gelegenheit benützt und mit dem Kutscher Bauer gesprochen,“ erzählte er.
„Es tut einem leid, wenn man hört, daß zwei so tüchtige Leute, wie Lene
und ihr Mann, wenn sie gesunde Kinder haben und guten Verdienst, doch
nicht glücklich zusammenhausen. Ich habe ihm ans Herz gelegt, daß er
ordentlich zu seiner Frau halten soll, wie sich’s gehört, und sie
unterstützen gegenüber der alten Verwandten und den Kindern. Nun wäre es
aber sehr gut, wenn du bald einmal Lene besuchen und nachsehen könntest,
wo sie es etwa fehlen läßt. Auf deinen Rat gibt sie viel.“

„Ich hatte es schon lange vor,“ entgegnete Frau Reinwald, „nun will ich
es aber keine Stunde mehr hinausschieben. Ich richte mich sogleich.“

Lene hatte eine rührende Freude, als Frau Reinwald unerwartet zu ihr
kam, aber man sah, daß ihr das Herz schwer war, denn die Tränen traten
ihr in die Augen, und es dauerte keine zwei Minuten, so hatte sie das
Gespräch auf die „Bas“ gebracht. Sie fing an, der alten Frau allerlei
Schlimmes nachzusagen, aber plötzlich unterbrach sie sich und lenkte
ein: „Ich weiß ja, daß Sie’s nicht leiden können, wenn man Böses über
die Leute redet, und ich will’s auch nicht weiter tun.“

„Doch Lene, tu du das heute nur. Schütte den ganzen Groll, der sich bei
dir gegen diese Person angehäuft hat, gegen mich aus; dir tut es gut,
und ich möchte klar sehen in dieser Sache.“

Auf diese Aufforderung hin ging’s der Base schlecht, denn Lene ließ kein
gutes Haar an ihr. Was sie aber am meisten betonte, war, daß die Base
ihr selbst so viel Böses nachsage und die Kinder dadurch aufhetze. „Hast
du denn schon versucht, die Base zu beschwichtigen und zu versöhnen?“
fragte Frau Reinwald.

„Da ist doch alle Mühe vergebens, sie ist mir neidisch und mißgünstig,
weil ich sie von ihrem Platz in diesem Hause verdrängt habe. Da läßt
sich nichts machen, das muß man eben tragen.“

„Lene, ich meine doch, man sollte einmal ein verständiges und
freundliches Wort mit dieser Person reden.“

„Ich tu’s nicht; wenn ich zu ihr käme, sie wäre im stand und würfe mich
die Treppe hinunter.“

„Wo wohnt sie denn?“

„Da im Nebenhaus hat sie ein Dachstübchen gemietet, da kann sie
heruntersehen in unsern Hof und die Buben zu sich rufen, so oft sie
will.“

„Sie selbst kommt nicht zu euch ins Haus?“

„Nein, sie ist, glaube ich, gichtleidend und kann die Treppen nicht
leicht steigen.“

„So, sie ist leidend? dann will ich ihr einen Krankenbesuch machen.“

Lene stutzte, es schien ihr nur halb recht zu sein. „Lene,“ sprach nun
mit allem Ernst Frau Reinwald, „du weißt, ich bin dafür, daß man alles
Schwere mit Ergebung trägt, aber erst wenn man getan hat was irgend
möglich ist, um sich’s zu erleichtern, und ich möchte doch wissen, ob da
gar nichts zu machen ist. So wie’s jetzt ist, bist du nicht glücklich,
aber das Glück fällt einem nicht so in den Schoß, man muß sich darum
rühren. Ich will einmal hören, ob dir wirklich die Türe gewiesen wird,
wenn du da hinüberkommst, und ob ihr zwei nicht Frieden schließen
könnt.“

Lene entgegnete nichts mehr, und Frau Reinwald ging ins Nachbarhaus
hinauf bis in den obersten Stock und klopfte an dem Stübchen, das nach
dem Nachbarhof hinausging. Sie klopfte zwei-, dreimal, ohne Antwort zu
erhalten, und öffnete schließlich die Türe. Am Fenster weit
hinausgelehnt stand die alte Frau. Sie hatte das Klopfen nicht gehört.
Jetzt aber spürte sie die Zugluft, wandte sich um und ging etwas hinkend
ihrem Besuch entgegen. Sie begrüßte Frau Reinwald mit Namen, denn sie
kannte sie vom Sehen. Frau Reinwald setzte sich zu ihr und erkundigte
sich freundlich nach dem Gichtleiden der alten Frau. Sie hatte damit das
rechte Thema getroffen, denn es tat der Frau sichtlich wohl, einem
teilnehmenden Herzen ihre Schmerzen zu klagen. Frau Reinwald überlegte
sich eben im Stillen, wie sie nun das Gespräch auf Lene bringen könne,
da gab ihr die Alte selbst die Gelegenheit. „Beim Stehen und Gehen tut
mir’s weh, aber auch das Sitzen ist nichts für meine alten Knochen. Die
Holzstühle sind hart und kalt und tun einem besonders weh, wenn man
einen Lehnstuhl gewöhnt war, wie ich; es war freilich nur ein alter,
aber so warm und so weich.“

„Warum haben Sie den nicht mehr?“

„Er gehört nicht mir, er gehört dem Kutscher; der setzt sich ja nie
hinein und braucht ihn nicht, er gäbe ihn mir für die paar Jahre, die
ich noch lebe, aber _sie_ nicht!“

„Hat sie Ihnen die Bitte abgeschlagen?“

„Ich bitte nichts von ihr, das ist eine stolze Person, die sich für
etwas Besseres hält – aber ich will nichts gegen sie sagen, ich weiß ja,
Frau Reinwald halten große Stücke auf die Lene.“

„Sagen Sie nur gegen die Lene alles, was Sie auf dem Herzen haben, es
tut Ihnen wohl, wenn Sie sich einmal offen aussprechen, und ich weiß
wohl, daß Lene auch ihre Fehler hat.“

Wie vorhin der Base, so ging’s nun Lene schlecht, auch an _ihr_ wurde
kein gutes Haar gelassen; was ihr aber mit der größten Erbitterung
vorgeworfen wurde, das war, daß sie geizig und hochmütig sei.

Frau Reinwald hatte ganz ruhig den Strom der Mitteilungen über sich
ergehen lassen. Nun hielt die Frau erschöpft inne und sah gespannt auf
ihre stille Zuhörerin. Sie erwartete wohl, daß nun Lene entschuldigt und
ihr selbst Vorwürfe gemacht würden, denn sie hatte doch Lene gegenüber
kein ganz gutes Gewissen. Aber es kam nichts von all dem.

Frau Reinwald sagte freundlich: „Die Hauptsache ist jetzt, daß Sie Ihren
warmen Stuhl bekommen. Wenn ihn Lene selbst herüber bringt, ist’s Ihnen
dann recht?“

„Die? die trägt so einer armen, alten Person wie ich keinen Stuhl nach.“

„Und wenn sie’s tut, geben Sie ihr dann ein gutes Wort?“

„Die tut’s nicht.“

„Und Sie wollen kein gutes Wort geben, das merke ich schon,“ sagte Frau
Reinwald, „aber Sie sind doch alt und krank und möchten gewiß Frieden
machen mit Gott und den Menschen oder nicht?“

Die Alte blieb die Antwort schuldig.

Frau Reinwald faßte sie an der Hand und sagte bittend und dringend:
„Geben Sie der Lene ein gutes Wort, wenn sie den Stuhl bringt?“

„So bin ich nicht, daß ich das nicht täte.“

„Das ist recht,“ sagte Frau Reinwald, „ich muß jetzt fort, aber ich
komme bald wieder; ich habe eine wollene Decke, die recht weich und warm
ist, die bringe ich Ihnen mit oder schicke sie durch meine Tochter her.“

Frau Reinwald ging und kehrte noch einmal bei Lene ein. „Was hat die Bas
alles über mich gesagt?“ fragte Lene; „die wird bös über mich losgezogen
haben.“

„Sie hat Gichtschmerzen, Lene, das weißt du; sie hätte so gern euern
alten Lehnstuhl, an den sie gewöhnt war. Wenn du ihr ihn bringen
würdest; ihr braucht ihn ja nicht. Die paar Jahre, die sie noch lebt,
könnt ihr ihn der Frau wohl leihen. Sie hat gemeint, du würdest das
nicht tun; aber ich meine, du tust es.“

„Sie hat’s gerade nicht um mich verdient.“

„Nein, aber wenn du’s bedenkst, Lene, so wirst du sagen müssen: die alte
Frau ist zu bedauern. Ganz allein, Tag und Nacht Schmerzen, keine
Bequemlichkeit, keine Freude – der Lehnstuhl wäre eine Freude, eine
große; an dem Tag dürftest du die Buben ruhig zu ihr lassen, da würde
sie nichts Böses über dich sagen. Sie könnten dir den Stuhl tragen
helfen; sie sollen sehen, daß du ihrer Bas gern eine Wohltat erweist. Es
würde auch deinen Mann freuen, oder nicht?“

„Ihn schon.“

„Und die Kinder?“

„Die Kinder freilich.“

„Und die Base, und mich – ist’s noch nicht genug, Lene? Gelt, du gehst
und schaffst den Stuhl hinauf und sagst ein freundliches Wort dabei?“

„Ich bin’s schon so gewöhnt durch die vielen Jahre, Ihnen zu folgen; ich
weiß schon, daß ich’s tun muß. Den ganzen Tag geht’s mir so, daß ich
denken muß: Machst du das so oder so, wie würde deine Frau raten? Und so
wie Sie sagen würden, muß ich dann tun.“

„Und ich weiß, daß dich’s diesmal wenigstens nicht reuen wird. Aber
vergiß das freundliche Wort nicht, das gehört dazu! Leb wohl, Lene, komm
bald einmal zu mir!“

Gretchen erwartete die Mutter mit Ungeduld und war voll Interesse für
ihren Bericht. „Wenn ich Zeit habe, bringe ich gleich morgen die Decke
zur Base,“ sagte sie voll Eifer; „ich muß wissen, ob Lene den Stuhl
hinübergetragen hat.“

Am nächsten Tag fand Gretchen aber nicht die Zeit, und das war gut; denn
Lene übereilte die Sache nicht. Am ersten Abend, als sie mit ihrer
Tagesarbeit fertig war, dachte sie: „Jetzt könnte ich wohl den Stuhl
hinübertragen, aber so arg pressiert das nicht!“ und dabei blieb’s. Am
nächsten Tag hatte sie zu waschen, und die Arbeit dauerte bis spät am
Abend, da kam es wieder nicht dazu. Am dritten Tag, als sie eben ihre
Wäsche im Hof aufhängte, hörte sie die Buben unter der offenen Stalltüre
miteinander reden. Sie verstand nur die wenigen Worte; „Sie sagt, sie
habe schreien müssen vor Schmerz.“ Schnell wandte sich Lene zu den
Buben. „Wer hat geschrieen vor Schmerz? Die Base?“

„Ja, sie sagt’s.“ Jetzt raffte sich Lene auf.

„Wir bringen ihr den Lehnstuhl, daß sie weicher sitzt; kommt, helft mir
tragen.“

Die Buben sahen der Mutter mit unverhohlenem Erstaunen ins Gesicht; aber
als sie sahen, daß es ernst war, packten sie voll Vergnügen an. Mit
einiger Mühe gelangte der schwerfällige Stuhl ins Nebenhaus und dort bis
in den obersten Stock. Der jüngste sprang voraus und rief: „Bas, die
Mutter kommt, und wir bringen dir den Lehnstuhl.“ Da standen sich die
beiden Frauen gegenüber, Lene grüßte und schob den Stuhl in eine
passende Ecke. Der Gegengruß der Base lautete: „Das hättet ihr wohl
bleiben lassen können, ich sterb ja doch bald; die letzte Nacht habe ich
schon gemeint, es geh zu End.“

Darauf entgegnete Lene: „Habt Ihr so arge Schmerzen?“

„Es wird wohl sein, aber um mich kümmert sich kein Mensch, niemand
schaut nach mir.“

Da platzte der älteste Bub heraus: „Bas, sind wir jetzt nicht gekommen?
Wenn’s Euch _so_ nicht recht ist, dann können wir den Stuhl gleich
wieder mitnehmen und können fortbleiben. Meint Ihr denn, das sei so ein
Pläsier, so einen Klotz von einem Stuhl da raufzuschleppen? Das hätt’
ich doch nicht geglaubt, daß Ihr einem dafür kein gutes Wort vergönnt!“
und wie ein Echo fielen die zwei Brüder ein: „kein gutes Wort vergönnt!“

Da stand die Base verwirrt. „Kein gutes Wort!“ und sie hatte doch Frau
Reinwald versprochen, ein gutes Wort zu geben! Sie sah auf Lene; man
merkte, daß sie mit sich selbst kämpfte. Jetzt aber wandte sie sich den
Buben zu und rief heftig: „Meint ihr, Buben, ihr dürft mir auch noch
Grobheiten machen? Macht, daß ihr weiter kommt, ich brauch euch nicht!“

„Von Euch geht man gern fort,“ rief in großer Entrüstung der älteste,
und die Kleinen: „ja, da geht man gern!“ und bald waren sie alle drei
zur Türe hinaus und zur Treppe hinunter gepoltert. Lene aber zögerte.
Sie hatte auch „das gute Wort“ noch nicht angebracht, und vorher durfte
sie nicht gehen.

„Bas,“ sagte sie, „ich hab nicht gewußt, daß Ihr so arg leiden müßt,
sonst hätte ich schon öfter nach Euch gesehen.“

Da brach die Alte in ein bitterliches Weinen aus, und unter Schluchzen
kam es heraus: „O, ich kann’s gar nicht aussagen, wie mich die Schmerzen
quälen, und dazu die Einsamkeit.“

Da faßte die Lene ihre Hände, die von der Gicht ganz krumm gezogen
waren, und strich sie ganz sanft. Das tat der alten Frau wohl, aber sie
schluchzte noch immer. „Jetzt probiert einmal Euern alten Lehnstuhl,
ob’s in dem nicht besser wird,“ bat Lene. Und die Alte, die bisher auf
ihrem hölzernen Stuhl gesessen war, erhob sich schwerfällig und humpelte
mühsam durchs Zimmer. Als sie sich aber in dem Stuhl niedergelassen
hatte, kam ein Ausdruck des Behagens über ihr schmerzverzogenes Gesicht;
sie lehnte sich zurück und sagte: „Ach, das tut wohl.“ Lene war
befriedigt.

„Jetzt wünsch ich Euch gute Besserung und wenn’s Euch recht ist, komm
ich morgen wieder und bring Euch Gichtwatt mit, das nimmt die Schmerzen;
mein Vater selig hat’s auch so gehabt wie Ihr, ich weiß schon, was da
gut tut.“

„Mir ist’s _ein_ Ding, wenn Ihr wieder kommen wollt,“ antwortete die
Base, und diesen Satz betrachtete sie als das „gute Wort“, das sie geben
mußte; mehr konnte man von ihr, bei so viel Schmerzen, nach ihrer
Meinung, nicht verlangen.

Lene ging leichtern Herzens, als sie heraufgekommen war. „Wie bin ich
doch so viel besser daran, als der arme, verlassene Tropf da droben!“
dachte sie bei sich.

Unten an der Treppe warteten die drei Verjagten auf sie. Das hatte Lene
nicht erwartet, es freute sie. Die Jungen hatten die Base noch nie so
schlimm gesehen, und die Mutter war ihnen daneben so gut vorgekommen!
Zum erstenmal schlugen sie sich auf die Seite der Mutter. Lene fühlte
es, ihr Herz wurde so fröhlich, wie schon lange nicht mehr, und munter
sagte sie zu ihren dreien: „Kommt, wir machen recht schnell und tun
hurtig alle Arbeit, dann reicht’s heute abend noch zu einer schönen
Geschichte!“ und ganz jugendlich sprang die Mutter mit ihren drei Wilden
durch den Hof.

Als Gretchen nach einigen Tagen die Base aufsuchte, saß die alte Frau
behaglich im Lehnstuhl, ließ sich von Gretchen die warme Decke
überbreiten und erzählte Gretchen eine Viertelstunde lang von der Gicht.
Gretchen hätte viel lieber von Lene gehört, um zu erfahren, ob ihr die
Base jetzt nicht mehr zürne. Als die alte Frau aber gar nicht auf dies
Gespräch zu bringen war, fragte Gretchen gerade aus: „Nicht wahr, der
Lehnstuhl tut Ihnen wohl? und Lene ist doch gut, daß sie ihn gebracht
hat?“

Aber die unverbesserliche Alte entgegnete: „Der alte Stuhl war ihr wohl
nicht mehr schön genug, den hat sie gern los gehabt.“

Im nächsten Augenblick war Gretchen schon die Treppe hinunter – der
Abschied mußte kurz gewesen sein.



                           Sechstes Kapitel.
                        Lehrerin und Schülerin.


Die kleine Ruth war und blieb ein verschlossenes Kind. Einmal hatte sie
ihre Zuneigung zu Gretchen verraten, in der Aufregung mit der
Ringelnatter, aber nachher war sie wieder so zurückhaltend wie vorher.

Das war für Gretchen eine Enttäuschung. Ihr war es Bedürfnis, die
Menschen, mit denen sie zu tun hatte, zu lieben und von ihnen geliebt zu
werden, sich ihnen mitzuteilen und auch ihr Vertrauen zu gewinnen; aber
mit Ruth stand sie fast noch so wie am ersten Tag.

Heute war die Kleine noch matter als sonst; Gretchen wußte nicht, ob sie
sich unwohl fühlte oder nur schlechter Laune war. Jedenfalls kamen die
Antworten so langsam, so leise und spärlich, daß Gretchens Geduld auf
eine harte Probe gestellt wurde. Zu der Lektion, die ihre kleine
Schülerin zu lernen hatte, gehörten zehn neue Wörter. Diese wollte
Gretchen nun abfragen, und während das Kind sonst seine Aufgabe immer
gewissenhaft lernte, wußte sie die beiden ersten nicht, nach denen
Gretchen fragte.

„Hast du denn deine Wörter heute nicht gelernt?“ fragte Gretchen. Die
Kleine schwieg und ließ das Köpfchen hängen. Gretchen fragte das dritte
Wort ab. Sie wußte es so wenig wie die ersten.

„Hast du sie diesmal vergessen zu lernen? Oder ist dir’s nicht recht
wohl?“ – Keine Antwort.

„Hast du sie gestern gekonnt?“ Auch nicht die geringste Antwort war
herauszubringen. Das Kind blieb stumm. Da wird Gretchen von der Ungeduld
übermannt: „So sei doch nicht so stockig und mockig,“ ruft sie zornig,
und ehe sich’s die Kleine versieht, hat sie eine Ohrfeige an der rechten
Backe und zwar eine tüchtige, denn was Gretchen tut, tut sie immer
kräftig!

Der Erfolg ist auch augenfällig: das stille Kind bricht in Tränen aus
und – es blutet aus der Nase! Im Augenblick sieht das ganze Gesichtchen
entstellt aus, die Tränen, die glühende Backe und das fließende Blut –
Gretchen ist entsetzt über das, was sie angerichtet hat; sie will die
Kleine trösten und ihr helfen – da tritt Fräulein von Zimmern ein.

„Was ist geschehen?“ fragte sie erschreckt – und Gretchen antwortete
tief beschämt: „Ich habe ihr eine Ohrfeige gegeben und jetzt blutet
sie.“

Fräulein von Zimmern sagte ruhig, aber mit einem Ton, der Unheil
verhieß: „Schicke mir das Mädchen herauf mit kaltem Wasser, und du warte
drunten vor meinem Zimmer auf mich.“

Als Gretchen unten stand und wartete, war ihr unsäglich beklommen zu
Mute. Wie hatte sie so etwas tun können? Wer ihr je gesagt hätte, daß
_sie_ das arme Tröpfchen schlagen würde! Sie hätte es nie für möglich
gehalten. Es reute sie so bitterlich; aller Zorn gegen das Kind, das sie
so gereizt hatte, war verflogen, aber mit sich selbst zürnte sie, wie
noch nie. Lange, lange stand sie vor der Zimmertüre und wartete in
wachsender Angst, denn sie dachte sich, daß Fräulein von Zimmern das
Kind doch entlassen hätte, wenn das Nasenbluten gestillt wäre. Wenn Ruth
krank würde, krank durch _ihre_ Schuld?

Da hörte sie droben eine Türe gehen und vernahm Fräulein von Zimmerns
Stimme. In liebevollem Ton sprach sie: „Und nun geh recht langsam heim,
mein Kind, und erhitze dich nicht.“ Die Kleine kam allein, langsam und
leise die Treppe herunter. Sie blutete nicht mehr und sah wieder sauber
aus, nur einige verräterische Spuren waren an dem Kleid zurückgeblieben.
Ganz stille wäre sie an Gretchen vorbeigegangen, aber diese konnte sie
_so_ nicht ziehen lassen. Sie umschlang sie mit beiden Armen, küßte sie
auf die geschlagene Backe und flüsterte ihr zu: „Weißt du, ich habe dich
doch lieb, wenn ich dir auch weh getan habe!“ Ein freundlicher Blick kam
aus den Kinderaugen und es hatte fast den Anschein, als wollte auch ein
_Wort_ kommen, aber in diesem Augenblick hörte Gretchen die Tritte von
Fräulein von Zimmern; rasch ließ sie die Kleine los, und bald stand sie
in dem Zimmerchen, der Vorsteherin gegenüber, die noch nie so ungnädig
auf sie geblickt hatte, wie jetzt.

„Ich will nun ganz genau hören, was vorgefallen ist,“ sprach Fräulein
von Zimmern, und Gretchen erzählte den Hergang getreu und aufrichtig,
wie es ihre Art war. Zuletzt bat sie um Verzeihung.

„Wenn nur mit dem Verzeihen alles wieder gut gemacht wäre,“ entgegnete
Fräulein von Zimmern, „dies ist aber hier nicht der Fall. Man kann nicht
wissen, welchen Schaden das schwache Kind durch den Blutverlust erlitten
hat; es sind mir Fälle bekannt, in denen Kinder durch einen
unglücklichen Schlag das Gehör verloren oder eine Gehirnerschütterung
erlitten haben. Es ist deshalb eine solche Strafe in _allen_ Schulen
verboten, und daß in _meiner_ Schule überhaupt jede körperliche
Züchtigung ausgeschlossen ist, das weißt du aus langjähriger Erfahrung.
Nie hat ein bei mir angestellter Lehrer gegen diesen Grundsatz
gehandelt; du bist es, die zum erstenmal meine Schule durch so etwas in
schlechten Ruf bringt. Und wem gegenüber? Eltern gegenüber, die mir dies
Kind als ein besonders zartes Pflänzchen ans Herz gelegt haben, und
denen ich mein Wort gab, daß alles geschehen würde, um das
verschüchterte Kind durch Liebe zu gewinnen.“

Gretchen fühlte sich tief unglücklich; nicht nur dem Kind hatte sie
unrecht getan, auch der Vorsteherin, die sie so hoch verehrte, hatte sie
Leid zugefügt. Aber war denn das nicht zu ändern, _mußte_ denn Fräulein
von Zimmern darunter leiden?

„Wenn Ruths Eltern erfahren, daß ich ganz allein schuld bin, und wenn
man ihnen verspricht, daß künftig statt meiner eine andere die
Nachhilfstunden geben wird, dann können sie doch nicht mit der Schule
zürnen?“

„Natürlich werde ich ihnen mitteilen, wie sich die Sache zugetragen hat,
und daß du ferner ihr Kind nicht mehr lehren wirst – denn dieses Recht
hast du verwirkt. Aber so, wie ich die Leute kenne, werden sie in ihrer
Entrüstung sofort das Kind aus der Schule nehmen.“

„O, ich will zu Ruths Mutter hingehen und mich entschuldigen,“ rief
Gretchen.

„Kennst du sie?“

„Nein, aber ich weiß, wo sie wohnt, ich gehe gleich heute abend noch
hin, sogleich; ich sage, daß noch gar nie irgend ein Kind geschlagen
worden ist in unserer Schule, und daß ich ganz allein die Schuld habe.“

„Die Schuld trifft mich doch mit, denn die Vorsteherin ist
verantwortlich für die Lehrkräfte, die sie verwendet; ich hätte auch nie
gedacht, daß du mit deinem liebevollen Herzen einem Kind wehe tun
könntest, aber ich hätte es wissen sollen, denn _du bist_ ungeduldig;
ich hatte schon früher Gelegenheit, das zu bemerken.“

„Fräulein von Zimmern, bitte, lassen Sie mich zu Ruth gehen; ich kann es
nicht ertragen, daß durch mich etwas auf die Schule kommt! Ich _muß_ es
wieder gut machen.“

„So versuche es; aber gehe zuerst zu deinen Eltern und sage es ihnen.
Ich möchte dich ohne ihr Wissen nicht in ein fremdes Haus schicken.“

„O, die Eltern würden sofort sagen, ich soll mich entschuldigen; ich
kann gut ohne ihr Wissen gehen. Aber freilich –“

Gretchen stockte und errötete.

„Was ist’s?“

„Mit den Schulhandschuhen kann ich nicht Besuch machen, sie sind
zerrissen,“ sagte Gretchen etwas verlegen.

„Das sollte nie sein, Gretchen; fünf ausgebesserte Finger an jedem
Handschuh, wenn du willst, aber _keinen_ zerrissenen.“

„Ich renne zu Hermine hinauf und lasse mir ihre Handschuhe leihen; die
wohnt ja in der Nähe.“

„Nein, Kind, du gehst heim, wie ich gesagt habe; das Widersprechen ist
eine unfeine Gewohnheit, die ich dir schon öfters getadelt habe. Und nun
geh zu deinen Eltern und laß dir von ihnen raten.“

Gretchen reichte Fräulein von Zimmern die Hand und sagte bewegt: „Bitte,
verzeihen Sie mir doch, es ist mir ja so leid.“

„Das weiß ich und ich verzeihe dir, mein Kind. Du hast einen sauern Gang
vor dir, das wollen wir als Sühne betrachten.“

Gretchen eilte heim. „Ist die Mutter zu Hause und kein Besuch bei ihr?“
fragte sie Franziska, die ihr die Türe öffnete. „Sie ist zu Hause und
ich darf auch keinen Besuch einlassen, weil Frau Reinwald heftiges
Kopfweh hat.“ Dies war für Gretchen eine unwillkommene Mitteilung. Sie
mochte die Mutter, wenn sie leidend war, nicht aufregen; aber dann blieb
ihr nichts anderes übrig, als mit dem Vater zu sprechen.

Sie überlegte. Viel lieber hätte sie mit der Mutter gesprochen, aber
nein, das ging nicht an; also nur keine Zeit verlieren! Sie überwand die
Scheu und trat bei ihrem Vater ein. „Darf ich dich stören, Vater, ich
habe eine schlimme Geschichte angestellt und möchte sie der Mutter
ersparen, solange sie Kopfweh hat.“ Herr Reinwald legte die Feder aus
der Hand. „Was ist’s?“

Gretchen erzählte alles, der kleinen Ruth Benehmen, ihr eigenes,
Fräulein von Zimmerns schreckliche Äußerungen über die möglichen
schlimmen Folgen einer Ohrfeige und ihre Befürchtungen für den Ruf der
Schule; zuletzt den Entschluß, Abbitte bei Ruths Eltern zu tun.

„Das letztere ist jedenfalls das beste, was in dieser Sache geschehen
kann und für meine ungestüme Tochter eine heilsame Buße,“ sagte Herr
Reinwald; „ich denke übrigens, daß damit die Sache auch beigelegt sein
wird, Fräulein von Zimmern sieht doch wohl zu schwarz.“

„Meinst du? O Vater, so schrecklich mir’s ist, daß ich als Lehrerin so
abgesetzt werde und daß auf die Schule ein schlechtes Licht fällt, so
ist es mir doch noch viel, viel ärger, wenn ich denke, daß die Kleine
vielleicht einen dauernden Schaden erlitten hat, taub wird, oder so
etwas!“

„Nun, nun, so schlimm ist die Sache nicht! _Die_ Fälle sind doch gottlob
selten! Die Kinder sind im allgemeinen so eingerichtet, daß ihnen eine
Ohrfeige mehr gut tut, als schadet.“ Diese Worte beruhigten Gretchen
einigermaßen.

Herr Reinwald sah auf seine Uhr. „Wenn du jetzt gleich gehst, wirst du
die Mutter des Kindes vermutlich allein treffen. Der Vater ist nämlich
bis sechs Uhr auf seiner Kanzlei, und ich denke mir, es ist dir lieber,
wenn du nur mit der Mutter zu tun hast.“

„Kennst du denn die Eltern, Vater?“ fragte Gretchen erstaunt. „Nicht
persönlich, ich habe nur von ihm reden hören. Er ist erst dieses Jahr
als Forstrat hiehergekommen, muß ein sehr tüchtiger Beamter sein, aber
ein wenig heftig. Besser ist’s, du sprichst bloß mit der Frau. Er wird
von der Angelegenheit wohl noch gar nichts wissen; kommt er dann heute
abend zu seiner Familie, so wird die Frau dich wohl entschuldigen, wenn
das Kind die Sache noch nicht verschmerzt hat.“

Gretchen war gerührt, daß der Vater ihr die Sache so erleichtern wollte.
Sie küßte ihn und dankte ihm. Als Herr Reinwald allein war, schritt er
in seinem Zimmer auf und ab: „Daß ihr auch gerade mit dem Kind _dieser_
Leute so etwas vorkommen muß. Der Forstrat, der Hitzkopf, wird nicht
übel aufbrausen! Aber Gretchen ist auch ein Hitzkopf! Wie konnte es ihr
nur gleich so in die Hand fahren, daß sie dem Kinde einen solchen Treff
gibt! Schön ist’s aber, daß sie so tapfer geht, Abbitte zu tun; ich
möchte es ihr gönnen, daß der Alte nicht da wäre!“

„Franziska,“ sagte Gretchen, während sie gute Handschuhe anzog, „wenn
die Mutter nach mir fragt, so sagen Sie, ich müsse noch geschwind zu der
kleinen Ruth gehen.“

„Ja, ich muß aber später auch noch fort, den großen Pack dort auf die
Post schleppen!“

„O Franziska, ich wollte lieber zehn solche Päcke forttragen, als den
Gang machen, den ich machen muß!“ rief Gretchen im Fortgehen, und
Franziska sah verwundert ihrem jungen Fräulein nach.

Gretchen hatte einen weiten Weg zu machen bis zu dem Hause des
Forstrats, und sie eilte, so sehr sie konnte, denn um sechs Uhr wollte
sie schon wieder auf dem Heimweg sein.

Als sie ihr Ziel erreicht hatte und in das fremde Haus eintrat, klopfte
ihr doch das Herz, und leise huschte sie an der Türe des ersten
Stockwerks vorbei, die die Aufschrift trug: „Kanzlei“. Sie folgte der
gemalten Hand, die nach der obern Treppe zur Wohnung des Forstrats wies.
Einen Augenblick hielt sie inne, ehe sie auf die Klingel drückte. „In
einer Viertelstunde ist’s überstanden,“ sagte sie sich, und nun drückte
sie herzhaft auf den Knopf. Einen Augenblick später stand sie im
Besuchzimmer und stellte sich der Frau Forstrat vor.

Diese war eine auffallende Erscheinung, eine große, hagere Gestalt mit
blassem, krankhaftem Gesicht, in das schwarze Haare ungeordnet
hereinfielen. Die dunklen Augen blickten unstät, die Hände waren
fortwährend in zitternder Bewegung. Gretchen war sehr betroffen über
diese ungewohnte Erscheinung, sie faßte sich aber und begann die kleine
Rede, die sie sich unterwegs überlegt hatte.

„Frau Forstrat,“ sagte sie, „ich möchte Sie um Verzeihung bitten, daß
ich heute Ihre Ruth so unfreundlich behandelt habe, und Fräulein von
Zimmern läßt Ihnen sagen, daß so etwas nie mehr vorkommen wird, und daß
Ruth künftig nicht mehr von mir, sondern von einem andern Mädchen
Stunden bekommen wird.“

„Ach Fräulein, das war heute nachmittag eine Szene!“ begann die Frau
Forstrat. „Wie das Kind heimkommt und ich die Blutflecken sehe und auch
merke, daß die Kleine verstört ist, frage ich sie aus. Sie hat nichts
sagen wollen, ich habe alles erraten müssen; endlich wie ich’s heraus
habe, nehme ich sie an der Hand und ziehe sie mir nach, hinunter in die
Kanzlei, und sage zu meinem Mann: ‚Da siehst du, wie man unser Kind
behandelt; blutig geschlagen haben sie das arme Ding in der Schule,
weil’s ein paar Wörtchen nicht gekonnt hat! Da sieh, wie sie
verschwollene Augen hat vor Weinen!‘ Nun hätten Sie aber meinen Mann
sehen sollen in seinem Zorn! Nur die drei Worte hat er hervorgestoßen:
‚Wer hat’s getan?‘ aber so laut, daß die Kleine gleich wieder angefangen
hat zu weinen vor Angst. ‚Die französische Lehrerin,‘ sage ich, und ich
wollte noch mehr sagen, aber er hat uns hinausgetrieben, wir konnten
nicht schnell genug aus der Türe kommen. Der Kleinen aber hat er noch
zugerufen: ‚Du mußt nie mehr ins Institut zu Fräulein von Zimmern.‘“

„Ich glaube,“ sagte Gretchen, „daß sich’s Herr Forstrat nach Ihrer
Beschreibung viel schlimmer vorstellt, als es in Wirklichkeit war –“

„Ja, nicht wahr? Das glaube ich auch. Er sollte das Kind auch nicht
gleich aus dem Institut nehmen, es gibt ja hier doch kein besseres.“

„O bitte, Frau Forstrat, legen Sie doch ein gutes Wort ein bei Ihrem
Mann.“

„Ich? Was meinen Sie, da darf ich nicht dreinreden, er hat auch gewiß
schon an Fräulein von Zimmern geschrieben, das dürfen Sie glauben. Er
hat das Kind gar lieb, wenn er es auch oft erschreckt durch seine
Heftigkeit, und er verzeiht’s nicht, wenn man dem Kind etwas tut.“

Eine große Wanduhr schlug im Nebenzimmer sechs Uhr. Gretchen erschrak.
Jeden Augenblick konnte der Forstrat kommen. Sie erhob sich mit dem
traurigen Gefühl, gar nichts erreicht zu haben. „Ich muß jetzt gehen,“
sagte sie. „Wollen Sie mir verzeihen und mich bei Herrn Forstrat
entschuldigen?“

„Ich kann von dieser Sache nicht mehr reden,“ antwortete die Frau
Forstrat, „und Ihnen möchte ich raten, daß Sie fortgehen, ehe mein Mann
aus der Kanzlei heraufkommt.“

Da sagte Gretchen kein Wort mehr, verbeugte sich und ging.

Als sich die Treppentüre hinter ihr geschlossen hatte, fühlte sie sich
viel unglücklicher, als eine Viertelstunde vorher. Sie hatte gar nichts
ausgerichtet bei dieser Frau, und so, wie diese ihrem Mann die Sache
dargestellt hatte, mußte er natürlich aufgebracht sein gegen das
Institut. Er würde sein Kind herausnehmen, und so würde Fräulein von
Zimmern Ärger und Schande haben durch ihre Schuld!

Bekümmert ging Gretchen die Treppe hinunter. Als sie an der Kanzlei im
ersten Stock vorbeikam, ging eben die Türe auf und zwei junge Leute, die
wohl als Schreiber beschäftigt waren, kamen heraus und gingen die Treppe
hinunter. Durch den Türspalt hatte sie einen großen, stattlichen Herrn
gesehen – das mußte der Forstrat sein, der nun noch allein in seiner
Kanzlei war.

Gretchen ging die Treppe hinunter, aber nur zwei Stufen, dann blieb sie
stehen, denn auf einmal wurde es ihr klar: „Ich muß zu dem Mann hinein,
ich kann’s nicht ertragen, daß er so falsch denkt über Fräulein von
Zimmern. Wenn er auch zornig ist über mich, was macht’s? Höchstens
bekomme ich auch eine Ohrfeige, wie seine Ruth von mir, dann sind wir
quitt!“ Ohne weiter zu überlegen, kehrte Gretchen um, klopfte an der
Kanzleitüre und trat ein. Das erste, was sie bemerkte, war, daß der
Forstrat doch nicht allein war; ein junger Bursch stand schreibend an
einem Pult. Das war Gretchen eine unangenehme Entdeckung, aber jetzt
konnte sie nicht mehr zurück. Sie ging auf den Herrn zu, der sich nach
ihr umwandte, und sagte deutlich, aber mit einer Stimme, die doch leise
bebte: „Ich möchte Sie um Verzeihung bitten, weil ich heute in der
Schule gegen die kleine Ruth so unfreundlich war.“

Der Mann hatte kaum diese Worte gehört, als sich seine Stirn in finstere
Falten zog. Er wandte sich zu dem jungen Schreiber. „Machen Sie Schluß!“
rief er. Der legte sofort seine Feder weg, ging aber nicht auf die Türe
zu, sondern nach einem andern Pult, auf dem einige geschlossene Briefe
lagen. Ungeduldig fuhr ihn der alte Herr an: „Wird’s bald?“

„Soll ich nicht die Briefe –“

Da unterbrach ihn der Forstrat und donnerte ihn an: „Nichts sollen Sie,
fort sollen Sie, Schluß!“ Der junge Mann riß seinen Mantel vom Nagel,
gönnte sich aber nicht mehr die Zeit, ihn anzuziehen, sondern drückte
sich eilends zur Türe hinaus.

Inzwischen hatte Gretchen sich überlegt, was sie sagen wollte: nur vor
allem das, was zu Fräulein von Zimmerns Rechtfertigung nötig war; wenn
sie nur das sagen konnte, ehe vielleicht ihr, wie dem unschuldigen
Schreiber, die Türe gewiesen wurde! Herzhaft redete sie den Forstrat an:
„Ich gehe gleich wieder, aber ich muß Ihnen sagen, daß Fräulein von
Zimmern ganz und gar nichts für das kann, was heute vorgefallen ist. Sie
hat mir gleich gesagt, wie arg es ihr sei, und daß ich künftig die
Stunden nicht mehr geben darf.“

„So?“ rief der Forstrat, „wenn Fräulein von Zimmern so etwas ‚arg‘ ist,
warum stellt sie dann solche Mädchen als Lehrerinnen an wie Sie, die
selbst noch halbe Kinder sind? Ist das auch in der Ordnung und erlaubt?“
Er trat dicht vor Gretchen und rief immer lauter: „Wie alt sind Sie
eigentlich? Haben Sie überhaupt schon Ihr Examen bestanden? Können _Sie_
sich vor einer Klasse Respekt verschaffen? Haben Sie das Recht, zu
lehren? Das ist die heillose Sucht der jungen Mädchen heutzutage, daß
sie Geld verdienen wollen, wenn sie kaum aus der Schule entlassen sind!
Wenn dann so einer jungen Lehrerin die Sache zu schwierig wird, dann
reißt ihr die Geduld und die Kinder werden blutig geschlagen, wie die
meinige heute. Das könnte Fräulein von Zimmern wissen, sagen Sie ihr
das!“ Ungestüm lief der erregte Mann im Zimmer auf und ab, während er so
seinem Zorn Luft machte.

Gretchen war ganz bestürzt über all die Vorwürfe, aber sie faßte sich
schnell und sagte: „Ich habe das Kind nicht blutig geschlagen, ich habe
ihm in der Ungeduld, weil es durchaus nicht Ja und nicht Nein
geantwortet hat, einen einzigen Schlag auf die Backe gegeben und dann
hat die Kleine Nasenbluten bekommen. Fragen Sie nur Ruth, sie wird Ihnen
sagen, daß es so war.“ Der Forstrat hatte bei den letzten Worten seinen
Marsch eingestellt und machte Halt vor Gretchen. „Nasenbluten, sagen
Sie? War’s so? Ja? Dann hat man mir ganz falsch erzählt!“

„Ja, und es ist auch falsch, wenn Sie meinen, ich sei eine Lehrerin und
werde bezahlt. Ich gehe doch selbst noch in die Schule, in die
Oberklasse; ich gab nur Ruth die Nachhilfstunden und von jetzt an darf
ich auch das nicht mehr.“

„Sind Sie denn nicht die französische Lehrerin, Fräulein Bertrand?“

„Nein, o nein,“ rief Gretchen, „Fräulein Bertrand ist eine rechte
Lehrerin, ganz, ganz anders, als ich! Ich bin bloß Gretchen Reinwald.“

„Sie sind Gretchen Reinwald?“ rief der Forstrat mit ganz verändertem,
heiterem Ton. „Dann sind Sie das Mädchen, das umsonst meiner Kleinen
seit einem Vierteljahr nachhilft? Dann sind Sie die Heldin, die die
Schlangen fängt, von der meine Kleine alle Tage schwärmt? _Die_ sind
Sie?“

Gretchen lachte.

„Alle Wetter, das ist ganz was anderes! Dann tut mir’s leid, daß ich Sie
so hart angelassen habe,“ sagte der Forstrat und schüttelte Gretchen
herzlich die Hand. „Ihnen verzeihe ich gerne, wenn Sie einmal ungeduldig
geworden sind! Wegen _einer_ Unfreundlichkeit werde ich doch nicht die
viele Freundlichkeit vergessen, die Sie meinem Kind schon erwiesen
haben! Sie hängt mit ihrem ganzen Herzchen an Ihnen, sie hat es Ihnen
gewiß schon oft gesagt.“

„O nein, Herr Forstrat, sie sagt eben gar so wenig, und das hat mich
heute auch so in Verzweiflung gebracht; sie war so stumm, kein Wort
konnte ich aus ihr herausbringen.“

„Ja, ja,“ sagte der Forstrat in ganz bestimmtem Ton, „so ist das Kind,
herzensgut, aber ängstlich. Das können _Sie_ natürlich nicht begreifen,
aber Sie sind auch bei andern Eltern aufgewachsen.“

„Kennen Sie meine Eltern?“

„Nein, aber ich weiß es doch. Wer so herzhaft zu einem fremden Mann aufs
Zimmer kommt, und sagt: Ich hab’s getan und bitte um Verzeihung, der ist
anders geleitet worden, als mein armes, schüchternes Dinglein! Es ist
vieles bei uns nicht so, wie es sein sollte – doch ich kann darüber mit
Ihnen noch nicht sprechen. Sie sind noch zu jung, aber,“ fügte er sehr
freundlich hinzu, „doch schon so groß, daß ich Sie zu Ihrem Schaden für
Ruths Klassenlehrerin gehalten habe.“

„Darf ich Fräulein von Zimmern sagen, daß Sie nicht böse auf sie sind,
weil sie doch so gar nichts dafür kann?“

„Tausend noch einmal, das ist jetzt eine dumme Geschichte,“ rief der
Forstrat. „An Fräulein von Zimmern habe ich gleich im ersten Zorn
geschrieben, und der Brief ist schon fort!“

„Vielleicht liegt er doch noch dort?“ fragte Gretchen und deutete auf
den Pult, denn sie hatte wohl bemerkt, daß der junge Schreiber vor
seinem Weggehen die Postsachen mitnehmen wollte, wozu ihm der Forstrat
nicht Zeit gelassen hatte.

„Wirklich, ja, da sind sie,“ rief er vergnügt, „da will ich nur den
gleich beiseite schaffen,“ und Gretchen beobachtete mit innigem
Vergnügen, wie ein an Fräulein von Zimmern adressiertes Schreiben
zerrissen und in den Ofen geworfen wurde. Sie sah mit strahlendem
Gesicht zu, und der Forstrat, als er sich unvermutet nach ihr umwandte
und ihr vergnügtes Gesicht sah, lachte und rief: „Das freut jetzt das
Gretchen Reinwald, nicht wahr? Nun ist die Sache wieder gut.“

„Ja, wenn es nur ganz gewiß der Kleinen nicht geschadet hat,“ sagte
Gretchen; „Fräulein von Zimmern hat mir so angst gemacht!“

„Darüber machen Sie sich keine Sorgen; Nasenbluten bekommt meine kleine
Ruth oft und Ohrfeigen manchmal. Nein, darüber brauchen Sie sich nicht
zu beunruhigen.“

Gretchen ging, vom Forstrat aufs freundlichste verabschiedet. Als sie
vor der Kanzleitüre war, kam eben die Frau Forstrat die Treppe herunter.
Sobald sie bemerkte, daß Gretchen aus der Kanzlei kam, rief sie in
förmlicher Bestürzung: „Um aller Heiligen willen, Fräulein, wo kommen
denn _Sie_ her?“ Und mit heller, fröhlicher Stimme ertönte die Antwort:
„Vom Herrn Forstrat!“ und nicht wie eine Lehrerin, sondern recht wie ein
Schulkind, das nach langem Zwang der Freiheit wieder zueilt, sprang
Gretchen die Treppe hinunter und fröhlichen Laufes heim, heim zu den
lieben, treubesorgten Eltern.



                           Siebentes Kapitel.
                             Schulstunden.


Am nächsten Morgen machte sich Gretchen etwas zeitiger als sonst auf den
Weg zur Schule, denn sie wollte vor Beginn des Unterrichts Fräulein von
Zimmern von ihren gestrigen Erlebnissen berichten. Getrosten Herzens
trat sie heute in das Gemach, das sie gestern so zerknirscht verlassen
hatte. Heute konnte sie Gutes berichten.

Gretchen erzählte genau und Fräulein von Zimmern unterbrach sie nicht,
sie kannte ja ihre Schülerin und wußte, daß sie die reine und die ganze
Wahrheit reden würde. Im stillen freute sich Fräulein von Zimmern, daß
Gretchen den Mut gehabt hatte, den Forstrat in seiner Kanzlei
aufzusuchen; sie ersah daraus, wie sehr es ihrer Schülerin am Herzen
gelegen war, nichts Schlimmes auf die Schule kommen zu lassen.

Als Gretchen ihren Bericht vollendet hatte, sprach Fräulein von Zimmern:
„Du bist der Meinung, ich hätte keinen Brief in dieser Angelegenheit
erhalten, aber du irrst, es ist doch einer gekommen.“ „Doch?“ rief
Gretchen in schmerzlicher Enttäuschung. „Ja, hier ist der Brief, du
darfst ihn lesen.“ Der kleine Brief war von einer Kinderhand
geschrieben, die Gretchen gut kannte, von Ruth an Fräulein von Zimmern
gerichtet.

Sein kurzer Inhalt lautete: „Papa sagt, ich solle Ihnen schreiben, daß
ich lieber keine neue Lehrerin möchte. Bitte lassen Sie mir meine alte.“

Gretchen, die schon das Schlimmste erwartet hatte, war sichtlich
erleichtert und gab mit glücklichem Lächeln den Brief zurück.

„Du hast es nun zwar gar nicht verdient,“ sagte die gestrenge
Vorsteherin, „und es ist meines Wissens das erstemal, daß ich eine
verhängte Strafe zurücknehme, aber ich möchte dem Kind die Bitte nicht
versagen, die von seinem Vater unterstützt wird. Du kannst also deinen
Unterricht wieder aufnehmen. Vor Tätlichkeiten wird deine kleine
Schülerin in künftigen Stunden wohl sicher sein?“

„Ja, ganz gewiß,“ sprach Gretchen im Ton tiefster Überzeugung, „ich
glaube überhaupt nicht, daß ich je in meinem Leben wieder irgend einem
Kind etwas tue.“

„Und du übernimmst gerne wieder den Unterricht der Kleinen?“ fragte
Fräulein von Zimmern.

„O ja, wenigstens hätte ich nicht gewollt, daß er so ein plötzliches
Ende nähme; aber eine andere Schülerin hätte ich doch lieber.“

„Andere haben wieder andere Schattenseiten, mit jedem Menschen muß man
Geduld haben.“

„Ach, aber andere Kinder _sprechen_ doch! Ich glaube, gar keine
Eigenschaft kann mich so in Verzweiflung bringen, als wenn Kinder nicht
antworten! Was soll ich eigentlich tun, wenn sie mir wieder einmal gar
keine Antwort gibt?“

„Du wirst bald deine Schülerin so weit kennen, daß du weißt: So darf ich
nicht fragen, denn darauf bekomme ich keine Antwort. Kann sie wieder
einmal ihre Aufgabe nicht, so frage nicht: warum; gib ihr ruhig das Buch
in die Hand und sage: Lerne jetzt deine Wörter. Sie ist ein
gewissenhaftes Kind, es wird nicht oft vorkommen.“

Der gestrige Tag hatte noch eine Nachwirkung. Als eine Stunde später
Gretchen mit ihren Schulkamerädinnen in der Klasse saß und Fräulein
Weber, die Handarbeitslehrerin, ihnen Unterricht erteilte, trat
unerwartet Fräulein von Zimmern ein. Sie erkundigte sich nach dem Stand
der Handarbeiten. „Wir kommen schön vorwärts,“ sagte Fräulein Weber,
„fast alle sind nun mit dem Hemdenstock fertig und haben die Ärmel
angefangen.“

„Wer ist noch nicht an den Ärmeln?“

„Gretchen Reinwald. Sie hatte etwas falsch gemacht und das Auftrennen
hat sie aufgehalten, doch wird sie nun auch bald so weit sein.“

„Ich muß heute eine kleine Unterbrechung im Weißnähen veranlassen. Ich
habe bemerkt, daß unter Ihren Schülerinnen welche sind, die zerrissene
Handschuhe tragen. So etwas sollte in diesem Alter nicht mehr vorkommen,
und ich möchte Sie bitten, die Handschuhe unter Ihrer Aufsicht
ausbessern zu lassen. Legt die Näharbeit weg, holt eure Handschuhe
herbei und zieht sie an.“

Diese unerwartete Aufforderung erregte teils Heiterkeit, teils
Entsetzen.

„Nehmt nun eure Plätze wieder ein,“ sprach Fräulein von Zimmern, nachdem
die Mädchen ihre Handschuhe angezogen hatten, „und legt alle eure Hände
auf den Tisch. – Nicht so, keine eingeklemmten Finger und verborgenen
Daumen! Alle Zehn Finger möchte ich sehen.“

Da kamen die behandschuhten Hände alle auf dem grünen Tisch zum
Vorschein und manches weiße Fingerspitzchen blitzte durch die
aufgetrennte Naht hindurch. Fräulein von Zimmern ging von einer
Schülerin zur andern. „_Eine_ Naht auszubessern. Zwei Knöpfchen fehlen.
Zwei Fingerspitzen zustopfen. Ganz tadellos neue Glacéhandschuhe? Das
ist schade für den Schulgebrauch, da liegen gewiß daheim noch welche,
die geflickt und getragen werden sollten. Fünf ausgebesserte Stellen und
kein Loch, das lobe ich. Zwei ungleiche Handschuhe, ei, ei!“ Nun kam sie
an Gretchen. „Die deinigen sehen aus, als wenn sie eben geflickt worden
wären,“ sagte sie.

„Ja, gestern abend,“ antwortete Gretchen, und ein Blick stillen
Einverständnisses wurde zwischen Lehrerin und Schülerin ausgetauscht.
„Ich bitte Sie, Fräulein Weber, diese Visitation in ungleichen
Zwischenräumen jeden Monat zu wiederholen. Hier ist ein Pack Wirrfaden
und Seide und alte Knöpfchen, sie stehen zur Verfügung. Macht euch
gleich an die Arbeit.“

Fräulein von Zimmern ging, Gretchen war sehr vergnügt, daß sie an ihrer
Weißnäherei weiterarbeiten konnte und nicht noch mehr in Rückstand kam;
die andern aber flüsterten sich zu: „Wie ist wohl Fräulein von Zimmern
auf diesen Einfall gekommen?“ Und Ottilie erklärte: „Sicherlich müssen
wir das nächstemal die Stiefel ausziehen und uns die Strümpfe visitieren
lassen!“

Niemand als Hermine Braun erfuhr den Zusammenhang. Mit ihr wandelte
Gretchen manchmal in der Pause auf den großen Gängen des Schulhauses in
traulichem Gespräch auf und ab, und so auch heute wieder. „Gretchen,“
sagte Hermine, nachdem sie zuerst mit aller Teilnahme die Erlebnisse der
Freundin angehört hatte, „ich habe Angst, daß Ottilie zwischen uns
kommt!“

„Wie so?“

„Daß sie die Zweite wird und du die Dritte. Sie ist mit der Handarbeit
weiter als du, und sie hat in den meisten Fächern seit dem Herbst ebenso
gute Noten wie du.“

„Woher weißt du das nur immer so genau? Ich weiß es nie.“

„Weil du dich immer nicht darum kümmerst; mir wäre es aber ganz
schrecklich, wenn wir nicht noch das letzte Schuljahr hindurch wie die
zwei vorigen nebeneinander säßen. Du _mußt_ die zweite bleiben, du
_darfst_ Ottilie nicht über dich hinaufkommen lassen!“

„Ich muß mich immer so riesig anstrengen, damit ich neben dir bleibe,“
sagte Gretchen. „Du könntest auch einmal herunterrutschen, dann hätte
ich’s bequemer. Ottilie die erste, du die zweite, ich die dritte, so
wären wir auch wieder nebeneinander, und das wäre zur Abwechslung ganz
nett.“

„Das kannst du aber im Ernst nicht von mir verlangen, ich müßte ja
absichtlich Fehler machen!“

„Das denke ich mir ganz leicht, oder nicht?“

„Aber Gretchen, wie kannst du so etwas nur sagen, das geht doch nicht!“

„Nun, dann muß _ich_ mich eben wieder anstrengen, aber hab ich denn
nicht im englischen Diktat bloß einen Fehler gehabt und Ottilie drei?“

„Nein, gerade umgekehrt war’s, wie du nur so etwas vergessen kannst!“

„Dann war’s im Französischen so.“

„Im Französischen hast du zwei und sie drei Fehler gehabt. Im Aufsatz
hast du ja die beste Note, aber ich habe Angst, daß Fräulein von Zimmern
dir die Geschichte mit der Ohrfeige für eine schlechte Note anrechnet.
Du weißt ja, daß sie so etwas immer mit in Betracht zieht.“

„Das wäre aber ungerecht, denn wer weiß, ob Ottilie an meiner Stelle
nicht zehn Ohrfeigen gegeben hätte. Wenn man keine Schülerin hat, ist es
keine Kunst, daß man sie nicht mißhandelt. Da sei nur ganz ruhig, das
kommt bei meinen Noten gewiß nicht in Betracht.“

„Aber gelt, du tust dein Möglichstes. Denke, wenn nun Ottilie, die
ohnedies schon so hochmütig ist, über dich käme! Mir gefiele es dann gar
nicht mehr in der Schule. Wenn’s noch eine andere wäre, aber gerade die
einzige, die dich nicht mag.“

„Mag sie mich denn nicht?“

„Ihr steht doch ganz schlecht miteinander!“

„So? Das habe ich eigentlich noch gar nicht bemerkt.“

„Aber Gretchen, das wissen doch alle!“

„Nun ja, dann wird’s ja wohl so sein, aber ich habe ihr doch nie etwas
getan.“

„Aber sie dir.“

„Was denn?“

„Weißt du nicht mehr, wie sie dir einmal absichtlich falsch eingesagt
hat und wie sie dich verklagt hat?“

„Ach, das war ja schon voriges Jahr, ja, wenn du so weit zurückdenkst,
da kann viel vorgekommen sein, das sind doch alte Sachen.“

„Nun ja, aber sie ist doch noch dieselbe und sie soll nicht zwischen uns
kommen.“

„Nein, nein, ich will also mein Möglichstes tun, ich möchte ja doch auch
neben dir sitzen, lieber als neben irgend einer andern, das weißt du
ja!“

Der heutige Schultag brachte wieder die Stunde, die monatlich nur einmal
wiederkehrte; um elf Uhr erschien Pfarrer Kern, und man konnte es ihm
und den Mädchen anmerken, daß sich beide des Wiedersehens freuten.
Fräulein von Zimmern, die ihn seit vielen Jahren als den treuesten
Freund ihrer Schule schätzen gelernt hatte, empfand selbst Lust, der
Stunde beizuwohnen, geleitete ihn in das Zimmer ihrer „Großen“, und
rückte sich einen Stuhl in eine der Fensternischen, wo sie halb
verborgen saß.

Nachdem der Pfarrer in seiner heitern, freundlichen Weise die einzelnen
Schülerinnen begrüßt hatte, sagte er: „Ich habe euch beim Beginn des
Schuljahrs gesagt, daß es mich freuen würde, wenn ihr selbst mir durch
Fragen Gelegenheit geben würdet, über solche Dinge zu reden, die euch
beschäftigen. In den ersten Stunden ist dies nicht geschehen. Diesmal
aber ist mir von einer meiner Schülerinnen, die sich nicht genannt hat,
eine Frage zugeschickt worden. Ich habe mich darüber gefreut und möchte
die Frage nun beantworten.“

Bei diesen Worten erhob sich Fräulein von Zimmern leise von ihrem Platz
und ging der Türe zu. Als sie an dem Pfarrer vorbeikam, sagte sie: „Wer
kann wissen, ob die Fragestellerin nicht gerechnet hat, mit Ihnen und
den Freundinnen allein zu sein? Ich will die Traulichkeit dieser Stunden
nicht stören,“ und sie verließ das Zimmer.

„Ich glaube, wir hätten unsern Gegenstand ebensowohl in Gegenwart von
Fräulein von Zimmern besprechen können,“ sprach der Pfarrer, „aber ihr
habt ein schönes Beispiel von Zartgefühl und feinem Takt gesehen.“

Er nahm nun aus seinem Buch ein Blättchen Papier, und sprach, indem er
hineinsah: „Die Frage, die mir gestellt wurde, lautet: ‚Wir haben viele
Romane, die ich gerne lesen möchte, aber jemand hat mir gesagt, es sei
eine Sünde, Romane zu lesen. Ist das wohl wahr?‘ Darauf möchte ich nun
zuerst sagen: Ich muß annehmen, daß meine Fragestellerin vierzehn oder
fünfzehn Jahre alt ist. In diesem Alter ist die erste Regel: Willst du
ein Buch lesen, so frage die Eltern um Erlaubnis. Wollen diese es nicht
gestatten, so wäre es dir Sünde, das Buch zu lesen, wie jeder Ungehorsam
Sünde ist. Und sie werden dir’s wohl nicht gestatten, denn Romane sind
für Erwachsene geschrieben und passen deshalb nicht für Mädchen eures
Alters. Es ist aber oft sehr schwer und fordert viel Selbstüberwindung,
etwas nicht zu lesen, was verlockend scheint. Ich kann mich da an ein
Beispiel aus meiner eigenen Jugendzeit lebhaft erinnern, das ich euch
nun erzählen möchte: Die Zeitung, die täglich in unser Haus kam, brachte
in jeder Nummer einen Abschnitt aus einem Roman. Die Eltern hatten uns
Kindern gelegentlich das Blatt weggenommen, wenn sie bemerkten, daß
unser Blick auf diesen Teil der Zeitung fiel und darauf haftete, und so
wußte ich eigentlich schon, daß die Erzählung nicht für uns war. Einmal
aber las ich ganz gedankenlos einige Sätze in dem neben mir liegenden
Blatt. Was ich las, kam mir sehr interessant vor, und ich las und las
immer eifriger; da plötzlich, als die Sache am spannendsten war, hieß
es: ‚Fortsetzung folgt‘, und die Erzählung war unterbrochen. Ich mußte
mich immer besinnen, wie es wohl weitergehen werde, und überlegte, wie
ich am nächsten Tag wieder Gelegenheit finden könnte, die Fortsetzung zu
lesen. Den ganzen nächsten Tag war ich begierig darauf. Abends, als die
ganze Familie am Tisch saß und ich meine Aufgaben machte, sah ich, wie
die Mutter die Zeitung, nachdem sie ein wenig darin geblättert hatte,
neben sich legte. Unvermerkt zog ich das Blatt näher zu mir her und
blickte hinein. Aber der Vater bemerkte es und sagte zur Mutter: ‚Laß
doch die Zeitung nicht auf dem Tisch liegen; ich will nicht, daß die
Kinder darin lesen.‘ Die Mutter aber erwiderte: ‚Das wissen die Kinder,
und deshalb werden sie’s auch nicht tun.‘ Doch legte sie die Zeitung
beiseite. Ich gab die Geschichte schon für verloren, denn am frühen
Morgen wurde das Blatt von einem Mitleser abgeholt. Da geschah etwas,
das mir ganz merkwürdig vorkam: die Zeitung wurde am nächsten Morgen
_nicht_ abgeholt, und meine Mutter trug gerade _mir_ auf, sie dem
Mitleser nach der Schule ins Haus zu bringen. So bekam ich das Blatt in
die Hände und hatte Zeit und Gelegenheit genug, die Fortsetzung meiner
spannenden Geschichte zu lesen. Aber nun will ich euch’s kurz sagen: Ich
las sie _nicht_. Es kam mir in den Sinn, wie die Mutter so
vertrauensvoll gesagt hatte: ‚Die Kinder wissen, daß sie’s nicht lesen
sollen, und darum tun sie’s nicht.‘ Es kostete mich einen furchtbar
schweren Kampf, aber ich las nicht, und ich kann euch sagen: nachdem ich
das Blatt abgegeben hatte, stürmte ich mit einem wahren Siegesgefühl
heim. Ich hatte eine ganz andere Meinung von mir, eine Selbstachtung,
die mir vorher ganz fremd gewesen war, und wenn in der Folge die Zeitung
mit ihrer verlockenden Geschichte neben mir lag, hatte ich für sie nur
einen verächtlichen Blick, wie für einen überwundenen Feind, und ich
dachte: Du kriegst mich nicht daran.

