Home
  By Author [ A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  X  Y  Z |  Other Symbols ]
  By Title [ A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  X  Y  Z |  Other Symbols ]
  By Language
all Classics books content using ISYS

Download this book: [ ASCII ]

Look for this book on Amazon


We have new books nearly every day.
If you would like a news letter once a week or once a month
fill out this form and we will give you a summary of the books for that week or month by email.

Title: Sämtliche Werke 13: Politische Schriften
Author: Dostoyevsky, Fyodor
Language: German
As this book started as an ASCII text book there are no pictures available.


*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Sämtliche Werke 13: Politische Schriften" ***

This book is indexed by ISYS Web Indexing system to allow the reader find any word or number within the document.

POLITISCHE SCHRIFTEN ***


                   F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke

             Unter Mitarbeiterschaft Dmitri Mereschkowskis
                herausgegeben von Moeller van den Bruck

                      Übertragen von E. K. Rahsin


                   Erste Abteilung: Dreizehnter Band


                           F. M. Dostojewski



                          Politische Schriften


                    Eingeleitet von den Herausgebern

                     R. Piper & Co. Verlag, München


                  R. Piper & Co. Verlag, München, 1917
                             Zweite Auflage
                      Drittes bis fünftes Tausend


             Copyright 1917 by R. Piper & Co., G. m. b. H.,
                           Verlag in München

              Herrosé & Ziemsen, G. m. b. H., Wittenberg.



                                 Inhalt


                                                                   Seite
   Zur Einführung                                                       
     Die politischen Voraussetzungen der Dostojewskischen Ideen.     VII
        Von Moeller van den Bruck                                       
     Die religiöse Revolution. Von Dmitri Mereschkowski             XXIX
   Vorwort                                                          LIII

                       Erster Teil. Westeuropäisches                    
   Gedanken über Europa                                                 
     Republik oder Monarchie                                           3
     Parteimenschen                                                   15
     Frankreich und Deutschland                                       24
     Frankreich und die Kultur                                        26
     Deutschland und Rom                                              32
     Frankreich, die Republik und der Sozialismus                     39
     Katholizismus und Sozialismus                                    47
   Drei Ideen                                                         55
   Die deutsche Weltfrage                                               
     Deutschland, die protestierende Macht                            65
     Ein genial-mißtrauischer Mensch (Bismarck)                       72
     Ärger und Macht (Papstmacht)                                     79
     Das schwarze Heer. Die Meinung der Legionen als neues            88
        Element der Zivilisation                                        
     Ein ziemlich unangenehmes Geheimnis (Ausblicke)                  94
   Die Lage Frankreichs                                                 
     Unselige Pechvögel (Französische Republikaner)                  101
     Ein merkwürdiger Charakter (Mac-Mahon. Französische             109
        Reaktionäre)                                                    
   Die katholische Verschwörung                                      116
   Österreichs gegenwärtige Gedanken                                 129

                         Zweiter Teil. Russisches                       
   Vom russischen Volk                                                  
     Davon, daß wir gute Menschen sind. Die Ähnlichkeit der          147
        russischen Gesellschaft mit dem Marschall Mac-Mahon             
     Von der Liebe zum Volke. Der unumgänglich notwendige Vertrag    153
        der Gesellschaft mit dem Volke                                  
     Der Bauer Marei                                                 159
   Einiges über den Krieg                                            168
   Mein Paradox                                                         
     Das Paradox                                                     178
     Das Ergebnis des Paradoxons                                     187
     Utopische Geschichtsauffassung                                  190
   Foma Daniloff, der zu Tode gemarterte russische Held                 
     Foma Daniloff                                                   201
     Die Versöhnungsmöglichkeit außerhalb der Wissenschaft           210
     In Europa sind wir bloß Landstreicher                           218
   Eine der wichtigsten gegenwärtigen Fragen                            
     Was sollen wir denn tun?                                        225
     Die brennende Tagesfrage                                        233
     Die Tagesfrage in Europa                                        240
     Die russische Lösung des Problems                               245
   Ehemalige Landwirte – zukünftige Diplomaten                       252
     Die Diplomatie vor den Weltfragen                               267
     Niemals ist Rußland so mächtig gewesen wie jetzt, – eine        272
        nicht-diplomatische Auffassung                                  
   Die römisch-klerikale Verschwörung in Rußland                     282
   Russische Finanzen                                                293
   Die Meinung eines geistreichen Bureaukraten über unsere           324
      Liberalen und Westler                                             
   Die Judenfrage                                                       
     Vorbemerkungen                                                  334
     _Pro_ und _contra_                                              340
     _Status in statu._ Vierzig Jahrhunderte geschichtliches         348
        Dasein                                                          
     Doch es lebe die Brüderlichkeit!                                358
     Die Beerdigung des Allmenschen                                  363
     Ein einzelner Fall                                              367

                      Dritter Teil. Balkan und Orient                   
   Idealisten oder Zyniker                                           375
   Früher oder später muß Konstantinopel doch uns gehören               
     Unser Verhältnis zum Orient                                     383
     Gedanken unserer Zeit                                           390
   Der Krieg                                                            
     Wir sind die Stärksten                                          400
     Nicht immer ist der Krieg eine Geißel, zuweilen ist er sogar    409
        die einzige Rettung                                             
     Rettet denn vergossenes Blut?                                   414
     Wie Rußlands „sanftester“ Zar die Orientfrage aufgefaßt hat     420
     Aus dem Buch der Weissagungen Johannes Lichtenbergers – aus     422
        dem Jahre 1528                                                  
   Lüge sucht sich durch Lüge zu erhalten                               
     Don Quijote                                                     429
     Mollusken, die man für Menschen hält. Was ist für uns           436
        vorteilhafter: wenn man über uns die Wahrheit weiß, oder        
        wenn man über uns Unsinn schwätzt?                              
   Zur Orientfrage                                                      
     Lakaientum oder Zartgefühl                                      445
     Der größte Beweis unseres Lakaientums                           456
     Ein ganz persönliches Wort über die Slawen, das ich schon       463
        lange habe sagen wollen                                         
     Was man jetzt über den Frieden spricht. Muß Konstantinopel      471
        Rußland gehören, und ist das überhaupt möglich?                 
        Verschiedene Meinungen                                          

                            Vierter Teil. Asien                         
   Die Asienfrage                                                       
     Was ist Asien für uns?                                          493
     Fragen und Antworten                                            501


          Wir Russen sind ein junges Volk, wir fangen erst an
          zu leben, obgleich wir schon tausend Jahre alt
          sind: aber ein großes Schiff braucht auch ein
          tiefes Fahrwasser.

                                                Dostojewski.



                             Zur Einführung


       Die politischen Voraussetzungen der Dostojewskischen Ideen

Die russische Politik ist immer wieder auf ihre byzantinische Grundidee
zurückgekommen. Nur die Begründung dieser Idee hat durch die
Jahrhunderte gewechselt. Und fast unterscheiden sich die einzelnen
Zeitalter der russischen Geschichte wie die verschiedenen Formulierungen
des byzantinischen Gedankens.

Diese Begründung war nacheinander machtpolitisch, kirchenpolitisch und
panslawistisch, sie war zwischendurch bald das eine, bald das andere,
oft mehreres zugleich – je nachdem, welche Persönlichkeiten und
Gesichtspunkte, welche Kreise und Stimmungen die Begründung bestimmten.
Macht verband sich freilich immer mit ihr. Es war für die Zaren eine
besonders lockende Vorstellung, Selbstherrscher in der Stadt desselben
Konstantin zu werden, der einst verkündet hatte, daß der Wille des
Kaisers Kanon für das Volk sei. Ebenso fühlte sich die Beamtenschaft,
die höfische und politische Bürokratie, schon durch ihre Gewaltneigungen
zu der Stätte hingezogen, wo der Zeremonialstaat, aber auch der
Polizeistaat entstanden war. In einem verwandten und nur geheiligteren
Drange sehnte sich die Orthodoxie danach, wieder in die Stadt des
ökumenischen Patriarchen einziehen zu können, in der vordem das erste
Kyrie eleison erklang. Byzanz gab dem Russischen Reiche seinen
theokratischen Stil. Wie die mittelalterlichen Deutschen aus Rom das
Romanische herüberholten, so nahmen die Russen in Byzanz das Griechische
auf. Während den Rumänen auf dem Balkan das freilich entartete und
verkümmerte Erbe des Lateinertums zufiel, übernahmen die Russen für das
Slawentum die reichere und stolzere Überlieferung des oströmischen
Hellenismus. Byzanz wurde nach Rußland übertragen: und nicht nur in den
Symbolen, sondern vor allem in den Instinkten und Prinzipien. Nach jener
symbolischen Vermählung mit der letzten Palaiologin, die man Sophia
hieß, wie die große Kathedrale von Ostrom, wurden Wappen und
Herrschertitel, byzantinische Etikette, aber auch byzantinisches
Patriarchat, Klerikalverfassung, Klosterleben, byzantinisches Recht, das
an die Stelle des normannischen trat, nach Rußland hinübergeführt. Und
so fest wuchs in Moskau die Autokratie mit der Orthodoxie zusammen, so
sehr wurde das Byzantinische zur Grundlage des Reichsgefüges wie
Volkstums, daß man es schließlich gar nicht mehr als Byzantinismus,
sondern als autochthones, altheiliges, echtrussisches Gut empfand. Und
schon diese kirchen- und machtpolitische Begründung begleitete ein
nationalistisches Empfinden: Kyrill und die Slawenapostel, die Schöpfer
des russischen Alphabets und der altslawischen Kirchensprache,
vereinigten Russentum und Byzantinertum in einer slawophilen Gesinnung,
die später, als Rußland in seine historischen Gegensätze zum
europäischen Westen wie zum islamitischen Orient geriet, als
panslawistisches Bewußtsein der russischen Politik ihr geschichtliches
Ziel geben sollte: mit dem Besitz von Byzanz diese ganze Entwicklung
abzuschließen.

Die Eroberung von Byzanz ist früh versucht worden. Es waren noch
griechische Kaiser und bulgarische Zaren, die russische Großfürsten vom
Balkan zurückschlugen. Dann kam die Zeit, in der die Mongolen über
Rußland herrschten. Damals entschwand Byzanz völlig den russischen
Blicken. Auf die Mongolen aber folgten im Süden von Rußland die Tataren
und schoben sich trennend zwischen Moskau und den Balkan. Diesem
Tatarengürtel, dem Khanat der Krim, das seine Macht um den nördlichen
Rand des Schwarzen Meeres lagerte, verdanken die Balkanslawen heute, daß
ihre Nationalität sich erhielt, die ohne diese Trennung vom
Großslawentum in diesen Jahrhunderten der Russifizierung verfallen wäre.
Als aber Moskau, als das Großrussentum, das im Großslawentum die
politische Führung übernahm, wieder politische Bewegungsfreiheit erhielt
und von neuem den Blick nach Byzanz hinüberwandte, da waren hier
inzwischen große Veränderungen geschehen. Die Türken waren den Russen
zuvorgekommen: Byzanz war mohammedanisch geworden. Kaum ließ sich in
dieser Zeit das Schutzrecht über die Balkanslawen und Balkanchristen
aufrechterhalten und wenigstens andeuten, das erst Peter der Große
wieder gegen die Türkei ausgespielt hat, und das bis zum letzten
russisch-türkischen Kriege von der russischen Politik bald mehr
diplomatisch, bald mehr ideologisch ausgespielt worden ist. Es wurde
früh Prinzip dieser Politik, Prinzip von Instinkten der Rasse, die ihre
historischen Hemmnisse wie Möglichkeiten herauswitterte, sich immer auf
der Linie des geringeren Widerstandes vorwärts zu bewegen: sinkender
Staaten oder wilder, niederer, jedenfalls schwächerer Völkerschaften.
Und vorläufig lag diese Türkei, der gelungen war, was Rußland versäumt
oder verfehlt hatte, und die damals Ungarn, Polen, Wien bedrohte,
entschieden nicht auf dieser Linie des geringeren Widerstandes, auf der
die russische Politik ihre größten Erfolge erringen sollte. Vorläufig,
in einer Zeit, als Europa in den Wirren der Religionskriege und
Erbfolgestreite sich selber schwächte, als Österreich den Türkensturm
auszuhalten hatte, die schwedische Politik zwischen Rußland und Polen
als Gegner schwankte, Polen zerfiel, schien eher der Westen auf dieser
Linie zu liegen. Und so füllte denn die russische Politik diese Zeit, in
der sie vom Süden und Osten abgedrängt war, und in der abgewartet werden
mußte, bis die Türkei schwächer wurde und sich allmählich jenes Prinzip
des geringeren Widerstandes auch auf sie anwenden ließ, mit ihren
Vorstößen nach Europa aus, die dem Russentum allerdings nur die
Zwieschaften eines Westlertums in das Land und das Leben tragen sollten.
Über der Gründung von Petersburg wurde die Eroberung von Byzanz
vergessen. Doch blieb der Norden den Russen stets unheimlich, wie der
Westen ihnen peinlich war. Nur Peter konnte wagen, den Norden zu
zwingen. Peter war selbst ein nordischer Mensch, schon deshalb, weil er
sich auch auf die unrussische Linie des größeren Widerstandes vorwagte,
war ein letzter Waräger, im Temperamente vom Willensschlage und
Schaffensdrange des Großen Kurfürsten, im Charakter mit strindbergischen
Zügen grausamen Menschenmißtrauens. Aber sogar die Ostsee blieb den
Russen immer fremd. Früh fühlten sie, daß das baltische Meer nie ein
slawisches Meer werden würde, daß der Mensch der Steppe kein Mensch des
Ruders ist. Im Kampf um die Ostsee wurde das Russentum nur an die Grenze
des größeren Widerstandes abgedrängt, an der es schließlich Europa vor
sich hatte, eine kulturelle und, aus ihr sich immer wieder ergebend,
eine politische Überlegenheit, gegen die es nicht aufzukommen vermochte.
Zwar suchte es die Grenze immer wieder zu überschreiten, aber nur, um
neue Zwieschaften des Westlertums in sich aufzunehmen, die das Russentum
auf Nachahmung stellten, und damit vor die Gefahr, sich von sich selber
zu entfremden. Die Linie des geringeren Widerstandes konnte für Rußland
immer nur in den Grenzenlosigkeiten von Osten und Süden liegen, dort, wo
die slawische Welt sich einst mit der verfallenden antiken, jetzt mit
der heraufgekommenen islamitischen mischte. Die russische Politik blieb
daher, was sie war: eine Politik dieser Grenzenlosigkeit. Sie suchte die
russische Herrschaft mit der Schrankenlosigkeit von Instinkten
auszudehnen, die von der weiten Natur des russischen Landes in einem
besonderen Maße gerechtfertigt, ja, herausgefordert zu werden schienen.
Und ein einziges festeres, ein phantasmagorisches, freilich auch sehr
realpolitisches Ziel in dieser orientalischen Grenzenlosigkeit, in deren
Fernen die Wüste, Indien und Asien lag, war dann stets, bei europäischer
Nähe und russischer Erreichbarkeit, die Stadt des Konstantin, von der
aus Selbstherrschertum wie Rechtgläubigkeit einst in die slawische Welt
gekommen war. Immer wieder, langsam, auf einem asiatischen Umwege, auf
dem zuerst Kasan und Astrachan erobert, das Kaspische Meer erreicht
wurde, und der sich noch im Bogen um das Schwarze Meer bewegte, fühlte
deshalb das Russentum, zunächst im Kampf gegen das Krimtatarentum, in
der Richtung auf die Türkei und Konstantinopel vor, in der sich, als
Symbol seiner geistigen Selbständigkeit und geschichtlichen Sendung, der
Kuppelberg der Agia Sofia erhob.

                   *       *       *       *       *

Schon Iwan der Dritte steckte die Grenzenlosigkeiten der russischen
Ausdehnungsmöglichkeiten nach geopolitischen Prinzipien ab und wies der
russischen Politik das Ziel: „Die Grenzen des Moskowitischen Reiches bis
zu den von der Natur gewiesenen Marken hinauszurücken, das heißt, bis
zum Uralischen Bergrücken, den Gestaden des Kaspischen Meeres, dem
Kaukasus und dem Pontus.“ Und Iwan der Große, unter dem ohne sein Zutun
die ungeheure kosakische Erwerbung von Sibirien geschah, leitete dann
mit seiner persönlichen Politik die Umklammerung des Schwarzen Meeres
ein, die schließlich zum Kampf gegen die Türkei führen mußte. Sogar
Peter der Große, der durch die Geschichte mit dem Rufe des Westlers
geht, und dem die russische Geschichtsphilosophie der slawophilen und
panslawistischen Epoche später alle Zwiespälte vorwarf, die durch die
Hinüberwendung nach Europa und die Abwendung von Byzanz in den
russischen Volkskörper gekommen sind, hat den Ausgang zum Schwarzen
Meere früher gesucht als den zum Baltischen Meere. Die ganze
klimatische, rassengeographische und religionspolitische Einstellung
Rußlands, die Ausdehnungspolitik, die er vorfand, und übrigens auch
schon Verträge seiner Vorgänger mit Polen und Österreich, verwiesen ihn
auf den Kampf im Orient. Gerade weil er den Westen bewunderte, wollte er
nicht eher vor dessen Urteil treten, als bis er einen Ruhm mit seinem
Namen verbunden hatte: Und dieser Ruhm ließ sich von Rußland aus nur im
Osten erwerben. Die Eroberung von Asow und die Gründung von Taganrog im
damals türkischen Mündungsgebiet des Don wurde deshalb seine erste Tat.
Und dann erst beging er seinen genialen Fehler, der ihn in der
Geschichte so groß gemacht hat, diesen „petrinischen Fehler“, den schon
seine altrussischen Zeitgenossen erkannt, gegen den sie sich als das
Verhängnis Rußlands gewehrt und dessen Rückgängigmachung sie Slawophilie
und Panslawismus hinterlassen haben. Sein russischer Blick blieb nach
Süden und Osten gerichtet: nach Byzanz, orientwärts, asienwärts. Aber
daneben hatte Peter diesen kulturellen Blick, den er nicht wohl
anderswohin wenden konnte als dorthin, wo die nächste überlegene
Nachbarkultur war: nach Europa. Durch eine doppelte Politik, eine, die
orientalisch und europäisch zugleich sein sollte, legte er die weitere
Entwicklung des russischen Staatsgedankens in einer Zwieschaft fest, die
das russische Volkstum aus seiner Ruhe, Verwurzelung, gewohnten Lagerung
warf und den russischen Menschen an sich irre machte. Nun wurde, statt
daß Konstantinopel erobert worden wäre, an ähnlich schicksalsvoller
Stelle, gleichfalls zwischen Wasser und Land, aber ohne Heiligung durch
Überlieferung, zwischen fremden Völkern, Bekenntnissen und Gesittungen,
durch fremde Menschen und Arbeitsweisen, eine neue, eine künstliche, die
befohlene Hauptstadt Petersburg gegründet. Schon bei Peters Lebzeiten
wandte sich das Altrussentum von dem Geiste dieser Gründung ab: Peters
eigener Sohn Alexei sollte das Werkzeug werden, um der eindeutigen,
rechtgläubigen moskowitischen Partei wieder zum Siege zu verhelfen: der
schlaffe Prätendent einer ewigen Idee, der erste Panslawist auf einem
Throne, den er nie bestieg. Peter selbst wandte sich gegen Ausgang
seiner Regierung wieder dem Orient zu. Die Ausdehnung, die er im
Baltikum gegen die Schweden erreicht hatte, konnte ihn nicht für die
Enttäuschung entschädigen, die er am Pontus durch die Türken erlitt.
Asow, der Stolz seiner Jugend, war wieder verloren gegangen. Fast
scheint es, als ob er bereit gewesen ist, seine nordischen Eroberungen,
bis auf Petersburg, gegen Bezahlung wieder herauszugeben, wie dies unter
seinem Vater schon einmal geschehen war. Aber jetzt wollte Schweden
nicht und suchte eine Entscheidung, der es nicht mehr gewachsen war.
Peters letzte Gedanken gingen nach Asien, Persien, China, Sibirien
hinüber. Das machtpolitische Testament, das er hinterließ, geschrieben
oder ungeschrieben, forderte die Zertrümmerung der Türkei. Das
religionspolitische Testament forderte gar, in einer orthodoxen
Wiederaufnahme der katholischen Kreuzzugsgedanken des Mittelalters, den
Erwerb Jerusalems und der heiligen Stätte für Rußland. Und das beinahe
mystische Testament, das er hinterließ, ging noch weiter und forderte
die Eroberung Indiens, des weißen und heiligen Landes am Ganges, für das
Volk des weißen und heiligen Zaren.

Nach Peters Tode schien zunächst das Altrussentum zu siegen, das im
Grunde weder Petersburg noch Konstantinopel, nur sich selbst will,
obwohl seine politischen Ideen noch am ehesten, schon aus religiösen
Motiven, mit byzantinischen Tendenzen in Übereinstimmung zu bringen
sind. Residenz wie Regierung wurden wieder nach Moskau verlegt, freilich
auch wieder nach Petersburg zurück, hin und her. Auch Katharina die
Große, dieser zweite universale Mensch auf dem russischen Throne, die zu
organisieren hatte, was unter Peter pionierhaft abgesteckt worden war,
sah sich in der europäisch-orientalischen Zwieschaft festgelegt, die er
ihr hinterlassen. Doch ihre größten Unternehmungen hat auch sie gegen
die Türkei gerichtet. Die Nordküste des Schwarzen Meeres wurde gewonnen.
Aus den baltischen Häfen lief eine erste Flotte aus, um die Einfahrt in
die Dardanellen, freilich schon damals vergeblich, zu erzwingen. Doch
der entscheidende Friede von Kainardschi, den sie abschloß, und der
Rußland sein Schutzrecht über die Balkanchristen und zugleich eine
Meistbegünstigung seines Handels bestätigte, legte den Grund zu der
ganzen künftigen russischen Orientpolitik. Und wie weitausschauend ihr
Blick war, auch noch über dieses Ergebnis hinaus, das zeigte ihr
Lieblingsplan, ein großes rumänisch-bulgarisches Schutzreich Dazien
zwischen Rußland, Österreich und der Türkei zu schaffen, aus dem
vielleicht einmal ein neubyzantinisches mit der Hauptstadt
Konstantinopel werden konnte, und für das sie bereits ihren Enkel
Konstantin taufen ließ. Und wie realpolitisch zugleich dieser Blick war,
das zeigte ihr Lieblingswunsch, Ägypten zu erobern und zum mindesten
schon Malta im Rücken der Türkei und an Stelle von Franzosen oder
Engländern zu besetzen.

Doch erreicht wurde zunächst nur, unter den Nachfolgern Peters wie
Katharinas: daß Zeit verloren wurde, und daß der richtige Anschluß
verfehlt wurde. Rußland hat durch die petrinische Politik zwei
Jahrhunderte verloren und manche Gelegenheit verfehlt. Jener halbe und
eigentlich planlose Zustand kam auf, von dem Pozzo di Borgo als Minister
Alexanders I. gesagt hat, daß die ganze neuere Politik Rußlands fast
ausschließlich die Zerstückelung Polens zum Gegenstande gehabt habe; und
das war zu wenig für Rußland; war eine kleine Politik; eine unrussische
Politik.

Dafür haben freilich diese zwei Jahrhunderte das russische Volk in die
unmittelbare Nachbarschaft und unter die nachhaltende Einwirkung des
europäischen Westens gebracht, dessen Beispiele es zu seiner Entwicklung
brauchte. Aber gerade dieses russische Westlertum, das sich bildete,
mußte das autochthone Russentum, nachdem es einmal seine byzantinische
Selbständigkeit in Moskau gefunden hatte, in seiner russischen
Selbständigkeit in Rußland gefährden. Schon in der Zeit des falschen
Demetrius hatte ein erstes Westlertum das Moskowitertum vorübergehend
mit der Gefahr der Polonisierung und Katholisierung bedroht. Später
wurden Deutsche, Holländer und Schweden die Lehrmeister, die Rußland
brauchte, um sich in seiner künstlichen europäischen Stellung zu
erhalten, und deren Einfluß es doch immer wieder zurückstieß, weil das
natürliche russische Leben ihn nicht vertrug. Auf den deutschen Einfluß
folgte dann der französische, und auf den französischen wieder der
deutsche, auf den Einfluß Voltaires derjenige Friedrichs des Großen,
selbst Josephs des Zweiten, später Herders, Schillers und Hegels. Aber
gerade auf diesem Umwege über das Westlertum hat die russische
Geschichtsphilosophie, die sich bildete, sich mit den volklichen
Gegenbewegung der Slawophilie und des Panslawismus verbunden und ist von
dem europäischen Gedanken auf den byzantinischen zurückgekommen. Die
Verbindung mit dem Westen, die stets mehr enthusiastische als kritische
Übernahme seiner Probleme, machte das Russentum schließlich selbst
problematisch, brachte es in Widersprüche und Gegensätze aller Art, in
Unvereinbarkeiten des Geistes wie des Staates. Es ist dabei durchaus
eine Sache und Seite für sich, daß diese Problematik das Russentum
zugleich schöpferisch machte: nicht nur in der Arbeit, die Peter und
Katharina für Rußland leisteten, sondern auch in der Selbsterkenntnis
aller der Mißverständnisse und Übertreibungen des Westlertums, die Gogol
zur grotesken Drastik erhob, und in derjenigen seiner schweren
seelischen Erregungen, Erschütterungen, Erkrankungen, die Dostojewski in
dem realistischen Schattenreich einer russischen Apokalypse umgehen
ließ. Dieses russische Schöpfertum verbindet uns heute mit der
russischen Geistigkeit, die, nicht ein Teil, doch eine östliche
Ergänzung unserer eigenen Geistigkeit ist – und zwar um so mehr, je
weniger westlich, je echter russisch, slawisch, byzantinisch, je weniger
liberal und je mehr konservativ sie ist. Politisch aber, ideologisch,
geschichtsphilosophisch, in dem geistigen Sinne, den der Dichter und
Menschenforscher wie der Politiker und Geschichtsdenker Dostojewski
vertritt, mußte das Russentum sich von dem Westlertume, das seine
Geschichte wie ein Verhängnis begleitete, frei zu machen suchen.

Wie eine Erlösung wurde es in Rußland empfunden, als das neunzehnte
Jahrhundert wieder den Willen zu einer großen russischen und nunmehr
altrussischen Politik brachte und Petersburg sich erneut dem Orient
zuwandte: denn im Mittelpunkte des Orients stand Konstantinopel! Die
Befreiungskriege der Balkanslawen gaben den Anlaß, sich in die
türkischen Angelegenheiten einzumischen: und dieser Anlaß wurde der
ideologische Ausgangspunkt für die Slawophilie, als sie den
byzantinischen Gedanken zum panslawistischen erweiterte. Doch nun zeigte
sich politisch, daß der Besitz von Konstantinopel, nachdem die Türkei
allerdings genügend zersetzt und geschwächt sein mochte, um von Rußland
überrannt werden zu können, gar kein russisch-türkisches, vielmehr ein
durchaus europäisches Problem geworden war. Wie ein Spiel ging es
infolgedessen in den Kabinetten und auf den Kongressen um den einen
Stadtnamen: Konstantinopel! Schon Friedrich der Große hatte auf die
Frage geantwortet, warum er die Russen nicht nach Konstantinopel lassen
wolle: „Weil sie dann am anderen Tage in Königsberg stehen.“ Und
Alexander I. hatte Konstantinopel den „Hausschlüssel“ zu Rußland
genannt, worauf Napoleon antwortete, daß es zugleich der „Schlüssel zu
Toulon“ sei. Später schloß Skobeleff umgekehrt wie Friedrich der Große
und meinte, daß der Weg nach Konstantinopel über Berlin gehe. Und von
österreichischer Seite ist die schlagfertige Erwiderung auf die drohende
Bemerkung eines russischen Geschäftsträgers bekannt, daß der Weg nach
Konstantinopel über Wien führe: „Ja, und der nach Petersburg über
Warschau!“ Wahr war an allen diesen Beziehungen und Anspielungen: daß
für Rußland der Weg nach Konstantinopel allerdings nicht nur über die
Türkei, sondern über Europa führte.

Immerhin wurde manches von Rußland erreicht. Nikolaus I. erlangte, was
zuletzt Katharina verlangt hatte: die freie Durchfahrt durch die
Dardanellen für russische Handelsschiffe und ihre Sperrung für fremde
Kriegsschiffe. Aber er erlangte dies Zugeständnis um den Preis eines
Bündnisses zwischen Rußland und der Türkei, durch das beide Staaten sich
unter anderem zum wechselseitigen Schutze ihrer Völker und Bekenntnisse
verpflichteten, der Mohammedaner hier, der Slawen dort. Und dieser Preis
bedeutete ebenso einen Verzicht auf die alten macht- und
kirchenpolitischen Ansprüche, wie eine Verleugnung der neuen
panslawistischen Gesichtspunkte. Immerhin war Rußland nunmehr
Selbstherrscher auf dem Schwarzen Meere geworden. Dafür warfen dann die
Ergebnisse das Russentum um so weiter zurück. Im Pariser Frieden mußte
Rußland auf seine Bewegungsfreiheit im Schwarzen Meere wie auf sein
Schutzrecht über die Balkanchristen verzichten. Der Russisch-Türkische
Krieg wiederholte dann den Versuch, nach Konstantinopel vorzudringen,
noch ein letztes Mal, und wiederholte ihn nun auf der Grundlage und vor
dem Hintergrunde eines großen und leidenschaftlichen Panslawismus, dem
sich der größte und leidenschaftlichste Russe Dostojewski nicht entzog.
Die „slawische Frage“ kam auf und drang, wie der große beschauliche
Russe Tolstoi diese Zeit schildert, nachdem sie bis dahin nur die
Gesellschaft beschäftigt hatte, mehr und mehr in das Volk ein. Fast wäre
es erreicht worden, das große Ziel: die Russen vor Konstantinopel! und
die Russen in Konstantinopel! Aber wie die Türken, nachdem sie vor Wien,
nicht in Wien erschienen waren, nie wieder Wien bedrohen konnten, so
mußten die Russen auf Konstantinopel verzichten. Nach dem Berliner
Kongreß blieb nur die eine Möglichkeit einer veränderten politischen
Taktik übrig: durch die autonom gewordenen Balkanslawen, durch Slawen
und Bulgaren, auf dem Balkan zu herrschen. Und auch diese Möglichkeit
sollte versagen. Schon Dostojewski mußte vertrösten: „Einmal wird
Konstantinopel doch unser werden!“ Ja, einmal! Aber wann? Und schon
Dostojewski wandte den Blick nach Asien hinüber, nahm die letzten
russischen Waffenerfolge, die er noch erlebte, die Siege Skobeleffs in
Mittelasien, zum Anlaß, um dem Prinzip von der Linie des geringeren
Widerstandes, das sich bei ihm zuerst formuliert findet, eine andere
Richtung zu geben, und beantwortete in einer sibirischen Übertragung und
Auflösung des alten Gegensatzes von Westlertum und Altrussentum die
Frage: „Was ist Asien für uns?“ mit einem: „Asien ist unser Amerika!“
„In Europa sind wir Sklaven. Nach Asien kommen wir als Herren. In Europa
waren wir Tataren. Nach Asien kommen wir als Europäer!“ Byzanz blieb der
Mittelpunkt seines politischen Denkens. Aber Asien wurde zum letzten
Wort seiner russischen Hoffnung.

                   *       *       *       *       *

Byzanz war für Dostojewski mehr als ein Symbol, wie es für Rußland mehr
als ein Symbol ist. Das russische Selbstherrschertum war ursprünglich
eine barbarische Machtanmaßung, die zu ihrer Anerkennung der Heiligung
durch das Recht und durch die Überlieferung bedurfte: Byzanz gab ihr
beides. Durch Byzanz konnte das Zartum vertieft und vergeistigt, durch
Verchristlichung gerechtfertigt, durch Mystifizierung erhoben werden.
Ebenso sehnte sich der Panslawismus, den Dostojewski vertrat, nach Größe
und Reinheit und Überschwenglichkeit, die in den russischen
Volksgedanken kommen sollten. Dostojewski wollte die Macht in Gnade
verwandeln und mit ihr die Massen, die Balkanbrüder und zuletzt alle
Menschen beglücken. Ist nicht alle unsere Menschenmacht eine Anmaßung?
Bedürfen wir nicht alle der Gnade? In Byzanz sah er das Urchristentum
erhalten, während ihm der Katholizismus durch seine papale Verbindung
mit Staatlichkeit, der Protestantismus durch seine humanistische mit
Lehrhaftigkeit entartet erschien: ein Materialismus genau wie der
Sozialismus, und ein Ausdruck des Westlertums und Europäertums, gegen
das er sich in allen seinen Formen wandte. Dostojewski wollte die
russische Nationalkirche zur Allerweltskirche erheben, von der noch
einmal die Erlösung ausgehen sollte, die er persönlich, in der
Lauterkeit seiner Absichten, für möglich und kommend hielt, während sie
praktisch allerdings stets nur die Vergewaltigung der Völker und
Bekenntnisse bedeutet hat. In dieser Verbindung von Staat und Macht,
Volk und Kirche, Religion und Politik ist der Dichter Dostojewski mit
dem Politiker Dostojewski verbunden. Als Politiker mußte er werden, was
er als Dichter, als Volksfreund, als Mensch der Liebe zum Nächsten und
als Enträtseler des gemeinsamen Schicksals im einzelnen, des einzelnen
im gemeinsamen, war: der Slawophile, der Panslawist, der Konservative,
der sich auf den Boden des patriarchalisch geschichteten Russentums
stellte, um zu einem religiös gerichteten Menschentum zu gelangen. Der
Konservative in Dostojewski: das war der Boden, der Unterbau, war
Rußland mit seinem natürlichen, primitiven, altruistischen Sozialismus
bäuerlichen Lebens. Und der Nihilist in Dostojewski, den er in sich
überwand: das war der Mensch, der Europa und den Westen kannte, und der
das einzige russische und allmenschliche Hemmnis auf dem ewigen Wege zu
Gnade und Erlösung, in Europa im Liberalismus, in Rußland im Westlertum
erkannte: als den Träger von Egoismus und Individualismus, als den
Verbreiter jenes nur allzu russischen Nihilismus und den Bringer eines
ganz unrussischen Industrialismus, Kapitalismus, Materialismus.

                   *       *       *       *       *

Der byzantinische Gedanke im russischen Geschichtsdenken ist heute
entartet. Nachdem er durch die Jahrhunderte abwechselnd machtpolitisch,
kirchenpolitisch und panslawistisch begründet worden war, wurde er
wirtschaftlich. Im russischen Westlertum selbst folgte auf den
französischen und deutschen Einfluß des achtzehnten und neunzehnten
Jahrhunderts der englische des zwanzigsten, folgte nicht geistig, weil
er dies nicht wohl sein konnte, wohl aber gesellschaftlich und vor allem
handelspolitisch. Ein neuer Menschenschlag kam in Rußland herauf:
Industrielle und Großkaufleute, Liberale, die nunmehr auf russische
Weise eine britische Wirtschaftspolitik machen wollten. Oder war es ein
alter Schlag, der wieder durchbrach? War es der moskowitische Kaufmann,
der tatarische Unternehmer, der an Stelle des Petersburger
Verwaltungsbeamten in das Wirtschaftsleben des Russischen Reiches
eingriff und mehr und mehr auch die Politik des Staates in die
Richtlinie seiner Gesichtspunkte abdrängte? Eisenbahnen erschlossen die
Steppe und Fabrikanfänge entstanden um die Städte. Vor allem aber fand
die Aufhebung der Leibeigenschaft eine späte, doch breite Nachwirkung in
der Landwirtschaft, in den Massen des Landes und in den Massen der
Menschen. Die geplante Stolypin-Kriwoscheïnsche Agrarreform, die durch
Aufhebung des Mir dem russischen Bauern erst volle Arbeitsfähigkeit, der
russischen Erde erst volle Ertragfähigkeit geben wird, soll nun die
Entwicklung vollenden. Schon ist das Verhältnis von Ausfuhr und Einfuhr
zugunsten der ersteren völlig verschoben worden und hat Veränderungen
für den Staatshaushalt mit sich gebracht, deren Reichweite sich noch gar
nicht absehen läßt. Namentlich das südrussische Getreide, dessen
Verschiffung durch den Schwarzmeerhandel erfolgt, wurde als das
bequemste nationale Zahlungsmittel erkannt. Und wichtiger noch als die
Eroberung von Konstantinopel erschien mit einem Male der Erwerb der
Dardanellen, deren Öffnung dem russischen Handel den Anschluß an den
Weltverkehr sichern sollte. Die Türkenkämpfe, die von dem russischen
Staate bis dahin als Ausdehnungskampf betrieben, von dem russischen
Volke als Glaubenskampf empfunden worden waren, wurden zum
Wirtschaftskrieg. Es war das Neue der Zeit und das Neue in der
russischen Geschichte, das der europäische Krieg nicht gebracht, doch
offenbart hat: an Stelle einer autokratischen oder theokratischen, immer
slawokratischen Geschichtsanschauung griff jener selbe europäische
Materialismus, jene selbe westlerische Unheiligkeit, vor der Dostojewski
durch eine religiöse Erneuerung des byzantinischen Gedankens das
Russentum hatte bewahren wollen, auf Rußland über.

Es fragt sich nur, wie das russische Volk sich mit dieser Entwicklung
abfinden wird, durch die der russische Konservatismus hinter einen
russischen Liberalismus zurücktritt, wenn es dem russischen Staate nicht
gelingt, diese unvermittelte Wendung mit dem Besitz von Konstantinopel
wie dem der Dardanellen machtpolitisch abzuschließen? wenn Rußland
vielmehr auf diesen Besitz verzichten muß? dauernd und endgültig? Für
die russische Ideologie kann die wirtschaftliche, diese ökonomische,
nicht mehr ökumenische Auffassung des byzantinischen Gedankens nur eine
Entweihung sein, seine positivistische Entartung, sein tiefster,
materialistischer Fall und Verfall. Die russischen Ideologen sind denn
auch bereits in eine Gegenbewegung eingetreten, die sie von dem
neurussischen Liberalismus, von Manchestertum, Opportunität und Skepsis
abrücken und sich wieder dem altrussischen Patriarchentum und der Mystik
annähern läßt. Aber sie selbst sind nur Epigonen großer Ideen eines
Zeitalters, das die geschichtliche Möglichkeit, Byzanz zu besetzen und
für Rußland zu besitzen, bereits verfehlt hat. Während die russischen
Liberalen diese Möglichkeit in letzter Stunde noch nachzuholen suchten,
nicht durch einen Kreuzzug, sondern durch einen Ausfuhrkrieg, gehen die
russischen Ideologen noch einmal auf Dostojewski zurück, ohne freilich
in den eigenen Ideen über ihn hinauskommen zu können. Die politischen
Ideen Dostojewskis sind auch heute noch die geistige Plattform, auf der
Rußland steht. Nur in den Formulierungen und Postulaten sind die
ideologischen Epigonen der Dostojewskischen Dogmatik weicher und
nervöser, aber auch einseitiger und extremer – schon weil sie in dem
neurussischen Liberalismus denn doch einen anderen wirklicheren
gefährlicheren Gegner haben, als es das flaue und faule kosmopolitische
Westlertum war, gegen das Dostojewski sich wandte. Sie befinden sich
dabei in der Zwangslage, heute, mitten im Kriege, diesen Gegner, das
neue englische Westlertum, noch nicht bekämpfen zu können. Im Gegenteil,
sie suchen, wenn auch rein dialektisch, mit allen Zeichen der Ausflucht
und inneren Unvereinbarkeit, ihre geistigen Probleme mit den politischen
des Krieges in eine Übereinstimmung zu bringen. Sie sprechen davon, daß
das Bündnis mit den Nationen des Westens dem russischen Volkstum erst
seine wahre Ausdehnung sichere, mit der staatlichen und wirtschaftlichen
auch die künftige seelische, sprechen von einer wichtigsten Aufgabe der
Weltgeschichte, die der Weltkrieg lösen und die in einem Zusammenfließen
von Osten und Westen bestehen soll, über Deutschland hinweg. Aber die
Gegnerschaft gegen Liberalismus und Westlertum im eigenen Lande ist da
und lebt in der Sehnsucht der Seelen, die nicht Wirtschaft wollen,
sondern Glauben, nicht europäische Ordnung, sondern russisches Chaos und
russische Universalität. Die religiöse Revolution, deren Auslegung schon
Mereschkowski gab, will Wirklichkeit werden. Der jüngere Ssolowjoff
verkündet jetzt die religiöse Kultivierung der Welt und deren
Ausbreitung durch die russische Kirche. Rosanoff verherrlicht die
russische Trägheit und bringt sie in einen ewigen Gegensatz zu der
modernen futuristischen Betriebsamkeit, die er in Deutschland zu
verhaßter Gegenwart geworden sieht. Der alte politische Nihilismus kehrt
als Mönchtum wieder, als Wunsch und Wille zu einer reinen und erneuerten
Kirchlichkeit, hinter der sich, noch von ferne und undeutlich, der alte
Gedanke einer russischen Allerweltskirche erhebt und zu neuen
politischen panslawistischen und byzantinischen Schlußfolgen und
Forderungen überleitet. Aber auch für Rußland selbst taucht in einer
Verbindung alter demokratischer Neigungen des russischen Kirchentums mit
der Abneigung des Liberalismus gegen die absolute Zarengewalt ein
Gedanke auf, der nun freilich die Rückgängigmachung einer der
wichtigsten staatsrechtlichen Errungenschaften Peters des Großen
bedeuten würde: die Idee, wieder einen Patriarchen, jenes geistliche
Oberhaupt, das Peter der Große abschaffte, weil es das politische
Selbstherrschertum der Zaren hinderte, an die Spitze einer kirchlichen
Hierarchie zu setzen. Im Patriarchentum lag einst ein erster russischer
Sozialismus. Boris Godunoff hatte das Patriarchat und die
Leibeigenschaft eingeführt. Dann hatte Peter das Patriarchat beseitigt
und die Leibeigenschaft verschärft. Und später war es der noch absolute
Zarenwille Alexanders des Zweiten, der die liberale Aufhebung der
Leibeigenschaft verfügte. Nun kehrt die Entwicklung im Kreise von
mannigfachen Abwandlungen und Umwegen zu ihren Ausgängen zurück und
sucht Demokratisches und Autokratisches auf eine neue und doch
alte russische Weise zu vereinen. Es sind geistespolitische
Auseinandersetzungen, die bis zu einem Grade nur das innere russische
Schicksal angehen, über diesen Grad aber auch uns, die wir in
Deutschland die mitteleuropäische Grenzscheide, nicht nur von Westen und
Osten, sondern auch von Atavismus und Modernität bilden und die
Gegensätze von Konservatismus und Liberalismus, Überlieferung und
Entwicklung, Ewigkeit und Zeitlichkeit in das Gleichgewicht einer neuen
Wirklichkeit zu bringen haben. Wohin diese Auseinandersetzungen in
Rußland führen werden, kann niemand voraussehen: sicherlich zu schweren
seelischen Konflikten und Dilemmen, zu Problemen, deren schwerstes immer
darin bestehen wird, daß Rußland durch Deutschland von Byzanz abgedrängt
worden ist – bis Rußland dann eines Tages zu der Erkenntnis kommt, daß
der innere Grund dieser Abdrängung im Russentum selbst liegt, in der
russischen Geschichte, die Byzanz zu einer neuen europäisch-asiatischen
Form längst in Rußland verwirklicht hat.

Darüber mögen Jahrhunderte vergehen. Aber auch Städte und heilige
Stätten vergessen sich in der Erinnerung der Menschen. Schon heute hat
Byzanz diese neue Bedeutung für Rußland bekommen, daß aus dem
Machtproblem ein Wirtschaftsproblem geworden ist. Damit wird Rußland
sich abfinden müssen. Und darüber werden, wie die Nachfahren der
Kreuzritter längst Jerusalem, wie die Deutschen, die im Mittelalter das
Erbe von Westrom tatsächlich besaßen und verwalteten, heute längst Rom
vergessen haben, auch die Russen, die das Erbe von Ostrom antreten
wollten, schließlich Byzanz vergessen.

                                                Moeller van den Bruck.


                        Die religiöse Revolution

Dostojewski starb am 28. Januar 1881. Es scheint eine ewige Vorbedeutung
darin zu liegen, daß er gewissermaßen am Vorabend des 1. März 1881[1]
starb, gerade vor dem ersten Donnerschlage jenes furchtbaren Gewitters,
das jetzt bereits seit einem Vierteljahrhundert heraufzieht und sich
immer dunkler über uns zusammenballt, – und daß die erste
Gedächtnisfeier seines Todestages, am 28. Januar 1906, unter dem Getöse
des endlich ausgebrochenen Sturmes stattfinden mußte. Dostojewski trug
selbst den Anfang dieses Sturmes in sich, den Anfang der endlosen
Bewegung, obgleich er die Schutzwehr der endlosen Unbeweglichkeit sein
oder scheinen wollte: er war die Revolution, die scheinbar Reaktion war.

„Die zukünftige selbständige russische Idee ist bei uns noch nicht
geboren, doch die Erde ist unheimlich schwanger mit ihr, und schon
schickt sie sich an, sie unter furchtbaren Qualen zu gebären,“ schrieb
er kurz vor seinem Tode. Dostojewski aber war der erste Schrei dieser
Qualen.

„Ganz Rußland steht gewissermaßen an einem Endpunkte und schwankt über
dem Abgrund,“ schrieb er im Jahre 1878. Immer wieder suchte Dostojewski
sich von diesem Abgrunde abzuwenden, und krampfhaft klammerte er sich an
den glatten Rand des Verderbens, an die vermeintlich festen Felsen der
Vergangenheit – an Orthodoxie, Autokratie und Nationalität. Doch wenn er
gesehen hätte, was wir heute sehen, würde er dann begriffen haben, daß
Orthodoxie, Autokratie und Nationalität, so wie er sie verstand, nicht
drei Felsen sind, sondern drei Abgründe auf den unvermeidlichen Wegen
des heutigen Rußlands zum zukünftigen? Rußland ging dorthin, wohin
Dostojewski es rief, ging zu dem, was Dostojewski für die Wahrheit
hielt. Doch da haben wir nun die Früchte dieser Wahrheit! Rußland
„schwankt“ heute nicht mehr über dem Abgrund, heute stürzt es bereits in
ihn hinab. Die Autokratie stürzt zusammen. Die Orthodoxie ist gelähmter
denn je. Und die russische Nationalität steht heute nicht mehr vor der
Frage, ob sie einmal die erste in Europa werden kann, sondern ob sie
sich überhaupt noch zu erhalten vermag. Auf welche Seite würde sich nun
Dostojewski stellen: auf die der Revolution oder die der Reaktion? Oder
würde er sich wirklich auch jetzt nicht um seiner großen Wahrheit willen
von seinem großen Irrtume lossagen?

Dostojewski ist der Prophet der russischen Revolution. Doch, wie das
häufig mit Propheten geschieht, ihm selbst war der wahre Sinn seiner
Prophezeiungen verborgen. Ein unversöhnlicher Widerspruch klafft
zwischen der äußeren Schale und dem inneren Wesen Dostojewskis. Von
außen ist es die tote Schale zeitgebundenen Irrtums; von innen – der
lebendige Kern ewiger Wahrheit. Wir müssen die Schale zerschlagen, um
ihr den Kern entnehmen zu können. Als die russische Revolution vieles
von dem, was bis dahin unzerstörbar-fest erschien, zerschlug,
vernichtete sie auch den politischen Irrtum Dostojewskis.

Nicht wir werden ihn richten; das wird die Geschichte tun. Wir aber, die
wir ihn liebten, die wir mit ihm untergingen, um uns mit ihm zu retten,
werden ihn vor diesem furchtbaren Gerichte nicht verlassen: mit ihm
werden wir verurteilt oder mit ihm freigesprochen werden.

                   *       *       *       *       *

Einmal in der Kindheit, als er an einem klaren Frühherbsttage ganz
allein im Gestrüpp am Waldrande stand, hörte er plötzlich inmitten der
tiefen Stille den lauten Schrei: „Ein Wolf kommt!“ – und außer sich vor
Schreck lief er schreiend auf das Feld hinaus, geradenwegs zum
pflügenden Bauer Marei; um im vollen Lauf nicht zu fallen, ergriff er
hastig mit einer Hand die Pflugstange und mit der anderen den Ärmel des
Bauern. Der beruhigte ihn: „... Geh doch! wo denn? Was für ’n Wolf soll
denn – ... Ist dir ja nur so vorgekommen! ... Ich werde dich schon nicht
vom Wolf rauben lassen ... Christus ist mit dir!“ Und „fast mütterlich
lächelnd“ bekreuzte der Bauer „mit seinen erdigen Fingern“ den Knaben.

In dieser Erinnerung ist das ganze religiöse Leben Dostojewskis
enthalten. Der kleine Fedjä wuchs auf und wurde zu einem großen
Schriftsteller. Mit Fedjä wuchs auch der Bauer Marei zu einem großen
„Gotträger-Volk“. Doch die geheimnisvolle Verbindung zwischen ihnen
blieb. Seit der Zeit hörte Dostojewski oftmals den Schrei: Ein Wolf
kommt! Das Tier kommt! Der Antichrist kommt! – und jedesmal stürzte er
dann außer sich vor Schreck zum Bauer Marei, der ihn wieder beschützte
und „mit fast mütterlichem Lächeln“ beruhigte, der „ich werde dich schon
nicht von dem Wolf rauben lassen“ zu ihm sagte, ein „Christus ist mit
dir!“ zu ihm sprach und ihn bekreuzte. Das war die wahre Taufe
Dostojewskis – nicht in der Kirche, sondern auf freiem Felde, nicht mit
heiligem Wasser, sondern mit heiliger Erde.

Worin liegt nun eigentlich die Kraft des Bauern Marei, der vor dem
„Wolf“, dem Tier-Antichrist beschützen kann? In der heiligen Erde Gottes
liegt sie, in der feuchten Muttererde, die sich dort, wo der Horizont
sich hinzieht, mit dem heiligen Himmel Gottes vereinigt. In dieser
letzten zukünftigen, noch nicht vollzogenen, jedoch möglichen
Vereinigung des Bauerntums mit dem Christentum, der Wahrheit der Erde
mit der Wahrheit des Himmels, liegt die religiöse Kraft des Bauern
Marei. Er ist, gleich dem Recken Mikula Sseljäninowitsch in unseren
alten Sagen, der Held der dunklen Tiefen unserer Erde, und zu gleicher
Zeit der neue Sswjätogor, der Held der Berges- und Sternenhöhen. Er ist
der heilige Georg, der „Besieger des Drachens, des uralten Wurmes“. Er
ist – das russische „Gotträger-Volk“ selbst. Bauerntum ist Christentum,
oder vielleicht ist es auch umgekehrt: Christentum ist Bauerntum. Doch
nicht das alte, staatliche, byzantinische, griechisch-russische, wohl
aber das junge, freie, volkliche Bauernchristentum ist – die
„Rechtgläubigkeit“. Dies ist der Grundgedanke Dostojewskis. „Das
russische Volk ruht ganz in der Rechtgläubigkeit. Die ist alles, was es
hat. Doch mehr braucht es auch nicht, denn seine Rechtgläubigkeit ist –
alles. Wer die nicht versteht, der wird auch von unserem Volke nichts
verstehen; ja, der wird das russische Volk nicht einmal lieben können.“

In diesem Grundgedanken liegt zugleich der Grundirrtum Dostojewskis. Er
nimmt Zukünftiges für Gegenwärtiges, Mögliches für Wirkliches, sein
neues apokalyptisches Christentum für die alte historische Orthodoxie.

Das Bauerntum will Christentum werden, doch ist es das noch nicht
geworden. Die Wahrheit der Erde will sich mit der Wahrheit des Himmels
vereinigen, doch noch hat sie sich nicht mit ihr vereinigt: für das
historische Christentum, die Orthodoxie, hat sich diese Vereinigung als
unmöglich erwiesen. Und noch niemals ist das Bauerntum dem Christentum
so entgegengesetzt gewesen wie in der jetzigen Zeit. Als das Christentum
sich in den Himmel zurückzog, verließ es die Erde; und das Bauerntum,
das an der Erdenwahrheit verzweifelte, ist jetzt bereit, auch an der
Himmelswahrheit zu verzweifeln. Die Erde ist ohne Himmel, der Himmel ist
ohne Erde; Erde und Himmel drohen, in ein uferloses Chaos
ineinanderzufließen. Und wer kann wissen, wo der Boden dieses Chaos ist,
dieses klaffenden Abgrunds, der sich zwischen Erde und Himmel, zwischen
Bauerntum und Christentum aufgetan hat?

Aus diesem einen Grundirrtum ergeben sich auch alle übrigen Täuschungen
oder Selbsttäuschungen Dostojewskis. Derselbe Irrtum, der in seiner
Auffassung des russischen volkstümlichen Christentums liegt, liegt auch
in seiner Auffassung der Beziehung dieses Christentums zur allgemeinen
Aufklärung: er verwechselt das Zukünftige mit dem Gegenwärtigen, das
Mögliche mit dem bereits Vorhandenen, das Apokalyptische mit dem
Historischen. Worin besteht nun die Besonderheit der Orthodoxie oder,
wie Dostojewski sagt, des „russischen Christus“?

Er gibt mehrere Definitionen der Rechtgläubigkeit, doch keine befriedigt
ihn vollkommen.

„In der ganzen Welt gibt es keinen anderen Namen, denn seinen – den
Namen Christi –, der uns erlösen kann,“ das wäre, wie er meint, die
„Hauptidee der Rechtgläubigkeit“. Nur ist das eine viel zu allgemeine
Definition: sie umfaßt nicht nur das orthodoxe, sondern auch das
katholische und protestantische sowie überhaupt jedes christliche
Glaubensbekenntnis; denn sie alle erkennen, ganz wie die Orthodoxie, den
Namen Christi als den einzigen erlösenden an.

Schließlich aber fand er eine für seine persönliche Religion allerdings
tiefere und genauere, für die Orthodoxie aber durchaus falsche
Definition. Die östliche Orthodoxie sei, wie er meint, die universale
_geistige_ Vereinigung der Menschen in Christo; das westliche,
römisch-katholische, päpstliche Christentum aber sei dem östlichen
gerade entgegengesetzt. Er sagt: „Das römische Papsttum verkündete, daß
das Christentum und seine Idee ohne die universale Beherrschung der
Länder und Völker – _nicht geistig, sondern staatlich_ – auf Erden nicht
zu verwirklichen sei. Auf diese Weise ist das östliche Ideal: zuerst die
geistige Vereinigung der Menschheit in Christo anstreben, und dann erst,
kraft dieser geistigen Vereinigung aller in Christo, die zweifellos sich
aus ihr ergebende rechte staatliche wie soziale Vereinigung zu
verwirklichen. Nach der römischen Auffassung ist das Ideal dagegen das
Umgekehrte: zuerst sich eine dauerhafte staatliche Vereinigung in der
Form einer universalen Monarchie zu sichern und dann, nachher,
meinetwegen auch eine geistige Vereinigung zustande zu bringen unter der
Obrigkeit des Papstes, des Herrn dieser Welt.“

Hierbei fällt einem infolge des zweideutigen Gebrauchs des Wortes
„Staat“ oder „staatlich“ eine gewisse Unklarheit auf. Zuerst ist der
„Staat“ als Reich Gottes, als _Theokratie_ aufgefaßt, d. h. als durchaus
freies, nur auf Liebe begründetes Gemeinwesen, das jede äußere
vergewaltigende Macht verneint und folglich allen bis jetzt in der
Geschichte bekannten Staatsformen vollkommen unähnlich ist; im zweiten
Fall aber versteht Dostojewski darunter eine äußere, vergewaltigende
Macht, eine Herrschaft von dieser Welt, das Reich des Teufels – die
_Dämonokratie_. Hätte nun Dostojewski diese Zweideutigkeit nicht
zugelassen und die Entgegenstellung der brüderlichen, freien Vereinigung
gedanklich zu Ende geführt, so hätte sich auch für ihn ein völlig
unerwarteter, doch ganz unvermeidlicher Folgeschluß ergeben, und zwar:
die vollständige Verneinung jeder äußeren staatlichen Macht, jedes
Reiches, jeder Herrschaft auf Erden im Namen des Königs aller Könige,
des Herrschers aller Herrscher: die volle _Anarchie_, – natürlich nicht
die Anarchie im alten oberflächlichen, sozialpolitischen, sondern im
neuen, viel tieferen, religiösen Sinne, eine universale Monarchie als
Weg zur universalen Theokratie, die Herrschaftslosigkeit als Weg zur
Gottherrschaft.

Es ist aber kaum anzunehmen, daß Dostojewski sich entschlossen haben
würde, zu behaupten, die theokratische Anarchie sei das Ideal des
östlichen und speziell des russischen Christentums, der
Rechtgläubigkeit. Was aber nicht im religiösen Ideal ist, das ist
natürlich auch nicht in der religiösen Wirklichkeit und kann es ja auch
gar nicht sein: unbedingter Gehorsam allen weltlichen Machthabern,
völliger Verzicht auf brüderliche und freie Gemeinsamkeit, vollständige
Unterjochung der Kirche durch den Staat – das ist die historische
Wirklichkeit der Orthodoxie. Im Westen kam es zum Kampf der geistlichen
Macht mit der weltlichen, des neuen christlichen Ideals einer
universalen Theokratie mit dem altrömischen, heidnischen Ideal einer
universalen Monarchie; das römische Kirchenoberhaupt mußte sein
anfängliches christliches Ideal verraten, um sich in einen römischen
Cäsar verwandeln zu können. Im Osten ging die Verzichtleistung auf die
christliche Freiheit im öffentlichen Leben, d. h. ging der Sieg des
heidnischen Staates über die christliche Kirche ohne jeden Kampf vor
sich und ohne jeden Verrat; denn es gab nichts, wogegen man hätte
kämpfen müssen, bzw. was man hätte verraten können – aus Mangel an einer
Idee einer allgemeinen Heiligkeit im Ideale der Rechtgläubigkeit selbst.
Die historische Wirklichkeit ist dem historischen Schema Dostojewskis
vollkommen entgegengesetzt: die Idee der universalen geistigen
Vereinigung der Menschheit in Christo hat nur in der westlichen Hälfte
des Christentums, im Katholizismus, existiert – wenn auch ihre
Realisierungsversuche schließlich erfolglos geblieben sind, während die
östliche Orthodoxie von dieser Idee sich nicht einmal hat träumen
lassen. Hier im Osten ist der römische Cäsar, der Selbstherrscher im
heidnischen Sinne, der „Erdengott“, der „Mensch-Gott“, auch im
Christentum das geblieben, was er vor dem Christentum war. Und keine
Vergewaltigung, keine Religionsspötterei, keine Willkür der
autokratischen Macht hat es hier gegeben, die die orthodoxe Kirche nicht
gesegnet hätte. Die letzte Grenze dieser Macht ist in der natürlichen
Fortsetzung und Vollendung des Oströmischen Reiches, in der russischen
Autokratie erreicht. Und wenn die staatliche Macht der Päpste
Dostojewski eine Lossagung von Christus erscheint, so müßte ihm die
russische Autokratie als der gerade und breite Weg zur Herrschaft des
Antichrist erscheinen. Die Autokratie aber dem Papsttum als geistige
christliche Freiheit der staatlichen heidnischen Vergewaltigung, als
Theokratie der Demokratie gegenüberstellen, heißt das Schwarze weiß
machen und das Weiße schwarz.

Schließlich begriff Dostojewski aber doch, daß man, wenn man auf dem
Boden der Rechtgläubigkeit blieb, im „russischen Christ“ keine
universale Bedeutung finden konnte. Da verließ er denn die Kirche und
wandte sich der russischen Aufklärung, ihren zwei größten
Repräsentanten, zu – Peter und Puschkin.

In den Reformen Peters findet Dostojewski „eine hervorragend
synthetische Begabung, die Fähigkeit zur Allversöhnung, zur
Allmenschheit“. „Der Russe kennt keine europäische Begrenztheit. Er lebt
sich mit allem ein und lebt sich in alles ein. Allem Menschlichen, wenn
es auch außerhalb seiner Nationalität, seines Blutes und Bodens steht,
kann er nachfühlen. Sein Instinkt errät sofort den allmenschlichen Zug
selbst in den schroffsten Sonderheiten anderer Völker: sofort
vergleicht, versöhnt er sie in seiner Idee, und nicht selten findet er
einen Einigungs- und Versöhnungspunkt in vollkommen entgegengesetzten
feindlichen Ideen zweier ganz verschiedener europäischer Nationen.“

„... Dort, in Europa, lebt jede nationale Persönlichkeit einzig für sich
und in sich; wir aber werden, wenn unsere Zeit anbricht, gerade damit
beginnen, daß wir die Diener aller werden, um der allgemeinen Versöhnung
willen. Und darin besteht unsere Größe, denn all das führt zur
endgültigen Vereinigung der Menschheit. Wer der Erste im Reiche Gottes
sein will – der werde der Diener aller. So verstehe ich die russische
Bestimmung in ihrem Ideal.“

Dieselbe russische Besonderheit sieht Dostojewski auch in Puschkin: „Wir
begriffen in ihm, daß das russische Ideal – Ganzheit, Allheit,
Allversöhnung, Allmenschheit ist.“

Peter gab die staatliche, Puschkin die ästhetische Form der russischen
„Allmenschheit“; Dostojewski war es vorbehalten, den religiösen Inhalt
in diese Form zu gießen. Die Allmenschheit, als Übergang zur
Gottmenschheit, die Vereinigung der Welt Christi mit der universalen
Aufklärung ist nur möglich, wenn in der letzteren die Grundlage der Welt
Christi enthalten ist: in der Allmenschheit – Gottmenschheit, die in
ihrer ganzen Größe zu offenbaren eben der christlichen Erkenntnis
bevorsteht. Doch braucht dabei das geringe Vorhandensein oder der
völlige Mangel dieser christlichen Erkenntnis in der heutigen
europäischen Kultur – in der Wissenschaft, Philosophie, Kunst, im
öffentlichen Leben überhaupt – nicht zu beunruhigen: der
Hauptunterschied der Allmenschheit, als Übergang und Mittel, von der
Gottmenschheit, als Ziel, besteht ja gerade darin, daß in der ersten, in
der Allmenschheit, das Menschliche mit dem Göttlichen noch nicht durch
die religiöse Erkenntnis verbunden ist, während im zweiten, in der
Gottmenschheit, die Vereinigung sich schon endgültig vollzogen hat.
Dostojewski stand nun vor der Aufgabe, das Unvereinbare zu vereinigen,
zu zeigen, daß die europäische Kultur außerhalb Christi und scheinbar
sogar gegen Christus, dennoch zu Christus geht, vom gekommenen Christ
zum kommenden Christ, und daß folglich die Wege Rußlands und Europas,
trotz aller scheinbaren zeitweiligen Abweichungen, ein und derselbe
ewige Weg sind.

                   *       *       *       *       *

In der politischen Tat fand Dostojewski, was er in der religiösen
Anschauung nicht finden konnte, – die Definition der Rechtgläubigkeit.

Es könnte noch die Frage sein, ob Dostojewski selbst die Anschauungen
seines Helden in den „Dämonen“ teilt, wenn er sie nicht in dem „Tagebuch
eines Schriftstellers“ wiederholte: „Jedes große Volk glaubt und muß
glauben, daß in ihm und nur in ihm allein die Rettung der Welt liegt,
daß es bloß lebt, um an die Spitze aller Völker zu treten und sie zu dem
letzten Ziele, das ihnen allen vorbestimmt ist, zu führen ... Der große
Eigendünkel, der Glaube, daß man das letzte Wort der Welt sagen will und
kann, ist das Unterpfand des höchsten Lebens einer Nation.“

So ist denn die Rechtgläubigkeit, ist das wahre Christentum nach
Dostojewskis Meinung der „große Eigendünkel“ des russischen Volkes, der
Glaube an sich selbst, wie an Gott; denn er sagt doch, daß der russische
Gott, oder der „russische Christus“, nichts anderes sei als die
„synthetische Persönlichkeit“ des russischen Volkes. Folglich kann man
an die Stelle der früheren Formel: „das russische Volk ruht ganz in der
Rechtgläubigkeit“, die umgekehrte Formel setzen: „die ganze
Rechtgläubigkeit ruht im russischen Volke“. Nur dann, wenn Rußland mit
seinem Gott, mit seinem Christ „alle anderen Götter und Christusse
besiegt und aus der Welt vertrieben haben wird“, kann oder wird der
„russische Christus“ zum Christus der ganzen Welt werden. Wenn aber Gott
nur die „synthetische Persönlichkeit des Volkes“ ist, so ist nicht das
Volk der Leib Gottes, sondern Gott der Leib, die Fleischwerdung der
Volksseele; dann erhält nicht das Volk sein Dasein von Gott, sondern
erhält Gott sein Dasein vom Volk. Dann hat nicht Gott das Volk
geschaffen, sondern das Volk und überhaupt die Menschheit, d. h. der
Mensch, hat Gott geschaffen, nach seinem, des Menschen, Ebenbilde. Das
Volk ist absolut; Gott ist relativ. Folglich sind alle Religionen – nur
Mythologien, nur scheingöttliche Ebenbilder der menschlichen Wahrheit.
Also hat der Atheist Feuerbach recht, wenn er behauptet, daß der Mensch
in Gott sich selbst so lange verehrt, bis er erkennt, daß er, der
Mensch, selbst Gott ist und es einen anderen Gott außer ihm überhaupt
nicht gibt.

Das schrecklichste ist ja, daß, wer an den „russischen Christus“, an den
„russischen Gott“, glaubt, nicht an das wahre Gotteswort, an den
universalen Christ glauben kann. Die vermeintliche Gottmenschheit, oder
„Volkgottheit“, ist, ebenso wie die wahre Menschgottheit, der sichere
Weg zur Gottlosigkeit. Die religiöse Tragödie Dostojewskis besteht
darin, daß er, dessen wahre Religion nicht die Orthodoxie war, glaubte,
ein Nicht-rechtgläubiger könne auch nicht Russe sein, aber aus Furcht
vor dem ewigen Schrei: „ein Wolf kommt!“ den Bauer Marei nicht auf einen
Augenblick zu verlassen wagte. Der kleine Fedjä täuschte sich: dieser
ewige Schrei ertönte nicht neben ihm, sondern in ihm; es war der erste
Schrei des letzten Entsetzens: „das Tier kommt, der Antichrist kommt!“
Vor diesem Entsetzen konnte ihn der Bauer Marei (das russische Volk)
nicht retten; denn nachdem er der „russische Christ“ geworden ist, der
Doppelgänger Christi, hat er sich in ein Tier verwandelt, in den
Antichrist, denn der Antichrist ist der Doppelgänger Christi.

                   *       *       *       *       *

In der Autokratie vollendete sich für Dostojewski das, was bei ihm in
der Orthodoxie begonnen hatte: die Verwechslung der Menschgottheit mit
der Gottmenschheit.

Der Zar sei unserem Volk der Vater und das Volk verhalte sich wie ein
Kind zu ihm. „Hierin liegt eine überaus tiefe, ursprüngliche Idee ...
Der Zar ist für das Volk nicht eine äußere Kraft, nicht die Macht
irgendeines Besiegers, sondern ist eine allvolkliche, allvereinende
Kraft, die das Volk selbst begehrt, die es in seinem Herzen großgezogen,
für die es gezittert hat; denn nur von ihr allein erwartete es seinen
Auszug aus Ägypten. Für das Volk ist der Zar die eigene Fleischwerdung,
die Inkarnation seiner Idee, seiner Hoffnungen und seines Glaubens. Das
Verhältnis des russischen Volkes zu seinem Zaren ist der ureigenste Zug,
der unser Volk von allen anderen Völkern Europas und der ganzen Welt
unterscheidet ... Diese Idee enthält eine so große Kraft, daß sie
natürlich unsere ganze weitere geschichtliche Entwicklung beeinflussen
wird ... Ja, genau genommen haben wir in Rußland überhaupt keine andere
Kraft, die uns erhält und leitet, als diese organische lebendige
Verbindung des Volkes mit seinem Zaren, und aus ihr allein entsteht bei
uns alles.“

Wie soll man nun die Behauptung Dostojewskis: „das russische Volk ruht
ganz in der Rechtgläubigkeit, außer ihr hat es nichts und braucht es
auch nichts, denn die Rechtgläubigkeit ist alles“, mit dieser neuen
Behauptung: „das russische Volk ruht ganz in der Autokratie, die ist
alles, was es hat, doch mehr braucht es auch nicht, denn die Autokratie
ist alles“, vereinigen? Entweder heben sich diese Behauptungen
gegenseitig auf, oder sie verbinden sich zu einer dritten: Autokratie
und Rechtgläubigkeit sind in ihrem letzten Wesen ein und dasselbe. Die
Autokratie ist der Leib und die Rechtgläubigkeit ist die Seele. Die
Autokratie ist ebenso eine absolute, ewige, göttliche Wahrheit, wie die
Rechtgläubigkeit. Und ebendies ist jenes „neue Wort“, das das russische
„Gottträger-Volk“ der Welt zu sagen berufen ist.

Die Autokratie wie die Orthodoxie hat Rußland von Byzanz geerbt, vom
zweiten christlichen Rom, das sie seinerseits vom ersten, dem
heidnischen Rom, geerbt hatte. Auch im Heidentum war die Idee der
Autokratie in ihrer letzten Tiefe keine bloß politische, sondern
zugleich eine religiöse Idee. Die unumschränkte Macht des römischen
Kaisers über das Imperium, die Macht eines Menschen über die ganze
Menschheit, schien eine göttliche Macht, und der Mensch, der diese Macht
besaß, schien kein Mensch sondern ein Gott zu sein, ein Erdengott, der
dem Himmelsgott gleichkam. So ergab sich die Apotheose des römischen
Kaisers: Divus Cäsar, göttlicher Cäsar, Cäsar-Gott, Mensch-Gott. Doch
unter der Maske des Gottes verbarg sich das Gesicht des Tier-Nero, des
Tiberius, des Caligula. Und in dem Augenblick, als auf dem strahlenden
Gipfel des Imperiums in den Prunkgemächern der römischen Cäsaren der
Mensch zum Gott wurde, da geschah es, daß zu Bethlehem in einer dunklen
unterirdischen Höhle bei Hirten Gott zum Menschen ward – da ward
Christus geboren. Nach Dostojewskis Worten geschah „der Zusammenstoß
zweier denkbar entgegengesetzter Ideen, der entgegengesetztesten, die es
überhaupt auf der Erde geben konnte: der Menschgott stieß auf den
Gottmenschen, Apollo auf – Christus.“

Wodurch wurde dieser Zusammenstoß entschieden? Wer siegte? – Niemand.
„Es ergab sich ein Kompromiß,“ antwortet Dostojewski. Ein „Kompromiß“,
d. h. ein ungeheuerlicher Vertrag zwischen dem Gottmenschen und dem
Tier-Gott. Solange die Autokratie noch heidnisch blieb, starben die
christlichen Märtyrer lieber, als daß sie das Tier in der Person des
Kaisers anbeteten. Als jedoch die Autokratie das „Christentum“ annahm,
natürlich nur dem Namen nach, denn seinem Wesen nach kann die Herrschaft
des Tieres nicht die Herrschaft Christi sein, da nahm die Kirche
ihrerseits wiederum die Autokratie an, beugte sich vor dem römischen
Cäsar und segnete das Tier mit dem Namen Christi. Dostojewski behauptet,
dieses sei nur im Westen, im Katholizismus, geschehen, keineswegs aber
im Osten, in der Orthodoxie. Doch diese Behauptung ist ein Irrtum oder
ein Selbstbetrug Dostojewskis. Im Westen wie im Osten geschah ein und
dasselbe, wenn auch in zwei entgegengesetzten Richtungen: im Westen
verwandelte sich die Kirche in einen Staat, der Papst, der christliche
Erzpriester, wurde zum römischen Cäsar; im Osten verwandelte sich der
Staat in eine Kirche, die er verschlang, der russische Kaiser wurde zum
christlichen Erzpriester, wurde das Kirchenoberhaupt, „der oberste
Richter der Kirchenangelegenheiten“, nach den Worten Peters des Großen
in dem Reglement des Heiligen Synod. Doch hier wie dort geschah die
gleiche Verwechslung dessen, was des Kaisers ist, mit dem, was Gottes
ist, nur mit dem Unterschiede, daß im Westen durch den – wenn auch
mißlungenen – Versuch einer Theokratie, durch den Kampf der geistlichen
Macht mit der weltlichen, der Päpste mit den Kaisern, die religiöse Idee
des römischen Imperiums geschwächt wurde; während im Osten diese Idee,
da sie auf keine Hindernisse stieß, sich entwickelte, auswuchs und
schließlich ihre letzte universal-historische Vollendung in dem dritten
Rom, in der russischen „orthodoxen Autokratie“ erreichte. Die alte
heidnische Maske der Menschgottheit wurde durch die neue christliche
Maske der Gottmenschheit ersetzt; doch das wahre Gesicht blieb dasselbe
– die Fratze des Tieres. Und nirgendwo in der Welt ist die Herrschaft
des Tieres so grausam, so gottlos und glaubenslästerlich gewesen wie
gerade hier, in der russischen Autokratie.

Die rechtgläubige Kirche weiß selbst nicht, was sie tut, wenn sie die
Nachfolger des römischen Tieres „Christen“, d. h. die „Gottgesalbten“,
nennt. Sollte sie es aber einmal erfahren und sich dann doch nicht von
der Autokratie lossagen, so könnte sie von sich dasselbe sagen, was der
Großinquisitor Dostojewskis zu Christus von der römischen Kirche sagt.

„Wir sind nicht mit dir, sondern mit _ihm_ (mit dem Teufel), das ist
unser Geheimnis! ... Wir nahmen von ihm das, was du unwillig
verschmähtest, jenes Letzte, das er dir anbot, als er dir alle
Erdenreiche zeigte: wir nahmen von ihm Rom und das Schwert des Kaisers.“

Womit sonst, wenn nicht mit dem Schwert des Kaisers, muß nun die
orthodoxe Autokratie Konstantinopel erobern und das letzte dritte Rom
gründen – „die Erde mit Blut überschwemmend“? Daß in der auswärtigen
Politik das Angesicht der Autokratie das Gesicht des Tieres ist, daran
zweifelte, wie’s scheint, selbst Dostojewski nicht. Nur glaubte er
gleichzeitig, daß das Gesicht des Tieres in der inneren Politik, also
das zu Rußland gewandte, das Angesicht Gottes werden würde. Er
versichert, daß bei uns die allergrößte bürgerliche Freiheit sich
ausbilden könne, und zwar „gerade auf diesem selben unerschütterlichen
Boden (auf der Autokratie) wird sie sich aufbauen. Nicht durch ein
geschriebenes Gesetz wird sie sich bilden, sondern einzig auf Grund der
kindlichen Liebe des Volkes zum Zaren, als zu seinem Vater; denn Kindern
kann man vieles erlauben, was bei anderen Völkern, die nach Gesetzen
leben, undenkbar ist; Kindern kann man so viel anvertrauen, wie es noch
in keinem Staate erlebt worden ist, denn die Kinder werden ihren Vater
nicht verraten.“ „Ja, zu unserem Volke kann man Zutrauen haben, denn es
ist dessen würdig.“

Übrigens hat Dostojewski, wie es scheint, selbst gefühlt, daß etwas in
diesen Gedanken über das Zutrauen des Zaren zum Volke nicht stimmte,
etwas, das nicht so sehr jenem „unerschütterlichen Boden“ gleicht als
jenem Abgrund, über dem der „Eherne Reiter“[2] mit seinem Zügelruck
Rußland zum Aufbäumen gebracht hat.

„Ich bin der Diener des Zaren. Ich werde noch mehr sein Diener sein,
wenn er wirklich glauben wollte, daß das Volk sich zu ihm wie ein Kind
verhält. Woran mag es nur liegen, daß er, wie es doch scheint, noch
immer nicht daran glaubt?“ schrieb er wenige Tage vor seinem Tode.

Warum glaubte er denn nicht daran, und wird er vielleicht niemals daran
glauben? – das ist die Frage, die Dostojewski hätte beantworten müssen.
Aber er kam nicht dazu, – er starb. Und kaum war er gestorben, da rollte
auch schon der erste Donnerschlag der großen russischen Revolution durch
die Welt. Ein Vierteljahrhundert zog das Gewitter herauf, doch erst
jetzt, zur fünfundzwanzigjährigen Gedächtnisfeier Dostojewskis, beginnt
es, sich zu entladen.

                   *       *       *       *       *

Alle Irrtümer Dostojewskis ergeben sich daraus, daß er die
Widerstandskraft, die der Staat der Kirche entgegensetzt, überhaupt
nicht beachtet. Diese Widerstandskraft kommt der ganzen Lebenskraft des
Staates gleich: das Leben der Kirche – ist der Tod des Staates, das
Leben des Staates – ist der Tod der Kirche.

„Glaubt mir, wir haben nicht nur einen absoluten Staat überhaupt noch
nicht gesehen, sondern nicht einmal einen mehr oder weniger vollendeten.
Alle blieben sie Embryos!“ Diese rätselhaften Worte, die Dostojewski
kurz vor seinem Tode niederschrieb, weisen auf einen tiefen und
verborgenen Gedankengang hin. Wenn es den einzelnen „Embryos“ bestimmt
ist, sich zu einem einzigen zukünftigen „vollendeten und absoluten“
Staat zu entwickeln: ist dieser Staat dann nicht vielleicht das in der
Apokalypse geweissagte „Große Babylon, die Mutter aller irdischen
Greuel“ – jene universale Monarchie, die Pseudotheokratie, die
Herrschaft als Kirche, mit der sogar Dostojewski zuweilen die wahre
Theokratie, die Kirche als Herrschaft, verwechselt?

Dann aber, wenn dieser „absolute Staat“ historische Wirklichkeit wird,
dann wird sich auch die „absolute Kirche“ verwirklichen, das absolute,
religiöse Gemeinwesen, die geliebte Stadt. Und zwischen diesen zwei
Herrschaften wird, wiederum hier auf Erden, zu Ende der universalen
Geschichte, doch bis zum Ende der Welt, der letzte Kampf vor sich gehen.

„Der Antichrist wird kommen und sich auf die Anarchie stützen,“ sagt
Dostojewski gleichfalls kurz vor seinem Tode. Das ist nicht ganz
richtig. Der Antichrist wird kommen, wird aus der Anarchie hervorgehen,
doch sich nicht auf die Anarchie, sondern auf die Monarchie stützen,
nicht auf die Herrscherlosigkeit, sondern auf die Einherrschaft, die
Selbstherrschaft. Der Antichrist wird der letzte und größte
Selbstherrscher sein, der Namensusurpator Christi. Und in diesem Sinne
sind alle historischen Selbstherrschaften, alle historischen Staaten nur
kleine „Embryos“ des apokalyptischen Staates, der Selbstherrschaft des
Antichrists.

Der Antichrist ist Usurpator, Pseudozar, denn der einzige wahre Zar ist
– Christus. Im letzten Kampf des Staates mit der Kirche wird dann jener
Kampf des Pseudozaren mit dem wahrhaften Zaren vor sich gehen, des
Tieres mit dem Lamm, von dem gesagt ist: „Sie (die Selbstherrscher, die
Diener des Antichrists) werden ihre Kraft und Macht dem Tiere geben. Sie
werden Kampf führen mit dem Lamm, und das Lamm wird sie besiegen, denn
Er ist der Herr der Herrschenden und der König der Könige.“

Entweder ist das theokratische Bewußtsein noch nicht geboren, und dann
ist das „Also geschehe es!“ des Mönches Sossima und Dostojewskis
vergeblich; denn es wird nur das sein, was gewesen ist – endlose
Verwechslung der Kirche mit dem Staate. Oder dieses Bewußtsein ist schon
geboren, und dann beginnt in ihm der letzte Kampf des Lammes mit dem
Tier. Und die Spitze des Schwertes Christi, das zu diesem Kampfe erhoben
ist, ist das erste prophetische Wort der großen russischen religiösen
Revolution, das Wort, das nicht umsonst gerade von uns, den Schülern
Dostojewskis, ausgeht: Selbstherrschaft ist vom Antichrist.

Wie konnte Dostojewski dieses Wort nicht aussprechen, wie konnte er
seine größte Wahrheit unter dem größten Irrtum verbergen, seine
religiöse Revolution unter politischer Reaktion, das Antlitz des
heiligen Eiferers, des alten Sossima, unter der Maske des verfluchten
Vergewaltigers, des Großinquisitors? Wie konnte er die Selbstherrschaft,
die Herrschaft des Teufels, für die Herrschaft Gottes halten?

„Der Staat verwandelt sich in Kirche“ – und „das ist die große
Bestimmung der Rechtgläubigkeit“, so führt der Bruder Païssij die
apokalyptische Verheißung – „Also geschehe es!“ – seines Lehrers zu
historischer Realität.

Dies ist der große Irrtum Dostojewskis, die Quelle der unüberwindlichen
Furcht, die ihn veranlaßte, sein neues Gesicht unter alter Maske zu
verbergen, seinen neuen Wein in alte Schläuche zu gießen. Er glaubte
oder wollte glauben, seine Religion sei Orthodoxie. Doch seine wahre
Religion war, wenn auch noch nicht im Bewußtsein, so doch in den
tiefsten unbewußten Erlebnissen, keineswegs Orthodoxie, und auch nicht
das historische Christentum, ja, war nicht einmal Christentum überhaupt,
sondern das, was nach dem Christentum sein wird, nach dem Neuen
Testament – war Apokalypse, das nahende Dritte Testament, die
Offenbarung der dritten Person der Dreieinigkeit Gottes, war die
Religion des Heiligen Geistes.

Das Christentum ist die Offenbarung der einzigen gottmenschlichen
Persönlichkeit; dies ist der Grund, warum die wahrhafte christliche
Heiligkeit eine vorzugsweise persönliche, innerliche, einsame, nicht
gemeinsame Heiligkeit ist; und dies ist auch der Grund, warum alle
Versuche, die Gemeinsamkeit in das Christentum einzuschließen, so
fruchtlos geblieben sind, denn die Gemeinsamkeit ist die Basis der
Vielheit und ihrem Wesen nach, wenn auch nicht ein Widerspruch, so doch
das Entgegengesetzte der Grundlage der Einheit, der Grundlage der
Persönlichkeit. Nicht in das Christentum, sondern nur in die Religion
der Dreieinigkeit, aller drei – der göttlichen Vielheit, die sich in der
göttlichen Einheit offenbart – schließt sich auch die menschliche
Vielheit, die Gesamtheit der Persönlichkeiten ein: die heilige
Gemeinsamkeit. Nur in die Religion der heiligen Erde schließt sich
natürlicherweise auch die universale Vereinigung und Einrichtung der
Menschen auf Erden ein – in die Kirche als Staat. Im Christentum ist die
Kirche ein himmlisches Reich – ein erdenloses, geistiges, körperloses.
In der Religion des Heiligen Geistes ist die Kirche das
himmlisch-irdische, geistig-körperhafte Reich, nicht nur unsichtbar
mystisch, sondern auch sichtbar, historisch-real. Das ist – die
Erfüllung des Dritten Testaments, die Inkarnation der Dritten Person,
der Dreieinigkeit Gottes. Denn ganz wie die Erste Person der
Dreieinigkeit, Gott-Vater, sich in der Naturwelt inkarniert, in der
vormenschlichen, – im Kosmos, und die Zweite, die des Sohnes – im
Gottmenschen, so wird sich die Dritte Person der Dreieinigkeit, der
Heilige Geist, – in der Gottmenschheit, in der Theokratie inkarnieren.

Das ist es, was für uns jene Prophezeiung Dostojewskis bedeutet: „Die
Kirche ist in Wahrheit das Reich, und ihr ist bestimmt, zu herrschen,
und zum Schluß wird sie kommen müssen als Reich der ganzen Erde.“

Dies ist das Antlitz und derart war seine Maske; das Antlitz ist der
Maske entgegengesetzt. Die Maske ist: Orthodoxie, Autokratie,
Nationalität; das Antlitz ist: Überwindung der Nationalität in der
Allmenschlichkeit, Überwindung der Autokratie in der Theokratie,
Überwindung der Orthodoxie in der Religion des Heiligen Geistes.

Zuweilen scheint es, daß derselbe Widerspruch zwischen Gesicht und
Maske, wie bei Dostojewski, auch in ganz Rußland existiert, und daß die
russische Revolution nichts anderes ist als das Abreißen der Maske vom
Gesicht. Von diesem unaufgedeckten Gesichte, von dieser ungeborenen Idee
spricht Dostojewski, wenn er sagt:

„Die zukünftige selbständige russische Idee ist bei uns noch nicht
geboren, doch die Erde ist unheimlich schwanger mit ihr, und schon
schickt sie sich an, sie unter furchtbaren Qualen zu gebären.“

                                                 Dmitri Mereschkowski.



                                Vorwort


Dostojewski hat bereits sehr früh Politisches geschrieben. Schon das
Jahr 1861, das zweite nach seiner Rückkehr aus Sibirien, findet ihn in
publizistischer Tätigkeit: er gab damals zusammen mit seinem Bruder
Michail „Die Zeit“ heraus; und als diese von der Zensur infolge eines
Mißverständnisses unterdrückt wurde, „Die Epoche“. Doch politisch
bedeutend sind seine Leistungen erst später geworden. Und seine letzten
kritischen Schriften schließen sein Lebenswerk wie ein intellektueller
Rechenschaftsbericht ab.

Für eine deutsche Ausgabe seiner politischen Schriften kamen daher nur
diese letzteren in Frage: 1. „Tagebuch eines Schriftstellers aus dem
Jahre 1873“; 2. „Politische Artikel: Ausländische Begebenheiten aus den
Jahren 1873 und 1874“; 3. „Tagebuch eines Schriftstellers aus dem Jahre
1876“; 4. „Tagebuch eines Schriftstellers aus dem Jahre 1877“ (mit einem
Schlußteil vom Januar 1881, den er kurz vor seinem Tode, am 28. Januar
1881, geschrieben). Auch zwischen ihnen mußte noch geschieden werden.
Die weit über tausendseitige Masse dieser Tagebücher, die Dostojewski in
der zweiten Hälfte seines Lebens zusammengetragen hat, einfach
abzudrucken, ging nicht an. Dostojewski hat nie nach einem bestimmten
Plane kritisch gearbeitet; er hat immer nur an sehr aktuellen
Ereignissen seine Ideen entwickelt; tagebuchartig trug er seinen Lesern
seine Meinungen vor; als der bedeutende russische Mensch, der er war,
nahm er Stellung zu den Tagesfragen, wie sie gerade auftauchten. Diese
unsystematische, rein menschliche Art seiner kritischen Tätigkeit
brachte von selbst mit sich, daß er sich, sobald er auf verwandte Fragen
stieß, oft wiederholen mußte. Diejenigen Stücke, die solche
Wiederholungen brachten, galt es daher auszusondern und im übrigen alle
diejenigen zusammenzustellen, in denen Dostojewski selbst seine Ideen am
reinsten herausgearbeitet hat.

Vor allem war eine Teilung in „Politische Schriften“ und „Literarische
Schriften“ notwendig, wobei der Begriff „Literarischer Schriften“ im
weitesten Sinne des Wortes genommen ist. Die Teilung war nicht ganz
einfach, da Dostojewski, eben infolge seiner Abhängigkeit vom zufälligen
Stoff, nicht nur ständig vom Literarischen aufs Politische und vom
Politischen wieder aufs Literarische überspringt, sondern zwischendurch
auch noch alle möglichen religiösen oder ethischen oder
volkspsychologischen Fragen behandelt, bei denen es durchaus zweifelhaft
sein kann, welcher von den beiden großen Gruppen die betreffenden Stücke
angehören; finden sich doch sogar Novellen, die letzten, die er
geschrieben hat, in die Tagebücher aufgenommen. Doch ließ sich die
angegebene Teilung schließlich durchführen; nur einzelnes, so vor allem
die Novellen, wurde anderen Bänden der Ausgabe zugewiesen. Immerhin
schließt die Teilung, so wie sie geschehen ist, nicht aus, daß der
Kenner des russischen Originals in den „Politischen Schriften“
vielleicht das eine oder andere vermissen wird, was er dann in den
„Literarischen Schriften“ findet. Eine eindeutige Scheidung vorzunehmen,
erlaubte das vorhandene Material nicht; und das einzige, was erreicht
werden konnte, war eine gewisse Geschlossenheit in der Gesamtwirkung
jedes einzelnen Bandes.

Für den Band „Politische Schriften“ wurden herangezogen: 1. „Politische
Artikel: Ausländische Begebenheiten aus den Jahren 1873 und 1874“; 2.
„Tagebuch eines Schriftstellers aus dem Jahre 1876“ und 3. „Tagebuch
eines Schriftstellers aus dem Jahre 1877“ mit dem Schlußteil vom Januar
1881. Um dem deutschen Leser, der heute nicht mehr, wie einst der
russische, eine Zeitchronik lesen, sondern Dostojewskis Gesamtanschauung
kennen lernen will, dieses Material übersichtlich darzubieten, wurde es
noch einmal abgeteilt, und zwar nach den sachlichen Gesichtspunkten a)
Westeuropäisches; b) Russisches; c) Balkan und Orient; d) Asien. Aus dem
gleichen Grunde größerer Übersichtlichkeit wurde es hin und wieder
nötig, Untertitel anzubringen, die sich bei Dostojewski nicht finden. Es
sind das die ganz allgemein gehaltenen: Republik oder Monarchie;
Parteimenschen; Frankreich und Deutschland; Frankreich und die Kultur;
Deutschland und Rom; Frankreich, die Republik und der Sozialismus;
Katholizismus und Sozialismus; Bismarck; Papstwahl; Ausblicke;
Französische Republikaner; Französische Reaktionäre; Vorbemerkungen;
Unser Verhältnis zum Orient.

Die Aufsatzreihe „Gedanken über Europa“ ist Aufsätzen Dostojewskis aus
den Jahren 1873/74 und 1876 entnommen.

Die Aufsätze „Russische Finanzen“, „Die Meinung eines geistreichen
Bureaukraten“ und „Die Asiatische Frage“ stammen aus dem Jahre 1881.

Der gesamte Rest der Aufsätze, also fast der ganze Band „Politische
Schriften“, stammt aus den Jahren 1876 und 1877.

                                                              E. K. R.



                              Erster Teil.

                            Westeuropäisches


                          Gedanken über Europa


                        Republik oder Monarchie

In Frankreich erleben wir heute[3] den Kampf zwischen Republik und
Monarchie.

Die republikanische Partei hat zwar die meisten Anhänger, doch trotzdem
glaube ich, daß das Ende der französischen Republik herannaht. Denn was
ist schließlich solch eine Republik wie die eines Thiers? Das ist doch
etwas durchaus Negatives. Thiers hat ja selbst von seiner Republik
gesagt, daß sie eigentlich nur notwendig sei, weil keine einzige der
anderen Regierungsformen, die die gegnerischen Parteien einführen
wollen, in Frankreich zurzeit möglich wäre. Solch ein negativer Vorzug
kann aber das müde Frankreich, das um jeden Preis Ordnung und eine sie
erhaltende Kraft haben will und haben muß, unmöglich befriedigen – um so
weniger als diese negative und, wie Thiers sagt, einzig mögliche
Regierungsform im gegenwärtigen Frankreich die anderen Parteien
keineswegs beseitigt, sondern sie durch ihre Negativität nur anspornt;
denn jede der anderen Parteien ist überzeugt, daß sie etwas Positives
bringen könnte. Die Republik so bezeichnen, wie es Thiers tut, heißt
selbst an sie nicht glauben. Das ist wahrscheinlich auch der Grund,
warum alle Franzosen ihre Republik unwillkürlich als etwas
Vorübergehendes, fast als ein mehr oder weniger unvermeidliches Übel
betrachten. Solch eine schiefe Stellung ist auf die Dauer unerträglich,
und so wird sich die Republik in Frankreich wohl nicht sehr lange halten
können.

Wie steht es aber mit der rechtmäßigen Monarchie?

Nun, stellen wir uns vor, daß der Graf von Chambord[4] den Thron schon
bestiegen hat, daß die Partei der Republikaner schon aufgelöst worden
ist, daß das Land sich allmählich beruhigt, wenigstens dem Anscheine
nach, und alles schließlich in Ruhe seinen Verlauf nimmt. – Versichern
doch viele Legitimisten, daß der Graf von Chambord den Franzosen
„mindestens 18 Jahre Frieden und Ruhe“ geben würde; schön, wir glauben
ihnen gern, – wenn auch nicht gerade, daß es „mindestens“ 18 Jahre sein
würden –. Die Frage aber: was dann? bleibt nichtsdestoweniger bestehen.
Wodurch wird das Schicksal Frankreichs entschieden, selbst wenn der Graf
sich längere Zeit auf dem Throne behauptet? Wodurch werden Europa und
die Welt beruhigt?

Louis Veuillot[5] sagt: „Die ganze Kraft des Prätendenten besteht in der
unbedingten Aufrechterhaltung seiner Prinzipien; denn nur, wenn er diese
nicht um ein Atom verändert, behält er die Möglichkeit, Frankreich zu
retten und zu beruhigen.“ Ja, aber was wird denn der neue König tun, um
Frankreich zu „retten“? Und was bedeutet eigentlich das Wort
„Möglichkeit“ in diesem Falle?

Das Wesen der Prinzipien des Grafen besteht erstens und hauptsächlich
darin, daß seine Macht eine – rechtmäßige Macht ist; zweitens, ... ja,
was dann folgt, ist so phantastisch, daß man nicht begreift, wie es so
ideale Dinge in der Wirklichkeit überhaupt geben kann. Das heißt, wenn
die Triebfedern, die jetzt die ganze legitimistische Partei veranlassen,
die Monarchie zu proklamieren, auch äußerst verständlich und nichts
weniger als ideal sind, so sind doch der Graf von Chambord und alle, die
ebenso denken wie er – es gibt ja auch solche unter seinen Anhängern –,
vollkommen phantastische Erscheinungen. Die Hauptsache ist aber nicht,
daß der König von der Rechtmäßigkeit seiner Macht überzeugt ist,
sondern, daß alle Franzosen gleichfalls an die Rechtmäßigkeit seiner
Macht glauben; das aber ist doch in Frankreich ganz unmöglich. Sollte
dies dennoch einmal geschehen, so würde ja Frankreich nichts mehr zu
wünschen übrigbleiben: es würde dann wieder stark und zum erstenmal in
unserem Jahrhundert wirklich zu einem Ganzen vereinigt, es würde frei
und glücklich sein.

Napoleon III. war während seiner ganzen Regierungszeit gezwungen, alle
seine Kräfte zur Befestigung seiner Dynastie zu verwenden. Wäre er von
dieser verhängnisvollen Sorge befreit gewesen, so würde er vielleicht
noch heute Kaiser sein, und Frankreich hätte vielleicht kein Sedan
erlebt. So jedoch mußte er vieles unternehmen, was Frankreich unmöglich
zum Vorteil gereichen konnte. Die Franzosen aber begriffen das sehr
bald, und zwar sehr gut. Wenigstens liegt hier der Grund, warum sie sich
während der ganzen Regierungszeit Napoleons III. trotz des Glanzes ihrer
damaligen Macht und ihres großen Ruhmes in einer zweideutigen,
unhaltbaren Lage fühlten. Wenn sogar der Kaiser nicht an die Sicherheit
seiner Macht glaubte, um wieviel weniger konnte das dann das Volk tun!
Sollte aber jetzt das Wunder geschehen, daß schließlich alle an die
Rechtmäßigkeit der Macht des Grafen von Chambord glauben, dann – ja dann
wäre doch alles erreicht. Weiß der König, daß sein Volk an ihn glaubt,
so muß auch er an sein Volk glauben. Erst wenn er keine Verschwörungen
oder sonst irgendwelche Anschläge gegen sich zu fürchten braucht, kann
er seinem Volke die größten Freiheiten geben, sagen wir: Preßfreiheit,
Freiheiten in der inneren Verwaltung und überhaupt im ganzen staatlichen
und bürgerlichen Leben, kann, wenn er will, sogar den Kommunismus
einführen, ... wenn diese Neuerungen nur nicht dem Ganzen schaden. Aber
solch ein allgemeines Einverständnis ist doch ein unrealisierbares
Ideal. Man denke doch nur an das in Frankreich eingewurzelte Vorurteil
gegen die alte Monarchie, an die hundertjährige Entwöhnung der Franzosen
von derselben und die schon hundertjährigen ganz neuen Gewohnheiten, an
die fünf oder sechs Generationen, die seit dem Sturze der alten
Monarchie aufgewachsen sind, – und schließlich an das Volk, an den
Pöbel, der die alte Monarchie gänzlich vergessen hat, sich von ihr
überhaupt keine genaue Vorstellung machen kann und heutzutage bestimmt
nicht begreift, warum er sich einem Grafen von Chambord unterwerfen
soll. Der Graf sagt, er könne sich nicht als König bloß einer Partei
denken; das bedeutet, daß er von _allen_ gewählt sein will. Darin aber
besteht ja die ganze Phantastik seiner Auffassung Frankreichs, daß er,
wie es scheint, von der Möglichkeit solch einer Wahl vollkommen
überzeugt ist. „Ohne die Zustimmung aller Franzosen und ohne die
rechtmäßige Macht des Königs kann Frankreich nicht glücklich werden,“
sagen die Legitimisten. Schön; – wie aber diese allgemeine Zustimmung
erreichen? – wie diese hundert Jahre überspringen? Das ist doch eine
Illusion, die sie sich da machen! Ich wiederhole: alle diese
Monarchisten, die um jeden Preis die Monarchie proklamieren wollen, sind
durchaus verständlich, doch der Graf von Chambord, der ernstlich glaubt,
daß ihn _alle_ wählen könnten, und daß er nicht ein König bloß seiner
Partei sein würde, – dieser Graf von Chambord kommt einem denn doch,
gelinde gesagt, etwas wunderlich vor.

Diejenigen Legitimisten, denen es nicht ausschließlich darum zu tun ist,
daß ein König den Thron einnimmt – der legitime Klerus hat natürlich
seine eigenen, besonderen Ziele im Auge –, die, meine ich, müssen doch
irgendeinen vernünftigen Plan haben; denn sie können doch schließlich
nicht auch an die allgemeine Zustimmung, die plötzlich fertig vom Himmel
fallen soll, glauben? Was kann aber das für ein Plan sein? Es wird doch
nicht genügen, nach Paris zu kommen, sich auf den Thron zu setzen, den
Mac-Mahons gehorsame Bajonette umringen würden, und König zu sein. Man
wird doch auch etwas tun müssen. Man wird irgendeine neue Idee bringen,
ein neues Wort sagen müssen, doch eines, das wirklich die Kraft hat, mit
dem bösen Geiste der Uneinigkeiten des ganzen Jahrhunderts, mit der
Anarchie und den zwecklosen Revolutionen, den Kampf aufzunehmen. Nicht
zu vergessen, daß dieser böse Geist einen leidenschaftlichen Glauben in
sich trägt – also wirkt er nicht durch Lähmung der Verneinung, sondern
durch die Verführung der positivsten Versprechungen: er trägt den neuen
antichristlichen Glauben in sich, also neue moralische Grundsätze für
die menschliche Gesellschaft. Er versichert, daß er fähig sei, die ganze
Welt von neuem aufzubauen, alle gleich und glücklich zu machen und
endgültig den ewigen babylonischen Turm zu vollenden. Diesem Glauben
gehören Menschen der höchsten Intelligenz an, sowie alle Geringen und
Verwaisten, alle Mühseligen und Beladenen, die da müde geworden, das
Reich Christi zu erwarten, alle der Erdengüter Beraubten, alle
Besitzlosen – und in Frankreich gibt es derer schon Millionen! Und diese
drohenden Scharen stehen bereits vor der Tür! Also muß doch der Graf von
Chambord etwas sagen und tun; denn sonst – warum kommt er denn
überhaupt? – Was aber wird nach seiner Krönung in Wirklichkeit
geschehen? Am wahrscheinlichsten ist, daß sich der Faubourg St. Germain
wieder bevölkern wird, daß die Priester sich bereichern und Vicomtes und
Marquis wieder große Rollen spielen werden, daß viele neue Moden
aufkommen, und mit ihnen eine Unmenge neuer Bonmots entstehen; daß man
in der Hofetikette etwas Besonderes einführt, das dann sofort eiligst an
allen anderen europäischen Höfen nachgeahmt wird; daß man sich etwas
Neues für die Bälle und Balletts ausdenkt, daß neue Horsd’oeuvres und
Konfitüren berühmt werden. Hinzu kommt dann vielleicht noch, daß in der
Kammer, der vielleicht eine kleine Macht zugestanden wird, von einer
Seite Doktrinäre, von der anderen die kleinen Helden der Linken sich
erheben werden, und die Linke in ihrer ungereimten Lage dann doch noch
dümmer sein wird als die Rechte. Darauf wird dann langsam eine dumpfe,
unbestimmte Unzufriedenheit im Volke aufsteigen. Der böse Geist, der
zunächst noch sehr jung ist, wird wachsen und wachsen und immer
drohender werden. Und dann, an einem wundervollen Morgen, wird der König
irgendeinen Befehl erlassen: – Paris braust auf! Das Militär greift zu
den Waffen und – der böse Geist klopft mit starker Hand an die Tür ...

Nein, bestimmt gibt es unter den Legitimisten auch schon Männer, und zu
ihnen gehört sicherlich auch der Graf von Chambord – natürlich, der
unbedingt, – die da ganz anders vorzugehen gedenken, Männer, deren
Absichten viel tiefer und edler sind. Sie brennen geradezu darauf, mit
dem bösen Geist den Kampf aufzunehmen und ihn zu besiegen. Das ist ihr
Ziel, nur zu diesem Zweck tun sie alles, was sie tun. Doch Wunsch und
Tat sind zwei verschiedene Dinge. Nur fragt es sich: womit den Kampf mit
dem neuen, auflösenden Element beginnen? Mit klerikaler Gewalt und
Arglist ist dabei nichts mehr zu erreichen. Die Antwort kann natürlich
nur lauten: „Der erste Schritt zum Ziel – das ist die Wiederherstellung
der Weltmacht des Papstes.“

Oh, umsonst werden die aufgeklärten Legitimisten diese Idee ableugnen!
Umsonst wird der Graf versichern, so wie er bis jetzt versichert hat,
daß er des Papstes wegen keinen Krieg beginnen wird, daß er mit seiner
Regierung nicht zugleich das _Gouvernement der Patres_ bringen will. Nun
– diesen Weg einzuschlagen, werden sie nicht verfehlen können! Auf den
wird man sie gar bald gezogen haben! Manche Beobachter erraten denn auch
schon, daß diese ganze legitimistische Bewegung, die so plötzlich und
mit solch einer Anspannung aller Kräfte in Frankreich ausgebrochen ist,
vielleicht nichts anderes ist als eine klerikale Machenschaft, und daß
die Losung dazu in Rom gegeben und das Ziel des Ganzen – die
Wiederherstellung der Papstmacht ist. Die Klerikalen haben sich
natürlich weder Chambord noch die Legitimisten ausgedacht, dafür aber
haben sie sich – ihrer bemächtigt. Viele Anzeichen sprechen dafür, daß
es sich so verhält. Die römische Bewegung hat im letzten halben Jahre
ganz Europa durchzogen. Zwei Prätendenten im äußersten Westen, der Graf
von Chambord und Don Carlos; die römisch-katholische Agitation in
Deutschland, die die Katholiken des Reiches mit gerechtem Unwillen gegen
das neue Kirchengesetz erfüllte; die Versuche, in Frankreich,
Deutschland und der Schweiz dem Volke mit einer neuen Erfindung – der
Veranstaltung von Volksgottesdiensten – näherzutreten; einige bis jetzt
unerhörte demokratische Ausfälle und Aufrufe der katholischen höheren
Geistlichkeit in Deutschland: all das bringt auf den Gedanken von einer
großen, überall gleichzeitig eingeleiteten Agitation des Klerus
zugunsten des unfehlbaren, doch besitzlosen Papstes. Diese ganze
klerikale Bewegung ist dadurch bedeutungsvoll, daß sie vielleicht der
_letzte_ Versuch des römischen Katholizismus sein wird, noch einmal, zum
_letzten_ Male, die Könige und Großen dieser Welt um Hilfe anzugehen.
Seine Hoffnungen werden aber nicht in Erfüllung gehen, und Rom wird zum
ersten Male in 1500 Jahren sich sagen, daß nun die Zeit gekommen ist, da
es mit den Großen dieser Welt brechen und die Hoffnung auf die Könige
fallen lassen muß! Man glaube mir – Rom wird es von da ab _verstehen_,
sich ans _Volk_ zu wenden, an dieses selbe Volk, das die römische Kirche
bis dahin immer nur hochmütig von sich gestoßen und dem sie sogar das
Evangelium Christi vorenthalten hat, indem sie verbot, es zu übersetzen.
Der Papst wird es verstehen, barfuß zum Volk zu kommen mit seiner Armee
von zwanzigtausend Jesuitenkämpfern, diesen alterfahrenen Seelenjägern.
Werden Karl Marx und Bakunin diesem Heer standhalten können? Wohl kaum!
Der Katholizismus versteht es zu gut, wenn es nötig ist, nachzugeben und
alles zu versöhnen. Was kostet es ihn, das dunkle und arme Volk zu
überzeugen, daß der Kommunismus dieses selbe Christentum sei, und daß
Christus überhaupt nur von ihm gesprochen habe! Es gibt ja selbst jetzt
schon kluge und geistreiche Sozialisten, die überzeugt sind, daß dieses
wie jenes – ein und dasselbe sei, und die im Ernst den Antichrist für
Christus nehmen.

Heinrich V. wird schon allein deswegen den Krieg für den Papst nicht
vermeiden können, weil die nächsten Jahre vielleicht die einzige Zeit
sind, da ein Krieg für den Papst noch populär sein kann und das Volk
sich zu ihm noch sympathisch verhalten wird. Wäre Heinrich V. fähig, in
einem Kriege mit Deutschland die Milliarden und die Erniedrigung zu
rächen und ihm Elsaß und Lothringen wieder abzunehmen, so würde er sich
dadurch zweifellos den Thron auf Lebenszeit sichern. Wollte er aber,
wenn er König geworden, Deutschland ohne weiteres den Krieg erklären –
so würde ihm doch kein einziger folgen, ja man würde ihn den Krieg
einfach nicht erklären lassen: das wäre den Franzosen denn doch zu
unheimlich und ein viel zu großes Wagnis! Der Papst jedoch, der von
Deutschland Verfolgte, würde in kurzer Zeit Sympathie für die Idee zu
gewinnen verstehen. Wer aber ist jetzt sonst der Gegner des
„Unfehlbaren“, wenn nicht Deutschland? Die Wiederherstellung der Macht
des Papstes hält Deutschland für die schwerste Zukunftsdrohung und wird
deshalb mit allem Nachdruck für Italien einstehen. Allmählich geht es
dann von den Unterhandlungen zur Spannung über, und von der Spannung zur
Tat und – das Papstproblem wird, im Falle der Thronbesteigung des Grafen
von Chambord, seine Lösung in dem großen und _unfreiwilligen_ Kriege
zwischen Frankreich und Deutschland ganz von selbst finden. Unmittelbar
für das Elsaß gehen die Franzosen nicht in den Krieg; aber so nach und
nach, ohne es eigentlich zu wollen, werden sie sich, wenn sie einmal für
den Papst eintreten, gutmütig, wie sie nun einmal sind, hineinziehen
lassen, und es ist möglich, daß der Krieg dann sogar populär wird. Nein,
solch eine Gelegenheit wird der Graf von Chambord nicht unbenutzt
vorübergehen lassen können.

Nun, nehmen wir selbst an, daß er als Sieger aus dem Kampf hervorgeht,
daß Frankreich sich wieder mit Ruhm bedeckt, die Provinzen
zurückerobert, und daß dann der Papst womöglich nach Paris zur
Grundsteinlegung irgendeines Domes fährt, worum man ihn schon kürzlich
gebeten hat. Was dann aber weiter geschieht? Nicht das ist wichtig, daß
Heinrich V. nach seiner Heldentat vielleicht glücklich seinen Thron bis
zu seinem Lebensende behält. Wichtig ist vielmehr einzig die Frage, ob
sich mit dem Grafen von Chambord die rechtmäßige Monarchie als solche in
Frankreich unangefochten für die nächsten Jahrhunderte festsetzen kann,
und was sie dem Lande geben wird? Welch ein Glück? Ob sie es beruhigen
wird? und den bösen Geist, der so nahe an der Tür steht, auf ewig
vertreiben kann?

Was will es besagen, daß der Papst nach Paris kommt und der römische
Katholizismus wieder mit neuem, noch nie geschautem Glanze die
Herrschaft ergreift! Kann denn etwa der Papst, der triumphierende und
„unfehlbare“ und nicht der „barfüßige“, den bösen Geist verjagen? Können
das etwa seine Jesuiten, die so geschäftigen „Geistlichen“ mit ihrem
_status in statu_, diese geriebenen, schamlosen, abgefeimten? Nein, der
böse Geist ist stärker und _reiner_ als sie! Nicht mit diesem Heer kann
der Graf von Chambord sein _neues Wort_ sagen. Wenn aber nicht mit
diesem, – mit welchem dann? Unwillkürlich glaubt man ja jetzt, daß der
Graf tatsächlich ein höheres Wesen sei, so ein gebotener König mit dem
reinsten Herzen. Und sicherlich wird er in der Verzückung seiner Seele
begreifen, daß sein ganzes neues Wort – gerade dieser Kampf für Christus
mit dem furchtbaren emporsteigenden Antichrist ist, daß man Frankreich
retten muß, indem man seine Klugen, seine Denker zu Gott bekehrt und in
die Herzen der Millionen „Ungetaufter“ das Heil Christi gießt und sie
zum erstenmal mit seiner Lichtgestalt bekannt macht. Wodurch könnte denn
sonst der neue „allerchristlichste“ König sein Frankreich retten? Er
sagt doch selbst, daß er es retten will, und er glaubt doch an den
Erfolg. Er weiß doch, daß die erste der Schlachten zwischen der
zukünftigen neuen Gesellschaft und der alten Ordnung der Dinge auf
Frankreichs Boden stattzufinden hat. Er weiß aber auch, daß gerade davor
die ganze französische Gesellschaft zittert, alle Reichen und mit
Erdengütern Beschenkten, daß sie gerade deswegen so nach einer starken
Regierung verlangen und suchen, wo die Kraft ist, die sie nicht finden
können; daß sie einzig zur Abwehr dieses neuen emporsteigenden Feindes
auch Napoleon III. auf den Thron haben steigen lassen; und daß sie, wenn
sie sich jetzt für den Grafen von Chambord entscheiden, es nur in der
Hoffnung tun, daß er vielleicht irgendeine neue Kraft mit sich bringen
wird, die sie beschützen kann? Ist dem aber so, wo soll er dann die
Menschen zu diesem furchtbaren Kampf hernehmen? Ist er auch selbst schon
so weit und so reif, um ihn zu verstehen? Trotz seines guten Herzens –
bestimmt nicht. Wie soll er obendrein vor solch einer schrecklichen
Armut der Mittel, mit denen er handeln könnte, nicht zurückschrecken?
Schrickt er aber nicht zurück, – wie soll man ihn dann in solch einem
Falle nicht entweder für einen beschränkten, unwissenden Menschen halten
oder aber für einen, der nicht weit vom Irrsinn entfernt ist? Wo bleibt
nun die Antwort auf meine Frage? Zu guter Letzt also, wodurch, mit
welchen Kräften kann denn der Legitimismus Frankreich retten und heilen?
Da wäre doch selbst ein Prophet Gottes zu wenig, nicht nur ein Graf von
Chambord! Und sogar der Prophet würde gesteinigt werden! Der neue Geist
kommt, die neue Gesellschaft wird zweifellos triumphieren – als das
_einzige_, das eine neue, positive Idee bringt, als der _einzige_, ganz
Europa vorherbestimmte Ausweg, als das _einzige_ Heil. Darüber kann kein
Zweifel bestehen. Die Welt wird erst nach ihrer Heimsuchung durch den
bösen Geist gerettet werden. Der böse Geist aber ist nah. Unsere Kinder
vielleicht werden ihn schauen ...

Im übrigen habe ich nur sagen wollen, daß der Legitimismus für
Frankreich nicht nur jetzt unmöglich, sondern überhaupt nicht nötig ist:
niemals nötig war, noch in der Zukunft sein wird; denn er hat die
geringsten Mittel, es zu _retten_.

Aber in Frankreich heißt es jetzt nun einmal: entweder Monarchie oder
Republik, eine andere Regierungsform ist unmöglich. Mir jedoch will es
scheinen, daß man auch der Republik in Frankreich müde und überdrüssig
ist. Diese meine Worte zu rechtfertigen, damit man sie nicht etwa für
ein Wortspiel oder eine absichtliche Leichtfertigkeit halte, werde ich
in anderem Zusammenhange einmal versuchen.


                             Parteimenschen

Vor einem Monat hat in Versailles, im Trianon, der Prozeß des Marschalls
Bazaine begonnen. Der Marschall ist des Verrates angeklagt. – Aber: des
Verrats an wem? Richten wir unsere Aufmerksamkeit auf diese Frage. Sie
ist in Anbetracht der gegenwärtigen französischen Lage nicht
uninteressant.

Zur Zeit der Regierung Napoleons III. zählte der Marschall Bazaine zu
den fähigsten Generälen der kaiserlichen Armee. Als man vor jetzt
anderthalb Jahren zuerst davon sprach, daß er vor ein Kriegsgericht
gestellt werden würde, rief ein Marschall, einer seiner Kameraden, aus:
„Wie? Einer der ehrlichsten Soldaten! Schade! _Il était pourtant le
moins incapable de nous tous!_“ Dieser „am wenigsten unfähige“ Marschall
hatte also das Kommando über die größere Hälfte der Armee in diesem
unheimlichen Kriege mit Preußen erhalten. Einen Generalfeldmarschall
hatten die Franzosen nicht; der Kaiser selbst nannte sich nicht einmal
so, sondern begnügte sich damit, in den Gang der Ereignisse oftmals
störend einzugreifen – doch das war schließlich noch nicht das
schlimmste! Alle diese alten Generäle wie Canrobert, Niel, Bourbaki,
Frossard, Ladmirault usw., die als Bazaines Zeugen vor Gericht geladen
sind, äußern sich über ihn mit großer Hochachtung. Für ihre Aussagen
interessiert sich das Auditorium am meisten. Hauptsächlich zeugen sie
von der außergewöhnlichen Tapferkeit Bazaines – zum Beispiel in der
Schlacht bei St. Privat, wo er persönlich, ungeachtet seiner Stellung
als Schlachtführer, sich in erster Reihe unter die Kämpfenden gemischt
hatte – „obgleich er die Bedeutung dieser Schlacht nicht begriff,“ fügte
einer von den Marschällen hinzu. Ob er sie nun begriff oder nicht
begriff: jedenfalls kam es in dieser Schlacht dazu, daß aus Mangel an
Patronen die Soldaten aus ihren modernen Chassepots nur alle zwei
Minuten eine Kugel abschießen konnten und der Hauptteil der Armee in den
Kampf eintrat, ohne seit vierundzwanzig Stunden etwas gegessen zu haben.
Aber nicht darin bestand das Unglück, obgleich, wie bekannt, die
schlechte und ordnungslose Versorgung der französischen Armee mit
Lebensmitteln und Gewehren ganz Europa in Erstaunen setzte. Der Kaiser
versäumte, zur rechten Zeit mit seinem ihm nach schweren
Schicksalsschlägen noch verbliebenen Heer nach Paris zurückzukehren, was
für ihn die einzige Rettung gewesen wäre, die beste Ausflucht aus seinem
damaligen Unglück. Aber mit ihm geschah das, was ich vorhin schon
erwähnte, als ich von den charakteristischen und verhängnisvollen Zügen
seiner Regierung sprach, daß er um der Befestigung und Verwurzelung
seiner Dynastie willen gezwungen war, während der ganzen Zeit seiner
Herrschaft ununterbrochen eine Menge Dinge zu unternehmen, die immer zum
Unglück Frankreichs und nie zu seinem Glück ausfielen. Auf diese Weise
war dieser mächtige Herrscher, im Grunde genommen, sogar auf seinem
Throne – kein Franzose, sondern nichts als der Mensch seiner Partei, ihr
Hauptführer sozusagen. Den Rückzug nach Paris, wenn auch mit einer
geschlagenem so doch immerhin noch mit einer Armee – diese Armee hat
Frankreich in der letzten Schlacht sehr große Dienste geleistet –, wagte
er nicht: er fürchtete die Unzufriedenheit des Landes, den Verlust der
Anhänglichkeit des Volkes, fürchtete Aufstand, Revolution, kurz, er
fürchtete Paris und zog es daher vor, sich in Sedan zu ergeben und sein
Schicksal und das seiner Dynastie der Großmut seines Feindes
anheimzustellen. Zweifellos ist auch jetzt noch nicht alles, was
zwischen ihm und dem preußischen König bei ihrer Zusammenkunft
verhandelt worden, der Geschichte bekannt. Viele Geheimnisse werden wohl
erst lange nachher aufgedeckt werden; aber es ist unmöglich, _nicht_ zu
dem Schluß zu kommen, daß Napoleon mit seiner Übergabe und der seiner
Armee darauf gerechnet hatte, daß er seinen Thron behalten werde. Damit,
daß er seine Armee übergab, damit gedachte er wohl die Kräfte seines
Feindes zu schwächen – ich meine die Kräfte der Revolutionäre ... denn
an Frankreich dachte dabei der Parteimensch in ihm nicht.