„Dieses beglückende Gefühl der berechtigten Selbstachtung möchte ich
euch allen wünschen. Ihr sollt es euch auch erkämpfen und ich hoffe und
erwarte das von euch, meine Schülerinnen. Aber meine Fragestellerin wird
noch nicht von meiner Antwort befriedigt sein, denn sie will nicht nur
wissen, ob das Romanlesen für euer Alter ein Unrecht ist. Es wird ja für
euch bald die Zeit kommen, wo ihr nicht mehr als Kinder einfach den
Eltern folgen dürft, sondern wo ihr selbst wissen müßt, was gut oder
nicht gut ist, und so will ich euch auch über diesen Punkt sagen, wie
ich denke. Es ist ein sehr großer Unterschied zwischen den Büchern, die
wir Romane heißen, es gibt schlechte und gute. Aber wie ihr leicht
erfahren könnt, ob ein Mensch für euch ein guter oder schlechter Umgang
ist, so könnt ihr auch erfahren, wes Geistes Kind das Buch ist, das ihr
lesen wollt, und darnach entscheidet euch. Ein schlechtes Buch in die
Hand zu nehmen, müßt ihr euch schämen, es ist eurer unwürdig, ihr begebt
euch damit in schlechte Gesellschaft und werdet durch sie
heruntergezogen. Einen _guten_ Roman könnt ihr im reifen Alter getrost
in die Hand nehmen, er wird euch edlen Genuß bereiten, und euch Leben
und Menschen kennen lehren. Zwischen den guten und schlechten liegt aber
die große Masse der mittelmäßigen Ware, und ich möchte euch ans Herz
legen, von dieser recht wenig Gebrauch zu machen. Diese leichte Lektüre
verdirbt euch den Geschmack für gute, gehaltvolle Bücher, an denen sich
Geist und Gemüt erfreuen kann. Wenn ihr solch ein gutes Buch lest, ich
will sagen die Lebensbeschreibung eines bedeutenden Menschen, ein gutes
geschichtliches Werk oder dergleichen, so seid ihr nachher mehr, als ihr
vorher wart; es ist euch für manches, das euch fremd war, das
Verständnis aufgegangen und ihr fühlt selbst, daß ihr eure Zeit zur
eigenen Vervollkommnung ausgenützt habt. Solch ein Buch kann man auch zu
rechter Zeit wieder aus der Hand legen, während der Roman oft so etwas
Spannendes hat, daß schon große Selbstüberwindung dazu gehört, nie
länger darin zu lesen, als Zeit und Umstände gerade erlauben. Übt diese
Selbstüberwindung schon jetzt an euren oft recht fesselnden
Jugend-Erzählungen. Wenn ihr euch sagen müßt: ich habe jetzt nur eine
halbe Stunde Zeit zu lesen und nicht mehr, so schlagt auch das Buch an
der spannendsten Stelle zu, wenn diese halbe Stunde vorbei ist.
Unterbricht euch jemand, fordert die Mutter einen kleinen Dienst von
euch, so laßt euch nicht anmerken, wie unwillkommen die Störung ist;
fort mit dem Buch, her mit der Arbeit! – Diese gute Selbstzucht wird
euch in späteren Jahren zu statten kommen. In diesen kleinen Dingen muß
sich bei euch, meinen Schülerinnen, der christliche Geist bewähren; wenn
er euch recht erfüllt, so wird er immer und überall aus den kleinsten
Handlungen eures Lebens hervorleuchten.“

Am Schluß dieser Stunde gab es noch etwas zu schreiben. Der Pfarrer
hatte sich eine ganze Reihe Titel notiert von Büchern, die er seinen
Schülerinnen für die nächsten Lebensjahre empfehlen wollte, und einige
Bemerkungen über deren Inhalt, Größe usw. Dies alles diktierte er nun
seinen Schülerinnen.

Als er sich heute wieder für einen Monat verabschiedete, sagte er:
„Wollt ihr so taktvoll sein, wie eure Vorsteherin ist, so forscht nie
nach der Fragestellerin, denn wenn sie genannt sein wollte, würde sie
sich wohl von selbst nennen.“

Sie nannte sich nicht und blieb unbekannt.



                            Achtes Kapitel.
                              Ausgeliehen.


Der Weihnachtsmonat brachte den „Großen“ angenehme Überraschungen in der
Schule. Fräulein von Zimmern erklärte, daß im Dezember nicht nur in der
Handarbeitsstunde Weihnachtsarbeiten gemacht werden dürften, sie
gestattete, die Weihnachtsarbeiten mit in die Literaturstunde zu
bringen. Was waren das für reizende Stunden, wenn man häkelnd, stickend
oder strickend um den grünen Tisch saß und Fräulein von Zimmern, die die
Literaturstunden selbst gab, dabei „Hermann und Dorothea“ vorlas. Eine
andere Überraschung war die Verkündigung, daß die Mädchen, zur Hilfe der
vielbeschäftigten Mütter, schon von Mitte Dezember an Weihnachtsferien
bekommen sollten. Sie fühlten sich recht als große Töchter bei dieser
Eröffnung, und da ihnen Fräulein von Zimmern zur Pflicht machte, sich
auch nach Kräften zu Hause nützlich zu machen, so kamen sie alle mit
wahrem Tatendurst am 14. Dezember von der letzten Schulstunde heim.

In großen Familien, wie bei Hermine Braun, gab es auch alle Hände voll
zu tun, mehr als in kleinen, stillen Haushaltungen, wie die der Familie
Reinwald, und doch sollte gerade Gretchen diesmal vielleicht mehr als
alle andern zu tun bekommen. Ahnungslos, daß irgend etwas Besonderes
bevorstehe, saß sie noch am 15. mit den Eltern am Mittagstisch; ohne
großes Interesse sah sie den Brief, den Franziska ihrer Mutter übergab
und den die Mutter ruhig während des Essens beiseite legte mit der
Bemerkung: „Vorgestern hat die Tante erst meinen Brief erhalten und
heute antwortet sie schon.“ Nach Tisch ging Gretchen nach ihrer
Gewohnheit in die Küche und Speisekammer, denn es war ihr übertragen,
die Reste des Mittagessens aufzubewahren und den Kaffee herauszugeben.
Sie war noch damit beschäftigt, als die Mutter sie hereinrief. Der Vater
hielt den Brief in der Hand.

„Gretchen,“ sagte die Mutter, „der Brief der Tante geht dich am meisten
an. Er enthält keine gute Nachrichten. In N. ist eine böse
Scharlachepidemie ausgebrochen, und die Tante schreibt sehr besorgt, da
von ihren vier Kindern noch keines diese Krankheit hatte, und nun Hugo,
der älteste, davon ergriffen ist. Sie hat sich mit diesem ihrem
Patienten ins Gaststübchen im obern Stock gebettet, damit die andern
Kinder nicht angesteckt werden, und pflegt den Kranken. Im untern Stock
bei dem Onkel und den drei Kleinen ist nun bloß das Küchenmädchen, und
die Kinder sind recht viel allein. Da ich nun zufällig der Tante
geschrieben habe, daß ihr schon von heute an Ferien habt, so fragt sie
an, ob du nicht auf eine Woche zu ihren drei gesunden Kindern kommen
könntest? Von Weihnachten an hofft sie eine Aushilfe für längere Zeit zu
bekommen.“

Gespannt hatte Gretchen zugehört; es war ihr wohl anzusehen, daß sie
schon während des Berichts erraten hatte, wie derselbe schließen würde;
und nun fragte sie, wie man um die Erfüllung eines großen Wunsches
bittet: „_Darf_ ich hin?“

„Du möchtest also gerne?“ frug der Vater dagegen.

„Natürlich möchte ich, Vater; noch gar nie ist ja so etwas an mich
gekommen, und ich habe es mir ja längst gewünscht!“

„Gar so angenehm wird das nicht sein, mit den Kindern wirst du deine Not
haben, der Onkel ist nicht viel daheim und die Tante ist im obern
Stock.“

„O, das macht gar nichts, dann schließen sie sich besser an mich an;
Mutter, gelt, es wird gehen?“

„Ich meine, es _muß_ gehen,“ sprach die Mutter, „wenn die Tante sich so
in der Not an uns wendet. Sie bekommt nicht so leicht eine Hilfe, wenn
man hört, daß Scharlach im Hause ist; viele Mädchen fürchten die
Ansteckung, du aber hast die Krankheit erst vor zwei Jahren durchgemacht
und bist wohl sicher davor. Sieh, ich meine, der Vater zieht schon den
Fahrplan aus der Tasche.“

„Ja wirklich,“ rief Gretchen sehr erfreut; „Mutter, nimm mir’s nicht
übel, wenn ich mich so über den Scharlach freue; es tut mir ja
schrecklich leid für Hugo und für die Tante, aber für mich ist’s
herrlich!“

„Nun, dann kannst du ja die Reise als Weihnachtsgeschenk betrachten,
wenn du etwa nicht zum heiligen Abend hierher zurückkommst,“ meinte der
Vater.

„Doch, zum heiligen Abend kommt sie!“

„Doch, da komme ich,“ riefen gleichzeitig Mutter und Kind.

„Ich hoffe auch,“ sprach der Vater. „Und nun meine ich, wir
telegraphieren der Tante, daß du morgen früh um zehn Uhr mit dem
Schnellzug kommst. Bei diesem Zug hast du gar keinen Wagenwechsel, jedes
Kind könnte da allein reisen, und daß du morgens einmal um fünf Uhr aus
den Federn schlupfen mußt, wird dir nichts schaden.“

Der Vater ging, das Telegramm zu besorgen, und im Hause gabs nun einen
bewegten Nachmittag. In aller Eile wurde das Nötige an Kleidern
herbeigesucht, der Handkoffer gepackt und dabei viel mütterliche
Ratschläge gegeben. Gretchen wurde es unbehaglich, als sie sah, daß es
die Mutter so ernst nahm.

„Mutter,“ sagte sie, „traust du mir’s nicht recht zu, und wirst du dir
all die Tage Sorge machen, bis ich wieder heimkomme?“

„Ich traue dir’s allerdings nicht recht zu, weil du noch so unerfahren
bist, und ich denke, du wirst einiges Lehrgeld zahlen müssen als
stellvertretende Hausfrau. Aber ich will mir keine Sorge machen, denn
bis ins Kleinste hinein haben wir Christen eine Richtschnur für unser
Tun und Lassen, und wir können nicht wesentlich fehlen, wenn wir in
stetem Verkehr mit Gott stehen.“

„Ich kann mir nicht denken, daß für die kleinen Dinge im Haus und mit
den Kindern, wie ich sie zu tun bekomme, das Christentum meine
Richtschnur sein kann.“

„Das wäre schlimm, denn die kleinen Dinge machen schließlich den größten
Inhalt des Lebens aus. Du bist dir bisher nur noch nie so bewußt worden,
was für einen klar vorgezeichneten Weg diejenigen gehen, die mit Gott
gehen, denn wir Eltern waren dir Gottes Stellvertreter, wir sagten dir,
was du tun und lassen solltest. Sowie du von uns fort bist, ist das
anders. Du mußt selbst auf Gottes Stimme achten.“

„Ich wollte, es wären viel, viel mehr einzelne Vorschriften über das,
was recht und unrecht ist, in der Bibel.“

„Wenn auch viele Tausende von Vorschriften darin ständen, so wäre es
doch nicht genug für all die Zeiten und Länder, für all die Völker und
Altersstufen, die sich danach richten wollten, denn was für die einen
recht ist, wäre für die andern unrecht. Es weht darin der Geist der
Liebe und der Wahrheit und diesen Geist müssen wir in unser Herz
aufnehmen, wer _den_ erfaßt, der weiß auch das Rechte zu tun ohne
einzelne Vorschriften. Von diesem Geist der Liebe und der Wahrheit laß
du dich leiten, mein Kind, dann kann auch ich ganz ruhig sein!“ –

Es war noch stockfinster, als Gretchen am nächsten Morgen in Begleitung
ihres Vaters auf den Bahnhof ging. Noch nie war sie im Winter so
frühzeitig unterwegs gewesen, ganz fremd erschienen ihr die sonst so
belebten und glänzend erleuchteten Straßen. Keine Droschke, kaum ein
Fußgänger war unterwegs; und der Himmel war schwarz, die Häuser alle
unbeleuchtet, nur in weiten Zwischenräumen brannten vereinzelte
Laternen. Schweigsam ging Gretchen neben dem Vater her und hüllte sich
fest in den Mantel, der kaum die feuchtkalte Morgenluft abhalten konnte.
In der Nähe des Bahnhofes wurde es belebter, die Omnibusse aus den
Gasthäusern kamen angefahren, und schlaftrunkene Hausknechte geleiteten
einzelne Reisende in die Einsteighalle. Gretchen war es wie ein Traum,
als sie eine Viertelstunde später im Coupé saß, gegenüber einer älteren
Dame in buntseidenem Mantel, die, sobald sich der Zug in Bewegung
setzte, sich in ihrer Ecke zum Schlafen einrichtete und ihre junge
Mitreisende nicht beachtete.

Heute, in der nüchternen Morgenstunde, kam Gretchen das ganze
Unternehmen nicht mehr so reizvoll vor wie am Abend vorher; hätten die
Eltern in diesem Augenblick die Frage an sie gerichtet, ob sie dem Ruf
der Tante folgen wolle, so wäre sie nicht so schnell mit der Antwort bei
der Hand gewesen.

Aber auch die längste Winternacht hat schließlich ein Ende, auch am 16.
Dezember wird es endlich Tag, und mit dem Tageslicht kam Gretchen wieder
die Reiselust. Sie sah hinaus in die Landschaft, die ihr fast ganz fremd
war, denn nur einmal, vor Jahren, hatte sie mit der Mutter diese Fahrt
gemacht. Damals hatte sie Onkel, Tante und deren Kinder kennen gelernt,
aber sie waren nur kurz beisammen gewesen. An Onkel und Tante, sowie
ihren ältesten Vetter Hugo, der jetzt krank war, konnte sie sich noch
sehr gut erinnern, aber Oskar und die zwei Kleinen, Rudi und Betty,
kannte sie noch nicht. So erwartete sie mit steigender Ungeduld das Ende
der Fahrt, die ihr sehr langweilig erschien. Bald sah sie durchs
Fenster, ob von dem Fluß noch nichts zu sehen sei, über den sie ein paar
Stationen vorher kommen mußte, dann zog sie den Fahrplan heraus und
verglich die Zeitangaben mit ihrer Uhr, dann studierte sie die
Eisenbahnkarte, die an der Wand hing.

„Liebes Fräulein,“ sagte plötzlich ihre stille Mitreisende, „seit einer
Viertelstunde nützen Sie Ihren Fahrplan und Ihr Uhrtäschchen ab, wenn
Sie nur irgend etwas Nützlicheres tun wollten.“

Gretchen war ganz verblüfft über diesen unverhofften Überfall ihrer
bisher so stillen Begleiterin. Diese war in Sprache und Erscheinung
fremdartig. Klein und dick, bekleidet mit auffallendem, bunt
schillerndem Reisemantel und einem schreiend gelben Samthut, war sie
eher eine abschreckende als eine Vertrauen erweckende Persönlichkeit und
ihre Aufforderung, etwas Nützliches zu tun auf der Fahrt in der Bahn,
kam Gretchen wunderlich vor. „Was kann man in der Bahn Nützliches tun?“
fragte sie.

„Können Sie spanisch?“ war die Gegenfrage der Dame.

„Nein, spanisch kann bei uns niemand,“ erwiderte Gretchen.

„Ich kann es, ich war zwölf Jahre in Südamerika und komme eben von dort
her. Ich werde Ihnen die reine Aussprache lehren. Setzen Sie sich neben
mich. Wollen Sie nicht lernen?“

„Doch, aber jetzt gerade spanisch?“

„Warum nicht? man muß nur immer irgend etwas Nützliches tun, es ist ganz
gleich was. Sehen Sie, hier habe ich ein Kärtchen von Spanien, nun werde
ich Ihnen die richtige Aussprache von all den Städten und Flüssen
lehren, denn es ist mir ein Greuel, wie die Deutschen das alles so
falsch aussprechen.“

Gretchen wußte gar nicht, wie ihr geschah. Sie war plötzlich Schülerin
geworden, und ihre Lehrerin entwickelte großen Eifer. Ganz fremdartig
und klangvoll lauteten die geographischen Namen im Munde der Dame, und
diese ließ nie nach, bis auch Gretchen ganz den richtigen Ton gefunden
hatte. „Sie sind ein gut begabtes Mädchen,“ sagte sie, „und nun werde
ich Ihnen zum Schluß eine spanische Canzonetta vorsingen.“ Die Dame
erhob sich und sang vor ihrer erstaunten Zuhörerin mit viel
Kunstfertigkeit ein eigenartiges Lied. Gretchen wußte gar nicht, was sie
von ihrer wunderlichen Reisegenossin denken sollte; aber als der Zug
kurz darauf in die Bahnhofhalle von N. einfuhr, reichte ihr die Dame
eine Visitenkarte und sagte: „Bitte, empfehlen Sie mich in Ihrem
Bekanntenkreis, ich will mich in N. niederlassen und dort Unterricht
geben in Gesang und spanischer Sprache, ich wohne im Hotel de l’Europe,
General X. kann mich empfehlen. Und nicht wahr, sprechen Sie nie mehr
Cordōva, sondern Córdova.“

„Ja, Córdova,“ sagte Gretchen, und schon hielt der Zug, Gretchen wurde
von ihrem Onkel empfangen und sah eben noch beim Verlassen des
Bahnsteigs, wie ihre Begleiterin in den Omnibus des Hotel de l’Europe
einstieg.

Gretchen hatte ihren Onkel gleich wieder erkannt, und er war auch leicht
zu erkennen. Herr van der Bolten war noch ein jüngerer, schlanker Mann
mit hellen blauen Augen. Unter seinem großen Schlapphut kam eine Fülle
von langen blonden Haaren hervor. Er stammte aus einer niederländischen
Künstlerfamilie, war selbst auch Künstler und hatte als Landschaftsmaler
einen guten Namen.

Er empfing Gretchen sehr freundlich, und während er sie nach Hause
geleitete, erzählte er von Frau und Kind.

„Es ist eine böse Sache,“ sagte er. „Susi muß mit Hugo abgesperrt sein
von uns andern, und das ist das Schlimmste von allem; der Bub macht es
schon durch, für ihn habe ich keine Sorge. Aber Susi fehlt hinten und
vorne, ohne sie geht’s bei uns absolut nicht; du mußt nun eben sehen,
wie du zurecht kommst!“

„Darf ich auch nicht zu der Tante?“ fragte Gretchen.

„Ach so, du sagst natürlich Tante zu Susi, das habe ich ganz vergessen,
entschuldige. Nein, es darf niemand ins Krankenzimmer, das ist ja eben
die Sache, die Ansteckung könnte sonst den andern Kindern mitgeteilt
werden; aber diese Trennung ist unausstehlich, für mich und die Kinder
am meisten, aber auch für Susi.“

Gretchen mußte still vor sich hinlächeln, daß der Onkel schon wieder
Susi sagte; wie war er doch so ganz anders als ihr Vater.

Sie kamen ans Haus. Mit elastischen Schritten, gelegentlich ein paar
Stufen überspringend, eilte Herr van der Bolten voran, die Treppe
hinauf. Oben an der geschlossenen Türe drückte er dreimal auf die
Glocke. Auf dies Zeichen wurde augenblicklich geöffnet von einem
Dienstmädchen, das aber sofort wieder verschwand und sich nicht um
Gretchens Gepäck kümmerte. Unter der Zimmertüre erschien das kleine
Geschwisterpärchen, zuvorderst Rudi, der fünfjährige, ein strammer,
kleiner Gesell, und hinter ihm ein wenig schüchtern Betty, die
vierjährige, die mit großen blauen Augen voll Verlangen den beiden
Ankommenden entgegensah, die sie doch nicht zu begrüßen wagte, während
Rudi seiner großen Cousine unaufgefordert die Hand reichte.

„Willst du mir auch die Hand geben?“ fragte Gretchen die Kleine, und
Rudi antwortete für sie: „Das tut sie schon, sie ist nur noch so dumm,
sie ist unsere jüngste. Betty, gib die Hand.“ Und als die Kleine sich
noch besann, sagte Rudi entschuldigend zu Gretchen: „Weißt du, sie hat
dich kleiner gedacht, denn die Rieke hat gesagt: jetzt kommt noch ein
Kind und wir haben doch schon vorher genug Kinder!“

„Nun, schwätz nur nicht so viel,“ wehrte der Vater und führte Gretchen
in das Zimmer.

Auf den ersten Blick wußte man beim Eintritt in dies Zimmer, daß hier
die Kunst zu Hause war. Die beiden langen Wände rechts und links waren
mit großen Ölgemälden geschmückt, Landschaften darstellend, die durch
ihre frischen, warmen Farben das ganze Zimmer belebten. Gretchen war
ganz entzückt von diesem Anblick. „Hast du das alles selbst gemalt,
Onkel?“ fragte sie.

„Freilich, die gehören alle Susi; es sind ihre Geburtstagsgeschenke von
mir; das heißt, sie gehören ihr für so lange, als wir sie nicht
brauchen. Weißt du, wenn dürre Zeiten kommen, wenn kein Geld mehr im
Haus ist, dann muß ab und zu so eine Landschaft herunter und verkauft
werden.“

Gretchen sah den Onkel erstaunt an; sie wußte nicht, ob das Scherz oder
Ernst sei. Er lachte. „Das ist dir wohl ganz fremd; was macht ihr denn,
wenn euch das Geld ausgeht?“

„Das weiß ich nicht,“ sagte Gretchen. „Es ist, glaube ich, immer welches
da.“

„So? Dann ist’s bei euch anders als bei uns, da wechselt Ebbe und Flut.
Aber in Zeiten der Flut geht es hoch her, das heißt, soweit es deine
Tante erlaubt; sie legt dann zurück für die Zeiten der Ebbe. Wenn _ich_
dann nichts mehr habe, hat _sie_ immer noch etwas. Ja, deine Tante, die
hält das Haus zusammen! Ist’s bei euch nicht so?“

„Von Geld weiß ich gar nichts, Onkel, ich habe die Eltern noch nie
darüber reden hören.“

„Ach so, dann hätte wohl auch ich gar nicht davon reden sollen, Susi
wird mich zanken. Überhaupt, sie hat gesagt, ich soll vor allem für
deine Erquickung sorgen; hier hat Rieke etwas hergerichtet für dich,
sieh, ob du etwas davon brauchen kannst. Setze dich, laß dir’s wohl
sein, und ihr Kinder,“ sagte er, indem er sich an die Kleinen wandte,
die neugierig dabei standen, „seid tugendhaft und plagt eure Cousine
nicht zu Tod, solange ich fort bin; verstanden?“

„Gehst du aus, Onkel?“

„Ja,“ sagte Herr van der Bolten, „jetzt kann ich ja getrost wieder in
mein Atelier, weil ich das kleine Volk versorgt weiß; nun sieh eben, wie
du dich durchschlägst, mir ist alles recht, wie du es machst!“

Herr van der Bolten ging.

Gretchen wäre es doch lieber gewesen, wenn der Onkel ihr einige
Anweisungen gegeben hätte. Wie sollte sie das kleine Volk versorgen?

Nachdem sie sich unter Beistand der Kleinen etwas gestärkt und den Tisch
abgeräumt hatte, wußte sie nicht recht, was sie tun sollte, auch nicht,
wo sie eigentlich hingehörte, welches Zimmer für sie bestimmt war. Sie
hätte gerne ihr kleines Gepäck ausgepackt.

„Wißt ihr, in welchem Zimmer ich heute Nacht schlafe?“ fragte Gretchen
die Kleinen.

„Bei uns im Schlafzimmer,“ sagte Rudi.

„Nein, Rudi,“ sagte Betty geheimnisvoll, „ich weiß, wo sie schlafen
muß.“

„Wo denn?“

Und ganz traurig antwortete die Kleine: „Sie muß im Garten schlafen!“

„Im Garten? Wer sagt denn das?“ fragte Gretchen. „Ich glaube doch, daß
ich im Zimmer schlafe.“

„Aber da wächst nichts,“ sagte Betty, „und Rieke hat doch gesagt, du
sollst dahin, wo der Pfeffer wächst.“

Gretchen lachte; sie konnte allmählich merken, daß Rieke, die Köchin,
ihr nicht hold gesinnt war.

Es stellte sich aber doch heraus, daß im Schlafzimmer, in das Rudi und
Betty sie nun führten, ein drittes Bett stand, auf dem frische
Bettwäsche offenbar zum Überziehen bereit lag. Nun kam es Gretchen
ziemlich sicher vor, daß dies ihr Revier sein sollte, und sie packte ihr
kleines Köfferchen aus, band sich eine Hausschürze vor und überlegte,
was sie nun tun sollte. Am besten wäre es wohl, sie überzöge ihr Bett;
aber da mußte sie sich doch erst versichern, ob es auch für sie bestimmt
sei, und dazu mußte sie Rieke fragen. Sie fühlte aber gar kein
Verlangen, diese aufzusuchen.

„Einmal muß es doch sein, also am liebsten gleich,“ dachte sie und ging
hinaus. Die Kinder, die ihr bisher auf Schritt und Tritt gefolgt waren,
blieben auch hier nicht zurück.

Jungfer Rieke wandte sich kaum nach ihr um, als sie in die Küche trat.

„Ist das Bett, auf dem die Überzüge liegen, wohl für mich bestimmt?“
fragte Gretchen.

„Ja, aber mitten im Kochen kann ich’s doch nicht überziehen,“ war die
Antwort. „Und wann hätte ich’s wohl tun sollen? Vielleicht heute morgen?
Da habe ich geputzt und das Frühstück gemacht für unten und das
Frühstück für oben, die Kleinen gewaschen und den Oskar in die Schule
gerichtet, und dann fortgerannt auf den Markt und heimgerannt, damit ich
gewiß wieder da bin, ehe der Herr fortgeht, denn die Kleinen soll man ja
keine Stunde allein lassen. Und wie ich dann schnell die Überzüge
herbeisuche und will überziehen, dann klingelt die Frau, es seien keine
Kohlen mehr droben; dann muß ich wieder in den Souterrain und Kohlen
hinaufschleppen bis ins Gastzimmer im obersten Stock, und dann ist’s
höchste Zeit zum Kochen. Nein, mehr kann man nicht verlangen; ich möchte
wohl wissen, wann ich das Bett hätte überziehen sollen!“

Bei diesem stürmischen Ausbruch fuhr Rieke hin und her in ihrer Küche,
daß man ihr gern aus dem Weg ging, und die Kleinen hielten sich
vorsichtig außer Schußweite. Gretchen merkte, daß dieser Zorn nicht
eigentlich ihr galt, sondern daß er sich von langer Zeit angesammelt
hatte, wie es leicht geht, wenn die Arbeit die Kräfte übersteigt.

„Sie sollen mein Bett nicht überziehen,“ sagte sie in dem freundlichen
Ton, in dem sie ihre Mutter immer zu dem Mädchen sprechen hörte, „das
kann ich schon tun.“

„O lassen Sie’s nur, Sie kommen doch nicht damit zurecht, aber es wird
ja so schrecklich nicht pressieren; unsere Kinder schlafen nicht mehr
nach Tisch, aber Sie vielleicht noch?“

Das war grob! Aber Gretchen nahm sich zusammen. „Ich bin extra
hierhergereist, um zu helfen, dann will ich nicht noch Mühe machen; ich
überziehe mein Bett selbst,“ entgegnete sie, und da Rieke keine Antwort
weiter gab, ging sie mit den Kindern hinaus. „Die Rieke ist eine alte
Brummerin,“ rief der kleine Rudi sehr entrüstet; „wenn ich erst groß
bin, dann leide ich das nicht.“

Nach solch beruhigender Versicherung konnte ja Gretchen wohl an ihr
Geschäft gehen. Betty wich ihr nicht von der Seite und verfolgte
aufmerksam all ihr Tun. Und dies Tun war nicht so einfach. Die wollene
Bettdecke mußte in das Leintuch eingeknüpft werden, aber Gretchen kam
damit nicht zurecht. Es war so ganz anders als daheim; Knöpfe und
Knopflöcher wollten gar nicht zusammen stimmen. Immer mußte sie wieder
aufknüpfen, was sie soeben zugeknüpft hatte; das Leintuch sah schon
bedenklich verkrüppelt aus und Gretchens Backen wurden immer röter; ein
leichtes Stampfen mit dem Fuß verriet, daß ihre Geduld am Ende war. Die
kleine Betty verstand diese Sprache. Immer bedenklicher wurde der
Ausdruck ihres Gesichtchens, als sie ihre neue Freundin so in
Verlegenheit sah.

Aber jetzt kam ihr ein Gedanke. Sie ging an ihr eigenes Bettstättchen
und bemühte sich, ihre kleine Decke herauszuziehen. Sie schleppte mit
aller Anstrengung die Decke bis zu Gretchen und sagte: „Ich schenke dir
meine Decke, tu sie nur gleich in dein Bett.“

„Du gutes Herz,“ sagte Gretchen gerührt, und indem sie dem Kind die
unbequeme Last abnahm, bemerkte sie, daß das kleine Deckchen nach
demselben System eingeknüpft war, wie es bei der großen sein sollte; so
brauchte sie sich nur nach diesem Vorbild zu richten. Wirklich, jetzt
klappte alles; jeder Knopf fand sein Knopfloch. Gretchen war sehr
befriedigt und der Kleinen dankbar, die ihr durch ihre Teilnahme zu
Hilfe gekommen war, wenn auch anders, als sie gemeint hatte.

Als Gretchen eben mit diesem schwierigen Werk fertig war, ertönte
draußen dreimal nacheinander ein Glockenzeichen. „Das ist Papa,“ riefen
die Kinder. Gretchen hörte, daß die Treppentüre geöffnet wurde, aber
gleichzeitig vernahm sie lautes Schelten der Köchin.

„Es ist nicht Papa gewesen, es ist Oskar, der aus der Schule kommt,“
sagte Rudi, „und Rieke zankt mit ihm, weil er so klingelt, wie nur Papa
klingeln darf.“ Aus dem lauten Wortwechsel zwischen Rieke und Oskar
entnahm Gretchen, daß der kleine Bursche seines Vaters Klingeln
nachahmte, damit ihm rascher geöffnet würde. Rieke aber wollte dem
Jungen nicht dasselbe Vorrecht einräumen wie ihrem Herrn.

„Mit Oskar haben wir solch eine Not, seit Mama nicht mehr bei uns ist,“
erklärte Rudi in seiner altklugen Weise; und in der Tat hörte Gretchen,
daß ihr Vetter Oskar dem Mädchen sehr unbotmäßige Antworten gab. Im
nächsten Augenblick aber trat er ganz vergnügt ins Zimmer. Er war schon
einen Kopf größer als Rudi, ein strammer Schulbub und ein hübscher
Bursche. Gretchen begrüßte er sehr fröhlich; dann wandte er sich an die
Kleine: „Was gibt’s zu Mittag? Heute bin ich hungrig.“

Da dachte sich Gretchen, es werde wohl Zeit sein, den Tisch zu decken.
Auf ihre Aufforderung waren die Kinder gern bereit, ihr zu helfen; und
als Rieke mit den Tellern ins Zimmer kam und dies Geschäft schön besorgt
sah, machte sie doch ein gnädiges Gesicht. Wie aber eine Viertelstunde
um die andere verging, ohne daß der Herr zum Essen heimkam, war sie sehr
ungehalten. Auch die Kinder wurden verdrießlich und verlangten
einstweilen zu essen, und als Rieke nicht für sie allein anrichten
wollte, wurde Oskar unartig gegen sie. Es war eine ungemütliche Stunde,
und Gretchen dachte daran, wie bei ihr zu Hause die Essenszeiten so
pünktlich eingehalten wurden, und sehnte sich nach Hause.

Endlich erschien Herr van der Bolten. Er gab für sein spätes Kommen
keinen andern Grund an, als daß er vergessen habe, rechtzeitig auf die
Uhr zu sehen. Er war aber bei Tisch so liebenswürdig gegen Gretchen, so
heiter mit den Kindern, daß sie bald alle in fröhlicher Stimmung waren.
Nur Rieke machte noch ein böses Gesicht, als sie den Tisch wieder
abräumte.

Herr van der Bolten bemerkte es. „Immer Regenlandschaft, Rieke,“ sagte
er, „oder gar Gewitterschwüle?“

Rieke war nicht zum Spaßen aufgelegt.

„Es ist aber auch keine Ordnung mehr im Haus, seit die gnädige Frau
nicht mehr da ist.“

„Da haben Sie einmal ein ganz wahres Wort gesprochen,“ sagte Herr van
der Bolten mit voller Überzeugung.

„Und dann soll man noch immer lachen und ein freundliches Gesicht
machen, wenn man so viel zu tun hat wie ich und immer putzen muß.“

„So machen Sie sich’s eben leichter, Rieke,“ sagte Herr van der Bolten
gutmütig.

„Das ist schnell gesagt, aber wie sieht’s dann aus im Haus? Spinnweben
in allen Ecken!“

„Spinnweben? Das ist etwas sehr Malerisches, Rieke, die lassen Sie nur
alle stehen und wühlen Sie nicht immer im Staub. Setzen Sie sich
manchmal ein Stündchen hin und sehen Sie die illustrierten Zeitschriften
an, dann werden Sie gleich heiterer aussehen.“

Gretchen machte große Augen bei diesem Vorschlag, Rieke fast noch
größere. „Ach,“ rief sie, „der gnädige Herr versteht doch schon rein gar
nichts!“ und damit ging sie hinaus. Herr van der Bolten lachte nur, er
nahm das nicht übel.

Kaum war das Essen abgetragen, als er das Klavier aufschlug und ein paar
laute Akkorde spielte. „Das ist unser Signal,“ erklärten die Kinder,
„Mama hört es droben in der Krankenstube und dann kommt sie an das
Kammerfenster und schaut zu uns herunter in den Hof.“

Die ganze Gesellschaft begab sich nun hinunter, Gretchen mit Betty an
der Hand. Die Kleine hatte vielleicht am meisten von den Kindern die
Mutter vermißt, denn sie kam nicht recht zur Geltung neben den Brüdern,
und nun gab sie sich gerne unter den Schutz von Gretchen und schmiegte
sich innig an diese.

Drunten im Hof war’s kalt. „Ich hätte den Kleinen etwas Warmes anziehen
sollen,“ sagte Gretchen und war eben daran, Betty das Taschentuch um den
Hals zu binden, als die Kinder riefen: „Die Mama!“

Im obern Stock war ein Fenster geöffnet worden, freundlich winkend und
grüßend sah Frau van der Bolten herunter, und die kleine Betty streckte
verlangend die Arme nach ihr aus. Gretchen hatte die Tante anders in
Erinnerung gehabt, sie war eine schöne, blühende Frau gewesen, und jetzt
sah sie zart und schmächtig aus, fast wie Frau Reinwald, deren Schwester
sie war.

Sie erinnerte Gretchen so lebhaft an die Mutter, daß sie fast ebenso
verlangend hinaufblickte wie die Kleinen.

„Wie gut, daß du gekommen bist!“ rief die Tante.

„Und wie geht es Hugo?“ fragte Gretchen.

„Er ist recht unruhig heute mittag und hat mehr Fieber als bisher. Achte
doch recht darauf, Gretchen, wenn etwa eins der Kinder sich unwohl
fühlt, nicht wahr? Es müßte dann gleich von den andern getrennt werden.“

„Ja, Tante, ich will recht aufpassen und jetzt gleich mit den Kindern
hinaufgehen, es ist zu kalt für sie, morgen ziehe ich sie wärmer an.“

„Und dich selbst auch, Gretchen! Sorge auch für dich, du bist jetzt die
Stütze des Hauses; wie groß bist du geworden, ich kenne dich kaum mehr!“

Gretchen ging mit den Kindern ins Haus, ihr Onkel blieb noch zurück. Er
sprach zu seiner Frau italienisch; Gretchen verstand die Sprache nicht,
aber sie hörte, daß er in liebevollem Ton redete, und lange harrte er
aus in dem kalten Hof.

Gretchens erster Bericht nach Hause lautete günstig, aber nicht alle
Tage sollten so friedlich verlaufen wie die ersten.

Eines Tags, kurz nach zwölf Uhr, wurde dreimal geklingelt, und Rieke,
die überzeugt war, daß Oskar wieder das Glockenzeichen seines Vaters
mißbrauchte, öffnete die Türe nicht. Zum zweitenmal ertönte die Klingel
in derselben Weise, nur heftiger und lauter – ohne anderen Erfolg, als
daß Rieke hinausrief: „_ein_mal, oder ich mache dir nicht auf.“ Gretchen
besann sich, ob sie sich dareinmischen solle, sie wollte Oskar nicht in
seiner Unart bestärken und fand Riekes Benehmen gerechtfertigt, und doch
konnte man das Läuten, das sich zum drittenmal immer lauter wiederholte,
gar nicht recht mit anhören. Da plötzlich gab es ein furchtbares
Geklirr. Gretchen eilte hinaus und sah eben, wie Oskar durch das Fenster
der Glastüre hereinsteigen wollte, das er in seinem Zorn mit dem
Schulranzen zerschlagen hatte. Sie öffnete rasch die Türe, damit sich
der Junge in seiner blinden Wut nicht noch beim Einsteigen an den
Glasscherben verletze. Kaum war er eingelassen, so stürzte er auf Rieke
zu und wollte nach ihr schlagen; die schob ihn auch nicht freundlich
beiseite, die kleine Betty fing laut an zu weinen, es war ein rechter
Tumult, in den Rudi hineinrief: „Es kommt ein Besuch die Treppe herauf!“

So unangenehm allen diese Mitteilung war, so war sie doch geeignet, die
Gemüter zu besänftigen. Rieke und Oskar gingen nach verschiedenen Seiten
ab, die Kleine wurde still, und Gretchen fragte nach dem Begehr des
fremden Herrn, der vor ihr stand. Er wollte Herrn van der Bolten
sprechen und fragte, ob er wohl nachmittags zu treffen wäre? Gretchen
versprach, ihrem Onkel auszurichten, daß der Herr um drei Uhr
wiederkäme.

Sie schämte sich, daß dieser Herr das Durcheinanderschreien Riekes und
der Kinder vermutlich gehört hatte, und wie sah auch das zerschlagene
Fenster so häßlich aus!

Über die Unart ihres Vetters war Gretchen sehr empört, und als nun Rieke
mit Schaufel und Besen kam, um die Scherben aufzukehren, half sie ihr
dabei. Rieke entnahm daraus, daß Gretchen auf ihrer Seite stand, und das
tat ihr wohl.

„Bemühen Sie sich nicht mit den Scherben,“ sagte sie, „die werde ich
schnell beisammen haben; aber daß ich nun wieder mitten von der Arbeit
weg zum Glaser laufen muß, damit uns der vor Nacht das Fenster noch
macht, das ärgert mich.“

„Oskar soll hingehen, er ist schuld daran. Weiß er wohl den Weg zum
Glaser?“

„Freilich, aber _der_ geht doch nicht! Da könnte ich zu ihm sagen, was
ich wollte, und er ginge mir nicht!“

„Ich will’s ihm vorstellen, daß das seine Schuldigkeit ist; ich werde
ihn schon dazu bringen.“

„Da werden Sie schön ankommen; den bringt niemand zurecht, außer die
gnädige Frau, die kann’s in ihrer lieben Art mit allen Menschen.“

„Ich will’s auch mit Liebe versuchen,“ sagte Gretchen. Sie kannte diese
Art gar wohl, es war ja die ihrer eigenen Mutter. Es kam ihr auch nicht
schwer vor; Oskar hatte sich gewiß inzwischen selbst schon besonnen,
sein Gewissen mußte ihm sagen, daß er unrecht getan hatte. Wie elend
mußte ihm nun zumute sein, er war jetzt am meisten zu bedauern.

Als Gretchen ins Zimmer trat, um mit ihrer ganzen Liebe dem reuigen
Sünder entgegenzukommen, saß dieser am Tisch, ließ sich gemütlich sein
Butterbrot schmecken, und sagte eben lachend zu Rudi: „Gelt, das hat
lustig geklirrt? So einen Streich könntest du nicht machen!“

In einem Nu war Gretchens mitleidige Stimmung in hellen Zorn verwandelt.
„Oskar,“ rief sie mit höchster Entrüstung, „wie kannst du so reden, und
wie kannst du dich jetzt gemütlich hinsetzen und essen!“ und dabei nahm
sie ihm mit energischem Griff das Brot aus der Hand. „Augenblicklich
gehst du fort zum Glaser und bittest ihn, daß er heute noch das Fenster
wieder macht. Vorher bekommst du keinen Bissen zu essen, ich kann dich
gar nicht begreifen –“. Aber weiteres war überflüssig, denn Gretchens
sittliche Entrüstung hatte etwas so Überwältigendes, daß Oskar seine
Mütze nahm und fortrannte – zum Glaser!

Einen Augenblick nachher streckte Rieke neugierig ihren Kopf zur Türe
herein. „Ist er fort? Wirklich? Zum Glaser? Ich hätt’s nie geglaubt. Nun
will ich nur sehen, ob er klingelt, wie sich’s gehört, wenn er
heimkommt, oder ob er lieber durchs Fenster steigt und sich blutig
reißt.“

Es geschah aber weder das eine noch das andere, denn geduldig im Eckchen
des Vorplatzes wartete Betty, die gute, kleine Seele, auf ihren Bruder,
und als sie ihn heraufkommen hörte, machte sie ihm schnell die Türe auf,
um allem Übel vorzubeugen.

Gretchen war noch ganz erfüllt von diesem Erlebnis, als Herr van der
Bolten heimkam. Er wurde sehr ärgerlich beim Anblick des zerbrochenen
Fensters, und Oskar erhielt wohl einen Denkzettel; aber daß Herr van der
Bolten fast ebenso ärgerlich über Rieke war, ja daß er sogar Gretchen
vorwarf, sie hätte so etwas vermeiden sollen, das konnte sie gar nicht
begreifen. Wenn doch nur Oskar unartig war, warum wurden dann die andern
auch und noch dazu in dessen Gegenwart getadelt?

Sie war gar nicht gewöhnt, einen ungerechten Vorwurf zu bekommen, und es
fiel ihr schwer, ihn hinzunehmen. Wie gerecht war ihr Vater immer trotz
aller Strenge!

Über diesen Dingen hatte Gretchen vollständig den Auftrag des fremden
Herrn vergessen, und als ihr Onkel um zwei Uhr ausging, hatte er keine
Ahnung, daß um drei Uhr nach ihm gefragt würde. Noch vor drei Uhr
klingelte es, und Rieke kam zu Gretchen. „Der Herr ist wieder da, der
heute mittag schon hier war; er sagt, er sei auf drei Uhr angesagt.
Kommt denn der gnädige Herr so bald heim?“

Gretchen wurde über und über rot vor Schrecken und Scham. „Ach, das habe
ich vergessen auszurichten!“ rief sie ganz entsetzt.

„Was soll ich jetzt sagen? Der Herr sei verhindert, aber morgen sei er
zu sprechen?“

„Nein, Rieke,“ sagte Gretchen kläglich, „er ist ja nicht verhindert, wir
können das doch nicht sagen!“

„Aber jedenfalls kann man den Herrn nicht so lang vor der Türe stehen
lassen.“

„Ich muß um Entschuldigung bitten,“ sagte Gretchen und ging mit einem
schweren Seufzer hinaus.

Tief errötend erschien sie vor dem Fremden und stammelte: „Es ist mir so
leid, ich habe es ganz vergessen, meinem Onkel auszurichten!“ Dieser
schien sehr ärgerlich.

„Ich habe keine Zeit, zum drittenmal herzukommen. Ich muß mit dem
Schnellzug wieder abreisen und habe hier mit meiner Frau nur einen Tag
Aufenthalt genommen, um bei Herrn van der Bolten eine große Bestellung
zu machen.“

Als Gretchen dies hörte, war es ihr noch viel mehr leid. „Das wird
meinem Onkel so arg sein!“ sagte sie; „meine Tante ist eben nicht da,
sonst wäre so etwas nicht vorgekommen, und heute morgen, wie Sie kamen,
war gerade das Unglück passiert mit dieser Scheibe da, und darüber habe
ich es vergessen auszurichten.“

„Wissen Sie vielleicht, wo Ihr Herr Onkel ist? Dann könnten Sie ihn
benachrichtigen und bitten, daß er uns vor fünf Uhr im Bahnhofhotel
aufsucht; vielleicht reicht es dann noch, das Nötige zu besprechen.“ Der
Herr übergab seine Visitenkarte.

„Ich will gleich in sein Atelier schicken und nach ihm fragen lassen,“
sagte Gretchen.

„Dort war ich selbst schon, weil ich gerne Gemälde von ihm gesehen
hätte; es war aber geschlossen.“

„O, hier im Haus sind auch Gemälde, wollen Sie diese nicht ansehen?“
fragte Gretchen; und nun führte sie den Fremden in das Zimmer und sah
mit Stolz, wie sehr er die Landschaften bewunderte. „Ist’s gar nicht
möglich, daß Sie hier übernachten?“ wagte Gretchen zu fragen, und setzte
ganz zerknirscht hinzu: „Wenn ich schuld wäre, daß Sie meinen Onkel
nicht sehen, wäre es mir so furchtbar leid.“

„Heute ist mein äußerster Termin,“ sagte kopfschüttelnd der Herr; „ich
kann Ihnen leider nicht helfen, wenn der Herr Onkel böse auf Sie wird.
Aber vielleicht kommt er doch noch rechtzeitig zu uns.“

Der Fremde ging. Gretchen dachte daran, wie die Mutter so besorgt
gewesen war in der Furcht, Gretchen sei ihrer Aufgabe nicht gewachsen.
Ach, sie hatte recht gehabt! Sie mußte nun eben des Onkels Vorwürfe
hinnehmen. Aber die Mutter sagte ja immer: erst sich in ein Übel
ergeben, wenn man _alles_ versucht hat, es abzuwenden. Was war zu
versuchen? Wenn der Onkel nicht im Atelier war, wo konnte er dann sein?
Sie fragte Rieke. „Das kann kein Mensch wissen,“ meinte diese;
„vielleicht im Kaffeehaus, oder im Museum, bei Bekannten oder auf einem
Spaziergang, unmöglich ihn zu finden!“

„O Rieke,“ bat Gretchen, „wenn Sie es doch probieren würden, ob Sie den
Onkel nicht zufällig da oder dort treffen, ich wäre so dankbar! Ich
ginge gewiß gern selbst, aber ich kenne mich gar nicht aus in der
Stadt.“

Rieke wollte gar nicht; sie fand es zwecklos, so ins Unbestimmte in der
Stadt herumzulaufen, aber Gretchen ließ nicht nach mit Bitten und
Versprechen; die schönste Schürze, die sie habe, wolle sie Rieke
schenken und ihr helfen, soviel sie könnte, solange sie hier bliebe. Da
endlich löste Rieke ihre Schürzenbänder und machte Anstalt, sich für den
Ausgang zu richten. Inzwischen saß Gretchen im Zimmer und schrieb mit
fliegender Eile wohl auf fünf Zettel die Worte: Herr van der Bolten
möchte so bald wie möglich in das Bahnhofhotel zu Kommerzienrat Frick
kommen. „Rieke,“ bat Gretchen, „geben Sie doch die Zettel da und dort
ab, wo Sie etwa meinen, daß mein Onkel hinkommt; dann, wenn _Sie_ ihn
nicht treffen, bekommt er doch vielleicht noch rechtzeitig so einen
Zettel.“

Rieke wollte die Papiere nicht nehmen. „Sie machen uns rein lächerlich
in der Stadt,“ sagte sie kopfschüttelnd. „Was sagen da die Leut!“

Aber Gretchen ließ nicht nach mit Bitten, bis Rieke mit ihren Zetteln
fortging. Oskar war in der Schule, aber Rudi und Betty hatten mit großer
Teilnahme die aufregende Angelegenheit verfolgt, und alle drei standen
nun am Fenster und sahen hinaus, wie Rieke die Straße entlang ging, viel
langsamer, als Gretchen gewollt hätte; und als sie ihnen endlich aus den
Augen schwand, gingen sie miteinander in die Küche, wo Rieke noch nicht
fertig aufgeräumt hatte; Gretchen wollte des Mädchens Arbeit tun, so gut
sie konnte.

Nach vier Uhr kam Rieke zurück. Sie hatte ihren Herrn vergeblich
gesucht. „Und die Zettel?“ „Die habe ich abgegeben, einen im Atelier,
einen im Kaffeehaus, einen beim Friseur, zwei habe ich den Briefträgern
angehängt; aber, Fräulein Gretchen, alle haben gelacht über mich, und
ein andermal will ich nimmer zum Gespött der Leute werden! Helfen werden
die Zettel doch nichts, es ist mir erst unterwegs eingefallen, daß der
Herr wahrscheinlich vor der Stadt draußen ist, er malt doch den
‚Winterabend‘ und schaut sich alle Tag draußen den Schnee an.“

Mit Bangen verbrachte Gretchen den Nachmittag. Wie würde der Onkel ihr
zürnen, wenn sie ihn vielleicht um einen wertvollen Auftrag gebracht
hatte! Mit Recht könnte er sagen, wenn sie nicht hierher gekommen wäre,
so wäre es viel besser gewesen, denn Rieke hätte die Bestellung gewiß
nicht vergessen. Sie machte sich die bittersten Vorwürfe, und es wurde
ihr von einer Stunde zur andern unbehaglicher zumute, denn sogar wenn
der Onkel noch glücklich mit dem Fremden zusammenträfe, ihre
Vergeßlichkeit blieb deswegen doch bestehen. Sie fragte Rieke, sie
fragte Oskar, wann der Onkel vermutlich heimkäme, sie wußten es nicht.
Als es später als sechs Uhr wurde, fing Gretchen an zu hoffen, daß der
Onkel mit dem Fremden an die Bahn gegangen sei. Es schlug sieben Uhr,
Gretchen hatte die Kleinen zu Bette gebracht, und in der Stille, die nun
eintrat, konnte sie die Spannung nicht mehr aushalten.

„Oskar,“ sagte sie, „klopfe auf dem Klavier herum so gut du kannst,
vielleicht hört es deine Mama, ich gehe hinunter in den Hof, ich muß sie
sprechen!“

Es war schon finster und kalt, als Gretchen in den beschneiten Hof trat.
Aber welche Überraschung! An der Mauer lehnte eine dunkle Gestalt, die
weichen Laute der italienischen Sprache klangen in Gretchens Ohr und
wurden erwidert von einer sanften Stimme von oben.

„Onkel, bist du da?“ rief Gretchen in höchster Erregung.

„_Ich_ bin natürlich da,“ rief lachend Herr van der Bolten, „aber du,
was willst du in Schnee und Eis? Möchtest du die Tante etwas fragen?
Susi, da ist unser Hausmütterchen.“

Aber das freundliche Wort tat Gretchen nur weh, wie wenig verdiente sie
es gerade heute!

„Ist doch keines von den Kindern unwohl?“ rief die Tante ängstlich.

„Nein, nein, sie sind ganz munter, ich wollte nur fragen, wann wohl der
Onkel heimkommt.“

„So, ist’s denn schon so spät?“ fragte dieser verwundert. „Ich komme
gleich mit dir.“

Während Gretchen pochenden Herzens mit ihm die Treppe hinaufging, und
ihr das schwere Geständnis auf den Lippen schwebte, redete ihr Onkel sie
plötzlich an: „Ei, Gretchen, du hast ja einen famosen Einfall gehabt,
daß du Zettel nach mir in alle Winde gestreut hast. Wie hast du das nur
so schlau gemacht? Überall wurde ich aufgehalten und bekam deine
Aufforderung, einmal vom Briefträger, einmal im Kaffeehaus, es war
köstlich!“

Gretchen horchte hoch auf. „Hast du es auch noch rechtzeitig erfahren?“
fragte sie ängstlich. „Hast du den Herrn gesprochen?“

„Ja freilich; ach, du hast dir wohl Sorge gemacht, daran hätte ich
denken sollen; der Herr hat mir gesagt, daß es dem jungen Fräulein
sichtlich leid gewesen sei. Gretchen, du bist eine kapitale Person, daß
du auf den Einfall kamst, ihm meine Gemälde zu zeigen; wir wären sonst,
in so kurzer Zeit, nicht ins Reine gekommen. Der Mann hat eine prächtige
Bestellung gemacht, Susi ist ganz entzückt darüber. Wenn die großen
Gelder dafür einlaufen, sollst du auch nicht vergessen werden. Wieviel
so Zettel hast du eigentlich nach mir abgefeuert? Fünf? Geniale Idee!“

Der Onkel lachte laut, und Gretchen wußte gar nicht, wie ihr geschah,
als alles Gefürchtete sich so in reine Heiterkeit auflöste. Ja, bei den
Eltern war’s anders, da wurde man ganz nach Verdienst behandelt; bei dem
Onkel hingegen kamen unverdiente Vorwürfe, während die wohlverdienten
ausblieben. Da mußte man eben eins ins andere rechnen!



                            Neuntes Kapitel.
                            Schwierigkeiten.


Gretchen hatte scherzhaft an Hermine geschrieben, sie habe angefangen,
Spanisch zu lernen, und sie wolle ihr nur mitteilen, daß man Córdova
aussprechen müsse und nicht Cordōva. Sofort kam als Antwort auf ihren
Brief ein von Herminens Hand adressiertes Packetchen, und als Gretchen
es sehr begierig öffnete, fiel ihr entgegen, was sie am wenigsten
erwartet und gar nicht begehrt hatte: ihre englische Grammatik. Aber ein
langer, liebevoller Brief der Freundin entschädigte sie für die
Enttäuschung. Hermine legte Gretchen ans Herz, sie möge doch über dem
Studium des Spanischen nicht die Schulfächer versäumen, sie würde sonst
gewiß ihren zweiten Platz nicht behaupten können. In der Grammatik fand
Gretchen alles rot angestrichen, was ihr die fürsorgliche Freundin zum
Repetieren für die nächsten Probearbeiten empfahl.

Gretchen war sehr belustigt über den Schrecken, den ihr halbstündiges
Studium des Spanischen der Freundin eingeflößt hatte; sie widmete sich
von nun an jeden Abend eine Zeitlang ihrer englischen Grammatik, und
beruhigte Hermine bald durch ein möglichst sorgfältig geschriebenes,
englisches Briefchen. Die Abendstunden waren freilich die einzig
ruhigen, die Gretchen zur Verfügung hatte, denn den ganzen Tag waren die
Kleinen um sie. Sie freute sich aber, so oft die Kinder gesund erwachten
und sie ihre Pflegebefohlenen der Tante vom Hof aus zeigen konnte. Denn
die Erkrankungen an Scharlach nahmen immer zu in der Stadt, auch Hugo
war noch nicht außer Gefahr. Die Tante selbst war sehr angestrengt von
der Pflege, und da es so viele Kranke in der Stadt gab, konnte sie nicht
so oft, als es nötig gewesen wäre, Hilfe durch Diakonissinnen bekommen.

Seitdem Gretchen einmal so energisch ihrem Vetter Oskar gegenüber
aufgetreten war, hatte sie keine besonderen Schwierigkeiten mehr mit ihm
gehabt, aber es kam ein Tag, an dem ein Wendepunkt in diesem Verhältnis
eintrat und der kleine Schlingel über seine junge Erzieherin den Sieg
davontrug.

Oskar war nicht sehr fleißig in der Schule, und es war notwendig, seine
Schulaufgaben daheim zu überwachen. Als sich nun Gretchen einige Male
darum bekümmert hatte, merkte sie, daß Oskar ihre Hilfe durchaus nicht
wünschte, sondern ihr lieber mit seinen Schulsachen aus dem Wege ging,
wie einer, der kein gutes Gewissen hat. Heute, als sie rasch an den
Tisch trat, an dem er saß, bemerkte sie, wie er hastig etwas zu
verdecken suchte. Vor ihm lag sein Rechenheft, aber halb verdeckt durch
Bücher lag neben demselben noch ein anderes Heft, und auf dessen Decke
stand der Name eines Mitschülers. Bald hatte Gretchen herausgefunden,
daß Oskar die Rechnungen, die er für den nächsten Tag machen sollte, von
dem Heft eines Schulkameraden abschrieb. Oskar, der sonst so trotzige,
kleine Bursche, fing nun an, ganz rührend zu bitten, Gretchen möge es
seinem Vater nicht verraten, und versprach ihr, nie mehr abzuschreiben.
Sie beruhigte sich dabei, denn es war ihr lieb, wenn sie den Onkel nicht
mit Klagen über die Kinder beschweren mußte. Sie war auch überzeugt, daß
Oskar sein Versprechen halten würde.

Am nächsten Tag aber fiel es ihr auf, daß er seine Schultasche nicht ins
Zimmer hereinbrachte, auch lag dieselbe an keinem der Plätze, wo er sie
sonst gelegentlich ablegte. Sie wollte ihn nicht fragen, denn sie hätte
ihr Mißtrauen gar nicht zeigen mögen. Später führte ein Zufall sie in
das Zimmer, in dem Oskar schlief, und da sah sie seine Schultasche
hinter dem Bett verborgen liegen, und wie am Tag vorher, waren wieder
_zwei_ Hefte in derselben. In dem Augenblick, als sie die Tasche in der
Hand hielt, kam Oskar in das Zimmer, und stand sichtlich betroffen, als
er Gretchen an seinem Versteck sah.

„Oskar,“ fragte sie, „hast du doch wieder abschreiben wollen?“

Trotzig antwortete der Junge: „Ja, aber es geht dich nichts an, du hast
dich nicht um meine Sachen zu kümmern!“

„Aber Oskar, was hast du mir gestern versprochen! Nun _muß_ ich’s deinem
Vater sagen!“

„Wenn du’s dem Vater sagst, dann springe ich zum Fenster hinaus!“ rief
ganz außer sich der Junge, und im Nu schwang er sich auf den Sims des
offenen Fensters, trat auf den äußersten Rand desselben, bereit,
hinauszuspringen. Gretchen war keine ängstliche Natur, und ließ sich
nicht leicht einschüchtern, aber bei diesem Anblick wich ihr alles Blut
aus den Wangen.

„Oskar, Oskar,“ rief sie flehend, „komm herunter, ich bitte dich!“ Er
aber schwang die Arme, wie um den Sprung zu wagen, es war ein
schrecklicher Anblick. Gretchen war ans Fenster gesprungen, aber sie
wußte wohl, daß sie ihn nicht festhalten konnte. „Oskar, tu das deinen
Eltern nicht an, komm herein, o komm, ich bitte dich!“

„Sagst du dem Vater nichts?“ rief Oskar.

„Nein, komm nur, komm!“

„Und der Mutter, und Rieke, und den Kleinen?“

„Nein, nein, komm doch herein, ich kann’s nicht mehr sehen!“

„Erst versprich mir’s ganz fest!“ Und Gretchen versprach’s, denn dem
unbändigen Knaben war alles zuzutrauen. Jetzt endlich verließ er seinen
gefährlichen Posten, nahm seine Schultasche und ging aus dem Zimmer.

Als Gretchen, noch ganz erschüttert von der Aufregung, ihm kurz darauf
folgte, fand sie ihn ganz ruhig am Tisch sitzend und von dem Heft
abschreibend, das zu verdecken er nicht mehr für nötig fand. Sie war
entrüstet, daß sie das mit ansehen und dulden sollte, aber sie fühlte
sich gebunden durch das Versprechen, das Oskar ihr abgenötigt hatte, und
ihre Macht über ihn war verloren.

Von diesem Erlebnis an begann Gretchen sich im stillen heimzusehnen und
die Tage zu zählen bis zum Weihnachtsfest. Es waren nicht mehr viele.
Schon hatte die Kinderfrau, die für diese Zeit bestellt war, ihren
Koffer geschickt, den Gretchen als willkommenes Unterpfand ihrer
baldigen Ablösung oft mit verborgener Freude betrachtete. In der Zeit,
die sie noch vor sich hatte, wollte sie ihr Möglichstes tun für ihre
Pflegebefohlenen. Sie half Rieke so gut sie nur konnte bei den
Vorbereitungen aufs Fest, die freilich aufs allernötigste beschränkt
werden mußten. Sie setzte sich im Wohnzimmer hinter den Ofenschirm,
nähte Kleidchen für Bettys Puppen und sang dabei unverdrossen mit den
Kleinen Weihnachtslieder. Vom Hof zum Kammerfenster hinauf und herunter
gab es manche Beratung zwischen Tante und Nichte, denn so sehr erstere
durch die Krankheit ihres Ältesten in Anspruch genommen war, so wollte
sie doch nicht, daß die Kinder ganz um die Weihnachtsfeier kämen.

Auf einen Samstag fiel der heilige Abend, am Freitagmorgen sollte die
Kinderfrau kommen, und am selben Nachmittag wollte Gretchen abreisen.
Nun war es Donnerstag. „Nur noch ein Tag,“ sagte sich Gretchen, und
packte schon einiges in ihr Handköfferchen, weil sie es gar nicht mehr
recht erwarten konnte. „Nur noch ein Tag,“ wiederholte sie sich, „und
den will ich noch recht ausnützen.“ Sie überlegte sich alles, was etwa
noch zu tun war; Rieke hatte den Christbaum besorgt. Gretchen holte noch
Nüsse, Äpfel und Zuckerstückchen, und legte alles ordentlich zusammen,
daß es ihr Onkel nur auf den Baum zu hängen brauchte. Am Abend, als sie
die Kleine zu Bett legte, war es ihr halb freudig und halb wehmütig, als
sie sich sagte: „zum letztenmal!“ denn die Kinder waren rührend
anhänglich an sie geworden.

Am Freitagmorgen, nach dem Frühstück, als Herr van der Bolten eben
ausgegangen war und Oskar sich in die Schule richtete, fiel es Gretchen
auf, daß sein Frühstücksbrot noch unberührt war.

„Nimm dein Brot mit, wenn du es jetzt nicht essen willst,“ sagte
Gretchen.

„Ich mag nichts, es tut mir beim Schlucken weh,“ war die Antwort.
Gretchen sah ihn an; er hatte nicht das frische, lebhafte Aussehen, das
man an ihm gewöhnt war. Gretchens erster Gedanke war: „er wird krank, er
bekommt Scharlach!“ Es war naßkaltes Wetter, sie wollte ihn nicht in die
Schule lassen, wollte den Arzt abfassen, wenn er hinaufginge zu Hugo.
Aber Oskar hatte keine Lust, daheim zu bleiben, und Rieke, die zu Rate
gezogen wurde, fand nichts Auffallendes an ihm. Sie hatte auch nicht
Zeit, ihn jetzt in der Schule zu entschuldigen, und erklärte Gretchens
Sorge für übertrieben. So überstimmt, ließ Gretchen Oskar zur Schule
gehen.

Aber kaum war er fort, so bereute sie es. _Ihr_ hatte die Tante die
Kinder ans Herz gelegt, nicht Rieke; sie durfte nicht gegen ihr besseres
Wissen handeln, lieber sollten Oskar und Rieke auf sie zürnen und sie
wegen ihrer Ängstlichkeit verlachen. Flink sprang sie die Treppe
hinunter, sie wollte ihn einholen auf der Straße, er konnte noch nicht
weit sein. Nein, weit war er allerdings nicht! Da saß er auf der
untersten Stufe der Treppe. „Oskar, was ist dir?“ fragte Gretchen.

„Ich weiß nicht, es ist mir schwindelig geworden, aber jetzt ist es mir
schon wieder besser,“ sagte er und schickte sich an, fortzugehen.

„Du bist ja ganz blaß,“ sagte Gretchen und faßte ihn mütterlich an der
Hand. „Komm du nur wieder mit mir herauf, gib mir deine schwere
Schultasche, ich trage sie dir.“

Und Oskar widerstrebte nicht mehr, er ließ sich ganz willig
hinaufführen. Droben wurden vor allem Rudi und Betty aus dem Wege
geschafft und Oskar ins Bett gelegt, so sehr auch Rieke diese Maßregeln
als unnötig mißbilligte. Eine Stunde später kam der Arzt und zwei
Stunden später brachte man dem armen, geplagten Mütterlein zu ihrem
ersten Scharlachkranken noch einen zweiten! Herr van der Bolten trug ihn
die Treppe hinauf – zum erstenmal kam er bei dieser Veranlassung wieder
zu seiner Frau und zu Hugo. Während ihm Gretchen mit Tränen der
Teilnahme nachsah, kam die Treppe herauf ein Dienstmann. Er brachte
einen Zettel und auf diesem stand, daß die Kinderfrau in dieser Nacht an
einer Lungenentzündung erkrankt sei und in den nächsten Wochen nicht
kommen könne!

In sprachloser Bestürzung stand Gretchen vor der Türe und starrte auf
das Papier. Dann ging sie zu Rieke; sie hatte ja sonst niemand, mit dem
sie die Hiobspost besprechen konnte.

„So ist’s recht!“ rief in aufloderndem Zorn die Köchin. „Das gibt ein
Weihnachtsfest! Jetzt darf ich auch noch zu allem hin die Kindsmagd sein
und kann keinen Schritt zum Haus hinaus in den Feiertagen! Es kommt
immer besser!“

„Rieke, wir müssen jemand finden, der statt der Kinderfrau kommt; wissen
Sie gar niemand? Ich mag die Tante gar nicht fragen, die dauert mich
so!“

„Es hat auch keinen Wert, sie zu fragen; vor Neujahr bekommt man
niemand, jetzt vollends nicht, wo so viel Kranke in der Stadt sind.
Unsere Näherin ist krank, die Wäscherin hat kranke Kinder; es ist schon
so, an mir bleibt alles hängen.“

Ein weinendes Kinderstimmchen drang an Gretchens Ohr; rasch ging sie ins
Zimmer. Betty saß ganz allein mit der Puppe im Arm im Eckchen und
weinte.

„Was gibt’s, kleine Maus, warum weinst du?“ fragte Gretchen.

„Ich bin so ganz allein,“ klagte schluchzend die Kleine.

„Wo ist denn dein Rudi?“

„Der ist krank und liegt im Bett!“

„Auch der?“ rief Gretchen und eilte entsetzt an Rudis Bettchen. Er war
bis über den Kopf zugedeckt. Sachte zog Gretchen die Decke weg. Da kam
ein Gesichtchen zum Vorschein, so frisch und lustig, wie man sich’s nur
wünschen konnte, und unter lautem Lachen rief der kleine Schelm: „Ich
spiele ja nur Scharlach!“

Nachdem Gretchen den kleinen Schlingel aus dem Bett getrieben hatte,
erzählte sie den Kindern, daß die Kinderfrau krank sei und nicht kommen
könne. Bei Betty flossen die kaum versiegten Tränen wieder.

„Bist du dumm,“ fuhr Rudi sie an, „wein’ doch nicht; wenn die Frau nicht
kommt, dann bleibt doch Gretchen bei uns!“ Da leuchtete es hell auf in
dem kleinen Gesicht, aber Gretchen wollte nicht falsche Hoffnungen
erwecken und entgegnete sehr bestimmt: „Nein, nein, ich muß heute
nachmittag abreisen, denn bei uns ist morgen die Bescherung und das
Christkind hat alle meine Sachen zu meinen Eltern gebracht.“

Jetzt wurde auch Rudis Gesicht betrübt. „Wer ist dann bei uns, wer
richtet unsere Bescherung her?“ Kleinlaut antwortete Gretchen: „Papa tut
es mit Rieke.“ Aber Rudi entgegnete: „Papa ist jetzt droben bei Mama und
Rieke ist immer in der Küche; ich glaube, daß wir gar kein Weihnachten
haben.“

„O, kein Weihnachten,“ wiederholte Betty und schluchzte. Wie sollte
Gretchen sie trösten? Sollte sie denn bleiben? Wieder auspacken, während
sie sich so unsäglich auf ihr Heimkommen heute abend gefreut hatte und
auf das Weihnachtsfest bei den Eltern? Sie hörte nicht mehr auf der
Kinder Geplauder, sie trat ans Fenster und sah sehnsüchtig hinaus ins
Freie. „Was soll ich tun? Ich weiß nicht. Wenn doch die Mutter mir raten
könnte! Sie hat gesagt, wir hätten immer eine Richtschnur und wüßten,
was wir tun müßten. Gott lieben, und den Nächsten wie sich selbst. Ja,
wenn ich die Kinder so lieb hätte wie mich selbst, dann wüßte ich schon,
was ich täte, denn sie sind zwei und ich bin eins; ich müßte ihnen
zuliebe bleiben. – Dann käme auch noch Rieke in Betracht, weil sie in
den Feiertagen nicht Kindsmagd sein möchte. Auch Onkel und Tante wären
froh, wenn sie wüßten, daß ich bei den Kindern bleibe. Die alle
miteinander sollte ich doch so lieb haben wie mich allein? Ich fürchte,
ich muß hier bleiben! Das ist die Richtschnur, die du gemeint hast,
Mutter; ja, ich weiß, ich muß bleiben, wenn niemand anders an meiner
Stelle kommen kann!“

Gretchen ging noch einmal in die Küche. „Rieke,“ fragte sie, „ist Ihnen
gar niemand eingefallen, der zu den Kindern kommen könnte, wenn ich
gehe?“

„Vor Neujahr kommt niemand!“

„Dann denke ich, will ich bei meinen Eltern anfragen, ob ich bleiben
darf bis Neujahr.“

„Ja, Fräulein Gretchen, das müssen Sie schon tun,“ sagte Rieke eifrig,
„man kann die Kinder doch nicht immer allein lassen, und ich habe
wirklich keine Zeit, Kindsmagd zu machen. Für Sie ist’s doch eins,
bleiben Sie nur da!“

Gretchen dünkte es, als ob Rieke wohl das Opfer höher anschlagen dürfte,
das sie brachte; aber es geschah ja nicht, um Lob und Dank zu ernten,
sondern um Liebe zu erweisen.

„Wenn ich bleiben will, muß ich gleich telegraphieren und daheim
anfragen, ob es den Eltern recht ist, denn sie erwarten mich ja heute
abend.“

„Soll ich aufs Postamt und das Telegramm besorgen?“ fragte Rieke, die
doch sonst um keinen Preis vom Kochen wegging, nun auf einmal sehr
dienstfertig.

„Bleiben Sie nur in der Küche und sehen Sie manchmal nach den Kleinen,
ich finde schon den Weg zur Post,“ antwortete Gretchen. Mit schwerem
Herzen setzte sie auf einem Papier das Telegramm an ihre Eltern auf:
„Soll ich hier bleiben? Oskar krank, Kinderfrau kann nicht kommen.“

Auf dem Weg zum Postamt dachte sich Gretchen aus, wie herrlich es wäre,
wenn nun die Eltern zurücktelegraphieren würden: „Nein, komme sofort!“
und es schien ihr gar nicht so unwahrscheinlich, daß solch ein Bescheid
kommen würde, denn ihre Eltern mußten ja wissen, wie sehnlich sie
wünschte, Weihnachten daheim zu feiern. Mit Gretchens Nächstenliebe war
es noch nicht ganz so bestellt, wie es sein sollte, sonst hätte sie eine
andere Antwort von den Eltern gewünscht. Sie fühlte das selbst, und als
sie auf die Post kam, änderte sie mit großer Selbstüberwindung den
Wortlaut des Telegramms. Es hieß nun nicht mehr: „_Soll_ ich,“ sondern:
„_Darf_ ich hier bleiben?“ und sie wußte, daß nun das „Ja“ viel
wahrscheinlicher war.

Das Telegramm war abgefertigt, Gretchen machte sich auf den Rückweg. Sie
war kaum einige Schritte weit gegangen, als sie zwischen den Menschen,
die vor ihr hergingen, einen gelben Samthut auftauchen sah. Sofort
erkannte sie unter demselben ihre Reisegefährtin wieder, die kleine,
dicke Dame, die ihr Spanisch gelehrt hatte. Gretchen hatte manchmal an
diese eigentümliche Reisebekanntschaft gedacht, und nun beschleunigte
sie ihre Schritte, um die Fremde einzuholen. Als sie dicht hinter
derselben war, sagte sie halblaut vor sich hin: „Nicht Cordōva, sondern
Córdova.“ Wie wenn sie bei Namen gerufen wäre, so rasch wandte sich die
Dame um und ging sofort mit freundlichem Gruß auf Gretchens Scherz ein.

Fräulein Trölopp sah heute auch nicht viel anmutiger aus als auf der
Reise, und ihre Kleidung war fast noch auffallender als damals. Sie
erkundigte sich aber sehr teilnehmend nach dem Ergehen ihrer jungen
Reisegefährtin, und da sie ein weites Stück den gleichen Weg hatten und
es Gretchen wohl tat, von dem zu sprechen, was ihr Herz bewegte, so
erzählte sie ganz ausführlich, weshalb sie hier sei, was sie bei ihren
Verwandten erlebt habe und zuletzt die Ereignisse des heutigen Tages.
Fräulein Trölopp warf manche Frage dazwischen, sie wollte alles ganz
genau wissen.

„Aber liebes Kind,“ sagte sie nun, „das ist alles ganz verkehrt gemacht
worden, und ich begreife Ihren Onkel nicht. Wie kann denn Ihre Tante
oben in dem Fremdenzimmer, getrennt von der Küche und allen
Bequemlichkeiten, zwei Kranke pflegen? Wie soll denn das arme Frauchen
das aushalten? Und wozu nützt diese Art Absperrung? Der Verkehr zwischen
oben und unten ist doch nicht vollständig abgeschnitten, das
Dienstmädchen trägt alles herauf und hinunter, die Kleinen können jeden
Tag angesteckt werden; es ist alles ganz verkehrt!“

Gretchen war sehr erstaunt über diese Rede. Sie konnte nicht fassen, wie
Fräulein Trölopp sich diese Verhältnisse so klar und richtig vorstellen
konnte, wie wenn sie die ganze Hauseinrichtung und die Bewohner längst
gekannt hätte. „Uns tut die Tante auch schrecklich leid,“ sagte
Gretchen, „aber wie hätten wir das anders einrichten können?“

„Wie? Vor allen Dingen sagen Sie mir, warum sind Sie denn nicht zu mir
gekommen? Haben Sie vergessen, daß ich im ‚Europäischen Hof‘ wohne?“

„Nein, aber ich wollte doch jetzt keine Singstunden oder spanische
Stunden.“

„Törichtes Kind, wer spricht von Stunden? Sie wußten, daß ich frei über
meine Zeit verfüge, und hätten mich zur Hilfe bitten sollen.“

„Das hätte ich mir nicht getraut; ich glaubte, Sie seien Lehrerin?“

„Freilich bin ich Lehrerin, aber vor allem bin ich ein Mensch, der gern
etwas Nützliches tut. Singen oder kehren, spanisch lehren oder kochen,
das gilt mir ganz gleich, wenn es nur gerade im Augenblick nützlich
ist.“

„Aber,“ sagte Gretchen ehrlich, „wir kennen Sie ja gar nicht.“

„Das ist richtig, aber deshalb habe ich Ihnen schon in der Bahn gesagt,
daß mich General X. empfiehlt. Haben Sie es Ihrem Onkel nicht erzählt?“

„Alles habe ich ihm erzählt, nur den General habe ich vergessen.“

„Dann haben Sie das Wichtigste vergessen. Wenn man, wie ich hier, ganz
fremd und überdies von der Natur so ausgestattet ist, daß man mehr einem
Frosch als einem Menschen gleicht, dann braucht man schon die Empfehlung
einer Exzellenz! Aber nun hören Sie, wie das gemacht werden muß. Sie
sprechen jetzt gleich mit Ihrem Onkel, sagen ihm, daß ich morgen zu ihm
komme und sein ganzes Hauswesen übernehme, und zwar muß das so
eingerichtet werden: die zwei jüngsten Kinder müssen sofort aus dem
Haus, die nehmen Sie mit heim zu Ihren Eltern, morgen mit dem
Nachmittags-Schnellzug. Ihre Eltern sind gesund, nicht wahr?“

„Ja, aber –“

„Gut; sobald Sie mit den Kindern abgereist sind, zieht Ihre Tante
herunter aus ihrer Verbannung; die zwei Kranken trage ich in Decken
gehüllt herunter, das schadet ihnen nicht im geringsten. Ich helfe die
Kranken pflegen und pflege zugleich das arme Frauchen, denn das kenne
ich schon: die _Kinder_ sind nach einem Vierteljahr wieder auf dem Damm,
aber die _Mütter_, die bringt man schwer in die Höhe, wenn sie erst
einmal recht drunten sind! Dem Dienstmädchen werde ich das Kochen für
die Kranken abnehmen, denn es war die letzten Wochen überarbeitet, dann
werden sie mürrisch und kündigen zur Unzeit; das können wir nicht
brauchen. Und nun sagen Sie mir, welchen Beruf hat Ihr Onkel?“

„Er ist Künstler, Landschaftsmaler.“

„Künstler, so, nun ja. Sagen Sie ihm, daß ich keinen Anspruch auf Gehalt
mache; ich bin froh, wenn ich nicht länger unnütz dasitze! So wäre die
Sache besprochen, nicht wahr?“

„Ja,“ sagte Gretchen, „und mir käme es herrlich vor; aber bis morgen
geht es doch wohl nimmer, ich muß erst an die Eltern schreiben, ob ich
die Kleinen bringen darf.“

„Schreiben? Wie umständlich! Wir telephonieren und telegraphieren, und
bis Abend ist alles im reinen. Ist das Ihres Onkels Haus?“ fragte
Fräulein Trölopp, als Gretchen stehen blieb.

„Ja, da wohnen wir, und wollen Sie nicht lieber gleich mit heraufkommen
und den Onkel selbst sprechen?“

„Bewahre, Kind, so geht das nicht; zuerst muß die Exzellenz, General X.,
noch wirken. Brächten Sie mich jetzt so unangemeldet vor Ihren Onkel, so
würde er sagen: Was bringst du mir da für eine fremdländische Kröte ins
Haus!“

„O nein!“ rief Gretchen, „Sie sind so gut, das merkt man gleich.“

„Also Kind, merken Sie wohl auf: Um zwölf Uhr trifft Ihr Onkel General
X., um zwei Uhr bin ich im ‚Europäischen Hof‘ zu sprechen, morgen früh
um acht Uhr komme ich zu Ihnen. Auf Wiedersehen!“ Der gelbe Samthut
verschwand.

Gretchen war wie in einem Traum, die schönsten Hoffnungen zogen durch
ihr Gemüt. _Doch_ noch zum heiligen Abend heimkommen, die zwei herzigen
Kleinen mitnehmen, die Tante aufs beste versorgt wissen, den Onkel mit
„Susi“ vereinigt, Rieke entlastet, alles so herrlich, daß es kaum wahr
werden konnte. Wenn Onkel und Tante nur auch einwilligten, ihre
abenteuerliche Reisebekanntschaft zu sich zu nehmen! Wenn diese nur
nicht gar so wunderlich aussähe!

Herr van der Bolten war, seit er Oskar krank hinaufgetragen hatte, nicht
wieder heruntergekommen. Er konnte sich nicht so schnell wieder von Frau
und Kind trennen. Ungeduldig erwartete ihn Gretchen, und als sie ihn
endlich herunterkommen hörte, nahm sie ihn gleich mit ihren Neuigkeiten
in Beschlag: zuerst die Hiobspost, daß die Kinderfrau abgesagt habe,
dann ihren Entschluß an die Eltern zu telegraphieren, die Begegnung mit
Fräulein Trölopp und deren Vorschläge.

Gretchen vermutete, daß Onkel und Tante sich ungern zur Aufnahme einer
ihnen ganz fremden Dame entschließen würden und so sagte sie zu deren
Gunsten, was sie nur irgend konnte. Herr van der Bolten unterbrach sie
in ihrem Eifer: „Was braucht es da noch viel Worte und Überlegung, wenn
du meinst, daß deine Eltern unsere Kleinen aufnehmen? Dein Fräulein
nehme ich natürlich mit tausend Freuden an, damit Susi wieder
herunterkommen kann.“

Gretchen war freudig überrascht. „So gehst du zu General X.?“ fragte
sie. „Wozu soll ich erst noch zu dem General gehen? Wenn mir jemand
sagt: ‚ich komme euch zur Hilfe, und noch dazu umsonst,‘ dann antworte
ich: ‚je eher, je lieber.‘“ „Aber Onkel, eines muß ich dir doch sagen,
Fräulein Trölopp sieht anders aus, als du sie dir vorstellst, sie ist
gar nicht schön.“

„Ich muß sie ja nicht malen,“ war die heitere Antwort.

Gretchen war hoch beglückt, daß ihr Onkel ohne jegliche Bedenken auf den
Plan einging, aber weil er sich die Sache gar nicht weiter überlegte,
kam es ihr vor, als hätte _sie_ dann die ganze Verantwortung. „Onkel,“
sagte sie, „wollen wir nicht die Tante vorher fragen?“

„Ja freilich, da hast du recht, das soll gleich geschehen.“

Um zwölf Uhr war Herr van der Bolten auf dem Weg zu General X. Seine
Frau hatte doch allerlei Bedenken vorgebracht gegen Gretchens
Reisebekanntschaft und wollte sicher gehen. Gretchen war äußerst
gespannt auf das Resultat der Unterredung. Herr van der Bolten blieb
lang aus, Rieke brummte. Sie ahnte nicht, daß die Sache, die ihren Herrn
abhielt, rechtzeitig zum Essen zu kommen, sie so nahe anging. Endlich
ertönte das wohlbekannte dreimalige Glockenzeichen. Gretchen war es
ordentlich bang, da die Entscheidung nahte. Rudi und Betty sprangen
ihrem Vater entgegen. „Papa, wir haben so lange gewartet und wollten
nicht ohne dich essen, du kommst so spät!“

„So?“ sagte Herr van der Bolten und hob seine Kleinste zärtlich auf
seine Arme. „Habt ihr hungern müssen? Da geht ihr lieber zu Papa
Reinwald, der kommt pünktlich zum Essen, wollt ihr zu ihm, gleich
morgen?“

Die Kinder wußten nicht, was sie von dieser Frage halten sollten, aber
Gretchen verstand. „O Onkel,“ rief sie, „wird denn etwas daraus? Ich
vergehe ja vor Ungeduld! Was hat denn der General gesagt?“

„Nur Gutes, Gretchen. Er meinte, wir könnten uns gratulieren, wenn sie
zu uns käme. Die Dame hat sich in den verschiedensten Stellen in
Südamerika glänzend bewährt. Sie ist in den vornehmsten Häusern mit
Tausenden von Dollars bezahlt worden und hat ebenso bei den Ärmsten
freiwillig ausgeholfen und die Tausende in ihren Hütten gelassen. Sie
soll ein praktisches Genie sein, von großartigen Anlagen des Geistes und
Gemütes. Nur das Äußere muß allerdings ganz zu kurz gekommen sein, auch
der Geschmack für die Kleidung. Aber was kümmert uns das?“

„Also willst du sie bitten, Onkel?“

„Natürlich, fußfällig wenn es sein muß! Aber Gretchen, das wichtigste
ist jetzt, wie wir uns die Erlaubnis deiner Eltern verschaffen, ihnen
diese kleinen Rangen zu bringen?“

„O, da bemühe du dich gar nicht mit, Onkel! Wenn du zu Fräulein Trölopp
gehst, so sagt sie dir gleich, wie und wo wir telephonieren müssen, sie
nimmt alles in die Hand!“

Noch am Mittagstisch erhielt Gretchen ein Antwort-Telegramm auf ihre
Anfrage, ob sie bleiben dürfe: „Ausharren so lange als nötig!“

Rieke, die von den neuesten Plänen nichts wußte, war die einzige, die
noch mit Spannung auf den Inhalt dieses Telegramms wartete. Gretchen sah
ihr an, daß sie nur ungern aus dem Zimmer ging, ehe es gelesen war,
deshalb sandte sie bald darnach Rudi vom Tisch weg in die Küche, wo er
ganz nett seinen Auftrag ausrichtete: „Rieke, du darfst am Christfest in
die Kirche und am Feiertag spazieren gehen.“ Und Riekes Antwort? „Es
seien noch Orangen in der Speiskammer, ob sie die nicht zum Nachtisch
bringen dürfe, Fräulein Gretchen habe noch nie etwas Gutes bekommen!“

Während Gretchen in dem festen Vertrauen, daß Fräulein Trölopp alles ins
reine bringen werde, seelenvergnügt ihrer Abreise entgegensah, herrschte
in ihrem Elternhause trübe Stimmung. „Wollen wir denn den Christbaum
putzen, wenn doch unser Kind nicht zum Fest kommt?“ fragte Frau Reinwald
ihren Mann.

„Putze ihn immerhin, vielleicht kommt sie bis Neujahr und freut sich
dann noch daran.“

„Ich denke mir, daß sie am heiligen Abend recht Heimweh bekommt.“

„Ich hätte es auch gedacht, doch heißt es in ihrem Telegramm: ‚_darf_
ich bleiben‘, so scheint sie sich doch der Verlängerung zu freuen.“

Frau Reinwald schüttelte den Kopf. „Es heißt allerdings so, aber doch
glaube ich, daß sie sich von ganzem Herzen sehnt, Weihnachten mit uns zu
feiern.“

Franziska trat ins Zimmer und meldete Herrn Reinwald: „Der Hausherr läßt
sagen, daß jemand aus N. am Telephon nach Ihnen fragt.“

„Das wird Gretchen betreffen,“ sagte Herr Reinwald und ging hinunter zum
Hausherrn.

Am Telephon in N. stand Fräulein Trölopp; sie war es, die Herrn Reinwald
zu sprechen wünschte.

„Ich soll im Auftrag Ihrer Verwandten fragen, ob Gretchen morgen mit
Rudi und Betty zu Ihnen kommen dürfe?“

Herr Reinwald war sehr überrascht.

„Gretchen hat heute morgen angefragt, ob sie länger bleiben dürfe, und
ich habe mich damit einverstanden erklärt.“

„Wohl, aber inzwischen wurde es anders beschlossen. Die Kleinen müssen
aus dem Haus. Können Sie dieselben aufnehmen?“

„Für wie lange?“

„Für einige Wochen.“

„Die Kleinen sind vielleicht schon angesteckt, dann bekommen wir die
Bescherung ins Haus!“

„Möglich, aber nicht wahrscheinlich.“

„Bitte, wer sind Sie eigentlich?“

„Sara Trölopp, neunundvierzig Jahre alt, ledig, Ersatz für die erkrankte
Kinderfrau.“

„Danke; ich werde mit meiner Frau sprechen, in drei Minuten bin ich
wieder hier.“

Nach kurzer Frist wurde das Gespräch wieder aufgenommen.

„Meiner Frau sind die kleinen Gäste von Herzen willkommen, auch auf die
Gefahr hin, daß sie vielleicht hier ihren Scharlach durchmachen müssen.
Sie will gern ihrer Schwester etwas abnehmen.“

„Das ist nur natürlich. Ihre Tochter wird also nachmittags drei Uhr mit
den Kleinen hier abreisen.“ – –

Gretchen war in der glücklichsten Stimmung, und diese teilte sich auch
den Kindern mit. Alle drei konnten kaum einschlafen vor Freude. Auch
Rieke zeigte sich einverstanden mit den neuesten Plänen, doch sagte sie
vorsichtig: „Es kommt erst noch darauf an, was das für eine Dame ist,
denn es gibt solche, die sind nicht einmal so viel wert wie Fräulein
Gretchen, an die man nun doch schon gewöhnt war.“ Aus Riekes Mund mußte
Gretchen das schon als Lobspruch betrachten.

Am nächsten Morgen erschien Fräulein Trölopp frühzeitig auf ihrem
Posten. Sie schien alles von selbst zu wissen. „Wir packen zuerst der
Kinder Reisegepäck,“ sagte sie, „damit heute nachmittag nichts fehlt,
und dann richten wir das große Zimmer als Krankenzimmer ein.“ Gretchen
war voll Eifer und ging Fräulein Trölopp in allem zur Hand. Als es aber
galt, schwere Möbel teils anders zu stellen, teils aus dem Zimmer zu
schaffen, mußte Rieke helfen. Manche Anordnung wollte Rieke nicht
passen, aber Fräulein Trölopp schien ihr Widerstreben nicht zu bemerken.
Allmählich machte Rieke ein ganz böses Gesicht und schien manchen
Befehl, den ihr Fräulein Trölopp ganz ungeniert erteilte, zu überhören.
Plötzlich hielt Fräulein Trölopp inne, stellte sich vor Rieke und frug:
„Wie alt sind Sie?“

„In den Zwanzigern,“ entgegnete Rieke mürrisch.

„Und ich bin bald fünfzig. Sie dienen vielleicht seit zehn Jahren und
ich seit dreißig. Da ist’s klar, daß _ich_ befehle und _Sie_ gehorchen.
Sie werden auch einmal fünfzig und stehen dann über der zwanzigjährigen,
wenn Sie nämlich tüchtig sind. Ich will nun alles so einrichten, wie es
für die kranken Kinder und ihre Mutter am besten ist, und ich habe da
meine Erfahrungen. Wir dürfen jetzt nicht an uns denken, sondern bloß an
die Familie. Wenn alles in gutem Gang ist, dann erst kommen wir an die
Reihe. Wenn ich für die Kranken gesorgt habe, dann werde ich auch für
Sie sorgen. Ich werde sorgen, daß Sie ausgehen können, werde Ihnen
behilflich sein, Ihre Kleider in stand zu setzen und für Ihre
Extraleistungen werde ich Ihnen ein Geschenk vermitteln. Zuerst aber
müssen Sie mir Ihren ganzen guten Willen, Ihre volle Kraft zur Verfügung
stellen. Wir zwei müssen zusammenhalten. Unnützes werde ich nicht
verlangen. Packen Sie an, das Sofa muß hinaus, Polstermöbel taugen nicht
ins Krankenzimmer!“ und Rieke packte fest an, sie fügte sich dem starken
Willen, sie fühlte: da gab es kein Widerstreben.

Bei dem ersten gemeinschaftlichen Mittagsmahl mit Fräulein Trölopp
schien Herr van der Bolten etwas gestört. Für sein Künstlerauge war die
neue Tischgenossin kein Labsal. Sie saß an dem Platz, den sonst seine
feine liebliche Gattin einnahm. Er war schweigsamer als sonst und
vermied, Fräulein Trölopp anzusehen. Fühlte sie es, oder war es Zufall,
daß sie zu Herrn van der Bolten sagte: „Morgen mittag wird schon Ihre
Frau Gemahlin an meinem Platz sitzen, und ich werde über Mittag bei den
Kranken bleiben, damit Sie beide Ruhe haben während des Essens, es wird
Ihnen gut tun.“ Da leuchtete Herrn van der Boltens Gesicht hell auf, mit
dankbarem Blick erwiderte er die guten Worte, bot Fräulein Trölopp die
Platte und sagte: „Sorgen Sie auch für sich selbst, nicht nur für
andere!“

Am heiligen Abend, als es schon dunkelte und da und dort in den Häusern
die ersten Christbäume angezündet wurden, kam unser Gretchen mit ihren
zwei Pflegbefohlenen fröhlich und wohlbehalten zu Hause an. Sie hatte ja
schon ganz darauf verzichtet gehabt, Weihnachten daheim feiern zu
dürfen, und nun sollte es zu Hause eine schönere Feier geben als je,
durch die kleinen Gäste, die sie mitbrachte. Frau Reinwald, die tags
vorher gar nicht an eine Bescherung denken mochte, hatte nun einen
größeren Tisch zu decken als sonst, und tat es voll Vergnügen.

Das kleine Pärchen fühlte sich gleich ganz wie zu Hause, Gretchen war
ihnen ja vertraut und die Tante so ähnlich der Mutter, und wie hätte man
Heimweh bekommen können in einem Haus, wo man gleich von dem brennenden
Christbaum begrüßt wird?

Ja, das war ein glücklicher Abend, und als die Kleinen zur Ruhe gebracht
waren und Gretchen allein mit den Eltern blieb, durfte sie von all ihren
Erlebnissen berichten. Auch Oskar kam an die Reihe. „Mit ihm konnte ich
nicht fertig werden,“ schloß Gretchen, nachdem sie erzählt, wie er sie
in Schrecken versetzt und zum Nachgeben gezwungen hatte mit seiner
Drohung, sich durchs Fenster zu stürzen.

„Ja, einem solch leidenschaftlichen Knaben bist du noch nicht
gewachsen,“ sagte Frau Reinwald. „Aber auch die eigenen Eltern können
doch nichts machen, wenn ein Kind so unbändig ist!“ meinte Gretchen.

„Oho, das wäre schlimm!“ entgegnete ihr der Vater.

„Man kann es aber doch nicht darauf ankommen lassen, ob er wirklich zum
Fenster hinausspringt oder nicht, oder hätte ich nicht nachgeben
sollen?“ fragte Gretchen.

„Doch, im Augenblick konntest du nicht anders handeln, und auch ich
hätte ihm wohl zunächst den Willen getan, damit er seinen gefährlichen
Posten verlasse. Aber dann hätte ich ihm gesagt, wie unrecht dies
Ertrotzen ist, und hätte ihn dafür so durchgeprügelt, daß er es nicht
zum zweitenmal versucht hätte.“

„Aber so etwas kann ein Mädchen in deinem Alter nicht tun,“ fügte Frau
Reinwald hinzu, „und darum ist’s diesem jungen Hausmütterchen auch so
wohl, daß es seine Würde ablegen und wieder selbst Kind sein darf, statt
andere Kinder zu erziehen.“

Ja, Gretchen war es leicht und wohl zumute, heute und in den folgenden
Tagen. Die ganze Verantwortung für die Kinder übernahm die Mutter, und
für sie blieb die ungetrübte Freude an den herzigen Kleinen. Aus N.
kamen fleißig Nachrichten; die beiden Knaben waren ernstlich krank, aber
ihre Mutter konnte wieder aufatmen, und die ganze Haushaltung ging ihren
geordneten Gang. Dies hörte Gretchen immer wieder mit besonderer
Befriedigung und sagte mit Stolz: „Wenn ich auch sonst nicht viel
geleistet habe, so habe ich doch Fräulein Trölopp entdeckt!“



                            Zehntes Kapitel.
                            Heimlichkeiten.


Am 7. Januar begann die Schule wieder, aber in jeder Klasse fehlten
Schülerinnen, und auch die Lehrerinnen konnten nicht alle zu rechter
Zeit mit dem Unterricht beginnen, denn es gab überall viele Kranke; das
ganze Land hatte unter einem nassen, ungesunden Winter zu leiden.

Als Gretchen und Hermine am ersten Schultag in der Freizeit die Treppe
hinuntersprangen, um sich, wie sie manchmal taten, eine Brezel zu
kaufen, sahen sie unter der Schultüre eine fremde Erscheinung, ein
hübsches, fein gekleidetes Fräulein, das fast noch zu jung aussah für
eine Lehrerin. „Bitte, wie lange dauert die Freizeit?“ redete das
Fräulein die beiden Mädchen an.

„Eine Viertelstunde.“

„Kann ich wohl in dieser Zeit bis zur Ringstraße kommen und wieder
zurück? Ich bin hier noch fremd und weiß die Entfernung nicht so genau
zu bemessen.“ Gretchen und Hermine meinten, die Ringstraße sei zu weit
entfernt. „Ich fürchte es auch,“ sagte das Fräulein, „doch wäre ich
gerne rasch in meine Wohnung gegangen, um mir ein Stückchen Brot zu
holen. Ich wußte gar nicht, daß das Unterrichten so Hunger macht, ich
habe heute zum erstenmal in einer Klasse unterrichtet.“

„Man kann hier unten Brot und sonst noch allerlei kaufen,“ sagte
Gretchen, und Hermine fügte freundlich hinzu: „Wir wollen es Ihnen
zeigen.“ „Sie sind sehr gütig,“ sagte das Fräulein, „und wenn man so
fremd ist, tut einem jedes freundliche Wort wohl.“ Die drei gingen nun
miteinander die Treppe hinunter, das Fräulein voran. Sie war eine
vornehme und dabei auch liebliche Erscheinung; ihre Bewegungen, sowie
auch ihre reine Sprache zeigten, daß sie aus feinem Hause stammte. Von
den beiden Freundinnen wurde sie nun in den untern Stock geleitet, wo um
diese Zeit mancherlei zur Stärkung und Erquickung bereit stand und von
einem jungen Mädchen verabreicht wurde.

„Hier kann man alles kaufen, was man braucht,“ sagte Gretchen. Das
Fräulein griff in ihre Tasche, aber sie zog die Hand leer heraus. „Ach,“
sagte sie, „das ist ärgerlich, ich habe meine Geldbörse daheim gelassen,
so muß ich auf das Einkaufen wohl verzichten.“ Hermine hatte Geld bei
sich, sie wagte aber nicht, es anzubieten. Hinter dem Rücken des
Fräuleins zeigte sie es Gretchen. Diese war nicht so schüchtern. „Meine
Freundin hat Geld bei sich und leiht es Ihnen gern,“ sagte sie.

„Nein, bitte, ich möchte unsere Bekanntschaft nicht gleich so prosaisch
zum Geldentlehnen ausbeuten, auch habe ich nur noch _eine_ Stunde zu
geben, so lange kann ich warten.“ Hermine drängte nun unter schüchternem
Erröten und freute sich, als das Fräulein endlich nachgab und etwas aus
dem Beutelchen nahm, das ihr Hermine darbot. Sie machte ihren Einkauf
und fragte dann: „Gehen wir noch ein wenig miteinander in den Gängen
spazieren?“ Die beiden Mädchen fühlten sich geehrt, daß die junge
Lehrerin sich zu ihnen gesellte, und wandelten mit ihr durch die Gänge.
Sie erfuhren nun, daß ihre neue Bekannte Fräulein Geldern hieß und als
Aushilfslehrerin angestellt sei für die erkrankte Lehrerin der dritten
Klasse, zu der auch Herminens Schwester, Mathilde, und die kleine Ruth
gehörten. Als das Zeichen gegeben wurde für den Wiederbeginn der
Klassen, schied Fräulein Geldern mit dem Gruß: „Auf Wiedersehen, meine
lieben, jungen Freundinnen!“

„Sie ist ganz reizend, ja entzückend!“ sagten Gretchen und Hermine
zusammen und freuten sich schon auf das nächste Zusammentreffen. „Wie
gut, daß du ihr etwas leihen konntest,“ sagte Gretchen, „das wird sie
dir morgen zurückgeben und bei dieser Gelegenheit sprechen wir sie
wieder.“

Fräulein Geldern kam auch wirklich am nächsten Tag während der Freizeit
gleich auf ihre jungen Freundinnen zu; sie erwähnte zwar das Geld nicht,
aber Hermine war weit entfernt, es übel zu nehmen, daß sie diese
Kleinigkeit zu vergessen schien; im Gegenteil freuten sie und Gretchen
sich um so mehr, daß Fräulein Geldern auch ohne äußern Anlaß zu ihnen
kam und mit ihnen verkehrte wie mit ihresgleichen.

Gretchen erzählte den Eltern von der neuen Bekannten. „Sie scheint noch
sehr jung zu sein nach deiner Beschreibung,“ sagte Frau Reinwald,
„deshalb fühlt sie sich wohl zu euch mehr hingezogen, als zu den andern
Lehrerinnen, die ihr natürlicher Umgang wären, aber freilich alle schon
älter sind.“

Das Schulleben hatte für Gretchen und Hermine einen neuen Reiz gewonnen
durch die tägliche Begegnung mit Fräulein Geldern. Sie waren glücklich,
so oft sie mit ihr zusammentrafen, und beneideten die Kleinen, die
täglich in der Klasse mit ihrer schönen Freundin beisammen waren. Eines
Morgens nahm Hermine Gretchen beiseite und sagte geheimnisvoll zu ihr:
„Ich habe etwas erfahren über ‚sie‘, was eigentlich niemand wissen darf;
meine Schwester Mathilde hat es verraten. Denke dir, in der
Arbeitsstunde hat sie den Kindern ganz rührend erzählt von einer Armen,
die gar nichts zu essen habe, kein Stückchen Brot. Sie hat eine Tasche
an den Kleiderrechen gehängt, in diese dürfen nun die Kinder alle Tage
‚opfern‘. Die meisten von ihnen legen die Hälfte von ihrem Brot oder was
sie sonst haben, hinein. Sie dürfen es aber niemand erzählen, denn sie
sagt: die rechte Hand dürfe nicht wissen, was die linke tut. Sie nimmt
alle Tage die volle Tasche mit sich und bringt den Inhalt der Armen. Ist
sie nicht eine gute Seele?“

„Ja,“ sagte Gretchen, „aber ich möchte doch wissen, ob es Fräulein von
Zimmern recht wäre, wenn sie hörte, daß die Kinder das heimlich tun und
zu Hause nichts davon sagen sollen.“

„Aber Gretchen, _Gutes_ darf man doch heimlich tun, man _soll_ ja doch
gar nicht darüber reden!“

„Ja, das ist wahr. Ich kann’s nur nicht leiden, das Heimliche; ich weiß
selbst nicht, warum. Aber natürlich ist’s recht, wenn _sie_ es tut.“

An diesem Tag und am folgenden bekamen unsere Freundinnen die junge
Lehrerin nicht zu sehen. Voll Verlangen gingen sie am dritten Tag in der
Freistunde hinunter und suchten Herminens Schwester auf. „Wo ist
Fräulein Geldern?“ fragten sie. „Ich weiß nicht gewiß,“ antwortete
Mathilde, „ich denke aber, sie ist droben in der Kammer, wo die
Handarbeiten aufgehoben werden, sie trägt sie in den letzten Tagen immer
selbst hinauf.“

„Wir wollen sie droben suchen,“ sagte Gretchen und ging mit Hermine
hinauf bis in die Kammer. Die Türe war zu. „Sollen wir anklopfen?“
fragte Hermine. Gretchen lachte. „An der Kammertüre klopft man doch
nicht! Man hört ja auch nichts, wenn die Kinder alle so auf den Treppen
herumpoltern.“ Sie öffnete die Türe.

Vorn, am Fenster, stand Fräulein Geldern und hatte vor sich auf dem
Gesimse eine offene Tasche mit großen und kleinen Stücken Brot aller
Art, und eines von diesen Stücken war eben auf dem Weg von der Hand in
den Mund. Das Fräulein fuhr zusammen beim Anblick der Eintretenden, die
sie nicht augenblicklich gehört hatte, das Brot fiel ihr aus der Hand
und tiefe Röte ergoß sich über ihr ganzes Gesicht. Gretchen und Hermine
waren starr vor Staunen und blieben in ratloser Verlegenheit stehen.

Gretchen faßte sich zuerst, leise sagte sie zu Hermine: „Komm, wir
gehen!“ Aber das brachte Fräulein Geldern zu sich. Sie eilte auf die
Mädchen zu: „Bitte,“ rief sie, „gehen Sie nicht fort, ich bin verloren,
wenn Sie mich verraten! Ich wollte Ihnen ja längst alles sagen, aber ich
hatte den Mut nicht. Jetzt, wo Sie mein Elend entdeckt haben, muß ich
Ihnen alles anvertrauen. Machen Sie die Türe zu, daß uns niemand hört
und versprechen Sie mir, daß Sie keiner Seele etwas sagen von meinem
Unglück!“ Die beiden Mädchen versprachen es.

„Sie haben entdeckt, daß ich geschenktes Brot esse. Die Kinder brachten
es mir für eine Arme. Ach, ich bin selbst die Arme! Diese geschenkten
Brocken waren in den letzten Tagen fast meine einzige Nahrung, ich habe
kein warmes Essen mehr gehabt; o, ich kann Ihnen nicht sagen, wie ich
verlange nach einem Teller Suppe, einem Stück Fleisch! Es ist ja viel,
was mir die guten Kinder bringen, aber ich war so ganz anders von zu
Hause gewöhnt!“ Bitterlich schluchzte die Unglückliche. Die Mädchen
waren sehr ergriffen.

„Haben Sie denn keine Eltern mehr?“ fragte Gretchen. Ausweichend
antwortete Fräulein Geldern: „Fragen Sie nicht nach meiner Familie, ich
kann darüber nicht sprechen, ich kann Ihnen nur sagen: Kein Mensch
unterstützt mich, ich bin ganz allein auf meinen Verdienst angewiesen
und habe keine andere Einnahme als das, was ich für die Stunden in
diesem Institut erhalte. Am 1. Februar bekomme ich mein erstes Honorar,
bis dahin habe ich nichts, rein nichts!“

„Fräulein von Zimmern würde es Ihnen gewiß gern vorausbezahlen,“ wandte
Hermine schüchtern ein.

„Ich mag sie nicht darum bitten.“

„Ich will für Sie bitten,“ rief Gretchen eifrig.

„Nein, nein, Fräulein von Zimmern würde Sie ausfragen und sie darf
nichts, gar nichts von meiner Lage erfahren, sie würde mir sonst den
Abschied geben. Vergessen Sie nicht, daß Sie mir versprochen haben,
keinem Menschen ein Wort von all dem mitzuteilen.“

„Aber,“ wandte Gretchen ein, „wir könnten Ihnen viel besser helfen, wenn
wir es wenigstens meiner Mutter sagen dürften.“

„Sie können mir gewiß auch ohne Wissen Ihrer Eltern helfen, Sie tun ja
nur ein gutes Werk. Ich traue auf Ihre Hilfe und auf Ihre
Verschwiegenheit, meine lieben, jungen Freundinnen!“

Das Zeichen für den Wiederbeginn der Stunden war schon gegeben worden.
Ganz erregt kamen Gretchen und Hermine in ihre Klasse, sie hatten Mühe,
ihre Aufmerksamkeit dem Unterricht zuzuwenden. Beide hatten nach Schluß
der Stunde das Bedürfnis, allein miteinander zu sprechen. Die
Mitschülerinnen fingen an, ungehalten über sie zu werden. Ottilie
spottete: „Ihr beide seid ganz ungenießbar, seit ihr so für Fräulein
Geldern schwärmt. Ich möchte nur wissen, was ihr eigentlich mit ihr
habt?“ Aber nicht nur die Kamerädinnen waren unzufrieden. Als Gretchen
und Hermine die Treppe herunterkamen, wurden sie in das Zimmer der
Vorsteherin gerufen. „Ich habe bemerkt,“ sprach diese, „daß ihr euch von
den andern absondert. Wo wart ihr in der Freizeit?“

„Wir waren in der großen Kammer,“ sagte Gretchen.

„Ganz allein? Nein? Mit wem? Warum laßt ihr mich so lange fragen?“

Gretchen und Hermine mußten nun Fräulein Geldern nennen, und sie wurden
von Fräulein von Zimmern recht ungnädig und mit der bestimmten Weisung
entlassen, künftig ihre Freizeit mit den Kamerädinnen zuzubringen und
sich nicht abzusondern.

Auf dem Heimweg von der Schule konnten Gretchen und Hermine endlich
ungestört besprechen, was sie beide ganz erfüllte. Sie wollten so gerne
dem armen Fräulein aus ihrer Not helfen, aber wie sollten sie das tun
ohne Wissen der Eltern?

„Wenn sie doch nicht verlangte, daß wir es geheim halten,“ rief
Gretchen, „es ist doch keine Schande, arm zu sein. Warum erzählt sie es
nicht Fräulein von Zimmern und warum dürfen wir nicht zu Hause für sie
bitten?“

„Ich weiß es auch nicht, aber ich denke, es steckt ein großes Geheimnis
dahinter; sie will ja auch uns nichts über ihre Familie sagen. Sie ist
im Unglück und natürlich unverschuldet. Ach, wie hat sie mich gedauert,
wie sie so die geschenkten Brocken aß. Gretchen, wir _müssen_ helfen!“

„Heimlich?“

„Ja heimlich, wenn’s nicht anders geht.“

„Ich muß immer denken, das ist unrecht.“

„Aber Gretchen, ich begreife dich gar nicht, es ist doch nicht unrecht,
wenn wir einer Armen Gutes tun, ohne daß es unsere Eltern wissen!“

„Doch, ich meine, es ist unrecht.“

„Warum denn aber?“

„Ich weiß nicht warum, so etwas spürt man bloß.“ Hermine wurde
nachdenklich. Eine Weile waren die Freundinnen still nebeneinander
hergegangen, da rief Gretchen: „O, ich weiß etwas. Wir fragen in der
nächsten Stunde unsern Pfarrer, ob man heimlich Gutes tun darf!“

„Schriftlich, meinst du? Ohne Unterschrift?“

„Ja natürlich, dann kann er unmöglich etwas von dem Geheimnis erraten.“
Hermine war damit einverstanden; gleich am nächsten Tag sollte die
Freundin zu ihr kommen, und dann wollten sie den Wortlaut des Zettels
beraten, der an Pfarrer Kern geschickt werden sollte.

„Aber bis zu dem Tag, wo wir die Stunde haben und Antwort auf unsere
Frage bekommen, bis dahin können wir Fräulein Geldern nicht hungern
lassen.“ „Nein, so lang will auch ich ihr heimlich helfen,“ versprach
Gretchen, „aber wie?“ Das Ende der Beratung, die nun folgte, war: daß
die beiden Freundinnen am Nachmittag aus ihrer Sparkasse gemeinsam einen
Einkauf machten und heimlich durch einen Dienstmann Fräulein Geldern
Wurstwaren zuschickten. Und Herr Pfarrer Kern erhielt durch die
Stadtpost einen Brief mit verstellter Schrift in lateinischen Buchstaben
geschrieben, folgenden Inhalts: „Zwei Ihrer Schülerinnen bitten Sie um
Antwort auf die Frage:

Ist es wohl _immer_ unrecht, wenn man etwas heimlich tut, und soll man
jemand lieber in Armut und Not lassen, als ihm helfen, wenn er sich bloß
heimlich helfen lassen will?“

Gretchen war es ganz leicht ums Herz, als dieser Brief abgegangen war.
Fröhlich spielte sie an diesem Abend mit den Kleinen, die nie vergnügter
waren, als wenn Gretchen sich ihnen widmete. Viel Muße fand sich dazu
nicht, denn jeden Tag hatte sie ein paar Stunden mit ihren Aufgaben zu
tun, und die Eltern sorgten, daß die Schularbeiten nicht unter den
kleinen Gästen zu leiden hatten; Herr Reinwald räumte ihr ein Plätzchen
in seinem Zimmer ein, wo sie ungestört vom Kindergeplauder lernen
konnte. Kam sie dann, nach getaner Arbeit, wieder ins Familienzimmer, so
wurde sie jubelnd von den Kleinen empfangen.

Ruths Stunden hatten auch wieder begonnen. Gretchen hatte einmal die
Beobachtung gemacht, daß ihre kleine Schülerin einige Bildchen,
sorgfältig in Seidenpapier eingeschlagen, bei sich hatte. Auch Gretchen
hatte früher Freude an solchen Bildern gehabt und besaß noch viele. Sie
suchte sie hervor, wählte einige der schönsten und nahm sich vor, sie
Ruth mitzubringen. „Ich bin begierig,“ sagte sie zu ihrer Mutter, „ob
sich Ruth darüber freut. Ich an ihrer Stelle hätte gerade
hinausgejubelt, wenn mir jemand so viele schöne Bilder auf einmal
gebracht hätte!“ „Auf Jubel darfst du wohl bei dieser Kleinen nicht
rechnen,“ sagte Frau Reinwald, „aber freuen wird sie sich trotzdem.“

Als Gretchen an diesem Tag von ihrer Stunde heimkam, fragte die Mutter:
„Nun, haben die Bilder Eindruck gemacht?“ aber Gretchen schüttelte den
Kopf. „_Ein_ Wörtchen hat sie gesagt: danke. Ich glaube wenigstens, es
sollte danke heißen, denn so laut hat sie doch nicht gesprochen, daß man
sie deutlich hätte verstehen können!“

„Ist dir’s leid um deine hübschen Bilder?“

„O nein, das nicht; denn ich glaube, daß sie sich darüber gefreut hat;
sie wurde auch ganz rot und sah gar nicht aus, als wäre es ihr
gleichgültig; aber viel, viel netter wäre es, wenn sie nicht so stumm
wäre!“

„Versuche es doch einmal auf andere Art, verlange eine Gefälligkeit von
ihr. Es gibt Menschen, die zeigen sich erst von ihrer guten Seite beim
Geben, nicht beim Nehmen.“

„Was könnte ich aber von Ruth verlangen?“

„Erzähle ihr ein wenig von Rudi und Betty, sage ihr, daß es dir an
schönen Geschichten- oder Bilderbüchern für die Kleinen fehlt, und frage
sie, ob sie dir vielleicht eines leihen könnte.“

„Das will ich tun; aber weißt du, wie sie es dann macht? Sie sagt in
dieser Stunde ‚ja‘ und in der nächsten ‚da‘, schiebt mir ein Buch hin
und geht.“

„Es kann ja sein, dann lasse sie eben schweigen und habe sie so lieb,
wie sie ist; du kannst sie nicht ändern, und das schüchterne Dingchen
ist dabei am meisten zu bedauern.“

Gleich in der nächsten Stunde befolgte Gretchen den Rat ihrer Mutter und
Ruth erfüllte Gretchens Prophezeiung, sie sagte: „ja“. Vielleicht hätte
sie noch ein Wörtchen zugegeben, aber Fräulein von Zimmern, die fast in
jeder Stunde einen kleinen Besuch abstattete, erschien eben, und in
ihrer Gegenwart war Ruth womöglich noch einsilbiger als sonst.

Auf dem Heimweg von der Stunde, als Gretchen um die Ecke bog, stand
unvermutet die schöne Gestalt von Fräulein Geldern vor ihr.

„Ich habe Sie hier abgepaßt, meine liebe Freundin,“ sprach Fräulein
Geldern, „denn wir können uns in der Schule nicht mehr ungeniert
sprechen, Fräulein von Zimmern sieht es nicht gern. Ich kann aber nicht
auf den einzigen Trost verzichten, den ich in dieser schweren Zeit habe,
ich _muß_ mit meinen lieben Freundinnen verkehren! Ich danke Ihnen
tausendmal für das, was Sie mir geschickt haben; aber eines möchte ich
Sie bitten: wenn Sie mir je wieder eine solche Freundlichkeit zugedacht
haben, schicken Sie es mir nicht in meine Wohnung, übergeben Sie es mir
selbst.“

„Ist es denn nicht sicher, daß Sie es erhalten?“

„Ich weiß das nicht, aber es ist mir peinlich, wenn meine Hausfrau es
bemerkt. Denken Sie, neulich – ich mußte meinen schönen Muff und Pelz
verkaufen, um die Miete vorauszahlen zu können – neulich sagte die Frau
zu mir, sie habe keine Freude an einem Fräulein, das mit dem kostbarsten
Pelzwerk ausgehe und ohne dasselbe heimkomme. So beobachtet sie mich und
macht mir noch unangenehme Bemerkungen, ach, es war mir doch ein
bitterer Entschluß gewesen, mitten im Winter mein Pelzwerk wegzugeben!“

Gretchen, die einen warmen Muff an der Hand trug, sah voll Mitleid auf
Fräulein Geldern, die elegante, aber leichte Handschuhe trug. „Friert es
Sie?“ fragte sie. „Mich hungert und friert den ganzen Tag, ich weiß das
schon gar nicht mehr anders.“

„Wenn ich das meiner Mutter erzählen dürfte,“ sagte Gretchen bittend.
Aber Fräulein Geldern wollte davon nichts wissen. „Nur bei jungen Seelen
finde ich Verständnis,“ sagte sie, „deshalb, wenn Sie mich ein wenig
lieb haben, so sprechen Sie mit keinem Menschen über mich, aber
verlassen Sie mich nicht!“

„Aber wir können uns gar nicht mehr sprechen, weil Fräulein von Zimmern
es nicht will!“

„Das läßt sich schon einrichten. An den Nachmittagen, wo Sie Ihrer
kleinen Schülerin Stunde geben, da kommen Sie eine Viertelstunde vorher
in die große Kammer. Fräulein von Zimmern gibt um diese Zeit Unterricht
und kann es unmöglich bemerken.“

Mit schwerem Herzen ging Gretchen auf diesen Vorschlag ein. „Und noch
eins, mein lieber Engel in der Not,“ sagte Fräulein Geldern zögernd.
„Wenn Sie oder Hermine es möglich machen können – o, ich schäme mich zu
Tode, es zu sagen – bringen Sie mir etwas Geld, ich muß sonst zu Grunde
gehen!“

„Mein ganzes Taschengeld bringe ich Ihnen,“ rief Gretchen, „und Hermine
denkt ebenso wie ich, das weiß ich!“

Die beiden schieden voneinander, Gretchen halb beglückt, halb bedrückt.
Sie hatte es sich immer als das Schönste gedacht, jemand aus großer Not
zu helfen, und gerne hätte sie nun alles, was sie besaß, daran gegeben;
aber daß sie es den Eltern nicht sagen durfte und daß sie trotz Fräulein
von Zimmerns Verbot wieder heimlich in der Schule mit Fräulein Geldern
zusammenkommen sollte, das verdarb ihr die ganze Freude. Sie zählte die
Tage bis zu der Stunde, in der ihre Bedenken und Fragen von dem Pfarrer
beantwortet würden.

In den nächsten Tagen fehlte Hermine in der Schule, auch sie war krank
und man durfte sie nicht besuchen; so mußte Gretchen ganz im stillen
tragen, was sie so sehr beschäftigte.

Am Nachmittag ging sie, wie sie versprochen hatte, eine Viertelstunde
früher zu Ruths Stunde ins Schulhaus. Als sie an die Klasse kam, in der
um diese Zeit Fräulein von Zimmern unterrichtete, schlich sie mit bösem
Gewissen an der Türe vorbei, denn was hätte sie sagen sollen, wenn sie
zufällig gesehen worden wäre? Oben angelangt, wurde sie für diese
peinliche Stimmung entschädigt. Fräulein Geldern erwartete sie in dem um
diese Zeit ganz verlassenen Stockwerk. „Meine Getreue,“ rief sie ihr
entgegen, „kommen Sie wirklich zu mir; o, wie mir das wohl tut!“

„Ich habe Ihnen etwas mitgebracht, aber Hermine ist leider krank und ich
darf nicht zu ihr, sonst wäre es wohl mehr.“ Gretchen wollte ihr
Täschchen öffnen.

„Kommen Sie hier herein, daß man uns nicht sieht,“ sagte Fräulein
Geldern und ging voran in die Kammer. Dort übergab ihr Gretchen den
ganzen Inhalt ihres Sparkäßchens und ein Stück Kaffeekuchen, das sie
sich am Mund abgespart hatte.

Fräulein Geldern war nicht wie Ruth, sie kargte nicht mit ihrem Dank,
sie war überschwenglich in ihren Ausdrücken, und Gretchen durfte die
Wonne empfinden, von einem armen Menschen als rettender Engel gepriesen
zu werden. Aber sie wurde aus dieser süßen Empfindung aufgeschreckt, sie
glaubte Schritte vor der Kammer zu hören und sah ängstlich nach der
Türe.

„Es wird Zeit sein für meine Stunde,“ sagte sie; „wenn mich nur Fräulein
von Zimmern nicht aus dieser Kammer herauskommen sieht!“

„Warten Sie noch ein wenig,“ riet Fräulein Geldern; „ich höre jemand die
Treppe heraufkommen!“ Gespannt lauschten die beiden. O wie fremd war
Gretchen diese Angst, die von einem bösen Gewissen kommt! Fräulein
Geldern sah sie mitleidig an. „Törichtes Kind,“ flüsterte sie, „Sie tun
ja nur Gutes, haben Sie doch auch den Mut dazu!“ Aber Gretchen, die
sonst so Tapfere, hatte hier keinen Mut. Mit Herzklopfen horchte sie.
Draußen wurde eine Türe aufgemacht – dann wieder geschlossen und jetzt
war es still. „Nun gehen Sie rasch,“ sagte Fräulein Geldern, „ich bleibe
noch einen Augenblick, damit man uns nicht beisammen sieht.“ Leise
öffnete sie die Kammertüre, Gretchen schlüpfte hinaus und eilte die
Treppe hinunter bis vor die Türe des Klassenzimmers, in dem sie Ruth die
Stunden gab. Die Klasse war noch besetzt und Gretchen mußte vor der Türe
warten. Ein paar Minuten später huschte Fräulein Geldern an ihr vorbei
und flüsterte ihr im Vorübergehen zu: „Auf Wiedersehen, mein Engel!“

Bald darauf entleerte sich das Schulzimmer, die Kinder sprangen an
Gretchen vorbei die Treppe hinunter, nur Ruth blieb zurück. Bisher hatte
sie sich immer stillschweigend an den Platz gesetzt, der ihr in der
ersten Stunde angewiesen worden war. Heute aber ging sie an den
Kleiderrechen, nahm von dort eine Tasche, brachte sie herbei, packte sie
aus und – o Wunder – sie nahm einen Anlauf und sprach einen ganzen Satz:
„Da habe ich zwei Geschichtenbücher mitgebracht und ein Bilderbuch.“
Gretchen freute sich und schilderte der Kleinen, wie vergnügt Rudi und
Betty darüber sein würden; da wurde die kleine Ruth förmlich übermütig,
denn sie sprach noch einen zweiten Satz: „Wir haben noch mehr Bücher,
ich kann noch viele bringen.“ Und am Schluß dieser Stunde geschah etwas
Unglaubliches; Ruth fragte: „Soll ich Ihnen die Bücher bis an Ihr Haus
tragen?“ Über diese Artigkeit war Gretchen fast bestürzt, und sie hatte
schon auf der Zunge, zu antworten: „Nein, ich danke, ich kann sie schon
selbst tragen,“ als ihr gerade noch einfiel, daß die Mutter zu ihr
gesagt hatte: „Verlange einmal eine Gefälligkeit von ihr,“ und so
antwortete sie: „Ja, bitte, trage sie mir, wenn du nicht meinst, daß du
zu spät nach Hause kommst.“

„O nein, Papa selbst hat gesagt, ich solle Ihnen die Bücher tragen.“
Diese freundliche Gesinnung freute Gretchen sehr. Während sie mit Ruth
unterwegs war, besann sie sich, wie sie wohl die scheue Kleine bestimmen
könnte, mit ihr hinaufzugehen; sie hätte sie so gerne ihrer Mutter
gezeigt. Noch einmal wollte sie es mit der Bitte um eine Gefälligkeit
probieren. „Wenn ich nun heimkomme,“ sagte sie zu Ruth, „dann wollen die
Kleinen natürlich gleich das Bilderbuch ansehen und ich habe jetzt keine
Zeit, es ihnen zu zeigen. Sei du so gut und komme mit mir herauf und
zeige es ihnen; du hast doch ein Viertelstündchen Zeit?“ Es war wohl zu
merken, daß Ruth diese Aufforderung gerne abgelehnt hätte, sie mochte
aber doch nicht „nein“ sagen, und weil sie auch nicht „ja“ sagte, so
blieb die Frage zunächst unerledigt. Da ihr Gretchen aber weder an der
Haustüre noch an der Treppentüre die Bücher abnahm, so gab sich’s ganz
von selbst, daß Ruth auf einmal mit Gretchen im Wohnzimmer bei Frau
Reinwald stand.

„Mutter,“ sagte Gretchen, „dies ist Ruth, sie bringt den Kindern Bücher
und zeigt ihnen gleich die Bilder, weil ich nicht Zeit habe.“ Frau
Reinwald verstand die vielsagenden Blicke, mit denen Gretchen diese
einfache Vorstellung begleitete, und sie sagte ebenso einfach: „Es ist
recht von dir, Ruth, daß du zu uns kommst, wir wollen gleich die Kleinen
holen.“ Nach kurzer Zeit saß Ruth zwischen den zwei Kindern, die voll
Begier waren, das neue Buch zu sehen, während Frau Reinwald und Gretchen
sie anscheinend gar nicht beachteten.

Betty richtete gleich beim ersten Bild an Ruth die Frage: „Was ist das?“
und als Ruth eine leise, kurze Antwort darauf gab, sagte Rudi: „Jetzt
sag einmal alles ganz laut und deutlich, daß es meine Kleine auch recht
versteht: wo fährt der Wagen hin?“ Fragen und Antworten folgten nun ohne
Unterbrechung, und je mehr die Kleinen ihre Bewunderung für die schönen
Bilder aussprachen, um so wärmer wurden die Erklärungen, und von den
dreien schien eines so glücklich wie das andere.

Nach einiger Zeit sagte Frau Reinwald: „Ruth, ich fürchte, deine Eltern
machen sich Sorge, wenn du so lange ausbleibst; willst du jetzt
heimgehen und ein andermal wiederkommen?“ Aber Rudi und Betty riefen wie
aus einem Mund: „O noch nicht, noch nicht, sie soll noch bei uns
bleiben!“ Da sah Ruth mit glücklichem Gesicht zu Gretchen hinüber und
sagte: „Wenn das Buch aus ist, dann will ich gehen.“

Von diesem Tag an kam Ruth oft nach der Stunde mit Gretchen heim. Bei
den lustigen Kleinen vergaß sie ihre Schüchternheit mehr und mehr, sie
mischte sich in ihr kindliches Geplauder, und es kam vor, daß sie von
selbst an Gretchen das Wort richtete, so daß diese sich vergnügt sagte:
„Aus meinem stummen Fischlein ist ein warmes Menschenkindlein geworden!“
Wenn aber die kleine Ruth daheim fragte: „Darf ich zu Reinwalds?“ und
wenn ihre Mutter entgegnete: „Schon wieder?“ dann entschied der
Forstrat: „Je öfter, je besser!“

Inzwischen war der Tag herangekommen, an dem Pfarrer Kern den „Großen“
Stunden zu geben pflegte. Gretchens erster Gedanke morgens beim Erwachen
war: Heute wird unsere Frage wegen der Heimlichkeiten beantwortet; arme
Hermine, wie schade, daß du noch krank bist und die Antwort nicht hören
kannst!

Mit allerlei Proviant, den sie für Fräulein Geldern bestimmt hatte,
machte sich Gretchen auf den Weg zur Schule. Erworben hatte sie alles
auf ehrliche Weise, doch mußte sie es heimlich forttragen, und wie sie
es Fräulein Geldern unbemerkt zustecken sollte, das wußte sie noch gar
nicht. Sie war etwas früher als nötig von zu Hause fortgegangen und
hielt sich eine gute Weile in dem Vorplatz des Schulhauses auf, in der
Hoffnung, daß Fräulein Geldern kommen würde und sie ihr unbemerkt auf
der Treppe das Päckchen zustecken könnte. Als aber eine ihrer
Kamerädinnen nach der andern kam und jede fragte: Auf wen wartest du?
wurde ihr dieser Posten unangenehm und sie ging vor das Haus, der Straße
zu, aus der Fräulein Geldern kommen mußte. Die Zeit verstrich, schon
kamen nur noch einzelne, verspätete Schülerinnen eiligen Laufes auf das
Institut zu. Endlich tauchte in der Ferne Fräulein Geldern auf. Gretchen
eilte ihr entgegen und übergab ihr das Paket. Mit dankenden Worten nahm
es Fräulein Geldern und ging dann rasch voran der Schule zu, während
Gretchen absichtlich noch ein wenig zögerte und dann langsam folgte, um
nicht zugleich mit Fräulein Geldern in der Schule anzukommen.

Inzwischen war schon das Zeichen zum Beginn der Klasse gegeben worden.
Es war aber Sitte in dem Institut von Fräulein von Zimmern, daß mit dem
Glockenzeichen die große Haustüre geschlossen wurde, so daß jede
Verspätete klingeln mußte und durch ein Dienstmädchen eingelassen wurde.
Meist öffnete sich dann die Türe vom Zimmer der Vorsteherin, wenn die
Verspätete vorüberkam; und wenn Fräulein von Zimmern auch nur einen
strengen Blick für dieselbe hatte, so war diese Einrichtung doch allen
so peinlich, daß höchst selten die Hausglocke ertönte.

Gretchen war deshalb auch sehr bestürzt, als sie das Haus geschlossen
fand. Aber was wollte sie tun? Sie mußte sich wohl entschließen, zu
klingeln. Sie tat es möglichst sachte, aber diese Hausglocke hatte immer
etwas Feindseliges und nahm Partei gegen die Verspäteten; wenn sie noch
so leise berührt wurde, dröhnte sie laut durchs ganze Haus.