Ebenso dachte auch der Marschall Bazaine nicht an Frankreich.
Eingeschlossen in Metz mit einer sehr bedeutenden Armee, ignorierte er
vollständig die Regierung der Nationalversammlung, die sich nach der
Gefangennahme des Kaisers in Paris gebildet hatte. Er zog es vor, sich
gleichfalls zu ergeben, und nahm damit Frankreich seine letzte Armee,
die, selbst wenn sie in Metz eingeschlossen war, dem Vaterlande doch
noch äußerst nützlich hätte sein können – wenn auch, wie gesagt, nur
dadurch, daß sie einen bedeutenden Teil der feindlichen Kräfte
festlegte. Es ist ganz unmöglich, sich vorzustellen, daß der Marschall,
als er sich in dieser Weise schnell und ohne rechten Grund ergab, nicht
irgendwelche geheimen Bedingungen mit dem Feinde abgeschlossen,
wenigstens nicht irgendwelche Versprechungen von ihm gefordert hatte ...
die dann später nicht erfüllt wurden. Aber, wenn dem auch nicht so
gewesen wäre, so ist es doch klar, daß der Marschall, ähnlich dem
Kaiser, es vorzog, seine Armee den Preußen zu überlassen, anstatt sie
für die Republik aufzusparen.

Der Marschall – wenn er auch jetzt vor dem Gerichte lügt und
augenscheinlich die Absicht hat, bei diesem Verfahren zu bleiben –
verheimlicht doch zum Teil seine damaligen Eindrücke und Empfindungen
nicht. Er sagt geradeheraus, daß es in den Metzer Tagen eine gesetzliche
Regierung nicht mehr gab, und daß er das damalige Chaos von Regierung in
Paris als eine wirkliche Regierung nicht anerkennen konnte – das ist
ungefähr der Sinn seiner Worte vor Gericht. „Wenn es für Sie damals
keine Regierung gab – _la France existait_!“ rief darauf der Herzog
d’Aumale, der Vorsitzende des Kriegsgerichtes, aus.

Und damit war der Punkt, von dem die Richter ausgehen werden, gefunden.
Diese Worte des Herzogs machten auf das Publikum, auf ganz Frankreich,
einen großen Eindruck. Dem schuldigen Marschall wurde damit klar zu
verstehen gegeben, daß ihn jetzt nicht eine Partei richte, keine
Republik, keine unrechtmäßige Regierung, die er, wenn er will, auch
jetzt nicht anzuerkennen braucht – sondern Frankreich, das er um einer
rechtmäßigen Regierung willen verkauft, das Vaterland, das er verraten
aus Parteiinteresse.

Man kann einen Verräter seines Vaterlandes niemals entschuldigen. Sind
aber hier auch die im Recht, die über den Verräter zu Gerichte sitzen?
Das ist es, worauf ich hinweisen will. Sind nicht im Gegenteil Bazaines
Richter ein Teil jenes Grundübels, das den Organismus dieser großen
Nation zerstört und erschöpft hat; verkörpern nicht auch sie ein
Unglück, das wie eine schwarze Wolke ständig über ihr liegt? Und
verstehen sie dieses Unglück jetzt; sind sie fähig, es zu begreifen? Ist
der Marschall aber nicht ähnlich dem altjüdischen Opferlamm, auf das die
Sünden des ganzen Volkes gelegt wurden?

In der Tat, was konnte er damals von Metz aus erwarten? Angenommen, der
Parteimensch in ihm habe dem Bürger in ihm einmal Platz gegeben beim
Anblick des ganzen großen nationalen Unglücks; angenommen, er habe
aufrichtig gewünscht, dem Vaterlande zu dienen: was konnte er aber in
dem damaligen Paris erblicken? Es ist wahr, die triumphierende
Revolution des 4. September nannte sich nicht Republik, sondern
„Regierung der Nationalverteidigung“. Diejenigen aber, die an der Spitze
dieser Volksregierung standen, konnten Bazaine, General und
Parteimensch, wie er war, einem tätigen und energischen Menschen
zugleich, nur Widerwillen einflößen. Dieser talentlose Maniak, der
General Trochu, alle diese Garnier-Pagès, Jules Favre, sind, wenn auch
als Menschen aller Hochachtung wert, doch schließlich erbärmliche,
talentlose Mumien, Phrasenhelden der ersten Tage einer Pariser
Revolution und – leider – immer noch nicht den Parisern langweilig genug
geworden. Wie mußte das dem Marschall und seinem scharfen beobachtenden
Menschenkennerblick in Metz erscheinen!? Aber – mögen sie auch talentlos
gewesen sein! Mag auch jegliche Aufgabe, der sie nicht gewachsen waren,
von ihnen verpfuscht worden sein, solange sie die Macht hatten! Sie
waren doch wenigstens treue Bürger, Leute mit reinem Herzen, wahre Söhne
des Vaterlandes! War dem nicht so? Aber nein, das waren ja wiederum auch
nur Republikaner! _La république avant tout, la république avant la
France_ – das war und ist auch jetzt noch ihre Devise! Und darum hätte
der Marschall, wenn er, um gleichfalls „Bürger zu werden“, sich von der
Partei des Kaisers losgesagt hätte – und wär’s auch nur zeitweilig und
scheinbar gewesen, zur „Rettung des Vaterlandes“ – sich doch nicht den
Rettern des Vaterlandes, sondern wieder nur Leuten einer anderen Partei
anschließen müssen. Aber diese Partei haßte er, und ihr zu helfen: dazu
konnte er sich nicht entschließen! Einige Zeit nachher kam aus dieser
lächerlichen Gruppe ein Mann, der im Luftballon Paris verließ, um in den
noch freien Teil Frankreichs zu gelangen: Gambetta. Er erklärte sich
selbstherrlich zum Kriegsminister, und die ganze Nation, die sich nach
irgendeiner Regierung sehnte, ernannte ihn sofort zu ihrem Diktator. Er
aber verlor darüber nicht den Kopf, sondern wurde in Wahrheit ihr
Diktator. Dieser Mensch zeigte eine große Energie, er regierte
Frankreich und stampfte ein neues Heer aus dem Boden. Einige
beschuldigen ihn jetzt unter anderem, daß er unnütz Geld verschwendet
hätte und mit diesem Geld fünfmal mehr für das Heer hätte tun können.
Gambetta könnte freilich seinen Anschuldigern mit Recht erwidern, daß
sie, wenn sie auch fünfmal mehr Geld gehabt hätten als er, doch nicht
einen einzigen Soldaten hätten aufstellen können. Und siehe da, dieser
kluge und energische Mensch, der wirklich viel für Frankreich getan hat,
und mit dem zu arbeiten Bazaine sich nicht hätte zu schämen brauchen –
besteht doch auch auf der Devise: „_la république avant la France!_“
Jetzt sagt er das freilich nicht mehr laut, schlau und geduldig wartet
er, bis an ihn die Reihe kommt, und wenn es nötig ist, so unterstützt er
mit Eifer sogar Thiers, der ihn schon vor drei Jahren ersetzt hat. Aber
auch dessen Devise ist: „_la république avant tout_“, und auch er ist
vor allem und zuerst der Mensch seiner Partei! Diese seine Eigenschaft
ist den Republikanern offenbar die liebste.

Und so ist alles in Frankreich Partei und sind alle Franzosen Menschen
einer Partei. Es ist wahr, in Frankreich tauchten zur Zeit des schwarzen
Jahres auch einige beruhigende Erscheinungen auf. Die Bretagner,
gebotene Legitimisten, erschienen mit ihren Führern, um für ihr
Vaterland zu kämpfen, und sie kämpften tapfer! Mit ihrem
Muttergottesbild auf der Fahne schlossen sie sich zeitweise der
Regierung der Republikaner und Atheisten an. Auch die Orleansschen
Herzöge kämpften in gleicher Reihe mit ihren Feinden in der
neugebildeten französischen Armee. Kämpften sie aber fürs Vaterland? Das
ist heute mehr als zweifelhaft. Wenn man zurzeit ihre Rolle in
Frankreich beobachtet, ihre Verschwörung gegen Frankreich zugunsten
eines „legitimen Königs“ – so ist es wohl erlaubt, daraus zu schließen,
daß sie vor drei Jahren nur deshalb mitgekämpft haben, weil sie darin
endlich eine Chance für ihre Partei, die schon so lange auf eine solche
gewartet hatte, erblickten. Und sie haben sich nicht in der Möglichkeit
einer derartigen Chance getäuscht: sie strömten in großer Anzahl bei den
ersten Wahlen zur Nationalversammlung herbei und brachten es auch
richtig zu einer Mehrheit.

Überall Parteien! Freilich: wenn man alle diese Parteien zusammenlegt,
so ist die Gesamtzahl ihrer Anhänger – ausgenommen die Partei der
Kommunisten – sehr gering, im Vergleich zu der Anzahl aller Franzosen,
denn die übrigen Franzosen sind indifferent. Sie erwarten alle, geradeso
wie damals vor dem Erscheinen Gambettas im verhängnisvollen Jahr – einen
Diktator, damit er sie väterlich in seine Gewalt nehme und ihnen ihr
Leben und Gut behüte. Ihre Devise ist das bekannte Sprichwort: „_Chacun
pour soi et Dieu pour tous_“. Aber auch bei dieser Devise gehört der
Mensch seiner eigenen Partei an und – was kann für solch einen Menschen
das Wort Vaterland bedeuten?

Das ist das Grundübel Frankreichs: der Verlust einer allen gemeinsamen
Idee der Einigung! Man sagt von den Legitimisten, daß sie diese Idee mit
Gewalt wiedererwecken wollten. Aber sogar die besten ihrer Partei denken
nicht an die Idee, sondern nur an den Triumph ihrer Partei. Die
Allerbegeistertsten von ihnen denken noch nicht einmal an den
Legitimismus. Der Triumph des Grafen Chambord ist für sie – der
zukünftige Triumph des Papstes und des Katholizismus. Das ist dann schon
wieder eine Partei in der Partei.

Und so richten jetzt die Menschen der Partei den Marschall Bazaine
dafür, daß er – der Anhänger seiner Partei blieb! Ist er nicht wirklich
dem altjüdischen Opferlamm ähnlich, mit dem ich ihn verglich? ... Es
kommt in Frankreich noch so weit, daß jeder Verrat des Vaterlandes nicht
mit ruhigem Gewissen gerichtet werden kann – aus Mangel an Richtern;
denn alle sind sie Menschen bloß der Partei und nicht des Vaterlandes. –
Wenn die Franzosen Bazaine verurteilen, werden sie dann wissen, was sie
tun?


                       Frankreich und Deutschland

In Deutschland wird die Nachricht von den gescheiterten Hoffnungen der
französischen Legitimisten[6] fast von der ganzen Presse, sogar
einschließlich der offiziösen preußischen Organe, mit unverhohlener
Freude aufgenommen. Die nächstliegendste Erklärung dieser Freude wäre
wohl in der Befürchtung zu suchen, daß die Thronbesteigung des Grafen
von Chambord den Versuch einer Wiederherstellung der Papstmacht von
seiten Frankreichs nach sich gezogen haben würde. Nun, und auf diesem
Wege wäre ein Zusammenstoß mit Deutschland unvermeidlich gewesen.
Erklärt man sich aber so die deutsche Zufriedenheit – um wieviel
auffallender ist es dann, daß in Deutschland selbst die ernsten Blätter
an die Dauerhaftigkeit dieser Restauration haben glauben können. Die
Deutschen vertrauen, scheint es, etwas zu sehr auf den Erfolg von „Blut
und Eisen“. Ich glaube, daß in der gegenwärtigen französischen Krise –
„der Gärung aller Geister und Wünsche“ – ein Staatsstreich in diesem
Lande beinahe unmöglich ist: sie haben dort keinen einzigen, der ihn
ausführen könnte! Das heißt, Liebhaber würden sich dazu schon finden,
und (was am interessantesten ist) vielleicht gleichfalls eine
außerordentlich große Anzahl Leute, die aufrichtig ihre eigene
Vergewaltigung wünschen, und zwar: um der endgültigen Herstellung der
Ruhe und Ordnung willen, sogar eine möglichst baldige Vergewaltigung
herbeiwünschen. In diesem Lande aber genügt zu einer erfolgreichen
Gewaltherrschaft nicht Kraft allein und selbst nicht einmal die
Zustimmung der zu Vergewaltigenden. Dort bedarf die Gewalt unbedingt der
Autorität: wenn es auch eine verhaßte und wenn es auch keine wahre
Autorität ist, so muß es doch eine Herrscherautorität sein, eine, der
man die Kraft der Macht wirklich zutrauen kann. Der Graf von Chambord
nun hat nichts von solch einer Autorität, und selbst von seinen
Anhängern werden wohl kaum alle glauben, daß er solch eine Kraft ist.
Darum aber – ich wiederhole bereits früher von mir Gesagtes – wäre er
zweifellos und sogar sehr bald wieder vertrieben worden. Doch selbst
solch eine Wendung der Sache wäre für Frankreich vielleicht
vorteilhafter gewesen als der jetzige chaotische Zustand – wenn auch nur
insofern vorteilhafter, als es dann eine Partei weniger gegeben hätte
und die Herrschaft der gemäßigten Republikaner somit wieder möglich
gewesen wäre.

Nun aber will ein Teil der konservativen Presse Deutschlands der von der
liberalen deutschen Presse angegebenen Begründung ihrer Freude über den
Mißerfolg des Prätendenten nicht recht glauben; das heißt, will nicht
glauben, daß die Furcht, Frankreich hätte den gefährlichen Weg der
ultramontanen Politik einschlagen können, die Ursache dieser
gegenwärtigen Freude wäre. Die „Kreuzzeitung“, zum Beispiel, erklärt
unumwunden, daß die Liberalen der ganzen Welt sich solidarisch fühlten;
daß im Radikalismus die Nationalitäten verschwänden, und darum sich auch
die deutschen Radikalen für die französischen Radikalen freuten, wenn
sie, wie hier, ihren Erfolg sähen. Es ist das vielleicht so unrichtig
nicht. Merkwürdig nur, daß diese Bemerkung – die gewissermaßen wie ein
Vorwurf und eine Befürchtung klingt – in einem Reiche gemacht wird, wo
gerade in diesem Augenblick die nationalen Ideen so mächtigen Erfolg
haben, wo nach dem kürzlichen Triumph über Frankreich das Gefühl der
nationalen Selbstzufriedenheit sich bis zur Abgeschmacktheit gesteigert
hat, wo sogar die Wissenschaft chauvinistische Züge aufweist. Sollte es
wirklich wahr sein, daß der kosmopolitische Radikalismus auch in
Deutschland schon Wurzel gefaßt hat? Daß auch dort schon die
französische Lehre – der Kommunismus – an die Tür klopft? Wenn es fast
seit dem Anfang des Jahrhunderts bei den europäischen „Geistern“ gang
und gäbe ist, Rußland für einen „furchteinflößenden Koloß auf tönernen
Füßen“ zu halten – während in Wirklichkeit, wenn es bei uns etwas
besonders Gutes und Ganzes gibt, es gerade die Grundlage, das Volk ist,
auf dem Rußland von jeher gestanden hat und auch hinfort stehen wird –
so, sollte es dann, frage ich, vielleicht wirklich möglich sein, daß
solch eine Annahme, wenn auch nur teilweise, auch von dem neuen
germanischen Koloß zutreffend sein könnte?


                       Frankreich und die Kultur

Ein Pariser Telegramm berichtete unlängst aller Welt, daß ein gewisser
Sir Henry Richard, eine ziemlich unbekannte Persönlichkeit, auf dem ihm
zu Ehren gegebenen Diner in einer Rede über seinen Plan einer
internationalen Vermittlerschaft unter anderem auch gesagt habe: „Keine
einzige Idee kann sich verwirklichen ohne die Protektion Frankreichs,
dem an Einfluß kein anderes Land gleichkommt, dessen Sprache und
Literatur universal sind!“ ... Worte, die in Paris gierig aufgefangen
und von den „erniedrigten“ Franzosen sofort allen sichtbar und hörbar
gemacht worden sind. So hat man sie denn auch schon in Deutschland
vernommen, doch haben sie dort, wie in Europa überhaupt, nur eine
gewisse fragende Stirnfalte und mißbilligendes Kopfschütteln
hervorgerufen. Nun, wir glauben natürlich an jedes Wort Sir Richards.
Nichtsdestoweniger aber, – ist es nicht auffallend, daß man jetzt sogar
in Paris solche Worte für ungewöhnlich hält? Wie lange ist es denn her,
daß ähnliche Worte in Frankreich niemand bemerkt hätte, da sie wie
schuldiger Tribut, wie etwas von der Art eines _sine qua non_, das zu
erwähnen überhaupt nicht der Mühe wert ist, aufgefaßt worden wären?

Diese hochbegabte Nation, diese Erbin der Alten Welt, die 15
Jahrhunderte an der Spitze der romanischen Völker Europas gestanden und
in den letzten Jahrhunderten fraglos erstrangigen Einfluß auf alle
Nationen Europas gehabt hat, verlor vor nun bald hundert Jahren jene
lebendige Kraft, die sie so lange bewegt und genährt hatte. Diese
lebendige Kraft bestand in der Repräsentation des europäischen
Katholizismus durch Frankreich – fast seit der allerersten Zeit des
Christentums. Als darauf Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts mit der
katholischen Idee vollkommen und bewußt brach, verkündete es sich laut
über die ganze Welt hin als Erneuerin der Menschheit durch _neue_
Grundsätze, deren Hauptträgerin und Beschützerin es allein sei. „Komm
alle zu mir!“ rief es in pythischer Trunkenheit. Diese neuen und
selbständigen Grundsätze der zukünftigen menschlichen Gesellschaft waren
den Europäern bereits als die Grundsätze der von ihnen ausgearbeiteten
Zivilisation bekannt –: die Wissenschaft und der Staat waren bereits
einzig auf den Gesetzen der Vernunft begründet. Frankreich hat bloß die
Selbständigkeit dieser Grundsätze revolutionär verkündet – ich meine
ihre vollste Unabhängigkeit von der Religion. Dieses geschah zum
erstenmal im Leben der Menschheit, und darin hat, behaupte ich, das
eigentliche Wesen der Französischen Revolution bestanden. Über dieses
ungemein wichtige Thema habe ich in diesen flüchtigen Zeilen nicht etwa
deswegen einiges gesagt, um die vor hundert Jahren von Frankreich an der
Spitze Europas verkündeten revolutionären Grundsätze zu untersuchen und
sie ihrem Wesen nach zu beurteilen. Ich wollte nur bemerken, daß
Frankreich, das für sich und die Menschheit so viel auf seine Schultern
genommen – abgesehen davon, daß es diese Last, selbst wenn es gewollt,
überhaupt nicht hätte ablehnen können –, von dieser Last doch noch
niemals so zu Boden gedrückt gewesen ist wie in dem letzten, jetzt
allmählich auslaufenden Jahrhundert seiner Geschichte: sie hat sich als
viel zu groß erwiesen für die Kräfte des geistreichen Volkes. Die
Führerin der Menschheit war nach ihrem letzten Unglück gezwungen, durch
ihre besten Vertreter einzugestehen, daß sie die Grundlage des
lebendigen Lebens fast ganz verloren hat, daß ihr Lebensquell versiegt
und vertrocknet ist. Im gegenwärtigen Augenblick bietet das französische
Volk ein sonderbares Schauspiel dar – was es auch selbst vollkommen
begreift. Dieses Sonderbare besteht darin, daß der intelligente und
politisch herrschende Teil dieser Nation sich wissentlich und wehmütig
so gut wie von allen ihren einst so begeistert verkündeten Ideen
entfernt hat und nun ohne Glauben, doch mit jener Angst um das eigene
Sein, die Despotismus und Vergewaltigung nach sich zieht, wie eine
Polizei über den anderen Teil der Nation wacht. Dieser andere Teil aber
glaubt an seine Zukunft, glaubt, daß sie kommen wird mit der
Verwirklichung der neuen Grundsätze in einer künftigen Gesellschaft,
und, da er arm ist an Gütern des Lebens, da er lange gelitten hat, so
ist er bereit, sich wie ein hungriges Tier auf seine glücklicheren
Brüder zu stürzen und sie zu zerfleischen. Nachdem die Franzosen Baboeuf
guillotiniert hatten, den ersten, der schon vor 80 Jahren den
begeisterten Revolutionären gesagt, daß ihre ganze Revolution nicht die
Erneuerung der Gesellschaft nach neuen Grundsätzen wäre, sondern nur der
Sieg der einen mächtigen Gesellschaftsklasse über die anderen: nachdem
sie diesen ersten lästigen Kritiker der Revolution beseitigt hatten,
mußten die Führer der ganzen republikanischen und demokratischen
Bewegung im neuen Jahrhundert allmählich einsehen, daß das ganze Leben
Frankreichs sich mehr und mehr in eine erlogene Vorspiegelung
verwandelte, in irgendein phantastisches Gebilde, und daß es jede
Bedeutung eines lebendigen und notwendigen Lebens einbüßte. Alle diese
Perioden seiner letzten Entwicklungsgeschichte – das Erste Kaiserreich,
die Restauration, die Herrschaft der Bourgeoisie unter den Orleans, das
Zweite Kaiserreich usf. – könnte man jetzt eher für Luftspiegelungen
halten als für gewesene Wirklichkeit; jede dieser Erscheinungen hätte
gewissermaßen gerade so gut auch nicht sein können, und die große Nation
wäre vortrefflich auch ohne sie ausgekommem. Diese ganze vorübergehende
Phantasmagorie hat der Seele der Nation, die sich immer nach lebendigem
Leben gesehnt hat, nichts Wesentliches gegeben. Und darauf kam nun die
Katastrophe dieses furchtbaren Krieges – mit dessen Ausgang in
Frankreich alle diese Vorspiegelungen fast mit einem Schlage
verschwanden und sich aller Augen öffneten. Diese Katastrophe sagte
gleichsam jedem Franzosen: „Sieh, wie arm und blind, wie niedrig und
nackt und nichtig du in deiner ganzen, phantasmagorischen Existenz warst
– und das nun schon ein ganzes Jahrhundert lang!“

Wird nun die große Nation an der Aufgabe, die sie vor einem Jahrhundert
auf sich genommen hat, und die sie doch zu einem Abschluß wird bringen
müssen, mitsamt ihrem Genie zugrunde gehen, oder wird sie sich dieses
Genie doch noch erhalten? Das ist die Frage! Wird ihr Genie solche
Prüfung überstehen können? Oder wird vielleicht alles einstürzen und
irgendeine neue, geniale Nation von Gott auserwählt werden, die
westliche Menschheit zu führen? Das sind vom Standpunkt der vernünftigen
und geschäftigen Leute aus selbstverständlich nur müßige Fragen, doch
nichtsdestoweniger gab es und gibt es in ganz Europa viele Herzen und
Gedanken, die angstvoll vor ihnen standen und noch stehen. In dieser
verhängnisvollen Frage nach Leben oder Tod Frankreichs, nach
Auferstehung oder Erlöschen seines großen, der Menschheit sympathischen
Genies, liegt vielleicht die Entscheidung über Leben und Tod der
europäischen Menschheit, – was auch immer die jungen Besieger
Frankreichs, die Deutschen dazu sagen mögen. Wird denn Europa Frankreich
überhaupt vermissen können? Ein Europa ohne Frankreich ist für viele
sogar jetzt noch undenkbar, und nicht etwa nur für müßige Menschen, die
unseres tätigen Jahrhunderts unwürdig sind. Einstweilen aber, nachdem
ich die Frage gestellt habe, die natürlich ohne Antwort bleiben muß,
sage ich noch bei der Gelegenheit, – meinetwegen in der Eigenschaft
eines Reporters der Gegenwart, – daß es einige Anzeichen und
Erscheinungen gibt, die von dem heißen Wunsch der geistvollen Nation
zeugen, aus allen Kräften zu leben, und daß aus diesem Wunsch für Europa
sogar in kürzester Zeit sehr viele Sorgen erwachsen können.

Vor einer Woche hat sich in Frankreich ein äußerst exzentrischer
Zwischenfall zugetragen, der gar manchen Europäer belustigt haben
dürfte. Als der Kriegsminister, General Dubarail, sein Budget der
Versammlung unterbreitete, fiel man sofort von allen Seiten mit
bitteren, heftigen Vorwürfen wegen der „Ärmlichkeit“ und „Nichtigkeit“
desselben über ihn her –: weil er so wenig Geld für den Ausbau des
Heeres verlangte! Darauf soll man sogar die Regierung beschimpft und
schließlich ganz ungewöhnliche Veränderungen vorgeschlagen haben. Erst
nach einiger Zeit, sagt man, sei es dem General gelungen, die
Versammlung zu beruhigen, und zwar nur durch die Erklärung, daß das
Budget des nächsten Jahres sehr groß sein werde, daß allein die
Veränderung des Armeematerials nicht weniger als 1380000000 Franken
fordern würde. Diese Summe soll dann eine einigermaßen ernüchternde
Wirkung auf die Gemüter ausgeübt haben.

Ich habe gesagt, daß diese große Nation _leben will_, – um jeden Preis!
Doch, – ist es andererseits nicht wieder im höchsten Grade phantastisch,
dieses „Leben der Vergeltung“, für das sie sich jetzt so einmütig
entschließt, obgleich sie erst kürzlich fünf Milliarden an Deutschland
gezahlt hat, indem sie sich einwandlos zu neuen Milliardenausgaben
bereit erklärt – wenn nur dem verhaßten Feinde für die militärische wie
moralische Erniedrigung heimgezahlt wird!? Also ist doch in dem
moralisch so zerspaltenen Lande, das schon seit so langer Zeit wehmütig
und skeptisch auf das Leben sieht, wo das allgemeine Gefühl bloß das
allerbeschränkteste Gefühl der Selbsterhaltung und das „_chacun pour
soi_“ die erste Regel ist, – also hat sich in diesem Lande doch
plötzlich und unerwartet etwas gefunden, das sogar die feindlichsten
Elemente vereinigen kann. Nein, der Quell des _unmittelbaren_ Lebens
versiegt in den Völkern doch nicht so leicht.


                          Deutschland und Rom

Das päpstliche _Non possumus_ ist meiner Meinung nach so ernst zu
nehmen, daß man in ihm überhaupt die Existenzfrage der Religion in
Europa sehen kann. Lassen wir die protestantischen Glaubensbekenntnisse
dabei ganz aus dem Spiel; denn wenn der römische Katholizismus fallen
würde – wie sollten sich dann noch Glaubensbekenntnisse erhalten, deren
Wesen der Protest gegen den Katholizismus ausmacht? Wenn nichts mehr
vorhanden ist, wogegen es zu protestieren gilt, wozu dann noch ein
Protest? Andererseits kann aber die römische Kirche in ihrer
gegenwärtigen Form nicht weiterbestehen. Sie hat ja selbst erklärt, daß
ihr Reich von _dieser_ Welt sei, und daß ihr Christus sich „ohne
Erdenreich auf der Erde nicht erhalten kann“. Die römische Kirche hat
die Idee der römischen Weltherrschaft über die Wahrheit und über Gott
gesetzt; zu demselben Zweck hat sie auch die Unfehlbarkeit ihres
Oberhauptes als Dogma aufgestellt und hat das gerade in dem Augenblick
getan, da die weltliche Macht schon an die Pforten Roms klopfte, um
einzutreten: ein beachtenswertes Zusammentreffen, das vielleicht von dem
„letzten Ende“ zeugt. Bis zur Stunde des Sturzes Napoleons III. konnte
die römische Kirche noch auf den Schutz der Könige – und besonders der
Könige Frankreichs, mit deren Hilfe sie sich so viele Jahrhunderte
gehalten – rechnen. Kaum aber wurde sie von Frankreich verlassen – da
fiel auch ihre weltliche Macht. Nun aber wird die katholische Kirche
diese ihre weltliche Welt für keinen Preis, niemals und niemandem,
abtreten und würde eher damit einverstanden sein, daß das Christentum
vollkommen unterginge, als daß die weltliche Herrschaft der Kirche
aufhörte. Ich weiß: gar manche klugen Leute werden meine Behauptung mit
einem Lächeln aufnehmen, doch soll mich das nicht abhalten, sie mit
allem Nachdruck zu verteidigen. Und so sage ich denn nochmals: Es gibt
in Europa augenblicklich keine einzige Frage, die zu beantworten
schwieriger wäre, als die katholische, und gleichfalls keine einzige
politische, keine „soziale“ Schwierigkeit, mit der sich diese
römisch-katholische Frage nicht vereinigte. Mit einem Wort: Das
Schwerste, was Europa in Zukunft bevorsteht, ist die Lösung dieses
Problems, wenn auch neunundneunzig Prozent aller Europäer augenblicklich
vielleicht nicht einmal an dasselbe denken.

Ich habe bereits im Laufe des vorigen Jahres meine Gedanken über diese
Frage mitgeteilt: – nach gewissen Anzeichen zu urteilen, kann man
wirklich glauben, daß die katholische Kirche zur Wiederherstellung ihrer
Macht bereit ist, sich mit dem niedrigen Volk zu verbinden und hinfort
den Königen den Rücken zu kehren. – Allerdings haben die Könige sie
zuerst verlassen. Doch ohne mich über diesen Punkt weitläufig zu
verbreiten, will ich einstweilen nur sagen, daß von den europäischen
politischen Begebenheiten des vorigen Jahres der Briefwechsel des
Papstes mit dem Deutschen Kaiser zweifellos eine der wichtigsten war. In
seiner Zuschrift erklärte ja der Papst, daß er der von Gott selbst
eingesetzte Vater und Beschützer aller Christen sei, – gleichviel welch
einem Bekenntnis sie angehören, und gleichviel, ob sie ihn für ihr Haupt
anerkennen oder nicht, – wenn sie nur getauft sind.

Als die italienische Regierung dem Papst die Summe von drei Millionen
Franken jährlich aussetzte und sie ihm anbot, da glaubte und hoffte sie
natürlich doch, daß er dieses, übrigens sehr annehmbare Budget
akzeptieren werde. Hätte der Papst das getan, so würde er sich mit dem
_Statuts quo_ einverstanden erklärt haben und – _es wäre zu Ende gewesen
mit dem römischen Katholizismus_! An seiner Stelle aber hätte dann etwas
ganz anderes, noch Unbekanntes begonnen. Doch der Papst nahm sie nicht
an. Jetzt hoffen einige, der ihm folgende Papst werde es tun. Aber der
84jährige Greis weiß nur zu gut, daß auch sein Nachfolger, wer er auch
sei, gleichfalls kein einziges Budget annehmen kann und allen und jedem,
wie er es getan, erklären wird: „_Non possumus._“

Abgesehen davon, daß der Deutsche Kaiser dem Papst gemessen und von oben
herab geantwortet[7] hat, sieht man in Deutschland auf die gegenwärtige
Lage der römischen Kirche denn doch etwas ernster, als die italienische
Regierung es tut. Anderenfalls: womit könnte man sich sonst jene
sonderbare Verfolgung des römischen – ultramontanen – Katholizismus in
Deutschland erklären? Man könnte wirklich glauben, daß das kolossale
neue Reich, in dem es so viel andere Schwierigkeiten und neue Fragen
gibt, die römische Frage für die bedeutungsvollste von allen hält. Nun
und –: das scheint auch in der Tat der Fall zu sein! Es ist natürlich
kaum möglich, sich vorzustellen, daß solch ein mächtiges Reich und an
seiner Spitze so mächtige Herrscher und Lenker plötzlich irgendwelche
„lächerlichen“ ultramontanen Ansprüche eines „kraftlosen, armseligen
Mönches“ fürchten könnten, und das noch in welchem Jahrhundert? – im
_neunzehnten_, im Jahrhundert der Maschinen, der Philosophie und unserer
Aufklärung! Zudem wäre es ein äußerst grober Fehler, in dem allgemeinen
Indifferentismus durch die Verfolgung der Kirche den religiösen
Fanatismus zu erwecken, was doch für solche Staatsmänner, wie Graf
Bismarck einer ist, keinen Augenblick unklar bleiben dürfte. Wenn nun
Graf Bismarck gegen die Kirche vorgeht – wie u. a. durch das Gesetz über
die bürgerliche Ehe –, dann geht er scheinbar Hand in Hand mit den
Feinden der Kirche, – nicht nur mit den Feinden der katholischen Kirche,
sondern jeder christlichen Kirche überhaupt, – Hand in Hand mit den
Atheisten und Sozialisten!!! Auf diese Weise werden zwei sich
entgegengesetzte Fanatismen angefacht: der Fanatismus des Glaubens und
der der Verneinung. Ist das aber geschickt von einem so großen
Staatsmann, wie Graf Bismarck? Und folgt daraus nicht wiederum, daß die
römische Frage von so weitsichtigen Staatsleuten für eine der
wichtigsten zukünftigen Schicksalsfragen des Deutschen Reiches gehalten
wird? Sonst würde man doch nicht zu ihrer Bewältigung so wichtige
Interessen opfern! – Wie aber, wenn Graf Bismarck – oder, besser gesagt
– wenn Deutschland seinen zukünftigen und dann wohl endgültigen Kampf
mit Frankreich am ehesten für möglich hält – auf Grund der römischen
Frage? Bedenken wir bloß eines: mag der letzte deutsch-französische
Krieg auch als noch so „zufällig“ erscheinen, jetzt, nach seiner
Beendung, können doch weder Deutschland noch Frankreich auf ihren
stattgefundenen furchtbaren Kampf wie auf etwas Zufällig-Politisches,
sozusagen bloß Napoleonisches sehen. Deutschland, das so viele
Jahrhunderte hindurch alles gehabt: Reichtum, Zivilisation,
Wissenschaft, und das nur eines, das Ersehnteste, nicht hatte – die
politische Einheit –, mußte doch endlich begreifen, was es übrigens
schon seit Jahrhunderten tat, daß es seine politische Einheit nicht
erreichen konnte, solange an der Spitze Europas noch Frankreich stand;
nun aber weiß es, daß es sich mit einer zweitrangigen Rolle, wie
irgendein Italien, in Europa nicht begnügen kann, und daß doch wiederum
zwei führende Mächte in Europa zu gleicher Zeit nicht möglich sind; daß
es sich hier schließlich um die Frage des Geistes handelt, des Lebens
und der Ideale; daß die Ideale der westlich-katholischen und der
germanischen Kultur verschieden und unvereinbar sind – so daß denn der
Deutsch-Französische Krieg schließlich nichts anderes gewesen ist, als
der Zusammenstoß zweier europäischer Kulturen, der katholischen und der
protestantischen, oder der französischen und der germanischen, der
unvereinbaren und entgegengesetztem die sich schon seit Jahrhunderten zu
diesem Kampf vorbereitet hatten. Andererseits muß Frankreich, der
tausendjährige Repräsentant des westlichen Katholizismus, selbst jetzt
noch, einsehen, daß es dieser Führer der katholischen Welt, sogar bei
deren heutigem Zerfall, nur dann bleiben kann, wenn es dem Katholizismus
und seiner Idee tatsächlich treu bleibt.

Ich will nur sagen, daß die Wiedererstehung des Katholizismus im Sinne
der _Grundidee der Nation_ in Frankreich vielleicht durchaus nicht so
unmöglich ist, wie es viele glauben. Alles, was in Frankreich im letzten
Jahrhundert, dem Jahrhundert der ununterbrochenen Schwankungen, vor sich
gegangen ist, könnte in mancher Beziehung zur Bekräftigung solch einer
Annahme dienen. In diesem letzten Jahrhundert haben alle die so
verschiedenen Regierungen Frankreichs – die Könige, die Republiken,
Napoleon III. – alle haben sie den Papst mit dem Schwert in der Hand
unterstützt oder sind bereit gewesen, ihn zu unterstützen, wenigstens
sind sie alle _für_ Rom und seine weltliche Macht gewesen. Graf Bismarck
aber muß doch vorausfühlen, wenn auch nur zum Teil, daß Frankreich sich
niemals mit einem zweitrangigen Platz in Europa und einer solchen
militärischen Niederlage zufrieden geben wird, daß dieses in seiner Art
für Frankreich vielmehr gleichfalls ein _Non possumus_ ist. Und warum
soll er nicht auch voraussehen, daß dieses Frankreich, das noch nicht
endgültig vernichtete, wohl aber so kürzlich noch vollkommen zu Boden
geschlagene, das so plötzlich die ganze Welt durch seinen Reichtum und –
vor allen Dingen – Kredit in Erstaunen gesetzt hat – was dem Grafen
Bismarck so unerwartet kam –, daß dieses Frankreich den Kampf noch
längst nicht aufgegeben hat, daß der Streit um die Vorherrschaft somit
unvermeidlich noch einmal ausbrechen und es dann aber wirklich um Leben
oder Tod der beiden Nationen gehen wird!? Wie sollte er es nicht
begreifen, daß dieser Kampf eigentlich überhaupt erst anfängt, –
geschweige denn, daß er beendet sei –? Und, da dieser Kampf schließlich
der entscheidende und abschließende Kampf zweier so verschiedener
europäischer Zivilisationen sein wird –, warum soll er da nicht
annehmen, daß auch der entscheidende Zusammenstoß gerade dort
stattfinden wird, wo das Wesen der beiden Zivilisationen liegt: auf dem
Boden der Kultur, dort, wo Katholizismus und Protestantismus einander
feindlich begegnen?

Diese Idee zu entwickeln, würde zu weit führen; lassen wir es genug
sein, daß wir sie ausgesprochen haben. Ich wollte im übrigen bloß sagen,
daß Graf Bismarck, wenn er den Katholizismus in seinem Zentrum angreift,
vielleicht nur den jüngsten deutsch-französischen Krieg noch weiter
fortführt und – sich zu einem neuen vorbereitet. Handelt er nun
geschickt oder nicht – das mag vorläufig dahingestellt sein, jedenfalls
aber handelt er mit einem scharfen Blick.


              Frankreich, die Republik und der Sozialismus

Bei uns sprechen jetzt[8] alle über den Frieden. Alle glauben an einen
langandauernden Frieden, überall sieht man helle Horizonte, neue
Bündnisse, neue Kräfte. Daß in Paris die Republik wiederhergestellt ist,
darin sieht man eine Bürgschaft für den Frieden, und daß diese Republik
von Bismarck wiedereingesetzt wurde – sogar darin sieht man eine
Bürgschaft für den Frieden. Zweifellos sieht man sie auch in der
Übereinstimmung der großen östlichen Mächte – und vielleicht erblicken
nicht minder einige in den jetzigen Unruhen der Herzegowina
unzweifelhafte Zeichen für die Dauerhaftigkeit des europäischen Friedens
... vielleicht auch darum, weil der Schlüssel zu dieser Herzegowinafrage
sich in Berlin befindet, und wiederum in der Schatulle des Fürsten
Bismarck? Aber am meisten freut man sich bei uns über die Französische
Republik. Übrigens, warum ist Frankreich immer noch auf dem ersten Platz
in Europa, und nicht das siegreiche Deutschland? Das allerkleinste
Ereignis in Paris erweckt nach wie vor in Europa mehr Sympathie und
Aufmerksamkeit als manches schwerwiegende Berliner Ereignis.
Unbestreitbar deshalb, weil dieses Land immer das Land des ersten
Schrittes, der ersten Probe und der Anregung von neuen Ideen war! Darum
erwarten alle von dort den „Anfang vom Ende“. Und wer wird wohl auch von
allen zuerst diesen verhängnisvollen und endgültigen Schritt tun, wenn
nicht Frankreich?

Darum vielleicht haben sich die unversöhnlichsten Parteibildungen gerade
in diesem, seit alters alle Neuerungen vermittelnden Lande entwickelt.
Ein Friede ist da überhaupt nicht eher möglich, als bis es einmal
wirklich zu jenem „Ende“, zu einem großen Zusammenbruch gekommen sein
wird. Diejenigen in Europa, die die Republik bewillkommnen, sagen, daß
sie schon deshalb für Frankreich und für Europa unumgänglich nötig sei,
weil nur in ihr ein Revanchekrieg mit Deutschland ausgeschlossen
scheint, und daß nur die republikanische Partei, von allen zur Stunde
Ansprüche erhebenden Parteien, ihn nicht wagen wird, noch überhaupt
unternehmen will. Indessen sind das nichts als Luftspiegelungen. Im
übrigen ist auch die Republik eines Kampfes wegen ausgerufen worden,
wenn auch nicht zu einem Kriege mit Deutschland, so doch mit einem viel
gefährlicheren Gegner: dem Feind und Gegner von ganz Europa – dem
Kommunismus und Sozialismus. Dieser Gegner erhebt sich viel leichter in
einer Republik als unter jeder anderen Regierung! Jede andere Regierung
würde sich mit ihm schließlich einigen, die Katastrophe vermeiden; nur
eine Republik wird ihm nichts abtreten wollen, sondern ihn selbst
herausfordern, ihn zum Kampfe zwingen. Und so mögen die guten Leute nur
behaupten, die „Republik sei der Friede“! In der Tat, wer hat dieses Mal
die Republik errichtet, wenn nicht die Bourgeoisie und die kleinen
Rentiers? Wenn diese Leute wohl auch schon seit langem Republikaner
waren, so fürchteten doch gerade sie im Grunde die Republik, sahen in
ihr nur Unordnung und den ersten Schritt zum Kommunismus. Der Konvent
der ersten Revolution teilte in Frankreich den großen Besitz der
Emigranten und der Kirche in kleine Teile und verkaufte sie in
Anbetracht der ununterbrochenen damaligen Geldkrisis. Dieses Verfahren
bereicherte einen großen Teil Franzosen und gab ihnen die Möglichkeit,
achtzig Jahre später fünf Milliarden Kontribution zu bezahlen, ohne mit
der Wimper zu zucken. Aber wenn dieses Verfahren zurzeit auch den
Wohlstand sehr hob, so paralysierte es doch die demokratischen
Bestrebungen, indem es die Zahl der Besitzenden vergrößerte und so
Frankreich dem grenzenlosen Besitz der Bourgeoisie in die Hände gab –
die aber ist der erste Feind des Demos, des eigentlichen Volkes. Ohne
dieses Verfahren hatte sich die Bourgeoisie in Frankreich nie so lange
an der Spitze des Staates und an Stelle des früheren Beherrschers von
Frankreich, des Adels, erhalten können. So jedoch erbitterte das Volk
und ward unversöhnlich: die Bourgeoisie verdarb selbst den natürlichen
Gang der demokratischen Bestrebungen und verwandelte ihn in einen
einzigen Haß und einen einzigen Neid. Die Scheidung der Parteien ging so
weit, daß der ganze Organismus des Landes endgültig zusammenbrach und
jegliche Wiederherstellung unmöglich wurde. Wenn sich Frankreich bis
jetzt im Ganzen noch immer aufrechthält, so tut es dies nur nach dem
Gesetz der Natur, nach dem sogar eine Handvoll Schnee nicht früher als
in einer bestimmten Zeit auftauen kann. Diesen Schein eines Ganzen
nehmen die unglücklichen Bourgeois und mit ihnen eine Menge gutmütiger
Menschen in Europa noch für eine lebendige Kraft des Organismus,
betrügen sich mit der Hoffnung, und zu gleicher Zeit zittern sie doch
vor Furcht. Im Grunde hat die Einheit sich bereits vollständig
aufgelöst. Die Aristokraten haben nur den eigenen Nutzen im Auge, die
Demokraten nur den der Armen. Um den allgemeinen Vorteil dagegen, den
Vorteil Aller und des zukünftigen Frankreichs, kümmert sich niemand,
außer den Schwärmern von Sozialisten und den Träumern von Positivisten,
die von der Wissenschaft alles erwarten, alles, d. h. eine neue Einigung
der Menschen und neue Grundsätze eines gesellschaftlichen Organismus.
Aber die Wissenschaft, auf die alle so große Hoffnungen setzen, wird
kaum imstande sein, sich mit der Angelegenheit gleich zu beschäftigen.
Es ist schwer, anzunehmen, daß sie schon so gut Bescheid um die
menschliche Natur wissen wird, um fehlerlos neue Gesetze des
gesellschaftlichen Organismus aufzustellen. Da man aber hier weder
schwanken noch warten kann, so stellt sich von selbst die Frage ein: Ist
die Wissenschaft sofort zu dieser Aufgabe bereit, und geht diese Aufgabe
nicht über die Kräfte ihrer zukünftigen Entwicklung? Ich bin sogar bis
jetzt geneigt, zu behaupten, daß diese Aufgabe allerdings über die
Kräfte der menschlichen Wissenschaft gehen wird, trotz ihrer, wie ich
zugebe, großen zukünftigen Entwicklungsmöglichkeit. Da also die
Wissenschaft diesem Anspruch an sie nicht gerecht werden wird, so ist es
klar, daß die ganze Bewegung des Volkes, des vierten Standes, in
Frankreich, wie überall in der ganzen Welt, von Schwärmern – und die
Schwärmer wieder von allen möglichen Spekulanten – geleitet werden wird.
Ja, und selbst in der Wissenschaft, gibt es denn da keine Träumer? In
der Tat, die Träumer haben jetzt mit Recht die Führung der Bewegung
ergriffen; denn sie allein kümmern sich in Frankreich um die sogenannte
Einigung aller, um das Zukünftige; und es scheint, daß moralisch ihnen
allein das Erbe Frankreichs zufallen wird, ungeachtet ihrer
augenscheinlichen Schwäche und Phantasterei – wie denn das so ziemlich
alle auch fühlen! Aber am furchtbarsten ist es, daß neben all dem
Phantastischen ein Bestreben sich kundtut, daß das grausamste und
unmenschlichste ist und schon nichts Phantastisches mehr an sich hat,
sondern real und historisch unvermeidlich erscheint. Es drückt sich in
folgenden Worten aus: „_Ôte-toi de là, que je m’y mette!_“ – Fort von
dem Platz, damit ich mich hinsetze! Bei den Millionen des unteren Volkes
– abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen vielleicht – kommt in der
ersten Linie und steht zu Anfang aller Wünsche: das Plündern der
Besitzenden. Man kann dabei die Besitzlosen nicht einmal verurteilen:
die Besitzenden selbst hielten sie bis zu dem Grade in der Dunkelheit,
daß all diese Millionen unglücklicher, elender und blinder Leute ohne
Zweifel und auf die naivste Weise glauben, daß sie durch diesen Raub
sich bereichern können, und daß darin die ganze soziale Idee besteht,
über die sich ihre Führer streiten. Ja, und wie können sie denn auch die
Träume der Führer oder irgendeine Prophezeiung der Wissenschaft
verstehen? Nichtsdestoweniger werden sie siegen, und wenn die Reichen
ihnen vor der Zeit nichts abtreten, so kann es noch zu furchtbaren
Ereignissen kommen. Aber keiner wird zur rechten Zeit etwas abtreten –
vielleicht auch deshalb nicht, weil schon heute die Zeit der Abtretung
überschritten ist. Ja, und die Besitzlosen wollen jetzt selbst nicht
mehr eine Verständigung mit ihnen, wenn man ihnen auch alles gewähren
würde: sie würden doch nur glauben, daß man sie wieder betrügt und
übervorteilt. Sie wollen selbst und allein bestimmen.

Die beiden Bonaparte hielten sich dadurch, daß sie die Möglichkeit eines
Ausgleichs mit ihnen wenigstens versprachen; und sie machten auch
mikroskopische Versuche dazu, wenn auch immer nur hinterhältig und
unaufrichtig. Aber die Oligarchen fühlten sich enttäuscht durch sie, und
der Demos glaubte ihnen erst recht nicht. Was die royalistischen
Prätendenten (älterer Linie) anbetrifft, so können die dem Proletariat
als Rettung im Grunde nur den römisch-katholischen Glauben bieten, von
dem jedoch nicht nur das Volk, sondern auch die Mehrzahl der Intelligenz
in Frankreich schon lange nichts mehr wissen will. Man spricht davon,
daß unter dem Proletariat in letzter Zeit mit außerordentlicher Stärke
der Spiritismus sich entwickelt hat, vor allen Dingen in Paris. Die
jüngere Linie der Könige, die Linie Orleans, ist sogar der Bourgeoisie
verhaßt geworden, obgleich man eine Zeitlang gerade an diese Familie
glaubte und sie für den eigentlichen Führer in der französischen
besitzenden Klasse ansah. Aber ihre Unfähigkeit wurde bald von allen
erkannt. Nichtsdestoweniger mußte die Bourgeoisie sich retten, sie mußte
durchaus und so schnell wie möglich sich einen Führer suchen für die
große und letzte Schlacht mit dem furchtbaren, von unten heraufkommenden
Feind. Die Erkenntnis und der Instinkt ließen sie auf ein richtiges
Mittel verfallen, und sie wählten – die Republik.

Es gibt ein politisches Gesetz und sogar ein Gesetz der Natur, nach dem
von zwei starken und einander nahestehenden Nachbarn, wie befreundet sie
auch miteinander sein mögen, doch der eine den anderen vernichten möchte
und früher oder später diesen Wunsch auch in die Tat umsetzt. „Von der
roten Republik gibt es einen Übergang zum Kommunismus,“ – dieser Gedanke
erschreckte bis jetzt die französischen Bourgeois, und es mußte viel
Zeit vergehen, bis plötzlich die Mehrzahl von ihnen erriet, daß diese
nächsten Nachbarn zu den erhärtetsten Feinden werden würden, schon
allein aus dem Prinzip der Selbsterhaltung. In der Tat, ungeachtet der
so engen Nachbarschaft der roten Republik mit dem Kommunismus – wer kann
in Wirklichkeit feindlicher und dem Kommunismus radikaler
entgegengesetzt sein als die Republik? sogar, wenn man will, als die
blutige Revolution der neunziger Jahre? In der Republik handelt es sich
vor allem um die republikanische Form: „_la république avant tout, avant
la France_“. In der Republik ist die ganze Hoffnung: die Staats_form_;
und ob der Mac-Mahonismus an die Stelle Frankreichs tritt – es bleibt
sich gleich, wenn er sich nur Republik nennt! Das ist das
Charakteristische der jetzigen „Siege“ der Republikaner in Frankreich.
So sucht man denn in der bloßen Form die Rettung. Von der anderen Seite
dagegen, was geht den Kommunismus die republikanische Staatsform an, da
er im Grunde jede Regierungsform verneint, und nicht nur jegliche Form
einer Regierung, sondern auch den Staat an sich und die ganze
zeitgenössische Gesellschaft? Dieses gerade Gegenteil, diese gemeinsame
Antithese zweier Kräfte vermochte die französische Masse erst in achtzig
Jahren zu erkennen, zuletzt erkannte sie sie aber doch und – errichtete
die Republik: dem Feinde stellte sie endlich den allergefährlichsten und
allernatürlichsten Gegner entgegen; denn um nichts in der Welt will die
Republik im Kommunismus und Sozialismus untergehen. Im Grunde ist die
Republik der natürlichste Ausdruck und die gegebene Staatsform der
Bourgeoisie, ja, die ganze französische Bourgeoisie ist doch das Kind
der Republik, für sie geschaffen und für sie organisiert in der ersten
Revolution. Auf diese Weise ist die Scheidung vollständig erreicht. Man
sagt, der Kampf der beiden sei noch weit. Ob er so weit ist? Vielleicht
ist es besser, die Katastrophe nicht noch hinauszuschieben. Schon jetzt
hat der Sozialismus Europa durchsetzt, und bis zu der Zeit wird er es
noch mehr durchsetzt haben. Fürst Bismarck weiß es, aber er baut nach
deutscher Art zu sehr auf Blut und Eisen. Was kann man aber da mit Blut
und Eisen ausrichten?


                     Katholizismus und Sozialismus

Man wird sagen: Aber jetzt wenigstens, jetzt gleich hat man nicht den
geringsten Grund, sich aufzuregen; alles ist hell und klar: In
Frankreich ist der Mac-Mahonismus, im Osten die große Einigung der
Mächte, die Kriegsbudgets werden überall und außerordentlich vergrößert
– wie soll es da keinen Frieden geben!

Aber der Papst? Wenn der heute oder morgen stirbt – was wird dann
werden? Wie sollte der römische Katholizismus einwilligen, gleichsam ihm
zur Gesellschaft mit ihm zu sterben? Oh, nie noch dürstete es ihn so, zu
leben – wie jetzt! Übrigens, unsere Propheten, wie sollten sie nicht
über den Papst lachen? „Eine Papstfrage gibt es bei uns ja überhaupt
nicht mehr!“ Indessen ist die Frage des Katholizismus zu
bedeutungsschwer und der Katholizismus selber so voll von grenzenlosen
Widersprüchen, daß er diese nie um des Friedens willen, nicht um der
ganzen Welt willen aufgeben würde. Ja, für wen denn auch, und zu wessen
Nutzen sie denn aufgeben? Um der Menschheit willen etwa? Der Papst hält
sich schon lange für höher als die Menschheit. Er hat bis jetzt nur um
die Starken der Erde gebuhlt und auf sie gehofft bis zum letzten
Augenblick. Dieser Augenblick ist heute gekommen, und nun scheint es,
daß der römische Katholizismus endlich sich von den Großen der Erde
abgewandt hat, die ihm ja doch schon lange untreu geworden waren und in
Europa jene Hetzjagd auf ihn geplant hatten, die wir in unseren Tagen
erlebten. Und haben wir von dem römischen Katholizismus nicht bereits
die unglaublichsten Überraschungen erlebt? Einmal, wenn es nötig war,
hat er Christus für weltlichen Besitz verkauft und das Dogma
aufgestellt, „daß das Christentum auf der Erde ohne die weltliche
Herrschaft des Papstes nicht bestehen könne“, und so einen neuen
Christus geschaffen, einen, der dem früheren in nichts mehr ähnlich ist,
der verführt war durch die dritte teuflische Versuchung, die weltliche
Herrschaft: „Alles das gebe ich dir, bete mich an!“ Oh, ich habe heftige
Ableugnungen dieses Gedankens gehört: man hat mir versichert, daß der
Glaube an Christus und sein Bild in den Herzen der meisten Katholiken
noch in alter Wahrheit und Reinheit weiterlebe. Das kann durchaus wahr
sein, aber ich behaupte trotzdem: die Hauptquelle ist trübe und auf ewig
verschüttet; denn nicht umsonst verfiel Rom dieser teuflischen
Versuchung, seine weltliche Herrschaft in der Form eines unerhörten
Dogmas zu verkünden – eine Tat, deren Folgen wir heute noch nicht
absehen können. Bemerkenswert ist nur, daß die Verkündung dieses Dogmas
gerade in dem Augenblick erfolgte, als das geeinte Italien vor den Toren
Roms stand. Viele von uns lachten und spotteten über den Papst: wüten
kann er, aber machtlos ist er doch, sagte man ... Wer weiß, ob er so
machtlos ist! Nein, solche Menschen, die fähig sind zu solchen
Entschlüssen, können nicht ohne Kampf sterben. Man wird mir erwidern,
daß es immer so im Katholizismus gewesen und daß in ihm überhaupt keine
Veränderung vor sich gegangen sei. Möglich, aber es hat in ihm doch
immer ein Geheimnis gegeben: es hatte viele Jahrhunderte das Aussehen,
als sei der Papst mit seinem kleinen Besitztum, mit dem Lande des
Kirchenstaates, durchaus zufrieden – ... aber alles das war dann doch
nur Allegorie. Die Hauptsache in dieser Allegorie, das Samenkorn des
Grundgedankens, war die immer gegenwärtige Hoffnung des Papsttums, daß
aus diesem Samenkorn dereinst ein prächtiger Baum werden würde,
bestimmt, die ganze Erde zu beschatten. Und siehe da, als man ihm die
letzte Quadratmeile seines westlichen Besitztums nimmt, da erhebt sich
der Beherrscher des Katholizismus, seinen Tod voraussehend, und erklärt
der ganzen Welt das Geheimnis: „Ihr glaubt wohl, daß ich nur dem Titel
nach Herrscher des Kirchenstaates bin? So wisset denn, daß ich mich
immer als den Herrscher der ganzen Welt, aller Herrscher der Erde, der
geistlichen wie der weltlichen, gefühlt habe, als ihren wirklichen Herrn
und Imperator. Ich – ich bin der Zar aller Zaren und der Herrscher aller
Herrscher, und mir allein auf der Erde gehören die Schicksale und die
Zeiten: und das erkläre ich aller Welt jetzt im Dogma meiner
Unfehlbarkeit.“ Nein, dort steckt noch eine Kraft, das ist erhaben, aber
nicht lächerlich; das ist eine Auferstehung der alten römischen Idee der
Weltherrschaft, die nie im römischen Katholizismus aussterben wird; das
ist das Rom Julian Apostatas, das nicht von Christus besiegte, sondern
das Christum besiegende, in einem neuen und letzten Kampf! Auf diese
Weise hat sich der Eintausch des wahrhaftigen Christus gegen ein
weltliches Reich vollzogen. Und im römischen Katholizismus vollzieht er
sich in der Tat! Ich wiederhole es, diese schreckliche Armee hat zu
scharfe Augen, um nicht endlich zu erblicken, wo jetzt die wirkliche
Kraft ist, auf die man sich stützen kann. In dem Augenblick, da er seine
verbündeten Großen verliert, wird er sich an das Volk klammern. Er hat
zu seiner Verfügung zehntausend Verführer, kluge, gewandte
Herzensbesieger und Psychologen, Dialektiker und Sophisten. Das Volk war
und ist überall redlich und gut. Außerdem – in Frankreich wie auch an
anderen Orten Europas – haßt das Volk den Glauben, verachtet ihn, ohne
das Evangelium zu kennen. Alle diese Herzenskundigen und Seelenkenner
werfen sich nun auf das Volk und bringen ihm den neuen Christus, einen
der in, alles einwilligt, einen, wie er auf dem letzten römischen Konzil
aufgestellt wurde. „Ja, unsere Freunde und Brüder,“ werden sie sagen,
„alles, was ihr euch wünscht – alles das steht schon längst in unseren
Büchern, und eure Führer haben es von uns gestohlen. Wenn wir euch
früher noch nichts davon gesagt haben, so ist es nur deshalb nicht
geschehen, weil ihr bis jetzt noch wie unreife Kinder waret, für die es
zu früh war, die ganze Wahrheit zu erfahren. Aber jetzt ist die Zeit der
Wahrheit für euch gekommen. Wisset, daß beim Papst die Schlüssel des
heiligen Petrus sind – und der Glaube an Gott ist nur der Glaube an den
Papst, der von Gott auf der Erde an Stelle Gottes eingesetzt worden ist.
Er ist unfehlbar, und ihm ist göttliche Macht gegeben, er ist der
Beherrscher der Schicksale und der Zeiten; er hat beschlossen, daß auch
eure Zeit jetzt gekommen sein soll. Früher lag die Hauptkraft des
Glaubens in der Ergebung, jetzt ist aber die Frist der Ergebung um, und
der Papst hat die Macht, sie aufzuheben, da ihm alle Macht auf Erden
gegeben ist. Ja, wir sind alle Brüder, und Christus selbst hat uns
befohlen, Brüder zu sein. Wenn eure älteren Brüder euch nicht als Brüder
anerkennen wollen, so nehmt Waffen, dringt in ihre Häuser ein und zwingt
sie mit Gewalt, eure Brüder zu sein. Christus hat lange gewartet, daß
eure älteren Brüder bereuen würden, aber jetzt hat er uns selbst
befohlen: ‚_Fraternité ou la mort!_‘ – Sei mir ein Bruder oder stirb!
Wenn dein Bruder zögert, sein Gut mit dir zu teilen, so nimm ihm alles;
denn Christus hat lange gewartet auf seine Reue und Buße, jetzt schlägt
die Stunde der Vergeltung und des Zornes. Wisset auch, daß ihr
unschuldig seid an allen euren vergangenen und zukünftigen Sünden; denn
eure Sünden kamen nur aus eurer Armut. Und wenn eure Führer und Lehrer
das schon früher gesagt, und wenn sie euch auch die Wahrheit gesagt
haben, so hatten sie nicht die Macht, es euch vor der Zeit zu
_verkünden_; denn die Macht dazu hat nur der Papst von Gott selbst
erhalten. Der Beweis dafür ist, daß diese Lehrer euch noch zu nichts
Gescheitem gebracht haben, und daß all ihr Beginnen an sich unfruchtbar
war; ja, und außerdem waren sie treulos; auf euch gestützt, erschienen
sie stark, um sich dann für einen höheren Preis euren Feinden zu
verkaufen. Aber der Papst wird euch nicht verkaufen, denn über ihm gibt
es keine höhere Gewalt, er ist der Erste aller Ersten; nur glaubt an
_ihn_, nicht an Gott, sondern nur an den Papst, und daran, daß er allein
der Herrscher auf Erden ist, und sonst niemand, und daß alle anderen,
wenn ihre Stunde kommt, verschwinden müssen. Freut euch jetzt, denn das
Paradies auf Erden hat begonnen, alle werdet ihr reich sein und durch
den Reichtum ehrlich und selig, weil alle eure Wünsche erfüllt sein
werden und jeglicher Grund zum Bösen euch genommen wird.“ Diese Worte
sind gleisnerisch, aber das Volk wird unbedingt den Vorschlag annehmen:
es sieht in dem unerwarteten Verbündeten eine große vereinigende Macht,
die auf alles eingeht, – eine reale, historische Macht an Stelle von
verschwärmten Führern und Spekulanten, an deren praktische Fähigkeiten
und auch an deren Ehrlichkeit die Menschen nicht mehr glauben. Dort ist
der Stützpunkt gefunden und der Hebel in die Hand gegeben, jetzt heißt
es, mit der ganzen Masse ihn umdrehen. Und zur Vervollständigung des
Ganzen gibt man ihm wieder den Glauben und beruhigt mit ihm viele
Herzen, denn viele von ihnen sehnen sich nach Gott ...

Ich habe schon einmal in einem Roman darüber gesprochen. Möge man mir
meine feste Überzeugung verzeihen, aber ich bin sicher, daß alles sich
einmal im westlichen Europa so zutragen wird, in der einen oder anderen
Form, d. h. daß der Katholizismus sich der Demokratie zuwenden und die
Großen der Welt verlassen wird, weil sie ihn verließen. Alle Macht in
Europa verachtet ihn, denn er ist jetzt nach außen allzu arm und allzu
überwunden. Und doch erscheint er lange nicht in einer so tragikomischen
Lage, wie sich ihn gutmütigerweise unsere politischen Publizisten
vorstellen. Indessen würde ein Fürst Bismarck ihn nicht so verfolgen,
wenn er in ihm nicht seinen furchtbarsten und mächtigsten Feind der
Zukunft sähe. Fürst Bismarck ist ein zu großer Mensch, um seine Kräfte
an einen lächerlichen und machtlosen Feind zu verschwenden. Aber der
Papst ist stärker als er. Ich wiederhole, daß das Papsttum vielleicht am
stärksten den Weltfrieden bedroht. Und dem Frieden droht noch vieles
sonst. Noch wie war Europa so angefüllt von feindlichen Elementen, wie
in unserer Zeit: als wäre alles mit Dynamit unterlegt und wartete nur
auf den zündenden Funken ...

„Ja, aber was geht das uns an? Das ist ja alles dort in Europa und nicht
bei uns in Rußland!“ Nun, bei uns wird Europa dann anklopfen und uns
anflehen, es zu retten, wenn die letzte Stunde seiner jetzigen Ordnung
der Dinge schlägt. Und es wird unsere Hilfe verlangen, als ob es ein
Recht darauf hätte: es wird uns sagen, daß auch wir Europa seien, daß
auch bei uns diese „Ordnung der Dinge“ sein müsse, da wir es doch nicht
umsonst zweihundert Jahre lang imitiert und uns gebrüstet hätten,
Europäer zu sein, und daß wir, wenn wir Europa retteten, im Grunde nur
uns selbst retten würden. Freilich wären wir vielleicht nicht sehr
geneigt, diese Angelegenheit nur zugunsten der einen Hälfte zu
entscheiden, denn diese Aufgabe wird auch über unsere Kraft gehen: und
haben wir uns nicht schon längst entwöhnt, darüber nachzudenken, worin
unser Unterschied von Europa als Nation und worin unsere wirkliche Rolle
in Europa besteht? Wir verstehen nicht nur nichts von diesen Dingen,
sondern wollen überhaupt solche Fragen nicht zulassen; und sie auch nur
anzuhören, halten wir für rückständig. Wenn aber wirklich Europa bei uns
anklopft und uns auffordert, hinzugehen und seine Ordnung zu retten, so
werden wir vielleicht zum erstenmal und plötzlich begreifen, bis zu
welchem Grade wir die ganze Zeit über Europa nicht ähnlich gewesen sind,
ungeachtet unseres zweihundertjährigen Wunsches und unserer Träume,
Europa gleich zu sein, wie sie sich manchmal bis zu den
leidenschaftlichsten Ausbrüchen versteigen konnten. Übrigens, vielleicht
werden wir das auch dann nicht einmal begreifen; denn es wird vielleicht
auch dann schon zu spät sein. Wenn dem so ist, so werden wir freilich
auch nicht verstehen, was Europa von uns haben will, und worin wir ihm
in der Tat helfen könnten. Und würden wir dann nicht den Feind Europas
und seiner Ordnung ebenso beruhigen wollen wie Fürst Bismarck –: mit
Eisen und Blut? Nun, im Falle es dazu kommen würde, könnten wir uns
allerdings als vollständige Europäer beglückwünschen.

Aber all das steht uns erst noch bevor und ist reine Phantasie – denn
jetzt ist ja alles in Europa so klar, so klar, so klar!


                               Drei Ideen

Ich habe unlängst folgenden Satz geschrieben: „Alle unsere russischen
Spaltungen und Sonderbestrebungen sind fast immer auf Grund von Zweifeln
und Bedenken entstanden, und zwar auf Grund von solchen, zu denen
eigentlich gar keine Veranlassung vorlag.“ Und heute[9] kann ich
wiederholen, daß in der Tat alle unsere Streitigkeiten und Zerwürfnisse
einzig aus dem Irrtum des Verstandes, nicht aber aus dem Irrtum des
Herzens entstehen. In dieser Definition liegt das ganze Wesen unserer
Uneinigkeiten und Zwiespälte – doch ist dieses Wesen an sich deshalb
noch nicht so unerfreulich. Irrtümer und Zweifel des Verstandes
verschwinden schneller und spurloser als die Irrtümer und Zweifel des
Herzens; aufgehoben aber werden sie nicht so sehr von gelehrten
Diskussionen und Disputen, als von der unabweisbaren Logik der
Ereignisse des lebendigen Lebens, die nichts weniger als selten den
richtigen Ausweg in sich tragen und auf den geraden Weg weisen, wenn
auch nicht plötzlich, nicht im ersten Augenblick, so doch jedenfalls in
sehr kurzer Frist, zuweilen sogar, ohne die nächste Generation
abzuwarten. Anders ist es mit den Irrtümern des Herzens. Der Irrtum des
Herzens wiegt schwerer: er bedeutet, daß der Geist, oft schon der Geist
der ganzen Nation, an irgend etwas erkrankt, von irgend etwas angesteckt
ist, und nicht selten führt diese Erkrankung, diese Ansteckung solch
einen Grad von Blindheit mit sich, daß die ganze Nation nicht mehr
geheilt werden kann – wieviel Rettungsversuche dem zunächst auch
widersprechen und auf den richtigen Weg weisen mögen. Im Gegenteil,
diese Blindheit entstellt die Tatsachen, wie es ihr gefällt, verändert
sie nach den Wahnbildern des kranken Geistes, und es kommt sogar vor,
daß eher die ganze Nation dem Untergange entgegengeht, im vollen
Bewußtsein dessen, was sie tut, d. h. sogar nachdem sie ihre Blindheit
eingesehen, als daß sie einwilligt, sich heilen zu lassen – denn nun
_will_ sie bereits nicht mehr geheilt werden. Möge man nicht im voraus
über mich lachen, daß ich umgekehrt die Irrungen des Verstandes für
leicht und schnell wieder gutzumachen halte. Und am lächerlichsten wäre
es wohl für einerlei wen, für jeden, nicht nur für mich allein, in
diesem Falle die Rolle des Ausgleichers zu spielen, der fest überzeugt
ist, mit Worten durchdringen und die Tagesüberzeugungen in der
Gesellschaft umkehren zu können. Alles das sehe ich vollkommen ein; doch
nichtsdestoweniger darf man sich nicht seiner Überzeugungen schämen, und
wer ein Wort zu sagen hat, der sage es.

Es will mir scheinen, daß jetzt eine Zeit gekommen ist, in der sich
_alle_ möglichst offen aussprechen müssen, ohne sich der naiven
Nacktheit manches Gedankens zu schämen. Tatsächlich erwarten uns, d. h.
ganz Rußland, vielleicht ungewöhnliche und große Ereignisse. „Es können
plötzlich gewaltige Fakta dasein und unsere intelligenten Kräfte
überraschen, und dann, – wird es dann nicht zu spät sein?“ habe ich
damals gefragt. Ich dachte dabei nicht nur an die politischen Ereignisse
der nächsten Zukunft, wenn sie auch heute derart sind, daß sie die
Aufmerksamkeit selbst der kläglichsten, selbst der verjudetsten, d. h.
der sich sonst um nichts, als nur um sich selbst kümmernden Geister in
Anspruch nehmen. In der Tat, wer kann es wissen, was der Welt im
nächsten Vierteljahrhundert bevorsteht, oder vielleicht schon in diesem
Jahre? Europa ist unruhig. Aber ist es nicht vielleicht nur eine jähe
vorübergehende Unruhe? Keineswegs: man fühlt, es ist die Zeit für etwas
Tausendjähriges, für etwas Ewiges gekommen, für das, was sich auf der
Erde seit dem Anfang ihrer Zivilisation vorbereitet hat.

Drei Ideen erheben sich vor der Welt und formulieren sich, scheint es,
endgültig.

Von einer Seite – am Rande Europas – die Idee des Katholizismus, die,
schon längst verurteilt, nun in großen Qualen und Zweifeln nicht weiß,
was ihrer harrt: Sein oder Nichtsein, Leben oder schon – Sterben? Ich
spreche nicht nur von der katholischen Religion, sondern von der ganzen
_katholischen Idee_, und dem Los derjenigen Nationen, welche unter dem
Joch dieser Idee seit einem Jahrtausend gelebt haben und ganz von ihr
durchdrungen sind. In diesem Sinne ist Frankreich die vollkommenste
Verkörperung der katholischen Idee im Verlaufe von Jahrhunderten
gewesen, ist das Haupt dieser Idee, die es schon von den Römern und in
durchaus römischem Geiste übernommen hat. Dieses Frankreich, das jetzt
sogar jegliche Religion, man kann wohl sagen, verloren hat – Jesuiten
und Atheisten sind dort ein und dasselbe –, das schon mehrmals seine
Kirchen geschlossen und einmal sogar Gott selber der Ballotage einer
Versammlung unterworfen hat, dieses selbe Frankreich, das aus den Ideen
von 1789 seinen eigenen französischen Sozialismus entwickelt hat, d. h.
die Pazifizierung und Organisation der menschlichen Gesellschaft ohne
Christus und außerhalb Christi, ganz so wie sie der Katholizismus _in_
Christus organisieren gewollt, doch nicht gekonnt hat: dieses selbe
Frankreich ist und fährt fort, wie in seinen Revolutionären des
Konvents, so auch in seinen Atheisten, seinen Sozialisten und seinen
modernen Kommunisten – immer noch im höchsten Grade eine katholische
Nation zu sein, bis ins Kleinste durchdrungen vom katholischen Geist und
Buchstaben. Durch den Mund seiner bekannten Atheisten verkündet es
„_Liberté, Egalité, Fraternité – ou la mort_,“ also auf ein Haar so, wie
es der Papst selbst ausrufen lassen würde, wenn er genötigt wäre,
_liberté, égalité, fraternité_ zu proklamieren – ganz in seinem Stil,
ganz in seinem Geist, in dem echtesten Geist und Stil der Päpste des
Mittelalters. Selbst der heutige Sozialismus – scheinbar ein heftiger,
verhängnisvoller Protest aller Nationen gegen die katholische Idee,
aller Menschen, die sie gequält und erstickt hat, und die um jeden Preis
leben wollen, aber leben ohne Katholizismus und ohne seine Götter, –
selbst dieser Protest, der offiziell am Ende des vorigen Jahrhunderts
begonnen hat, in Wirklichkeit aber viel früher, – ist in Frankreich
nichts anderes als die treueste und geradeste Fortsetzung der
katholischen Idee, ihre endgültige Vollendung, ihre verhängnisvolle
Folge, von Jahrhunderten ausgearbeitet! Denn der französische
Sozialismus ist nichts anderes als die _gewaltsame_ Vereinigung der
Menschen – eine Idee, die noch aus dem alten Rom stammt und sich
unversehrt im Katholizismus erhalten hat. Auf diese Weise hat sich die
Idee der Befreiung des Menschengeschlechtes vom Katholizismus gerade
hier in die allerengsten katholischen Formen gehüllt, in Formen, die dem
Herzen des katholischen Geistes, seinem Despotismus und wohl auch seiner
Moral entlehnt sind.

Von der anderen Seite erhebt sich der alte Protestantismus, der nun
bereits neunzehn Jahrhunderte lang gegen Rom und die römische Idee
protestiert, gegen die alte heidnische, wie gegen die erneute
katholische Idee, gegen Roms Weltgedanken, den Menschen auf der ganzen
Erde zu beherrschen, moralisch wie materiell, gegen Roms ganze Kultur –
der bereits seit den Tagen Armins und des Teutoburger Waldes
protestiert, protestiert und immer wieder protestiert. Das ist der
Germane, der blind glaubt, daß nur in ihm die Erneuerung der Menschheit
liegt und nicht in jener katholischen Kultur. In seiner ganzen
geschichtlichen Entwicklung hat er ja von seiner Einheit nur geträumt,
hat er nach ihr gelechzt nur, um sie verwirklichen zu können, seine
stolze protestantische Idee! Sie aber hat sich schon im Luthertum selbst
stark ausgeprägt und in gewisser Weise auch bereits abgeschlossen. Und
jetzt nach dem Sturze Frankreichs, der ersten, wichtigsten und
„allerchristlichsten“ katholischen Nation – jetzt ist der Germane
überzeugt von seinem Triumph und gleichfalls davon, daß niemand an
seiner Stelle der Führer der Menschheit werden wird und ihr die
Wiedergeburt bringen kann. Daran glaubt er fest, er glaubt, daß es etwas
Höheres als germanischen Geist und Wort in der Welt nicht gebe, und daß
Deutschland allein fähig sei, der Welt dieses Höchste zu geben. Es kommt
ihm lächerlich vor, selbst nur anzunehmen, daß auch anderswo in der Welt
irgendeine besondere Idee – meinetwegen nur im Keime – leben solle, eine
Idee, die das zur Führung der Welt bestimmte Deutschland nicht
gleichfalls haben könnte. Währenddessen wäre es jedoch alles andere als
überflüssig, zu bemerken, daß Deutschland in all diesen neunzehn
Jahrhunderten seines Daseins nichts anderes getan hat, als eben nur
protestiert, und daß es selber sein eigenes _neues Wort_ überhaupt noch
nicht gesagt, sondern die ganze Zeit über nur der Verneinung seines
Feindes gelebt hat, so daß in Zukunft vielleicht etwas überaus Seltsames
geschehen kann: daß nämlich, wenn Deutschland dereinst alles zerstört
haben wird, wogegen es neunzehn Jahrhunderte lang protestiert, es
plötzlich geistig selbst wird sterben müssen, unmittelbar nach seinem
Feinde, einfach, weil es dann keinen Grund mehr haben wird, zu leben;
_denn es wird ja nichts mehr geben, wogegen es protestieren kann_! Doch
möge das bloß eine Schimäre von mir sein – dafür ist Luthers
Protestantismus um so mehr ein Faktum: der aber ist eben ein
kritisierender und damit bloß _verneinender_ Glaube, der dann, wenn der
Katholizismus von der Erde verschwindet, nach ihm bestimmt auch
verschwinden wird, da er, wenn er gegen nichts mehr zu protestieren hat,
sich eben in reinen Atheismus verwandeln und damit sich selbst aufheben
wird. Doch auch das ist vorläufig bloß eine Schimäre von mir.

Die slawische Idee wird von dem Germanen ganz ebenso verachtet wie die
katholische, nur mit dem Unterschied, daß er die letztere immer als
starken und mächtigen Feind geschätzt hat, die slawische Idee dagegen
nicht nur für nichts wert hält, sondern sie sogar überhaupt nicht
anerkennt, überhaupt kaum kennt. Erst seit ganz kurzer Zeit fängt er an,
mißtrauisch zu den Slawen hinüberzusehen. Wenn es ihm auch jetzt noch
lächerlich erscheint, anzunehmen, daß auch die Slawen irgendein Ziel
oder eine Idee haben könnten, irgendeine Hoffnung, gleichfalls „der Welt
etwas zu sagen“, so hat sich einstweilen nach dem Sturze Frankreichs
sein mißtrauischer Verdacht doch verstärkt, und die Ereignisse des
vorigen Jahres[10] haben ihm dieses Mißtrauen natürlich nicht nehmen
können. Augenblicklich ist Deutschland sogar beinahe besorgt. In jedem
Fall, sagt es sich, und vor allen etwaigen Orientgedanken, muß es erst
seine Arbeit im Westen beenden! Wer aber kann da leugnen, daß Frankreich
in diesen fünf Jahren nach seinem Zusammenbruch den Deutschen gerade
dadurch beunruhigt, daß dieser es 1870/71 _nicht_ total zertrümmert,
zerstampft, vernichtet hat. 1875 erreichte diese Unruhe in Berlin einen
sehr hohen Grad, und Deutschland würde sich bestimmt von neuem auf
seinen uralten Feind gestürzt haben, um ihn, solange es noch Zeit ist,
endgültig zu erwürgen, wenn nicht einige äußerst wichtige Umstände es
daran gehindert hätten. Jetzt aber, in diesem Jahre, schreckt
Frankreich, das seine Position mit jedem Tage verstärkt hat, Deutschland
noch weit mehr als vor zwei Jahren. Deutschland weiß, daß sein Feind
nicht ohne Kampf sterben wird, daß er vielmehr, wenn er sich ganz erholt
hat, womöglich selbst zum Kampf rufen wird, so daß es nach drei, nach
fünf Jahren für Deutschland schon zu spät sein kann. Und nun, in
Anbetracht dessen, daß der slawische Osten Europas so ganz von einer
eigenen, plötzlich entstandenen Idee durchdrungen ist und jetzt genug
bei sich zu Hause zu tun hat, kann es sehr, sehr leicht geschehen, daß
Deutschland, sobald es seinen Rücken gesichert sieht, sich zum
letztenmal auf seinen westlichen Feind stürzt und sich von diesem
quälenden Alb befreit. Und das können wir schon in allernächster Zukunft
erleben. Im allgemeinen jedoch kann man sagen, daß, sobald die Dinge im
Osten ein wenig heikel oder gespannt sind, Deutschland in einer fast
noch unvorteilhafteren Lage ist. Beinahe muß es dann noch mehr
Befürchtungen und Sorgen haben, ganz abgesehen von seinem über die Maßen
stolzen Ton – das könnten wir doch wenigstens etwas mehr beachten.

Währenddessen aber ist im Osten tatsächlich die dritte Weltidee
großartig aufgegangen, sie, die slawische Idee, die Idee von morgen –
vielleicht die dritte aufsteigende Möglichkeit einer Entscheidung über
das Schicksal der Menschheit und Europas. Es ist schon heute allen klar,
daß mit der Lösung des Orientproblems in die Menschheit ein neues
Element dringen wird, eine neue Macht, die bis jetzt passiv dagelegen
hat, und bei der es ganz ausgeschlossen ist, daß sie auf das Schicksal
der Welt _nicht_ stark und entscheidend wirken wird. Was aber ist das
für eine Idee, was wird die Vereinigung aller Slawen mit sich bringen?

All das ist heute noch viel zu unbestimmt; doch daß wirklich etwas Neues
gesagt werden muß – daran zweifelt jetzt wohl niemand mehr. Und alle
diese drei mächtigen Weltideen drängen fast zur selben Zeit zu ihrer
Entscheidung. Das sind keine Launen mehr, kein Krieg um irgendeine
Thronfolge oder wegen der Zänkereien irgendwelcher hochgestellten Damen,
wie im vorigen Jahrhundert. Hier ist etwas Allgemeines und Endgültiges,
und wenn auch durchaus nicht alle Menschenschicksale Entscheidendes, so
doch zweifellos etwas, das den Anfang vom Ende der ganzen früheren
Geschichte Europas mit sich bringt, – den Anfang der Entscheidung über
unsere ganze Zukunft, die in Gottes Hand steht, und die der Mensch nicht
vorauswissen, wohl aber ahnen kann.

Die Frage, die sich nun jedem denkenden Menschen unwillkürlich stellt,
ist: Können solche Ereignisse in ihrem Laufe stehen bleiben? Können sich
Ideen von solcher Größe kleinlichen, jüdischen, drittklassigen
Erwägungen unterordnen? Läßt sich ihre Entscheidung hinausschieben, und
wäre das überhaupt wünschenswert? Zweifellos muß die Weisheit die
Nationen beschützen und verteidigen und der Nächstenliebe und der
Menschheit dienen, doch gewisse Ideen haben ihre gewaltige, alles
fortreißende Macht. Die abgebrochene und fallende Spitze eines Felsens
hältst du mit der Hand nicht auf! Wir Russen haben dabei zweierlei für
uns, zwei Kräfte, die da allen anderen in der Welt zusammengenommen
gleichkommen, das sind: die Ganzheit, die geistige Unteilbarkeit der
Millionen unseres Volkes und dessen unlösbare Verbindung mit dem
Zarentum. Es ist das natürlich etwas ganz Unbestreitbares, doch unsere
„Klugen“ verstehen nicht nur nicht die russische Volksidee, sie _wollen_
sie noch nicht einmal verstehen.


                         Die deutsche Weltfrage


                 Deutschland, die protestierende Macht

Sprechen wir jetzt[11] einmal von Deutschland, über seine jetzige
Aufgabe, diese ganze verhängnisvolle und auch alle anderen Völker
angehende deutsche Weltfrage.

Was ist das nun für eine Aufgabe? Und warum hat sich diese Aufgabe denn
erst jetzt für Deutschland in eine so schwierige Frage verwandelt, warum
nicht schon früher, warum nicht schon längst, sondern erst vor einem
Jahr, was sag’ ich, erst vor zwei Monaten?

Diese Aufgabe Deutschlands, seine einzige, hat es auch früher schon
gegeben, hat es gegeben, solange es überhaupt ein Deutschland gibt. Das
ist sein _Protestantentum_: nicht allein jene Formel des
Protestantismus, die sich zu Luthers Zeiten entwickelte, sondern sein
_ewiges_ Protestantentum, sein ewiger _Protest_, wie er einsetzte einst
mit Armin gegen die römische Welt, gegen alles, was Rom und römische
Aufgabe war, und später gegen alles, was vom alten Rom aufs neue Rom und
auf all die Völker überging, die Roms Idee, seine Formel und sein Wesen
übernahmen, der Protest gegen die Erben Roms und gegen alles, was dieses
Erbe ausmacht. Ich bin überzeugt, daß viele Leser über das, was ich
soeben geschrieben, mit den Achseln zucken und lachen werden: „Wie kann
man nur im neunzehnten Jahrhundert, im Jahrhundert der freien Ideen und
der Wissenschaft, noch über Katholizismus und Protestantismus reden und
streiten, ganz so, als ob wir noch im Mittelalter wären! Es gibt ja
allerdings noch religiöse Leute und sogar Fanatiker, aber die haben sich
doch nur noch wie archäologische Raritäten erhalten, die verdammt und
verlacht und von allen verurteilt in weltfernen Winkeln sitzen, ein
armseliges, klägliches Häuschen rückständiger Leutchen. Wie kann man sie
bei einer so großen Frage, wie es die der Weltpolitik ist, überhaupt nur
erwähnen?“

Ich aber meine nicht den „Protestantismus“, noch denke ich dabei an die
zeitweiligen Formeln der altrömischen Idee, noch an den ewig gegen sie
gerichteten germanischen Protest. Ich nehme nur die Grundidee, die schon
vor zweitausend Jahren geboren wurde und seit der Zeit nicht gestorben
ist, obgleich sie sich fortlaufend in verschiedenen Formeln verkörpert
hat. Und heute ist es die Erbin Roms, die ganze westeuropäische Welt,
die sich in den Geburtswehen einer neuen Umgestaltung dieser übererbten
alten Idee windet und quält. Das ist für denjenigen, der zu schauen
versteht, schon dermaßen augenscheinlich, daß es für ihn weiter keiner
Erklärungen bedarf.

Das alte Rom war die erste Macht, die die Idee einer universalen
Vereinigung der Menschen hervorbrachte, und die erste, die da _glaubte_
und fest überzeugt war, sie praktisch in Gestalt einer Weltmonarchie
verwirklichen zu können. Diese Formel jedoch fiel vor dem Christentum, –
die Formel, aber nicht die Idee. Denn diese Idee ist die Idee der
europäischen Menschheit, aus ihr bildete sich deren Kultur, für sie
allein lebt sie überhaupt. Es fiel bloß die Idee der universalen
_römischen_ Monarchie, und sie wurde durch das neue Ideal einer wiederum
universalen _neuen_ Vereinigung in Christo ersetzt. Dieses neue Ideal
zerspaltete sich in das östliche, das Ideal der vollkommen geistigen
Vereinigung der Menschen, und das westeuropäische, römisch-katholische
des Papstes, das dem östlichen durchaus entgegengesetzt ist. Diese
westliche, römisch-katholische Verkörperung der Idee vollzog sich auf
ihre Art, ohne den christlichen, geistigen Ursprung der Idee ganz zu
verlieren, und indem sie diese Idee mit dem altrömischen Erbe verband.
Das römische Papsttum verkündete, daß das Christentum und seine Idee
ohne die universale Beherrschung der Länder und Völker, – nicht geistig,
sondern staatlich, mit anderen Worten: daß es ohne die irdische
Verwirklichung einer neuen universalen römischen Monarchie, deren Haupt
nicht der römische Imperator, sondern der Papst sein würde – nicht
verwirklichbar wäre. Und da begann dann wieder der Versuch einer
universalen Monarchie – ganz und gar im Geiste der altrömischen Welt,
aber doch schon in einer anderen Form. Auf diese Weise ist das östliche
Ideal: zuerst die geistige Vereinigung der Menschheit in Christo
anstreben und dann erst, kraft dieser geistigen Vereinigung aller in
Christo, die zweifellos sich aus ihr ergebende rechte staatliche wie
soziale Vereinigung verwirklichen. Nach der römischen Auffassung ist das
Ideal dagegen das umgekehrte: zuerst sich eine dauerhafte staatliche
Vereinigung in der Form einer universalen Monarchie zu sichern und dann,
nachher, meinetwegen auch eine geistige Vereinigung zustande zu bringen
unter der Obrigkeit des Papstes, des Herrn dieser Welt.

Seit der Zeit hat dieser Versuch in der römischen Welt immer
Fortschritte gemacht und sich ununterbrochen verändert. Mit der
Entwicklung dieses selben Versuchs ist dann der wesentlichste Teil der
christlichen Grundsätze gänzlich eingebüßt worden. Als aber die Erben
der altrömischen Welt schließlich das Christentum geistig verwarfen, da
verwarfen sie mit ihm auch das Papsttum. Das geschah in der
Französischen Revolution, die im Grunde nichts anderes war wie die
letzte Gestaltveränderung oder Umverkörperung dieser selben altrömischen
Formel der universalen Vereinigung. Doch die neue Formel erwies sich als
ungenügend, die neue Idee verwirklichte sich nicht. Es gab sogar einen
Augenblick, da alle Nationen, die die altrömische Bestimmung übernommen
hatten, fast verzweifelten. Oh, versteht sich, der Teil der menschlichen
Gesellschaft, der 1789 für sich die politische Suprematie gewonnen
hatte, – die Bourgeoisie – triumphierte natürlich und erklärte, daß
weiter zu gehen nun nicht mehr nötig sei. Dafür aber schlugen sich alle
die Geister, die nach den unvergänglichen Gesetzen der Natur zur ewigen
Beunruhigung der Welt bestimmt sind, zum Suchen neuer Formeln des Ideals
und des neuen Wortes, wie sie beide unentbehrlich sind, – sie alle
schlugen sich zu den Erniedrigten und Umgangenen, zu denen, die von der
neuen Formel der allmenschlichen Vereinigung, die von der Französischen
Revolution 1789 proklamiert worden war, _nichts_ erhalten hatten. Diese
Geister verkündeten nun _ihr_ neues Wort, gerade die Notwendigkeit der
Allvereinigung der Menschheit, und zwar nicht mehr in der Absicht,
Gleichheit der Lebensrechte für etwa einen vierten Teil der ganzen
Menschheit zu verschaffen und die übrigen bloß als Rohmaterial und
auszunutzendes Mittel zum Glück dieses Viertels bestehen zu lassen,
sondern im Gegenteil: um die Allvereinigung der Menschen auf den
Grundsätzen der _allgemeinen_ Gleichheit zustande zu bringen, mit der
Teilnahme aller und jedes einzelnen an der Nutznießung der Güter dieser
Welt, welcher Art sie auch sein mögen. Zur Verwirklichung dieser Lösung
aber beschlossen sie, sich _jedes_ Mittels zu bedienen, d. h. also
durchaus nicht nur mit den Mitteln der christlichen Kultur vorzugehen,
sondern vor nichts mehr zurückzuschrecken.

Was hat nun das alles in diesen ganzen zweitausend Jahren mit
Deutschland und den Deutschen zu tun gehabt? Der charakteristischste,
wesentlichste Zug dieses großen, stolzen und besonderen Volkes bestand
schon seit dem ersten Augenblick seines Auftretens in der
geschichtlichen Welt darin, daß es sich niemals, weder in seiner
Bestimmung noch in seinen Grundsätzen, mit der äußersten westlichen
europäischen Welt hat vereinigen wollen, d. h. mit all den Erben der
altrömischen Bestimmung. Es protestierte gegen diese Welt diese ganzen
zweitausend Jahre hindurch, und wenn es auch sein eigenes Wort nicht
aussprach – und es überhaupt noch nie ausgesprochen hat, sein scharf
formuliertes eigenes Ideal, zum positiven Ersatz für die von ihm
zerstörte altrömische Idee – so, glaube ich, war es doch im Herzen immer
überzeugt, daß es noch einmal imstande sein werde, dieses neue Wort zu
sagen und mit ihm die Menschheit zu führen. Schon mit Armin begann es,
gegen die römische Welt zu kämpfen. Darauf, zur Zeit des römischen
Christentums, kämpfte es mit dem neuen Rom mehr denn jedes andere Volk
um die Vorherrschaft. Und endlich protestierte es in der mächtigsten
Weise, indem es die neue Formel des Protestes aus den geistigsten,
elementarsten Gründen der germanischen Welt zog. Die Stimme Gottes tönte
aus ihm und verkündete die Freiheit des Geistes. Die Spaltung war
furchtbar und allgemein, – die Formel des Protestes war gefunden und
ging in Erfüllung, – wenngleich es noch immer eine negative Formel
blieb, und das _positive_ Wort noch immer nicht gesagt wurde.

Und siehe, nachdem der germanische Geist dieses neue Wort des Protestes
gesprochen – erstarb er geradezu für eine Zeitlang, und zwar geschah das
parallel mit einer ebensolchen Erschlaffung der früher scharf
formulierten Einheit der Kräfte seines Gegners. Die äußerste westliche
Welt suchte, unter dem Einfluß der Entdeckung Amerikas, der neuen
Wissenschaften und der neuen Grundsätze, sich in eine andere „neue
Wahrheit“ umzugebären, gleichfalls in eine neue Phase einzutreten. Als
der erste Versuch dieser Umgestaltung zur Zeit der Französischen
Revolution gemacht wurde, da war der germanische Geist in großer
Verwirrung und nahe daran, seine Individualität zu verlieren, mitsamt
dem Glauben an sich. Er konnte nichts gegen die neuen Ideen der
äußersten westlichen europäischen Welt sagen. Luthers Protestantismus
hatte seine Zeit schon längst hinter sich, die Idee aber des freien
Geistes, der freien Forschung war bereits von der Wissenschaft der
ganzen Welt angenommen worden. Der riesige Organismus Deutschlands
fühlte mehr denn je, daß er keinen, sagen wir, Körper und keine Form für
seinen Ausdruck hatte. Und damals war es denn, daß in ihm das dringende
Bedürfnis entstand, sich wenigstens äußerlich in einen einzigen festen
Organismus zusammenzufügen, in Anbetracht der neuen herannahenden Phasen
seines ewigen Kampfes mit der äußersten westlichen Welt Europas. Hierbei
ist nun ein interessantes Zusammentreffen bemerkenswert: beide
feindlichen Lager, beide Gegner, beide Kämpfer um die Hegemonie im alten
Europa ergreifen und erfüllen zu ein und derselben Zeit – oder ungefähr
ein und derselben – jeder eine Aufgabe, die der des anderen sehr ähnlich
sieht. Die neue, noch phantastische zukünftige Formel der äußersten
westlichen Welt – die Erneuerung der menschlichen Gesellschaft durch
neue soziale Grundsätze – diese Formel, die fast unser ganzes
Jahrhundert hindurch nur von Schwärmern und ihren halbwissenschaftlichen
Vertretern, von allen möglichen Idealisten und Phantasten gepredigt
worden ist, verändert plötzlich in den letzten Jahren ihr Aussehen und
den Gang ihrer Entwicklung und beschließt: vorläufig von der
theoretischen Definition und Propagandierung ihrer Aufgabe abzulassen
und sofort den ersten praktischen Schritt zu tun, das heißt so viel wie
sofort den Kampf zu beginnen, zu diesem Zweck aber die Vereinigung aller
zukünftigen Kämpfer für die neue Idee in einer einzigen Organisation
zustande zu bringen, also des ganzen _vierten_ 1789 umgangenen Standes,
aller Besitzlosen, aller Arbeitenden, aller Armen, und erst darauf die
rote Fahne der neuen unerhörten Weltrevolution zu erheben. Es bildete
sich die Internationale, die Vereinigung aller Armen dieser Welt, es gab
Zusammenkünfte, Kongresse, Beschlüsse, neue Ordnungen, – mit einem Wort,
_im ganzen alten Westeuropa_ wurde der Grundstein zu einem neuen _status
in statu_ gelegt, und die zukünftige Ordnung dieser Welt sollte die
alte, die dort im äußersten Westen Europas herrscht, verschlingen. Zu
derselben Zeit aber, da dieses beim Gegner vor sich ging, begriff der
deutsche Geist, daß auch die deutsche Aufgabe, vor allen anderen Dingen
und neuen Anfängen, vor jedem Versuch eines neuen Wortes gegen den aus
der alten katholischen Idee umgestalteten Gegner, zuerst nur eine war –:
die eigene politische Einheit herzustellen, die Schöpfung des eigenen
staatlichen Organismus zu vollenden und, erst nachdem das geschehen war,
sich Stirn gegen Stirn seinem alten Feinde entgegenzustellen. So geschah
es auch: nachdem Deutschland seine Vereinigung innerlich vollendet
hatte, warf es sich auf den Gegner und trat mit ihm in eine neue
Kampfperiode ein, die mit Eisen und Blut begann. Der Kampf mit dem Eisen
ist heute beendet, – jetzt steht nur noch bevor, ihn geistig zu beenden.

Da taucht aber plötzlich für Deutschland eine neue Sorge auf, eine neue,
unerwartete Wendung der Sache, die die Aufgabe arg erschwert. Was ist
das nun für eine Aufgabe, und worin besteht diese neue Wendung der
Sache?


                    Ein genial-mißtrauischer Mensch

                               (Bismarck)

Diese Aufgabe, diese unvorhergesehene Sorge Deutschlands, hat sich, wenn
man will, schon längst erklären wollen, aber erst jetzt ist sie,
vielleicht etwas zu plötzlich, allen sichtbar geworden – und zwar
infolge der unvorhergesehenen klerikalen Umwälzung in Frankreich. Man
kann sie etwa in der Form folgenden Zweifels ausdrücken: Hat sich nun
der deutsche Organismus tatsächlich in ein einziges Ganzes vereinigt,
durch die genialen Anstrengungen der Führer Deutschlands in den letzten
fünfundzwanzig Jahren? Und überdies noch: Hat er sich denn wirklich
politisch vereinigt, ist nicht vielleicht auch das nur ein Trugbild,
ungeachtet des Deutsch-Französischen Krieges und des nach ihm
proklamierten, früher undenkbar gewesenen großen Deutschen Reiches?

Die ganze Schwierigkeit dieser Frage besteht hauptsächlich darin, daß
man sie fast bis zur allerjüngsten Zeit als überhaupt nicht vorhanden
annahm – wenigstens, wenn man dabei an die große Mehrzahl der Deutschen
denkt. Begeisterung für sich selber, Stolz und unanfechtbarer Glaube an
ihre unumschränkte Macht haben ja alle Deutschen ohne Ausnahme nach dem
Kriege wie trunken gemacht. Dieses Volk, das ungewöhnlich selten gesiegt
hat, dafür aber bis zur Seltsamkeit oft besiegt worden ist, – dieses
Volk besiegte plötzlich einen Feind, der fast immer und überall Sieger
gewesen. Da es aber nun einmal klar war, daß es ihn nicht
_nicht-besiegen_ konnte, infolge der mustergültigen Organisation seiner
großen Armee und der eigenartigen Umgestaltung derselben nach völlig
neuen Grundsätzen, und außerdem, da es so geniale Führer an der Spitze
hatte, so war es für den Deutschen natürlich ganz unmöglich, darauf
_nicht_ bis zur Trunkenheit stolz zu werden. Hier braucht man gar nicht
den uralten Zug des deutschen Charakters, die selbstzufriedene Prahlerei
eines jeden Deutschen, in Betracht zu ziehen. Anderseits: aus dem so
kürzlich noch zerstückelten staatlichen Organismus entstand plötzlich
ein so festes Ganzes, daß der Deutsche nicht gut auch hierüber in
Zweifel geraten konnte und daher einwandlos glaubte, die Einigung sei
nun tatsächlich für immer vollbracht, und für den deutschen Organismus
bräche nun eine neue, glänzende und große Phase der Entwicklung an. Und
so wuchsen denn nicht nur Stolz und Chauvinismus, sondern es schoß sogar
richtiger Leichtsinn auf. Was konnte es noch für Fragen geben, – nicht
nur für irgendeinen kriegerischen Ladenjüngling oder Bäckergesellen,
sondern selbst für einen Professor oder Minister? Einstweilen aber blieb
doch noch ein kleiner Kreis von Deutschen übrig, der schon sehr bald,
fast sofort nach dem Deutsch-Französischen Kriege, zu zweifeln und
nachzudenken begann.

Das Haupt dieses Kreises war zweifellos _Fürst Bismarck_.

Noch hatten die deutschen Truppen Frankreich nicht verlassen, als er
schon einsah, daß mit „Blut und Eisen“ zu wenig getan worden war, daß
man, wenn man Ziele von solcher Größe vor sich hatte, wenigstens zweimal
mehr hätte tun müssen, da die Gelegenheit nun einmal so günstig war.
Allerdings, militärische Vorteile blieben immerhin unvergleichlich mehr
auf seiten Deutschlands, und das noch für lange. Frankreich ist nach der
Abtretung der beiden Provinzen Elsaß und Lothringen für eine Großmacht
an Landumfang so klein geworden, daß im Fall eines neuen Krieges nach
ein oder zwei für Deutschland erfolgreichen Schlachten die deutschen
Heere schon im Zentrum Frankreichs stehen würden und es somit in
strategischer Beziehung erobert hätten. Sind nun aber diese Siege so
gewiß, kann man sich wirklich auf diese zwei erfolgreichen Schlachten
mit solcher Sicherheit verlassen? 1870–71 haben ja die Deutschen
eigentlich nicht Frankreich besiegt, sondern nur Napoleon und seine
Institutionen. Nicht immer werden in Frankreich die Heere so schlecht
organisiert sein und kommandiert werden; nicht immer werden dort
Usurpatoren herrschen, die aus dynastischen Interessen gezwungen sind,
solche klägliche Fahrlässigkeit zu dulden, daß ein reguläres Heer sich
nicht ein paar Monate im Felde erhalten kann. Nicht immer wird sich auch
ein Sedan finden, denn Sedan war ja im Grunde nur ein einzelner Fall,
der sich aus dem Umstande ergab, daß Napoleon nach Paris nur durch die
Gnade des Königs von Preußen hätte zurückkehren können. Und nicht immer
werden dort so wenig begabte Generale wie Mac-Mahon oder solche
„Verräter“ wie Bazaine sein. Die Deutschen, trunken von einem bis dahin
noch nie erlebten Triumph, konnten natürlich alle bis auf den letzten
glauben, alles das hätten sie, und nur sie allein, einzig mit ihrem
kriegerischen Genie gemacht. In jenem zweifelnden Kreise jedoch dachte
man anders, ... besonders nachdem der besiegte Feind, noch eben so
zerrüttet und erschüttert, plötzlich mit einem Schlage fünf Milliarden
Kontribution bezahlte und dabei nicht mal die Miene verzog. Das,
versteht sich, betrübte sehr den Fürsten Bismarck.

Von der anderen Seite stellte sich dem zweifelnden Kreise noch eine
zweite, vielleicht noch wichtigere Frage, und zwar: Hat sich nun
wirklich die staatliche und bürgerliche Vereinigung innerhalb des
Organismus vollzogen? Ich glaube, in ganz Europa, und besonders bei uns
in Rußland, hat bis jetzt noch niemand daran gezweifelt. Überhaupt haben
wir Russen alles, was in Deutschland in den letzten zehn, fünfzehn
Jahren geschehen ist, für etwas Endgültiges, im höchsten Grade nicht
Zufälliges, sondern durchaus Natürliches angesehen, für etwas, das sich
nun nicht mehr verändern kann. Die vollbrachten Taten flößten uns
außerordentliche Achtung ein. Währenddessen aber nahm wohl in den Augen
so genialer Menschen, wie Fürst Bismarck, kaum alles, so wie er es sich
innerlich wünschte, bereits die Gestalt endgültiger Dauerhaftigkeit an.
Das, was heute noch dauerhaft scheint, kann dies vielleicht nur in der
Phantasie sein. Es ist schwer, anzunehmen, daß eine so alte Gewöhnung
der Deutschen an politische Zerspaltung so schnell verschwunden sei wie
ein ausgetrunkenes Glas Wasser. Der Deutsche ist schon von Natur
starrsinnig. Zudem wurde die jetzige Generation der Deutschen von den
Erfolgen bestochen, trunken gemacht durch den Stolz und von der eisernen
Hand der Führer gelenkt. In Zukunft aber, wenn diese Führer in das
Jenseits abgerufen sein werden und ihren Platz im Diesseits anderen
überlassen haben, werden sich vielleicht doch die zeitweilig
unterdrückten Probleme und Instinkte wieder einstellen. Sehr
wahrscheinlich ist gleichfalls, daß dann die Energie der
Einheitsbewegung wieder erschlafft sein wird und im Gegenteil die alte
Energie der Opposition von neuem ersteht und das ins Wanken bringt, was
so mühsam aufgebaut wurde. Es wird sich das Bestreben, sich abzusondern,
sich zurückzuziehen, einstellen, und das gerade dann, wenn sich im
Westen der furchtbare Feind von dem Schlage ganz und gar erholt hat,
dieser Feind, der auch jetzt nicht schläft, nicht müßig ist, und von dem
man weiß, welches seine erste Aufgabe sein muß von allen, die er sich
gestellt hat. Und da kommt dann noch zum Überfluß, sagen wir, das
Naturgesetz selber hinzu: Deutschland ist doch in Europa immerhin das
Land, das in der _Mitte_ liegt: wie stark es also auch sein mag – auf
der einen Seite bleibt Frankreich, auf der anderen Rußland. Es ist ja
wahr, die Russen sind vorläufig noch höflich. Wie aber, wenn sie
plötzlich erraten, daß nicht _sie_ das Bündnis mit Deutschland brauchen,
wohl aber Deutschland das Bündnis mit Rußland; und überdies noch: _daß
die Abhängigkeit von dem Bündnis mit Rußland allem Anschein nach die
verhängnisvolle Bestimmung Deutschlands ist, und besonders seit dem
Deutsch-Französischen Kriege_ –?[12] Das ist es ja, warum an die allzu
große Ehrerbietung Rußlands selbst ein von seiner Kraft so überzeugter
Mensch, wie Fürst Bismarck, nicht imstande ist, zu glauben. Ja, bis zu
diesem letzten, unvorhergesehenen Zwischenfall in Frankreich, der
plötzlich die ganze Sachlage verändert hat, hoffte Fürst Bismarck immer
noch, daß die ungewöhnliche Höflichkeit Rußlands noch lange
unerschütterlich anhalten werde. Und nun plötzlich dieser Zwischenfall!
Ja, es ist in der Tat etwas Ungewöhnliches geschehen.

Ungewöhnlich für alle, doch nicht für den Fürsten Bismarck! Jetzt
erweist es sich, daß sein genialer Blick dieses „Ereignis“ schon längst
vorausgesehen hat. Oder ist es nicht sein Genie, sein scharfes Auge, das
den Hauptfeind bereits vor so langer Zeit entdeckte? Warum haßte er denn
gerade so den Katholizismus, warum verfolgte er alles, was von Rom, – d.
h. vom Papste – ausging, nun schon so viele Jahre lang? Warum bemühte er
sich so weitsichtig, sich das _Bündnis_ – so kann man sich ausdrücken –
mit Italien zu sichern, wenn nicht, um mit Hilfe der italienischen
Regierung die Wurzel des Papsttums in der Hand zu haben, wenn die Zeit
kommen wird, da ein neuer Papst gewählt werden muß? Nicht den
katholischen Glauben verfolgte er, sondern den römischen Ursprung dieses
Glaubens. Zweifellos handelte er dabei als Deutscher, als Protestant; er
arbeitete gegen die Grundmacht der äußersten westlichen, Deutschland
immer feindlichen Welt – trotzdem sahen viele, sehr, sehr viele von den
intelligentesten und liberalsten Denkern Europas auf diesen Feldzug des
mächtigen Bismarck gegen den nichtssagenden Papst wie auf den Kampf
eines Elefanten mit einer Mücke. Manche erklärten sich das mit einer
Marotte oder einer Laune des genialen Mannes. Das wichtigste war aber,
daß der geniale Politiker, vielleicht als einziger von allen
Staatsmännern der Welt, einzuschätzen _verstand_, wie stark das römische
Element noch in sich selbst und inmitten der Feinde Deutschlands ist,
und was für einen furchtbaren Kitt es in Zukunft abgeben kann, wenn es
heißt, alle diese Feinde zu vereinigen. Er allein war fähig, zu erraten,
daß sich vielleicht einzig in der römischen Idee eine solche Fahne wird
finden lassen, unter der man in dem unheilvollen und in Bismarcks Augen
unabwendbaren Augenblick alle von ihm schon erdrückten Feinde
Deutschlands wieder zu einem furchtbaren Ganzen wird zusammenbringen
können. Und siehe, der geniale Argwohn hat sich plötzlich bewahrheitet:
alle Parteien im besiegten Frankreich, die eine Bewegung gegen
Deutschland hätten beginnen können, waren zersprengt, und keine einzige
konnte die anderen besiegen und die Macht in Frankreich an sich reißen.
Vereinigen konnten sie sich gleichfalls auf keine Weise, da jede ihre
besonderen, entgegengesetzten Ziele im Auge hatte. – Und nun vereint die
Fahne des Papstes und der Jesuiten mit einem Male alle! Der Feind erhebt
sich, und dieser Feind ist nicht mehr Frankreich, sondern der Papst
selbst. Es ist der Papst, der Führer aller, dem die römische Idee
vermacht ist, der da kommt, um sich auf Deutschland zu stürzen.

Wie aber sieht es nun im Lager dieser Gegner Deutschlands aus?


                            Ärger und Macht

                              (Papstmacht)

Der Papst liegt im Sterben und wird bald gestorben sein. Die ganze
katholische Welt, die an Christus in der Gestalt der römischen Idee
glaubt, ist schon lange in ungewöhnlicher Aufregung: der unheilvolle
Augenblick rückt heran – da heißt es denn, Nichts versäumen und außer
acht lassen; denn sonst ist das Todesurteil der römischen Idee gefällt.
Es kann nämlich geschehen, daß der neue Papst unter dem Druck der
Regierungen ganz Europas, also nicht „frei“, gewählt wird, und daß er,
zum Papst ausgerufen, einwilligt, auf ewig und im Prinzip jedem
Landbesitz zu entsagen, wie auch natürlich dem Titel des weltlichen
Herrschers, auf den Pius IX. nicht verzichtete, vielmehr in demselben
verhängnisvollen Augenblick, da ihm Rom und das letzte Stück Land
genommen wurde und ihm nur noch der Vatikan blieb, wie zum Trotz seine
Unfehlbarkeit verkündete und zu gleicher Zeit die These vertrat, daß
ohne irdisches Reich das Christentum auf Erden nicht bestehen könne, –
also im Grunde sich für den Herrscher der Welt erklärte, und vor den
Katholizismus dogmatisch als einziges Ziel die universale Monarchie
hinstellte, nach deren Verwirklichung zu streben er zum Ruhme Gottes des
Vaters und des Sohnes auf Erden einfach befahl –! Selbstverständlich
belustigte er damit seinerzeit alle geistreichen Leute: „Er ärgert sich,
doch hilft ihm das nichts,“ sagte man damals. Und jetzt, plötzlich, wenn
der neugewählte Papst bestochen wird, wenn sogar das Konklave selber
unter dem Druck ganz Europas gezwungen wird, mit den Gegnern der
römischen Idee einen Kompromiß zu schließen, – nun, dann kann man sie ja
begraben! Denn, wenn einmal ein regelrecht gewählter, folglich also ein
„unfehlbarer“ Papst im Prinzip die Würde eines weltlichen Herrschers
ablehnt, so wird es auch weiterhin und auf ewig so bleiben. Anderseits:
tut der durch das Konklave neugewählte Papst fest und über die ganze
Welt hin kund, daß er nichts abzulehnen gedenke und ganz und gar in der
alten Idee verbleibe, und schleudert er das Anathema gegen alle Feinde
Roms und des römischen Katholizismus, so können ihn die Regierungen
Europas, wenn sie wollen, nicht anerkennen und somit eine so
verhängnisvolle Erschütterung der römischen Kirche heraufbeschwören, daß
die Folgen derselben unberechenbar und unabsehbar wären.

Oh, für die Politiker und Diplomaten fast ganz Europas war der
gestürzte, im Vatikan gefangene Papst in den letzten Jahren solch eine
Nichtigkeit, daß sie sich schämten, ihn auch nur zu erwähnen, besonders
die geistreichen und liberalen unter ihnen. Der Papst, der Allokutionen
hielt und Syllabusse herausgab, Pilger empfing und verfluchend im
Sterben lag, glich in ihren Augen einem Narren, der bloß zu ihrer
Belustigung lebte. Daß die größte Idee der Welt, die Idee, die aus dem
Kopfe des Teufels entsprungen während seiner Versuchung Christi in der
Wüste, die Idee, die in der Welt schon zweitausend Jahre lebt, daß diese
Idee so einfach mir nichts dir nichts sich hinzulegen und sterben werde,
womöglich in einer kurzen Minute – das wurde als unbestreitbar
angenommen! Der Fehler lag hier natürlich in der Auffassung der
religiösen Bedeutung dieser Idee, lag darin, daß zwei Bedeutungen
verwechselt wurden: „Da heutzutage,“ hieß es, „selten jemand in der Welt
noch an Gott glaubt, von dem Gott der römischen Auslegung schon ganz zu
schweigen, in Frankreich aber selbst das Volk nicht mehr glaubt,
höchstens noch die höhere Gesellschaft – aber auch die nicht wirklich
mehr glaubt, sondern nur so tut – _ergo_, was können dann in unserem
Jahrhundert der Bildung der Papst und der römische Katholizismus noch
für eine Macht haben?“ – das ist es, wovon jetzt die geistreichen Leute
überzeugt sind. Doch die religiöse Idee und die Papstidee sind
grundverschieden. Und diese selbe Papstidee hat nun plötzlich in unseren
Tagen, im ganzen erst vor zwei Monaten, mit einemmal solch eine
Lebenszähigkeit bewiesen, solch eine Kraft, daß sie in Frankreich die
radikalste politische Umwälzung zustande gebracht, ganz Frankreich den
Zaum aufgelegt hat und es jetzt sklavisch nach sich zieht.

In Frankreich bildete sich in den letzten Jahren die parlamentarische
Mehrheit aus Republikanern: und sie führten ihre Sachen ziemlich gut,
ehrlich, ruhig, ohne Aufregungen durch. Sie verbesserten die Armee,
bewilligten für sie ohne ein Wort des Streites riesige Summen, dachten
aber nicht einmal an den Krieg, und alle begriffen, in Frankreich wie in
Europa, daß, wenn es irgendwo eine friedliebende Partei gab, es
zweifellos diese republikanische in Frankreich war. Ihre Führer
zeichneten sich durch Mäßigung und eine an ihnen ganz ungewohnte
Vernunft aus. Einstweilen aber sind das in Wirklichkeit lauter abstrakte
Leute und Idealisten, Sänger eines schon längst verklungenen Liedes und
furchtbar kraftlose Menschen: liberale, ergraute, doch sich jünger
machende Greise, die sich einbilden, immer noch jung zu sein. Sie sind
bei den Ideen der ersten französischen Revolution stehen geblieben, d.
h. beim Triumph des dritten Standes, und sind im vollen Sinne des Wortes
die Verkörperung des Begriffes „Bourgeoisie“. Das ist ganz dieselbe
Julimonarchie, aber nur mit dem Unterschied, daß sie Republik heißt und
es keinen König in ihr gibt – versteht sich, letzteren im Sinne von
„Tyrann“. Alles, was sie Neues gebracht haben – das ist das Anno 48
eingeführte allgemeine Stimmrecht, das von der königlichen Juliregierung
so gefürchtet wurde, und aus dem nicht nur nichts Gefährliches
entstanden ist, sondern umgekehrt, sogar sehr viel für die Bourgeoisie
Nützliches. Sehr zustatten kam diese Idee auch der Regierung Napoleons
III. Doch die alten Herren waren im höchsten Grade zufrieden mit ihr,
und es beruhigt und lullt sie ein wie kleine Kinder, daß sie
„Republikaner“ sind. Das Wort „Republik“ hat bei ihnen etwas
Komisch-Ideales. Man sollte meinen, daß diese unschuldige Partei
Frankreich und die Franzosen vollkommen zufriedenstellen könnte, das
heißt, die städtische Bourgeoisie und die Grundbesitzer. Doch siehe, in
Wirklichkeit ist es umgekehrt. In der Tat, warum erschien die Republik
in Frankreich immer als eine unzuverlässige Regierungsform? Und wenn die
Republikaner nicht immer gehaßt worden sind, so werden sie doch immer
von der großen Mehrzahl der Bourgeoisie wegen ihrer Kraftlosigkeit
verachtet, oder wenn auch nicht gleich verachtet, so doch immerhin nicht
wirklich geachtet. Auch das Volk hat ihnen fast nie getraut. Jedesmal,
wenn in Frankreich die Republik die Regierung antrat, verlor geradezu
alles im Lande seine Festigkeit und sein Selbstvertrauen. Bis jetzt ist
die Republik immer nur ein Übergangszustand gewesen – zwischen
revolutionären Versuchen allerschrecklichster Art und irgendeinem,
zuweilen allerdummdreistesten Usurpator. Und da sie fast immer ein
solches Ende genommen, hat sich auch die Gesellschaft gewöhnt, sie
danach zu beurteilen. Dieses Mal war es nicht anders: kaum daß die
Republik begann, fingen alle an, sich gleichsam in einem Interregnum zu
fühlen – und wie vernünftig die Republikaner auch regieren mögen, die
Bourgeoisie bleibt doch im stillen überzeugt, daß früher oder später der
rote Bund aufflammen oder wieder irgendeine Monarchie beginnen wird. Das
Ergebnis ist, daß der Bourgeoisie nun die monarchische Regierung viel
lieber geworden ist als die republikanische, sogar ungeachtet dessen,
daß die Monarchie, wie zum Beispiel die Napoleons III., gewissermaßen
Versuche einer Vereinbarung mit den Sozialisten gemacht hat, während
doch in der ganzen Welt niemand und nichts den Sozialisten feindlicher
sein kann als die echten Republikaner: für die ist ja nur das Wort
„Republik“ nötig, die Sozialisten aber suchen nicht Worte, sondern
Taten. Nach den Prinzipien der Sozialisten ist’s ihnen einerlei – bilden
sie eine Republik oder eine Monarchie, bleiben sie Franzosen oder werden
sie womöglich Deutsche, und, offen gestanden, selbst wenn sich die Sache
irgendwie so wenden sollte, daß ihnen der Papst zustatten käme, so
würden sie selbst den Papst wählen. Sie suchen vor allen anderen Dingen
zuerst _ihre Sache_ durchzuführen, das heißt, den Sieg des vierten
Standes sowie Gleichheit in der Verteilung der Rechte bei der
Nutznießung der Lebensgüter, unter welch einer Fahne jedoch – das ist
ihnen einerlei, meinetwegen unter der allerdespotischsten.

Auffallend ist, daß Fürst Bismarck den Sozialismus nicht weniger als das
Papsttum haßt, und daß die deutsche Regierung, besonders in der
allerletzten Zeit, scheinbar schon etwas zu sehr die sozialistische
Propaganda zu fürchten anfängt. Zweifellos geschieht das nur, weil der
Sozialismus die nationale Grundlage aufhebt, überhaupt die Wurzel der
Nationalität untergräbt: das Prinzip der Nationalität aber ist die
Grundlage der ganzen deutschen Einheit, die Hauptidee alles dessen, was
in Deutschland in den letzten Jahren vollführt worden ist. Es kann
jedoch sehr leicht möglich sein, daß Fürst Bismarck noch tiefer sieht
und sich folgendes sagt: Der Sozialismus ist für ganz Westeuropa eine
zukünftige Macht oder doch Kraft, und wenn das Papsttum irgendeinmal von
den Mächten dieser Welt verlassen und verworfen sein wird, so kann es
sehr, sehr leicht geschehen, daß es sich in die Arme des Sozialismus
wirft und mit ihm zu einem Ganzen verschmilzt. Der Papst kommt mit
bloßen Füßen zu allen Armen und sagt, daß alles, was sie lehren, schon
längst in der Bibel geschrieben stehe, daß bisher bloß die Zeit für sie
noch nicht gekommen wäre, dieses zu wissen, jetzt aber sei sie endlich
angebrochen, und nun sei er, der Papst selber, bereit, ihnen Christus zu
opfern, und statt an Ihn, gleichfalls an den menschlichen Ameisenhaufen
zu glauben. Der römische Katholizismus – das liegt auf der Hand – bedarf
nicht Christi, sondern der Weltherrschaft: „Also ihr braucht eine
Vereinigung gegen den Feind? Vereinigt euch unter meiner Macht; denn ich
allein bin von allen Mächten und Machthabern der Welt _universal_, –
laßt uns zusammengehen!“ Dieses Zukunftsbild stellt sich wahrscheinlich
Fürst Bismarck vor; denn von allen Diplomaten hat er allein einen so
scharfen Blick gehabt, um die Lebenszähigkeit der römischen Idee und
diese ganze Energie zu erkennen, mit der sie bereit ist, sich zu
verteidigen, ohne jetzt noch die Mittel zu wählen. Leben will sie
höllisch gern, sie zu töten aber ist schwer, denn sie ist eine Schlange!
– Der einzige, der das erkennt, ist Bismarck – der größte Feind des
Papsttums und der römischen Idee!

Doch siehe, die sich immer jünger machenden alten Herrchen, die
französischen Republikaner, sind nicht fähig, dies zu verstehen. Den
Klerus hassen sie schon aus bloßem Liberalismus, den Papst halten sie
für machtlos und verächtlich und die römische Idee für vollständig
überlebt. Sie verfallen nicht mal darauf, sich mit der furchtbaren
klerikalen Partei zu versöhnen, wenn auch nur politisch, um sich etwas
mehr Festigkeit zu verleihen. Wenigstens könnten sie es doch vorläufig
unterlassen, die Klerikalen zu reizen, sie mit einem so anmaßenden
Selbstvertrauen zu foppen, ja, sie könnten ihnen sogar einige
Unterstützung bei der so nah bevorstehenden Wahl des neuen Papstes
versprechen. Sie aber tun gerade das Gegenteil – entweder aus der
idealen Ehrlichkeit ihrer Überzeugungen, oder einfach aus Leichtsinn. In
der letzten Zeit haben sie noch zum Überfluß angefangen ganz besonders
den Klerus zu verfolgen, und zwar genau in dem Augenblick, da dem
Papsttum nur noch Frankreich als einzige Stütze verblieb. Denn wer
könnte wohl im Notfalle für die „Freiheit“ der Papstwahl und für die
Freiheit des gewählten Papstes das Schwert ziehen? Und dieses Schwert
muß zudem noch stark und mächtig sein. Es blieb keine andere Wahl als
Frankreich und seine große Armee. Und nun Frankreich an der Spitze der
Feinde! Freilich, Marschall Mac-Mahon ist gehorsam, doch ist er selber
in der Klemme und kann sich nicht mal selbst befreien: Die Mehrheit der
Kammer ist republikanisch und liberal, und keine einzige der anderen
Parteien vermag sie zu stürzen. Kurz, die republikanische Mehrheit zu
verdrängen ist unmöglich ... Und nun plötzlich befreit dieser Klerus –
dieser verachtete, machtlose Klerus! – den Marschall Mac-Mahon und
beweist der ganzen Welt eine Macht, wie sie niemand von ihm mehr
erwartet hätte. Die Pfaffen geben den Parteien zu verstehen, daß sie
sich nur unter der Fahne des Klerus vereinigen können, und die Parteien,
frappiert durch die Augenscheinlichkeit dieser Wahrheit, sind sofort mit
ihnen einverstanden. In der Tat: für die Legitimisten wie für die
Bonapartisten ist der größte und nächste Feind – diese selbe
republikanische Mehrheit. Wenn jede dieser Parteien einzeln für sich
arbeiten wollte, so würde sie nichts erreichen, zusammen aber, vereint,
können sie eine Macht bilden, die am Ende fähig wäre, alle zu besiegen
und selbst die Republikaner zu verjagen. Dann aber, wenn sie die
Republik erdrosselt haben, wird jede Partei sich um sich allein kümmern
können und, versteht sich, jede von ihnen wird dann um so größere
Aussichten auf Erfolg haben, je mehr sie dem Klerus Gefallen erweist.
Alles das hat der Klerus mathematisch berechnet und – – die Vereinigung
ist zustande gekommen: schon hat die klerikale Mehrheit des Senats den
Marschall Mac-Mahon ermächtigt, die Republikaner anzugreifen.


                           Das schwarze Heer.

      Die Meinung der Legionen als neues Element der Zivilisation

Nachdem der Klerus plötzlich solch eine unerwartete Macht und
Gewandtheit bewiesen hat, wird er fraglos noch weiter gehen. Dieses
schwarze Heer wird einfach in der entscheidenden Stunde Deutschland den
Krieg erklären – und das ist es, was Fürst Bismarck alsbald durchschaut
hat! Das Wichtigste haben sie ja schon erreicht: Mac-Mahon hat
eingewilligt, Frankreich in die Abenteuerpolitik zu stürzen. Nun, und
die Klerikalen sind nicht derart, um vor dem Weiteren zurückzuschrecken.
Die haben kein Mitleid mit Frankreich. Wie alles in der Welt, brauchen
sie auch Frankreich nur so lange, wie sie aus ihm Nutzen ziehen können.
Dieses Land, das ihre einzige Hoffnung ist und ihnen so viele
Jahrhunderte lang treu gedient hat, könnten sie eigentlich wohl
verschonen! Aber ihre Stunde im Jahrtausend hebt schon an zum Schlage,
und wenn ihnen da gerade Frankreich in die Hände fällt: warum sollen sie
dann nicht aus ihm Kräfte herausquetschen, soviel sie eben nur können,
und wenn sie damit auch hundertmal seine Existenz, sein Leben aufs Spiel
setzen? Sie müssen alles nehmen, was es noch hergeben kann, und vor
allen Dingen dürfen sie keinen Augenblick versäumen: wollten sie nur ein
wenig später beginnen, so wäre es für sie schon zu spät. Darum heißt es
gerade jetzt versuchen, Bismarck zu schlagen; denn wenn jemand bei der
Wahl des Papstes stören wird, so ist es natürlich nur er. Und hinzu
kommt jetzt noch, daß Bismarck gerade in diesem Augenblick ganz allein
ist, ohne einen einzigen Verbündeten: Rußland – seine ganze Hoffnung –
ist durch den Krieg in Anspruch genommen. Und schließlich, wenn es
gelingt, Bismarck, wenn auch nur zeitweilig, zu besänftigen, so heißt es
für sie doch, so schnell wie nur möglich, das Zukünftige anbahnen: den
günstigen Augenblick benutzen und ein für allemal aus Frankreich einen
dauerhaften Bundesgenossen machen, einen, der zu allem bereit ist und
gehorsam bleibt, und der einwilligt, zu diesem Zweck daselbst eine
radikale, diesmal aber _ernstliche_, auf ewig geltende Umwälzung
zustande zu bringen. Zweifellos ist damit viel gewagt, doch schwanken
können wohl andere, nicht aber die Jesuiten. Die Sache liegt nämlich so,
daß sie gegenwärtig überhaupt keine andere Wahl haben, als riskieren und
riskieren und nochmals riskieren ... Sich mit der klerikalen Umwälzung
in Frankreich begnügen, – ohne Krieg mit Deutschland und ohne
_ernstliche_ Revolution in Frankreich, ist ihnen einfach unmöglich:
derart ist jetzt ihre Lage. Sie wollen alles haben – oder nichts –, und
da würde wenig nehmen, sich mit irgendeinem „Einfluß auf die Regierung“
zufrieden geben, ihnen nicht den geringsten Nutzen bringen. Ihre
Bedürfnisse aber sind jetzt riesengroß! Und so bleibt ihnen nichts
anderes übrig, als _va banque_ zu spielen. Wenn ihnen aber, nehmen wir
an, der Coup in Frankreich nicht gelingt, wenn, sagen wir, die Deutschen
nochmals siegen und Frankreich den letzten Todesstoß geben, so kommt es
für sie doch auf eins heraus: sie, also der Klerus, werden es deswegen
nicht schlechter haben als jetzt, ich meine, als wenn sie jetzt artig
die Hände in den Schoß legten und keine Umwälzung beabsichtigten: sie
würden beim Alten bleiben, bei dem, wo sie vor den „Abenteuern“ waren,
das heißt soviel wie in der allerschlimmsten Lage, die nur einen Trost
hat, nämlich den, daß sie nicht mehr schlimmer werden kann. Eine andere
Sache ist es mit Frankreich: wird es nochmals besiegt, so ist es
unrettbar verloren. Doch nicht den Jesuiten steht es an, davor
zurückzuschrecken: sie wissen, daß sie, wenn Frankreich _siegt_, _alles_
bekommen und sich dann endgültig einnisten können. Dazu aber haben sie
ihre besonderen Mittel, in Frankreich noch unerhörte Mittel!

Alle anderen Revolutionäre, selbst die wildesten „rotesten“, verbinden
sich doch, wenn sie den Umsturz vollbracht, mit irgend etwas
Allgemeinem, vorher Gegebenem und sogar Gesetzmäßigem. Die
revolutionären Jesuiten jedoch können nicht gesetzmäßig, sondern nur
_ungewöhnlich_ handeln. Dieses schwarze Heer steht außerhalb der
Menschheit, außerhalb des Bürgertums, außerhalb der Zivilisation und
geht ganz von sich allein aus. Das ist ein _status in statu_, das ist
die Armee des Papstes, die braucht nur den Triumph _einzig ihrer_ Idee,
– das übrige mag untergehen, was ihr im Wege liegt, mag verderben, was
nicht mit ihnen übereinstimmt, mag sterben – Kultur, Gesellschaft,
Wissenschaft! Sicherlich wollen sie Frankreich zu einer neuen und
jedenfalls endgültigen Form umarbeiten, wenn bloß die Gelegenheit ihnen
günstig ist; und wollen aus dem Lande allen Kehricht hinausfegen, und
zwar mit einem Ofenbesen, wie ihn bis jetzt noch niemand gesehen hat,
auf daß nicht einmal ein Geruch von irgendeinem Widerstande im Lande
bleibe; und wollen dann dem Französischen Staat eine neue Verfassung
geben, die ewig unter der strengsten Vormundschaft der Jesuiten bleiben
muß.

All das kann auf den ersten Blick lächerlich absurd erscheinen. In der
französischen Presse – und auch in der unsrigen – sind alle
wohlgesinnten Leute fest davon überzeugt, daß die klerikale Partei sich
bei den nächsten Wahlen unbedingt das Bein brechen werde. Die
französischen Republikaner sind in ihrer geistigen Unschuld gleichfalls
vollkommen überzeugt, daß „die ganze _activité dévorante_ der von neuem
ausgesandten Präfekten und Maires so gut wie nichts erreichen wird und
nur die früheren Republikaner gewählt werden, die dann wiederum die
frühere Mehrheit ausmachen und alsbald den Absichten Mac-Mahons ein Veto
entgegensetzen werden; darauf wird dann der ganze Klerus verjagt und mit
ihm vielleicht auch Mac-Mahon“. Doch diese Überzeugung ist leider nicht
sehr begründet, und sicher machen sich die Klerikalen in der Beziehung
die geringsten Sorgen. Die Sache ist nämlich eigentlich die, daß die
naiven, harmlosen Greise, wie es scheint, immer noch nicht, trotz der
vielen Erfahrungen, im ganzen Umfang begreifen können, mit was für
Leuten sie es zu tun haben. Denn so wie die Wahlen für die Klerikalen
nur ein wenig unvorteilhaft ausfallen, werden sie auch die neue Kammer
auflösen, ungeachtet aller konstitutionellen Rechte derselben. Man wird
vielleicht einwenden, dieses sei ungesetzmäßig, illegitim und darum
unmöglich? Das ist allerdings wahr, doch wann kümmert sich dieses
schwarze Heer um das Gesetz und die Rechte? Sie werden bestimmt – wir
haben ja schon Tatsachen, die davon zeugen – ihrem gehorsamen Marschall
den tollkühnen Gedanken eingehen, ein Mittel zu gebrauchen, das in
Frankreich noch nie angewandt worden ist, und zwar: den _militärischen
Despotismus_. Man wird natürlich sofort sagen, daß das ein altes Mittel
sei, daß es schon mehrmals angewandt worden wäre, zum Beispiel von den
Napoleonen! Und doch wage ich zu behaupten, daß es _in seiner ganzen
Gewaltsamkeit tatsächlich_ noch kein einziges Mal in Frankreich
gebraucht worden ist. Hat sich der Marschall Mac-Mahon der Armee
versichert, so kann er die ganze zukünftige Versammlung der
Landesvertreter, _wenn sie gegen ihn ist_, einfach mit dem Bajonett
auseinanderjagen und darauf dem Volke erklären, daß _die Armee es so
gewollt habe_. Wie ein römischer Imperator der Verfallszeit kann er
daraufhin ruhig kundtun, daß er sich hinfort „_nur noch nach der Meinung
der Armee richten werde_“. Dann kommt der allgemeine Belagerungszustand
und der militärische Despotismus, – und Sie werden sehen, meine
Herrschaften, das wird furchtbar vielen in Frankreich sogar ungemein
gefallen! Glauben Sie mir, wenn es not tut, werden auch die Abgeordneten
kommen und mit der _Stimmenmehrheit ganz Frankreich_ den Krieg gestatten
und die nötigen Gelder dazu hergeben. In seiner kürzlichen Rede an das
Heer hat sich der Marschall wenigstens in diesem Sinne ausgedrückt, und
seine Worte haben großen Anklang gefunden. Wir können also nicht mehr
zweifeln, daß das Heer mehr auf seiner Seite ist. Hinzu kommt noch, daß
er jetzt schon zu weit gegangen ist, um noch stehenbleiben zu können,
andernfalls würde er seinen Posten nicht mehr behalten, während doch
seine ganze Politik und seine ganze Person sich in dem einen Wort „_J’y
suis et j’y reste_“ ausdrückt. Über diese Phrase hinaus ist er
bekanntlich noch nicht gegangen, doch wird er selbstverständlich alles
für den Triumph derselben tun, wird, wenn’s drauf ankommt, selbst die
Existenz Frankreichs aufs Spiel setzen. Die Fähigkeit und
Bereitwilligkeit zu solch einem Wagnis hat er ja schon einmal im
Deutsch-Französischen Krieg bewiesen, als er sich unter dem Einfluß der
Bonapartisten entschloß, aus Treue zur Dynastie Napoleons, Frankreich
bewußt seiner Armee zu berauben. Die Klerikalen haben ihm bestimmt sein
„_J’y suis et j’y reste_“ sicher gestellt. Zweifellos haben sie es schon
verstanden, Mac-Mahon geschickt darauf _hinzuweisen_, daß man im
Notfalle – sind erst einmal die Parteien, die Bonapartisten und
Legitimisten, unter der Fahne vereinigt – daß man im Notfalle, wie
gesagt, auch ohne Chambord und ohne Bonaparte auskommen könne und man
sie durchaus nicht zu rufen brauche, ja, dieses sogar in keinem Fall,
sondern daß einfach der Marschall Mac-Mahon Diktator und unabsetzbarer
Regent – doch dann nicht nur auf sieben Jahre – werden könne. Auf diese
Weise würde sich also die These „_J’y suis et j’y reste_“ ohne Wunder
verwirklichen – wenn man nur erst das Einverständnis der Armee hätte!
Die Zustimmung Frankreichs kommt später ganz von selbst hinzu, denn eine
feste Diktatorenhand an der Spitze der Macht wird vielen, sehr vielen
gefallen. Solcher schmeichelhaften _Hinweise_ wird es, wie gesagt,
fraglos schon gegeben haben. Vielleicht wird man Bedenken tragen, ob ein
Mann wie Mac-Mahon so etwas unternehmen und auch ausführen kann? Nun,
erstens hat er schon die eine Hälfte ausgeführt, und zwar diejenige
Hälfte, die, was Entschlossenheit anbetrifft, keineswegs leichter ist
als die andere. Und zweitens, – gerade solche Leute, die an und für sich
nicht im geringsten unternehmend sind, können, wenn sie plötzlich unter
irgend jemandes höheren, energischen Einfluß kommen, eine ganz
unerwartete, verhängnisvolle Entschlossenheit bekunden – nicht etwa weil
sie Genies sind, sondern viel eher aus dem entgegengesetzten Grunde.
Hier handelt es sich nicht um Erwägung, sondern einfach um das
In-Bewegung-Setzen, darum daß man den Anstoß gibt; und hat man solche
Menschen erst einmal ordentlich vorwärtsgestoßen, so ziehen sie eben die
Karre so lange schnurgerade weiter, bis sie entweder mit dem Kopf die
Wand einrennen oder aber sich selbst die Hörner abstoßen.


                  Ein ziemlich unangenehmes Geheimnis

                              (Ausblicke)

All das begreift man in Deutschland nur zu gut. Wenigstens halten alle
offiziösen Organe der Presse, die vom Fürsten Bismarck beeinflußt
werden, den Krieg für unvermeidlich. Wer von den Gegnern sich zuerst auf
den anderen stürzen wird, und wann gerade, – das kann man natürlich
nicht voraussagen, doch kann der Krieg sehr, sehr leicht ausbrechen.
Selbstverständlich „kann“ das Gewitter auch vorüberziehen, nämlich wenn
Mac-Mahon plötzlich Angst befällt vor dem, was er auf sich genommen, und
er, wie einstmals Ajax, in Zweifeln befangen, auf halbem Wege
stehenbleibt. Dieser Zufall ist allerdings möglich, doch kann man wohl
kaum irgendwie auf ihn oder mit ihm rechnen. Vorläufig verfolgt Fürst
Bismarck mit fieberhafter Aufmerksamkeit alles, was in Frankreich vor
sich geht, und beobachtet und wartet. Für ihn besteht das
Verhängnisvolle gerade darin, daß die Sache nicht in dem Augenblick
angefangen hat, in dem er es erwartete. Jetzt jedoch sind ihm die Hände
gebunden. Am unangenehmsten aber ist, daß sich plötzlich die Wunden
aufgedeckt haben, die bis jetzt so sorgsam geheimgehalten wurden. Über
die größte von ihnen habe ich schon einmal gesprochen – das ist die
Befürchtung, Rußland könnte erraten, wie mächtig es ist, und welch eine
Bedeutung sein entscheidendes Wort jetzt, gerade in diesem Augenblick
haben kann, und – die Hauptsache – „_daß die Abhängigkeit vom Bündnis
mit Rußland allem Anschein nach die Schicksalsbestimmung Deutschlands
ist, besonders seit dem Deutsch-Französischen Kriege_“. Dieses deutsche
Geheimnis könnte jetzt plötzlich ans Licht kommen – und das wäre für die
Deutschen zum mindesten peinlich. Wie aufrichtig gewogen uns auch die
Politik Deutschlands in den letzten Jahren gewesen ist: dieses Geheimnis
ist von allen Deutschen streng bewahrt worden, niemals auch nur
angedeutet worden – auch nicht in der Presse. Bis jetzt hatten die
Deutschen immer eine ruhige und stolze Haltung, die natürlicherweise der
Macht, die niemandes Hilfe braucht, eigen ist; nun aber muß die schwache
Stelle leider herauskommen. Denn wenn das klerikale Frankreich sich zum
verhängnisvollen Kampf entschließt, so ist es damit nicht getan, daß man
seinen Angriff, falls es zuerst angreifen sollte, zurückschlägt, sondern
man muß es für immer entkräften, es einfach erdrücken und die
Gelegenheit ausnutzen – das ist die Aufgabe! Da aber Frankreich zudem
reichlich eine Million Soldaten hat, so muß es den Sieg, um des Endes
der Sache gewiß zu sein, unbedingt _sicher_ stellen; denn anders lohnt
es sich überhaupt nicht, anzufangen. Und die einzige Sicherstellung
wäre, sich des entscheidenden Wortes Rußlands zu vergewissern. Kurz, am
unangenehmsten ist, daß all das so plötzlich und unvorbereitet
herauskommt. Alle früheren Berechnungen sind umgeworfen, und jetzt sind
es schon die Ereignisse, die die Berechnungen lenken – nicht umgekehrt,
wie früher. Heute oder morgen kann Frankreich im Innern mit sich zur
Ruhe kommen. Es hat sich in eine Abenteuerpolitik gestürzt, und daher
kann man sich wohl fragen, wo diese Abenteuer aufhören werden, wo ihnen
eine Grenze gezogen sein wird? Das ist sehr unangenehm: noch vor so
kurzer Zeit zeigten die Deutschen ein so unabhängiges Auftreten,
besonders im letzten Jahre. Erinnern wir uns, daß in diesem Jahre auch
Rußland sich bemühte, in Europa zu erkennen, wer ihm freund war, und die
Deutschen kannten unsere Sorgen und machten ihre feierlich-festlichste
Miene, die wohl den Umständen am angemessensten war. Es ist ja
verständlich, wenn Deutschland sich über jede slawische Bewegung immer
ein wenig beunruhigt; doch kann man wohl sagen, daß die Kriegserklärung
Rußlands vor zwei Monaten für Deutschland vielleicht sogar nicht einmal
so ganz unangenehm war: „Nein, jetzt werden sie es schon bestimmt nicht
erraten,“ dachte man in Deutschland vor zwei Monaten, „daß wir es sind,
die ihrer bedürfen, jetzt werden die Russen, an der Donau, dem
‚deutschen Strom‘, stehend, vollkommen überzeugt sein, daß, umgekehrt,
mir sie allein uns furchtbar nötig haben und es am Ende des Krieges ohne
unser gewichtiges Wort unmöglich abgehen wird. Und es ist gut, daß die
Russen so denken, das kann uns später sehr zustatten kommen.“ Fraglos
hat es viele kluge Deutsche gegeben, die vor zwei Monaten so von uns
gedacht haben; ihre ganze Presse dachte und schrieb so und – nun
plötzlich hat diese klerikale Stimmung durch alles einen Strich gezogen
und alles umgestürzt! „Oh, jetzt werden sie es erraten, jetzt werden sie
alles erraten! Und außerdem ist es unbedingt nötig, daß Rußland so
schnell wie möglich diesen Krieg beendet und wieder frei wird! Doch wäre
es äußerst gefährlich, hierbei eine Beeinflussung zu versuchen.
Vielleicht wird es vor England und Österreich Angst bekommen – was aber
nicht anzunehmen ist. Uns aber England und Österreich zur Beeinflussung
Rußlands anzuschließen, daran ist nicht zu denken: die werden später
sowieso nicht helfen, und Rußland würden wir nur verärgern. Sonderbare
Lage! Oder sollte man Rußland womöglich helfen, damit es den Krieg
schneller los wird? Nun ... das könnte man auch ohne Waffen tun, einfach
mit politischem Druck, auf Österreich zum Beispiel ...“ So ungefähr
überlegen jetzt dieselben Politiker, und es kann sehr, sehr leicht
geschehen, daß all das in Wirklichkeit eintrifft.

Um es kurz zu machen – ich wollte nur meine Überzeugung äußern, meinen
Glauben, daß Rußland nicht nur so stark und mächtig wie immer ist,
sondern jetzt, gerade jetzt, die stärkste aller europäischen Mächte ist,
und daß noch niemals sein entscheidendes Wort in Europa so geschätzt
werden konnte wie im gegenwärtigen Augenblick. Mag Rußland jetzt auch
mit den Türken beschäftigt sein, so kann doch schon seine Entscheidung
für diesen oder jenen die Wage der europäischen Politik je nach seinem
Wunsch und Willen in starkes Schwanken bringen. Sogar England selbst
sieht jetzt, wie es, in Anbetracht der _Möglichkeit_ äußerst
umständlicher neuer Ereignisse in Westeuropa, sogar in den Augen der
Russen zwei Drittel seines Prestige verliert, und wie doch endlich auch
die mißtrauischsten Russen begreifen, daß es ihm, England, nicht
einfällt, es auf einen Krieg ankommen zu lassen, wenn Rußland fest
entschlossen ist, seine Sache fortzuführen, und daß England weit mehr
auf eine Teilung des Erbes nach dem Tore des „kranken Mannes“
spekuliert, als daß es sich entschlösse, _für_ denselben, in dieser
ohnehin schon ungemütlichen Zeit, noch einen offenen Krieg zu beginnen.
In der Tat, sollte es geschehen, daß etwas Unerwartetes, Unheilvolles in
Westeuropa ausbräche, so wird doch England sich nie und nimmer in eine
so heikle Sache gar zu sehr einmischen, die dem gewohnten Charakter
seiner Interessen so überaus unähnlich sieht, und wird, versteht sich,
bloß eine aufmerksam beobachtende Stellung einnehmen und nach seiner
alten Gewohnheit den günstigen Augenblick abwarten, in dem sich irgendwo
irgendeine Teilung der Beute ausschnüffeln läßt, um sich dann geschwind
mit seinen Forderungen einzufinden. Jetzt jedoch, das heißt, vor der
Klärung der Verhältnisse im Westen, wäre es keine Berechnung für
England, gegen Rußland irgend etwas Ernstes zu unternehmen. Anderseits:
was kann Österreich machen, wenn es _allein_ bleibt? Ist es doch
unwahrscheinlich, daß die klerikale Verwicklung der Sache in Westeuropa
nicht auch auf Österreich hinüberwirken wird. Und so harrt denn
natürlich auch Österreich, ganz wie alle anderen, der ferneren Dinge und
der Entscheidungen der Fragen, so daß auch ihm jetzt, ganz wie allen
anderen, die Hände teilweise gebunden sind. Ja, allen sind jetzt die
Hände irgendwie gebunden, nur Rußland hat die seinen noch frei. Nun, und
da hat denn auch schon etwas _Unvorhergesehenes_ zu unseren Gunsten
eingesetzt. Wie soll man auch nicht mit dem _Unvorhergesehenen_ rechnen,
wenn es sich um die Geschicksentscheidung der Menschheit handelt?

Gott und seine Gesetze regieren die Welt, und wenn über Europa sich
wirklich etwas Neues mit Schicksalsmacht entladen soll, so ist es wohl
nötig, daß es früher oder später geschieht. Gebe Gott, daß ich mich
täusche. Gebe Gott, daß die heraufziehende Wolke sich verzieht und all
meine Vorahnungen sich nur als meine eigenen „hitzigen“ Phantasien
erweisen – als Phantasien eines Menschen, der von der Politik nichts
versteht. Die ganze Frage ist ja nur –: Haben die offiziösen Organe der
deutschen Presse, die den Krieg prophezeien und ihn erwarten, recht oder
unrecht? Anderseits versichern die Minister Mac-Mahons den Franzosen und
der ganzen Welt aus allen Kräften – übrigens ohne jegliche
beschuldigende Anspielungen –, daß „Frankreich den Krieg nicht beginnen
wird“. Nun, da wird man doch wohl zugeben müssen, daß all dieses zum
mindesten verdächtig ist, und daß die Lösung der Zweifel, schon nach dem
Gang der Sache selbst zu urteilen, in äußerst kurzer Zeit eintreffen
kann. Wie aber, wenn jetzt so viel von der „Meinung der Armee“ abhängt?
Schlimm, wenn es soweit kommt: dann ist es zu Ende mit Frankreich.
Übrigens kann das ja nur mit Frankreich allein geschehen und sonst mit
niemandem in der ganzen Welt. Doch gebe Gott, daß es auch mit ihm nicht
geschehe: Das würde ein schlimmer Anfang sein und ein noch schlimmeres
Beispiel.


                          Die Lage Frankreichs


                           Unselige Pechvögel

                      (Französische Republikaner)

Es ist schwer, sich etwas Unglückseligeres vorzustellen, als es die
französischen Republikaner und die Französische Republik sind.[13] Nun
ist es bald schon hundert Jahre her, daß diese Einrichtung auf die Welt
gekommen. Und seit der Zeit ist es immer wieder geschehen – jetzt zum
drittenmal –, daß, wenn gewandte Usurpatoren die Republik sozusagen
konfiszierten, sich niemand erhob, sie ernstlich zu verteidigen, außer
vielleicht irgendeinem kleinen Häufchen Machtloser. Eine allgemeine,
starke Unterstützung der Republik von seiten des ganzen Volkes hat es
noch nie gegeben. Und selbst in den Zeiten, da sie ein Recht hatte, zu
existieren, hat sie selten jemand für eine _nicht_ vorübergehende, für
die definitive politische Institution Frankreichs genommen.
Nichtsdestoweniger gibt es wohl kaum Leute, die von der Sympathie des
ganzen Landes für die Republikaner überzeugter wären als die
französischen Republikaner selbst.

Übrigens, während der zwei ersten Versuche, in Frankreich die Republik
zu begründen, im vorigen Jahrhundert sowie 1848, konnten die damaligen
Republikaner noch einige Gründe haben, besonders zu Anfang ihrer
Versuche, auf die Sympathie des Landes zu rechnen. Die jetzigen
Republikaner jedoch, – diese selben, denen es bestimmt ist, in
allerkürzester Zeit samt ihrer Republik von irgend jemandem kurz und
bündig aufgehoben zu werden – die, sollte man meinen, hätten schon
wirklich keinen Grund mehr, sich Hoffnungen auf eine sichere Zukunft zu
machen, selbst wenn ihnen das Land auch einige Zuneigung
entgegenbrächte, eine Zuneigung, die, _nota bene_, in Frankreich nicht
allzu zuverlässig ist; denn das Volk sympathisiert jetzt ja nur negativ
mit ihnen, etwa nach dem Sprichwort: bei Fischmangel ist auch der Krebs
ein Fisch – mit anderen Worten: im Notfalle nimmt man mit allem fürlieb.
Währenddessen aber sind sie noch am Vorabend ihres sicheren Sturzes von
ihrem Siege fest überzeugt. Und doch: was waren das für unglückliche
Leute, was war das für eine Republik, diese dritte, die der selige
Thiers wohl anerkannte, doch eben nur wie den Krebs bei Fischmangel! Wir
brauchen uns ja nur der Geburt dieser dritten Republik zu erinnern: fast
zwanzig Jahre lang erwarteten diese Republikaner den „ruhmvollen“
Augenblick, da der Usurpator gestürzt sein und „das Land sie
zurückrufen“ werde. Und was geschah? Als diese Pechvögel nach Sedan
glücklich die Herrschaft an sich gerissen hatten, waren sie gezwungen,
diesen furchtbaren Krieg auf ihre Schultern zu nehmen, diesen Krieg, den
sie niemals gewollt hätten, und den ihnen der Usurpator hinterließ, als
er Frankreich verließ, um in das schöne Schloß Wilhelmshöhe einzuziehen
und dort seine Zigarren weiterzurauchen. Und wenn dieser geriebene
Usurpator, als er dann durch die Alleen des deutschen Schloßparks
spazierte, sich auch über sie geärgert haben mag, die seine Macht an
sich gerissen hatten, so wird er zuweilen doch bestimmt auch boshaft
gelächelt haben, bei dem Gedanken, wie gut er sich an ihnen gerächt,
indem er seine Schuld auf ihr schwaches Haupt gewälzt hatte. Denn, wie
dem auch sein möge – später beschuldigte Frankreich doch eher sie als
ihn alles dessen, worüber es sich zu beklagen hatte: daß sie den
hoffnungslosen Krieg überhaupt weitergeführt und nicht verstanden
hatten, sofort Frieden zu schließen, daß sie zwei große Provinzen, fünf
Milliarden fortgegeben, das Land zugrunde gerichtet, sich schlecht
geschlagen und ihre Anordnungen aufs Geratewohl getroffen. Letzteres
wirft man noch heute dem damaligen Diktator Gambetta vor, der jedoch an
nichts schuld ist, im Gegenteil, alles getan hat, was unter jenen
Verhältnissen möglich war. Kurz, die Anklage gegen die Republikaner, daß
sie ungeschickt gewesen seien und das Land ins Verderben gestürzt
hätten, hielt sich und hält sich auch jetzt noch unangefochten aufrecht.
Was tut’s, wenn alle wissen, daß Napoleon die erste Ursache des Unglücks
war, es heißt trotzdem: „Warum haben sie denn die Sache nicht besser
gemacht, wenn sie sie einmal übernahmen? Und wenn’s nur das wäre – aber
sie haben sie ja noch so verschlimmert, wie man sie sich schlimmer gar
nicht vorstellen kann.“ – Ein schöner Vorwurf! Doch das ist noch nicht
alles: zusammen mit dieser Anschuldigung heftete sich ihnen auch noch
etwas Verächtliches und Lächerliches an, bei dem Gedanken, in welch eine
Klemme sie gleich zu Anfang ihrer Herrschaft geraten waren. Und doch –
was hätten sie anderes tun können? Den Krieg nicht weiterzuführen,
gleich nach Sedan Frieden zu schließen, war unmöglich: Die Deutschen
würden auch dann Land und Geld gefordert haben, und was wäre da aus den
Republikanern geworden, wenn sie auf diese Bedingungen eingegangen
wären? Man würde sie einfach Feiglinge oder „Traitres“ genannt haben,
wenn sie, „noch im Besitze einer Armee“, sich nicht verteidigt, sondern
schmählich ergeben hätten. Das wäre eine schöne Empfehlung für ihre neue
Republik gewesen! Da ihnen aber die Republik und deren Errichtung in
Frankreich viel mehr am Herzen lag als die Rettung des Landes, so waren
sie eben gezwungen, den Krieg weiterzuführen, trotz der Ahnung, daß nach
dem Kriege sie eine noch weit größere Schande erwartete! Also stand vor
ihnen Schande, und stand hinter ihnen Schande – eine Lage, die nicht nur
unglücklich, nicht nur tragisch, sondern in gewisser Beziehung sogar
komisch war; denn wahrlich nicht in _der_ Gestalt hatten sie sich den
Antritt ihrer Herrschaft nach dem Sturz des „Tyrannen“ erträumt!

Diese Komik wurde noch durch den Umstand verstärkt, daß sie trotz allem
mit dem leichtesten Herzen die Herrschaft ergriffen, trotz allem ... das
heißt, Verzeihung, ich will keineswegs behaupten, sie hätten nicht um
Frankreich getrauert – oh, unter ihnen gibt es, was Gefühle anbelangt,
vortreffliche Leute und sogar wirkliche Diener des Vaterlandes, versteht
sich, im Falle es Republik heißt. Vielleicht gibt es sogar solche, einen
oder zwei, die selbst die Republik an die zweite Stelle setzen würden,
wenn nur Frankreich glücklich wäre – obgleich es kaum wahrscheinlich
ist, daß es solche gibt, höchstens, wie gesagt, einen oder zwei,
jedenfalls bestimmt nicht mehr. Die Sache war nun aber die: die
Republikaner bildeten sich nämlich sofort ein – kaum daß der Friede mit
Deutschland geschlossen war und sie sich angeschickt hatten, das Land in
Ruhe zu verwalten –, sie hätten schon die Liebe Frankreichs errungen,
und zwar gleich auf ewig, für alle kommenden Zeiten. Das war es, was so
komisch wirkte! Entschieden hat jeder französische Republikaner die
verhängnisvolle, verderbliche Überzeugung, es genüge das Wort
„Republik“, es genüge schon, das Land eine Republik zu nennen, und
sofort werde es für immer glücklich sein. Jedes Mißlingen der Republik
schreiben sie unentwegt stets einem äußeren störenden Umstand zu, wie
zum Beispiel dem, daß es auch Usurpatoren in der Welt gibt und überhaupt
böse Menschen; und kein einziges Mal denken sie an die ungemeine
Schwäche jener Wurzeln, die die Republik im Boden Frankreichs
geschlagen, und die in ganzen hundert Jahren nicht haben erstarken und
tiefer eindringen können. Überdies ist es den Republikanern in diesen
sechs Jahren noch nie eingefallen, daß ihre komische Lage, wie Napoleon
III. sie ihnen hinterlassen hat, auch jetzt noch besteht und daß, wenn
das alte Unglück vergangen ist, ein neues Unglück, ein dem alten
ähnliches, sich nähert, und zwar eines, das sie bestimmt in die
_aller_komischste Lage bringen wird, in eine so ungemein komische Lage,
daß sie sich vielleicht schon in allernächster Zukunft nicht mehr werden
halten können. Diese Komik besteht darin, daß dieses kommende Unglück,
erstens ganz so wie das vergangene, in ihrer Erfüllung der hohen Pflicht
liegt, dem Vaterlande _wissentlich_ zum Verderben dienen zu müssen;
zweitens, daß dieses Unglück wieder ganz so wie das erste vollkommen
unabwendbar ist; drittens, daß es sie in eine ebensolche Klemme zu
bringen droht, wie die, in der sie 1871 staken; und viertens, daß es,
zur Vollendung des Verdrusses, ihnen ganz so wie das erste Mal von
diesem selben Napoleon III., den sie so hassen und dessen Andenken sie
so verfluchen, vermacht worden ist. In der Tat: wer ist jetzt der
eifrigste Anhänger der Französischen Republik? Zweifellos Fürst
Bismarck. So lange, wie in Frankreich die Republik besteht, ist jeder
Revanchekrieg unmöglich. Man stelle sich nur vor: die Republikaner
entschlössen sich, den Deutschen den Krieg zu erklären!! Nun, Fürst
Bismarck begreift die Lage. Und währenddessen ist es doch sonnenklar,
daß der große Organismus Frankreichs – vierzig Millionen – nicht ewig
schmachvoll unter der Vormundschaft Deutschlands bleiben kann. Die
Wunden werden zuheilen, die Erschütterung wird allmählich in
Vergessenheit geraten, es werden sich neue Kräfte ansammeln, Mittel,
Heere ... Und _kann_ denn überhaupt eine Nation, die so lange politisch
die erste Rolle gespielt hat, nach ihrem alten Ansehen in Europa _nicht_
verlangen? Der Augenblick, in dem das geschehen wird, ist vielleicht
nicht mehr gar so fern: die Fülle innerer Kraft muß unbedingt darnach
streben, die Vormundschaft Bismarcks abzuschütteln und ihre frühere
_Unabhängigkeit_ wiederzugewinnen; denn augenblicklich kann man
Frankreich unmöglich unabhängig nennen. In besagtem Falle aber würde
eben ganz Frankreich sofort beim ersten Schritt mit dem Kopf an seine
Republik stoßen. Wie kann man sich also, wiederhole ich, nur vorstellen,
daß die jetzigen Republikaner überhaupt wollen könnten, dem Fürsten
Bismarck in irgendeiner Angelegenheit „grob zu kommen“, und sogar in
solch einer Weise, daß sie einen Krieg mit ihm riskierten!? Erstens,
welch ein Franzose wird denn mit ihnen gehn, sogar in dem Falle, wenn
Frankreich den Krieg wollte? Und zweitens wird sich doch jeder Franzose
die unabweisbare, furchtbare Frage stellen: Was aber dann, wenn die
Deutschen uns wieder schlagen? Dann ist ja für die Republik in
Frankreich das letzte Ende gekommen: dann wird Frankreich ausschließlich
den Republikanern die Schuld an der Niederlage zuschreiben und sie dann
aber endgültig verjagen, wobei es natürlich ganz vergessen wird, daß es
selbst nach der „Vergeltung“ und der alten dominierenden Stellung
verlangt hatte ... Sollten aber anderseits die Republikaner festen Fuß
fassen, auf die neuen Stimmen und Schreiereien nicht hören, den Krieg
nicht erklären – so hieße das gegen den Wunsch des Landes gehen, das sie
dann wiederum absetzen und sich dem ersten besten gewandten Führer
anvertrauen würde. Mit einem Worte: – vorne Sedan und hinten Sedan!
Inzwischen haben die Republikaner aber bestimmt noch nicht einmal
angefangen an all das zu denken, obgleich der neue Ausbruch des Volkes
vielleicht nicht mehr lange auf sich warten lassen wird. Und gleichfalls
haben sie auch daran noch nicht gedacht, daß sie im Grunde nichts
anderes sind, als die Protégés des Fürsten Bismarck, daß Frankreich aber
diese Situation mit jedem Jahr mehr und mehr begreifen muß, und zwar im
genauen Verhältnis zur Wiedererstehung und Erstarkung seiner Kräfte, und
daß es folglich sie, die Republikaner, immer mehr verachten wird,
anfänglich im geheimen und noch nicht bewußt, allmählich jedoch immer
bewußter und schließlich offen und laut ...

Doch die Republikaner erkennen ihre Komik nicht an – bewahre: das sind
pathetische Leute. Im Gegenteil, gerade jetzt haben sie neuen Mut
geschöpft, jetzt, nachdem Mac-Mahon, der Präsident der „Republik“, sie
nach Haus geschickt und die Kammer bis zu den nächsten Oktoberwahlen
vertagt hat. Jetzt sind _sie_ die „Verfolgten“ und fühlen sich deshalb
ungeheuer in ihrer Aureole. Sie erwarten, daß ganz Frankreich plötzlich
die Marseillaise anstimmen und der Ruf „_on assassine nos frères_!“ von
Mund zu Mund gehen werde; wie einst zur Zeit der Revolution. Jedenfalls
vertrauen sie auf den „Sieg der Gesetzmäßigkeit“ und erwarten, daß das
Land im Unwillen über den Maréchal Mac-Mahon, über dieses kaum an seine
Schale pickende Usurpatorenküchlein, wieder die ganze republikanische
Mehrheit in die Kammer wählen wird – und womöglich noch neue
republikanische Kandidaten dazu – und daß dann die neue versammelte
Kammer dem Maréchal ein strenges Veto sagen und dieser, erschreckt durch
die „Gesetzmäßigkeit“, sich von dannen machen wird. Von der Macht dieser
„Gesetzmäßigkeit“ sind sie felsenfest überzeugt, – und nicht vielleicht
aus Mangel an Intelligenz, sondern einfach, weil sie, diese guten Leute,
zu sehr Leute ihrer Partei sind und etwas zu lange in ihrer Ecke
gesessen haben. Sie haben zu lange um ihre geliebte Republik gelitten,
darum glauben sie so fest an die republikanische „Vergeltung“.
Sonderbarerweise glauben auch bei uns in Rußland viele unserer Zeitungen
an ihren bisherigen Triumph und den unfehlbaren Sieg ihrer
„Gesetzmäßigkeit“. Wodurch aber ist diese „Gesetzmäßigkeit“ gesichert,
wenn Mac-Mahon nicht geruht, sich ihr zu unterwerfen, wovon er übrigens
dem Lande schon in seinem bewunderungswürdigen Manifeste Mitteilung
gemacht hat? – Durch den Unwillen, den Zorn des Landes? Aber der
Marschall wird doch sofort in diesem selben Lande unzählige Anhänger
finden, wie das ja in ähnlichen Fällen in Frankreich immer gewesen ist.
Was soll man dann machen? Barrikaden bauen? Doch bei dem heutigen
Gewehr, der heutigen Artillerie sind die alten Barrikaden unmöglich! Ja,
und Frankreich wird sie ja gar nicht bauen wollen, selbst wenn es
wirklich die Republik wollte. Ermüdet und überdrüssig der
hundertjährigen politischen Unordnung wird es auf die allerprosaischste
Weise sich überlegen, auf welcher Seite die Kraft ist, und sich dann der
Kraft unterwerfen. Die Kraft aber liegt jetzt in der Armee, und das ahnt
das Land. Folglich kann die ganze Frage nur sein: Für wen steht die
Armee?


                       Ein merkwürdiger Charakter

                 (Mac-Mahon. Französische Reaktionäre)

Über die Legionen, als die neue Kraft, die da emporsteigt, um Frankreich
noch einmal zu einem ersten Platz in Europa zu verhelfen, habe ich schon
früher geschrieben, lange vor dem Manifest des Maréchal-Président – und
siehe, es ist alles so in Erfüllung gegangen, wie ich es damals erwartet
hatte. In diesem Manifest, das alle Welt nicht wenig Wunder genommen
hat, tut der Marschall unumwunden kund, – wenn er auch verspricht, der
„Gesetzmäßigkeit“ zu folgen, den Frieden aufrechtzuerhalten, usw. – daß
er, wenn das Land sich mit seiner Meinung nicht einverstanden erklären
und ihm in den bevorstehenden Wahlen wieder die ganze frühere
republikanische Mehrheit schicken sollte, gezwungen sein werde, sich
dann seinerseits mit der Meinung des Landes _nicht_ einverstanden zu
erklären und sich dem Willen desselben _nicht_ zu fügen. Solch ein
erstaunliches Manifest des Marschalls muß seine besonderen Gründe haben!
In solch einer Sprache und in solchem Tone hätte er nicht mit dem Lande
sprechen können – Frankreich ist doch nicht irgendein Dorf –, wenn er
nicht seiner Macht und des Erfolges sicher gewesen wäre! So dürfte es
wohl klar sein, daß er seine Hoffnungen auf die Armee setzt. Und
wirklich, als der Marschall im Sommer durch Frankreich reiste, wurde er
zwar in vielen, ich glaube, schon in allzu vielen Städten und Provinzen
recht zweideutig empfangen, das Heer jedoch und die Flotte bekundeten
überall volle Anhänglichkeit und begrüßten den Marschall mit
begeisterten Hurras. Fraglos darf man an den guten und, sagen wir,
unschuldigen Gefühlen des Marschalls nicht zweifeln. Hat er auch etwas
mehr als ungewöhnlich gehandelt, indem er im voraus zu verstehen gab,
daß er dem rechtmäßigen Willen des Landes nicht gehorchen werde, wenn
dieses nicht ihm gehorcht, so hat er das natürlich nur getan, weil er
auf seine Weise dem Lande Wohlergehen bringen will und überzeugt ist,
daß er dazu auch fähig sei. So braucht man denn wegen der moralischen
Eigenschaften des Marschalls weiter keine Bedenken zu tragen, wohl aber
vielleicht in Betreff irgendwelcher anderen ... Er scheint einer jener
Charaktere zu sein, die immer unter irgend jemandes Vormundschaft stehen
müssen: von dieser Seite betrachtet, bietet sein Charakter einzelne
bemerkenswerte Sonderheiten. Zum Beispiel fragt es sich, – für wen
arbeitet er jetzt? Für wen bemüht er sich so sehr, und für wen wagt er
so viel? Zweifellos ist er unter der strengsten Vormundschaft, doch bin
ich überzeugt – allerdings ist das nur meine persönliche Meinung: nur er
allein ist in ganz Europa bis jetzt noch überzeugt, daß er unter
niemandes Einfluß steht und daß er nur von sich aus handelt. Die
geschickten Leute, die sich seiner bemächtigt haben, werden ihn
wahrscheinlich, solange sie es für gut befinden, in diesem Glauben
bestärken – und ihn inzwischen dorthin lenken, wohin sie ihn haben
wollen. Das ist natürlich nur möglich, weil sie die Eigenschaften und
die Eigenliebe solcher Charaktere vorzüglich kennen. Doch solche
geschickten Leute kann man nur in einer einzigen Partei finden,
allerdings, der größten und stärksten: in der klerikalen. Alle anderen
politischen Parteien Frankreichs zeichnen sich nicht durch Gewandtheit
aus. In der Tat nun, unter wessen Vormundschaft steht eigentlich der
Marschall? Es ist jetzt wohl schon allgemein bekannt, daß die
Legitimisten in Bewegung sind, daß eine ganze Reihe von Kandidaten
vorhanden ist, ja – es heißt sogar, daß der Marschall sie protegiere –,
daß sie von ihrem Siege bei den Wahlen im voraus überzeugt sind, und
ferner, daß sie sich auf das Heer verlassen können, und daß im übrigen
der kaiserliche Prinz schon auf das Festland zurückgekehrt sein soll,
ja, man sagte sogar, er werde sich nach Paris begeben. Soll man nun
wirklich glauben, daß der Marschall Mac-Mahon, dieser so selbstbewußte
Präsident der „Republik“, so viel Arbeit und Gefahren auf sich nimmt,
einzig um den kaiserlichen Prinzen auf den Thron zu setzen? Ich glaube –
wiederum nur meine ganz persönliche Ansicht –, ich glaube, daß das nicht
der Fall ist. Ich nehme natürlich den anderen Fall aus, daß es
irgendwelche ganz besondere Kombinationen gibt, wie zum Beispiel, daß
der Prinz sich mit der Tochter des Marschalls verlobt habe, wie es vor
einem Monat verlautete: dann ist es natürlich etwas anderes. Gibt es
aber keine solchen besonderen Kombinationen oder geheimen Abmachungen,
so scheint mir, daß der Marschall eher geneigt wäre, das Land zu
_seinem_ Vorteil zu beglücken, als zum Vorteil eines anderen, und wenn
er die bonapartistischen Kandidaten protegiert, so tut er das wohl nur,
weil er sie für die verläßlichsten hält, später aber sie so, wie es
_ihm_ gefällt, zu lenken gedenkt. Gott mag wissen, was für Gedanken in
diesem Hirn entstanden sind. Nicht umsonst hat doch ein Bischof beim
Empfange des Marschalls in seiner Begrüßungsrede erwähnt, daß er,
Mac-Mahon, weiblicherseits von Karl dem Großen abstamme. Mit einem Wort,
ein paar Jahre Präsidentschaft haben vielleicht genügt, um in seine
Seele einige erregende und phantastische Gedanken zu pflanzen. Zudem ist
er Soldat! Übrigens sind alle diese Erwägungen nur abstrakte Versuche,
diesen wirtschaften Charakter zu erklären. Die Wahrheit beschränkt sich
vorläufig auf die Tatsache, daß der Marschall in den Händen der
Klerikalen ist, und daß diese ihn lenken, nicht aber er sie, wie er es
wohl glaubt. Das Schicksal Frankreichs hängt im gegenwärtigen Augenblick
entschieden nur von ihnen ab, ausschließlich von ihnen. Zweifellos geht
die furchtbare unterirdische Intrige immer noch weiter, und obgleich
ganz Europa schon von Anfang an weiß, daß die Klerikalen in der
gegenwärtigen westeuropäischen Bewegung eine große Rolle spielen, so ist
es diesen, glaube ich, denn doch gelungen, den _Umfang_ und die _Macht_
dieser ihrer Rolle zu verheimlichen, sich hinter anderen zu verstecken,
hinter dem Marschall, zum Beispiel, hinter den Bonapartisten, und das
wird so fortdauern, bis sie das gewünschte Ziel erreicht haben. Im
Grunde ist es ihnen ganz gleich, wer da siegt, der Marschall oder der
Prinz. Persönliche Sympathien haben sie nicht und sollen sie auch nicht
haben. Sie haben bloß eine Aufgabe: daß Frankreich so schnell wie
möglich sein Schwert zieht und sich auf Deutschland stürzt. Nun, und zu
diesem Zweck haben sie denn auch die Republikaner, die unfähig waren,
für den Papst einzustehen, einfach beseitigt. Jetzt aber warten sie noch
ab: wer wird schließlich für ihre Absichten vorteilhafter sein? Sollte
der kaiserliche Prinz ihnen wirklich mehr Aussichten für den Krieg
bieten, so werden sie sich an ihn machen und ihn nach Paris bringen,
natürlich ohne dann noch an Mac-Mahon zu denken. Doch vorläufig scheinen
sie sich noch an den Marschall zu halten. Bei der Gelegenheit – vor
kurzem noch hieß es, der Marschall habe in einem Gespräch gesagt,
selbstverständlich so, daß alle es hören konnten: „Man sagt von mir, ich
hätte die Absicht, die republikanischen Einrichtungen zu annullieren,
und vergißt dabei natürlich, daß ich, als ich die Präsidentschaft der
Republik übernahm, mein Wort gegeben habe, sie zu erhalten.“ Diese Worte
bestätigen durchaus die Annahme von der moralischen Unschuld des
Marschalls, trotz aller Anschuldigungen der Republikaner. Als ehrlichem
Menschen und Offizier ist ihm sein Ehrenwort heilig und er wird es
selbstverständlich nicht brechen. Wenn er aber die Republik erhält und
zu gleicher Zeit die Republikaner verjagt, so heißt das wohl, daß er die
Republik ohne Republikaner fortzuführen gedenkt. Man sollte meinen,
dieses wäre tatsächlich sein politisches Programm, und man habe ihn
überzeugt, daß es wirklich durchführbar sei. Dieses Programm mit der
These: „_J’y suis et j’y reste_“ – „hab’ mich mal hier hingesetzt und
gehe nicht mehr fort“ – bildet augenscheinlich das A und O all seiner
politischen Überzeugungen und wird es noch rund bis zum Jahre 1880
bilden, wann die Frist für seine Präsidentschaft und folglich auch die
für sein Ehrenwort abläuft. Dann jedoch beginnt schon der Traum ... Das
dankbare Land wird, wenn es sieht, daß er die Präsidentschaft
niederlegen will, ihm für die Rettung vor den Demagogen eine neue Würde
anbieten, nun, meinetwegen die Karls des Großen, und dann wird wieder
alles wie geölt gehen ... Selbstverständlich werden die ihn lenkenden
Schlauköpfe, im Falle er wirklich sein Ehrenwort halten und die
republikanischen Einrichtungen bestehen lassen wollte, ihn sofort gegen
Bonaparte eintauschen, wenn diese Republik ohne Republikaner ihren
weiteren Plänen unvorteilhaft sein sollte. In Anbetracht dessen haben
sie ihn denn auch, wie es scheint, veranlaßt, die bonapartischen
Kandidaturen zu unterstützen – natürlich mit der Versicherung, es sei
für ihn selbst vorteilhaft. Jedenfalls bleibt er unter so unbarmherziger
Vormundschaft, daß er auf keine Weise aus ihr heraus kann. Ja,
irgendwelche großen, noch nie dagewesenen Ereignisse erwarten die Welt,
man ahnt, daß die Armee in Tätigkeit treten wird, ahnt die mächtige
Bewegung des Katholizismus. Die Gesundheit des Papstes, schreibt man,
sei „befriedigend“. Doch wehe, wenn der Tod des Papstes mit den
französischen Wahlen zusammenfällt, oder wenn der Papst auch nur bald
nach ihnen stirbt. Dann kann sich die Orientfrage mit einem Schlage in
eine europäische verwandeln ...


                      Die katholische Verschwörung

Den Gedanken einer katholischen Verschwörung[14] habe ich schon früher
einmal[15] recht ausführlich behandelt, doch scheint der Hauptpunkt
meiner Ausführungen, – daß der Kern der gegenwärtigen wie der
bevorstehenden Ereignisse ganz Europas _in der katholischen
Verschwörung_ und der baldigen, zweifellos mächtigen Bewegung des
Katholizismus, die mit dem Tode des alten und der Wahl des neuen Papstes
zusammenfallen wird, liegt, – dieser Hauptpunkt scheint übersehen worden
zu sein. Heute bin ich noch fester von meiner Ansicht überzeugt, als vor
zwei Monaten. Seit der Zeit ist so vieles geschehen, was mich in meiner
Lösung des Rätsels bestärkt hat, daß ich an ihrer Richtigkeit nicht mehr
zweifle. Seit der Zeit haben auch die Zeitungen, die unsrigen wie die
ausländischen, angefangen über dasselbe Thema zu schreiben, – wenn auch,
wie es scheint, immer noch nicht so recht entschlossen, die letzte
Folgerung zu ziehen.

Ich will hier eine Stelle aus dem vorzüglichen Leitartikel der „Moskauer
Nachrichten“ anführen, die unter anderem auch die Meinungen der
Korrespondenten englischer Blätter zitiert:

   Die Korrespondenten der englischen Blätter ergehen sich in recht
   aufrichtigen Erklärungen. Der Schlüssel der europäischen Politik ist
   nach ihrer Meinung in den Händen Deutschlands. Deutschland aber wäre
   aus sehr begreiflichen Gründen aufgelegt, gerade jetzt sich noch
   fester als zuvor Rußland anzuschließen. – Erstens hat man in Berlin
   bemerkt, daß die Mißerfolge der russischen Strategie Österreich
   belebt und sogar ermuntert haben, also dasjenige Land, welches, wie
   man annimmt, immer noch einigen Unwillen gegen Preußen nährt.
   Zweitens, daß die Hauptfeinde Deutschlands, Frankreich und der
   Katholizismus, ihre ganze Sympathie der Türkei entgegenbringen. Zu
   Anfang der Balkanwirren allerdings, da liebäugelte Frankreich noch
   mit Rußland, doch wenn es damals vielleicht noch einiges Wohlwollen
   für uns dort gab, so hat sich dasselbe jetzt nicht nur vermindert,
   es hat sich sogar mit dem ganzen Herzen den Türken zugewandt. Und
   was den kriegerischen Katholizismus anbetrifft, so hat er nicht erst
   jetzt, sondern von Anfang an, wie allen bekannt, leidenschaftlich
   die „rechtgläubige“ Türkei gegen das schismatische Rußland unter
   seinen Schutz genommen. Die Gesinnungslosigkeit des eifernden Klerus
   ist sogar so weit gegangen, daß sich ein Vertreter dieser Partei mit
   unmißverständlicher Zärtlichkeit über den Koran geäußert, so daß
   selbst die ultramontane „Germania“ es für nötig befunden hat,
   ähnliche Ausfälle durch die Bemerkung abzuschwächen, daß, wenn man
   sich auch der Siege der Türken über die verhaßten Russen freuen
   müsse, es doch nicht ganz angebracht sei, gleich Sympathie für den
   Islam zu bekunden. Da nun das _mot d’ordre_ des Katholizismus
   auffallend mit der Veränderung der öffentlichen Meinung Frankreichs
   zugunsten der Türken zusammenfällt, und da die Interessen des
   gleichfalls katholischen Österreichs den Interessen Rußlands
   zuwiderlaufen, so fürchtet man natürlich in Berlin die Möglichkeit
   solch einer katholischen und antideutschen Liga, in die vielleicht
   später die ultramontanen Interessen sowie die separatistischen
   Süddeutschlands und „sogar England“ hineingezogen werden könnten. So
   schreiben nämlich die englischen Korrespondenten, doch kann hierüber
   wohl kein Zweifel bestehen, daß es England ist, das die Hauptrolle
   in diesen Intrigen spielt. Also bleiben wir wieder allein mit der
   Türkei.

Das ist ja alles ganz wunderschön, doch ist es einstweilen noch immer
nicht das erklärende und letzte Wort, das zu sagen sich offenbar niemand
getraut. Doch spricht man in diesem Leitartikel wenigstens auch von dem
_kriegerischen Katholizismus_ und der Bedeutung, die er in den Augen
Bismarcks hat, und von dem gegenwärtigen Einfluß des ersteren auf
Frankreich; und endlich sogar von der Liga: daß man in Berlin _natürlich
die Möglichkeit solch einer katholischen und antideutschen Liga fürchte,
in die vielleicht später die Ultramontanen und die separatistischen
Elemente Süddeutschlands und „sogar England“ hineingezogen werden
könnten_. Nun, von einer katholischen Liga, von einem katholischen
Komplott sprach ich ja gerade vor zwei Monaten, doch sagte ich damals
auch mein letztes abschließendes Wort darüber: nämlich, daß gerade in
der Verschwörung die ganze Sache bestände, daß von ihr jetzt alles in
Europa abhänge, und daß sogar der ganze Balkankrieg sich in kürzester
Zeit in einen alleuropäischen verwandeln könne – und dieses einzig nur
infolge dieser mächtigen Verschwörung des sterbenden Katholizismus.
Währenddessen wollen die englischen Korrespondenten und die „Moskauer
Nachrichten“ diesen Gedanken gewissermaßen noch nicht zugeben, und
letztere behaupten statt seiner sogar, daß „zweifellos England es ist,
das die Hauptrolle in diesen Intrigen spielt“, und daß „_wir mit der
Türkei wieder allein bleiben werden_“. – Wirklich? Steht es uns nicht
vielleicht schon in allernächster Zukunft bevor, daß wir uns plötzlich
nicht der Türkei, sondern ganz Europa allein gegenüber befinden?

In der Tat, was ist denn das für ein „kriegerischer Katholizismus“, den
zu bemerken und in den gegenwärtigen Ereignissen zuzugestehen, sich alle
bequemen? Woher kommt dieser kriegerische Mut, der sogar „bis zur
Leidenschaft“ wird, mit dem der Katholizismus die „rechtgläubige“ Türkei
gegen das schismatische Rußland in seinen „Schutz“ nimmt? Sollte das
wirklich nur deshalb geschehen, „weil Rußland das abtrünnige Land ist“?
Der Katholizismus hat heutzutage so viel Scherereien und ernste Sorgen,
daß ihm an all diese alten Kirchenstreitigkeiten nicht mal zu denken
Zeit übrigbleibt. Doch vor allem eine Frage: Woher kommt denn diese
„katholische Liga“, die man in Berlin so fürchtet? Übrigens, eben davon
habe ich ja schon früher gesprochen, und meine Folgerung war damals, daß
diese Liga, die jetzt auch schon von anderen zugegeben wird, eine feste,
streng organisierte katholische _Verschwörung_ ist, mit der Absicht, die
römische Weltherrschaft wiederherzustellen, ferner, daß sie sich schon
heute über ganz Europa verbreitet hat, und daß infolgedessen der
Schlüssel der gegenwärtigen Intrigen weder hier noch dort und nicht nur
in England allein, sondern gerade in dieser universalen katholischen
Verschwörung liegt!

Der kriegerische Katholizismus stellt sich eifrig und „leidenschaftlich“
gegen uns auf die Seite der Türken. Selbst in England, selbst in Ungarn
gibt es augenblicklich keine so eifernden Hasser Rußlands, wie diese
kriegerischen Klerikalen. Nicht irgendein Prälat, sondern der Papst
selber hat in den Versammlungen im Vatikan freudig von den „türkischen
Siegen“ gesprochen und Rußland eine „furchtbare Zukunft“ prophezeit.
Dieser sterbende Greis, der sich noch dazu das „Haupt der Christenheit“
nennt, hat sich nicht geschämt, öffentlich zu gestehen, daß er jedesmal
freudig erregt von den Niederlagen der Russen höre. Ein so furchtbarer
Haß wird sofort begreiflich, wenn man zugesteht, daß der römische
Katholizismus jetzt tatsächlich „Krieg führt“, daß er in Wirklichkeit
und mit dem Schwert in Europa gegen seine verhängnisvollen Feinde im
Felde steht. Doch wer ist denn in Europa augenblicklich der größte Feind
des römischen Katholizismus, das heißt, der Weltmonarchie des Papstes?
Fraglos Fürst Bismarck. Rom selber wurde dem Papst ausgerechnet in der
Stunde der Größe und Herrlichkeit Deutschlands und Bismarcks genommen,
in der Stunde, da Deutschland den ersten Verteidiger des Papsttums,
Frankreich, vernichtete, wodurch es bekanntlich dem italienischen König
die ersehnte Freiheit zum Handeln gab – der dann auch unverzüglich Rom
einnahm. Seit der Zeit hat Rom nur eine einzige Sorge gehabt, und zwar:
einen Feind und Gegner Deutschlands und des Fürsten Bismarck zu finden.
Fürst Bismarck wiederum begreift seinerseits schon längst und besser,
als man es sich denkt, daß der römische päpstliche Katholizismus –
abgesehen von seiner ewigen Feindschaft gegen das protestantische
Deutschland, das seinerseits wiederum so viele Jahrhunderte lang gegen
Rom und die römische Idee in allen ihren Gestalten und gegen alle
Verbündeten und Beschützer und Anhänger Roms protestiert hat –, daß der
Katholizismus namentlich _jetzt_, also in der für das geeinte
Deutschland gefährlichsten Zeit, das allerschädlichste aller diese
Vereinigung erschwerenden Elemente ist, mit anderen Worten, daß Rom die
Vollendung dieses Gebäudes verhindern will, das zu errichten das
mühevolle Lebenswerk Otto von Bismarcks gewesen ist. Außer dieser
„Möglichkeit“ einer katholischen, antideutschen Liga fürchtet man jetzt
in Berlin noch, was man eigentlich schon lange vorhergesehen hat: daß
der Katholizismus, sei es früher oder später, jedenfalls aber einmal,
die Ursache der nächsten Erhebung Frankreichs sein wird, um Rache an
Deutschland zu nehmen, von dem es erniedrigt und besiegt worden ist –
und daß die Veranlassung dazu der römische Katholizismus früher und
sicherer als alle anderen Feinde geben wird, und daß folglich er die
größte Gefahr für das geeinte Deutschland bleibt. Diese Berliner
Befürchtung hat sich aus der ganz natürlichen Kombination ergeben, daß
erstens das Papsttum in der Welt keinen anderen Verteidiger hat, als
immer noch dasselbe Frankreich, das sich einzig auf sein Schwert
verlassen kann, _wenn es ihm nur gelingt, dieses Schwert wieder fest mit
der Hand zu fassen_, und zweitens, daß der römische Katholizismus noch
längst kein toter Feind ist, daß er schon tausendjährig ist, daß er mit
wahrer Leidenschaft leben will und seine Lebensfähigkeit geradezu
großartig ist, daß er Kräfte hat in Überfülle, und daß eine so mächtige
Idee, wie die weltliche Papstmacht, nicht in einer Minute sterben kann.
Ja, in Berlin hat man nicht nur den Feind erkannt, sondern auch seine
Macht. In Berlin verachtet man seine Feinde nicht vor dem Kampf.

Wenn nun aber der Katholizismus mit solchem Drange leben will und leben
muß, und wenn das Schwert, das ihn verteidigen könnte, sich nur in
Frankreichs Hand befindet, so ist es wohl klar, daß Rom Frankreich nicht
aus den Fingern lassen wird, besonders wenn es den günstigen Augenblick
abwartet. Dieser günstige Augenblick kam nun im Frühling – das war der
Russisch-Türkische Krieg, die Aufrollung der Balkanfrage. In der Tat:
wer ist der Hauptverbündete Deutschlands? Selbstverständlich Rußland.
Und das hat Rom vorzüglich eingesehen. Da haben wir nun den Grund, warum
sich der Papst über die russischen „Mißerfolge“ freut: durch sie ist der
größte Bundesgenosse des furchtbarsten Feindes der päpstlichen Macht von
seinem uralten und natürlichsten Verbündeten durch den Krieg abgelenkt
worden, und folglich ist Deutschland jetzt allein, – das heißt aber so
viel, daß jetzt der Augenblick gekommen ist, den der Katholizismus so
lange ersehnt hat. Wann sonst, wenn nicht jetzt, sollte es wohl am
besten sein, den alten Haß zu schüren und Frankreich in den Rachekrieg
zu treiben?

Zudem nähern sich für den Katholizismus noch andere gefährliche Krisen,
so daß es jetzt wirklich für ihn heißt: keinen Augenblick verlieren. So
naht unaufhaltsam der Tod Pius’ IX. und damit die Wahl des neuen
Papstes. In Rom aber weiß man nur zu gut, daß Fürst Bismarck seine ganze
Genialität und seine ganze Kraft anwenden wird, um den letzten,
furchtbarsten Schlag gegen die päpstliche Macht auszuführen: daß er aus
allen Kräften die Wahl des neuen Papstes zu beeinflussen versuchen wird,
und zwar, um ihn aus einem weltlichen Herrscher und Machthaber in nichts
weiter als einen gewöhnlichen Patriarchen zu verwandeln, und das wenn
möglich noch mit seiner eigenen Zustimmung – um darauf, nachdem der
Katholizismus sich dann in zwei feindliche Lager gespalten hat, ihn
zerbröckeln und all seine Absichten, Ansprüche und Hoffnungen auf ewig
vernichten zu können. Wie soll sich da der Katholizismus nicht beeilen,
alle Maßregeln, die gegen Bismarck zu ergreifen sind, so schnell wie
möglich zu treffen! Und siehe, da kommt gerade zur rechten Zeit die
Orientfrage dazwischen! Oh, jetzt wird man für Frankreich schon
Verbündete, die es so lange vergeblich gesucht, mit Leichtigkeit finden
können! Jetzt wird sich sogar eine ganze Koalition zusammentreiben
lassen! Und wenn auch Europa von Blutströmen überschwemmt wird, – was
hat das zu sagen! Dafür wird der Papst triumphieren, – das aber ist für
die römischen Verkünder Christi alles!

Nun, und da haben sie sich denn an die Arbeit gemacht. Als erstes,
versteht sich, mußte man erreichen, daß Frankreich für sie einsteht. Wie
das machen? Sie haben es verstanden! Jetzt wird es schon von allen
Staatsmännern und der ganzen Presse zugegeben, daß die Maiumwälzung in
Frankreich von den Klerikalen veranlaßt worden ist; nur, wiederhole ich,
scheinen sie alle dieser Tatsache noch nicht die volle Bedeutung
zugestehen zu wollen, die sie zweifellos in sich schließt. Man könnte
glauben, Europa hätte sich vor vier Monaten endgültig überzeugt, daß die
Klerikalen und der Klerus den Staatsstreich in Frankreich bloß deshalb
gemacht, um letzterem daselbst mehr Freiheit, gewisse Nutznießungen und
größere Rechte zu verschaffen, während es doch unmöglich ist, auch nur
anzunehmen, daß dieser Umsturz nicht mit den allerradikalsten Zielen
vorgenommen worden sei, um – in Anbetracht der baldigen Unruhen in der
römischen Kirche bei Gelegenheit der Papstwahl – den möglichst
sofortigen Ausbruch des nun nicht länger aufschiebbaren Krieges zwischen
Frankreich und Deutschland zu bewirken! Ja! gerade den Krieg wollen sie!
Womit die Sache auch enden mag: sie werden ihren Willen doch
durchsetzen, werden es doch zu dem Kriege bringen, durch den, falls
Frankreich siegen sollte, dann auch der Papst vielleicht wieder zu
seiner weltlichen Macht kommen kann.

Sie haben es bewunderungswürdig gewandt begonnen: schon allein, daß sie
eine Zeit gewählt, in der alles zu ihrem Vorteil wie vorherbestimmt
zusammentraf. Beginnen mußten sie unbedingt damit, daß sie die
Republikaner, die den Papst um keinen Preis unterstützen, und die sich
niemals zu einem neuen Krieg gegen Deutschland entschließen würden, nach
Hause schickten. So haben sie es denn auch getan. Darauf hieß es, den
Marschall Mac-Mahon zwingen, einen unverbesserlichen Fehler zu begehen –
unbedingt einen unverbesserlichen –, um ihn auf einen Weg zu treiben,
auf dem es kein Zurück mehr gibt. Das ist gleichfalls glücklich
geschehen: er hat die Republikaner verjagt und verkündet, daß sie nicht
mehr zurückkehren würden. So ist jetzt schon ein guter Grundstein
gelegt, und die Klerikalen sind vorläufig zufrieden: sie wissen, daß, im
Falle das französische Volk wieder die republikanische Mehrheit schicken
sollte, der Marschall die Abgeordneten zurückschicken wird. Gambetta hat
allerdings erklärt, Mac-Mahon müsse sich entweder der Entscheidung des
Landes fügen oder seinen Posten verlassen. Dasselbe erklären nach ihm
auch alle Republikaner; doch vergessen sie bloß, daß die Devise des
Marschalls „_J’y suis et j’y reste_“ ist, und er sich von seinem Sessel
nicht erheben wird. Seine Hoffnung setzt der Marschall natürlich auf die
Ergebenheit der Armee. Dieser Ergebenheit der Armee – dem Marschall oder
sonst wem – wollen sich nun auch die Klerikalen bedienen. Wäre nur erst
die staatliche Umwälzung für sie vollzogen, dann könnten sie ja schon
steuern, wohin sie wollen! Am wahrscheinlichsten ist, daß es so auch
geschehen wird: sie werden den Usurpator einfach umringen und dann nach
Gutdünken lenken. Doch selbst, wenn sie nicht mehr da wären, würde die
Sache jetzt schon ohne sie ganz von selbst gehen: die gute Saat ist von
ihnen in den richtigen Boden gesät, – wenn nur die staatliche Umwälzung
sich vollziehen würde! Sie wissen, welch einen kolossalen Eindruck auf
den Fürsten Bismarck _jede staatliche Veränderung in Frankreich_ macht.
Schon 1875 wollte er Frankreich den Krieg erklären, da er fürchtete, der
Feind könne, wenn es mit seiner Erholung und Erstarkung immer so weiter
bergauf ginge, gar bald gefährlich werden. Die Republikaner freilich,
die er begünstigte, hätten es um nichts in der Welt gewagt, mit ihm
einen Krieg zu beginnen, und so war er denn bis jetzt zum Teil beruhigt,
da er sie an der Spitze des feindlichen Reiches wußte, sogar trotz der
von Jahr zu Jahr größeren Erstarkung desselben. Dafür aber regt ihn jede
neue Regierungsveränderung in Frankreich natürlich ungemein auf. Und in
welch einem Augenblick: da Deutschlands natürlicher Verbündeter durch
den Krieg gegen die Türkei in Anspruch genommen ist, da Österreich – der
alte Gegner Deutschlands –, in dem so viel Deutschland feindliche
katholische Elemente stecken, plötzlich seinen Wert so hoch schätzt, und
da England schon seit dem Ausbruch des Türkenkrieges mit einer so
gereizten Ungeduld sich in Europa einen Bundesgenossen sucht! Wie nun,
wird man in Berlin denken, wenn Frankreich mit seiner zukünftigen
Regierung an der Spitze, die von den Klerikalen beherrscht und gelenkt
wird, – wie nun, wenn Frankreich plötzlich errät, daß für den
Vergeltungskrieg, wenn er überhaupt einmal geführt werden soll, eine
bessere Gelegenheit, als die gegenwärtige, sich niemals mehr wird finden
lassen, und ebensowenig jemals wieder so bedeutende Verbündete, wie
jetzt? Und wie nun, wenn gerade zu der Zeit der Papst stirbt? Wie, wenn
die Klerikalen die neue französische Regierung zwingen, Bismarck zu
melden, daß seine Ansichten über die Wahl des neuen Papstes mit den
Ansichten Frankreichs nicht übereinstimmen, – was bestimmt geschehen
wird, wenn die Republikaner sich stürzen lassen – –? Wie, wenn auch die
neue französische Regierung zu gleicher Zeit errät, daß sie, wenn es ihr
gelänge – in Anbetracht der Möglichkeit, in Europa mächtige Verbündete
zu finden – wenigstens eine der 1871 verlorenen Provinzen
zurückzuerobern, dadurch ihre Macht und ihren Einfluß im Lande
mindestens auf zwanzig Jahre befestigen könnte? Nun, wie soll man sich
da nicht aufregen?

Und dann gibt es hierbei noch einen kleinen Umstand: der Deutsche ist
hochmütig und stolz, der Deutsche wird Ungehorsam nicht ertragen. Bis
jetzt war Frankreich gehorsam unter voller Vormundschaft Deutschlands,
gab Rechenschaft auf seine Anfragen fast über jede Bewegung, die es tat,
mußte Entschuldigungen machen und Erklärungen schicken für jede dem
Heere neu hinzugefügte Division, für jede neue Batterie. Und plötzlich
erkühnt sich dieses selbe Frankreich, das Haupt zu erheben! So können
die Klerikalen eigentlich darauf rechnen, daß Fürst Bismarck womöglich
selber als erster den Krieg beginnen wird. Er hat es ja schon einmal tun
wollen, – 1875. Den Krieg jetzt nicht beginnen, heißt Frankreich auf
ewig aus den Händen lassen. Allerdings war 1875 die Situation nicht wie
heute, doch wenn Österreich zu Deutschland hält, so ... Mit einem Wort,
bei der kürzlichen Zusammenkunft der deutschen und österreichischen
„Premiers“ ist wahrscheinlich nicht nur über die Balkanfrage gesprochen
worden. Und wenn es jetzt irgendwo ein Reich gibt, das in der
vorteilhaftesten außenpolitischen Lage ist, so ist das zweifellos
Österreich!


                   Österreichs gegenwärtige Gedanken

„Wieso?“ wird man fragen.[16] „In Österreich sind jetzt Unruhen; halb
Österreich will nicht, was seine Regierung will; in Ungarn kommt es zu
Manifestationen; Ungarn brennt vor Begierde, mit den Türken gegen die
Russen zu kämpfen; man hat sogar eine Verschwörung entdeckt,
tatsächlich: eine englisch-magyarisch-polnische! Anderseits sieht die
österreichische Regierung auch auf die slawischen Elemente, die ihr Land
bewohnen, mit einem gewissen Mißtrauen, obgleich diese bis jetzt noch
zur Regierung halten. Wie kann man also sagen, daß Österreich zurzeit in
der vorteilhaftesten politischen Lage sei, in der sich ein europäisches
Reich nur befinden kann?“

Ja, das ist wahr. Wahr, daß die katholische Tätigkeit sich fraglos auch
auf Österreich erstreckt. Die Klerikalen sind weitsichtige Leute: wie
sollten sie die augenblickliche Bedeutung dieses Landes nicht zu
schätzen wissen, wie sollten sie die Gelegenheit vorübergehen lassen!
Und schon, versteht sich, haben sie die Gelegenheit benutzt, um in
diesem katholischen „allerchristlichsten“ Lande alle möglichen Unruhen
unter den bis zur Unkenntlichkeit verschiedensten Vorwänden, Formen und
Ausartungen zustande zu bringen. Nun noch eines: wer weiß, vielleicht
ist man in Österreich, obgleich man sich natürlich den Anschein gibt,
als ärgere man sich sehr über diese Unruhen, in Wirklichkeit gar nicht
so ungehalten über sie. Ja, vielleicht ist sogar das Gegenteil der Fall:
man „bewahrt“ diese Unruhen _für alle Fälle_ auf, in Anbetracht dessen,
daß sie sich in nächster Zukunft vielleicht verwerten lassen ... Am
augenscheinlichsten ist übrigens, daß Österreich, wenn es sich auch, was
die laufenden Angelegenheiten betrifft, in der glücklichsten politischen
Lage fühlt, sich für eine _weitsichtige_ und sehr bestimmte Politik doch
noch nicht entschlossen hat, sondern erst überlegt und abwartet: was
wird ihm die _Vernunft_ zu tun raten? Sollte es sich aber doch zu irgend
etwas Bestimmtem entschlossen haben, so wäre das wohl höchstens in
betreff der nächstliegenden politischen Fragen der Fall – und selbst das
nur bedingt. Überhaupt ist es in der glücklichsten Gemütsverfassung: es
entschließt sich, ohne sich zu beeilen, es wartet ruhig, da es weiß, daß
es alle auf sich warten macht, und alle es brauchen, es lauert auf seine
Beute, die es selber auswählen wird, und leckt sich schon wonnig die
Lippen beim Gedanken an die nun bald ihm zufallenden, unentwischbaren
Bissen.

Während der Zusammenkunft der Kanzler beider deutschen Reiche, die
kürzlich stattfand, ist vielleicht sehr viel „Bedingungsweise-Mögliches“
berührt worden. Wenigstens hat die österreichische Regierung schon in
ihrem Lande kundgetan – doch so, daß alle Länder es hören mußten –, daß
am Balkan nichts geschehen noch entschieden wird, was den Interessen
Österreichs entgegen ist: ein ungemein schwerwiegender Gedanke. So ist
Österreich schon überzeugt, ohne noch die Hand an irgend etwas gelegt zu
haben, daß es bedeutenden Anteil an den russischen Erfolgen, falls es zu
solchen kommen sollte, haben wird, und vielleicht noch bedeutenderen
Anteil, falls es zu ihnen _nicht_ kommen sollte. Und das bloß mit der
„Augenblickspolitik“! Was wird es da erst mit der ferneren Politik
geben? – Schon jetzt brauchen alle dieses Österreich so notwendig,
horchen auf seine Meinung, suchen seine Neutralität, machen ihm
Versprechungen und womöglich Geschenke, und alles das dafür, daß es bloß
stillsitzt und den Mund hält! Wie kann nun diese Macht, die sich jetzt
so hoch schätzt, nicht auch auf die Aussichten ihrer ferneren Politik
rechnen, die, davon bin ich überzeugt, noch allen unbekannt ist, trotz
der freundschaftlichen Zusammenkunft der Kanzler!? Und überzeugt bin
ich gleichfalls, daß diese Politik bis zur allerletzten,
allerverhängnisvollsten Stunde allen unbekannt bleiben wird – was
durchaus den alten Traditionen der österreichischen Politik entsprechen
würde. Und habsüchtig, heißhungrig sitzt es jetzt da und lauert auf
Frankreich und erwartet dessen Schicksal, erwartet neue interessante
Fakta und tut’s – vor allem, vor allem nicht zu vergessen – in der
selbstzufriedensten Gemütsverfassung. Doch nicht lange wird es so
bleiben können: vielleicht wird es sich schon sehr bald zu einer viel
weiter reichenden Politik entschließen müssen – und das dann endgültig:
eine Aufregung, die in seiner Lage sogar angenehm sein mag, doch die
nichtsdestoweniger stark sein wird. Österreich begreift doch, und
vielleicht sogar sehr feinfühlig, daß mit jeder so leicht und so bald
möglichen Veränderung in Frankreich, daß mit jeder neuen Regierung
daselbst – nur nicht wieder der republikanischen – die Gefahr eines
Zusammenstoßes Frankreichs mit Deutschland _entschieden unvermeidlich_
ist: und das sogar in dem Falle, wenn die neuen Regenten Frankreichs für
ihre Person den Krieg überhaupt nicht wollten und sich womöglich aus
allen Kräften bemühen würden, den alten Zustand zu erhalten. Oh,
Österreich ist vielleicht fähig, besser als alle anderen zu verstehen,
daß es im Leben der Nationen solche Momente gibt, in denen schon nicht
mehr Wille und Berechnung sie zu gewissen Taten treiben, sondern das
Schicksal selber.

Ich werde mir jetzt erlauben, aus der Phantasie heraus ein Bild von dem
zu entwerfen, was – nach meiner Annahme – Österreich in der
gegenwärtigen unbestimmten Stunde über diese seine _fernere_ Politik,
für die es sich natürlich noch nicht entschieden hat, eigentlich denkt.
Einstweilen hört es jemanden schon an die Tür klopfen, es sieht, jemand
will unbedingt eintreten, sogar die Klinke ist schon einmal
niedergedrückt worden, doch die Tür hat sich noch nicht geöffnet ... und
wer eintreten wird – das weiß niemand. In Frankreich liegt das Rätsel,
dort muß es auch zuerst gelöst werden ... Vorläufig sitzt Österreich und
_denkt_. Ja, wie soll es da auch nicht nachdenklich werden! Wenn nun
Deutschland und Frankreich zum Entscheidungskampf die Schwerter ziehen
und sich aufeinander stürzen – für wen soll dann Österreich einstehen,
auf wessen Seite Österreich sich halten? Das ist die fernere Frage und
vielleicht – wird es sie schon sehr bald beantworten müssen!

Wie soll es da nicht seinen Wert, seine Bedeutung zu schätzen wissen: zu
wem es sich hält, der wird siegen! Was die Kanzler der beiden deutschen
Reiche unter sich gesprochen, das kann niemand wissen, doch Andeutungen
wird es zwischen ihnen bestimmt gegeben haben. Wie hätte es auch anders
sein sollen! Vielleicht ist einiges auch deutlicher gesagt oder
_vorgeschlagen_ worden – wer kann es wissen? Kurz, Geschenke und
Belohnungen sind ihm in Mengen versprochen, und die sind so gut wie
sicher; so kann es vollkommen überzeugt sein, daß es, wenn es
Deutschland im Falle eines Krieges gegen Frankreich nicht verrät, dafür
... _viel_ bekommen wird. Und zwar für eine lumpige _Neutralität_, bloß
dafür, daß es etwa ein halbes Jahr lang stillsitzt, in Erwartung der
Belohnung für sein artiges Betragen. – Das ist doch wirklich nicht übel!
Denn zu einer aktiven Tätigkeit gegen Frankreich würde es, glaube ich,
kein einziger Kanzler bringen können: solch einen Fehler wird Österreich
nie und nimmer begehen! Nein, Österreich wird sich nicht verleiten
lassen, mitzuhelfen, wenn Deutschland Frankreich den Todesstoß gibt, o
nein! Vielleicht aber wird es umgekehrt in der letzten verhängnisvollen
Sekunde durch diplomatische Verwendung Frankreich vor allzu Bösem
beschützen und sich auf diese Weise auch von dort noch eine Belohnung
verdienen. Es kann doch nicht _ganz ohne Frankreich_ bleiben, besonders
nicht in der freundschaftlichen Umarmung solch eines Riesen, zu dem nach
einem zweiten Sieg über Frankreich das junge Deutschland heranwachsen
muß! Womöglich wird dieser Riese es dann plötzlich so umarmen und so an
sich pressen, daß er es, aus Versehen natürlich, wie eine Fliege
zerdrückt. Und zu der Zeit wird dann vielleicht noch ein anderer Gigant
erwachsen, im Osten, rechts vom lieben Österreich, und sich endlich von
seiner Lagerstätte, auf der er jahrhundertelang geschlafen hat, erheben
...

„Gutes Betragen ist eine gute Sache,“ denkt Österreich jetzt
wahrscheinlich bei sich, „aber ...“ Es wäre nicht gut möglich, daß ihm
nicht auch noch ein anderer Gedanke käme, übrigens ein äußerst
phantastischer, – nämlich:

„Die Umwälzung in Frankreich kann sogar schon in diesem Herbst beginnen
und vielleicht schnell, sehr schnell beendet sein. Stürzt die Republik,
oder bleibt sie bloß in einer nominellen, in irgendeiner absurden Form
bestehen, so wird man es vielleicht bis zum Winter mit Deutschland schon
zu Meinungsverschiedenheiten gebracht haben können. Jedenfalls werden
dafür die Klerikalen sorgen, um so mehr, als der Papst bis dahin
bestimmt gestorben sein wird und dann die Neuwahl sofort den gewünschten
Vorwand zu Mißverständnissen und Spannungen abgeben kann. Stirbt der
Papst jedoch nicht, so vermindern sich die Gelegenheiten, Spannungen zu
verursachen, deshalb noch nicht im geringsten. Ist also Deutschland nur
fest entschlossen, so kann im Frühling der Krieg ausbrechen. Am anderen
Ende Europas ist augenscheinlich die Winterkampagne gegen die Türkei
unvermeidlich, so daß Deutschlands Verbündeter im Frühjahr immer noch
gebunden sein wird. Ergo, entbrennt der Revanchekrieg, so findet
Frankreich sofort zwei Bundesgenossen: England und die Türkei.

Deutschland wird folglich allein sein ... mit Italien, d. h. so gut wie
allein. Oh, natürlich, Deutschland ist mutig und mächtig. Aber auch
Frankreich hat Zeit gehabt, sich zu erholen: Frankreich hat eine Armee
von einer Million, und England ist immerhin doch auch eine gewisse
Hilfe: man wird die deutschen Häfen vor seiner Flotte beschützen müssen,
und das fordert Mannschaften, Artillerie, Gewehre, Vorräte. Das wird
Deutschland in irgend etwas doch ein wenig schwächen. Wie gesagt,
Aussichten, mit Erfolg diesen Krieg zu führen, hat Frankreich auch ohne
mich genügend, sagt sich Österreich, – wenigstens zweimal mehr als 1870,
da es jetzt sicherlich nicht seine Fehler von damals wiederholen wird.
Und dann, einerlei ob Frankreich besiegt wird, oder nicht, ich bekomme
das Meine im Osten sowieso, denn: Nichts wird im Osten vor sich gehen,
was den Interessen Österreichs zuwider ist! Das ist ja schon festgesetzt
und unterschrieben. Aber wie, wenn ich ... im letzten ... entscheidenden
Augenblick, ... nachdem ich vernünftigerweise die ganze Freiheit der
Entscheidung zurückbehalten, ... plötzlich einfach für Frankreich
eintrete und noch dazu die Klinge ziehe!?“

In der Tat, was dann?

Dann befindet sich Österreich sofort zwischen drei Feinden: Italien,
Deutschland und Rußland. Rußland jedoch wird durch seinen Krieg so in
Anspruch genommen sein, daß es eine Offensive kaum würde ergreifen
können. Italien ist jedenfalls nicht allzusehr zu fürchten. Bleibt –
Deutschland. Muß Deutschland dann auch gegen Österreich ein Heer
schicken, so wird dieses doch nicht allzu groß sein, denn es braucht ja
alle seine Kräfte gegen Frankreich. In der Tat: wollte sich Österreich
zu einer Verbindung mit Frankreich entschließen, so würde Frankreich
vielleicht sogar Deutschland zuerst angreifen, selbst wenn Deutschland
den Krieg nicht einmal wollte. Frankreich, Österreich, England und die
Türkei gegen Deutschland und Italien – das ist ja eine furchtbare
Koalition! Erfolg wäre sehr, sehr leicht möglich. Nach einem Erfolg aber
kann Österreich all das wiedergewinnen, was es bei Sadowa verloren hat,
und vielleicht noch unendlich viel mehr als das. Außerdem können ihm
seine Vorteile im Osten und all das ihm schon Versprochene gleichfalls
nicht verloren gehen. Und die Hauptsache: es wird im katholischen
Deutschland zweifellos großen Einfluß gewinnen. Wird dagegen Deutschland
besiegt, oder nicht mal besiegt, sagen wir: kehrt Deutschland aus dem
Kriege nicht ganz glücklich zurück – so ist die Einheit des Deutschen
Reiches plötzlich stark erschüttert. Im katholischen Süden erhebt sich
dann der Separatismus – um den sich die Klerikalen aus allen Kräften
bemühen werden und dessen sich selbstverständlich auch Österreich
bedienen wird: erhebt sich vielleicht sogar in solch einem Maße, daß
zwei geeinte Deutsche Reiche entstehen, ein katholisches und ein
protestantisches. Und darauf könnte Österreich, nachdem es sich um so
viel Deutsche verstärkt hat, es ja auch auf seinen „Dualismus“ ankommen
lassen: Ungarn in das alte ehrerbietige Verhältnis zu sich zurückbringen
und, wenn das geschehen, versteht sich, auch über seine Slawen verfügen,
und zwar jetzt endgültig und unwandelbar. Mit einem Wort, der Vorteile
könnte es unzählige geben. Sogar in dem Fall, wenn Deutschland Sieger
bliebe, wäre Österreich nicht so schlimm daran, denn so _entscheidend_
wie 1871 könnte Deutschland eine so mächtige Koalition schließlich doch
nicht besiegen: es würde auch als Sieger seine Wunden haben. So ließe
sich denn ohne besonders furchtbare Folgen der Friede schließen. „Also,
für wen soll ich mich entscheiden? Wie ist es besser, mit wem ist es
vorteilhafter?“

In Anbetracht der gegenwärtigen europäischen Verhältnisse, meine ich,
sind solche Gewissensfragen in Österreich ganz zweifellos vorhanden ...

                   *       *       *       *       *

Als ich das vorhergehende Kapitel schrieb, gab es noch nicht jene
Tatsachen und Meldungen, die jetzt so plötzlich die ganze europäische
Presse erfüllen, so daß alles, was ich damals noch mehr mutmaßlich
sagte, jetzt schon beinahe pünktlich eingetroffen ist. Mein Artikel wird
erst im nächsten Monat, am 7. Oktober, erscheinen, heute haben wir erst
den 29. September, und meine sogenannten „Prophezeiungen“, zu denen ich
mich nicht ohne Risiko hatte verleiten lassen, werden teilweise schon
als veraltete Tatsachen bekannt sein. Darum erlaube ich mir, meine Leser
an meine Ausführungen im Mai zu erinnern. Fast alles, was ich damals
über die nächste Zukunft Europas geschrieben, hat sich entweder schon
bestätigt oder beginnt gerade, sich zu bestätigen. Und doch hörte ich
damals strenge Urteile über diesen Artikel, allerdings von Privatleuten,
die ihn eine „phantastische Übertreibung“ und ein „verschrobenes
Hirngespinst“ nannten. Über die Macht und die Bedeutung der klerikalen
Verschwörung wurde einfach gelacht und eine „Verschwörung“ überhaupt
nicht anerkannt. Übrigens hatte ich vor zwei Wochen Gelegenheit, die
Meinung einer „kompetenten“ Persönlichkeit zu hören, die dahin lautete,
daß der Tod und die Neuwahl des Papstes an sich vollkommen bedeutungslos
seien und in Europa unbemerkt vorübergehen würden. Jedoch ist schon
jetzt bekannt, welch eine Bedeutung Fürst Bismarck ihnen beilegt, und
was in Berlin mit Crispi gesprochen worden ist. Ich habe in meinem
Maiartikel gesagt, Fürst Bismarck hätte sofort nach dem
Deutsch-Französischen Kriege begriffen, daß der furchtbarste Feind des
neugeeinten Deutschlands kein anderer ist als der römische
Katholizismus, der zu allererst den Vorwand abgeben werde zum großen
„Vergeltungskrieg“ und gesamteuropäischen Weltkrieg. Dieses fand man
unsinnig, ungereimt, usw., usw. Und das alles, weil ich es zu einer Zeit
geschrieben, da noch niemand, weder bei uns noch in der europäischen
Presse, sich wegen dieser Frage zu beunruhigen gedachte, – trotz des
Orientkrieges, der schon ausgebrochen war und alle Welt besorgt machte.
Alle glaubten damals, er würde auch dort fern im Orient enden, und auch
jetzt noch glaubt vielleicht niemand ernstlich an die Gewißheit eines
europäischen Krieges in nächster Zukunft. Im Gegenteil, man lenkte noch
kürzlich ernstlich die Aufmerksamkeit auf die Meinung jener Engländer,
die es ja wissen mußten, daß Rußland und die Türkei sehr wohl noch vor
dem Winter Frieden schließen könnten. So ist es denn vielleicht
überflüssig, daß ich mein Kapitel für überlebt halte: obgleich die
ersten Fakta sich schon gemeldet haben, obgleich über ganz Europa etwas
Unheilvolles heraufzieht, und der Ausbruch vielleicht eines Weltkrieges
nicht mehr fern ist, bin ich doch überzeugt, daß viele auch jetzt noch
meine Erklärungen dieser Fakta abermals für erdichtet, lächerlich,
phantastisch und übertrieben halten werden, denn alle halten sie ja das
Vorsichgehende für unvergleichlich bedeutungsloser, als es in
Wirklichkeit ist. Da nähern sich zum Beispiel die Wahlen in Frankreich,
und vielleicht schickt das Land wieder die frühere republikanische
Mehrheit in die Kammer, was sehr leicht geschehen kann, und dann – davon
bin ich so gut wie überzeugt – wird man sofort versichern, daß alles
glücklich beendet sei, daß der Himmel sich aufgeklärt und Mac-Mahon sich
gefügt habe, daß die _machtlosen_ Klerikalen schmählich abgezogen seien,
und in Europa wieder Friede und „Gesetzlichkeit“ oder „Rechtmäßigkeit“
herrsche. Alle meine „Erfindungen“ werden sich dann wieder als „Produkte
müßiger Einbildungskraft“ erwiesen haben. Wieder wird man sagen, daß ich
Dingen, die womöglich schon geschehen sind, eine ungenaue Bedeutung
zugeschrieben, und vor allem eine, die ihnen sonst nirgendwo
zugeschrieben wird. Doch warten wir lieber die Ereignisse ab, bevor wir
urteilen, welche Deutung die richtige ist. Zur Übersicht aber werde ich
versuchen, zum Schluß noch einmal die Richtung und besondere Art dieses
vor allen sich öffnenden Weges zu zeigen – den zu betreten allen, ob sie
wollen oder nicht, bestimmt zu sein scheint. Ich tue es zur besseren
Übersicht, damit man später vergleichen und prüfen kann. Es ist zudem
nur eine einfache Zusammenfassung dieses selben Kapitels.

1. Der Weg beginnt in Rom und führt aus dem Vatikan, wo der sterbende
Greis, das Haupt der ihn umringenden Jesuiten, diesen Weg schon längst
bezeichnet hat. Als die Orientfrage aufgeworfen wurde, begriffen die
Jesuiten gar bald, daß die günstigste Zeit angebrochen sei. Auf dem
vorgezeichneten Wege machten sie sich in Frankreich an ihr Werk und
brachten es in solch eine Lage, daß sein baldiger Krieg mit Deutschland
nun so gut wie sicher ist, selbst dann, wenn es ihn überhaupt nicht
will. All das ist vom Fürsten Bismarck schon lange, lange vorhergesehen
worden. Wenigstens scheint nur er allein, und vielleicht schon vor
mehreren Jahren, seinen größten Feind entdeckt und durchschaut zu haben
und damit auch die große Bedeutung jenes letzten Kampfes ums Dasein, den
der _päpstliche Katholizismus_, vor seinem Untergange, in allernächster
Zukunft mit der Welt aufnehmen wird.

2. Dieser vom Schicksal bestimmte Kampf spitzt sich im gegenwärtigen
Augenblick schon zu, und die Notwendigkeit, die letzte Schlacht zu
schlagen, naht mit furchtbarer Schnelligkeit. Frankreich ward ausersehen
und bestimmt für den ungeheuren Kampf – und der Kampf wird stattfinden.
Der Kampf ist unvermeidlich, darüber besteht kein Zweifel. Allerdings
gibt es noch eine kleine, kleinste Möglichkeit, daß er aufgeschoben wird
– doch das dann gewiß nur auf die allerskürzeste Zeit. In jedem Fall ist
er _unvermeidlich_ und _nahe_.

3. Sowie der Kampf beginnt, wird er sich sofort in einen alleuropäischen
verwandeln. Die Orientfrage und der Orientkampf werden durch die Macht
des Schicksals mit dem alleuropäischen Kampf zusammenfließen. Eine der
wichtigsten Episoden dieses Kampfes wird die definitive Entscheidung
Österreichs sein: zu welcher Partei soll es sich halten? Doch der
allerwesentlichste Teil dieses letzten Kampfes wird einerseits darin
bestehen, daß durch ihn die tausendjährige römisch-katholische Frage
gelöst wird, und daß das östliche Christentum durch den Willen der
Vorsehung seinen Platz einnehmen kann. Auf diese Weise erweitert sich
unsere russische Orientfrage zu einer universalen Frage mit
ungewöhnlicher vorbestimmter Bedeutung, wenn sich diese Bestimmung auch
vor blinden Augen vollzogen hat, die sie nicht anerkennen, und die fähig
sind, bis zur letzten Stunde das Sichtbare nicht zu sehen, und den Sinn
des Vorherbestimmten nicht zu begreifen. Endlich –

4. – Möge man das für die phantastischste meiner Annahmen halten, ich
bin im voraus damit einverstanden –: Ich bin überzeugt, daß der Kampf
zugunsten des Ostens enden wird, zugunsten des östlichen Bundes, daß
Rußland nichts zu fürchten hat, wenn der orientalische Krieg mit dem
alleuropäischen zusammenfließt, und daß es sogar besser ist, wenn die
Sache derart entschieden wird. Es ist furchtbar, daß so viel wertvolles
Menschenblut fließen muß! Doch kann die Überzeugung, daß dieses
vergossene Blut Europa vor zehnfach größerem Blutvergießen bewahrt, wenn
sich die Sache hinausschieben und nochmals hinziehen würde, immerhin zum
Trost gereichen, um so mehr, als dieser große Kampf zweifellos schnell
enden wird. Dafür aber wird auf einmal so vieles endgültig entschieden –
die römisch-katholische Frage samt dem Schicksal Frankreichs, die
deutschen, die orientalischen und die mohammedanischen Fragen – so viel
Angelegenheiten werden in Ordnung gebracht, Probleme, die im alten Gang
der Dinge ganz unlösbar waren. Und dermaßen wird sich Europas Angesicht
verändern, so viel neues Zukünftiges wird in den Beziehungen der
Menschen einsetzen, daß es vielleicht unnütz ist, zu trauern und vor
diesem letzten Kampf des alten Europas am Vorabend seiner sicheren und
großen Erneuerung zurückzuschrecken.

Zum Schluß füge ich noch eine Erwägung hinzu: wenn man es als Regel
annimmt, daß man über alle Weltereignisse (sogar über die, welche schon
auf den oberflächlichsten Blick von allergrößter Wichtigkeit zu sein
scheinen) unbedingt nach dem Prinzip: „heute so wie gestern, und morgen
so wie heute,“ urteilen muß, so wird es dann wohl augenscheinlich
werden, daß diese Regel entschieden der Geschichte der Nationen und der
Menschheit widerspricht. Währenddessen wird gerade dieses Prinzip von
der sogenannten realen, nüchternen „gesunden Vernunft“ vorgeschrieben,
so daß fast ein jeder, der sich erdreistet, anzunehmen, eine Sache
könnte am nächsten Tage vor aller Augen vielleicht anders erscheinen,
als am Tage vorher, verlacht und ausgepfiffen wird. Sogar jetzt, da doch
schon die Tatsachen sprechen, glauben noch sehr viele, daß die klerikale
Bewegung die kleinlichste Sache sei, daß Gambetta eine Rede halten, und
alles wieder so wie gestern seinen alten Gang nehmen werde, daß unser
Krieg mit der Türkei sehr, sehr leicht vor dem Winter beendet sein
könne, und dann wieder das Börsenspiel beginnen, der Rubel erheblich
steigen wird, wir wieder ins Ausland reisen werden usw. Die
Undenkbarkeit der Fortdauer der alten Verhältnisse war in Europa vor der
ersten Französischen Revolution für die führenden Geister eine auf der
Hand liegende Wahrheit. Währenddessen aber – wer konnte am Vorabend der
Einberufung der Etats Généraux die Form voraussehen, die die Situation
beinahe schon am zweiten Tage annahm? Und als die Situation sich
verändert hatte, wer hätte dann das Erscheinen Napoleons I. prophezeien
können, der doch im Grunde wie ein vorherbestimmter Vollender der ersten
historischen Phase derselben Tat, die 1879 begonnen worden war,
eingriff? Ja, selbst zur Zeit Napoleons I. schien es in Europa
vielleicht jedem einzelnen, daß sein Erscheinen ein vollkommener Zufall
war, der nicht im geringsten mit diesem selben Weltgesetz verbunden sein
konnte, nach dem sich zu verändern der Alten Welt seit dem Ende des
vorigen Jahrhunderts vorherbestimmt war.

Ja, auch jetzt klopft jemand an die Tür, irgendwer, ein neuer Mensch,
mit einem neuen Wort. Er will die Tür öffnen und eintreten ... Wer aber
ist Er – das ist die Frage: ist es ein ganz neuer Mensch, oder einer,
der wieder uns allen, uns alten Menschen, gleicht!?



                             Zweiter Teil.

                               Russisches


                          Vom russischen Volk


                   Davon, daß wir gute Menschen sind.

     Die Ähnlichkeit der russischen Gesellschaft mit dem Marschall
                             Mac-Mahon[17]

Ja, in der Tat: sind wir nicht alle gute Menschen, – nun, versteht sich,
ausgenommen die schlechten? Ich füge sogar noch hinzu: es gibt bei uns
überhaupt keine schlechten Menschen, sondern nur untaugliche. An die
wirklich Schlechten reichen wir gar nicht hinan! Denken Sie nach, lachen
Sie nicht über mich: aus Mangel an schlechten Menschen waren wir
seinerzeit sehr bereit, verschiedene wirklich schlechte Menschen
hochzuschätzen, wie es gewisse Typen unserer Literatur beweisen, die
größtenteils der ausländischen entlehnt worden sind. Oh, nicht genug
damit, daß wir sie schätzten, nein, sklavisch versuchten wir, sie im
wirklichen Leben zu kopieren. Beinahe waren wir schon nicht mehr wir
selbst, nicht mehr Russen! Erinnern Sie sich nur dieser vielen
Petschorins, die es bei uns gab, die angeregt durch die Lektüre von
Lermontoffs „Helden unserer Zeit“ in Wirklichkeit Schlechtigkeiten
vollführten. Der Ahnherr all dieser schlechten Menschlein in unserer
Literatur ist wohl der Typ Silvio, den unser herrlicher Puschkin dem
Engländer Byron entlehnt hatte.

Wenn wir diese schlechten Menschen so achteten, so geschah es nur
deshalb, weil diese Menschen eines andauernden Hasses fähig waren, im
Gegensatz zu uns Russen, die wir nun einmal nicht richtig hassen können
und uns darum damals nicht wenig selbst verachteten. Der russische
Mensch ist in der Tat nicht imstande, ernstlich und lange zu hassen,
weder Menschen noch Laster, weder Unwissenheit noch Despotismus, noch
tiefsten Obskurantismus. Bei uns ist man sofort bereit, sich zu
versöhnen, gleich bei der ersten Gelegenheit sogar. Oder ist das nicht
wahr? In der Tat, warum sollte einer den anderen hassen? Wegen
schlechter Handlungen etwa? Nun, lassen wir dieses Thema lieber, es ist
zu zweischneidig. Und der Haß der Überzeugung? An _den_ Haß glaube ich
schon gar nicht bei uns. Früher einmal, gewiß, gab es bei uns Slawophile
und Westler, und die haßten sich sehr – aber dann, als es mit der
Aufhebung der Leibeigenschaft auch mit der Reform Peters des Großen zu
Ende ging, und ein allgemeines „_sauve qui peut_“ eintrat, da waren
Slawophile und Westler einig in demselben Gedanken, daß man jetzt alles
vom Volke selbst erwarten müsse, daß es auferstehen werde, und daß nur
das Volk allein uns in allem das letzte Wort sagen könne. Darüber hätten
sich die Slawophilen und Westler ja nun versöhnen können, aber das ging
auch wieder nicht an, denn die Slawophilen glauben an das Volk, weil sie
das Eigene und Eigenartige seiner Anlagen anerkennen. Die Westler
dagegen lassen sich nur unter der Bedingung herbei, an das Volk zu
glauben, daß man ihm alles Eigene und Eigenartige nimmt. Und siehe da,
der Kampf dauert fort. Doch an diesen Haß: Kampf gegen Kampf und Haß
gegen Haß, an den glaube ich, wie gesagt, _nicht_. Warum können sich die
Streitenden nicht auch zu gleicher Zeit liebhaben? Das geschieht bei uns
nur zu oft in den Fällen, in denen sich gute, allzu gute Menschen
streiten. Und warum sollten wir nicht gute Menschen sein? Auch streiten
wir uns doch hauptsächlich nur, weil jetzt eine Zeit angebrochen ist,
die von uns nicht mehr Theorien und Kritik, sondern Taten und praktische
Entschlüsse verlangt. Plötzlich hatte man bei uns das Bedürfnis nach
grundlegenden Worten über Pädagogik, Eisenbahnen, Semstwo, Hygiene und
hundert andere Themata. Und alles wollte man _sofort_ wissen, möglichst
schnell, um nicht die Arbeit aufzuhalten. Da wir aber alle, nach
hundertjähriger Entwöhnung von jeglicher Arbeit, sogar von der
kleinsten, uns als dazu unfähig erwiesen, so war es nur natürlich, daß
wir uns gegenseitig in die Haare gerieten – und zwar stritt im
allgemeinen derjenige am meisten, der sich zu ihr am allerunfähigsten
erwies. Was ist dabei Schlechtes, frage ich Sie? Das ist doch bloß
rührend und weiter nichts. Sehen Sie die Kinder an: die streiten sich
nur dann, wenn sie noch nicht gelernt haben, ihre Gedanken auszudrücken:
genau so machen wir es. Und es ist auch gar nichts Unerfreuliches dabei,
im Gegenteil, es zeugt ja nur von unserer Frische und Unberührtheit und
Jugend. In unserer Literatur beispielsweise beschimpft man sich aus
Mangel an Gedanken buchstäblich mit allen Schimpfwörtern auf einmal: ein
äußerst naives Verfahren, das man sonst nur bei den Urvölkern findet.
Doch auch darin liegt beinahe etwas Rührendes, diese Unerfahrenheit,
dieses kindliche Unvermögen sogar – sich tüchtig auszuschimpfen. Ich
scherze durchaus nicht, und ich spotte über niemanden. Es ist aber bei
uns allerorten ein ehrliches Wünschen und Erwarten des Guten. Das ist
gewiß wahr. Der Wunsch nach allgemeiner Arbeit und allgemeinem
Wohlergehen steht über jeglichem Egoismus. Die naivsten Wünsche werden
wach, und alles ist voller Glauben bei uns. Es gibt bei uns keinen
Kastengeist, oder höchstens nur in ganz kleinen und seltenen
Erscheinungen, die kaum bemerkt werden. Das ist sehr wichtig! Doch genug
davon. Weshalb sollte also noch von einem wirklichen Haß die Rede sein?
Die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit unserer Gesellschaft unterliegt nicht
nur keinem Zweifel, sondern fällt geradezu auf. Beobachten Sie doch nur,
und Sie werden bemerken, daß der Glaube an die Idee, an das Ideal allem
persönlichen, materiellen Wohlergehen vorangeht. Oh, natürlich, den
schlechten Menschen gelingt es auch bei uns, ihre Geschäftchen
abzuwickeln, Geschäftchen gerade im eigennützigsten Sinne, und in
unserer Zeit, scheint es, mehr denn je. Doch dafür beherrschen diese
nichtsnutzigen Menschen niemals die Meinung, gehen nie der Gesellschaft
irgendwie voran, sondern sind selbst dann, wenn sie auf der sogenannten
Höhe des Lebens stehen, überhäuft mit allen Ehren – selbst dann sind sie
noch genötigt, sich dem Tone der Idealisten, der Jungen und Abstrakten,
diesen in ihren Augen nur lächerlichen Menschen, irgendwie anzupassen.
In diesem Sinne gleicht unsere Gesellschaft durchaus unserem einfachen
Volke, darin liegt der Hauptpunkt seiner Einheit mit dem Volke, das auch
seinen Glauben und seine Ideale höher schätzt als alles Materielle und
Vergängliche. Der Idealismus ist ihm lieb, hier wie dort: ist der
Idealismus _verloren_, so kann man ihn mit keinem Gelde zurückkaufen.
Wenn unser Volk auch von seinen Lastern geknechtet wird, jetzt
vielleicht mehr denn je, und wenn es auch noch in einer richtigen
Anarchie lebt, so hat doch selbst der letzte Schurke bei uns noch
niemals gesagt: „So wie ich es mache, ist es richtig.“ Im Gegenteil,
immer weiß er und seufzt selbst darüber, daß er schlecht ist, und daß es
ein Gutes in der Welt gibt, das besser ist als er und alles, was er tut.
Der Glaube an die Ideale ist in unserem Volke unerschütterlich.
Verbessert seine Lage, verringert die Lasterhaftigkeit, und das
Volk wird sich aufrichten! Die Ideale aber stehen dann noch
unerschütterlicher und heiliger da als je vorher. Unsere Jugend sucht
große Taten und bringt ihren Ideen alles zum Opfer. Unser
zeitgenössischer russischer Jüngling, von dem so viel in verschiedenem
Sinne gesprochen wird, vergöttert oft das allersimpelste Paradox und
weiht ihm sein Leben und sein Schicksal, nur, weil er das Paradox für
eine Wahrheit hält. Es fehlt ihm nur noch an Aufklärung, aber das Licht
wird sich schon verbreiten, und andere Anschauungen werden dann ganz von
selbst auftauchen, und die Paradoxe werden verschwinden. Die Reinheit
seines Herzens jedoch bleibt und damit auch der Durst in ihm nach Taten
und Opfer: das aber ist das Gute. Nichtsdestoweniger gibt es eine Frage,
die bei uns bis jetzt noch nicht beantwortet ist. Alle nämlich, die wir
das Wohl aller und die Besserung der allgemeinen Lage in unserem Lande
und unserem Volke wünschen – worin sehen wir nun die Mittel zu diesem
Wohl und zu dieser Besserung? Man muß leider gestehen, daß bei uns in
dieser Hinsicht noch wenig geschehen ist, und daß unsere Gesellschaft in
diesem Sinne – dem Marschall Mac-Mahon sehr ähnlich sieht. Auf einer
seiner Reisen durch Frankreich erklärte der ehrenwerte Marschall
unlängst in einer feierlichen Rede, als Antwort auf eine Ansprache
irgendeines Maires – die Franzosen sind ja solche Liebhaber von
feierlichen Reden und Ansprachen –, daß nach seiner Meinung die ganze
Politik in dem einen Worte enthalten sei: „Die Liebe zum Vaterlande“.
Ein sehr sinniger Ausspruch, meine ich, in einem Augenblicke, da ganz
Frankreich gespannt darauf wartet, was er sagen wird. Eine wichtige
Behauptung, unbestreitbar lobenswert, aber – sonderbar unbestimmt. Der
Maire hätte seiner Exzellenz antworten können, daß man mit derselben
Liebe auch das Vaterland zugrunde richten könnte. Aber der Maire
erwiderte nichts, vielleicht aus Angst, die Antwort zu erhalten: „_J’y
suis et j’y reste_“, eine Phrase, über die der ehrenwerte Marschall nun
einmal nicht hinauskommt. Nun, und gerade so steht es mit unserer
Gesellschaft: wir alle verstehen uns in der Liebe zum Vaterlande oder
zur „allgemeinen Sache“ – Worte tun’s nicht! Worin bestehen aber die
Mittel, und nicht nur die Mittel, sondern worin besteht die allgemeine
Sache selbst? Darüber herrscht bei uns, meines Erachtens, gerade solch
eine Unklarheit, wie bei dem Marschall Mac-Mahon.


                        Von der Liebe zum Volke.

      Der unumgänglich notwendige Vertrag der Gesellschaft mit dem
                                 Volke

Vor kurzem schrieb ich, daß unser Volk noch roh und unwissend sei und
dem Laster ergeben: „ein Barbar, der das Licht erwartet,“ wie ich mich
ausdrückte! Bald darauf habe ich in der „Hilfe“ einen Artikel Konstantin
Akssakoffs, unseres unvergeßlichen und allen Russen teuren Verstorbenen,
gelesen, nach welchem unser russisches Volk schon lange aufgeklärt und
gebildet sein soll. Ist nun dieser augenscheinliche Gegensatz meiner
Meinung und derjenigen Konstantin Akssakoffs ein Widerspruch? Nicht im
geringsten: ich teile seine Ansicht vollständig und fühle ihre Wahrheit
schon lange. Trotzdem aber bleibt doch der Widerspruch? Gewiß – darin
besteht gerade mein Geheimnis: während nach der Meinung anderer diese
beiden Behauptungen unvereinbar scheinen, behaupte ich das Gegenteil. In
dem russischen Menschen, in dem Volke muß man eben die Schönheit dieser
Barbarei zu sehen verstehen. Der ganzen russischen Geschichte nach war
unser Volk so dem Laster ergeben und dermaßen verdorben, verirrt und
ständig gequält und gepeinigt, daß es wunderbar ist, wie es überhaupt
noch sein menschliches Aussehen hat bewahren können, und nicht nur das
allein, sondern auch noch seine volkliche Schönheit. Die aber hat es
sich wirklich bewahrt! Wer ein aufrichtiger Freund des Volkes ist, wem
das Herz nur einmal für die Leiden des Volkes geschlagen hat, der
versteht es und wird auch den Schmutz entschuldigen, in den unser Volk
gesunken ist, und die Perlen trotzdem zu finden wissen. Ich wiederhole
es: Richtet nicht das russische Volk nach seinen Fehlern und Lastern,
sondern beurteilt es nach seinen großen und heiligen Idealen, nach denen
es in seinem Schmutze lechzt. Und es gibt in unserem Volke nicht nur
Schurken und Verbrecher, sondern auch Heilige, die uns voranleuchten und
unser Dunkel erhellen! Und ich glaube tief und fest, daß es bei uns
keinen Schurken gibt, der nicht wüßte, daß er schlecht und gemein ist.
Bei den anderen Völkern ist es anders: wenn dort jemand eine Gemeinheit
vollführt, so stellt er sie zum Prinzip auf, bejaht sie, behauptet, daß
in ihr die Ordnung und das Licht der Zivilisation läge – und der
Unglückliche kommt schließlich so weit, daß er daran blind und sogar
ehrlich glaubt. Nein, beurteilen Sie unser Volk nicht danach, wie es
ist, sondern danach, wie es sein möchte. Seine Ideale sind stark und
heilig, und sie retteten das Volk in all diesen Jahrhunderten vor dem
Elend und dem völligen Untergang. Sie wuchsen mit seiner Seele zusammen
und gaben ihr bis in alle Ewigkeit Einfachheit, Gutmütigkeit und
Aufrichtigkeit und einen weiten, offenen Verstand – und alles das in
einer anziehenden, zusammenklingenden, einer schönen Vereinigung. Und
wenn trotzdem so viel Schmutz in dem russischen Menschen ist, so leidet
er darunter selbst am meisten: er glaubt und hofft, daß das nur zeitlich
und eine teuflische Versuchung sei, daß die Dunkelheit, die ihn umgibt,
einmal aufhören und das ewige Licht dann auch auf ihn herniederscheinen
werde. Ich will noch nicht einmal von seinen historischen Idealgestalten
reden, von Feodossij Petscherski[18] oder Tichon Sadonski.[19] Übrigens:
wie viele von uns kennen denn überhaupt einen Tichon Sadonski? Warum
liest man nie etwas von ihm? Glauben Sie mir, Sie würden zu Ihrem
Erstaunen wunderbare Sachen erfahren. Und abgesehen von diesen
Volksheiligen: wie steht es mit unserer Literatur? Alles, was in ihr
wahrhaft schön ist, das ist aus dem Volke genommen. Der Typ Belkin von
Puschkin zum Beispiel! Bei uns ist alles von Puschkin. Seine Umkehr zum
Volke, schon in der frühesten Zeit seiner Tätigkeit, ist so beispiellos
und Erstaunen erregend und bedeutete einen für die damalige Zeit so
unerwarteten und neuen Schritt, daß sie sich, wenn nicht durch ein
Wunder, dann eben nur durch seine geniale Größe erklären läßt, die wir
nur, füge ich hinzu, bis jetzt noch nicht die Kraft hatten, richtig zu
werten. Erinnern Sie sich der „Oblomoffs“ von Gontscharoff, der „Väter
und Söhne“ von Turgenjeff. In denen ist freilich nicht vom Volke die
Rede, aber alles, was in den Typen Turgenjeffs und Gontscharoffs Ewiges
und Schönes ist, das liegt dort, wo sie sich mit dem Volke kreuzen. Nur
die Berührung mit dem Volke gibt ihnen diese ungewöhnliche Kraft. Diese
Typen haben seine Gutmütigkeit, Reinheit und Bescheidenheit, die Weite
seines Verstandes und seiner Güte, im Gegensatz zu allem Unnatürlichen
und Falschem angenommen. Wundern Sie sich bitte nicht, daß ich plötzlich
von unserer Literatur spreche; aber ihr gebührt das Verdienst, daß sie
in ihren besten Vertretern und früher als unsere ganze Intelligenz,
bemerken Sie das wohl, sich vor der Wahrheit des Volkes gebeugt und die
Ideale des Volkes als die wahrhaft schönen anerkannt hat. Es ist wahr,
daß unsere Dichter zum Teil dazu genötigt waren und es wohl mehr aus
künstlerischem Instinkt, als aus gutem vaterländischem Willen taten.
Doch genug von der Literatur – sprach ich von ihr doch nur im großen
Zusammenhange mit dem Volke und mit der allgemeinen Frage der russischen
Volklichkeit!