Gretchen huschte so rasch wie möglich durch den Vorplatz, um unbemerkt
an dem Zimmer der Vorsteherin vorbeizukommen, aber die gefürchtete Tür
öffnete sich trotzdem und Fräulein von Zimmern rief erstaunt: „Du bist
es, Gretchen? Ich sah dich doch schon vor einer Viertelstunde an der
Haustüre. Hattest du etwas vergessen? Nein? Komm mit mir herein und gib
mir Antwort.“ Aber Gretchen, die der Vorsteherin in das Zimmer gefolgt
war, schwieg. Dies mußte Fräulein von Zimmern auffallen, es war nicht
Gretchens Art.

„Wo hast du dich aufgehalten?“ fragte sie nun in strengem Ton.

„Ich habe nicht gedacht, daß es schon so spät ist,“ entgegnete Gretchen.

„Ist das eine Antwort auf meine Frage? Wo warst du, Gretchen?“

„Nur auf der Straße.“

„Was wolltest du da?“

„Nur ein wenig warten.“

Da sprach Fräulein von Zimmern nicht mehr in strengem, aber in traurigem
Ton zu Gretchen: „Du gebrauchst Ausflüchte? _Du_, Gretchen?“ Eine große
Stille folgte, in Gretchens Augen sammelten sich Tränen.

„Geh hinaus, du tust mir weh,“ sprach Fräulein von Zimmern und wandte
sich ab. Aber Gretchen in überwallendem Gefühl des Schmerzes umschlang
Fräulein von Zimmern und rief in leidenschaftlicher Erregung: „O,
verzeihen Sie mir, ich _kann_ ja nicht anders, ich _darf_ ja nichts
sagen!“ und dann stürmte sie zum Zimmer hinaus.

In den vielen Jahren ihres Wirkens war es der ernsten, gemessenen
Vorsteherin noch nie vorgekommen, daß eine der Schülerinnen sie umarmt
hätte. Sie fühlte die warme Liebe des Kindes, das in diesem Augenblick
der höchsten Erregung sich hatte hinreißen lassen, und sie erwiderte
diese Liebe. Sie sann und sann und kam zu einem Entschluß.

Als sie um 10 Uhr in die Oberklasse kam, um Literaturstunde zu geben,
und Gretchen, in Erinnerung an das Geschehene, tief errötend zu ihr
aufsah, war Fräulein von Zimmern nichts anzumerken.

Um 11 Uhr erschien Pfarrer Kern. Da Fräulein von Zimmern sich nicht
gleich entfernte, zitterte Gretchen schon bei dem Gedanken, daß sie
vielleicht zuhören und dann die Fragestellerin erraten würde. Aber nein,
sie verließ das Zimmer; der Pfarrer nahm ihren Platz ein, und ohne
irgend welche Einleitung las er von dem, Gretchen wohlbekannten Papier
die Frage ab: „Ist es wohl _immer_ unrecht, wenn man etwas heimlich tut,
und soll man jemand lieber in Armut und Not lassen, als ihm helfen, wenn
er sich bloß heimlich helfen lassen will?“

Es wurde ganz still am grünen Tisch. Gretchen war keine Meisterin in der
Verstellung; wer auf sie gesehen hätte, würde ihre Erregung und Spannung
bemerkt haben, aber die Blicke der meisten waren auf den Pfarrer
gerichtet, und dieser sah auf das Blättchen. „Es ist mir lieb,“ sagte er
nun, „daß ihr die Rede auf Heimlichkeiten gebracht habt. Wir sind nicht
ausführlich darauf zu sprechen gekommen in unserem Unterricht, und warum
nicht? Weil Heimlichkeiten nicht verboten sind in den zehn Geboten,
nicht verboten sind durch unsern Herrn Jesus. Daraus seht ihr schon, daß
sie nicht so, wie etwa das Stehlen, schlechthin und unter allen
Umständen Sünde sind. Gibt es doch auch ganz harmlose Heimlichkeiten,
wie z. B. Weihnachtsgeheimnisse, die kein vernünftiger Mensch als
Unrecht ansehen wird.

„Aber es ist etwas ganz Merkwürdiges mit den Heimlichkeiten. Wenn wir
ihnen recht auf den Grund gehen, dann entdecken wir meistens, daß sie
aus einer schlechten Neigung hervorgehen. Denkt euch z. B., eines von
euch schreibt oder liest, kauft oder besorgt, ißt oder trinkt etwas
heimlich, die Eltern sollen es nicht sehen. Warum denn nicht? Vielleicht
weil sie es verbieten würden – dann soll die Heimlichkeit den Ungehorsam
decken, oder weil der Einkauf nicht nötig wäre – dann steckt
Verschwendung dahinter oder Naschhaftigkeit; sehr oft auch soll durch
die Heimlichkeit ein guter Schein erweckt werden: die Besorgung, die ihr
gestern vergessen habt, macht ihr heute heimlich, damit ihr nicht als
nachlässig getadelt werdet, wo ihr es doch verdient hättet; kurzum, wenn
ihr aufrichtig prüft, was euch zur Heimlichkeit verlocken möchte, dann
werdet ihr finden – es ist fast ohne Ausnahme ein Unrecht, eine kleine
Abweichung vom geraden Weg. Daher kommt es auch, daß edle Menschen das
Heimliche verachten. Heimlichkeiten sind ein Deckmantel, den edle
Menschen nicht benützen mögen, weil schon so viel Schlechtes damit
bedeckt war. Wo irgend im Leben mir ein Mensch begegnet ist, der
heimlich war in seinem Tun, habe ich immer Mißtrauen gegen ihn
empfunden, und so werdet auch ihr, wenn ihr euch Heimlichkeiten
gestattet, das Vertrauen verlieren, ja leicht in schlimmen Verdacht
kommen und euch sagen müssen: Um mir eine kleine Widerwärtigkeit zu
ersparen, habe ich viel größere auf mich geladen.

„Auf meinem Zettel steht nun aber die Frage, ob man auch nichts
Heimliches tun soll, um andern aus Armut und Not zu helfen?

„Dagegen möchte ich euch, meine Vierzehn- oder Fünfzehnjährigen fragen:
wie wollt ihr denn andern aus Armut und Not helfen? Wißt ihr, daß das zu
den größten, schwierigsten Aufgaben gehört, über die in Büchern und
Zeitungen, Vorträgen und Versammlungen von den bedeutendsten Männern
beraten wird? Und diese Aufgabe wollt ihr auch nur an _einem_ Menschen
lösen? Meint ihr, wenn ein Mensch euch um eine Mark bittet, und ihr gebt
sie ihm, nun sei ihm geholfen? Warum braucht er eure Mark? Ist er schuld
daran, daß er nicht hat, was er bedarf, oder sind es die Verhältnisse?
Wird er die Mark zu Gutem oder Schlechtem verwenden? Um diese Fragen zu
beantworten, braucht man eine Erfahrung und Menschenkenntnis, die man in
so jungen Jahren nimmermehr besitzt. Wenn sich nun ein Mensch in seiner
Not an ein junges, unerfahrenes Mädchen wendet und Heimlichkeit
verlangt, dann ist seine Sache keine reine, gute, und ihr müßt euch frei
davon machen, lieber heute als morgen; _wie_, kann ich nicht sagen, wenn
ich den Fall nicht kenne; aber ich möchte euch recht dringend ans Herz
legen: Macht euch frei von Heimlichkeiten, um jeden Preis!“

                   *       *       *       *       *

Seit vielen Jahren schon war Pfarrer Kern Fräulein von Zimmerns treuer
Berater in allen Schulangelegenheiten. Auch heute folgte er gerne der
Bitte der Vorsteherin, zu kurzer Besprechung in ihr Zimmer zu kommen.

„Haben Sie wohl Fräulein Geldern kennen gelernt?“ fragte Fräulein von
Zimmern.

„Nein, ich habe sie nur in ihrer Klasse begrüßt und habe sie
aufgefordert, meine Frau und mich zu besuchen, aber bis jetzt ist sie
noch nicht gekommen.“

„Sie wird auch nicht kommen, sie vermeidet den Verkehr, der für sie
passen würde, und schließt sich an unsere Großen an, hauptsächlich an
Gretchen und Hermine.“

„So sucht sie sich wenigstens die besten unter den Großen aus.“

„Aber ich glaube, daß ihr Einfluß kein guter ist. Hermine ist ja
gegenwärtig krank, von ihr kann ich nichts sagen, aber Gretchen ist
anders, als sie war; es ist etwas Unaufrichtiges, Verstecktes in dem
sonst so offenherzigen Kind, sie muß irgendwie in Heimlichkeiten mit
Fräulein Geldern verstrickt sein.“ Der Pfarrer wurde aufmerksam. „In
Heimlichkeiten, meinen Sie? Das könnte wohl sein. Wissen Sie wohl etwas
über Fräulein Gelderns Verhältnisse? Ist sie unbemittelt?“

„Darüber kann ich nichts sagen. Sie spricht sich nicht aus und ich
konnte mich nicht mit der nötigen Sorgfalt nach ihr erkundigen, da ich
froh sein mußte, rasch jemand zur Aushilfe zu bekommen, auch hoffte ich,
es würde nur für kurze Zeit sein. Aber ich habe heute den Entschluß
gefaßt, sie zu entlassen.“

„Sie können sie doch kaum entbehren?“

„Kaum, aber es muß doch gehen. Ich will lieber selbst eine Anzahl
Stunden übernehmen, als einen schlechten Einfluß auf meine Schülerinnen
dulden.“

Der Pfarrer ging sinnend auf und ab. „Warten Sie noch acht Tage,
vielleicht klärt sich die Sache von selbst,“ sagte er.

„Vielleicht, aber sicherer ist’s, ich mache ein Ende. Wie viel Schlimmes
kann in einer Woche angerichtet werden!“

„Ist Gretchen in der Arbeit lässig?“

„Das nicht; sie hat sehr gute Arbeiten geliefert in der letzten Zeit.“

„Das ist doch immer ein gutes Zeichen. Ich würde warten, wenigstens noch
drei Tage, und zusehen, ob Gretchens gerader Sinn sie nicht selbst
wieder auf den rechten Weg führt. Man muß doch den Menschen Zeit lassen,
sich selbst zurechtzufinden, ehe man einschreitet.“

„So will ich noch drei Tage zusehen.“

„Gut; ich komme ja Donnerstag in die fünfte Klasse, dann wollen wir
wieder darüber sprechen.“

Während der Pfarrer mit Fräulein von Zimmern dies Zwiegespräch führte,
ging Gretchen in Gedanken versunken ihren Weg von der Schule heim. Es
klangen ihr noch die letzten Worte des Pfarrers in den Ohren: Macht euch
frei von Heimlichkeiten, um jeden Preis! Sie wußte jetzt, was recht war,
und wollte es tun, aber wie? Sie erschrak ordentlich, als ihr unvermutet
aus einem Torweg diejenige entgegentrat, mit der sich all ihre Gedanken
beschäftigten. „Ich habe hier auf Sie gewartet, liebes Gretchen,“ sagte
Fräulein Geldern; „wie froh bin ich, daß ich Sie allein treffe! Ich
möchte Ihnen noch danken für das, was Sie mir vor der Schule gebracht
haben, Sie treue Seele. Was finge ich an, wenn ich Sie nicht hätte? Und
nun habe ich schon wieder eine Bitte, aber ich weiß ja, Sie tun gern
Gutes an mir, nicht wahr?“ Gretchen fühlte, daß der Augenblick gekommen
war, wo sie sprechen mußte. „Ja,“ sagte sie, „ich tue gern alles, aber
nicht mehr heimlich. Ich habe mir schon immer gedacht, daß es nicht
recht ist, und jetzt weiß ich’s ganz gewiß. Bitte, Fräulein Geldern,
erlauben Sie mir jetzt, daß ich der Mutter alles sage. Denn, sehen Sie,
die Heimlichkeiten sind wie ein schmutziger Deckmantel, mit dem edle
Menschen sich nicht bedecken mögen, und helfen kann ich Ihnen doch nicht
recht, so wie’s sein sollte; dazu gehört so viel Verständnis und
Menschenkenntnis, wie nur ältere Leute haben können.“

Mit Erstaunen hatte Fräulein Geldern diesem kleinen Vortrag zugehört;
jetzt sagte sie mit großer Bestimmtheit:

„Was Sie da sagen, kommt nicht von Ihnen; wer hat Ihnen das alles
eingegeben? Sie _wollen_ mich nicht verraten, Gretchen, Sie _haben_ mich
schon verraten!“

„Nein, gewiß nicht, ich habe Sie nicht verraten, aber ich _muß_ mich
frei machen von diesen Heimlichkeiten, um jeden Preis!“

„Auch um den Preis meiner Freundschaft, Gretchen? Ist das Ihre ganze
Treue? O, wäre nur Hermine bei uns, sie würde mich nicht so schnöd
verlassen, sie hat ein weiches Herz. Aber Sie haben kein wahres
Mitgefühl, ich bin Ihnen unbequem, darum gebrauchen Sie schöne Worte, um
mich abzuschütteln. Gehen Sie, ich habe mich in Ihnen getäuscht; gehen
Sie und verraten Sie mich bei Fräulein von Zimmern, bringen Sie mich ins
Unglück und sich zu Ehren, ich kann Sie nicht hindern.“

Nach diesen Worten ging Fräulein Geldern rasch von Gretchen weg auf die
andere Seite der Straße und verschwand in einer Seitenstraße.

Nun _war_ Gretchen frei, aber diese Freiheit, nach der sie sich so
gesehnt hatte, war bitter!

Wie im Traum wanderte sie ihren Weg weiter; sie wußte gar nicht, wie sie
heimgekommen war, und konnte nicht begreifen, daß die Kleinen sie zu
Hause so vergnügt wie immer empfingen. Sie ging in ihr Schlafzimmer, die
Kinder folgten ihr, aber Gretchen beachtete sie nicht und ging nicht wie
sonst freundlich auf ihr Geplauder ein. Sie war noch nicht im reinen mit
sich selbst, sie wußte nicht, was sie nun tun sollte. Der Mutter alles
erzählen und vor Fräulein Geldern als treulose Verräterin dastehen? Oder
ein Briefchen schreiben mit dem kurzen Inhalt: „Teure Freundin, ich
verrate Sie nicht!“ Wie würde Fräulein Geldern sie am nächsten Tag ans
Herz drücken!

„Gretchen, jetzt habe ich dir zweimal gesagt, daß es heute Dampfnudeln
gibt und du freust dich immer noch nicht!“ sagte Rudi. „Bist du denn
traurig?“ frug die kleine Betty und drängte sich teilnehmend an
Gretchen. „O laßt mich nur ein klein wenig allein,“ bat Gretchen,
„später will ich dann mit euch spielen.“ Da ging das Pärchen hinaus und,
beriet, was das zu bedeuten habe, wenn man sich nicht über Dampfnudeln
freuen könne.

Endlich beschlossen sie, zu Gretchens Mutter zu gehen. „Tante,“ sagte
Betty, „hast du noch ein Täfele Schokolade, wie du mir zum Trost gegeben
hast, wie ich gefallen bin?“ „Ja,“ sagte die Tante, „ist denn wieder
jemand gefallen?“ „Nein, aber dein Gretchen ist so traurig im
Schlafzimmer.“ „Ja so traurig,“ bestätigte Rudi, „daß sie sich nicht auf
die Dampfnudeln freuen will.“ „Und da gibst du ihr ein Täfelchen
Schokolade, gelt Tantele,“ bat Betty. „Ja,“ sagte Frau Reinwald und
holte das Trostmittel, „bringt ihr das und sagt ihr, die Tante habe
vielleicht noch einen besseren Trost, ob sie sich den nicht holen
wolle?“ Die Kleinen gingen eilfertig hinaus, überbrachten ihren Trost
und verhießen noch besseren. Da war Gretchen entschlossen.

„Ja, ich will mir den bessern Trost holen,“ sagte sie, „und euch lasse
ich die Schokolade. Dafür bleibt ihr ein Weilchen hier und laßt mich
allein mit der Tante.“

Frau Reinwald erfuhr nun alles, was Gretchen in diesen Tagen erlebt
hatte. Es war ihr schmerzlich, daß ihr Kind zum erstenmal etwas vor ihr
verheimlicht hatte, aber sie sah, daß Gretchen selbst am meisten unter
diesen Heimlichkeiten gelitten und sich ernstlich bemüht hatte, davon
frei zu werden; auch verstand sie, wie bitter es ihr sein mußte, von
Fräulein von Zimmern und nun auch von Fräulein Geldern schlecht
beurteilt zu werden. „Ich mag mich vor beiden nicht mehr blicken
lassen,“ sagte Gretchen und weinte schmerzlich. Frau Reinwald tröstete
sie freundlich: „Ich glaube nicht, daß dir an Fräulein Gelderns Achtung
und Freundschaft viel liegen muß, und Fräulein von Zimmern werde ich
selbst wohl alles erklären, ich will zuerst mit dem Vater darüber
sprechen.“ Aber diese Worte konnten Gretchen nicht trösten, im Gegenteil
rief sie ganz entsetzt: „O Mutter, du wirst doch nicht dem Vater und
Fräulein von Zimmern das alles mitteilen; wenn das Fräulein Geldern
erfährt, ist sie ganz unglücklich und mich verachtet sie dann noch mehr.
Wenn du sie kenntest, hättest du auch Mitleid mit ihr.“ „Daß ich mit dem
Vater rede, versteht sich von selbst, und daß wir alles zum Wohl von
Fräulein Geldern tun wollen, darfst du mir glauben. Wie sollte ich nicht
Mitleid empfinden für ein alleinstehendes junges Mädchen, das durch die
Not auf falsche Wege geraten ist?“

In diesem Augenblick trat Herr Reinwald ins Zimmer. Gretchen eilte zur
Türe hinaus; sie mochte sich vor dem Vater nicht in Tränen sehen lassen
– er konnte das nicht leiden – auch wollte sie es nicht mit anhören, wie
Fräulein Gelderns sorgfältig gehütetes Geheimnis weiter gesprochen
wurde. Sie ging zu den Kleinen; diese merkten zwar, daß der bessere
Trost noch nicht gewirkt hatte, aber da Gretchen liebevoll auf ihr Spiel
einging, waren sie auch mit einem traurigen Gretchen zufrieden.

Lange sprachen die Eltern miteinander, bei Tisch aber wurde nichts
erwähnt und Gretchen wußte nicht, wie der Vater über die Sache dachte.
Am Nachmittag schrieb die Mutter einen Brief, und Gretchen sagte sich
schmerzlich: es wird an Fräulein von Zimmern sein. Da rief Frau Reinwald
sie freundlich herbei. „Willst du dies Briefchen lesen? Ich will es
durch Franziska an Fräulein Geldern schicken.“

Gretchen las: „Liebes Fräulein! Es wäre mir leid, wenn Sie glaubten,
Gretchen habe Ihnen irgendwie geschadet. Ich hoffe das Gegenteil und
möchte Sie gerne sprechen. Wollen Sie wohl heute abend unser Gast sein
und einmal wieder an einem gemütlichen Teetisch Platz nehmen?“

„Mutter, was meinst du!“ rief Gretchen; „es ist gar kein Gedanke, daß
sie zu uns kommt, sie ist viel zu arg erbittert gegen mich!“

„Das wollen wir erst sehen. Wenn man fremd, einsam und – hungrig ist,
kann man nicht leicht einer Einladung widerstehen. Es ist ein Versuch;
gelingt er nicht, so können wir weiter sehen.“

Franziska traf Fräulein Geldern nicht zu Hause und hinterließ das
Briefchen der Hauswirtin. Als es Abend wurde, wartete Gretchen in
zunehmender Aufregung. Kommt sie? Kommt sie nicht?

Und sie kam. Gegen Gretchen war sie etwas zurückhaltend, aber sonst
zeigte sie sich in ihrer feinen, anmutigen Liebenswürdigkeit und sah so
reizend aus, daß Gretchen ganz hingenommen war von ihrer Erscheinung und
ordentlich stolz auf ihre schöne Freundin. Die Eltern waren freundlich
gegen den jungen Gast und mit keinem Wort wurde etwas erwähnt, das für
Fräulein Geldern hätte peinlich sein können.

Als Gretchen nach dem Essen den Tisch abräumen half, kam die Mutter
einen Augenblick mit ihr hinaus und sagte leise: „Bleibe du nun ein
wenig in deinem Zimmer, ich will allein mit Fräulein Geldern sprechen.“

„Aber Mutter, nicht wahr, du fragst sie gewiß nicht über ihre Familie,
denn das ist ihr schrecklich.“

Frau Reinwald antwortete darauf nicht, sondern kehrte gleich zu ihrem
Gast zurück, während Herr Reinwald in sein Zimmer ging und Gretchen das
ihrige aufsuchte. Es war ihr recht unbehaglich zumute; sie dachte sich,
daß für Fräulein Geldern nun eine peinliche Unterredung kommen würde.
Sie hoffte in einer Viertelstunde wieder gerufen zu werden, aber sie
wartete umsonst von einer Viertelstunde zur andern. Die Kinder waren
schon zu Bett gebracht und es wurde allmählich ganz still im Hause. Da
drang bis in Gretchens Zimmer die Stimme von Fräulein Geldern; immer
erregter klang dieselbe, und nun hörte man lautes Weinen. Gretchen
konnte es nicht mehr aushalten; ganz außer sich kam sie in Herrn
Reinwalds Zimmer. „O Vater,“ rief sie, „ich höre Fräulein Geldern laut
weinen, wie kann die Mutter sie so quälen! O wenn ich denke, daß ich an
all dem allein schuld bin, und sie hat mich doch immer ihre Freundin
genannt!“

„Das bist du auch jetzt noch, und nur deiner Freundschaft zuliebe haben
wir so gehandelt und haben das Fräulein zu uns eingeladen; denn das muß
ich dir sagen: eine Lehrerin, die von Schülerinnen verlangt, daß sie ihr
heimlich Geld bringen, verdient eigentlich eine andere Behandlung, und
statt zum Tee hätte sie auch vor Gericht geladen werden können.“
Gretchen erschrak. Daß es der Vater so ernst nehmen würde, hätte sie
nicht gedacht. „Übrigens,“ sprach Herr Reinwald, „scheint es mir, als ob
es drüben nun ganz still geworden wäre.“ In der Tat hörte man keinen
Laut mehr, und wenn vorhin die lebhaften Stimmen aufregend waren, so
hatte die nun eingetretene absolute Ruhe, als sie eine Weile dauerte,
auch etwas Unheimliches. Endlich hörte man die Türe gehen, Frau Reinwald
trat in ihres Mannes Zimmer. Sie sah sehr erregt aus, als sie zu ihrem
Mann sagte: „Fräulein Geldern schreibt eben einen Brief an ihre Eltern.
Ich habe sie mit aller Mühe dazu überredet und es wäre mir sehr leid,
wenn sie wieder schwankend würde und den Brief nicht abschickte.
Möchtest du sie nicht heimbegleiten und dich überzeugen, daß sie den
Brief wirklich in den Schalter wirft?“

„Auch das noch? Nun meinetwegen. Rufe mich eben, wenn es soweit ist.“

„Es kann noch eine gute Weile dauern. Gretchen, gehe du einstweilen zu
Bett, es wird spät.“

„Zu Bett? O Mutter, ich kann doch _so_ nicht schlafen?“

„Doch, nun kannst du ruhig schlafen, es wird alles gut werden, für dich
und für sie. Gute Nacht, mein Kind.“

Die Mutter verließ das Zimmer und Gretchen ging zu Bett. Aber sie lag
wach, es wollte sich nicht wie sonst der Schlaf gleich einstellen. Es
tat ihr weh, daß Fräulein Geldern heute abend kein freundliches Wort für
sie gehabt hatte, aber es war ja natürlich: sie konnte die nicht mehr
lieb haben, die sie verraten hatte. Als Gretchens Gedanken endlich
anfingen in Tränen überzugehen, wurde sie durch das Öffnen und Schließen
der Türen wieder munter gemacht. Draußen wurden Abschiedsworte
gewechselt, Herr Reinwald ging mit Fräulein Geldern fort. Gretchen
setzte sich auf in ihrem Bett und horchte gespannt nach dem Tritt der
Mutter. Wenn sie doch nur auf einen Augenblick noch zu ihr käme! Sie
konnte der Mutter Tun verfolgen: zuerst geht die Küchentüre, nun knarrt
das Türchen vom Speisschrank – der Kaffee wird herausgegeben, wieder
eingeschlossen. Jetzt gehen die Tritte nach dem Zimmerchen, in dem die
Kleinen schlafen, da wird noch ein Fensterflügel auf- oder zugemacht;
dann – ja, Gretchens Hoffnung täuscht sie nicht – dann kommt der Mutter
Tritt ganz nahe, leise geht die Türe auf und fast unhörbar fragt die
Mutter: „Gretchen, wachst du noch?“ Und dann sitzt die Mutter auf dem
Bettrand, Gretchen umschlingt sie mit den Armen und bittet: „O Mutter,
jetzt sage mir alles!“

„Wenn du denn doch noch wach bist,“ sagte Frau Reinwald, „so will ich
dir noch erzählen, was ich von Fräulein Geldern erfahren habe. Sie ist
aus vornehmer Familie, ist ein verwöhntes Mädchen, das sich in Trotz und
Unverstand vor einigen Monaten aus dem Elternhaus entfernt hat, als man
ihr zum erstenmal den Willen nicht ließ. Sie wollte eine offenbar
törichte Heirat eingehen, die die Eltern nicht zugeben konnten, und
faßte den Entschluß, in die Welt hinaus in Stellen zu gehen und nicht
eher ins Elternhaus zurückzukehren, als bis ihre Eltern nachgeben
würden. Und die Eltern, tief verletzt über dieses Benehmen, haben sie
ziehen lassen. Fräulein Geldern war offenbar der Meinung, die Eltern
könnten sie nicht entbehren und würden sie zurückrufen; sie hat ihnen
auch mitgeteilt, auf welchem Postamt sie nach Briefen von ihnen fragen
würde. Sie hat aber stets umsonst gefragt und hat die Erfahrung machen
müssen, daß die Eltern wohl solch eine Tochter entbehren können, aber
die Tochter nicht die Eltern. Sie ist bald in Not geraten, da sie ohne
jegliche Empfehlung keine dauernde Stelle finden konnte; trotzdem hat
sie sich nicht entschließen können, ihre Eltern um Verzeihung zu bitten,
sondern hat lieber gedarbt, verkauft und gebettelt, wie du ja weißt. Sie
ist hochmütig und verblendet, wie ich es noch nicht leicht getroffen
habe.“

„Aber schön ist es doch von ihr, daß sie dir das alles so aufrichtig
gestanden hat,“ sagte Gretchen, die ihre Freundin nicht fallen lassen
wollte.

„Es hat einen harten Kampf gekostet, bis sie mir die Wahrheit gestanden
hat, noch einen härteren, bis sie eingesehen hat, daß sie im Unrecht
ist, und den härtesten, bis sie sich entschlossen hat, ihre Eltern um
Verzeihung zu bitten und ihnen Gehorsam zu versprechen.“

„Hat sie das getan in dem Brief, den der Vater besorgt?“ fragte Gretchen
eifrig; „steht es auch gewiß darin?“

„Ja, ja, es steht darin, ich habe es selbst gelesen. Nachdem sie sich
endlich dazu überwunden hatte, hat sie wirklich schön geschrieben, so
daß es den Eltern wohltun muß, und auch ihr selber ist es jetzt leichter
ums Herz, sie hat mir gedankt zuletzt.“

„O Mutter, wie du das so zustande gebracht hast!“

„Jetzt gute Nacht, Kind; es ist höchste Zeit, daß du schläfst!“

„Gute Nacht und danke, danke, danke, Mutter!“

Am frühen Morgen des nächsten Tags, vor Beginn der Schule, eilte
Gretchen zu Hermine. Diese _mußte_ hören, welche Wendung die Dinge mit
Fräulein Geldern genommen hatten. Aber als sie nach Hermine fragte,
erklärte das Dienstmädchen: „sie schläft noch.“

„Es ist doch schon acht Uhr vorbei,“ sagte Gretchen ärgerlich.

„Freilich, aber sie ist eben noch nicht ganz gesund und deshalb bleibt
sie länger liegen.“

„Ich will doch einmal nachsehen, ob sie noch fest schläft,“ entgegnete
Gretchen und wartete nicht weiter auf die Einwilligung des Mädchens.
Ohne anzuklopfen trat sie leise in Herminens Schlafzimmer. Die Vorhänge
waren zugezogen, es war dunkel und still im Zimmer; Hermine lag
schlafend, das Gesicht nach der Wand gekehrt. Gretchen zögerte ein
wenig. Durfte sie die Freundin wecken? Nein, aber doch ein wenig
probieren, ob sie noch fest schlief oder bald von selbst aufwachen
würde. Leise flüsterte sie: „Hermine, Fräulein Geldern war bei uns.“ Die
Schläferin bewegte sich ein wenig.

„Hermine, Fräulein Geldern hat der Mutter alles anvertraut.“

Die Schläferin wandte sich Gretchen zu, aber die Augen waren noch
geschlossen.

„Hermine, Fräulein Geldern hat an ihre Eltern geschrieben und sie um
Verzeihung gebeten.“ Jetzt öffnete die Schläferin die Augen und sah mit
Erstaunen auf Gretchen. „Guten Morgen, Hermine,“ sagte diese voll
Vergnügen, daß die Freundin wach war. „Guten Morgen, Gretchen. O, es ist
schade, daß du mich geweckt hast, ich habe gerade von Fräulein Geldern
so schön geträumt!“

„Ich habe dich eigentlich nicht geweckt, ich habe dir nur erzählt; o
Hermine, es ist jetzt alles offen und klar, und bald wird Fräulein
Geldern aus aller Not sein!“ Jetzt war Hermine ganz munter und voll
Teilnahme für alles, was ihr die Freundin erzählte. Mitten in dem
Bericht trat Frau Braun ein und war nicht wenig erstaunt, Besuch im
Schlafzimmer zu finden. „Das wird hoffentlich dein letzter Krankenbesuch
bei Hermine sein,“ sagte sie zu Gretchen, „morgen darf sie wieder in die
Schule.“ Das war eine frohe Botschaft für Gretchen; fröhlichen Sinns
verabschiedete sie sich und wanderte leichten Herzens, wie schon lange
nicht mehr, in ihre Schule.

Fräulein Geldern suchte heute nicht die Gelegenheit, mit Gretchen
zusammenzukommen, aber als sie sich zufällig auf der Schultreppe trafen,
drückte sie ihr die Hand und flüsterte ihr zu: „Grüßen Sie mir Ihr
goldiges Mütterlein!“ Nun wußte Gretchen, daß die Freundin ihr nicht
mehr zürnte wegen des „Verrats“.

Frau Reinwald teilte Fräulein von Zimmern mit, wie Gretchen ganz gegen
ihren Willen in Heimlichkeiten verwickelt worden war. Das wußte Gretchen
und so war es ihr auch nicht bange, als sie an einem der nächsten
Schultage in das Zimmer der Vorsteherin beschieden wurde; aber lebhaft
kam ihr in Erinnerung, wie sie das letzte Mal so ungnädig aus diesem
Stübchen entlassen worden war. Diesmal wurde sie freundlich angeredet.
„Du weißt wohl,“ sagte Fräulein von Zimmern, „daß deine liebe Mutter
alles aufgeklärt und in Ordnung gebracht hat, was unklar und verwirrt
war. Ich habe über diese Sache nichts mehr zu bemerken. Ich habe dich
rufen lassen wegen Ruths Stunden. Die Kleine hat nun ihre Kamerädinnen
eingeholt und braucht keine Nachhilfestunden mehr, doch wäre es gut,
wenn du sie noch ein wenig im französischen Lesen übtest; willst du das
noch diesen Monat hindurch tun?“

„Jawohl, gerne.“

„Wie gefällt dir nun das Unterrichten? Möchtest du gelegentlich wieder
eine kleine Schülerin?“

„Lieber nicht,“ sagte Gretchen offenherzig, „ich habe mir’s eben
eigentlich doch lustiger gedacht.“

„_Eben_, _eigentlich_, _doch_,“ wiederholte Fräulein von Zimmern, „drei
Füllwörter nebeneinander! Alle drei könnten wegbleiben. In deinem
letzten Aufsatz mußten auch einige Füllwörter gestrichen werden. Achte
künftig besser darauf! – _Lustig_ ist das Unterrichten freilich nicht;
aber eine Freude ist es doch, die Fortschritte einer Schülerin zu
beobachten und am meisten, wenn man dabei die Liebe der Schülerin zu
gewinnen versteht. Dies ist dir gelungen, Ruth ist dir sehr anhänglich.“

„Ich habe sie auch lieb.“

„Das freut mich. Du kannst nun gehen, mein Kind.“ Vertraulicher als es
sonst ihre Art war, reichte Fräulein von Zimmern Gretchen die Hand und
sah sie freundlich an, so ganz anders als bei dem letzten Gespräch;
Gretchen fühlte sich so glücklich darüber, daß sie in Gefahr kam, der
würdigen Dame zum zweitenmal um den Hals zu fallen. Sie faßte sich aber
noch und verabschiedete sich mit dem vorschriftsmäßigen Knicks. Draußen
aber, da ihr gerade die kleine Ruth in den Weg lief, packte sie dieselbe
in fröhlichem Übermut, setzte sich auf die unterste Treppenstufe, zog
das Kind auf ihren Schoß und rief: „Weißt du schon, Ruth, daß wir nun
bloß noch miteinander lesen müssen, keine langweiligen Übersetzungen
mehr schreiben, keine schweren Wörter mehr lernen? Ist das nicht lustig?
Hast du’s schon gewußt? Ja? Hat dir’s Fräulein von Zimmern gesagt oder
Fräulein Bertrand?“

„Beide.“

Das war wieder eine spärliche Antwort auf solchen Erguß; aber Gretchen
war im Augenblick viel zu vergnügt, um sich über irgend etwas zu ärgern.
Sie lachte nur und sagte: „Gelt, du hast noch nie einen Verweis bekommen
wegen der vielen Füllwörterchen; wenn man bei dir _ein_ Wort streicht,
so bleibt überhaupt nichts mehr übrig.“ Ruth verstand nicht, was
Gretchen mit den Füllwörtern meinte; aber sie empfand den guten Humor
und fühlte sich ganz behaglich als Schoßkind. Aber da ging die Türe auf
und Fräulein von Zimmern trat in den Vorplatz. Im Nu sprang Gretchen in
die Höhe und zog die Kleine mit sich fort, noch ehe die gestrenge
Vorsteherin ihr die Bemerkung machen konnte, daß die Treppe nicht zum
Sitzplatz bestimmt sei.

Hermine ging wieder in die Schule. Wenn sie noch einen Tag weggeblieben
wäre, hätte sie ihre schöne Freundin, Fräulein Geldern, nicht mehr
gesehen.

Am ersten Nachmittag, als sie die Schule wieder besuchte und eben
Fräulein Bertrand die französische Stunde erteilte, trat unerwartet
Fräulein von Zimmern in die Klasse und wandte sich an Fräulein Bertrand:
„Erlauben Sie, daß Hermine und Gretchen einen Augenblick mit mir kommen,
es wird nach ihnen gefragt.“ Überrascht folgten die beiden Gerufenen der
Vorsteherin bis hinunter an ihr Zimmer. „Ihr werdet hier jemand treffen,
der sich von euch verabschieden will,“ sprach sie und öffnete die Türe.
Da standen die beiden Mädchen zwei Damen gegenüber. Die eine, Fräulein
Geldern, ging freundlich auf sie zu. „Ich möchte meine lieben
Freundinnen, ehe ich fortgehe, meiner Mutter vorstellen,“ sagte sie;
„sieh, Mutter, das sind die beiden, die ...“

„Die dir so treulich beigestanden haben in deiner Not,“ vollendete
Fräulein Gelderns Mutter, eine hohe, stattliche Gestalt, die auf die
Mädchen zukam und sie herzlich begrüßte. „Ich war bei Ihrer Mutter,“
sagte sie zu Gretchen, „und habe ihr gedankt für das, was sie an meiner
Tochter getan hat, und nun möchte ich auch Ihnen beiden noch danken.“
Fräulein von Zimmern sah, daß die Freundinnen in Verlegenheit waren und
nicht wußten, was sie antworten sollten. Sie kam ihnen zur Hilfe:
„Fräulein Geldern wird heute schon heimreisen; ich habe euch gerufen,
damit ihr euch noch verabschieden könnt.“ Das taten nun die beiden
Mädchen und als sie wieder zu ihrer Klasse zurückkehrten, begleitete
Fräulein Geldern sie noch bis in den obern Stock. Dort fand Gretchen
noch den Mut zu der Frage: „Sind Sie mir nun gar nicht mehr böse?“

„Nein, gewiß nicht; aber eines möchte ich Sie noch fragen, Gretchen, mit
wem haben Sie damals über mein Geheimnis gesprochen, als Sie sich von
mir lossagten? Mit Fräulein von Zimmern oder mit Ihrer Mutter? Jetzt
können Sie es mir ja eingestehen.“

„Aber mit niemanden! Fräulein Geldern; ich habe es Ihnen doch schon
damals gesagt.“

„Ich kann es nicht glauben, Kind. Die Worte, die Sie damals sagten,
konnten nicht aus Ihnen kommen und ebensowenig Ihr plötzlicher, fester
Entschluß.“

„Es waren die Worte, die unser Pfarrer in der Stunde über Heimlichkeiten
sprach.“

„Ja,“ bestätigte Hermine, „wir hatten ihn gebeten, darüber zu reden,
aber er wußte nicht, warum.“

„Das waren gute Worte; Gott sei Dank für dieselben!“

Die jungen Mädchen trennten sich, Gretchen und Hermine sahen ihre schöne
Freundin die Treppe hinunter eilen – für sie war sie verschwunden, wohl
für immer.

Noch am selben Tag kehrte sie als ein gedemütigtes Kind nach schweren
Erfahrungen ins Elternhaus zurück.



                            Elftes Kapitel.
                            Eine Einladung.


In der ernsten Arbeit der nächsten Wochen war die Erinnerung an Fräulein
Geldern bald zurückgetreten bei unsern Freundinnen. Ihre Mitschülerinnen
waren froh darüber, daß Gretchen und Hermine wieder mehr für sie zu
haben waren. Ottilie von Lilienkron neckte die beiden nicht mehr wegen
ihrer Schwärmerei, und Elise Schönlein, die von den fünfzehn
Schülerinnen der Oberklasse die ungeschickteste war, konnte sich wieder
wie früher Hilfe erbitten bei der allzeit dienstfertigen Hermine oder
guten Rat bei Gretchen, in deren Kopf alles klar lag, was sich bei Elise
in trostlosem Wirrwarr befand.

Der Tag kam, in dem in der Schule von Fräulein von Zimmern Probearbeiten
gegeben wurden. Vom Erfolg derselben und von den Arbeiten, die im Lauf
des Winters gemacht worden waren, hing die Note ab und der Platz in der
Klasse. Hermine war seit Jahren die erste, während Gretchen und Ottilie
öfter auf dem zweiten und dem dritten Platz gewechselt hatten. Diesmal
hatte Gretchen gute Aussicht, den zweiten Platz zu behaupten und Hermine
war das wichtiger als Gretchen selbst. Während sie die Schultreppe
zusammen hinaufgingen, sagte Hermine: „Gretchen, bleib mir treu! Wenn du
nicht ganz schlechte Probearbeiten machst und Ottilie ganz
ausgezeichnete, so _kann_ sie gar nicht mehr über dich hinaufkommen.
Gelt, du paßt recht auf?“

„Ja, ja, ja,“ rief Gretchen ungeduldig, „wie oft willst du mir’s noch
ans Herz legen? Ich kann’s gar nicht ausstehen, wenn man immer so nach
den ersten Plätzen jagt. Ich wollte, ich wäre Elise Schönlein, die sitzt
so fest auf ihrem fünfzehnten Platz, mit allem Leichtsinn kann sie nicht
weiter hinunterkommen, solange nicht eine sechzehnte Schülerin
eintritt.“

„Aber Gretchen, wie du nur so etwas sagen magst, das kommt mir fast
unrecht vor!“

„Ich meine es ja nicht so ernst; aber so ein Ehrgeiz, wie ihn Ottilie
hat, der kommt _mir_ fast unrecht vor.“

Hinter den beiden Freundinnen kam Elise Schönlein herauf. Gretchen
redete sie an und wünschte ihr viel Glück für die Probearbeiten. „Heute
haben wir doch noch keine?“ fragte Elise. „Aber Elise,“ entgegnete
Hermine ganz vorwurfsvoll, „Fräulein von Zimmern hat es uns doch schon
vor acht Tagen gesagt! Hast du denn gar nichts durchgegangen?“ Elise
blieb die Antwort schuldig.

„Und _die_ beneidest du?“ sagte Hermine leise zu Gretchen.

Droben, auf dem langen Gang, wandelte Ottilie auf und ab, ein Buch in
der Hand. „Lernst du noch?“ fragte Hermine. „Nur noch repetieren.
Gestern habe ich, obwohl es Sonntag war, den ganzen Tag gelernt, bis ich
vor Kopfweh gar nicht mehr aus den Augen sehen konnte.“

„Und _die_ beneidest du?“ sagte Gretchen lachend zu Hermine.

Die Probe-Arbeiten gingen von statten, schriftliche Arbeiten aus allen
Fächern. Noch in derselben Woche erschien eines Nachmittags Fräulein von
Zimmern in der Klasse der Großen, um das Resultat zu verkündigen; es
setzte alle in Erstaunen, es fiel auch anders aus, als Hermine erwartet
hatte: Gretchen war nicht die zweite geblieben, nein, Gretchen war die
erste geworden! Die beiden Freundinnen sahen sich bei dieser
Verkündigung ganz verblüfft an und trotzdem Fräulein von Zimmern ganz in
Gretchens Nähe stand und feierliche Stille in der Klasse herrschte,
konnte Gretchen sich doch nicht enthalten, Hermine zuzurufen: „Siehst
du’s! Nun hast du’s! Warum mußt du mich immer so anstacheln!“

„Bemerkungen während der Locierung sind verboten,“ sagte Fräulein von
Zimmern zu Gretchen, „du weißt das seit vielen Jahren. Ich muß leider
meiner Ersten gleich eine schlechte Note geben.“ Lautlose Stille unter
den Schülerinnen. Manch teilnehmender Blick fiel auf die beiden
Freundinnen. Hermine war ein wenig erblaßt. „Nimm dir das nicht zu sehr
zu Herzen,“ sagte Fräulein von Zimmern wohlwollend zu ihr, „dein
längeres Unwohlsein mag etwas ausgemacht haben. Übrigens waren deine
Arbeiten gut, nur die von Gretchen noch etwas besser.“ Diese Worte taten
Hermine wohl und nachdem die beiden Freundinnen ihre Plätze gewechselt
hatten, fanden sich ihre Hände unter dem Tisch zu freundschaftlichem
Gruß.

Ein weiterer Trost für Hermine mochte es sein, daß neben sie, als
dritte, Elsbeth May kam; denn auch Ottilie war um einen Platz
zurückgekommen. „Du bist diesmal die vierte geworden,“ sagte Fräulein
von Zimmern zu ihr, „deine Arbeiten im letzten Halbjahr waren gut, aber
die Probearbeiten sind dir teilweise mißlungen. Du sahst auch nicht gut
aus, warst du unwohl?“ Ottilie stürzten die Tränen aus den Augen und
schluchzend rief sie: „Ich hatte so furchtbar Kopfweh, schon am Tag
vorher, am Sonntag, wo ich gearbeitet hatte von früh bis spät abends.“

„Den ganzen Sonntag hast du gearbeitet, Ottilie? Hast du denn am Werktag
so viel Gutes gehört und gelesen, so für deine Erbauung gesorgt, daß du
es am Sonntag gar nicht mehr nötig hattest? Oder meinst du, es stehe so
gut mit dir, daß du dich ganz über das Gebot der Sonntagsheiligung
hinwegsetzen kannst? Ich glaube, das dürfen nur solche Gotteskinder tun,
deren ganzes Leben ein Gottesdienst ist.“ Ottilie weinte still vor sich
hin. Noch manche Veränderung gab es am grünen Tisch, aber Elise
Schönlein behielt ihren alten Platz.

Obwohl Fräulein von Zimmern durch lange Jahre die Erfahrung gemacht
hatte, daß dieses Mädchen keinen bessern Platz erobern konnte, war sie
doch nicht gleichgültig gegen sie. „Elise,“ sagte sie, „daß du wieder
die letzte bist, nehme ich dir nicht übel, denn die andern lernen
leichter als du. Daß du aber deine Probearbeiten schlechter gemacht hast
als sonst, das hat mich sehr betrübt. Du sollst diese Woche jeden Abend
zu mir kommen, und diese Arbeiten so oft bei mir machen, bis sie so gut
werden, als ich von dir erwarten kann. Du darfst nicht eine schlechtere
Schülerin werden, du kannst und mußt eine bessere werden!“

Als Gretchen an diesem Abend ihren Eltern von den Erlebnissen in der
Schule erzählte, fiel es ihr auf, daß ihr Vater aufmerksamer zuhörte als
sonst bei derartigen Berichten. Nachdem sie alles erzählt hatte, fragte
Herr Reinwald: „Nun? Das Beste kommt doch noch? Nicht? Gibt’s nicht noch
eine wichtige Neuigkeit?“

„Ich weiß nichts weiter, Vater, was meinst du?“

„Ich will nichts ausplaudern, ihr werdet wohl morgen in der Schule
hören, was ich zufällig schon heute erfuhr. Aber das kann ich dir sagen,
du bist ein Glückskind, daß du gerade jetzt den ersten Platz bekommen
hast.“

Auf diese geheimnisvolle Andeutung hin ging Gretchen am nächsten Morgen
voll Erwartung in die Schule. Sie war kaum in das Schulhaus eingetreten,
als ihr auch schon etwas Ungewohntes in die Augen fiel. An der Türe des
Zeichensaals hing recht augenfällig eine große Tafel, auf der mit
deutlicher Schrift geschrieben stand: Die Schülerinnen sämtlicher
Klassen haben sich um zehn Uhr im Zeichensaal zu versammeln.

Mädchen aus allen Klassen umstanden die Tafel, und die verschiedensten
Vermutungen wurden ausgesprochen. „Gewiß ist’s wegen eines
Schulspaziergangs,“ sagte die eine, „wegen der Handarbeitsausstellung,“
meinte eine andere, und eine dritte versicherte, sie wisse es ganz
genau, das Hausmädchen von Fräulein von Zimmern habe sie alle verklagt,
weil sie die Stiefel nicht abstreiften vor dem Schulhaus.

Von all dem glaubte Gretchen nichts, ihr Vater mußte von etwas anderem
wissen. Es _war_ auch etwas ganz anderes. Als um zehn Uhr die
Schülerinnen versammelt waren – auch Lehrerinnen hatten sich eingefunden
– trat Fräulein von Zimmern in den Saal. Die Neugierde der ganzen
Versammlung war so groß, daß von selbst alles Geplauder verstummte und
lautlose Stille eintrat. Gespannt waren die Blicke aller auf die
Vorsteherin gerichtet, als diese sprach: „Ich habe gestern abend ein
Schreiben bekommen aus dem Kabinett der Königin. Ihr wißt wohl alle, daß
in unserem Königshaus große Freude herrscht, weil unserer Königin nach
drei Prinzen eine Prinzessin geschenkt wurde. An dieser Freude sollen
nun die Bewohner der Residenzstadt auch teilhaben und darum hat Ihre
Majestät die Königin beschlossen, ein Fest zu veranstalten zu Ehren der
kleinen Prinzessin. Zu diesem Fest sind an sämtliche Mädchenschulen
unserer Stadt Einladungen ergangen. Von jeder Klasse ist die erste
Schülerin auf Donnerstag den zwanzigsten dieses Monats in die königliche
Residenz eingeladen. Somit ist auch aus unserer Schule die erste jeder
Klasse geladen. Die anderen Schülerinnen, die nicht eingeladen sind,
sollen am zwanzigsten nachmittags schulfrei sein, und wenn es irgend
möglich ist, soll ein Schulspaziergang mit ihnen unternommen werden. Das
Schreiben ist von Ihrer Majestät der Königin eigenhändig
unterschrieben.“ Fräulein von Zimmern hielt es hoch, um es die
Schülerinnen sehen zu lassen, dann sagte sie: „Ihr könnt nun alle den
Saal verlassen, außer den Ersten der zehn Klassen, diese sollen zu mir
kommen.“ Nun war es mit der Stille vorbei, unter großem Tumult leerte
sich langsam der Saal.

Als Gretchen die Mitteilung vernommen hatte, war ihre erste Empfindung
eine triumphierende Freude gewesen: Ja, sie war ein Glückskind! Zum
erstenmal ist sie in dieser Schule die Erste, und gerade diesmal wird
den Ersten eine Auszeichnung zuteil, und eine solche! Eine Einladung in
die Residenz, zum Prinzeßchen. Aber gleich kam eine schmerzliche
Empfindung und verdrängte die Freude; Hermine ist ein Unglückskind! Wäre
die Einladung auch nur ein paar Tage früher ergangen, so wäre sie unter
den Geladenen gewesen! Gretchen wandte sich um, hinter ihr stand
Hermine, ihre Blicke begegneten sich. Wohl war Hermine ein wenig
erblaßt, und Tränen standen in ihren Augen, aber trotzdem nickte sie
Gretchen freundlich zu. Ja, sie war eine selbstlose, treue Freundin, sie
gönnte ihr das Glück, so durfte sich auch Gretchen freuen.

Die zehn Mädchen, die in dem Saal zurückblieben, waren so verschieden in
Alter und Größe wie nur möglich, aber alle waren sie gleich strahlend in
freudiger Überraschung.

Als Fräulein von Zimmern allein war mit ihren Auserkorenen, teilte sie
ihnen noch einiges Nähere mit. Dem Schreiben der Königin lag eine
Anweisung bei, die besagte, daß die Schulvorsteher die Namen der
geladenen Kinder mitteilen sollten, worauf für dieselben
Einladungskarten folgen würden. Auch wegen der Kleidung war einiges
bestimmt: Die Mädchen sollten in weißen Kleidern erscheinen, ohne Hüte,
mit Blumenkränzchen.

Herr und Frau Reinwald hatten schon vorher von dieser Einladung gewußt
und waren deshalb nicht mehr überrascht, als Gretchen ihnen dies alles
mitteilte, aber um so mehr Staunen erregte ihre Botschaft bei Rudi und
Betty. Eingeladen bei der Königin, das klang ja wie ein Märchen, und
Gretchen stand vor den Augen der Kleinen wie eine verzauberte
Prinzessin.

Frau Reinwald war bald darauf in der Bodenkammer zu sehen, wo sie
Gretchens weißes Kleid hervorsuchte. Die kleine Betty war ihr gefolgt,
denn alles, was mit dem Fest der Königin zusammenhing, war ihr
hochinteressant. Frau Reinwald wandte das weiße Kleid hin und her und
kam nicht recht zum Entschluß, ob es wohl für das Fest noch gut genug
wäre. Die Kleine verfolgte alle ihre Bewegungen und las mit sorgenvollem
Gesichtchen in den Mienen der Tante. Endlich griff sie mit ihren
Fingerchen den feinen Stoff und sagte ernsthaft: „Tante, dein Gretchen
zerreißt das Kleid, und die Königin sieht das Loch.“

„Du kleine Unglücksprophetin!“ rief die Tante lächelnd. Aber die
schwankende Wagschale hatte sich durch dies Kinderwort doch geneigt,
Frau Reinwald legte das alte Kleid wieder an seinen Ort, nahm Betty bei
der Hand und sagte: „Komm, wir gehen hinunter und kaufen ein neues
Kleid, die Königin darf kein Loch sehen.“ Und Betty durfte mit, als Frau
Reinwald ging, um den Stoff zu kaufen und die Kleidermacherin zu
bestellen.

„Mutter,“ sagte Gretchen im Heimweg von diesem Ausgang, „ich _muß_ doch
geschwind zu Lene, kein Mensch freut sich so wie sie, wenn sie hört, daß
ich die Erste geworden und zur Königin eingeladen bin.“

„Es ist wahr, das ist etwas für unsere Lene, gehe nur zu ihr, so etwas
darf man der treuen Seele nicht vorenthalten.“

Lene war diesmal nicht allein, alle drei Buben waren daheim; schon vor
der Türe hörte Gretchen sie lärmen und mußte bei sich denken: Die Wilden
sind noch immer nicht gezähmt. Sie mochte sich nicht gerne vor so viel
Zeugen ihres Glückes rühmen und fragte zunächst nur nach Lenes Ergehen.
Aber Lene war mit diesem Thema gleich fertig, etwas anderes schien sie
zu beschäftigen. „Gretchen,“ sagte sie, „kannst du dir den Hofkutscher
Plitt noch denken, der bei meiner Hochzeit war? Der ist ein alter
Kamerad von meinem Mann und kommt oft mit ihm zusammen. Der hat uns
erzählt von dem Fest, das die Königin gibt, du mußt ja auch schon davon
gehört haben, von eurer Schule müssen doch auch die Ersten eingeladen
sein. Da gibt’s eine großartige Bewirtung und Spiele und am Schluß wird
die Prinzessin in ihrer goldenen Wiege gezeigt. O Gretchen, ich habe so
an dich denken müssen, du bist doch meistens die Zweite und könntest
längst die Erste sein, wenn du nur recht wolltest; aber schon von klein
an hat’s dir am rechten Ehrgeiz gefehlt und sieh, jetzt hättest du zur
Königin kommen können!“ Gretchen sah Lene mit strahlenden Augen an und
sagte ganz einfach: „Ich _bin_ ja die Erste.“

„Du _bist_ die Erste? Ja, seit wann denn? Machst du keinen Spaß? Dann
bist du eingeladen zum Fest, wirklich? Ja? Und da kommt sie so ruhig zur
Tür herein und sagt: Grüß Gott, Lene, wie geht’s dir? Buben, habt ihr’s
gehört? Mein Gretchen ist die Erste und ist zur Königin eingeladen!“
Freilich hatten es die Buben gehört, längst waren sie nicht mehr die
Wilden, ganz zahm standen sie da und horchten. Jetzt sprach der Große:
„Ich hab’ mir’s schon ausgedacht, daß der Vater sie in die Residenz
fahren muß, ich schreib es ihm gleich in seinen Kalender, am zwanzigsten
nachmittags.“ „In der neuen Hochzeitskutsche,“ rief der zweite, „das
macht sich fein vor der Residenz.“ „Die wird der Vater nicht nehmen, für
die rechnet er immer die doppelte Taxe.“ „Die nimmt er, sag ich!“ „Die
nimmt er nicht.“ Die Brüder gerieten in Streit. „Seid still, ihr Buben,
und verderbt mir meine Freud’ nicht,“ rief Lene und nun erzählte sie
ganz ausführlich alles, was der Hofkutscher Plitt gesagt hatte,
erkundigte sich nach Gretchens Festkleid und war glücklich, als sie
hörte, daß schon die Schneiderin bestellt sei, um ein ganz neues Kleid
zu machen.

Gretchen ging sehr vergnügt heim, Lenes große Freude hatte ihre eigene
Freude noch erhöht. Am Abend, als Rudi und Betty in ihren Bettchen
lagen, waren auch sie noch erfüllt von der Neuigkeit des Tages, so daß
sie nicht gleich einschlafen konnten, und wer an der Türe des
Schlafzimmers lauschte, konnte folgendes Zwiegespräch zwischen den
Kleinen vernehmen:

_Betty_: Glaubst du, Rudi, daß es Kuchen gibt bei der Königin?

_Rudi_: O nein, Kuchen essen ja auch gewöhnliche Menschen! Da gibt’s
etwas Besseres.

_Betty_: Rahmtorte vielleicht?

_Rudi_: Nein, noch etwas viel Besseres.

_Betty_: Was ist noch besser als Rahmtorte?

_Rudi_: Das sag ich dir nicht.

_Betty_: Warum denn nicht?

_Rudi_: Weil du noch so klein und dumm bist.

_Betty_: Ich möchte aber so gern wissen, was besser schmeckt als
Rahmtorte!

_Rudi_: Ich sag dir’s nicht.

_Betty_: Dann sag ich dir auch nichts mehr.

_Rudi_: Du weißt ja gar nichts.

_Betty_: Nein, aber wenn ich vielleicht morgen etwas weiß, dann sag ich
dir morgen nichts.

_Rudi_: Und ich sag dir einen ganzen Monat lang nichts.

_Betty_: Und ich noch viel länger, eine ganze Woche lang.

_Rudi_: O die weiß noch nicht einmal, daß ein Monat länger ist als eine
Woche, zehnmal länger!

(Eine kleine Pause tritt ein.)

_Rudi_: Schläfst du schon, Betty? Warum sagst du nichts mehr? Weinst du?
Ich kann’s gar nicht leiden, wenn du weinst.

_Betty_: Ich auch nicht, aber ich muß.

_Rudi_: Warum mußt du denn weinen?

_Betty_: Weil du mir einen Monat lang nichts mehr sagst, und weil ich so
dumm bin, und weil ich nicht weiß, was besser schmeckt als Rahmtorte.

_Rudi_: Betty, hör auf zu weinen, dann sag ich dir etwas, aber du darfst
es niemand sagen: Ich weiß halt selbst nicht, was besser schmeckt als
Rahmtorte, sonst hätte ich dir’s schon gesagt. Aber wenn Gretchen von
der Königin heimkommt, dann fragen wir sie gleich.

_Betty_: Ja, und ich sag dir morgen alles, wenn ich etwas weiß. Meine
Woche ist jetzt vorbei.

_Rudi_: Mein Monat ist auch vorbei. Gute Nacht, Betty, du bist nicht so
arg klein und dumm.

_Betty_: Ich muß jetzt auch nimmer weinen. Gute Nacht, Rudi.

                   *       *       *       *       *

Es war fünf Tage vor dem Fest. Frau Reinwald richtete alles zu, was für
die Kleidermacherin nötig war, die am nächsten Tag erwartet wurde.
Gretchen sollte noch einige Besorgungen machen, die sie in die Nähe von
Hermine führten, und sie wollte diese bitten, mit ihr zu gehen, wie das
die Freundinnen im Brauch hatten. Sie traf Hermine nicht zu Hause, aber
da diese jeden Augenblick heimkommen konnte, wollte Gretchen auf sie
warten. Sie ging in das Wohnzimmer, wo Frau Braun und drei von Herminens
Geschwistern sich aufhielten. Frau Braun begrüßte sie freundlich wie
immer, hingegen nahm es sich wenig freundlich aus, daß Herminens
dreizehnjähriger Bruder bei ihrem Eintritt vom Tisch aufstand und ohne
Gruß das Zimmer verließ. Gretchen, die sich in diesem Familienkreis ganz
daheim fühlte, fragte unbefangen: „Was hat denn Richard, warum läuft er
hinaus, wenn ich komme?“ „Ich weiß nicht, was er hat,“ sagte Frau Braun
und wollte das Gespräch auf etwas anderes bringen. Aber Otto, der
jüngere Bruder, sagte: „Ich weiß wohl, was Richard hat, er ist bös auf
Gretchen wegen der Einladung in die Residenz.“ „Ist es ihm so leid, daß
Hermine nicht hinkommt?“ fragte Gretchen. „Ja, aber es ist kindisch und
töricht von ihm, deshalb auf dich zu zürnen, du bist ja die ganz
unschuldige Ursache. Man muß ihn damit entschuldigen, daß es ihm am
meisten leid tut von uns allen.“ „Papa tut’s doch noch mehr leid,“
entgegnete Otto.

„Aber Hermine selbst hat es doch so leicht verschmerzt,“ sagte Gretchen.

„Meinst du, Kind?“ fragte Frau Braun in schmerzlichem Ton. „Da irrst du
dich. Hermine hat dich so lieb, daß sie sich vor dir beherrscht, weil
sie dir die Freude nicht verderben will. So etwas verschmerzt sich
überhaupt nie. Noch als altes Mütterlein wirst du dich deines Glückes
rühmen und von dem Fest erzählen, das du mitmachen durftest, und sie
wird in ihren alten Tagen noch von diesem Mißgeschick reden. Es ist ja
auch bitter für sie, und daß es ihr Vater so schwer nimmt, macht es
allerdings noch besonders schwer für uns alle.“

„Ja, und daß Richard immer behauptet, es sei ungerecht, weil Hermine
bloß durch ihr Kranksein zurückgekommen sei, und weil Fräulein von
Zimmern heuer die Probearbeiten früher machen ließ als sonst, gerade wie
wenn sie gewollt hätte, daß es so kommt.“

„Das ist aber nicht wahr,“ rief die kleine Mathilde, „wir haben die
Arbeiten früher machen müssen, weil zwei Lehrer fortkommen.“

Gretchen hatte genug gehört. „Hermine bleibt mir doch zu lange aus, ich
will jetzt gehen,“ sagte sie.

„Es ist mir nicht recht,“ sagte Frau Braun, „daß das alles vor dir
gesprochen wurde, es wird auch Hermine sehr leid sein. Nimm dir’s nicht
zu Herzen, du kannst ja gar nichts dafür. Wenn ich dich vorher nicht
mehr sehe, so wünsche ich dir recht viel Vergnügen zu dem Fest, komm nur
bald danach und erzähle uns.“

Die kleine Mathilde geleitete Gretchen hinaus, sie war sehr anhänglich
an sie. „Mathilde,“ sagte Gretchen zu ihr, „sage mir die Wahrheit, ist
Hermine sehr traurig?“ Die Kleine nickte nur mit ernsthaftem
Gesichtchen.

Gretchen ging. Wo war auf einmal all ihre Freude hin? Ganz in Gedanken
verloren wanderte sie durch die Straßen und machte ihre Besorgungen. Die
Seide, die Atlasbändchen, die sie auswählen sollte, waren ihr so
gleichgültig. Vor einer Stunde noch hatte sie sich gefreut, daß endlich
ihr Festkleid gemacht werden sollte, jetzt mochte sie gar nicht daran
denken. Eine ganze Familie war traurig geworden durch sie und nicht nur
traurig für kurze Zeit, nein, Frau Braun sagte ja, Hermine würde noch
als altes Mütterchen darum trauern. Das kam ihr gar schrecklich vor! Wie
hatten ein paar Worte doch ihre ganze, große Freude zerstört! Am
liebsten hätte sie jetzt noch zugunsten von Hermine auf ihre Einladung
verzichtet, aber es ging ja nicht mehr. Der Vater würde sagen, das seien
törichte und übertriebene Freundschaftsideen, die Mutter würde ihr
vorstellen, daß alles schon eingekauft und für morgen die Näherin
bestellt sei.

Wie zur Bestätigung dieser Gedanken trat ihr daheim Franziska mit den
Worten entgegen: „Der Schuhmacher hat die Stiefelchen geschickt, sie
sind hochfein, im Zimmer stehen sie.“ Nein, es war zu spät, um zu
verzichten. Sie wollte die Eltern gar nicht um die Erlaubnis bitten,
ihre Mutter würde es nur betrüben, wenn sie hörte, was Brauns gesagt
hatten. Sie wollte nicht auch der Mutter noch die Freude verderben,
diesen Kummer wollte sie vor ihr verbergen.

Der Kinder Geplauder brachte sie über die nächste Stunde weg, aber nun
mußten die Kleinen zu Bett, und dann kam der Vater zum Abendessen, sonst
eine gemütliche Stunde, auf die sie sich aber heute fürchtete, denn es
mußte die Rede auf das Fest kommen, und sie sollte davon sprechen wie
früher und dachte doch ganz anders darüber.

Das Essen ging vorüber, Gretchen fühlte sich immer mehr bedrückt, sie
war so gar nicht gewohnt, vor den Eltern ihre Empfindungen zu
verschweigen. Eine Weile nach dem Essen zog Herr Reinwald seine
Taschenuhr und sagte: „Ich habe heute noch einen Ausgang vor, auf neun
Uhr habe ich mich mit einigen Herren zu einer Besprechung verabredet,
Herr Braun ist auch dabei.“

„Herr Braun!“ rief Gretchen, und auf einmal wurde der gute Vorsatz, zu
schweigen, umgestoßen. „O Vater, Herr Braun ist so unglücklich, daß
Hermine nicht zum Fest darf, und Frau Braun auch und alle Kinder, und
sie meinen, Hermine werde es als altes Mütterchen noch nicht verschmerzt
haben. Hätte ich das doch früher gewußt, dann hätte ich gesagt, sie soll
statt meiner gehen, es wäre mir ja viel, viel lieber, denn ich kann mich
gar nicht mehr darauf freuen, aber gelt, jetzt ist es viel zu spät?“ Mit
ängstlicher Spannung sah Gretchen auf den Vater. Und dieser?

Ganz ruhig wandte er sich zu seiner Frau und sagte: „Siehst du, es kommt
ihr noch in der elften Stunde! Sie wäre ja nicht dein Kind, wenn sie
nicht so dächte!“ Und dann wandte er sich wieder zu Gretchen und sprach:
„Du hast ganz recht, laß du nur Hermine Braun als Erste gelten.“
Gretchen war über alle Maßen von dieser Antwort überrascht. Frau
Reinwald sah es ihr an. „Du bist ganz erstaunt, nicht wahr. Der Vater
und ich haben uns schon lange gewundert, daß du nicht daran denkst, zu
Gunsten von Hermine zu verzichten; aber wir wollten dich nicht
bestimmen, so ein Verzicht muß ganz freiwillig sein.“

„Ich habe ja bis heute nachmittag gar keine Ahnung davon gehabt, daß
Brauns es so schwer nehmen, haben sie es denn euch gesagt?“

„Nein, aber wir kennen ja die Familie und wissen, daß ihnen so etwas
viel wichtiger ist als uns.“

„O wie bin ich so froh,“ jubelte Gretchen, „ich hätte gar nicht gedacht,
daß ihr es jetzt noch erlaubt.“

„Praktischer wäre es allerdings gewesen, wenn sich dein Edelmut etwas
früher gemeldet hätte,“ sagte Herr Reinwald, „wie wollt ihr das nun
einrichten mit eurer Schneiderin?“

„Brauns müßten eben den Kleiderstoff mitsamt der Schneiderin gleich
morgen übernehmen, sie täten es natürlich auch gerne, wenn sie es nur
schon wüßten.“

„Also dann mach dich rasch fertig, Gretchen,“ sagte Herr Reinwald, „ich
begleite dich hin, und du bringst dort die ganze Sache in Ordnung. Geht
das?“

„Das geht, aber wer begleitet sie heim?“

„O da sorge dich nicht, Mutter, da begleiten mich alle sechs Kinder
heim, wenn ich will; oder ich schlafe bei Hermine, das wäre noch
lustiger; o laß mich dort schlafen, Mutter, bitte, sage ja, zum Ersatz,
weil ich nicht zum Fest darf!“

Fünf Minuten später war Gretchen mit ihrem Nachtzeug unter dem Arm
unterwegs. „Was soll ich machen, wenn sie es nicht annehmen wollen?“
fragte Gretchen ihren Vater.

„Sie machen dir vermutlich keine großen Schwierigkeiten.“

„Die andern nicht, aber Hermine vielleicht.“

„Der sagst du, ihr müßtet euren Vätern gehorchen, und diese würden es
heute abend so miteinander verabreden. Ich treffe Herrn Braun und werde
ihm im Heimweg ein paar Worte über die Sache sagen.“

Gretchens erste Frage im Haus Braun war: „Ist Hermine noch auf?“ und
dann: „Ist Herr Braun schon ausgegangen?“ und als das beides bejaht war,
ging sie sehr befriedigt auf das Wohnzimmer zu. Hermine kam ihr unter
der Türe entgegen: „Ich habe doch gleich deine Stimme erkannt,“ sagte
sie, „aber niemand wollte glauben, daß du so spät noch kommst.“

Gretchen trat ein. Die jüngsten Kinder waren schon zu Bett gebracht, die
älteren und Frau Braun saßen gemütlich an dem großen, runden Tisch, und
alle sahen sehr erstaunt auf den späten Gast. Richard wagte nicht, sich
zum zweitenmal so unhöflich zu zeigen, doch sah er gleich wieder in sein
Buch. „Was bringt dich denn so spät noch zu uns?“ fragte Frau Braun, und
alle warteten neugierig auf Gretchens Antwort. Wie sollte diese nun die
Angelegenheit einleiten? Es war eigentlich eine unangenehme Sache. „Wie
komisch, daß du so dastehst und nicht sagst, was du willst,“ sagte
Hermine.

Da lachte Gretchen und die Kinder lachten mit; das Eis war gebrochen,
Gretchen faßte Hermine, schüttelte sie und rief: „Kannst du’s denn gar
nicht erraten, weshalb ich komme? Du darfst zum Fest statt meiner! Ja,
staune nur, es ist ganz gewiß; dein Vater und meiner, die machen es
jetzt gerade miteinander aus, und wir beide müssen gehorsam sein,
verstehst du? Ist dir’s jetzt recht, daß ich so spät noch komme?“
Hermine war diesmal nicht erblaßt, nein, dunkelrot wurde sie in
freudiger Erregung und alle Kinder drängten sich um die beiden
Freundinnen.

Richard war der erste, der Worte fand: „Bravo, Gretchen, du sollst
hochleben!“ und Otto stimmte mit ein. Aber Hermine hatte sich jetzt
gefaßt und sagte: „Seid doch still, das kann ich doch gar nicht
annehmen!“ Richard fiel ihr eifrig ins Wort: „Hermine, nur keine
Umstände gemacht, es ist einfach dein gutes Recht, daß du zum Fest
kommst, und du nimmst es an.“ Frau Braun, die bei der Aufregung der
Kinder noch gar nicht zu Wort gekommen war, entgegnete Richard sehr
bestimmt: „Nein, ihr _Recht_ ist’s nicht, das Recht ist auf Gretchens
Seite. Aber wir wollen jetzt nicht vom Recht reden, sondern von
Freundschaft, und die Freundschaft kann man annehmen und kann sie auch
vergelten durch ein ganzes Leben hindurch.“ Bewegt zog sie Gretchen an
sich und küßte sie. Auch Mathilde drängte sich zu ihr und sagte bittend:
„Du bist doch nicht _so_ traurig darüber, wie Hermine war?“ Und Gretchen
lachte sie freundlich an und sagte: „Sehe ich traurig aus?“

Frau Braun stellte noch manche Frage, aber sie machte sich keine
Bedenken, das Opfer anzunehmen. Die ganze Familie war zu sehr unter dem
Eindruck gestanden, daß durch einen glücklichen Zufall Gretchen genießen
sollte, was Hermine durch jahrelange Arbeit verdient hätte.

Nun richtete Gretchen aus, was ihr Frau Reinwald wegen der
Kleidermacherin und des Kleiderstoffs aufgetragen hatte, und während sie
mit Frau Braun das alles besprach, stand Hermine wie in einem schönen
Traum verloren neben ihr und hielt ihre Hand fest.

„Hast du denn dort etwa schon den Kleiderstoff mitgebracht?“ fragte Frau
Braun, auf Gretchens Päckchen deutend.

„Ach nein, das ist etwas ganz anderes, das ist meine Entschädigung
dafür, daß ich nicht zum Fest darf.“

„Dann ist’s gewiß etwas sehr Schönes? Dürfen wir’s ansehen?“ Gretchen
lachte. „Ich will es lieber zuerst mit Hermine allein auspacken.“ „So
komm mit,“ sagte Hermine und ging mit der Freundin hinaus ins
Nebenzimmer. Sie sah zuerst ganz verständnislos auf das schlichte
Nachtjäckchen, das aus dem Paket herauskam. Dann begriff sie und kehrte
jubelnd zur Mutter zurück: „Gretchen darf bei uns übernachten, gelt,
Mutter, sie darf?“ Natürlich durfte sie! Noch ganz andere Dinge hätte
sie heute von dieser Familie verlangen dürfen. Jedes der Kinder bot sein
Bett an, alle Hände erklärten sich bereit, das Nötige für den
unerwarteten Gast zu richten. Mathilde, die gewöhnlich bei Hermine
schlief, durfte ihren Platz dem Gast einräumen, und nach einem
herzlichen „Gute Nacht“, das ihr von allen Seiten geboten wurde, blieb
Gretchen allein mit ihrer Freundin.

Nun gab es ein langes, trauliches Plaudern. Hermine wollte alles wissen
und erfuhr auch alles. Es fiel ihr nicht leicht, das Opfer von der
Freundin anzunehmen, und so wollte sie genau erfahren, wie groß das
Opfer für Gretchen war. „Eigentlich sind mir nur zwei Dinge wirklich
leid,“ antwortete Gretchen auf Herminens Fragen; „das eine, daß ich die
kleine Prinzessin nicht zu sehen bekomme, und dann das andere, daß
unsere Lene so bös auf mich sein wird. Daran mag ich gar nicht denken.
Aber es ist ja auch nicht nötig, daß ich daran denke; ich will jetzt
immer daran denken, wie du als altes Mütterchen bei deinen Urenkeln
sitzst und ihnen von dem Fest erzählst.“ „Von dir erzähle ich ihnen noch
viel mehr,“ sagte Hermine. Da klopfte Frau Braun an die Türe und rief:
„Hört einmal, es ist bald elf Uhr. Von euren Urenkeln könntet ihr auch
morgen noch sprechen, das eilt wohl nicht so sehr.“

Noch ein herzlicher Gute-Nachtkuß wurde gegeben und die beiden
Freundinnen schliefen ein.

Am nächsten Tage klopfte Gretchen bei Fräulein von Zimmern an, denn ihr
mußte doch die Verabredung mitgeteilt werden. Unterwegs hatte sie sich
überlegt, wie sie die Sache kurz, ohne überflüssige Füllwörter,
mitteilen wollte.

„Fräulein von Zimmern,“ sagte sie, „mit Zustimmung unserer Eltern soll
Hermine statt meiner zu dem Fest der Königin gehen. Erlauben Sie, daß
ich meine Einladungskarte an Hermine abtrete?“

Fräulein von Zimmern überlegte eine Weile, dann sprach sie: „Eine
Einladung, die von der Königin ausgeht, lehnt man nicht ab. Ich erhielt
die Karten für die Ersten; _du_ bist eingeladen, nicht Hermine.“
Gretchen erschrak. Die Möglichkeit, daß Fräulein von Zimmern nicht
einwilligen könnte, war ihr gar nicht in den Sinn gekommen; welch
schreckliche Enttäuschung wäre das nun für Brauns! „Es war freundlich
von dir gemeint, liebes Kind,“ fuhr Fräulein von Zimmern fort, „und ich
begreife, daß du der Freundin zuliebe verzichten möchtest, aber es wäre
nicht richtig gehandelt. Hattest du mir sonst noch etwas zu sagen?“
Gretchen war ganz bestürzt, das klang schon wie Entlassung! O, sie mußte
erst noch viel sagen!

„Ich war gestern bei Brauns, sie waren alle so unglücklich, der Vater,
die Mutter und sogar die Brüder. Sie nehmen es so schwer und meinen,
Hermine könnte es ihr ganzes Leben lang nicht verschmerzen. Und so ist’s
bei meinen Eltern gar nicht, sie haben mir’s augenblicklich erlaubt, daß
ich mit Hermine tausche, ich könnte auch gar nicht vergnügt sein bei dem
Fest; und wenn mich Hermine nicht immer so getrieben hätte, daß ich mehr
lernen soll, so wäre ich gar nicht die Erste geworden.“ Gretchen sprach
immer rascher und eifriger, denn sie fürchtete jeden Augenblick
hinausgeschickt zu werden. „Ich habe auch so unerhörtes Glück gehabt bei
den Probearbeiten. In der Geographie, bei den Nebenflüssen der Donau,
hatte ich die Enns vergessen zu schreiben. Da höre ich, wie hinter mir
eine andere fragt: „Schreibt man die Enns mit zwei ‚n‘?“ Natürlich habe
ich dann die Enns noch hineingeflickt.“

„Geflickt!!“

„Geschrieben,“ verbesserte Gretchen. „Wenn die Probearbeiten so spät
gewesen wären wie sonst immer, dann wäre Hermine gewiß wieder die Erste
geworden; seit sie gesund ist, holt sie ja alles Versäumte nach, und
jetzt ist schon die Schneiderin bei Brauns und hat den Stoff
verschnitten, für mich wäre Herminens Kleid viel zu kurz – o Fräulein
von Zimmern! ...“ Gretchen hielt ganz außer Atem mit diesen flehenden
Worten inne.

„Das geht etwas bunt durcheinander bei dir, Gretchen! Die Enns und das
kurze Kleid, aber ich habe dich doch verstanden. Ich werde es mir
überlegen. Wenn ich es mit gutem Gewissen kann, dann werde ich deinen
Wunsch erfüllen, aber auch nur dann. Heute nachmittag sollst du Antwort
haben.“

Gretchen war nur halb beruhigt. Fräulein von Zimmern hatte die Erlaubnis
von ihrem Gewissen abhängig gemacht; ach, das Gewissen von Fräulein von
Zimmern war gar nicht zu berechnen!

In der Freiviertelstunde nahm Gretchen Hermine beiseite und erzählte ihr
von der Unterredung. Arm in Arm wandelten die beiden miteinander, die
gemeinsame Furcht und Hoffnung bewegte sie, noch nie hatten sie sich so
lieb gehabt wie heute.

Und noch ein anderes Pärchen wandelte, mit derselben Angelegenheit
beschäftigt, draußen im Schulhof auf und ab. Es war Mathilde Braun und
Ruth. Sie waren sonst gute Freundinnen, aber jetzt hatten sie
entgegengesetzte Interessen. Mathilde war für ihre Schwester, Ruth für
Gretchen, und die beiden stritten darüber, wer das beste Recht auf die
Einladung zum Fest hätte. Wenn Ruth mit der Verteidigung Gretchens nicht
mehr recht nachkam – denn sie war nicht so redegewandt wie Mathilde –
dann seufzte sie nur und wiederholte immer wieder: „Ich hätte Fräulein
Gretchen das schönste Rosenkränzchen zum Festschmuck bringen dürfen,
Papa hatte es schon erlaubt;“ und Mathilde begriff dann, daß Ruth für
Gretchen stimmen mußte.

Auch Fräulein von Zimmern bewegte die Angelegenheit nicht allein in
ihrem Herzen. Sie suchte ihren treuen Berater, Pfarrer Kern, auf und
berichtete ihm. „Es ist eine schwierige Frage,“ schloß sie, „ob ich
berechtigt bin, eine andere als die Erste zum Fest zuzulassen. Was sagen
Sie dazu?“

„Was ich immer sage: Der Geist macht lebendig, der Buchstabe tötet. Im
Geist der Königin ist es, eine Freudenfeier zu schaffen, ihr Glück
andern mitzuteilen. In irgend einen Buchstaben mußte sie diesen Geist
fassen. Liegt nun der Fall so wie bei unserer zehnten Klasse, so käme
statt Freude und Glück nur Kummer und Unzufriedenheit heraus, wenn wir
auf dem Buchstaben beharren wollten und sagen: die Erste ist geladen.
Wäre das im Geist der Königin gehandelt?“

Die Karte, die zur Beteiligung am Fest berechtigte, ging mit Zustimmung
Fräulein von Zimmerns in Herminens Hände über, Gretchen hatte ihr Recht
verloren.

Es war ihr auf dem Heimweg von der Schule doch eigentümlich zumute.
Jetzt, da alles entschieden war, wurde sie sich erst bewußt, wie sie
selbst sich seit vierzehn Tagen gefreut, auf dies Ereignis hin gelebt
hatte und die Tage gezählt bis zu dem Vergnügen, das für sie in Nichts
zerronnen war.

Und nun, da unser Gretchen in dieser trüben Stimmung heimkommt, wird sie
von Franziska mit den Worten empfangen: „Lene ist da!“ Franziska hatte
freilich keine Ahnung, was sie damit sagte. Kaum hatte Gretchen diese
Worte gehört, so machte sie „Kehrt“ und stürmte die Treppe wieder
hinunter. Franziska war ganz verblüfft über die Wirkung ihrer Worte. Sie
trat ans Treppengeländer und rief der Fliehenden nach: „Fräulein
Gretchen, Sie haben mich gewiß falsch verstanden, Ihre Lene ist’s.“

„Ich weiß schon, ich komme nicht eher wieder, als bis sie fort ist!“

„Aber, wenn ich ihr das sage!“

„Sagen Sie’s nur, sie begreift’s. Ich gehe zu Hermine.“

Lene war gekommen, um sich Gretchens Festkleid anzusehen, und ihre
Enttäuschung, als sie alles erfuhr, ging Frau Reinwald zu Herzen; sie
nahm es der treuen Seele auch nicht übel, daß sie in ihrer Erregung
manches nicht ganz höfliche Wort und manches unverständige
hervorsprudelte. Von all den guten Gründen, die Frau Reinwald anführte,
wollte Lene auch nicht einen gelten lassen; erst als Frau Reinwald
sagte: „Lene, so ist eben unser Gretchen, so hast du sie immer lieb
gehabt und so mußt du sie auch ferner lieb behalten,“ da wurde Lene
still, wischte sich eine Träne aus den Augen und sagte: „Ich möchte sie
ja nicht anders haben!“

Rudi und Betty hatten Lenes Vorstellungen mit angehört und diese hatten
ihnen einen tiefen Eindruck gemacht. Es war am Abend noch zu bemerken,
als sie in ihren Bettchen lagen und das Ereignis des Tages besprachen:

_Rudi_: Hast du gehört, Betty, was die Frau Lene gesagt hat?

_Betty_: Ja, sie hat gesagt, daß es gar nicht recht ist von Gretchen.

_Rudi_: Und wenn’s die Königin erfährt, dann geht’s dem Gretchen
schlecht.

_Betty_: Was geschieht ihr dann?

_Rudi_: Ich weiß nicht; aber der Soldat, der bei uns einquartiert war,
der hat gesagt, wenn man den König verraten hat, dann wird man
erschossen!

_Betty_: O wie schrecklich!

_Rudi_: Oder geköpft.

_Betty_: Was tut weher?

_Rudi_: Erschießen tut nicht so weh.

_Betty_: Weißt du’s gewiß?

_Rudi_: Erschießen geht manchmal daneben.

_Betty_: Aber Rudi, gelt, Gretchen wird nicht geköpft?

_Rudi_: Nein, Mädchen werden nicht geköpft.

_Betty_: Und auch nicht erschossen?

_Rudi_: Nein, die halten gar nicht still. Erschießen paßt für die
Soldaten.

_Betty_: Was paßt für Mädchen, wenn Köpfen und Erschießen nicht paßt?

_Rudi_: Du fragst immer so dumm. Gute Nacht.

Nach einer Pause fängt Betty ganz leise noch einmal an:

_Betty_: Rudi, ich kann gar nicht schlafen wegen Gretchen. Sag mir doch,
was tut man mit den Mädchen statt Erschießen?

_Rudi_: Ich will mich auf etwas besinnen, damit du schlafen kannst.

_Betty_: Hast du dich jetzt besonnen?

_Rudi_: Ja. Kannst du schlafen, wenn ich sage; Mädchen kommen auf die
Teufelsinsel?

_Betty_: Nein, o nein, da kann ich nicht schlafen.

_Rudi_: Ach, mit dir ist’s eine Not! Aber jetzt weiß ich etwas: Mädchen
werden begnadigt.

_Betty_: Dürfen sie dann wieder heim?

_Rudi_: Ja, dann dürfen sie tun, was sie wollen.

_Betty_: Dann kann ich schlafen. Gretchen wird begnadigt. Gute Nacht,
Rudi.

_Rudi_: Gute Nacht, Betty.



                           Zwölftes Kapitel.
                            Bei der Königin.


Es war der letzte Nachmittag vor dem Fest. Gretchen saß mit Ruth allein
in dem Schulzimmer und ließ ihre kleine Schülerin französisch lesen.
Fräulein von Zimmern trat ein. Gretchen und Ruth sahen kaum vom Buch
auf, sie waren an diese Besuche gewöhnt. Aber heute kam Fräulein von
Zimmern nicht als stille Zuhörerin. „Schließt nur euer Buch,“ sagte sie
in ungewohnter Lebhaftigkeit, „ich bringe dir eine ganz unerwartete
Botschaft, Gretchen.“ Erwartungsvoll sah diese auf. „Sieh her, ich habe
wieder ein Schreiben aus dem Kabinett der Königin erhalten, ich werde es
dir vorlesen.“

In dem Schreiben stand, es sei der Königin bekannt geworden, daß eine
der Ersten dieser Schule zu Gunsten der Zweiten aus allzugroßer
Gewissenhaftigkeit auf die Einladung zum Fest verzichtet habe. Wenn sich
das tatsächlich so verhalte und die Beweggründe wirklich edle gewesen
seien, so sollen hiemit die beiden Ersten dieser Klasse eingeladen sein.
Eine weitere Eintrittskarte lag bei.

Gretchen sprang auf von ihrem Platz und mit dem Ruf: „Das ist herrlich,
einfach herrlich!“ nahm sie die Karte in Empfang. Wem hatte sie dies
unverhoffte Glück zu danken? Einen Augenblick zögerte sie, ob sie sagen
dürfe, was sie dachte; als sie aber nur Freude und Güte in den Zügen
ihrer gestrengen Vorsteherin las, da rief sie: „Fräulein von Zimmern,
das haben _Sie_ gemacht, Sie haben es die Königin wissen lassen!“ „Nein,
mein Kind, da irrst du dich, ich habe mich selbst schon besonnen, auf
welchem Weg dies in der kurzen Zeit von wenigen Tagen bis zu der Königin
gedrungen sein kann. Ich denke aber, wenn du unserm lieben Herrn Pfarrer
dafür dankst, wirst du wohl an den richtigen Mann gekommen sein. Es
freut mich herzlich für dich, auch für Hermine kann es jetzt erst eine
reine Festfreude geben. Und nun geh eilends heim zu deiner lieben
Mutter, ich denke mir, sie wird kaum mehr das Nötige richten können bis
morgen.“

Ruth hatte dies alles zwar schweigend, aber mit sichtbarer Freude
angehört. Gretchen verabschiedete sich schnell, ohne wie sonst zu
warten, bis Ruth ihre Bücher eingepackt hatte und mit ihr gehen konnte.
Sie wollte keine Zeit verlieren, eilte fröhlich die Treppen hinunter.
Aber doch wurde sie auf der Straße noch von Ruth überholt; die kleine
Gestalt rannte an ihr vorüber, ohne sich aufhalten zu lassen. Warum es
ihr heute wohl so pressiert? fragte sich Gretchen, sie ist doch nicht
geladen!

Das war nun daheim eine Freude bei den Eltern, bei den Kleinen, ja auch
bei Franziska! Aber auch ein Getriebe! An ein neues Kleid war ja nicht
mehr zu denken, aber das alte mußte gerichtet, gestärkt und gebügelt
werden, und die Unterkleider und Bänder und Handschuhe und das
Blumenkränzchen, was gab es nicht alles zu besorgen! Aber alle halfen
gern nach Kräften, ja sogar Herr Reinwald, der, solange seine Tochter
zurückdenken konnte, noch nie von häuslichen Geschäften etwas übernommen
hatte, bot seine Hilfe an zum großen Ergötzen von Gretchen. „Vater,“
sagte sie lachend, „ich möchte dich sehen, wie du die Stärke anrührst
oder meine Röcke bügelst!“ „Hört, hört!“ entgegnete Herr Reinwald, „sie
ist schon ganz naseweis und übermütig, weil sie zu Hof geladen ist! Nun
also, wenn meine Hilfe verschmäht wird, so ziehe ich mich in mein Zimmer
zurück.“

Es währte aber keine Viertelstunde, so erschien Gretchen ganz demütig
bei Herrn Reinwald. „Vater,“ bat sie, „es wäre so gar geschickt, wenn
Lene zur Hilfe käme, heute und morgen, aber wir haben alle keine Zeit,
zu ihr zu gehen und sie zu bitten. Machst du nicht einen kleinen
Spaziergang in die Gegend von ihrem Haus?“

„Weil die Altstadt so verlockend ist als Spaziergang und weil der Regen
so sanft hernieder rieselt?“ fragte Herr Reinwald dagegen. Aber er stand
doch auf und erklärte sich bereit, Lene zu bestellen.

In diesem Augenblick wurde geklingelt und Franziska meldete, daß ein
Herr Fräulein Gretchen sprechen wolle. „Mich? Ein Herr?“ rief diese
erstaunt. „Nun ja,“ sagte der Vater, „es wird der König oder doch sein
erster Minister sein. In diesen Kreisen verkehrst du ja.“ Er ging mit
Gretchen in das Besuchszimmer. Dort stand ein großer, stattlicher Mann –
Gretchen erkannte ihn sofort wieder, es war Ruths Vater. Nach kurzer
Vorstellung und freundlicher Begrüßung überreichte er Gretchen ein
wunderbar feines Rosenzweiglein. „Meine Ruth bittet Sie, sich morgen mit
diesen Rosen zu schmücken. Sie hätte die Blumen Ihnen selbst gebracht,
aber sie konnte es im Augenblick nicht, sie hatte starkes Nasenbluten,
als sie aus der Stunde kam.“

„Aus _deiner_ Stunde?“ fragte Herr Reinwald.

„Ich weiß nichts davon, es hat gar nichts gegeben,“ sagte Gretchen
errötend.

„Nein, nein,“ bestätigte der Forstrat, „sie ist nur wie unsinnig
heimgerannt, um rechtzeitig das Kränzchen zu besorgen.“ „Es scheint ein
Verhängnis zu sein, daß ihr der Verkehr mit meiner Tochter Nasenbluten
zuzieht,“ sagte Herr Reinwald. „O Vater!“ bat Gretchen, der es peinlich
war, immer wieder an ihr erstes Zusammentreffen mit dem Forstrat
erinnert zu werden. Aber die beiden Herren lachten und der Forstrat
sagte: „Ich glaube, es war Ruth nicht arg, daß sie selbst nicht kommen
konnte, es wäre ihr eine Verlegenheit gewesen, ihr Kränzchen zu
überreichen. Sie ist immer noch so ein ängstliches Häschen.“ „Aber mit
unsern Kleinen spielt und plaudert sie ganz vergnügt,“ sagte Gretchen.
„Es ist mir von großem Wert für das Kind, daß es in Ihr Haus kommen
darf,“ sagte der Forstrat und dabei lag ein trauriger Ausdruck auf
seinen Zügen. Gretchen bat ihn, Ruth morgen zu schicken, damit sie
selbst sehen könne, wie sich die Röschen im Haar ausnähmen, und dankte
herzlich für des Forstrats Freundlichkeit. Die beiden Herren verließen
zusammen das Haus, Herr Reinwald mußte ja seinen Abendspaziergang in die
Altstadt machen.

Lene kam am Abend voll Dienstfertigkeit und Tatendurst. Diesmal
flüchtete Gretchen nicht vor ihr. „Heute habe ich mich auf dich
gefreut,“ sagte sie zu Lene, „aber das letztemal hätte ich mich nicht zu
dir hereingewagt, wie hättest du mich auch gezankt!“ „Ja, ja,“ sagte
Lene, „mit dir hat man aber auch seine liebe Not.“ „Jetzt fängt sie doch
an zu zanken,“ rief Gretchen lachend ihrer Mutter zu; „du hast doch noch
gar keine Not mit mir gehabt, die geht jetzt erst recht an, mit den
Kleidern!“

„_Die_ Not schlage ich nicht hoch an; aber wieviel gute Worte haben mein
Mann und ich dem Hofkutscher Plitt geben müssen, wie waren wir in
Aufregung, weil er zuerst nicht recht gewollt hat, und dann keine
passende Gelegenheit gefunden hat, es der Königin mitzuteilen. _Das_ war
eine Not! Aber gottlob, es ist ja gelungen,“ rief Lene und sah mit
glücklichem Stolz auf Gretchen. „Ja, Lene, ist denn das durch _dich_ an
die Königin gegangen?“ fragten wie aus einem Mund Frau Reinwald und
Gretchen. „Freilich, wir haben es dem Hofkutscher aufgegeben. So, das
haben Sie gar nicht gewußt? Ja, ja, woher auch? Aber Gretchen, du
hättest dir’s denken können!“ „Ja,“ sagte Frau Reinwald ganz bewegt, „du
hättest es dir denken können. Wem sonst wäre deine Sache so am Herzen
gelegen, wer anders hätte so für dich alle Hebel in Bewegung gesetzt?“
Gretchen fiel Lene um den Hals. Die wehrte mit feuchten Augen ab und
sagte: „Laß doch, jetzt heißt’s schaffen! Wo ist dein Kleid?“

Mit knapper Not wurde alles zur rechten Zeit fertig bis zum Donnerstag
Nachmittag, wo sich die Schülerinnen von Fräulein von Zimmern im
Schulhaus versammelten, um gemeinsam zur Residenz zu gehen. Gretchen
hatte das schlichteste Kleid an; aber die Röschen leuchteten freundlich
aus dem blonden Haar und die Augen strahlten vor Vergnügen. Mit
Wohlgefallen sah Fräulein von Zimmern auf die kleine Schar ihrer besten
Schülerinnen. Die jüngste, ein munteres sechsjähriges Mädchen, übergab
sie der besonderen Obhut der zwei größten und empfahl ihr, folgsam zu
sein. „Und nun geht hin“, sagte sie, als die ersehnte Stunde endlich
geschlagen hatte, „und freuet euch des schönen Festes. Laßt euch nicht
bange sein, wenn auch die Königin mit euch sprechen sollte. Wenn ihr
euch so benehmt, wie ihr es alle Tage mir gegenüber tut, so ist es
recht. Ich verlange täglich von euch eine feine Sitte, damit ihr euch
nie bedrückt fühlt, wenn euch die Verhältnisse in vornehme Kreise
führen. Heute wird es euch zu statten kommen.“

Jedermann in der Stadt wußte, was es für eine Bewandtnis hatte mit den
Gruppen weißgekleideter Mädchen, die um diese Zeit in allen Teilen der
Stadt nach der Residenz hinzogen. Eine große Menschenmenge hatte sich
auf dem Residenzplatz versammelt, um zu sehen, wie die festliche Schar
durch das große Schloßportal eingelassen wurde.

Obwohl von jeder Klasse nur _eine_ Schülerin geladen war, so kamen doch
aus den zahlreichen Schulen und Instituten der Residenz mehr als
zweihundert Mädchen zusammen. In Gruppen, wie sie kamen, wurden sie von
Lakaien in den großen Speisesaal geleitet, der rings mit grünen Bäumchen
und Blattpflanzen geschmückt war. Zwei lange gedeckte Tafeln reichten
fast von einem Ende des Saals zum andern. Niedliche Fähnchen ragten da
und dort vom Tisch in die Höhe und trugen die Aufschrift der
verschiedenen Schulen, so daß jede Gruppe leicht ihren Platz finden
konnte. Weitaus die größte Anzahl der Schülerinnen gehörte den
Volksschulen an. Manch armes Arbeiterkind durfte sich heute an eine
Tafel setzen, die sonst nur für vornehme Herren und Damen gedeckt wurde.
Die Töchter des adeligen Instituts, die sonst keine Gemeinschaft
pflegten mit den Kindern des Volks, die Klosterschülerinnen, die streng
getrennt lebten von andern Mädchen, die Waisenkinder, denen die Königin
selbst weiße Kleider an Stelle ihrer grauen gestiftet hatte, sie alle
waren heute in _einem_ Saal vereinigt mit den andern Schülerinnen der
Stadt, und wie sie äußerlich durch die weißen Kleider und den
Blumenschmuck im Haar sich ähnlich sahen, so hatten sie auch innerlich
einige Eigenschaften gemein. Fleißig und gut begabt waren all die
Anwesenden; denn die Faulen und die Dummen sind nicht auf den ersten
Plätzen zu finden und waren nicht unter den Geladenen. So ging es auch
jetzt geordnet zu, trotz der großen Anzahl von Mädchen und in kurzer
Zeit saßen sie alle erwartungsvoll an ihren Plätzen.

Gretchen und Hermine hatten zwischen sich die Kleine sitzen, die ihnen
Fräulein von Zimmern als Pflegekind anbefohlen hatte. Aber über diese
hinweg konnten die Freundinnen sich unterhalten: „Gretchen,“ sagte
Hermine, „wenn du jetzt nicht da wärest, könnte ich unmöglich glücklich
sein, ich müßte immerfort daran denken, daß ich dich um dein Vergnügen
gebracht habe. Ich hatte ja das Opfer angenommen, aber wirklich mehr um
des Vaters und der Geschwister willen als um meinetwillen. Aber so,
wie’s jetzt ist, ist’s herrlich!“ „Könnte gar nicht herrlicher sein,“
bestätigte Gretchen strahlend.

Schon ein Weilchen hatte die ganze, große Gesellschaft erwartungsvoll
dagesessen, sich an den reizenden Tellern und Täßchen gefreut und sich
gefragt, was wohl auf und in dieselben kommen würde, als eine Hofdame
eintrat. Sie hatte ein Papier in der Hand, auf dem einiges notiert
schien. Sie hielt sich bald bei dieser, bald bei jener Gruppe auf und
fragte nach einzelnen Namen. Kurz darauf wurde die große Flügeltüre des
Saales geöffnet und ein Diener verkündigte: „Ihre Majestät die Königin.“
Alle Mädchen erhoben sich und alle Blicke richteten sich auf die
liebliche Erscheinung der jungen Königin, die in lichtblauem
Seidenkleid, in Begleitung einiger Hofdamen, eintrat.

Eine der Schülerinnen, die unter der Flagge des „Adeligen Instituts“
saßen, ein zierliches, kleines Mädchen von kaum mehr als sechs Jahren,
verließ ihren Platz, ging der Königin entgegen, begrüßte sie artig mit
Handkuß, ergriff dann traulich die Hand der Hofdame, die zunächst der
Königin stand und sagte fröhlich und unbefangen: „Guten Tag, Mama, wir
sind schon alle hier, sieh nur, wie viele!“ „Wo sitzen deine
Kamerädinnen?“ fragte die Königin; „willst du mich zu ihnen führen?“ und
sie folgte dem Kind an den Platz, den die Zöglinge des „Adeligen
Instituts“ innehatten. Die Hofdame stellte mehrere derselben, deren
Namen für die Königin Interesse haben konnten, vor, und mit jeder
wechselte die Königin einige freundliche Worte.

„Majestät,“ sprach nun die Hofdame, „es ist eine Schülerin unter den
Geladenen, die gern Ihrer Majestät zur Begrüßung ein Lied vorsingen
möchte,“ und leise, nur für die Umstehenden verständlich, fügte sie
hinzu: „Es ist eine kleine Sängerin von Gottes Gnaden, sie wird einmal
von sich reden machen.“ „Eine zweite Jenny Lind?“ sagte die Königin; „wo
ist das Kind, zu welcher Schule gehört sie?“ „Es ist eine
Volksschülerin,“ antwortete die Hofdame und wandte sich dann weiter
unten an der Tafel an ein etwa achtjähriges Mädchen: „Maria Bucher,
willst du nun dein Lied singen?“ „Nein,“ antwortete zu aller Erstaunen
die Kleine mit großer Bestimmtheit, „jetzt nicht.“ Etwas scharf
entgegnete die Hofdame: „Jetzt ist die Zeit, später nicht; du hast doch
selbst gewünscht, vor Ihrer Majestät der Königin zu singen.“ Alle
schauten gespannt auf das Kind. Dieses blickte scheu ringsum: „Es sind
so viel Augen,“ sagte es leise, „da kann man nicht singen.“ Gütig neigte
sich die Königin zu dem verschüchterten Mädchen und sagte: „Du hast ganz
recht, vor so viel Augen geht das nicht; aber ich weiß, wo es geht,
willst du wohl mit mir kommen?“ und sie führte die Kleine, die ihr
willig folgte, an das Ende des Saals und stellte sie so, daß sie die
gedeckten Tafeln hinter sich hatte und vor sich die grünen Bäumchen.
„Hier kann man singen, nicht wahr?“ fragte ermutigend die Königin und
Maria Bucher antwortete: „Ja, schön!“ und ohne auf weitere Aufforderung
zu warten, fing sie mit einem glockenhellen Stimmchen an zu singen:

   Prinzeßchen fein, Prinzeßchen klein,
   Wir sind heut deine Gäste.
   Wir sind geladen allzumal
   In den geschmückten Königssaal
   Zu deinem Wiegenfeste.

   Prinzeßchen fein, bist noch so klein,
   Mög Gott dich uns bewahren!
   Du bist ja unsers Königs Kind,
   Drum bleiben wir dir treu gesinnt
   Jetzt und in späten Jahren!

Lautlose Stille hatte in dem ganzen Saal geherrscht und rührend hatte
die reine Stimme geklungen. Die Königin war sichtlich bewegt. „Wer hat
das schöne Lied gemacht?“ fragte sie das Kind, während sie es an seinen
Platz zurückgeleitete.

„Meine Mama hat es mir gemacht.“

„Da mußt du ihr einen Gruß von mir bestellen und mußt sie bitten, daß
sie mir das Lied aufschreibt und dann bringst du es mir und singst es
mir noch einmal.“ Die Königin bat die Hofdame, sich des Kindes Adresse
zu notieren. Inzwischen hatte sich die Kleine an ihren Platz gesetzt,
blickte um sich und sagte: „Nun sind schon wieder die vielen Augen da!“
Die Königin lächelte: „Daran wird sich meine kleine Sängerin gewöhnen
müssen,“ sagte sie; aber die allgemeine Aufmerksamkeit wurde jetzt
abgelenkt.

Die Hofdame hatte ein paar Worte mit der Königin gewechselt und
geleitete diese nun zu der Gruppe der Waisenkinder. „Du heißt Niemeier,
nicht wahr,“ sagte die Hofdame zu einem zwölfjährigen Mädchen, und als
diese bejahte, fuhr sie, zur Königin gewendet, fort: „Es ist die Tochter
des Feuerwehrmanns, der bei dem großen Brand im vorigen Jahr das Leben
eingebüßt hat. Ihre Majestät erinnern sich vielleicht, daß der Mann –“

„Gewiß, ich erinnere mich gut, solchen Heldenmut vergißt man nicht. Drei
Menschen hatte er aus dem brennenden Haus herausgeholt und als er zum
viertenmal eindrang, um das kleine Kind zu retten, das man noch
vermißte, da kam er nicht wieder.“ Dem Mädchen waren die Tränen in die
Augen getreten, als es so unvermutet, mitten in der Feststimmung, an
dieses Erlebnis erinnert wurde. Als aber die Königin ihr huldvoll die
Hand drückte und zu ihr sprach: „Dein Vater ist als Held gestorben, du
kannst stolz auf ihn sein und mußt seinem Namen immer Ehre machen,“ da
sah das Kind voll Begeisterung zu der Königin auf und fühlte sich über
die Trauer hinweggehoben.

Die Königin wandte sich an ihre Begleiterin: „Ich wünschte noch die
beiden Freundinnen zu sehen, von denen eine der andern die Einladung zu
unserem Fest abtreten wollte. Kennen Sie dieselben wohl?“

„Soviel ich weiß, gehören sie zu dem Institut von Fräulein von Zimmern,“
erwiderte die Hofdame; „diese sitzen an der andern Tafel, ich werde sie
Ihrer Majestät zuführen.“

Gretchen und Hermine wären schon von weitem zu erkennen gewesen an dem
Erröten, als sie hörten, daß die Aufmerksamkeit der Königin sich ihnen
zuwandte. Die Hofdame hatte sie auch bald herausgefunden und ihnen einen
Wink gegeben, ihr zu folgen. Obwohl sie gewußt hatten, daß die Königin
Gastgeberin bei diesem Fest sein würde, hatte doch keine von ihnen an
die Möglichkeit gedacht, daß unter den Hunderten von Kindern gerade sie
persönlich vorgestellt würden, und sie sahen sich im ersten Augenblick
betroffen an. Hermine ließ Gretchen den Vortritt; sie fühlte sich
gedeckt durch deren größere Gestalt und beruhigt durch die Erfahrung,
daß Gretchen selbstverständlich die Sprecherin machte in allen
schwierigen Fällen des Lebens. Den beiden Mädchen kam zu statten, was
sie bei Fräulein von Zimmern gelernt hatten. Es war ihnen nichts
Fremdes, sich anmutig zu verneigen, sie standen nicht steif und
unbeholfen vor der Königin, die sie nun anredete: „Welche von Ihnen
beiden ist nun die Erste?“

„Gegenwärtig bin ich’s,“ antwortete Gretchen, „aber in den letzten
Jahren war es immer Hermine, und nur diesen Winter ist sie durch eine
Krankheit zurückgekommen.“

„Dann wäre es allerdings bitter für Sie gewesen,“ sprach die Königin zu
Hermine, „nicht bei dem Fest zu sein.“ Mit Tränen der Erregung kämpfend
brachte Hermine nur ein leises „Ja!“ hervor. „Und Sie,“ fuhr die Königin
zu Gretchen gewendet fort, „hätten sich nicht der Freude hingeben
können, während die Freundin trauert. Ich begreife wohl, daß Sie ihr
lieber die Einladung abtreten wollten. Aber es ist Ihnen doch wohl
schwer geworden, auf das Fest zu verzichten?“ „Ja,“ sagte Gretchen, „ich
hatte mich so gefreut, ganz besonders darauf, die kleine Prinzessin zu
sehen.“

„Das tut mir leid,“ entgegnete die Königin, „ich fürchte, da wird Ihnen
das Fest eine Enttäuschung bereiten. Die Prinzessin ist zu zart, um in
so große Gesellschaft gebracht zu werden. Es war mein Wunsch, sie den
Kindern allen zu zeigen, aber der Arzt hat es nicht erlaubt.“ „O wie
schade,“ rief Gretchen sichtlich enttäuscht, „wir wären gewiß alle ganz
leise gewesen, wenn man die Prinzessin hereingebracht hätte.“

„Das glaube ich,“ erwiderte die Königin; „aber es handelt sich dabei um
die Luft, die dem Kindchen unzuträglich sein könnte. Haben wohl alle
Kinder die Hoffnung gehegt, die Prinzessin zu sehen?“ „Ich weiß nicht,“
entgegnete Gretchen. Da wagte Hermine auch ein Wort. „Nein,“ sagte sie,
„außer Gretchen hat es niemand geglaubt.“ Schon hatte diese auf den
Lippen zu sagen: „Ich habe es durch den Hofkutscher Plitt erfahren,“ als
ihr noch rechtzeitig ihr Taktgefühl eingab, daß es diesem Mann
vielleicht unangenehm wäre, wenn hier erwähnt würde, was er geplaudert
hatte. So unterdrückte sie die Bemerkung. „Ich hoffe, Sie werden dennoch
vergnügt sein an meinem Fest,“ sagte die Königin huldvoll, „zwei so gute
Freundinnen sind immer glücklich miteinander!“ Sie reichte den beiden
Mädchen die Hand, sie waren entlassen. Während sie an ihren Platz
zurückkehrten, flüsterte Gretchen Hermine zu: „Das war so etwas zum
Erzählen für unsere Urenkel!“

Die Königin verließ grüßend den Saal und nun wurde es belebt an den
Tafeln. Die Kinder untereinander plauderten, Diener erschienen und
schenkten aus silbernen Kannen Schokolade in die reizenden Täßchen und
boten Kuchen dazu an. Rudi und Betty wären vielleicht enttäuscht
gewesen; denn solchen Kuchen hatten auch „gewöhnliche Menschen“ schon
gegessen. Aber später hätten sie kennen gelernt, was ihnen vielleicht
noch besser als Rahmtorte erschienen wäre; als die Kinder nach
verschiedenen Spielen, die mit ihnen gemacht wurden, noch einmal an der
Tafel Platz nehmen durften, standen auf den Tischen silberne Körbchen,
die wie Blumen- und Obstkörbchen anzusehen waren. Aber die Rosen und
Lilien, die Birnen und Kirschen, die darin lagen, waren alle aus
Gefrorenem gebildet und hatten gar feinen Geschmack.

Die Kinder waren nicht mehr still wie anfangs, fröhliches Leben
herrschte in dem Saal, einzelne Damen sprachen da und dort die Kinder
an, Diener eilten hin und her. So wurde es kaum bemerkt, als eine der
Hofdamen zur Gruppe von Fräulein von Zimmerns Schülerinnen trat und
leise zu Gretchen sagte: „Kommen Sie mit mir.“ Gretchen folgte und
verließ mit der Dame den Saal. Im Vorsaal sprach diese zu ihr: „Ihre
Majestät die Königin will Ihnen die große Ehre erweisen, Ihnen die
Prinzessin zu zeigen. Majestät hätte gern allen diese Gunst erwiesen, es
kann aber nicht sein und wurde wohl auch von vernünftigen Menschen nicht
erwartet. Sie scheinen diese Hoffnung gehegt zu haben, und in ihrer
großen Güte kann die Königin den Gedanken nicht ertragen, daß einer
ihrer Gäste enttäuscht von dem Fest heimkehre. Ich soll Sie deshalb in
die Gemächer der Prinzessin führen. Sie werden nicht vergessen, sich für
diese Auszeichnung zu bedanken, und werden der Prinzessin nicht zu nahe
treten oder gar ihr die Hand küssen, wodurch Ansteckung möglich wäre.“

„Ich bin nicht krank,“ sagte Gretchen. „Wer kann das wissen? Vorsicht
schadet nie.“ Gretchen kam es vor, als ob ihre Führerin nur widerwillig
den Wunsch der Königin erfüllte. Sie fühlte sich dadurch bedrückt und
hätte in diesem Augenblick leicht auf die ihr zugedachte Ehre
verzichtet. Still ging sie neben der Hofdame im rauschenden Seidenkleid
durch die langen Korridore der Residenz. Endlich war das Ziel erreicht.
Auf leises Klopfen wurde ihnen die Türe von einer einfach gekleideten
Frau geöffnet. Es war die Amme der Prinzessin, die leise die Türe wieder
hinter den Besuchen schloß und sich in das Nebengemach zurückzog. An
einem Fenster des hohen, freundlichen Zimmers, durch das die
Frühjahrssonne warm herein schien, saß die Königin.

„Majestät,“ sprach die Hofdame, „hier ist Margarete Reinwald.“ Die
Königin erhob sich grüßend und sprach dann zu der Hofdame: „Lassen Sie
mir das Mädchen hier, ich werde sie zurückbegleiten lassen.“ Zu
Gretchens großer Befriedigung verließ die feierliche Dame auf diese
Worte hin das Zimmer. Allein mit der Königin, die sich so gütig gegen
sie gezeigt hatte, fühlte sie sich nicht mehr befangen. Jetzt überkam
sie die große Freude, daß sie die kleine Prinzessin sehen sollte, und
mit großem Verlangen sagte sie: „Darf ich wirklich das Prinzeßchen
sehen? O wo ist sie denn?“ Es war gut, daß die gestrenge Hofdame nicht
mehr anwesend war! Was hätte sie dazu gesagt, daß Gretchen so gegen die
Etikette verstieß, indem sie zuerst das Wort an die Königin richtete!

Aber die Königin war nicht nur Majestät, sie war auch Mutter, und das
dringende Verlangen, ihr Kind zu sehen, freute sie. Gütig lächelnd sagte
sie: „Ja, Sie sollen die Prinzessin sehen, kommen Sie!“ und sie führte
Gretchen durch eine Portiere in das anstoßende Gemach. Auf weichen
Teppichen schritten sie lautlos bis an die Wiege, neben der die Wärterin
stand. „Schläft sie noch?“ fragte die königliche Mutter. „Sie hat noch
keinen Laut gegeben,“ erwiderte die Frau. „Wir müssen sie doch sehen,“
sagte die Königin und zog sachte die zarten Tüllvorhänge der Wiege
auseinander. Und als sie beide – die Königin von der einen, Gretchen von
der andern Seite in die Wiege blickten, waren sie gleich sehr
überrascht, denn mit offenen Äuglein sah das Kind ihnen entgegen.

„Sie wacht ja,“ rief Gretchen ganz entzückt. Bei diesem hellen Ruf und
dem Anblick von Gretchens Erscheinung verklärte ein Lächeln das winzige
Kindergesichtchen. „Ei,“ rief die Königin, „sie lächelt Sie an! Da werde
ich fast eifersüchtig, denn sie ist noch sparsam mit ihrem Lächeln,
nicht wahr, Frau Walter?“ „Ja,“ sagte diese, „Prinzessin ist erst neun
Wochen alt, da kann man nicht viel verlangen.“ „Wie lieblich sie
aussieht, was sie für ein klein winziges Mündchen hat!“ rief Gretchen
ganz entzückt, und die Kleine schien Gefallen zu finden an dem blonden,
rosigen Kopf, der sich über sie neigte, und an der hellen Stimme, sie
lächelte wieder. „Sie hört Ihre Stimme gern,“ sagte die Königin.

Da fing Gretchen leise an, die Worte zu singen, die ihr noch in den
Ohren klangen: „Prinzeßchen fein, Prinzeßchen klein.“ Die Kleine horchte
und ihre Äuglein hafteten auf dem Röschen, das Gretchen angesteckt hatte
und das sich bewegte. „Das Röschen gefällt ihr,“ sagte die Wärterin.
Gretchen steckte es ab und bewegte es hin und her, und die Kleine folgte
mit den Augen. „Darf ich ihr’s geben?“ fragte Gretchen, zu der Königin
aufblickend. „Wenn Sie es gerne geben, dann können wir es an dem Vorhang
befestigen, daß sie es vor sich sieht.“ „Es ist Zeit zum Trinken,“
mahnte die Wärterin. „Dann wollen wir nicht länger stören,“ sagte die
Königin und drückte einen Kuß auf die kleine Stirne. „Lebwohl, mein
Liebling, wachse mir auch so blühend heran wie diese Tochter, die dir so
gut gefällt!“ Gretchen griff nach einem der kleinen Händchen, die aus
dem Spitzenjäckchen hervorsahen und hätte es vielleicht geküßt, wenn es
die Hofdame nicht untersagt hätte. So sagte sie nur: „Behüt dich Gott,
Prinzeßchen!“ folgte der Königin in ihr Gemach und nicht nur auf Befehl
der Hofdame, auch aus eigenem Herzensdrang dankte sie der königlichen
Mutter für die Freude, die sie gehabt hatte. „Es tut mir leid,“ sagte
die Königin, „daß ich den andern Mädchen nicht auch die Freude machen
darf. Erzählen Sie heute noch nichts von Ihrem Besuch bei der
Prinzessin, es täte vielleicht den andern weh.“ „Ich will nichts davon
sagen,“ versprach Gretchen, „ich freue mich nur, bis ich es heute abend
meinen Eltern erzählen darf.“

Mit strahlenden Augen kehrte Gretchen in den Saal zurück, wo sich manche
über ihre Abwesenheit gewundert hatte. „Du hast dein schönes Röschen
verloren,“ sagte Hermine, sobald sie Gretchen erblickte. „Macht nichts,“
entgegnete diese übermütig, „morgen erzähle ich dir, wo ich es gelassen
habe!“

Zum Schluß des Festes wurden die Kinder in den Konzertsaal des Schlosses
geführt. Dort war eine kleine Bühne errichtet, auf der eine lustige
Puppenkomödie aufgeführt wurde. Von einer erhöhten Galerie aus sah die
Königin mit den drei Prinzen der Aufführung zu und konnte sich an dem
lauten Beifall der Schuljugend ergötzen. Im Hintergrund des Saales hatte
sich die Dienerschaft des Schlosses eingefunden, die von dem Fest nicht
nur die Mühe, sondern auch den Spaß haben wollte. Während einer Pause in
der Aufführung hatte Gretchen zufällig zurückgesehen, und seitdem wandte
sie sich öfter um und sah dorthin. „Warum siehst du dich immer um?“
fragte eine Schülerin des Adeligen Instituts, die in ihrer Nähe saß und
sie ein wenig kannte. „Dort hinten ist nichts Interessantes zu sehen,
dort steht nur die Dienerschaft.“ „Ich weiß,“ sagte Gretchen, „aber
unter diesen Leuten kenne ich jemand und dem möchte ich für etwas
danken.“ „Das geht doch nicht an, es ist ja auffallend, sogar die
Königin könnte es von oben bemerken. Ich möchte nicht vor ihr und all
diesen Mädchen mit jemand aus der Dienerschaft reden.“

„Warum denn nicht? Unter der Dienerschaft habe ich meine besten
Freunde,“ sagte Gretchen und dachte dabei an Lene.

Als nach dem nächsten Auftritt der Vorhang wieder fiel, hatte Gretchen
ihren Entschluß gefaßt. Sie stand augenblicklich auf, schlüpfte zwischen
den Reihen hindurch bis in den Hintergrund des Saals, unbekümmert um die
verwunderten Blicke, die ihr folgten. Mitten unter den Leuten stand der
Hofkutscher Plitt. Auf ihn hatte Gretchen es abgesehen. Plötzlich stand
sie vor dem Erstaunten, reichte ihm die Hand: „Ihnen muß ich danken,
denn wenn Sie nicht so gut gewesen wären, hätte ich keine Karte zum Fest
bekommen. Die Lene hat mir’s erzählt.“ „Nichts zu danken, es ist ja gern
geschehen,“ versicherte der Mann wiederholt. Es war ihm aber wohl
anzumerken, wie es ihn freute, daß eines von den größten und schönsten
Festfräulein so vor aller Augen zu ihm herkam und sich bei ihm bedankte,
und es folgten ihr viel freundliche Blicke der Dienerschaft, als sie zu
ihrem Platz zurückeilte, um ihn zu erreichen, ehe der Vorhang in die
Höhe ging.

                   *       *       *       *       *

Hoch befriedigt kamen all die jungen Gäste vom Fest heim und in
vornehmen und geringen Häusern wurde an diesem Abend von denselben
Erlebnissen gesprochen. Gretchen hatte aber noch etwas mehr erlebt als
alle andern. Die kleine Weile, die sie mit der königlichen Mutter allein
an der Wiege der Prinzessin gestanden war, schien ihr die köstlichste
Erinnerung von allem, und noch im Einschlafen schwebte ihr das holde
Lächeln des Kindes vor. Als Frau Reinwald ein paar Minuten, nachdem
Gretchen zu Bett gegangen war, noch einmal in ihr Zimmer kam, um das
weiße Kleid herauszunehmen (es _hatte_ ein Loch, aber die Königin konnte
es nicht gesehen haben), da war Gretchen schon eingeschlafen, und noch
im Schlaf lag ein glücklicher, friedlicher Ausdruck auf ihren Zügen. „Du
mein sonniges Glückskind,“ sagte die Mutter bewegt, „Gott erhalte dich
so wie du bist!“



                          Dreizehntes Kapitel.
                           Fräulein Trölopp.


Rudi und Betty hatten sich so eingelebt in der Familie Reinwald, daß sie
ganz erstaunte Gesichter machten, als eines Tages die Nachricht kam,
Fräulein Trölopp würde am nächsten Montag kommen, um sie heimzuholen.
Ihnen war es, als seien sie schon daheim, und sie sehnten sich nicht
fort. Auch Gretchen hatte sich sehr an sie gewöhnt wie an kleine
Geschwister und mochte gar nicht daran denken, daß sie nun wieder das
einzige Kind im Haus sein würde. Aber etwas war doch bei dieser
Mitteilung, das sie sehr glücklich machte: Fräulein Trölopp wollte ja
die Kinder holen. Sie freute sich so sehr darüber, daß sich Frau
Reinwald wunderte. „Du hast sie doch zu wenig kennen gelernt, um sie
eigentlich lieb zu gewinnen,“ sagte Frau Reinwald.

„Ich weiß auch gar nicht, ob ich sie lieb habe; aber sie ist so ganz
anders, als alle andern Menschen, daß ich zu gerne möchte, Ihr lerntet
sie kennen.“

Als am nächsten Tag Gretchen an die Bahn ging, um Fräulein Trölopp
abzuholen, brauchte sie sich nicht lange unter den Ankommenden
umzusehen. Der bekannte, grellgelbe Samthut leuchtete ihr schon von
weitem entgegen, auch der schillernde Reisemantel fehlte nicht, und die
fremdartige Erscheinung zog sogar in der Residenz manchen Blick auf
sich. Im ersten Augenblick war es Gretchen, als sei Fräulein Trölopp
noch etwas unschöner als früher, und während die dicke, kleine Gestalt
mit ihr durch die Straßen watschelte, mußte sie denken, was wohl die
Eltern von der neuen Bekanntschaft halten würden. Vielleicht fänden sie
dieselbe nur abstoßend und würden sie gerne möglichst bald wieder ziehen
sehen?

Konnte Fräulein Trölopp Gedanken lesen? Fast mußte es Gretchen glauben;
denn sie unterbrach Gretchens Gedankengang, indem sie sagte: „Ich werde
Ihren Eltern nicht lange zur Last fallen. Es ist jetzt elf Uhr, um zwei
Uhr werde ich mit den Kindern abreisen.“

„Aber Fräulein Trölopp,“ rief Gretchen erstaunt, „wir haben ja
gerechnet, daß Sie bei uns übernachten!“

„Ich mache nicht gerne unnütze Mühe; sagen Sie selbst, hat es einen
Nutzen, daß ich bleibe?“

„Sie müssen sich doch ein wenig von der Reise erholen.“

„Das ist unnütz.“

„Wir haben aber die Kindersachen noch gar nicht alle eingepackt.“

„Das kann ich zwischen elf und zwei Uhr besorgen.“

Gretchen wandte nichts weiter ein; sie mochte nicht sagen: Es wird uns
leid tun, wenn Sie so kurz bleiben. Den Eltern mußte ja die
abenteuerliche Erscheinung mißfallen. Warum konnte sich auch Fräulein
Trölopp nicht ein klein wenig anspruchsloser kleiden? Franziska würde
gleich spöttisch lächeln beim Anblick dieses Gastes! Als sie zu Hause
anlangten, öffneten die Kinder die Türe, und fast gleichzeitig mit ihnen
erschien Frau Reinwald, deren feine, schlanke Gestalt den größten
Kontrast gegen die kurze, dicke Figur Fräulein Trölopps bildete.

Gretchen sah fast ängstlich auf die Mutter, wie würde der erste Eindruck
sein?

Unnötige Sorge, Gretchen! Es gibt Menschen, die sehen durchs Äußere
hindurch ins Innere, und zu diesen gehört deine Mutter!

Frau Reinwald hieß mit großer Herzlichkeit Fräulein Trölopp willkommen.
„Sie haben meiner Schwester und ihren Kindern so viel Liebe erwiesen,
daß ich glücklich bin, Ihnen auch ein ganz klein wenig Liebe erweisen zu
können. Wer weiß, wie meine Schwester die schwere Zeit überstanden hätte
ohne Ihre Hilfe. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin!“
und bewegt zog Frau Reinwald die Fremde an sich und küßte sie. Gretchen
fühlte sich glückselig, alle ihre Erwartungen waren übertroffen! Ein
solcher Empfang wurde Fräulein Trölopp zu teil! Und sah diese noch so
häßlich aus? Nein, in diesem Augenblick war wenigstens _etwas_ Schönes
an ihr, das war der warme Strahl des Glücks, der aus ihren Augen
leuchtete, während sie zu Frau Reinwald aufsah und einfach sagte: „Sie
sind eine edle Frau!“

Gretchen fühlte sich am Kleid gezupft, als sie eben der Mutter und dem
Gast ins Zimmer folgen wollte. Rudi und Betty waren es, die sie
festhielten und ihr nun zuflüsterten: „Jetzt kommt die Überraschung.“
Neugierig trat Gretchen mit den andern in das Wohnzimmer und war in der
Tat überrascht. Ehe sie an die Bahn gegangen war, hatte die Mutter
gesagt: „Wir brauchen nichts zum Empfang zu richten, es wird ja bald
nachher zu Mittag gegessen und der erwartete Gast ist anspruchslos.“
Kaum aber war Gretchen fort gewesen, so hatte Frau Reinwald den Tisch
gedeckt, mit Blumen geschmückt, Kuchen und Wein aufgestellt. Sie wollte
den Gast und zugleich Gretchen damit erfreuen und ergötzte sich nun an
Gretchens Überraschung, die sie doch nicht aussprechen konnte.

Herr Reinwald trat ein, als sich Fräulein Trölopp eben für den
gastlichen Empfang bedankte. „Verlieren Sie nur keine Worte darüber,“
sagte er, „meine Frau meint nämlich mit ihrem Kuchen und ihren Blumen
gar nicht Sie, sie meint nur ihre gut gepflegte Schwester und glücklich
genesenen Neffen und allenfalls noch dieses Gretchen dort, das man nicht
mehr erfreuen kann, als wenn man eine gewisse Reisebekanntschaft ehrt;
ist’s nicht so, Gretchen? Wie sagt man, Córdova oder Cordōva?“

Das Einpacken der Kinderkleider, das Fräulein Trölopp zwischen elf und
zwei Uhr besorgen wollte, schien doch größere Schwierigkeiten zu machen,
oder hatte Frau Reinwald etwas anderes ausfindig gemacht, das ein
längeres Verweilen „nützlich“ erscheinen ließ? Jedenfalls leuchtete der
gelbe Samthut an diesem Tag nicht mehr auf dem Bahnhof, und Fräulein
Trölopp saß abends mit der Familie Reinwald am gemütlichen Teetisch. Die
Kleinen waren zum letztenmal in ihre Bettchen gebracht, Franziska hatte
den Teetisch abgeräumt, es war die Stunde traulichen Gespräches.