Diese Frage und das richtige Verständnis derselben ist für uns jetzt das
Wichtigste: von ihr hängt unsere ganze, auch die praktische Zukunft ab.
Aber das Volk ist für uns alle noch immer Theorie und ein Rätsel. Wir
alle, wir Freunde des Volkes, sehen auf das Volk wie auf eine Theorie,
und niemand liebt daher dasselbe so, wie es in der Tat ist, sondern so,
wie er es sich vorstellt. Wenn das russische Volk in der Folge sich
nicht als dasjenige erweisen sollte, als das ein jeder von uns es sich
vorstellt, so würden wir, ungeachtet unserer vermeintlichen Liebe zu
ihm, uns sofort und ohne jegliches Bedauern von ihm abwenden. Ich
behaupte das von allen, die Slawophilen nicht ausgenommen: ja, die
würden es vielleicht sogar noch früher tun als alle anderen. Was mich
anbelangt, so verhehle ich nicht meine Überzeugung, und um
Mißverständnissen vorzubeugen, weise ich geradezu auf sie hin. Ich
glaube nämlich, daß wir Intellektuellen kaum so gut und vortrefflich
sind, um uns als Ideal vor das Volk hinstellen und von ihm ohne weiteres
verlangen zu können, daß es gerade so werde, wie wir sind. Wundern Sie
sich nicht über die Frage (man ist ihr noch nie bei uns begegnet): „Wer
ist besser – wir oder das Volk? Sollen wir uns nach dem Volke richten
oder das Volk sich nach uns?“ Das ist die Frage, die uns jetzt alle
beschäftigt, wenigstens diejenigen unter uns, die nicht aller Gedanken
bar sind und die Sache des russischen Volkes in ihrem Herzen tragen.
Denen kann ich auch aufrichtig antworten: daß wir uns vor dem Volke
beugen müssen und von ihm alles zu erwarten haben, unsere Gedanken und
Vorstellungen, daß wir uns vor der Wahrheit des Volkes beugen und sie
als _unsere_ Wahrheit anerkennen müssen, selbst in dem Falle, wenn sie
zum Teil aus dem Leben der Volksheiligen käme. Mit einem Wort, wir sind
die verirrten Kinder, die zweihundert Jahre nicht zu Hause waren, aber
doch als Russen zurückkehrten, – was unser einziges Verdienst ist. Aber
wir können uns nur unter einer Bedingung vor dem Volke beugen und das
_sine qua non_: daß das Volk auch das von _uns_ annimmt, was wir ihm
Gutes mitgebracht haben. Ganz vernichten und aufgeben können wir uns
doch nicht, selbst vor einerlei welcher Wahrheit des Volkes nicht; sonst
behalten wir lieber das Unserige für uns, und müßten wir auch im
äußersten Falle auf das Glück einer Vereinigung mit dem Volke
verzichten. Dann mögen wir eben beide untergehen. Aber zu diesem
Äußersten wird es nie kommen. Ich bin überzeugt, daß auch das Unserige,
das wir mitbringen, in der Tat etwas ist: nicht ein Hirngespinst etwa,
sondern daß es Bild, Form und Gewicht hat. Nichtsdestoweniger bleibt vor
uns das Rätsel bestehen, das uns auf seine Lösung warten läßt – und es
ist angstvoll, zu warten. Zweifel an der Zivilisation tauchen auf. Man
behauptet, daß die Zivilisation das Volk verderbe. Der Gang der Dinge
wäre danach der, daß neben der Erlösung und dem Lichte auch viel
Falsches und Unwahres und eine große Unruhe heraufzöge. Nur den
zukünftigen Geschlechtern würde ihr guter Samen aufgehen, aber uns und
unseren Kindern drohe Verderben. Ist das auch Eure Meinung, die Ihr
dieses lest? Ist es unserem Volke bestimmt, noch eine neue Phase von
Lüge und Verderbnis durchzumachen, wie wir sie mit dem europäischen
Pfropfreis von Zivilisation schon durchgemacht haben? Ich glaube,
niemand wird es bestreiten, daß bei uns die Zivilisation zunächst mit
der Sittenverderbnis anfing. Doch ich glaube auch, daß unser Volk von
einer so ungeheuren Größe und Tiefe ist, daß alle neuen trüben und
unreinen Ströme, die es aufnimmt, in ihm verschwinden werden, und es nur
reine und klare wiederausströmen wird. Lassen Sie uns zusammenwirken,
reichen Sie mir dazu die Hand, auf daß ein jeder mit seiner kleinen
Arbeit das Seine beisteuere, auf daß die Dinge sich gerade und immer
fehlerloser entwickeln! Wir selbst verstehen davon wenig: wir „lieben
nur unser Vaterland“. In den Mitteln, ihm zu helfen, stimmen wir nicht
überein und werden nicht aufhören, uns darüber zu streiten: aber nun ist
doch wenigstens schon einmal ausgemacht, daß wir gute Menschen sind, und
schließlich muß doch alles zu einer Ordnung kommen. Daran glaube ich,
und ich wiederhole es, daß es nur die zweihundertjährige Entwöhnung von
jeglicher Arbeit ist und weiter nichts. So, wie es jetzt ist, schließen
wir unsere „Kulturperiode“ damit ab, daß wir allgemein aufhören, uns
gegenseitig zu verstehen. Ich spreche nur von den aufrichtigen und
ernsten Menschen – nur sie allein wollen sich nicht mehr verstehen.
Spekulanten sind eine andere Sache: die haben sich bei uns immer und zu
jeder Zeit verstanden.


                            Der Bauer Marei

Ich will, zur Abwechselung, einmal eine kleine Geschichte erzählen. Das
heißt: eigentlich kann man das nicht recht eine Geschichte nennen; es
ist nur eine alte Erinnerung. Ich war damals neun Jahre alt ... Doch
nein: ich werde lieber mit meinem neunundzwanzigsten Jahre beginnen.

Es war am zweiten Osterfeiertag. Die Luft war warm, der Himmel hoch und
blau und die Sonne so hell und schön. In meiner Seele aber war es dunkel
und häßlich. Ich schlenderte hinter den Kasernen umher, betrachtete den
Palisadenzaun, der unser Gefängnis umgab, und zählte die einzelnen
Pfähle. Doch selbst das ewige Zählen wurde langweilig, wenn ich’s auch
nur ganz mechanisch, aus Gewohnheit, tat. Es war schon der zweite Tag,
daß im Gefängnis „gefeiert“ wurde: die Gefangenen brauchten nicht zu
arbeiten, und so waren denn fast alle betrunken. In jedem Augenblick
entstand ein neuer Streit, der mit Schimpfwörtern begann und mit
Schlägen endete. Gemeine Lieder, Spielhöllen unter den Pritschen,
mehrere für besonderen Unfug von den Kameraden halbtotgeprügelte
Sträflinge, die man mit Pelzen bedeckt hatte und ruhig liegen ließ, bis
sie wieder zu sich kommen und aufwachen würden; oft schon waren die
Messer gezogen worden: all das hatte mich in den zwei Feiertagen bis zum
Wahnsinn gequält.

Niemals habe ich betrunkenes Volk ohne Ekel sehen können; hier aber, an
diesem Ort, war es mir ganz besonders widerlich. An solchen Feiertagen
kamen nicht einmal die Beamten ins Gefängnis, um zu inspizieren oder
nach dem verbotenen Branntwein zu suchen. Sie sahen wohl ein, daß man
auch diesen Verstoßenen doch wenigstens einmal im Jahr etwas Freiheit
lassen mußte, um Schlimmerem vorzubeugen.

Plötzlich ertrug ich die Qual nicht mehr. Heiße Wut packte mich. Da kam
mir der Pole M...tzki, auch ein „politischer“ Zwangssarbeiter, entgegen;
er blieb vor mir stehen und sah mich zornig, mit zuckenden Lippen, an.
„_Je hais ces brigands!_“ stieß er halblaut durch die Zähne hervor und
ging an mir vorüber. Ich kehrte in die Kaserne zurück, obgleich ich erst
vor einer Viertelstunde halb wahnsinnig aus ihr hinausgelaufen war; denn
sechs Kerle, wahre Athleten, hatten sich zugleich auf den betrunkenen
Tataren Gasin gestürzt, um ihn mit den Fäusten zu „beruhigen“. Sie
schlugen ihn unsinnig (ein Kamel hätte solche Schläge nicht überlebt),
wußten aber, daß dieser tatarische Herkules viel aushalten konnte. Als
ich nun zurückkam, sah ich in einer Ecke den schändlich zugerichteten
Gasin, der ohne jedes Lebenszeichen auf seiner Pritsche lag. Man hatte
ihn mit einem Pelz zugedeckt. Die anderen umstanden ihn schweigend. Wenn
sie auch überzeugt waren, daß er am nächsten Tage wiedererwachen werde,
so kratzte sich doch einer von ihnen den Kopf und meinte etwas besorgt:
„Aber ... Weiß Gott doch ... Ist die Stunde vertrackt, so stirbt ’n
Mensch wie nichts von solchen Schlägen.“ Ich ging zu meiner Pritsche am
vergitterten Fenster, legte mich auf den Rücken, schob die Hände unter
den Kopf und schloß die Augen. So lag ich immer gern: die Schlafenden
werden gewöhnlich in Ruhe gelassen, und so kann man denken und träumen.
Diesmal wollte es jedoch mit dem Träumen nicht gehen: mein Herz schlug
unruhig, und in den Ohren klang mir noch das Wort: „_Je hais ces
brigands!_“ Jetzt noch träume ich in mancher Nacht von jener Zeit; ich
kenne keinen qualvolleren Traum.

Allmählich vergaß ich die Gegenwart und verlor mich unmerklich in
Erinnerungen. In den langen Jahren, die ich dort verbrachte, erinnerte
ich mich meines ganzen früheren Lebens: ich glaube, ich habe es so von
Anfang an nochmals durchlebt. Diese Erinnerungen kamen, ohne daß ich
selbst wußte, wie; nur selten habe ich sie gerufen. Gewöhnlich fingen
sie mit irgendeinem Punkt, einem kleinen Zug an, dem sich dann immer
mehr Züge anfügten, bis das Vergangene zum großen Bilde wurde. Ich
analysierte dann die alten Eindrücke, fügte dem längst Erlebten neue
Seiten hinzu und (die Hauptsache) verbesserte, verbesserte
ununterbrochen: darin bestand ja mein einziger Zeitvertreib, meine
Unterhaltung und Zerstreuung. An jenem zweiten Osterfeiertag nun stand
mir plötzlich, ich weiß nicht warum, eine Stunde aus meiner Kindheit vor
der Seele, eine Begegnung des Neunjährigen, die ich schon längst
vergessen hatte; und ich liebte damals Erinnerungen aus meinen
Kinderjahren ganz besonders.

                   - - - - - - - - - - - - - - - - -

Mir fiel der Augustmonat auf unserem Landgut ein. Ein trockenen klarer
Tag; ein wenig kühl und windig; der Sommer neigt sich dem Ende zu, und
bald muß man wieder nach Moskau fahren, wieder den ganzen Winter über in
französischen Stunden sich langweilen; und ich verlasse das Landgut so
ungern! Ich ging hinter die Tenne und weiter in die Schlucht, von der
sich auf der anderen Seite ein dichtes Gestrüpp bis zum Wald hinzog.
Weiter und immer weiter drang ich in das Buschwerk ein und höre noch,
wie, vielleicht dreißig Schritt vor mir, auf dem Neubruch einsam ein
Bauer pflügt. Ich weiß: er muß steil den Abhang heraufpflügen, das Pferd
hat es schwer, und manchmal tönt bis zu mir sein ermunternder Zuruf:
„Nu, nu!“ Ich kenne alle unsere Bauern, weiß aber nicht, welcher von
ihnen da gerade pflügt; ist mir auch einerlei. Ich bin ganz und gar in
meine eigene Arbeit vertieft; denn auch ich bin beschäftigt: von einem
Nußbaum breche ich mir eine gute Gerte, um mit ihr Frösche zu schlagen.
Die Gerten von Nußbäumen sind so hübsch, viel besser als Birkenruten.
Auch Käfer und andere Tierchen nehmen mich in Anspruch; ich habe sogar
eine große Käfersammlung. Viele sind so putzig! Auch liebe ich die
kleinen rotgelben Eidechsen mit den schwarzen Tüpfelchen; doch vor
Schlangen habe ich Angst. Aber Schlangen trifft man viel seltener als
Eidechsen. Pilze gibt’s hier wenig. Pilze muß man im Birkenwald suchen.
Und ich mache mich auf, weiter durch das Gestrüpp in den Wald zu gehen.
In meinem ganzen Leben habe ich nichts so geliebt, wie den Wald mit
seinen Pilzen und Beeren, mit seinen Käfern und Vögeln, Igeln und
Eichkätzchen, mit dem mich immer wieder entzückenden feuchten Duft
faulender Blätter. Und noch jetzt, während ich dieses schreibe, rieche
ich geradezu, atme ich den Duft unseres Birkenwaldes; solche Eindrücke
haften fürs ganze Leben.

Da, plötzlich, inmitten der tiefen Stille, hörte ich laut und deutlich
den Ruf: „Ein Wolf kommt!“ Ich schrie auf vor Schreck und lief schreiend
auf die Wiese zu dem pflügenden Bauer.

Es war unser Bauer Marei. Ich weiß nicht, ob es den Namen gibt; aber bei
uns nannten ihn alle Marei. Er war ein etwa fünfzigjähriger, stämmiger,
ziemlich großer Mann, mit langem, schon stark ergrautem dunkelblondem
Bart. Ich kannte ihn, hatte aber noch nie mit ihm gesprochen. Als er
jetzt meinen Schrei hörte, hielt er das Pferd an und blieb stehen. Ich
raste den Abhang hinab auf ihn zu und ergriff, um im vollen Lauf nicht
zu fallen, hastig mit einer Hand die Pflugstange und mit der anderen
seinen Ärmel: er beugte sich zu mir nieder; und da erst gewahrte er
meinen Schreck.

„Ein Wolf kommt!“ keuchte ich atemlos.

Er hob schnell den Kopf und blickte sich unwillig um; einen Augenblick
glaubte er mir.

„Es schrie ... Jemand schrie: Ein Wolf kommt! ...“ stammelte ich
zitternd.

„Geh doch! Wo denn? Was für ’n Wolf soll denn – ... Ist dir ja nur so
vorgekommen! Was kann denn hier für ’n Wolf sein!“ sprach er halblaut in
den Bart, wie um mich zu beruhigen.

Ich aber zitterte noch immer am ganzen Leibe, klammerte mich noch fester
an seinen Bauernkittel und war, glaube ich, sehr bleich. Er betrachtete
mich mit besorgtem Lächeln; offenbar regte er sich meinetwegen auf.

„Sieh mal an! Du hast dich aber verschreckt! Ei – ei!“ sagte er und
schüttelte den Kopf. „Genug schon, Kleinerchen, nun, laß gut sein!“ Er
streckte die Hand aus und streichelte plötzlich meine Wange. „Nun, schon
gut, Kleinerchen! Christus ist mit dir; mach ’n Kreuz!“

Doch ich bekreuzte mich nicht. Meine Mundwinkel zuckten. Das schien ihn
besonders zu wundern: langsam erhob er seinen dicken, mit Erde
beschmutzten Mittelfinger und berührte vorsichtig meine zitternden
Lippen. „Sieh mal an! So was! Ei – ei!“ sagte er lächelnd (es war ein
ganz besonderes, mütterlich zärtliches Lächeln). „Herrgott! Das ist doch
...“

Endlich begriff ich, daß der Schrei: „Ein Wolf kommt!“ in meiner
Phantasie entstanden war. Der Schrei hatte so hell und deutlich
geklungen, daß ein Zweifel ausgeschlossen schien; doch ich wußte, daß
ich schon früher manchmal irgendeinen Schrei zu hören geglaubt hatte,
während in Wirklichkeit alles still gewesen war. Später vergingen diese
Halluzinationen der Kinderjahre.

„Jetzt werde ich gehen,“ sagte ich endlich, nachdem ich etwas Mut gefaßt
hatte; doch blickte ich Marei noch fragend und schüchtern an.

„Nu, geh nur; und ich werde Dir nachsehen. Ich werde Dich schon nicht
vom Wolf nehmen lassen!“ fügte er mit demselben mütterlichen Lächeln
hinzu. „Nu, Christus ist mit dir, nu, geh nur“; und er bekreuzte mich
mit seinen erdigen Fingern und bekreuzte sich dann selbst.

Ich ging. Doch jedesmal, wenn ich zehn Schritte gemacht hatte, blickte
ich mich nach ihm um. Marei stand mit seinem Pferdchen, während ich die
Schlucht hinunter- und wieder hinaufging, stand am Pflug und sah mir
nach; und so oft ich mich umkehrte, nickte er mir mit dem Kopf zu. Ich
schämte mich, offen gestanden, nicht wenig vor ihm: weil ich solche
Angst gehabt hatte. Trotzdem fürchtete ich mich immer noch vor dem Wolf,
bis ich glücklich auf der anderen Seite der Schlucht an der
Getreidedarre ankam: hier verließ mich die Angst; und plötzlich kam auch
noch, ich weiß nicht, woher, unser Hofhund Woltschok mir
entgegengelaufen. Erst in dessen Begleitung fühlte ich mich ganz sicher;
und so wandte ich mich denn zum letztenmal nach Marei um. Sein Gesicht
konnte ich nicht mehr unterscheiden; aber ich fühlte, daß er mir noch
ebenso freundlich zulächelte und mit dem Kopf zunickte. Ich winkte ihm
noch einmal mit der Hand zu und er winkte mir wieder. Dann wandte er
sich zum Pflug und trieb das Pferd an. „Nu, nu!“ Noch von fern her hörte
ich seinen Zuruf; und das Pferd zog wieder den Pflug.

                   - - - - - - - - - - - - - - - - -

Ich weiß nicht, warum mir das alles mit einemmal einfiel, und warum noch
dazu alle Einzelheiten so deutlich vor mir standen. Ich wachte plötzlich
auf, setzte mich auf die Pritsche; und ich weiß: auf meinem Gesicht
fühlte ich noch das Lächeln der Erinnerung. Eine Weile dachte ich weiter
nach und suchte mich des Folgenden zu erinnern.

Als ich damals von Marei nach Hause gekommen war, hatte ich keinem
Menschen von meinem „Erlebnis“ erzählt. Was war denn da auch zu
erzählen? Den Marei vergaß ich gar bald. Wenn ich ihn später traf,
sprach ich niemals mit ihm, nicht nur nicht über den Wolf, sondern
überhaupt nicht. Und nun, plötzlich, nach zwanzig Jahren, in Sibirien,
steht diese Begegnung so deutlich, bis in die kleinsten Einzelheiten,
vor mir. Also muß sie doch, mir unbewußt, in meiner Seele geblieben
sein, ganz von selbst und vielleicht sogar gegen meinen Willen; und sie
tauchte erst wieder auf, als die Zeit gekommen war. Mir fiel dieses
zärtliche, mütterliche Lächeln des armen Leibeigenen ein, seine
Bekreuzung und sein Kopfschütteln: „Ei – ei, du hast dich aber
verschreckt, Kleinerchen!“ Und besonders der dicke, von der Erde
beschmutzte Finger mit dem schwarzen Nagel, mit dem er vorsichtig, in so
schüchterner Zärtlichkeit, meine zuckenden Lippen berührte. Natürlich:
Ein jeder hätte ein erschrecktes Kind beruhigt; doch hier, bei dieser
einsamen Begegnung, geschah etwas ganz anderes. Und wenn ich sein
eigener Sohn gewesen wäre, hätte Marei mich nicht mit einer tieferen,
helleren Liebe anzublicken vermocht. Wer aber zwang ihn dazu? Er war
unser Leibeigener und ich immerhin sein Herrensohn. Niemand hätte jemals
erfahren, daß er mich gestreichelt, niemand ihn dafür belohnt. Liebte er
vielleicht kleine Kinder so sehr? Solche Leute gibt es allerdings. Die
Begegnung geschah auf einsamem Feld, und nur Gott wußte, mit welch einem
tiefen, heiligen menschlichen Gefühl, von welch einer weichen, fast
weiblichen Zärtlichkeit die Seele eines rohen, tierisch unwissenden
russischen Muschiks erfüllt sein kann. War es nicht dieses, was
Konstantin Akssakoff meinte, als er von der tiefen inneren Bildung des
russischen Volkes sprach?

Ich weiß noch: als ich von der Pritsche aufstand und mich umblickte,
fühlte ich mit einemmal, daß ich diese Unglücklichen mit ganz anderen
Augen betrachten konnte, und daß plötzlich, wie durch ein Wunder, aller
Haß und alle Wut aus meinem Herzen verschwunden waren. Ich ging wieder
hinaus und schaute aufmerksam in die Gesichter der Gefangenen, die mir
begegneten. Dieser glattrasierte ehrlose Muschik mit dem gebrandmarkten
Verbrechergesicht, der mit heiserer Stimme sein rohes Lied gröhlt, ist
vielleicht auch so einer wie der Marei, der mich als Kind streichelte:
ich kann ja nicht in sein Herz sehen.

Am selben Abend traf ich noch einmal den Polen M...tzki. Der Arme! Der
konnte keine Erinnerungen an irgendeinen Marei haben und für alle diese
Menschen nichts anderes empfinden als: „_Je hais ces brigands!_“
Wahrhaftig: diese Polen haben dort doch mehr gelitten als unsereiner!


                       Einiges über den Krieg[20]

Ich habe einen Freund, der sich durch sehr paradoxe Anschauungen
auszeichnet. Ich kenne ihn schon lange. Es ist ein ganz unbekannter
Mensch und ein höchst sonderbarer Charakter: er ist nämlich ein
_Denker_. Ich werde unbedingt noch ausführlicher von ihm sprechen – doch
später einmal. Jetzt ist mir nur zufällig eingefallen, wie er einmal, es
ist schon etliche Jahre her, mit mir über den Krieg stritt. Er
verteidigte den Krieg als solchen und vielleicht einzig um mit Paradoxen
zu spielen. Ich bemerke hier noch, daß er nicht etwa Offizier ist,
sondern der friedliebendste und gutmütigste Mensch, den es in der Welt
und bei uns in Petersburg überhaupt geben kann.

„Toller Gedanke,“ sagte er unter anderem, „daß der Krieg eine Geißel für
die Menschheit sei! Im Gegenteil, er ist das Nützlichste, was man sich
überhaupt denken kann! Nur eine einzige Art Krieg ist verabscheuenswert
und wirklich verderblich: das ist der innere, der Bürgerkrieg. Er lähmt
und zerreißt den Staat, dauert immer viel zu lang und vertiert das Volk
auf ganze Jahrhunderte. Der politische Krieg aber, der zwischen
verschiedenen Völkern ausgekämpft wird, bringt einzig und allein Nutzen
– in jeder Beziehung. Und dann ist er auch vollkommen unentbehrlich.“

„Aber hören Sie mal! Ein Volk geht aufs andere los, Menschen schlagen
sich gegenseitig tot – was ist hier unentbehrlich?“

„Alles, und zwar im höchsten Grade. Doch erstens ist es nicht wahr, daß
die Menschen in den Krieg gehen, um sich gegenseitig totzuschlagen. Das
ist nie der Beweggrund gewesen, sondern sie gehen, um ihr eigenes Leben
zu opfern, – das aber ist denn doch etwas ganz anderes. Es gibt keine
höhere Idee als die, sein eigenes Leben zu opfern, indem man seine
Brüder und sein Vaterland beschützt oder einfach, indem man die
Interessen seines Vaterlandes verteidigt. Die Menschheit kann nicht ohne
hochherzige Ideen leben, und ich vermute sogar, daß die Menschheit
gerade deswegen den Krieg liebt, weil sie sich an einer hochherzigen
Idee beteiligen will. Es ist ein Bedürfnis.“

„Ja, liebt denn die Menschheit den Krieg?“

„Ja, zweifeln Sie denn daran? Wer ist zurzeit eines Krieges noch
kopfhängerisch? Alle sind sofort munter und ermutigt, und von der
gewöhnlichen Schlaffheit und Langeweile der Friedenszeiten ist nichts
mehr zu sehen und zu hören. Und nachher, wenn der Krieg beendet ist, mit
welcher Hingabe denken sie an ihn zurück, selbst wenn sie geschlagen
worden sind! Glauben Sie den Leuten nicht, wenn sie sich beim ersten
Wiedersehen nach der Kriegserklärung kopfschüttelnd sagen: ‚Ach, welch
ein Unglück! Ach, daß wir das noch erleben mußten!‘ sie tun es ja nur
aus Wohlerzogenheit. Glauben Sie mir, jeder hat dann hohen Feiertag im
Herzen. Wissen Sie, es ist furchtbar schwer, sich zu gewissen Ideen zu
bekennen: gleich ist das Geschrei groß. – Tier! Barbar! schreien sie
sofort und sind zum Verurteilen bereit. Das aber fürchtet man, und so
zieht man vor, den Krieg lieber nicht zu loben.“

„Aber Sie sprechen von hochherzigen Ideen, von Menschlicherwerden.
Lassen sich denn hochherzige Ideen nicht auch ohne Krieg finden? Ich
glaube vielmehr, daß sie sich in Friedenszeiten noch leichter entwickeln
können.“

„Ganz im Gegenteil, vollkommen umgekehrt! Die Hochherzigkeit verkommt in
der Zeit eines langen Friedens, und an ihre Stelle treten Zynismus,
Gleichgültigkeit, Langeweile und viel, viel boshafter Spott, und das
noch dazu nur zur leeren Zerstreuung und nicht mal um einer Sache
willen. Man kann geradezu behaupten, daß ein langer Friede die Menschen
gefühllos macht. Das soziale Übergewicht geht dann immer auf die Seite
alles dessen über, was in der Menschheit schlecht und roh ist –
hauptsächlich zum Reichtum, zum Kapital. Ehre, Nächstenliebe,
Selbstverleugnung werden in der ersten Zeit nach dem Kriege noch
geachtet, sie stehen noch hoch im Preis, doch je länger der Friede
dauert – desto mehr sieht man diese schönen und großen Tugenden
verbleichen, einschlafen, absterben, und den Reichtum, die Sucht nach
Erwerb alles ergreifen. Schließlich bleibt nur noch Heuchelei übrig –
geheuchelte Ehre, geheuchelte Selbstverleugnung um der Pflicht willen.
Und wenn man trotz des ganzen Zynismus auch noch fortfährt, diese großen
Begriffe zu achten, so geschieht es dann doch nur in schönen Worten und
bloß zum Anschein, aus Form. Die wirkliche Ehre ist nicht mehr, es
bleiben nur Formeln übrig. Formeln der Ehre aber – die sind der Tod der
Ehre. Ein langer Friede bringt Gleichgültigkeit hervor, niedrige
Gedanken, bringt Sittenverderbnis und Abstumpfung der Gefühle. Die
Vergnügungen werden nicht feiner, sondern wüster. Der plumpe Reichtum
kann sich nicht an Idealen erquicken und verlangt nach anspruchsloseren,
mehr ‚auf die Sache‘ gehenden Genüssen, d. h. nach unmittelbarster
Befriedigung des Fleisches. Die Vergnügungen werden rein sinnlich.
Sinnlichkeit ruft Wollust hervor, und Wollust immer Grausamkeit. Alles
das werden Sie unmöglich leugnen, denn Sie können die erste Tatsache
nicht verneinen: daß das soziale Übergewicht in der Zeit eines langen
Friedens sich zum Schluß immer auf die Seite des Reichtums neigt.“

„Aber die Wissenschaft, die Kunst – können die sich denn während des
Krieges entwickeln? Und das sind doch wirklich große und hochherzige
Ideen!“

„Warten Sie, gerade hiermit fange ich Sie! Die Wissenschaft und die
Kunst entwickeln sich immer und gerade in der ersten Periode nach dem
Kriege. Der Krieg erneut sie, erfrischt sie, ruft sie hervor, stärkt die
Gedanken und gibt ihnen gewissermaßen einen Stoß. In einem langen
Frieden dagegen verkommt auch die Wissenschaft. Zweifellos fordert die
Beschäftigung mit der Wissenschaft Mut und sogar Selbstaufopferung. Doch
wie viele Gelehrte widerstehen denn der Pest des Friedens? Die
geheuchelte Ehre, Selbstsucht und oberflächliche tierische
Vergnügungslust erfassen auch sie. Versuchen Sie es nur einmal, mit
solch einer Leidenschaft fertig zu werden, wie es beispielsweise der
Neid ist: er ist roh und gemein, aber er wird trotzdem auch in die
edelste Gelehrtenseele eindringen. Auch der Gelehrte will schließlich an
dem allgemeinen Prunk und Glanz teilhaben. Was bedeutet vor dem Triumph
des Reichtums der Triumph irgendeiner wissenschaftlichen Entdeckung,
wenn sie nicht gerade so effektvoll ist wie die Entdeckung etwa eines
neuen Planeten! Was meinen Sie wohl, ob unter solchen Umständen noch
viel wirkliche Arbeitssklaven für das Allgemeinwohl übrigbleiben? Im
Gegenteil, man sucht den Ruhm, und so kommt es dann zu Scharlatanerie,
zur Jagd nach dem Effekt und, vor allen Dingen, zum Utilitarismus – denn
man will doch zu gleicher Zeit auch reich werden! In der Kunst ist es
genau so wie in der Wissenschaft: dieselbe Jagd nach dem Effekt, nach
irgendeiner Verfeinerung. Einfache, klare, hochherzige und gesunde Ideen
sind dann schon viel zu unmodern, man braucht etwas viel Verboteneres,
Ungesünderes: die Künstlichkeit der Leidenschaften will man. Allmählich
verliert sich dann das Gefühl für das Maß und die Harmonie, und man
bekommt dafür die Entstellung der Gefühle und Leidenschaften, die
sogenannte ‚Differenzierung‘ der Gefühle, die in Wirklichkeit nur ihre
Verrohung ist. Sehen Sie, zu all dem entartet die Kunst in einem langen
Frieden. Wenn es in der Welt keinen Krieg gäbe, so würde die Kunst
einfach verkommen und verderben. Alle guten Ideen der Kunst ja ihre
besten, sind vom Kriege, vom Kampf geschaffen worden. Lesen Sie eine
Tragödie, sehen Sie sich die Statuen an, da haben Sie Horaz, und da
haben Sie den Apollo von Belvedere, der selbst einen Wilden in Erstaunen
setzen müßte ...“

„Aber die Madonnen, das Christentum?“

„Das Christentum erkennt das Faktum des Krieges vollkommen an und
weissagt bekanntlich, daß das Schwert nicht vergehen werde, solange die
Welt steht: das ist sehr bemerkenswert und sollte viele stutzig machen.
Oh, natürlich im höheren, im moralischen Sinne verwirft es den Krieg und
verlangt Nächstenliebe. Ich werde selbst der erste sein, der sich freut,
wenn man die Schwerter in Pflugscharen umschmiedet. Doch fragt es sich:
wann wird das möglich sein? Und lohnte es sich überhaupt, die Schwerter
jetzt in Pflüge zu verwandeln? Der jetzige Friede ist immer und überall
schlimmer als der Krieg, so unvergleichlich viel schlimmer, daß es zum
Schluß geradezu unmoralisch wird, ihn noch aufrechtzuerhalten. Es gibt
nichts mehr, was man schützen möchte, überhaupt nichts mehr, was wert
wäre, erhalten zu bleiben, es ist beinahe gewissenlos und eine Schande,
irgend etwas noch zu erhalten! Der Reichtum und die Roheit der
Vergnügungen gebären Faulheit, und die Faulheit gebiert Sklaven. Um die
Sklaven in der Sklaverei zu erhalten, muß man ihnen den freien Willen
und die Möglichkeit der Aufklärung nehmen. Wer Sie auch sein mögen, mein
Lieber, selbst wenn Sie der humanste Mensch sind: einen Sklaven werden
auch Sie immer nur als Sklaven behandeln können – nicht wahr? Ich
bemerke noch, daß in der Periode des Friedens Feigheit und Unehrlichkeit
gute Wurzeln schlagen. Der Mensch ist naturgemäß stark zu Feigheit und
Unehrlichkeit geneigt, und das weiß er selbst ganz genau. Deshalb
vielleicht sehnt er sich auch so nach dem Kriege, und darum liebt er ihn
so sehr: er ahnt in ihm das Heilmittel. Der Krieg entwickelt in ihm die
Nächstenliebe und nähert und befreundet die Völker.“

„Wieso, befreundet?“

„Indem er sie lehrt, einander zu achten. Der Krieg erfrischt die
Menschen. Die Menschenliebe entwickelt sich am meisten und fast
ausschließlich auf dem Schlachtfelde. Es ist eine scheinbar sonderbare
Tatsache, daß der Krieg weniger erbittert und aufreizt als der Friede.
Irgendeine politische Beleidigung in der Friedenszeit, irgendeine
herausfordernde Konvention, ein politischer Druck, anmaßende Forderungen
– in der Art etwa, wie Europa sie uns 1863 stellte – erbittern viel mehr
als ein offener Kampf. Erinnern Sie sich: haßten Sie etwa die Franzosen
oder Engländer zur Zeit des Krimkrieges? Im Gegenteil, man kam sich
näher, trat geradezu in Freundschaft miteinander. Wir interessierten uns
für unsere Feinde und pflegten unsere Gefangenen. Unsere Soldaten und
Offiziere gingen während des Waffenstillstands zu den feindlichen
Vorposten, verbrüderten sich fast mit ihnen, tranken Wodka zusammen, und
ganz Rußland las es schmunzelnd in den Zeitungen – was jedoch nicht
hinderte, daß man sich prächtig schlug. Es entwickelte sich der Geist
der Ritterlichkeit ... Und über die materiellen Schäden des Krieges
lohnt es sich nicht einmal zu sprechen: wer kennt nicht die alte
Erfahrung, daß nach einem Kriege alles wie mit neuen Kräften aufersteht?
Die ökonomischen Kräfte des Landes treten zehnmal mehr hervor, ganz als
ob eine Gewitterwolke Regen auf trockenen Boden niedergesandt hätte.
Denen, die durch den Krieg gelitten haben, wird sofort und von allen
Seiten geholfen, während in Friedenszeiten ganze Distrikte eher Hungers
sterben können, bevor wir uns zur Hilfe rühren oder drei Rubel spenden.“

„Ja, leidet denn das Volk nicht am meisten unter dem Kriege, muß es
nicht Verheerungen und Bürden ertragen, die unvergleichlich größer sind
als die der höheren Gesellschaftsschichten?“

„Vielleicht; – doch immer nur zeitweilig, dafür aber gewinnt das Volk
weit mehr, als es verliert. Gerade für das Volk hat der Krieg die besten
und schönsten Folgen. Selbst wenn Sie der humanste Mensch sind, werden
Sie sich doch für mehr als den Bauer halten. Wer mißt in unserer Zeit
noch Seele mit Seele – mit dem christlichen Maß? Man mißt mit dem
Geldbeutel, der Macht, der Kraft, – und der einfache Mann, der weiß das
nur zu genau. Nicht daß hierbei Neid wäre, – aber es entsteht das
unerträgliche Gefühl einer moralischen Ungleichheit, die viel
verletzender für ihn ist, als wir es ahnen. Wie Sie die Menschen auch
befreien oder welche Gesetze Sie ihnen auch geben mögen, diese
Ungleichheit der Menschen wird in der jetzigen Gesellschaft doch nicht
aufgehoben werden. Das einzige Heilmittel dagegen ist – der Krieg. Ein
Palliativmittel vielleicht, doch ein tröstendes für das Volk. Der Krieg
hebt den Geist des Volkes und die Erkenntnis des eigenen Wertes. Der
Krieg macht in der Stunde des Kampfes alle gleich und versöhnt den Herrn
mit dem Knecht in der allerhöchsten Erscheinung der menschlichen Würde,
– im Opfer des Lebens für die gemeinsame Sache, für alle, für das
Vaterland! Glauben Sie denn wirklich, daß die Masse, selbst die ganz
unwissende Masse der Bauern und Bettler, nicht auch der _aktiven_
Offenbarung hochherziger Gefühle bedarf? Worin kann nun die Masse im
Frieden ihre Hochherzigkeit und ihre menschliche Würde beweisen? Auf die
einzelnen Durchbrüche derselben sehen wir, wenn wir sie überhaupt zu
beachten geruhen, mit verwundertem Lächeln, ja selbst mit ungläubigem
Lachen, und zuweilen sogar mit unverhülltem Mißtrauen. Glauben wir aber
einmal dem Heroismus eines einzelnen, so schlagen wir darob solch einen
Lärm, als ob es etwas schier Unmögliches wäre; und was kommt dabei
heraus? Unsere Verwunderung und unser Lob gleichen beinahe der
Verachtung. In Kriegszeiten verschwindet all das ganz von selbst und die
volle Gleichheit des Heroismus tritt an seine Stelle. Vergossenes Blut
ist eine wichtige Sache. Die gemeinsame Heldentat erzeugt die stärkste
Verbindung zwischen den verschiedenen Ständen. Der Gutsbesitzer und der
Muschik standen sich im Jahre 1812, als sie gemeinsam fürs Vaterland
kämpften, näher als in Friedenszeiten zu Haus auf dem Gute. Der Krieg
ist der Masse ein Anlaß, sich zu achten, und darum liebt das Volk den
Krieg: es dichtet über ihn Lieder und kann sich nicht satt hören an den
Geschichten und Erzählungen aus dem Kriege ... Noch einmal: Vergossenes
Blut ist eine wichtige Sache! Nein, der Krieg ist _in unserer Zeit_
unentbehrlich; ohne Krieg würde die Welt untergehen oder wenigstens sich
in einen schmutzigen Schlamm verwandeln, in irgendeinen gemeinen Schmutz
mit faulenden Wunden ...“

Ich widersprach ihm natürlich nicht weiter. Mit Denkern kann man nicht
streiten. Aber es ist doch eine höchst sonderbare Tatsache: man fängt
jetzt an über Dinge nachzudenken und zu streiten, die, wie man doch
meinen sollte, schon längst allen klar und ins allgemeine Archiv des
Abgetanen gestapelt worden sind. Jetzt wird das alles wieder ausgegraben
... Das auffallendste aber ist, wie mir scheint, daß dieses heutzutage
überall geschieht.


                              Mein Paradox


                              Das Paradox

Wieder ein Zusammenstoß mit Europa![21] Und noch kein Krieg? Vom Kriege,
sagt man, seien wir, d. h., sei Rußland noch weit entfernt ... Wieder
ist die endlose Orientfrage aufs Tapet gebracht, wieder blickt Europa
mißtrauisch auf uns Russen ... Doch was geht uns schließlich das
Vertrauen Europas an? Hat es denn jemals vertrauensvoll auf uns
geblickt? und kann es das überhaupt? Oh, versteht sich, _irgendeinmal_
wird sich dieser Blick ändern, _einmal_ wird Europa auch uns besser
begreifen: und es lohnte sich wirklich, über dieses _irgendeinmal_ zu
sprechen. Einstweilen jedoch – einstweilen ist mir eine ganz
nebensächliche Frage eingefallen, eine, mit deren Beantwortung ich noch
kürzlich sehr beschäftigt gewesen bin. Wenn nun auch heute niemand mit
mir übereinstimmen wird, so scheint mir doch, daß ich nicht so ganz
unrecht habe.

Ich sagte, daß man die Russen in Europa nicht liebe. Nun, das wird,
glaube ich, niemand bestreiten; aber unter anderem wirft uns Europa auch
vor, daß wir alle, ohne Ausnahme, furchtbar liberal, ja selbst
revolutionär seien, und immer, sogar mit einer gewissen Vorliebe,
geneigt, uns eher den zerstörenden als den konservativen Elementen
Europas anzuschließen. Zur Strafe dafür sehen viele Europäer spöttisch
und von oben auf uns herab, nicht selten geradezu gehässig: es ist ihnen
unbegreiflich, wie wir darauf kommen, in _fremden Angelegenheiten_
Verneiner zu sein? Sie nehmen uns kurzerhand das Recht, nach
europäischer Art zu verneinen – und zwar deshalb, weil sie uns für ein
Volk halten, das nicht zur „Zivilisation“ gehört. Eher sehen sie in uns
Barbaren, die sich in Europa herumtreiben und sich freuen, irgendwo
irgend etwas zerstören zu können – zerstören bloß um der Zerstörung
willen, um das Vergnügen zu haben, zuzusehen, wie das alles
zusammenkracht – gleich den Hunnen, gleich einer Horde Wilder, die
bereit ist, Europa wie das alte Rom zu überschwemmen und alles Große,
Alte und Heilige zu zerstören, ohne auch nur zu ahnen, welch einen
Schatz sie der Vernichtung weiht.

Daß die Russen tatsächlich in ihrer Mehrzahl sich in Europa als Liberale
erwiesen haben – das ist wahr und ist sogar, ich gestehe es, sonderbar.
Hat sich aber schon jemand die Frage gestellt, warum das der Fall ist?
Warum beinahe neun Zehntel von den Russen, die in diesem Jahrhundert in
Europa ihre Bildung erhalten hatten, sich immer derjenigen Partei der
Europäer angeschlossen haben, die liberal war, der Partei der „Linken“,
d. h. immer derjenigen Seite, die ihre eigene Zivilisation, ihre eigene
Kultur verneinte? Das, was Thiers an der Zivilisation verneint, und das,
was die Pariser Kommune an ihr 1871 verneinte, ist keineswegs dasselbe.
Ebenso „mehr oder weniger“ liberal und ebenso verschieden liberal sind
aber auch die Russen in Europa; doch immer sind sie, ich wiederhole es,
geneigter als die Europäer, sofort zur äußersten Linken überzutreten,
statt sich zunächst noch auf den unteren Stufen des Liberalismus
aufzuhalten. Mit einem Wort, man findet unter den Russen weit weniger
Thieristen als Kommunarden. Und man beachte wohl: das sind keineswegs
irgendwelche vom Wind verwehte Leute – Ausnahmen natürlich zugegeben –,
sondern Leute, die sogar sehr solid und zivilisiert aussehen, zuweilen
fast schon Minister sind. Doch die Europäer trauen diesem Scheine nicht:
„_Grattez le Russe et vous verrez le Tartare_,“ sagen sie. Das kann ja
alles stimmen, aber, frage ich mich, woher kommt das? Schließt sich der
Russe in seiner Gemeinschaft mit Europa der äußersten Linken an, weil er
Tatar ist und die Zerstörung liebt, also als Wilder, oder bewegen ihn
vielleicht andere Gründe dazu? – Das ist die Frage! ... Man wird mir
wohl zugeben, daß sie nicht so uninteressant ist. Petersburg spielt
jetzt nicht mehr die Rolle des Fensters, das uns aus Europa Licht
bringt. Es beginnt etwas Neues, es muß wenigstens etwas Neues beginnen:
das sieht jetzt ein jeder ein, der nur ein wenig nachzudenken gelernt
hat. Kurz, wir fangen an mehr und mehr zu fühlen, daß wir zu irgend
etwas bereit sein müssen, zu einem neuen Zusammenstoß mit Europa, und
vielleicht einem viel eigenartigeren, als es die bisherigen waren, – ob
es nun in der Orientfrage sein wird, oder sonstwo, wer kann das wissen!
... Darum aber sind ähnliche Fragen, Vermutungen, selbst Rätsel und
sogar Paradoxe interessant – und wäre es auch nur, weil sie vielleicht
auf einen richtigen Gedanken bringen können. Wie aber soll einem da
nicht eine so auffallende Erscheinung zu denken geben, wie die, daß
gerade diejenigen Russen, welche sich am meisten für Europäer halten und
bei uns allgemein die „Westler“ genannt werden, die auf diesen Namen
stolz sind und noch heute auf die anderen Russen wie auf Kwastrinker und
Bauernkittel herabsehen, – wie soll es da nicht interessant sein, frage
ich, daß gerade diese sich am schnellsten den Verneinern der
Zivilisation, den Zerstörern der Kultur, der „äußersten Linken“
anschließen, und daß dieses in Rußland niemanden wundert, ja nicht
einmal zum Nachdenken bringt? Wie soll einem das nicht merkwürdig
erscheinen?

Ich habe schon eine Antwort auf diese Frage gefunden, doch werde ich
meine Idee nicht beweisen, werde sie nur ein wenig zu erklären und die
Tatsache zu entwickeln versuchen.

Mir scheint ... folgendes: Zeigt sich nicht in dieser Tatsache – d. h.
im Anschluß unserer eifrigsten Westler an jene äußerste Linke, in
Wirklichkeit an die verneinenden Elemente Europas, an die Verneiner
Europas geradezu, – zeigt sich darin nicht die protestierende russische
Seele, der die europäische Kultur von jeher, von Peter dem Großen an,
verhaßt gewesen ist, und ihr Protest gegen diese Kultur, die sich in
vielem, in allzu vielem, der russischen Seele als fremd erwiesen hat?
Geradeso scheint es mir zu sein. Oh, versteht sich, dieser Protest ist
fast die ganze Zeit nur unbewußt geschehen, doch wertvoll an ihm ist,
daß er zeigt, wie gerade der russische Instinkt nicht erstorben ist: die
russische Seele hat, wenn auch unbewußt, gerade im Namen ihres
Russentums protestiert, im Namen ihres echt russischen, ursprünglichen,
eigenen und dann unterdrückten Kulturversuchs. Natürlich wird man sagen,
es sei noch kein Grund vorhanden, sich zu freuen, wenn dem auch so wäre:
„Immerhin bist du ein Verneiner – Hunne, Barbar, Tatar –, der nicht im
Namen eines Höheren verneint, sondern im Namen seiner eigenen
Niedrigkeit, da er ja in ganzen zwei Jahrhunderten die europäische Höhe
noch nicht einmal hat begreifen können.“

Ich gebe zu, daß das eine offene Frage ist, doch werde ich nicht
versuchen, sie zu beantworten. Ich sage nur, daß ich diesen Einwand aus
allen Kräften verneine – eine Begründung würde zu weit führen. Oh, wer
wird jetzt noch von uns Russen, und besonders, nachdem das alles
vergangen ist – denn diese Periode ist jetzt tatsächlich vergangen –,
wer wird jetzt noch gegen die Tat Peters sein, sich gegen das
„durchbrochene“ Fenster auflehnen und vom alten Zarenreich Moskau
träumen? Doch nicht davon spreche ich jetzt; ich meine nur: wie schön
und gut auch alles gewesen sein mag, was wir durch das Fenster erblickt
haben, so war doch auch so viel Häßliches und Schädliches darunter, daß
der russische Instinkt nicht aufgehört hat, sich dagegen aufzulehnen und
zu protestieren, ... wenn er sich auch vielleicht so weit verloren haben
mag, daß er selbst nicht mehr wußte, was er mit diesem Protest
eigentlich tat. Und er hat nicht aus seinem Tatarentum heraus
protestiert, sondern in der Tat vielleicht deswegen, weil er in sich
etwas Höheres und Besseres fühlte als das, was er durch das Fenster
erblickte ... Versteht sich, der Instinkt hat ja nicht gleich gegen
alles protestiert: wir haben viel Gutes und Schönes bekommen, und wollen
nicht undankbar sein; nun, aber gegen die Hälfte zum mindesten hat er,
glaube ich, doch protestieren können.

Ich wiederhole nochmals, daß dieses ungemein sonderbar vor sich gegangen
ist: gerade unsere feurigsten Westler, gerade unsere Kämpfer für die
Reform wurden zu gleicher Zeit zu Verneinern Europas und stellten sich
in die Reihen der äußersten Linken. Nun, und so geschah es, daß sie sich
selbst gerade dadurch zu den eifrigsten Russen machten, zu Kämpfern für
Rußland und den russischen Geist. Hätte man ihnen das seinerzeit
erklärt, so würden sie entweder – gelacht haben, oder sie wären entsetzt
gewesen. Es kann darüber kein Zweifel bestehen, daß sie nicht im
geringsten die Höhe und eigentliche Bedeutung ihres Protestes erkannt
haben. Im Gegenteil: sie haben ja die ganzen zwei Jahrhunderte hindurch
ihren eigensten Wert fortgesetzt verleugnet, und nicht nur den allein,
sondern sogar die Achtung vor sich selbst – solche gab es ja auch unter
ihnen! – und in einem Grade, der ganz Europa mit Recht wundergenommen
hat. Und nun stellt es sich heraus, daß gerade sie sich als die wahren
Russen erwiesen haben. Ebendiese meine Deutung aber nenne ich „mein
Paradox“. Belinski[22] zum Beispiel, ein von Natur leicht und
leidenschaftlich begeisterter Mensch, ist fast als erster direkt zu den
europäischen Sozialisten, die schon die ganze Form der europäischen
Zivilisation verneinten, übergetreten, und zu gleicher Zeit hat er bei
uns, in der russischen Literatur, bis zum Schluß gegen die Slawophilen
gekämpft – scheinbar für das ganz Entgegengesetzte. Wie erstaunt wäre er
gewesen, wenn ihm diese selben Slawophilen damals gesagt hätten, daß
gerade er der erste Kämpfer für das russische Recht, für den russischen
Geist und Anfang, gerade für all das, was er in Rußland an Europa
bekämpfte, wenn man ihm bewiesen hätte, daß in Wirklichkeit gerade er
der russische Konservative sei – und das ausschließlich, weil er in
Europa Sozialist und Revolutionär war? Und so war es ja beinahe auch
wirklich. Es wurde von beiden Seiten ein großer Fehler begangen, nämlich
der, daß alle damaligen Westler Rußland mit Europa verwechselten, im
Ernst für Europa hielten und, Europa samt seinen Formen verneinend,
ernstlich glaubten, dieselbe Verneinung gälte auch für Rußland, während
Rußland durchaus nicht Europa war, sondern nur in einem europäischen
Rock steckte, unter ihm aber ein vollkommen anderes Wesen barg. Davon
sich zu überzeugen, forderten die Slawophilen auf, indem sie direkt auf
die Tatsache hinwiesen, daß die Westler Unvergleichbares verglichen oder
gar für identisch hielten, und daß die Folgerung, die für Europa paßte,
sich keineswegs auch auf Rußland anwenden ließ: teilweise schon deshalb
nicht, weil all das, was sie in Europa wünschten, in Rußland schon
längst vorhanden war und ist, jedenfalls wenigstens im Keim und in der
Möglichkeit, und sogar sein Wesen ausmacht, nur nicht in revolutionärer
Form, sondern gerade in derjenigen, in welcher diese Ideen der
universalen Erneuerung der Menschheit erscheinen müssen: in der Gestalt
der Wahrheit Gottes, der Wahrhaftigkeit Christi, die sich irgendeinmal
auf der Erde doch verwirklichen wird, und die sich unversehrt allein in
unserem Glauben erhalten hat. Sie forderten auf, erst Rußland kennen zu
lernen und dann Folgerungen zu ziehen. Doch damals waren – um die
Wahrheit zu sagen – keine Möglichkeiten vorhanden, etwas von Rußland
kennen zu lernen. Und wer konnte denn damals etwas von Rußland wissen?
Die Slawophilen wußten, natürlich, hundertmal mehr als die Westler – und
das ist das Minimum –; doch auch sie handelten fast nur tastend und
tappend, apriorisch und abstrakt, indem sie sich mehr auf ihren bloßen
Instinkt verließen. Irgend etwas kennen zu lernen ist erst in den
letzten zwanzig Jahren möglich geworden, doch – wie viele wissen denn
selbst jetzt etwas von Rußland? Es ist viel, sehr viel, daß schon ein
Anfang damit gemacht worden ist. Trotzdem erhebt sich kaum eine wichtige
Frage, und alle sind sofort verschiedener Meinung bei uns. Nun, und
jetzt erhebt sich von neuem die Orientfrage: Hand aufs Herz, wie viele
sind ihrer und welche sind es, – die fähig wären, in dieser
Angelegenheit übereinzustimmen, und wenn es sich auch nur um einen
einzigen Entschluß handelt? Und das noch in einer so wichtigen, großen,
in einer so verhängnisvollen und nationalen Frage! Was Orientfrage! man
denke doch bloß an unsere hundert, unsere tausend inneren Tagesfragen: –
welch eine allgemeine Verwirrung, welche unbeständigen Anschauungen,
welch eine Ungewohntheit zu handeln! Rußland wird inzwischen entwaldet,
die Gutsbesitzer und Bauern fällen mit wahrer Wut ihre Bäume. Es ist
nicht übertrieben, wenn man sagt, daß der Holzpreis auf ein Zehntel des
früheren herabsinkt. Noch bevor unsere Kinder groß werden, wird schon
zehnmal weniger Holz auf dem Markt sein. Was daraus folgt, ist
vielleicht unser Verderben. Doch versucht man einmal, etwas von der
Einschränkung der Rechte des Waldfällens zu sagen, was bekommt man dann
zu hören? Von der einen Seite „staatliche und nationale Notwendigkeit“
und von der anderen „Verletzung der Eigentumsrechte“: zwei
entgegengesetzte Begründungen. Sofort bilden sich zwei Lager, und noch
weiß man nicht, in welches die liberale, alles entscheidende Meinung
treten wird. Und sind es wirklich nur zwei Lager? So wird denn diese
Frage noch lange unentschieden bleiben. Einer der heutigen Liberalen hat
versucht, einen Witz zu reißen: jedes Übel, meinte er, habe auch sein
Gutes, und so müsse hinfort, wenn der ganze russische Wald abgeholzt
sei, wenigstens endgültig die Körperstrafe aufhören – denn woher wollen
die Landrichter Ruten nehmen, wenn keine Wälder mehr da sind? Natürlich
ist das eine kleine Beruhigung, doch traut man auch ihr nicht allzusehr:
sind keine Bäume mehr vorhanden, so bleiben doch noch Sträucher, oder
man kann ja Ruten aus dem Auslande beziehen. Neuerdings werden die Juden
Gutsbesitzer – und überall schreibt und schreit man, daß sie den Boden
Rußlands ruinieren, daß der Jude sofort, nachdem er das Gut gekauft, um
das Kapital mit den Prozenten zurückzugewinnen, alle Kräfte und
Reichtümer des gekauften Landes aussaugt. Versucht jemand, etwas dagegen
zu sagen – so wird sofort von allen Seiten losgeschrien, man verletze
das Prinzip der ökonomischen Freiheit und der staatsbürgerlichen
Gleichberechtigung! Möge man doch wenigstens hierbei die
Gleichberechtigung aus dem Spiel lassen, da es sich in erster Linie um
den ausgesprochensten Talmud-_status in statu_ handelt; wenn hier nicht
nur Aussaugung des Bodens, sondern auch die Aussaugung unseres Bauern
droht, der nun, befreit vom Gutsbesitzer, in die Sklaverei dieser neuen
„Herren“ gerät, derselben, die aus dem westrussischen Bauern schon alles
gezogen, was aus ihm noch zu ziehen war, die jetzt nicht nur Güter und
Bauern kaufen, sondern auch die liberale Meinung – und zwar mit gutem
Erfolg. Warum aber ist das alles so bei uns? Warum diese
Unentschlossenheit und diese Uneinigkeit bei jedem Entschluß? Meiner
Meinung nach kommt das durchaus nicht von irgendeiner Unbegabtheit und
Unfähigkeit zur Tat, sondern von unserer fortdauernden Unkenntnis
Rußlands, seines Wesens, Sinnes und Geistes, obgleich seit Belinski und
den Slawophilen schon zwanzig Jahre vergangen sind. Und es gibt sogar
noch einen anderen Grund: in diesen zwanzig Jahren ist die Kenntnis
Rußlands in Tatsachen und Einzelheiten weit, weit fortgeschritten, – der
russische Instinkt aber hat sich verringert im Verhältnis zu früher. Der
Grund hierfür? Wenn nun die Slawophilen durch ihren russischen Instinkt
gerettet worden sind, so muß doch dieser Instinkt auch in Belinski
gewesen sein und sogar so stark, daß die Slawophilen ihn für ihren
besten Freund gehalten haben! Hier lag aber ein großes Mißverständnis
von beiden Seiten vor. Nicht umsonst hat man einmal von Belinski gesagt:
„wenn er langer gelebt hätte, so wäre er bestimmt zu den Slawophilen
übergetreten“. In diesen Worten war ein Gedanke.


                      Das Ergebnis des Paradoxons

„Sie behaupten also,“ wird man mir sagen, „daß jeder Russe, der sich in
einen europäischen Kommunarden verwandelt, allein schon dadurch sofort
zum russischen Konservativen wird?“ Nein, das zu _behaupten_, wäre denn
doch etwas zu gewagt. Ich wollte nur bemerken, daß in dieser Idee,
selbst wenn man sie wörtlich nimmt, etwas Wahres liegt. Es ist vor allen
Dingen viel Unbewußtes dabei und meinerseits vielleicht ein zu starker
Glaube an den unvergänglichen russischen Instinkt und an die
Lebenszähigkeit des russischen Geistes. Doch schön, schön, mag ich auch
selbst wissen, daß es ein Paradox ist, so will ich doch die Folgerung
aus ihm ziehen: das ist gleichfalls eine Tatsache, eine Folgerung aus
der Tatsache. Ich habe vorhin gesagt, daß die Russen sich in Europa
durch Liberalismus auszeichnen, und daß sich ihrer wenigstens neun
Zehntel der Linken und äußersten Linken anschließen, sobald sie nur mit
Europa in Berührung kommen ... vielleicht sind es auch nicht neun
Zehntel: auf der Zahl will ich nicht bestehen. Ich bestehe nur darauf,
daß es unvergleichlich mehr liberale Russen gibt, als unliberale. Doch
haben wir natürlich auch solche. Tatsächlich gibt es, und hat es immer
gegeben, Russen – die Namen einiger von ihnen sind weltberühmt –, die
nicht nur die europäische Kultur nicht verneint, sondern, im Gegenteil,
sie dermaßen angebetet haben, daß sie schon ihren letzten russischen
Instinkt verloren, ihre russische Persönlichkeit und ihre Muttersprache,
Russen, die ihre Heimat gewechselt und, wenn sie auch nicht zu fremden
Völkern übertraten, so doch ganze Generationen hindurch in Europa
blieben. Tatsache ist nun, daß alle diese Russen, im Gegensatz zu den
liberalen, im Gegensatz zu deren Atheismus und Kommunismus, sich alsbald
zur Rechten und äußersten Rechten geschlagen haben und echte europäische
Konservative geworden sind.

Viele von ihnen haben ihren Glauben gewechselt und sind zum
Katholizismus übergetreten. Sind das nicht echte Konservative, ist das
nicht schon die äußerste Rechte? Sie sind Konservative in Europa und
umgekehrt – die vollkommensten Verneiner Rußlands geworden. Sie werden
zu Zerstörern, zu Feinden Rußlands! Da sieht man, was das heißt, sich
aus einem Russen in einen Europäer verwandeln, sich zum „wahren Sohn der
Zivilisation“ machen, – eine bemerkenswerte Tatsache, die zweihundert
Jahre Experiment uns gegeben haben. Daraus folgt, daß der Russe, der
wirklich Europäer wird, nicht anders kann, als zu gleicher Zeit auch der
natürliche Feind Rußlands werden: War es das, was die wollten, die „das
Fenster durchbrachen“? Hatten sie das im Auge? Und so bekamen wir zwei
Typen des zivilisierten Russen: den Europäer Belinski, der zu gleicher
Zeit Europa verneinte und sich im höchsten Grade als Russe erwies, und
den echten, altadligen russischen Fürsten Gagarin, der es, nachdem er
Europäer geworden, für notwendig befand, nicht nur zum Katholizismus
überzutreten, sondern auch noch gleich unter die Jesuiten zu gehen. Wer
ist von beiden der größere Feind Rußlands? Wer ist mehr Russe geblieben?
Und bekräftigt nicht dieses zweite Beispiel von der äußersten Rechten
mein voriges Paradox, daß die russischen europäischen Sozialisten und
Kommunarden – vor allen Dingen keine Europäer sind und zum Schluß echte,
prächtige Russen werden, sobald das Mißverständnis sich aufklärt und sie
ihr Land kennen lernen! Und zweitens, daß kein einziger Russe ernstlich
Europäer wird, wenn er nur noch ein bißchen, wenn auch nur verschwindend
wenig, Russe bleibt! Ist dem aber so, – dann muß folglich auch Rußland
etwas vollkommen Selbständiges und Besonderes sein, etwas, das Europa
nicht im geringsten gleicht. Ja, und Europa selbst ist vielleicht gar
nicht im Unrecht, wenn es die Russen tadelt und über ihr Revolutionärtum
lacht: „Wir sind also Revolutionäre nicht nur für die Zerstörung, dort,
wo nicht wir gebaut haben, nicht wie die Hunnen und Tataren, sondern für
irgend etwas anderes, das wir bis jetzt selbst noch nicht wissen – die
aber, die es wissen, behalten es für sich. Kurz, wir sind –
Revolutionäre aus irgendeiner eigenen Notwendigkeit heraus, sozusagen
Revolutionäre aus Konservativismus ...“

Doch all das sind Übergangsstadien, wie ich schon gesagt habe, all das
ist nebensächlich und liegt abseits – heute wenigstens, da sich die ewig
unbeantwortete Orientfrage wieder erhoben hat.


                     Utopische Geschichtsauffassung

In diesen ganzen hundertfünfzig Jahren nach Peter dem Großen haben wir
nichts anderes getan, als die Gemeinschaft mit allen nur möglichen
menschlichen Zivilisationsformen zu erwerben versucht, durch die
Teilnahme an der Geschichte und durch die Bekanntschaft mit den Idealen
aller Völker. Zuerst haben wir uns gezwungen und dann haben wir uns
gewöhnt, die Franzosen zu lieben, die Deutschen und all die anderen
gleichfalls, als ob das unsere Brüder gewesen wären, ganz abgesehen
davon, daß sie uns nie geliebt haben und wohl auch willens sind, uns
hinfort nicht zu lieben. Doch darin bestand ja unsere Reform, die ganze
Tat Peters des Großen: sie hat in anderthalb Jahrhunderten unseren Blick
erweitert, – eine Tatsache, die vielleicht noch bei keinem Volk, weder
in der alten noch in der neuen Geschichte, vorgekommen ist. Das Rußland
vor Peter war tätig und festgefügt, wenn es sich auch politisch langsam
entwickelte. Es hatte sich zur Einheit herausgearbeitet und schickte
sich an, seine Grenzen zu befestigen, und bei sich wußte es, daß es
einen Schatz in sich trug, wie es keinen zweiten in der Welt mehr gibt –
die Rechtgläubigkeit; wußte, daß es der Hüter der Wahrheit Christi ist,
wirklich der gewißlichen Wahrheit, des wahrhaften Ebenbildes Christi,
das sich in allen anderen Glaubensformen und bei allen anderen Völkern
verdunkelt hat. Dieser Schatz, diese ewige, in Rußland gegenwärtige
Wahrheit, deren Aufbewahrung uns als Aufgabe zugefallen, befreite
geradezu das Gewissen der besten damaligen Russen (nach ihrer eigenen
Meinung) von der Pflicht, sich um das Wissen anderer Völker zu kümmern.
Ja, in Moskau kam man sogar zu der Überzeugung, daß jede engere
Berührung mit Europa schädlich und demoralisierend auf das russische
Gemüt und auf die russische _Idee_ wirken, die Rechtgläubigkeit selbst
entstellen und Rußland auf den Weg des Verderbens bringen könnte, „nach
dem Beispiel aller anderen Völker“. So schickte sich denn das alte
Rußland in seiner Abgeschlossenheit an, _Unrecht zu tun_, – Unrecht an
der Menschheit, indem es sich dafür entschied, ratlos seinen Schatz,
seine Rechtgläubigkeit bei sich zu behalten und sich von Europa, d. h.
von der Menschheit, abzuschließen, – in der Art unserer Sektierer, die
mit niemandem aus einer Schüssel essen, sondern es für eine heilige
Pflicht halten, daß ein jeder sich eine besondere Tasse und einen
besonderen Löffel anschafft. Dieser Vergleich stimmt buchstäblich, denn
vor Peter waren unsere politischen wie geistigen Beziehungen zu Europa
von derselben Art. Seit der Reform Peters jedoch gewannen wir die
beispiellose Erweiterung des Blicks, – und darin, wiederhole ich,
besteht die ganze Größe der Tat unseres „Ehernen Reiters“. Dieses ist
der Schatz, den wir, die obere kultivierte Schicht Russen, nach einer
anderthalb Jahrhunderte langen Abwesenheit aus unserem eigenen Lande dem
Volke bringen, und den das Volk, nachdem wir uns selber vor seiner
Wahrheit gebeugt, von uns annehmen muß, _sina qua non_, „widrigenfalls
die Vereinigung beider Schichten sich als unmöglich erweisen und alles
untergehen wird.“

Was ist das nun für eine „Erweiterung des Blicks“, worin besteht sie und
was für eine Bedeutung hat sie?

Das ist nicht die Aufklärung oder Erleuchtung im eigentlichen Sinne des
Wortes, auch nicht die Wissenschaft, es ist auch kein Verrat an den
russischen moralischen Grundsätzen im Namen der europäischen Kultur.
Nein, das ist etwas, was einzig dem russischen Volke eigen ist: denn
eine ähnliche Reform hat es nirgends und noch niemals gegeben. Das ist
unsere wirklich und in der Tat fast brüderliche Liebe zu den anderen
Völkern, eine Liebe, die wir in anderthalb Jahrhunderten Berührung mit
ihnen uns erworben haben. Das ist unser Bedürfnis, der ganzen Menschheit
zu dienen, zuweilen sogar zum Nachteil der eigenen, wichtigsten und
nächsten Interessen; das ist unsere Aussöhnung mit ihren Kulturen, unser
Begreifen und _Verzeihen_ ihrer Ideale, selbst dann, wenn sie sich mit
den unsrigen nicht vertragen. Das ist unsere Fähigkeit, die wir uns
selbst anerzogen haben, in jeder der europäischen Kulturen, oder
richtiger, in jeder europäischen Persönlichkeit die in ihr enthaltene
Wahrheit zu entdecken, sogar ungeachtet alles dessen, womit wir
grundsätzlich nicht übereinstimmen können. Das ist endlich das
Bedürfnis, in erster Linie – gerecht zu sein und nur die Wahrheit zu
suchen. Mit einem Wort, das ist vielleicht gerade der Anfang, der erste
Schritt dieser aktiven Anwendung unseres Schatzes, unserer
Rechtgläubigkeit, zum Dienste der ganzen Menschheit – wozu sie ja
bestimmt ist und was ihr wirkliches Wesen ausmacht. Auf diese Weise hat
die Reform Peters die Erweiterung unserer _früheren Idee_ bewirkt,
unserer alten russisch-moskowitischen Idee: wir bekamen ein
vervielfachtes und verstärktes Verständnis für dieselbe: wir erkannten
unsere Weltbestimmung, unsere Persönlichkeit und unsere Rolle in der
Menschheit, übersahen aber, daß diese Bedeutung und diese Rolle
grundverschieden sind von denen der anderen Völker; denn dort lebt jede
nationale Persönlichkeit einzig für sich und in sich, wir aber werden,
wenn unsere Zeit kommt, gerade damit beginnen, daß wir die Diener Aller
werden, um der allgemeinen Versöhnung willen. Das ist durchaus nicht
schmählich für uns, im Gegenteil, es ist unsere Größe, denn es führt zur
endgültigen Vereinigung der Menschheit. Wer der Höchste im Reiche Gottes
sein will, – der werde der Diener Aller. So verstehe ich die russische
Prädestination _in ihrem Ideal_.

Der erste Schritt unserer neuen Politik nach Peter spezifizierte sich
denn auch ganz von selbst: dieser erste Schritt lag in dem Plan, das
ganze Slawentum unter den Flügeln Rußlands zu vereinigen. Und diese
Vereinigung nicht etwa zur Aneignung fremden Besitzes, nicht zur
Vergewaltigung, nicht zur Vernichtung der einzelnen slawischen
Völkerpersönlichkeiten durch den russischen Koloß, sondern um sie zu
erneuen und in das ihnen zustehende Verhältnis zu Europa und zur
Menschheit zu bringen, ihnen endlich die Möglichkeit zu geben, friedlich
leben zu können und sich nach ihren unzähligen, jahrhundertelangen
Leiden zu erholen, um sich im gemeinsamen Geiste zu versammeln und,
nachdem man seine neue Kraft gefühlt, auch sein Scherflein in die
Schatzkammer des menschlichen Geistes zu bringen, auch sein Wort in der
Kultur zu sagen. Oh, natürlich, man kann ja über diese meine
„Illusionen“ von russischer Prädestination lachen soviel man will, doch
bitte ich wenigstens eines sagen zu dürfen: wünschen etwa nicht alle
Russen die Befreiung und Erhebung der Slawen gerade auf dieser Basis,
gerade für deren volle persönliche Freiheit und die Auferstehung ihres
Geistes, und durchaus _nicht_, um sie für Rußland _politisch_ zu
gewinnen und durch sie Rußland _politisch_ zu verstärken, wie es
einstweilen Europa argwöhnt? Das ist doch so, nicht wahr? Dann aber sind
doch meine „Illusionen“ zum Teil schon gerechtfertigt? Freilich versteht
es sich von selbst, daß zu diesem selben Zweck Konstantinopel – früher
oder später doch unser werden muß ...

Herrgott, wie spöttisch ein Österreicher oder Engländer lächeln würde,
wenn er diese ausgedachten „Illusionen“ lesen könnte und plötzlich solch
eine _positive_ Folgerung fände!

„Konstantinopel, das Goldene Horn, der erste politische Punkt der Welt!
– das soll keine politische Eroberung sein!?“

Ja, das Goldene Horn und Konstantinopel – all das wird dereinst unser
sein, doch nicht um der Eroberung und der Vergewaltigung willen,
antworte ich. Und vor allen Dingen: das wird ganz von selbst geschehen,
wenn die Zeit dazu kommt. Es ist der natürliche Ausgang der
Balkanfragen. Wenn es bis jetzt noch nicht geschehen ist, so war eben
die Zeit noch nicht gekommen. In Europa glaubt man an irgendein
„Testament Peters des Großen“. Das ist nichts weiter als ein von Polen
geschriebenes, untergeschobenes Papier. Doch wenn Peter auch der Gedanke
gekommen wäre, anstatt Petersburg zu gründen, Konstantinopel zu erobern,
so hätte er doch diesen Gedanken aufgegeben: selbst dann, wenn er die
Macht gehabt hätte, den Sultan zu vernichten – denn damals wäre das
unzeitgemäß gewesen und hätte sogar Rußlands Verderben sein können.

Schon in dem finnischen Petersburg sind wir dem Einfluß der benachbarten
Deutschen nicht entronnen, – wenn er auch nützlich gewesen ist, so hat
er doch die russische Entwicklung, bevor sie ihren rechten Weg fand,
ungemein gelähmt, – wie hätten wir dann in Konstantinopel, der großen,
eigenartigen Stadt, mit den Resten der ältesten und mächtigsten Kultur,
dem Einfluß der Griechen entrinnen können, dieser unvergleichlich
„geschliffeneren“ Menschen, als es die rauhen, uns vollkommen
unähnlichen Deutschen sind, dem Einfluß dieser Menschen, die bedeutend
mehr Berührungspunkte mit uns haben, dieser zahlreichen höfischen
Griechen, die sofort den Thron umringt hätten und viel früher als die
Russen gelehrt und gebildet geworden wären, die unseren Peter selber,
nicht nur seine Nachfolger, bezaubert hätten, schon allein durch ihre
Kenntnis der Schiffahrt, – seiner schwachen Seite –?? Kurz, sie hätten
Rußland politisch erobert, hätten es, wieder auf irgendeinen neuen
asiatischen Weg gelockt, nun, und dem wäre natürlich das damalige
Rußland nicht gewachsen gewesen. Seine russische Kraft und Nationalität
wären in ihrer Entwicklung unterbrochen worden. Der mächtige Großrusse
wäre abseits in seinem dunklen schneeigen Norden geblieben und hätte nur
als Material für die Zarenstadt gedient, und vielleicht würde er es zum
Schluß sogar überflüssig gefunden haben, ihr noch weiter zu folgen. Der
Süden Rußlands aber wäre den Griechen anheimgefallen. Ja, vielleicht
hätte sich sogar die Rechtgläubigkeit selber in zwei Welten geteilt: in
die südlich-zaristische und die nördlich-altrussische ... Kurz, die
Sache wäre im höchsten Grade unzeitgemäß gewesen. Jetzt aber ist es
etwas ganz anderes.

Jetzt ist Rußland schon in Europa gewesen und ist nicht mehr so
unwissend wie damals. Die Hauptsache aber – es hat seine ganze Kraft
erkannt und ist wirklich stark geworden; und außerdem weiß es jetzt,
wodurch es dereinst am stärksten sein wird. Jetzt weiß es, daß
Konstantinopel uns gehören kann, auch ohne dabei die Hauptstadt zu sein;
vor zweihundert Jahren aber, da hätte Peter nach der Eroberung von
Byzanz nicht umhingekonnt, dorthin seine Residenz zu verlegen, was das
Verderben Rußlands gewesen wäre – denn Byzanz ist nicht Rußland und kann
auch niemals Rußland werden. Angenommen aber, daß Peter diesen Fehler
nicht begangen hätte, so wären doch bestimmt seine Nachfolger dorthin
gezogen. Wenn aber Byzanz heute unser wird, so wird es deshalb noch
nicht Rußlands Hauptstadt und somit auch nicht die Hauptstadt des
Panslawismus, wie einige träumen. Der Panslawismus ohne Rußland wird
sich im Kampf mit den Griechen entkräften, selbst dann, wenn er aus
seinen Teilen irgend etwas politisch Ganzes bilden könnte. Daß aber die
Griechen allein Byzanz erben, ist jetzt schon unmöglich: einen so
wichtigen Punkt der Erde kann man ihnen nicht abtreten, das wäre denn
doch etwas zuviel für sie. Der Panslawismus aber mit Rußland an der
Spitze – oh, der ist natürlich etwas ganz anderes! Aber ist dieses
Andere auch etwas Gutes, fragt es sich? Und würde das nicht wie ein
Einstecken der Slawen aussehen, was wir durchaus nicht nötig haben? Also
im Namen wessen, im Namen welches _moralischen_ Rechtes könnte denn
Rußland Konstantinopel begehren? Auf welche höheren Ziele gestützt,
könnte es Byzanz von Europa fordern? Nur als Führer der
Rechtgläubigkeit, als ihr Beschützer und Erhalter – in der Rolle, die
ihm schon seit Iwan III.[23] zusteht: zum Zeichen dessen hat dieser den
zweiköpfigen byzantinischen Adler über das alte Wappen Rußlands
gestellt, wenn Rußland dieser Führer auch erst seit Peter dem Großen
wirklich geworden ist, als es die Kraft in sich fühlte, seine Bestimmung
zu erfüllen, und in der Tat der einzige wahrhafte Beschützer und
Erhalter der Rechtgläubigkeit, wie der ihr angehörigen Völker wurde.
Dieser Grund, dieses _Recht_ auf das alte Byzanz, wäre selbst den auf
ihre Unabhängigkeit eifersüchtigsten Slawen und sogar den Griechen
verständlich und hätte nichts Kränkendes für sie. Damit würde sich das
wirkliche Wesen dieser politischen Beziehungen selbst zu erkennen geben,
Beziehungen, die sich unfehlbar in Rußland zu allen übrigen
rechtgläubigen Völkern herstellen müssen – ob Slawen oder Griechen,
bleibt sich gleich. Rußland ist ihre Beschützerin und vielleicht sogar
ihre Führerin, doch nicht ihre Herrscherin. Sollte Rußland aber einmal
ihre Zarin werden, so wird das nur auf ihre eigene Wahl hin geschehen
können, mit der Aufrechterhaltung alles dessen, was sie selbst zur
Sicherung ihrer Unabhängigkeit und Selbständigkeit und Eigenart
bestimmen ... so daß zu solch einem Vaterlande auch die nicht
rechtgläubigen Slawen werden hinzutreten können, denn sie würden selbst
sehen, daß die Vereinigung unter dem Schutze Rußlands nur eine
Sicherstellung der unabhängigen Persönlichkeit eines jeden ist, da sie
ohne diese große, vereinende Kraft sich vielleicht wieder in
Streitigkeiten untereinander entkräften würden, selbst wenn sie einmal
von Muselmännern oder Europäern, denen sie jetzt gehören, politisch
unabhängig werden sollten.

Wozu mit Worten spielen, wird man mir sagen: was ist das, diese
„Rechtgläubigkeit“? und worin liegt hier eine so besondere Idee, solch
ein besonderes Recht auf die Vereinigung der Völker? Ist das nicht ganz
ebensolch ein politischer Verband wie alle übrigen, wenn auch auf den
breitesten Grundlagen, in der Art der Vereinigten Staaten Amerikas
vielleicht, oder womöglich auf noch breiteren?

Ich werde diese Frage sofort beantworten.

Nein, es wird nicht dasselbe sein, und es ist auch kein Spiel mit
Worten, sondern hierdurch wird _wirklich_ etwas Besonderes und noch
nicht Dagewesenes geschehen. Es wird nicht nur eine politische
Vereinigung sein und noch weniger eine politische Aneignung oder
Vergewaltigung, – wie Europa es sich nicht anders denken kann; und nicht
im Namen eines Krämerwesens, oder persönlicher Vorteile und der ewigen,
immer gleichen vergötterten Laster unter dem Schein des offiziellen
Christentums, an das in Wirklichkeit niemand mehr außer dem _Pöbel_
glaubt. Nein, hierdurch soll die Wahrheit Christi zur Wirklichkeit
werden, diese Wahrheit, die einzig im Osten noch erhalten wird, die
wirkliche, neue Herrschaft Christi und die Verkündung des endgültigen
Wortes der Rechtgläubigkeit, deren Haupt schon längst Rußland ist. Das
wird ja das Ärgernis sein für alle Starken dieser Welt, die bis jetzt
hienieden triumphiert haben, die immer auf ähnliche „Erwartungen“ mit
Verachtung und Spott herabgesehen und nicht einmal begreifen können, wie
man ernstlich an die Brüderlichkeit der Menschen, an die Allversöhnung
der Völkerschaften glauben kann, an einen Bund, der auf der Basis der
Alldienstbarkeit der Menschheit gegründet ist, und endlich selbst an die
Erneuerung der Menschen auf Grund der wahrhaften Lehre Christi. Ist aber
der Glaube an dieses „neue Wort“, das Rußland als Haupt der vereinten
Rechtgläubigkeit der Welt sagen kann, eine „Utopie“, die nur des Spottes
wert ist, so möge man auch mich zu diesen Utopisten rechnen, und den
Fluch der Lächerlichkeit will ich dann gerne tragen.

„Schon das allein ist Utopie,“ wird man vielleicht noch einwenden, „daß
man Rußland irgendeinmal einfach _erlauben_ werde, an die Spitze der
Slawen zu treten und in Konstantinopel einzuziehen. Man kann ja nicht
verbieten, sich Illusionen zu machen, doch bleiben es immerhin
Illusionen.“

Ist das wirklich so? Doch abgesehen davon, daß Rußland stark ist und
vielleicht noch viel stärker, als es selbst ahnt, ganz abgesehen davon –
waren es nicht unsere eigenen Augen, die noch in den letzten Jahrzehnten
zwei riesige, Europa beherrschende Mächte sich aufrichten sahen, von
denen die eine in Staub und Schutt zusammenbrach, in einem Tage vom
Sturme Gottes hinweggefegt, und an deren Stelle sich ein neues Reich
erhob, dem ein an Kraft ähnliches, sollte man meinen, die Erde noch
nicht getragen hat? Und wer hätte das voraussehen können? Wenn aber
solche Veränderungen möglich sind, schon in unseren Tagen und vor
unseren Augen, wie kann dann der menschliche Verstand vollkommen und
buchstäblich das Schicksal des Ostens weissagen wollen? Wer hat wirklich
Ursache, in der Hoffnung auf die Auferstehung und Einigung der Slawen zu
verzagen? Unbekannt sind uns Menschen die Wege Gottes allzeit gewesen.


          Foma Daniloff, der zu Tode gemarterte russische Held


                             Foma Daniloff

Es ist jetzt[24] wohl ein Jahr her, daß die Zeitungen die Nachricht
brachten von dem Märtyrertode des Unteroffiziers des 2. Turkistanischen
Schützenbataillons, Foma Daniloff. Er war in die Gefangenschaft der
Kiptschaken geraten und von ihnen in Magelan nach vielen raffinierten
Foltern endlich am 21. November barbarisch umgebracht worden, weil er
nicht in ihren Dienst und zum Mohammedanismus hatte übertreten wollen.
Der Chan selber hat ihm Belohnungen, seine Gunst und alle möglichen
Ehren versprochen, wenn er eingewilligt hätte, Christus zu verleugnen.
Daniloff aber hat geantwortet, daß er das Kreuz nicht verraten könne und
als Untertan des Zaren, wenn auch in der Gefangenschaft, seine Pflicht
dem Zaren und dem Christentum gegenüber erfüllen müsse. Seine Peiniger
haben sich über die Kraft seiner Seele gewundert und ihn einen Helden
genannt.

Damals rief diese Nachricht, wenn sie auch von allen Zeitungen
mitgeteilt wurde, doch kein besonderes Interesse in der Gesellschaft
hervor; ja, selbst die Blätter, die sie nur wie eine gewöhnliche
Tagesneuigkeit brachten, fanden es nicht für nötig, sich noch
_besonders_ darüber zu verbreiten. Darauf kamen die slawische Bewegung,
Tschernjäjeff[25], die Serben und manches andere. Es kamen Spenden und
Freiwillige, und der gefolterte Foma geriet in völlige Vergessenheit –
das heißt in den Zeitungen. Erst kürzlich hörten wir wieder etwas von
ihm, oder vielmehr von seiner Familie, nach der der Gouverneur von
Samara inzwischen geforscht hatte. Daniloff hat eine 27jährige Frau,
Jewrossinja, und eine sechsjährige Tochter, Ulita, in ärmlichen
Verhältnissen zurückgelassen. Eine Sammlung für sie ergab 1320 Rubel,
von denen 600 für die Tochter bis zu ihrer Mündigkeit verzinst werden
sollen, während den Rest die Mutter erhält; außerdem hat eine Schule die
kleine Ulita als Stipendiatin aufgenommen. Bald darauf benachrichtigte
dann der Chef des Generalstabes den Gouverneur von Samara, daß nach
Allerhöchster Bestimmung der Witwe eine lebenslängliche Pension von 120
Rubel jährlich ausgezahlt werden solle. Und nun – wird die Sache
wahrscheinlich wieder vergessen werden, besonders in Anbetracht der
gegenwärtigen Aufregungen, politischen Befürchtungen, der schwebenden
Fragen, Krachs usw.

Oh, ich will durchaus nicht behaupten, daß unsere Gesellschaft sich zu
dieser ungewöhnlichen Tat gleichgültig, wie zu einem nicht
beachtenswerten Geschehnis, verhalten hätte! Tatsache ist nur, daß
darüber wenig gesprochen worden ist, oder richtiger, daß niemand davon
als von etwas _Besonderem_ gesprochen hat. Übrigens, vielleicht hat man
es auch irgendwo getan, bei Kaufleuten, bei Geistlichen zum Beispiel,
nicht aber in der „Gesellschaft“, nicht in den Kreisen unserer
„Intelligenz“. Das Volk natürlich wird diesen großen Tod nicht
vergessen. Dieser Held hat Qualen für Christus erduldet und ist ein
großer Russe gewesen: das versteht das Volk zu schätzen, und solche
Taten vergißt es nie. Und doch ist es mir, als hörte ich schon einige
mir so wohlbekannte Stimmen sagen: „Tja, das ist allerdings Kraft,
Stärke, und wir erkennen sie ja auch an, aber – es ist doch immer eine
blinde, sagen wir wie das Volk: eine ‚dunkle‘ Kraft, die sich in etwas
allzu vorsintflutlicher Gestalt geoffenbart hat, und darum – was hätten
wir da als etwas _Besonderes_ besprechen sollen? Nicht von unserer Welt
ist das. Eine ganz andere Sache aber ist Kraft, die sich intellektuell,
die sich bewußt zeigt. Es gibt noch andere Dulder und andere Kräfte, es
gibt auch Ideen, die unvergleichlich höher sind – die kosmopolitische
Idee zum Beispiel ...“

Doch trotz dieser vernünftigen und „intellektuellen“ Stimmen scheint es
mir erlaubt und verzeihlich, etwas _Besonderes_ auch über Daniloff zu
sagen. Ja, ich glaube sogar, daß es selbst unsere Intelligenz nicht gar
so sehr erniedrigen würde, wenn sie sich etwas aufmerksamer zu dieser
Tat verhalten hätte. Mich, zum Beispiel, wundert am meisten, daß sich
damals nirgendwo Verwunderung geäußert hat, – gerade Verwunderung. Ich
rede nicht vom Volke: dort ist Verwunderung nicht nötig, und darum wird
es sich auch in diesem Falle nicht gewundert haben: die Tat Daniloffs
kann ihm nicht ungewöhnlich erscheinen, schon allein wegen des großen
Glaubens unseres Volkes an sich selber nicht. Seine Antwort auf diese
Heldentat wird nur ein mächtiges Gefühl und eine tiefe Rührung sein.
Sollte aber etwas Ähnliches in Europa geschehen, ich meine, ein solcher
Beweis von Mut und Größe, sei es bei den Engländern, bei den Franzosen
oder bei den Deutschen, so würde der Ruhm des betreffenden Helden über
die ganze Welt hin erschallen. Nein, hört mal, wißt ihr auch, wie mir
dieser „dunkle“, unbekannte Soldat des Turkistanischen Bataillons
vorkommt? Ja, der ist doch – der ist doch das Symbol ganz Rußlands,
unseres ganzen volklichen Rußlands, das wahrhafteste Abbild dieses
selben Rußlands, dem unsere Zyniker und Allwissenden jetzt schon jeden
Geist abstreiten, wie jede Möglichkeit der Erhebung und Offenbarung
eines großen Gedankens oder großen Gefühls. Hört mal, ihr
seid ja gar nicht diese Zyniker. Ihr seid ja im ganzen nur
intellektuell-europäisierte Russen, das heißt, im Grunde die
gutmütigsten Leute! Auch ihr, nicht wahr, leugnet doch nicht, daß unser
Volk im vergangenen Sommer stellenweis ungewöhnliche Geisteskraft
bewiesen hat: viele Bauern verließen bekanntlich ihre Häuser und Kinder
und gingen hin, um für den Glauben zu sterben, für die bedrückten
Brüder, – weiß Gott wohin und weiß Gott mit welchen Mitteln, ganz genau
so, wie einst vor neun Jahrhunderten in Europa die ersten Kreuzfahrer
auszogen, – diese selben Kreuzfahrer, deren Wiedererscheinen manch einer
unserer Intellektuellen für fast lächerlich und beleidigend halten
würde, „in unserem,“ wie er sagt, „Jahrhundert des Fortschritts, der
positiven Aufgaben usw.“ Schön, mag diese unsere Bewegung im vorigen
Sommer auch nach eurer Meinung blind und sogar „nicht recht gescheit“
gewesen sein, sozusagen „kreuzfahrerisch“, so könnt ihr doch nicht
leugnen, wenn ihr nur ein wenig größer schaut, daß es eine
überzeugungsvolle und großmütige Bewegung gewesen ist. Eine mächtige
Idee erwachte und erweckte und zog vielleicht Hunderttausend, vielleicht
Millionen Seelen mit einem Schlage aus der Gleichgültigkeit, dem
Zynismus und dem Schmutz, in dem sie sich bis dahin gewälzt. Wie ihr
wißt, hält man unser Volk bis jetzt noch, wenn auch für gutmütig und
geistig sogar sehr begabt, doch für eine dunkle, elementare,
erkenntnislose Masse, die ohne Ausnahme Lastern und Vorurteilen ergeben
und fast durchweg sittenlos ist. Nun aber erdreiste ich mich, etwas
auszusprechen, das man, wenn man will, ein Axiom nennen kann, und zwar:
Um über die sittliche Kraft eines Volkes und darüber, zu was es in
Zukunft fähig sein kann, zu urteilen, muß man nicht den Grad der
Verderbnis, bis zu der es sich zeitweilig und womöglich in seiner
Mehrzahl selbst erniedrigt, in Betracht ziehen, sondern nur die
Geisteshöhe, bis zu der es sich wird emporschwingen können, wenn die
Zeit dazu gekommen sein wird. Denn Verderbnis ist nur ein temporäres
Unglück und hängt so gut wie immer von den vorhergehenden und
vorübergehenden Umständen ab, von der Sklaverei, der Unterdrückung,
Verrohung; die Gabe aber der Großmut ist ewig, elementar, ist eine Gabe,
die mit dem Volke geboren wird und um so höher zu ehren ist, wenn sie
durch Jahrhunderte der Sklaverei, des Unglücks und der Armut sich
trotzdem im Herzen dieses Volkes unverletzt erhalten hat.

Foma Daniloff war dem Ansehen nach vielleicht eines der
allergewöhnlichsten und unauffälligsten Exemplare des russischen Bauern,
so unauffällig wie das russische Volk selber. – Oh, viele haben dieses
Volk überhaupt noch nicht bemerkt! – Möglich, daß er seinerzeit nicht
ungern ohne Arbeit war und ein Gläschen trank, möglich, daß er nicht
einmal viel betete, wenn er auch natürlich seinen Gott nie vergaß! Und
plötzlich befiehlt man ihm nun, seinen Glauben zu ändern, – unter
Androhung des Märtyrertodes! Dabei nicht zu vergessen, was das für eine
Folter ist, diese asiatische Folter! Vor ihm sitzt der Chan in eigener
Person und verheißt ihm seine Gnade und alles Schöne. Und Daniloff
begreift nur zu gut, daß seine Weigerung den Mächtigen unbedingt reizen
wird und es die Eigenliebe der Kiptschaken kränken muß, daß „ein
Christenhund es wagt, den Islam so zu verachten“. Doch trotz allem, was
ihn erwartet, nimmt dieser unansehnliche russische Mensch die grausamen
Qualen auf sich und stirbt, seine Peiniger in Erstaunen setzend. Wißt
ihr auch, daß von uns kein einziger das getan hätte? Vor aller Augen
leiden, mag zuweilen sogar angenehm sein, hier aber ging doch die Qual
ganz weltfern vor sich, in einem stummen Winkel: keiner sah ihn; und
Foma selber konnte nicht wissen, daß seine Tat über das ganze Land der
Russen hin bekannt werden würde. Ich glaube, gar manchen großen
Märtyrern, sogar solchen aus den ersten Jahrhunderten des Christentums,
gereichte es, wenn sie das Kreuz auf sich nahmen, nicht wenig zum Trost
und zur Erleichterung, sich sagen zu können, daß ihr Tod den Zaghaften
und Schwankenden ein Beispiel sei und noch mehr Jünger für Christus
werben werde. Foma Daniloff konnte selbst diesen großen Trost nicht
haben: er war allein unter seinen Henkern – niemand, mußte er sich
sagen, würde erfahren, was mit ihm geschah. Er war noch jung und hatte
Weib und Kind in der Heimat, – niemals würde er sie wiedersehen – doch
sei es! „Wo ich auch bin, gegen mein Gewissen kann ich nicht handeln;
ich wähle den Märtyrertod,“ – Wahrheit um der Wahrheit willen und nicht
zum Ruhme! Und weder Lug noch Trug noch sophistisches Spiel mit dem
eigenen Gewissen: „Werde den Islam einfach zum Schein annehmen, errege
lieber keinen Anstoß, es wird ja doch niemand sehen, später kann ich ja
Buße tun, das Leben ist lang, werde der Kirche spenden, Gutes tun ...“
Nichts davon war in ihm, sondern nur wundernehmende, uranfängliche,
elementare Ehrlichkeit. Nein, ich glaube nicht, daß wir ebenso gehandelt
hätten!

Doch das sind wir, – aber für unser Volk, wiederhole ich, hat die
Heldentat Daniloffs vielleicht sogar nicht das geringste Verwunderliche.
Das ist es ja, daß hier geradezu ein Symbol des russischen Volkes
geboten wird, eine ganze Darstellung unseres Volkes: deswegen berührt
dieser Tod mich so nah und auch euch, natürlich auch euch! Gerade so
liebt unser Volk die Wahrheit nur um der Wahrheit willen und nicht um
des Ruhmes willen. Möge es auch noch so roh und gemein und sündig und
unscheinbar sein; doch laßt nur seine Zeit kommen, laßt nur die Zeit der
Volkswahrheit anbrechen, so werdet auch ihr erstaunen über seine
Geistesfreiheit, die seine Größe dann vor dem Joch des Materialismus,
der Leidenschaften, der Geld- und Habgier, und sogar unter Androhung des
grausamsten Foltertodes, beweisen wird. Und all das wird es einfach,
ohne Phrasen und Gesten tun, nur fest in seiner Überzeugung, ohne
Belohnung oder Lob zu verlangen, ohne mit seiner Tat zu prahlen: „Woran
ich glaube, das bekenne ich auch.“

Wißt, man muß die Wahrheit nicht zu umgehen suchen: ich glaube, daß wir
solch ein Volk nichts mehr lehren können. Das ist ein Sophismus,
versteht sich, doch kommt er einem zuweilen unwillkürlich in den Sinn.
Oh, natürlich, wir sind gebildeter als das Volk, aber _was_ sollen wir
es denn lehren – fragt es sich! Ich rede hier nicht von den Handwerken,
nicht von der Technik, nicht von der Mathematik, – das werden ihm auch
die zugereisten Deutschen schon für Lohn beibringen, wenn wir es selbst
nicht tun. Nein, aber wir, was sollen wir es lehren? Wir sind doch
Russen, sind Brüder diesem Volke und folglich verpflichtet, es zu
_erleuchten_. Was können wir ihm Moralisches, welches Höhere können wir
ihm geben, was ihm erklären, und womit diese „dunklen“ Seelen
_erleuchten_? Volksaufklärung ist unser Recht und unsere Pflicht im
höchsten christlichen Sinne: wer das Gute weiß und das wahrhafte Wort
des Lebens kennt, der muß, der ist verpflichtet, es seinem
nichtwissenden, im Dunkel irrenden Bruder zu sagen, lehrt uns die Bibel.
Was sollen wir nun dem Irrenden sagen, was er selbst nicht besser wüßte
als wir? Zuerst natürlich, daß „lernen nützlich ist und man lernen muß“,
– nicht wahr? Aber das Volk hat schon vor uns gesagt: „lernen – ist
Licht, nicht lernen – ist Finsternis“. Besiegung der Vorurteile, zum
Beispiel, Vernichtung der Götzen? Aber in uns selber ist doch solch eine
Unmenge von Vorurteilen, und Götzen haben wir uns so viele zugelegt, daß
das Volk uns offen sagen wird: „Arzt, heile dich selber.“ – Und unsere
Götzen versteht es bereits ganz vorzüglich zu erkennen! Oder sollen wir
es Selbstachtung lehren, persönliche Würde? Aber unser Volk, als Ganzes
genommen, achtet sich selber viel mehr als wir uns, ehrt und begreift
seine Würde viel tiefer als wir. In der Tat, wir sind so furchtbar in
uns selbst verliebt, aber wir achten uns dabei doch nicht im geringsten,
und persönliche Würde, einerlei worin sie auch bestände, gibt es bei uns
überhaupt nicht. Oder sollen wir dem Volk etwa Achtung vor fremden
Überzeugungen beibringen? Unser Volk beweist schon seit Peters des
Großen Zeiten, daß es auch die Überzeugungen Fremder zu achten versteht,
wir aber verzeihen ja nicht einmal unter unseresgleichen die kleinste
Abweichung von unseren Überzeugungen, und wer mit uns nicht
übereinstimmt, den halten wir einfach für einen Dummkopf, wobei wir ganz
vergessen, daß, wer so leicht die Achtung für andere verliert, in erster
Linie sich selbst nicht achtet. Oder sollen wir etwa das Volk Glauben an
sich und seine Kräfte lehren? Das Volk hat Foma Daniloffs zu Tausenden,
wir aber glauben überhaupt nicht an russische Kräfte, ja, und halten
diesen Unglauben noch für höhere Bildung, und es fehlt nicht viel, auch
noch für Heldenhaftigkeit. Aber so sagt doch, was können wir das Volk
denn lehren? Wir verabscheuen, wir hassen sogar all das, was unser Volk
liebt und ehrt, und wonach sein Herz sich sehnt. Nun also: was sind wir
denn für Volksfreunde? Man wird vielleicht entgegnen, daß wir folglich
das Volk nur um so mehr lieben, wenn wir, ihm Besseres wünschend, seine
Unwissenheit verabscheuen. O nein, meine Herren, keineswegs: wenn wir
wahrhaft und in der Tat unser Volk liebten und nicht nur in Artikeln und
Broschüren, so würden wir etwas näher zu ihm hingehen und uns bemühen,
erst einmal das kennen zu lernen, was wir jetzt, wie es uns gerade
beliebt, nach europäischer Schablone in ihm vernichten wollen: dann
würden wir vielleicht selbst so viel Neues lernen, wie wir uns jetzt
noch nicht einmal träumen lassen.

Übrigens haben wir einen Trost: unseren großen Stolz vor unserem Volke.
Darum verachten wir es ja auch so: verachten es, weil es national ist
und aus seiner ganzen Kraft auf dieser seiner Nationalität besteht, wir
aber – wir haben kosmopolitische Überzeugungen, haben uns als unser Ziel
die Allmenschheit gesetzt und uns über unser Volk somit selbst
hinausgehoben. Nun, und das ist ja unsere ganze Zwietracht, unser ganzer
Bruch mit dem Volk. Und so sage ich denn meine Meinung: versöhnen wir
uns mit ihm in diesem Punkte, so hört sofort auch unser Zwist mit ihm
auf. Dazu aber gibt es eine Möglichkeit, die außerdem sehr leicht zu
finden ist. Im übrigen wiederhole ich nochmals nachdrücklichst, daß
sogar unser allerschroffster Widerspruch im Grunde nur eine –
Selbsttäuschung ist.

Doch was ist das nun für eine Versöhnungsmöglichkeit?


         Die Versöhnungsmöglichkeit außerhalb der Wissenschaft

Zuerst hebe ich das am meisten Bestrittene hervor und beginne ohne
weiteres damit:

„Jedes große Volk glaubt und muß glauben, wenn es nur lange am Leben
bleiben will, daß in ihm, und nur in ihm allein, die Rettung der Welt
liegt, daß es bloß lebt, um an die Spitze aller Völker zu treten, sie
alle in das eigene Volk aufzunehmen und sie, in harmonischem Chor, zum
endgültigen, ihnen allen vorbestimmten Ziele zu führen.“

Ich behaupte, daß es so mit allen großen Völkern der Erde war, mit den
ältesten, wie mit den jüngsten, daß nur dieser Glaube allein sie zu der
Möglichkeit, jedes zu seiner Zeit einen großen Einfluß auf die
Schicksale dir Menschheit auszuüben, erhoben hat. So war es zweifellos
mit dem alten Rom, und so war es später mit dem zweiten Rom in der
katholischen Periode der Geschichte dieser Stadt. Als dann Frankreich
seine katholische Idee erbte, geschah ganz dasselbe auch mit Frankreich,
und im Zeitraum von fast zwei Jahrhunderten, bis zu seinem Sturz in
unserem Jahrhundert und seiner jetzigen Resignation, glaubte Frankreich
sich zweifellos die ganze Zeit über an der Spitze der Völker, hielt
sich, wenigstens moralisch, zeitweilig aber auch politisch, für ihren
Führer und Wegweiser zur Zukunft. Danach strebte freilich auch
Deutschland in seinen Träumen und stellte der katholischen Weltidee und
ihrer Autorität seinen Protestantismus und die unbegrenzte Freiheit des
Geistes und der Forschung gegenüber. Ich wiederhole, dasselbe geschieht
_mehr oder weniger_ mit allen großen Nationen auf der Höhe ihrer
Entwicklung. Man wird mir sagen, daß das nicht wahr sei, daß das ein
Irrtum von mir sei, und wird mich auf das _Bewußtsein_ dieser selben
Völker aufmerksam machen, auf die Erkenntnis ihrer Gelehrten und Denker,
die gerade auf die gemeinschaftliche, die vereinte Bedeutung der
europäischen Nationen hingewiesen haben, der Nationen, die vereint an
der Schöpfung und Vollendung der europäischen Zivilisation mitgewirkt
haben ... nun, und ich werde diesen Einwand selbstverständlich nicht
ohne weiteres abweisen. Doch abgesehen davon, daß solche
Vernunftschlüsse im allgemeinen gewissermaßen das Ende des lebendigen
Lebens eines Volkes bedeuten, will ich einstweilen nur auf eines
hinweisen: diese selben kosmopolitischen Denker haben, was sie da auch
von der Weltharmonie der Nationen geschrieben, immerhin zu gleicher Zeit
und meistenteils mit unmittelbarem, lebendigem und aufrichtigem Gefühl,
ganz so wie die Masse ihres Volkes, _fortgesetzt geglaubt_, daß in
diesem Chor der Nationen, die die Weltharmonie und die gemeinsame
Zivilisation ausmachen, _gerade sie_ (sagen wir, zum Beispiel, die
Franzosen) das Haupt dieser ganzen Vereinigung sind, _sie_ die
vordersten, _sie_ diejenigen, denen es vorherbestimmt ist, zu führen,
die anderen aber ihnen nur nachfolgen: daß sie (die Franzosen) von
diesen anderen Völkern nun, meinetwegen, vielleicht auch etwas
entlehnen, doch immerhin nur _etwas_, daß dafür aber jene anderen Völker
von ihnen _alles_ übernehmen, wenigstens alles Erstrangige, und nur von
ihrem Geist und von ihrer Idee zu leben vermögen, ja, und ihnen
überhaupt nichts übrigbleibe, als sich schließlich ihrem Geiste
anzuschließen und sich mit ihnen, den Franzosen, früher oder später zu
verschmelzen. Und auch in dem heutigen resignierten und innerlich
zerfallenen Frankreich lebt noch eine derartige Idee, die eine neue,
doch meiner Meinung nach vollkommen natürliche Phase gerade seiner
früheren katholischen Weltidee in ihrer Entwicklung ist; und nicht
weniger als die Hälfte aller Franzosen glaubt auch jetzt, daß in ihr und
nur in ihr allein die Rettung nicht nur Frankreichs, sondern der ganzen
Welt liegt: das ist ihr französischer Sozialismus. Diese Idee – das
heißt, dieser ihr Sozialismus – ist natürlich unwahr und aussichtslos;
doch jetzt handelt es sich nicht mehr um ihre Qualität, sondern darum,
daß sie jetzt vorhanden ist, ein lebendiges Leben lebt, und daß
diejenigen, die sich zu ihr bekennen, nicht von Wehmut und Zweifeln
befallen sind, wie alle übrigen Franzosen. Anderseits sehe man sich doch
den Engländer an, einerlei was für einen, den Lord oder den Arbeiter,
den Gelehrten oder den Ungebildeten, und man wird sich überzeugen, daß
jeder einzelne Engländer sich bemüht, vor allen Dingen Engländer zu
sein, in allen Lebenslagen Engländer zu bleiben, im öffentlichen wie im
Privatleben, in der Politik wie in der Gesellschaft und im Geschäft: und
sogar die Menschheit zu lieben, bemüht er sich nicht anders, denn nur
als Engländer. Und wenn dem auch so wäre, wird man mir entgegnen, so wie
ich es behaupte, dann würde doch solch ein Eigendünkel jedes großen
Volkes unwürdig sein: der Egoismus und unsinnige Chauvinismus würden
seine Bedeutung verringern oder gar sein nationales Leben schon gleich
zu Anfang schädigen und verderben, statt ihm Lebenskraft zu geben. Man
wird sagen, daß ähnliche sinnlose, stolze Ideen keiner Nachahmung wert
seien, sondern, im Gegenteil, von der Vernunft, die alle Vorurteile
vernichtet, ausgerottet werden müßten. Nun, wenn das von der einen Seite
auch sein Wahres hat, so muß man doch, denke ich, nichtsdestoweniger die
Frage auch von der anderen Seite nehmen: dann aber erscheint meine
Meinung durchaus nicht erniedrigend, sondern sogar umgekehrt – erhebend.
Was tut’s, daß der lebensfremde Jüngling träumt, dereinst ein Held zu
werden? Glaubt mir: stolze und hochmütige Träume können diesem Jüngling
viel nützlicher und lebenbringender sein als die „Vernünftigkeit“ eines
Knaben, der schon mit sechzehn Jahren an der weisen Regel festhält, daß
„Glück besser als Heldentum“ sei. Glaubt mir, das Leben jenes Jünglings
wird nach durchlebter Armut und mißglückten Versuchen als Ganzes doch
schöner sein als das behagliche Dahinvegetieren seines vernünftigen
Schulkameraden, der sein Leben unter allen nur denkbaren
Bequemlichkeiten verbringt. Solch ein Glaube an sich ist nicht
unmoralisch und keineswegs eine Selbstüberhebung. Und ebenso ist es auch
mit den Völkern: mag es auch vernünftige, friedliche und zufriedene
Völker geben, die ohne Überschwenglichkeiten ein gutes Leben führen,
Handel treiben, Schiffe bauen, und sich mit Behagen ihres Lebens freuen:
nun, Gott hab’ sie selig, weit werden sie es nicht bringen! Daraus wird
doch nur so eine echte Mittelmäßigkeit entstehen, von der die Menschheit
nichts, aber auch nichts hat: die große Energie, die mächtige
Selbstachtung fehlt ihnen! Jene Kraft ist nicht unter ihnen, die alle
großen Völker treibt. Der Glaube daran, daß du der Welt das letzte Wort
sagen willst und _kannst_, daß du die Welt mit dem Überfluß deiner
lebendigen Kraft erneuen wirst, der Glaube an die Heiligkeit der eigenen
Ideale, der Glaube an die Kraft der eigenen Liebe und des eigenen
Verlangens, der Menschheit zu dienen, – nein, solch ein Glaube ist das
Unterpfand für das allerhöchste Leben der Nationen, und nur mit ihm
bringen sie der Menschheit den ganzen Nutzen, den zu bringen ihnen
vorherbestimmt gewesen, jenen ganzen Teil ihrer Lebenskraft und
organischen Idee, die die Natur selber bei ihrer Schöpfung ihnen
vorausbestimmt hat, als Erbe der späteren Menschheit zu vermachen. Nur
die eines solchen Glaubens fähige Nation hat das Recht auf ein höheres
Leben. Der legendäre Ritter der alten Zeiten glaubte, daß er alle
Hindernisse, alle Gespenster und Ungeheuer besiegen, daß er alles
erreichen werde, wenn er nur treu sein Gelübde „Gerechtigkeit,
Keuschheit und Armut“ bewahrte. Ihr sagt: „Ach, das sind Legenden und
alte Lieder, an die nur ein Don Quijote noch glaubt! nicht derart sind
die Gesetze des wirklichen Lebens der Nationen.“ Nun, dann fange und
überführe ich euch zum Trotz und sage, daß auch ihr ganz solche Don
Quijotes seid, daß auch ihr selbst ebensolch eine Idee habt, an die ihr
glaubt und durch die ihr die Menschheit erneuen wollt!

In der Tat, woran glaubt ihr denn? Ihr glaubt – ja, und ich mit euch –
an die Allmenschheit, das heißt, daran, daß dereinst vor dem Lichte der
Vernunft und Erkenntnis die natürlichen Schranken und Vorurteile, die
bis heute noch die freie Gemeinschaft der Nationen durch den Egoismus
der nationalen Forderungen vereiteln, fallen werden, und daß dann erst
die Völker beginnen können, in einem einheitlichen Geiste und einhellig
wie Brüder zu leben, vernünftig und mit Liebe zu allgemeiner Harmonie
strebend. Nun, meine Freunde, was kann es Höheres und Heiligeres geben,
als dieser euer Glaube es ist? Und die Hauptsache ist noch: diesen
Glauben werdet ihr nirgends in der ganzen Welt finden, bei keinem
einzigen Volk zum Beispiel in Europa, wo die Charaktere der Nationen
doch ungewöhnlich scharf umrissen sind, wo dieser Glaube, wenn er
überhaupt da ist, nicht anders sich findet, als in Gestalt irgendeiner
bloß apriorischen, einer vielleicht lebhaften und feurigen, aber doch
nicht mehr als bloß studierstubenhaften Erkenntnis. Bei euch aber, das
heißt nicht gerade bei euch, wohl aber bei uns, bei uns allen, uns
Russen, – ist dieser Glaube allgemein lebendig und überwiegt alle
anderen Ideen. Von uns glauben alle daran, sei es mit vollem Bewußtsein
in der intellektuellen Welt, sei es ganz einfach mit lebendigem Instinkt
im einfachen Volke, dem seine Religion schon befiehlt, an diesem selben
Glauben festzuhalten. Ihr dachtet wohl, ihr wäret die einzigen
„Allmenschen“ aus der ganzen russischen Intelligenz, die anderen aber
nur Slawophile oder Nationalisten? So ist es denn doch nicht: die
Slawophilen und Nationalisten glauben an ganz genau dasselbe, an was ihr
glaubt, ja, und tun das noch viel stärker als ihr!

Ich nehme jetzt nur die Slawophilen: was war es denn, das sie durch ihre
ersten Führer von ihrer Lehre verkündeten? Sie erklärten in klaren,
treffenden Folgerungen: daß Rußland zusammen mit allen Slawen, und
selbst an ihrer Spitze, der ganzen Welt das größte Wort sagen werde, das
die Menschheit jemals vernommen hat, und daß dieses Wort gerade das
Gebot der allmenschlichen Vereinigung sein wird, und zwar nicht im
Geiste eines persönlichen Egoismus, in dem sich jetzt Menschen und
Nationen künstlich und unnatürlich in ihrer Zivilisation vereinigen, zum
„Kampf ums Dasein“, indem sie mittels positiver Wissenschaft dem freien
Geiste moralische Grenzen setzen und zu gleicher Zeit sich gegenseitig
Gruben graben, belügen, beschimpfen und verleumden. Das Ideal der
Slawophilen war vielmehr die Vereinigung im Geiste der wahren großen
Liebe, ohne Lüge und Materialismus, und auf Grund des persönlichen
großmütigen Beispiels, wie es bestimmt ist, vom russischen Volke an der
Spitze der freien panslawischen Vereinigung Europa gegeben zu werden.
Ihr sagt allerdings, daran glaubtet ihr keineswegs, und all das seien
nur Spekulationen der Gelehrtenstuben. Doch hier ist nicht das wichtig,
was irgend jemand glaubt, sondern wichtig ist, daß bei uns alle, trotz
ihrer ganzen Meinungsverschiedenheiten, in diesem einen endgültigen,
gemeinsamen Gedanken der allmenschlichen Vereinigung sich treffen und
übereinstimmen. Das ist eine Tatsache, die keinem Zweifel untersteht,
und die an sich schon erstaunlich ist; denn dieses Gefühl gibt es noch
nirgends, in keinem einzigen Volke, in einem solchen Grade: als ein so
lebendiges und hauptsächliches Bedürfnis. Ist dem aber so, dann haben
also auch wir, wir alle, eine feste und bestimmte Nationalidee: ja,
gerade eine _nationale_ Idee. Folglich wäre, wenn die nationale
russische Idee zu guter Letzt nur die universale allmenschliche
Vereinigung ist, das Ratsamste für uns, so schnell wie möglich unsere
Uneinigkeiten beizulegen und national, d. h. Russen, zu werden. Unsere
ganze Rettung liegt ja darin, daß wir nicht im voraus darüber streiten,
wie und wann sich diese Idee verwirklichen wird, ob nach eurer oder nach
unserer Annahme, sondern daß wir alle zusammen von der Betrachtung
geradeswegs zur Tat übergehen. Aber gerade hier liegt nun freilich der
wunde Punkt.


                 In Europa sind wir bloß Landstreicher

Denn wie seid ihr eigentlich zur Tat übergegangen? Ihr habt doch schon
längst begonnen, schon vor langer, langer Zeit, aber was habt ihr denn
für die Allmenschheit, das heißt zur Verwirklichung eurer Idee getan?

Ihr begannt mit ziellosem Umherstreichen durch Europa, mit dem heftigen
Verlangen, euch in „Europäer“ zu verwandeln, wenn auch nur dem Anscheine
nach. Das ganze achtzehnte Jahrhundert hindurch taten wir ja nichts
anderes, als den Schein eines Europäertums annehmen. Wir zwangen uns
europäischen Geschmack auf, aßen sogar allerhand ekelhaftes gepfeffertes
Zeug nach europäischem Beispiel und bemühten uns krampfhaft, dabei das
Gesicht nicht zu verziehen: „Seht, was ich für ein Engländer bin, kann
nichts mehr ohne Paprika essen!“ Ihr glaubt vielleicht, daß ich euch
verspotten will? Fällt mir nicht ein. Ich verstehe nur zu gut, daß man
anders überhaupt nicht hätte anfangen können, „Europäer“ zu werden. Wir
mußten gerade mit der Verachtung des Eigenen beginnen, und wenn wir
ganze zwei Jahrhunderte auf diesem Punkt geblieben sind, uns weder
vorwärts noch rückwärts bewegt haben, so wird das wohl die uns von der
Natur bestimmte Frist gewesen sein. Allerdings, so ganz regungslos sind
wir doch nicht geblieben: unsere Verachtung für das Eigene wuchs immer
mehr, und besonders als wir anfingen, Europa etwas gründlicher zu
verstehen. In Europa übrigens verwirrte uns die schroffe Absonderung der
Nationen, die scharfe Zeichnung der Typen nationaler Charaktere nicht im
geringsten. Unser Erstes war ja, daß wir „alles Entgegengesetzte
abwarfen“ und den kosmopolitischen Typus des „Europäers“ annahmen, das
heißt also, daß wir gleich am Anfang schon das Gemeinsame, was sie alle
verbindet, herauszufinden verstanden, – und das ist sehr bezeichnend.
Mit der Zeit noch klüger geworden, hielten wir uns darauf unmittelbar an
die Zivilisation und glaubten sofort blind und kritiklos, daß in ihr
allein das „Gemeinsame“, das berufen ist, die Menschheit zu vereinen,
enthalten sei. Sogar die Europäer wunderten sich, wenn sie uns, die
Fremdlinge, sahen, über diesen unseren begeisterten Glauben, um so mehr,
als _sie_ damals schon anfingen diesen selben Glauben bei sich zu
verlieren. Begeistert empfingen wir Rousseau und Voltaire, freuten uns
innigst mit dem reisenden Karamsin[26] über die Zusammenrufung der
„Nationalstaaten“ im Jahre 1789, und wenn wir auch später, nach dem
ersten Viertel unseres Jahrhunderts, mit den fortgeschrittensten
Europäern in Verzweiflung gerieten über die untergegangenen Träume und
zerschlagenen Ideale, so verloren wir doch nicht unseren Glauben und
trösteten sogar noch die Europäer. Selbst die im Vaterlande „weißesten“
Russen wurden in Europa sofort „rot“ – gleichfalls ein außerordentlich
charakteristischer Zug. Darauf, schon in der Mitte dieses Jahrhunderts,
erachteten sich einige von uns bereits für würdig, zum französischen
Sozialismus überzutreten, und sie nahmen ihn ohne das geringste Bedenken
für die endgültige Lösung der allmenschlichen Vereinigung, also für die
Erreichung unserer ganzen Idee, die uns bis jetzt mit sich fortgerissen.
Auf diese Weise hielten wir für das realisierte Ziel das, was in
Wirklichkeit der größte Egoismus war, was den Gipfel der
Unmenschlichkeit, der ökonomischen Sinnlosigkeit und des politischen
Wirrwarrs, den Gipfel der Verleugnung aller menschlichen Natur, den
Gipfel der Vernichtung jeder menschlichen Freiheit ausmachte. Doch das,
wie gesagt, beunruhigte uns weiter nicht. Im Gegenteil: sahen wir
betrübtes Bedenken oder Nichtbegreifenkönnen mancher tiefen europäischen
Denker, so nannten wir sie ohne Bedenken dumm. Wir glaubten
widerspruchslos, und glauben ja auch jetzt noch, daß die positive
Wissenschaft durchaus fähig sei, die moralischen Grenzen zwischen den
Persönlichkeiten der einzelnen wie der Nationen zu bestimmen, – als ob
die Wissenschaft, selbst wenn ihr das möglich wäre, diese Geheimnisse
_vor_ der _Vollendung des Versuchs_, das heißt, vor der Vollendung aller
Schicksale des Menschen auf der Erde, entdecken könnte. Unsere
Gutsbesitzer verkauften ihre leibeigenen Bauern und fuhren nach Paris,
um dort sozialistische Blätter herauszugeben, und unsere Rudins[27]
starben auf den Barrikaden. Währenddessen hatten wir uns aber schon so
von unserer russischen Erde gelöst, daß wir jede Vorstellung davon
verloren, bis zu welchem Grade solch eine Lehre sich von der Seele des
russischen Volkes entfernt. Übrigens schätzten wir den russischen
Volkscharakter nicht nur nicht, sondern sprachen unserem Volk überhaupt
jeden Charakter ab. Wir vergaßen, an unser Volk auch nur zu denken, und
waren in unerschütterlicher Ruhe überzeugt – ohne überhaupt zu fragen –,
daß unser Volk sofort alles annehmen werde, worauf wir es hinweisen,
richtiger: was wir ihm befehlen würden. In dieser Hinsicht hat es bei
uns immer die komischsten Anekdoten über das Volk gegeben. Unsere
Allmenschen blieben im Verhältnis zu ihrem Volk durchaus Gutsherren und
Gutsbesitzer, und das sogar noch nach der Bauernreform.