„Sie waren gewiß schon in größeren Haushaltungen tätig,“ fragte Frau
Reinwald, „da Sie sich so merkwürdig schnell in dem Hauswesen meiner
Schwester zurecht gefunden haben.“

„Ja, aber nur aushilfsweise, alles aushilfsweise. Ich war im spanischen
Amerika, was Sie auf deutsch etwa ‚Helferin‘ nennen würden.“ Gretchen,
die längst gerne etwas über Fräulein Trölopps eigentlichen Beruf gehört
hätte, fragte begierig: „Was tut eine Helferin?“

„Haben Sie noch nie gehört von dieser Einrichtung? Die Helferin hilft
aus bei unvorhergesehenen Schwierigkeiten.“

„Also in Krankheiten?“

„Auch da, doch nur so lange, bis eine Krankenpflegerin gefunden ist.
Öfter noch hilft sie in andern Fällen, einerlei was es ist, wenn es nur
unvorhergesehen und nützlich ist.“

Fräulein Trölopp schwieg. Es schien nicht ihre Art zu sein, viel von
ihrem Tun zu sprechen. Herr Reinwald bemerkte Gretchens Enttäuschung
darüber. „Sehen Sie nicht, Fräulein Trölopp,“ sagte er, „wie neugierig
dies große Kind ist, und wie gerne es noch mehr hören möchte von Ihrer
Tätigkeit in Amerika. Und wir Eltern verstecken uns selbst gern hinter
ihre Neugier und bitten Sie, erzählen Sie uns ein wenig!“

„Gerne, aber Sie können sich den Beruf der Helferin wohl selbst
vorstellen. Ich half eben aus, wo es not tat. Man wußte meine Adresse
auf der Polizei, bei Bekannten und später in immer weiteren Kreisen. Ich
folgte jedem Ruf, bei Tag oder Nacht, und lehnte bloß ab, wenn die Not
nicht unvorhergesehen war, oder wenn es sich um Unnützes handelte. In
den vielen Jahren, die ich in diesem Beruf stand, kam ich am öftesten in
Familien, wo durch Todesfall ein Haushalt unversorgt war. Die Helferin
bleibt immer nur so lang, bis ständige Hilfe gefunden ist, oft ist’s nur
ein Tag, und nie sollen es mehr als vier Wochen sein, damit die Helferin
immer wieder bereit ist für Unvorhergesehenes. Oft kommt mitten in der
Nacht ein Ruf an sie. Bei mir wurde einmal nachts angeläutet, und als
ich das Fenster öffnete, sah ich vor meinem Haus einen ganzen Auflauf.
Dort unten standen vielleicht zwanzig blinde Mädchen, ein Polizeimann
dabei. Er rief mir herauf: ‚Es brennt in der Blindenanstalt, Sie sollen
diese Blinden in das nächste Schulhaus bringen und bei ihnen bleiben,
bis sie abgeholt werden.‘ So übergab er mir, die ich mich eilends
gerichtet hatte, lauter zitternde, jammernde blinde Mädchen, die ganz
außer sich waren vor Schrecken und sich nicht so schnell wie Sehende
davon überzeugen ließen, daß sie der Gefahr glücklich entronnen waren.
Sie hielten sich an einem Leitseil. Mit diesem führte ich sie langsam
durch die ihnen fremden Straßen bis zu dem Schulhaus.

„Jederzeit nahm ich als Helferin in solchen Fällen zwei Dinge mit mir:
Das eine war Tee, den bereitete ich auch den armen, vor Schrecken,
Schlaf und Kälte zitternden Mädchen in dieser Nacht mit Hilfe der
Hausmeisterin; das andere waren Paul Gerhardts Lieder. Diese habe ich
mir, so gut ich eben konnte, ins Spanische und ins Französische
übersetzt, und sie haben geängstigten Menschen aller Bekenntnisse Trost
und Frieden gebracht. Auch die Blinden brachte ich mit diesen zwei
Mitteln zur Ruhe.

„Noch eine nächtliche Szene ist mir in Erinnerung, noch viel
schmerzlicher als die mit den Blinden. Mit Eintritt der Nacht wurde ich
in ein Haus geholt, dort hatte ein armer Mann in der Verzweiflung sich
und seine Frau ums Leben gebracht. Da lagen sie beide tot, fünf Kinder
schrieen und weinten vor Entsetzen. In einer Kammer nebenan verbrachte
ich die Nacht mit den armen Kindern. Ich konnte sie schwer zur Ruhe
bringen, eine Mutter hätte das wohl besser verstanden als ich: aber wenn
sie ganz allein geblieben wären, hätten sie sich doch noch mehr
gefürchtet, und sie tranken doch auch meinen Tee, hörten meine Lieder
und drängten sich um mich und die Kleinsten schliefen ein. Am Morgen
kamen die Kinder ins Waisenhaus.

„Aber nicht immer hatte ich als Helferin so traurige Pflichten; in der
Zeit einer Epidemie machte ich mehrfach die Stellvertreterin für
erkrankte Lehrerinnen; freilich bin ich nicht in allen Fächern genügend
beschlagen um zu lehren, aber ich konnte die Kinder doch in Ordnung
halten und nützlich beschäftigen. Während einer Epidemie wurde ich auch
in Geschäftshäuser gerufen. Ein paar Tage war ich Kassierin in einem
großen Bazar, dessen Personal erkrankt war; in solchen Fällen wurde ich
oft glänzend bezahlt, und das ist gut, denn wo Armut herrscht,
verzichtet man natürlich auf Bezahlung. Es ist gut, wenn sich solche
Frauen zu Helferinnen hergeben, die etwas Vermögen besitzen, denn man
kann nicht auf regelmäßige Einnahmen rechnen, soll es auch nicht um des
Verdienstes willen tun.

„Man möchte alles können als Helferin, um allen Anforderungen gerecht zu
werden. Einmal schickte Samstag nachmittags eine Büglerin nach mir, sie
habe viele Körbe voll Wäsche für den Sonntag zu bügeln versprochen und
könne sie nicht liefern, wenn ihr nicht jemand zu Hilfe käme. Solche
Fälle müssen oft genau untersucht werden, denn die Helferinnen müssen
sich vor Mißbrauch schützen. Hätte die Frau aus Gewinnsucht oder
Ungeschick zu viel Wäsche angenommen, so hätte ihr jede Helferin die
Hilfe versagen müssen. Es war aber ihrer Tochter der glühende Stahl auf
den Fuß gefallen, und das Bügelmädchen war telegraphisch zur sterbenden
Mutter berufen worden. Das war unvorhergesehen, da mußte die Helferin
eintreten. Ich bügelte mit der Frau bis nach Mitternacht; freilich eine
große Künstlerin bin ich darin nicht, aber es war doch brauchbar, und
die Frau verlor nicht ihre Kundschaft. Am Morgen trug ich mit ihr Wäsche
aus bis zur Kirchenzeit, denn einer Helferin darf keine Arbeit zu gering
sein. Sie soll sich aber auch in der eleganten Welt zu benehmen wissen,
denn auch in dieser kommen unvorhergesehene Notfälle vor, wenn auch
seltener, denn um Geld finden sich leicht helfende Hände.

„Eine unserer besten Sängerinnen sollte in der Stadt N. bei einem
Künstlerfest als Sängerin auftreten und war im Begriff mit ihrer Mutter
dorthin abzureisen, da übertrat sich diese den Fuß und konnte nicht
reisen. Es schien untunlich, das junge Mädchen allein reisen, allein mit
fremden Künstlern auftreten zu lassen. Um zwölf Uhr mittags begegnete
der Mutter das Mißgeschick, um ein Uhr wurde ich benachrichtigt und zur
Gardedame bestimmt, um zwei Uhr war ich schon mit meiner
Pflegebefohlenen unterwegs; diesmal war ich ohne Tee und ohne Paul
Gerhardt ausgezogen, aber mit meinem höchsten Staat, einem grünseidenen
Kostüm. Wir wurden in elegantem Gefährt abgeholt und zur Festhalle
geleitet. Ich ermutigte das junge Mädchen vor ihrem Auftreten, und nach
demselben half ich ihr die Blumen tragen, welche begeisterte Zuhörer ihr
gespendet hatten. Es war nicht überflüssig gewesen, daß ihr eine
Stellvertreterin für die Mutter mitgegeben worden war, denn nach dem
Konzert, in dem sie hinreißend schön gesungen hatte, kamen zwei Herren,
um sie zu bestimmen, daß sie sich für den Winter für ihre Musikhalle
engagieren lasse. Ich wußte, daß diese Herren keiner guten Gesellschaft
angehörten, aber sie machten glänzende Anerbietungen. Die junge
Künstlerin fühlte sich geschmeichelt und zeigte sich gleich bereit, den
Vertrag zu unterschreiben, mit dem sie dann ihre Mutter überraschen
wollte. Ich bestand darauf, der Vertrag müsse der Mutter vorgelegt
werden, ehe er unterschrieben würde. Aber beide Teile hörten wenig auf
meine Worte. Vielleicht hätten sie mehr darauf geachtet, wenn ich nicht
so klein und unschön wäre; eine Helferin sollte womöglich nicht so sein.
Die Herren drängten das Mädchen und drückten ihr die Feder in die Hand,
mit der sie den schon vorbereiteten Vertrag unterschreiben sollte. Ich
wußte nichts Besseres zu tun, als den Vertrag wegzunehmen, und in Stücke
zu zerreißen. Freilich mußte ich bissige Worte hören über den
‚aufgeblasenen Laubfrosch‘, womit sie mich in meinem grünseidenen Kleid
meinten; aber sie verließen uns doch und kamen nicht wieder. Die junge
Schöne zürnte wohl mit mir, aber in späteren Jahren schickte sie mir
eine große Summe mit der Aufschrift: ‚Verspäteter Dank für glückliche
Bewahrung.‘“

Fräulein Trölopp schwieg. Nach einer kleinen Weile sagte Frau Reinwald:
„Das ist ein schöner Beruf, in dem man so viel Not abwenden oder lindern
kann, Sie haben sich wohl schwer entschlossen, ihn aufzugeben?“

„Ich wurde kränklich und ging nach Deutschland, um mich ein Jahr
auszuruhen.“

„Das taten Sie wohl jetzt bei meiner Schwester?“ fragte Frau Reinwald
lächelnd.

„Ich war eigentlich schon ausgeruht, als ich in Europa ankam. Die
Seereise hat mir gut getan.“

Gretchen hatte während der ganzen Zeit kein Auge von der Erzählerin
gewendet, und nun rief sie mit Begeisterung aus: „Oh, solch eine
Helferin möchte ich auch werden! Darf ich, wenn ich groß bin?“ fügte sie
hinzu und sah gespannt auf die Eltern.

„Das wird sich finden,“ antwortete Herr Reinwald. „Geh du vorläufig
deine Wege, es ist bald zehn Uhr, höchste Zeit für ein Schulmädchen.“

Das war ein nüchternes Wort in Gretchens begeisterte Stimmung! Aber sie
widersprach nicht und stand vom Tisch auf. Beim „Gute Nachtgruß“
flüsterte ihr die Mutter zu: „Bringe noch frisches Wasser ins Gastzimmer
und sieh nach, ob sonst nichts fehlt, meine kleine Helferin!“

Gretchen hatte noch einige Fragen auf dem Herzen, die mußte ihr Fräulein
Trölopp am nächsten Morgen auf dem Weg zur Bahn beantworten. Sie ging
mit ihr voran. Frau Reinwald folgte, Rudi und Betty an der Hand.

„Kann man bei uns in Deutschland nicht Helferin werden?“ fragte
Gretchen.

„Diese Einrichtung besteht zur Zeit noch nicht, aber sie wird wohl auch
kommen, und einstweilen kann jeder einzelne Mensch für sich diesen Beruf
ausüben.“

„Was muß man lernen, wenn man Helferin werden will?“

„Sich selbst vergessen und an andere denken.“

„Das meine ich nicht; ich möchte wissen, was man studieren muß oder was
für ein Examen man macht.“

„Kein Studium, kein Examen! Man muß die Augen aufmachen, und wo man
etwas sieht, das nützlich fürs Leben erscheint, muß man es üben!“

„Es muß aber schwer sein, so vielerlei zu lernen!“

„Es ist viel, aber bedenken Sie, wie viele Stunden vor Ihnen liegen, Sie
junges Wesen! Nehmen Sie sich nur _eines_ vor: Nutzen oder Freude,
Erholung oder Arbeit soll Ihnen jede Stunde bringen; aber inhaltslos
vergeudet soll keine einzige werden. Einen Pfennig verschleudern wir
nicht, aber wieviel Viertelstunden vergeuden wir? Sie waren uns gegeben
zu Nutz und Freud und wir haben keines von beiden aus ihnen gezogen;
Geld kann uns ein glücklicher Zufall wieder in den Schoß werfen, aber
die Zeit ist unwiederbringlich verloren!“

Gretchen hätte nichts dagegen gehabt, wenn der Weg auf die Bahn doppelt
so weit gewesen wäre. Sie kam nun mit ihrer Gefährtin in das
Menschengewühl am Bahnhof, der Zug stand schon bereit, die Reisenden
mußten einsteigen. Die kleine Betty weinte Abschiedstränen, Rudi
hingegen schwenkte reiselustig sein Mützchen und Fräulein Trölopps
gelber Samthut glänzte aus dem Wagenfenster heraus. Einen Augenblick
später war all das verschwunden, aber Gedanken, die in einer jungen
Menschenseele wachgerufen werden, verschwinden nicht so schnell, ja
manchmal sind sie ausschlaggebend fürs ganze Leben.

   Ein jedes Band, das noch so leise
   Die Geister aneinanderreiht,
   Wirkt fort auf seine stille Weise
   Durch unberechenbare Zeit.

                                                             (Platen.)



                          Vierzehntes Kapitel.
                   Fragen, Antworten und ihre Folgen.


Es war recht still geworden in der Familie Reinwald, seitdem die kleinen
Gäste das Haus verlassen hatten, und Gretchen lebte mit all ihren
Gedanken in der Schule. Heute war wieder der erste Montag im Monat, der
Tag, an dem Pfarrer Kern eine Stunde in die Klasse der Großen kommen
sollte. Die Mädchen sprachen davon während der Pause um zehn Uhr. Heute
hatten nicht alle das Schulzimmer verlassen! Hermine und Ottilie, die
sich sonst nicht eben aufsuchten, hatten doch _ein_ gemeinsames
Interesse, sie waren beide geschickt in Handarbeiten, und da gab es nun
gerade ein neues Spitzenmuster auszuprobieren. Sie saßen eifrig damit
beschäftigt am grünen Tisch.

Gretchen hatte dafür kein Verständnis. Sie stand am offenen Fenster,
durch das die warme Sommerluft einströmte. Sie lehnte sich weit hinaus;
es war so schön, bis dorthin zu blicken, wo endlich die Häuser aufhörten
und grüne Hügel herübergrüßten. Sie hatte die Kamerädinnen ganz darüber
vergessen, als unvermutet eine derselben zu ihr trat. Gretchen wandte
sich um. Es war Elsbeth May, ein liebes, stilles Mädchen. Gretchen
mochte sie gerne, wenn sie auch nicht öfter mit ihr verkehrte. Sie
rückte an die Seite, um für sie Platz zu machen. „Es ist so schön da
draußen,“ sagte Gretchen. „Ja,“ erwiderte Elsbeth und lehnte ihren Kopf
ganz zum Fenster hinaus, und da draußen sagte sie ganz leise, daß es im
Zimmer nicht gehört werden konnte: „Gretchen, wie du unserem Pfarrer
einmal einen Zettel mit einer Frage geschickt hast, war’s dir da auch so
angst vor der Antwort, wie mir’s heute ist?“ „Angst war mir’s gerade
nicht; aber woher weißt du, daß ich eine Frage aufgeschrieben hatte?“
„Ich habe dir’s damals angesehen und ich glaube, mir wird man’s heute
noch viel mehr ansehen. Ich habe so Herzklopfen!“ Gretchen sah Elsbeth
an. „Ja, wirklich, man merkt es dir an. Warum ist dir’s denn so angst?“
„O, das wirst du gut verstehen, wenn du erst meine Frage gehört hast.
Ich mag sie dir gar nicht sagen, du hörst sie ja dann. Ich kann mich
selbst nicht mehr begreifen, wie ich so etwas fragen mochte; ich habe
die Frage an einem Abend aufgeschrieben, als ich ganz allein war, und
jetzt ist heller Tag und alles kommt mir anders vor. Meinst du nicht,
ich könnte vor der Stunde fortgehen und mich bei Fräulein von Zimmern
wegen Herzklopfens entschuldigen? Es wäre wirklich keine unwahre
Ausrede.“

„Aber Elsbeth, was fällt dir ein, dann hörst du ja die Antwort auf deine
Frage gar nicht.“

„Die könntest du mir morgen sagen, und ich weiß auch, daß du mich den
andern nicht verrätst, gelt, keiner, auch Hermine nicht?“

„Nein, gewiß nicht. Aber Elsbeth, ich ginge an deiner Stelle doch nicht
fort, man kann doch nicht immer gleich davonlaufen, wenn man vor etwas
Angst hat, und gar vor so einer Stunde davonlaufen, das käme mir
schrecklich dumm vor.“

Dieser etwas derbe Zuspruch übte eine gute Wirkung aus. Gretchen merkte
es und fuhr fort: „Glaube nur, Fräulein von Zimmern bekäme doch heraus,
warum du fort willst. Sie fragt dich genau, woher das Herzklopfen kommt,
und was willst du dann antworten? Lügen kann man nicht, so mußt du ihr
den Grund sagen; nein, wirklich, ich wollte lieber ruhig in der Stunde
bleiben, als so ein Verhör bei Fräulein von Zimmern durchmachen.“

„Ja,“ sagte Elsbeth, „wenn du meinst, sie frage so genau.“

„Ganz gewiß; Fräulein von Zimmern merkt es gleich, wenn etwas nicht ganz
in Ordnung ist.“

„Dann bleibe ich lieber.“

„Ja, bleibe nur, du hast vielleicht ganz unnötig Angst. Unbehaglich war
mir’s damals schon auch zumute, aber nachher war ich glücklich, denn die
Antwort hat mir so gut gepaßt. So geht dir’s gewiß auch. Komm, mach kein
so jämmerliches Gesicht, da iß!“ und Gretchen schob der trübseligen
Gefährtin einen Bissen Apfel in den Mund, so daß diese lachen mußte und
nicht mehr so kleinmütig aussah.

Nach der englischen Stunde kam Pfarrer Kern. In seinem Testament, aus
dem er seinen Schülerinnen immer einen Abschnitt vorlas, lag ein
Blättchen Papier. Als er es herausnahm, hätte Gretchen gern noch einen
ermutigenden Blick zu Elsbeth hinüber gesandt, aber diese hob die Augen
nicht auf. „Es ist mir da eine Frage zugegangen,“ sprach der Pfarrer,
„deren Beantwortung nicht für unsre Stunde paßt.“ Gretchen erschrak
ordentlich; also auch der Pfarrer fand die Frage ungeeignet? Was konnte
nur Elsbeth gefragt haben?

„Die Frage lautet: ‚Wir möchten gerne zum Schluß des Schuljahrs Fräulein
von Zimmern irgend eine Freude machen, etwas aufführen, deklamieren oder
dergleichen. Was könnten wir wohl tun?‘ Die Frage ist unterschrieben von
einem Kleeblatt. Diesem Kleeblatt möchte ich nun zu wissen tun: Ich bin
gern bereit, mit euch darüber zu beraten, aber nicht in dieser Stunde.
Am Mittwoch gebe ich von neun bis zehn Uhr Unterricht in der vierten
Klasse: wenn ihr um zehn Uhr hinunterkommen wollt, so haben wir eine
Viertelstunde Zeit zur Besprechung.

„Ich habe aber noch einen andern Fragezettel erhalten, und dieser hat
mich herzlich gefreut.“ Gretchen wagte einen raschen Blick auf Elsbeth,
diesmal _mußte_ es ihre Frage sein. „Die Frage hat mich gefreut, weil
sie ein Zeichen von Vertrauen ist. Sie lautet: ‚Ich kann vieles nicht
mehr glauben, was ich früher geglaubt habe und was wir Christen glauben
sollen, und ich möchte es doch gern glauben. Ich kann auch nicht beten,
wenn ich nicht glauben kann. Aber ich war viel glücklicher früher, wo
ich noch alles geglaubt habe. O, wenn ich nur wieder glauben könnte! Was
soll ich tun?‘

„Was soll ich tun?“ wiederholte der Pfarrer. „Das erste, was du tun
sollst, hast du schon angefangen zu tun: Du hast dich überwunden, deinen
Unglauben auszusprechen einem Gläubigen gegenüber. Wenn du es nicht nur
schriftlich tust, wird es dir noch mehr Segen bringen. Kommt zu mir,
wenn euch Zweifel beunruhigen, dann sprechen wir miteinander, oder wenn
ihr einen Vater, eine Mutter habt, die eure Zweifel befriedigend
beantworten können, so sprecht ganz offen mit ihnen. Meint nicht, daß
das etwas Seltenes, etwas Schlimmes sei, dessen ihr euch schämen müßt.

„Was soll ich tun? fragst du. Du sollst Geduld haben und Treue halten.
Ist dir das Glück jetzt nicht beschieden, fest im Glauben zu sein, so
kannst du dennoch treu bleiben. Denke an den Spruch: ‚So jemand wird des
Willen _tun_, der wird inne werden, ob diese Lehre von Gott sei.‘ Es hat
mir einst eine Frau anvertraut: ‚Von meinem zwanzigsten Lebensjahr bis
zu meinem fünfzigsten habe ich mich immer an diesen Spruch halten
müssen, nach dreißig Jahren erst ist mir die richtige Erkenntnis
gekommen und ich weiß jetzt, daß diese Lehre von Gott ist. Es hat mir
keinen Schaden gebracht, denn in allem Unglauben bin ich treu
geblieben.‘ Also Geduld haben und treu bleiben, auch wenn Jahre darüber
hingehen. Lebe, wie wenn du glaubtest, dann bringt das Leben den
Glauben.“

Noch einmal wiederholte der Pfarrer die Frage: „‚Was soll ich tun‘? Du
sollst alles aufsuchen, was dich zu Gott führen kann: ernste Arbeit,
edle Erholung, gute Bücher, kräftige Predigten und wahre Christen, und
sollst alles meiden, was von Gott wegführt. Dann, glaube mir, kommt
einmal der Tag, wo du das Wort liest oder hörst, das gerade für dich das
richtige ist, dann wirst du wieder so glücklich sein oder noch
glücklicher wie zur Zeit des ersten Kinderglaubens.“

                   *       *       *       *       *

Als heute Pfarrer Kern die Mädchen verließ, waren sie schweigsamer als
sonst; sie wußten, daß eine unter ihnen war, der die Worte sehr nahe
gegangen sein mußten, und sie wollten nicht so schnell wieder von
gleichgültigen Dingen reden. Gretchen stand am Kleiderhalter und wollte
ihre Jacke anziehen. „Komm, ich helfe dir,“ sagte eine freundliche
Stimme. Es war Elsbeth, die ihre Hilfe anbot, eine Hilfe die nicht nötig
war, die aber Gelegenheit gab, sich gegenseitig verständnisinnig in die
Augen zu blicken und sich, von den andern unbemerkt, die Hand zu
drücken.

Während die meisten Mädchen mit ihren Gedanken über das Gehörte
beschäftigt waren, ließ sich plötzlich Elise Schönlein vernehmen: „Wer
hat denn das gefragt wegen der Aufführung für Fräulein von Zimmern?“
„Aber Elise!“ riefen ein paar Mädchen zugleich, „wir sollen doch nie
darnach fragen; wenn sie wollten, könnten sie es ja von selbst sagen!“
„Ja sie sagen’s eben nicht von selbst, darum frage ich,“ entgegnete
Elise. Die andern lachten. „Es bleibt allerdings doch kein Geheimnis,“
sagte Ottilie, „weil es unser Pfarrer mündlich mit uns besprechen will
und uns in die vierte Klasse bestellt hat. So kann ich es auch gleich
sagen: _ich_ habe angefragt und die beiden andern werden es wohl auch
nicht geheim halten können.“

Sie nannten sich; es waren eine Cousine von Ottilie und deren Freundin.
„Wie hat eure Frage gelautet?“ fragte Gretchen, „was für eine Freude wir
Fräulein von Zimmern zum Schluß machen könnten? Wir alle, die ganze
Klasse?“ „Ich habe nur an uns drei gedacht,“ sagte Ottilie. „Ich bin
begierig, was da verabredet wird,“ sagte Gretchen; „es gibt gewiß etwas
Nettes.“

Die Mädchen trennten sich. Eine ging leichteren Herzens von dannen, als
sie gekommen war, und pries sich glücklich, daß jemand sie abgehalten
hatte, davonzulaufen. Auch Gretchen dachte noch an die Antwort des
Pfarrers und freute sich, der Mutter von dieser Stunde zu erzählen. Aber
als sie heimkam, mußte sie sich gedulden; denn sie traf die Mutter nicht
allein. Eine große umfangreiche Person stand ihrem Mütterchen gegenüber.
Es war eine Kochfrau, die bei feierlichen Gelegenheiten als Köchin
berufen wurde. Im Hause Reinwald war sie bisher noch nie tätig gewesen,
denn Lene war selbst eine Meisterin in der Kochkunst und hatte keine
Hilfe bedurft. Von Franziska konnte man das noch nicht rühmen, und so
war die Kochfrau gebeten worden, die Bewirtung für eine größere
Abendgesellschaft zu übernehmen, die Herr und Frau Reinwald geben
mußten. Heute war erst die Vorberatung; diese wurde aber sehr lebhaft
gepflogen, und Gretchen fand, als sie eintrat, für ihren Gruß bei der
Mutter nur eine ganz flüchtige Erwiderung und bei Frau Batz gar keine
Beachtung.

Eine Weile hörte Gretchen nicht ohne Interesse zu, ob Pastetchen oder
Mayonnaise, ob Krebsauflauf oder Griespudding. Aber all die Einzelheiten
der Bewirtung interessierten sie nicht. Sie war auch noch so erfüllt von
der letzten Schulstunde und hätte gern vor Tisch noch mit der Mutter
darüber gesprochen. Jetzt war es schon bald ein Uhr, Essenszeit. Wenn es
wenigstens Notwendiges gewesen wäre, was diese Frau sagte, aber das
Nötige war offenbar schon längst erledigt; denn Frau Batz wiederholte
nun schon zum drittenmal: Ich sag’s ja, wer das Kochen los hat, der
macht aus einem Ei zwei.

Gretchen verlor die Geduld. „Mutter,“ sagte sie, „es ist schon so spät,
der Vater wird gleich zum Essen kommen.“ „Oh, es hat noch lang Zeit bis
ein Uhr,“ sagte Frau Batz, „und vor Eins wird in keinem meiner Häuser
gespeist. Natürlich unsereins kommt ja nur in die feinsten Häuser. Aber
die Schulkinder sind immer ungeduldig, es fehlt halt die Einsicht, das
rechte Verständnis. Aber wie gesagt, das Salatöl vom Hinterboxer –“

Gretchen rannte davon, sie war wütend über Frau Batz. Sie kam in des
Vaters Arbeitszimmer. „Vater,“ rief sie, „Frau Batz ist bei der Mutter
und läßt sie nicht los; bitte, komm doch ins Eßzimmer und räsonniere
gleich ein wenig über die Unpünktlichkeit.“

„Den Gefallen will ich dir tun, aber es ist leider noch nicht ganz ein
Uhr.“

Noch drei Minuten vergingen, dann schlug es und Herr Reinwald verließ
sein Zimmer. Aber Frau Batz ging nicht so leicht in eine Falle, auch sie
hatte mit dem Schlag das Eßzimmer verlassen, und so konnte Herr Reinwald
nichts tun, als ihren untertänigen Gruß artig erwidern, und Gretchen,
die ihm auf dem Fuße folgte, mußte es mit ansehen.

Auf die große Abendgesellschaft freute sich Gretchen gar nicht. Früher
war so etwas nett gewesen, denn wenn auch Lene an solchen Tagen während
der Zurüstungen nicht die rosigste Laune zeigte, so war sie nachher um
so liebenswürdiger gewesen, wenn alles glücklich serviert war. Gretchen
hatte solche Abende in der Küche zugebracht, wo ihr die besten Bissen
aufgetischt wurden, und wenn sie diesen gut zusprach, so war Lene
überzeugt, daß alles gut geraten sei, und die beiden waren sehr
gemütlich beisammen. Mit Wehmut dachte Gretchen an diese vergangenen
Zeiten und es trieb sie, wieder einmal Lene zu besuchen, die sie lange
nicht mehr gesehen hatte.

Diesmal traf sie Lene ganz allein zu Hause, saß bald gemütlich bei ihr
am Fensterplätzchen und erzählte. Hier fand sie immer die wärmste
Teilnahme für alle ihre Erlebnisse. Lene hatte ihr Strickzeug
herbeigeholt und arbeitete fleißig. „Für wen strickst du das nette
Kinderjäckchen?“ fragte Gretchen. „Ich kenne das Muster, es war das
letzte, was ich bei Fräulein Treppner gestrickt habe vor ihrem Tod.“

„Ja,“ sagte Lene, „es ist ein schönes Muster.“

„Für wen machst du’s?“ Da sah Lene von ihrer Arbeit auf und ihre Augen
leuchteten, als sie antwortete: „Für mein eigenes, kleines Kind, wenn
Gott mir eines beschert.“

„O Lene, was wäre das für eine Freude!“ rief Gretchen. „Gelt?“ sagte
Lene, „und wenn es nun gar ein Mädchen wäre zu den drei Buben, ich
glaube, es würde sie selber freuen!“ „Ja, aber mich noch viel, viel
mehr!“ Lene stand von der Arbeit auf. „Komm mit mir, ich zeige dir
etwas.“ Sie führte Gretchen über den Gang in ein Kämmerchen, das sie
aufschloß. „Sieh,“ sagte sie, „da steht schon der Kinderwagen bereit,
den hat mir mein Mann auf der letzten Messe gekauft und dazu gesagt:
‚Ein Kutscher muß doch zuerst fürs Fuhrwerk sorgen!‘ Und sieh, die
kleinen Bettchen, die waren noch da von den Buben, die habe ich frisch
hergerichtet, jetzt sind sie wieder wie neu. Und da sieh her, die
winzigen Hemdchen, weißt du, von wem die sind? Die hat mir neulich deine
Mutter mitgegeben, die sind von dir, Gretchen. Alle paar Jahre habe ich
sie wieder gebleicht, daß sie schön weiß bleiben, und habe manchmal
gedacht: es ist schade, daß wir kein Kindchen mehr für die netten Hemden
haben.“

Gretchen sah die kleine Wäsche, die so blühweiß vor ihr lag, und es kam
ihr in den Sinn, wie Lene schon für sie gesorgt hatte in einer Zeit, von
der sie nichts mehr wußte. Sie gab Lene einen Kuß und sagte: „Ich möchte
auch etwas für dein Kindchen tun, was kannst du wohl dafür brauchen?“

„Fürs erste ist gesorgt,“ sagte Lene, „aber später, wenn es Gottes Wille
ist, daß das Kind groß wird und alles in der Schule so schwer ist, wie
es bei dir immer war, wenn ich die Sachen nicht recht verstehe oder
vielleicht gar nicht mehr am Leben bin, dann hilfst du meinem Kind,
gelt, Gretchen?“ „Ja,“ sagte Gretchen, „ich weiß schon, was du meinst,
sie muß immer die erste sein, sonst bist du ja nicht zufrieden!“

Lene machte die Bettchen wieder zurecht und schloß sorgfältig die
Kammer. Gretchen schickte sich an heimzugehen. „Ich begleite dich durch
den Hof,“ sagte Lene, „ich habe da ein Stück Fleisch übrig, das will ich
der Base bringen. Ach Gretchen, mit der Base ist mir eine schwere Last
aufgelegt. Sie wird immer elender und nun klagt sie immer, wie einsam
sie sei, und sagt, wir sollten sie doch zu uns nehmen in die Kammer
neben unserer Schlafstube. Sie meint, es wäre so bequem, wenn sie mich
nachts rufen könnte und bei Tag in unserer Stube sitzen. Und dann sagt
sie wieder, sie wisse wohl, daß sie mir zu gering sei. Ach Gretchen, zu
gering ist sie mir ganz gewiß nicht, aber ich weiß keinen Menschen, der
so verdrießlich ist wie sie! Wenn ich sie ins Haus nehme, ist mir’s, als
wenn mir’s Regenwetter bis ins Zimmer hereinkäme.“

„Kann sie keine Pflegerin zu sich nehmen, ist sie zu arm dazu?“

„Sie wäre gar nicht so arm, sie bekommt viel aus der Kasse, aber bei ihr
ist’s so: sobald sie Geld hat, schickt sie ihr Schnapsfläschchen zum
Füllen. Die Buben müssen ihr’s besorgen, der Kleine hat mir’s verraten.
Da heißt’s immer: ‚Hol mir den Schnaps, sag’s dem Vater nicht, dann
kriegst auch einen Schluck.‘ Es ist nichts nutz für die Kinder! Ich
hab’s lang nicht begriffen, warum sie so gern zu der Bas gehen, aber
jetzt weiß ich’s; sie gibt ihnen auch oft ein paar Pfennige zum Naschen.
Es wäre freilich besser, sie wäre bei mir, dann könnte ich nach allem
sehen.“

„Ja, vor dir müßte sie sich schämen, Schnaps zu trinken.“

„Ganz könnt’ sie’s wohl nicht mehr lassen.“

„O Lene, du dauerst mich; wenn du sie nicht zu dir nimmst, ist’s nicht
gut, und wenn du sie nimmst, ist’s gar nicht mehr nett bei dir!“

„Ich kann mir’s noch überlegen bis zum Ziel, vorher rede ich noch mit
deiner Mutter.“ Lene und Gretchen standen längst an dem Punkt, wo sich
ihre Wege trennten.

„Adieu, Lene,“ sagte Gretchen, „komm nur bald zur Mutter, sie muß einen
Ausweg finden.“

„Ja, nach eurer Gesellschaft komme ich, vorher hat deine Mutter keine
Zeit.“

„Ach ja, die Gesellschaft, die Frau Batz, die aus einem Ei zwei macht!“

„Gegen die darfst du nichts sagen, Gretchen, sie ist weit und breit
berühmt, und du wirst sehen, wie fein sie alles macht. Aber eines kannst
du ihr ausrichten: links hinten im Bratrohr ist ein kleines Loch, auf
das muß sie ein Blech legen, sonst bekommt sie keine gleichmäßige
Hitze.“

„Ich will’s ihr ausrichten; adieu Lene.“ Als Gretchen schon ein paar
Schritte weg war, rief ihr Lene noch nach: „Ganz hinten, links!“ und
Gretchen wandte sich lachend um und rief zurück: „Ich habe schon
verstanden, ganz vorn rechts!“ über welche Zurufe die Vorübergehenden
etwas erstaunt aufsahen.

Am nächsten Mittwoch um zehn Uhr gleich nach der Geschichtsstunde sagte
Gretchen zu den neben ihr Sitzenden: „Kommt, wir lassen alle Bücher
liegen und gehen schnell hinunter, damit unser Pfarrer nicht warten
muß.“

„Ihr wollt hinunter?“ fragte Ottilie; „habt ihr auch etwas zu
verabreden?“

„Wir wollen doch mittun, wenn etwas für Fräulein von Zimmern verabredet
wird!“ sagte Gretchen. „Und möchten die Vorschläge hören,“ fügte Elsbeth
May hinzu.

Aber Hermine wehrte ab: „Bleibt doch, ihr seht ja, daß uns Ottilie nicht
dabei haben will.“

„Das brauchst du gar nicht so spitzig zu bemerken,“ entgegnete Ottilie;
„wenn man allein einen guten Gedanken hat, will man doch auch allein die
Ehre davon und den Dank dafür. Ihr hättet ja selbst daran denken können,
irgend eine Schlußfeier zu veranstalten.“ Das Kleeblatt verließ das
Schulzimmer. Es folgte ihnen keine der Kamerädinnen, es folgte ihnen
aber auch keine gute Nachrede!

Die Schülerinnen der vierten Klasse hatten ihr Schulzimmer schon
verlassen und der Pfarrer stand allein am Pult, als die drei Mädchen
eintraten. Ottilie dankte dem Pfarrer sehr artig für die versprochene
Beratung.

„Wo sind die andern?“ fragte der Pfarrer; „haben sie nicht mitkommen
wollen?“

„Wir wollen ihnen nachher Ihren Vorschlag mitteilen,“ antwortete eines
der Mädchen ausweichend.

„So? Mein Vorschlag ist allerdings auf die Mitwirkung der ganzen Klasse
berechnet.“ Die Mädchen schwiegen und sahen sich unschlüssig an. „Ihr
wollt wohl lieber etwas, bei dem nur ihr drei beteiligt wärt?“ „Ja,“
antwortete das Kleeblatt wie aus einem Mund.

Der Pfarrer ging ein paarmal auf und ab und blieb dann vor Ottilie
stehen. „Man muß sich nur immer klar machen, was man will. Ist es euch
darum zu tun, Fräulein von Zimmern eine große Freude zu machen, so
erreicht ihr das am besten, wenn ihr alle zusammenwirkt. Liegt euch aber
mehr daran, euch vor den andern auszuzeichnen, so müßt ihr allerdings
allein handeln, nur dürft ihr in diesem Fall nicht meine Hilfe in
Anspruch nehmen, denn das ist nicht nach meinem Sinn.“

Eine kleine verlegene Pause entstand, dann sagte Ottilie zu ihrer
Cousine: „Geh hinauf und hole die andern.“ Diese folgte, wie sie es
ihrer schönen Cousine gegenüber nicht anders gewöhnt war. Oben
angekommen, rief sie nur durch die Türe: „Ihr sollt alle
herunterkommen,“ und sie eilte voran, um über die bisherige Verhandlung
nicht ausgefragt zu werden.

Inzwischen sagte der Pfarrer zu den beiden Mädchen: „Wenn ihr nicht
lernt, euch mit andern zu freuen, so werdet ihr wenig Freude erleben,
wer sich aber mit andern freuen kann, dem wird es durch’s ganze Leben
hindurch nicht an Freude fehlen.“

Sobald die ganze Oberklasse versammelt war, sprach der Pfarrer in
verändertem, heiterem Ton: „Dies Kleeblatt hat also den Wunsch, eine
Schlußfeier zu veranstalten und hat euch gerufen, damit ihr alle mittut
und zunächst meinen Vorschlag mit anhört. Will man jemand eine Freude
machen, so muß man vor allem seine Eigenart bedenken. Da hat mich nun
Fräulein von Zimmerns große Vorliebe für die Literatur auf einen
Gedanken gebracht. Ihr wißt alle, wie gern und wie ausgezeichnet sie in
diesem Fach Unterricht erteilt, und wie gern sie euch noch mehr davon
gelehrt hätte, wenn die Zeit nicht so knapp zugemessen wäre. Wie käme
euch nun mein Vorschlag vor: Ihr fünfzehn Mädchen würdet euch in fünf
Gruppen teilen; jede Gruppe übernähme einen Dichter, würde seine
Biographie studieren und so viel von seinen Werken lernen, daß man ein
vollständiges Bild von ihm bekäme. Ich nehme z. B. an, drei von euch
hätten sich Schiller erkoren. Sie würden nun seine Biographie – die ich
euch verschaffen kann – gemeinsam lesen und dann verteilen: eine müßte
alle Fragen beantworten können, die seine Jugendzeit betreffen, die
zweite die nächstfolgende Periode, die dritte die letzte Periode.
Gedichte, die ihr früher auswendig lernen mußtet, blieben weg und
weniger bekannte, vielleicht auch Monologe aus dramatischen Werken oder
sogar Abschnitte aus prosaischen, würden gelernt. Kommt dann die letzte
Schulwoche, so fordert ihr Fräulein von Zimmern auf zu einer
außerordentlichen Literaturstunde und überreicht ihr feierlich die Liste
von allem, was sie euch abfragen darf. Versteht ihr wohl, wie ich’s
meine?“

Ehe noch die Mädchen antworten konnten, ertönte im Vorplatz das
Glockenzeichen, die Schülerinnen der vierten Klasse erschienen unter der
Türe und machten sehr erstaunte Gesichter über die Eindringlinge. Die
Großen mußten das Feld räumen, und der Pfarrer sagte im Fortgehen:
„Überlegt es euch, ob ihr soviel Arbeit auf euch nehmen wollt, wir
sprechen noch einmal darüber.“

Erst um zwölf Uhr hatten die Mädchen Zeit, ihre Gedanken über den
Vorschlag auszutauschen. Darüber waren alle einig, daß es ganz nach dem
Sinne von Fräulein von Zimmern wäre, auch fürchteten sie die Arbeit
nicht, es lagen noch zwei Monate bis zum Schulschluß vor ihnen, in
dieser Zeit konnte man viel lernen. Aber es war doch kein fröhliches
Besprechen und Beraten, denn vom Morgen her herrschte noch eine
Verstimmung zwischen dem Kleeblatt und den andern Mädchen.

Hermine sagte halblaut zu Gretchen: „Es ist nicht nett für uns,
mitzutun, wo man uns lieber nicht dabei hätte!“

„Ich glaube,“ sagte Gretchen gutmütig, „sie haben uns jetzt ganz gern
dabei, denn sie haben uns ja selbst heruntergerufen.“

„Weil sie mußten!“

„Das kannst du doch nicht wissen.“

„Sieh doch nur Ottilie an, wie sie verstimmt aussieht.“

Das konnte nun allerdings Gretchen nicht leugnen. Im stillen sann sie
nach, wie Ottilie wieder gut gestimmt werden könnte. Ihr war es immer
Bedürfnis, das gute Einvernehmen wieder herzustellen, wenn es gestört
war, und sie besann sich nie lange, wer schuld war an der Störung.

Einige Mädchen hatten schon das Schulzimmer verlassen, andere waren im
Begriff fortzugehen. Gretchen hielt Ottilie zurück, und sagte leise:
„Bleibe noch einen Augenblick bei mir,“ und sowie sie allein waren,
sagte sie: „Ottilie, mir ist ein guter Gedanke für dich gekommen, weil
du doch lieber allein Fräulein von Zimmern eine Freude gemacht hättest.“

„Ach nein, es ist mir ja ganz recht so, wie es ausgemacht ist. Übrigens
was hast du für einen Gedanken?“

„Du könntest für Fräulein von Zimmern eine schöne Handarbeit machen und
sie ihr am letzten Tag überreichen. Wir reden dann nicht vor den andern
davon, damit du etwas für dich allein hast.“

„Das gefiele mir wohl, aber man wird mir’s übelnehmen, wenn ich nicht
mittue bei der Literatur.“

„So meine ich’s auch nicht, du mußt natürlich mittun, sonst wäre es ja
gar nicht nett, aber die Handarbeit kannst du doch noch dazu machen, wir
haben ja noch zwei Monate Zeit.“

Ottilie überlegte. Die schönsten benähten Deckchen und gestickten Kissen
erschienen ihr im Geist. Feine Handarbeiten waren ihre große
Liebhaberei, der Vorschlag paßte für sie. Hermine, die vorangegangen
war, rief nach Gretchen. „Ich komme,“ rief diese dagegen und eilte der
Freundin nach. Ottilie folgte ihr langsamer und sagte halblaut vor sich
hin: „Es ist doch ein guter Kerl!“

Das waren nun in den nächsten Tagen endlose Beratungen in der Schule:
Welche Dichter sollte man wählen und wie die Gruppen bilden? Die
verschiedensten Vorschläge schwirrten durcheinander; von den fünfzehn
Mädchen sprachen immer vierzehn zugleich ihre Meinung aus und Elise
Schönlein, die keine Meinung hatte, blieb die einzige Zuhörerin. Die
Verstimmung war gewichen, alle waren voll Eifer für das Vorhaben, aber
die Sache war doch schwierig in Gang zu bringen.

Eines Morgens, bei Beginn der Pause, kam Mathilde Braun zu den Großen
und sagte zu ihrer Schwester Hermine: „Unser Pfarrer kommt gleich herauf
zu euch.“ „Woher weißt du es?“ frugen verschiedene Stimmen.

„Er hat mich gefragt, ob ich wisse, wie es mit eurem Plan stehe. Ich
habe gesagt: Es steht durcheinander. Dann hat er gelacht und gesagt, er
wolle euch besuchen.“

Richtig kam Pfarrer Kern auch schon die Treppe herauf, und nach kurzer
Zeit war alles aufs schönste geordnet. Jede Schülerin sollte am nächsten
Tag einen Zettel mitbringen, auf dem fünf Dichter vorgeschlagen wären.
Diejenigen Dichter, die die meisten Stimmen für sich hätten, würden
gewählt. Durch das Los sollten je drei Mädchen zu einer Gruppe vereinigt
und wiederum jeder Gruppe ein Dichter zugeteilt werden. Die nötigen
Bücher wollte der Pfarrer liefern und in den Inhalt derselben sollten
die einzelnen jeder Gruppe sich teilen.

Am Abend saß Gretchen sinnend vor ihrer Literaturgeschichte, um die fünf
Dichter zu wählen, die sie vorschlagen wollte. Schiller und Goethe waren
schnell aufgeschrieben, die durften ja nicht fehlen; dann kam Körner als
ihr Lieblingsdichter, und etwas zögernd folgten Lessing und Uhland.

Die ganze Klasse war am folgenden Tag sehr begierig auf die Zählung und
die Verlosung, die sie in der Freiviertelstunde vornehmen wollten.
Fräulein Bertrand, die um neun Uhr zur französischen Stunde kam, wurde
ins Vertrauen gezogen und gebeten, etwas vor zehn Uhr zu schließen, um
die Pause zu verlängern. Sie zeigte großes Interesse für den Plan und
erklärte sich bereit, in der Stunde die Zählung und Verlosung vornehmen
zu lassen, unter der Bedingung, daß dabei französisch gesprochen würde.
Das war unsern Großen keine zu schwierige Bedingung, und die Zählung
begann.

Schiller, Goethe und Lessing hatten weitaus die meisten Stimmen, dann
kamen Rückert und Uhland. Körner war zu Gretchens Bedauern
durchgefallen.

Nun wurden mit Hilfe des Loses die Gruppen gebildet. Ottilie, als die
Urheberin des Ganzen, durfte zu erst zwei Zettel mit Namen ziehen; der
erste trug den Namen: Elise Schönlein. Ottilie gab sich keine Mühe,
ihren Ärger zu verbergen, als ihr die Letzte zur Bundesgenossin zufiel,
aber wie um sie schadlos zu halten, stand auf dem zweiten Los, das sie
zog: Gretchen Reinwald. Die Erste und die Letzte, das konnte sich ja
ausgleichen.

Hermine Braun kam mit Elsbeth May und mit der Cousine Ottiliens in eine
Gruppe.

Bei der Verlosung der Dichter erhielt die erste Gruppe Schiller, und
Ottilie forderte Gretchen und Elise Schönlein auf, in der nächsten Woche
zu ihr zu kommen, um zu verabreden, was jede von ihnen lernen sollte.

Als alle Gruppen und Dichter verteilt waren, erkundigte sich Fräulein
Bertrand, in welcher Weise beim Schulschluß das Gelernte vorgetragen
werden sollte.

„Ganz einfach,“ sagte Gretchen, „wir bitten Fräulein von Zimmern um eine
Stunde, und sie fragt uns ab.“ Aber dies gefiel der Französin nicht.
„Ihr werdet euch nicht so nüchtern, wie alle Tage, um den grünen Tisch
setzen,“ sagte sie, „es treten sonst die Gruppen gar nicht hervor. Ihr
solltet euch getrennt in fünf Gruppen im Halbkreis aufstellen, Fräulein
von Zimmern in der Mitte, so wird es hübsch. Seht, so!“ Fräulein
Bertrand stellte die Mädchen je drei und drei im Halbkreis auf, wobei es
sehr lebhaft und fröhlich zuging, bis zu dem Moment, wo plötzlich jeder
Laut verstummte und alle wie versteinert stehen blieben – denn Fräulein
von Zimmern trat ein.

Sie hatten ja nichts Böses getan und doch kam es allen vor, als wären
sie auf einem Unrecht ertappt worden. Jedenfalls war nun ein peinliches
Ausfragen zu erwarten, und man konnte doch nicht befriedigend antworten,
wenn man die geplante Überraschung nicht verderben wollte.

Aber es kam anders. Fräulein von Zimmern kannte Fräulein Bertrand als
eine altbewährte gewissenhafte Lehrerin, sie kannte auch ihre „Großen“
als eine fleißige Klasse, und so war sie weit entfernt, Böses zu
vermuten. Freundlich wandte sie sich an Fräulein Bertrand: „Ich habe in
dem untern Zimmer die ungewohnte Unruhe über mir bemerkt und dachte mir
gleich, daß Sie Spiele machen ließen. Es ist sehr anerkennenswert, daß
Sie sich diese Mühe geben. Ihre Schülerinnen können dabei manchen
Ausdruck kennen lernen, der in der Grammatik nicht vorkommt.“ Etwas
verlegen entgegnete Fräulein Bertrand: „Gewiß sind Spiele eine gute
Übung und ich will gern welche mit den Mädchen einüben.“

„Ich bin eben heraufgekommen, um zu sehen, wie Sie das angreifen. Lassen
Sie sich nicht stören, machen Sie weiter;“ und Fräulein von Zimmern
setzte sich in eine Fensternische, entschlossen, zuzusehen.

Lehrerin und Schülerinnen wechselten bestürzte Blicke. Einige wußten
sich vor unterdrücktem Lachen kaum zu halten; Fräulein Bertrand befand
sich in schwieriger Lage, da kam ihr Ottilie mit großer Geistesgegenwart
zu Hilfe. „Bitte, Fräulein Bertrand, ‚_la ronde_‘,“ rief sie und
damit nannte sie ein Spiel, so einfach wie unser deutsches
„Ringe-Ringe-Reihe“; sie selbst und ihre Cousine hatten das mit ihrer
Bonne als Kinder gespielt und Ottilie nahm an, Fräulein Bertrand müßte
es kennen. „Gut,“ sagte Fräulein Bertrand, „sage du den Text zuerst
deutlich vor.“

Ottilie sprach das kindische Verslein. Alle ihre Mitschülerinnen hatten
erfaßt, daß es nun galt, schnell die Worte zu behalten, und als sich nun
die Mädchen an der Hand faßten, sich im Kreis drehten und den Vers dazu
sagten, hätte man nicht gedacht, daß es zum erstenmal geschah. Fräulein
von Zimmerns Erwartungen schienen aber auch nicht voll befriedigt, denn
sie wandte sich an Fräulein Bertrand mit der Frage: „Ist dies Spiel
nicht etwas zu kindlich für die Oberklasse?“ „Es ist ein erster
Versuch,“ entgegnete die Lehrerin, „ich werde passendere Spiele wählen
und dieses mit den Kleinen einüben.“ „Das wird mich sehr freuen,“ sagte
Fräulein von Zimmern und verließ mit freundlichem Gruß die Klasse.

Sie hatte sich kaum entfernt, als die unterdrückte Heiterkeit bei allen
Mädchen durchbrach. Fräulein Bertrands Ermahnungen zu Ruhe und Ernst
wollten lange nicht fruchten, denn sie wurden mit gar zu heiterer Miene
gegeben.

Diesem Zufall verdankt es das Institut von Fräulein von Zimmern, daß
heute in den meisten Klassen französische Spiele eingeführt sind.



                          Fünfzehntes Kapitel.
                           Eine Gesellschaft.


Auf Mittwoch nachmittag hatte Ottilie ihre „Gruppe“ zu sich gebeten zu
gemeinsamem Lesen einer kleinen Biographie von Schiller. Frau Reinwald
hatte Gretchen die Erlaubnis gegeben, hinzugehen, obwohl an diesem Abend
die lang vorbereitete große Gesellschaft im Hause Reinwald stattfinden
sollte. Gretchens Hilfe war noch nicht hoch anzuschlagen, man konnte sie
am Nachmittag schon entbehren.

Als Gretchen die Treppe hinuntersprang, traf sie auf derselben mit Frau
Batz zusammen; diese war schon am Morgen ein paar Stunden dagewesen, um
Pastetchen zu backen und andere Vorbereitungen zu treffen, und nun
rückte sie an, um ihr Meisterstück in der Küche zu leisten. Neben Frau
Batz auf der Treppe vorbeizukommen, war nicht so leicht, denn sie
brauchte schon an gewöhnlichen Tagen fast die ganze Treppenbreite für
sich, und an solch großen Tagen, wie der heutige, war sie noch
umfangreicher. Im Gefühl ihrer Unentbehrlichkeit machte sie auch nicht
Platz für so unbedeutende Menschenkinder wie unser Gretchen. Diese
drückte sich ganz bescheiden an die Wand und grüßte sogar recht
freundlich, denn sie wußte, daß die Mutter und Franziska schon sehnlich
auf die Kochfrau warteten. Sie selbst teilte diese Sehnsucht nicht, war
froh, daß sie treppab gehen durfte, und ganz zufrieden, daß ihr die
vorüberschreitende Größe nur den Hut krumm geschoben hatte, den konnte
man ja wieder zurechtrücken.

Bei Ottilie fand sie schon Elise Schönlein und auch Frau von Lilienkron
war eben eingetreten, um die Mädchen zu begrüßen. Gretchen kam sonst nie
in dies Haus und hatte Frau von Lilienkron nur gelegentlich bei
Ausstellungen in der Schule gesehen.

„Sie sind immer noch so frisch und rotbackig, wie ich Sie als kleines
Mädchen gesehen habe,“ sagte Frau von Lilienkron freundlich zu Gretchen,
„und dabei sehen Sie immer so vergnügt aus, wie wenn Sie gerade ein ganz
besonderes Glück erlebt hätten.“

„Heute ist das aber auch der Fall,“ erwiderte Gretchen, „ich wollte es
gerade Ottilie erzählen: wir haben heute die Nachricht bekommen, daß
unsere Lene, die so lang bei uns war und voriges Jahr geheiratet hat,
ein Kind bekommen hat.“ Es schien, als ob Frau von Lilienkron dies nicht
als ein so außerordentlich glückliches Ereignis zu würdigen wußte; aber
Ottilie fügte bei: „Gretchen ist so anhänglich an sie, daß sie immer
noch zu ihr kommt.“ „Freilich,“ bestätigte Gretchen, „und Lene hat drei
Stiefkinder, lauter Buben, und ihr eigenes Kind ist ein Mädchen, das ist
doch eine große Freude?“ Auf diese dringende Aufforderung hin war auch
Frau von Lilienkron bereit, sich über Lenes Kind zu freuen. Sie sprach
noch ein wenig mit den beiden Mädchen und ließ sie dann allein.

Eifrig wurde nun an die Arbeit gegangen. Sie lasen zusammen die
Biographie von Schiller, merkten an, was ihnen wichtig schien zu lernen,
und verabredeten, was jede von ihnen übernehmen sollte. Waren sie
uneins, so galt wie in stillem Übereinkommen Ottiliens Stimme als
ausschlaggebend, und so ging alles glatt. Am Schluß wurde ausgemacht,
daß man am Samstag wieder zusammenkommen solle.

Ehe sie sich trennten, zeigte Ottilie ein reizendes Deckchen, das sie zu
besticken angefangen hatte. Ein Blick stillen Einverständnisses wurde
zwischen Ottilie und Gretchen gewechselt, letztere konnte leicht
erraten, daß die schöne Arbeit für Fräulein von Zimmern bestimmt war,
und sie freute sich sichtlich daran. Ottilie bemerkte es und dachte im
stillen: „Es ist wahr, wenn man sich so wie Gretchen mit andern freuen
kann, dann hat man viele Freuden.“

Gretchen eilte heim so schnell sie konnte. Es kam ihr nicht ganz recht
vor, daß sie so behaglich mit den Freundinnen beisammen gesessen war,
während die Mutter alle Hände voll zu tun hatte. Rasch legte sie ihre
Kleider ab, band sich eine Schürze um und kam ins Eßzimmer. Dort hatte
die Mutter schon den Tisch mit feinem Damast belegt, aber gedeckt war
noch nicht. Das war Gretchen eben recht, dabei konnte sie helfen. Flink
ging sie der Mutter zur Hand. Unter den schönen Bestecken war ein Messer
weniger glänzend als die andern. Frau Reinwald gab es Gretchen: „Sieh
das ist nicht blank, es muß noch nachgeputzt werden.“

Gretchen brachte es in die Küche. Ei wie sah es da aus! Der Herd war
schon geheizt, die Kessel dampften, Frau Batz rührte, Franziska trieb
die Reibmaschine, auf einem weiß bedeckten Küchentisch stand das feine
Porzellangeschirr hingerichtet.

Gretchen, in der Meinung, heute gehe alles die Kochfrau an, reichte
dieser das Messer hin und richtete aus: „Das Messer ist nicht blank und
muß nachgeputzt werden.“ Frau Batz sah sie groß an. „Ich hab’s nicht
schlecht geputzt,“ sagte sie, „das Fräulein hält mich wohl für eine
Küchenmagd?“ Gretchen merkte, daß sie etwas Ungeschicktes gemacht hatte.
Sie wandte sich an Franziska und hielt dieser das Messer hin. Die nahm
es ihr auch nicht ab. Vielleicht hatte sie an der Reibmaschine nicht
gehört, was Gretchen ausgerichtet hatte. Ziemlich laut wiederholte
Gretchen ihren Auftrag: „Das Messer ist nicht blank, es muß nachgeputzt
werden.“

„Ja, ja, ich bin doch nicht taub, ich hab’s doch gehört,“ rief sie und
trieb ihre Maschine weiter. Gretchen legte das Messer neben hin.
Franziska warf einen verächtlichen Blick auf dasselbe und sagte: „_So_
hat Ihre Lene geputzt, die mir immer als Muster vorgehalten wird?“ „Die
Lene hat _schön_ geputzt,“ rief Gretchen aufbrausend. „Jetzt ist sie
schon ein Jahr nicht mehr bei uns und soll noch schuld sein an dem
Messer.“

„Jawohl ist sie schuld, die Bestecke hat man noch nie benützt, seit ich
da bin.“

„Ich werde aber die Mutter fragen, ob das wahr ist!“ sagte Gretchen. Sie
stand da und wartete auf das Messer.

Die Zeit wurde ihr lang. Sie erbot sich, die Reibmaschine zu drehen;
aber Franziska wollte davon nichts wissen: „Es wird ja so furchtbar
nicht eilen mit dem Messer,“ sagte sie und ließ Gretchen warten. „Wenn
Sie doch einmal dastehen, Fräulein, dann könnten Sie mir einen Topf voll
Wasser aus der Leitung bringen,“ sagte die Kochfrau. Gretchen wußte
nicht so recht, welchen Topf sie nehmen sollte. Es stand einer auf dem
Küchentisch, in diesem schien schon etwas Wasser zu sein. „Kann ich den
nehmen?“ fragte sie, aber weder Frau Batz noch Franziska beachteten die
Frage.

„Ich werde ihn schon nehmen können,“ dachte Gretchen, „es ist doch nur
Wasser darin, aber vielleicht nicht ganz reines.“ Sie schüttete es in
den Ausguß, das vermeintliche Wasser glitt ganz eigentümlich aus dem
Topf. Gretchen erschrak. „Sollte es doch etwas anderes gewesen sein?“
dachte sie, während sie den Topf unter die Wasserleitung hielt. Jetzt
aber ging die Kochfrau an den Küchentisch.

„Wer hat mir den Hafen mit den acht Eiweiß weggeräumt?“ fragte sie. Im
selben Augenblick bemerkte sie den Topf in Gretchens Hand und rief:
„Weiß der Himmel, Sie haben das Wasser auf meine acht Eiweiß laufen
lassen!“ „Was darin war, habe ich für Wasser gehalten und
weggeschüttet,“ sagte Gretchen kleinlaut, und als Frau Batz immer lauter
wurde und auch Franziska in ihr Schelten einstimmte, sagte Gretchen:
„Ich habe doch gefragt, ob ich den Topf nehmen darf, aber es hat mir ja
niemand Antwort gegeben!“ „Jetzt müssen gar wir noch schuld sein,“ rief
Frau Batz, „ich sag’s ja immer: Keine Hilfe ist wenig, aber ein Fräulein
zur Hilfe ist noch weniger!“ Gretchen hatte genug gehört, sie verließ
die Küche mit dem unglückseligen Messer, das endlich doch geputzt worden
war.

Sie kämpfte mit den Tränen, als sie ins Zimmer kam. „Du hast lange
gebraucht,“ sagte Frau Reinwald und nahm das Messer, „aber du hast es
auch recht schön geputzt.“

„Ich nicht, Franziska. Ich habe bloß acht Eiweiß in den Ausguß
geschüttet.“ Gretchen konnte jetzt ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.
Acht Eiweiß verschmerzt eine Hausfrau nicht so leicht. Frau Reinwald war
sehr ärgerlich und zankte über Gretchens Ungeschick. Als sie aber hörte,
wie schlecht Gretchen in der Küche angekommen war, hatte sie doch
Mitleid mit ihr. „Warum hast du das Messer nicht selbst geputzt?“ fragte
sie, „so meinte ich’s, als ich es dir gab.“

„So? Daran habe ich gar nicht gedacht, sonst hätte ich’s schon getan.“

„Das war’s wohl, was Franziska geärgert hat. Wenn ein Dienstmädchen alle
Hände voll zu tun hat, und es kommt so ein halbes Kind wie du, tadelt
die Arbeit und sagt: mach’s besser, dann wird jede verdrießlich.“

„Frau Batz war aber noch viel ärger als Franziska.“

„Mir scheint eben, Frau Batz hat schon recht fatale Erfahrungen gemacht
mit kleinen Fräulein, die nichts können und die Schuld gern auf andere
schieben.“

„Ja, jedenfalls mag sie mich gar nicht und Franziska will heute auch
nichts von mir wissen. Im Zimmer will ich dir helfen so viel ich nur
kann, aber bitte, Mutter, schicke mich heute nur nicht mehr in die Küche
hinaus!“

„Weißt du, was du damit sagst, Kind? Du sagst: Bitte, Mutter, räume mir
die Schwierigkeiten aus dem Weg, damit ich sie nicht überwinden muß.
Kann ich darauf Ja sagen? Komm, sei mein tapferes Kind, nicht so ein
empfindliches Fräulein, geh hinaus, gib noch einmal acht Eier heraus und
sage Frau Batz, ich lasse ihr raten, einen großen Zettel an ihren Topf
zu binden mit der Aufschrift: „Vorsicht! Eiweiß!“

Frau Reinwald gab Gretchen den Speiskammerschlüssel in die Hand – was
wollte diese nun anders tun als in die Küche gehen?

Kochfrau und Köchin sahen diesmal beide auf, als die Türe geöffnet
wurde. Sie hatten nicht anders erwartet, als daß Gretchen sich über sie
beklagt habe, und daß nun Frau Reinwald, ärgerlich über sie beide,
verstimmt über die verlorenen Eier, in der Küche erscheinen würde. Als
sie anstatt der Frau des Hauses Gretchen eintreten sahen und an deren
Augen bemerkten, daß es Tränen gegeben hatte, schlug die Stimmung um,
und als nun Gretchen die Eier aus der Speiskammer brachte, vor Frau Batz
hinlegte und mit einem Versuch zu lächeln ausrichtete: Die Mutter meint,
Sie sollten auf den Topf schreiben: Vorsicht! Eiweiß! da lachte Frau
Batz und Franziska mit ihr, und tröstend sagte die Kochfrau: „Nehmen Sie
sich’s nicht zu Herzen, Fräulein, wenn auch die Frau Mama gezankt hat,
so etwas kommt öfter vor.“ „Ja,“ fügte Franziska hinzu, „in so einem
tiefen Topf sieht das Eiweiß aus wie Wasser.“ Das tat Gretchen wohl, und
ehe sie die Küche wieder verließ, sagte sie: „Wenn ich Ihnen später
etwas helfen kann, etwas putzen oder richten, wobei man nichts Dummes
machen kann, dann dürfen Sie mir nur rufen.“ „Ganz recht,“ sagte Frau
Batz, „nachher, beim Kartoffelschälen,“ und als sie allein waren, sagte
sie zu Franziska: „Sie ist nicht so hochmütig wie andere.“ „Nein, man
muß sie gern haben,“ meinte Franziska.

Auf acht Uhr war eingeladen, alles stand zum Empfang bereit, Herr
Reinwald erwartete die Gäste, während seine Frau noch einen letzten
Blick in die Küche warf.

„Du wirst wohl heute in die Verbannung geschickt?“ fragte Herr Reinwald
seine Tochter.