Was aber haben wir damit erreicht? Wirklich sonderbare Ergebnisse: vor
allem werden wir von ganz Europa spöttisch angesehen. Auf die
allerklügsten Russen blickt man im Westen nur mit hochmütiger
Herablassung. Davor hat sie nicht einmal die Emigration gerettet, auch
die politische nicht. Um keinen Preis wollen uns die Europäer für
ihresgleichen anerkennen, für keine Opfer und auf keinen Fall! „_Grattez
le Russe_,“ sagen die Franzosen, „_et vous verrez le Tartare_,“ und so
ist es noch heute. Unser Barbarentum ist bei ihnen zum Sprichwort
geworden. Und je mehr wir ihnen zu Gefallen unsere Nationalität
verachteten, um so mehr verachteten sie wiederum uns. Wir scharwenzelten
vor ihnen, bekannten ihnen knechtisch unsere „europäischen“ Anschauungen
und Überzeugungen; sie aber hörten uns herablassend kaum an und meinten
gewöhnlich mit, nun ja, höflichem Lächeln, um uns schneller los zu
werden, wir hätten das bei ihnen „nicht ganz richtig verstanden“. Es
wundert sie, daß wir, die wir solche Tataren sind, auf keinerlei Art und
Weise Russen werden können. Wir jedoch haben es ihnen niemals erklären
können, daß wir nicht Russen, sondern Allmenschen sein wollen. Es ist
wahr, in der letzten Zeit scheint ihnen doch irgend etwas aufgegangen zu
sein: sie haben begriffen, daß wir etwas wollen, etwas, das für sie
furchtbar und gefährlich ist; sie sagen sich, daß es unserer viele gibt,
achtzig Millionen, daß wir alle europäischen Ideen kennen und verstehen,
während sie von unseren russischen Ideen überhaupt nichts wissen, und
daß sie, wenn sie auch etwas von ihnen wüßten, sie doch nicht verstehen
könnten; daß wir alle Sprachen sprechen, sie aber nur die ihrigen – nun,
und noch vieles andere scheint ihnen mit der Zeit halbwegs aufgegangen
zu sein und ihren Verdacht erweckt zu haben. Kurz, die Folge davon war,
daß sie uns die Feinde und zukünftigen Zerstörer der europäischen
Zivilisation nannten. So haben sie unser leidenschaftliches Ideal,
Allmenschen zu werden, verstanden!

Und doch können wir uns unmöglich von Europa lossagen. Europa ist uns
zum zweiten Vaterlande geworden – ich selbst bin der erste, der sich
leidenschaftlich zu Europa bekennt. Europa ist uns allen _fast_ ebenso
teuer wie Rußland. In ihm wohnt Japhets Stamm, und unsere Idee ist: die
Vereinigung aller Nationen dieses Stammes – und sogar noch weiter, viel
weiter, bis zu Sem und Ham. Was sollen wir da nun tun?

Als erstes und vor allen Dingen – Russen werden. Ist die Allmenschheit
die russische Nationalidee, so muß vor allem ein jeder von uns erst
Russe werden, das bedeutet aber so viel wie: „er selbst“. Dann wird sich
vom ersten Schritt an alles verändern. Russe werden, heißt aufhören,
sein eigenes Volk zu verachten. Sobald der Europäer sieht, daß wir unser
Volk und unsere Nationalität achten, wird er sofort auch uns achten. In
der Tat, je stärker und selbständiger wir uns in unserem nationalen
Geiste entwickeln würden, desto stärkeren und tieferen Widerhall dürften
wir im Europäer finden und ihm sofort verständlicher werden. Dann würde
man uns auch nicht mehr hochmütig loswerden wollen, sondern würde uns
gern zuhören. Auch äußerlich würden wir dann anders werden. Sind wir
erst wir selbst geworden, so werden wir auch endlich Menschengestalt
annehmen, und nicht wie bisher nur Affengestalt haben. Wir werden wie
freie Wesen, nicht wie Sklaven oder Diener sein; und man wird uns dann
für Menschen halten, nicht für internationale Landstreicher, nicht für
die Elenden des Europäismus, Liberalismus und Sozialismus. Auch reden
werden wir mit ihnen klüger als jetzt; denn in unserem Volke und seinem
Geiste können wir neue Worte finden, die den Europäern bestimmt
verständlicher sein werden. Und wir selbst werden dann einsehen, daß
vieles von dem, was wir an unserem Volke verachtet haben, – nicht
Finsternis, sondern Licht ist, nicht Dummheit, sondern im Gegenteil –
Geist. Und haben wir erst das begriffen, dann werden wir Europa jenes
Wort sagen, das man dort noch niemals gehört hat. Dann werden wir uns
überzeugen, daß das wirkliche soziale Wort kein anderes Volk als unser
Volk in sich trügt; daß in seiner Idee, in seinem Geiste das lebendige
Bedürfnis nach der Allvereinigung der Menschheit liegt, nach einer
Vereinigung, die volle Achtung für die Persönlichkeit jeder einzelnen
Nation und für ihre Erhaltung, für die Erhaltung der Freiheit der
Menschen in sich schließt, und die nur den Hinweis darauf enthält, worin
diese Freiheit besteht: in der Vereinigung durch Liebe, _sichergestellt_
bereits durch die Tat, durch das lebendige Beispiel, durch das Bedürfnis
nach der wahrhaften Brüderlichkeit in der Wirklichkeit, – nicht aber
durch die Guillotine, nicht durch Millionen gefällter Köpfe ...

Hm ... habe ich etwa wirklich jemanden überzeugen wollen? Das war ja nur
ein Scherz. Doch – schwach ist nun einmal der Mensch: vielleicht liest
es einer von den Knaben ... einer von der jungen Generation ...


               Eine der wichtigsten gegenwärtigen Fragen


                        Was sollen wir denn tun?

... Ich habe mir eigentlich vorgenommen, niemals über unsere
Belletristik im rein kritischen Sinne zu schreiben, außer wenn es einmal
not tun sollte oder, sagen wir, bei einer besonderen „Veranlassung“.
Diese Veranlassung hat sich nun[28] ganz plötzlich gefunden: ich bin vor
ungefähr einem Monat auf eine dermaßen ernste und charakteristische
Stelle in unserer modernen Literatur gestoßen, daß ich sie sogar mit
Verwunderung gelesen habe. Der Schriftsteller Graf Leo Tolstoi – ein
Künstler im wahrsten Sinne des Wortes und vorzüglicher Erzähler – hat in
seinem Roman „Anna Karenina“ alles, was es Wichtiges in unseren
gegenwärtigen russischen politischen und sozialen Fragen gibt, in einen
Punkt zusammengefaßt. Und das Bemerkenswerteste: er hat es getan mit
allen charakteristischen Nüancen unserer gegenwärtigen Zeit, geradeso,
wie diese Frage sich uns heute stellt und – unbeantwortet bleibt ...

Über den Roman selbst will ich nur das Notwendigste sagen. Wie wir alle,
las auch ich vor langer Zeit den Roman im „Russischen Boten“. Zuerst
gefiel er mir sehr; dann, als Ganzes, weniger, wenn auch die
Einzelheiten mich noch sehr interessierten. Es schien mir immer, daß ich
alles schon einmal irgendwo gelesen hatte, und zwar in „Kindheit und
Jugend“ und in „Krieg und Frieden“ desselben Grafen Tolstoi, und – daß
es dort frischer gewesen wäre. Immer dieselbe Geschichte einer
russischen Gutsbesitzersfamilie, wenn auch das jeweilige Sujet natürlich
ein anderes ist. Personen wie Wronski, zum Beispiel, – einer der Helden
des Romans –, die unter sich von nichts anderem als von Pferden
sprechen, ja, nicht einmal _fähig_ sind, von anderem als von Pferden zu
sprechen, waren natürlich interessant genug, um einmal ihren Typ kennen
zu lernen, doch sonst furchtbar einförmig und nur zu einer bestimmten
Menschen- und Gesellschaftsklasse gehörig. Es schien, daß die Liebe
dieses „Hengstes im Waffenrock“, wie ihn einer meiner Freunde nennt,
überhaupt nur in ironischem Tone geschildert werden könnte. Als aber der
Verfasser von der inneren Welt seines Helden nicht mehr ironisch,
sondern im Ernst zu erzählen begann, da erschien mir das sogar
langweilig. Doch plötzlich wurden alle meine Vorurteile verscheucht: es
kam die Sterbeszene der Heldin (später wurde sie wieder gesund), und ich
begriff die eigentlichen Ziele des Verfassers. Mitten in diesem flachen
und brutalen Leben tauchte die ewige, große Lebenswahrheit auf und
erhellte alles mit einem Schlages. Diese kleinlichen, leeren, verlogenen
Leute wurden plötzlich zu aufrichtigen und wahrhaften „Menschen“, die
wirklich wert waren dieses Namens – wurden es durch die natürliche Kraft
des Naturgesetzes, den Tod. Die Schale fiel ab, und es erschien einzig
die wahre Gestalt. Die Letzten wurden die Ersten, und die Ersten
(Wronski) wurden plötzlich die Letzten, verloren ihre ganze Aureole und
erniedrigten sich tief; doch wurden sie dadurch unvergleichlich besser,
würdiger und wahrer, als sie als Erste gewesen waren. Haß und Lüge
sprachen in Worten der Verzeihung und Liebe. An Stelle der stumpfen,
weltlichen Begriffe trat reine Nächstenliebe. Alle verziehen und gaben
den anderen recht. Die Sonderstellung und der Kastengeist verschwanden,
und diese „Papiermenschen“ wurden plötzlich wirklichen Menschen ähnlich!
Es gab keine Schuldigen: jeder beschuldigte sich selbst, und somit waren
sie alle gerechtfertigt. Der Leser fühlt, daß es eine Lebenswahrheit
gibt, die allerwirklichste und die allerunvermeidlichste, an die man
glauben muß, und daß unser ganzes Leben und alle unsere Erregungen, wie
die flachsten und schädlichsten, so auch die, welche wir oft für die
höchsten halten, meistens nur kleinliche, phantastische Eitelkeiten
sind, die vor dem Moment der Lebenswahrheit fallen und hinschwinden,
sogar ohne sich zu verteidigen. Die Hauptsache war der Hinweis, daß
dieses Moment wirklich ist, wenn es auch selten in seiner ganzen,
erhellenden Klarheit und in manchem Leben vielleicht überhaupt nicht
erscheint. Dieses Moment ist vom Dichter gefunden und uns in seiner
ganzen furchtbaren Wahrheit gezeigt. Er hat bewiesen, daß diese Wahrheit
wirklich vorhanden ist, nicht nur auf Treu und Glauben, nicht nur im
Ideal, sondern sichtbar, vor unserem Auge. Gerade dieses, glaube ich,
wollte uns der Dichter beweisen, als er sein Werk begann. Den russischen
Leser an diese ewige Wahrheit zu erinnern, tat ja nur zu sehr not: wie
viele hatten sie schon vergessen! Mit diesem Erinnern hat der Dichter
eine gute Tat vollbracht, ganz abgesehen davon, daß er sie als ein
Künstler von ungewöhnlicher Größe ausgeführt hat.

Darauf zog sich der Roman wieder hin, und dann plötzlich fand ich zu
meinem Erstaunen eine Szene, die unsere „brennende Tagesfrage“ enthielt,
eine Szene, die vor allen Dingen nicht etwa tendenziös hineingesetzt
war, sondern die sich gerade aus dem ganzen künstlerischen Wesen des
Romans von selbst ergab. Nichtsdestoweniger war ich überrascht und nicht
wenig erstaunt: solch eine echte „Tagesfrage“ hatte ich denn doch nicht
erwartet. Aus irgendeinem Grunde hatte ich nicht geglaubt, daß der Autor
sich entschließen werde, seine Helden in ihrer Entwicklung bis zu
solchen Extremen zu bringen. In der Tat: in diesen Extremen des
Ergebnisses liegt ja gerade der Sinn der Wirklichkeit, und ohne den
würde der Roman von etwas unbestimmter Art sein, die nicht entfernt
weder den gegenwärtigen noch den wichtigsten russischen Interessen
entspricht: es würde irgendein Winkel des Lebens dargestellt sein, mit
beabsichtigter Ignorierung des Hauptsächlichsten und Aufregendsten in
diesem selben Leben. Übrigens, glaube ich, verfalle ich hier in Kritik.
Das aber ist, wie gesagt, nicht meine Absicht. Ich wollte nur auf eine
Szene hinweisen, in der zwei Personen sich von einer Seite zeigen, von
welcher sie für uns jetzt am charakteristischsten sind. Jener Typ
Menschen, zu dem diese beiden gehören, ist vom Autor in den für uns
interessantesten Gesichtskreis gestellt – ist in seiner gegenwärtigen
sozialen Bedeutung erfaßt worden.

Beide sind Edelleute und echte Gutsbesitzer, und beide leben sie jetzt
in der Zeit nach der Bauernreform. Es ist noch nicht lange her, da waren
sie Herren leibeigener Gutsbauern. Und nun stellt sich die Frage: was
bleibt von diesen Edelleuten nach der Bauernreform noch übrig? Das ist
die Frage, die der Verfasser wenigstens teilweise zu beantworten
versucht hat. Der eine von ihnen, Stiwa Oblonski, ist Egoist, feiner
Epikureer, wohnt in Moskau und ist dort Mitglied des „Englischen Klubs“.
Solche Leute hält man gewöhnlich für unschuldige und liebenswürdige
Bonvivants, für Lebeleute, die niemanden stören, für geistreiche und
bloß zu ihrem Vergnügen lebende Menschen. Meistens haben sie eine
zahlreiche Familie; mit der Frau und den Kindern gehen sie freundlich
um, doch denken sie wenig an sie. Besonders gefallen ihnen leichte
Frauenzimmer, versteht sich – von der anständigen Sorte. Sie sind wenig
gebildet, doch lieben sie alles Schöne, Elegante und die Kunst
natürlich, und ganz besonders gern hören sie sich selbst reden und die
Unterhaltung beherrschen.

Als die Bauernreform durchgeführt wurde, begriff Stiwa Oblonski sofort
die ganze Sachlage: er rechnete nach und überlegte, daß ihm immerhin
noch ein gewisses Einkommen verblieb, somit also kein Grund vorhanden
war, sein Leben zu verändern, und im übrigen: – _après moi le déluge_.
Sich mit Gedanken an die Zukunft seiner Frau und Kinder zu beunruhigen,
das fiel ihm im Traume nicht ein. Die Reste seines Vermögens und seine
Verbindungen bewahrten ihn vor dem Leben eines Hochstaplers; würden aber
seine „Einnahmen“ durch die Reform vollständig verloren gegangen sein,
und hätte er nicht länger, ohne selbst etwas zu tun, seine Einkünfte
einkassieren können, so würde er vielleicht auch ein raffinierter Dieb
geworden sein, selbstverständlich einer, der mit allen Anstrengungen des
Verstandes, zuweilen sogar eines sehr scharfen Verstandes, versuchte,
wenigstens ein möglichst anständiger und vornehmer Dieb zu bleiben.
Früher kam es natürlich vor, daß er, um eine Kartenschuld oder eine
Geliebte zu bezahlen, seine Leibeigenen als Soldaten verkaufte; doch
solche Erinnerungen peinigten ihn nie, ja, er vergaß sie einfach. Ist er
auch Aristokrat, so hat er doch selber seinen Adel niemals geschätzt.
Nach der Aufhebung der Leibeigenschaft aber hat er für ihn überhaupt
aufgehört. Für ihn gab’s nur den „Zufallsmenschen“, dann den Beamten von
einem gewissen Range ab und ferner den Reichen. Der Eisenbahnaktionär
und der Bankier wurden eine Macht für ihn, und alsbald suchte er ihre
Bekanntschaft und Freundschaft.

Das Gespräch entspinnt sich aus dem Vorwurf, den Lewin, sein Verwandter
(gleichfalls ein Gutsbesitzer, doch der vollkommen entgegengesetzte Typ:
der Herr, der auf seinem Gute wohnt und es sogar selbst bewirtschaftet)
Oblonski macht, weil dieser zu den „Eisenbahnleuten“ fährt, zu ihren
Diners und Festen, zu zweideutigen, nach Lewins Meinung, schädlichen und
schändlichen Menschen. Oblonski widerspricht ihm scharf. Überhaupt hat
sich ihr Verhältnis zueinander seit der Verheiratung Lewins mit
Oblonskis Schwägerin etwas zugespitzt. Hinzu kommt noch, daß in unserem
Jahrhundert der Spitzbube, der den Ehrenmann widerlegt, diesem immer
„über“ ist; denn er hat den Anschein der Würde, die in der gesunden
Vernunft liegt, während der Ehrenmann, der leicht einem Idealisten
gleicht, gewöhnlich den Anschein eines Narren hat. Die beiden Jäger sind
in einer Bauernscheune, wo sie im Heu übernachten. Oblonski erklärt, daß
es unsinnig wäre, die „Eisenbahnleute“, ihre Intrigen, ihren schnellen
Verdienst, das Konzessionen Erbitten und Wiederverkaufen, zu verachten;
daß sie ebensolche Leute seien wie die anderen, Leute, die mit Mühe und
Verstand arbeiteten, ganz so wie alle; und schließlich sei das Ergebnis
ihrer Arbeit ein viel bedeutenderes: sie geben uns die Eisenbahn.

   „Aber jeder Erwerb, der zu der geleisteten Arbeit in keinem
   Verhältnis steht, ist unehrlich,“ sagte Lewin darauf.

   „Ja, wer bestimmt denn das Verhältnis?“ fuhr Oblonski fort ... „Du
   hast die Grenze zwischen der ehrlichen und unehrlichen
   Arbeitsleistung nicht festgesetzt. Daß ich ein größeres Gehalt
   beziehe als mein Sekretär, obgleich er die Sache viel besser
   versteht, als ich, – das ist also unehrlich?“

   „Ich weiß nicht ...“

   „Nun, dann werde ich es dir sagen: daß du von deinem Gute
   überflüssige, sagen wir, fünf Tausend erhältst, dieser Bauer aber,
   wie er auch arbeiten mag, nicht mehr als fünfzig Rubel bekommt, ist
   genau so unehrlich wie das, daß ich ein größeres Gehalt als mein
   Sekretär beziehe ...“

                     - - - - - - - - - - - - - - - - -

   „Nein, erlaube,“ unterbrach ihn Lewin. „Du sagst, es sei ungerecht,
   daß ich fünf Tausend bekomme und dieser Bauer nur fünfzig: das ist
   wahr. Das ist ungerecht, und ich fühle es auch, aber ...“

   „Ja, du fühlst es, aber du gibst ihm nicht dein Gut,“ sagte
   Oblonski, als ob er Lewin absichtlich reizen wollte.

                     - - - - - - - - - - - - - - - - -

   „Ich gebe es nicht, weil das niemand von mir verlangt, und selbst
   wenn ich’s wollte, so darf ich es nicht fortgeben ... und es ist ja
   auch niemand da, dem ich’s geben könnte.“

   „Gib es diesem Bauer, er wird es nicht ablehnen.“

   „Ja, aber wie geb’ ich es ihm denn? Soll ich etwa zu ihm gehen und
   einen Kaufkontrakt mit ihm abschließen?“

   „Das weiß ich nicht. Wenn du jedoch überzeugt bist, daß du kein
   Recht hast ...“

   „Ich bin durchaus nicht überzeugt! Im Gegenteil, ich fühle, daß ich
   nicht das Recht habe, mein Gut fortzugeben, daß ich Pflichten meinem
   Lande und meiner Familie gegenüber habe!“

   „Nein, erlaube; wenn du aber diese Ungleichheit ungerecht findest,
   warum handelst du dann nicht so ...“

   „Ich handle doch so, aber nur negativ, in dem Sinne, daß ich mich
   nicht bemühen werde, diesen Unterschied, der zwischen mir und ihm
   besteht, noch zu vergrößern.“

   „Nein, verzeih, aber das ist paradox ...“

                     - - - - - - - - - - - - - - - - -

   „Also, mein Freund: entweder anerkennen, daß die gegenwärtige
   Einteilung der Gesellschaft gerecht ist, und dann seine Rechte
   verteidigen, oder gestehen, daß man ungerechte Vorzüge genießt, _wie
   zum Beispiel ich es tue, und sich ihrer mit Vergnügen
   weiterbedienen_.“

   „Nein, wenn das ungerecht wäre, so könntest du dich dieser Vorteile
   nicht mit Vergnügen bedienen, _wenigstens ich könnte es nicht. Für
   mich ist die Hauptsache: zu fühlen, daß ich nicht schuldig bin._“


                        Die brennende Tagesfrage

Man wird mir zugeben müssen, daß dieses Gespräch unsere „brennende
Tagesfrage“ aufwirft und sogar alles wiedergibt, was die letztere in
sich schließt. Und wie viel bezeichnende, rein russische Züge! Erstens:
vor vierzig Jahren fingen diese Gedanken kaum an sich in Europa zu
verbreiten, wohl nicht vielen waren Saint-Simon und Fourier – die ersten
„idealen“ Vertreter dieser Ideen – bekannt; bei uns aber, bei uns wußten
vielleicht nur ein halbes Hundert Leute von dieser neuen Bewegung im
Westen. Und heute streiten über diese „Fragen“ schon Gutsbesitzer auf
der Jagd, auf dem Nachtlager in einer Bauernscheune, und streiten sogar
in der charakteristischsten und kompetentesten Weise, so daß wenigstens
die negative Seite der Frage von ihnen schon entschieden und
unwiderruflich festgesetzt wird. Es sind allerdings Gutsbesitzer aus der
hohen Gesellschaft, die sich im Englischen Klub ernsthaft zu unterhalten
pflegen, die ihre Zeitungen lesen, alle Prozesse aus den Blättern und
noch anderen Quellen kennen. Doch nichtsdestoweniger bleibt schon allein
die Tatsache, daß so ein idealer Unsinn als das alltäglichste Gespräch
solcher Gesellschaftsmenschen anerkannt wird, wie die Oblonskis und
Lewins, die alles andere, nur keine Professoren oder Spezialisten sind,
– diese Tatsache, sage ich, ist eines der charakteristischsten Merkmale
des gegenwärtigen Zustandes der russischen Geister. Der zweite
charakteristische, gleichfalls gut beobachtete Zug in diesem Gespräch
ist, daß über die Gerechtigkeit dieser neuen Ideen ein Mensch urteilt,
der für sie, d. h. für das Glück des Proletariers, des Armen, selbst
nicht einen Pfennig geben, sondern ihm bei Gelegenheit noch das Letzte
abrupfen würde. Doch mit leichtem Herzen und der Heiterkeit
eines Witzbolds unterschreibt er sofort den Krach der ganzen
Menschheitsgeschichte, erklärt ihre jetzige Verfassung für die Krone des
Unsinns und sagt: „Ich bin damit vollkommen einverstanden.“ Wirklich
auffallend, wie diese Oblonskis immer als die ersten mit allem
einverstanden sind! Mit einem Satz verurteilt er die ganze christliche
Ordnung, die Persönlichkeit, die Familie – oh, das macht ihm weiter
nichts aus! Wir Russen haben keine Schulung in solchen Dingen; diese
Herren aber, die das mit voller Schamlosigkeit eingestehen, die selbst
erklären, daß auch sie erst seit gestern darüber nachdenken, entscheiden
trotzdem eine Frage von solcher Bedeutung ohne das geringste Bedenken.
Und hier haben wir gleich den dritten charakteristischen Zug, – dieser
selbe Herr sagt nämlich unumwunden: „Also, mein Freund: entweder
anerkennen, daß die gegenwärtige Einteilung der menschlichen
Gesellschaft gerecht ist, und dann seine Rechte verteidigen, oder
gestehen, _daß man ungerechte Vorzüge genießt, wie z. B. ich es tue, und
sich ihrer mit Vergnügen weiterbedienen_.“ D. h. genau genommen erklärt
er offen, indem er seine Meinung über ganz Rußland ausspricht – und es
verurteilt – und somit auch über seine Familie, über die Zukunft seiner
Kinder, daß dies alles ihn überhaupt nichts angeht: „Ich gebe zu, daß
ich ein Spitzbube bin, bleibe aber Spitzbube zu meinem Vergnügen. _Et
après moi le déluge._“ Er ist ja nur deswegen so ruhig, weil er noch
sein Vermögen hat; verlöre er es aber – warum sollte er da nicht
Spitzbube werden? – das wäre doch der geradeste Weg! Und gerade dieser
Staatsbürger, dieser Familienvater, dieser russische Mensch – welch ein
echt russischer Charakter! Vielleicht findet man, daß er doch immerhin
eine Ausnahme sei? Was kann er denn für eine Ausnahme sein!? Bitte sich
doch nur zu erinnern, wieviel Zynismus wir in den letzten zwanzig Jahren
gesehen haben, welch eine Leichtigkeit der Wendungen und Veränderungen,
welch einen Mangel an jeder tieferen Überzeugung und welch eine
Schnelligkeit in der Aneignung der ersten besten fremden Anschauung,
versteht sich, um sie am nächsten Tage für zwei Kopeken
wiederzuverkaufen! Nicht der geringste moralische Grund bei uns, außer –
_après nous le déluge_.

Das Interessanteste aber ist, daß dicht neben diesem weit verbreiteten,
herrschenden Typ ein ganz anderer steht – der Typ des russischen
Edelmannes und Gutsbesitzers, der ein ausgeprägter Gegensatz jenes
ersten ist. Ich meine den Lewin. Und solcher Lewins gibt es in Rußland
Tausende, fast ebensoviel wie Oblonskis. Ich spreche hier nicht von
seinem blonden Haar, nicht von seiner großen starken Gestalt, die der
Künstler ihm im Roman verliehen hat; ich spreche nur von einem Zug
seines Wesens, der dafür aber der auffallendste und bedeutungsvollste
ist, und ich behaupte, daß dieser Zug sich bei uns in einer solchen
Verbreitung findet, daß es einen fast wundernehmen kann – inmitten
unseres Zynismus, unserer kalmückischen Stellung zur Arbeit! Seit
einiger Zeit tut sich dieser Zug allüberall bei uns kund; die Menschen
mit diesem Zug streben krampfhaft, fast krankhaft nach Antworten auf
ihre Fragen; sie hoffen und glauben leidenschaftlich, obgleich sie
beinahe noch nichts zu entscheiden verstehen. Dieser Zug ist vollständig
in der Antwort Lewins ausgedrückt:

„Nein, wenn das ungerecht wäre, so könntest du dich dieser Vorteile
nicht mit Vergnügen bedienen, _wenigstens ich könnte es nicht. Für mich
ist die Hauptsache: zu fühlen, daß ich nicht schuldig bin._“

Und tatsächlich beruhigt er sich nicht eher, als bis er bei sich
entschieden hat, ob er schuldig ist oder nicht. Und bis zu welchem Grade
steigert sich vorher seine Unruhe? Er geht bis zum Äußersten, und wenn
es nötig ist, wenn es nur nötig ist, wenn er sich nur selbst beweist,
daß es nötig ist, so wird er – im Gegensatz zu Oblonski, der da sagt:
„Wenn auch als Spitzbube, so fahre ich doch fort, zu leben, zu meinem
Vergnügen“ – so wird er vielleicht zu einem zweiten „Wlas“[29] werden,
der in einem Anfall des Mitleids und der Angst sein Hab und Gut
verschenkte und für den Bau eines Gotteshauses sammeln ging. Oder wenn
er nicht für ein Gotteshaus sammeln geht, so wird er doch etwas
Ähnliches tun und mit demselben Eifer. Ich beeile mich, zu wiederholen,
daß ein Zug hier ganz besonders bemerkenswert ist: das ist diese Menge,
diese ganz ungewöhnliche Menge solcher neuen Menschen, solcher neuen
Wurzeln russischer Menschen, die der _Wahrheit bedürfen_, der Wahrheit
ohne konventionelle Lüge, und die, um diese Wahrheit zu erreichen,
alles, aber auch alles fortgeben. Diese Menschen tauchen gleichfalls
seit den letzten zwanzig Jahren bei uns auf, und mit jedem Jahr werden
ihrer mehr. Aber man hat sie auch schon früher, auch vor Peter,
überhaupt immer schon vorausahnen können. Das ist das anbrechende
zukünftige Rußland der ehrlichen Menschen, die einzig der Wahrheit
bedürfen! Oh, sie sind auch furchtbar unduldsam: aus Unerfahrenheit
verwerfen sie jeden Kompromiß, jede Erklärung sogar. Nur auf eines
möchte ich noch mit allem Nachdruck hinweisen, – daß es ein wahrhaftes
Gefühl ist, das sie treibt. Einer ihrer charakteristischsten Züge
besteht darin, daß sie unter sich auffallend wenig übereinstimmen und
vorläufig noch allen möglichen Parteien und Gruppen angehören: da gibt
es Aristokraten und Proletariers, Gläubige wie Ungläubige, Reiche und
Arme, Gelehrte und Laien, Greise und Backfische, Slawophile und Westler.
Ja, diese Uneinigkeit, diese Verschiedenheit in den Überzeugungen ist
sogar beispiellos, doch ihr Streben nach Ehrlichkeit und Wahrheit ist
unerschütterlich, unablenkbar, und für das Wort der Wahrheit gibt jeder
von ihnen sein Leben, Hab und Gut ... Vielleicht wird man behaupten,
dieses sei bloß wieder Phantasie von mir, es gäbe bei uns gar nicht so
viel Ehrlichkeit und solch ein _Dürsten nach Ehrlichkeit_. Ich aber
bleibe dabei, daß es da ist, dicht neben der schrecklichsten
Sittenverderbnis, daß ich sie sehe und fühle, diese emporsteigenden
Menschen, denen die Zukunft Rußlands gehört, daß man blind sein muß, um
sie nicht zu sehen, und daß der Künstler, der diesen abgelebten Zyniker
Oblonski und diesen neuen Menschen Lewin gegeneinander hält, gleichsam
diese aufgegebene, sittenlose, furchtbar vielköpfige russische
Gesellschaft, die sich durch ihren eigenen Urteilsspruch bereits selber
verurteilt hat, gegen die Gesellschaft der neuen Wahrheit hält, die
Gesellschaft, die in ihrem Herzen die Überzeugung, sie sei schuldig,
nicht ertragen kann, und die alles fortgibt, um ihr Herz von der Schuld
zu befreien. Auffallend ist hierbei, daß unsere Gesellschaft sich fast
nur in diese beiden Arten teilt – dermaßen groß sind sie und dermaßen
umfassen sie das ganze russische Leben – versteht sich, wenn man von der
Masse der völlig Gleichgültigen absieht. Doch der charakteristischste,
der russischste Zug dieser „brennenden Tagesfrage“, auf die der
Verfasser hinweist, besteht darin, daß sein neuer Mensch, sein Lewin,
_nicht versteht_, die ihn beunruhigende Frage zu beantworten. Das heißt,
in seinem Herzen hat er sie beinahe beantwortet – nicht zu seinem
Vorteil, denn er _argwöhnt_, daß er _schuldig_ ist: aber etwas Festes,
Gerades und Reales in seiner ganzen Natur lehnt sich dagegen auf und
hält ihn vorläufig noch von der letzten Entscheidung ab. Oblonski
dagegen, dem es völlig einerlei ist, ob er schuldig oder unschuldig ist,
entscheidet die Frage ohne das geringste Bedenken, vielmehr kann es ihm
gerade so recht sein: „Wenn also alles blödsinnig ist und es nichts
Heiliges mehr gibt, so kann man ja machen, was man will, für mich wird
die Zeit noch ausreichen, – das Jüngste Gericht kommt ja noch nicht
gleich.“ Bemerkenswert ist dabei, daß gerade die schwächste Seite der
Frage Lewin verwirrt und vor den Kopf stößt – das ist so echt russisch
und so richtig vom Verfasser beobachtet. Die Sache ist nämlich die, daß
alle diese Gedanken und Fragen in Rußland – einzig eine Theorie sind:
alle sind sie aus anderen Ländern mit anderen Verhältnissen zu uns
eingeführt, aus Europa natürlich, wo sie schon längst ihre historische
und praktische Seite haben. Unsere beiden Edelleute sind Europäer, und
es ist nicht leicht, sich von der europäischen Autorität zu befreien:
auch hier muß man Europa den Tribut zahlen. Und da verwechselt nun
Lewin, dieses russische Herz, die einzig mögliche rein russische Lösung
der Frage mit ihren europäischen Bedingungen: er verwechselt die
christliche Lösung mit dem historischen „Recht“.

Stellen wir uns zur Übersicht folgendes vor:

Lewin steht und denkt an sein Gespräch mit Oblonski und wünscht in
seiner ehrlichen Seele qualvoll, das ihn verwirrende Problem zu lösen.

„Ja,“ sagt er sich, halb entscheidend, „ja, wenn man so bedenkt, weshalb
können denn wir, wie Weslowski vorhin sagte, essen, trinken, auf die
Jagd gehen und nichts tun, während der Arme immer und ewig arbeiten muß?
Ja, Oblonski hat recht, ich _muß_ mein Gut unter den Armen verteilen und
für sie arbeiten gehen.“

Steht da neben Lewin der Arme und spricht:

„Ja, du mußt das tun, es ist deine Pflicht, den Armen dein Gut zu geben
und für uns zu arbeiten.“

So stellt sich denn heraus, daß Lewin vollkommen im Recht ist, der
„Arme“ aber im Unrecht, natürlich wenn man die Sache sozusagen im
höheren Sinne entscheidet. Aber darin liegt ja der ganze Unterschied der
Auffassung dieses Problems. Denn seine moralische Lösung darf man nicht
mit seiner historischen Lösung verwechseln; sonst gibt es eine heillose
Konfusion, – ähnlich der, die sich auch jetzt noch in theoretischen
russischen Köpfen fortsetzt, – in den Köpfen der Nichtswürdigen, gleich
Oblonski, wie in den Köpfen derer, die reinen Herzens sind, gleich
Lewin. In Europa haben das Leben und die Praxis schon die Frage gestellt
– wenn auch absurd im Ideal ihres Schlusses, so doch immerhin real im
Verlauf ihrer Entwicklung, und ohne zwei heterogene Auffassungen, die
moralische und die historische, zu verwechseln, soweit dies überhaupt
möglich ist. Vielleicht wird eine kurze Erklärung dieses Gedankens nicht
überflüssig sein.


                        Die Tagesfrage in Europa

In Europa gab es einmal einen Feudalismus und gab es Ritter. Aber in
reichlich tausend Jahren erstarkte das Bürgertum, nahm schließlich den
Kampf mit den Rittern auf, besiegte sie und – setzte sich an deren
Stelle. „_Ôte-toi de là que je m’y mette._“ Indem nun die Bourgeoisie
den Platz ihrer früheren Herren einnahm, umging sie vollständig das
Volk, das Proletariat, und da sie dasselbe nicht als Bruder anerkannte,
machte sie es zu ihrer Arbeitskraft, indem sie dadurch sich zum
Wohlstand und ihm zu seinem täglichen Stück Brot verhalf. Unser
russischer Oblonski entscheidet bei sich, daß er im Unrecht ist, will
aber bewußt ein Nichtswürdiger bleiben, denn so hat er ein angenehmes
Leben. Der ausländische Oblonski ist anderer Meinung als der unsrige: er
hält sich für durchaus im Recht und ist selbstverständlich in seiner Art
logischer; denn nach seiner Ansicht kann hierbei überhaupt nicht von
_Recht_, sondern nur von „_Geschichte_“, von historischer Entwicklung
der Dinge die Rede sein. Er nimmt den Platz des Ritters ein, weil er den
Ritter mit roher Kraft besiegt hat, und er weiß nur zu gut, daß der
Proletarier, der während seines Kampfes mit dem Ritter noch schwach war,
leicht erstarken kann, ja, jetzt sogar schon mit jedem Tage stärker
wird. Und er sagt sich, daß dieser ihn dann, wenn er ganz stark
geworden, ebenso vom Platz verdrängen wird, wie er einst den Ritter
verdrängt hat, und ihm ganz ebenso sagen wird: „_Ôte-toi de là que je
m’y mette._“ Wo ist denn hier „Recht“, hier handelt es sich doch nur um
„Geschichte“! Oh, der Bourgeois würde zu einem Kompromiß gern bereit
sein, würde sich gern irgendwie mit dem Feinde vertragen, – und er hat
es ja auch schon versucht. Da er aber vorzüglich errät, ja, und auch die
Erfahrung ihn gelehrt hat, daß der Feind nichts weniger als geneigt ist,
sich mit ihm zu vertragen, sich in nichts teilen, sondern _alles_ haben
will, und daß außerdem Abtretungen seinerseits ihn, den Bourgeois, nur
schwächen würden, so hat er sich also entschlossen, _nichts_ abzutreten
und sich zum Kampf vorzubereiten. Diese Stellung ist vielleicht
hoffnungslos, doch ist es eine Eigenschaft der menschlichen Natur, sich
vor dem Kampf Mut zuzusprechen. So verzagt denn auch der Bourgeois
nicht, sondern verstärkt und verschanzt sich immer mehr, legt sich mit
allen Mitteln ins Zeug und strengt sich mit aller Kraft an – solange
noch Kraft vorhanden ist – und bemüht sich, den Gegner zu schwächen, wo
er nur kann ... und das ist alles, was er vorläufig tut.

So steht die Sache heute in Europa. Allerdings, früher, vor nicht langer
Zeit sogar, gab es auch dort eine _moralische_ Auffassung der Frage, es
gab Fourieristen und Cabetisten, es gab Kongresse, Diskussionen und
Debatten über verschiedene äußerst feine, scharfsinnige Fragen. Jetzt
jedoch haben die Führer des Proletariats das alles bis zu gelegenerer
Zeit aufgeschoben. Sie wollen geradeswegs zum Kampf herausfordern; sie
organisieren eine wahre Armee, gründen Vereine, gründen Kassen und sind
von ihrem Sieg fest überzeugt: „Und dann, nach dem Siege, wird sich
alles von selbst praktisch ergeben, obgleich sehr leicht möglich ist,
daß es erst nach Strömen vergossenen Blutes dazu kommen wird.“ Der
Bourgeois begreift, daß die Führer der Proletarier diese einfach durch
die in Aussicht stehende Plünderung anlocken, und daß es sich folglich
nicht lohnt, noch die moralische Seite der Sache hervorzuheben.
Einstweilen aber gibt es auch unter den jetzigen Führern zuweilen noch
solche, die das moralische Recht der Armen predigen. Die höheren Führer
lassen diese Redner eigentlich nur zur „Verschönerung“ zu, um die Sache
etwas „auszuschmücken“ und ihr den Anschein einer höheren Gerechtigkeit
zu geben. Von diesen „moralischen“ Sozialisten sind viele nur
Intriganten, viele aber auch echte Idealisten. Sie erklären offen, daß
sie für sich nichts wollen und nur für die Menschheit arbeiten, nur nach
einer neuen Einrichtung der Dinge streben, um die Menschheit glücklicher
zu machen. Doch hier empfängt sie der Bourgeois schon auf ziemlich
festem Boden und hält ihnen sofort vor, daß sie ihn zwingen wollen, der
Bruder des Proletariers zu werden und mit ihm sein Hab und Gut zu
teilen. Abgesehen davon, daß dieses der Wahrheit ziemlich ähnlich sieht,
antworten ihnen die Führer, sie hielten ihn, den Bourgeois, überhaupt
nicht für fähig, dem Volke ein Bruder zu werden, und darum würden sie
einfach Gewalt anwenden, ihn aber von vornherein aus jeglicher
„Brüderschaft“ ausschließen. „Die Brüderschaft,“ sagen sie, „wird sich
später bilden, aus den Proletariern, ihr aber, – ihr seid hundert
Millionen zum Tode verurteilter Köpfe und weiter nichts! Es ist aus mit
euch, zum Glücke der Menschheit!“ Andere Führer sagen heute schon ganz
offen, sie brauchten keine Brüderschaft, das Christentum sei Faselei und
die zukünftige Menschheit werde sich nur auf wissenschaftlichen
Grundlagen aufbauen. Alles das kann natürlich den Bourgeois weder ins
Wanken bringen, noch überzeugen. Er wendet ein, daß diese „Gesellschaft
auf wissenschaftlichen Grundlagen“ bloße Phantasie ist, daß jene Führer
sich den Menschen anders vorstellen, als ihn die Natur geschaffen hat;
ferner, daß es dem Menschen schwer und unmöglich ist, dem unbedingten
Recht des Eigentums, der Familie und der Freiheit zu entsagen; daß sie
von ihrem zukünftigen Menschen zuviel Opfer als Persönlichkeit
verlangen, daß man den Menschen nur mit furchtbarem Zwang in dieser
Weise hinaufzüchten könnte, nur dann, wenn man ständige Spionage und
ununterbrochene Kontrolle der despotischsten Macht anwendete. Zum Schluß
fordert der Bourgeois noch auf, ihm doch diejenige Macht zu nennen, die
die zukünftigen Menschen zu einer freiwilligen, nicht gezwungenen
Gesellschaft zu vereinigen vermöchte. Darauf heben die Führer den
Vorteil und die Notwendigkeit hervor, die jeder Mensch anerkennen müsse,
und weisen darauf hin, daß er selbst, um der Zerstörung und dem Tode zu
entgehen, freiwillig alle verlangten Konzessionen machen werde. Ihnen
wird sofort entgegnet, daß der Gesichtspunkt des Vorteils allein niemals
die Kraft haben kann, eine volle und einmütige Vereinigung
hervorzubringen; daß kein einziger Nutzen imstande ist, den Eigenwillen
und die persönlichen Rechte zu ersetzen; daß diese Mächte und Motive
viel zu schwach sind und somit diese ganze zukünftige Vereinigung ewig
fraglich bleiben wird; daß der Proletarier, wenn die Führer mit nichts
als der moralischen Seite der Sache kämen, ihnen überhaupt nicht zuhören
würde, und daß er, wenn er es jetzt tut, wenn er ihnen zu folgen scheint
und sich zur Schlacht vorbereiten läßt, dies nur deshalb tut, weil er
durch die versprochene Plünderung der Reichen angelockt wird und von der
Fata morgana des allgemeinen Zusammenbruchs fieberhaft erregt ist.
Folglich muß man dann doch die moralische Seite der Frage ganz fallen
lassen, da sie nicht der geringsten Kritik standhält, und muß sich
einfach zum Kampf vorbereiten.

Das ist die europäische Auffassung der Sache. Die eine wie die andere
Partei sind im Unrecht, und die einen wie die anderen werden an ihren
eigenen Sünden untergehen. Wiederholen wir es: Am schwersten ist für uns
Russen, daß bei uns sogar die Lewins über diese selben Fragen ins
Nachdenken geraten, während die einzig mögliche Lösung des Problems, und
gerade die russische Lösung, und diese nicht nur für die Russen allein,
sondern für die ganze Menschheit – die ethische Auffassung der Frage
ist, d. h. die christliche. In Europa ist diese Auffassung nicht
denkbar, obgleich man auch dort, früher oder später, nach Strömen von
Blut und hundert Millionen von Opfern, sie doch wird anerkennen müssen –
denn in ihr allein liegt das Heil.


                   Die russische Lösung des Problems

Wenn ihr fühlt, daß es euer Gewissen drückt, dieses „Essen, Trinken,
Auf-die-Jagd-Gehen und Nichtstun“, und wenn ihr das wirklich fühlt, und
wenn es euch wirklich so leid tut um die „Armen“, deren es so viele
gibt, – so gebt ihnen euer Hab und Gut und gehet hin, um für sie alle zu
arbeiten, und „erwerbt den Schatz im Himmelreich, dort, wo man nicht
sammelt, noch nach Gütern trachtet –“. Geht wie „Wlas“, von dem es
heißt:

   „Groß war diese Kraft der Seele,
   Die da auszog, Gott zu dienen.“

Und wollt ihr nicht wie Wlas für den Bau eines Gotteshauses sammeln, so
sorgt für die Aufklärung der Seele dieses Armen, erleuchtet ihn, belehrt
ihn. Selbst wenn alle Reichen ihre Reichtümer, wie ihr, unter alle Armen
austeilen würden, so wäre das doch nur wie ein Tropfen im Meer. Darum
aber muß man mehr für das Licht, die Aufklärung, die Wissenschaft und
für ein Mehr an Liebe sorgen. Dann erst wird der Reichtum in
Wirklichkeit wachsen, und zwar der wirkliche Reichtum; denn der liegt
nicht in herrlichen Kleidern, sondern in der Freude der allgemeinen
Vereinigung und der festen Hoffnung eines jeden, daß im Unglück ihm und
seinen Kindern von allen geholfen werden wird. Und sagt nicht: „Ich bin
bloß eine machtlose Eins,“ oder: „Wenn ich allein mein Vermögen verteile
und dienen gehe, so kann ich damit doch nichts verbessern“. Im
Gegenteil, wenn es nur einige wenige solcher gibt wie ihr, so ist die
Sache schon durchgeführt. Und im Grunde ist es nicht einmal _unbedingt_
nötig, sein Gut zu verteilen, – jede _Unbedingtheit_ würde hier, in der
Tat der Liebe, nur einer Form gleichen, einer Rubrik, dem Buchstaben.
Die Überzeugung, daß man den Buchstaben erfüllt hat, führt nur zu Stolz
und Faulheit. Man soll nur das tun, was einem das Herz befiehlt:
gebietet es euch, eure Habe zu verteilen – so verteilt sie, gebietet es
euch, für die anderen arbeiten zu gehen, – so geht. Doch auch hier tut
nicht wie etliche Träumer, die sich sofort an die Schiebkarre machen,
was ungefähr heißen soll: „ich will kein Herr sein, ich will arbeiten
wie ein Bauer“. Die Schiebkarre ist wiederum – nur eine „Form“.

Im Gegenteil, wenn du fühlst, daß du als Gelehrter allen nützlich sein
kannst, so gehe auf die Universität und behalte so viel von deinen
Mitteln, als du dafür nötig hast. Nicht die Verteilung des Gutes ist
notwendig und nicht das Anziehen des Bauernkittels: all das ist bloß
Buchstabe und Formalität. Notwendig und wichtig ist bloß _deine
Entschlossenheit, alles zu tun um der tätigen Liebe willen_, alles, was
dir möglich ist, was du selbst aufrichtig als in deiner Kraft stehend
anerkennst. Alle diese Bemühungen, sich zu „vereinfachen“ – sind ja doch
nur Verkleidungen, die das Volk vor uns herabsetzen und einen selbst
erniedrigen. Ihr seid alle zu „kompliziert“, um euch zu „vereinfachen“,
ganz abgesehen davon, daß schon eure Bildung allein euch hindert, zum
Bauern zu werden. Hebt lieber den Bauer bis zu eurer Bildung empor! Seid
nur aufrichtig und treuherzig; das ist besser als jede „Vereinfachung“.
Vor allen Dingen aber schreckt euch nicht selbst, sagt nicht: „einer ist
keiner“ und ähnliches. Jeder einzelne, der aufrichtig die Wahrheit
sucht, der ist schon furchtbar viel. Ahmt auch nicht jenen
Phrasenmachern nach, die da ununterbrochen sagen, damit man sie höre:
„Man läßt mich nichts machen, bindet mir die Hände, pflanzt mir in die
Seele Enttäuschung und Verzweiflung!“ Das sind Helden gewisser
Dichtungen schlechten Tones, posierende Faulenzer. Wer Nutzen bringen
will, der kann auch mit buchstäblich gebundenen Händen unendlich viel
tun. Ein echter Tatmensch sieht, wenn er auf den Weg tritt, sofort so
viel Arbeit vor sich, daß er nicht anfangen wird, zu klagen, man lasse
ihn nichts machen, sondern er wird sofort irgend etwas finden und wird
das, was er sich vornimmt, dann selbst mit gebundenen Händen
fertigzustellen verstehen.

Und das wissen auch alle wirklichen Tatmenschen. Wieviel Zeit nimmt bei
uns schon allein das „Ergründen Rußlands“, denn nur äußerst, äußerst
selten kennt ein Mensch unser Rußland. Die Klagen über Blasiertheit sind
einfach dumm: die Freude an dem zu errichtenden Gebäude muß jede Seele
erfüllen, auch wenn ihr vorläufig nur ein Sandkörnchen zum Bau des
Gebäudes herbeibringt. Eure Belohnung aber sei – Liebe, wenn ihr sie
verdient. Solltet ihr aber keiner Liebe bedürfen, so tut ihr doch eine
Liebestat, also könnt ihr gar nicht umhin, euch um Liebe zu bewerben.
Doch möge es auch niemand sagen, daß ihr es auch ohne Liebe tun müßtet,
sozusagen zum eigenen Gewinn, und daß man euch anderenfalls mit Gewalt
dazu zwingen werde. Nein, bei uns in Rußland muß man andere
Überzeugungen wecken – und besonders was die Begriffe der Freiheit,
Gleichheit und Brüderlichkeit betrifft. In der heutigen Welt hält man
Zügellosigkeit für Freiheit, während die wirkliche Freiheit doch nur in
der Überwindung seiner selbst und seines Willens liegt, so daß man
zuletzt einen sittlichen Zustand erreicht, in dem man immer, in jedem
Augenblick, sein eigener Herr ist. Die Zügellosigkeit der Wünsche führt
nur zur Sklaverei. Das ist wohl der Grund, warum fast die ganze heutige
Welt die Freiheit in der pekuniären Sicherstellung sieht, und in den
Gesetzen, die diese pekuniäre Sicherstellung garantieren. „Hab’ ich
Geld,“ heißt es, „so kann ich alles machen, was mir gefällt; hab’ ich
Geld – so werd’ ich nicht untergehen, noch nötig haben, andere um Hilfe
zu bitten; niemanden aber um Hilfe bitten, ist die höchste Freiheit.“
Und doch ist das in Wirklichkeit nicht Freiheit, sondern Knechtschaft, –
Knechtschaft durch das Geld. Im Gegenteil, die allerhöchste Freiheit ist
– nicht sparen und nicht sich mit Geld versorgen, sondern „unter alle
verteilen, was man hat, und hingehen, um allen zu dienen“. Ist der
Mensch dazu fähig, ist er fähig, sich bis zu solch einem Grade zu
überwinden – so, sagt doch, ist er dann nicht wahrhaft frei? Darin liegt
doch die höchste Offenbarung des Willens! Und dann, was ist in der
heutigen gebildeten Welt „Gleichheit“? Eifersüchtiges Aufpassen des
einen auf den anderen, Hochmut, Aufgeblasenheit und Neid: „Er ist klug,
er ist ein Shakespeare, er rühmt sich mit seinem Talent; also muß man
ihn erniedrigen, muß ihn vernichten.“ Währenddessen spricht die
wirkliche Gleichheit: „Was geht es mich an, daß du talentvoller bist als
ich, klüger und schöner als ich? Ich kann mich nur dessen freuen, denn
ich liebe dich. Bin ich auch unansehnlicher als du, so versage ich mir
doch als Mensch nicht die Achtung, und du weißt das wohl und achtest
mich gleichfalls – deine Achtung aber macht mich glücklich. Bringst du
mit deinen Begabungen mir und allen anderen hundertfach mehr Nutzen, als
ich dir, so segne ich dich dafür, bewundere dich und bin dir dankbar;
rechne ich doch meine Bewunderung für dich mir niemals zur Schande an:
daß ich dir dankbar bin, ist mein Glück, und wenn ich, so viel wie in
meinen schwachen Kräften steht, für dich und für alle arbeite, so
geschieht das keineswegs, um mit dir abzurechnen, Freund, sondern nur –
weil ich euch alle liebhabe.“

Wenn alle Menschen so sprechen werden, dann erst wird Brüderlichkeit auf
Erden herrschen, und zwar nicht um irgendeines ökonomischen Vorteils
willen, sondern aus der Fülle des freudigen Lebens heraus, aus der
Überfülle der Liebe.

Man wird vielleicht entgegnen, daß das bloß eine Phantasie von mir sei,
daß diese „russische Lösung des Problems“ – das „Himmelreich“ ist und
selbiges höchstens im Himmel, nicht aber auf Erden möglich sei.
Allerdings, die Oblonskis würden sich nicht wenig ärgern, wenn das
Himmelreich anbräche. Doch muß man wenigstens in Betracht ziehen, daß in
dieser Phantasie einer „russischen Lösung des Problems“ unvergleichlich
weniger Phantastisches und unvergleichlich mehr Wahrscheinliches ist als
in der europäischen Lösung. Solche Menschen wie „Wlas“ haben wir schon
gesehen und sehen sie bei uns in allen Ständen und sogar recht oft;
dagegen hat man dort den „zukünftigen Menschen“ noch nirgends gesehen,
und selbst verspricht er ja auch, erst nach Vergießung ganzer Ströme von
Blut zu kommen. Ihr sagt, mit wenigen Menschen dieser Art sei es nicht
getan, man müsse nach gewissen allgemeinen Einrichtungen und Prinzipien
streben. Doch selbst, wenn es solche Einrichtungen und Prinzipien geben
würde, nach denen man fehlerlos die Gesellschaft bilden könnte, und
selbst wenn man sie _vor_ der Praxis erlangen könnte, einfach so _a
priori_, einzig aus den Träumen des Herzens und der „wissenschaftlichen“
Zahlen, die zudem noch der früheren Einrichtung der Gesellschaft
entnommen sind, – so wird sich doch mit anfertigen, mit nicht dazu
eingedrillten Menschen keine einzige Regel durchführen, kein einziges
von all den schönen Prinzipien verwirklichen lassen; im Gegenteil, diese
würden nur lästig werden. Ich aber glaube schrankenlos an unsere
zukünftigen und schon heraufkommenden Menschen, an diese selben, von
denen ich vorhin gesagt, daß sie vorläufig noch nicht übereinstimmen,
daß sie in kleinen Lagern und Gruppen zerstreut sind, von denen jedes
und jede an eigenen Überzeugungen festhält, die aber dafür vor allen
Dingen die Wahrheit suchen, und die, wenn sie nur wissen würden, wo die
Wahrheit ist, bereit wären, für ihre Verwirklichung alles zu opfern,
selbst das Leben. Glaubt mir, wenn sie endlich den wahren Weg finden und
ihn betreten, so werden sie alle nach sich ziehen, und nicht gezwungen,
sondern freiwillig wird man ihnen folgen. Ja, das vermögen schon heute
die ganz wenigen zu tun. Und das ist dann der Pflug, mit dem man unseren
neuen Schatz heben kann. Bevor ihr den Menschen predigt, wie sie sein
sollen, zeigt es ihnen an euch selbst. Erfüllt selbst, was ihr
verkündigt, und alle werden euch folgen. Ich begreife nicht, was hierbei
Utopistisches, Unmögliches sein soll! Es ist wahr, wir sind sehr
verderbt, sind kleinmütig – und darum glauben wir nicht und lachen. Doch
jetzt liegt es fast nicht mehr an uns, sondern einzig an den
Emporsteigenden, den Künftig-Zukünftigen. Das Volk ist reinen Herzens,
es muß nur noch erleuchtet werden. Doch Menschen, die reinen Herzens
sind, erheben sich auch mitten aus unserer Schar – und das ist das
Allerwichtigste! Dies ist es, was man zuerst glauben muß, was zu sehen
man verstehen muß. Denen aber, die reinen Herzens sind, noch ein Rat:
Selbstbeherrschung und Selbstüberwindung vor jedem ersten Schritt!
Erfülle zuerst selbst, statt daß du andere zwingst –: das ist das ganze
Geheimnis dieses ersten Schrittes.


            Ehemalige Landwirte – zukünftige Diplomaten[30]

... Ich bin wieder auf dem Lande und habe meine Freude daran ... Doch
vor allem freut es mich, nicht im Auslande zu sein, nicht unsere sich
dort herumtreibenden Russen vor Augen zu haben. Wahrlich, in unserer so
volklichen, so politischen Zeit, da man gerade überall bei sich zu Hause
Russen sucht, Russen erwartet, nur Russen will und fordert, in solch
einer Zeit ist es zu schwer, im Auslande der Demoralisierung unserer
expatriierten Intelligenz zusehen zu müssen, der Verwandlung echt
russischen, noch rohen und vielleicht prachtvollen Menschenmaterials in
erbärmliches, internationales Gesindel ohne Persönlichkeit, ohne
Charakter, ohne Nationalität und ohne Vaterland. Ich rede nicht von den
Vätern, – die Väter sind nun einmal nicht mehr anders zu machen. Nun,
und – Gott mit ihnen! Ich rede von den unglücklichen Kindern, die sie
dort im Auslande verderben. Die Väter werden jetzt sogar schon von
unseren verschriensten Westlern lächerlich gefunden. Herr Burenin, der
sich kürzlich als Berichterstatter auf den Kriegsschauplatz begeben hat,
erzählt in einem Brief eine amüsante Begegnung mit einem unserer
„Europäer“, der beständig im Auslande lebe, nur jetzt absichtlich auf
den Kriegsschauplatz gekommen sei, um sich das „Schauspiel so eines
Kampfes“ anzusehen, versteht sich, aus höflicher Entfernung, – und der
im Waggon überall Witzchen gemacht, worüber diese Herren nun schon
vierzig Jahre lang Witze machen: über den russischen Geist, die
Slawophilen, usw. Er lebe nur darum im Auslande, soll er gesagt haben,
weil es bei uns in Rußland „für einen ernsten und anständigen Menschen
noch immer nichts zu tun gäbe“ ...

Vor zwanzig Jahren „emigrierten“ (ich bleibe bei diesem Wort) aus
Rußland vornehmlich Gutsbesitzer, und seit der Zeit setzt sich die
Emigration in jedem Jahre ungehindert fort. Natürlich emigrierten auch
viele andere Leute, alle möglichen Menschen; doch waren es in der großen
Mehrzahl, wenn nicht alle, Leute, die mehr oder weniger Rußland haßten;
die einen aus moralischen Gründen, infolge der Überzeugung, „daß es in
Rußland für so anständige und kluge Leute, wie sie, nichts zu tun gäbe“,
die anderen vielleicht ohne jede Überzeugung, wenn man will, einfach aus
physischem Haß: wegen des Klimas, wegen der Felder und Wälder, wegen der
Gesetze und Bräuche, wegen des befreiten Bauern, ja, wegen der ganzen
russischen Geschichte, mit einem Wort – wegen Rußland. Ich bemerke dazu,
daß solch ein Haß sehr passiv, sehr ruhig und bis zur Apathie
gleichmütig sein kann. Und dann kam noch die Befreiung der Bauern hinzu,
und überdies erleuchtete plötzlich ungemein viele die Überzeugung, daß
durch diese Befreiung alles verloren sei – das Land und die
Landwirtschaft und der Adel und ganz Rußland. Es ist ja wahr, daß nach
der Aufhebung der Leibeigenschaft die Landwirtschaft ohne genügende
Organisation und Sicherstellung blieb und die Grundbesitzer
infolgedessen den Kopf verloren und natürlicherweise eine solche Angst
bekamen, wie es nach keinem staatlichen Umsturz mehr der Fall hätte sein
können. Nun, und da fingen denn die Gutsbesitzer an ihre Güter zu
verkaufen, und ein Teil von ihnen – und nicht der kleinste – zog ins
Ausland. Was sie nun dort auch zu ihrer Rechtfertigung hervorheben mögen
– sie können doch nicht, weder vor ihren Mitbürgern noch vor ihren
eigenen Kindern verbergen, daß der Hauptgrund zu ihrer Emigration die
Verlockung zum „Nichtstun“ gewesen ist. Jedenfalls aber: seit der Zeit
wird das russische persönliche Landeigentum verkauft und gekauft, es
ändert seine Herren allaugenblicklich, verändert sogar sein Aussehen,
denn es wird eifrig entwaldet, – und in was es sich verwandeln, in
wessen Händen es endgültig bleiben, aus welchen Leuten sich schließlich
der neue russische Grundbesitzerstand zusammensetzen wird, all das ist
schwer vorauszusagen, und doch liegt gerade darin, wenn man will, die
wichtigste Frage der russischen Zukunft. Es scheint wirklich ein
Naturgesetz zu sein, nicht nur in Rußland, sondern in der ganzen Welt:
diejenigen, welche in einem Reiche das Land besitzen, die sind auch die
Herren dieses Landes – in jeder Beziehung. Bei uns jedoch, wird man
sagen, gibt es ja noch die Gemeinde, – die sei der „Herr“! Aber ...
gehört denn etwa das Problem unserer Gemeinde bei uns schon zu den
endgültig gelösten? Trat es denn nicht vor etwa fünfzehn Jahren
gleichfalls in eine neue Phase, wie alles andere? Doch darüber später –
vorläufig will ich, ohne sie weiter zu begründen, nur kurz meine
Überzeugung darlegen. Es ist diese: wenn in einem Reiche die Verwaltung
des Bodens eine _ernste_ ist, dann wird, meiner Meinung nach, auch alles
andere im Reich ernst sein, in allen Beziehungen, sowohl im großen
Ganzen wie in den kleinen Einzelheiten. Jetzt müht man sich bei uns, zum
Beispiel, um Bildung, müht sich um die Volksschulen. Ich aber glaube,
daß Schule und Unterricht nur dann bei uns ernst und gründlich werden
sein können, wenn unsere Landesverwaltung und Landwirtschaft ernstlich
und gründlich organisiert sind; glaube ferner, daß man nicht durch eine
Schule eine gute Landwirtschaft erzielt, sondern umgekehrt, nur durch
eine gute Landwirtschaft – d. h. durch eine richtige Bodenverwaltung –
eine gute Schule bilden kann, auf keinen Fall aber früher. Parallel
diesem Beispiele geht alles: die Einrichtungen und die Gesetze und die
Sittlichkeit und selbst die Verstandesentwicklung der Nation. Jede
richtige Verwaltung des nationalen Organismus organisiert sich bloß
dann, wenn im Lande gute Landwirtschaft getrieben wird. Dasselbe läßt
sich gleichfalls vom Charakter der Landwirtschaft sagen: ist er
aristokratisch, oder ist er demokratisch – immer wird so, wie er ist,
auch der ganze Charakter der Nation sein.

Einstweilen aber spazieren unsere ehemaligen Gutsbesitzer im Auslande
umher, in allen Städten und Kurorten Europas, machen die Preise der
Restaurants steigen, und schleppen wie Millionäre Gouvernanten und
Bonnen für ihre Kinder mit sich herum und kleiden die Kleinen in Spitzen
und englische Kostüme mit kurzen Strümpfchen – Europa zur Schau. Europa
aber sieht zu und wundert sich: „Wieviel reiche Leute es doch in Rußland
gibt, und vor allen Dingen wie gebildete! Und wie sie nach europäischer
Bildung streben! Natürlich hat man ihnen nur aus Despotismus die
Auslandspässe vorenthalten! Und plötzlich zeigt es sich, daß es bei
ihnen so viele Grundbesitzer und Kapitalisten und so viele Rentiers
gibt, die sich von den Geschäften zurückgezogen haben, – ja sogar mehr
als selbst in Frankreich, das doch das Land der Rentiers ist!“ Wollte
man aber versuchen, Europa zu erklären, daß hier eine echt russische
Erscheinung vorliegt und keine Spur von eigentlichem Rentiertum sich
hierbei findet, sondern im Gegenteil die Verschwendung dieser Leute
meist nur das Brennen eines Lichtes von beiden Enden bedeutet, so würde
Europa an solch eine in Europa unmögliche Erscheinung selbstverständlich
nicht glauben, würde mich überhaupt nicht verstehen. Und das wichtigste
– diese Sybariten, die sich dort in den deutschen Kurorten und an den
Schweizer Seen herumtreiben, diese Lukullusse, die ihr Leben in Pariser
Restaurants zubringen, – sie wissen es ja selber und fühlen es sogar mit
einem gewissen Schmerz voraus, daß sie ihr Kapital doch schließlich
aufzehren, und daß ihre Kinder, diese selben kleinen Engelchen in
englischen Kostümchen, vielleicht noch einmal in Europa werden Almosen
erbitten müssen – und sie _werden_ Almosen erbitten! –, wenn sie sich
nicht in französische oder deutsche Arbeiter verwandeln wollen – und sie
_werden_ sich in französische und deutsche Arbeiter verwandeln! – „Aber
...“ denken sie, „_après nous le déluge_! Ja, und wer ist denn der
Schuldige? Das sind doch nur alle diese unsere russischen Einrichtungen,
unser ganzes plumpes Rußland, in dem ein anständiger Mensch immer noch
nichts anfangen kann.“ So denken diese Herren; und die liberalsten von
ihnen, die, welche man die höchsten und unverfälschtesten Westler der
vierziger Jahre nennen könnte, die fügen vielleicht noch heimlich hinzu:
„Nun, was tut’s, daß die Kinder ohne Vermögen bleiben, dafür erben sie
die Idee, den edlen Sauerteig der wahren und heiligen Denkungsart. Fern
von Rußland erzogen, werden sie weder die Popen kennen, noch das dumme
Wort ‚Vaterland‘. Sie werden einsehen, daß das ‚Vaterland‘ nur ein
Vorurteil ist und sogar das verderblichste der Welt. Aus ihnen werden
edle, universale Menschen werden. Wir, ausschließlich wir, legen den
Grund zu diesen neuen Menschen! Gerade dadurch, daß wir im Auslande den
Erlös für unser Gut verleben, legen wir den Grund zu dem neuen
internationalen Bürgertum, das früher oder später Europa erneuern wird,
und die ganze Ehre dafür gebührt uns, uns Russen, denn wir haben zuerst
angefangen.“ Übrigens, so reden bloß die „graulockigen“, das heißt
soviel wie sehr wenige – sind denn etwa viel Koryphäen unter ihnen zu
finden? Die praktischeren jedoch und _nicht so literarisch-moralischen_
verlassen sich schließlich immer noch auf die „Verbindungen“. „Wir
verleben hier unser Geld, das ist ja wahr, aber etwas gewinnen wir dabei
doch, das sind: Bekanntschaften, Beziehungen, die dann im sogenannten
‚Vaterlande‘ uns gut zustatten kommen werden. Und zudem erziehen wir
unsere Kinderchen wenigstens in liberalem Geiste und immerhin als
Gentlemen – das aber sind doch lauter Hauptsachen. Verkehren werden sie
nur in den vornehmsten und höchsten Sphären; der Liberalismus aber hat
in diesen höchsten Sphären immer alles, was gentlemanlike war,
gekennzeichnet und begleitet, denn dieser Gentlemanliberalismus ist für
den höheren Konservatismus sozusagen sehr nützlich, was man bei uns
längst begriffen hat. Nun, und wenn wir unsere Kinder in dieser Weise im
Auslande aufwachsen lassen, so heißt das geradezu, daß wir sie zu
Diplomaten erziehen. Was sind das doch für prachtvolle Stellen hier an
den Gesandtschaften, Konsulaten, und dabei welch eine Unmenge solcher
entzückender Plätzchen, und wie brillant sie dotiert sind! Wirklich, wie
geschaffen für unsere Kinderchen: sind ruhig und gut und vorteilhaft und
dauerhaft, und dabei immer ein angesehenes Amt. Und der Dienst so
vornehm und die Arbeit – ach, die ist nicht der Rede wert, besteht ja
nur im Verkehr mit den Russen im Auslande, selbstverständlich bloß mit
denen, die anständiger aussehen; die anderen aber, die einem da auf den
Hals kriechen und noch um Schutz bitten, – die, na, die schüttelt man
einfach ab und behandelt sie, wie es Vorgesetzten geziemt: ohne sie
anzuhören und von oben herab: ‚Wir glauben euch nicht. Ihr seid selber
an allem schuld, worüber ihr klagt. Ihr glaubt wohl noch im lieben
Vaterlande zu sein? Euretwegen sollen wir uns Unannehmlichkeiten
zuziehen? Lohnt sich das denn überhaupt, und wie soll man eine fremde
Obrigkeit solcher Leute wegen, wie ihr, belästigen? Seht doch erst in
den Spiegel, wie ihr ausseht!‘ Und darin besteht der ganze Dienst. Oh,
unsere Kinderchen werden schon verstehen, es im Leben zu etwas zu
bringen. Ja, ja, wenn man nur so seine Verbindungen hat – das ist das
erste, wofür ein Vaterherz sorgen muß. Das übrige kommt dann je nach
Bedarf von selbst hinzu.“

Also, wie gesagt, in dieser Weise verlassen sich von den im Auslande
lebenden alle nicht gerade „literarischen“ Väter mehr oder weniger auf
Verbindungen. Aber – was sind denn Verbindungen? Nun, wenn sie auch ihre
Bedeutung haben, so sind sie doch nur eine unzuverlässige Quelle. Es
würde daher wirklich nicht schaden, wenn man sich noch mit etwas anderem
versorgen würde – nun, sagen wir, mit ein wenig Kenntnis Rußlands und
mit ein wenig eigenem Verstand, nur so auf alle Fälle, da man doch
niemals wissen kann ... Und gerade jetzt, in der Epoche der Reformen und
neuen Einrichtungen, wollen bei uns doch alle plötzlich nach eigenem
Verstande leben – zweifellos eine Idee, die durch die Aufklärung zu uns
gekommen ist. Das Unglück aber ist nur, daß bei uns noch nie so wenig
individueller Verstand zu finden gewesen ist, wie jetzt, da ihn ein
jeder haben will. Die Frage, warum das so ist, will ich lieber offen
lassen, es ist auch nicht leicht, sie zu beantworten. Doch eine der
Ursachen, warum unsere kleinen Püppchen einst, wenn sie große Puppen
sind, zweifellos leere Köpfe haben werden – kenne ich nur zu genau; und
obwohl sie alt ist, will ich doch noch auf sie hinweisen. Diese Ursache
... liegt in der russischen Sprache, d. h. in der mangelhaften Kenntnis
der russischen, vaterländischen Sprache, die durch die Erziehung im
Auslande, durch ausländische Gouvernanten und Bonnen bedingt wird.
Derlei ist bei uns ja auch schon früher üblich gewesen, aber wohl
niemals in dem Maße, wie jetzt, da soviel Püppchen im Auslande
heranwachsen. Nehmen wir den Fall an, eines dieser Herrensöhnchen soll
Diplomat werden: nun, die Diplomatensprache ist bekanntlich die
französische, „folglich genügt es, wenn man die russische nur
grammatisch kennt“. Ist dem nun wirklich so? Diese Frage ist wohl schon
so oft beredet worden, daß sie vielleicht abgeschmackt erscheinen wird.
Nichtsdestoweniger ist sie noch so unbeantwortet, daß sie sogar vor
kurzem wieder aufgeworfen werden konnte, wenn auch nur mittelbar, bei
Gelegenheit der Besprechungen der französischen Werke Turgenjeffs. Es
wurde sogar die Meinung geäußert: „Warum soll denn Turgenjeff nicht auch
Französisch schreiben, das kann ihm doch niemand verbieten?“
Selbstverständlich ist hier nichts zu verbieten oder zu erlauben, und
besonders nicht einem so großen Schriftsteller und so vorzüglichen
Beherrscher der russischen Sprache, wie Turgenjeff. Darum über ihn kein
Wort weiter, aber ... Aber ich sehe, daß ich wieder auf mein altes Thema
zurückgekommen bin, auf dasselbe, über das ich schon im vorigen Jahre
geschrieben, nachdem ich mit einer unserer ausländisch-russischen Mamas
über den Nachteil, den das Erlernen der französischen Sprache für ihr
Püppchen haben kann, diskutiert hatte. Jetzt wird das Söhnchen zum
Diplomaten erzogen und ... Übrigens, wenn es auch nicht ratsam ist, sich
zu wiederholen, so will ich doch noch wagen, in bezug auf die Diplomatie
ein paar Worte zu sagen.

„... Aber die Diplomatensprache ist doch Französisch!“ unterbricht mich
diesmal die Mama, ohne mich zu Wort kommen zu lassen.

O weh, sie trägt mir meine Worte vom vorigen Jahr noch nach und
behandelt mich ungnädig.

„Gewiß, gewiß, meine Gnädigste,“ antworte ich, „Ihr Einwand ist
unantastbar, und ich bin mit Ihnen widerspruchslos einverstanden.
Jedoch: was ich über die Kenntnis der russischen Sprache gesagt, gilt
auch für die Kenntnis der französischen – nicht wahr? Nun aber, um den
Reichtum seiner Gedanken in französischer Sprache ausdrücken zu können,
muß man sich diese Sprache auch ganz und gar zu eigen machen. Nun aber
bitte ich Sie, folgendes nicht zu vergessen: es gibt nämlich solch ein
Geheimnis der Natur, oder vielmehr solch ein Naturgesetz, nach dem man
nur diejenige Sprache vollkommen beherrschen kann, mit der man geboren
ist, wollte sagen, die dasjenige Volk spricht, zu dem man gehört. Das
scheint Ihnen nicht zu gefallen, meine Gnädigste. Sie belieben etwas
spöttisch zu lächeln? Gut, ich gebe nach – es ist ja übrigens auch kein
_Damen_thema. Ich stimme Ihnen also widerspruchslos bei, ich gebe zu,
daß auch ein Russe sich die französische Sprache bis zur Vollkommenheit
aneignen kann – aber nur unter einer riesengroßen Bedingung: nämlich in
Frankreich geboren zu sein, in Frankreich aufzuwachsen und seit der
allerersten Stunde seines Lebens sich in einen Franzosen zu verwandeln!
Oh, Sie lächeln wieder, wie ich sehe, ich habe Sie wohl nur belustigt?
Einstweilen aber beachten Sie, daß selbst Ihnen und Ihrem Söhnchen nicht
gut möglich sein wird, diese Bedingung zu erfüllen, trotz aller Pariser
Bonnen, trotz der Emigration, dem Erlös für das verkaufte Land usw.
Zudem müssen Sie noch die sogenannten angeborenen Gaben in Betracht
ziehen, denn man kann doch nicht Ihr Püppchen mit Turgenjeff vergleichen
– werden denn etwa viel Turgenjeffs geboren? ... Ach, Verzeihung, meine
Gnädigste, was sage ich da! Aus Ihrem Söhnchen wird bestimmt ein
Turgenjeff werden, oh, nicht nur einer, sondern bestimmt drei! Doch
lassen wir das, nur ...“

„Aber,“ unterbrechen Sie mich plötzlich, „aber die Diplomaten sind doch
sowieso klug, warum denn da noch um den Verstand so viel Sorge tragen?
Glauben Sie mir, hat man erst Verbindungen, _mon mari_ ...“

„Sie haben durchaus recht, meine Gnädigste,“ unterbreche ich schnell,
„hat man erst Verbindungen und läßt man Ihren Herrn Gemahl ganz
beiseite, so, sage ich, wäre es immerhin nicht übel, zu den Verbindungen
noch etwas, wenn auch nur ein wenig, Verstand hinzuzufügen. Und die
Diplomaten sind keineswegs deswegen klug, weil sie Diplomaten sind,
sondern einzig, weil sie von Geburt an kluge Leute waren. Und glauben
Sie mir, es gibt sogar viele, sehr viele Diplomaten, die wirklich
außerordentlich dumm sind.“

„Ach nein, verzeihen Sie,“ unterbrechen Sie mich ungeduldig, „Diplomaten
sind immer klug und alle bekleiden sie außerordentliche Posten: und
außerdem ist der Diplomatendienst der allervornehmste Dienst!“

„Meine Gnädigste, meine Gnädigste,“ rufe ich, „Sie sagen: Verbindungen
und Kenntnis vieler Sprachen! – aber Verbindungen _verschaffen_ doch
bloß einen Posten, dann aber ... Nun, stellen Sie sich vor: Ihr Söhnchen
wächst in europäischen Restaurants auf, geht in Gesellschaft
ausländischer Vicomtes und russischer Grafen mit jungen Kokotten durch,
dann aber ... Nun, er kann alle Sprachen und schon deswegen keine
einzige, ... hat er aber keine eigene Sprache, so ist es nur natürlich,
wenn er bloß Endchen von Gedanken und Gefühlen aller Nationen aufgreift
und sein Verstand sich sozusagen zu einem Mischmasch aller möglichen
Süppchen herausbildet. Er wird ein internationaler Bastard mit kurzen,
abgerissenen, kleinen Ideen und stumpfen Urteilen. Er ist Diplomat, aber
die Geschichte der Nationen setzt sich in seiner Vorstellung ganz
sonderbar-spaßhaft zusammen. Er sieht überhaupt nicht, ja er ahnt nicht
einmal das, wovon die Nationen und die Völker leben, welche Gesetze in
ihrem Organismus liegen, ob in diesen Gesetzen auch etwas Ganzes
verborgen ist und sich in ihnen ein allgemeines internationales Gesetz
wahrnehmen läßt. Er ist fähig, alle Geschehnisse der Welt nur daraus
abzuleiten, daß z. B. irgendeine Königin irgendeine Favoritin
irgendeines Königs geärgert hat, und infolgedessen der Krieg zwischen
zwei Königreichen ausgebrochen ist. Erlauben Sie, ich werde von Ihrem
Standpunkte aus urteilen. Schön, er hat Verbindungen ... Aber zum Erwerb
solcher Verbindungen ist doch Charakter erforderlich, ist, wie man zu
sagen pflegt, die Liebenswürdigkeit eines Charakters, sind Milde und
Güte und zu gleicher Zeit Beharrlichkeit und Festigkeit unbedingt nötig
... Ein Diplomat muß doch bezaubernd sein, muß zu besiegen verstehen,
nicht wahr? Nun, dann glauben Sie es mir oder nicht, wenn ich Ihnen
offen und im höchsten Grade bestimmt sage, daß man ohne Kenntnis seiner
Muttersprache, ohne ihre völlige Beherrschung nicht einmal seinen
Charakter ausarbeiten kann, und besonders dann nicht, wenn das Püppchen
noch von Natur reich und gut begabt ist. Mit der Zeit stellen sich bei
ihm dann Gedanken ein, Ideen und Gefühle werden ihn innerlich peinigen,
indem sie für sich Ausdrücke suchen und fordern; doch ohne reiche, von
Kindheit an erworbene, fertige Ausdrucksformen, d. h. ohne Sprache, ohne
ihre Entwicklung, ohne ihre Verfeinerung, ohne Beherrschung all ihrer
Nuancen – wird Ihr Sohn ewig unzufrieden mit sich sein. Die
aufgeschnappten Gedankenendchen hören bald auf, ihn zu befriedigen, das
im Verstande und im Herzen angesammelte Material fängt an, nach einem
großen, unbeengten Ausdruck zu verlangen ... Der junge Mann wird
besorgt, zerstreut, grundlos nachdenklich, darauf gereizt, unerträglich;
schließlich zerrüttet er womöglich seine Gesundheit, vielleicht sogar
den Magen, glauben Sie mir ...“

„Ach, Sie lachen? – Ich sehe schon, hab’ mich wieder fortreißen lassen,
– einverstanden! – Aber, Gott, wie wahr ist es doch, was ich sage! –
Gestatten Sie mir nur noch, zu beenden. Ich möchte Sie, meine Gnädigste,
daran erinnern, daß ich Ihnen vorhin nachgegeben, mich mit Ihnen
einverstanden erklärt habe, zum Schein, natürlich: daß die Diplomaten
immer kluge Leute wären. Jetzt aber haben Sie mich so weit gebracht,
meine Gnädigste, daß ich gezwungen bin, meine geheimste Ansicht über
diesen Gegenstand Ihnen nicht mehr zu verheimlichen. Meine Gnädigste:
nun ist mir aber wie zum Trotz in meinem Leben schon oft der Gedanke
gekommen, daß es in der Diplomatie, d. h. in der allgemeinen Diplomatie
aller Völker und des ganzen neunzehnten Jahrhunderts, wirklich
auffallend wenig kluge Männer gegeben hat – tatsächlich frappant, wie
wenige! Dagegen ist die Schwachköpfigkeit dieses Standes in der
Geschichte Europas in unserem Jahrhundert ... Das heißt, sehen Sie mal,
– alle sind sie klug, diese Diplomaten, mehr oder weniger, versteht
sich, das ist unbestreitbar, alle sind sie geistreich – aber ... was
sind denn das im Grunde für Geister! Ist denn auch nur einer dieser
Köpfe bis zum Wesen der Dinge durchgedrungen, hat auch nur einer von
ihnen diese geheimnisvollen Gesetze begriffen, oder sie auch nur geahnt,
diese Gesetze, die Europa zu etwas Unbekanntem führen, zu etwas
Sonderbarem, Furchtbarem – das aber jetzt schon offenbar ist, das sich
fast sichtbar vor den Augen derjenigen vollzieht, die nur ein klein
wenig vorauszufühlen verstehen? Nein, man kann positiv behaupten, daß es
keinen einzigen solchen Diplomaten und keinen einzigen so klugen Kopf in
diesem so gelehrten und ‚favorisierten‘ Stande gegeben hat! – Natürlich
schließe ich, wenn ich so rede, Rußland und alles Vaterländische aus,
weil wir unserem ganzen Wesen nach in solchen Dingen ‚eine ganz andere
Sache‘ sind. Im Gegenteil, im ganzen Jahrhundert waren die Diplomaten,
nun sagen wir, die allerschlauesten Intriganten, die sich dünkelhaft
einbildeten, das realste Verständnis der Dinge zu besitzen;
währenddessen aber hat keiner von ihnen weiter, als seine Nase reicht,
etwas sehen können, und nie über die Tagesinteressen hinaus – und selbst
diese waren dann noch immer nur die alleroberflächlichsten und
kurzsichtigsten. Dort zerrissene Fädchen zusammenknoten, hier ein
Flickchen auf ein kleines Loch legen, ‚den Preis steigern, vergolden,
für neu aussehen machen‘ – das ist ihre Aufgabe, das ist ihre Arbeit!
Und all das hat seine Gründe – der wichtigste aber liegt, meiner Meinung
nach, in der Entzweiung mit dem Volk, in der Absonderung der
diplomatischen Köpfe in eine allzu vornehme und von der übrigen
Menschheit allzu abstrahierte Sphäre ... Ein Fürst Metternich wurde für
einen der tiefsten und feinsten Diplomaten der Welt gehalten und hatte
zweifellos Einfluß auf ganz Europa. Worin aber, ja, worin bestand denn
eigentlich seine Idee? Wie verstand er sein Jahrhundert, das damals
gerade anbrach? Wie stellte er sich die Zukunft vor? Alle Grundideen des
beginnenden Jahrhunderts wollte er mit Polizeiordnungen besiegen und war
vollkommen überzeugt von dem Erfolg! Und nehmen Sie jetzt den Fürsten
Bismarck na, das ist doch schon fraglos ein Genie, aber ...“

„_Finissons, monsieur_,“ unterbricht mich streng die kleine Mama mit
tiefgekränkter Würde.

Ich bin natürlich sehr erschrocken. Offenbar bin ich nicht verstanden
worden. Ja, mit kleinen Mamas darf man noch nicht über solche Themata
reden: habe daher einen furchtbaren _faux pas_ gemacht – aber mit wem
kann man denn jetzt überhaupt über Diplomatie sprechen? – das ist die
Frage! Und doch – welch ein interessantes Thema, und noch dazu in
unserer Zeit! Aber ...


                   Die Diplomatie vor den Weltfragen

Und welch ein ernstes Thema! Denn was heißt jetzt: unsere Zeit? Alle,
die mit Verstand begabt sind, sagen, daß unsere Zeit im wahrsten Sinne
des Wortes eine diplomatische Zeit sei, eine Zeit der Entscheidung aller
Völkerschicksale einzig durch die Diplomatie. Man behauptet zum
Beispiel, daß irgendwo bei uns Krieg geführt werde; doch höre und lese
ich überall, daß, wenn auch dort irgendwo so etwas wie Krieg vor sich
geht, dieser Krieg doch bestimmt nicht als wirklicher Krieg aufgefaßt
werden darf ... Jedenfalls ist man übereingekommen, erstens, daß dieser
Krieg auch nicht einer einzigen von den gesunden Verrichtungen der
Nation hinderlich sein könnte, die, nach den neuesten Ansichten alles
dessen, was „Allwissenheit“ genannt wird, vornehmlich – was sage ich! –
_ausschließlich_ in der Diplomatie ruhen; und zweitens, daß diese
militärischen Spaziergänge, Manöver usw., die übrigens immer
unentbehrlich sind, im wahrhaften Sinne der Dinge nicht mehr als bloß
eine der Phasen der höheren Diplomatie ausmachen, und weiter nichts. Man
muß es glauben. Ich für meinen Teil bin nun sehr gern dazu bereit, denn
das ist doch tatsächlich beruhigend. Aber siehe, einstweilen ist da
etwas, was nicht uninteressant und dabei noch ungemein auffallend ist:
Bei uns entbrannte zum Beispiel die Orientfrage: und sofort flammte sie
auch in ganz Europa auf, ja dort sogar noch früher als bei uns – und das
ist nur zu verständlich. Alle, und selbst die Nicht-Diplomaten, –
natürlich die Nicht-Diplomaten ganz besonders –, alle wissen „schon
längst“, daß die Orientfrage sozusagen eine der Weltfragen ist, eines
der wichtigsten Kapitel unter den großen und nächstliegenden
Entscheidungen der Menschenschicksale, ja, daß sie die neue Phase
derselben bedeutet. Wie man weiß, geht diese Angelegenheit nicht nur
Osteuropa an, nicht nur die Slawen, Russen und Türken, oder vor allen
anderen irgendwelche Bulgaren, sondern auch den ganzen Westen Europas,
und zwar keineswegs nur wegen der Meere und Meerengen, der
beherrschenden Ein- und Ausgangspunkte, sondern aus viel tieferen, viel
fundamentaleren, elementareren, gegenwärtigeren, wesentlicheren,
grundsätzlicheren Gründen ... Darum ist es begreiflich, daß Europa sich
aufregt und die Diplomatie so viel zu tun hat. Aber was hat denn die
Diplomatie dabei zu tun? Was hat sie denn – besonders jetzt – in der
Orientfrage zu tun? Sache der Diplomatie ist doch jetzt (anderenfalls
würde sie überhaupt nicht Diplomatie sein), die Orientfrage zu
konfiszieren und allen, die es wissen wollen oder nicht wollen, dies
bleibt sich gleich, so schnell wie möglich zu versichern, daß es eine
„Orientfrage“ überhaupt nicht gibt; daß alles dieses „nur so“ geschehe,
nur Manöver sei mit Ausflügen zur Übung, und wenn es nur irgend möglich
ist, noch zu versichern, daß die Orientfrage nicht nur _jetzt nicht_
vorhanden, sondern _überhaupt nie_ in der Welt dagewesen sei, daß man
vor hundert Jahren „nur so“ Dunst verbreitet habe aus bestimmten,
natürlich gleichfalls diplomatischen Gründen. Aufrichtig gestanden, dem
könnte man ja beinahe Glauben schenken, wenn sich nicht gerade hier ein
Rätsel auftun würde, jedoch schon kein diplomatisches (das ist ja der
Jammer!), denn die Diplomaten würden sich niemals dazu herablassen, sich
mit solchen Rätseln zu befassen. Oh, verachtend würden sie diesem Rätsel
den Rücken kehren, denn sie halten es für eine Illusion, die höherer
Gehirne unwürdig ist. Dieses Rätsel ließe sich folgendermaßen
formulieren: „Warum geschieht es immer, und besonders in der letzten
Zeit, d. h. seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, und je weiter,
desto anschaulicher und greifbarer, daß sich, kaum daß in der Welt
irgend etwas Allgemeines, Universales berührt wird, neben der einen
irgendwo erhobenen Weltfrage ihr parallel sofort auch _alle anderen_
Weltfragen erheben?“ So hat zum Beispiel Europa jetzt an der einen, der
Orientfrage, noch nicht genug, und es erhebt sich unerwartet-unverhofft
plötzlich in Frankreich gleichfalls eine Weltfrage – die katholische.
Und diese katholische Frage erhebt sich nicht etwa nur deshalb, weil der
Papst bald sterben wird und Frankreich dann als Repräsentant des
Katholizismus dafür sorgen muß, daß nicht das Geringste verschwindet
oder sich verändert in der durch Jahrhunderte aufgebauten Organisation
des Katholizismus, sondern auch noch deswegen, weil der Katholizismus in
Frankreich augenscheinlich zur Fahne erwählt worden ist, unter der sich
alle alten Einrichtungen der ganzen neunzehn Jahrhunderte versammeln
sollen, – zur Verbündung gegen etwas Neues, Kommendes, schon
Gegenwärtiges und Verhängnisvolles, gegen die drohende Welterneuerung,
gegen den sozialen wie moralischen fundamentalen Umsturz im ganzen
westeuropäischen Leben, oder wenigstens, wenn diese Erneuerung auch
nicht in Erfüllung geht, so doch gegen die furchtbare Erschütterung und
ungeheuere Revolution, die da unheimlich droht, alle Reiche der
Bourgeosie in der ganzen Welt, überall, wo sie sich organisiert haben
und aufgebläht sind, nach der französischen Schablone von 1789 zu
verdrängen und sich auf ihren Platz zu setzen. Übrigens, ich sehe mich
gezwungen, hier ein notwendiges _Notabene_ einzufügen: ich fühle schon
voraus, daß es vielen Klugen und besonders den Liberalen lächerlich
erscheinen wird, daß ich noch im neunzehnten Jahrhundert Frankreich ein
„katholisches“ Reich nenne, und gar den Repräsentanten des
Katholizismus! Darum sage ich zur Rechtfertigung meiner Meinung,
vorläufig ohne sie weiter zu begründen, daß Frankreich gerade solch ein
Land ist, welches selbst dann, wenn in ihm kein einziger Mensch
übrigbliebe, der nicht nur nicht mehr an den Papst, sondern nicht einmal
mehr an Gott glaubte, trotzdem fortfahren würde, ein katholisches Land
_par excellence_ zu sein, gewissermaßen der Repräsentant des ganzen
katholischen Organismus – und das wird noch sehr lange so bleiben, ja
bis in die Unendlichkeit hinein, vielleicht bis zu der Zeit, da
Frankreich überhaupt aufhören wird, Frankreich zu sein, und sich in
irgend etwas anderes verwandelt. Doch das ist noch nicht alles: sogar
der Sozialismus hat in Frankreich nach der katholischen Schablone, mit
katholischer Organisation und ganz in seinem Geist eingesetzt: in
solchem Maße ist dieses Land katholisch! Den Beweis dafür werde ich
vorläufig noch schuldig bleiben. Nur auf eines will ich kurz hinweisen:
was veranlaßte den Marschall Mac-Mahon so plötzlich mir nichts, dir
nichts gerade die katholische Frage aufzuwerfen? Dieser tapfere General
– der, nebenbei bemerkt, fast überall geschlagen worden ist und in der
Diplomatie sich ausschließlich durch das kurze Sätzchen: „_j’y suis et
j’y reste_“ ausgezeichnet hat – dieser General scheint nicht gerade
solch ein Tatmensch zu sein, daß er fähig gewesen wäre, _mit vollem
Bewußtsein_ irgend etwas Derartiges zu vollführen. Aber siehe da, er hat
es doch fertiggebracht, die kapitalste der alteuropäischen Fragen zu
erheben, und zwar gerade in der Form, in welcher sie sich einmal
unbedingt erheben mußte. Doch das Wichtigste: warum überhaupt und warum
gerade in dem Augenblick diese Frage erheben, da sich am anderen Ende
der Welt eine andere Weltfrage erhoben hat? Warum reiht sich Frage an
Frage, warum ruft die eine die andere hervor, während doch, wie man
meinen sollte, keinerlei Beziehung zwischen ihnen besteht? Ja, und nicht
nur diese beiden Fragen haben sich zu gleicher Zeit erhoben: mit der
Orientfrage erhoben sich auch noch _andere_, und es werden sich _noch_
andere erheben, wenn sich die erstere nur richtig entwickelt. Kurz, in
unserem Jahrhundert haben alle wichtigen Fragen Europas und der
Menschheit sich immer zu gleicher Zeit erhoben. Diese Gleichzeitigkeit
ist es nun, die mich frappiert. In dieser Gesetzmäßigkeit, mit der alle
Fragen unbedingt zusammen erscheinen, liegt für mich das Rätsel! Doch
weshalb sage ich das alles? – Nun, weil die Diplomatie gerade auf solche
Fragen mit Verachtung herabblickt. Sie erkennt solche Zusammentreffen
nicht nur nicht an, sie will nicht einmal an sie _denken_. Hirngespinste
nennt sie sie, Unsinn und Dummheiten: „Nein, davon ist nichts passiert;
nur der Marschall Mac-Mahon, oder richtiger, seine Frau Gemahlin, hat da
irgend etwas einfach gewollt, und infolgedessen ist dann alles so
gekommen, wie es gekommen ist.“ Und darum bin ich – ungeachtet dessen,
daß ich selbst es ausgesprochen habe, als ich diesen Aufsatz begann: daß
unsere Zeit eine diplomatische _par excellence_ und alles übrige nur
Phantasterei sei – bin ich selbst als erster gezwungen, daran nicht zu
glauben. Nein, hier gibt es ein Rätsel! Nein, hier entscheidet nicht die
Diplomatie allein, sondern noch irgend etwas anderes. Und ich muß
gestehen, dieses Ereignis verwirrt mich nicht wenig: ich war so gern
bereit, an die Diplomatie zu glauben ... aber diese neuen Fragen – die
sind ja nur neue Scherereien und sonst nichts ...


        Niemals ist Rußland so mächtig gewesen wie jetzt, – eine

                     nicht-diplomatische Auffassung

In der Tat, da habe ich nun eine Frage gestellt und bin ihr vorläufig
ohne Begründungen nachgegangen. Doch schon lange vor dieser Frage – ich
meine die Erscheinung, daß alle Weltprobleme sich gleichzeitig
einstellen, kaum daß sich eines von ihnen erhebt – hat sich mir schon
eine andere unvergleichlich einfachere und natürlichere Frage gestellt,
der jedoch, eben weil sie so einfach und natürlich ist, die „Klugen des
Landes“ noch so gut wie überhaupt keine Aufmerksamkeit zu schenken
pflegen. Mag auch die Diplomatie zu allen Zeiten und in allen Ländern
die Schiedsrichterin aller wichtigen und fundamentalen Fragen der
Menschheit gewesen sein und es auch in Zukunft bleiben, – aber hängt
denn nun wirklich, frage ich, die endgültige Lösung der
Menschheitsfragen nur von ihr ab? Kommt nicht vielmehr in jeder Frage
eine Phase, ein Moment, da es mit den bekannten diplomatischen
Mittelchen, den Flickchen, nicht mehr geht? Und wenn auch alle
Weltfragen vom diplomatischen Standpunkt aus, das heißt soviel wie von
dem der gesunden Vernunft, ihre Erklärung einzig darin finden, daß diese
oder jene Macht einfach ihre Grenzen erweitern wollte, oder daß
irgendein tapferer General persönlich irgend etwas wollte, oder daß
einer bestimmten vornehmen Dame etwas nicht gefallen hat usw. (Möge das
alles unwiderruflich wahr sein, hier muß ich schon nachgeben, denn gegen
Allwissenheit bin ich machtlos) ... Aber trotzdem: kommt nicht doch
einmal ein gewisser Augenblick – gerade bei diesen allerrealsten
Ursachen und ihren Erklärungen –, ein Punkt im Verlaufe der Sache, eine
Phase, da mit einem Male irgendwelche ganz sonderbare, sagen wir,
unbegreifliche und rätselhafte Mächte plötzlich alles erobern, die ganze
Gesamtheit ergreifen und blind, unaufhaltsam nach sich ziehen, als ob es
einen Berg hinabginge, und ... ja und warum dann nicht auch in den
Abgrund mit ihnen stürzen? Eigentlich will ich ja nur wissen: verläßt
sich nun die Diplomatie immer so auf ihre Mittel, daß sie ähnliche
Mächte (oder Momente oder Phasen) überhaupt nicht fürchtet, oder glaubt
sie, daß sie einfach nicht vorhanden seien? Leider scheint es, daß sie
noch immer letzteres tut, und ebendeshalb frage ich: Wie soll ich ihr da
nun Glauben schenken und mich ihr anvertrauen? Und wie kann ich sie dann
für die endgültige Schiedsrichterin der Schicksale einer noch so
unvernünftigen, kindischen Menschheit ansehen!?

Kaidanoff hat in seiner „Neuen Geschichte“ zu Anfang des Abschnittes,
der die Französische Revolution und Napoleon I. behandelt, folgenden
Satz geschrieben: „Eine tiefe Stille herrschte in ganz Europa, als
Friedrich der Große auf ewig seine Augen schloß; aber noch nie war eine
ähnliche Stille einem so großen Sturme vorhergegangen.“ Diese Einleitung
habe ich für mein ganzes Leben behalten. In der Tat, wer konnte damals,
als Friedrich der Große starb, auch nur entfernt ahnen, was mit den
Menschen und mit Europa in den folgendem dreißig Jahren geschehen
sollte? Ich rede nicht von irgendwelchen gebildeten Leuten, oder selbst
Schriftstellern, Journalisten, Professoren. Alle wurden sie bekanntlich
irre: Schiller, zum Beispiel, schrieb damals einen Dithyrambus auf die
Eröffnung der Nationalversammlung; der in Europa herumreisende junge
Karamsin[31] sah mit bebendem Herzen auf das gleiche Ereignis; in
Petersburg aber, bei uns in Rußland, glänzte noch immer die Marmorbüste
Voltaires. Nein, ich wende mich mit meiner Frage unmittelbar an die
höchste Allwissenheit, unmittelbar an die Entscheider der
Menschenschicksale – an die Herren _Diplomaten_: haben sie damals auch
nur etwas von dem vorausgesehen, was dann in den folgenden dreißig
Jahren geschehen ist?

Könnte ich nun diese Frage den Diplomaten persönlich stellen und sollten
sie geruhen, mich anzuhören, so würden sie mir bestimmt mit hochmütigem
Lächeln antworten: „Zufälle lassen sich nicht voraussehen, und unsere
ganze Weisheit besteht bloß darin, daß man sich auf alle Zufälle
vorbereitet.“

Das ist die typische Antwort ... wenn ich sie mir auch selbst ausgedacht
habe, da ich doch keinen Diplomaten mit solchen Fragen belästigen darf,
– wie sollte ich denn! Doch mein ganzes Entsetzen liegt in meiner
Überzeugung, daß man mir gerade so und nicht anders geantwortet hätte,
und darum habe ich auch die Antwort eine „typische“ genannt. Denn was
waren diese Ereignisse des letzten Dezenniums des vorigen Jahrhunderts
in den Augen der Diplomaten anderes als – „_Zufälle_“? Waren es und sind
es noch heute! Und Napoleon erst gar – ach, der! – der ist schon ein
Erz-Zufall! Wäre Napoleon nicht gekommen, wäre er dort unten in Korsika
in seinem dritten Lebensjahre an den Masern gestorben, so würde
selbstverständlich auch der ganze dritte Stand der Menschheit, die
Bourgeosie, nicht heraufgekommen sein, um das ganze Antlitz Europas zu
verändern – was sich bis heute noch fortsetzt –, sondern wäre da in
Paris ruhig bei sich zu Hause geblieben!

Es scheint mir nämlich, daß auch unser Jahrhundert im alten Europa mit
irgend etwas Kolossalem enden wird, das heißt, vielleicht nicht gerade
mit etwas, das buchstäblich dem gleicht, womit das achtzehnte
Jahrhundert endete, aber immerhin mit etwas ebenso Kolossalem,
Elementarem und Furchtbarem und gleichfalls mit einer totalen
Veränderung des Antlitzes dieser Welt – wenigstens im Westen des alten
Europa. Und nun, wenn unsere Allwissenden versichern werden, daß man
_Zufälle_ doch nicht voraussehen könne usw., ja, wenn ihnen in betreff
dieses Finales noch überhaupt nichts in den Kopf gekommen ist, so ...

Mit einem Wort: Flickchen, Flickchen, Flickchen drauf!

Nun, seien wir vernünftig, warten wir ab. Flickchen sind doch, je
nachdem wie man’s nimmt, auch eine notwendige und nützliche Sache und
obendrein noch eine vernünftige und praktische, um so mehr, als man mit
Flickchen z. B. den Feind hinter das Licht führen kann. Also: bei uns
gibt’s jetzt Krieg, und sollte es geschehen, daß Österreich sich
feindlich zu uns stellt, so kann man ihm mit einem „Flickchen“ gerade
prachtvoll die Augen verbinden, was es übrigens mit Vergnügen geschehen
lassen wird – denn was ist Österreich? Selbst ist es schon dem Tode
nahe, will auseinanderfallen, ist genau so ein „kranker Mann“ wie die
Türkei, ja, ist vielleicht noch schlimmer krank als diese. Es ist ein
Musterbeispiel von innerlich sich feindlichen Vereinigungen, allen
möglichen Dualismen, allen möglichen Völkern, Ideen, allen möglichen
Uneinigkeiten und entgegengesetzten Bestrebungen; da gibt es Ungarn,
Slawen, Deutsche und das Reich der Juden ... Jetzt aber, wo die
Diplomatie ihm dermaßen den Hof macht, kann es ja wahrhaftig von sich
denken, daß es – eine Macht sei, die tatsächlich viel zu bedeuten habe
und bei der Schicksalsentscheidung der Völker noch eine große Rolle
spielen könne. Eine solche Selbsttäuschung, die mittels besagter
Hofmacherei und Flickchen hervorgerufen wird, ist jedoch für die
Entscheidung der Schicksale der slawischen Völker sehr vorteilhaft, denn
sie kann den Feind eine Zeitlang einschläfern; im Augenblick der
Entscheidung aber, wenn die Binde von seinen Augen fällt und er
plötzlich sieht, daß ihn niemand fürchtet, daß er nichts weniger als
eine Macht ist, – kann er dann nur noch verwirrt stehen bleiben und
zusehen, wie er seinen Mut verliert. Eine andere Sache ist es mit
England: das ist etwas Ernsteres, – zumal es augenblicklich um seine
fundamentalsten Unternehmungen furchtbar besorgt ist. England kann man
mit Flickchen und Hofmacherei nicht einschläfern. Was man ihm da auch
erzählen wollte, es würde doch nie und nimmer glauben, daß die riesige,
heute die mächtigste Nation der Welt, die ihr Schwert gezogen und die
Fahne der großen Idee erhoben und schon die Donau überschritten hat, in
der Tat beabsichtige, die Aufgaben, die sie sich gestellt, sich selbst
zum Nachteil und nur England zum Vorteil zu lösen; denn jede
Verbesserung der Lage der slawischen Völker ist für England _in jedem
Falle_ ein offenbarer Nachteil, und mit Flickchen macht man ihm da kein
X mehr für ein U vor: England würde einfach keinem einzigen Worte
glauben. Ja, und mit welchen Argumenten könnte man es denn überzeugen?
Etwa mit: „ich werde nur ein bißchen _anfangen_, doch nicht beenden“?
Aber in der Politik ist ja der Anfang einer Sache so gut wie alles, denn
der Anfang führt ganz naturgemäß früher oder später doch zu einem Ende.
Was will es besagen, daß der Abschluß sich nicht gerade „heute“
vollzieht, – dann wird er eben „morgen“ stattfinden. Wie gesagt, die
Engländer würden uns doch kein Wort glauben, und darum – sollten auch
wir England keinen Glauben schenken, oder höchstens so wenig wie irgend
möglich ... selbstverständlich brauchen wir ihm das nicht gleich zu
sagen. Auch wäre es nicht schlecht für uns, wenn wir unsererseits
dahinterkämen, daß England momentan in der kritischsten Lage ist, in der
es sich je befunden hat. Diese seine kritische Lage kann man mit dem
einzigen Wort „Isolierung“ bezeichnen, denn vielleicht ist England noch
niemals so furchtbar vereinsamt gewesen wie jetzt. Oh, wie froh wäre es,
könnte es irgendwo in Europa einen Freund finden – wie herzlich gern
würde es dann eine _entente cordiale_ schließen! Zu seinem Unglück aber
hat es in Europa wohl noch nie eine für neue _ententes cordiales_
ungünstigere Zeit gegeben als die gegenwärtige; denn gerade jetzt hat
sich in Europa alles gleichzeitig erhoben, alle Weltfragen zugleich, und
mit ihnen auch alle Weltwidersprüche, so daß jedes Volk und jedes Reich
furchtbar viel bei sich zu Hause zu tun hat. Und da das englische
Interesse nicht universal ist, sondern sich schon längst von allem und
von allen isoliert hat und nur noch England allein angeht, so wird
dieses Land eben, wenigstens eine Zeitlang, vollkommen vereinsamt
bleiben. Versteht sich, es könnte sich ja sogar mit solchen Mächten
vereinigen, die bei gleichen Vorteilen andere Ziele verfolgen – „ich
verschaffe dir dieses, du mir aber dafür jenes!“ Doch bei dem besonderen
Charakter der gegenwärtigen Sorgen Europas ist es für England schwer,
einen derartigen Verbündeten zu finden, wenigstens in diesem Augenblick,
und es wird lange warten müssen, bis sich in der weiteren Entwicklung
ein Moment einstellt, in dem man auch ihm erlauben wird, sich mit seiner
Freundschaft wieder irgend jemandem aufzudrängen. Außerdem braucht
England vor allen Dingen ein für sich vorteilhaftes Bündnis, d. h.
eines, bei welchem es alles nimmt, selber aber nach Möglichkeit _nichts_
wiederzugeben hat. Nun ist aber gerade ein so vorteilhaftes Bündnis
jetzt am schwersten zu schließen, und so muß denn England zunächst in
seiner Einsamkeit verbleiben. Ach, wenn wir Russen uns doch dieser
Vereinsamung geschickt bedienen könnten! Doch da höre ich noch einen
anderen Seufzer: „Ach, wenn wir doch weniger skeptisch wären und daran
glauben könnten, daß es wirklich Weltfragen gibt und sie nicht nur
Hirngespinste sind!“ Das Unglück ist ja, daß bei uns in Rußland ein sehr
großer Teil unserer Intelligenz Europa immer irgendwie _nicht richtig_
sieht und einschätzt, nicht so, wie es jetzt ist, sondern stets
irgendwie veraltet. Man versteht nicht, _in die Zukunft_ zu sehen, das
ist es, und man urteilt nur nach dem Vergangenen, nach längst
Vergangenem!

Währenddessen aber existieren die Weltfragen tatsächlich, – und wie soll
man denn nicht an sie glauben, und noch dazu wir? Zwei von ihnen haben
sich schon erhoben und werden nicht mehr von menschlicher Allwissenheit
gelenkt, sondern von ihrer elementaren Macht, ihrer organischen
Notwendigkeit, und können nicht ohne Lösung bleiben, trotz aller
Berechnungen der Diplomatie. Aber es gibt auch noch eine dritte Frage,
gleichfalls eine universale, eine, die sich gerade jetzt zu erheben
beginnt. Diese Frage kann man im speziellen „die deutsche“ nennen, aber
in Wirklichkeit und im ganzen ist sie mehr als jede andere eine
europäische; denn sie ist mit dem Schicksal ganz Europas und dem aller
übrigen Weltfragen so eng wie nur möglich verbunden ... Und doch sollte
man meinen, so dem Äußeren nach zu urteilen, daß es nichts Ruhigeres und
Ungestörteres geben könne, als das gegenwärtige Deutschland: im
Bewußtsein seiner Macht blickt es um sich, beobachtet und wartet ab.
Alle brauchen es mehr oder weniger, und mehr oder weniger hängen alle
von ihm ab. Und doch ... ist das Ganze eine Täuschung! Das ist es ja
eben, daß jetzt alle in Europa mit ihrer eigenen Sache beschäftigt sind:
bei jedem hat sich jetzt eine eigene allerwichtigste Frage eingestellt,
eine Frage von einer Wichtigkeit, wie die Existenz selber, wie Sein oder
Nichtsein. Und siehe, genau so eine Frage hat sich nun auch in
Deutschland eingefunden, und gerade in dem Augenblick, da sich auch die
anderen Weltfragen erhoben haben – und dieser Zustand Europas, füge ich
vorausgreifend hinzu, ist für Rußland augenblicklich von unschätzbarem
Vorteil! Denn noch niemals ist Rußland für Europa etwas so
Unentbehrliches und in seinen Augen so mächtig gewesen und zu gleicher
Zeit so entfernt von den wichtigsten und furchtbarsten Fragen, die sich
im alten Europa erheben, aber _nur_ das alte Europa und nicht Rußland
angehen. Und noch nie wäre ein Bündnis mit Rußland in Europa so hoch
eingeschätzt worden wie jetzt, und noch nie hätte Rußland sich mit
größerer Freude dazu Glück wünschen können, daß es nicht das alte Europa
ist, sondern das neue, daß es selbst, in sich, eine besondere, mächtige
Welt darstellt, für die gerade jetzt der Augenblick gekommen ist, in
eine neue und höhere Phase der Macht einzutreten und von den
verhängnisvollen Fragen, an die das alte, hinfällige Europa gefesselt
ist, unabhängiger denn je zu werden.


             Die römisch-klerikale Verschwörung in Rußland

Es ist nicht lange her,[32] daß ich in den „Moskauer Nachrichten“
folgende Stelle im Leitartikel fand:

„Vor drei Tagen lenkten wir in einem Leitartikel die Aufmerksamkeit
unserer Leser auf eine gewisse Partei, die innerhalb Rußlands im
Einverständnis mit unseren Feinden ihre häßliche Tätigkeit betreibt und
sogar bereit ist, den Türken zu helfen. Es ist eine Partei russischer
Anglo-Magyaren, denen jede Offenbarung unseres Volksgeistes, sowie jede
Handlung unserer Regierung in diesem Geiste verhaßt ist, und die der
russische Patriotismus auf eine Stufe mit dem Nihilismus und der
Revolution stellt, – eine Partei, die mit der denkbar schändlichsten
Korrespondenz die uns feindliche ausländische Presse nährt. Kaum war der
Artikel in Druck gegeben worden, als ein Telegramm unseres Petersburger
Korrespondenten uns von der im ‚Regierungsanzeiger‘ veröffentlichten
Aufdeckung neuer Taten dieser Partei benachrichtigte. Zur selben Zeit,
da unsere Armee zwischen Plewna und Orchanie glänzende Siege errang,
verbreitete man in Petersburg Gerüchte von Niederlagen, die diesen
selben siegreichen Truppen beigebracht sein sollten. Das Ziel dieser
Intrige ist natürlich, dem Volk auf diese Weise den Mut zu rauben, und
zwar fährt man auch jetzt noch fort, sich so eifrig darum zu bemühen,
daß die Regierung für nötig befunden hat, das Publikum vor ähnlichen
Gerüchten ein für allemal zu warnen.“

Die „Neue Zeit“ schrieb darauf am folgenden Tage, übrigens nur ganz
flüchtig, daß die „Moskauer Nachrichten“ wohl ein wenig zu weit
gegriffen hätten, und daß der „Regierungsanzeiger“ vielleicht einfach
irgendein bedeutungsloses Geschwätz gemeint haben werde. Möglich, daß es
sich so verhält und die Warnung des „Regierungsanzeigers“ in der Tat nur
durch ein „Geschwätz“ hervorgerufen worden ist. Nichtsdestoweniger hat
die Annahme der „Moskauer Nachrichten“ fraglos ihren Grund. Nur weiß ich
nicht, was das für Anglo-Magyaren sein sollen? Bei uns – meine ich
vielmehr –, besonders in unseren Grenzgebieten, aber auch im Innern,
ließen sich vielleicht nicht wenige „römische Klerikale“ finden, die in
verschiedenen Röcken stecken. Heute wissen und schreiben bereits alle
von der klerikalen Allerweltsverschwörung, und sogar unsere liberalsten
Blätter geben zu, daß dieser Bund seine Bedeutung hat. Wäre es nun,
meine ich, nicht sonderbar, wenn die vatikanische Verschwörung unsere
römischen Klerikalen außer acht lassen und sie nicht zu ihren Zwecken
gebrauchen würde? Unruhen im Rücken der russischen Armee kämen dem
Vatikan gerade recht, besonders im gegenwärtigen Augenblick. Doch ich
will noch einen Auszug aus der „Neuen Zeit“ anführen. Sie zitiert u. a.
die Meinung der „Stimme“ über verschiedene Artikel, die in der „Morning
Post“ und anderen ausländischen Zeitungen erschienen sind.

„Die ‚Morning Post‘ vom 22. Oktober bringt einen interessanten Artikel,
in dem das turkophile Blatt von Unterhandlungen spricht, die
zwischen Rußland und Deutschland in betreff der Abtretung des
West-Weichselgebietes an Deutschland stattgefunden haben sollen.
Selbstverständlich handelt es sich hier in den Augen der ‚Morning Post‘
um das Ergebnis einer Abmachung, derzufolge Deutschland sich
verpflichtet, Rußland ‚bei den Eroberungen am Balkan zu helfen‘. Das
Londoner Blatt fährt darauf fort, auf das bestimmteste zu behaupten, daß
die Polen des Weichselgebiets an einen Aufstand jetzt überhaupt nicht
dächten, ‚da sie nicht in noch bitterere Sklaverei fallen‘, d. h. nicht
an Preußen fallen wollten, und daß, wenn im ‚russischen Polen‘
irgendwelche Unordnungen vorkommen sollten, diese einfach ‚die Folgen
der russisch-preußischen Intrigen‘ sein würden ... Es ist auffallend,
daß ein paar Tage vorher der ‚Dziennik Polski‘ über dasselbe Thema
gesprochen, wenn auch in etwas anderem Tone, indem er mitteilte, die
russische Regierung habe, als sie die Truppen aus dem Weichselgebiet
zurückzog, daselbst unter den Bauern Blätter verteilt, in denen sie die
Bauern aufforderte, von sich aus eine Art Dorfwacht zu bilden zur
Beaufsichtigung der Pane und zur Unterdrückung etwaiger Versuche eines
Aufstandes. Die ‚Stimme‘, die diese beiden Auszüge bringt, fragt
verwundert, wozu der ‚Dziennik Polski‘ und die ‚Morning Post‘ plötzlich
die unsinnige Fabel von dem russischen Aufruf an die Weichselbauern und
den russisch-preußischen _agents provocateurs_ erfunden haben – zu welch
einem Zweck?

Irgendein Ziel müssen diese unerwarteten Ausfälle doch verfolgen. Die
genannten Zeitungen müssen wahrscheinlich Nachrichten erhalten haben,
die sie einen Ausbruch von Unruhen im Weichselgebiet befürchten lassen,
und so bemühen sie sich denn, den Sinn, die Ursache der Bewegung, deren
Folgen sie augenscheinlich fürchten, im voraus zu entstellen. Dieses
Verfahren ist nicht neu. Bekanntlich ist es auch 1863 von den Polen und
deren westlichen Freunden angewandt worden. Diese Erinnerung allein
zwingt schon, sich einzugestehen, daß die beiden Artikel nicht
bedeutungslos sind und eine gewisse geheime Verbindung mit den früheren
Artikeln der Magyarenpresse haben müssen: über die Neigung der Polen zu
den Türken und ihren geheimen Wunsch, Rußlands Lage durch revolutionäre
Agitation in unserem Westen zu verschlimmern. Auffallend ist dabei, daß
diese beiden Artikel mit der Nachricht von der Kandidatur des Kardinals
Ledochowski für den Papststuhl zusammentreffen. Wir gehören nicht, sagt
‚Die Stimme‘, zu jenen, die so gern eine übertriebene Bedeutung allen
phantastischen Kombinationen zuschreiben, an die sich die Feinde
Rußlands klammern, in der Hoffnung, einen für uns günstigen Ausgang des
jetzigen Krieges zu verhindern. In diesem Fall aber scheint uns die
Sache doch zu ernst zu sein, als daß man eine so bedeutsame Tatsache,
wie das unerwartete und scheinbar durch nichts veranlaßte Erscheinen der
Artikel des ‚Dziennik Polski‘ und der ‚Morning Post‘ zweifellos ist,
übersehen könnte.“

Also gibt es vielleicht auch bei uns etwas, das einem Zweig der
klerikalen Verschwörung ähnlich sieht. Man bedenke nur das Unsinnige der
Nachricht von der Kandidatur Ledochowskis, der natürlich Pole ist – denn
nur der leichtsinnige Kopf eines polnischen Agitators kann ernstlich
glauben, daß das Konklave, das sich aus so feinen Köpfen zusammensetzt,
fähig sein könnte, sich dermaßen zu verirren, d. h. Ledochowski zu
wählen, der sich als Papst doch nur mit der Wiederherstellung seines
Polens beschäftigen würde, nicht aber mit der römischen universalen
Herrschaft der Päpste! Aber abgesehen davon sind die Zweige der
klerikalen Verschwörung in Rußland doch nur zu ersichtlich. Die „Neue
Zeit“ fügt noch hinzu:

„Die zurzeit so hartnäckige Polemik des ‚Journal de St.-Petersbourg‘ mit
den italienischen klerikalen Zeitungen wegen der vermeintlichen
Unterdrückung des Katholizismus in Polen zeigt gewissermaßen, daß doch
Anzeichen irgendeiner Agitation in unseren westlichen Grenzgebieten
vorhanden sein müssen.“

Nun, ich glaube, daß es durchaus nicht nur „Anzeichen“ sind! Das scheint
vielmehr jene Partei zu sein, von der die „Moskauer Nachrichten“ sagen,
daß sie im Einverständnis mit den Feinden Rußlands handelt ... und der
„jede Offenbarung unseres Volksgeistes, sowie _jede Handlung unserer
Regierung in diesem Geiste verhaßt ist_, und die der russische
Patriotismus auf eine Stufe mit dem Nihilismus und der Revolution
stellt, – die Partei, die mit der denkbar schändlichsten Korrespondenz
die uns feindliche ausländische Presse nährt ...“

Ja, gerade die europäische Korrespondenz aus Rußland kann leicht, sehr
leicht ihr Werk sein. Dieses Frohlocken über Rußlands Mißerfolge und
dieses leichtsinnige Freudengeheul darüber, daß Rußland sich plötzlich,
wie sie sagen, als „schwach erweist: ohne Geld, mit schlechtem Heer, mit
unzufriedenem und schon murrendem Volke, mit einer Gesellschaft, die der
Nihilismus zersetzt,“ – all diese Kleinigkeiten tragen nur zu deutlich
die Merkmale ihrer bekannten Herkunft. Wie wäre es möglich, daß sich
nicht auch russische Federn fänden, die bereit wären, _all’unisono_ mit
den Klerikalen zu schreiben! Aber diese Korrespondenz kann, glaube ich,
trotzdem nicht von Russen geschrieben worden sein: das wäre denn doch
schon zu niederträchtig, zu abscheulich. Trotzdem lenken die Klerikalen,
und vielleicht sogar ohne besondere Mühe, die russischen Federn nach
ihrem Willen. Vielleicht überreden sie sie weder, noch lassen sie sich
sonstwie auf mittelbare oder unmittelbare Unterhandlungen mit ihnen ein;
denn diese gewandten liberalen Federn gehören _zuweilen_ den ehrlichsten
Leuten an, die, wenn sie das nackte Angebot eines Klerikalen hörten, ihn
vielleicht ohne weiteres die Treppe hinunterbefördern würden. Dafür aber
weiß der Klerikale, wenigstens der, der sich bei uns ein wenig umgesehen
hat, daß er zu solchen Leuten überhaupt nicht zu gehen braucht, daß die
gewandte russische Feder ihm ganz umsonst alles schreiben wird, einzig,
weil sie denkt – o ihr meine Lieben! –, es sei ehrlich und es sei
liberal! Die gewandte Feder, zum Beispiel, empört sich über die
Klerikalen, die in Frankreich Mac-Mahon umgarnen, und schreibt drohende
Artikel gegen sie. Währenddessen aber bringt sie es fertig, den
russischen Römisch-Klerikalen bei uns nicht nur nicht zu bemerken,
sondern sie stimmt womöglich noch mit ihm in allem vollkommen überein.
Wahrhaftig, solche Russen gibt es! Und diese schlauen Römisch-Klerikalen
wundern sich gewiß nicht wenig über sie. „Was das ihnen doch für ein
Vergnügen macht, sich immer zwischen die Stühle zu setzen,“ denken sie
wohl kopfschüttelnd bei sich. „Und wie uneigennützig dabei! Ja, ja, man
muß in allem bis zum Schluß liberal sein. Da schreiben sie nun, daß
Rußland nicht einmal das _Recht_ habe, die Slawen zu befreien! Herrgott!
das wäre ja mit Hunderttausend noch zu wenig bezahlt! Und immer, immer
wieder zwischen die Stühle; allaugenblicklich, allaugenblicklich! Daß es
ihnen nicht endlich weh tut! ...“

                   *       *       *       *       *

Zu Anfang des Sommers versuchten diese klerikalen Agitatoren sogar durch
die russischen Zeitungen eine Demonstration bei uns zu veranstalten. Die
Wölfe warfen sich in Schafspelze und begannen in einem Tone zu sprechen,
als ob sie Abgesandte der sämtlichen polnischen „Emigranten“ im Auslande
wären. Zuerst schlugen sie eine Aussöhnung vor: nehmt auch uns auf, hieß
es, wir sehen, daß die künftige Vereinigung aller Slawen keinem Zweifel
mehr unterliegt – und so wollen wir nicht zurückstehen. Sie sprachen
ungemein zärtlich und hoben ihre Gründe hervor:

„Wir haben,“ sagten sie, „Ingenieure, Chemiker, Techniker, Handwerker
usw. Viele von ihnen sind emigriert. Laßt sie zu euch!“ „Habt ihr etwa,“
fragt der Litauer, der in den „St. Petersburger Nachrichten“ einen
Artikel geschrieben hat, „keine Arbeit für jenen Kreis, der zuerst
Tengoborski für Rußland, Wolowski für Frankreich hervorgebracht hat? und
in den Künsten, die die Sitten und den Charakter veredeln, den
weltberühmten Bildhauer Brotzki und den Maler Mateiko? Solltet ihr
solche Leute wirklich nicht nötig haben? Und was ließe sich noch alles
von der Schar der Literaten, Publizisten, Fabrikanten und aller Art
Gewerbetreibender sagen! Könntet ihr die etwa auch nicht brauchen?“
(„Neue Zeit.“ Aus dem Artikel Kostomaroffs.)