„Ja, sobald die ersten Gäste kommen, muß ich verschwinden. Es ist aber
ganz nett in meinem Zimmer, die Mutter hat mir eine Lampe
hineingestellt, mein Schiller liegt dabei, mein Tischchen ist gedeckt,
und von allem, was abgetragen ist, darf ich essen, soviel mir schmeckt.
Das hat nämlich die Mutter in Gegenwart von Frau Batz gesagt, sonst
würde ich gar nicht wagen, einen Bissen zu holen. – Es klingelt schon –
gute Nacht, Vater, – gute Nacht, Mutter!“

Gretchen verschwand in ihr Zimmerchen, während Franziska die ersten
Gäste empfing, ihnen beim Ablegen behilflich war und sie ins
Empfangszimmer führte.

„Jetzt wird’s gemütlich,“ sagte sich Gretchen, zündete ihre Lampe an und
nahm den Schiller vor. An diesem langen, stillen Abend konnte sie lesen
und lernen soviel sie nur wollte. Sie saß bald ganz vertieft und achtete
nicht auf das wiederholte Klingeln, als leise die Türe aufging, Frau
Batz ihren Kopf hereinstreckte und Gretchen winkte. Diese folgte ihr
leise in die Küche, denn im Vorzimmer legten eben wieder Gäste ab.

„Fräulein Gretchen, wissen Sie vielleicht, wo der Wein ist, den ich zum
Kochen nehmen darf? Franziska hätte ihn vorher hinrichten sollen, jetzt
kann sie nicht mehr abkommen.“ „Er wird in der Speiskammer sein,“ sagte
Gretchen und holte ihn.

„So, das ist recht; jetzt bleiben Sie nur außen, man muß doch jemand zur
Hilfe haben. Legen Sie mir noch Kohlen aufs Feuer, bloß eine halbe
Schaufel voll, und füllen Sie mir den Wasserkessel wieder auf und räumen
Sie das Geschirr da aus dem Weg.“ So ging das zu, bis nach einiger Zeit
Franziska herein kam und sagte: „Nun fehlt nur noch ein Paar, dann wird
zu Tisch gegangen.“

„Als erster Gang kommen die Pasteten mit der Sardellensauce,“ sagte die
Kochfrau, „die Pasteten können Sie einstweilen auf die Platte
hinrichten.“ Ganz hinten am Herd war eine Wärmeeinrichtung, dort waren
die Pasteten heiß gestellt. Franziska beugte sich über den Herd, um sie
vorzuholen. In dem Augenblick, wo sie das Blech mit den Pasteten über
den Herd hob, hatte Frau Batz den Deckel von dem großen Kessel
abgehoben, in dem eine Zunge kochte, der heiße Dampf fuhr Franziska an
den Arm, sie machte eine rasche Bewegung, hielt das Blech schief und in
einem Nu rutschten die sämtlichen Pastetchen herunter, geradenwegs in
den Kessel, wie wenn es ihre Bestimmung gewesen wäre, in der Zungenbrühe
aufgekocht zu werden. Franziska tat einen einzigen Schrei, dann lehnte
sie sprachlos und wie vernichtet an der Wand.

Frau Batz war nicht sprachlos. Das ganze Tierreich, vom Kamel bis
herunter zur Gans mußte herhalten, um Benennungen für die arme Franziska
zu liefern.

Eine solche Szene hatte Gretchen noch nie im Hause erlebt. „Ich will die
Mutter herausrufen,“ sagte sie. „Hat Ihre Mutter vielleicht Pasteten?
Kann sie welche aus den Ärmeln schütteln?“ rief die verzweifelte Köchin,
„wo die Batz kocht, da wird die Frau nicht herausgerufen.“

„Dann könnte man vielleicht die Pasteten ganz weglassen,“ schlug
Gretchen vor, „es gibt ja heute abend so viele gute Sachen.“

„Den ersten Gang weglassen? Das gibt’s nicht, ich wäre blamiert für alle
Zeiten. Ich muß etwas haben zu meiner Sardellensauce, aber es ist nichts
im Haus und zu allem zu spät!“

„Kann man keine Pasteten mehr bekommen beim Pastetenbäcker?“ fragte
Gretchen, „hat er keine? soll ich hinrennen?“

„Es ist spät und käme erst noch recht teuer.“

„Ich will alles zahlen,“ stöhnte Franziska.

„Ist ein Telephon im Haus?“ fragte jetzt Frau Batz in einem Ton, der
wohl zeigte, daß sie eine Hoffnung schöpfte. „Ja, unten beim Hausherrn.“
„Dann könnte es gehen, denn der Ausläufer beim Pastetenbäcker fährt oft
mit dem Rad. Schnell, Fräulein Gretchen, Sie können am besten springen,
gehen Sie hinunter zum Hausherrn, fragen Sie an, ob der Pastetenbäcker
augenblicklich dreißig Pastetchen schicken kann, versprechen Sie ein
gutes Trinkgeld, wenn er in einer Viertelstunde da ist.“ Gretchen flog
nur so die Treppe hinunter zum Hausherrn und schlüpfte gerade noch
unbemerkt durch seine Türe, ehe die letzten Gäste heraufkamen.

Arme Franziska, wie war’s ihr zumute, während sie die Besuche empfing!

Nach kurzer Zeit kam Gretchen triumphierend in die Küche zurück: „In
zwölf Minuten können die Pasteten da sein!“

Inzwischen waren alle Gäste versammelt, Frau Reinwald drückte auf die
elektrische Glocke und in der Küche wußte man, daß man anrichten sollte.
Gretchen dachte im stillen, es wäre doch besser gewesen, der Mutter
etwas mitzuteilen, damit sie die Gäste nicht so schnell zu Tisch führe,
man hätte dann ruhig noch eine Viertelstunde warten können. Sie sagte
aber nichts, denn die Kochfrau ging umher wie ein gereizter Stier, und
Franziska stand wie eine Trauerweide an der Wand. Gretchen konnte kein
Auge von der Küchenuhr verwenden. Von den zwölf Minuten waren sechs
vergangen, jetzt sieben, jetzt acht. Frau Reinwald klingelte noch
einmal, man mußte wirklich nervös werden. Frau Batz richtete die
Sardellensauce einstweilen an. Neun Minuten. Zehn Minuten. Ach wie ist
doch so eine Minute lang! Elf Minuten. Jetzt ein lauter Tritt auf der
Treppe, Gretchen stürzt hinaus, die andern ihr nach, draußen steht ein
atemloser schweißtriefender Radfahrer, hält ihnen eine heiße Blechkapsel
entgegen. In der Küche wird sie aufgerissen, tadellose Pastetchen kommen
zum Vorschein – eckige zwar, die andern waren rund – einerlei, nur
schnell, schnell auf die Platte und nun hinein, Franziska!

„Da hat’s scheint’s pressiert,“ sagte der Radfahrer und wollte mit
seiner Kapsel gehen. „Halt!“ rief Gretchen, und der Mann stellte
bereitwillig seine Kapsel wieder ab. Ihm ging’s jetzt gut, denn Gretchen
floß über von Dankbarkeit. Ein Glas Wein mußte er haben und Brötchen
dazu und das Trinkgeld schien auch nicht schlecht zu sein, schmunzelnd
zog er ab.

Inzwischen bot Franziska den Gästen die Pastetchen an. Frau Reinwald war
im Gespräch mit dem neben ihr sitzenden Herrn. Sie warf nur einen
flüchtigen Blick auf Franziska, deren langes Ausbleiben sie beunruhigt
hatte, und sprach dann weiter mit ihrem Tischnachbarn. Als an diesen die
Platte mit den Pasteten kam, schwieg Frau Reinwald mitten im Satz
betroffen still. Sein Pastetchen war ja eckig! Sie sah auf die Platte:
alle Pasteten waren eckig und sie waren doch rund gewesen! Jetzt kam
Franziska mit ihrer Platte an Frau Reinwald. Ein fragender Blick traf
sie. Das Mädchen schlug die Augen nieder, mußte sie nun wohl vor all den
fremden Leuten Rechenschaft ablegen? Da wandte sich der Tischnachbar an
Frau Reinwald: „Sie haben sich vorhin unterbrochen, Sie wollten sagen?“

Franziska entwischte.

Draußen in der Küche hatte Gretchen mancherlei Handreichung getan, denn
Franziska hatte allen Mut verloren, und Frau Batz war durch den
Zwischenfall etwas aufgehalten worden. Aber es ging ihr alles von der
Hand, daß es eine Freude war, ihr zuzusehen, und bald lag der Braten
schön garniert auf der Platte. „Jetzt sieht er schön aus,“ sagte
Gretchen. „Großartig macht er sich,“ sagte Frau Batz selbstgefällig, „so
sieht man auch nicht, daß er an einer Stelle ein klein wenig braun ist.
Die Röhre hat keine gleichmäßige Hitze.“ Gretchen dämmerte eine
Erinnerung auf, und wie träumend kam es von ihren Lippen: „Links hinten
ist ein Loch.“ Frau Batz sah sie scheel an. „So? Das sagt man mir, wenn
der Braten fertig ist?“

Das ganze Abendessen war meisterhaft gelungen, nicht zum wenigsten der
Salat mit dem Öl vom Hinterboxer, und so war auch mit jedem Gang die
gute Laune der Kochfrau gestiegen. Gretchen vergaß ganz, daß sie sich in
ihrem Zimmer ein Tischchen gedeckt hatte, die gemeinsamen Erlebnisse
hatten sie für den Abend mit Frau Batz und Franziska verbunden; sie aß
bei ihnen und aß mit Vorliebe von den Pasteten, die in der Zungenbrühe
gekocht waren, um Franziska zu trösten und ihr zu beweisen, daß sie doch
noch gut, wenn auch nicht mehr schön seien.

Als Gretchen endlich zu ihrem Schiller zurückkehrte und zufällig auf die
Uhr sah, konnte sie ihren Augen kaum trauen, es ging auf elf Uhr! Hatte
sie fast drei Stunden bei Frau Batz und Franziska zugebracht? Wer ihr
das heute nachmittag gesagt hätte!



                          Sechzehntes Kapitel.
                            Wiege und Sarg.


Heiß und staubig war es in den Straßen der Residenz, glühend brannte die
Sonne auf die Mauern der Häuser. Die Schulkinder schlichen müde in ihre
Schulen und waren träge bei der Arbeit. Auch im Institut bei Fräulein
von Zimmern machte sich die Schlaffheit fühlbar, bei Lehrern und
Lehrerinnen ließ die Frische nach. In der Klasse der Großen freute man
sich nicht mehr an dem Sonnenschein, den man im Herbst, im Winter und
Frühjahr so gerne zum Fenster hereingelassen hatte. Die Läden waren so
weit geschlossen, daß kaum mehr die nötige Helligkeit hereindrang. Heute
war Handarbeitsstunde. Das Nähen wollte nicht recht vorwärts gehen, die
Finger waren feucht und die Nadeln rutschten nicht durch den Stoff. Aber
Fräulein Weber wollte nicht nachgeben; ihr Ehrgeiz war, daß jede der
Schülerinnen die zwei Nachtjacken, die sie unter ihrer Leitung
angefangen hatte, bis Schluß des Schuljahrs vollenden sollte. Eine
kleine Ausstellung der angefertigten Arbeiten war jedes Jahr das
wichtigste Ereignis in dem Leben dieser Lehrerin, und zwar war es ihr
Ehrgeiz, daß sich nicht nur einige Mädchen durch besonders hübsche
Arbeiten hervortun sollten, sondern daß auch die weniger Begabten gute
Leistungen aufzuweisen hätten.

Elise Schönlein war auch in diesem Fach die geringste Schülerin, denn es
fehlte ihr an Fleiß und sie legte gern ein Viertelstündchen die Hände in
den Schoß. Aber auch Gretchen war in dieser Hinsicht keine gute
Schülerin, sie machte oft etwas Ungeschicktes.

Heute war wieder ein Unglückstag für sie. Sie hatte das oberste
Knopfloch zu groß geschnitten und mußte wieder ein Stückchen davon
zunähen. Daß sie nun zu viel zunähte und die Hälfte davon wieder
auftrennen mußte, gab dem Knopfloch ein trübes, zerzaustes Aussehen, das
auch nicht besser wurde, als Gretchen sich in den Finger stach und ein
Tröpfchen Blut daraus floß. Fräulein Weber war ärgerlich und Gretchen
unglücklich. Hermine tröstete sie freundlich: „Es ist ja die erste
Nachtjacke,“ sagte sie, „die ist nicht so wichtig, wenn nur die zweite
gut ausfällt, dann legst du bei der Ausstellung die schöne obenauf und
niemand sieht die verunglückte.“

„Ich werde gar nicht fertig mit der zweiten bis zum Schulschluß, ihr
seid fast alle weiter als ich.“

„Wir werden auch früher fertig als nötig, du wirst sehen, es reicht dir
noch.“

Gretchen war froh, als die Stunde vorüber war, in der es ihr immer
heißer wurde als in allen andern. Langsamer als sonst schlenderte sie
heim durch die heißen Straßen. Als sie später als gewöhnlich nach Hause
kam, sagte Franziska: „Es ist ein Mann im Besuchzimmer, es muß Sie auch
angehen, er hat auch nach Ihnen gefragt.“

„Wie sieht er aus?“

„Groß und breit, ein Vierziger denke ich; schwarz gekleidet, fast wie
ein Herr, aber doch kein Herr, meine ich.“

Als Gretchen ins Zimmer trat, erhob sich der Mann, der kein Herr war,
und Gretchen sagte erstaunt: „Ach, Sie sind’s, Herr Bauer, wie geht es
Lene und der Kleinen?“

„Ich danke für die Nachfrage,“ sagte der Kutscher, „es geht gottlob gut.
Ich habe Ihrer Frau Mutter die Bitte vorgetragen, die ich und meine Frau
haben, ob Sie nicht unserm kleinen Mädel zu Gevatter stehen wollten?“

„Die Mutter? Ach, wie nett!“ rief Gretchen.

„Nein, nicht ich, _du_ bist zu Gevatter gebeten,“ sagte Frau Reinwald.
„Ich?“ rief Gretchen in höchstem Erstaunen, „ich, Patin? Und bei Lenes
herziger Kleinen? O Mutter, das ist zu schön!“ und im Übermaß der Freude
umarmte sie ihre Mutter und frug halb im Scherz und doch halb im Ernst:
„Bist du nicht neidisch auf mich?“ „Fast,“ sagte Frau Reinwald
freundlich, „aber nun gib doch auch deinem Herrn Gevatter ordentlich
Antwort auf seine Anfrage!“ „Ist bereits nicht mehr nötig,“ entgegnete
der Kutscher; „soviel habe ich schon heraus, daß es Fräulein Gretchen
gern tut.“ „O freilich, und wie gern!“ rief Gretchen; „ich kann’s gar
nicht erwarten, bis ich mein Patenkind sehe. Wie soll’s denn heißen?“
„Wenn’s Ihnen recht ist, so möchten wir’s halt auch Gretchen heißen.“
„Ach, das wird ja immer netter; meinen Namen soll die Kleine bekommen!“
„Das ist fast zu viel Ehre für eine so junge Patin wie du,“ sagte Frau
Reinwald; „am Ende haben Sie noch eine ältere Patin, die es übel nimmt.“

„Wir haben weiter keine Patin, nur einen Paten! Lene meint, er werde
Fräulein Gretchen schon recht sein, nämlich der Hofkutscher Plitt.“ „Den
kenne ich ja schon, das wird wunderschön! Wann soll denn die Taufe
sein?“

„Wir haben noch nicht mit dem Pfarrer gesprochen.“

„Welcher Pfarrer ist’s?“ fragte Gretchen begierig; „am Ende unser
Pfarrer Kern?“

„Ich kann’s nicht sagen. Herr Pfarrer Kern gehört schon auch in unsern
Distrikt, aber die Herren wechseln ab mit den Taufen, und da weiß man
nicht so, wer die Woche hat.“

„Das kann ich erfragen, und nicht wahr, dann richten wir’s doch so ein,
daß die Taufe ist, wenn unser Pfarrer die Woche hat?“

„Wenn’s halt nicht gar zu lang dauert. Ich kann’s nicht leiden, so alte
Täuflinge, die fast schon dreinschwätzen.“

„Gleich morgen frage ich und bringe der Lene Antwort,“ rief Gretchen
ganz im Eifer.

Der Kutscher empfahl sich. Zu seiner Frau daheim sagte er: „Ungern genug
bin ich mit meiner Bitte in ein so vornehmes Haus gegangen, aber jetzt
ist mir’s recht, daß ich droben war. Wie hätte ich das auch denken
können, daß sich das Fräulein so über die Patensache freut!“

„Ich hab’ dir’s doch vorher gesagt!“

„Ich hab’s halt nicht geglaubt. Ihr Weiber schwätzt gar viel, da kann
einer nicht alles glauben.“

                   *       *       *       *       *

Am nächsten Morgen ging Gretchen frühzeitig in die Schule. Sie wartete
im Vorplatz des ersten Stocks auf Pfarrer Kern, der in der zweiten
Klasse Unterricht geben sollte. Nach und nach kamen all die Schülerinnen
dieser Klasse an ihr vorbei, als eine der letzten auch Ruth Holland.
Diese war sichtlich erfreut, als sie Gretchen da traf, und grüßte
herzlich.

Gretchen hielt sie auf. „Bleibe bei mir,“ sagte sie, „ich erzähle dir
etwas.“ Und nun erfuhr Ruth zuallererst, daß Gretchen Patin werden
sollte und wegen der Taufe den Pfarrer sprechen müsse. Die Kleine sah
mit noch mehr Achtung als bisher zu ihr auf. „Ich bleibe bei Ihnen
stehen, bis unser Pfarrer die Treppe heraufkommt,“ sagte sie.

Die beiden lehnten am Treppengeländer und sahen hinunter, Gretchen in
wachsender Ungeduld, Ruth in voller Teilnahme. Aber der Pfarrer kam
nicht und war auch jetzt noch nicht in Sicht, als das Zeichen zum Beginn
des Unterrichts gegeben wurde. Miß Hampton, die englische Lehrerin, war
schon längst die Treppe hinaufgegangen; Gretchen konnte nicht mehr
länger zögern, sie mußte unverrichteter Dinge hinaufeilen.

Ruth hatte nicht recht verstanden, was Gretchen mit dem Pfarrer
besprechen wollte; sie fürchtete, daß nun die Taufe und Patenschaft gar
nicht zustande komme, und war ganz unglücklich, daß gerade heute der
Pfarrer später als gewöhnlich kam. Und wie ärgerlich – kaum eine Minute
später hörte sie seinen raschen Tritt auf der Treppe. Im Bewußtsein, daß
sie auch zu spät daran war, ging sie rasch durch den Gang bis an die
Türe des Schulzimmers. Aber vor dieser machte sie Halt. Sollte sie nicht
dem Pfarrer sagen, daß Gretchen ihn so gern gesprochen hätte? Er konnte
es dann gewiß nach der Stunde möglich machen. Den Pfarrer aufzuhalten
und anzusprechen, war ein heldenmütiger Entschluß für die schüchterne
Kleine, aber für ihr Fräulein wollte sie das schon tun. Mit klopfendem
Herzen ging sie dem Pfarrer ein paar Schritte entgegen. Er gab ihr die
Hand und sagte: „Heute sind wir spät daran, nicht wahr?“ Und Ruth? Ruth
sagte kein Wörtchen und ging tiefbetrübt über ihr Schweigen hinter dem
Pfarrer in die Klasse.

Zum Glück war Gretchen nicht so ängstlich. Ein paar Minuten vor Schluß
der englischen Stunde bat sie Miß Hampton, sie zu entlassen, und erhielt
die Erlaubnis. Gretchen lauschte vor der Türe der zweiten Klasse.

„Nun wollen wir Schluß machen für heute,“ hörte sie den Pfarrer sagen,
und kurz darauf stand er vor ihr und sagte freundlich: „Hast du auf mich
gewartet oder wolltest du zu den Kleinen?“

„Ich möchte Sie etwas fragen.“

„Komm mit mir an das Fenster.“

„Ich soll Sie fragen, in welcher Woche Sie die Taufen in der Altstadt
haben. Der Kutscher Bauer und seine Frau möchten gern, daß ihr Kind von
Ihnen getauft wird.“

„Das wollen wir gleich nachsehen.“ Der Pfarrer nahm seinen
Taschenkalender zur Hand. „In der nächsten Woche ist die Reihe an mir.“

„O, das ist recht,“ rief Gretchen, und nun wollte sie erzählen, daß sie
zu Gevatter gebeten sei. Daheim hatte sie sich gefreut, es ihm
mitzuteilen, aber jetzt, da sie ihm gegenüberstand, kam es ihr plötzlich
in den Sinn, daß sie für solche Würde eigentlich zu gering sei. Er, der
solche Verpflichtungen so ernst nahm, konnte es gewiß nicht gut heißen,
wenn man ein Schulmädchen wie sie zu Gevatter bat.

Während sie sich darüber Gedanken machte, hatte der Pfarrer gefragt:
„Kennst du diese Familie?“ und Gretchen hatte ganz mechanisch
geantwortet: „Ich kenne die Familie.“ Der Pfarrer sah seine Schülerin
erstaunt an; er kannte sie ja so genau und merkte wohl, daß sie etwas in
ihren Gedanken bewegte, etwas Peinliches, wie ihm schien. Nun aber sagte
sich Gretchen: Erfahren muß er’s doch, also lieber gleich, und ganz
unvermittelt kam es nun heraus: „Ich bin zu Gevatter gebeten bei dem
Kind.“ „Du, Gretchen?“ fragte der Pfarrer überrascht. „Du sollst Patin
werden, und du sagst mir das, wie wenn es dir gar keine Freude wäre, daß
man dir dies Vertrauen erweist und dir solch ein kleines Menschenkind
ans Herz legen will? Sieh, da hätte ich gedacht, das müßte dir eine
wahre Wonne sein!“ „O, dann ist’s mir gleich eine,“ rief Gretchen wieder
in ihrem natürlichen, fröhlichen Ton. „Ich habe nur Angst gehabt, es
möchte Ihnen nicht recht sein, weil ich noch so jung bin.“

„Du bleibst ja nicht immer jung; bis das kleine Kindchen zu Verstand
kommt, bist du schon kein Kind mehr, und ich glaube ganz gewiß, daß du
ihm eine treue Patin wirst und schon jetzt im Gebet sein kannst. Also
gratuliere ich dir, und nun mußt du mir auch sagen, woher du diese Leute
so gut kennst.“

„Die Frau ist ja unsere Lene, die schon immer bei uns war; Sie haben sie
auch einmal bei uns besucht, wie sie krank war.“

„Ja, ja, deiner Lene kann ich mich wohl noch erinnern, und den Kutscher
Bauer sollte ich auch kennen. Ist Lene nicht seine zweite Frau? Ja, die
erste habe ich während ihres langen Leidens manchmal besucht. Der Mann
war sehr gut gegen sie.“

„Wie schön, daß Sie beide schon kennen!“ rief Gretchen.

„Es war auch eine alte Verwandte im Haus, die schien mir weniger
angenehm.“

„Das ist die Bas; ja, die ist viel weniger angenehm,“ bestätigte
Gretchen.

„Soll denn die Taufe im Haus sein?“

„Ja, es muß eine Haustaufe sein, weil der Pate nicht frei ist um die
Zeit, wo in der Kirche getauft wird. Er ist nämlich Hofkutscher.“

„Ach so, das ist am Ende _dein_ Hofkutscher, der sich bei der Königin
für dich verwendet hat?“

„Ja, das ist _mein_ Hofkutscher,“ sagte Gretchen vergnügt, „und darum
wird’s eben so schön bei der Taufe, weil sich alle schon ein wenig
kennen. Und das Kindchen ist auch ein besonders nettes.“

„Das weiß ich,“ sagte der Pfarrer.

„Kennen Sie denn die Kleine auch schon?“

„Nein, aber was wird denn dein Patchen nicht ein besonders nettes sein!“
Gretchen hatte den Pfarrer bis zur Haustüre begleitet, und als sie
umkehrte, war sie so glücklich, daß sie laut singend an Fräulein von
Zimmerns Türe vorbeiging. Es war ihr ja nur lieb, daß Fräulein von
Zimmern herauskam, die kleine Ungehörigkeit zu rügen, und daß sie auf
diese Weise noch ein teilnehmendes Herz fand für ihre Mitteilung und
ihre Freude.

An diesem Abend wanderte Gretchen zu Lene. Es kam ihr ganz wunderlich
und verkehrt vor, als Lene _ihr_ dankte; _sie_ hatte ja danken wollen!
Die Brüder zeigten mit Stolz ihr Schwesterchen und fuhren es so sanft
hin und her, daß Gretchen sich darüber wunderte. „Ja, sie haben das
Kleine lieb,“ sagte Lene, „und sie waren auch gegen mich gut die ganze
Zeit.“ Nach einer Weile traulichen Plauderns sagte Gretchen: „Ich muß
noch hinauf zur Base, die Mutter will’s, sie hat mir ein Stück
Kaffeekuchen für sie mitgegeben. Gehst du nicht mit mir hinauf, Lene?“

„Nein, Gretchen, es ist mir leid, ich kann jetzt nicht fort. Aber das
muß ich dir noch vorher sagen, die Bas zieht nun wirklich zu uns.“

„Aber doch nicht vor der Taufe?“

„Nein, so schnell geht das nicht. In einem Monat von heute ab kommt
sie.“

„Also hast du’s ihr angeboten?“

„Ja, siehst du, ich wollte es ja eigentlich nicht. Aber wie die Kleine
auf die Welt gekommen und die erste Nacht neben mir gelegen ist, da habe
ich mir so meine Gedanken gemacht, was einmal aus dem Kind werden wird.
Ob’s eine Frau wird oder nicht, und da ist mir’s auf einmal gekommen,
vielleicht ist’s in seinen alten Tagen auch so verlassen wie die Bas da
drüben, und kein Mensch will’s zu sich nehmen.“

„O nein, Lene, wie kannst du so etwas denken! Wir lassen’s doch nicht so
widerwärtig werden, daß es kein Mensch mag!“

„Nun ja, es war mir eben weich zumut, und ich habe gedacht, es ist nicht
recht, wenn man sich um die alten, einsamen Leute nicht annimmt, und
dann habe ich mir’s vorgenommen, mein erster Ausgang soll sein zu der
Bas und zu ihren Hausleuten zum Kündigen. Gestern war ich drüben.“

„Was hat sie gesagt, Lene, ist sie jetzt recht glücklich und dankbar?“

„Nun ja, weißt du, in ihrer Art schon, man muß sie eben verstehen. Aber
das habe ich ihr gesagt, das Schnapstrinken müsse sie dann bleiben
lassen; wenigstens dürfe sie nur so viel trinken, als ich ihr selbst
hole, ein Gläschen alle Tage, und durch die Buben dürfe sie’s nicht mehr
holen lassen.“

„Was hat sie dazu gesagt?“

„Ach, sie ist halt nicht so, wie sie sein sollte. Sie hat gesagt, sie
trinke überhaupt nie Schnaps und wenn sie einen trinke, dann lasse sie
ihn nicht durch die Buben holen.“

„Aber Lene, wenn die Base so lügt und unsere Kleine wächst neben ihr auf
und hört das!“

„So weit hinaus wollen wir halt nicht sorgen, Gretchen, ich hab’s ja gut
gemeint, es wird schon recht werden.“

Gretchen ging zur Base. Jetzt, nachdem Lene so edelmütig gehandelt
hatte, war Gretchen wenigstens sicher, daß die alte Frau nicht über sie
schelten würde. Im Lehnstuhl saß die Base und heftete gleich bei
Gretchens Eintritt verlangende Blicke auf den Kaffeekuchen. Als ihn
Gretchen vor sie auf den Tisch stellte, dankte sie zwar nicht
eigentlich, aber sie sagte doch: „Das tut wohl, wenn man auch einmal
etwas anderes zu sehen bekommt, als das trockene Brot. Mir sucht ja doch
der Bäcker immer das schlechteste heraus.“ Gretchen fragte nach dem
Befinden der Alten. Da wurde diese redselig und erzählte von ihrem
Gichtleiden so lang und ausführlich, daß es für Gretchens Geduld schon
viel war, um so mehr, als sie gerne von etwas anderem hören wollte.
Endlich machte die Base eine Pause, und Gretchen fiel schnell ein:
„Jetzt werden Sie ja bald nicht mehr allein sein; Lene hat mir gesagt,
daß Sie zu ihr ziehen.“

„Ich habe keine andere Wahl.“

„Es ist doch recht gut von der Lene, daß sie Sie jetzt ins Haus nimmt,
wo sie so viel Arbeit hat mit dem kleinen Kind und wo sie auch das
Stübchen gut selber brauchen könnte.“

„Ja, ja, sie weiß schon, was sie tut, die Lene!“ sagte die Alte mit
einem hämischen Lächeln. Gretchen wußte sich das nicht zu deuten,
fragend sah sie auf die alte Frau. „Wenn sie sich nur nicht verrechnet,
die Lene! Es hat schon manches auf eine Erbschaft spekuliert und ist
dann zu kurz gekommen.“ Gretchen verstand nicht genau den Sinn dieser
Worte, aber sie empfand die gemeine Gesinnung, aus der sie
hervorgegangen waren, die häßliche Verdächtigung gegen ihre Lene. Sie
sprang vom Stuhl auf. Keinen Augenblick mochte sie mehr hier bleiben,
kein Wort mochte sie sagen gegen solche boshafte Anschuldigung, aber
Rache mußte sie nehmen, Strafe mußte sein: Mit einem raschen Griff nahm
sie den Kaffeekuchen vom Tisch weg und unbarmherzig mit sich zur Türe
hinaus, während die Alte stöhnte: „Mein Kuchen, halt, mein Kuchen!“ In
größter Erregung sprang Gretchen die vielen Treppen hinunter.

Drunten überlegte sie, ob sie Lene den Kuchen bringen sollte. Aber dann
würde diese fragen, warum sie ihn der Base nicht gegeben habe, und um
keinen Preis hätte Gretchen ihr die häßlichen Worte wiedersagen mögen,
die sie so empört hatten. Sie mußte den Kuchen wohl mit nach Hause
nehmen, aber der Mutter würde es nicht recht sein. Sie hatte der Kranken
eine Freude machen wollen, nicht eine Enttäuschung bereiten. Bei
Gretchen rührte sich schon wieder das gute Herz. Wie lange würde sich
die Frau in ihrer Einsamkeit und Langeweile noch um den Kuchen grämen,
der schon in ihrem Zimmer war, ja ihr schon gehört hatte! „Mein Kuchen,
halt, mein Kuchen!“ tönte es noch in Gretchens Ohr. Unschlüssig stand
sie eine Weile am Eingang von Lenes Hof, dann siegte das Erbarmen über
den Zorn.

Sie ging noch einmal zu Lene. Die stand in ihrer Küche. Gretchen legte
rasch den Kuchen auf den Tisch, kehrte gleich wieder unter die
Küchentüre zurück und sagte hastig von der Schwelle aus: „Lene, ich habe
der Base den Kuchen weggenommen, weil sie mich geärgert hat; jetzt
dauert sie mich aber doch, sei so gut und schicke ihn durch die Buben
hinauf. Ich muß heim, so schnell ich kann, und lernen, lernen den ganzen
Abend.“ Ehe Lene die Frage tun konnte, die ihr auf den Lippen schwebte:
Warum hast du dich über die Bas geärgert? war Gretchen schon draußen im
Hof und auf dem Heimweg.

Die Alte hatte von ihrem Fenster aus beobachtet, wie Gretchen mit dem
Kuchen zu Lene hinein und ohne Kuchen von Lene herausgekommen war, und
vor Neid und Schmerz darüber, daß nun Lene genießen sollte, was
eigentlich für sie bestimmt war, weinte sie bitterlich.

Lene hätte gar gerne gewußt, womit die Base Gretchen so erzürnt hatte.
Am Abend, als die Kleine schlief, empfahl sie dieselbe der Obhut der
Brüder, nahm den Kuchen unter ihre Schürze und trug ihn selbst hinüber.
Als die Base Lene erblickte, erschrak sie. Entweder kam Lene, um ihr
Vorwürfe zu machen oder um das Versprechen zurückzunehmen, daß sie zu
ihr ziehen dürfe. Aber Lene zog unter ihrer Schürze den Kuchen hervor,
gab ihn der Base und fragte ganz wie sonst: „Wie geht’s Euch heute?“

Zuerst brachte die Base den Kuchen in Sicherheit, dann sagte sie:
„Schlecht geht’s, und was man so in seinen Schmerzen sagt, das darf man
einem auch nicht gleich so übel nehmen.“

„Was war’s denn, was habt Ihr gesagt?“

„Ihr wißt’s ja schon; ich habe wohl gesehen, daß das Fräulein zu Euch
hineingegangen ist.“

„Dann habt Ihr wohl auch gesehen, daß sie gleich wieder herausgekommen
ist. Sie hat mir nicht erzählt, was es gegeben hat. Sagt Ihr mir’s.“

„Was wird’s gegeben haben? Wenn’s was gewesen wäre, so hätte sie’s wohl
gesagt; ich weiß von nichts.“

Lene merkte, daß nichts aus der alten Frau herauszubringen war. „Ich muß
wieder hinüber zu meiner Kleinen,“ sagte sie, „es ist ein schönes Kind
und wird Euch auch gefallen, wenn Ihr es seht. Wenn Ihr Schmerzen habt
und allein seid, so denkt halt daran, daß wir Euch herüberholen in vier
Wochen, und wenn die Taufe ist, schicke ich Euch auch vom Kuchen und vom
Wein.“ Lene reichte der Bas freundlich die Hand, die nahm sie und dabei
überkam sie doch etwas wie Reue, und sie sagte: „Ihr seid gut gegen
mich, Gott lohn’s Euch.“

Gretchen hatte keine leeren Ausreden gebraucht, als sie zu Lene gesagt
hatte, sie müsse eilends heim, um zu lernen. Sie hatte sich mit Ottilie
und Elise in den Stoff geteilt, den sie bis zum Schulschluß bewältigen
wollten, und da Elise von manchem erklärte, es sei ihr viel zu schwer,
und von vielem, es sei nicht wichtig, so mußten die beiden andern die
Hauptsache übernehmen. Ottilie war das ganz recht, da gab es für sie
wieder eine Gelegenheit, sich auszuzeichnen. Sie hatte mehr zu lernen
übernommen als Gretchen und gedachte im stillen, ohne Verabredung auch
noch ein Stück aus dem „Abfall der Niederlande“ zu lernen und mit dieser
schwierigen Leistung sich hervorzutun.

Gretchen hingegen wollte Elise ordentlich mit heranziehen, und als sie
herausfand, daß diese nicht einmal mit dem Wenigen Ernst machte, das sie
zu lernen versprochen hatte, redete sie ihr ins Gewissen. „Elise,“ sagte
sie, „du verdirbst die ganze Freude, wenn du dein Teil nicht lernst.
Denke nur, wie schlecht sich das machen wird, wenn alle andern so viel
können und du gar nichts zu sagen weißt.“

Elise versprach, sich nun auch ernstlich an die Arbeit zu machen.
Gretchen war sehr vergnügt darüber und fragte gleich am folgenden Tag,
wieviel sie nun gelernt habe? Da stellte es sich heraus, daß Elise doch
nicht dazu gekommen war. Jetzt war Gretchen entrüstet. „Wie kann denn
das sein, daß man immer nicht zum Lernen kommt? Bei mir zu Hause ist das
anders, da kommt man dazu. Komm mit mir heim nach der Schule, dann
lernen wir zusammen!“ Elise machte allerlei Einwände, aber Gretchen gab
nicht nach, Elise mußte mit ihr kommen, und nachdem sie erst einmal
zusammen gelernt hatten, widerstrebte sie nicht mehr; sie kam öfter, und
Gretchen hatte eine so rührende Freude an dem, was Elise zustande
brachte, daß diese selbst allmählich der Sache nicht mehr so
gleichgültig gegenüberstand. Es war Gretchen gelungen, ihr etwas von dem
eigenen Eifer einzublasen.

Inzwischen war der Tag herangekommen, auf den die Taufe festgesetzt war.
Auf zwei Uhr zum Kaffee, lautete die Einladung, denn später hatte der
Hofkutscher Dienst. So saß Gretchen schon beim Mittagessen in ihrem
schwarzen Konfirmationskleid dem Vater gegenüber.

„Sie sieht ganz würdig aus,“ sagte Herr Reinwald zu seiner Frau, „man
merkt schon von ferne, daß sie Patin werden soll.“

„Weißt du, Vater, daß ich im Wagen abgeholt werde? Herr Bauer hat es
angeboten und Lene hat gesagt: ‚Er weiß wohl, was sich schickt.‘ Ist das
nicht nett?“

„Freilich; wer klug ist, wählt darum sein Patchen immer unter den
Kutscherskindern.“

Kurz darauf saß Gretchen in dem Wagen, der vor dem Haus hielt, grüßte zu
Franziska hinauf, die zum Fenster heruntersah, und der Gevatter
kutschierte.

Gar sauber und freundlich hatte Lene ihre Stube zur Feier hergerichtet.
Ein kleines Tischchen, weiß bedeckt, mit Blumenstöcken geschmückt, war
zur Taufhandlung gerichtet, und nun kam auch schon der Kirchendiener und
brachte das silberne Becken. Die drei Brüder sahen in ihren besten
Gewändern ordentlich aus und waren in gehobener Stimmung. Der große
Tisch in der Mitte des Zimmers war als Kaffeetisch gedeckt, und an der
ganzen Art war wohl zu bemerken, daß die Hausfrau wußte, was guter
Geschmack war. Und nun ging die Türe weit auf und der Hofkutscher Plitt
in seiner scharlachroten, mit silbernen Tressen besetzten Livree trat
ein, bescheiden hinter ihm seine einfach gekleidete Frau. Ehe sie noch
die Anwesenden begrüßt hatten, kam schon Pfarrer Kern. Lene brachte
ihren Täufling herein, der ruhig weiter schlief, und alle scharten sich
um den kleinen Tisch, an dem der Geistliche stand.

Der Taufrede, die er nun hielt, war wohl anzumerken, daß der Pfarrer
schon vorher gewußt hatte, wer anwesend sein würde, denn sie schien auf
jedes einzelne Glied der kleinen Versammlung berechnet. Er sprach vom
Vater des Kindchens, dem nach schweren Jahren neues Glück erblüht sei,
von der Mutter, die schon in fremdem Dienst sich in treuer Fürsorge für
die Tochter bewährt habe, die nun als junge Patin dem Kindchen all diese
Liebe heimgeben wolle. Er wandte sich an die drei Brüder und sagte
ihnen, das Schwesterchen werde ihrem Beispiel folgen; wenn es immer
Liebes und Gutes von ihnen sähe, so würde es auch lieb und gut werden.

Nach der Ansprache während des Gebetes legte Lene das Kind in die Arme
des Paten. Der schien aber mehr Erfahrung mit Rossen als mit
Wickelkindern zu haben; er blickte immer in die Ferne statt auf das Kind
und hielt das Köpfchen so abwärts, daß Lene jeden Augenblick fürchtete,
es würde aus seinem Kissen herausrutschen. Da nahm sie es bald wieder
von den Armen des Paten und übergab es Gretchen; die hielt es liebevoll
an sich, während es zum erstenmal mit ihrem Namen genannt und als
Christenkindlein getauft wurde. Die Kleine, die bisher so musterhaft
geruht hatte, rührte sich nun, und es war gut, daß die Taufhandlung zu
Ende war.

Bald darauf saß die kleine Gesellschaft um den Tisch und Lene schenkte
den Kaffee ein. Der Pfarrer saß zwischen den zwei Kutschern, ihm
gegenüber Gretchen zwischen den Kutscherfrauen, oben und unten die
Buben. Der Pfarrer nickte seinem Gegenüber freundlich zu und sagte: „Ich
erinnere mich nicht, schon einmal eine so junge Patin bei der Taufe
gehabt zu haben, und ebensowenig,“ sagte er, sich an den Hofkutscher
wendend, „habe ich jemals einen so schönen, scharlachroten Paten
gesehen.“

„Das glaube ich,“ sagte Plitt, „ich habe es auch schlau anstellen
müssen, um die Erlaubnis zu erhalten, daß ich meine Livree bei dieser
Gelegenheit tragen darf. Es ist für gewöhnlich nicht erlaubt.“

„Das dachte ich mir. Was haben Sie denn für Gründe vorgebracht?“

„Ich habe mir erlaubt, mich gelegentlich einer Ausfahrt direkt an Ihre
Majestät die Königin zu wenden. Ich habe gehorsamst vorgebracht, daß
doppelte Beziehungen zwischen Ihrer Majestät und der Familie des
Täuflings bestehen, nämlich erstens: daß Majestät die Gnade hatte, der
Mutter des Kindes, der Frau Lene Bauer, vor einigen Jahren die Medaille
für langjährige, treue Dienstzeit zu verleihen. Zweitens habe ich mir
gehorsamst erlaubt zu unterbreiten –“

„Laß jetzt deine Sprüch,“ unterbrach ihn Bauer, „und red’ wie
unsereins!“

„Und zweitens?“ frug der Pfarrer.

„Und zweitens habe ich vorgebracht, daß Fräulein Reinwald, die Patin,
schon eine Audienz bei der Prinzessin gehabt habe.“

„Und darauf haben Sie die Erlaubnis bekommen, am Tauffest die Livree zu
tragen? Sie schmückt auch wirklich unsere Tafel, es wäre ja sonst die
ganze Gesellschaft schwarz.“

Frau Plitt, die sich bis dahin mehr schweigend verhalten hatte, wollte
jetzt auch noch etwas zur Sache sprechen: „Sein schwarzer Anzug ist
nämlich nimmer gut,“ sagte sie zum Pfarrer.

Der Pfarrer und sein Gegenüber lächelten, aber der Kutscher wehrte: „Was
brauchst du das zu sagen, das gehört doch nicht daher.“ Damit machte
er’s nur schlimmer, denn jetzt geriet seine Frau in Eifer: „Es ist doch
aber wahr! Er spiegelt schon!“ „So schweig doch!“ rief der Hofkutscher
ärgerlich; aber der Pfarrer ging ganz freundlich auf die Worte der Frau
ein.

„Ja, ja, Frau Plitt,“ sagte er, „das fatale Spiegeln, das kennen wir
Pfarrer auch an unsern schwarzen Röcken, wenn das nur nicht wäre.“

Fröhlich ging das Gespräch hin und her, der Kutscher Bauer hatte
inzwischen Wein eingeschenkt und der Pfarrer erhob sich jetzt und sagte,
er müsse sich verabschieden. Aber in demselben Augenblick wurde die Türe
aufgerissen und die Buben, die den Kuchen zur Base getragen hatten,
stürzten herein mit dem Ruf: „Die Bas stirbt!“

In wenigen Minuten war die ganze fröhliche Gesellschaft
auseinandergesprengt. Zuerst ging der Kutscher Bauer, ohne ein Wort zu
sagen, hinaus. Man sah ihn durch den Hof eilen, die drei Kinder folgten
ihm. Der Pfarrer erbot sich, mit Lene hinaufzugehen zu der Base. „Bleib
du so lange bei dem Kind, Gretchen,“ bat Lene. „Ja, sei nur ganz ruhig,“
antwortete diese, „ich gehe nicht fort, ehe du wiederkommst.“ Der
Hofkutscher und seine Frau verabschiedeten sich von Gretchen; er trank
ordnungshalber noch die halbvollen Gläser aus und das Ehepaar verließ
das Haus.

So blieb Gretchen ganz allein zurück. Es hat etwas Erschütterndes, wenn
die Botschaft vom Tode plötzlich eindringt in den Kreis fröhlich
feiernder Menschen, und so war auch Gretchen tief ergriffen. Sie stand
in Gedanken versunken am Fenster und sah durch den Hof hinüber nach dem
Haus, wo die alte Frau ihren letzten Kampf auskämpfte.

Eine Weile war alles still im Haus, dann machte mit leisem Stimmchen das
junge Leben seine Ansprüche geltend. Drüben das Erlöschen, hüben das
Erwachen. Das kleine Gretchen fing an zu schreien, und das große
Gretchen ging in die Kammer, in der ihr Patenkind lag. Sie trug es
heraus und wiegte es sanft in den Armen, da gab es sich wieder
zufrieden. Sie setzte sich auf ein Kinderstühlchen, hielt die Kleine im
Schoß und spielte mit ihren winzigen Fingerchen.

„Du mein Gretchen, mein Herzblättchen,“ sagte sie bewegt vor sich hin,
„dich will ich lieb haben, für dich will ich tun, was ich kann.“ Sie
nahm die kleinen Händchen zwischen die ihrigen und sagte leise: „Lieber
Gott, mach uns beide fromm, daß wir beide zu dir in den Himmel kommen.“

Nach einer halben Stunde kam Lene mit verweinten Augen zurück.

„Ist sie wirklich gestorben?“ fragte Gretchen.

„Ach ja, sie ist tot, aber wir sind doch noch zu rechter Zeit gekommen,
sie hat uns alle noch angeschaut und ein paar Worte gesprochen. Der Herr
Pfarrer meinte, es sei wohl ein Herzschlag, der Doktor werde nicht mehr
helfen können. Wir haben aber doch nach ihm geschickt, aber bis er
gekommen ist, war alles vorbei.“

„Es ist doch traurig, daß sie gerade am Tauftag gestorben ist.“

„Ich kann mir schon denken, wie das gekommen ist,“ sagte Lene. „Sie hat
heute morgen zu mir gesagt: ‚Dem Tauftag zu Ehren könntet Ihr mir wohl
ein Schnäpschen holen.‘ Da wollte ich auch nicht Nein sagen und habe es
ihr gebracht. Nachher aber hat sie zu jedem von den Buben ebenso gesagt,
und jeder hat ihr eins geholt und sie hat alles getrunken, und das war
zu viel.“

„Wie schrecklich, so zu sterben!“ sagte Gretchen. „Ach, Lene, ich bin
doch froh, daß sie nicht zu Euch gezogen ist.“

„Und ich bin froh, daß ich es ihr doch noch angeboten habe, und dafür
war sie mir auch dankbar.“ Gretchen entgegnete nichts, aber sie hatte
über diese Dankbarkeit so ihre eignen Gedanken.

„Gretchen, deine Mutter hat mich damals überredet, den Stuhl
hinüberzubringen, und das danke ich ihr. Hätte ich mich nicht um die
arme Person angenommen, so müßte ich mir jetzt bittere Vorwürfe machen.“

Lene drückte ihr Kindchen ans Herz und sah wieder fröhlich aus den
verweinten Augen.

Zwei Tage später waren dieselben Menschen, die heute um die Wiege
gestanden hatten, um den Sarg der alten Frau versammelt.



                          Siebzehntes Kapitel.
                         Eine traurige Familie.


In den Pausen zwischen den Schulstunden ging es in diesen Wochen bei
unsern Großen ganz anders zu als früher. Da gab es nur noch _ein_
Gesprächsthema, das waren die fünf auserwählten Dichter und ihre Werke.
Gegenseitig wurde ausgefragt und überhört; es wurde kleinmütig gejammert
von den Verzagten und fröhlich triumphiert von den Siegesgewissen. Es
galten auch keine Freundschaften mehr, sondern nur Gruppen.

Heute, als die Mädchen sich um zehn Uhr auf dem großen Vorplatz
ergingen, faßte Gretchen Hermine am Arm, als diese sich eben wieder zu
ihrer Gruppe gesellen wollte. „Halt einmal, Hermine,“ sagte sie, „so
geht das nicht weiter. Meinst du, ich überließe dich wochenlang ganz
deinem Uhland?“

„Du hast ja dafür deinen Schiller!“

„Jawohl, und ich habe gerade auswendig gelernt, wohin seine Totengebeine
gebracht worden sind. Mit ihm kann ich nicht immerfort umgehen, ich
brauche dich, Hermine, und jetzt komme einmal mit, ich möchte auch
wieder einmal allein mit dir sein,“ und Gretchen zog ungestüm die
Freundin mit sich fort bis an das Ende des Ganges. Dort standen sie nun
miteinander unter dem Fenster.

Hermine legte ihren Arm um Gretchen und sagte: „Ich brauche dich ja noch
viel mehr, als du mich. Meine Gruppe ist ja ganz nett und Elsbeth May
habe ich wirklich lieb, aber so wie du ist keine.“

„Meinst du vielleicht, Ottilie und Elise seien so wie du?“ fragte
Gretchen.

Nach einer kleinen Weile sagte Hermine: „Ich kann mir’s gar nicht
denken, wie das wird, wenn wir nicht mehr miteinander in die Schule
gehen; es ist doch schön gewesen all die Jahre her, daß wir jeden Tag
beisammen waren. Ich weiß noch so gut, wie du zum erstenmal zu uns in
die Schule gekommen bist; weißt du’s auch noch?“

„Jawohl; zuerst hat mir’s gar nicht gefallen, aber du warst gleich gut
gegen mich.“

Hermine wandte sich um, sie hörte hinter sich Schritte. Fräulein von
Zimmern kam auf sie zu. Gütig sah sie auf die Freundinnen, die in
traulicher Umarmung beisammen standen und sie jetzt begrüßten.

„Das ist ein nettes Plätzchen zum Plaudern,“ sagte sie. „Ja,“ erwiderte
Gretchen, „wir haben gerade davon geredet, daß es uns fehlen wird, wenn
wir uns nicht mehr alle Tage in der Schule treffen.“

„Das glaube ich wohl, die Schule ist eine rechte Pflanzstätte für
Freundschaften. Aber wenn die Pflanze durch so viele Jahre hindurch
gepflegt worden ist, dann ist sie festgewurzelt und dauerhaft. Ihr
werdet euch durchs ganze Leben lieb haben, auch wenn ihr nicht mehr so
oft zusammenkommen solltet.“

Gretchen ging’s im letzten Jahr ganz eigentümlich. So oft sie außer den
Stunden mit Fräulein von Zimmern zusammen war, fühlte sie das Bedürfnis,
sich ihr liebevoll zu nähern, und als sie nun die herzlichen Worte
hörte: „Ihr werdet euch immer lieb haben,“ hatte sie das größte
Verlangen, die Hand der Vorsteherin zu fassen und zu sagen: „_Sie_
werden wir auch immer lieb behalten!“ aber es kam ihr doch vor, als ob
sich das Fräulein von Zimmern gegenüber nicht schickte, und so
unterdrückte sie die Bemerkung.

Etwas davon hatten vielleicht ihre Augen verraten, denn Fräulein von
Zimmern ergriff selbst in ungewohnter Traulichkeit Gretchens Hand,
während sie zu ihr sagte: „Ich wollte dir mitteilen, daß ich es für
besser halte, die Lesestunden mit Ruth jetzt aufzugeben. Das Kind leidet
sehr unter der Hitze. Gestern schlief sie während des Unterrichts ein
und heute wurde sie wegen Unwohlseins entschuldigt.“

„Sie sieht auch recht elend aus,“ sagte Gretchen und nahm sich vor, der
Kleinen einen Krankenbesuch zu machen.

Bei ihrer Heimkehr traf sie unter der Haustüre mit dem Briefträger
zusammen; sie erkannte gleich auf dem Brief, den er ihr entgegenhielt,
die Handschrift ihrer Tante, Frau van der Bolten. Vergnügt eilte sie
damit die Treppe hinauf. „Mutter, wo bist du? Ein dicker Brief von der
Tante ist gekommen!“ rief sie. „Endlich hört man wieder etwas von ihr,“
entgegnete Frau Reinwald und las, während Gretchen neben ihr stand und
begierig wartete, bis ihr die Mutter etwas daraus mitteilen würde. Sie
hatte für die ganze Familie das wärmste Interesse, auch enthielten die
Briefe meist irgend eine Notiz über Fräulein Trölopp, obwohl diese nicht
mehr in der Familie weilte.

„Allerlei Neues und schöne Pläne,“ sagte Frau Reinwald, nachdem sie
gelesen hatte. „Denke dir, van der Boltens haben für den ganzen Sommer
ein Häuschen im Gebirg gemietet. Mit Beginn der Ferien sollen
einstweilen die Kinder alle hinaus und von Fräulein Trölopp bemuttert
werden, bis nach ein paar Wochen Onkel und Tante nachkommen.“

„Wie nett,“ sagte Gretchen, „daß wieder Fräulein Trölopp dabei sein
wird, und diesmal bekommt sie es angenehmer als im Winter während des
Scharlachs!“

„Ja, gewiß; doch ist es auch nichts Leichtes, die Verantwortung für
fremde Kinder allein zu übernehmen!“

„Besonders, wenn Oskar dabei ist; aber sie wird schon fertig mit ihm,
überhaupt mit allem, was sie unternimmt!“ sagte Gretchen in voller
Bewunderung.

Am Nachmittag trat sie die Wanderung an zu Ruth Holland. Nie mehr war
sie dort gewesen seit jenem Tag, da sie sich entschuldigen mußte wegen
der Ohrfeige, und die Erinnerung kam ihr lebhaft, als sie in das Haus
trat und an der Kanzlei vorbei hinauf zu der Wohnung ging. Auch diesmal
wurde sie wieder in das kleine Empfangszimmer geführt, auch heute kam
ihr die Frau Forstrat entgegen. Sie sah etwas befremdet auf Gretchen,
sie erkannte sie wohl nicht mehr. Gretchen stellte sich vor. „O, ich
kenne Sie schon,“ rief die Frau Forstrat, „aber es wäre nicht nötig
gewesen, daß Fräulein von Zimmern Sie geschickt hätte! Wenn das Kind
nicht wirklich krank wäre, hätte es die Schule nicht versäumt. Sagen Sie
nur Fräulein von Zimmern, ein solches Mißtrauen wäre bei uns nicht am
Platz.“ Gretchen war sehr erstaunt über diese Auffassung. „Fräulein von
Zimmern schickt mich gar nicht,“ sagte sie; „ich wollte mich selbst gern
nach Ruth erkundigen und sie ein wenig besuchen.“

„Ich weiß schon, so sagt man ja wohl, aber es ist doch anders gemeint.
Ruth ist recht krank, keine Schulkrankheit, nein gewiß nicht, richten
Sie das nur Fräulein von Zimmern aus.“

„Darf ich ein wenig zu ihr hinein?“

„Nein, Fräulein, Sie müssen es mir schon so glauben. Der Arzt hat nicht
erlaubt, daß jemand zu ihr kommt, kein Mensch darf zu ihr hinein.“ „Das
tut mir recht leid,“ sagte Gretchen wirklich enttäuscht und wollte sich
eben noch näher nach des Kindes Krankheit erkundigen, da ertönte aus dem
Nebenzimmer der Klang einer Glocke, und ohne ein Wort zu sagen, folgte
Frau Holland dem Glockenzeichen und ließ Gretchen allein. Diese wußte
nicht recht, sollte sie gehen oder bleiben? Vielleicht lag Ruth im
Nebenzimmer, hatte ihre Stimme erkannt und wollte ihr etwas sagen
lassen. Sie wartete. Nach kurzer Zeit kam Frau Holland zurück. „Ruth
möchte Sie sehen,“ sagte sie, „kommen Sie nur herein.“

„Aber Sie sagten doch, es dürfe niemand zu ihr?“

„Wohl, aber die Kleine will Sie gerne sehen.“

„Ich möchte doch lieber nicht zu ihr, wenn es der Arzt ausdrücklich
verboten hat!“

„Wenn das Kind will, kann man doch nichts machen, kommen Sie doch!“
Gretchen weigerte sich nicht länger und folgte in ein Schlafgemach mit
drei Betten, das schlecht gelüftet und nicht aufgeräumt, einen
unangenehmen Eindruck machte. Die Kleine lag blaß und matt in ihrem
Bett, aber bei Gretchens Eintritt setzte sie sich auf und die Erregung
machte ihr rote Bäckchen.

„Wie geht’s dir denn, kleine Maus?“ fragte Gretchen zärtlich. Aber Ruth
konnte nicht zu Wort kommen, die Mutter fing die Frage auf: „Sie liegt
so elend da und mag nichts essen, bloß Kaffee will sie trinken, und der
Arzt sagt doch, es sei Gift für sie. Ich muß ihn ihr immer ganz heimlich
geben, daß es mein Mann nicht sieht.“ Gretchen wußte gar nicht, was sie
darauf sagen sollte. Von zu Hause war sie gewöhnt, daß Vater und Mutter
nichts vor einander verbargen und daß beide taten, was vernünftig und
recht war, nicht was dem Kind beliebte. Sie konnte diese Frau nicht
verstehen, wandte sich an Ruth und erzählte ihr leise von Rudi und
Betty. Die Kleine lauschte auf Gretchens Worte, aber es war nicht
leicht, eine Unterhaltung zu führen, denn Frau Holland begann nun hastig
im Zimmer aufzuräumen, was allerdings nottat.

„Es ist noch nicht gebettet hier innen,“ sagte sie, „ich kam heute
vormittag nicht dazu; mein Dienstmädchen ist nämlich nur so aus dem
Dienst gelaufen, schon die vierte, die es so macht, die Verdingerin
schickt mir absichtlich die schlechtesten.“ Frau Holland begann ihr Bett
zu machen, dicht neben Gretchen. Diese sah erstaunt auf. Die kleine
Patientin fing den Blick auf und verstand. „Mama,“ bat sie, „mach’ doch
das Bett nicht, solange mein Fräulein da ist.“

„Ich will jetzt nicht länger stören,“ sagte Gretchen, denn der
Aufenthalt in diesem Zimmer war ihr peinlich. „Bleiben Sie nur, Ruth muß
doch Unterhaltung haben.“ Sie ließ nun das Betten einstweilen sein, ging
aber ruhelos bald da bald dorthin.

Im Nebenzimmer hörte man Schritte. „Papa kommt,“ rief die Kleine wie
erschreckt. Der Forstrat trat ein, Gretchen ging ihm entgegen und gab
ihm unbefangen die Hand, er war ja ihr guter Freund, hatte ihr selbst
vor dem Fest die Blumen gebracht. Er begrüßte sie auch heute mit
herzlicher Freundlichkeit, aber bald verfinsterte sich sein Ausdruck,
und mit einem Ton, aus dem die tiefste Mißstimmung klang, sagte er zu
seiner Frau: „Diese Unordnung und diese Luft!“ und rasch riß er die
beiden Fenster weit auf. „Das Kind erkältet sich,“ rief die Frau.

„Das Kind geht noch zugrund durch deine Schuld!“ rief der Mann, verließ
das Zimmer und warf die Türe schmetternd hinter sich zu. Die Kleine
erzitterte und drückte ihr Köpfchen wie beschämt in die Kissen. Die Frau
schloß die beiden Fenster und ging, fast ebenso hastig wie der Mann,
nach der andern Seite ab.

Gretchen war ganz erschüttert über dies traurige Familienbild. Sie
beugte sich über das Kind, drückte einen Kuß auf ihr schmales
Gesichtchen und sagte liebevoll: „Komm du nur recht bald wieder zu mir,
du bist mein kleiner Liebling.“

Leise verließ sie das Zimmer, war froh, daß sie niemanden begegnete und
atmete erleichtert auf, als sie sich wieder auf der Straße befand. „Über
diese Schwelle gehe ich so bald nicht wieder,“ sagte sie leise vor sich
hin.

Was sie gesehen und gehört hatte, ging ihr den ganzen Tag nach, und ein
namenloses Mitleid mit der kleinen Ruth preßte ihr fast Tränen aus. Wie
konnte das zarte Pflänzchen in dieser Luft und Pflege gedeihen?

Auch Herr und Frau Reinwald hörten mit Teilnahme diesen Bericht. „Es ist
eine schreckliche Frau,“ sagte Gretchen, „aber daß auch der Mann so
heftig ist vor dem kranken Kind, das er doch so lieb hat, das kann ich
gar nicht begreifen.“

„Der Mann wäre vielleicht gar nicht so geworden ohne diese Frau,“ sagte
Herr Reinwald ernst, „eine Frau, die weder nach Verstand noch nach
Gewissen handelt, die ihr Hauswesen vernachlässigt und ihre Kinder
falsch behandelt, eine solche Frau kann ihren Mann zur Verzweiflung
bringen.“

Während Gretchen an diesem Abend länger als sonst wach im Bett lag und
an die Familie Holland dachte, wurde in aller Stille ein schöner Plan
geschmiedet.

„Wenn Fräulein Trölopp das kleine Mädchen noch neben den andern Kindern
hinaus aufs Land nähme,“ sagte Frau Reinwald zu ihrem Mann, „wie müßte
das dem schwächlichen Kind gut tun!“

„Die Gebirgsluft und die verständige Behandlung könnten da freilich
Gutes wirken. Glaubst du denn, das wäre zu machen?“ fragte Herr
Reinwald.

„An Fräulein Trölopp würde es nicht scheitern, wenn Ruths Eltern für den
Plan zu gewinnen wären.“

„Er sicherlich, sie scheint unberechenbar.“

„Sie muß doch auch einsehen,“ meinte Frau Reinwald, „wie gut für ihr
Töchterchen der Verkehr mit den glücklichen, fröhlichen Kindern wäre.
Ich will doch gleich einmal bei meiner Schwester anfragen. Wie würde
sich Gretchen für die Kleine freuen, es ist mir ganz leid, daß sie in so
traurige Verhältnisse Einblick getan hat.“

Gretchen erfuhr zunächst noch nichts von diesem Plan. Sie hatte keine
Ahnung davon, daß noch am selben Abend ein Brief an ihre Tante abging,
in dem in beweglichen Worten um Aufnahme der kleinen Ruth gebeten wurde.

Die Antwort kam umgehend: Fräulein Trölopp habe sich bereit erklärt, so
viele Kinder aufzunehmen, als für nützlich befunden würde. Herr und Frau
van der Bolten wollten gerne der kleinen Freundin ihrer Kinder diesen
Aufenthalt ermöglichen und frugen an, ob Gretchen sie nicht hinbegleiten
und mit Fräulein Trölopp und den Kindern den schönen Landaufenthalt
genießen wolle?

Dieser Brief kam in Abwesenheit Gretchens an.

„Wie schade, daß sie nicht zu Hause ist,“ sagte Frau Reinwald zu ihrem
Mann, „es ist wirklich eine Freude, Gretchen so etwas mitzuteilen.“

„Demnach willst du die Einladung für sie annehmen?“

„Meinst du nicht?“ fragte Frau Reinwald.

„Das mußt _du_ wissen, ob es für sie paßt,“ entgegnete er.

„Bei Fräulein Trölopp wird sie jedenfalls nichts lernen und sehen, was
nicht nützlich wäre,“ sagte Frau Reinwald lächelnd, „und mit den Kindern
wird sie sich sehr vergnügt im Freien tummeln.“

„Besonders günstig scheint es mir für des Forstrats Kind zu sein, es
wird sich leichter eingewöhnen mit Gretchen. Ich weiß nicht, ob Fräulein
Trölopp sich viel mit Kindern abgibt, die doch zur Zeit ‚unnütze‘
Geschöpfe sind.“

„Ja, es ist für Ruth und Gretchen gleich günstig,“ sagte Frau Reinwald.
„Wie schade, daß diese gerade heute so spät heimkommt, sie will nach der
Schule noch zu Elise Schönlein und mit ihr lernen. Ich kann es gar nicht
erwarten, bis ich ihr den schönen Plan mitteilen kann.“

„Nun auf ein paar Stunden kommt es doch nicht an! Man sieht schon, woher
Gretchen ihre Ungeduld hat,“ sagte neckend Herr Reinwald, indem er
fortging.