Herr Kostomaroff hat darauf in der „Neuen Zeit“ als Russe geantwortet.
In klaren und treffenden Auseinandersetzungen weist er nach, daß dieser
ganze polnische Versöhnungsversuch für uns nur eine Falle ist, einzig zu
dem Zweck erdacht, uns nichts als Verräter zuzuführen, und daß der Pole
des Alten Polens Rußland und den Russen nun einmal instinktiv und
leidenschaftlich haßt. Kostomaroff gibt dabei durchaus zu, daß es auch
treffliche Polen gibt, Polen, die sogar mit einem Russen in Freundschaft
leben, ihm in der Not helfen, ja, ihn sogar retten können. Das ist
natürlich wahr. Doch sollte, wenn auch nach zwanzigjähriger
Freundschaft, dieser selbe Russe diesem selben trefflichen Polen
plötzlich in russischem Geiste seine politischen Überzeugungen in
betreff Alt-Polens darlegen, so würde dieser Pole sofort, im selben
Augenblick der offene oder geheime Feind seines russischen Freundes
werden, – und zwar fürs ganze Leben, bis übers Grab hinaus, würde
unversöhnlich und maßlos in seiner Feindschaft sein! Letzteres hat
Kostomaroff vergessen hinzuzufügen.

Dieser ganze „Aussöhnungsversuch“ im Sommer, der sogar russische
Anhänger und in Kostomaroff einen so mächtigen Opponenten gefunden hat –
ist zweifellos auf klerikale Umtriebe zurückzuführen: er war einfach
eine Abzweigung der europäischen klerikalen Verschwörung. Oh, diese
Polen Alt-Polens versichern natürlich, daß sie keineswegs klerikal, noch
papistisch, noch römisch seien, und daß wir dieses schon längst von
ihnen wissen müßten. Man stelle sich jedoch nur einmal vor, daß
Alt-Polen, daß all diese polnischen Emigranten, sich _nicht_ an den
Papst halten sollten! Wie lächerlich die bloße Vorstellung schon ist!
Die Polen sollten nicht zum Vatikan halten, sie, die so genau seine
Macht zu schätzen verstehen und immer verstanden haben!? Der Vatikan ist
doch Alt-Polen niemals untreu geworden, sondern hat im Gegenteil immer
alle seine Pläne, mochten sie noch so phantastisch sein, aus allen
Kräften unterstützt, auch wenn die anderen Reiche längst nichts mehr von
ihnen wissen wollten! Dieser sommerliche Versöhnungsvorschlag ward
gerade in der Zeit gemacht, als die ganze polnische Emigration gegen
Rußland arbeitete, als die polnischen Legionen gegründet wurden, als die
emigrierten Aristokraten in Konstantinopel mit großen Geldsummen –
versteht sich, nicht ihren eigenen – erschienen. Dieser ganze
Versöhnungsvorschlag war nichts als eine einzige Hinterlist, wie
Kostomaroff sehr richtig bemerkt. Übrigens: sie bieten uns ihre
Gelehrten, Techniker, Künstler an und sagen: „Nehmt sie auf, habt ihr
sie denn etwa nicht nötig?“ Diese Polen halten uns wohl für ein wildes
Volk und scheinen nicht zu ahnen, daß wir alles, was sie uns da
anbieten, vielleicht selber besser haben. Doch nichts für ungut, und vor
allen Dingen: warum kommen sie denn nicht? Wir haben mehrere talentvolle
Polen gehabt, und Rußland hat sie geachtet und verehrt und sie nicht im
geringsten vor den Russen zurückgesetzt. So kommt doch! Wozu soll man
sich da noch besonders verabreden? Versöhnt euch und ergebt euch, doch
wißt, daß Alt-Polen niemals mehr aufleben wird. Es gibt ein neues Polen,
ein vom Zaren befreites, ein auferstehendes, eines, das fraglos dasselbe
Schicksal erwarten kann, das einmal allen slawischen Völkern gemeinsam
beschieden sein wird, wenn das Slawentum sich befreit und in Europa
aufersteht. Doch ein Alt-Polen wird es niemals mehr geben, kann es neben
Rußland nie mehr geben. Sein Ideal war, in der slawischen Welt an die
Stelle Rußlands zu treten. Sonderbar, daß der polnische Journalist nur
von den Gelehrten und Künstlern spricht. Aber die Führer der Emigranten,
die Aristokraten? Man stelle sich doch bloß das Bild vor: Rußland würde
den schmeichlerischen Worten Gehör geben und sich zur Versöhnung bereit
erklären, und da kämen diese dann und fragten hochmütig: „Wie lauten
eure Bedingungen?“ Denn wenn man uns vorschlägt, die Emigranten nach
Rußland kommen zu lassen, die nun aber zunächst nicht kommen, so heißt
das doch offenbar, daß sie _Bedingungen erwarten_. Und nun stelle man
sich vor, daß Rußland sie plötzlich als ein Etwas anerkennt und sich auf
derartige Unterhandlungen einläßt! Und da würden sie denn nach Rußland
zurückkehren, und die Magnaten würden sofort auftrotzen und bedeutende
Posten und Auszeichnungen verlangen; und darauf würde sich das Geschrei
erheben, daß wir sie betrogen hätten, und schließlich würde es zu einem
neuen polnischen Aufstande kommen ... Und in diese Falle sollte Rußland
hineingehen! Solch eine Dummheit sollte es begehen!

Die Polen haben natürlich selber nicht geglaubt, daß sie mit diesem
ungeschickten Vorschlag Rußland fangen könnten; doch rechneten sie wohl
auf die russischen Parteigänger, die ja immer noch so gutmütig und
reinen Herzens sind. Daß hinter allem aber die Machenschaft des Klerus
steckt, daß das Ganze ein klerikaler Schritt nach Rußland ist – darüber
kann kein Zweifel mehr bestehen. Es fragt sich nur: wozu dieser Schritt?
– Nun, haben die Klerikalen es etwa nicht nötig, die Lage zu sondieren,
die Gedanken zu verwirren, ihre eigentlichen Unternehmungen und
Absichten zu verbergen, russische Parteigänger zu werben, Russisch-Polen
aufzuwiegeln usw.? Als ob diese Klerikalen nicht überall ihre
Berechnungen hätten!


                         Russische Finanzen[33]

„Und die Finanzen? Wie steht es mit einem Artikel über die Finanzen?“ –
fragt man mich. Ja, bin ich denn ein Finanzmann? Wie sollte ich es
wagen, über die Finanzen zu schreiben. Wenn auch ich es bin, der hier
das Thema aufwirft, so wage ich das doch nur, weil ich im voraus
überzeugt bin, daß ich von den Finanzen alsbald auf etwas ganz anderes
übergehen werde. Das gibt mir dann andererseits freilich den Mut zu
einer solchen Überschrift; denn ich weiß es ja selbst, daß ich gar nicht
fähig bin, über unsere Finanzen zu schreiben, da ich auf unsere Finanzen
nicht vom europäischen Standpunkt aus sehe und auch überhaupt nicht
daran glaube, daß man diesen europäischen Standpunkt bei uns einnehmen
kann, aus dem einfachen Grunde, weil wir nun einmal nicht „Europa“ sind
und im Vergleich zu „Europa“ fast wie auf dem Monde leben.

In Europa z. B. veränderten sich die Beziehungen der niederen Stände zu
den höheren, feudalen, im Laufe von Jahrhunderten, und zuletzt durch die
Revolution: alles vollzog sich mit einem Wort „historisch und
kulturell“. Bei uns dagegen wurde die Leibeigenschaft mit allen ihren
Folgen in einem einzigen Augenblick abgeschafft, und das geschah Gott
sei Dank ohne jegliche Revolution. Aber warum mußte das gleichwohl eine
so ungeheuere finanzielle Erschütterung verursachen? Wahr ist ja
allerdings, daß das, was plötzlich fällt, immer gefährlich fällt.
Versteht sich, nicht ich bedauere es, daß die Leibeigenschaft plötzlich
fiel, im Gegenteil, groß und gut war es, daß diese ganze schwere
geschichtliche Sünde durch das machtvolle Wort des Zar-Befreiers von uns
genommen wurde. Nichtsdestoweniger war das Naturgesetz nicht zu umgehen,
und die Erschütterung war groß. Nun gut: sie mußte ja groß sein, aber
warum war sie denn so ungeheuer? Jede politische Umwälzung hat ihre
historischen Gesetze, und ohne Zweifel wird es auch heute schon Menschen
geben, die bereits klar erkennen, warum die Folgen dieser Umwälzung so
groß waren. Leider kann ich dieses Thema nicht weiter entwickeln, denn
es ist zu gewaltig und umfangreich; erst ein Historiker des nächsten
Jahrhunderts wird ihm gewachsen sein. Ich will nur auf einzelne
Wirkungen, die von ihr ausgingen und die auffallen und beunruhigen,
hinweisen. Sehen wir uns die Sache näher an. Die Leibeigenschaft wurde
aufgehoben, denn sie behinderte alles, sogar die Entwicklung der
Landwirtschaft. Jetzt, so schien es, mußte der Bauer seine Lage
verbessern können! Doch nichts von alledem geschah: in der
Landwirtschaft kam der Bauer gerade auf das Minimum von dem, was ihm
sein Land geben konnte. Unser jetziges Unglück besteht hauptsächlich
darin, daß es uns unbekannt ist, ob sich in Zukunft solch eine Kraft
finden und worin sie bestehen wird, durch die der Bauer über das Minimum
hinauskommen und seine Erde zum Maximum des Ertrages zwingen kann. Die
Klugen im Lande werden behaupten, daß diese Frage längst beantwortet
sei, ich aber bin fest überzeugt, daß sie noch längst nicht beantwortet
sein kann, daß sie viel weiter reicht, viel tiefer greift und
unvergleichlich inhaltsvoller ist, als man von ihr voraussetzt. Die
ganze frühere herrschaftliche Landwirtschaft sank bis zur Kläglichkeit;
doch gleichzeitig begann eine Neuordnung des Besitzstandes, es schien
ein neues intelligentes Einheits- und Gesamtvolk zu entstehen. Nun,
Schöneres, Besseres hätte man sich nicht wünschen können, als eine
derartige Erneuerung, denn eine intelligente Führung hat das Volk nötig
und es sucht nach ihr. Aber bedauerlicherweise ist auch das bei uns erst
nur ein Ideal, ist wie ein schöner Vogel, der unter den Wolken
herumfliegt. Die Wirklichkeit ist von diesem Ideal weit entfernt! Ja,
will denn der grundherrschaftliche Stand, der frühere Gutsbesitzer,
überhaupt mit dem Volke zu einer klugen, einer intelligenten
Gesamtnation zusammenwachsen? Das ist die Frage, die allerwichtigste,
die allerbedeutendste, die es zurzeit bei uns überhaupt gibt, und von
der vielleicht unsere ganze Zukunft abhängt!

Währenddessen aber wissen wir noch längst nicht, auf welchem Wege wir
sie beantworten können. Will nicht, im Gegenteil, der besitzende Stand
sich über das Volk erheben, und sucht er es nicht wieder mit Macht zu
beherrschen, zwar nicht mehr wie zur Zeit der Leibeigenschaft, versteht
sich, aber immerhin: will er nicht, statt eine Vereinigung mit dem Volk
zu erstreben, aus seiner Bildung eine neue und scheidende Macht
aufrichten und es mit einer Aristokratie der Intelligenz bevormunden?
Oder will er das Volk aufrichtig als seinen Bruder im Blute wie im
Geiste anerkennen, das achten, was unser Volk achtet, einwilligen zu
lieben, was unser Volk mehr liebt als sich selbst? Denn sonst wird er
sich nie mit ihm vereinigen können! Was das Volk achtet und liebt, das
hält es fest und gibt es nicht hin, auch für keine Intelligenz, selbst
dann nicht, wenn es auch noch so sehr nach dieser verlangt. Alles das
ist bei uns noch ganz unentschieden, ist eine Frage, die Zeit,
Geschichte, Kultur und Generationen verlangt, uns aber steht es wieder
bevor, sie in einem einzigen Augenblicke zu entscheiden. Das ist ja eben
der Unterschied zwischen uns und Europa, daß bei uns die Dinge nicht auf
„historischem und kulturellem“ Wege sich entwickeln können, sondern
schnell und ganz plötzlich sich entwickeln müssen, oft geradezu – wie in
diesem Falle – auf völlig unvorhergesehenen staatlichen Befehl und
Willen. Sie werden mir zugeben, daß Europa eine solche Geschichte nicht
kennt. Wie kann man da von uns „Europa“ verlangen, und gar Finanzen nach
„europäischem System“? Ich, zum Beispiel, glaube wie an ein ökonomisches
Axiom, daß in einem Staate nicht die Eisenbahnaktionäre, nicht die
Industriellen, nicht die Millionäre, nicht die Banken und nicht die
Juden das Land beherrschen, sondern allen voran und ganz allein die
Landwirte: denn wer das Land bearbeitet, der zieht alles andere mit
sich. Der Landmann ist die Quintessenz, der Kern, das Mark des Reiches.
Wie ist es aber bei uns, ist es hier nicht gerade umgekehrt? Beherrschen
uns nicht gerade die ökonomischen Kräfte, der Eisenbahnaktionär und der
Jude? Europa baute seine Eisenbahnen ein halbes Jahrhundert lang – und
das bei seinem Reichtum! Bei uns dagegen wurden die letzten fünfzehn-
bis sechzehntausend Werst Eisenbahn in zehn Jahren gebaut – und das bei
unserer Armut und in einer ökonomisch so zerrütteten Zeit: gleich nach
der Aufhebung der Leibeigenschaft! Alles Kapital wurde dorthin gezogen,
gerade als das Land es am meisten brauchte. Die Eisenbahn wurde
gleichsam auf die zerrüttete Landwirtschaft gebaut. Und ist denn die
Frage des privaten Landbesitzes bei uns überhaupt schon beantwortet?
Wird der Einzelbesitz sich neben dem Bauernland halten können und seine
bestimmte Arbeitskraft finden, aber eine gesunde und feste, und nicht
auf das Proletariat und die Schenke angewiesen sein? Was kann da Gutes
herauskommen, solange nicht eine vernünftige Lösung dieses Problems
gefunden ist? Wir haben gesunde Entschlüsse nötig, früher werden wir
nicht zur Ruhe kommen. Und nur die Ruhe ist die Quelle jeder großen
Kraft. Wie kann man bei uns jetzt europäische Budgets und geordnete
Finanzen verlangen, wo es doch noch ein Rätsel ist, wie wir überhaupt
all dem haben standhalten können, was auf uns einstürmte? – Nur mit der
großen, verbindenden Volkskraft haben wir standzuhalten vermocht!

Ruhe haben wir wenig, besonders geistige Ruhe fehlt uns, und gerade
diese wäre die Hauptsache, denn ohne geistige Ruhe wird nichts. Dem
schenkt man aber bei uns gar keine Aufmerksamkeit, denn man strebt nur
nach zeitlichem materiellem Wohlergehen. Wenn wir keine geistige Ruhe
haben, so haben wir auch keine Festigkeit, weder in unseren
Überzeugungen, noch in unseren Ansichten, unseren Nerven, und zu guter
Letzt auch nicht in unserem Geschmack. Arbeit und die Erkenntnis, daß du
nur durch Arbeit „erlöst wirst“ – fehlt bei uns sogar ganz. Das
Pflichtgefühl geht uns völlig ab, ja, und woher sollten wir es auch
haben, da wir anderthalb Jahrhunderte lang eine falsche Kultur bei uns
hatten, oder, besser gesagt, gar keine?! „Warum soll ich mich bemühen,
wenn ich durch ebendiese meine Kultur dahin gekommen bin, alles um mich
herum zu verneinen? Und wenn es Dummköpfe gibt, die das Gebäude durch
irgendwelche europäische Formen zu retten glauben, so verneine ich die
Dummköpfe und behaupte: ‚je schlechter desto besser!‘ Das ist meine
ganze Philosophie!“ – Ich versichere Sie, daß bei uns viele so denken,
die einen laut, die anderen leise für sich. Die Leute mit solchen
Aphorismen sind indessen selbst durchaus von Fleisch und Bein. „Je
schlechter desto besser,“ sagen sie, aber wünschen tun sie dabei sicher
das „schlechter“ nur für die anderen, das „besser“ jedoch wohlweislich
für sich selbst; so wird man wohl ihre Philosophie verstehen müssen.
Denn er hat ja einen Wolfshunger, dieser Russe. Groß ist er wie ein Bär,
aber Nerven hat er wie eine Frau; verweichlicht und verwöhnt, grausam
und leidenschaftlich ist er, ertragen kann er nichts, „ja, und wozu sich
abmühen und aushalten?“ Ist es zu Ende mit den Diners im Restaurant, ist
es zu Ende mit den Kokotten, wozu lohnt’s sich dann noch zu leben, denkt
er und – krach, schießt er sich eine Kugel vor den Kopf! Und gut ist es
noch, wenn er sich eine Kugel vor den Kopf schießt, sonst geht er hin
und bestiehlt einen anderen auf irgendeinem mehr oder weniger
gesetzlichen Wege. Aber _arbeiten_? – nein, das wird er nicht! Und so
entsteht eine allgemeine Armut bei ständig wachsendem Appetit.

Unter anderem möchte ich noch bemerken, daß der Gogolsche Typ des
„Hauptmann Kopeikin“ sich in zahllosen Varianten, bis zum
aufgeblasensten Weltmann hinauf, bei uns erschreckend vermehrt hat. Alle
fletschen sie nach dem Bargelde die Zähne, alle bilden sie sich, wenn
auch nicht zu Räubern auf der offenen Landstraße wie der wirkliche
„Kopeikin“, so doch zu Taschendieben aus, einige unter dem Deckmantel
des Staats, andere ohne ihn. Einige von ihnen behaupten sogar stolz:
„Ich handle darum so, weil ich alles verneine und jegliche Verneinung
fördere.“ Oh, es gibt sogar liberale Kopeikins! Die haben nur zu gut
verstanden, daß der Liberalismus in Mode ist, und daß man mit ihm gut
fährt. Wer hat sie nicht gesehen, diese Allerweltsliberalen und
billigen Atheisten, wie sie jetzt dem Volke gegenüber mit ihrer
Fünfkopekenweisheit großtun. Es ist der niedrigste Typ von all unseren
liberalen Erscheinungen, aber nichtsdestoweniger hat auch er jenen
ungeheueren Appetit. Er ist der erste, der an eine mechanische Heilung
der Wurzeln von außen glaubt. Diese Leute gruppieren sich und haben
einen Einfluß, der sich oft bis auf die ehrlichsten Leute erstreckt, die
eigentlich nicht schuld daran sind, daß sie solch ein Kontingent haben:
„Jegliche Veränderung ist gut, wenn sie nur ohne Mühe vor sich geht.“
Der liberale Kopeikin fügt dann noch in Gedanken hinzu: „Bei jeder
Umwälzung fällt für mich immer etwas ab!“ Und gerade von dieser Seite
ist er am gefährlichsten, wenn er auch nur ein – Kopeikin ist. Aber mit
ihm wollen wir uns jetzt nicht weiter beschäftigen. Das bisher Gesagte
ist ja sowieso nur eine Ergänzung zu unserem Thema. Doch nun zu den
Finanzen, zu den Finanzen!

                   *       *       *       *       *

Es ist nun einmal meine Angewohnheit, immer gleich mit dem Ergebnis zu
beginnen, den Kern meiner ganzen Idee vorauszuschicken. Niemals habe ich
es verstanden, ihn allmählich herauszuschälen und ihn erst dann
bloßzulegen, wenn es mir gelungen ist, alles vorher klarzumachen und
nach Möglichkeit zu beweisen. Meine Geduld reicht dazu nicht aus, mein
Charakter verhindert es einfach; damit schade ich mir freilich sehr,
denn manch eine Idee setzt, geradeaus gesagt, ohne jegliche
Vorbereitung, ohne vorhergegangenen Beweis, nur in Erstaunen und
Verwunderung, wenn sie nicht Gelächter hervorruft. So komme ich denn
auch hier gleich wieder mit einer Behauptung, über die man – ich fühle
es schon im voraus – lachen wird, wenn man nicht auf sie vorbereitet
ist. Meine Behauptung ist folgende: „Wenn die Finanzen in einem Staate
gewisse Erschütterungen erlitten haben, so denke man nicht so sehr an
gegenwärtige Bedürfnisse, wie schreiend diese auch sein mögen, sondern
zuerst an die Gesundung der Wurzeln, und – die Finanzen werden sich von
selbst bessern.“

An sich ist das ja nichts Neues: welcher Finanzminister hätte sich nicht
schon darum bemüht, besonders unser jetziger, der gerade an so eine
Wurzel faßte, als er die Salzsteuer aufhob. Man erwartet sogar noch
andere Reformen, große, wirklich die Hauptwurzel erfassende. Freilich
wurden auch früher schon, bereits vor zehn Jahren, „zur Gesundung der
Wurzeln“ viele Mittel angewandt: Revisionen wurden eingeleitet,
Kommissionen berufen zur Untersuchung und Verbesserung der Lage unseres
russischen Bauern, seines Gewerbes, seiner Gerichte, Verwaltung, seiner
Krankheiten, Sitten und Gewohnheiten. Die Kommissionen teilten sich in
Unterkommissionen zur Sammlung statistischer Unterlagen, und die Sache
ging wie geölt, das heißt auf dem allerbesten administrativen Wege, den
es nur geben kann. Aber ich habe ja gar nicht davon sprechen wollen;
denn nicht nur die Unterkommissionen, sondern sogar so wesentliche
Reformen wie die Aufhebung der Salzsteuer oder das große noch zu
erwartende Steuersystem, sind meiner Meinung nach nur Palliativmittel,
etwas Äußeres, und noch keineswegs die Wurzel Heilendes. Das aber ist
es, worauf ich hinweisen möchte. Eine Heilung der Wurzel würde es
dagegen sein, wenn wir z. B. wenigstens zur Hälfte das Nur-Gegenwärtige
vergessen könnten: alle Tagesfragen, die schreienden Bedürfnisse unseres
Budgets, die Zinsen der ausländischen Anleihen, die Defizite, den Rubel,
den Staatsbankerott sogar, – der übrigens nie bei uns eintreten wird,
wie sehr ihn auch unsere schadenfrohen ausländischen Feinde prophezeien
mögen; mit einem Wort, wenn wir alles Nur-Gegenwärtige vergessen und so
lange für die Wurzel arbeiten würden, bis wir in Wirklichkeit eine
reiche und gesunde Frucht ernten können. Dann kann man ja wieder mit der
Gegenwart leben oder, besser gesagt, mit dem neuen Kommenden; denn in
diesem Zwischenraum, das muß man sich sagen, wird alles Frühere (d. h.
das jetzt Gegenwärtige) sich so radikal verändert und einen so neuen
Charakter angenommen haben, daß wir es nicht wiedererkennen werden. Ich
begreife natürlich, daß alles, was ich jetzt behaupte, allen sehr
sonderbar erscheinen muß: nicht an den Rubel zu denken, an das Bezahlen
der Schulden, an den Bankerott, an das Heer, kurz, an all das, was man
anscheinend zuerst bedenken und zufriedenstellen muß. Ich versichere
Sie, auch ich verstehe das und ich gestehe Ihnen, daß ich mit Absicht
meine Behauptung so scharf hingestellt und meine Wünsche bis zum
unerreichbaren Ideal gesteigert habe. Ich dachte dabei, fange ich beim
Absurden an, so werde ich später allen verständlicher, und so sagte ich
denn: wenn wir nur zur Hälfte das Gegenwärtige vergessen könnten und
unsere Aufmerksamkeit auf etwas anderes lenkten, in eine Tiefe, in die
bis jetzt in Wahrheit noch niemand geschaut hat – denn Tiefe suchte man
bisher doch nur an der Oberfläche. Ich will aber gleich auch diese meine
Formel noch abschwächen und statt ihrer vorschlagen: wenn nicht einmal
die Hälfte – auf die Hälfte will ich verzichten – wenn nur ein
zwanzigster Teil vom Gegenwärtigen zu vergessen möglich wäre, und wenn
man jedes folgende Jahr zu diesem zwanzigsten Teil noch einen
zwanzigsten Teil hinzufügen könnte und so weiter und so weiter bis zu
drei Vierteln des Ganzen! ... Nicht der Teil ist hierbei wichtig,
sondern wichtig wäre das Prinzip, das man damit aufstellt, und dem man
folgt.

Aber wie soll man denn das Gegenwärtige lassen?! Man kann doch die
Wirklichkeit nicht einfach ausstreichen! Ich sage „nicht ausstreichen“,
weiß ich doch selbst, daß man die Wirklichkeit nicht unwirklich machen
kann ... Aber wissen Sie – manchmal kann man auch das! Wenn wir von
unserer krankhaft erregten Aufmerksamkeit jährlich nur einen zwanzigsten
Teil auf etwas anderes ablenkten! Dabei ist gar nicht zu befürchten, daß
sie der Gegenwart verloren ginge, nein, ich wiederhole es: wenn sie sich
nur auch etwas anderem zuwendete, sich einem neuen Prinzip unterwerfen
würde, einem, das die Gedanken und den Geist umbildet – zu etwas
Besserem, zu etwas viel Besserem! Man wird sagen, daß ich in Rätseln
spreche, aber dem ist nicht so. Doch gut, ich werde zunächst ein kleines
Beispiel anführen, um zu zeigen, auf welche Weise man den Übergang vom
Nur-Gegenwärtigen zur Heilung der Wurzeln sofort beginnen könnte.

                   *       *       *       *       *

Wie wäre es zum Beispiel, wenn Petersburg plötzlich – sagen wir, durch
irgendein Wunder – von seinem Hochmut dem übrigen Rußland gegenüber
abließe? Welch ein großer erster Schritt wäre das schon zur Gesundung
der Wurzeln! Denn wie steht es jetzt mit Petersburg? Es ist doch schon
so weit gekommen, daß Petersburg sich für ganz Rußland hält, und dieser
Irrtum steigert sich noch von Generation zu Generation. Es will in
gewissem Sinne dem Beispiel von Paris folgen, ungeachtet dessen, daß es
Paris gar nicht ähnlich ist. Für Paris hat es die historische
Entwicklung mit sich gebracht, daß es ganz Frankreich, sein politisches
wie soziales Leben, in sich aufsog. Nehmen Sie Frankreich Paris, was
würde ihm dann noch verbleiben? Nur seine geographische Lage. Nun, und
auch bei uns glauben einige schon, daß ganz Rußland in Petersburg
enthalten sei. Doch Petersburg ist längst nicht Rußland, für die größere
Hälfte des russischen Volkes hat Petersburg nur dadurch eine Bedeutung,
daß sein Zar dort lebt. Unsere Petersburger Intelligenz aber, das wissen
wir alle, versteht von Generation zu Generation Rußland immer weniger,
und das wohl darum, weil Petersburg, eingeschlossen in seinem finnischen
Sumpf, mehr und mehr eine falsche Vorstellung von Rußland bekommt. So
hat sich bei einigen von diesen Herren der Horizont bereits arg
verengert, ja, er ist fast schon so eng geworden wie der Horizont von
Karlsruhe.[34] Aber blicken Sie nur über Petersburg hinaus: und vor
Ihnen liegt ein ganzes weites Meer russischen Landes, ein uferloser
Ozean. Doch siehe, der Sohn der Petersburger Väter verneint auf die
gleichmütigste Weise dieses russische Volksmeer und verhält sich zu ihm
wie zu etwas Passivem und Unbewußtem, geistig Nichtigem und jedenfalls
im höchsten Grade Rückständigem. „Vielköpfig ist es, aber dumm, taugt
nur dazu, uns zu erhalten, wofür wir ihm Verstand beibringen und es an
eine staatliche Ordnung gewöhnen müssen.“ Tanzend und das Parkett
polierend, werden in Petersburg die zukünftigen Sohne des Vaterlandes
gebildet, und die Petersburger Beamten studieren ihr Vaterland in den
Kanzleien. Versteht sich: irgend etwas erlernen sie schließlich in
ihnen, nur ist das nicht Rußland, sondern etwas ganz anderes, etwas sehr
Besonderes. Und dieses ganz Andere und Besondere wird dann Rußland
aufgebunden. Doch währenddessen bewegt sich das Volksmeer nach seinem
eigenen Gesetze und sondert sich mehr und mehr von Petersburg ab. Und
sagen Sie nicht, daß es, wenn auch ein mächtiges, so doch unbewußtes
Leben führe, was nicht nur die Petersburger allein glauben, sondern auch
noch andere Russen, die Rußland besser kennen. Wenn man nur wüßte,
wieviel Erkenntnis sich schon im Volke angesammelt hat! Und das Erkennen
wächst noch von Tag zu Tag. Wie würden sich die Petersburger wundern,
wenn sie wüßten, wie vieles dem Volke schon zugänglich und verständlich
ist! Wenn sich das auch noch nicht im großen Ganzen äußert, so tut es
sich doch schon an allen Ecken und in allen Hütten kund, wofern man es
nur zu fühlen und zu sehen versteht. Wie sollte es sich auch schon im
Ganzen äußern können, das Ganze ist ja ein Meer! ein Ozean! Aber wenn es
sich einmal äußern wird, in welch maßloses Erstaunen wird es da den
intelligenten Petersburger versetzen! Freilich wird das europäische
Menschlein das Volk noch lange verneinen und wird sich dem Volke noch
immer nicht ergeben wollen. Ja, viele werden so hinsterben, ohne von ihm
überhaupt etwas zu ahnen. Wäre es da nicht besser, wiederhole ich, um
großen heraufkommenden Mißverständnissen vorzubeugen, er ließe, wenn
auch nur in seinen besten Vertretern, ein wenig ab, von seinem Hochmut
Rußland gegenüber? Nur ein wenig mehr Eingehen, Verständnis, nur ein
wenig mehr Demut im Herzen vor dieser großen russischen Erde, vor diesem
Volksmeer – das ist es, was uns nottut. Das wäre der erste Schritt, den
wir zur „Heilung der Wurzeln“ machen müßten.

„Aber erlauben Sie, mein Herr,“ unterbricht man mich, „was Sie bis jetzt
gesagt haben, sind doch nur alte, verbrauchte, unrealisierbare
Phantastereien der Slawophilen. Und was wollen Sie damit sagen: zur
‚Heilung der Wurzeln‘? Welcher Wurzeln? Und was verstehen Sie darunter?“

„Sie haben recht, meine Herren, ich muß zunächst doch noch einiges über
die Wurzeln sagen.“

                   *       *       *       *       *

Die Hauptwurzel, die einer Heilung zu allererst bedarf, ist ohne Zweifel
dieses große russische Volksmeer selbst, von dem soeben die Rede war.
Ich spreche jetzt von unserem einfachen Mann und Bauern, von der
bezahlten Kraft unserer schwieligen, abgearbeiteten Hände: von unserem
russischen Volksozean. Oh, wie sollte ich nicht wissen, was die
Regierung für ihn getan hat und noch ununterbrochen tut, von der
Aufhebung der Leibeigenschaft an? Sie sorgt für seine Bedürfnisse, seine
Aufklärung, für seine Gesundung, vergibt ihm sogar manches Mal seine
Rückständigkeit, mit einem Wort, sie tut viel für ihn, wer wollte das
leugnen! Aber nicht davon soll hier die Rede sein, sondern von der
seelischen Heilung dieser Hauptwurzel, die der Anfang zu allem sein
müßte. Unser Volk ist seelisch krank; noch ist das Innerste seiner Seele
gesund, aber die Krankheit ist trotzdem schwer. Welcher Art ist nun
diese Krankheit? Es ist unmöglich, sie in einem Worte auszudrücken. Man
könnte sie so formulieren: Es ist ein „unstillbarer Durst nach
Wahrheit“. Das Volk sucht und sucht die Wahrheit, kann aber den Weg zu
ihr nicht finden. Ich wollte meine Ansicht über diese Krankheit auf das
Finanzielle begrenzen, aber ich muß doch noch einmal auf anderes
zurückkommen.

Nach der Aufhebung der Leibeigenschaft tauchte im Volke das Bedürfnis
nach etwas Neuem, noch nicht Dagewesenem auf: es war ein Durst nach
Wahrheit, der ganzen vollen Wahrheit, und nach einer Auferstehung zu
einem neuen Leben. Das Volk verlangte nach neuen Anschauungen, neue
Gefühle stiegen in ihm auf, und es begann, mit ganzer Seele an die neue
Ordnung zu glauben. Aber etwas anderes trat ein, etwas, was es nicht
erwartet hatte. Die neue Ordnung, an die das Volk so gern geglaubt
hätte, die – verstand es nicht. Es begriff sie nicht, wurde irre an ihr
und verlor zuletzt seinen Glauben an sie. Sie erschien ihm als etwas
Fremdes, Äußerliches und nicht als sein Eigenes. Doch dieses Thema immer
wieder vorzubringen, das schon so oft besprochen worden ist, lohnt sich
nicht: andere wissen mehr davon als ich – lesen Sie unsere Zeitungen. Es
kam damals eine wilde Verzweiflung über unser Volk: wie ein trunkenes
Meer wogte es über Rußland hin, und wenn man auch versuchte, den Durst
nach Wahrheit in Strömen von Branntwein zu stillen, so wurde er doch
nicht befriedigt. Niemals war das Volk allen fremden Einflüssen mehr
preisgegeben als jetzt. Nehmen Sie als nur ein Beispiel etwa die
„Stunde“,[35] und sehen Sie, welch einen Erfolg sie im Volke hat: was
aber beweist das? Doch nur das Suchen nach Wahrheit und die innere
Unruhe unseres Volkes. Gerade die Unruhe ist es: das Volk ist seelisch
aufgewühlt, und ich bin überzeugt, wenn die nihilistische Propaganda bis
jetzt ihren Weg ins Volk noch nicht gefunden hat, so geschah das nur
dank der Unfähigkeit und Dummheit ihrer Führer, die das Volk nicht zu
nehmen verstehen. Aber sonst, bei der geringsten demagogischen Fähigkeit
wäre auch sie so ins Volk gedrungen, wie das Luthertum durch die
„Stunde“. Wie soll man das Volk vor Ähnlichem bewahren, denn es ist
gesagt: „Es werden Zeiten kommen, wo man euch sagen wird: weder hier ist
Christus, noch dort, glaubet nicht!“ So steht es auch jetzt bei uns, und
nicht nur mit unserem Volk, sondern auch mit unserer Intelligenz.

Verschiedene ungewöhnliche Gerüchte dringen ins Volk, man spricht von
Veränderungen, Anweisungen eines Landanteils, von einer goldenen
Urkunde! Unlängst las man ihm in den Kirchen eine öffentliche Warnung
vor, daß es nicht daran glauben solle, daß nichts davon wahr wäre – und
was geschah? Gerade nach dieser Warnung befestigte sich das Gerücht nur
noch mehr im Volke. Ich weiß von einem Fall, wo Bauern sich bei einem
benachbarten Gutsbesitzer Land kaufen wollten und schon mit dem Preise
einig waren, nach dem Verlesen dieser Warnung sich aber vom Kaufe
zurückzogen. „Wir bekommen es noch ohne Geld,“ sagten sie und – warten.
Und was die Hauptsache ist: das Volk steht bei uns allein, ist nur
seinen eigenen Kräften überlassen, und niemand unterstützt es moralisch.
Es hat zwar sein „Semstwo“, aber das ist „Obrigkeit“. Sein Gericht, aber
– auch das ist „Obrigkeit“. Und seine „Gemeinde“ scheint sich
gleichfalls dazu entwickeln zu wollen. Die Zeitungen sind voll von
Beschreibungen, wie das Volk seine Vertreter wählt, natürlich immer in
Gegenwart der Obrigkeit, deren Mitglied der neu Erwählte denn auch meist
ist. Und was ergibt sich daraus? Da sieht solch ein armer einfältiger
Kerl um sich und kommt plötzlich zum Schluß, daß es nur den Ausbeutern
und Schmarotzern gut geht und alles nur für sie gemacht zu sein scheint:
„Also werde auch ich dasselbe tun!“ – Nun, und so tut er es denn auch.
Ein anderer betrinkt sich wieder, nicht etwa weil die Armut ihn drückt,
sondern weil ihn die Rechtlosigkeit so anwidert. Was läßt sich da
machen? Das ist Fatum! Man sollte meinen, da gibt es doch eine
Verwaltung und Vorgesetzte, da müßte doch alles wie am Schnürchen gehen
– doch gerade das Gegenteil ist der Fall. Es ist ausgerechnet worden,
daß für das Volk in unserer Zeit fast zwanzig Regierungsämter
eingerichtet worden sind, ausschließlich für das Volk, um es zu
beschützen und zu beraten. Nun sind aber für den armen Menschen ohnehin
schon alle und jeder „Obrigkeit“ – und jetzt hat er noch zwanzig solcher
„Obrigkeiten“ hinzubekommen! Seine Bewegungsfreiheit ist ja gleich der
einer Fliege, die in einen Teller mit Honig gefallen ist. Doch eine
solche Freiheit ist nicht nur vom moralischen Standpunkte aus schädlich,
sondern auch vom ökonomischen Standpunkte aus. So ist denn das Volk im
Grunde doch allein und ohne Ratgeber. Es hat niemanden außer Gott und
dem Zaren – mit diesen beiden moralischen Kräften, mit diesen beiden
großen Hoffnungen hält es sich aufrecht. Alle anderen Ratgeber gehen an
ihm vorüber, ohne es auch nur zu berühren. Die ganze fortschrittliche
Intelligenz, zum Beispiel, geht glatt an ihm vorüber, und das ist
schade; denn auch in unserer Intelligenz gibt es begabte Menschen – bloß
für das russische Volk haben sie wenig Verständnis. Bei uns verneint man
es nur; oder man beklagt sich ununterbrochen: warum sich die
Gesellschaft nicht zu dieser Idee einer Vereinigung mit dem Volke
„beleben“ läßt! und was das für sie für eine Aufgabe wäre! Man sollte
aber doch wissen, daß man sich zu ihr gar nicht „beleben“ kann, einfach,
weil das Volk der Gesellschaft fremd ist. Die letztere bildet nur eine
Schicht über dem Volke – mit der einzigen Beziehung zu ihm, daß das Volk
durch seine Arbeit _ihr dient_, _ihr_ die Möglichkeit verschafft, sich
europäische Bildung anzueignen. Doch in diesen zwei Jahrhunderten
europäischer Bildung hat das Volk sich nur noch mehr von ihr entfremdet.
Wenn die fortschrittliche Intelligenz jetzt behauptet: „Wir sind es, die
um das Volk leiden, wir, die so viel über dasselbe schreiben und es zu
uns emporziehen wollen,“ so ist doch das russische Volk instinktiv
überzeugt, daß es sich hier nur um ein imaginäres Volk handelt, ein in
den Köpfen der Intelligenz entstandenes, daß das _wirkliche_ Volk aber
von der Intelligenz nur verachtet wird. Ich gebe zu: das verächtliche
Verhalten zum Volk ist bei einigen von uns gar nicht bewußt, ja, man
kann ruhig sagen, unabsichtlich. Es ist ein Überbleibsel des
Leibeigenschaftsverhältnisses und stammt aus der Zeit, als das Volk um
unserer „europäischen Bildung“ willen staatlich erdrosselt wurde; und es
ist zweifellos auch jetzt noch in uns, obschon das Volk nun
„auferstanden“ ist. Deshalb wird es uns auch noch lange unmöglich sein,
uns mit dem Volke zu vereinigen, wenn nicht ein Wunder in russischen
Landen geschieht. Das Volk ist in seiner großen Masse rechtgläubig und
lebt nur der religiösen Idee, es braucht sich sogar dieser Idee gar
nicht bewußt zu sein. Im Grunde genommen hat es überhaupt keine andere
Idee außer dieser, aus ihr kommt alles bei ihm. Wenigstens will das Volk
mit seinem ganzen Herzen und aus seiner tiefsten Überzeugung, daß alles,
was bei ihm geschieht und was man ihm gibt, aus dieser „Idee“ heraus
geschehe, auch ungeachtet dessen, daß vieles beim Volke selbst nicht von
dieser Idee ausgeht, daß es oft willenlos von dunklen, verbrecherischen,
barbarischen Instinkten beherrscht ist. Aber jeder Verbrecher und
Barbar, mag er auch noch so sündig sein, betet doch zu Gott in den
besseren Minuten seines Seelenlebens und bittet ihn, seine Sünden
auszulöschen und ihn wieder seiner „Idee“ leben zu lassen. Diese Idee
will nun unsere Intelligenz nicht anerkennen. Unsere Intellektuellen
weisen auf seine Sünde und seinen Schmutz hin, an dem sie, die das Volk
zwei Jahrhunderte lang geknechtet haben, doch selbst Schuld tragen,
weisen auf seine Vorurteile und religiöse Gleichgültigkeit hin, und
einige behaupten sogar, daß das russische Volk geradezu „verkörperter
Atheismus“ sei. Ihr größter Irrtum besteht eben darin, daß sie im
russischen Volke keine Kirche anerkennen wollen. Ich spreche jetzt nicht
von der Herde Christi, sondern von unserem russischen „Sozialismus“,
dessen Ziel es ist, die „Kirche“ aller Völker zu werden, soweit die Erde
diese „Kirche“ überhaupt verwirklichen kann. Ich spreche ferner von dem
unstillbaren Durst nach der großen, allgemeinen, allbrüderlichen
Vereinigung im Namen Christi, einer Idee, die im russischen Volke immer
gegenwärtig ist. Und wenn diese Vereinigung auch erst im Wunsche und im
Gebet besteht, nicht in der Tat, so treibt doch der religiöse Instinkt
dieser millionenköpfigen Masse nicht zu mechanischen Formen: nicht im
Kommunismus liegt der Sozialismus des russischen Volkes, sondern es
glaubt, sein Seelenheil in der Vereinigung aller Völker im Namen Jesu
Christi zu finden. Das ist unser russischer Sozialismus! Über diese
höhere vereinigende kirchliche Idee im russischen Volke lachen unsere
Europäer. Oh, es gibt noch viele solcher „Ideen“ im Volke, mit denen die
Herren nicht übereinstimmen werden, und die sie aus ihrer europäischen
Weltanschauung heraus als „tatarisch“ verurteilen. Man kann daher ruhig
die Behauptung aufstellen: wer diese Hauptidee des Volkes, die Erwartung
des in ihm heraufkommenden Schöpferischen, das Gottesschicksal seiner
weltumfassenden Kirche nicht versteht, der wird auch nie das russische
Volk selbst verstehen und es auch nie lieben können. Bei manch einem von
unseren Europäern ist das Herz rein, gerecht und sehnt sich nach Liebe,
– aber lieben wird er nicht das Volk, sondern nur jene Vorstellung, die
er sich von ihm macht. Da das Volk aber Volk bleibt, d. h. es selbst
bleibt, so kann man für die Zukunft nur einen unvermeidlichen und
gefährlichen Zusammenstoß voraussehen. Denn meine Behauptung hat auch
eine umgekehrte Auslegung, nämlich die, daß das Volk solch einen
russischen Europäer niemals als zu sich gehörig betrachten wird: „Liebe
zuerst mein Heiligtum, achte, was ich achte, dann erst bist du wie ich,
bist mein Bruder, ungeachtet dessen, daß du nicht so angekleidet bist
wie ich, daß du ein Herr bist, daß du zur ‚Obrigkeit‘ gehörst, und daß
du dich manchmal nicht einmal in russischer Sprache richtig auszudrücken
verstehst.“ Das wird ihnen das Volk sagen, denn unser Volk hat einen
klugen und weiten Verstand. Es achtet und liebt auch gewiß jeden guten
und klugen Menschen, dankt ihm für seine Ratschläge und befolgt sie
gern, ohne daß jener an dasselbe zu glauben brauchte, woran das Volk
glaubt. Das russische Volk vermag mit einem jeden auszukommen, denn es
hat viele Typen gesehen, vieles beobachtet und behalten in seinem
langen, schweren Leben während der letzten zwei Jahrhunderte. Aber sich
einleben und sich mit einem Menschen eins fühlen – sind zwei
verschiedene Sachen. Doch ohne Zusammengehörigkeitsgefühl kann keine
Vereinigung stattfinden.

So ist die Kluft zwischen der Intelligenz und dem Volke außergewöhnlich
groß, das Volk ist allein, sich selbst überlassen; außer in seinem
Zaren, an den es unerschütterlich glaubt, sieht es in nichts und
niemandem eine Stütze. Froh wäre es, eine zu erblicken – aber vergeblich
schaut es danach aus. Welch eine große, schöpferische, Segen bringende,
neue Kraft aber würde in Rußland erstehen, wenn bei uns eine geistige
Vereinigung der Intelligenz mit dem Volke erfolgte! Oh, meine Herren
Finanzminister, ganz andere jährliche Budgets werden Sie dann aufstellen
als die, welche sich jetzt ergeben! Milch und Honig würden in unserem
Reiche überfließen, und alle Ideale wären mit einem Schlage erreicht! –
„Ja, aber wie das anfangen, und ist es denn wirklich unsere europäische
Aufklärung, die uns daran hindert?“ Nein, nicht diese, denn im Grunde
gibt es diese Aufklärung bei uns überhaupt nicht, auch heute noch nicht.
Ich denke so: existierte bei uns eine _wirkliche_ Aufklärung, so wäre
eine Trennung zwischen Volk und Intelligenz nie erfolgt, denn auch das
Volk verlangt doch nach Aufklärung. Wir aber sind, „Aufklärung“ suchend,
auf den Mond geflogen und haben den Weg zum Volke verloren. Wie wäre es
nun uns verflogenen Menschen möglich, die Sorge um die Heilung des
Volkes auf uns zu nehmen? Was können wir tun, damit der beunruhigte
Volksgeist sich wieder stärkt und beruhigt? Seine Finanzen, sein Kapital
verlangt moralische Ruhe, denn sonst wird es versiegen. Was soll man
tun, damit der Geist des Volkes die Wahrheit findet und sich in ihr
beruhigt? Diese Wahrheit ist ja vielleicht schon da, aber was soll man
tun, damit das Volk an sie zu glauben lernt? Wie soll man es ihm in die
Seele pflanzen, daß die Wahrheit in der russischen Erde liegt? Was soll
man tun, damit das Volk an sein Gericht, an seine Obrigkeit zu glauben
anfängt und sie anerkennt als Fleisch von seinem Fleisch und Blut von
seinem Blut? Oh, wenn die Wahrheit wenigstens für die Zukunft im Volke
ungefährdet bliebe, damit es den Glauben nicht verlöre, daß sie einmal
doch bestimmt noch kommen wird! Wenn die Fliege sich nur ein wenig von
dem Teller mit Honigseim fortbewegen könnte, so wäre das schon eine
große, große Beruhigung. Und nochmals sage ich: das ganze Unglück kommt
von der Trennung der höheren intelligenten Stände vom unteren,
niedrigeren – von unserem Volke. Wie aber dieses Volksmeer mit unserer
Intelligenz aussöhnen, damit es nicht zu einem großen Aufruhr in ihm
kommt?

                   *       *       *       *       *

Dazu gibt es nur eine Möglichkeit, ein magisches Wort, das lautet:
„Vertrauen zeigen“! Zu unserem Volke kann man Vertrauen haben, denn es
ist dieses Vertrauens wert. Ruft die grauen Bauernkittel und fragt sie,
was ihnen fehlt, und was sie nötig haben, und sie werden euch die
Wahrheit sagen, und wir alle werden dann vielleicht zum ersten Male die
Wahrheit hören. Dazu sind keine großen Versammlungen nötig: das Volk
kann man an allen Orten und in jeder Hütte fragen, denn an jedem
einzelnen Ort sagt es Wort für Wort dasselbe; was die ganze Masse
zusammen auch sagen würde, das Volk ist überall eins. Auch die getrennte
Einheit würde nur das eine wiedergeben, denn der Geist ist derselbe.
Jede Ortschaft würde vielleicht eine kleine örtliche Besonderheit
hinzufügen, aber im ganzen, im allgemeinen würde alles in allem
übereinstimmen. Man muß sich nur in acht nehmen, daß es auch wirklich
der Bauer ist, der echte Bauer, nicht etwa der Schmarotzer oder
Ausbeuter. Aber schließlich, selbst der Freischlucker wird der Erde
nicht untreu und wird die Wahrheit sagen – das ist schon so eine
Eigenschaft unseres Volkes. Wie soll man aber diesen Vorschlag
ausführen? Oh, Menschen, die die Macht dazu haben, können das besser
bestimmen als ich; ich möchte nur behaupten, daß es dazu besonderer
Formeln nicht bedarf. Unser Volk jagt nicht nach Formeln, besonders
nicht nach fertigen, fremdländischen, die hat es nicht nötig und die
wird es auch nie nötig haben. Es hat etwas ganz anderes im Kopfe, hat
seine eigene Ansicht über die Sache; und in seinen Anschauungen ist ein
Volk wie das unsrige durchaus unseres Vertrauens würdig. Und wer der
Russen Liebe zum Zaren gesehen und gefühlt hat, der weiß, daß sie des
Zaren Kinder sind und der Zar ihr Vater ist. Wer daran nicht glaubt,
versteht nichts von Rußland. Nein, darin liegt eine tiefe und
ursprüngliche Idee: und sie bedingt einen lebendigen, mächtigen
Volksorganismus, der mit seinem Zaren in eins verschmilzt. Diese Idee
ist eine Kraft, und diese Kraft ist mit den Jahrhunderten noch
gewachsen, besonders in den letzten für das Volk so schrecklichen zwei
Jahrhunderten, die wir wegen unserer europäischen Aufklärung so preisen,
– wobei wir freilich ganz vergessen, daß diese Aufklärung uns nur durch
das Kreuzesleiden unseres Volkes ermöglicht wurde. Aber das Volk glaubte
an seinen Befreier, wartete auf ihn und – er kam! Wie sollen wir da
nicht seine Kinder sein? Der Zar ist für das Volk keine äußere Kraft,
nicht die Kraft irgendeines Besiegers – wie es z. B. die Dynastien der
früheren Könige in Frankreich waren –, sondern eine volkliche,
verbindende Kraft, die das Volk selbst wollte, die aus seinem Herzen
wuchs, die es liebte, für die es litt, von der allein es seinen Auszug
aus Ägypten erhoffte. Für das Volk ist der Zar die Verkörperung seines
Selbst, seiner Idee, seines Glaubens und seiner Hoffnungen. Und diese
Hoffnungen wurden ihm noch kürzlich so glänzend erfüllt, wie sollte es
da weitere Hoffnungen aufgeben? Im Gegenteil, sie bestärken und
befestigen sich, denn der Zar wurde nach der Aufhebung der
Leibeigenschaft nicht nur in der Idee oder in der Hoffnung, sondern in
der Tat zu seinem Vater. Diese Beziehung des Volkes zum Zaren als zu
einem Vater ist die einzige felsenfeste Grundlage, auf der jede Reform
bei uns geschaffen und aufgebaut werden kann. Wenn Sie wollen, so gibt
es bei uns gar keine andere schöpferische, erhaltende und führende Kraft
in Rußland als das organische und lebendige Bündnis des Volkes mit
seinem Zaren: nur ihm entspringt bei uns alles. Wer hätte auf diese
Bauernreform hoffen können, wenn er nicht im voraus geglaubt und gewußt
hätte, daß der Zar dem Volke ein Vater ist, und daß der Glaube an den
Zaren wie an seinen Vater das Volk retten und vor Unglück behüten werde.
Wahrlich, schlecht wäre ein Sozialökonom als Reformator, der die
wirklichen, lebendigen Kräfte des Volkes aus Vorurteil oder um fremder
Überzeugungen willen außer acht läßt. Ja: wir – die Intelligenz – sind
schon deshalb nicht eins mit dem Volke und können es nicht verstehen,
weil wir, auch wenn wir seine Beziehung zum Zaren einsehen, doch das
Wichtigste in seiner ganzen Tiefe und Bedeutung für unsere Zukunft nicht
erfassen können: daß gerade durch diese Beziehung zu seinem Zaren das
russische Volk sich von allen Völkern Europas und der ganzen Welt
unterscheidet; daß das nicht ein zeitlicher, ein vorübergehender
Zustand, nicht ein Zeichen von Volksjugend, wie manche klugen Köpfe
vielleicht schließen, sondern eine ewige, immerwährende und niemals oder
wenigstens lange noch nicht, sehr lange noch nicht sich verändernde
Kraft ist. Wie sollte sich da nicht schon deswegen unser Volk von allen
anderen Völkern unterscheiden, nicht seine eigene Idee in sich tragen?
Ist es nicht klar, im Gegenteil, daß unser Volk schon den organischen
Keim einer unterschiedlichen Idee in sich trägt? Diese Idee schließt
eine so große Kraft in sich, daß sie natürlich unsere ganze weitere
Geschichte beeinflussen wird, und da sie eine ausschließlich
russisch-eigenartige ist, so kann auch _unsere Geschichte nicht der
Geschichte anderer europäischer Völker ähnlich_ und noch viel weniger
ihre sklavische Kopie sein. Das ist es, was unsere klugen Köpfe nicht
verstehen wollen, die da glauben, bei uns könne sich alles ohne jegliche
Eigenart genau nach europäischem Muster verwandeln, und die sogar diese
unsere Eigenart hassen, so daß es vielleicht noch mit einem Unglück
enden kann. Daß aber bei uns alles anders und ursprünglich ist, dazu
diene folgendes Beispiel. In unserer Zukunft, wenn wir die Periode
unseres Pseudoeuropäismus überwunden haben werden, kann z. B. die
bürgerliche Freiheit sich nur bei uns in einem Grade entwickeln, wie
nirgends in Europa und nicht einmal in den Vereinigten Staaten von
Nordamerika. Auf dieser felsenfesten Grundlage, auf der Liebe des Volkes
zu seinem Zaren als seinem Vater, und nicht durch ein geschriebenes
Gesetz wird diese Entwicklung sich vollziehen – denn Kindern kann man
vieles erlauben, was bei anderen Völkern, die nach Kontrakten leben,
undenkbar ist, Kindern kann man ebenso vieles auch anvertrauen und
ebenso vieles verzeihen, denn Kinder werden ihren Vater nicht verraten
und wie Kinder von ihm jeden Verweis ihrer Fehler in Liebe
entgegennehmen.

Und einem solchen Volke soll man nun nicht Vertrauen schenken? Mag es
deshalb selbst von seinen Bedürfnissen reden und nicht andere für sich
sprechen lassen: wir, die Intelligenz des Volkes, wir müssen erst hören,
was es sagt. Oh, nicht aus politischen Gründen schlage ich etwa vor,
zeitweise unsere Intelligenz aus dem Spiele zu lassen – schreiben Sie
mir bitte nicht politische Ziele zu –, nein, ich habe den Vorschlag _aus
rein pädagogischen_ Gründen gemacht. Ja, hören wir zu, wie klar und
vernünftig das Volk, ganz ohne unsere Hilfe, seine Wahrheit ausdrücken
und wie es in der Sache gerade den Nagel auf den Kopf treffen wird, und
ohne uns zu beleidigen, wenn auch von uns die Rede sein sollte. Mögen
wir vom Volke lernen, wie man die Wahrheit spricht. Von ihm können wir
Demut und Lebenserfahrung und Wirklichkeitssinn lernen. Sie werden mir
antworten: „Soeben sagten Sie, wie leicht das Volk allen unsinnigen
Gerüchten glaube, – welch eine Weisheit können wir da von ihm erwarten?“
Nun, Gerüchte sind etwas ganz anderes, und nicht – die Einheit in der
allgemeinen Sache. Hier, im Volk, werden wir etwas Ganzes erblicken, und
das Ganze wirkt durch sich selbst und das Ganze bringt zur Vernunft. Ja,
für uns wird es in Wahrheit eine Schule sein, die fruchtbringendste
Schule. Wir werden erstaunt sein, beim Volke so viel Lebenserfahrung und
Ernst zu finden; freilich wird es auch solche geben, die ihren Augen
nicht trauen wollen, aber solcher sind wenige, denn alle wirklich
Aufrichtigen, die nach Wahrheit verlangt, und denen es um die allgemeine
Sache und den allgemeinen Nutzen zu tun ist – die werden sich an die
wahren Worte des Volkes halten. Alle diejenigen aber, die nicht
aufrichtig der Sache ergeben sind, werden mit ihrem Mißtrauen nur ihre
eigene Inhaltslosigkeit aufdecken. Und wenn es noch welche gibt, die dem
Volke nicht Glauben schenken, so sind das nur Altgläubige und Doktrinäre
der vierziger und fünfziger Jahre, alte, unverbesserliche Kinder, die
nur lächerlich und ganz unschädlich sein werden. Doch alle anderen außer
diesen werden sich die Augen reiben und endlich zu sehen anfangen. Das
kann außerordentlich wichtige Folgen haben, denn ... denn auf diese
Weise kann der Anfang, der erste Schritt zur Vereinigung unseres
Standes, der Intelligenz, die so hoch über dem Volke zu stehen meint,
mit dem Volke gemacht werden. Ich spreche nur von einer geistigen
Vereinigung, denn die nur haben wir nötig, die wird uns zu allem
verhelfen, wird alles umschaffen und eine neue Idee bringen. Unsere
helle und frische Jugend, denke ich, wird die erste sein, die ihr Herz
dem Volke schenken und es verstehen wird. Ich hoffe auch deshalb so sehr
gerade auf sie, weil sie selbst so leidet im „Suchen nach Wahrheit“: in
der Sehnsucht nach ihr wird sie sofort fühlen, daß auch das Volk nach
ihr sucht. Und wenn die Jugend der Seele des Volkes nahestehen wird,
dann wird sie auch diese Phantasien lassen, die jetzt so viele Jünglinge
beherrschen, alle jene, die sich einbilden, die Wahrheit in den
verstiegensten europäischen Lehren zu finden. Oh, ich glaube, daß ich
nicht phantasiere und die heilsamen Folgen vergrößere, die aus diesem
Ereignisse hervorgehen würden. Der Hochmut würde fallen und die
Ehrfurcht vor der mütterlichen Erde wiedergeboren werden. Eine ganz neue
Idee würde plötzlich in unsere Seele leuchten und alles erleuchten, was
bis jetzt im Dunkeln gelegen, und mit ihrem Lichte die Lüge ertöten.
Und, wer weiß, vielleicht wäre das der Anfang einer Reform, die durch
ihre Bedeutung hoch über der Reform der Leibeigenschaft stände: wäre sie
doch gleichfalls eine Befreiung – eine Befreiung unserer Geister und
Herzen von dem Leibeigenschaftsverhältnis zu Europa, in dem wir zwei
Jahrhunderte gestanden, ganz ähnlich unserem Bauern – unlängst noch ein
Sklave wie er. Und wenn diese zweite Reform sich verwirklichen könnte,
so wäre sie auch nur eine Folge der großen ersten Reform, der Aufhebung
der Leibeigenschaft zu Anfang der Regierung unseres Zar-Befreiers. Mit
der einen wäre die materielle Wand gefallen, die das Volk von der
Intelligenz trennte, mit der zweiten fiele diese Wand auch ideell. Was
könnte höher stehen, was wäre fruchtbringender für Rußland als dieser
geistige Bund aller Stände? Die, welche sich bis jetzt des Volkes
schämten, des angeblich barbarischen und jegliche Entwicklung hemmenden,
die werden sich dieses Schämens schämen und sich mit dem Volke aussöhnen
und vieles wieder achten können, was sie früher verachteten. Und wenn
das Volk ihnen geantwortet, seine Sache ihnen vorgelegt hat und sein
demütiger Mund verstummt – dann fragen Sie meinethalben auch unsere
Intelligenz, und wär’s auch nur nach ihrer Meinung über das Volk, und
sie werden sofort die Folgen bemerken. Oh, auch ihr Wort wird dann
fruchtbar werden, denn sie ist doch nun einmal die Intelligenz, und das
letzte Wort gehört ihr. Das uns alsdann vom Volke gegebene Beispiel
würde uns auf jeden Fall von Unüberlegtheiten und Dummheiten abhalten,
die von uns, wenn wir zuerst das Wort gehabt hätten, unfehlbar begangen
worden wären. Und Sie werden sehen: unsere Intelligenz würde dann nichts
mehr im Widerspruch zum Volke sagen, sondern würde dessen Wahrheit in
die ganze Breite seiner Bildung hineinentwickeln und sie
wissenschaftlich erläutern und begründen – denn auch das Volk hat die
Wissenschaft nötig. Ja, und wenn sich auch Widersprüche einstellen
würden, Widersprüche gegen gewisse Grundlagen unseres Volkes, so würden
sie es doch nicht wagen, sich so heftig gegen den Volksgeist
aufzulehnen, und das ist sogar sehr wichtig.

Ja, es ist sogar sehr leicht möglich, daß unsere seelische Ruhe schon
bei dem ersten Schritt wiederkehrt. Es würde eine allgemeine, alle
vereinigende Hoffnung erstehen, und wir würden uns über unsere Ziele
klarer werden. Das aber wäre wichtig: denn unsere bewußte Kraft, unsere
Intelligenz, ahnt ja kaum, welchen Inhalts unsere nationalen und
staatlichen Ziele sind oder sein können. Gerade hier liegt heute die
Unsicherheit, und gerade die ist gewiß auch die Quelle unserer
Ruhelosigkeit und Verstimmtheit, und nicht nur dem Gegenwärtigen,
sondern noch viel mehr dem Zukünftigen gegenüber. Alles das könnte
aufgeklärt und erläutert werden, oder wir bekämen einen Hinweis auf
Mittel, mit denen man bei uns etwas erlangen könnte, wir würden auf neue
Gedanken kommen ...

Doch genug! Ich habe gesprochen, wie ich es verstanden habe. Wenn man
nicht alles versteht, wenn ich mich unzureichend ausgedrückt, so nehme
ich die Schuld auf mich – aber das, was man versteht, möge man in einer
friedlichen und unverletzenden Weise verstehen. Ich wünschte nur, daß
man unparteiisch begriffe: daß ich zuerst und vor allen Dingen für das
Volk stehe, daß ich an seine Seele, an seine Kräfte, deren Größe noch
niemand von uns zu ahnen scheint, wie an ein Heiligtum glaube,
hauptsächlich aber an die errettende Bedeutung des großen, alles
erhaltenden und aufbauenden Volksgeistes. Mich verlangt nur nach einem:
daß alle ihn erschauten – denn wenn sie ihn nur einmal erschaut haben,
werden sie sofort auch alles Übrige verstehen.


   Die Meinung eines geistreichen Bureaukraten über unsere Liberalen
                              und Westler

... Ich will von einem geistvollen Bureaukraten erzählen, der mir vor
kurzem in einer Gesellschaft eine sehr interessante Sache
auseinandergesetzt hat – eine, die gerade jene Grundsätze berührt, die
für die Veränderung unserer gegenwärtigen[36] Lage in Frage kommen.

Das Gespräch drehte sich um die Finanzen, um die allgemeine ökonomische
Situation, und zwar speziell in dem Sinne, daß wir Russen unsere Mittel
nicht verschwenden sollten, sondern vernünftig mit ihnen umzugehen
versuchen müßten, damit auch nicht eine einzige Kopeke für irgendeine
Phantasterei hinausflöge.

Über diese Art Ökonomie wird jetzt bei uns überall gesprochen, und die
Regierung beschäftigt sich unausgesetzt mit diesem Problem. Es ist auch
tatsächlich so etwas wie eine Kontrolle eingeführt worden, und
alljährlich will man in den Etats eine bestimmte Summe zu streichen
suchen. In der letzten Zeit sprach man sogar von einer Verringerung der
Armeeausgaben. Manche meinten, man könne das stehende Heer auf die
Hälfte der Truppen herabsetzen. „Deswegen“, hieß es, „würde doch nichts
anders werden“. Das wäre ja alles ganz wunderbar, aber trotzdem gibt es
etwas, was sich einem dabei unwillkürlich in die Gedanken einschleicht:
Gut, wir reduzieren die Armee vorläufig um fünfzigtausend Mann, das Geld
aber geht uns doch wieder durch die Finger, für dieses und jenes,
natürlich nur für die Bedürfnisse des Staates, jedenfalls aber für
Bedürfnisse, die so radikaler Opfer nicht wert sind. Die abgeschafften
fünfzigtausend Mann jedoch werden wir dann niemals wieder einbringen
können, oder höchstens mit Mühe und Not; denn was man einmal abgeschafft
hat, ist schwer wieder anzuschaffen. Soldaten aber brauchen wir mehr als
je und besonders jetzt, da in Europa alle einen Stein für uns bereit
halten. Es ist gefährlich, diesen Weg zu betreten, doch nur in der
_gegenwärtigen_ Zeit. Wir würden nur dann uns überzeugen lassen, daß
dieses heilige Geld wirklich für etwas Notwendiges ausgegeben wird, wenn
wir, z. B. den Entschluß faßten, unerbittliche Ökonomie zu treiben, so
wie etwa Peter sie durchgeführt haben würde, wenn er sich vorgenommen
hätte, zu sparen. Sind wir nun aber dazu fähig, bei den „schreienden“
Nöten unserer gegenwärtigen Lage, in der wir nun einmal stecken? Ich
bemerke hierbei, daß dieses einer der ersten Schritte wäre zu einer
Umkehr vom alten, phantastischen Gegenwärtigen zum neuen, wirklichen und
für uns notwendigen Zukünftigen. Wir reduzieren ziemlich oft die Etats,
das Beamtenpersonal usw., doch das Ergebnis ist immer dasselbe: daß die
Etats ganz von selbst sich wieder vergrößern und vermehren. Ja, sind wir
denn überhaupt fähig zu einer richtigen Reduzierung, fähig, zum
Beispiel, von vierzig Beamten mit einemmal auf vier herunterzugehen? Daß
vier Beamte ohne Ausnahme dasselbe leisten können, was jetzt vierzig
leisten, das wird natürlich niemand bezweifeln, besonders bei einer
Vereinfachung des Eingaben- und Verordnungswesens mit all seinen
Schreibereien, und überhaupt bei einer radikalen Veränderung der
jetzigen Formen der Beamtenarbeit.

Auf dieses Thema kamen wir, wie gesagt, zufällig zu sprechen. Einige
bemerkten, daß eine derartige Reform jedenfalls ein großer Bruch mit dem
Alten wäre. Andere entgegneten, daß bei uns schon viel kapitalere
Reformen als diese durchgeführt worden seien. Die Dritten fügten hinzu,
daß man den neuen Beamten, also diesen vier, die die vierzig ersetzen
sollen, das Gehalt sogar verdreifachen könnte, und daß diese dann gewiß
treffliche Arbeiter abgeben würden. Und selbst wenn man das Gehalt auch
für diese vier verdreifachte, so würde ihr Gehalt doch nur dem der
jetzigen zwölf entsprechen; folglich wären die Ausgaben immer noch um
fast drei Viertel der heutigen vermindert.

Hier aber geschah es, daß mich mein Bureaukrat unterbrach. Ich bemerke
noch, daß auch er zu meiner größten Verwunderung gegen die Möglichkeit,
durch vier vierzig zu ersetzen, nichts einzuwenden hatte: „Auch mit
vieren wird es sich machen lassen.“ Doch was er angriff, war etwas ganz
anderes: er wies auf das Grundsätzliche hin, auf die Fehlerhaftigkeit
und das Verbrecherische dieses neuen „Prinzips“. Ich kann seine
Entgegnung nicht wörtlich wiedergeben, und ich führe sie nur an, weil
mir seine Meinung in ihrer Art bemerkenswert erschien und so etwas wie
eine pikante Idee enthielt. Er hat sich natürlich nicht herabgelassen,
auf Einzelheiten einzugehen, da ich in dieser Sache nicht „Spezialist“
bin: „verstehe wenig davon“, was vorauszuschicken ich mich beeile – aber
sein „Prinzip“, so hoffte er, würde mir doch einleuchten.

„Die Reduzierung der Beamten von vierzig auf vier,“ begann er gemessen
und in eindringlichem Tone, „ist für die Sache nicht nur unnütz, sondern
allein schon ihrem Wesen nach direkt schädlich, trotz der tatsächlich
beträchtlichen Verringerung der Staatsausgaben. Unmöglich und schädlich
wäre nicht nur, von vierzig auf vier zu reduzieren, sondern selbst von
vierzig auf achtunddreißig. Und das aus folgendem Grunde: es wäre ein
verderblicher Anschlag auf das Grundprinzip. Jetzt sind es zweihundert
Jahre her, d h. seit Peter, daß wir, die Bureaukraten, im Reiche _alles_
sind; ja, im Grunde genommen sind _wir_ das Reich und überhaupt _alles_;
– _das Übrige_ – ist nur Anhängsel. Wenigstens ist es bis vor kurzem,
bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft, noch so gewesen. Alle früheren
Wahlämter, als da sind ... nun, da, die der Adligen zum Beispiel, haben
ganz von selbst, sozusagen infolge einer Anziehungskraft, unseren Geist
und Sinn angenommen. Und wir haben uns deswegen, als wir das einsahen,
keineswegs beunruhigt; denn das Prinzip, das vor zweihundert Jahren
aufgestellt worden ist, wurde dadurch nicht im geringsten angegriffen.
Nach der Bauernreform schien allerdings etwas Neues kommen zu wollen: es
kam die Selbstverwaltung, es kam das Semstwo usw. ... Jetzt hat es sich
deutlich erwiesen, daß auch all dieses Neue sofort und ganz von selbst
unsere Form, unsere Seele und unsere Gestalt annimmt, sich sozusagen in
unsere Form verwandelt. Und das ist nicht etwa durch Zwang geschehen –
das wäre eine total falsche Auffassung –, sondern gerade ganz von
selbst; denn es ist schwer, sich Jahrhunderte alter Gewohnheiten zu
entledigen, und wenn Sie wollen, ist das auch nicht nötig, besonders
nicht in einer so fundamentalen und großen Nationalfrage. Sie können mir
das, wenn Sie wollen, nicht glauben; doch wenn Sie tiefer nachdenken, so
werden Sie die Richtigkeit des Gesagten, dessen bin ich gewiß,
anerkennen. Denn – was sind wir? Wir sind _alles_, sind bis jetzt
_alles_ gewesen und werden fortfahren, alles zu sein, – und wiederum
ohne uns darum selber sonderlich zu bemühen, einfach nach dem
natürlichen Gang der Dinge, also unwillkürlich! Es ist schon lange her,
daß man sagt, unsere Arbeit sei tote, papierene Kanzleiarbeit, und
Rußland wäre all dem entwachsen. Vielleicht ist es dem entwachsen, aber
vorläufig sind wir immer noch die einzigen, die Rußland halten und es
davor bewahren, daß es auseinanderfällt! Denn das, was Sie erstarrtes
Kanzleitum nennen, – d. h. also wir, als Einrichtung, und dann auch
unsere ganze Tätigkeit – das ist, wenn man sich eines Beispiels bedienen
will, wie das Skelett, in einem lebendigen Organismus. Zerstören Sie das
Skelett, werfen Sie die Knochen durcheinander – und der ganze lebendige
Körper muß vergehen. Schön, mag die Sache auch noch so tot betrieben
werden, dafür aber geht es nach dem System, nach dem Prinzip, dem großen
Prinzip – erlauben Sie, daß ich Sie darauf aufmerksam mache. Mag es auch
auf Kanzleimanier geschehen, meinetwegen sogar schlecht, unvollkommen,
so wird es immerhin irgendwie doch gemacht und, die Hauptsache: Rußland
steht noch und fällt nicht! Das ist es ja, daß es noch immer nicht
fällt! Ich bin bereit, Ihnen zuzugeben, daß wir im Grunde meinetwegen
auch nicht gerade _alles_ sind, – oh, wir sind klug genug, um
einzusehen, daß wir nicht _ganz_ Rußland sind und besonders jetzt nicht;
dafür aber sind wir immerhin _etwas_, d. h. etwas bereits Wirkliches,
tatsächlich Vorhandenes, wenn auch vielleicht teilweise Körperloses. Nun
aber, was habt ihr, womit ihr uns ersetzen könntet? Woraufhin könnten
wir uns mit der Überzeugung zurückziehen, daß auch bei euch ein _Etwas_
entstanden ist, das uns wirklich ersetzen kann, – ohne daß alles fallen
muß? All diese Selbstverwaltungen und Semstwos – das ist doch vorläufig
immer noch ein Vogel in den Wolken, meinetwegen ein prachtvoller Vogel,
einer, der unter dem Himmel herumfliegt, jedoch immerhin einer, der sich
noch niemals auf die Erde herabgelassen hat. Folglich ist er trotz
seiner Schönheit als Wert für uns eine Null, wir aber, wenn wir auch
durchaus nicht ‚prachtvoll‘ sind und man unser sogar sehr überdrüssig
geworden ist, wir aber _sind_ dafür wenigstens etwas, und zwar nichts
weniger als eine Null. Ihr nun werft uns vor und beschuldigt uns: wir
seien daran schuld, daß der Vogel sich bis jetzt noch nicht auf die Erde
herabgelassen hat, und wir bemühten uns, ihn, den prachtvollen Vogel, in
unsere Bureauform umzuwandeln, unserem Kanzleigeist anzupassen. Es wäre
natürlich sehr nett von uns, wenn das wirklich der Fall wäre; denn damit
würden wir beweisen, daß wir für das ewige, grundlegende und edelste
Prinzip einstehen, und eine nutzlose Null in ein nützliches Etwas
verwandeln. Doch glauben Sie mir, hierbei tragen wir nicht die geringste
Schuld, oder doch nur eine verschwindend geringe Schuld, und glauben Sie
mir, der herrliche Vogel ist selber im Zweifel: er weiß selbst nicht,
was er eigentlich werden soll – das, was wir sind? oder wirklich etwas
Selbständiges? Wie gesagt, er ist noch selber unschlüssig und hat
vielleicht sogar ein wenig den Kopf verloren. Ich versichere Sie, er ist
aus eigenen freien Stücken zu uns gekommen, und wir haben ihn nicht im
geringsten zu beeinflussen gesucht. So stellt es sich heraus, daß wir
sozusagen ein natürlicher Magnet sind, zu dem in Rußland bis heute noch
alles hingezogen wird – und das kann noch lange, lange so fortdauern.
Sie glauben mir noch immer nicht? Es erscheint Ihnen vielleicht
lächerlich? Und doch bin ich bereit, um einerlei was zu wetten:
versuchen Sie es, lösen Sie Ihrem herrlichen Vögelchen die Flügel,
gestatten Sie ihm alle Freiheiten, befehlen Sie zum Beispiel Ihrem
Semstwo mit aller Strenge: ‚Von jetzt ab mußt du ein selbständiger und
nicht mehr ein bureaukratischer Vogel sein!‘ – und, glauben Sie mir, daß
alle Vögel, wie sie da sind, ohne eine Ausnahme, sich von selbst noch
viel mehr zu uns drängen und schließlich damit enden werden, daß sie
sich in echte, rechte Beamte verwandeln, unseren Geist und unsere
Gestalt annehmen, alles von uns kopieren! Sogar der Bauer wird zu uns
kommen, denn es würde ihm doch gar zu schmeichelhaft sein, uns ähnlich
zu werden! Nicht umsonst hat sich der Gefallen, den sie an uns Beamten
gefunden haben, zweihundert Jahre lang entwickelt. Und Sie verlangen
nun, daß wir, das einzig Reale und Feststehende in Rußland, uns selber
gegen dieses Rätsel eintauschen sollen, gegen diese Scharade, gegen
diesen Ihren schönen Vogel in den Wolken? Nein, lieber behalten wir
unseren Sperling in der Hand. Lieber verbessern wir uns selber
irgendwie, nun, sagen wir, indem wir etwas Neues einführen, etwas mehr,
wie Sie es nennen, Fortschrittliches, dem Geiste der Zeit
Entsprechenderes: wir werden, sagen wir, etwas wohltätiger werden oder
sonst irgend etwas von der Art ... Aber gegen das Hirngespinst, den
plötzlich erschienenen Traum, tauschen wir nicht unser einziges reales
_Etwas_ ein; denn es ist klar, daß wir vorläufig niemanden haben, der
uns ersetzen könnte! Wir widersetzen uns der Vernichtung sozusagen durch
unseren mächtigen passiven Widerstand. Dieser Widerstand ist es gerade,
der an uns wertvoll bleibt, denn nur durch ihn allein hält sich noch
alles in unserer Zeit. Darum aber wäre der Versuch, uns von vierzig auf
achtunddreißig zu reduzieren (von einem ‚von vierzig auf vier‘ ganz zu
schweigen) grundschädlich, ja wäre sogar unmoralisch! Man würde Kopeken
sparen, dafür aber das Prinzip zerstören. Vernichten Sie, verändern Sie
jetzt noch unsere Formel, wenn Sie nur das Gewissen dazu haben: Es würde
ein Verrat an unserem ganzen russischen Europäismus, an unserer ganzen
Bildung sein! – wissen Sie das auch? Das wäre die Verneinung dessen, daß
auch wir ein Reich, auch wir Europäer sind, das wäre Verrat an Peter!
Und wissen Sie, Ihre Liberalen – übrigens die unserigen gleichfalls –,
die in den Zeitungen so heftig für die Semstwos gegen das Beamtentum
eintreten, widersprechen sich im Grunde genommen alle selbst. Denn diese
Semstwos, alle diese Neuheiten ‚im volklichen Geiste‘ – das sind doch
dieselben ‚Volksgrundsätze‘, oder die beginnende Formulierung dieser
Grundsätze, über die jene Partei, die unseren europäisierenden Russen so
verhaßt ist, eben die ‚russische Partei‘ zetert (vielleicht haben Sie
schon gehört, daß man sie in Berlin so benannt hat?); das sind diese
selben ‚Grundsätze‘, die unser russischer Liberalismus und Europäismus
so wütend leugnet, die er verlacht und sogar nicht einmal als vorhanden
anerkennen will! Oh, er fürchtet sie sehr: Nun, wie, wenn sie
tatsächlich vorhanden sind und sich verwirklichen – dann ist’s doch in
gewissem Sinne eine unangenehme Überraschung! Also sind alle Ihre
Europäer genau genommen mit uns und wir mit ihnen ... was sie eigentlich
schon längst hätten einsehen und sich merken sollen. Wenn Sie wollen,
sind wir nicht nur mit ihnen, sondern sogar _wir sind sie_, denn wir
sind ein und dasselbe: in ihnen, in ihnen selber ist unser Geist
enthalten und sogar unsere Gestalt, gerade in diesen Ihren Westlern. Ja,
das ist tatsächlich so! Und ich werde Ihnen noch etwas sagen: Europa, d.
h. das russische Europa oder Europa in Rußland – das sind ja nur wir
allein! Wir sind die Verkörperung der ganzen Formel des russischen
Europäismus und enthalten sie restlos in uns. Wir allein sind ihre
Ausleger. Ich begreife nicht, warum man diesen unseren Europäern nicht
für ihren Europäismus gewisse Kennzeichen verleiht, wenn wir mit ihnen
doch nun einmal so ohne weiteres zusammenfließen? Mit Vergnügen würden
sie sie tragen, und damit könnte man auch noch viele anlocken. Aber bei
uns versteht man’s nicht. Nichtsdestoweniger schimpfen sie auf uns – die
Eigenen erkennen die Eigenen nicht! Doch, um mit Ihren Semstwos und all
diesen Neuheiten endlich abzuschließen, sage ich Ihnen ein für allemal:
Nein! Denn dieses ist eine lange Sache und keineswegs so kurz, wie Sie
vielleicht annehmen. Dazu bedarf es einer eigenen vorhergehenden Kultur,
einer eigenen, neuen, vielleicht noch einmal zweihundertjährigen
Geschichte. Nun, sagen wir, einer hundertjährigen, oder meinetwegen auch
fünfzigjährigen, da wir ja jetzt das Jahrhundert der Telegraphen und
Eisenbahnen haben. Also immerhin doch eine fünfzigjährige Entwicklung:
also geht es nicht sofort. Augenblicklich jedenfalls wird nichts anderes
entstehen als unseresgleichen. Und so wird es noch lange bleiben.“

Damit verstummte mein Bureaukrat stolz und würdevoll, und, wissen Sie,
ich habe ihm auch nichts entgegnet, denn in seinen Worten war gerade
solch ein „Etwas“, irgendeine traurige Wahrheit, die wirklich, wirklich
da ist. Selbstverständlich war ich innerlich nicht mit ihm
einverstanden. Und zudem – in _solchem_ Ton sprechen nur Leute, die sich
überlebt haben. Aber trotzdem war in seinen Worten „etwas“ ...


                           Die Judenfrage[37]


                             Vorbemerkungen

Oh, bitte nur nicht zu glauben, ich beabsichtigte hier wirklich, die
„Judenfrage“ aufzuwerfen! Diese Überschrift habe ich nur zum Scherz
hingeschrieben. Ein Problem von der Größe, wie es die Stellung der Juden
in Rußland und andererseits die Lage Rußlands ist, das unter seinen
Söhnen drei Millionen Juden zählt, – solch ein Problem zu lösen geht
über meine Kraft. Wohl aber kann ich darüber eine eigene Meinung haben,
und zudem hat sich jetzt herausgestellt, daß viele Juden sich plötzlich
für diese Meinung interessieren. Seit einiger Zeit schreiben sie mir
Briefe, in denen sie mir ernst, bitter und betrübt vorwerfen, ich fiele
über sie her, ich haßte den Juden, und zwar nicht wegen seiner „Mängel“,
„nicht als Ausbeuter“, sondern gerade als „Juden“, als Volk, also etwa
in dem Sinne von: „Judas hat Christus verkauft“. Das schreiben mir
„gebildete“ Juden, d. h. solche, die sich immer bemühen, einem zu
verstehen zu geben, daß sie bei ihrer Bildung schon längst nicht mehr
die „Vorurteile“ ihrer Nation teilen, noch deren religiöse Gebräuche
erfüllen, wie die anderen, einfachen Juden, denn sie hielten dies für
unvereinbar mit ihrer Bildung; und auch an Gott glaubten sie nicht mehr,
schreiben sie. Dazu will ich vorläufig nur bemerken, daß es von diesen
„höheren Israeliten“, die doch sonst so für ihre Nation einstehen,
einfach Sünde ist, ihren bereits vierzig Jahrhunderte lebenden Jehova zu
vergessen und zu verleugnen. Es ist nicht nur aus dem Gefühl der
Nationalität heraus Sünde, sondern auch noch aus anderen, tieferen
Gründen. Ist es nicht sonderbar, daß man sich einen Juden ohne Gott gar
nicht denken kann? Doch dieses Thema gehört schon zu den ganz großen,
daher müssen wir von ihm hier vorläufig absehen. Am meisten wundert mich
eines: wie und woher kommt es, daß man mich für einen Feind der Juden
als Volk, als Nation, ja, für einen Judenhasser hält? Den Juden als
Ausbeuter und für einzelne seiner Laster zu verurteilen, wird mir von
diesen Herren selbst teilweise sogar erlaubt, aber ... aber nur in
Worten: in Wirklichkeit kann man jedoch schwerlich einen reizbareren und
kleinlicheren Menschen als den gebildeten Israeliten finden, einen, der
sich leichter gekränkt fühlt als ein Jude als „Jude“. Doch wann und
wodurch habe ich Haß auf die Juden, als Volk, bewiesen? Da ich in meinem
Herzen nie so etwas gefühlt habe und alle Juden, mit denen ich in engere
oder auch nur flüchtige Berührung gekommen bin, dieses wissen, so weise
ich ein für allemal eine solche Beschuldigung, noch bevor ich auf die
Judenfrage näher eingehe, zurück, um es später nicht immer wieder tun zu
müssen. Beschuldigt man mich vielleicht deswegen des „Hasses“, weil ich
statt „Israelit“ „Jude“ sage? Erstens habe ich nicht geglaubt, daß
dieser Name kränken könnte, und zweitens habe ich mich seiner, soweit
ich mich erinnere, immer nur zur Bezeichnung einer bestimmten Idee
bedient: „Judentum, verjudet, jüdisch“ u. dgl. m. Es hat sich dabei
stets um einen gewissen Begriff, eine besondere Richtung, um die
Charakteristik irgendeiner Epoche gehandelt. Man könnte wohl über diese
Bezeichnung streiten und mit ihr nicht übereinstimmen, aber man kann
doch nicht das Wort als beabsichtigte Kränkung auffassen.

Ich erlaube mir, einen Auszug aus dem sehr schönen Schreiben eines
äußerst gebildeten Israeliten anzuführen, das mich ungemein interessiert
hat: es enthält eine der charakteristischsten Anschuldigungen, die gegen
mich wegen meines „Hasses auf die Juden als Volk“ erhoben worden sind.

   ... nur Eines kann ich mir entschieden nicht erklären: das ist Ihr
   Haß auf den „Juden“, der fast in jedem Heft Ihres „Tagebuches“
   durchbricht.

   Ich möchte gerne wissen, warum Sie sich nur gegen den Juden
   auflehnen und nicht gegen den Ausbeuter im allgemeinen? Ich
   verabscheue nicht weniger als Sie die Vorurteile meiner Nation – ich
   habe nicht wenig unter ihnen gelitten –, doch niemals werde ich
   zugeben, daß schon im Blute dieser Nation das gewissenlose Aussaugen
   der anderen liege.

   Sollten _Sie_ denn wirklich nicht das Grundgesetz jedes sozialen
   Lebens verstehen können: daß ohne Ausnahme _alle_ Bürger eines
   Staates, wenn sie nur alle Pflichten ihm gegenüber erfüllen, auch an
   _allen_ Rechten und an allen Vorteilen, die dieser Staat gewährt,
   Anteil haben müssen, und daß für die Übertreter des Gesetzes, für
   die schädlichen Mitglieder der Gesellschaft ein und dasselbe Gesetz
   gelten muß? ... Warum müssen alle Israeliten in den Rechten
   beschränkt werden, und warum werden sie nach besonderen
   Strafgesetzen verurteilt? Wodurch ist die Ausbeutung durch die
   Ausländer – die Juden sind doch immerhin russische Untertanen –:
   durch die Deutschen, Engländer, Griechen, deren es in Rußland so
   unzählige gibt, wodurch ist die besser als die jüdische Ausbeutung?
   Wodurch sind die russischen rechtgläubigen Aufkäufer, Blutsauger,
   Schmarotzer, Branntweinverkäufer, die betrügerischen Prozeßführer
   für die Bauern, wie wir sie jetzt überall in Rußland finden können,
   besser als dasselbe Handwerk betreibende Juden, die doch immer nur
   ein begrenztes Feld der Tätigkeit haben? Warum ist dieser schlechter
   als jener?

Es folgt ein Vergleich zwischen bekannten berüchtigten Juden mit ähnlich
berüchtigten Russen, natürlich solchen, die ersteren in nichts
nachstehen. Was beweist das aber? Wir sind doch nicht stolz auf sie,
heben sie doch nicht als nachahmenswerte Beispiele hervor; im Gegenteil,
wir wissen ja alle, daß diese, wie jene, nicht ehrenwert sind.

   ... Solche Fragen könnte ich Ihnen zu Tausenden stellen.
   Währenddessen verstehen Sie, wenn Sie vom „Juden“ sprechen, unter
   diesem Begriff die ganze bettelarme Masse der drei Millionen
   Israeliten Rußlands, von denen wenigstens zwei Millionen
   neunhunderttausend einen verzweifelten Kampf um ihre elende Existenz
   führen und doch sittlicher sind, ja, nicht nur sittlicher als die
   anderen Völker, sondern auch sittlicher als das von Ihnen
   vergötterte russische Volk. Ferner verstehen Sie unter diesem Namen
   die ansehnliche Zahl derjenigen Israeliten, die eine höhere Bildung
   genossen haben, die sich auf allen Gebieten des Staatswesens
   auszeichnen, wie z. B. ...

Hier folgen abermals mehrere Namen, die zu veröffentlichen ich nicht das
Recht zu haben glaube; denn mehreren von ihnen, außer Goldstein, könnte
es vielleicht unangenehm sein, zu erfahren, daß sie israelitischer
Herkunft sind. Dann fährt er fort:

   ... und Goldstein, der in Serbien für die slawische Idee den
   Heldentod gefunden hat, und alle die anderen, die fürs Wohl der
   Gesellschaft und der Menschheit arbeiten? Ihr Haß auf den „Juden“
   erstreckt sich sogar auf Disraeli, der wahrscheinlich selbst nicht
   einmal weiß, daß er von spanischen Israeliten abstammt, und der die
   englische konservative Politik selbstverständlich nicht vom
   Standpunkt des „Juden“ leitet ... (?)

   Bedauerlicherweise kennen Sie nicht unser _Volk_, weder sein Leben,
   noch seinen Geist, noch endlich seine vierzig Jahrhunderte alte
   Geschichte. Bedauerlicherweise, sage ich, weil Sie jedenfalls ein
   aufrichtiger, unbedingt ehrlicher Mensch sind, doch unbewußt der
   riesigen Masse eines bettelarmen Volkes Schaden zufügen. Die
   mächtigen „Juden“ jedoch, die die Mächtigen dieser Welt in ihren
   Salons empfangen, fürchten natürlich weder die Presse noch selbst
   die ohnmächtige Wut der Ausgebeuteten. Doch nun genug über dieses
   Thema! Schwerlich werde ich Sie überzeugen können – wohl aber
   wünschte ich sehr, daß Sie mich überzeugten ...

Dieser Auszug dürfte genügen. Bevor ich jedoch etwas zu meiner
Verteidigung sage – denn solche Anschuldigungen kann ich nicht ruhig
hinnehmen – möchte ich noch auf die Wut des Angriffes und den Grad der
Empfindlichkeit hinweisen. Erstens, so lange wie mein „Tagebuch“
erscheint, hat in ihm noch kein einziger Satz gegen den „Juden“
gestanden, der einen so erbitterten Angriff rechtfertigen könnte.
Zweitens fällt es einem unwillkürlich auf, daß der verehrte Schreiber,
wenn er auf das russische Volk zu sprechen kommt, sich in seinen
Gefühlen nicht bezwingen kann und das arme russische Volk denn doch
etwas zu sehr von oben herab behandelt. Jedenfalls zeigt dieser Ingrimm
nur zu deutlich, mit welchen Augen die Juden selbst auf uns Russen
sehen. Der Schreiber dieses Briefes ist gewiß ein gebildeter und
begabter Mensch – nur glaube ich nicht, daß er auch ohne Vorurteile sei
–; was für Gefühle aber soll man nun noch von den zahllosen ungebildeten
Juden erwarten? Ich sage das nicht etwa als Beschuldigung: diese Gefühle
sind ja ganz natürlich. Ich will nur darauf hinweisen, daß an unserer
Unverschmelzbarkeit vielleicht nicht nur wir Russen die Schuld tragen,
sondern, daß es auf beiden Seiten Gründe gibt, die eine Vereinigung
ausschließen, – und noch fragt es sich, auf welcher Seite es solcher
Gründe _mehr_ gibt?

Doch jetzt will ich einige Worte zu meiner Rechtfertigung sagen und
überhaupt klarlegen, wie ich mich zu diesem Problem stelle; natürlich –
es zu lösen, steht nicht in meiner Kraft, doch irgend etwas ausdrücken
werde auch ich vielleicht können.


                           _Pro_ und _contra_

Es mag vielleicht sehr schwer sein, hinter die vierzig Jahrhunderte alte
Geschichte eines Volkes, wie das der Juden, zu kommen – ich weiß es
nicht. Eines aber weiß ich bestimmt, nämlich, daß es in der ganzen Welt
kein zweites Volk gibt, das so über sein Schicksal klagt, so
ununterbrochen, bei jedem Schritt und jedem Wort, über seine
Erniedrigung, über sein Leiden, über sein Märtyrertum jammert, wie die
Juden. Man könnte ja wirklich denken, daß nicht sie in Europa herrschen.
Wenn sie es auch meinetwegen nur auf der Börse tun, so heißt das doch,
die Politik, die inneren Angelegenheiten, die Moral der Staaten
regieren. Mag auch der edle Goldstein für die slawische Idee gestorben
sein, – aber diese selbe „slawische“ Frage würde doch schon längst
zugunsten der Slawen und nicht zugunsten der Türken entschieden sein,
wenn die jüdische Idee in der Welt nicht so stark wäre. Ich bin bereit,
zu glauben, daß Lord Beaconsfield vielleicht selbst seine Herkunft von
einstmals spanischen Juden vergessen hat (oh, er wird sie bestimmt nicht
vergessen haben!); daß er aber im letzten Jahre die englische
„konservative“ Politik teilweise vom Standpunkt des Juden aus geleitet
hat, daran, glaube ich, kann man nicht mehr zweifeln.

Doch nehmen wir an, daß alles bisher von mir über die Juden Gesagte noch
kein schwerwiegender Einwand ist – ich gebe es selbst zu. Trotzdem aber
kann ich dem Geschrei der Juden, daß sie so furchtbar erniedrigt und
gequält und verprügelt wären, doch nicht ganz widerspruchslos glauben.
Meiner Ansicht nach trägt der russische Bauer oder überhaupt das
niedrigere russische Volk noch viel größere Lasten, als die Juden sie zu
tragen haben. Im zweiten Brief schreibt mir derselbe Herr, aus dessen
erstem Schreiben ich vorhin schon einiges angeführt habe:

   ... Vor allen Dingen ist es _unbedingt notwendig_, uns Israeliten
   alle Bürgerrechte zu gewähren (bedenken Sie doch bloß, daß uns jetzt
   noch das allererste Recht verwehrt ist: die freie Wahl des
   Aufenthaltsortes, woraus sich eine Menge furchtbarer Konsequenzen
   für die große Masse der Israeliten ergeben), Bürgerrechte, wie sie
   alle anderen fremden Völkerschaften in Rußland genießen, und dann
   erst von uns die Erfüllung aller Pflichten dem Staate wie dem
   russischen Volke gegenüber zu verlangen ...

Doch nun bitte auch ich Sie, mein Herr, bloß zu bedenken, da Sie auf der
zweiten Seite dieses Briefes selbst schreiben, daß Sie „das schwer
arbeitende russische Volk unvergleichlich mehr lieben und bedauern als
das israelitische“ (was für einen Israeliten wohl etwas zuviel gesagt
ist), bedenken auch Sie doch, bitte, daß zur Zeit, da der Israelit
lediglich nicht das Recht hatte, sich seinen Aufenthaltsort frei zu
wählen, dreiundzwanzig Millionen des „schwer arbeitenden russischen
Volkes“ in der Leibeigenschaft zu leben und zu leiden hatten, was, wie
ich glaube, etwas schwerer war. Und wurden sie damals von den Israeliten
etwa bedauert? Ich glaube nicht: im Westen und Süden Rußlands wird man
Ihnen ausführlichst darauf Antwort geben. Auch damals schrien die Juden
ganz ebenso nach Rechten, die das russische Volk nicht einmal selbst
hatte, schrien und klagten, daß sie Märtyrer seien, und daß man erst
dann, wenn sie größere Rechte bekommen haben würden, von ihnen auch „die
Erfüllung aller Pflichten dem Staate wie dem russischen Volke gegenüber
verlangen“ könnte. Da kam nun der Befreier und befreite den russischen
Bauern, und – wer war der erste, der sich auf ihn wie auf sein Opfer
stürzte? – wer benutzte so vorzugsweise seine Schwächen und Fehler zu
eigenem Vorteil? – wer umspann ihn sofort mit seinem ewigen goldenen
Netz? – wer ersetzte im Augenblick, wo er nur konnte, die früheren
Herren, – nur mit dem Unterschied, daß die Gutsbesitzer, wenn sie die
Bauern auch stark ausbeuteten, doch darauf bedacht waren, ihre
Leibeigenen nicht, wie es der Jude tut, zugrunde zu richten, meinetwegen
aus Eigennutz, um ihre Arbeitskraft nicht zu erschöpfen! Was aber liegt
dem Juden an der Erschöpfung der russischen Kraft? Hat er das Seine, so
zieht er weiter. Ich weiß schon, die Juden werden, wenn sie dies lesen,
sofort losschreien, daß es nicht wahr, daß es eine Verleumdung sei, daß
ich löge, daß ich all diesen Klatschereien nur glaubte, weil ich ihre
„vierzig Jahrhunderte alte Geschichte“ nicht kenne, die Geschichte
dieser reinen Engel, die unvergleichlich „sittlicher sind, nicht nur als
die anderen Völker, sondern auch sittlicher als das von mir vergötterte
russische Volk“ – Zitat aus dem mir gesandten Briefe, siehe oben. Nun
schön, mögen sie hundertmal sittlicher sein als alle Völker der Erde,
vom russischen schon gar nicht zu reden, so habe ich doch vor kurzem
erst in der Märznummer des „Europäischen Boten“ die Nachricht gelesen,
daß in Nord-Amerika (in den südlichen Staaten) die Juden sich sofort auf
die befreiten Neger gestürzt haben und sie jetzt bereits ganz anders
beherrschen, als es die Plantagenbesitzer taten. Natürlich tun sie es
wieder auf ihre bekannte Art und Weise mit dem ewigen „goldenen Netz“, –
wobei sie sich wieder so trefflich der Unwissenheit und Laster des
auszubeutenden Volkes zu bedienen verstehen! Als ich das las, fiel mir
sogleich ein, daß ich diese Nachricht schon vor fünf Jahren erwartet
hatte: „Jetzt sind die Neger wohl von den Plantagenbesitzern befreit,
wie aber sollen sie in Zukunft unversehrt bleiben, denn dieses junge
Opferlamm werden doch die Juden, deren es ja so viele in der Welt gibt,
ganz zweifellos überfallen.“ Das dachte ich vor fünf Jahren, und ich
versichere Sie, ich habe mich nachher noch des öfteren gefragt: „Wie
kommt es nur, daß man aus Amerika nichts von den Juden hört, daß die
Zeitungen von den Negern nichts zu berichten haben? Diese Sklaven sind
doch ein wahrer Schatz für die Juden, sollten sie ihn wirklich ungehoben
lassen?“ Nun, er ist ihnen also glücklich nicht entgangen. Und vor zehn
Tagen las ich in der „Neuen Zeit“ einen Bericht aus Kowno, der auch
ungemein charakteristisch ist: „Die Juden,“ heißt es, „haben dort fast
die ganze litauische Bevölkerung durch den Branntwein zugrunde
gerichtet, und nur den katholischen Priestern ist es noch gelungen, die
Armen durch Hinweisung auf die Höllenqualen und durch Bildung von
Mäßigkeitsvereinen vor größerem Unglück zu bewahren.“ Der gebildete
Berichterstatter errötet zwar für sein Volk, das noch Priestern und an
Höllenqualen glaubt, und so fügt er denn hinzu, daß gleich nach den
Priestern sich auch die Reicheren zusammengetan haben, um Landbanken zu
gründen – um das Volk vom jüdischen Wucherer zu befreien –, und
Landmärkte, damit der „arme, schwerarbeitende Bauer“ die notwendigsten
Gegenstände zu angemessenem Preise kaufen könne, und nicht zu dem, den
der Jude bestimmt. Ich zitiere nur, was ich gelesen habe; doch weiß ich
schon im voraus, was man mir sofort zuschreien wird: „Alles das beweist
noch nichts und kommt nur daher, daß die Israeliten selbst arm und
unterdrückt sind; alles das ist bloß ‚Kampf ums Dasein‘ – was nur ein
beschränkter Zeitungsleser nicht einsehen kann – und die Israeliten
würden sich, wenn sie nicht selbst so arm, sondern im Gegenteil reich
wären, sofort von der humanen Seite zeigen, und zwar in solchem Maße,
daß die ganze Welt darüber in Erstaunen geriete.“ Aber, erstens, diese
Neger und Litauer sind doch noch ärmer als die Juden, von denen ihnen
das Letzte herausgepreßt wird, und doch verabscheuen sie – bitte, die
Zeitungskorrespondenz zu lesen – diese Art Handel, auf die der Jude so
erpicht ist. Zweitens ist es nicht schwer, human und moralisch zu sein,
wenn man selbst satt ist und im Warmen sitzt; zeigt sich aber ein wenig
„Kampf ums Dasein“, so „komm dem Juden nicht zu nah“! Meiner Meinung
nach ist das gerade kein Zug, der „wahren Engeln“ zusteht. Und drittens,
ich stelle ja diese beiden Nachrichten aus dem „Europäischen Boten“ und
der „Neuen Zeit“ keineswegs als kapitale und alles entscheidende
Tatsachen hin. Wollte man anfangen die Geschichte dieses Weltvolkes zu
schreiben, so könnte man sofort hunderttausend solcher und noch
wichtigerer Tatsachen finden, so daß zwei mehr oder weniger nichts zu
bedeuten hätten. Doch bei alledem ist eines auffallend: braucht jemand,
sei es im Streit oder sonst aus irgendeinem Grunde, eine Auskunft über
die Juden und ihre Taten, so gehe er nicht in die Bibliotheken, suche er
nicht in alten Büchern oder eigenen Notizen; nein, er strecke nur, ohne
sich vom Stuhl zu erheben, die Hand nach irgendeiner ersten besten
Zeitung, die neben ihm liegt, aus, und dann suche er auf der zweiten
oder dritten Seite: unbedingt wird er etwas finden, das von Juden
handelt, unbedingt gerade das, was ihn interessiert, unbedingt das
Allercharakteristischste und unbedingt immer dasselbe – d. h. immer die
gleichen Heldentaten! Man wird mir wohl zugeben: das hat doch irgend
etwas zu bedeuten, das weist doch auf etwas Bestimmtes hin, eröffnet
einem doch ein gewisses Etwas über dieses Volk, selbst wenn man ein
vollkommener Laie in der vierzig Jahrhunderte alten Geschichte dieses
Volkes ist!? Selbstverständlich wird man mir hierauf antworten, daß alle
vom Haß verblendet seien und infolgedessen lögen. Natürlich ist es sehr
leicht möglich, daß alle, bis auf den Letzten, lügen, doch erhebt sich
dann sofort eine andere Frage: wenn alle bis auf den Letzten von so
einem Haß beseelt sind, daß sie sogar lügen, so muß doch dieser Haß auch
einen Grund, eine Ursache haben, und irgend etwas muß doch dieser
allgemeine Haß bedeuten – „irgend etwas bedeutet doch das Wort
‚_Alle_‘!“, wie einstmals Belinski ausrief.

„Freie Wahl des Aufenthaltsortes!“ Können sich denn die unbemittelten
Russen so vollkommen frei ihren Aufenthaltsort wählen? Leidet denn der
russische Bauer nicht heute noch unter den früheren, aus der Zeit der
Leibeigenschaft gebliebenen unerwünschten Freiheitsbeschränkungen in der
Wahl seines Aufenthaltsortes, so daß selbst die Regierung dem schon
längst ihre Aufmerksamkeit zugewendet hat? Und was die Juden betrifft,
so kann sich ein jeder davon überzeugen, daß ihre Rechte in dieser
Beziehung im Laufe der letzten zwanzig Jahre bedeutend vergrößert worden
sind. Wenigstens sieht man sie jetzt in Rußland in Gouvernements, wo man
sie früher nie gesehen hat. Aber die Juden klagen ja immer über Haß und
Verfolgungen. Wenn ich auch die jüdische Lebensweise nicht kenne, eines
jedoch weiß ich bestimmt und werde es daher allen gegenüber bezeugen:
daß in unserem einfachen Russen ein apriorischer, stumpfer, religiöser
Haß, in dem Sinne wie: „Judas hat Christus verkauft“, nicht vorhanden
ist. Hört man dies auch einmal vielleicht von Kindern oder Betrunkenen,
so sieht doch unser ganzes Volk, ich wiederhole es, ohne jeglichen
voreingenommenen Haß auf die Juden. Davon habe ich mich fünfzig Jahre
lang selbst überzeugen können. Ich habe mit dem Volk in ein und
denselben Kasernen gelebt, auf denselben Pritschen geschlafen. Es waren
dort auch einige Juden: niemand hat sie verachtet, niemand sie
ausgestoßen oder verfolgt. Wenn sie beteten – und die Juden beten mit
großem Geschrei und ziehen sich dazu besondere Kleider an – so hat
niemand das sonderbar gefunden, noch sie gestört oder über sie gelacht,
was man doch gerade von einem, nach unserer Meinung so „ungebildeten“
Volke, wie das russische, erwarten könnte. Im Gegenteil, sie sagten,
wenn sie die Juden beten sahen: „Sie beten so, weil sie so einen Glauben
haben,“ und ruhig, ja fast billigend, gingen sie an ihnen vorüber. Und
diese selben Juden taten diesen selben Russen gegenüber fremd, wollten
nicht mit ihnen zusammen essen und sahen auf sie fast von oben herab;
und das an welch einem Ort? – im sibirischen Gefängnis! – Überhaupt
zeigten sie überall Widerwillen und Ekel vor dem russischen, dem
„eingeborenen“ Volke. Dasselbe geschieht auch in den Soldatenkasernen
und überall in ganz Rußland. Man erkundige sich doch, ob der Jude in der
Kaserne als „Jude“, seines Glaubens, seiner Sitten wegen beleidigt wird?
Ich kann versichern: in den Kasernen wie überhaupt im Leben sieht und
begreift der einfache Russe nur zu gut, daß der Jude mit ihm nicht essen
will, daß er ihn verabscheut und ihn meidet, soviel er nur kann (das
geben ja die Juden sogar selbst zu). Nun, und? – Anstatt sich durch
solches Benehmen gekränkt zu fühlen, sagt der einfache Russe ruhig und
vernünftig: „Das tut er, weil er solch einen Glauben hat,“ – d. h. nicht
etwa weil er böse ist. Und nachdem er diesen tieferen Grund eingesehen,
entschuldigt er ihn von ganzem Herzen. Nun habe ich mich aber zuweilen
gefragt: was würde wohl geschehen, wenn in Rußland 3 Millionen Russen
und, umgekehrt, 80 Millionen Juden wären, was würden dann die Letzteren
aus den Russen machen, wie würden sie dann diese behandeln? Würden sie
ihnen auch nur annähernd die gleichen Rechte geben? Würden sie ihnen
erlauben, so zu beten, wie sie wollen? Würden sie sie nicht einfach zu
Sklaven machen? Oder, noch schlimmer: würden sie ihnen dann nicht das
Fell mitsamt der Haut abziehen? Würden sie sie nicht vollständig
ausrotten, nicht ebenso vernichten, wie sie es früher in ihrer alten
Geschichte mit anderen Völkerschaften getan? Nein, ich versichere Sie,
im russischen Volk ist kein vorurteilsvoller Haß auf den Juden. Es ist
aber vielleicht eine Antipathie gegen ihn vorhanden, besonders in
gewissen Gegenden, und dort ist sie vielleicht sogar sehr stark. Ohne
sie scheint es nun einmal nicht zu gehen, doch beruht diese Abneigung
durchaus nicht auf irgendeinem Rassen- oder Religionshaß, sondern auf
gewissen Tatsachen, an denen aber nicht das russische Volk schuld ist,
sondern der Jude selbst.


                           _Status in statu._

              Vierzig Jahrhunderte geschichtliches Dasein

Die Juden beschuldigen uns des Hasses gegen sie und dazu noch eines
Hasses aus Vorurteilen. Da also von Vorurteilen die Rede ist, will ich
zuerst fragen: hat der Jude gegen den Russen etwa weniger Vorurteile als
der Russe gegen den Juden? – oder sollte er ihrer nicht doch noch mehr
haben? Ich habe Briefe von Juden erhalten, und zwar nicht von einfachen,
sondern von gebildeten Juden – und wieviel Haß gegen die „autochthone
Bevölkerung“ ist doch in diesen Briefen! Das auffallendste aber – sie
bemerken es selbst nicht einmal, daß sie gehässig schreiben.

Ein Volk, das vierzig Jahrhunderte auf der Erde existiert, also fast
seit dem Anfang der historischen Zeitordnung, und noch dazu in einem so
festen und unzerstörbaren Zusammenhang, ein Volk, das so oft sein Land,
seine politische Unabhängigkeit, seine Gesetze, wenn nicht gar seinen
Glauben verloren hat, – und sich noch jedesmal wieder vereinigen, sich
in der _früheren Idee_ wiedergebären, sich Gesetze und fast auch den
Glauben von neuem hat schaffen können, – nein, ein so zähes Volk, ein so
ungewöhnlich starkes, energisches, solch ein in der ganzen Welt
beispielloses Volk hat nicht ohne _status in statu_ leben können. Und
diesen _status_ hat es überall und während der schrecklichsten
tausendjährigen Verfolgungen aufrechterhalten. Doch ich will hier
keineswegs, indem ich vom _status in statu_ rede, eine Anklage gegen die
Juden erheben. Ich frage nur: worin besteht denn dieser _status in
statu_, worin seine ewige, unveränderliche Idee, und worin das Wesen
dieser Idee? Allerdings lassen sich Fragen von solcher Größe nicht in
einem kurzen Artikel genügend auseinandersetzen, abgesehen davon, daß
dies auch aus einem anderen Grunde ganz unmöglich wäre: noch ist die
_Zeit_ für das endgültige Urteil über dieses Volk nicht gekommen, trotz
der verflossenen vierzig Jahrhunderte; noch steht das letzte Wort aus,
das die Menschheit über dieses mächtige Volk zu sagen hat. Aber auch
ohne in das Wesen der Sache einzudringen, kann man doch wenigstens
einige, wenn auch nur äußerliche Kennzeichen dieses _status in statu_
angeben. Diese Kennzeichen sind: die bis zum religiösen Dogma erhobene
Absonderung und Abgeschlossenheit von allem, was nicht Judentum ist, und
die Unverschmelzbarkeit mit anderen Völkern, der Glaube, daß es in der
ganzen Welt nur ein einziges persönliches Volk gibt – die Juden –, und
die Überzeugung, die anderen Völker, wenn sie auch vorhanden sind, doch
so behandeln zu müssen, als ob sie nicht vorhanden wären. „Scheide dich
aus von den Völkern und bilde deine Besonderheit und wisse, daß du von
nun ab _allein bei Gott_ bist. Die anderen vernichte oder mache sie zu
deinen Sklaven oder beute sie aus. Glaube an deinen Sieg über die ganze
Welt, glaube, daß alles dir untertan sein wird. Alle anderen Völker
sollst du verabscheuen und mit keinem von ihnen Umgang pflegen. Und
selbst wenn du dein Land und deine politische Persönlichkeit verlierst,
selbst wenn du über die ganze Erde hin unter alle Völker verstreut sein
wirst – gleichviel: glaube an all das, was dir verheißen ist, ein für
allemal, glaube, daß es also geschehen werde, – inzwischen aber lebe,
verachte, beute aus und – erwarte, erwarte, erwarte ...“ Das ist die
Quintessenz dieses _status in statu_. Außerdem gibt es natürlich noch
innere und geheime Gesetze, die diese Idee lebendig erhalten.

Sie sagen, meine gebildeten Herren Israeliten und Gegner, daß dieses
nichts als Unsinn sei, und: „... Wenn es auch einen _status in statu_
gibt, – das heißt, selbstverständlich: früher einmal einen gegeben hat,
von dem jetzt vielleicht noch schwache Spuren vorhanden sein mögen, – so
haben einzig die Verfolgungen aller Zeiten und besonders des
Mittelalters zu ihm geführt; folglich ist dieser _status in statu_
ausschließlich aus dem Trieb der Selbsterhaltung entstanden; setzt er
sich auch heute noch fort, besonders in Rußland, so geschieht das nur,
weil der Israelit hier noch nicht dieselben Rechte genießt wie der
Russe.“ Ich aber glaube, daß er, selbst wenn er die gleichen Rechte
hätte, doch auf keinen Fall seinem _status in statu_ entsagen würde. Den
_status in statu_ nur den Verfolgungen und dem Selbsterhaltungstrieb
zuzuschreiben, geht meiner Meinung nach nicht an. Die Widerstandskraft
zur Selbsterhaltung würde dann doch nie und nimmer für ganze vierzig
Jahrhunderte ausgereicht haben. Selbst die größten und stärksten
Kulturen haben sich nicht einmal durch die Hälfte von vierzig
Jahrhunderten erhalten können und haben ihre politische Kraft und
selbständiges Volkstum in noch kürzerer Zeit eingebüßt. Hier ist nicht
die Selbsterhaltung die erste Ursache, sondern eine Idee, die mit sich
fortreißt, die leitet und erhält; hier handelt es sich um etwas
Weltbeherrschendes und Ewiges, worüber das „letzte Wort“ zu sagen die
Menschheit vielleicht noch gar nicht fähig ist. Daß der religiöse
Charakter in dieser Idee das Übergewicht hat – darüber kann kein Zweifel
bestehen. Es ist doch klar, daß der Fürsorger dieses Volkes unter dem
Namen des früheren alten Jehova fortfährt, mit seinem Ideal und seiner
Verheißung sein Volk zum festen Ziele zu führen. Es ist ja ganz
unmöglich, wiederhole ich, sich einen Juden ohne Gott vorzustellen, oh,
und ich glaube auch nicht an gebildete jüdische Atheisten: alle sind sie
eines Wesens, und Gott weiß, was der Welt von der jüdischen Intelligenz
noch bevorsteht! Als Kind habe ich oft von den Juden sagen hören, daß
sie auch jetzt noch unverzagt ihren Messias erwarten, alle, wie der
niedrigste so der höchste von ihnen, der gelehrteste Philosoph wie der
kabbalistische Rabbiner; daß sie alle glauben, ihr Messias werde sie
wieder in Jerusalem versammeln und alle Völker mit seinem Schwerte zu
ihren Füßen legen; daß nur aus diesem Grunde die Juden – wenigstens in
ihrer übergroßen Mehrzahl – bloß eine einzige Arbeit allen anderen
vorzögen: den Handel mit Gold und mit allem, was sich schnell in Gold
verwandeln läßt –, und daß sie dies nur deshalb täten, hieß es, um
dereinst, wenn der Messias kommt, kein neues Vaterland zu haben, nicht
durch Besitz an das Land Fremder gebunden zu sein, sondern ihr Hab und
Gut in Gold und Wertsachen mit sich führen zu können –

   „Wenn erglänzt das Licht der Morgenröte
   Und Cinellen, Cymbeln, Pauken und Schalmeien tönen –
   Dann bringen wir nach Palästina
   In den alten Tempel unsres Gottes
   Alle Schätze, die wir haben:
   Edelsteine, Gold und Silber“ ...

Ich habe das als Legende gehört, doch bin ich fest überzeugt, daß dieser
Glaube unbedingt vorhanden ist, vielleicht nicht bewußt im einzelnen,
wohl aber in Gestalt eines instinktiven, unbezwingbaren Triebes in der
ganzen Masse der Juden. Damit aber ein solcher Glaube lebendig bleibe,
ist es natürlich erforderlich, daß der _status in statu_ aufs strengste
erhalten werde. Und so wird er denn erhalten. Folglich ist und war nicht
nur die Verfolgung die Ursache des _status in statu_, sondern – die
_Idee_ ...