Gretchen kam wirklich erst spät am Nachmittag heim, und dann war ihr
erstes Wort zur Mutter: „Ich bin dem Vater begegnet und soll dir sagen,
er habe mir schon alles von dem Brief erzählt.“ Etwas enttäuscht fragte
Frau Reinwald: „Nun, und was sagst du dazu?“ „Ach, so wichtig ist mir’s
nicht, wie der Vater gemeint hat; wenn auch der Buchhändler die
Biographie nicht schickt –“

„Was sprichst du denn von der Biographie, von der ist doch jetzt nicht
die Rede!“

„Nicht? Der Vater hat mir doch von dem Buchhändlersbrief erzählt.“

Frau Reinwald sah Gretchen mit glückverheißendem Lächeln an: „Dann weißt
du freilich noch nicht alles! Es hätte mich doch auch gewundert, wenn
mir der Vater die schöne Neuigkeit weggenommen hätte, er hat mich nur
wieder necken wollen. Gretchen, ich weiß dir etwas ganz anderes als
Buchhändlersnachrichten, da nimm und lies den Brief von der Tante!“

Und nun las Gretchen, und Frau Reinwald verfolgte mit Genuß den Ausdruck
auf ihren Zügen. Zuerst nur Neugierde, dann Staunen, Freude und das
höchste Entzücken!

„Mutter!“ rief sie jetzt, „was hast du da wieder Herrliches ausgesonnen!
Wenn Ruth dorthin darf, muß sie ja ganz aufleben, und wenn ich sie
selbst hinbringen darf und mit für sie sorgen und mit Fräulein Trölopp
zusammenleben und mir von ihr erzählen lassen, Rudi und Betty haben und
auf dem Land, im Gebirg sein – kann so etwas wirklich wahr werden, ist’s
nicht zu herrlich?“

„Warum soll’s nicht wahr werden?“ sagte Frau Reinwald. „Freilich,
Forstrats haben noch keine Ahnung davon, und es wäre ja denkbar, daß sie
nicht einwilligen.“

„Sie _müssen_, da hilft gar nichts, sie müssen! Mutter, wann kann ich
hin? Heute abend noch?“

„Morgen, morgen.“

„O warum nicht gleich?“

„Es ist ja zu spät. Auf ein paar Stunden kommt’s doch nicht an, du
darfst nicht so ungeduldig sein,“ mahnte Frau Reinwald, und Gretchen
wußte nicht, warum sie dabei lächelte. „Ich möchte viel lieber mit Ruths
Vater reden, als mit ihrer Mutter,“ sagte Gretchen, „aber ich kann doch
nicht wieder auf seine Kanzlei.“ Dafür wußte Herr Reinwald Rat, als er
nach jubelnder Begrüßung seitens seiner Tochter beim Abendessen saß.
„Wenn _du_ nicht wohl auf die Kanzlei kannst, so kann ich das doch tun,“
sagte er. „Der Forstrat war ja neulich auch so freundlich, dir an Stelle
seiner Kleinen die Blumen zu bringen.“ Nun war Gretchen voll der besten
Zuversicht. Wenn der Vater selbst die Sache in die Hand nahm, dann mußte
sie ja gelingen!

Er kam auch am nächsten Tag mit gutem Bescheid heim: der Forstrat hatte
sich mit rührender Dankbarkeit über diesen Vorschlag ausgesprochen und
die besten Hoffnungen an diesen Plan geknüpft. Er wollte nun nur noch
mit seiner Frau und dem Arzt darüber reden und dann Antwort bringen.

Diese Antwort wurde am nächsten Tag mit großer Ungeduld von Gretchen
erwartet. Frau Reinwald war allein zu Hause, als der Forstrat kam.

Sie empfing mit freundlicher Teilnahme den Mann, den sie noch nie
gesehen hatte, und von dessen Familienleben sie schon so viel wußte. Er
hatte kaum ihrer Aufforderung, Platz zu nehmen, Folge geleistet, als er
kurz und fast mit rauher Art sagte: „Aus dem schönen Plan wird nichts,
meine Frau will nicht.“ Frau Reinwald sah ihn sehr enttäuscht an. „Aber
warum denn nicht?“ fragte sie in ganz schmerzlichem Ton.

„Warum? Darauf kann ich nichts antworten.“ Frau Reinwald war fast
schüchtern, weiter zu fragen, denn sie merkte dem Mann eine tiefe
Verstimmung an. Einen Augenblick schwieg sie, dann sagte sie zögernd:
„Wir könnten vielleicht Ihre Frau doch für unsern Plan gewinnen, wenn
wir die Gründe wüßten, die sie dagegen einnehmen.“

„Gründe,“ wiederholte der Forstrat mit Bitterkeit, „fragen Sie doch
nicht darnach. Nicht jede Frau handelt nach Gründen. Sie _will_ eben
nicht.“ Bei diesen Worten stand der Forstrat auf und ging aufgeregt im
Zimmer hin und her.

Frau Reinwald hatte das Bedürfnis, etwas Versöhnendes zu sagen. „Ihre
Frau will wohl deshalb nicht, weil sie das zarte Kind nicht Fremden
anvertrauen mag, und das kann ihr jede Mutter nachfühlen.“

Der Forstrat blieb vor ihr stehen, besänftigt durch ihre freundlichen
Worte. „Eine Mutter sollte aber doch tun, was für das Kind so offenbar
gut wäre,“ sagte er.

„Freilich, aber das stellt sie sich vielleicht nicht so vor. Ich meine,
wenn wir ihr recht schildern würden, wie gut es das Kind hätte, dann
würde sie nachgeben. Wenn ich ihr erzählte von dem schönen
Gebirgsaufenthalt, von den fröhlichen Kindern und der vorzüglichen
Pflegerin – soll ich das nicht versuchen?“

„Sie verkehrt nicht mit Fremden, und sie wird Ihren Besuch nicht
annehmen, wenn Sie kommen.“

Frau Reinwald schien erstaunt. „Können Sie nicht verlangen, daß sie mich
empfängt?“ fragte sie.

Der Forstrat blieb eine ganze Weile die Antwort schuldig, dann sprach er
mit gedämpfter Stimme: „Ich sage Ihnen, was ich noch keinem Menschen
gesagt habe: meine Frau ist leidend, ihr Gemüt ist verstört, ihre
Gedanken sind oft nicht klar.“ Da sah Frau Reinwald voll freundlicher
Teilnahme auf zu dem traurigen Mann und entgegnete: „Dann müssen wir
nicht nur für das Kind, sondern auch für die Mutter sorgen! Was meint
Ihr Arzt?“

„Ich habe Ihnen ja gesagt, daß ich keinem Menschen davon gesprochen
habe, auch dem Arzt nicht.“

„Das begreife ich nicht,“ sagte Frau Reinwald, „warum reden Sie nicht
davon? Es ist eine Krankheit wie viele andere, und sehr oft heilbar,
wenn man rechtzeitig etwas dagegen tut.“

„Glauben Sie das im Ernst?“

„Gewiß, ich weiß im Kreis meiner Verwandten und Bekannten mehrere, die
gemütlich erkrankt waren und wieder geheilt wurden.“

„Wie ruhig und einfach Sie das nehmen! Es kommt mir nun selbst verkehrt
vor, daß ich es so in der Stille mit mir herumgetragen habe.“

„Wie schwer müssen Sie darunter gelitten haben,“ sagte Frau Reinwald
teilnahmsvoll.

„Mehr als ich sagen kann,“ entgegnete der Forstrat und trat ans Fenster,
um seiner tiefen Bewegung Meister zu werden. Nach einigen Minuten kehrte
er mit verändertem Ausdruck zu Frau Reinwald zurück: „Ich gehe jetzt.
Ich will heute noch mit dem Arzt sprechen, ich habe vielleicht schon zu
lange gesäumt.“

„Ja, zögern Sie nicht länger,“ sagte Frau Reinwald, „und haben Sie guten
Mut! Jetzt sieht es wohl traurig bei Ihnen aus, aber so Gott will, haben
Sie übers Jahr eine gesunde Frau und Tochter.“ Er drückte dankbar ihre
Hand und ging.

Gretchen erfuhr von dieser Unterredung nur, daß Ruths Mutter ihre
Einwilligung nicht geben wolle. Sie war schmerzlich enttäuscht und
wollte sich gar nicht zufrieden geben. Auch das freundliche Versprechen
der Mutter, daß Gretchen, wenn auch ohne Ruth, doch einige Zeit bei
Fräulein Trölopp und den Kindern zubringen dürfe, konnte sie nicht
fröhlich stimmen. Der Gedanke an die blasse Kleine in der dumpfen
Schlafstube bei den aufgeregten Eltern verfolgte sie, und sie konnte
nicht verschmerzen, daß der schöne Plan ohne triftigen Grund aufgegeben
werden sollte.

Sie begleitete am nächsten Tag Hermine und ihre Schwester Mathilde aus
der Schule heim und erzählte ihnen von ihrer bitteren Enttäuschung. Sie
ahnte nicht, welche Nachwirkung dieses Gespräch haben sollte.

Mathilde Braun machte am folgenden Sonntag ihrer Freundin Ruth einen
Krankenbesuch. Sie wußte nicht, daß Ruth von dem ganzen Plan, der sie
betraf, nichts erfahren hatte, besann sich auch nicht, ob sie ihr
denselben mitteilen dürfe; sie berichtete über alles, was sie Gretchen
in den schönsten Farben hatte schildern hören, und sprach auch von
Gretchens bitterer Enttäuschung. Die Kleine lauschte begierig. Sie war
nicht unternehmungslustig, aber mit „ihrem Fräulein“ fortzureisen, aus
der heißen Stadt hinaus aufs Land, dahin wo die lustigen Kleinen Rudi
und Betty waren, das schien doch auch ihr verlockend, und daß Gretchen
sich so sehr gefreut hatte und nun so bekümmert war, das beglückte sie,
das war Liebe.

Eine Stunde, nachdem Mathilde ihre kleine Freundin verlassen hatte,
sprach Frau Holland zu ihrem Mann: „Das Kind will mit ihrem Fräulein
reisen, da kann man nichts machen, man muß es eben reisen lassen,“ und
der Forstrat zürnte nicht wie sonst über die Nachgiebigkeit der Mutter,
sie kam ihm diesmal gar zu erwünscht, er wiederholte sehr befriedigt:
„Ja, man muß sie reisen lassen.“



                          Achtzehntes Kapitel.
                              Schulschluß.


Fräulein Bertrand zeigte lebhaftes Interesse für die von den Großen
beabsichtigte Schlußfeier und erkundigte sich in jeder französischen
Stunde nach den Fortschritten. Sie hatte den feinen Geschmack und Sinn
für alles Schöne, der den Französinnen eigen ist, und wie sie früher
schon den Rat gegeben hatte, die Mädchen sollten sich in Gruppen im
Schulzimmer verteilen, so brachte sie auch heute wieder einen Vorschlag,
um der Sache ein festliches Gepräge zu verleihen.

„Jede Gruppe,“ sagte sie, „sollte sich eine Büste ihres Dichters
verschaffen und diese Büste, mit Grün geschmückt und von Blattpflanzen
umgeben, als Mittelpunkt auf einem Tischchen vor sich haben. Das würde
dem ganzen Zimmer ein elegantes Aussehen verleihen.“

Der Vorschlag fand allgemeinen Beifall.

„Wir haben eine Schillerbüste, wir Schiller, Goethe und Lessing,“ riefen
verschiedene der Mädchen. Schiller und Goethe waren mehrfach vorhanden,
aber wer hatte einen Uhland, wer einen Rückert?

„Wenn wir in allen Klassen Nachfrage halten, werden wir schon welche
bekommen,“ meinte die eine. „Aber dann wird unser Geheimnis leicht
ausgeplaudert,“ sagte eine andere.

Als man so eine Weile beraten hatte, ließ sich Elise Schönlein
vernehmen; in ihrem gewohnten, gleichgültigen Ton sagte sie: „Die Büsten
könnt ihr von mir haben.“ „Von dir? Welche? Rückert? Uhland?“ So fragten
die verschiedenen Gruppen durcheinander.

„Mir ist’s gleich, welche ihr wollt.“ „Ach,“ sagte Ottilie
geringschätzig, „die weiß wieder nicht, was man eine Büste heißt.“ „Wenn
ihr sie nicht wollt, braucht ihr sie ja nicht zu nehmen,“ entgegnete
Elise empfindlich. „Doch, doch,“ beschwichtigte Gretchen, „es wäre ja
reizend, wenn du sie verschaffen könntest; wie sehen denn deine Büsten
aus?“

„Wie werden sie aussehen? Füß’ haben sie nicht, aber Köpf!“

„Wie groß?“ „In drei Größen könnt ihr sie haben, zu 15 Zentimeter, zu 30
und zu 50, vom Sockel an gerechnet, weiß oder bronziert.“ Bei diesen
fachmännisch genauen Angaben horchten alle erstaunt auf und Ottiliens
spöttische Bemerkungen verstummten. Fräulein Bertrand wollte nun wissen,
wie Elise zu diesen Büsten käme.

„Mein Onkel hat sie alle in seinem Laden und verleiht sie. Wer eine
zerbricht, muß sie eben bezahlen, aber mit Rabatt sind sie nicht teuer.“
„Vielleicht könntet ihr die fünf Büsten zu billigem Preis bekommen und
Fräulein von Zimmern zur Erinnerung verehren. Wie hübsch würden sie sich
auf dem Bücherschrank ausnehmen!“ Dieser Vorschlag von Fräulein Bertrand
wurde von allen begeistert aufgenommen. Sie wollten heute noch ihre
Eltern um Erlaubnis bitten. Elise wurde nun mit Fragen über Preis und
Größe bestürmt und zum erstenmal in all ihren Schuljahren war _sie_ der
Mittelpunkt, die Hauptperson.

Auch Pfarrer Kern wurde noch einmal zu Rat gezogen. Wie und wann sollte
man Fräulein von Zimmern um die Extrastunde bitten und wie sollte man
das Gelernte hersagen? Er riet, nicht bis zu den letzten Schultagen zu
warten, wo Fräulein von Zimmern durch die Ausstellung der Handarbeiten
mehr als sonst zu tun habe. Es wurde beschlossen, ihr am Samstag den
Plan mitzuteilen und ihr zugleich ein Verzeichnis zu überreichen von
allem, was ihr zu Ehren gelernt worden war. So fertigte denn jede Gruppe
eine Liste aus, und Gretchen und Elise erfuhren zu ihrer Überraschung,
daß Ottilie als besonderes Glanzstück noch ein paar Seiten aus dem
„Abfall der Niederlande“ aufzuweisen hatte. – Nicht ohne Aufregung
erwarteten die Mädchen am Samstag um elf Uhr Fräulein von Zimmern zu der
gewohnten Literaturstunde. Ottilie war zur Sprecherin gewählt, denn alle
wußten, daß sie dies Vorrecht erwartete. Als sich die Vorsteherin an
ihren gewohnten Platz gesetzt hatte, sahen die Schülerinnen nicht wie
sonst auf sie, sondern alle Blicke richteten sich erwartungsvoll auf
Ottilie. Diese stand auf und errötend vor Fräulein von Zimmerns
erstauntem Blick begann sie ihre kleine Ansprache: „Wir Schülerinnen der
Oberklasse möchten Ihnen am Schluß unserer Schulzeit eine Freude machen,
und da wir nichts Besseres wußten, haben wir uns in den letzten Wochen
bemüht, unsere Literatur-Kenntnisse zu erweitern. Wir haben uns in fünf
Gruppen geteilt und jede Gruppe hat einen Dichter übernommen, seine
Biographie und seine Werke gelernt. Wir möchten Sie nun bitten, uns
einen Nachmittag zu bestimmen, an dem wir Ihnen das Gelernte hersagen
dürfen.“

Fünfzehn Augenpaare waren während dieser kleinen Rede auf Fräulein von
Zimmern gerichtet. Die sichtliche Überraschung und der freudige Ausdruck
auf den Zügen der Vorsteherin ließen deutlich erkennen, daß ihr der Plan
nicht vorher verraten war und daß die Mädchen getroffen hatten, was so
recht nach ihrem Sinn war. „Es freut mich herzlich,“ sagte sie bewegt,
„daß ihr mir zum Abschied noch solch eine Überraschung bereiten wollt,
und ihr hättet euch gar nichts Schöneres ausdenken können. Ich bin sehr
begierig, was ich zu hören bekommen werde.“ Die Mädchen überreichten
ihre Verzeichnisse.

Fräulein von Zimmern durchlas sie aufmerksam. „Lauter Stücke, die wir
noch nie in der Schule gelernt haben? Sogar Prosa? Das ist ja eine ganz
außergewöhnliche Leistung!“ Gretchens Gewissenhaftigkeit rührte sich.
„Nicht jede aus der Gruppe kann alles, was von ihrem Dichter verzeichnet
ist,“ sagte sie.

„Ich verstehe wohl, das wäre auch neben eurer andern Arbeit gar nicht
möglich gewesen zu lernen. Die Gruppe ist als _eine_ Person zu
betrachten, nicht wahr?“

„Ja, ja,“ sagte Gretchen, „und nicht wahr, wenn Sie uns ausfragen, dann
fragen Sie nicht die einzelne, sondern bloß die Gruppe?“

„Du brauchst unsere Sache nicht so herunterzudrücken,“ sagte Ottilie
halb im Scherz, aber doch ein wenig ärgerlich, „es haben doch alle die
ganze Biographie gelernt.“

„Ja, aber nur für ein Drittel kann jede einstehen.“

„Das darfst du nicht so betonen,“ sagte Fräulein von Zimmern lächelnd,
„sonst bekommst du böse Blicke von da und dort! Nun wollen wir uns
gleich wegen des Tags besprechen.“

Der nächste Mittwoch Nachmittag wurde bestimmt, um drei Uhr sollte die
freiwillige Literaturstunde beginnen.

Das war nun noch ein eifriges Lernen und Repetieren daheim, ein Sorgen
und Beraten in der Schule!

Am Montag abend hatte Gretchen eben ihre Bücher weggelegt mit der
Empfindung, daß sie für diesen Tag das Lernen satt habe, als unerwartet
Ottilie zu ihr kam. „Gretchen,“ sagte sie, „du weißt ja, daß ich mehr
als du und viel mehr als Elise zu lernen übernommen habe. Aber jetzt
habe ich wieder Kopfweh, und wenn ich noch weiter lerne, wird’s immer
ärger. Jetzt möchte ich dich bitten, daß du noch ein Stück von meinem
Teil übernimmst.“

„Jetzt kann ich doch nichts Neues mehr dazu lernen,“ entgegnete
Gretchen, „du hast gar zu viel übernommen, laß doch weg, was du nicht
mehr zustande bringst.“

„Das kann ich doch nicht, es ist ja schon auf dem Verzeichnis, das wir
Fräulein von Zimmern übergeben haben.“

„Was ist es denn?“

„Die Teilung der Erde.“

„Das ist ein schweres Gedicht!“ sagte Gretchen sehr bedenklich.

„Aber nicht lang,“ entgegnete Ottilie; „stelle dir nur vor, wie es
werden soll, wenn Fräulein von Zimmern sagt: ‚Nun möchte ich die Teilung
der Erde hören,‘ und sie fragt gewiß danach, ich weiß, sie hat es gern.
Sollen wir dann verstummen?“

„Nein; dann sagen wir: mit dem sind wir nicht mehr fertig geworden. Es
ist ja alles freiwillig!“

„Nein, Gretchen, das können wir wirklich nicht sagen, es wäre eine
Schande vor allen Gruppen! Kannst du’s denn nicht noch lernen? Du lernst
doch so leicht und hast nie Kopfweh. Wenn du es nicht übernimmst, dann
läßt es mir keine Ruhe, dann zwinge ich mich dazu und lerne die halbe
Nacht durch und bekomme rasend Kopfweh.“

„Unsinn, Ottilie, so darf man’s doch nicht machen! Ich will es ja
lernen, wenn dir gar so viel daran liegt. Aber dann muß ich jetzt gleich
anfangen, denn morgen habe ich noch mit Elise zu repetieren.“

„Ach, laß doch die fallen, die bringt doch nichts zustande.“

„Meinst du? Du wirst staunen über sie und Fräulein von Zimmern wird sich
über sie vielleicht am allermeisten freuen.“

Ottilie ging und Gretchen nahm ein wenig grollend ihren Schiller. Sie
hatte geglaubt, fertig zu sein, und nun ging das Lernen noch einmal von
vornen an!

Am Mittwoch nachmittag, schon bald nach zwei Uhr, versammelten sich die
Großen in ihrem Schulzimmer. Fräulein Bertrand, die versprochen hatte,
ihnen beim Herrichten zu helfen, fand sich pünktlich ein. Elise hatte
die Büsten richtig herbeigeschafft, Blattpflanzen und Efeuranken waren
zur Stelle, und nun wußte Fräulein Bertrand auf fünf Tischchen die Sache
sehr nett herzurichten und die Mädchen anmutig zu gruppieren. Der große
Schultisch war hinausgetragen und für Fräulein von Zimmern ein Sessel so
aufgestellt worden, daß sie alle Gruppen im Halbkreis um sich hatte.

Als um drei Uhr die Vorsteherin eintrat, war sie höchst überrascht von
dem unerwarteten Anblick. Das Zimmer mit dem vielen Grün, den
geschmückten Büsten und den hellgekleideten Mädchen sah ganz verwandelt
aus. Fräulein Bertrand forderte die Vorsteherin auf, Platz zu nehmen,
stellte ihr die Gruppen vor, und bat sie, den Vertreterinnen der Dichter
Gelegenheit zu geben, ihre Meister vorzuführen.

Die Mädchen hatten nicht anders erwartet, als daß Fräulein von Zimmern
eine Gruppe nach der andern schulmäßig abfragen würde. Nun war die Reihe
an ihnen, überrascht zu werden. Fräulein von Zimmern hatte sich mit
Hilfe des Verzeichnisses ihren Plan gemacht. Ihre erste Frage galt der
Kindheit Goethes. Nachdem ihr davon berichtet worden war, wandte sie
sich an eine andere Gruppe mit der Frage: „Ist euer Dichter auch in so
guten äußeren Verhältnissen aufgewachsen?“ und so wußte sie immer die
Gruppen zu verbinden, Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten hervorzuheben.
Auf diese Weise gewann das, was die Mädchen in den letzten Wochen fast
zum Überdruß gehört hatten, wieder neuen Reiz für sie. Fräulein von
Zimmern war bei diesem ihrem Lieblingsfach immer im Eifer, heute aber
noch viel mehr als sonst, und keinen Augenblick schien sie zu vergessen,
daß all dieses Wissen freiwillig ihr zuliebe erworben war. Sie sprach
immer wieder ihre Freude aus. Ottiliens Stück aus dem „Abfall der
Niederlande“ war die schwierigste Leistung und ging glänzend. Elise
hatte schon drei Gedichte fehlerlos hergesagt, worüber Gretchen stolz
war wie eine Mutter über ihr Kind. Nun wollte Fräulein von Zimmern das
Gedicht hören, in dem Schiller sich über die Dichter ausspricht: Die
Teilung der Erde. Ein rascher Blick wurde zwischen Ottilie und Gretchen
gewechselt, dann fing diese frisch an zu deklamieren: „Nehmt hin die
Welt, rief Zeus.“ Im vierten Vers gab es eine kleine Stockung, aber
Gretchen fand sich wieder zurecht. Aber im fünften Vers nach der
traurigen Frage des Poeten: „Soll ich denn allein von allen vergessen
sein?“ da blieb die Antwort aus. Gretchen wußte nicht weiter. Noch
einmal wiederholte sie die Frage, recht kläglich: „Soll ich denn allein
von allen vergessen sein?“ Es entstand eine peinliche Pause. Keine der
Schülerinnen war so vorsichtig gewesen, ihr Buch mitzubringen, keine
konnte nachhelfen.

Da sagte Fräulein von Zimmern freundlich: „Dem armen Poeten können wir
im Augenblick nicht helfen; wollen wir einmal hören, was Uhland über die
Dichter sagt.“ So kamen wieder andere an die Reihe, der peinliche
Eindruck war bald verwischt, alles ging glatt, und Fräulein von Zimmern
erklärte am Schluß, daß ihre Erwartungen weit übertroffen seien. Stolz
und glücklich verließen die Mädchen ihre Tischchen und überreichten ihre
Büsten zur Erinnerung an diesen Nachmittag.

Und Ottilie holte ihr fein gesticktes Deckchen herbei, breitete es zur
Überraschung aller, außer Gretchen, über ein Tischchen und bat Fräulein
von Zimmern, es als Andenken anzunehmen. Diese schöne Arbeit wurde
gebührend bewundert und Ottilie stand auf der Höhe, sie hatte sich heute
ausgezeichnet. Dennoch war sie nicht so fröhlicher Stimmung, wie man
hätte erwarten können. Sie war überzeugt, Gretchen würde eine
Gelegenheit suchen, um Fräulein von Zimmern zu sagen, wer eigentlich
schuld war an dem schlecht gelernten Gedicht. So beobachtete sie mit
Mißtrauen Gretchen, so oft sich diese Fräulein von Zimmern näherte. Aber
Gretchen hatte ihr Mißgeschick schon verschmerzt, Fräulein von Zimmern
war ja sichtlich zufrieden, ja mehr als das, somit war ja die Sache aufs
schönste gelungen.

Fräulein von Zimmern hatte mit jeder der Schülerinnen besonders
gesprochen, und nun erbat sie sich einen Augenblick Stille, da sie etwas
mitzuteilen habe. Die Mädchen horchten. „Ich denke mir,“ sprach die
Vorsteherin, „daß es euch allen heiß geworden ist bei diesen Leistungen
und ich möchte euch alle zu einer kleinen Erfrischung in mein Zimmer
laden. Wollt ihr, nachdem ihr hier ein wenig Ordnung gemacht habt, zu
mir herunterkommen?“ Freudig und einstimmig wurde die unerwartete
Einladung angenommen.

Fräulein von Zimmern verließ die Klasse, die Mädchen machten sich eilig
daran, aufzuräumen.

Nach einer halben Stunde saß die ganze junge Gesellschaft in gehobener
Stimmung um einen Tisch, auf dem eine stattliche Torte stand. Fräulein
von Zimmern füllte kleine Kelchgläser mit köstlichem Himbeersaft und
reichte sie den Mädchen herum, denen es ganz merkwürdig vorkam, von der
Vorsteherin bedient zu werden. Ja, die Schulzeit ging stark zur Neige,
deutlich kam es jetzt den Schülerinnen zum Bewußtsein. Fräulein von
Zimmern ließ die fünf Dichter und ihre wackeren Vertreterinnen leben,
und das Gespräch wurde bald lebhaft; die Mädchen erzählten, wie der
Pfarrer sie auf diesen Plan gebracht hatte, und auch die kleine
Täuschung mit den französischen Spielen wurde eingestanden.

„Wie ist’s wohl gekommen, daß dich heute dein sonst so treues Gedächtnis
im Stich gelassen hat?“ Mit diesen Worten wandte sich Fräulein von
Zimmern an Gretchen. Ottilie wurde dunkelrot – nun mußte die Aufklärung
kommen und sie blamiert dastehen. Gretchens Art war es nicht, eine Frage
ausweichend zu beantworten, auch war sie der Meinung, daß jetzt, nachdem
die ganze Überraschung so schön gelungen war, alles Vorhergegangene
offen erzählt werden könne. Schon hatte sie das Wort auf der Zunge, als
sie dem ängstlichen Blick Ottiliens begegnete, der ihr klar machte, was
diese fürchtete. Einen Augenblick besann sie sich, dann antwortete sie
gutmütig: „Ich habe das Gedicht erst vorgestern angefangen zu lernen,
und das war zu spät. Es ist mir recht leid, daß ich unsern Schiller so
schlecht vertreten habe!“ Nach dieser Antwort entstand eine kleine
Stille, Gretchen wußte nicht recht warum. Hermine und die meisten der
Mädchen blickten erwartungsvoll auf Ottilie, aber diese schwieg. „Ich
weiß übrigens jetzt die Antwort für den armen Poeten,“ fuhr Gretchen
fort, „darf ich den Schluß noch hersagen?“

Sie hatte kaum die letzten Worte des Gedichtes gesprochen, als Ottilie
anfing, von der Handarbeitsausstellung zu sprechen. Ihr lag es daran,
das Gespräch auf einen andern Gegenstand zu lenken, und es gelang ihr.

„Wenn ich nur in dieser Woche noch die zweite Nachtjacke fertig
brächte,“ sagte Gretchen, „damit ich bei der Ausstellung meine erste
damit bedecken könnte, denn die sieht oben schrecklich aus; bei meiner
zweiten hingegen ist das obere Knopfloch so wunderbar schön geraten;
wenn Sie es sehen, Fräulein von Zimmern, werden Sie kaum glauben, daß
ich es gemacht habe, es könnte wirklich von Ottilie sein.“ Ottilie sah
nachdenklich auf Gretchen. Wie konnte diese so neidlos anderer Leute
Vorzüge anerkennen!

Sehr befriedigt von diesem Nachmittag verabschiedeten sich die Mädchen
von der Vorsteherin. Jeder einzelnen sprach sie noch einmal Dank oder
Freude aus. Als Elise sich mit ihrem gewohnten, gleichgültigen Gruß
entfernen wollte, faßte Fräulein von Zimmern sie bei der Hand und sagte:
„Es ist mir ja ganz leid, daß ich dich gerade jetzt als Schülerin
verlieren soll, wo du so fleißig gelernt hast. Richte deinen Eltern aus,
daß du dich heute mit Lorbeeren bedeckt habest.“ Elise erwiderte ganz
ruhig: „Gretchen Reinwald hat mit mir gelernt, sonst hätte ich wieder
nichts gekonnt.“ Gretchen hatte davon nichts gehört, als sie aber die
Hand zum Abschied reichte, sagte Fräulein von Zimmern leise zu ihr: „Laß
dich’s nicht bekümmern, daß du ein Gedicht nicht gekonnt hast, du weißt
ja: gut _sein_ ist mir immer wichtiger, als gut _können_!“ Diese
freundlichen Worte machten, daß diejenige, deren Leistung am wenigsten
gelungen war, fröhlichen Herzens ihre Straße zog, während die, welche
sich vor allen ausgezeichnet hatte, bedrückt und verstimmt nach Hause
ging in dem Gefühl, nicht ehrenhaft gehandelt zu haben.

Dieser Tag sollte für Gretchen besonders schön ausklingen, denn am
Nachmittag war der Forstrat dagewesen, und Frau Reinwald hatte alles mit
ihm besprochen, so daß der schöne Plan der Ferienreise mit Ruth gleich
am ersten Vakanztag zur Ausführung kommen konnte. Der Arzt hatte auch
Ruths Mutter zu einer Reise überredet, sie wollte in einer
Nervenheilanstalt Genesung suchen, während ihr Töchterchen in fröhlicher
Umgebung zu kräftigerem Leben erstarken sollte.

Ja, das war eine beglückende Aussicht für Gretchen, aber wie ein Berg
lag noch dazwischen die unvollendete Handarbeit, die Ausstellung in der
Schule!

Am Freitag Nachmittag war die letzte Arbeitsstunde, da wollte Gretchen
fertig werden um jeden Preis. Von Montag bis Mittwoch wollte Fräulein
Weber die Arbeiten unten im großen Zeichensaal ausstellen. Die meisten
Schülerinnen hatten ihre Arbeiten schon abgeliefert, hübsch mit roten
Bändchen gebunden lagen sie bereit. Gretchen arbeitete, daß ihr die
Wangen glühten, sie nahm sich in ihrem Eifer nicht einmal die Zeit,
Fräulein Weber ihre Arbeit zu zeigen, als sie den zweiten Ärmel einnähen
wollte. Nur vorwärts, vorwärts! Und nun war die Stunde aus, aber auch
der Ärmel war eingenäht. „Fertig!“ jubelte Gretchen und hob
triumphierend ihre Nachtjacke in die Höhe. Sie strich mit der Hand
darüber hin, der Ärmel wollte sich nicht recht hinunterlegen. „Was hat
er denn?“ rief Gretchen, „warum starrt er so kurios hinaus!“ Mit
mißtrauischen Blicken besah sie ihr Werk.

Fräulein Weber warf nur einen Blick darauf und rief aus: „Aber Gretchen,
was ist das wieder! Der Ärmel ist ja verkehrt hineingesetzt, die obere
Seite sitzt unten! Hättest du es mir doch vorher gezeigt.“ Die
allgemeine Teilnahme wandte sich nun Gretchen zu. „O Fräulein Weber,“
bat Hermine, „lassen Sie doch Gretchen die Arbeit mit heimnehmen und zu
Hause fertig machen, es ist ja die allerletzte Arbeitsstunde!“

„Das kann ich nicht erlauben, es ist ganz gegen die Regel; die beiden
andern, die auch nicht fertig sind, würden dann dasselbe Recht
beanspruchen. Das siehst du selbst ein, Gretchen, nicht wahr?“ Diese
nickte nur und packte ganz ergeben ihre Arbeit zusammen. Wehmütig sah
sie noch einmal auf das Knopfloch, das so schön geraten war, und zeigte
es den teilnehmenden Freundinnen, die ihr die Bewunderung nicht
versagten.

Daheim erzählte Gretchen den Eltern ihr Mißgeschick. „Ich habe eben
immer Unglück mit der Handarbeit,“ schloß sie.

„So, das nennt man Unglück?“ sagte Herr Reinwald, „das werde ich mir
merken. Wenn ich den nächsten Erlaß für die Regierung ausarbeite, werde
ich mir’s leicht machen. Fällt er dann so verkehrt aus wie dein Ärmel,
so sage ich zum Herrn Regierungspräsidenten: ‚Ich habe eben immer
Unglück mit den Erlassen.‘ Dann wird mich der Herr Präsident ganz lieb
trösten, denn mit dem Unglücklichen soll man doch Mitleid haben.“

Gretchen lachte: „Ach Vater, das ist doch etwas anderes!“

„Jedenfalls ist’s recht bequem,“ entgegnete Herr Reinwald, „wenn man
sein Ungeschick Unglück nennt. Man schiebt damit ganz sachte die Schuld
von sich weg auf ein Verhängnis.“ „Du hättest Fräulein Weber deine
Arbeit rechtzeitig zeigen sollen,“ sagte Frau Reinwald, „übrigens ein
wenig Unglück ist doch dabei,“ bemerkte sie lächelnd zu ihrem Mann, „sie
hätte ja auch zufällig die richtige Seite des Ärmels erwischen können.“
„Mag sein, daß ein Unterschied zwischen einem Ärmel und einem
Regierungserlaß besteht,“ gab Herr Reinwald zu.

Während sich Gretchen im Geist mit ihrer unglückseligen Nachtjacke
beschäftigte, ging mit dieser eine Verwandlung vor. Gretchen war gleich
nach der Arbeitsstunde heimgegangen, Ottilie hingegen hatte gezögert,
und ohne daß es bemerkt wurde, war sie in der Schule zurückgeblieben. Es
war vier Uhr. Sie wartete, bis alle Klassen leer waren, und beobachtete
von der Treppe aus, daß sich Fräulein von Zimmern in den Zeichensaal
begab, wo schon die Tische gestellt waren, auf denen am nächsten Tag die
Arbeiten hingerichtet werden sollten. Erstaunt sah Fräulein von Zimmern
auf, als nun Ottilie zu ihr trat. „Fräulein von Zimmern,“ sagte sie,
„Gretchen Reinwald ist nicht fertig geworden mit ihrer Arbeit.“

„Ich weiß es, Fräulein Weber hat es mir erzählt.“

„Ich würde sie gerne fertig machen,“ sagte Ottilie in sichtlicher
Verlegenheit. Es war ihr etwas ganz Ungewohntes, eine Gefälligkeit
anzubieten, sie fühlte, daß es Fräulein von Zimmern auffallen mußte.

„Warum möchtest du das?“ fragte Fräulein von Zimmern und sah Ottilie
scharf an. „Weil ich ihr auch einmal gern einen Gefallen tun würde,“ war
die leise Antwort.

„Das ist schön von dir, Ottilie, aber du weißt, daß es gegen meine
Grundsätze ist; sie kann das nicht als ihre Arbeit ausstellen, was sie
nicht ganz und gar selbst gemacht hat!“

„Wenn die Nachtjacke gelegt ist, sieht man ja nur die Vorderseite, die
Gretchen ganz allein gearbeitet hat.“ Fräulein von Zimmern überlegte:
„Es ist mir leid, es kann nicht sein.“ Ottilie schwieg. Sie kämpfte
einen harten Kampf mit ihrem Hochmut; endlich sagte sie bittend: „O,
Fräulein von Zimmern, machen Sie heute eine Ausnahme! Ich bin so in
Gretchens Schuld, eigentlich schon so lange wir in die Schule gehen. Sie
war bis zuletzt so gut gegen mich, erst neulich wieder bei unserer
Literaturstunde. Wir kommen außer der Schule nicht zusammen; wenn ich
jetzt nicht noch gut machen kann, was ich versäumt habe, dann kann ich’s
vielleicht im ganzen Leben nimmer!“

Dies demütige Bekenntnis des sonst so hochmütigen Mädchens besiegte
Fräulein von Zimmerns Bedenken. „Geh, mein Kind,“ sagte sie, „und tue
das, wozu dich dein Gewissen treibt.“ Ottilie ging durch das stille
Schulhaus hinauf bis in den obersten Stock, wo die Kammer lag, in der
die Arbeiten aufbewahrt wurden. Die jüngsten Schulkinder hatten ihre
Strickkörbchen auf dem untersten Fach des großen Ständers, der die ganze
Wand der Kammer einnahm. Auch Ottiliens Körbchen war einst ganz unten
gestanden und war im Lauf der Jahre hinaufgerückt bis in das oberste
Fach, das die Kleinen nicht mit ihren Händchen erreichen konnten. Als
Ottilie so allein in dem stillen Raum war, kam eine weiche Stimmung über
sie. War sie wohl zum letztenmal in ihrem Leben hier?

Sie nahm Gretchens Arbeitskorb mit hinüber in das Schulzimmer und setzte
sich an den grünen Tisch. Es galt nun zuerst wieder aufzutrennen, was
Gretchen eben erst mit so viel Mühe gemacht hatte. Während sie einsam
dasaß, Stich auf Stich auftrennend, blickte sie zurück auf die
verflossenen Schuljahre. Ihr hatten sie viel Aufregung gebracht. Das
ehrgeizige Streben, die Mißgunst gegen die andern, die Feindseligkeiten,
die sie sich durch ihr spöttisches Wesen zugezogen hatte, dies alles
hatte sie zu keiner rechten Ruhe kommen lassen. Und nun dachte sie an
die, deren verunglücktes Werk sie in Händen hielt. Sie konnte sich
Gretchen nicht anders vorstellen, als fröhlich und friedlich, liebevoll
und geliebt, allezeit glücklich trotz manchen Mißgeschicks. Woher kam
der große Unterschied?

Fräulein von Zimmern trat ein, um sich nach der einsamen Näherin
umzusehen. „Kommst du zurecht?“ fragte sie. „Ja,“ sagte Ottilie, „ich
bin noch am Trennen, das geht langsam, aber es geht doch.“ „Wenn wir
alles so leicht wieder rückgängig machen könnten, wie eine verkehrte
Näherei, so wäre es gut, nicht wahr, Ottilie?“ sagte Fräulein von
Zimmern und legte ihr freundlich die Hand auf die Schultern. Ottilie
senkte den Kopf und sagte: „Ich wollte, ich könnte gerade noch einmal
von vornen anfangen, mit dem Strickkörbchen im untersten Fach des
Ständers!“ „Wenn du das sagst, Ottilie, so hast du schon von vorn
angefangen, vom untersten Grund des Herzens aus. Und wenn dich die
Schuljahre nur so weit gebracht haben, daß du dich selbst erkennst und
nach dem Guten strebst, dann sind sie nicht umsonst gewesen.“

Fräulein von Zimmern ging und ließ Ottilie allein. Es war eine gesegnete
Stunde, die das junge Mädchen bei ihrem Liebeswerk zubrachte.

Nun war die Arbeit vollendet, Ottilie legte das Nachtjäckchen hübsch
zusammen und brachte es hinunter in den Zeichensaal, wo sie es der
Vorsteherin übergab. „Nun wollen wir es so einrichten,“ sagte diese,
„daß Gretchen erst in der Ausstellung ihr schönes Werk entdeckt. Vorerst
soll sie der Meinung bleiben, daß nur ihre unschöne Jacke aufliege.“ „O
ja,“ rief Ottilie, „sie wird dann recht überrascht sein, wenn sie die
beiden auf ihrem Platz entdeckt. Niemand kann so strahlen, wie sie, wenn
sie sich freut.“

Fräulein von Zimmern sah Ottilie freundlich an. „Jetzt sehe ich auch an
dir etwas von diesem Strahlen, das aus einem liebevollen, guten Herzen
kommt. Gott behüte dich, Ottilie, und helfe dir weiter.“

                   *       *       *       *       *

Von Montag an stand zu erwarten, daß die Ausstellung fleißig besucht
würde, und so erhielten je vier und vier der Schülerinnen den Auftrag,
stundenweise anwesend zu sein, um die Besucher zu empfangen und auf
etwaige Fragen Antwort zu geben. Die ersten vier unter den Großen hatten
den Anfang zu machen, um zwei Uhr sollten sie sich einfinden.

Gretchen freute sich nicht darauf. „Ich wollte, ich müßte nicht hin,“
sagte sie zu ihrer Mutter, „ich muß mich doch nur schämen wegen meiner
Arbeit.“

„Sie wird vielleicht von niemand genau betrachtet,“ tröstete Frau
Reinwald. „Das wäre gut, Mutter, aber da kommt z. B. alle Jahre Fräulein
Schütze. Auf ihr Urteil gibt Fräulein Weber und auch Fräulein von
Zimmern am allermeisten. Sie wird immer besonders eingeladen. Sie sieht
die Sachen so genau an, daß ihr nicht das Kleinste entgeht und wenn sie
gleich ihr Lob und ihren Tadel mit sanfter Stimme ausspricht, so hören
doch alle darauf.“

„Kennt sie dich denn?“

„Sie hat mich schon öfter ermahnt und weiß längst, daß ich nicht viel
Schönes zustande bringe, aber so gering wie dieses Jahr hat meine Arbeit
in den letzten Jahren nie ausgesehen.“

Als Gretchen in den Saal kam, auf dessen langen Tischen die Arbeiten
aller Klassen ausgestellt lagen, waren Hermine, Ottilie und Elsbeth
schon anwesend, und sie gesellte sich zu ihnen. Fräulein Weber legte
noch da und dort ordnende Hand an, Fräulein von Zimmern ging mit
prüfendem Blick den Tisch entlang. Allmählich kamen einige Damen, Mütter
und Schwestern der Schülerinnen, sie fragten bald nach dieser, bald nach
jener Klasse oder Arbeit, und die Mädchen waren als Führerinnen
beschäftigt.

Und nun erschien Fräulein Schütze.

Sie wurde von Fräulein von Zimmern achtungsvoll begrüßt und von Fräulein
Weber selbst geleitet. Ja, Gretchen hatte recht gesagt, sie prüfte mit
einer Genauigkeit, daß ihr kein Mangel entging, aber sie wußte auch gute
Leistungen zu schätzen und hervorzuheben. Mit Unbehagen sah Gretchen die
gefürchtete Kritik ihrer Arbeit nahen. Sie stand gegenüber von Fräulein
Schütze als Begleiterin einer andern Dame. Jetzt hörte sie halblaut
ihren eigenen Namen, Fräulein Schütze las ihn ab von dem Zettelchen, das
auf der Nachtjacke angebracht war. Gretchen traute ihren Ohren nicht,
als sie nun Fräulein Schütze sagen hörte: „Das ist sehr sorgfältig
gearbeitet, das Knopfloch fadengerade und rein. Ich hätte nicht gedacht,
Fräulein Weber, daß Sie es bei dieser Schülerin so weit bringen würden.
Ist sie wohl hier? Ich denke, es wird sie nicht eitel machen, wenn ich
ihr einmal Lob spende, nachdem ich manches Jahr zu meinem eigenen
Bedauern Ungünstiges über ihr Werk sagen mußte.“ „Da steht sie eben,“
sprach Fräulein Weber lächelnd, und deutete über den Tisch hinüber auf
Gretchen, die mit offenen Augen und Ohren bei dieser Unterhaltung war.
„Ach ja, da ist sie,“ sagte Fräulein Schütze, „wie groß sie geworden
ist. So ist’s recht, liebes Gretchen, machen Sie mit Gottes Hilfe so
weiter.“

Gretchen aber sah sich nach Fräulein von Zimmern um. Diese stand oben an
der langen Tafel. „Entschuldigen Sie,“ sagte Gretchen zu der Dame, die
sie geleiten sollte, „ich komme gleich wieder;“ und eiligst schlüpfte
sie hinter den Besuchern weg. „Fräulein von Zimmern,“ sagte sie
halblaut, „ich weiß gar nicht, wie das zugeht, meine schöne Nachtjacke
ist jetzt doch ausgestellt, obwohl der Ärmel verkehrt darin ist.
Fräulein Schütze hat sie so gelobt, ich kann nichts dafür.“ Da lächelte
Fräulein von Zimmern und sagte: „Du träumst wohl, die Ärmel sind ganz
richtig hineingenäht.“ Gretchen schüttelte energisch den Kopf: „Von mir
aber nicht.“

„Das behaupte ich auch nicht, vielleicht von einer guten Freundin.“

„Von Hermine?“

„Nein, von der, die dort an deinem Platz steht, um zu hören, wie deine
Arbeit gelobt wird, und die jetzt so vergnügt zu uns herübersieht.“

Gretchen blickte hinüber. Hinter Fräulein Schütze stand Ottilie und
schaute gespannt auf Fräulein von Zimmern und Gretchen. Im Nu war diese
bei ihr; sie hätte unbekümmert um alle Anwesenden Ottilie umarmt oder
sie vor Vergnügen und Dankbarkeit im Zimmer herumgewirbelt. Aber Ottilie
war auf ihrer Hut. Sie wollte nicht, daß die Sache hier vor Fremden zur
Sprache kam. Indem sie Gretchen den Finger auf den Mund legte, sagte sie
leise: „Schweig still!“ Aber ein Geflüster gab es doch noch zwischen den
beiden, denn Gretchen wollte wissen, wie das zugegangen war. Sie war
sehr glücklich über diese Wendung der Dinge, am meisten aber über den
unverhofften Freundschaftsbeweis einer Schulkamerädin, die durch so
viele Jahre hindurch gleichgültig, ja beinahe feindselig neben ihr
hergegangen war.

Die Ausstellungstage waren vorüber, zum letztenmal hatte die Oberklasse
drei Stunden an dem grünen Tisch zugebracht. Pfarrer Kern hatte zum
Schluß noch einmal Stunde gegeben und warme Worte zu seinen Schülerinnen
gesprochen. Jetzt verabschiedeten sie sich alle von ihm, von den andern
Lehrern und Fräulein von Zimmern. Bepackt mit vielen Büchern und Heften
überschritten sie zum letztenmal als Schülerinnen die Schwelle des
Schulhauses, mit Wehmut und Freude zugleich. Die Schule lag hinter
ihnen, das Leben, zu dem sie nun ausgerüstet waren, lag vor ihnen.

Unter der Türe ihres Zimmers stand die Vorsteherin mit dem Pfarrer. Sie
hatten den Abziehenden nachgesehen, jetzt war die letzte verschwunden.
„Gott behüte die junge Schar,“ sagte der Pfarrer. Fräulein von Zimmern
schien bewegt. „Ich habe noch nie eine Klasse gehabt,“ sagte sie, „in
der, so wie in dieser, fast alle Schülerinnen vom ersten bis zum letzten
Schuljahr bei mir waren.“ „Und eben deshalb auch keine,“ fügte der
Pfarrer bei, „in der sich so, wie in dieser, gezeigt hat, daß sie nicht
nur Kenntnisse gesammelt haben, sondern auch im Charakter gebildet
worden sind.“

„Die meisten Eltern ahnen gar nichts von diesem Besten, das wir an ihren
Kindern leisten; die Charakterbildung steht nicht auf dem Stundenplan,
sie entzieht sich der Beobachtung.“

„Ja,“ bestätigte der Pfarrer, „die Eltern verlangen sie gar nicht von
uns, sie fordern nur Kenntnisse. Und doch gewährt ein gefestigter
Charakter mehr Bürgschaft für wirkliches Glück, auch im irdischen Leben,
als alles Wissen und natürliche Begabung.“

Der Pfarrer war mit Fräulein von Zimmern in ihr kleines Stübchen
getreten. Auf dem Tisch lag ein großes Buch aufgeschlagen, es zeigte
eine leere Seite. Mit einem Seufzer deutete Fräulein von Zimmern darauf:
„Hier liegt schon das Buch bereit zur Einzeichnung der Schülerinnen, die
sich fürs erste Schuljahr anmelden werden.“ Und der Pfarrer beantwortete
den Seufzer, indem er sagte: „Fangen Sie getrost wieder mit den Neuen
Ihre schwere Arbeit an, es liegt Gottes Segen darauf.“

                   *       *       *       *       *

Der Vorabend von Gretchens Reise ins Gebirg war gekommen. Etwas
verspätet erschien sie beim Essen, Vater und Mutter saßen schon bei
Tisch. „Ich habe noch Abschiedsbesuche gemacht,“ sagte sie
entschuldigend, „sonst käme ich nicht so spät. Ich mußte doch noch nach
Gretchen sehen.“

„Gretchen?“ fragte Herr Reinwald. „Was ist denn das für eine neue
Freundin?“ „Aber Vater,“ entgegnete Gretchen vorwurfsvoll, „mein
Patchen!“ „Ach so, entschuldige nur, daß ich diese wichtige
Persönlichkeit einen Augenblick vergessen konnte! Übrigens möchte ich
doch einen Vorschlag machen. Wenn man einmal soweit ist, daß man sich
eines Patchens rühmen kann und auf ein anderes Menschenkind seinen Namen
übertragen hat, dann sollte man sich nicht mehr ‚Gretchen‘ nennen
lassen, sondern Margarete. Oder willst du immer so ein Miniaturmensch
bleiben, ewig ein Menschchen, nie ein ganzer, voller Mensch?“

„Nein, nein,“ rief Gretchen eifrig, „ein ganzer Mensch möchte ich
werden.“ – „Was meinst _du_?“ fragten fast gleichzeitig Vater und
Tochter die Mutter. „Ich meine, wenn du nun von dieser Reise
zurückkommst, so wäre das gerade der richtige Lebensabschnitt, und bis
dahin könnte ich mich an den Gedanken gewöhnen, daß mein Gretchen der
Vergangenheit angehören soll.“

Am nächsten Morgen trafen sich zwei Väter mit ihren Töchtern an der
Bahn, Herr Reinwald mit Gretchen, der Forstrat mit Ruth. Sie waren
zeitig daran. Gretchen wanderte Hand in Hand mit Ruth und die beiden
malten sich den zu erwartenden Landaufenthalt in goldenen Farben aus.

Auch die beiden Väter, während sie nebeneinander auf und ab gingen,
sahen hoffnungsfroh in die Zukunft. „Meine Frau ist gestern in die
Heilanstalt abgereist,“ sagte der Forstrat, „und der Arzt hofft, daß sie
vollständig wiederhergestellt wird, wenn es auch lange dauern kann.“
„Bei Ihrer Kleinen wird es um so schneller gehen,“ sagte Herr Reinwald,
„sie sieht ja schon ganz rosig aus.“ „Das macht die Freude,“ sagte der
Forstrat.

Einige Minuten später saßen die beiden Mädchen in der Bahn, winkten aus
dem abfahrenden Zug den Zurückbleibenden zum Gruß, und Gretchen hörte
noch ihres Vaters Zuruf: „Auf glückliches Wiedersehen, Margarete!“



                                Inhalt.


                                                     Seite
              1.  Der erste Schultag                     3
              2.  Lene                                  15
              3.  Häusliche Geschäfte                   26
              4.  Die Ringelnatter                      34
              5.  Die Base                              40
              6.  Lehrerin und Schülerin                48
              7.  Schulstunden                          62
              8.  Ausgeliehen                           72
              9.  Schwierigkeiten                       96
             10.  Heimlichkeiten                       117
             11.  Eine Einladung                       152
             12.  Bei der Königin                      175
             13.  Fräulein Trölopp                     192
             14.  Fragen, Antworten und ihre Folgen    202
             15.  Eine Gesellschaft                    220
             16.  Wiege und Sarg                       232
             17.  Eine traurige Familie                250
             18.  Schulschluß                          263



                     Von Agnes Sapper sind erschienen:


   Die Familie Pfäffling. Eine deutsche Wintergeschichte. 21.-30.
   Tausend. Gebunden M. 3.–.

   Agnes Sapper, die nur zu schreiben scheint, wenn sie etwas besonders
   Schönes zu erzählen weiß, bietet dieses Jahr eine „Deutsche
   Wintergeschichte“ unter dem Titel: „Die Familie Pfäffling“. Auf den
   Geist, der dies köstlich erfrischende Buch beseelt, wird ein Satz
   der Verfasserin aus der Widmung an ihre greise Mutter das rechte
   Schlaglicht werfen: „Du hast uns vor Augen geführt, welcher Segen
   die Menschen durchs Leben begleitet, die im großen Geschwisterkreis
   und in einfachen Verhältnissen aufgewachsen sind unter dem Einfluß
   von Eltern, die mit Gottvertrauen und fröhlichem Humor zu entbehren
   verstanden, was ihnen versagt war.“ Solch Gottvertrauen und Humor,
   ernstes Streben und herzerquickende Freude umwehen uns in dem
   kinderreichen Hause des schlichten Musiklehrers, der mit seiner Frau
   so schwer arbeiten und so vielem entsagen muß, um den Kindern eine
   gute Erziehung zu geben. Aber hier erfüllt sich auch das alte Wort:
   „Viel Kinder, viel Segen.“ Wer sich eine geruhige, erquickliche
   Stunde schaffen will, der lese dies Buch. Es ist keine Erzählung für
   Kinder, aber zur Familienlektüre mit der heranwachsenden Jugend
   vorzüglich geeignet.

                                                               Daheim.


   Das kleine Dummerle und andere Erzählungen. Zum Vorlesen im
   Familienkreise. 3. Auflage. Geb. M. 3.–.

   So herzige Erzählungen aus dem Kinderleben, so lebensvolle und
   reizvolle Schilderungen aus dem häuslichen Kreise, rührend und voll
   schalkhaftem Scherz, wie die Verfasserin des „ersten Schuljahrs“ sie
   schreibt, sind selten. Das Schönste aber, was ich von ihr gelesen zu
   haben meine, ist „Das kleine Dummerle“, bei dem es nur schade ist,
   daß seine Geschichte so frühe endet. Die elf andern Geschichten sind
   teils kurz, teils länger, alle „zum Vorlesen“ im Familienkreis, bei
   häuslicher Geselligkeit gedacht. Gerade hiefür ist es geschickt, die
   Wahl zwischen langen und kurzen, ernsten und heiteren, sicherlich
   aber schönen und anziehenden Erzählungen zu haben.

                                            Ev. Kirchenblatt f. Württ.


   Erziehen oder Werdenlassen? 1.-5. Tausend. 326 Seiten. In Leinwand
   gebunden M. 4.–.

   Das ist das Erquickende an A. Sappers Buch, daß sie bei aller
   Würdigung der weiblichen Berufswahl und bei ihrem feinen Verständnis
   für jede Eigenart stets das _Familienleben_ in den Mittelpunkt ihrer
   Betrachtung stellt. Um diesen Kernpunkt kristallisieren sich Eltern-
   und Kinderliebe mit dem Streben nach Wahrheit und Harmonie und dem
   Endziel, tüchtige, wahrhaftige, selbständige Menschen heranzubilden,
   die sich über uns, die Erzieher, hinaus entwickeln.

                              Beilage zum „Hamburger Correspondenten“.

   Wer die Verfasserin aus der „Familie Pfäffling“ kennt, kann sich
   ohne weiteres denken, daß er in diesem Buch nicht etwa eine
   langweilige Abhandlung über die Begriffe „Erziehen“ und „Werden
   lassen“, überhaupt keine Theorie der Pädagogik finden wird. Vielmehr
   bietet diese Schrift den Niederschlag der gesamten _erzieherischen
   Erfahrung_, die eine hellblickende Mutter im eigenen und in fremden
   Häusern gesammelt und gesichtet hat. Ohne jede Enge und
   aufgeschlossen für alles Gute, alt oder neu, läßt sich die
   Verfasserin doch von keinem noch so modernen Erziehungsideal
   blenden, sondern prüft mit nüchternem Blick die verschiedenen
   Grundsätze nach ihren tatsächlichen Früchten in der Kinderstube und
   im Menschenleben. Dabei sieht sie, daß _die_ Menschen am tüchtigsten
   und glücklichsten sind, die früh gelernt haben, sich zu schicken und
   auf andere Rücksicht zu nehmen, und darum zieht sie dem Grundsatz
   des „Werdenlassens“ vielfach energische Schranken, so sehr sie auf
   der anderen Seite alles Gute frei werden lassen und der reiferen
   Jugend eine selbständige Entfaltung gewährleistet wissen möchte. Die
   überzeugende Kraft dieses Standpunktes beruht nicht zum mindesten
   auf dem reichen Material von _anschaulichen Beispielen_ aus der
   Erfahrung, wie sie nur eine Mutter geben kann, die weiß, daß
   Erziehung vor allem Kleinarbeit ist, und die darum auch für das
   scheinbar Geringfügige einen Blick hat. Während mancher geistvolle
   Satz Lhotzkys und anderer den Leser zwar packt, aber praktisch in
   Ungewißheit darüber läßt, was nun in einem bestimmten Fall zu tun
   ist, liegt der Wert des Sapperschen Buches gerade in dem Gefühl der
   Sicherheit, das es durch seine fortwährende Bezugnahme auf die bunte
   Mannigfaltigkeit des alltäglichen Lebens verschafft. So wird, wer
   seine Pflicht gegenüber den Kindern ernst nimmt, mit Freuden und
   Spannung zu diesem Buche greifen und reichen Gewinn davon haben.


   Werden und Wachsen. Erlebnisse der großen Pfäfflingskinder. 11.-15.
   Tausend. In Leinwand geb. M. 4.–.

   Wollen die Leser ein recht erquickliches, lebenswahres und doch
   sonnenfrohes Buch lesen, so raten wir ihnen zu Agnes _Sappers_
   neuestem Opus: „_Werden und Wachsen_“ usw. Die Jugend der
   Pfäfflingskinder hat uns Sapper in der früher erschienenen reizenden
   „Familie Pfäffling“ beschrieben und damit viele Menschen ergötzt.
   Aber weit darüber steht das vorliegende Buch. Etwas Köstlicheres,
   ebenso reich an Humor wie an Lebensweisheit, haben wir selten
   gelesen. Die Verfasserin führt uns in kerngesundes, deutsches
   Familienleben; obenan steht der rasche, allezeit heitere und
   warmempfindende Hausvater, der Musikdirektor Pfäffling, neben ihm
   die kluge Hausmutter mit ihrem fraulichen Takt und treumütterlichen
   Herzen. Die Kinder wurzeln tief im Familiengeist und der
   Familienliebe. Aber nun kommt das spannende Problem: Sie werden groß
   und müssen in die Welt hinaus. Jedes Kind hat andere
   Lebensneigungen, und daraus entstehen allerlei Elternsorgen. Der
   eine Sohn will nach Afrika, der andere kann absolut keinen passenden
   Lebenslauf finden, der dritte nimmt sich eine unpraktische
   Künstlerin zur Frau. Bei den Töchtern treten die ernsten
   Lebensfragen der Verheiratung auf. Und über das alles stirbt mitten
   hinein der Vater, und die Mutter steht als Witwe da. Kurz, lauter
   Probleme, die fast in jede Familie eindringen und schwere Stunden
   hervorrufen. Aber in der Familie Pfäffling lösen sich die Probleme
   immer wieder zu hellem Sonnenschein; und ist gar keine Künstelei
   dabei. Am Schluß erfahren wir den Hauptgrund: Die Mutter wurzelt im
   Vertrauen auf Gott. Aber man muß das Buch selbst lesen. Es verdient
   eine Prämie für den heurigen Weihnachtsmarkt.

                                             Ev.-Luth. Kirchenzeitung.

   Die groß gewordenen Kinder des Musiklehrers Pfäffling können sich
   nach innerem Drang entfalten und sie dürfen einen Beruf wählen, der
   ihnen zusagt und Freude bringt, in dem Bewußtsein: du leistest hier
   Gutes. Alles Wichtige wird mit der Jugend beraten, nichts erzwungen.
   Das Elternpaar, vor allem die zartfühlende und doch kluge Mutter,
   steht im Vordergrunde. Den Willen stärken, schwächliche
   Sentimentalität niederkämpfen, das ist die nicht ausgesprochene,
   aber zwanglos offenbarte Tendenz des Buches, für das man der
   Verfasserin viel Dank schuldet.

                           Schweiz. Mitteilungen über Jugendschriften.


   Lieschens Streiche und andere Erzählungen. Mit Bildern von Gertrud
   Caspari. Elegant gebunden M. 3.60.

   Die Natürlichkeit und Frische der Darstellung, der klare und
   herzliche Stil, ohne Übertreibung, weder zur Gefühligkeit noch zur
   Trockenheit, macht Eindruck. Wir leben mit den Eltern und Kindern,
   welche in den Geschichten vorkommen. Und durch dieses Miterleben
   wird dem Leser die moralische oder pädagogische Tatsache, welche der
   Verfasserin vorschwebt, ganz von selber mitgeteilt.

                                           Schweiz. Evang. Schulblatt.


   Das erste Schuljahr. Eine Erzählung für Kinder von 7 bis 12 Jahren.
   4. Auflage. Gebunden M. 1.20.

   Selten ist der Ton einer Erzählung so warm und richtig getroffen,
   wie im Büchlein „Das erste Schuljahr“. Es ist eine kleine, einfache
   Geschichte voller Erlebnisse aus einem Kinderleben, aber so
   verständnisvoll mitgeteilt, so ungekünstelt dargestellt, daß es die
   kleinen Leser andauernd fesselt.

                                                      Haus und Schule.


   Gretchen Reinwalds letztes Schuljahr. Für Mädchen von 12-16 Jahren.
   Mit Titelbild. 3. Aufl. Geb. M. 3.–.

   Der Verfasserin ist es gelungen, eine reizende, sonnige
   Mädchengeschichte zu schreiben. Oberflächlich ist sie nirgends,
   immer tritt der ethische Gesichtspunkt, die Wahrhaftigkeit, der
   Gehorsam, die Bescheidenheit, hell zutage, ohne aufdringlich zu
   werden. Wer die Probe mit seinem Töchterlein machen will, ob ihm die
   Geschichte auch „spannend“ genug ist, darf es getrost versuchen. Das
   Buch wird die Freude jeder „höheren“ Tochter sein.

                   Beide Teile in _einem_ Band gebunden:


   Gretchen Reinwalds erstes und letztes Schuljahr. 3. Auflage. In
   Leinwand M. 4.–.


   Für kleine Mädchen. 10 Erzählungen. 2. Auflage. Geb. M. 1.20.


   Gruß vom Rigi den Kindern daheim. In farbigem Umschlag M. 1.20.



                     Anmerkungen zur Transkription


Offensichtliche Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
Änderungen, teilweise unter Verwendung späterer Ausgaben, sind hier
aufgeführt (vorher/nachher):

   [S. 213]:
   ... antwortete eine der Mädchen ausweichend. ...
   ... antwortete eines der Mädchen ausweichend. ...




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