Haben aber die Juden wirklich solch ein besonderes inneres, strenges
Gesetz, das sie zu etwas Ganzem und Besonderem zusammenbindet, so kann
man ja noch über die Frage, ob man ihnen die volle Gleichberechtigung
mit dem eigenen Volke geben soll, nachdenken. Selbstverständlich muß
alles, was Menschlichkeit und Gerechtigkeit verlangen, für die Juden
getan werden. Doch wenn sie in ihrer vollen Rüstung und Eigenart, in
ihrer nationalen und religiösen Absonderung, im Schutze ihrer Regeln und
Prinzipien, die den Grundsätzen, nach denen sich bis jetzt die ganze
europäische Welt entwickelt hat, so durchaus entgegengesetzt sind, –
wenn sie bei alledem noch die vollständige Gleichberechtigung mit der
autochthonen Bevölkerung in _allen möglichen_ Rechten verlangen: bekämen
sie dann nicht, wenn man sie ihnen gewähren würde, bereits mehr als das,
was das autochthone Volk selbst hat, etwas, was sie _über_ letzteres
stellen würde? Hierauf wird man natürlich auf die anderen Fremdvölker in
Rußland hinweisen: „Die sind gleichberechtigt oder doch so gut wie
gleichberechtigt, wir Israeliten aber haben von allen Fremdvölkern die
geringsten Rechte, und das nur, weil man uns fürchtet, weil wir Juden,
wie es heißt, schädlicher als alle anderen Fremdvölker sein sollen. Doch
wodurch sind denn gerade wir Israeliten schädlich? Wenn unser Volk auch
einige schlechte Eigenschaften haben mag, so hat es sie doch nur, weil
das russische Volk selbst zur Entwicklung dieser Eigenschaften beiträgt,
und zwar einfach durch seine eigene Unwissenheit, durch seine Unbildung,
durch seine Unfähigkeit, selbständig zu sein, durch seine geringe
ökonomische Begabung. Das russische Volk verlangt ja selbst nach einem
Vermittler, einem Leiter, einem Vormund in den Geschäften, einem
Gläubiger, ruft ihn selbst und verkauft sich ihm freiwillig! Seht doch,
wie es in Europa ist: dort haben die Völker einen festen und
selbständigen Willen, eine starke nationale Entwicklung und Verständnis
für die Arbeit, an die sie von jeher gewöhnt sind – dort fürchtet man
sich auch nicht, den Israeliten dieselben Rechte zu geben! Hört man etwa
in Frankreich von einem Schaden, den der _status in statu_ der dortigen
Israeliten der französischen Nation verursachte?“

Allem Anschein nach ein starker Einwand; aber geht aus ihm nicht hervor,
daß die Juden es gerade dort gut haben, wo das Volk noch unwissend ist
oder unfrei oder wirtschaftlich wenig entwickelt, – daß es für sie also
gerade dort vorteilhaft ist, zu leben? Anstatt nun durch ihren Einfluß
das Niveau der Bildung zu heben, das Wissen zu verbreiten, die
wirtschaftlichen Fähigkeiten in der eingeborenen Bevölkerung zu
entwickeln, wie es die anderen Fremdvölker tun, haben die Juden überall,
wo sie sich niedergelassen, das Volk noch mehr erniedrigt und verdorben,
überall dort ist die Menschheit noch niedergebeugter, und ist das Niveau
der Bildung noch tiefer gesunken, hat sich noch schrecklicher
aussichtslose, unmenschliche Armut verbreitet, und mit ihr die
Verzweiflung. Man frage doch in unseren Grenzgebieten die eingeborene
Bevölkerung, was die Juden treibt, und was sie so viele Jahrhunderte
hindurch getrieben hat? Man wird nur eine einzige Antwort erhalten: „Die
_Unbarmherzigkeit_! ... Getrieben hat sie so viele Jahrhunderte bloß
ihre Gier, sich an unserem Schweiß und Blut zu sättigen.“ Die ganze
Tätigkeit der Juden in unseren Grenzgebieten hat bloß darin bestanden,
daß sie die eingeborene Bevölkerung in eine rettungslose
Abhängigkeit von sich gebracht haben, und zwar unter einer wirklich
bewunderungswürdigen Ausnutzung der Verhältnisse. Oh, in solchen
Angelegenheiten haben sie es immer verstanden, die Möglichkeit zu
finden, über _Rechte_ zu verfügen. Sie haben es immer verstanden, gut
Freund mit denen zu sein, von denen das Volk abhängt; in dieser
Beziehung wenigstens sollten sie doch über ihre _geringen Rechte im
Verhältnis zum russischen Volke_ nicht klagen. Sie haben ihrer bei uns
schon übergenug –, dieser Rechte über das russische Volk! Was in den
Jahrzehnten und Jahrhunderten aus dem russischen Volke dort geworden
ist, wo die Juden sich niedergelassen haben – davon zeugt die Geschichte
unserer russischen Grenzgebiete. Bitte jetzt irgendein anderes Volk von
den Fremdvölkern Rußlands zu nennen, das sich in dieser Beziehung mit
den Juden messen könnte? Man wird keines finden. In dieser Beziehung
behaupten die Juden ihre ganze Originalität, im Vergleich zu den anderen
Fremdvölkern Rußlands, und die Erklärung dieser Tatsache ist natürlich
in diesem ihrem _status in statu_ zu suchen, dessen Wesen gerade diese
Unbarmherzigkeit allem gegenüber, was nicht Jude ist, gerade diese
Verachtung jedes Volkes und jeder Rasse und jedes menschlichen Wesens,
das nicht Jude ist, ausmacht. Und was ist denn das für eine
Rechtfertigung, daß im Westen Europas die Völker sich nicht haben
besiegen lassen, und daß somit das russische Volk selbst die Schuld
daran trägt, wenn der Jude es knechtet? Weil das russische Volk in den
Grenzgebieten sich schwächer als die europäischen Völker erwiesen hat –
infolge seiner schrecklichen, viele Jahrhunderte langen politischen
Darniederlage –, nur deswegen soll man es also endgültig durch
Ausbeutung erwürgen, anstatt ihm zu helfen?

Und im übrigen – da sie auf Europa, auf Frankreich z. B., hinweisen:
auch dort ist dieser _status in statu_ wohl kaum so unschädlich gewesen,
wie es anfänglich scheinen mag. Das Christentum und seine Idee sinken
dort natürlich nicht durch die Schuld der Juden, sondern durch jener
Völker eigene Schuld, doch nichtsdestoweniger kann man auch in Europa
auf einen großen Sieg des Judentums, das viele früheren Ideen schon
durch seine Idee verdrängt hat, hinweisen. Oh, selbstverständlich hat
der Mensch zu allen Zeiten den Materialismus vergöttert und ist immer
geneigt gewesen, die Freiheit bloß in der Sicherstellung seiner selbst
durch „aus allen Kräften angesammeltes und mit allen Mitteln erhaltenes
Geld“ zu sehen und zu verstehen. Doch noch niemals sind diese
Bestrebungen so offen und so dogmatisch zum höchsten Prinzip erhoben
worden, wie in unserem neunzehnten Jahrhundert. „Jeder für sich und nur
für sich und alle Gemeinschaft zwischen den Menschen einzig für mich“ –
das ist das moralische Prinzip der Mehrzahl der heutigen Menschen[38]
und nicht einmal schlechter, sondern arbeitender Menschen, die weder
morden noch stehlen. Und die Unbarmherzigkeit zu den niedrigeren Massen,
der Verfall der Brüderlichkeit, die Ausnutzung des Armen durch den
Reichen – oh, natürlich ist das auch früher schon und überhaupt immer
gewesen, aber – aber es ward doch nicht zu einer Wahrheit und
Weltanschauung, sondern ist vom Christentum stets bekämpft worden! Jetzt
aber wird es im Gegenteil zur Tugend erhoben! So darf man wohl annehmen,
es sei nicht einflußlos geblieben, daß an den Börsen dort allenthalben
Juden herrschen, daß nicht umsonst _sie_ die Kapitale lenken, nicht
umsonst _sie_ die Kreditgeber, und nicht umsonst, ich wiederhole es,
_sie_ die Beherrscher der ganzen internationalen Politik sind!

Und das Ergebnis: ihr Reich nähert sich, ihr volles Reich! Es beginnt
der Triumph der Ideen, vor denen die Gefühle der Menschenliebe, der
Wahrheitsdurst, die christlichen und die nationalen Gefühle, und sogar
der Rassen_stolz_ der europäischen Völker sich beugen. Der Materialismus
triumphiert, die blinde, gefräßige Begierde nach _persönlicher_
materieller Versorgung, die Gier nach persönlichem Zusammenscharren des
Geldes, und – der Zweck heiligt das Mittel –: all das wird als höchstes
Ziel anerkannt, als das Vernünftige, als Freiheit, an Stelle der
christlichen Idee der Rettung einzig durch engste ethische und
brüderliche Vereinigung der Menschen. Man wird hierauf vielleicht
lachend erwidern, daß das keineswegs durch die Juden so gekommen sei.
Natürlich nicht durch die Juden allein; doch wenn die Juden in Europa
gerade seit der Zeit – da diese neuen Grundsätze dort den Sieg
davongetragen – die Oberhand gewinnen und gedeihen, sogar in dem Maße,
daß ihre Grundsätze zum moralischen Prinzip erhoben werden, so kann man
doch wohl sagen, daß das Judentum einen großen Einfluß gehabt hat. Meine
Gegner weisen immer daran hin, daß die Juden im Gegenteil arm sind, und
zwar überall, in Rußland nur noch ganz besonders; daß nur der kleine
Wipfel dieses Volksbaumes reich ist, die Bankiers und die Könige der
Börsen, von den übrigen aber fast neun Zehntel buchstäblich Bettler
sind, die sich für ein Stück Brot zerreißen und Maklerdienste tun, um
eine Kopeke zu erhaschen. Ja, das ist wahr, doch was sagt das
schließlich? Sagt das nicht gerade, daß sogar in der Arbeit der Juden,
daß sogar in ihrer ausbeutenden Tätigkeit selbst etwas Unrechtes,
Unnormales, etwas Unnatürliches ist, das seine Strafe bereits in sich
trägt? Der Jude verdient durch Vermittlergeschäfte, er – handelt mit
fremder Arbeit. Ein Kapital ist angesammelte Arbeit; der Jude schlägt
sein Kapital aus fremder Arbeit! Doch all das ändert bis jetzt noch
nichts an dem Gesagten: dafür erobern die reichen Juden immer mehr die
Herrschaft über die Menschheit und streben immer eifriger darnach, der
Welt ihr jüdisches Antlitz aufzudrücken und ihr jüdisches Wesen zu
verleihen. Spricht man über diese Eigenschaft der Juden, so sagen sie
immer, auch unter ihnen gäbe es gute Menschen. Herrgott! Handelt es sich
denn hier etwa darum? Ich spreche doch in diesem Fall nicht von _guten_
oder _schlechten_ Menschen. Und gibt es unter den Juden nicht
gleichfalls gute? War denn der verstorbene James Rothschild etwa ein
schlechter Mensch? Ich spreche doch nur im allgemeinen vom _Judentum_
und von der _jüdischen Idee_, die die ganze Welt ergreift, an Stelle des
„mißlungenen“ Christentums.


                    Doch es lebe die Brüderlichkeit!

Aber – was rede ich eigentlich, und wozu? Oder bin ich vielleicht
wirklich ein Judenhasser? Sollte es doch wahr sein, was mir eine
zweifellos gebildete und edle junge Israelitin schreibt – bin ich
wirklich, wie sie sagt, ein Feind dieses „unglücklichen“ Volkes, das ich
„bei jeder Gelegenheit grausam angreife“? „Ihre Verachtung für das
jüdische Volk, das an nichts anderes als an sich selbst denkt, wie Sie
sagen,“ schreibt sie mir, „ist nur zu augenscheinlich“. – Nein, gegen
diese Augenscheinlichkeit lehne ich mich auf und bestreite sie. Im
Gegenteil, ich sage und schreibe gerade, daß „alles, was Menschlichkeit
und Gerechtigkeit verlangen, alles, was die Gebote Christi von uns
fordern, für die Juden getan werden muß“. Diese Worte habe ich schon
einmal geschrieben und jetzt füge ich nur noch hinzu: ja, trotz aller
Bedenken, die von mir ausgesprochen worden sind, bin ich doch für die
größte Erweiterung der Rechte unserer Juden in der russischen
Gesetzgebung und, wenn es nur durchführbar ist, auch für die vollste
Gleichheit der Rechte mit denen der eingeborenen Bevölkerung – NB.
obgleich sie schon jetzt vielleicht mehr Rechte haben, oder richtiger,
mehr _Möglichkeiten, sich ihrer zu bedienen_, als das eingeborene Volk
selbst. Hier geht mir nun wieder etwas anderes durch den Sinn: wenn
unsere Dorfgemeinde, die unseren armen Bauern vor so viel Bösem
bewahrt[39] aus irgendeinem Grunde ins Wanken und Zerbröckeln käme –
wie, wenn dann diesen befreiten Bauer, der so unerfahren ist und so
wenig der Verführung zu widerstehen weiß, und den bis jetzt gerade die
Dorfgemeinde bevormundet hat, die Juden überfielen – was dann? Dann
würde es ja mit ihm einfach zu Ende sein, dann hätte er im Augenblick
alles verloren: sein ganzes Eigentum, seine ganze Kraft würde dann schon
am nächsten Tage in die Hände der Juden übergehen – und dann käme eine
Zeit, die man nicht nur mit der Zeit der Leibeigenschaft vergleichen
könnte, sondern eher mit der des Tatarenjoches.

Doch abgesehen von allem, was mir in den Sinn kommt und was ich
geschrieben habe, bin ich für ihre vollständige Gleichstellung in den
Rechten, – denn also will es das Gebot Christi. Wozu aber habe ich dann
so viele Seiten geschrieben, was habe ich sagen wollen, wenn ich mir so
_widerspreche_? Gerade das habe ich sagen wollen, daß ich mir nicht
widerspreche, daß ich russischerseits kein Hindernis für die Erweiterung
der jüdischen Rechte sehe. Nur behaupte ich, daß es solcher Hindernisse
weit mehr auf der Seite der Juden selbst gibt; und wenn sie bis jetzt
noch nicht gleichberechtigt sind, so trägt der Russe weniger Schuld
daran als der Jude selbst. Denn gleichwie der einfache Jude mit Russen
weder zusammen essen noch mit ihnen verkehren will, und diese sich
darüber nicht nur nicht ärgern, sondern es sofort begreifen und
verzeihen („das tut er bloß, weil er solch einen Glauben hat“), ebenso
sehen wir auch im intelligenten, gebildeten Juden ungemein häufig
dasselbe maßlose und hochmütige Vorurteil gegen uns Russen. Oh, man höre
nur, wie sie schreien, daß sie die Russen liebten! Einer von ihnen
schrieb mir sogar, es bereite ihm großen Kummer, daß das russische Volk
„keine Religion hat und sich unter seinem Christentum nichts denkt“! Das
ist wohl etwas zu weit gegangen für einen Juden, und es erhebt sich da
nur die Frage: was versteht denn dieser hochgebildete Israelit selber
vom Christentum? Dieser Eigendünkel und Hochmut ist für uns Russen eine
der am schwersten zu ertragenden Eigenschaften des jüdischen Charakters.
Wer ist von uns unfähiger, den anderen zu verstehen: der Jude oder der
Russe? Ich rechtfertige eher den Russen: der Russe hat wenigstens keinen
religiösen Haß auf den Juden – entschieden nicht! Die anderen Vorurteile
aber – wer hat davon mehr? Da schreien nun die Juden, daß sie so viele
Jahrhunderte lang verfolgt und unterdrückt worden seien, es sogar jetzt
noch seien, und daß der Russe dies zum mindesten in Betracht ziehen
müsse, wenn er den jüdischen Charakter beurteilt. Gut, wir ziehen es
auch in Betracht, was wir sofort beweisen können: in der intelligenten
Schicht des russischen Volkes haben sich mehr als einmal Männer erhoben,
die für die Rechte der Juden eingetreten sind. Was aber tun die Juden?
Ziehen sie etwa die langen Jahrhunderte der Unterdrückung und
Verfolgung, die das russische Volk ertragen hat, in Betracht, wenn sie
die Russen anklagen? Wäre es möglich, zu behaupten, daß unser Volk
weniger Leid und Elend erfahren hätte als die Juden, gleichviel wann und
wo? Und wäre es möglich, gleichfalls zu behaupten, daß es _nicht_ der
Jude gewesen ist, der sich mehr als einmal mit den Unterdrückern des
russischen Volkes vereinigte – daß nicht er zur Zeit der Leibeigenschaft
den russischen Bauern aufkaufte und somit sein unmittelbarer Beherrscher
war? Das ist doch wahr, ist doch Geschichte, unbestreitbare Tatsache!
Doch noch nie haben wir gehört, daß das jüdische Volk darüber Reue
empfände; es klagt immer nur den russischen Bauern an und wirft ihm vor,
daß er den Juden wenig liebe.

Einmal wird volle und geistige Einheit unter den Menschen herrschen, und
es wird kein Unterschied in den Rechten mehr bestehen. Darum bitte ich
meine Herren Israeliten-Gegner und -Korrespondenten vor allem, doch auch
uns Russen gegenüber nachsichtiger und gerechter zu sein. Ist der
Hochmut der Juden, ihr ewiger „mäkelnder Widerwille“ der russischen
Rasse gegenüber nur ein Vorurteil, ein „historischer Auswuchs“, und
_verbirgt sich darunter nicht irgendein viel tieferes Geheimnis ihrer
Gesetze oder ihres Wesens_ – so wird sich all das nur um so früher
zerstreuen, und wir werden uns einmütig in guter Brüderlichkeit
zusammentun zu gegenseitigem Beistand und für die große Sache: unserer
Erde, unserem Staate und unserem Vaterlande zu dienen! Die gegenseitigen
Anklagen werden allmählich aufhören, und damit wird auch die Ausnutzung
dieser Anklagen, die das klare Verständnis der Dinge verhindern,
verschwinden. Für das russische Volk kann man bürgen: oh, es wird dem
Juden die größte Freundschaft entgegenbringen, trotz des
Glaubensunterschiedes, und doch wird es volle Achtung für die
historische Tatsache dieses Unterschiedes bewahren. Trotzdem aber ist zu
einer vollständigen Brüderlichkeit – _Brüderlichkeit beiderseits
erforderlich_. Also möge doch der Jude wenigstens ein wenig brüderliche
Gefühle zeigen, um den Russen zu ermutigen. Ich weiß, daß es unter den
Juden auch jetzt schon viele gibt, die sich nach der Beseitigung der
Mißverständnisse sehnen und wirklich äußerst menschenfreundlich sind –
ich will die Wahrheit nicht verschweigen. Und eben damit diese
nützlichen und menschenfreundlichen Leute nicht den Mut verlieren, ihre
Vorurteile ein wenig abzuschwächen und damit den Anfang der Sache zu
erleichtern, wünschte ich die Erweiterung der Rechte des jüdischen
Volkes, wenigstens soweit sie möglich ist: eben soweit das jüdische Volk
die Fähigkeit beweist, sich dieser Rechte zu bedienen, _ohne daß die
eingeborene Bevölkerung darunter zu leiden hat_. Nur eines fragt sich
noch: werden diese tapferen und guten Israeliten auch viel erreichen,
und inwieweit sind sie selbst befähigt zu der neuen schönen Aufgabe der
_wirklichen_ brüderlichen Vereinigung mit Menschen, die ihnen dem
Glauben und dem Blute nach fremd sind?


                     Die Beerdigung des Allmenschen

Ich hatte eigentlich die Absicht, mich über sehr vieles in dieser
Märznummer meines „Tagebuches“ auszusprechen; doch nun ist es wieder
geschehen, daß ich über ein einziges Thema, über das ich nur einige
Worte hatte sagen wollen, ganze Seiten geschrieben habe. So nehme ich
mir, zum Beispiel, immer vor, etwas über Kunst zu sagen! Auch wollte ich
über das neueste Bild Semiradskis sprechen – nur ein wenig –, und vor
allen Dingen über den Idealismus und den Realismus in der Kunst, über
Repin und Raphael; aber das werde ich noch aufschieben müssen. Und wie
lange nehme ich mir schon vor, über die Briefe, besonders die anonymen,
die ich so oft erhalte, zu schreiben!

Nun aber will ich doch einen Brief anführen, keinen anonymen, sondern
einen von einer mir sehr gut bekannten Dame, Fräulein L., einer jungen
Jüdin, deren Bekanntschaft ich in Petersburg gemacht habe.
Sonderbarerweise haben wir kein einziges Mal über die „Judenfrage“
gesprochen, obgleich sie eine strenge und ernste Israelitin zu sein
scheint. Wie ich sehe, hat ihr Brief eine Beziehung zu dem heute von mir
geschriebenen Kapitel über die Juden. Es wäre vielleicht zuviel über
dasselbe Thema, doch hier handelt es sich um etwas anderes: der Brief
zeigt eine ganz andere Seite der Frage, vielleicht die entgegengesetzte,
und außerdem enthält er geradezu einen Hinweis auf die Lösung des
Problems. Ich hoffe, Fräulein L. wird mir verzeihen, wenn ich hier jenen
Teil ihres Briefes wörtlich wiedergebe, der von der Beerdigung des
Doktors Hindenburg in M. handelt. Unter dem frischen Eindruck dieser
Beerdigung hat sie so aufrichtige und in ihrer Wahrheit so rührende
Worte gefunden. Ich will nochmals hervorheben, daß dieser Brief von
einer Jüdin geschrieben ist, daß diese Gefühle – Gefühle einer Jüdin
sind ...

   „Ich schreibe Ihnen unter dem tiefen Eindruck des Trauermarsches.
   Der 84jährige Doktor Hindenburg ist heute beerdigt worden. Da er
   Protestant war, wurde er zuerst in der lutherischen Kirche
   aufgebahrt, und von dort aus erfolgte dann die Überführung auf den
   Kirchhof. Solche Trauer, so von Herzen kommende Worte, so heiße
   Tränen habe ich noch an keinem Grabe gesehen ... Er starb in der
   größten Armut, so daß man zuerst nicht wußte, wie die
   Beerdigungskosten bestritten werden sollten.

   58 Jahre praktizierte er schon in M. ... Und wieviel Gutes hat er in
   dieser langen Zeit getan! Wenn Sie wüßten, Fjodor Michailowitsch,
   was das für ein Mensch war! Er war Doktor und Frauenarzt; sein Name
   wird hier ewig weiterleben, es sind schon Legenden über ihn
   entstanden. Alle Armen nannten ihn ‚Vater‘, liebten und vergötterten
   ihn; doch erst seit seinem Tode begreifen sie ganz, wen sie in ihm
   verloren haben. Als er noch in der Kirche aufgebahrt lag, gingen
   alle, aber auch alle hin, um an seinem Sarge zu weinen und seine
   Füße zu küssen; besonders die armen Jüdinnen, denen er soviel
   geholfen hat, weinten und beteten für ihn, damit er geradeswegs in
   den Himmel komme. Heute kam unsere frühere Köchin (sie ist furchtbar
   arm) zu uns und erzählte, er habe bei der Geburt ihres letzten
   Kindes, da er gesehen, daß keine Kopeke im Hause war, 30 Kopeken
   gegeben, damit man ihr eine Suppe koche; und darauf sei er jeden Tag
   gekommen und habe jedesmal 20 Kopeken hinterlassen; und als sie sich
   ein wenig erholt hatte, habe er ihr zwei Feldhühner geschickt. So
   hat er auch einmal bei einer furchtbar armen Wöchnerin (solche
   wandten sich immer an ihn) sein Hemd ausgezogen und sein Kopftuch
   abgenommen (sein Kopf war immer mit einem Tuch umwunden) und beides
   zu Windeln zerrissen. Auch erzählt man sich hier, wie er einen armen
   Juden, einen Holzfäller, und dessen ganze Familie kuriert hat. Jeden
   Tag ist er zweimal zu ihnen gekommen und nachdem er alle wieder auf
   die Füße gebracht, hat er den Mann gefragt: ‚Wie wirst du mir nun
   alles bezahlen?‘ Der soll ihm geantwortet haben, daß er nichts habe,
   außer der letzten Ziege, die er sofort verkaufen werde. Das hat er
   denn auch getan, hat sie für 4 Rubel verkauft und diese dem Doktor
   gebracht. Der Doktor hat darauf den Holzfäller nach Haus geschickt
   und seinem Hausknecht 16 Rubel gegeben, damit er eine Kuh kaufe.
   Nach einer Stunde wird dem Holzfäller eine Kuh gebracht und gesagt,
   der Doktor habe die Ziegenmilch schädlich gefunden.

   So hat er sein ganzes Leben lang Gutes getan. Zuweilen hat er sogar
   30 bis 40 Rubel an Arme gegeben. Dafür ist er jetzt wie ein Heiliger
   begraben worden. Alle Juden hatten ihre Läden geschlossen und
   folgten dem Sarge. Bei unseren Beerdigungen singen gewöhnlich kleine
   Knaben Psalmen, doch ist es ihnen verboten, auch zur Beerdigung
   Andersgläubiger zu singen. Hier aber gingen während der ganzen
   Prozession unsere kleinen Knaben vor dem Sarge her und sangen ihre
   Psalmen mit lauter Stimme. In allen Synagogen wurde für seine Seele
   gebetet, und ebenso läuteten die Glocken _aller_ Gotteshäuser
   während der Prozession. Die Militärkapelle spielte Trauermärsche und
   die jüdischen Musikanten waren zum Sohn des Verstorbenen gegangen,
   um ihn um die Erlaubnis zu bitten, während der Prozession spielen zu
   dürfen, was sie sich zur Ehre anrechnen würden. Alle armen
   Israeliten haben 10 oder 5 Kopeken gebracht, um für ihn Kränze zu
   kaufen; die reichen Israeliten aber haben viel gegeben und einen
   großen prachtvollen Kranz gestiftet, aus frischen Blumen mit einer
   schwarz-weißen Schleife, auf der in goldenen Lettern seine
   Hauptverdienste standen, wie z. B. die Gründung des Krankenhauses
   und ähnliches. Ich habe nicht alles entziffern können, und kann man
   denn überhaupt seine Verdienste aufzählen?

   An seinem Grabe sprachen der Pastor und unser Rabbiner, und beide
   weinten. Er aber lag in seinem alten, fadenscheinigen Rock, den Kopf
   mit dem alten Tuch umwickelt, – dieser liebe Kopf! Es war, als ob er
   schliefe ...“


                           Ein einzelner Fall

Das ist ein einzelner Fall, wird man sagen. Nun, dann ist es wieder
meine Schuld, wenn ich in einem einzelnen Fall den Anfang der Lösung
eines ganzen Problems sehe ...

Die Stadt M. ist eine große Gouvernementsstadt im Westen, und es gibt
dort sehr viele Juden, Deutsche, Russen natürlich, Polen und Litauer,
und alle diese Nationalitäten liebten den Alten, als ob er zu ihrer
Nationalität gehört hätte. Selbst aber war er Protestant und Deutscher,
– gerade ein Deutscher: die Art und Weise, wie er dem armen Juden die
Kuh schenkte, ist ein echt deutscher Witz. Zuerst verblüfft er ihn: „Wie
wirst du mir nun alles bezahlen?“ Und natürlich hat der Arme, als er
hinging, um seine letzte Ziege zu verkaufen, um den „Wohltäter“ bezahlen
zu können, keineswegs gemurrt, sondern nur in tiefster Seele bedauert,
daß die Ziege im ganzen nicht mehr als 4 Rubel wert war. Was aber sind 4
Rubel für alle von dem armen Doktor ihm und seiner Familie erwiesenen
Wohltaten? Und wie zufrieden muß der alte Doktor bei sich gelächelt
haben, als die Kuh zum Juden gebracht wurde. „Na, ich werde ihm mal
unseren deutschen Witz zeigen,“ sagt er sich und ist womöglich die ganze
Nacht, die er am Bette einer armen Wöchnerin verbringt, in froher
Stimmung. Wenn ich Maler wäre, würde ich bestimmt ein Bild in diesem
Genre malen, so eine Nacht in einer grauenvollen armen Hütte. Über alles
liebe ich den Realismus in der Kunst, doch in den meisten Bildern
unserer heutigen Realisten fehlt das „_sittliche Zentrum_“, wie sich vor
kurzem ein großer Dichter und feiner Künstler in seiner Kritik über
Semiradskis Bild ausgedrückt hat. Hier, in diesem von mir für ein
Genrebild vorgeschlagenen Stoff würde, glaube ich, solch ein sittliches
Zentrum sein. Und welch ein prachtvoller Stoff für einen Künstler!
Erstens, die ideale, die schier unmögliche, schmutzigste Armut der
jüdischen Hütte. Man kann sogar noch viel Humor hierbei verwenden; Humor
ist ja doch die Spitzfindigkeit eines tiefen Gefühls – diese Bezeichnung
gefällt mir ungemein. Mit feinem Gefühl und Verstand könnte der Künstler
viel aus dem alten Hausgerät der armen Hütte machen. Und prachtvoll
würde sich die Beleuchtung ausnehmen: ein brennendes Stümpfchen
Talglicht auf einem schiefen Tisch und durch das einzige bereifte
Fenster, durch die Eisblumen der Scheibe, das Morgengrauen des
anbrechenden Tages. Die Frau hat erst bei Tagesanbruch geboren, und nun
müht sich der alte Doktor um das Neugeborene. Keine Windeln, kein
einziger Lappen im Hause (es gibt solche Armut, meine Herrschaften, ich
versichere Sie, es ist der reinste Realismus – ein Realismus, der
sozusagen bis ans Phantastische reicht) – und da hat denn der Greis
schon seinen fadenscheinigen Rock ausgezogen und darauf das Hemd, das er
nun zu Windeln zerreißt. Sein Gesicht ist ernst und nachdenklich. Der
kleine neugeborene Judenbengel zappelt vor ihm auf dem Bett, und der
Christ nimmt das Jüdchen auf seinen Arm und wickelt es in das Hemd, das
er von seinen eigenen Schultern gezogen. Darin steckt die wahre Lösung
des Judenproblems, meine Herrschaften! Der achtzigjährige nackte und von
der Morgenkälte zitternde Körper des Doktors kann im Bilde im
Vordergrunde stehen. Viel läßt sich natürlich aus seinem
Gesichtsausdruck, sowie dem der jungen Mutter machen: sie sieht auf ihr
Neugeborenes und wundert sich über das, was der Doktor mit ihm anstellt.
„Dieser arme, kleine Jude wird groß werden und vielleicht auch einmal
sein Hemd abziehen, um es einem Christen zu geben, wenn er sich der
Geschichte seiner Geburt erinnert“ – denkt vielleicht in naivem und
edlem Glauben der Alte bei sich. Wird das je geschehen? Wahrscheinlich
nicht, aber es ist doch nicht ausgeschlossen, daß es geschieht. Das
Beste, was wir tun können, ist – glauben, daß es geschehen könne und
werde. Der Doktor aber hat schon ein Recht, daran zu glauben; denn in
ihm ist es ja schon geschehen: „Habe ich es getan, so wird es auch ein
anderer tun; bin ich denn besser als ein anderer?“ sagt er sich, um sich
zu stärken ... Ja, dieses Bild würde, glaube ich, ein „sittliches
Zentrum“ haben.

Ein einzelner Fall! Vor zwei Jahren schrieb man aus dem Süden Rußlands –
ich habe vergessen, aus welch einer Stadt – von einem Doktor, der am
Morgen eines heißen Tages aus der Badeanstalt kam und gerade schnell
nach Hause eilte, um Kaffee zu trinken, und deshalb an einem beim Baden
Ertrunkenen keine Wiederbelebungsversuche machen wollte, trotz der Bitte
der Volksmenge. Ich glaube, er ist deswegen verurteilt worden. Aber das
war vielleicht ein gebildeter Mensch, ein Anhänger der neuen Ideen,
ein Fortschrittler, der bloß „im Prinzip“ neue Gesetze und
Gleichberechtigung verlangte, „einzelne“ Fälle jedoch nicht weiter
beachtete. Vielleicht glaubte er sogar, die einzelnen Fälle könnten eher
schaden, indem sie die allgemeine Entscheidung hinausschöben, und daß es
in betreff einzelner Fälle „je schlimmer, desto besser“ sei. Jener
„Allmensch“, wie ich den anderen Typ, jenen alten Doktor, nennen möchte,
hat doch, wenn er auch nur ein einzelner war, über seinem Grabe die
Bevölkerung einer ganzen Stadt vereinigt. Die russischen Weiber und die
armen Jüdinnen haben gemeinsam seine Füße geküßt, haben sich gemeinsam
an seinen Sarg gedrängt und zusammen geweint. Achtundfünfzig Jahre
Dienst für die Menschheit, achtundfünfzig Jahre unermüdlicher Liebe
haben alle wenigstens einmal um einen Sarg in gleicher Begeisterung und
in gemeinsamer Trauer vereinigt. Die ganze Stadt begleitet ihn, die
Glocken _aller_ Gotteshäuser läuten, und in allen Sprachen werden die
Gebete für ihn gesungen. Der Pastor und der Rabbiner reden an dem
offenen Grabe, jeder in seiner Sprache, jeder in seiner Art, und doch
mit den gleichen Gefühlen. In diesem Augenblick war doch die
„Judenfrage“ überwunden! Der Pastor und der Rabbiner haben sich an
diesem Grabe in gemeinsamer Liebe vor allen Christen und Juden
vereinigt. Was liegt daran, daß jeder, wenn er vom Kirchhof
zurückgekehrt ist, wieder in seine alten Vorurteile verfällt? Steter
Tropfen höhlt den Stein: diese „Allmenschen“ besiegen die Welt, indem
sie sie vereinigen. Die Vorurteile werden mit jedem „einzelnen“ Fall
mehr und mehr verblassen und endlich ganz verschwinden. „Über den Alten
haben sich Legenden gebildet,“ schreibt Fräulein L., gleichfalls eine
Jüdin. Die Legende aber ist der erste Schritt zur Sache; sie ist eine
lebendige Erinnerung und ein unermüdliches Erinnern an diese „Besieger
der Welt“, denen die Erde gehört. Hat man aber einmal den Glauben
gefaßt, daß das wirklich Besieger sind, und daß solchen Menschen
wirklich „die Erde gehören wird“, so hat man sich fast schon mit allem
ausgesöhnt. All das ist furchtbar einfach, – schwierig scheint nur eines
zu sein: nämlich, sich zu überzeugen, daß jede große Gesamtzahl sich aus
Einern zusammensetzt. Alles würde sonst auseinanderfallen, wenn diese
Einzelnen nicht wären. Diese Einzelnen geben den Gedanken, geben den
Glauben, geben das lebendige Beispiel, somit also auch den Beweis. Es
ist durchaus kein Grund vorhanden, so lange zu warten, bis alle oder
wenigstens sehr viele ebenso gut geworden sind wie sie: es sind nur sehr
wenige solcher Menschen erforderlich, um die Welt zu retten, dermaßen
stark und mächtig sind sie. Ist dem aber so, – wie soll man dann nicht
hoffen?



                             Dritter Teil.

                           Balkan und Orient


                        Idealisten oder Zyniker

Erinnert sich vielleicht noch jemand der Abhandlung über die
Orientfrage, die der unvergeßliche Professor und unvergleichliche Russe
Timofei Nikolajewitsch Granowski – wenn es wahr ist – im Jahre 1855
geschrieben hat, also gerade zur Zeit unseres Krieges mit Europa, zu
Beginn der Belagerung von Sebastopol? Ich habe sie jetzt[40] in
Anbetracht der wieder akut gewordenen Orientfrage nach langen Jahren
nochmals durchgelesen: und dieses alte ehrwürdige Schriftstück
interessierte mich diesmal weit mehr als damals, da ich es zum erstenmal
las und mit ihm vollkommen übereinstimmte. Es fiel mir jetzt besonders
zweierlei auf: erstens – die Anschauung eines damaligen Westlers über
unser Volk; und zweitens, und hauptsächlich – die, sagen wir,
psychologische Bedeutung des Artikels. Ich kann es nicht unterlassen,
meine Eindrücke hier mitzuteilen.

Granowski war ein beispiellos reiner, edler, guter Mensch: Idealist der
vierziger Jahre, dabei zweifellos eine ganz eigene, sonderbare und
äußerst originelle Erscheinung in der Reihe unserer damaligen
bekannteren führenden Geister. Er war unser ehrlichster Stepan
Trophimowitsch Werchowenski (in meinem Roman „Die Dämonen“ der Typ des
Idealisten der vierziger Jahre; ich liebe diesen Stepan Trophimowitsch
und achte ihn sehr), und vielleicht hatte Granowski nicht einmal den
geringsten komischen Zug, der doch sonst diesem Typ gewöhnlich anhaftet.
Übrigens sagte ich, daß mich die _psychologische_ Bedeutung dieses
Aufsatzes frappierte; und diese Bedeutung erschien mir sogar sehr
ergötzlich. Ich weiß nicht, ob man mir zugeben wird, daß unser
russischer Idealist, der sogenannte „patentierte“ Priester des „Schönen
und Erhabenen“, wenn er plötzlich bei irgendeiner Gelegenheit das
Bedürfnis empfindet, seine Meinung über eine Sache kundzutun – nicht
etwa über ein Gedicht, o nein, sondern über eine praktische, wichtige
und ernste Sache, sagen wir: über eine politische oder soziale
Angelegenheit, und wenn er sie nicht nur nebenbei bemerken, sondern ein
entscheidendes und richtendes Wort über diese Frage sagen und noch
obendrein mit diesem Worte einen Einfluß ausüben will –, sich plötzlich
wie durch ein Wunder nicht nur in einen fanatischen Realisten und
Prosaiker verwandelt, sondern sogar in einen Zyniker. Ja, und nicht nur
das: gerade auf diesen Zynismus, auf diese Prosaik ist er dann noch ganz
besonders stolz. Die Ideale läßt er dann ganz beiseite: Ideale sind
Unsinn, sind Poesie, sind Gedichte; an ihre Stelle aber setzt er die
„reale Wahrheit“. Doch aus ebendieser Wahrheit wird dann immer gleich
Zynismus: im Zynismus sucht er sie, im Zynismus allein scheint sie ihm
enthalten zu sein. Je gröber, je trockener, je herzloser – desto
„realer“ ist es seiner Meinung nach. Warum? Nun, weil unser Idealist im
gegebenen Falle sich seines Idealismus schämt. Außerdem fürchtet er, man
könnte ihm sagen: „Ach, Sie Idealist, was verstehen Sie denn von solchen
Dingen! Predigen Sie doch das Schöne, wenn’s Ihnen Spaß macht, uns aber
überlassen Sie die Geschäfte.“ Sogar Puschkin hatte diesen Zug: der
große Dichter schämte sich mehr als einmal, daß er „_nur_ Dichter“ war.
Vielleicht gibt es diese Charaktereigenschaft auch bei Dichtern anderer
Völker, doch ist es kaum anzunehmen, – wenigstens werden sie sie nicht
in dem Maße haben wie wir Russen. In Europa haben sich die Menschen dank
der uralten Gewöhnung aller und eines jeden an die Arbeit in den vielen
Jahrhunderten schon klassifizieren können, je nach ihrer Beschäftigung
und Stellung, und fast ein jeder von ihnen kennt, versteht und achtet
sich – wie in seiner Tätigkeit so auch in seiner Bedeutung. Bei uns aber
ist es nach zweihundertjähriger Entwöhnung von jeglicher Arbeit etwas
anderes. Die heimliche, tiefinnerliche Nichtachtung seiner selbst finden
wir sogar bei so großen Menschen wie Puschkin und Granowski. Da
letzterer, dieser unschuldige, aufrichtige Mensch, es plötzlich für
durchaus nötig fand, sich aus einem Professor der Geschichte in einen
Diplomaten zu verwandeln, verstieg er sich in seinen Urteilen sofort bis
zu den sonderbarsten Behauptungen – z. B., daß wir von Österreich für
die Hilfe, die wir ihm während seines Kampfes mit den Ungarn gebracht,
überhaupt keine Dankbarkeit erwarten dürften, und das nicht etwa, weil
Österreich undankbar und falsch wäre – keineswegs! Nein, er sieht in der
Haltung Österreichs nichts Schlechtes und behauptet sogar, daß es so,
wie es gehandelt hat, habe handeln _müssen_, und daß unsere Hoffnung auf
seine Dankbarkeit ein unverzeihlicher und lächerlicher Fehler unserer
Politik gewesen sei. Ein Privatmann, sagt er, ist einer für sich, ein
Staat aber – ist etwas anderes; ein Staat muß seine höheren Ziele, seine
eigenen Vorteile im Auge behalten; und daher wäre Dankbarkeit verlangen,
und zwar eine, die sogar bis zur Zurücksetzung der eigenen Interessen
ginge, – einfach lächerlich. „Bei uns ist die Undankbarkeit und
Falschheit Österreichs schon zu einem Gemeinplatz geworden,“ sagt
Granowski, „doch ist in politischen Dingen von Dankbarkeit oder
Undankbarkeit reden – nur ein Beweis der eigenen Naivität in der
Politik. Der Staat ist keine Privatperson; er kann nicht aus Dankbarkeit
seine Interessen opfern, um so weniger, als in politischen Dingen selbst
die Großmut _niemals uneigennützig zu sein pflegt_.“ Dem Sinne nach
heißt das etwa, daß sie es auch nicht sein soll. Mit einem Wort, der
ehrenwerte Idealist behauptet sehr viel Vernünftiges und, was die
Hauptsache ist, nur _Reales_: nicht immer also schreiben wir Gedichte!
... Seine Anschauung ist sehr klug, gewiß, sehr klug, – um so mehr, als
sie nichts Neues ist, sondern etwas, das so lange schon existiert, wie
es Diplomaten gibt. Doch trotzdem: die Haltung Österreichs mit solch
einem Feuer zu verteidigen, ja, nicht nur zu verteidigen, sondern sogar
zu behaupten, daß es so hat handeln _müssen_ ... Nun, man kann ja
niemandem das Wort verbieten; doch es ist dabei etwas, was man nicht
zugeben kann, und das einem verbietet, ihm recht zu geben, trotz der
außergewöhnlichen praktischen Klugheit, die unser Historiker, Dichter
und Priester des Schönen so unerwartet kundtut. Mit dieser Anerkennung
der Heiligkeit des jeweiligen Vorteils, des unmittelbaren und sofortigen
Gewinnes, mit dieser Anerkennung, daß es recht und billig sei, auf Ehre
und Gewissen zu spucken, wenn man einen Bissen an sich reißen will –
allerdings: damit kann man es sehr weit bringen! Damit kann man ja auch
die Politik Metternichs durch „höhere _reale_ Ziele des Staates“
rechtfertigen! Aber machen denn nur die praktischen Vorteile, der
sofortige Gewinn den wirklichen Vorteil der Nation und ihre „höhere“
Politik aus, im Gegensatz zum „Schillertum“ der Gefühle und Ideale? Das
ist doch noch die Frage! Ist nicht im Gegenteil gerade die Politik der
Ehre, Großmut und Gerechtigkeit, wenn auch scheinbar zum Nachteil der
eigenen Interessen, – in Wahrheit aber nie zum Nachteil – die
vorteilhaftere Politik für eine _große_ Nation? Sollte unser Historiker
wirklich nicht gewußt haben, daß es nur diese großen und ehrlichen Ideen
sind – nicht aber die kleinlichen der zeitweiligen Vorteile –, die zum
Schluß in den Völkern und Nationen triumphieren, trotz der ganzen, wie
es scheint, lächerlichen „Unvernünftigkeit“ dieser Ideen und ihres
ganzen Idealismus, der in den Augen der Diplomaten und Metterniche so
erniedrigend ist? Und daß diese Politik der Ehrlichkeit und
Uneigennützigkeit für eine große Nation nicht nur die „höhere“, sondern
vielleicht auch die „vorteilhaftere“ ist, eben weil sie großzügig ist?
Die Politik, die sich nach dem zeitweilig Praktischeren richtet, das
ununterbrochene Hin und Her der Jagd nach dem nächsten Vorteil, führt
die Nation ins Kleinliche und schließlich zur inneren Kraftlosigkeit des
Staates. Der diplomatische Geist, der Geist des „Praktischen“ und
Nächsten, des Tagesvorteils, hat sich stets als geringer denn Wahrheit,
Ehre und Anstand erwiesen, und Wahrheit, Ehre und Anstand haben zum
Schluß immer gesiegt; oder wenn sie noch nicht immer gesiegt _haben_, so
_werden_ sie siegen, denn also wollen es die Menschen. Als der
Negerhandel aufgehoben wurde, gab es da nicht hunderttausend
schwerwiegende Einwände, wie z. B., daß diese Aufhebung äußerst
unpraktisch sei und sogar den Interessen aller Völker schaden werde? Man
verstieg sich sogar bis zu der Behauptung, der Negerhandel sei moralisch
durchaus notwendig, und rechtfertigte diese Notwendigkeit dann noch mit
dem Rassenunterschied und schließlich mit der Folgerung, daß der Neger
eigentlich überhaupt kein Mensch sei ... Als die nordamerikanischen
Kolonien sich zum Kampf gegen England erhoben, schrie man da nicht im
praktischen England, daß die Befreiung der Kolonien von der Herrschaft
Englands der Untergang der englischen Interessen, eine Erschütterung,
ein Unglück sein werde? Und erhoben sich nicht auch bei uns solche
Stimmen, als unser leibeigener Bauer befreit werden sollte? Sagten da
nicht alle praktischen Geister, daß der Staat einen schlechten,
unbekannten, gefährlichen Weg einschlage, zum Unglück des ganzen Volkes,
und daß nicht darin die höhere Politik bestünde; daß der Staat vielmehr
reale Interessen verfolgen müsse, nicht aber Interessen, die bloß auf
modernen ökonomischen Erwägungen oder auf noch nicht erprobten Theorien
begründet sind, kurz, daß der Staat die Führung niemals dem „Sentiment“
überlassen dürfte!? Doch wozu so weit zurückgreifen! Vor uns steht jetzt
die Slawenfrage: – rät man uns etwa nicht, sie auf immer auszuschalten!?
Zwar behauptet Granowski, daß wir uns durch die Balkanslawen nur
bereichern und im Westen befestigen wollen, doch glaube ich, daß er sich
auch hierin täuscht; denn welch einen Vorteil könnte uns der Besitz der
Balkanslawen einbringen (selbst in der Zukunft), und wodurch würden wir
uns denn bereichern? Durch das Mittelländische Meer etwa, oder gar durch
Konstantinopel, „das man uns nie und nimmer geben wird“? Das ist doch
nur ein schöner Vogel, der in den Wolken herumfliegt und uns, wenn wir
ihn fangen wollten, lediglich Ärger und Mühe bereiten würde – auf
tausend Jahre womöglich. Wäre das nun ein praktischer Vorteil? Die
Slawen werden uns nur Sorgen und viel Mühe bereiten; besonders jetzt, da
sie noch nicht zu uns gehören. Ihretwegen sieht Europa schon hundert
Jahre lang eifersüchtig auf uns Russen, und ihretwegen ist es auch jetzt
noch bereit, das Schwert zu ziehen und seine Kanonen auf uns zu richten.
Da ist es doch das Beste, die Slawen einfach Slawen bleiben zu lassen,
um Europa endlich zu beruhigen. Würden wir aber selbst dann das
Gewünschte erreichen? Europa würde uns doch bestimmt nicht mehr glauben,
daß wir auf den Besitz der Balkanslawen verzichten wollten; also würden
wir das Gegenteil erst zu beweisen haben: würden uns selbst auf die
Slawen stürzen, sie brüderlichst erwürgen und die Türkei gegen sie
unterstützen müssen. „Ja, ja, liebe Brüder, der Staat ist keine
Privatperson: er kann doch nicht aus Großmut seine Interessen opfern!
Wußtet ihr das wirklich noch nicht?“ Und wieviel praktische Vorteile –
reale, nicht nur erträumte – hätte dann Rußland mit einem Schlage! Die
Orientfrage würde sofort aufhören zu existieren, Europa würde uns, wenn
auch nur auf kurze Zeit, sein Vertrauen schenken, unser Kriegsbudget
würde entlastet werden, unser Kredit und der Wert unseres Rubels würden
wieder steigen – was will man mehr! Und überdies würde ja der Vogel
immer noch über unserem Haupte bleiben ... Aber die Frage muß doch
einmal beantwortet werden! Und da sollen wir nun Finten machen und
abwarten –: „Der Staat ist keine Privatperson, er darf nicht aus Großmut
seine Interessen opfern, – doch mit der Zeit ... wenn es den Slawen nun
einmal beschieden ist, ohne uns nicht auszukommen, so werden sie sich
uns von selbst anschließen. Nun, und dann werden wir uns wieder mit
unserer Liebe und Brüderlichkeit an sie heranschlängeln können.“
Übrigens findet Granowski, daß unsere Politik das ganze letzte
Jahrhundert hindurch geradeso gehandelt habe (nämlich die Slawen
unterdrückt und sie den Türken ausgeliefert), daß unsere Balkanpolitik
immer eine Eroberungspolitik gewesen sei und anders überhaupt nicht
hätte sein können, – also nach seiner Meinung so hätte sein „_müssen_“.
Rechtfertigt er doch bei anderen Nationen dieselbe Politik, warum
verteidigt er sie dann nicht auch bei uns, wenn wir, wie er sagt,
dieselbe Politik treiben –?

Wie ist es nur möglich, daß unsere Politik in der Slawenfrage noch immer
nicht allen klar geworden ist!?


         Früher oder später muß Konstantinopel doch uns gehören


                    Unser Verhältnis zum Orient[41]

Es war im vorigen Jahr im Juni, daß ich schrieb, früher oder später
müsse Konstantinopel doch uns gehören.[42] Es war damals eine heiße,
eine herrliche Zeit: der Geist und das Herz ganz Rußlands erhoben sich
und das Volk zog freiwillig aus, um Christus und die Rechtgläubigen zu
verteidigen, um für unsere dem Glauben und dem Blute nach slawischen
Brüder zu kämpfen. Wenn ich auch diesen meinen Artikel „Utopische
Geschichtsauffassung“ betitelte, so glaubte ich doch fest an meine Worte
und hielt sie keineswegs für utopisch. Die Gedanken, die ich in jenem
Artikel aussprach, stellte ich durchaus nicht als solche hin, die sofort
in Erfüllung gehen müssen, sondern als solche, die sich einmal in der
Zukunft, jedenfalls aber _bestimmt_ verwirklichen werden, dann nämlich,
wenn die historische Zeit dazu gekommen sein wird, – die Zeit, deren
Nähe oder Ferne man allerdings nicht voraussagen, wohl aber vorausfühlen
kann.

Seit dem Erscheinen dieses Artikels sind neun Monate vergangen. Wir
erinnern uns noch alle dieser begeisterten Zeit, die anfänglich so voll
Hoffnungen war, dann aber so aufregend wurde, und die bis jetzt noch zu
nichts geführt hat, so daß nur Gott allein wissen mag – ich glaube, nur
so kann man sich ausdrücken –, womit sie enden wird: wird es zum Kriege
kommen, oder wird sich die Entscheidung wieder auf lange hinausschieben?
Doch was da auch kommen mag – aus irgendeinem Grunde drängt es mich,
gerade jetzt noch einige ergänzende und erklärende Worte meinen
Gedanken, die ich im Juni über das Schicksal Konstantinopels schrieb,
hinzuzufügen. Was jetzt auch kommen mag, sei es Friede, sei es wieder
ein Nachgeben von seiten Rußlands, früher oder später wird Byzanz doch
uns gehören! Das ist es, was ich nochmals betonen will, doch dieses Mal
noch von einem anderen, einem neuen Standpunkte aus.

Ja, Byzanz muß unser werden, und nicht nur als berühmter Hafen, als
„Pforte“, als „Mittelpunkt der Welt“; nicht nur vom Standpunkt der
längst anerkannten Notwendigkeit für solch einen Riesen wie Rußland,
endlich aus seinem verschlossenen Zimmer, in dem er schon bis zur Decke
gewachsen ist, in die weite Welt hinaustreten und die freie Luft der
Meere und des Ozeans atmen zu können. Ich will nur eines hervorheben,
etwas, das gleichfalls von großer Wichtigkeit ist, und demzufolge
Konstantinopel Rußland nicht entgehen kann.

Sollte es auch seltsam klingen, so ist es doch wahr, daß die
vierhundertjährige Bedrückung des Balkans durch die Türken dem
Christentum und der Rechtgläubigkeit der Slawen einerseits sogar
nützlich gewesen ist, natürlich nur negativ, aber immerhin hat sie den
Glauben befestigt. Dasselbe hat ja schließlich auch das
zweihundertjährige Tatarenjoch bei uns in Rußland bewirkt. Die
bedrängten und gequälten christlichen Balkanvölker sahen in Christus und
im Glauben an ihn ihren einzigen Trost, in der Kirche aber – den
einzigen und letzten Rest ihrer nationalen Persönlichkeit und volklichen
Sonderheit. Das war die letzte Hoffnung, das letzte Brett, das ihnen vom
zerschellten Schiff verblieb. Die Kirche erhielt diese Völker immerhin
als Nationalität, und der Glaube an Christus verhinderte sie, wenn auch
nicht alle, so doch einen großen Teil, sich mit den Besiegern zu
vermischen, ihren Stamm und ihre alte Geschichte zu vergessen. Die
bedrückten Völker fühlten und begriffen natürlich bald, was sie an ihrem
Glauben hatten, und so scharten sie sich denn noch enger um das Kreuz.
Andererseits wandte schon seit der Eroberung Konstantinopels (1453) die
ganze große christliche Bevölkerung des Ostens unwillkürlich ihren
flehenden Blick auf das ferne Rußland, das damals sich kaum erst vom
Tatarenjoche befreit hatte, und erriet geradezu in ihm das zukünftige
allvereinende Zentrum der Slawen, die Macht, die sie einst erlösen
werde. Und Rußland nahm, ohne zu zaudern, die Fahne des Ostens und
setzte den zweiköpfigen byzantinischen Adler über sein altes Wappen.[43]
Es nahm damit vor der ganzen Rechtgläubigkeit die Pflicht auf sich,
diesen Glauben zu schützen und alle Völker, die ihm angehören, vor dem
Untergang zu bewahren. Zu gleicher Zeit nahm auch das ganze russische
Volk diese neue Bestimmung Rußlands und die Aufgabe seines Zaren auf
sich. Seit der Zeit ist für das Volk der liebste und höchste Name seines
Rußlands und seines Zaren der, den es damals aussprach: „rechtgläubiges
Rußland“, „rechtgläubiger Zar“. Als es seinen Zaren so benannte,
erkannte es mit dieser Benennung gleichzeitig auch dessen Bestimmung an:
der Hüter, der Vereiniger und, wenn das Gebot Gottes ertönt, auch der
Befreier der Rechtgläubigkeit zu sein, – das ganze Christentum, das ihr
angehört, von dem muselmännischen Barbarentum und der westlichen
Ketzerei zu erretten. Vor zwei Jahrhunderten, und besonders seit der
Zeit Peters des Großen, begannen dieser Glaube und diese Hoffnungen der
Völker des Ostens schon in Erfüllung zu gehen und sich zu verwirklichen.
Und jetzt hat das Schwert Rußlands bereits mehrmals im Osten zu ihrer
Verteidigung gekämpft. So ist es nur selbstverständlich, daß die Völker
des Ostens in dem Zaren von Rußland nicht nur den Befreiers, sondern
auch _ihren_ zukünftigen Zaren sehen. In diesen zwei Jahrhunderten aber
drang europäische Bildung und europäischer Einfluß auch bis zu ihnen
vor. Die obere, gebildete Schicht des Volkes, seine Intelligenz, wurde
im Osten, wie ja auch bei uns, mit der Zeit gleichgültiger in ihrem
Verhalten zur Idee der Orthodoxie. Und heute hat sie sogar schon
angefangen, zu verneinen, daß in dieser Idee die Erneuerung und
Auferstehung zu einem neuen großen Leben für den Osten wie für Rußland
enthalten sei. In Rußland, zum Beispiel, hat ein großer Teil der
gebildeten oberen Schicht aufgehört, oder richtiger vielleicht,
gewissermaßen verlernt, in dieser Idee die Hauptbestimmung Rußlands und
dessen Lebenskraft zu sehen. – Im Gegensatz dazu glaubt unsere
Intelligenz jetzt, all das in den modernen Anschauungen Europas finden
zu können. In der Kirche sehen ja schon viele auf europäische Weise nur
toten Formalismus und sinnlose Zeremonie und seit dem Ende des vorigen
Jahrhunderts sogar einfach nur Vorurteil und Heuchelei. Den Geist, die
Idee, die lebendige Kraft vergaß man. Mit der Zeit aber kamen
ökonomische Ideen westlichen Charakters auf; es kamen neue politische
Lehren, es kam eine neue Moral, die sich bemühte, die frühere zu
verbessern und zu überflügeln. Endlich kam auch noch die Wissenschaft,
die natürlich nicht umhinkonnte, den Glauben an die alten Ideen zu
untergraben ... In den Völkern des Ostens begannen außerdem noch, und in
vorwiegender Weise, nationalistische Ideen aufzukommen: es überfiel sie
plötzlich die Angst, sie könnten womöglich, wenn sie vom türkischen Joch
befreit sein werden, unter das russische geraten. Doch in unserem
einfachen millionenköpfigen Volke und in seinem Zaren erlosch niemals
die Idee der Befreiung des Ostens und der christlichen Kirche. Die
Bewegung, die das russische Volk im vorigen Sommer ergriff, hat
bewiesen, daß das Volk von seiner alten Hoffnung und seinem alten
Glauben nicht abgelassen hat. Und dabei setzte diese Bewegung unsere
ganze Intelligenz so in Erstaunen, daß sie an diese „Bewegung“ einfach
nicht glauben wollte; sie verhielt sich skeptisch zu ihr und bemühte
sich, spöttisch allen zu versichern, diese „Bewegung“ sei von
unzuverlässigen Leuten, die von sich reden machen wollten, einfach
ausgedacht und vorgetäuscht worden. In der Tat, wer könnte denn in
unserer Zeit, von unserer Intelligenz, außer vielleicht einem kleinen,
von der allgemeinen Menge abgesonderten Teil derselben, zugeben, daß
unser Volk wirklich fähig ist, seine politische, soziale und sittliche
Bestimmung _bewußt_ zu verstehen? Wer von ihnen würde es zugeben, daß
diese rohe, unaufgeklärte Masse, die vor kurzem noch leibeigen war und
jetzt vom Branntwein trunken ist, wissen und überzeugt sein könnte, daß
ihre Bestimmung ist: Christus zu dienen? – und die ihres Zaren: den
christlichen Glauben zu bewahren und die Völker der Rechtgläubigkeit zu
befreien? „Mag diese Masse sich auch von jeher ‚christlich‘ genannt
haben, so hat sie doch weder von der Religion, noch selbst von Christus
einen Begriff, – sie kennt ja nicht einmal die einfachsten Gebete!“ sagt
man gewöhnlich von unserem Volke. Und wer sind es denn, die so sprechen?
Ist es vielleicht – der deutsche Pastor, der bei uns die Stundisten
bearbeitet, oder der angereiste Europäer, der Korrespondent einer
politischen Zeitung, oder irgendein gebildeter „höherer“ Jude (einer von
denen, die an Gott nicht mehr glauben) oder gar einer von den im
Auslande angesiedelten Russen, die sich Rußland und unser Volk nur in
Gestalt eines betrunkenen Weibes mit der Flasche in der Hand vorstellen?
Nein, – so denkt der größte Teil unserer russischen, unserer besten
Gesellschaft; und er läßt es sich nicht einmal träumen, daß in unserem
Volk, wenn es auch keine Gebete hersagen kann, sich doch das Wesen des
Christentums beispiellos erhalten hat, daß der Geist Christi und seine
Wahrheit es so durchdrungen haben, wie vielleicht kein einziges Volk
dieser Erde. Übrigens, der Atheist oder der in Glaubensdingen
gleichgültige russische Europäer kann den Glauben ja gar nicht anders
auffassen wie als Formalität und Heuchelei. Im Volke aber sehen diese
Leute nichts, was daran erinnern könnte, und darum folgern sie, daß das
Volk unter seinem Glauben nichts verstehe, daß es vorschriftsmäßig eine
bemalte Tafel anbete, im Grunde aber gleichgültig bleibe, da sein Geist
bereits von der kirchlichen Formalität ertötet sei. Den christlichen
Geist haben sie in ihm überhaupt nicht bemerkt, vielleicht weil sie
selbst diesen Geist schon längst verloren haben. Dieses lasterhafte
Volk, dieses dunkle, das heißt, unwissende Volk, liebt aber den
Demütigen, den, der „schlichten Geistes“ ist: in allen seinen Legenden
und Sagen hängt es an dem Glauben, daß der Schwache und ungerecht
Erniedrigte und der um Christi willen Duldende über den Vornehmen und
Mächtigen erhöht werden wird, wenn einst das Jüngste Gericht anbricht.
Auch liebt unser Volk von dem großen Leben seines tapferen und keuschen
Ilja von Murom[44] zu erzählen, von dem Kämpfer für die Wahrheit, dem
Befreier der Armen und Schwachen, von seinem sich nie überhebenden
Lieblingsrecken, dem großen, treuen, mit dem reinen Herzen. Und wenn es
so einen Helden schon hat, ihn achtet und so liebt, wie es _ihn_ liebt –
wie soll da unser Volk nicht an den Sieg seiner jetzt erniedrigten
Brüder glauben? Unser Volk ehrt das Andenken seiner großen, demütigen
Einsiedler und Helden und erzählt Kindern mit Vorliebe die Geschichten
der christlichen Märtyrer. Diese Legenden kennt es gut; ich selbst habe
sie zum erstenmal vom Volk gehört, und sie wurden so andächtig erzählt,
daß sie für mein ganzes Leben in meinem Herzen bleiben werden. Zudem
scheiden sich täglich aus dem Volk große Büßer aus, die da hingehen und
ihr Hab und Gut verteilen, für den großen Sieg der Wahrheit, der Arbeit
und Armut ... Doch übrigens, vom russischen Volke will ich später
sprechen, – einmal muß es doch erreichen, daß man es versteht. Einmal
wird man begreifen, daß auch das Volk etwas bedeutet. Man wird endlich
auch jenen wichtigen Umstand beachten, daß man noch niemals in großen
oder sogar nur einigermaßen wichtigeren Augenblicken der russischen
Geschichte _ohne_ dasselbe ausgekommen ist: daß Rußland _volklich_ ist,
das Rußland nicht Österreich ist! Man wird sich erinnern, daß in jedem
bedeutenden Moment unseres geschichtlichen Lebens die jeweilig
vorliegende Frage immer vom Volksgeist und von der Volksansicht
beantwortet worden ist, von den Zaren des _Volkes_, die stets in einer
höheren Verbindung mit ihm gestanden haben. Diese ungemein wichtige
historische Tatsache wird von unserer Intelligenz gewöhnlich vollkommen
übersehen, und nur dann erinnert man sich plötzlich des Volkes, wenn
wieder einmal eine große neue historische Entscheidung herannaht ...
Doch ich bin von meinem Thema abgekommen.


                         Gedanken unserer Zeit

Die griechisch-katholische Kirche des Balkans, ihre Vertreter und der
ökumenische Patriarch haben in diesen vier Jahrhunderten der
Unterjochung ihrer Kirche mit Rußland und untereinander in Frieden
gelebt – wenigstens in Glaubensfragen. Es hat weder große Unruhen, noch
Ketzereien, noch Abtrünnigkeiten gegeben. Doch siehe, in unserem
Jahrhundert, und besonders in den letzten zwanzig Jahren nach dem großen
Kriege in Osteuropa,[45] fing es an von der Türkei gleichsam wie
Modergeruch einer verwesenden Leiche herzuwehen: die Vorahnung des
Todes, der Zersetzung des „kranken Mannes“, und die Ahnung vom Untergang
der Herrschaft desselben wurde zum vorwiegenden, fast körperhaften
Gefühl. Oh, natürlich: endgültig befreien kann die Balkanslawen trotzdem
ja nur Rußland allein, dieses selbe Rußland, das auch jetzt wieder, in
den allgemeinen Auseinandersetzungen mit Europa über den Osten, ganz
allein für sie einsteht, während alle anderen Völker und Reiche der
gebildeten europäischen Welt selbstverständlich froh wären, wenn es alle
diese bedrückten Völkerschaften des Ostens überhaupt nicht geben würde.
Ruft nun auch die ganze Intelligenz der Balkanslawen Rußland zu Hilfe,
so fürchtet sie uns leider vielleicht doch ebensosehr wie die Türken:
„Wenn uns Rußland auch von den Türken befreit, so wird es uns doch
verschlingen und unsere Nationalitäten nimmer sich entwickeln lassen“ –
das ist ihr Schreckgespenst, das alle ihre Hoffnungen vergiftet! Und
überdies bricht zwischen ihnen selbst mehr und mehr die nationale
Gegnerschaft durch. Der griechisch-bulgarische „Kirchenstreit“, den wir
unlängst erlebt haben, war ja schließlich nichts anderes als ein
nationaler Streit in dieser Verkleidung und kann gewissermaßen als ein
Omen für die Zukunft angesehen werden. Als der ökumenische Patriarch den
Ungehorsam der Bulgaren tadelte und sie, wie den eigenmächtig von ihnen
erwählten Exarchen, aus der Kirchengemeinschaft ausschloß, hob er
besonders hervor, daß man in Sachen des Glaubens weder das Ritual, noch
den der Kirche schuldigen Gehorsam dem „neuen und verderblichen Prinzip
der Nationalität“ opfern dürfe. Währenddessen aber hat er doch selbst,
als er, der Grieche, diesen Bann gegen die Bulgaren schleuderte,
zweifellos diesem selben Prinzip der Nationalität gedient, nur zugunsten
der Griechen _gegen_ die Slawen. Mit einem Wort, es läßt sich sogar mit
ziemlicher Wahrscheinlichkeit voraussagen, daß, sobald der „kranke Mann“
stirbt, am Balkan sofort überall Unruhen und Streitigkeiten bei der
ersten besten Gelegenheit ausbrechen werden, und zwar werden es
vornehmlich gerade Kirchenunruhen sein, die zweifellos auch Rußland
schaden können. Ja, selbst in dem Falle würden sie schaden, wenn Rußland
sich von allen Balkanfragen ganz zurückzöge oder gar zwangsweise von der
Teilnahme bei der Entscheidung der Orientfrage ausgeschlossen werden
sollte. Das ist es: diese Unruhen werden auf Rußland noch nachteiliger
wirken, wenn es sich von einem tätigen und führenden Anteil an der
Schicksalsentscheidung des Balkans ganz zurückzieht. Und da wird nun
plötzlich geschrieben – nicht nur in Europa, sondern auch bei uns von
vielen erstrangigen Politikern –, daß das Türkische Reich eben
untergehen und Konstantinopel nur eine „internationale“ Stadt werden
müsse, also irgendein Mittelding, etwas Allgemeines, Freies, auf daß es
um seinetwillen nur ja keine Streitigkeiten gäbe. Etwas Unsinnigeres
hätte man sich wahrlich nicht ausdenken können.

Erstens schon aus dem einfachen Grunde nicht, weil man einen so
prachtvollen Punkt der Erde doch nicht als internationale Stadt, also
als keinem einzigen gehörig, sich selbst überlassen würde. Bestimmt
würden sofort die Engländer mit ihrer Flotte erscheinen, in der
Eigenschaft als Freunde natürlich, um diese selbe „Internationalität“ zu
beschützen und zu bewahren, in Wirklichkeit aber, um Konstantinopel sich
anzueignen. Die Engländer aber von einer Stelle zu verdrängen, wo sie
sich bereits niedergelassen haben, ist nichts weniger als leicht – sie
sind nun einmal ein schnell Fuß fassendes und zäh stehendes Volk! Und
überdies werden ja die Griechen, Slawen, Muselmänner Konstantinopels sie
selbst rufen, werden sich mit beiden Händen an sie klammern, sich an
ihre Rockschöße hängen und sie nicht fortlassen. Und der Grund dieser
Anhängigkeit? – Immer dieses selbe Rußland! „Sie werden uns vor Rußland
bewahren, vor unserem Befreier!“ Ja, wenn sie nicht wüßten, was die
Engländer für sie sind, und überhaupt ganz Europa! Aber sie wissen ja
auch jetzt schon besser als alle anderen, daß ihr Glück, d. h. das Glück
der ganzen christlichen Rajah, die Engländer (wie auch in ganz Europa
niemanden außer Rußland) überhaupt nichts angeht. Diese ganze Rajah weiß
es vorzüglich, daß die Engländer, wenn es nur möglich wäre, die
bulgarische Metzelei des vorigen Sommers irgendwie unauffällig und im
geheimen zu wiederholen (was, wie es scheint, sehr leicht möglich wäre),
die ersten sein würden, die die zehnmalige Wiederholung dieser
Metzeleien wünschten. Und das nicht etwa aus Blutdurst – oh bewahre! In
Europa sind doch die Völker human und aufgeklärt! Sondern einfach, weil
solche Metzeleien, zehnmal wiederholt, die Rajah endgültig ausrotten
würden und dann niemand mehr am Balkan gegen die Türken Aufstände machen
könnte – das aber ist doch die Hauptsache. Es würden nur noch die lieben
Türken übrigbleiben, und die türkischen Papiere würden dann mit einem
Schlage auf allen europäischen Börsen schwindelnd hoch steigen. Rußland
aber müßte alsdann mit seinem „Ehrgeiz und seinen Eroberungsplänen“
einpacken, da es am Balkan niemanden mehr zu verteidigen hätte. Die
Rajah weiß, wie gesagt, nur zu gut, daß sie jetzt von Europa keine
anderen Gefühle erwarten darf.

Ganz anders aber wäre die Sache sofort, wenn der „kranke Mann“ auf
irgendeine Weise, sei es durch sich selbst, oder sei es durch Rußlands
Schwert, endlich umgebracht werden würde. Dann würde sogleich ganz
Europa in zärtlichster Liebe zu den befreiten Völkern entbrennen und
sofort zu ihnen eilen, um sie „vor Rußland zu retten“. Anzunehmen ist,
daß Europa selbst die Idee von der „Internationalität“ in deren neue
Staatsordnung bringen werde: es wird zunächst voraussehen, daß über dem
Leichnam des „Kranken“ zwischen den befreiten Völkern alsbald Streit und
Hader und Eifersucht aufkommen müssen, – das aber ist es ja, was Europa
will. Somit wäre der Vorwand gefunden, sich in ihre Angelegenheiten
einzumischen, und vor allen Dingen der Vorwand, sie aufzuhetzen gegen
dieses Rußland, das ihnen bestimmt nicht wird erlauben wollen, um das
Erbe des „Kranken“ zu streiten. Und dann wird es keine Verleumdung mehr
geben, die gegen uns zu verbreiten Europa sich scheuen wird. „Nur der
Russen wegen haben wir euch nicht gegen die Türken helfen können,“
werden ihnen sofort die Engländer zuflüstern. Die Völker des Ostens
wissen auch jetzt schon ganz genau, daß „England sich niemals an ihrer
Befreiung beteiligen und dazu auch anderen nie seine Zustimmung geben
wird; denn es haßt diese Christen wegen ihrer geistigen Verbindung mit
Rußland. England will, und hat es auch nötig, daß die orientalischen
Christen uns ebenso großen Haß, wie England selbst, entgegenbringen ...“
schreiben die „Moskauer Nachrichten“. Das also ist es, was diese Völker
vorläufig wissen und was sie schon jetzt auf Rußlands zukünftige
Rechnung gesetzt haben. Wir aber glauben immer noch, daß sie uns
vergöttern!

In der „internationalen“ Stadt werden aber trotz aller beschützenden
Engländer doch die Griechen die Herren sein – so wie sie dort von jeher
die Herren gewesen sind. Nun bitte ich, nicht zu vergessen, daß die
Griechen mit noch größerer Verachtung auf die Slawen blicken als die
Deutschen. Da aber die Griechen die Slawen auch noch werden fürchten
müssen, so wird sich die Verachtung in Haß verwandeln. Untereinander
Schlachten schlagen, sich gegenseitig den Krieg erklären, werden sie
natürlich nicht können; denn die Beschützer würden es so weit jedenfalls
nicht kommen lassen, wenigstens nicht zu einem Krieg im ernsten Sinne.
Nun und dann werden eben infolge der Unmöglichkeit eines offenen und
ehrlichen Kampfes alle möglichen kleinen Streitigkeiten zwischen ihnen
ausbrechen, Unruhen, die natürlich zuerst den Charakter von
Kirchenwirren annehmen – damit fängt es ja in solchen Fällen gewöhnlich
an, weil dieser doch der bequemste Vorwand ist. Das war es, worauf ich
hinweisen wollte!

Ich kann ja darüber nur reden, weil das Programm doch schon aufgestellt
wurde: die Bulgaren, hieß es, sollten Konstantinopel bekommen. Dazu aber
sind wieder die Griechen zu stark, und das wissen sie selbst ganz
vorzüglich. Dabei kann es in Zukunft nichts Furchtbareres für den ganzen
Balkan und für Rußland geben als die Wiederholung eines solchen
Kirchenstreites, – die leider so leicht möglich ist, wenn Rußland nur
auf einen Augenblick mit seiner Protektion und der strengen Aufsicht
über die Balkanslawen beiseite geschoben werden sollte. Wenn das nun
auch alles noch in der Zukunft liegt und meine Ansichten nur Vermutungen
sind, so wäre es doch unverzeihlich, diese Konflikte aus dem Auge zu
lassen, und wär’s auch nur als Möglichkeiten. Oder sollen auch wir
wünschen, daß die Herrschaft der Türken noch lange dauere? Sollten auch
wir so weit gehen? Sollte es wirklich nicht klar sein, daß dann am
Balkan die ganze Kircheneinigung höchstwahrscheinlich ins Wanken geraten
wird und die Folgen dieser Erschütterung sich vielleicht noch weiter in
den Osten erstrecken werden? Ja, man könnte sogar folgendes sagen: ob es
nun diese Streitigkeiten geben wird oder nicht, – jedenfalls ist es
wahrscheinlich, daß ein großes Konzil zur Ordnung der Angelegenheiten
der neu erstehenden Kirche nicht zu umgehen sein wird. Warum das nicht
beizeiten erwägen? In diesen vier Jahrhunderten der Verfolgung und
Unterdrückung sind die Vertreter der östlichen Kirche immer den
Ratschlägen Rußlands gefolgt; doch werden sie morgen von den Türken
befreit und bietet ihnen noch außerdem Europa seinen Schutz an, so
werden sie sich zu Rußland sofort anders verhalten. Die Vertreter der
griechisch-katholischen Kirche, vorwiegend Griechen, würden, sobald
Rußland sich ein wenig auf die Seite der Slawen neigen wollte, ihm
vielleicht unverzüglich zu verstehen geben, daß sie weiterhin seiner
Ratschläge nicht mehr bedürfen. Gerade deswegen würden sie sich damit
beeilen, weil sie alle vier Jahrhunderte hindurch zu diesem Rußland nur
mit andächtig gefalteten Händen emporgesehen haben. Und wie wird dann
Rußlands Lage sein? Diese selben Bulgaren werden dann natürlich
losschreien, daß in Konstantinopel sich ein neuer Papst auf den Thron
gesetzt habe, und – wer weiß – vielleicht werden sie damit nicht einmal
eine Unwahrheit sagen. Das internationale Konstantinopel kann
tatsächlich einmal, wenn auch nur zeitweilig, einem neuen Papste zum
Piedestal dienen. Dann wird für Rußland „die Griechen verteidigen“
gleichbedeutend sein mit „die Slawen verlieren“, und wiederum „für die
Slawen eintreten“ vielleicht gleichbedeutend mit „auch sich die
unangenehmsten und ernstesten Kirchensorgen zuziehen“. Augenscheinlich
kann all dieses nur durch die Standhaftigkeit Rußlands in der
Orientfrage, d. h. durch die energische Durchführung jener Politik, die
uns unsere ganze Geschichte zur Pflicht gemacht hat, vermieden werden.
In dieser Angelegenheit dürfen wir Europa keine einzige Konzession
machen, denn hier handelt es sich für uns um Leben oder Tod.
Konstantinopel muß unser werden, ob früher oder später bleibt sich
gleich, und wenn auch nur zur Vermeidung schwerer Kirchenunruhen, die so
leicht zwischen den jungen Völkern des Ostens ausbrechen können, da
ihnen doch schon einmal im Streite der Bulgaren mit dem ökumenischen
Patriarchen ein Beispiel geboten worden ist. Erobern wir aber
Konstantinopel, so kann von alledem nichts eintreten. Die Völker des
Westens, die so eifersüchtig jeden Schritt Rußlands beobachten, wissen
und ahnen im gegenwärtigen Augenblick nicht einmal alle diese noch
phantastischen und doch so leicht möglichen zukünftigen Konflikte.
Würden sie dieselben aber jetzt erfahren, so wären sie doch unfähig, sie
zu verstehen, oder sie würden ihnen keine besondere Wichtigkeit
zuschreiben – das werden sie erst später tun, dann, wenn es zu spät sein
wird. Das russische Volk, das die Orientfrage ausschließlich als
Befreiung der ganzen orthodoxen Christenheit versteht, und von der
großen Zukunft Rußlands die Vereinigung der ganzen Kirche erhofft, würde
durch neue Unruhen und neue Uneinigkeiten rein kirchlichen Charakters zu
sehr erschüttert werden, und fraglos würden diese in seinem ganzen Leben
einen tiefen Widerhall finden. Das ist der einzige Grund, warum wir für
keinen Preis und in keiner Weise unsere in die Jahrhunderte
zurückreichende Anteilnahme an dieser großen Frage weder ganz aufgeben
noch auch nur verringern können. Nicht nur der prachtvolle Hafen, nicht
nur die Pforte zu den Meeren und Ozeanen verbinden Rußland so eng mit
dieser verhängnisvollen Orientfrage, und nicht einmal die Vereinigung
und Auferstehung der Balkanslawen tun dies ... Unsere Aufgabe ist
tiefer, unendlich tiefer. Wir, Rußland, sind in der Tat unumgänglich
notwendig für die ganze orientalische Christenheit wie auch für die
Vereinigung der ganzen zukünftigen rechtgläubigen Menschheit. So haben
es immer das Volk und seine Herrscher verstanden ... Mit einem Wort,
diese furchtbare Orientfrage – das ist in Zukunft beinahe unser ganzes
Schicksal. In ihr liegen geradezu alle unsere Aufgaben und, vor allem,
unsere einzige Möglichkeit, in die große Geschichte der Menschheit
einzutreten. In ihr liegt auch unser endgültiger Zusammenstoß und unsere
endgültige Vereinigung mit Europa, und zwar auf neuer, mächtiger,
fruchtbarerer Grundlage. Wie sollte Europa diese ganze uns vom Schicksal
bestimmte Lebensbedeutung, die für uns in der Entscheidung dieser Frage
liegt, jetzt schon begreifen?!

Nein: gleichviel, womit die gegenwärtigen, vielleicht notwendigen
diplomatischen Unterhandlungen und Verträge mit Europa enden, früher
oder später _muß Konstantinopel doch uns gehören_, und sei es auch erst
im nächsten Jahrhundert! Das müssen wir Russen immer im Auge behalten,
ein jeder von uns unverwandt und fest. Nur dies war es, was ich allen
Russen sagen und ans Herz legen wollte, besonders in unserer jetzigen
europäischen Zeit.


                               Der Krieg


                         Wir sind die Stärksten

„Krieg!! der Krieg ist erklärt!“ rief man bei uns vor zwei Wochen.[46]
„Wird es auch zum Kriege kommen?“ fragten sofort die Zweifler. „Er ist
schon erklärt, ist erklärt!!“ antwortete man ihnen. „Wissen wir, – aber
wird es überhaupt zum Kriege kommen?“ fuhren jene fort zu fragen.

Solche Fragen gab es damals und gibt es vielleicht noch jetzt. Und nicht
nur wegen der langen diplomatischen Unterhandlungen glaubt man nicht an
den Krieg; nein, hier ist noch etwas anderes mit im Spiel, das Grund zum
Zweifeln gibt: hier ist es einfach – der Instinkt. Alle fühlen, daß
etwas Entscheidendes beginnt, daß das Ende von etwas Früherem,
jahrhundertelang Gewesenem herannaht, und daß ein Schritt zu etwas ganz
Neuem getan wird, zu etwas, was das Frühere zersprengt und zu neuem
Leben auferweckt, und ... daß dieser Schritt von uns getan wird, von –
Rußland! Das ist es ja, was die „klugen“ Leute nicht glauben können.
Instinktives Vorgefühl ist vorhanden, doch der Zweifel währt noch immer:
„Rußland! Wie kann es denn, wie wagt es überhaupt? Ist es denn dazu
vorbereitet? – innerlich, moralisch, nicht nur materiell? Dort ist
Europa, das ist leicht gesagt – Europa! Aber Rußland, was ist denn
Rußland? Und nun solch ein Schritt!?“

Das Volk aber glaubt, daß es reif ist zu diesem neuen und großen
Schritt. Es ist das Volk, das sich mit seinem Zaren an der Spitze zum
Kriege erhoben hat. Als das Zarenwort sich über die russische Erde
verbreitete, da zog das Volk in die Kirchen, um zu Gott zu beten; als
die Bauern auf dem Lande das Manifest ihres Zaren lasen, bekreuzten sie
sich und _beglückwünschten_ einander zu diesem Kriege. Das haben wir
selbst hier in Petersburg gesehen und gehört. Und wieder geschieht
dasselbe, was im vorigen Jahr geschah. Die Dorfbauern geben je nach
ihrem Vermögen Geld oder den durchmarschierenden Truppen Lebensmittel,
Pferde und Wagen und plötzlich sagt dieses Volk: „Was sind Spenden, was
Vieh und Pferde, wir gehen selbst kämpfen!“ Hier in Petersburg werden
von einzelnen mehrere tausend Rubel für die Verwundeten gegeben – ihre
Namen kennt man nicht, denn sie wollen ungenannt bleiben. Solche
Tatsachen erleben wir jetzt in Unmengen und keinen nehmen sie wunder.
Sie bedeuten nur, daß das ganze Volk sich für die Wahrheit erhoben hat,
zum Kriege für die heilige Sache. Was unsere „Klugen“ anbetrifft, so
werden sie natürlich auch diese Tatsachen leugnen – ganz wie sie im
vorigen Sommer die Beweise der Sympathie unseres Volkes für die
Balkanslawen leugneten. Auch jetzt lachen sie über das Volk, doch sind
ihre Stimmen schon merklich leiser geworden. Warum aber lachen sie nur,
woher haben sie soviel Selbstvertrauen? Nun, weil sie sich immer noch
für eine Macht halten, immer noch für dieselbe Macht, ohne die man
nichts vollbringen kann. Indessen ist das Ende dieser ihrer Macht nicht
mehr fern und immer schneller nähern sie sich ihrem furchtbaren
Untergang. Wenn aber der Boden unter ihnen anfangen wird zu weichen,
dann werden sie sich beeilen, in einer anderen Sprache zu reden, doch
dann wird es zu spät sein: alle werden begreifen, daß sie fremde Worte
aufs Geratewohl zusammenstellen, und werden sich von ihnen abwenden und
ihre Zuversicht dorthin tragen, wo der Zar und mit ihm sein Volk ist.

Wir haben diesen Krieg auch für uns selbst nötig: nicht nur für unsere
von den Türken gequälten „slawischen Brüder“ erheben wir uns, sondern
auch zur eigenen Rettung. Der Krieg wird die Luft, die wir atmen,
erfrischen, die Luft, in der wir in der Ohnmacht unserer Verwesung und
geistigen Beengtheit zu ersticken drohten. Die „Klugen“ und „Allweisen“
prophezeien zwar, daß wir an unseren eigenen inneren Unordnungen
ersticken und verderben würden und darum an Stelle des Krieges lieber
einen langen Frieden wünschen sollten, damit wir uns aus Tieren und
Dummköpfen in Menschen verwandeln, zunächst Ordnung, Ehrlichkeit und
Ehre lernen können: „_Dann_ erst geht und helft euren slawischen
Brüdern,“ schließen sie übereinstimmend ihre Episteln. Es wäre wirklich
interessant zu erfahren, wie sie sich diesen Entwicklungsprozeß, durch
den sie es besser machen würden, eigentlich denken? Und auf welche Weise
sie sich durch evidente Unehre Ehre erwerben wollten? Interessant wäre
ferner, wie und wodurch sie ihre Feindschaft gegen das allgemeine,
allenthalben durchbrechende Gefühl ihres Volkes rechtfertigen wollen.
Nein, wie man sieht, läßt sich die Wahrheit nur durch Märtyrertum
erkaufen. Millionen von Menschen bewegen sich und leiden und
verschwinden dann spurlos, als ob es ihnen bestimmt gewesen wäre,
niemals die Wahrheit zu erkennen. Sie leben mit fremden Gedanken, sie
suchen das fertige Wort und Beispiel, klammern sich an die von anderen
ihnen suggerierte Tat. Sie prahlen, daß die Autoritäten, daß Europa
ihnen recht gebe. Alle anderen, die mit ihnen nicht übereinstimmen, die
die Gedankenknechtschaft verachten und an ihre eigene und ihres Volkes
Selbständigkeit glauben, pfeifen sie aus. Aber in der Wirklichkeit sind
diese Schwärme schreiender Menschen doch nur dazu bestimmt, ein passives
Mittel zu sein, auf daß nur wenige Einzelne von ihnen sich der Wahrheit
nähern oder von dieser wenigstens so etwas wie ein Vorgefühl bekommen.
Diese Einzelnen aber sind es, die dann alle nach sich ziehen, die
Führung ergreifen, die Idee gebären und sie als Vermächtnis den sich
quälenden Menschenmassen hinterlassen. Solche Einzelne haben wir schon
bei uns gehabt. Manche von uns verstehen sie schon, oder sogar viele.
Doch die „Klugen“ fahren noch fort, zu lachen und immer noch von sich zu
glauben, sie seien eine große Macht! „Die gehen ein wenig spazieren,
werden bald zurückkehren,“ sagen sie jetzt von unseren Truppen, die
schon die Grenze überschritten haben, sagen es sogar laut. „Wo soll’s
denn Krieg geben? Wie könnten wir denn Krieg führen? Es ist einfach ein
militärischer Spaziergang und einige Manöver mit Verschwendung Hunderter
von Millionen – zur Aufrechterhaltung der Ehre.“ Das ist ihre intime
Auffassung der Sache, oder richtiger, ihre nicht intime.

Sollte es nun geschehen, daß wir besiegt werden, oder unter dem Druck
der Verhältnisse für Lappalien Frieden schließen, – oh, dann würden die
„Klugen“ natürlich triumphieren! Und welch ein Auspfeifen und Heidenlärm
und Zynismus wird dann wieder beginnen, welch ein Bacchanal von
Selbstbespeiung, Selbstbeschimpfung und Selbstverspottung wird dann
wieder anheben! – Und das nicht etwa, um ein neues Leben bei uns zu
erwecken, sondern gerade wegen des Triumphes der eigenen Ehrlosigkeit,
Unpersönlichkeit und Kraftlosigkeit. Und der neue Nihilismus wird ganz
genau so, wie der alte, mit der Verneinung des russischen Volkes und
seiner Selbständigkeit beginnen, und – das Wichtigste – wird solche
Macht ergreifen und so tief Wurzel treiben, daß er fraglos das Heiligste
Rußlands unterdrücken wird. Und wieder wird die Jugend ihre Familien und
ihr Elternhaus beschimpfen und vor der Weisheit der Greise davonlaufen,
weil diese doch nur ein und dasselbe wiederholen: immer die alten, allen
überdrüssig gewordenen Lieder von der europäischen Herrlichkeit und von
unserer Pflicht, möglichst unpersönlich zu sein. Das ist ja das
Schrecklichste, daß es dann wieder dieselben alten Lieder, dieselben
alten Worte geben wird und die Hoffnung auf etwas Neues dann auf lange,
lange hinausgeschoben werden muß!! Nein, wir brauchen Krieg und Siege!
Mit Krieg und Siegen wird das neue Wort kommen und wird das lebendige
Leben beginnen und nicht das ertötende Geschwätz von früher sich
fortsetzen ... was sag’ ich, „von früher“! – von _heute_, meine Herren.

Nichtsdestoweniger muß man auf alles gefaßt sein: setzen wir den für uns
schlechtesten Ausgang des begonnenen Krieges voraus, so wird doch,
selbst wenn wir viel Schändliches, viel schon so zuwider gewordenes
altes Leid werden ertragen müssen, so wird doch der Koloß nicht ins
Wanken gebracht werden und früher oder später das Seine nehmen. Das ist
nicht nur meine Hoffnung – das ist meine volle Überzeugung. In dieser
Unmöglichkeit, den Koloß ins Wanken zu bringen, liegt unsere ganze Macht
Europa gegenüber. Dieser Koloß ist unser Volk. Und der jetzige
volkstümliche Krieg und all die ihm kurz vorhergegangenen Bewegungen
haben allen, die zu sehen verstehen, deutlich unsere volkliche Einheit
und Frische gezeigt, und bis zu welch einem Grade unsere Volkskräfte von
jener Zersetzung, die unsere „Klugen“ überfallen hat, bewahrt geblieben
sind. Und welch einen Dienst uns diese „Weisen“ in den Augen Europas
erwiesen haben! Noch vor kurzem schrien sie, so daß die ganze Welt es
hörte, wir seien arm und nichtig; sie versicherten spöttisch allen,
einen _Volksgeist_ hätten wir überhaupt nicht, einfach weil kein _Volk_
vorhanden wäre; weil auch unser „Volk“ ganz so wie sein „Geist“ nur von
der Phantasie einheimischer, moskowitischer Denker erfunden worden sei;
daß die achtzig Millionen russischer Bauernkerle im ganzen nur Millionen
passiver, betrunkener, steuerpflichtiger Nummern wären; daß von einer
Verbindung des Zaren mit dem Volke überhaupt nicht die Rede sein könne –
letzteres stehe nur in alten Schriften; daß, im Gegenteil, alles
losgelöst und vom Nihilismus angefressen sei; daß unsere Soldaten die
Gewehre wegwerfen und wie die Lämmer zurücklaufen würden; daß wir weder
Munition noch Proviant hätten; und zu guter letzt, hieß es, sähen wir
selbst ein, daß wir uns zuviel zugemutet hätten, und warteten jetzt nur
auf einen Vorwand, um uns zurückziehen zu können, ohne gerade die
ganzschimpflichsten Ohrfeigen davontragen zu müssen, und beteten zu
Gott, daß Europa uns diesen Vorwand ausdächte! Das ist die Meinung
unserer „Weisen“ von uns ... Wahrlich, man kann sich schlechterdings
kaum über sie ärgern: das ist nun einmal ihre eingefleischte
Überzeugung. Und es ist ja auch wahr: ja, wir sind arm, ja, in vielem
sind wir sogar bedauernswert; ja, wir haben wirklich so viel Schlechtes,
daß der „Kluge“, und besonders wenn er noch _unser_ „Kluger“ ist, nichts
anderes tun kann, wenn er sich „treu“ bleiben will, als ausrufen: „Wozu
das Ende Rußlands noch bedauern!“ Und diese lieben Gedanken unserer
Klugen sind bereits durch ganz Europa geflattert, besonders mit Hilfe
der europäischen Korrespondenten, die schwarmweis seit dem Ausbruch des
Krieges zu uns kommen, um uns an Ort und Stelle zu studieren, uns mit
ihren europäischen Äuglein zu durchschauen und unsere Kräfte mit ihrem
europäischen Zentimetermaß zu messen. Selbstverständlich haben sie nur
unsere „Klugen, Allwissenden und Vernünftigen“ angehört. Die Volkskraft
und der Volksgeist sind ihnen allen entgangen. Und so ist denn auch
schon die Nachricht, daß Rußland untergeht, daß es nichts ist, nichts
war und nichts werden wird, nach Europa telegraphiert worden. Als diese
erste Botschaft noch vor dem Kriege hinauszog, da erbebten die Herzen
unserer uralten Feinde und Neider, denen wir schon zwei Jahrhunderte
lang Verdruß bereiten, vor Freude, und mit ihnen frohlockten die Herzen
vieler Tausende europäischer Juden und die Herzen vieler Millionen
verjudeter „Christen“. Es freute sich auch das Herz Beaconsfields: ihm
ward gesagt, Rußland werde eher alles ertragen, alles, bis zur
beleidigendsten letzten Ohrfeige, als daß es einen Krieg begönne –
dermaßen groß, hieß es, sei seine „Friedensliebe“. Gott jedoch schützte
uns und schlug sie alle mit Blindheit. Da sie fest an den Untergang und
die Nichtigkeit Rußlands glaubten, konnte ihnen das Wichtigste entgehen:
sie übersahen das ganze russische Volk als lebendige Kraft und übersahen
die kolossale Tatsache: das Einssein des Zaren mit seinem Volke! Ja,
_nur das_ ist ihnen entgangen! Außerdem konnten sie unmöglich begreifen
und glauben, daß unser Zar wirklich friedliebend sei und wirklich nicht
Menschenblut vergießen wolle; sie dachten, all das werde bei uns nur
„aus Politik“ gesagt. Und sogar jetzt noch sehen sie nichts von alledem:
sie schreiben, daß bei uns plötzlich nach dem Manifest des Zaren der
„Patriotismus“ ausgebrochen sei. Ist denn das Patriotismus, ist denn
diese Verbindung des Zaren mit dem Volk für die große Sache etwa _nur_
Patriotismus? Darin besteht ja unser Talisman, daß sie nichts von
Rußland verstehen, nichts in Rußland sehen! Sie wissen nicht, daß wir
durch nichts in der Welt besiegt werden können, daß wir meinetwegen
Schlachten verlieren können, doch nichtsdestoweniger unbesiegbar
bleiben, gerade durch die Einheit des Volksgeistes in dem Bewußtsein:
daß wir nicht Frankreich sind, das ganz in Paris liegt, daß wir nicht
Europa sind, das ganz von den Börsen seiner Bourgeosie abhängt und von
der „Ruhe“ seiner Proletarier, die bereits durch die letzten
Anstrengungen der dortigen Regierungen erkauft wird – nur auf eine
Stunde. Sie begreifen es nicht und wissen es nicht, daß, wenn wir
_wollen_, uns alle Juden der Welt zusammengenommen nicht werden besiegen
können, nicht die Millionen ihres Goldes, nicht die Millionen ihrer
Armeen; daß, wenn wir _wollen_, man uns nicht wird zwingen können, etwas
gegen unseren Willen zu tun, daß es keine einzige irdische Macht gibt,
die dazu fähig wäre! Das Unglück ist nur, daß man über diese Worte nicht
nur in Europa lachen wird, sondern auch bei uns, und daß es hier nicht
bloß unsere „Weisen“ tun werden, nein, auch die wirklichen Russen
unserer intelligenten Schicht – dermaßen wenig kennen wir uns selbst und
unsere Urkraft, die sich, Gott sei Dank, bis jetzt noch ungeschwächt
erhalten hat. Die guten Leute begreifen es nicht, daß bei uns, in
unserem unabsehbaren und eigenartigen, Europa im höchsten Grade
ungleichen Lande sogar die Kriegstaktik – eine doch so allgemeine Sache!
– der europäischen vielleicht ganz unähnlich ist; daß die Grundlagen der
europäischen Taktik – Geld und wissenschaftliche Organisation
militärischer Einfälle in unser Land – über dieses Land straucheln und
hier bei uns auf eine neue, ihnen noch vollkommen unbekannte Kraft
stoßen können, auf die Kraft, deren Wurzeln in der Natur des
unabsehbaren Russenlandes und in der Natur des allvereinenden russischen
Geistes liegen. Doch mögen es _vorläufig_ auch noch so viele gute Leute
bei uns nicht wissen – nicht wissen und sich ängstigen –; dafür wissen
es unsere Zaren und fühlt es unser Volk. Alexander I. wußte um diese
unsere eigenartige Kraft Bescheid, als er sagte, er werde sich einen
langen Bart wachsen lassen und mit seinem Volke in die Wälder gehen,
doch könne er nicht das Schwert niederlegen und sich dem Willen
Napoleons fügen. An dieser Kraft wäre auch ganz Europa zerschellt; denn
zu solch einem Kriege reicht weder sein Geld noch die Einheitlichkeit
seiner Organisation aus. Wenn einst bei uns alle Russen wissen werden,
daß wir so stark sind, dann werden wir es auch erreichen, daß wir nicht
mehr Krieg zu führen brauchen; dann wird man an uns glauben und dann
wird uns Europa zum erstenmal _entdecken_, so wie es einst Amerika
entdeckte. Auf daß nun aber dies möglich werde, müssen wir uns selber,
und zwar vor ihnen, entdecken, und muß unsere Intelligenz endlich
begreifen, daß sie sich nicht mehr von unserem Volke absondern darf ...


    Nicht immer ist der Krieg eine Geißel, zuweilen ist er sogar die

                            einzige Rettung

Doch unsere „Klugen“ haben sich auch an die andere Seite der Sache
gemacht: sie predigen Nächstenliebe und „Humanität“, sie trauern um
vergossenes Blut und sind tief unglücklich, daß wir zu unserer
Vertierung in den Krieg ziehen, uns somit noch weiter von dem inneren
Fortschritt, dem richtigen Wege, der Wissenschaft entfernen. Ja, der
Krieg ist schließlich ein Unglück, doch vieles ist auch kurzsichtig
gesehen in diesem Urteil der „Humanen“; vor allem aber haben wir
wirklich genug von ihren bourgeoisen Moralpredigten! Die Heldentat des
Selbstopfers für all das, was wir heilig halten, ist doch wohl ethischer
als der ganze bourgeoise Moralkatechismus. Der Aufschwung des Geistes
der Nationen für eine hochherzige Idee – ist ein Schritt nach vorn, aber
nicht „Vertierung“. Natürlich können wir uns ja irren in dem, was wir
eine hochherzige Idee nennen; ist aber das, was wir heilig halten,
schimpflich und lasterhaft, so werden wir der Strafe der Natur nicht
entgehen: das Schimpfliche und Lasterhafte trägt seinen Tod in sich und
richtet sich früher oder später doch selbst. Der Krieg, der zur
Eroberung fremder Reichtümer geführt wird, auf Wunsch der unersättlichen
Börse, – wenn er auch vielleicht im tiefsten Grunde auf dem allen
Völkern gemeinsamen Gesetz der Ausbreitung ihrer nationalen
Persönlichkeit beruhen mag, so gibt es doch eine Grenze, die bei dieser
Ausbreitung nicht überschritten werden darf, über die hinaus jede
Aneignung schon Überfluß ist –: solch ein Krieg zeugt bereits von der
Dekadenz der Nation und kann ihr nur den Tod bringen. So würde England,
wenn es in diesem Kriege für die Türken eintreten und aus Interesse für
seine handelspolitischen Vorteile die Leiden gequälter Menschen ganz und
gar vergessen wollte, zweifellos ein Schwert erheben, das früher oder
später auf sein eigenes Haupt zurückfallen würde. Und umgekehrt: welch
eine Tat könnte reiner und heiliger sein als dieser Krieg, den Rußland
jetzt unternommen hat? Man wird vielleicht sagen: „Auch Rußland will
sich doch in diesen Völkern, die es jetzt, nehmen wir an, aus
tatsächlich uneigennützigen Gründen zu befreien und selbständig zu
machen beabsichtigt, durch diese selbe Tat für die Zukunft Verbündete,
d. h. also, eine neue Kraft erwerben; – das aber geschieht natürlich
nach diesem selben Gesetz der Ausbreitung der nationalen Persönlichkeit,
dem zufolge auch England zu erobern strebt. Da aber das Ziel des
‚Panslawismus‘ durch seine Kolossalität Europa fraglos schrecken kann,
so hat Europa allein schon nach dem Gesetz des Selbsterhaltungstriebes
das Recht, uns aufzuhalten, ganz so wie wir das Recht haben, vorwärts zu
gehen, ohne uns durch seine Angst auch nur im geringsten aufhalten zu
lassen, und uns in unserem Gang nur nach dem zu richten, was uns die
eigene politische Umsicht und Klugheit rät. Auf diese Weise gibt es
hierbei weder Heiliges noch Schmähliches, sondern nur einen ewigen,
sagen wir, tierischen Instinkt der Völker, dem sich ausnahmslos alle
noch ungenügend und unvernünftig entwickelten Nationen der Welt
unterwerfen. Trotzdem aber müssen die erworbene Erkenntnis, die
Wissenschaft und Menschlichkeit endlich einmal, sei es wann es sei, den
ewigen tierischen Instinkt der unvernünftigen Nationen schwächen und in
ihnen allen den Wunsch nach Frieden, nach allvolklicher Vereinigung und
philanthropischem Fortschritt entfachen. Daraus folgt, daß man Frieden
und nicht Blut verkünden muß.“

Heilige Worte! Im gegenwärtigen Augenblick jedoch kann man sie nicht gut
auf Rußland anwenden, oder, um es besser auszudrücken –: in der jetzigen
historischen Epoche ganz Europas stellt Rußland gewissermaßen eine
Ausnahme dar. Sollte sich Rußland, das sich jetzt uneigennützig zur
Errettung der geknechteten Völker gerüstet hat, späterhin auch durch
dieselben verstärken, so würde es doch selbst dann ein Ausnahmebeispiel
bleiben, was natürlich Europa, das Rußland nur nach sich beurteilt,
vorläufig noch keineswegs für möglich hält. Rußland wird sich, selbst
wenn es sich durch das Bündnis mit den von ihm befreiten Völkern
ungemein verstärkt, doch nicht mit seinem Schwerte auf Europa stürzen,
nichts von ihm verlangen, nichts von ihm fortnehmen, wie es umgekehrt
Europa bestimmt tun würde, wenn es die Möglichkeit fände, sich wieder
als Ganzes gegen Rußland zu vereinigen, und wie es in Europa alle
Nationen von jeher tun – wenn sich nur eine Gelegenheit findet, sich auf
Kosten der lieben Nachbarin zu verstärken. Das geschieht dort seit den
ältesten Zeiten, und noch kürzlich ist es wieder geschehen: die
gelehrteste, aufgeklärteste aller Nationen stürzte sich auf die andere,
ebenso gelehrte und aufgeklärte Nation und packte sie wie ein grimmes
Tiers, sog ihr das Blut aus, preßte ihre Kräfte in Gestalt von
Milliarden heraus und hieb ihr eine ganze Seite – die beste – ab! Ist es
wirklich noch Europas Schuld, wenn es nach alledem Rußlands Bestimmung
nicht verstehen kann? Wie sollten sie, die Stolzen, Gelehrten, Starken,
sich auch nur träumen lassen, daß Rußland vielleicht gerade zu ihrer
Rettung bestimmt und geschaffen ist, und daß es vielleicht erst zum
Schluß sein erlösendes Wort aussprechen wird! – Oh, wahrlich wahrlich,
wir werden ihnen nichts wegnehmen! – Doch gerade durch den Umstand, daß
wir uns so ungemein verstärken – und zwar durch eine Vereinigung in
Liebe und Brüderlichkeit, und nicht durch Überfall, Eroberung und Gewalt
– gerade durch diese Tatsache wird es uns endlich möglich sein, das
Schwert ruhen zu lassen und in der Ruhe unserer Kraft das Beispiel des
wahren Friedens zu geben, der internationalen Allvereinigung und
Uneigennützigkeit. Wir werden die ersten sein, die der Welt kundtun, daß
wir nicht durch Unterdrückung der Persönlichkeit uns fremder
Nationalitäten das eigene Gedeihen erreichen wollen, sondern, im
Gegenteil, Letzteres nur in der freiesten und selbständigsten
Entwicklung aller anderen Nationen sehen und in der brüderlichen
Vereinigung mit ihnen, die einen die anderen ergänzend, indem wir uns
ihre organischen Besonderheiten einimpfen und ihnen auch von uns
Pfropfreiser geben, uns gegenseitig seelisch und geistig aufnehmen, von
ihnen lernen und wiederum sie lehren – bis die Menschheit dereinst sich
durch den universalen Umgang der Völker bis zur allgemeinen Einheit
vervollständigen und wie ein großer prachtvoller Baum die glückliche
Erde beschatten wird. Mögen sie doch lachen über diese „phantastischen“
Worte, unsere jetzigen Kosmopoliten und Selbstbespeier! Wir aber fühlen
keine Schuld in uns, wenn wir mit unserem Volke, das daran glaubt, Hand
in Hand gehen. Fragt doch das Volk, fragt die Soldaten: warum erheben
sie sich, warum ziehen sie jetzt westwärts, und was ersehnen sie von
diesem begonnenen Kriege? Alle werden sie wie aus einem Munde antworten,
daß sie gehen, um Christus zu dienen, und um die bedrückten Brüder zu
befreien, – und keiner ist unter ihnen, sage ich euch, der da an
Eroberung dächte! Ja, jetzt, gerade in diesem Kriege werden wir den
Europäern unsere ganze Idee der zukünftigen Bestimmung Rußlands in
Europa beweisen, indem wir uns nach der Befreiung der slawischen Länder
von ihnen keine Scholle aneignen – was Österreich bereits heute
beabsichtigt, in Zukunft für sich zu tun –; sondern indem wir, im
Gegenteil, nur über ihr gegenseitiges Einverständnis wachen und ihre
Freiheit und Selbständigkeit, sollte es darauf ankommen, auch gegen ganz
Europa verteidigen. Ist dem aber so, dann ist unsere Idee heilig und
unser Krieg nicht „ewiger tierischer Instinkt unvernünftiger Nationen“,
wohl aber der erste Schritt zur Verwirklichung jenes ewigen Friedens, an
den zu glauben wir das große Glück haben, zur Verwirklichung der fürwahr
internationalen Vereinigung und des wahrhaften Gedeihens! Also sage ich
euch: nicht immer muß man den Frieden predigen, und nicht im Frieden
allein liegt einzig die Erlösung – die kann zuweilen auch der Krieg
bringen.


                     Rettet denn vergossenes Blut?

„Aber es wird doch Blut dabei vergossen! – Menschenblut!“ rufen unsere
Klugen entsetzt, und wieder beginnen sie ihr altes Lied. Alle diese
Rumpelkammerphrasen von vergossenem Blut sind mitunter wirklich nichts
weiter als eine Häufung der allernichtigsten schönen Worte zu einem
bestimmten Zweck. Die Börsenspekulanten z. B. lieben es jetzt geradezu
auffallend, über die Humanität zu philosophieren, – doch für wie viele
von ihnen ist sie nur ein Geschäft! Indessen wäre ohne Krieg vielleicht
noch mehr Blut vergossen worden. Glaubt mir, in nicht wenigen Fällen,
wenn nicht in allen – abgesehen von Bürgerkriegen –, ist der Krieg ein
Mittel, durch das man mit dem geringsten Blutvergießen, dem geringsten
Weh und der geringsten Kraftverschwendung internationale Ruhe erreicht,
und durch die sich, wenn auch nur annähernd, einigermaßen normale
Beziehungen zwischen den Nationen herstellen. Selbstverständlich ist das
traurig, doch was tun, wenn es so ist! Lieber einmal mit dem Schwerte
dreinschlagen, als endlos Leid tragen. Und wodurch ist denn der jetzige
Friede zwischen zivilisierten Nationen besser als – Krieg? Im Gegenteil:
weit eher als der Kampf vertiert der Friede, besonders der lange Friede,
den Menschen und macht ihn grausam. Ein langer Friede züchtet stets
Gemeinheit, Feigheit und rohen, feisten Egoismus, vor allem aber –
geistigen Stillstand. In der Zeit eines langen Friedens werden nur die
Ausbeuter des Volkes fett. Man glaubt im allgemeinen, daß Friede
Reichtum erzeuge, – aber das trifft doch nur für ein Zehntel der
Menschheit zu! Und dieses Zehntel, das gar bald von den Krankheiten des
Reichtums angesteckt ist, überträgt dann diese Krankheiten natürlich
auch auf die übrigen neun Zehntel, versteht sich, ohne Reichtum. Krank
aber ist es durch Verderbnis und Zynismus. Durch die übermäßige
Anhäufung des Reichtums in den Händen Einzelner verrohen deren Gefühle
bis zur Stupidität. Das Gefühl für das Vornehme verwandelt sich in die
Gier launischen Übermutes und launischer Anormalitäten. Sinnenlust
gebiert Grausamkeit und Feigheit. Die betrunkene rohe Seele des
Wollüstlings ist grausamer als jede andere, selbst lasterhafte Seele.
Mancher Wollüstling, der beim Anblick eines abgeschnittenen Fingers in
Ohnmacht fällt, kann einem armen Schlucker nicht einmal eine lumpige
Schuld verzeihen und bringt ihn ruhig ins Gefängnis. Grausamkeit aber
erzeugt verstärkte, schon allzu feige Sorge um die Sicherstellung seiner
selbst, und diese verwandelt sich am Ende eines langen Friedens in eine
geradezu krankhafte Angst um die eigene Person, durchdringt schließlich
alle Schichten der Gesellschaft und bringt die furchtbarste Gier nach
Gelderwerb hervor. Der Glaube an die Solidarität der Menschen, an ihre
Brüderlichkeit, an die Hilfe der Gesellschaft, geht verloren und die
These: „Ein jeder für sich und nur für sich“ wird laut auf den Märkten
verkündet. Der Arme sieht nur zu gut, was der Reiche ist, und was er ihm
für ein „Bruder“ sein kann; und so sondern sich alle ab und vereinsamen.
Großmut und Hochherzigkeit werden vom Egoismus ertötet. Nur die Kunst
erhält in der Menschheit noch das höhere Leben: sie hält noch die Seelen
wach, die in den Perioden langen Friedens einzuschlafen drohen und auch
pflegen. Deswegen glaubt man auch, daß die Kunst nur zur Zeit eines
langen Friedens blühen könne – welch ein Irrtum! Die Kunst, d. h. die
_wirkliche_ Kunst, entwickelt sich im Frieden ja nur deshalb, weil sie
allen trunkenen, lasterhaften Einschläferungen der Seelen
entgegengesetzt ist und durch ihre Schöpfungen in diesen Perioden stets
zum Ideal ruft, Protest und Tadel aufwirbelt, die Gesellschaft bewegt
und oftmals Menschen leiden macht, die da lechzen nach der Errettung aus
der übelriechenden Grube. Und so erweist es sich, daß der lange
bourgeoise Friede zu guter Letzt selber das Bedürfnis nach Krieg
erzeugt, ihn wie eine traurige Folge gleichsam von selbst aus sich
hervorbringt. Doch leider kommt es dann nicht zu einem Kriege mit einem
großen, gerechten Ziele, das einer großen Nation würdig ist, sondern zu
einem aus irgendwelchen erbärmlichen Börseninteressen, zur Erwerbung
neuer Märkte für die Besitzer der Goldsäcke, mit einem Wort: zu einem
Kriege aus Gründen, die nicht einmal durch die Notwendigkeit der
Selbsterhaltung gerechtfertigt werden, sondern umgekehrt, nur von dem
launischen, krankhaften Zustande des Nationalorganismus zeugen. Diese
Interessen und die Kriege, die um ihretwillen geführt werden, verderben
die Völker, ja, richten sie völlig zugrunde; während der Krieg mit einem
hochherzigen Ziele – zur Befreiung Unterdrückter, für eine
uneigennützige und heilige Idee – nur die von giftigen Miasmen erfüllte
Luft reinigt, die Seele heilt, die schmähliche Feigheit und Faulheit
verjagt, ein festes Ziel setzt und schließlich eine Idee gibt und sie
verständlich macht, eine Idee, zu deren Verwirklichung diese oder jene
Nation berufen ist. Ein solcher Krieg stärkt jede Seele durch das
Bewußtsein des Selbstopfers und den Geist der ganzen Nation durch das
Bewußtsein der Solidarität und Vereinigung aller, die die Nation
ausmachen, vor allem aber durch das Bewußtsein der erfüllten Pflicht,
der vollbrachten guten Tat –: „so sind wir doch noch nicht ganz gefallen
und verderbt, so gibt es auch in uns noch Menschliches!“ Und womit
fingen denn diese unsere jüngsten Prediger des Friedens und der
„Menschlichkeit“ ihre Reden an? Mit der allerunmenschlichsten Härte. Sie
wollten selbst nicht helfen und ließen auch nicht zu, daß andere den
Gemarterten, die nach uns riefen, halfen. Sie, die scheinbar so „human“
und gefühlvoll sind, leugneten kaltblütig und spöttisch die
Notwendigkeit des Selbstopfers und der geistigen Heldentat für uns. Sie
wollten Rußland auf den erbärmlichsten, einer großen Nation unwürdigsten
Weg stoßen, – ganz zu schweigen von ihrer Verachtung für das Volk, das
in den slawischen Märtyrern seine Brüder anerkannte, und ihrer
hochmütigen Abwendung vom Volkswillen, über den sie ihre falsche
„europäische“ Bildung stellten. Ihre Lieblingsthese war: „Arzt, heile
dich selbst.“ „Ihr drängt euch, andere zu heilen und zu retten, während
bei euch noch nicht einmal Schulen gebaut sind,“ hoben sie ganz
besonders hervor. „Nun gut, dann wollen wir uns heilen. Schulen sind
eine wichtige Sache, das wird niemand leugnen; doch Schulen brauchen
einen Geist und eine Richtung, – so gehen wir denn jetzt in den Krieg,
um uns mit Geist zu versehen und eine gesunde Richtung zu erlangen. Und
das werden wir auch erreichen, und werden es doppelt, wenn Gott uns Sieg
schickt. Mit dem Bewußtsein, daß wir eine uneigennützige Tat vollbracht,
daß wir mit unserem Blute ruhmvoll der Menschheit gedient, mit dem
Bewußtsein unserer erneuten Kraft und Energie werden wir dann
zurückkehren – und werden all das an die Stelle unseres jetzigen
kläglichen Wankelmutes setzen, an die Stelle unseres ertötenden
Stillstandes in dem sinnlos übernommenen Europäismus. Und wir schließen
uns dem Volke an und vereinigen uns fester mit ihm; denn nur in ihm
allein werden wir die Heilung von unserer Krankheit finden – von unserer
zwei Jahrhunderte langen unfruchtbaren Kraftlosigkeit.“

Im allgemeinen kann man sagen, daß, wenn die Menschheit ungesund und
voll Ansteckungsstoff ist, selbst eine so nützliche Sache, wie ein
langer Friede, der Gesellschaft anstatt Nutzen nur Schaden bringt. Das
ließe sich im allgemeinen auf ganz Europa anwenden. Nicht umsonst ist in
der europäischen Geschichte, wenigstens seit der Zeit, da wir uns ihrer
erinnern, noch keine einzige Generation ohne Krieg ausgekommen. So ist,
wie man sieht, wohl auch der Krieg zu irgend etwas nötig, kann auch der
Krieg die Menschheit heilen und ihr das Leben erleichtern. Es mag
empörend sein, wenn man es theoretisch überdenkt, doch in der Praxis
ergibt sich diese eine Tatsache gerade aus der anderen Tatsache, daß
nämlich für einen kranken Organismus auch der schöne Frieden nur Schaden
bringt. Wirklich nützlich erweist sich freilich nur der Krieg, der für
eine große Idee unternommen wird und nicht wegen materieller Interessen,
nicht zu gieriger Eroberung, nicht um hochmütiger Vergewaltigung willen.
Solche Kriege haben die Nationen bis jetzt nur auf falsche Wege
verschlagen und sie stets verdorben. Wenn nicht wir, so werden es unsere
Kinder erleben, wie England enden wird. Jetzt aber ist für alle in der
Welt bereits „die Stunde nah“. Und wahrlich, es ist auch die höchste
Zeit.


      Wie Rußlands „sanftester“ Zar die Orientfrage aufgefaßt hat

Man hat mir vor kurzem einen Auszug aus einem Buch zugesandt, das im
vorigen Jahr in Kiew erschienen ist. Es heißt: „Das Moskowitische Reich
zur Zeit des Zaren Alexei Michailowitsch und des Patriarchen Nikon nach
den Aufzeichnungen des Archidiakonus Pawel Alepski.“ Herausgegeben ist
es von Iwan Obolenski.

Ich will nun einen Teil dieses Auszuges hier in meinem „Tagebuch“
anführen, da es vielleicht meine Leser interessieren wird, zu erfahren,
wie Rußlands „sanftester Zar“ Alexei Michailowitsch (1645–1676) die
Orientfrage aufgefaßt hat. Zugleich ersehen wir aus dieser
charakteristischen Aufzeichnung, welch einen Kummer es ihm bereitet hat,
nicht der „Zar-Befreier“ der unterdrückten Balkanslawen sein zu können:

   Und man sprach, daß der Zar zum heiligen Osterfest (1656), als er
   mit den griechischen Kaufherren, die alsdann in Moskau weilten, den
   Osterkuß tauschte, zu ihnen auch also gesprochen habe: „Wollt ihr
   vielleicht und erwartet ihr, daß ich euch aus der Gefangenschaft
   befreie und loskaufe?“ und als sie geantwortet: „Wie kann es anders
   sein? wie sollen wir das nicht wollen?“ habe er weitergesagt: „So
   bittet denn, wenn ihr heimkehrt in euer Land, alle Bischöfe und
   Mönche, zu Gott für mich zu beten und Messen zu lesen, auf daß mir
   durch ihre Gebete die Kraft zuteil werde, das Haupt ihres Feindes zu
   fällen.“ Und nachdem er hierauf viele Tränen geweint, habe er sich
   an die Edlen gewandt und also zu ihnen gesprochen: „Mein Herz ist
   betrübt und verzehrt sich in Kummer um das Los dieser Armen, die von
   den Feinden unseres Glaubens unterdrückt werden; am Tage des
   Gerichtes wird Gott mich zu sich rufen und von mir Rechenschaft
   fordern, _warum ich, wenn ich die Macht hatte, sie zu befreien,
   selbiges zu tun unterlassen_ ... Ich weiß nicht, wie lang er währen
   wird, dieser schlechte Zustand der Reichssachen, doch seit der Zeit
   meines Vaters und meiner Väter Väter haben nicht aufgehört
   Patriarchen, Bischöfe, Mönche und viel arme Leute mit Klagen über
   ihre Bedrängung durch die Unterdrücker zu uns zu kommen, und keiner
   von ihnen hatte anders die Heimat verlassen, als verfolgt von rauhem
   Leid und auf daß er der Grausamkeit entginge. _Und Angst erfaßt mich
   vor den Fragen des Schöpfers an jenem Tage! So habe ich denn
   beschlossen in meinem Sinn, wenn es Gott gefällig ist, meine treuen
   Heere und mein ganzes Gold dahinzugeben und mein Blut bis auf den
   letzten Tropfen zu vergießen, auf daß ich sie befreie._“ Darauf
   haben die Edlen geantwortet: „_Herr, tue also, wie dein Herz es dir
   befiehlt._“


    Aus dem Buch der Weissagungen Johannes Lichtenbergers – aus dem

                               Jahre 1528

Und man hat mir auch noch von einem sehr sonderbaren Dokument Mitteilung
gemacht. Es ist das eine alte, schleierhafte und allegorische Weissagung
der heutigen Ereignisse und des heutigen Krieges. Einer unserer jungen
Gelehrten hat in London, in der Königlichen Bibliothek, einen alten
Folianten gefunden: „Das Buch der Weissagungen“, „Prognosticationes“ von
Johannes Lichtenberger, eine Ausgabe in lateinischer Sprache aus dem
Jahre 1528. Jedenfalls ein seltenes Exemplar, – vielleicht das einzige
in der Welt. In nebelhaften Bildern wird in diesem Buch die Zukunft
Europas und der Menschheit geschildert. Ein sonderbar mystisches Buch.
Ich führe nur die Zeilen an, die für uns nicht ohne Interesse sind.

Nach der Prophezeiung der Französischen Revolution (1789) und Napoleons
I., der _aquila grandis_ genannt wird, heißt es weiter von den
zukünftigen europäischen Ereignissen wie folgt:


   _Post haec veniet altera aquila_

   Hierauf wird ein anderer Adler kommen,

   _quae ignem fovebit in gremio sponsae Christi_

   der im Schoße der Braut Christi Feuer erwecken wird,

   _et erunt tres adulteri unusque legitimus_

   und es werden drei Uneheliche sein und ein Rechtmäßiger,

   _qui alios vorabit._

   der die anderen verschlingen wird.


   _Exsurget aquila grandis in_

   Aufsteigen wird der große Adler

   _Oriente, aquicolae occidentales_

   im Osten, die westlichen Inselbewohner

   _moerebunt. Tria regna_

   werden anfangen zu weinen. Drei Reiche wird er

   _comportabit. Ispa est aquila grandis,_

   verschlingen. Dieses ist der große Adler,

   _quae dormiet annis multis, refutata_

   der viele Jahre schläft, der besiegte

   _resurget et contremiscere faciet aquicolas_

   wird sich wieder erheben und die westlichen

   _occidentales in terra Virginis_

   Wasserbewohner im jungfräulichen Lande

   _et alios montes Superbissimos; et volabit_

   zittern machen und noch andere stolze Gipfel; und

   _ad meridiem recuperando amissa._

   fliegen wird er gegen Süden, um das Verlorene

   _Et amore charitatis inflammabit Deus_

   wiederzunehmen. Und mit der Liebe der Barmherzigkeit wird Gott den
   östlichen

   _aquilam orientalem volando ad ardua_

   Adler entflammen, der zu Großem fliegt

   _alis duabus fulgens in montibus christianitatis._

   mit zwei leuchtenden Schwingen auf die Gipfel des Christentums.

„Der große östliche Adler, der viele Jahre schläft, und der _besiegte_“
(bezieht sich das nicht auf unseren Krieg mit Europa vor 22 Jahren?)
„wird sich wieder erheben und die westlichen Bewohner im jungfräulichen
Lande zittern machen,“ – sollte sich das nicht auf die Gegenwart
anwenden lassen, natürlich wenn man von unseren europäisierenden
„Weisen“ absieht, die immer noch gewissermaßen vor den Bewohnern des
Westens Angst zu haben scheinen, im Widerspruch zu dieser Weissagung,
und das in einer Zeit, in der sich der Adler „mit zwei leuchtenden
Schwingen“ schon erhoben hat. Doch es sind ja nur die „Weisen“, die da
zittern, nicht der Adler! Dann: „die Bewohner im jungfräulichen Lande“
könnte sich, wenn man an die heutigen Verhältnisse denkt, auf England
beziehen. In dem Falle jedoch – warum das „jungfräuliche Land“? Im Jahre
1528 gab es noch keine Königin Elisabeth. Oder meint Lichtenberger mit
dieser Allegorie vielleicht Großbritannien in dem Sinne, wie sich einst
Napoleon über die europäischen Hauptstädte, in die er eingezogen war,
geäußert: „Eine Residenz, die sich vom Feinde hat einnehmen lassen,
gleicht einer Jungfrau, die ihre Jungfräulichkeit verloren hat“ –? Doch
der Adler wird nach der Weissagung auch andere „stolze Gipfel zittern
machen“, wird „gegen Süden fliegen, um das Verlorene wieder zu nehmen“,
und – was am auffallendsten ist – „mit der Liebe der Barmherzigkeit wird
Gott den östlichen Adler entflammen“. Nun, dieses könnte schon stimmen.
Hat sich nicht unser Adler aus Barmherzigkeit für die Unterdrückten und
Gequälten erhoben? War es nicht die christliche Liebe, die unser Volk
zur „schweren Tat“ zog, im vorigen wie in diesem Jahre? Wer will das
leugnen? Diese Bauern, diese Soldaten aus diesem unserem Volke, das die
„Gebete nicht auswendig kann“, haben einstweilen in der Krim, vor
Sebastopol, zuerst die verwundeten Franzosen aufgehoben und zum
Verbandsplatz getragen, und dann erst die Russen: „Lassen wir die noch
etwas liegen: einen Russen wird jeder aufheben, aber solch ein armes
Französchen ist hier doch ganz fremd und allein, für ihn muß man zuerst
sorgen.“ Ist nicht Christi Geist in diesen gutmütig gesagten Worten? Ist
nicht die Seele Christi in unserem Volke – in dem „dunklen“, doch guten,
unwissenden, aber niemals barbarischen Volke? Ja, Christus ist seine
Kraft, ist unsere russische Kraft, jetzt, da der Adler gegen Süden
fliegt! Was bedeutet da irgendeine Anekdote von den Sebastopoler
Soldaten gegenüber den Tausenden von Beweisen des christlichen Geistes
und der „barmherzigen Liebe“, die in unserer Zeit offenbar geworden
sind, wenn auch die „Weisen“ sich immer noch aus allen Kräften bemühen,
den Gedanken zu unterdrücken und die Tatsache zu begraben, daß unser
Volk mit Herz und Geist an dem heutigen Schicksal Rußlands und des
Balkans Anteil nimmt? Ihr „Gebildeten“, weist nicht auf die „Roheit und
Stumpfheit“ des Volkes hin, auf seine Unwissenheit und Rückständigkeit,
bei der es, wie es heißt, unmöglich begreifen könne, was jetzt vor sich
geht. Seid überzeugt, das Wesen der Sache versteht es vorzüglich – schon
seit vier Jahrhunderten. Nur die jetzigen Diplomaten würde es nicht
verstehen, wenn es sie kennen lernte; doch wer kann denn diese überhaupt
verstehen? Ja, unser großes Volk ist wie ein Tier auferzogen worden, hat
Qualen seit seinem ersten Tage und die ganzen tausend Jahre seiner
Geschichte erduldet, Marter, wie sie kein einziges Volk der Welt
ertragen hätte, sondern unter ihnen zerfallen und vergangen wäre. Unser
Volk aber ist in ihnen nur stärker und fester geworden. So werft ihm
doch, meine Herren Gelehrten, nicht „Roheit und Unwissenheit“ vor; denn
ihr, gerade ihr habt für euer Volk nichts getan. Ihr habt es vor
zweihundert Jahren verlassen und euch von ihm endgültig getrennt, habt
es in zinspflichtige Nummern verwandelt, in eine für euch arbeitende
Maschine; und so ist es aufgewachsen, meine europäisch gebildeten
Herren, von euch vergessen und verstoßen, von euch wie ein Tier in seine
Höhle verjagt. Doch mit ihm war Christus und mit dem allein hat es bis
zu dem großen Tage gelebt, da vor zwanzig Jahren der nordische Adler
sich erhob und seine Flügel ausbreitete und es segnete. Ja, es ist viel
Roheit in unserem Volke, doch weist nicht auf sie hin! Diese Roheit –
das ist der Schlamm der dunklen Jahrhunderte, von dem die Zeit das Volk
befreien wird. Doch nicht das ist schlimm, daß noch Roheit vorhanden
ist, schlimm ist es, wenn Roheit für Tugend angesehen wird. Ich habe
Verbrecher gesehen, die viel Tierisches getan und mit ihrem verderbten,
geschwächten Willen tiefer als tief gesunken waren; doch selbst diese
Tiere wußten wenigstens von sich, daß sie Tiere waren, sie fühlten, wie
tief sie gesunken, und in reinen, hellen Augenblicken, die Gott auch
solchen „Tieren“ schickt, verstanden sie, sich selber zu verurteilen,
wenn sie auch oftmals nicht mehr die Kraft hatten, sich wieder
aufzurichten. Etwas ganz anderes aber ist es, wenn die Roheit wie ein
Idol über alles erhoben wird und die Menschen es anbeten und gerade
deswegen glauben, Helden zu sein. Der Earl of Beaconsfield und nach ihm
alle anderen russischen wie europäischen Beaconsfields halten sich die
Ohren zu und schließen die Augen, um nicht die Marter zu sehen, die man
ganzen Völkern auflegt, und verraten Christus aus Liebe zu den
„Interessen der Zivilisation“, und weil die Gemarterten Slawen sind,
also etwas Neues in sich tragen und man sie folglich mit der Wurzel
ausrotten muß – und das gleichfalls für die Interessen der alten
angefaulten Zivilisation! _Das_ ist meiner Meinung nach Roheit, bloß
gebildete und zur Tugend erhobene. Und vor diesem Idol beugt man sich
nicht nur im Westen, sondern auch in Rußland! Und der „allerheiligste
Papst, der unfehlbare Stellvertreter Gottes“, – hat der nicht in seinen
letzten Tagen noch den Türken, den Quälern der Christenheit, Sieg
gewünscht über die Russen, die im Namen Christi für die Christenheit
auszogen? – Und warum? Weil nach seiner „_unfehlbaren_“ Definition die
Türken immerhin besser seien als die russischen Ketzer, die den Papst
nicht anerkennen! Ist das nicht Roheit, ist das etwa nicht barbarisch?
Die Weissagung Johannes Lichtenbergers scheint sich wirklich auf unsere
Zeit zu beziehen. Und ist nicht einer der „stolzen Gipfel“ – der Papst?
Übrigens, was mag Lichtenberger mit diesen Worten gemeint haben:
„Hierauf wird ein anderer Adler kommen, der im Schoße der Braut Christi
Feuer erwecken wird, und es werden drei Uneheliche sein und ein
Rechtmäßiger, der die anderen verschlingen wird“? In der religiösen,
mystischen Sprache hat man unter der „Braut Christi“ immer die „Kirche“
im allgemeinen verstanden. Was oder wer sind nun die drei Illegitimen
und der eine Legitime? Man könnte annehmen, hiermit seien die drei
verschiedenen Kirchen gemeint: die katholische, die protestantische und
... welche ist nun die dritte illegitime? Und welche dann die legitime?

Doch das ist ja nur eine mystische Allegorie. Jenes Buch ist im Jahre
1528 geschrieben und gedruckt, was immerhin sehr beachtenswert ist: in
jener Zeit sind wahrscheinlich des öfteren solche Bücher entstanden.
Obgleich die Zeit den Stürmen der großen protestantischen Reformation
voranging, gab es doch schon viele Protestanten, Reformatoren und
Propheten. Bekannt ist auch, daß später, besonders unter
protestantischem Kriegsvolk, verzückte „Propheten“ sich erhoben und
geweissagt haben. Diesen lateinischen Auszug aus dem alten Buch habe ich
nicht etwa als Wunder angeführt, sondern weil diese Weissagung doch eine
merkwürdige Tatsache bleibt. Und überhaupt: sind es denn nur die Wunder
allein, die ein Wunder sind? Das größte Wunder ist häufig das, was in
der Wirklichkeit geschieht. Wir sehen die Wirklichkeit immer nur so, wie
wir sie sehen wollen, wie wir sie uns selbst voreingenommen,
vorurteilsvoll erklären. Sehen wir aber dann plötzlich in dem Sichtbaren
nicht das, was wir sehen wollten, sondern das, was in Wirklichkeit ist,
so halten wir es sofort für ein Wunder. Oh, das geschieht keineswegs
selten! Bisweilen aber, wahrlich glauben wir eher an Wunder und
Unmöglichkeiten als an die Wirklichkeit, an die wir _nicht glauben
wollen_. Und so ist es immer in der Welt gewesen, darin besteht ja die
ganze Geschichte der Menschheit.


                 Lüge sucht sich durch Lüge zu erhalten


                              Don Quijote

Als Don Quijote, der allbekannte Ritter von der traurigen Gestalt, der
hochherzigste aller Edlen, die je in der Welt gelebt, sich einst mit
seinem treuen Waffenträger Sancho auf der Jagd nach Abenteuern
herumtrieb, ward er plötzlich von einem Zweifel angefochten, der ihn
zwang, lange und tief nachzudenken.[47] Es kam ihm plötzlich in den
Sinn, daß schon seit _Adam de la Halle_ die alten Ritter, deren
Lebensgeschichten in den wahrheitsgetreuesten Büchern bis auf den
heutigen Tag erhalten sind – in den sogenannten Ritterromanen, zu deren
Erwerb Don Quijote sich nicht scheute, einige der besten Landstücke
seines sowieso nicht großen Besitztums zu verkaufen –, daß häufig diese
Ritter während ihrer ruhmreichen und aller Welt Nutzen bringenden
Streifzüge plötzlich ganze Heere von nicht weniger als hunderttausend
Kriegern antrafen! Diese furchtbaren Heere wurden ihnen gewöhnlich von
irgendeiner feindlichen Macht auf den Hals geschickt, oder auch von
bösen, neidischen Zauberern, die alles mögliche ersannen, um sie zu
verhindern, ihr großes Ziel zu erreichen und dann endlich zu ihren
holden Damen heimkehren zu können. Gewöhnlich geschah es dann, daß der
Ritter, wenn er so einem ungeheuerlichen feindlichen Heere begegnete,
sein Schwert zog, noch schnell zu seinem Schutz den Namen seiner Dame
anrief, sich darauf allein, wie er war, auf die hunderttausend Feinde
stürzte und sie natürlich alle bis auf den letzten niederhieb. Man
sollte meinen, daß diese Tatsache keinem Zweifel unterliegt. Doch Don
Quijote verfiel darob plötzlich in tiefes Nachdenken. Und worüber denn
eigentlich? Ja, es schien ihm mit einem Male unmöglich, daß ein einziger
Ritter, wie stark er auch sei, und selbst wenn er mit einem
siegbringenden Schwerte vierundzwanzig Stunden lang ohne jegliche
Ermüdung um sich schlüge, hunderttausend Feinde töten könnte, und zwar –
in einer einzigen Schlacht! Um _einen_ Menschen zu töten, braucht man
immerhin etwas Zeit; um _hunderttausend_ Menschen zu töten, braucht man
ungeheuer viel Zeit, und wie man da auch mit dem Schwerte fuchteln
wollte, – in irgendwelchen fünf, sechs Stunden und ohne jede Ruhepause
könnte das ein einzelner denn doch nicht fertigbringen, meinte weise Don
Quijote. Nun aber steht es in diesen wahrheitsgetreuesten Büchern
ausdrücklich, daß die Sache gerade in einer _einzigen_ Schlacht geschah.
Wie war das möglich?

„Ich habe dieses Rätsel gelöst, mein Freund Sancho,“ sagte endlich Don
Quijote. „Da alle diese Riesen, alle diese bösen Zauberer unreine Mächte
waren, so waren ihre Heere gleichfalls von dieser unreinen Art. Ich
nehme an, daß sie nicht aus ganz solchen Menschen wie wir zum Beispiel
bestanden. Jene Menschen wurden durch Zauberei hervorgerufen, also waren
aller Wahrscheinlichkeit nach auch ihre Leiber nicht den unsrigen
ähnlich, sondern eher denen der ... sagen wir, Mollusken, Weichtiere,
Würmer, Spinnen. Auf diese Weise konnte ein festes, scharfes Schwert,
von mächtiger Ritterhand geführt, alle diese Leiber in einem Augenblick
durchschlagen, fast ohne Widerstand zu finden, – es ging wie durch die
Luft! So konnte es denn tatsächlich mit einem Hieb durch drei oder vier
Leiber gehen, ja sogar durch zehn, wenn sie eng beieinander standen.
Jetzt erst wird es einem klar, wie sich die Sache für den Ritter so
ungemein vereinfachte, daß er wirklich in wenigen Stunden ganze Heere
dieser bösen Araber und anderer Ungeheuer vernichten konnte ...“

Hiemit hat der große Dichter und Menschenkenner eine der tiefsten,
geheimnisvollsten Saiten des Menschenherzens berührt. Oh, das ist ein
großes Buch: es gehört zu den ewigen, zu denen, die der Menschheit nur
in langen Abständen geschenkt werden. Und solche Beobachtungen des
Tiefsten in unserer menschlichen Natur findet man in diesem Buch auf
jeder Seite. Schon der eine Umstand, daß dieser Sancho, diese
Verkörperung der gesunden Vernunft, der Schlauheit und der goldenen
Mitte, des allerwahnsinnigsten Menschen Freund und Reisegefährte wurde,
gerade er und kein anderer! Die ganze Zeit über betrügt er ihn wie ein
kleines Kind, und doch ist er unerschütterlich von seines Herrn großem
Verstande überzeugt, ist er bis zur Rührung von dessen Herzensgröße
bezaubert, glaubt er felsenfest an alle phantastischen Träume des
Ritters, und kein einziges Mal bezweifelt er, daß dieser ihm endlich
doch noch eine Insel erobern werde! Wie wünschenswert wäre es, daß
unsere Jugend dieses große Werk kennen lernte. Ich weiß zwar nicht, was
man jetzt in den Schulen von der Literatur durchnimmt; doch weiß ich,
daß dieses größte und traurigste aller Bücher, die vom Genie des
Menschen geschaffen worden sind, die Seele gar manches Jünglings durch
einen großen Gedanken erhöhen würde, in sein Herz die Keime großer
Fragen säen und seinen Geist von der ewigen Anbetung des dummen Idols
der Mittelmäßigkeit, der selbstzufriedenen Eigenliebe und der gemeinen
„Lebensweisheit“ ablenken könnte.

Dieses _traurigste_ der Bücher wird der Mensch nicht vergessen, zum
letzten Gericht Gottes mit sich zu nehmen. Er wird auf das im Buche
enthaltene tiefste, unheilvollste Geheimnis des Menschen und der
Menschheit hinweisen: daß die größte Schönheit des Menschen, seine
höchste Reinheit, Keuschheit, Treuherzigkeit, sein ganzer Mut und
endlich sein größter Verstand – leider nur zu oft ohne Nutzen für die
Menschheit vergehen und sich sogar in einen Gegenstand des Spottes
verwandeln, nur weil dem Menschen, dem diese reichen Gaben so häufig
zuteil werden, bloß die eine letzte Gabe fehlt: das _Genie_, den
Reichtum und die Macht dieser Gaben zu beherrschen, zu lenken und sie –
das ist das Wichtigste – nicht auf den phantastischen, wahnsinnigen,
sondern auf den _richtigen_ Weg zu leiten, sie zum Heile der Menschheit
zu gebrauchen. Doch leider wird den Rassen und Völkern so wenig, so
selten Genie geschenkt, daß wir häufig das Schauspiel dieser
Schicksalsironie sehen müssen: wie die Tätigkeit der edelsten und
glühendsten Menschheitsfreunde – dem Spottgelächter und der Steinigung
preisgegeben wird, weil sie es in der Schicksalsstunde nicht verstehen,
in den wahren Sinn der Dinge einzudringen und ihr _neues Wort_ zu
finden. Dieses Schauspiel aber des zwecklosen Unterganges so großer,
edler Kräfte kann in der Tat gar manchen Menschenfreund zur Verzweiflung
bringen, in ihm nicht mehr Gelächter, wohl aber heiße Tränen
hervorrufen, und sein bis dahin gläubiges Herz auf ewig mit Zweifeln
vergiften ...

Übrigens habe ich ja nur auf einen einzigen Charakterzug Don Quijotes
hinweisen wollen, auf eine der unzähligen tiefen Beobachtungen, die
Cervantes am Menschenherzen gemacht und so meisterhaft dargestellt hat.

Der phantastischste Mensch, der bis zum Wahnsinn von der
phantastischsten Illusion, die man sich nur denken kann, überzeugt ist,
wird plötzlich von Zweifeln befallen, die seinen ganzen Glauben zu
erschüttern drohen. Und merkwürdig ist, was diese Zweifel hervorruft:
nicht die Ungereimtheit seines anfänglichen Wahnes, noch die Schilderung
jener zum Wohle der Menschheit abenteuernden Ritter, noch der Unsinn der
Zauberwunder, von denen die „wahrheitsgetreuesten“ Bücher erzählen;
nein, es ist ein gänzlich nebensächlicher Umstand, der plötzlich Zweifel
in ihm erweckt. Der phantastische Mensch wird plötzlich von der
_Sehnsucht nach dem Realismus_ erfaßt! Nicht die Tatsache, daß plötzlich
Heere hervorgezaubert werden, verwirrt ihn: oh, das ist nicht dem
geringsten Zweifel unterworfen! Wie hätten denn sonst diese prächtigen
Ritter ihren Heldenmut beweisen können, wenn ihnen nicht solche
Prüfungen geschickt worden wären, wenn es nicht neidische Riesen und
böse Zauberer gegeben hätte? Das Ideal des fahrenden Ritters ist so
hoch, so schön und nützlich und hat das Herz des edlen Don Quijote so
bezaubert, daß der Verzicht auf den bedingungslosen Glauben an dasselbe
für ihn bereits unmöglich geworden ist, ja dem Verrat der Pflicht, dem
Verrat der Liebe zu Dulcinea und zur Menschheit gleichgekommen wäre.
(Als er aber auf alles verzichtet hatte, als er von seinem Wahn geheilt
und „_klüger_“ geworden war, – nach der Rückkehr von seiner zweiten
Ausfahrt, auf der er von dem Barbier Carasco, dem Verneiner und
Satiriker mit der „gesunden Vernunft“, geschlagen worden war – da starb
er alsbald, still und mit einem traurigen Lächeln auf den Lippen, indem
er noch den weinenden Sancho tröstete, die ganze Welt liebte mit der
großen Kraft jener Liebe, die in seinem heiligen Herzen eingeschlossen
war, und doch noch einsah, daß er auf dieser Welt nichts mehr zu tun
hatte.) Nein, es verwirrte ihn nur – eine durchaus richtige, vollkommen
mathematische Erwägung: daß es, wie sehr der mächtige Ritter auch mit
dem Schwerte um sich schlagen und wie stark er auch sein mag, immerhin
unmöglich ist, ein Heer von hunderttausend Mann in wenigen Stunden, oder
sagen wir, selbst in einem Tage, zu besiegen, und zwar: bis auf den
letzten Mann! So aber steht es in den wahrheitsgetreuesten Büchern.
Folglich steht dort ein Lüge? Ist aber schon eines Lüge, dann ist auch
alles andere Lüge. Wie nun die _Wahrheit_ retten? Und siehe, da denkt er
sich denn zur Rettung der Wahrheit eine andere Illusion aus, eine, die
zweimal, dreimal phantastischer, einfältiger und unsinniger ist als die
erste, denkt sich hunderttausend hervorgezauberte Menschen mit
Molluskenleibern aus, durch die aber dafür das scharfe Schwert des
Ritters zehnmal leichter und schneller hindurchgehen kann als durch die
gewöhnlichen Menschenleiber! Der _Realismus_ ist also befriedigt, die
_Wahrheit gerettet_, und an die erste Hauptillusion kann er nun ruhig
weiterglauben; und das wiederum einzig dank der zweiten, viel
unsinnigeren Illusion, die er sich bloß zur Rettung des _Realismus_ der
ersten ausgedacht hat.

Man gehe doch in sich und prüfe sich: ist nicht mit jedem von uns ganz
dasselbe schon hundertmal im Leben geschehen? Nehmen wir an, ihr habt
einen eurer Träume liebgewonnen, eine Illusion, eine Idee, eine
Überzeugung oder irgendeine äußere Tatsache, die euch erschüttert, oder
schließlich ein Weib, das euch bezaubert hat. Mit eurer ganzen Seele
gebt ihr euch dem Gegenstande eurer Liebe hin. Doch – seid ihr auch noch
so verblendet, noch so von eurem Herzen bestochen: ist in diesem
Gegenstand eurer Liebe eine Lüge, irgend etwas, das ihr selbst durch
eure Leidenschaft entstellt habt, das ihr in dem ersten Drang und
Aufschwung eurer Seele nicht sehen gewollt – nur um aus diesem
Gegenstande euer Idol machen und es dann anbeten zu können, – so wird
doch schon der Zweifel an euch herankriechen. Nur im geheimen natürlich,
nur im tiefsten Innersten werdet ihr es fühlen, werdet ihr es bangend
fühlen, wie der Zweifel an euch herankriecht, euch benagt, euren
Verstand zerrt, sich durch eure Seele windet und euch ewig hindert, mit
eurem liebgewonnenen Traume in Frieden zu leben. Nun, erinnert ihr euch
vielleicht, womit ihr euch dann beruhigt habt? Habt ihr euch dann nicht
einen neuen Traum ausgedacht, eine neue Lüge, vielleicht sogar eine
furchtbar unvollkommene, grobe Lüge, an die aber zu glauben ihr euch in
Liebe beeiltet, nur weil sie euch von eurem ersten Zweifel befreite?


                 Mollusken, die man für Menschen hält.

     Was ist für uns vorteilhafter: wenn man über uns die Wahrheit
             weiß, oder wenn man über uns Unsinn schwätzt?

Heutzutage hat sich Europa in die Türken verliebt, natürlich – mehr oder
weniger. Früher, zum Beispiel vor einem Jahr, da wußte man im Westen
wenigstens, daß es nur aus Haß gegen Rußland geschah, wenn man sich
bemühte, in den Türken irgendeine große nationale Kraft zu entdecken.
Wie hätten die klugen Europäer es auch nicht einsehen sollen, daß in der
Türkei die Kräfte eines regelrechten gesunden Nationalorganismus weder
sind noch sein können, ja, daß ein Organismus vielleicht überhaupt nicht
mehr vorhanden ist (dermaßen faul und zerfressen ist er), und daß die
Türken nur eine asiatische Horde, nicht aber einen regelrechten Staat
bilden. Jetzt jedoch, seit der Zeit, da die Türkei gegen Rußland Krieg
führt, hat sich allmählich an bestimmten Stätten Europas die tatsächlich
ernste Überzeugung festgesetzt, daß diese Nation nicht nur überhaupt
einen Organismus ausmache, sondern außerdem noch ein sehr starker
Organismus sei, sogar einer, dem man große Entwicklung und große
Fortschritte prophezeien könne. Dieser Gedanke bezaubert gar viele
europäische Geister immer mehr, und schließlich ist er auch zu uns
herübergekommen: auch hier in Rußland spricht man schon von Kräften, die
die Türkei plötzlich bewiesen haben soll. In Europa hat sich diese
Auffassung wiederum nur aus Haß gegen Rußland verbreitet, bei uns aber –
aus Kleinmut und der ungeheuren Eilfertigkeit zu pessimistischen
Schlüssen, die nun einmal eine charakteristische Eigenschaft der
intelligenten Klassen unserer Gesellschaft ist; eine Eigenschaft, die
sich immer wieder kundtut, sobald irgendwo unsere „Mißerfolge“ beginnen!

So ist denn jetzt in Europa dasselbe vor sich gegangen, was einstmals im
armen Geiste Don Quijotes vor sich ging, nur in umgekehrter Form, doch
das Wesen der Sache ist hier wie dort dasselbe: jener dachte sich, um
die _Wahrheit_ zu retten, Menschen mit Molluskenleibern aus, die
Europäer dagegen haben jetzt, um ihre Illusion von der Nichtigkeit und
Schwäche Rußlands, die sie so wohlig beruhigt, zu retten, – eine echte
Molluske für einen Menschenorganismus erklärt und ihn mit Fleisch und
Blut, mit Kraft und Gesundheit ausgestattet. Über Rußland aber
verbreitet man jetzt selbst in den gebildetsten Staaten den größten
Unsinn. Auch früher kannte man uns in Europa wenig, sogar so wenig, daß
man sich immer nur wundern mußte, wie dermaßen aufgeklärte Völker so
wenig bestrebt sein konnten, jenes Volk kennen zu lernen, das sie doch
alle von jeher hassen und fürchten. Diese Unkenntnis unseres Wesens in
Europa und sogar die gewisse Unfähigkeit Europas, uns in manchen
Beziehungen zu verstehen, ist ja für uns Russen teilweise auch
vorteilhaft gewesen, und so wird sie uns schließlich auch fernerhin
nicht schaden. Mögen sie nur schwatzen von Rußlands „schmachvoller
Rückständigkeit als Militärmacht“, ungeachtet der Zeugnisse ihrer
eigenen Kriegsberichterstatter, die über die militärische Begabung, die
Festigkeit und Ausdauer und die Disziplin des russischen Soldaten wie
Offiziers erstaunt sind; mögen sie selbst die bedeutendsten Fehler des
russischen Generalstabes zu Anfang des Krieges nicht nur für
unverbesserlich halten, sondern auf organische Mängel unseres Heeres
zurückführen, – wobei sie natürlich vergessen, wie oft wir sie in diesen
letzten zwei Jahrhunderten geschlagen haben. Mögen schließlich die
_ernstesten_ ihrer politischen Blätter der Welt als wahr melden, daß es
bei uns zu einer riesigen Volksverschwörung auf der Wyborger Seite in
Petersburg gekommen sei, und daß die Regierung zwei Regimenter aus
Dünaburg zur Rettung Petersburgs herbeigerufen habe, – schön, mögen sie
das in ihrer blinden Wut von uns sagen! Ich wiederhole: für uns ist es
sogar vorteilhaft; denn sie ahnen ja nicht einmal, was sie anstiften!
Sie würden doch so gern in allen ihren Völkern Haß gegen uns erwecken,
gegen die „gefährlichen Gegner unserer europäischen Zivilisation“. Und
doch sind sie es dann selbst, die uns wiederum als verloren hinstellen,
uns in einer „bis zur Schmach lächerlichen Schwäche als Militärmacht und
Staatsorganismus“ schildern. Wer aber wirklich so schwach und nichtig
ist, der bringt doch wahrlich nicht in dieser Weise ganze Koalitionen
gegen sich zusammen!

Man stelle sich nur vor, Europa sollte genaue Kenntnis von dieser Kraft
unseres Geistes, unseres Gefühls haben, von dem unerschütterlichen
Glauben unseres Volkes an die Gerechtigkeit der großen Tat, für die sein
Zar jetzt das Schwert gezogen hat, und an den unfehlbaren Sieg dieser
Idee, wenn auch nicht sofort, dann doch in der Zukunft! Man stelle sich
nur vor, Europa könnte endlich begreifen, was dieser im höchsten Grade
nationale Krieg für Rußland bedeutet, und daß unser Volk keineswegs eine
tote, seelenlose Masse ist, wie sie es sich dort immer vorstellen,
sondern ein mächtiger und sich seiner Macht bewußter Organismus, der als
Ganzes wie ein einziger Mann fest zusammengefügt dasteht und eines
Herzens und eines Willens mit seinem Heere ist. Welch einen Schreck und
welch eine Aufregung würde dieses Wissen dort überall hervorrufen! Und
das würde natürlich schon eher zu einer offenen Koalition Europas gegen
uns führen, als die so gern gelesenen Berichte über unsere
Kraftlosigkeit und Dekadenz. Nein, da ist es denn doch besser, wenn wir
sie ruhig an die „Volksverschwörung in der Wyborger Vorstadt“ glauben
lassen – ihnen zum Troste und uns zur Erheiterung.

Daß man in Europa jetzt an die Türken glaubt, ist ja schließlich ganz
begreiflich; wir wissen doch, warum man es dort tut. Wie aber kann man
bei uns sich deswegen aufregen und sogar an irgendwelche neue, plötzlich
aufgetauchte Lebenskräfte der türkischen Nation glauben? Wodurch hat die
Türkei diese Kräfte bewiesen? Durch den Fanatismus? „Fanatismus ist
nicht Kraft“, haben bei uns schon hundertmal diese selben Leute
verkündet, die jetzt plötzlich an die türkischen Kräfte glauben. Man
spricht von den türkischen Siegen. Die Türken haben nur ein- oder
zweimal unsere Angriffe zurückgeworfen, und das sind, wie man weiß, nur
negative, nicht positive Siege. Als wir aber in Sebastopol einen Angriff
der Franzosen und Engländer mit furchtbaren Verlusten der letzteren
zurückschlugen, da sprach Europa kein Wort von einem russischen „Siege“.
Wir haben während der ganzen zwei letzten Monate bedeutend weniger
Truppen gehabt, als die Türken: warum haben sie das nicht ausgenutzt?
warum uns nicht über den Balkan zurückgedrängt, warum nicht über die
Donau zurückgeworfen? Dagegen haben wir überall unsere wichtigsten
Stellungen behauptet und überall die Türken zurückgeschlagen. Zuweilen
haben sieben oder acht unserer Bataillone zwanzig der ihrigen
geschlagen, wie z. B. noch vor kurzem bei Zerkownjä. Die von der Kraft
der Türken überzeugten Pessimisten weisen auf das Gewehr und die
Artillerie der Türken hin, die, wie es heißt, besser sein sollen, als
unser Gewehr und unsere Artillerie. Trotzdem wollen sie nicht zugeben,
daß wir im Grunde genommen nicht nur mit den Türken, sondern mit den
europäischen Mächten kämpfen, da unzählige fremde Offiziere im
türkischen Heere dienen und letzteres mit europäischem Gelde ausgerüstet
ist, da die europäische Diplomatie seit dem Ausbruch des Krieges uns
überall Stangen in die Räder schiebt, wie z. B., wenn sie uns der Hilfe
unserer natürlichen Verbündeten beraubt und uns sogar das Recht
entzieht, auf dem einzigen direkten Wege in die Türkei einzudringen.
Außerdem hat Europa durch seinen Haß auf uns zweifellos den Fanatismus
der Türken angefacht. (In Europa wurde ja noch kürzlich eine
Verschwörung ganzer Horden aufgedeckt, die, organisiert und mit Geld und
Gewehren versehen, uns plötzlich in den Rücken fallen sollten.) Und zum
Überfluß hat Europa den Türken auch noch eine riesige Anleihe gewährt –
zum großen Nachteil für den eigenen Beutel. Und all dieses Unmögliche
ist doch nur möglich gewesen, weil man in Europa die Illusion, daß die
Türkei kein Molluskenreich sei, sondern ein Organismus von Fleisch und
Blut wie alle anderen europäischen Reiche, so liebgewonnen hat! Dabei
geschah dies zu derselben Zeit, als in mehreren Provinzen der Türkei das
Blut in Strömen floß, als unter den Machthabern der Türkei eine
regelrechte Verschwörung aufgedeckt wurde, die die Bulgaren bis auf den
letzten Mann ausrotten wollte! Jetzt aber erhalten die Türken ihr Heer
in den bulgarischen Provinzen mit solchen Requisitionen von
Lebensmitteln, Pferden und Vieh, daß sie sicher sein können, ihr Ziel zu
erreichen, nämlich: ihre reichste Provinz von Grund aus zu verwüsten.
Und diesen Zerstörern des eigenen Landes leihen die gebildeten,
zivilisierten Engländer noch Geld und glauben sogar an die türkische
Zahlungsfähigkeit! Doch schön, schön, mag das alles in Europa geglaubt
werden, dort ist das doch immerhin verständlich. Aber bei uns, wie kann
man nur bei uns die Türken für eine Kraft halten!? Die Zerstörung ihres
eigenen Landes und die Ausrottung der ganzen christlichen Bevölkerung –
ist denn das eine Kraft? Die wird ja nicht einmal bis zum Ende des
Krieges ausreichen. Die erste Wendung zu unseren Gunsten: und dieses
ganze phantastische Gebäude ihrer Militärmacht und Nationalkraft wird im
Augenblick zusammenstürzen und zergehen, wie eine richtige Schimäre, –
sogar samt ihrem Fanatismus, der wie stickiger Rauch durch eine
geöffnete Tür entfliehen wird.

Viele klugen Leute verwünschen jetzt einfach diese ganze Orientfrage.
„Wer hat uns eigentlich,“ fragen sie, „diese Slawen und dieses
Hirngespinst von einer Vereinigung aller blutsverwandten Stämme auf den
Hals geladen? und wozu überhaupt? Zu ewigem Streit mit Europa, zu ewigem
Mißtrauen uns gegenüber, damit nur ja der Haß des Westens auf uns nicht
abnehme! Daß sie der Teufel hole, diese Slawophilen!“ usw., usw. Diese
klugen Leute haben jedoch, wie es scheint, vollkommen falsche
Vorstellungen wie von den Slawophilen so auch von der Orientfrage. Ja,
wie sollte es auch anders sein! Haben sich doch viele von ihnen bis zur
jüngsten Zeit überhaupt nicht für diese Sache interessiert. Deshalb kann
man mit ihnen auch nicht streiten. Sie wissen es ja tatsächlich nicht,
daß diese Orientfrage – und mit ihr die Slawenfrage – keineswegs von den
Slawophilen heraufbeschworen oder ausgedacht worden ist (so etwas kann
man sich doch nicht ausdenken), sondern, daß diese Frage von selbst
entstanden ist, und das schon vor sehr langer Zeit: längst vor den
Slawophilen, längst vor uns, ja sogar vor Peter dem Großen und dem
russischen Staat. Entstanden ist sie mit der ersten Kristallisierung der
großrussischen Rasse zu einem einzigen russischen Reich, das heißt also,
zusammen mit dem Zarentum Moskau.

Die Lösung des Orientproblems ist eine Aufgabe, die das moskowitische
Zarentum fast schon am Tage seiner Entstehung auf sich nahm, und die
Peter der Große durchaus anerkannte und deshalb auch, als er Moskau
verließ, keineswegs abschüttelte, sondern mit sich nach Petersburg
hinübernahm. Peter begriff die organische Verbindung dieser Idee mit dem
Russischen Reiche und der russischen Seele. Darum ist sie auch in
Petersburg nicht nur nicht untergegangen, sondern von allen Nachfolgern
Peters geradezu als _russische Bestimmung_ angesehen worden. Darum
können wir sie auch jetzt nicht aufgeben – das wäre ein Verrat an uns
selbst. Die slawische Idee nicht mehr tragen und das Problem einer
Schicksalsentscheidung des östlichen Christentums – das Wesen der
Orientfrage – ungelöst aufgeben, wäre dasselbe, wie ganz Rußland
zerbrechen, in Splitter zerhauen und an seiner Stelle sich irgend etwas
Anderes und Neues ausdenken, was dann aber nichts mehr mit Rußland zu
tun hätte. Das wäre sogar nicht einmal Revolution, sondern einfach
Vernichtung, und darum ganz undenkbar: denn wie sollte man solch ein
Ganzes vernichten und es in einen von Grund auf neuen Organismus
umgebären können? So sind es denn auch nur noch die auf beiden Augen
blinden russischen „Europäer“, die diese Idee nicht einsehen können
und sie daher verleugnen, und mit ihnen höchstens noch die
Börsenspekulanten, – so nenne ich nun einmal grundsätzlich alle Russen,
die keine andere Sorge haben als die um ihren Geldbeutel, und die
infolgedessen auf Rußland nur vom Standpunkt ihrer Tasche aus sehen.
Jetzt klagen sie alle im Chor über die Stockung des Handels, über die
Börsenkrisis und das Sinken des Rubels. Wären aber diese
Börsenspekulanten nur so weit aufgeklärt, daß sie irgend etwas auch
außerhalb ihrer Sphäre verstünden, dann würde ihnen wohl aufgehen, daß
sie weit schlimmer daran wären, wenn Rußland diesen Krieg nicht begonnen
hätte. Damit es ein „Steigen“ gibt – selbst ein Steigen des Rubels an
der Börse –, muß die Nation auch wirklich leben, muß sie ein lebendiges
Leben führen und ihre natürliche Bestimmung erfüllen, nicht aber wie
eine galvanisierte Leiche in den Händen der Juden und Börsenjobber
liegen. Wenn wir nach allen zynischen, beleidigenden Herausforderungen
unserer Feinde diesen Krieg nicht begonnen hätten und den erschöpften
Märtyrern nicht zu Hilfe gekommen wären, so würden wir uns jetzt selbst
verachten müssen. Selbstverachtung aber, moralisches Sinken, und nach
ihm Zynismus, – sind sogar für die Geschäfte der Börsenjobber nicht
günstig. Die Nationen leben durch große Gefühle, durch große, alle
vereinende und alles erhellende Gedanken, und endlich durch die Einheit
des ganzen Volkes, die dann entsteht, wenn das Volk unwillkürlich seine
führende Intelligenz als mit ihm übereinstimmend anerkennt, woraus dann
die stärkste Nationalkraft strömt. Das ist es, wodurch die Nationen
leben, nicht aber durch Börsenspekulationen und die Sorge um den Wert
des Rubels! Je geistig reicher eine Nation ist, desto materiell reicher
wird sie sein ... Übrigens, was sind das doch wieder für alte Worte, die
ich da rede!


                            Zur Orientfrage


                       Lakaientum oder Zartgefühl

Bekanntlich sind alle intelligenten Russen außerordentlich taktvoll in
Fällen, in denen es sich um Europa handelt, oder wenn sie glauben, daß
Europa auf sie sehe – obgleich Europa sie im Grunde niemals
beachtet.[48] Zu Haus aber, da entschädigen sie sich dafür: zu Hause
wird der ganze Europäismus in den allermeisten Fällen beiseite geschoben
... Und wer von ihnen glaubt denn auch im Ernst an diese uns so lange
schon gepredigten „europäischen Ideen“? Freilich, manch ehrlicher und
guter Mensch glaubt einfach aus Herzensgüte an sie; aber gibt es denn
viele solcher Menschen bei uns? Um die Wahrheit zu sagen: genau
genommen, gibt es doch keinen einzigen Europäer unter uns; denn wir sind
ja überhaupt nicht fähig, Europäer zu sein. Unsere Börsengeister und
andere führende Geister haben die europäischen Ideen anscheinend bloß
gepachtet. Russen aber mit großen, gesunden Gedanken, die glauben
freilich nicht an diese „europäischen Ideen“; denn da ist auch wirklich
nichts, woran zu glauben sich lohnte. Nichts ist uns unklarer,
nebelhafter, unbestimmbarer als dieser Zyklus von Ideen, den wir in der
Periode unserer zweihundertjährigen europäischen Nachahmung uns
angeeignet haben, – in Wahrheit kein Zyklus, sondern ein Chaos
abgerissener Gefühle, fremder, unverstandener Gedanken, fremder Schlüsse
und fremder Gewohnheiten, – und alles in allem doch nur Worte und Worte,
europäische liberale Worte vielleicht, aber für uns doch nur Worte und
Worte.

Mit Papageieninstinkten läßt sich das gerade auch nicht erklären,
ebensowenig mit einem Lakaientum russischer Gedanken Europa gegenüber.
Lakaiengedanken gibt es ja sonst sehr viele bei uns, aber der höhere
Grund unserer europäischen Knechtschaft ist doch wohl nicht ein
Lakaientum, sondern schon eher unser angeborenes Zartgefühl Europa
gegenüber. Man wird sagen, daß Zartgefühl und Lakaientum in dem Falle
ein und dasselbe sei. In vielen Fällen – vielleicht, aber nicht in
allen. Ich spreche hier selbstverständlich nicht von den Geistern, die
ich vorhin erwähnte; diesen „Europäern“ ist es niemals weder um Europa
noch um Rußland zu tun gewesen. Die hatten als kluge Menschen im Trüben
gut fischen, und das taten sie denn auch zwei Jahrhunderte lang.

Da äußert sich, zum Beispiel, der Engländer Gladstone über den jetzigen
russischen Krieg mit den Türken folgendermaßen:

„Was man auch sonst über einige Kapitel der russischen Geschichte sagen
könnte, durch die Befreiung vieler Millionen Menschen unterdrückter
Völker von einem harten und erniedrigenden Joch erweist Rußland der
Menschheit einen der größten Dienste, deren sich die Geschichte der
Menschheit erinnern wird.“

Was glauben sie wohl, würde solche Worte ein russischer Europäer je
auszusprechen wagen? Nie und nimmer! Eher würde er sich die Zunge
abbeißen, würde aus Zartgefühl über und über erröten, nicht nur vor
Europa, sondern auch vor sich selbst, wenn er Ähnliches nur hörte oder
es womöglich noch von einem Russen auf russisch geschrieben lesen müßte.
„Um Gottes willen! Wie sollten wir uns unterstehen ... _und noch dazu
für die ganze Menschheit_ ... wir Russen? Wir, die wir noch nicht einmal
mit der Nase an solche Aufgaben heranreichen, wir, mit unserem schiefen,
unausgeglichenen Gesicht, sollen ‚die Menschheit befreien‘! Welch
unliberaler Gedanke! _Rußland_ befreit die Völker!!“

Das wäre die aufrichtige Meinung des russischen Europäers, und er
schlüge sich eher die Finger ab, als daß er Gladstones Worten Ähnliches
niederschriebe. „Gladstone kann ja vieles zu irgendwelchen Zwecken
erfinden, aber von Rußland versteht er doch nichts,“ würde er behaupten.
Einige von unseren Europäern aber würden nicht ohne Stolz noch
hinzufügen: „Wir russischen Europäer sind vielleicht doch noch liberaler
als die europäischen Europäer; denn wer von unseren nüchternen Köpfen
würde jetzt auch nur mit einer Silbe von der Befreiung der Völker reden?
Welch ein Rückschritt! Und Gladstone schämt sich nicht einmal, so etwas
zu sagen!“

Wie soll man das nun nennen, meine Herren? Lakaientum oder Zartgefühl
Europa gegenüber?

Ich bleibe doch bei der Ansicht, daß in der europäischen Periode unserer
Geschichte das Zartgefühl eine große Rolle gespielt hat. Viele von
unseren Europäern sind doch achtenswerte und tapfere Leute, Ehrenmänner
durch und durch – wenn auch nach den Begriffen einer fremden,
anerzogenen und von diesen unseren Rittern selbst nicht allemal
verstandenen Ehre –, aber immerhin irgendeiner Ehre; sind Leute, die es
nicht erlauben, daß man ihnen auf die Füße tritt. Wie kann man sie nur
so mir nichts, dir nichts Lakaien nennen? Nein, das Zartgefühl
beherrscht sie, nicht das Lakaientum!

Unsere Damen, die begeistert den gefangenen Türken Konfekt und
Zigaretten bringen, tun das ja gleichfalls nur aus Zartgefühl. Jetzt
haben einige undelikate Leute diese Damen zur Vernunft gewiesen, aber
vorher ... Nehmen wir an, daß nach dem Eisenbahnzuge mit den gefangenen
Türken, denen unsere Damen Buketts und Konfekt verehrten, ein zweiter
Zug mit echten Baschi-Bozuks ankäme – mit dieser berühmten Landwehr, die
sich ganz besonders durch das Zerreißen von Säuglingen auszeichnet und
durch die Kunst, aus den Rücken der Mütter Riemen zu schneiden – ja, ich
glaube, unsere Damen würden diesen zweiten Zug mit einem Schrei des
Entzückens empfangen, würden die interessante Landwehr mit Süßigkeiten
überschütten und in ihren Komitees womöglich Stipendien am Gymnasium für
sie erwirken. O, man glaube mir, meine Voraussetzung ist durchaus nicht
so phantastisch: dieses Zartgefühl kann sich bei uns bis zum Äußersten
steigern. Wenn diese Damen sich im Spiegel betrachten, so denken sie
sicher ganz verliebt in sich selbst: „Wie human, wie liberal wir doch
sind!“ Ich glaube nicht, daß ich übertreibe! Dieser hochmütige Blick,
zum Beispiel, den der sogenannte russische Europäer für unser Volk nur
übrighat, und dieses Lächeln, mit dem er das Streben des Volkes
kritisiert und ihm jegliches Denken abspricht – „außer einigen schreiend
blöden Einfällen von einigen tausend Bauernköpfen und irgendeinem
Dummkopf“ –: kommt das nicht dem gleich, was ich von unseren Damen
gesagt habe?

Dieses Zartgefühl, das wir Europa entgegenbringen, verläßt uns bei
keiner Gelegenheit. Die türkischen Gefangenen verlangten Weißbrot und
sie erhielten es sofort. Ja, die türkischen Gefangenen weigerten sich
sogar, zu arbeiten. Fürst Meschtscherski schreibt in seinem „Tagebuch“
als Augenzeuge aus dem Kaukasus:

   Unsere Gefangenen verließen Tiflis. Man wollte sie in offenen Wagen
   transportieren, sie aber revoltierten und erdreisteten sich, zu
   erklären, daß sie in solchen Wagen nicht fahren würden. Daraufhin
   gab man ihnen Postequipagen, jede Equipage mit sechs Pferden
   bespannt. Darüber drückten sie ihre Zufriedenheit aus. Die Folge
   davon aber war, daß aus Mangel an Pferden die Reisenden auf der
   großen Grusinischen Heerstraße dreimal vierundzwanzig Stunden warten
   mußten. Die russischen Offiziere aber, die die gefangenen Türken
   begleiteten, und die nur 50 Kop. täglich erhielten, setzte man nicht
   in die Equipage, sondern wie Bediente in einen Omnibus! Das nennt
   man dann „Humanität“! (Moskauer Nachrichten.)

Das ist freilich nicht Humanität, sondern eben jenes besagte Zartgefühl
der europäischen Meinung gegenüber. „Europa sieht auf uns, folglich muß
man in Galauniform den Paschas die besten Wagen anbieten.“

Die „Moskauer Nachrichten“ berichten unter anderem auch von dem
Erstaunen der Moskowiter bei der Ankunft der gefangenen Türken, als sie
sahen, wie man sie transportierte:

   Die gefangenen türkischen Soldaten waren bequem in Waggons dritter
   Klasse untergebracht, die Offiziere in Waggons zweiter Klasse, und
   der Pascha nahm einen ganzen Waggon erster Klasse ein. „Warum wird
   ihnen so viel Luxus geboten?“ hörte man im Publikum fragen. „Unsere
   Grenadiere wurden aus Moskau in Viehwaggons transportiert, diese
   türkischen Gefangenen aber fahren in Luxuszügen.“

   „Was, Grenadiere,“ rief darauf aus der Menge ein Kaufmann – „sogar
   unsere verwundeten Soldaten wurden in Viehwaggons transportiert, und
   dabei hatte man ihnen nicht einmal Stroh untergebreitet. Diesen
   feisten Pascha da, diesen Aufgefütterten, den hätte man in den
   Viehwagen einsperren sollen, damit er wenigstens etwas von seinem
   Fett verliert!“

   „Dort unten haben sie unsere Verwundeten zu Tode gequält, ihnen die
   Sehnen herausgezogen, sie mit glühendem Eisen gebrannt, und jetzt
   werden sie bei uns dafür verhätschelt ...“

Solche Stimmen, bemerkt die Moskauer Zeitung, waren nicht vereinzelt; in
ihnen tat sich die Volksmeinung kund: ist es doch schmerzlich zu sehen,
daß diese Baschi-Bozuks, dieser ganze türkische Abschaum besser
behandelt wird als unsere eigenen Soldaten.

Wir, die Intelligenz, sehen nichts Besonderes darin: es ist eben
Zartgefühl oder richtiger die äußere Form eines Zartgefühls der
europäischen Meinung gegenüber – und weiter nichts. Das ist doch schon
zweihundert Jahre lang bei uns so Sitte gewesen – es wäre Zeit, sich
daran zu gewöhnen!

Da ich einmal auf diese Dinge zu sprechen gekommen bin, will ich noch
ein kennzeichnendes Beispiel wiedergeben. Ich las diese Geschichte vor
kurzem in der Petersburger Zeitung, die sie einem Briefe entnommen
hatte.

   In seinem Bericht vom Kriegsschauplatz erzählt Herr Krestowski unter
   anderem von einem spaßigen Fall. „In der Suite des Großfürsten
   erschien ein sonderbarer Engländer: er trug einen Korkhelm und einen
   Mantel von erbsgrüner Farbe. Es heißt, er sei Mitglied des
   Parlaments und benutze seine freie Zeit, um vom Kriegsschauplatz an
   eine der großen Londoner Zeitungen (Times) Bericht zu erstatten.
   Andere versichern, er sei nur ein ‚reisender Engländer‘, wiederum
   andere, er sei einfach ein Russenfreund. Doch wie dem nun auch sei,
   jedenfalls führt sich dieser Herr etwas exzentrisch auf. In
   Gegenwart des Großfürsten, wenn alle stehen, Seine Hoheit nicht
   ausgenommen, bleibt er z. B. ruhig sitzen, und bei Tisch erhebt er
   sich, wann es ihm gefällt. Vor kurzem wandte er sich an einen
   bekannten Offizier mit der Bitte, ihm seinen erbsfarbenen Mantel zu
   halten. Der Offizier maß ihn mit etwas erstauntem Blick, lächelte
   darauf ein wenig ironisch, zuckte die Achsel und half ihm
   schließlich widerspruchslos in den Mantel. Freilich, es blieb ihm
   auch nichts anderes übrig. Der Engländer aber berührte nur flüchtig
   mit der Hand den Schirm seines Korkhelms ...“

Die Petersburger Zeitung findet diesen Fall spaßig. Zu meinem Bedauern
kann ich wirklich nichts Spaßiges in ihm entdecken, sondern nur sehr
viel Ärgerliches. Bei uns hat sich aus Romanen und französischen
Vaudevilles der Glaube ein für allemal festgesetzt, daß jeder Engländer
ein Sonderling sei. Aber was ist denn ein Sonderling? Nicht immer
braucht so ein Sonderling gleich dermaßen naiv zu sein, nicht einmal
erraten zu können, daß in der Welt nicht überall dieselben Sitten und
Gebräuche herrschen, die irgendwo dort in England allgemein angenommen
sein mögen. Die Engländer sind, im Gegenteil, ein kluges Volk; als
Seefahrer, und zudem noch als gebildete Seefahrer, haben sie mit ihrem
scharfen Blick besser als alle Europäer die Völker aller Erdteile und
ihre Sitten zu beobachten verstanden; sie sind ganz ungewöhnlich begabte
Beobachter. Solch ein Engländer nun, und noch dazu einer, der Mitglied
des Parlaments ist, sollte nicht wissen, wo und wann er stehen, wo und
wann er sitzen muß!? Es gibt ja kein einziges Land, in dem die Etikette
eine so große Rolle spielt wie gerade in England. Die englische
Hofetikette ist die komplizierteste der ganzen Welt. Wenn dieser
Engländer Parlamentarier ist, so muß er als solcher doch wenigstens
wissen, wie sich die Mitglieder des Unterhauses zu denen des Oberhauses
zu verhalten haben, und zwar gerade in dem Sinne: wer vor wem sitzen
bleiben, und wer vor wem aufstehen muß. Und wenn er noch gar zur höheren
Gesellschaft gehört – wo geht es denn zeremonieller zu als bei den
Diners und auf den Bällen oder in den Empfangssälen der Londoner
Aristokratie? Nein, dieser Engländer scheint mir keineswegs ein
Sonderling zu sein – soweit man ihn nach dieser Beschreibung beurteilen
kann. Nein, das ist englischer Stolz, und nicht nur Stolz, sondern ist
einfach Anmaßung, Herausforderung. Dieser „Russenfreund“ kann doch kein
großer Freund von uns sein. Er bleibt ruhig sitzen und denkt bei sich
über die russischen Offiziere: „Meine Herren, ich weiß, daß Sie ein
Löwenherz haben! ... Sie unternehmen ja fast Unmögliches und führen es
auch aus. Furcht vor dem Feinde kennen Sie nicht; jeder einzelne von
Ihnen ist ein Held, und was Ehre ist, wissen Sie alle nur zu gut. Ich
kann nicht abstreiten, was ich mit meinen eigenen Augen sehe. Doch
nichtsdestoweniger bin ich Engländer, Sie aber sind nur Russen; ich bin
Europäer, und Europa gegenüber sind Sie verpflichtet, zartfühlend und
aufmerksam zu sein. Welche Löwenherzen Sie auch haben mögen – im
Vergleich mit Ihnen bin ich doch ... nun eben ein höherer Typ Mensch. Es
ist mir sehr angenehm, sehr angenehm, Ihr Zartgefühl mir gegenüber zu
beobachten ... Sie denken, daß das alles nur Kleinigkeiten sind, aber
gerade diese Kleinigkeiten sind es, die mich amüsieren. Ich habe diese
Vergnügungsreise gemacht, weil ich hörte, daß Sie Helden seien; ich bin
hergekommen, um Sie mir näher anzusehen, aber ich werde wieder einmal
mit der Überzeugung heimkehren, daß ich als Sohn Old-Englands“ – sein
Herz erbebt vor Stolz – „auf der Welt doch ein Mensch ersten Ranges bin
und bleibe: Sie aber, meine Herren, sind als Russen doch nur
zweitrangige Kreaturen ...“

Am interessantesten sind in dem Briefe zweifellos die letzten Zeilen:
„Der Offizier maß ihn mit etwas erstauntem Blick, lächelte darauf ein
wenig ironisch, zuckte die Achsel und half ihm schließlich
widerspruchslos in seinen Mantel. _Freilich, es blieb ihm auch nichts
anderes übrig._“

Wieso: „freilich“? Warum blieb ihm nichts anderes übrig? Im Gegenteil,
da hätte man gerade das Entgegengesetzte tun sollen: man hätte ihn vom
Kopf bis zu den Füßen mit nicht mißzuverstehendem Blick messen, ironisch
lächeln, mit den Schultern zucken und vorübergehen sollen, ohne den
Mantel anzurühren. Hatte man denn wirklich nicht bemerkt, daß der
aufgeklärte Seefahrer bloß seine Stückchen machte, daß der feinste
Kenner der Etikette den Augenblick benutzte, um seinen kleinlichen Stolz
zu befriedigen? Das ist es ja, daß man in dem Augenblick nicht darauf
verfallen konnte, denn unser „Zartgefühl“ verhinderte es. Doch, das war
nicht etwa Zartgefühl _diesem_ Engländer gegenüber – weder als Mitglied
des Parlaments, noch als Besitzer jenes Korkhelms –, sondern unser
Zartgefühl Europa, der europäischen Aufklärung gegenüber, unser
Zartgefühl, in dem wir aufgewachsen sind, und das uns bis zum Verlust
unserer eigenen Selbständigkeit und Persönlichkeit beherrscht, und von
dem wir uns noch lange nicht werden befreien können. Die Lieferung von
Patronen an die Türkei, die England und Amerika besorgen, soll wirklich
enorm sein. Wir wissen ja ganz genau, daß der türkische Soldat bei
Plewna bisweilen an 500 Patronen täglich verbraucht: die Türkei aber hat
weder so viel Geld, noch solch einen Kredit, um ihre Armee dermaßen mit
Munition versehen zu können. Daß die Engländer ihnen in jeder Beziehung
helfen, liegt auf der Hand; ihre Schiffe bringen den Türken alles, was
zum Kriege nötig ist. Bei uns aber schweigen die Zeitungen darüber – aus
„Zartgefühl“ natürlich: „Ach, sprechen Sie nicht davon, werfen Sie doch
nur nicht solche Fragen auf, wir wollen nichts davon sehen, nichts
hören, sonst würden wir die gebildeten Seefahrer womöglich erzürnen und
dann ...“

Nun, und was dann? Warum fürchtet ihr euch? Wahrlich, über dieses Thema
„Zartgefühl“ könnte man noch vieles hinzufügen.

Selbst wenn es diese gewissen Wechsel und Wechselchen gibt, die wir
Europa in Gestalt verschiedener Versprechungen eingehändigt haben
sollen, so ist doch auch das nur aus Zartgefühl Europa gegenüber und aus
Verehrung für seine Kultur geschehen. Doch vorläufig will ich dieses
Thema fallen lassen. Ich erinnere mich, zu Anfang dieses Kapitels noch
hinzugefügt zu haben, all das geschehe ja nur Europa gegenüber, bei uns
zu Hause kämen wir schon auf unsere Rechnung. Ich möchte nun die
Gelegenheit benutzen, zu zeigen, wie wir es verstehen, uns dafür zu
entschädigen.


                 Der größte Beweis unseres Lakaientums

Erinnern Sie sich noch, meine Herren, wie wir im Sommer, als wir kurz
vor Plewna in Bulgarien eindrangen, plötzlich vor Unwillen einfach
erstarrten? Übrigens waren nicht alle so ungehalten, das muß ich
vorausschicken. Doch die Stimmen der Herren Kriegsberichterstatter
fanden in unseren Petersburger Zeitungen einen lebhaften Widerhall.

Es handelte sich um folgendes: Uns, wie der ganzen Welt, ist es bekannt,
daß wir auszogen, um die unterdrückten, erniedrigten und gequälten
Balkanslawen zu befreien. Ich erinnere mich noch, ganz zu Anfang des
Krieges in einer unserer besten Zeitungen gelesen zu haben: „Wenn wir in
Bulgarien einziehen, werden wir nicht nur unsere Armee zu ernähren
haben, sondern auch die bulgarische Bevölkerung, die bereits dem
Hungertode nahe ist.“ Und siehe da, nachdem wir uns eine solche
Vorstellung gemacht hatten – von den Bedrückten, Gepeinigten und
Hungernden, und von allen Flüssen und aus allen Gauen Rußlands hinzogen,
um uns für sie aufzuopfern –, stehen wir plötzlich vor reizenden
Bulgarenhäuschen, die, umgeben von Blumen und Obstgärten, weidenden
Viehherden und Ackerland, keineswegs unseren Erwartungen entsprechen.
Und zur Vollendung des Ganzen gibt es gleich im ersten bulgarischen
Städtchen drei orthodoxe Kirchen und nur eine Moschee. Das war im Lande
der Bulgaren, der des Glaubens wegen Unterdrückten! „Wie wagen sie es
nur!“ ereiferten sich gleich die beleidigten Herzen der Befreier, und
das Blut stieg ihnen zu Kopf. „Wir sind doch hergekommen, um sie zu
befreien! – Auf den Knien müßten sie uns empfangen! Und statt über unser
Kommen froh zu sein, sehen sie uns noch mißtrauisch an! Uns! ...
Allerdings, sie bringen uns Salz und Brot, das ist schließlich wahr,
aber von der Seite sehen sie uns doch mißtrauisch an! ...“ Was meinen
Sie, meine Herren, wenn Sie plötzlich ein Telegramm bekämen mit der
Nachricht, daß ein Ihnen nahestehender Mensch, ein Freund oder Bruder,
im Sterben liegt oder verunglückt ist, oder daß man ihn beraubt hat, so
werden Sie sich doch so schnell wie möglich zu ihrem unglücklichen
Bruder begeben, nicht wahr? Und siehe da: plötzlich ist nichts von
alledem geschehen: Sie treffen den Menschen bei vorzüglichster
Gesundheit beim Mittagstisch an! Freudig lädt er sie ein, mit ihm zu
speisen, und er lacht von ganzem Herzen über das Mißverständnis, über
das qui pro quo. Ob Sie nun diesen Menschen lieben oder nicht lieben: es
wird Ihnen doch niemals einfallen; es ihm zu verübeln, daß er nicht in
Lebensgefahr schwebt, daß man ihn nicht beraubt hat, oder daß ihm nicht
sonst ein Unglück zugestoßen ist? Oder gar, daß er so gesund aussieht,
zu Mittag speist und dazu Wein trinkt? Ich glaube, doch nicht! Im
Gegenteil, Sie würden sich freuen, daß er lebt und womöglich noch wohler
aussieht als Sie selbst. Nun, freilich wäre es menschlich, sich ein
bißchen zu ärgern – aber doch nicht etwa darüber, daß man ihm, sagen
wir, nicht die Beine abgefahren hat? Sie werden doch nicht gleich vom
Tische aufstehen und über ihn Bericht erstatten, Anekdoten von ihm
erzählen, seine schlechten Charaktereigenschaften hervorheben ...? Bei
den Bulgaren hat man es aber getan. „Bei uns kann sich ein wohlhabender
Bauer nicht so gut ernähren wie dieser unterdrückte Bulgare,“ hieß es.
Andere kamen sogar zu der Überzeugung, daß nur die Russen die Ursache
des Unglücks der Bulgaren seien: „Wenn wir nicht den Türken gedroht
hätten und nicht hingezogen wären, um diese angeblich geplünderten und
unterdrückten Bulgaren zu ‚befreien‘, so lebten sie noch heute wie im
Wollkorbe.“ Das kann man auch jetzt noch hören.

Und so mußten wir uns denn für unser Zartgefühl Europa gegenüber und für
unseren aufgeklärten Europäismus zu Hause entschädigen, mußten, wo
Europa nicht auf uns sieht, unser Herz erleichtern können. Und in
Bulgarien waren wir ja so gut wie zu Hause. „Wir sind gekommen, um sie
zu befreien, folglich gehören sie ja fast zu uns. Besitzt der Bulgare
einen Garten oder ein Gut, so hat er es jetzt gleichsam geschenkt von
uns wiedererhalten: wir nehmen dafür nichts von ihm und genau genommen
haben wir ja auch nicht das Recht dazu, aber er muß es doch _empfinden_
und uns ewig dafür dankbar sein, daß wir ihm zu Hilfe gekommen sind, ihn
und sein Hab und Gut von dem Türken, seinem Unterdrücker, befreit haben.
Das müßte er doch begreifen!“ Und da sehen wir plötzlich, daß ihn
niemand unterdrückt! Welch eine beleidigende Situation, nicht wahr?

Und welch ein Lakaientum im Grunde, statt wirklichen Zartgefühls! Und
welch eine Komik! Es ist schlechthin die komischste aller
Entschädigungen „bei uns zu Haus“ für die unbequeme Uniform des
europäischen Zartgefühls, in der wir uns Europa zu präsentieren lieben!
Welch ein Lakaientum in den Gedanken dieser leicht erregbaren Herren!
Die Situation überraschte viele von unseren Tapferen dermaßen, daß sie
einfach ihre Geistesgegenwart verloren; und diese Verblüffung ist schon
etwas ernster zu nehmen als jene Überrumpelung unseres Offiziers durch
den Engländer mit dem erbsgrünen Mantel.

Später klärte sich natürlich alles auf, die Wahrheit enthüllte sich den
Entrüsteten. Es stellte sich heraus, daß der Bulgare arbeitsam und sein
Land sehr fruchtbar ist. Und wenn er auch mißtrauisch auf die russischen
Truppen sieht, so muß man doch bedenken, daß er schon vier Jahrhunderte
lang Sklave ist und infolgedessen, wenn er seinem neuen Herrn
entgegentritt, nicht gut glauben kann, daß der ihm ein Bruder sein
wolle. Außerdem muß er doch noch seinen früheren Herrn fürchten und sich
unwillkürlich sagen: „Wenn der nun wiederkommt und es erfährt, daß ich
diesem hier Salz und Brot gereicht habe, – was dann?“ Und der Arme hatte
durchaus recht. Nachdem wir unseren ersten tapferen Angriff jenseits des
Balkan gemacht hatten, traten wir den Rückzug an. Zu den Bulgaren aber
kamen wieder die Türken – und wie sie von diesen behandelt wurden, wird
die Weltgeschichte erzählen! Ihre hübschen Häuschen, diese Aussaaten,
Gärten und Viehherden, alles wurde geplündert, in Staub und Asche
verwandelt, dem Erdboden gleichgemacht. Nicht zu Hunderten, sondern zu
Tausenden und Zehntausenden wurden die Bulgaren durch Feuer und Schwert
vernichtet, ihre Kinder wurden in Stücke gerissen und sie starben unter
den schrecklichsten Qualen, ihre Frauen und Töchter wurden geschändet,
zum Verkauf fortgeschleppt oder totgeschlagen. Die Männer, die, welche
die Russen mit Salz und Brot begrüßt hatten und obendrein auch noch
jene, die die Russen nicht begrüßt hatten, mußten alle auf dem
Scheiterhaufen oder am Galgen dafür büßen. Man nagelte sie am Abend mit
den Ohren an die Zäune, und am anderen Morgen mußte einer von den
Verurteilten alle seine Gefährten aufhängen, zum Schluß aber wurde er
selbst aufgeknüpft – unter dem Gelächter dieser wollüstigen Bestien, die
sich eine türkische Nation nennen.

Auf diese Weise kamen die über das gute Leben der Bulgaren so
entrüsteten Herren bald zu der Erkenntnis, daß dieses Leben im Grunde
genommen nur eine Dekoration gewesen war, daß alle diese Häuser und
Gärten und die Frauen und Kinder, die unmündigen Knaben und Mädchen in
diesen Häusern, dem Türken gehörten. Und der nahm sie, wann es ihm
gefiel: auch in friedlichen Zeiten überfiel er sie, nahm ihnen Geld und
Vieh, Frauen und Mädchen.

Doch jetzt, da sie in Wut geraten sind, plündern und zerstören sie die
unglücklichen bulgarischen Provinzen bis auf den nackten Erdboden. Wenn
wir lange vor Plewna liegen müssen und nur langsam vorrücken, so werden
die Türken, wenn sie sehen, daß sie Bulgarien vielleicht auf immer
verlieren, das Land ganz und gar in Asche verwandeln, solange sie noch
Zeit dazu haben. Jedenfalls aber sind die Ansichten unserer Klugen
darüber wirklich bemerkenswert; sie behaupten: wenn wir uns nicht in
türkische Angelegenheiten eingemischt hätten, würden die Bulgaren noch
heute gleichsam im Wollkorbe leben, und wir Russen allein seien an ihrem
Unglück schuld. Der bekannte Korrespondent der „Daily News“, Mr. Forbes,
sagt uns darüber in einem seiner vorzüglichen Berichte vom
Kriegsschauplatz seine ganze englische Wahrheit. Er gesteht den Türken
aufrichtig zu, daß sie das volle Recht gehabt hätten, alle Bulgaren, die
nördlich vom Balkan lebten, in der Zeit zu vernichten, als die russische
Armee sich über die Donau zurückzog. Mr. Forbes bedauert fast –
natürlich nur politisch –, daß dies nicht geschehen ist, und kommt zu
dem Schluß, daß die Bulgaren den Türken zu ewiger Dankbarkeit
verpflichtet seien, weil diese sie nicht wie eine Herde Schafe
geschlachtet haben. Wenn man jetzt an die russische Auffassung denkt, an
die „Bulgaren im Wollkorbe“, und sie dem Ausspruch Forbes’
gegenüberstellt, könnte man sich ja mit folgenden Worten an den Bulgaren
wenden: „Wie solltest du nicht im Wollkorbe leben, da man dich nicht
einfach geschlachtet hat?“ Sonderbar ist dabei nur eines: Wie ist es
möglich, daß ein solches Recht den Türken kaltherzig zugesprochen werden
kann, und noch dazu von einem so gebildeten Menschen wie Mr. Forbes, der
doch einer so aufgeklärten und großen Nation angehört? Sind das die
letzten Blüten und Früchte der englischen Zivilisation?
Selbstverständlich hätte er sich anders ausgedrückt, wenn es sich,
anstatt um Bulgaren, um Franzosen oder Italiener gehandelt hätte. Es
handelte sich hier aber nur um Slawen, um Bulgaren! In Europa scheint
man eine geradezu blutliche und ererbte Verachtung für die Slawen, für
die slawische Rasse überhaupt zu haben. Man zählt sie dort zu den
Hunnen. Europa würde es ruhig zulassen, daß man sie alle, mit Weibern
und Kindern bis auf den Letzten vernichtete. Und bitte vor allen Dingen
nicht zu vergessen, daß es nicht ein Earl of Beaconsfield ist, der jenen
Ausspruch getan – der könnte solche Überzeugungen noch aus Rücksicht auf
die „englischen Interessen“ haben –, sondern Mr. Forbes, ein Privatmann,
der doch keineswegs verpflichtet ist, die Interessen Englands um jeden
Preis, _und was es auch koste_, zu wahren, ein ehrlicher, talentvoller,
„wahrhaft humaner Mensch“, wie er uns in seinen ersten Briefen erschien.
Nein, diesem Urteil liegt eine westeuropäische Antipathie gegen alles,
was Slawe heißt, zugrunde. Diese Bulgaren kann man mit siedendem Wasser
übergießen, wie ein Wanzennest in einem alten Holzbett. Ist es bei den
Europäern vielleicht ein Instinkt, eine Vorahnung, daß die östlichen
Slawenstämme, wenn sie einmal befreit sein werden, eine große Rolle in
der neu heraufkommenden Menschheit spielen und den Platz der alten, vom
Wege abgekommenen Kulturträger einnehmen könnten? Bewußte Westler können
das natürlich weder zulassen, noch sich vorstellen, daß dieses
Wanzennest sich wirklich zu etwas Höherem zu entwickeln vermöchte. Aber
da ist ja noch Rußland, das augenscheinlich der Träger einer neuen Idee
ist und die Fahne der Zukunft, zum Ärger und Erstaunen aller, hochhebt.
Da Rußland aber kein Wanzennest ist, sondern ein Gigant und eine Kraft,
die man nicht leugnen kann, und da Rußland gleichfalls aus einer
slawischen Nation besteht, – wie müssen diese Europäer da Rußland in
ihrem Herzen hassen, wie müssen sie sich unwillkürlich und vielleicht
noch ganz unbewußt über unsere Mißerfolge freuen, wie über jegliches
Unglück, das uns trifft! Sollte das nicht aus Instinkt, aus Vorgefühl
geschehen?


   Ein ganz persönliches Wort über die Slawen, das ich schon lange habe

                              sagen wollen

Da ich nun einmal darauf zu sprechen gekommen bin, will ich noch ein
ganz persönliches Wort über die Slawen und die Slawenfrage sagen. Wer
diskutiert heutzutage bei uns nicht über die Möglichkeit eines baldigen
Friedens, über die Möglichkeit irgendeiner Entscheidung in der
Slawenfrage? Geben wir also unserer Phantasie einmal volle Freiheit und
stellen wir uns vor, daß Rußland durch sein Blut die Slawen bereits
befreit habe, daß das Türkische Reich überhaupt nicht mehr existiere und
die Balkanvölker nun ein neues, freies Leben führen können. Es ist
natürlich schwer vorauszusagen, welche Form diese Freiheit der Slawen
annehmen, ob es zu einer Föderation der befreiten kleineren Völker
kommen wird, oder ob sich die einzelnen Völker zu selbständigen kleinen
Reichen emporschwingen werden, mit Herrschern, die man natürlich aus den
verschiedenen regierenden Häusern Europas wählen würde. Und schließlich:
werden alle diese Länder und Ländchen vollständig unabhängig sein, oder
werden sie unter dem Schutze und der Aufsicht eines „europäischen Bundes
der Mächte“, zu dem auch Rußland gehören wird, stehen? Ich glaube, alle
diese kleinen Völker werden sich auf jeden Fall einen „europäischen Bund
der Mächte“ ausbitten, auch wenn Rußland in diesen einbegriffen sein
wird. Denn was sollten sie sonst zum Schutz vor Rußlands Herrschsucht
tun?

Alles das läßt sich heute noch nicht im einzelnen voraussagen, doch zwei
Dinge kann man auch jetzt schon mit Bestimmtheit wissen: erstens, daß
bald, oder vielleicht auch noch nicht so bald, alle slawischen Stämme
sich vom Türkenjoch befreien und ein neues, und vielleicht sogar
unabhängiges Leben führen werden; und zweitens ... Doch gerade über
diesen zweiten Punkt wollte ich schon seit langer Zeit meine persönliche
Meinung sagen.

Es ist meine feste Überzeugung, daß Rußland noch nie solche Neider,
Verleumder und sogar so bittere Feinde gehabt hat, wie es alle diese
Slawen sein werden, wenn Rußland sie befreit haben wird und Europa sie
als Befreite wird anerkennen müssen. Möge man deswegen nicht glauben,
daß ich die Slawen hasse! Im Gegenteil, ich liebe die Slawen sehr und
werde mich deshalb nicht lange verteidigen; weiß ich doch, daß alles,
was ich jetzt behaupte, in Erfüllung gehen wird, und daß diese
Feindschaft nicht etwa einer besonderen slawischen Charakterlosigkeit
oder Undankbarkeit entspringen wird – in dieser Beziehung sind die
Slawen wie alle anderen Völker –, sondern es wird geschehen, weil solche
Dinge in der Welt nun einmal keinen anderen Lauf nehmen können. Doch ich
werde mich nicht weiter dabei aufhalten; ich will nur sagen, daß wir
jetzt keine Dankbarkeit von den Slawen verlangen können, uns vielmehr
darauf gefaßt machen müssen, daß sie uns keine entgegenbringen werden.
Nach der Befreiung werden sie ihr neues Leben sicherlich damit beginnen,
daß sie Europa, wahrscheinlich England und Deutschland, um die
Sicherstellung ihrer Freiheit bitten. Sie werden sich die größte Mühe
geben, sich selbst davon zu überzeugen, daß sie Rußland nicht die
geringste Dankbarkeit schuldig, sondern gezwungen seien, beim
Friedensschluß Europas Schutz zu erflehen, auf daß Rußland, nachdem es
sie von den Türken befreit, sie nicht etwa selber verschlinge – „zur
Erweiterung seiner Grenzen und Gründung des großen allslawischen Reiches
durch die Unterwerfung der Slawen unter den gierigen, schlauen,
barbarischen Staat der Großrussen“. Lange, oh, lange noch werden sie
nicht imstande sein, weder die Uneigennützigkeit Rußlands, noch seine
große heilige Idee anzuerkennen: eine jener mächtigen Ideen, durch die
die Menschheit lebt, ohne die aber die Menschheit, wenn sie aufhören
sollte, in ihr zu leben – erstarren, verkrüppeln und sterben würde an
ihren Seuchen und ihrer Kraftlosigkeit. Nehmen wir zum Beispiel den
gegenwärtigen Krieg, diesen volkstümlichen russischen Krieg, der ein
Kampf gegen die türkischen Ungeheuer zur Befreiung unglücklicher Völker
ist, – haben die Slawen diesen Krieg etwa verstanden? Jetzt haben sie
uns noch nötig, wir kämpfen ja noch für sie. Wenn aber der Krieg beendet
sein wird, werden sie ihn dann auch noch für eine große Tat ansehen, für
die sie uns Dankbarkeit schuldig sind? Nie und nimmer werden sie das
tun!

Im Gegenteil, sie werden es als politische und womöglich gar
wissenschaftliche Wahrheit aufstellen, daß sie sich, wenn nicht Rußland
dagewesen wäre, schon längst allein, durch eigenen Heldenmut, oder mit
Hilfe Europas zu befreien verstanden hätten. Europa hätte, wenn wieder
dieses Rußland nicht auf der Welt gewesen wäre, nichts gegen ihre
Freiheit einzuwenden gehabt, sondern sie womöglich selber von den Türken
befreit. Diese schlaue Lehre hat ja schon jetzt viele Anhänger unter
ihnen und wird sich in der Folge noch zu einem wissenschaftlichen und
politischen Axiom entwickeln. Sogar von den Türken werden diese
Balkanslawen mit größerer Ehrfurcht sprechen als von uns. Vielleicht
werden sie ein ganzes Jahrhundert oder noch länger für ihre Freiheit
bangen und vor der Herrschsucht Rußlands zittern; sie werden sich bei
den europäischen Mächten einschmeicheln, werden Rußland verleumden und
überall gegen uns intrigieren. O, ich spreche nicht von einzelnen
Personen: gewiß wird es auch unter ihnen Menschen geben, die wissen
werden, was Rußland für sie war und immer sein wird. Diese Menschen
verstehen auch sicher die ganze Größe und Heiligkeit der Tat Rußlands
und seiner großen Idee, die es hochhält vor der ganzen Menschheit. Aber
dieser Menschen wird es zuerst so wenige geben, daß man sie auslachen
oder sogar politisch verfolgen wird. Besonders gern werden die befreiten
Slawen aller Welt verkünden, daß sie gebildete Völker seien, sogar
höchst kulturfähig, im europäischen Sinne, während Rußland ein
barbarisches Land, ein dunkler nordischer Koloß, dabei längst nicht vom
reinsten slawischen Blute, ein Unterdrücker und Feind der europäischen
Zivilisation sei und bleibe. Sie werden natürlich eine konstitutionelle
Regierung haben, ein Parlament, verantwortliche Minister, Redner und
Reden. Das wird sie außerordentlich beruhigen und entzücken. Es wird
ihnen ungeheuer schmeicheln, in den Pariser und Londoner Blättern
Telegramme zu lesen, die durch die ganze Welt gehen und allen melden,
daß z. B. nach langem Parlamentssturm endlich das bulgarische
Ministerium gefallen sei und eine neue liberale Mehrheit sich gebildet
habe, daß ein Bulgare namens Iwan Tschiftlik endlich eingewilligt, das
Portefeuille des Ministerpräsidenten anzunehmen ... Ja, in Rußland muß
man sich jetzt ernsthaft darauf vorbereiten, daß alle diese von uns
befreiten Slawen sich zunächst begeistert auf Europa stürzen, bis zum
Verlust der eigenen Persönlichkeit europäische Formen, politische wie
soziale, annehmen und auf die Weise erst eine lange Periode des
Europäismus durchleben werden, ehe sie etwas von ihrer slawischen
Bedeutung und ihrer eigenen Berufung unter den Völkern werden begreifen
lernen. Übrigens werden sie sich ewig untereinander streiten, ewig sich
gegenseitig beneiden und gegen einander intrigieren. Sollte ihnen aber
Gefahr drohen, so würden sie alle natürlich wieder Rußland um Hilfe
bitten. Denn wie sie uns in Europa auch verleumden, wie sie mit Europa
auch liebäugeln mögen, sie werden doch immer instinktiv fühlen
(selbstverständlich erst im Augenblick der Gefahr, nicht früher), daß
Europa der einzige Feind ihrer Selbständigkeit ist, war und immer sein
wird. Sie werden begreifen, daß sie auf der Welt nur noch existieren,
weil der große feststehende Magnet Rußland unwiderstehlich sie alle an
sich zieht und so ihre Nationalität und Einheit erhält. Es wird auch
Minuten geben, da sie imstande sein werden, beinahe bewußt
einzugestehen, daß, wenn sie nicht Rußland hätten, das große östliche
Zentrum der großen aufkommenden Ideen, ihre volkliche Einheit und
Selbständigkeit im Augenblick auseinanderfallen, ihre ganze Nationalität
sich auflösen und im europäischen Ozean wie einzelne Wassertropfen im
Meere verschwinden würde. Noch auf lange aber wird Rußland die Sorge
verbleiben, sie zu versöhnen, ihnen Vernunft beizubringen und vielleicht
sogar noch das Schwert für sie zu ziehen. Natürlich wirft sich dabei die
Frage auf, welch einen Vorteil Rußland denn für sich erwartet, warum
Rußland sich so oft für sie geschlagen, sein Blut, seine Kräfte, sein
Geld für sie hingegeben? Doch nicht etwa, um so viel kleinlichen Haß und
so häßliche Undankbarkeit zu ernten? Freilich hat Rußland immer gewußt,
daß es das Zentrum der slawischen Einheit ist, daß, wenn die Slawen in
Zukunft ein freies, nationales Leben führen werden, Rußland das gewollt
und durchgesetzt haben wird. Welch einen Vorteil bringt uns nun dieses
Bewußtsein, außer Arbeit, Ärger und Sorgen?

Die Antwort darauf ist schwer, und vielleicht werden nicht alle sie
verstehen können. Wir wissen ja, daß Rußland niemals auch nur auf den
Gedanken kommen wird, sein Territorium auf Kosten der Slawen erweitern,
sie politisch an sich ketten oder gar ihre Länder zu russischen
Gouvernements machen zu wollen. Alle Slawen verdächtigen jetzt Rußland
dieser Absicht, und Europa wird noch weitere hundert Jahre diesen
Argwohn gegen uns hegen. Möge Gott Rußland vor solchen Absichten
bewahren! Denn je mehr es seine politische Uneigennützigkeit den Slawen
gegenüber aufrechterhält, desto sicherer wird es eine volle Einigung der
Slawen unter einander erreichen, vielleicht schon im Verlauf von einem
Jahrhundert. Wenn es den Slawen von Anfang an politische Freiheit gibt
und sich jeder Vormundschaft enthält, doch zu jeder Zeit bereit ist,
sein Schwert für die Freiheit ihres Glaubens und ihrer Nationalität zu
ziehen, so wird Rußland zu seinem und zu ihrem Wohl mehr erreichen, als
wenn es mit Gewalt seinen politischen Einfluß auf die Slawen
aufrechtzuerhalten strebte. Ja, gerade ... wenn Rußland seine
vollständige Uneigennützigkeit ihnen gegenüber bewahrt, wird es sie
besiegen und ihr Vertrauen gewinnen. Zuerst werden sie vielleicht nur im
Notfalle zu uns kommen, dann aber werden sie sich mit dem vollen
Vertrauen eines Kindes an uns schmiegen. Alle werden sie in das
heimatliche Nest, zu Rußland, zurückkehren. Oh, viele Russen, Gelehrte
wie auch Dichter, setzen schon große Hoffnungen auf diese Vereinigung.
Sie erwarten, daß die befreiten und auferstandenen slawischen
Völkerschaften viele neue und noch nie dagewesene Elemente ins russische
Leben bringen, das Slawentum Rußlands erweitern und auf die Seele
Rußlands einen großen Einfluß ausüben werden; ja, sogar die russische
Sprache, die russische Literatur, das russische Schaffen überhaupt
sollen sie geistig bereichern und ihm neue Horizonte eröffnen. Ich muß
gestehen, daß mir diese Begeisterung immer etwas literarisch erschienen
ist. Vielleicht wird Ähnliches einmal wirklich geschehen, aber wohl
nicht früher als in hundert Jahren; für dieses ganze Jahrhundert dagegen
wird Rußland von den Slawen nichts zu nehmen brauchen, weder von ihren
Ideen, noch von ihrer Literatur, denn was könnten sie uns jetzt geben?
Rußland wird dieses ganze Jahrhundert hindurch nur gegen ihre
Beschränktheit und ihren Eigensinn zu kämpfen haben, desgleichen gegen
ihre schlechten Angewohnheiten und ihren Verrat am Slawentum, ihren
Verrat um europäischer Formen willen in politischen wie sozialen Dingen.
Nach der Slawenfrage steht Rußland noch die Orientfrage bevor. Die
Slawen werden heute überhaupt nicht verstehen, was diese Orientfrage
eigentlich bedeutet! Ganz so, wie sie auch die slawische Einigung zu
einer allgemeinen Brüderschaft noch lange nicht verstehen werden. Ihnen
diese durch die Tat und das Beispiel zu erklären, wird in Zukunft die
Aufgabe Rußlands sein. Wieder wird man fragen, wozu und warum soll
Rußland eine solche Arbeit auf sich nehmen? Wozu? um ein höheres Leben
zu führen, um die Welt mit einer großen uneigennützigen Idee zu
durchleuchten, um einen großen, mächtigen Organismus brüderlicher
Einigung von Völkerstämmen zu schaffen, – nicht durch politische Gewalt,
nicht mit Feuer und Schwert, sondern durch Überzeugung, Liebe,
Uneigennützigkeit und Aufklärung: um endlich alle Kleinen um sich zu
scharen und ihnen die mütterliche Aufgabe Rußlands zu beweisen. Das ist
unser Ziel und das ist meinetwegen auch unser Vorteil. Denn wenn eine
Nation für keine höheren Ideen, nicht mit höheren Zielen zum Wohle der
Menschheit, sondern nur ihren eigenen „Interessen“ lebt, so wird diese
Nation untergehen. Höhere Ziele für Rußland kann es aber nicht geben,
als uneigennützig den Slawen zu dienen, ohne von ihnen Dankbarkeit zu
erwarten, nach ihrer sittlichen und geistigen, nicht nur nach ihrer
politischen Einigung zu streben. Nur durch diese Tat würde das Slawentum
der Menschheit eine neue, wertvolle Idee geben ... Höhere Ziele als
solche gibt es nicht auf dieser Welt, und es kann für Rußland nichts
„vorteilhafter“ sein, als solche Ziele zu haben, sie sich mehr und mehr
klarzumachen, um die eigene Seele zu heben in dieser ewigen,
unermüdlichen, heldenhaften Arbeit für die Menschheit. Darum aber ist
eines gewiß: füllt dieser Krieg für Rußland günstig aus, so tritt
Rußland in eine neue und höhere Phase seines Seins ...


                Was man jetzt über den Frieden spricht.

       Muß Konstantinopel Rußland gehören, und ist das überhaupt
                    möglich? Verschiedene Meinungen

Vor einiger Zeit fing man bei uns an, über die baldige Beendigung des
Krieges zu sprechen, und heute spricht bereits alle Welt von möglichen
und unmöglichen Friedensbedingungen. Es freut mich sehr, daß große
politische Zeitungen Rußlands unsere Mühen und Opfer hochschätzen und
Friedensbedingungen vorschlagen, die diesen gebrachten Opfern angemessen
sind. Auch ist es beruhigend zu hören, daß die Mehrzahl der Urteile die
selbständige Entscheidung Rußlands beim Friedensschluß verlangt, das
Recht, einen persönlichen, separaten Frieden zu schließen, ohne Europa
herbeizurufen, und wenn möglich, ohne sich um die europäischen Meinungen
überhaupt zu kümmern. Das Los der Slawen wird gleichfalls in Betracht
gezogen. Man streitet über die Kriegsentschädigungen und verlangt in der
Begeisterung sogar die türkischen Panzerschiffe. Das Recht, uns Kars und
Erserum einzuverleiben, gestehen uns fast alle zu. Natürlich gibt es
auch wieder Leute, die schon bei der bloßen Annahme, wir könnten es
wagen, Kars zu annektieren, beleidigt sind. Und wiederum gibt es andere,
die nicht nur über Kars, sondern selbst über Konstantinopel verfügen und
sogar behaupten, daß Konstantinopel einmal uns gehören _müsse_! Diese
Debatten über den Frieden werden sich natürlich nach jeder größeren
Aktion unseres Heeres wiederholen. Ich will hier nur darauf hinweisen,
daß in den Urteilen unserer großen Blätter ein Irrtum sich bemerkbar
macht. Alle halten sie das Europa von heute noch für das Europa von
früher – das heißt, man nimmt bei uns an, daß die europäischen
Großmächte immer noch dieselben sind, man setzt immer noch das alte
„europäische Gleichgewicht“ voraus. Indessen verändert sich Europa jetzt
von Stunde zu Stunde: was vor einem halben Jahr war, wird vielleicht
schon nach drei Monaten nicht mehr sein – so sehr kann sich bis zum
nächsten Frühling Europas früheres Aussehen verändert haben. Die
ungeheuren und verhängnisvollen Gegenwartsprobleme, die sich erst noch
herausarbeiten müssen, und die vielleicht sehr bald eine Entscheidung
heischen werden, zieht man noch immer nicht in dem Umfange in Betracht,
den sie tatsächlich in der Welt einnehmen. Sogar der Bestand jenes
Europas, das sich beim Friedensschluß einmischen könnte, ist schwer
schon jetzt festzustellen. Deshalb aber kann man, meiner Meinung nach,
auf Grund der früheren Verhältnisse die Friedensbedingungen unmöglich im
voraus bestimmen, ohne zu berücksichtigen, daß Europa selber von der
Stelle rückt und selber neuer Bestimmungen harrt. Übrigens, davon
später. Jetzt will ich, da schon einmal von Konstantinopel die Rede ist,
noch eine sehr sonderbare Meinung Nicolai Jakowlewitsch Danilewskis[49]
über das „nächste Schicksal Konstantinopels“ vermerken.

Ich werde sie übrigens nicht in allen Einzelheiten wiedergeben können.

Nach vielen durchaus richtigen Bemerkungen – wie zum Beispiel, daß
Konstantinopel nach der Vertreibung der Türken nicht eine freie Stadt
werden kann, wie es etwa Krakau einmal war, ohne zu riskieren, ein
Sammelplatz und Zufluchtsort von Verbrechern und Verschwörern der ganzen
Welt, eine Beute der Juden, Spekulanten und Intriganten zu werden –
fordert N. J. Danilewski, daß Konstantinopel in den „gemeinsamen Besitz
aller östlichen Völker“ übergehe. Allen Völkern sollen die gleichen
Rechte über diese Stadt zugestanden werden: Russen, Slawen, Griechen,
Bulgaren sollen _alle zusammen_ Konstantinopel besitzen. Eine solche
Ansicht ist meiner Meinung nach denn doch etwas sonderbar. Wie kann
Rußland den Besitz dieser Stadt mit anderen Völkern teilen, wenn Rußland
ihnen in jeder Beziehung weit überlegen ist, nicht nur jedem einzelnen
kleinen Balkanvolk, sondern auch allen diesen Völkern zusammen genommen?
Der Riese Gulliver könnte, wenn er wollte, den Liliputanern hundertmal
versichern, daß er ihnen in jeder Beziehung gleich sei, es würde ihm
doch niemals geglaubt werden. Wie kann man nur eine solche
Geschmacklosigkeit behaupten und dazu noch selbst mit aller Gewalt an so
etwas glauben? Nein, Konstantinopel muß uns gehören, muß von uns Russen
erobert werden und muß bis in alle Ewigkeiten in unserem Besitz
verbleiben. Uns allein soll die Stadt gehören; wir aber können dann,
wenn wir sie beherrschen, alle Slawen und meinetwegen auch noch alle
anderen Völker der Welt mit der Gewährung der größten Freiheiten in ihr
aufnehmen – aber keine Föderation zusammen mit den Slawen! Man bedenke
doch nur, daß eine solche Föderation kaum in einem Jahrhundert
durchgesetzt werden kann! Nur Rußland ist der Aufgabe gewachsen,
Konstantinopel zu beherrschen, denn wir dürfen nicht die dazu gehörige
Umgebung, den Bosporus und die Dardanellen vergessen. Nur Rußland kann
dort ein Heer und eine Flotte halten. O, natürlich wird es jetzt sofort
heißen: „Also ist die Hilfe, die die Russen den Slawen bringen, doch
nicht so uneigennützig!“ – Darauf können wir antworten: Rußland wird nie
aufhören, den Slawen zu dienen und wird sie durch seine große zentrale
Kraft ewig am Leben erhalten; solch ein Dienst läßt sich aber mit nichts
entgelten, und wenn Rußland jetzt auch Konstantinopel einnehmen sollte,
so würde das doch nur geschehen, weil zu seinen Aufgaben, außer der
Lösung der slawischen Frage, noch die Lösung einer viel größeren, der
Orientfrage, gehört. Diese Aufgabe aber kann nur durch die Eroberung
Konstantinopels erfüllt werden. Eine föderative Verwaltung
Konstantinopels durch verschiedene Völker könnte die Orientfrage einfach
vernichten, während wir doch, im Gegenteil, eine baldige Lösung
derselben vor allem wünschen müssen, da sie mit dem Schicksal und der
Bestimmung Rußlands so eng verbunden ist. Ganz abgesehen davon, daß alle
diese Völkchen sich um den Einfluß und die Vorherrschaft in der Stadt
nur streiten würden ... Mit einem Wort, Konstantinopel wäre nur ein
Stein des Anstoßes für die ganze östliche Welt, würde nur die Einigung
der Slawen verhindern und ihre gesunde Lebensentwicklung aufhalten. Die
einzige Rettung ist, daß Rußland allein und auf eigene Rechnung
Konstantinopel nimmt; denn nur Rußland kann ruhig sagen, daß es ganz
allein dieser Aufgabe gewachsen sein wird. Und ist das denn nicht wahr?
Rußland ist das geistige Zentrum, das Haupt des Ostens, Konstantinopel
aber ist die Stadt, das Zentrum der östlichen Welt. Rußland hat es nötig
– und es wäre ihm sogar nützlich –, sich jetzt dem Orient zuzuwenden und
auf einige Zeit Petersburg, wenn auch nur ein wenig, zu vergessen – in
Anbetracht der baldigen Veränderung seines Schicksals, sowie der
Schicksale ganz Europas. Doch wozu schon jetzt alle Mißstände erörtern,
die durch einen gemeinsamen Besitz der Stadt unter den Slawen entstehen
würden! Wenden wir uns lieber dem Schicksal der Griechen und der
rechtgläubigen Bevölkerung Konstantinopels zu – dem Schicksal, dem sie
bestimmt nicht werden entgehen können, wenn Byzanz „Gemeingut“ wird.

Die Griechen werden eifersüchtig auf die neue slawische Basis in
Konstantinopel sehen und werden die Slawen sogar noch mehr hassen und
noch mehr fürchten, als vorher die Mohammedaner. Der jüngste Streit
zwischen den Bulgaren und dem ökumenischen Patriarchen kann für die
Zukunft als Beispiel dienen. Die Repräsentanten der Rechtgläubigkeit in
Konstantinopel werden sich bis zu Intrigen und kleinlichen
Verschwörungen, bis zu gegenseitigen Exkommunikationen und weiß Gott
wozu noch erniedrigen, werden vielleicht sogar Ketzer werden – und alles
das aus nationalen Gründen, aus nationaler Empfindlichkeit. „Warum
stehen die Slawen über uns?“ werden die Griechen fragen, „warum wird
ihnen ein unumschränktes Recht auf Konstantinopel zugesprochen, ... wenn
auch mit uns zusammen?“ Beherrscht aber Rußland allein Konstantinopel,
hat Rußland allein die Autorität in der Stadt, so fällt selbst die
Möglichkeit solcher Fragen fort. Sogar die Griechen würden dann Rußland
nicht um den Besitz Konstantinopels beneiden und sich nicht gekränkt
fühlen. Rußland würde in Konstantinopel gleichsam auf der Wacht stehen
für alle Slawen und alle Balkanvölker, ohne etwa letztere den Slawen
nachzustellen. Die Herrschaft der Mohammedaner war in diesen
Jahrhunderten für die Balkanvölker keine vereinigende, sondern eine
unterdrückende Macht, unter der sie sich nicht zu rühren, nicht einmal
wie Menschen zu leben wagten. Nach der Vernichtung der mohammedanischen
Herrschaft kann aus diesen Völkern, die aus der Knechtschaft zur
Herrschaft kommen, ein Chaos entstehen; so daß nicht nur eine
regelrechte Föderation, sondern selbst eine Übereinstimmung unter ihnen
höchstens in ferner Zukunft möglich sein wird. Dagegen würde Rußland
zweifellos die alle Balkanvölker vereinigende Kraft sein, wenn es sich
in Konstantinopel festsetzte ... Auch ist doch nur Rußland allein fähig,
die Fahne der neuen Idee des Ostens zu erheben und der ganzen östlichen
Welt ihre neue Bestimmung zu erklären. Denn was ist die Orientfrage im
Grunde anderes als die Schicksalsfrage der Rechtgläubigkeit überhaupt?
Das Schicksal der Rechtgläubigkeit aber ist wiederum untrennbar mit der
Bestimmung Rußlands verbunden. „Was ist denn das für ein Schicksal?“
wird man fragen.

Der römische Katholizismus, der Christus für weltlichen Besitz
verkaufte, was die Menschheit veranlaßte, sich von ihm abzuwenden, und
was zur Hauptursache der Verbreitung des europäischen Materialismus und
Atheismus wurde, – dieser Katholizismus erzeugte in Europa naturgemäß
auch den Sozialismus. Denn die Aufgabe des Sozialismus ist, das
Schicksal der Menschheit nicht durch Christus, sondern außerhalb von
Gott und Christus zu bestimmen. Er hat sich in Europa auf ganz
natürliche Weise bilden müssen zum Ersatz für das dort gefallene
christliche Prinzip. Doch die im Westen entstellte Lehre Christi hat
sich in ihrer ganzen Reinheit in der Rechtgläubigkeit erhalten. Aus dem
Osten wird das neue Wort an die Welt ausgehen, wird dem Sozialismus
entgegenziehen und von neuem die europäische Menschheit erlösen. Das ist
die Bestimmung des Ostens, das ist die Bedeutung der Orientfrage für
Rußland! Ich weiß, sehr viele nennen eine solche Überzeugung
„Besessenheit“; doch Herr N. J. Danilewski wird verstehen, was ich sagen
will. Infolge dieser Bestimmung hat Rußland Konstantinopel nötig, denn
Konstantinopel ist, wie ich schon sagte, das Zentrum der östlichen Welt.
Rußland – ich meine das Volk zusammen mit seinem Zaren – erkennt und
fühlt, daß es allein der Träger der Christenidee ist, und daß das Wort
der Rechtgläubigkeit sich in ihm zu einer großen Tat gestaltet, daß
diese Tat schon mit dem jetzigen Kriege begonnen hat, und daß uns noch
Jahrhunderte der Arbeit und Selbstverleugnung bevorstehen, um die
Brüderschaft der Völker zu verwirklichen, jener Völker, denen wir mit
heißer Mutterliebe wie teuren Kindern dienen wollen.

Diese große christliche Tat, diese neue Tätigkeit des Christentums und
der Rechtgläubigkeit, hat schon mit dem jetzigen Kriege begonnen, mit
der bloßen Tatsache, daß wir diesen Krieg führen ... Doch Herr N. J.
Danilewski glaubt noch immer nicht daran. Augenscheinlich glaubt er
nicht daran, weil er Rußland nicht für würdig hält, Konstantinopel zu
beherrschen. Sollten die Russen wirklich dem nicht gewachsen sein – oder
was will er sonst damit sagen? Natürlich ist es schwer, eine Herrschaft
in dieser Stadt zu errichten; aber Herr Danilewski gibt doch zu, daß
Rußland Konstantinopel vorläufig allein beherrschen könnte, d. h.
natürlich nur, um die Stadt später den Völkern als Gemeingut zu
übergeben. Es fragt sich bloß, warum und wozu übergeben? Wie es scheint,
glaubt Herr Danilewski, daß der Besitz Konstantinopels für Rußland
verderblich sein würde, in ihm schlechte, eroberungsgierige Instinkte
wachrufen könnte. Aber es wäre doch Zeit, endlich an Rußland zu glauben,
besonders nach der Heldentat dieses Krieges, denn es ist dieser Aufgabe
doch tatsächlich gewachsen ...

Und plötzlich kann sich der Autor nicht einmal entschließen, diese Stadt
auch nur zeitweilig diesem Rußland anzuvertrauen! Und – man stelle sich
nur vor, womit er schließt: man müsse vorläufig die Existenz der Türkei
noch verlängern, ihr zwar alle Slawen und den Balkan nehmen,
Konstantinopel jedoch ihr noch auf einige Zeit überlassen – und das sei
für Rußland jetzt sogar das Vorteilhafteste, sei sozusagen ein
Fingerzeig Gottes! Warum ein Fingerzeig Gottes, warum? Herr Danilewski
setzt natürlich voraus, daß die Türkei in ihrer neuen Existenz ganz
unter dem Einfluß Rußlands, d. h. von Rußland abhängig sein werde. Aber
wozu denn diese Maskerade? Bedenken wir bloß, daß Europa in eine solche
Konstellation erst recht nicht einwilligen würde. Europa wäre eine
vollständige Besiegung der Türkei, wäre die vollendete Tatsache lieber,
als einen neuen Orientkrieg in der allernächsten Zukunft befürchten zu
müssen. Somit stimmt ja Herr Danilewski zum Schluß mit der politischen
Meinung Lord Beaconsfields überein, nach der die Existenz der Türkei
durchaus nötig sei und sie nicht vernichtet werden dürfe.

„Von der Türkei wird nur ein Schatten übrigbleiben,“ sagt Herr
Danilewski – „dieser Schatten aber _muß_ (?) vorläufig noch die Ufer des
Bosporus und der Dardanellen verdunkeln; denn ihn schon jetzt durch
einen lebendigen und dazu gesunden Organismus zu ersetzen, ist noch
nicht möglich (!?) ...“

Also wäre Rußland ein so ungesunder und toter Organismus, daß es die
Hauptstadt der Rechtgläubigkeit an Stelle der in Fäulnis übergegangenen
Türkei nicht besetzen dürfte? Das scheint mir doch sonderbar! Oder will
Herr Danilewski damit vielleicht sagen, daß Rußland Konstantinopel nicht
besetzen dürfe, weil Europa es ihm nicht gestatten würde? Er sagt an
einer Stelle seines Aufsatzes: „Der Besetzung Konstantinopels durch die
Russen werden die meisten europäischen Mächte den größten Widerstand
entgegensetzen.“ Freilich, wenn er die Unmöglichkeit darin sieht, so
wird seine Behauptung – bezüglich der Notwendigkeit, den Türken
vorläufig noch Konstantinopel zu überlassen – verständlicher.
Nichtsdestoweniger kann man in betreff des „Widerstandes der meisten
europäischen Mächte“ eines positiv behaupten: erstens, daß Europa, wie
ich schon gesagt habe, eher die Besetzung Konstantinopels durch uns
wünschen würde als ein Fortbestehen der Türkei „unter voller
Vormundschaft Rußlands, ohne den Balkan, ohne Slawen, ohne Flotte“ – mit
einem Wort, als ein „Schatten“ der früheren Türkei, wie sich Herr
Danilewski ausdrückt. Wen würden wir mit diesem Gespenst betrügen
können? Die Europäer würden sich doch sagen: „Wenn die Russen nicht
heute in Konstantinopel einziehen, so werden sie es morgen tun.“ Und
deshalb würden sie auch eine endgültige Form einem zeitweiligen Schatten
vorziehen. Und zweitens: wir müssen doch einsehen, daß es niemals eine
für uns so günstige Zeit geben wird – in Anbetracht der gegenwärtigen
politischen Lage Europas.

Zum letztenmal noch eine „Prophezeiung“. Man sagt: „Die Mehrzahl der
europäischen Mächte wird es nicht erlauben.“ Aber aus welchen Reichen
besteht denn jetzt diese „Mehrzahl der europäischen Mächte“? Ich
wiederhole hier schon einmal von mir Gesagtes: „Europa verändert sich
von Stunde zu Stunde: was noch vor einem halben Jahr war, wird
vielleicht in drei Monaten nicht mehr sein!“ Wir befinden uns am
Vorabend der allergrößten und erschütterndsten Ereignisse und
Umwälzungen in Europa. Augenblicklich, also jetzt im November, besteht
„diese Mehrzahl der europäischen Mächte“, die uns beim Friedensschluß
ihr drohendes Veto entgegenstellen könnten, nur aus England und kaum
noch aus Österreich, obgleich England alles tut, um Österreich zu einem
Bündnis gegen uns zu zwingen und nebenbei noch eines mit Frankreich zu
schließen. Doch wir werden nicht allein sein: soviel ist jetzt schon
klar. In Europa gibt es ja noch Deutschland, und Deutschland wird zu uns
halten.

Europa stehen große Umwälzungen so sonderbarer Art bevor, daß der
Verstand des Menschen sich sträubt, an sie zu glauben, und ihre
Verwirklichung für unmöglich hält, weil sie ihm viel zu phantastisch
erscheinen. Doch vieles, was man in diesem Sommer noch für phantastisch,
unmöglich und für übertrieben hielt, ereignete sich zu Ende des Jahres
in Europa buchstäblich, und die Meinung, zum Beispiel, daß die
katholische Verschwörung eine Macht habe – eine Meinung, über die _alle_
noch im Sommer zu lachen bereit waren, oder im äußersten Falle zog man
es vor, sich einer Kritik über sie zu enthalten – wird jetzt von allen
geteilt und durch Tatsachen als keineswegs übertrieben bestätigt. Ich
erwähne dies nur, damit die Leser auch meiner jetzigen „Prophezeiung“
mehr Glauben schenken und sie nicht für ein phantastisches und
übertriebenes Hirngespinst erklären.

Der einzige Politiker Europas, der mit seinem genialen Blick bis in die
Tiefe der Erscheinungen dringt, ist – Fürst Bismarck. Den
schrecklichsten Feind Deutschlands, seiner Einheit und seiner erneuten
Zukunft hat er schon vor langer Zeit, früher als alle anderen erkannt:
im römischen Katholizismus und in dem vom Katholizismus erzeugten
Ungeheuer – dem Sozialismus. Deutschland ist durchsetzt von Sozialismus.
Bismarck hält es für unumgänglich nötig, dem Katholizismus im Augenblick
der Wahl des neuen Papstes den Todesstoß zu versetzen. Oh, er weiß, daß
er den Papst nicht endgültig wird vernichten können, und daß er ihn
höchstens in eine neue Phase des Kampfes drängen wird. Denn der Kampf
des Katholizismus wird so lange fortdauern, wie Frankreich lebt. Solange
Frankreich noch lebt, hat der Katholizismus ein starkes Schwert in der
Hand und die Möglichkeit, eine europäische Koalition gegen Deutschland
zustande zu bringen. Was Frankreich anbetrifft, so ist dieses Land in
den Augen des Fürsten Bismarck freilich schon seinem Schicksal
verfallen. Für Bismarck gibt es jetzt nur noch eine Frage: Frankreich –
_oder_ Deutschland? Fällt aber Frankreich, so tritt der Katholizismus
zusammen mit dem Sozialismus in eine neue Phase seines Daseins. Während
nun die europäischen Politiker den sich hinziehenden Kampf Mac-Mahons
mit den Republikanern verfolgen und von ganzem Herzen den Republikanern
den Sieg wünschen, da sie glauben, die Republik sei in Frankreich eine
volkliche Regierung und fähig, Frankreich zu einigen, – weiß Fürst
Bismarck, daß Frankreich seine Zeit bereits überlebt hat und die
französische Nation innerlich auf ewig zerstückt ist, daß es in ihr
niemals mehr eine alle vereinende, starke und gesunde nationale
Regierung geben wird. Nun könnte allein schon diese Schwäche Frankreichs
in Deutschland große Hoffnungen erwecken; doch Fürst Bismarck weiß, ich
wiederhole es: solange Frankreich lebt, wird auch der römische
Katholizismus noch lebendig sein, – ganz abgesehen davon, daß der
Katholizismus noch einmal, und wenn auch nur auf kurze Zeit, wenn auch
nur außenpolitisch, diesem zersetzten Lande als vereinigende Idee dienen
kann. Denn anders kann es ja gar nicht kommen: _früher oder später_ wird
Frankreich – selbst wenn es Republik bleiben sollte – sein Schwert doch
für den Papst und den Katholizismus ziehen. Die Republikaner werden es
noch selbst einsehen, daß ihre Stellung in Frankreich unhaltbar werden
würde, wenn sie den Papst und den Katholizismus fallen ließen. Oder
vielleicht werden sie zu dieser Einsicht nicht fähig sein und so bis zu
ihrem Ende die Protégés des Fürsten Bismarck bleiben, – Protégés, die er
im geheimen schon zum Tode verurteilt hat, obschon sie immer noch den
Anspruch auf die Fähigkeit haben, Frankreich von neuem zu einem festen
Ganzen zu vereinigen. Ja, die französischen Republikaner sind nicht nur
Bismarcks Schützlinge, sondern auch Deutschlands Sklaven, die ganz
Frankreich an Deutschland nicht bloß zu politischer, sondern auch zu
innerer, geistiger Sklaverei ausliefern, und zwar tun sie dies, indem
sie Frankreich gerade seiner _selbständigsten_ politischen und
historischen Idee berauben, wenn sie ihrem Vaterlande jene Fahne aus der
Hand reißen, die es so viele Jahrhunderte hindurch als Vertreter des
romanischen Elements in der europäischen Menschheit hochgehalten hat.
Dafür aber werden sich diejenigen, welche die unbegabten, unnützen
Republikaner gerade deswegen stürzen wollen, unbedingt sofort bemühen –
Bismarck weiß das bereits –, zum letztenmal die katholische Fahne gegen
Deutschland zu erheben, die Fahne, an die Frankreich nicht mehr glaubt,
die _fast_ schon von der _ganzen_ Nation verneint wird, doch den
Franzosen _politisch_ noch zum letzten Vereinungs- und Stützpunkt dienen
kann gegen den verhängnisvollen (und gleichfalls letzten) Angriff des
protestantischen Deutschland, das ewig gegen die vom alten Rom geerbten
Grundsätze der ganzen westlichen Hälfte der europäischen Menschheit
protestiert und protestieren wird.

Deshalb aber hat Fürst Bismarck Frankreichs Schicksal wahrscheinlich
schon bestimmt. Das Schicksal Polens erwartet auch Frankreich, und
politisch wird es tot sein oder Deutschland müßte aufhören zu sein. Wenn
Bismarck das erreicht haben wird, dann wird er auch den kämpfenden
römischen Katholizismus – der bestimmt bis zum Ende der Welt kämpfen
wird – zwingen, in eine neue Phase des Daseins und des Kampfes um das
Dasein einzutreten, – in die Phase des unterirdischen, reptilhaften
Verschwörerkrieges. Bismarck aber erwartet ihn schon in dieser neuen
Phase. Und je früher dies geschehen wird, desto besser für ihn, denn
hier erwartet er bereits die Vereinigung beider Feinde Deutschlands und
der Menschheit, die Vereinigung des Katholizismus mit dem Sozialismus,
und hofft, sie gerade so leichter vernichten zu können, beide auf einmal
...

Man muß den Augenblick benutzen. Diese Vereinigung der beiden Feinde
wird zweifellos stattfinden, sobald Frankreich politisch gefallen ist,
denn diese beiden Feinde haben in Frankreich immer einen organischen
Zusammenhang gehabt. Der Katholizismus war fast bis zur jüngsten Zeit
Frankreichs vereinigende und wesentlichste Idee. Und aus ihr heraus ist
in Frankreich der Sozialismus entstanden. So hofft denn Fürst Bismarck,
auch dem Sozialismus einen starken Schlag zu versetzen, wenn er
Frankreichs politisches Leben vernichtet. Der Sozialismus aber als
Fortsetzung des Katholizismus und als Ausdruck Frankreichs – ist für den
echten Germanen das Verhaßteste von allem Verhaßten, und so ist es wohl
verzeihlich, daß die führenden Männer Deutschlands glauben, leicht mit
ihm fertig werden zu können, wenn sie Frankreich als seine Quelle und
Basis politisch vernichten. Doch aller Wahrscheinlichkeit nach wird
etwas ganz anderes geschehen, wenn Frankreich politisch fällt. Der
Katholizismus, der mit dem Sturze Frankreichs sein Schwert verliert,
wird sich dann zum erstenmal an das von ihm so lange verachtete Volk
wenden. Früher hatte er noch die Könige und Kaiser dieser Welt, jetzt
jedoch hat er niemanden mehr, außer dem Volk. Und so wird er sich denn
an die beweglichsten, unruhigsten Elemente desselben wenden – an die
Sozialisten. Dem Volke wird Rom sagen, daß alles, was die Sozialisten
den Menschen verkünden, schon von Christus gepredigt worden sei. Noch
einmal wird Rom Christus entstellen und diesmal an das Volk verkaufen,
so wie es ihn früher schon so oft für weltliche Herrschaft verkauft hat,
wie z. B. damals, als es für das Recht der Inquisition eintrat.
Vergessen wir nicht, daß diese Inquisition die Menschen für ihre
Gewissensfreiheit im Namen Christi folterte, – Christi, dem nur ein
freiwilliger Jünger lieb war, nicht aber ein abgekaufter oder durch
Furcht gezwungener. Und der Katholizismus verkaufte Christus, als er die
Jesuiten segnete und ihren Wahlspruch „Der Zweck heiligt das Mittel“
guthieß. Die ganze christliche Lehre hat er ja nur zum Erwerb irdischen
Gutes und zur Erlangung der erträumten Herrschaft über die ganze Welt
benutzt. Als die katholische Menschheit sich von jenem Ungeheuer, als
das ihnen Christus zu guter Letzt gezeigt wurde, abwandte, da tauchen
denn – nach einer Reihe von Jahrhunderten der Proteste und Reformationen
– zu Anfang des jetzigen Jahrhunderts Versuche auf, sich ohne Gott und
Christus einzurichten. Doch ohne den Instinkt der Bienen und Ameisen zu
haben, die sich fehlerlos ihre Stöcke und Ameisenhaufen schaffen,
wollten auch die Menschen sich in der Art der Ameisen von neuem
einrichten. Sie verstießen die von Gott herkommende und durch die
Offenbarung dem Menschen verkündete einzige Formel seiner Rettung:
„Liebe deinen Nächsten als dich selbst“, und ersetzten sie durch
praktische Folgerungen von der Art des „_Chacun pour soi et Dieu pour
tous_“, oder durch wissenschaftliche Axiome von der Art des „Kampf ums
Dasein“. Da die Menschen den Instinkt der Tiere, der diese lehrt, ihren
Staat fehlerlos einzurichten, nicht haben, verließen sie sich stolz auf
die Wissenschaft, – wobei sie natürlich ganz vergaßen, daß die
Wissenschaft einer solchen Tat, wie es die Schaffung der Gleichheit
wäre, noch längst nicht gewachsen ist, ja, im Verhältnis zu ihr
gleichsam noch in den Windeln liegt. Man baute Luftschlösser. Der
zukünftige Turm von Babel wurde einerseits zum Ideal und andererseits
zum Schreckgespenst der Menschheit. Doch nach den Träumern kamen bald
andere Lehrer, die einfach und allen verständlich ungefähr folgendes
predigten: „Zuerst die Reichen plündern, die Welt mit Blut
überschwemmen, dann aber _wird alles schon von selbst irgendwie von
neuem entstehen_!“ Schließlich ging man noch weiter: es kam die Lehre
vom Anarchismus. Wenn dieser sich einmal verwirklichen könnte, dann
würde bestimmt wieder eine Periode der Menschenfresserei eintreten, und
die Menschen wären gezwungen, alles von neuem zu beginnen, wie vor
zehntausend Jahren. Der Katholizismus begreift das alles vorzüglich und
wird es verstehen, die Führer des unterirdischen Kampfes für sich zu
gewinnen. Er wird ihnen sagen: „Ihr habt kein Zentrum, keine Ordnung in
der Führung eurer Sache, ihr seid eine über die ganze Welt verbreitete,
aber zerstückelte Kraft und seid jetzt durch den Fall Frankreichs sogar
völlig haltlos. Ich werde euch vereinigen und euch auch alle diejenigen
noch zuführen, die an mich glauben.“ Wie es auch kommen mag: eine
Einigung wird jedenfalls stattfinden. Der Katholizismus will nicht
sterben; eine soziale Revolution jedoch, eine neue soziale Periode,
stehen Europa sicher bevor: diese zwei, wenn auch verschiedenen, Kräfte
werden sich unbedingt vereinigen, die zwei Strömungen werden
ineinanderfließen müssen. Selbstverständlich wäre für den Katholizismus
Zerstörung, Blutvergießen, Plünderung, ja selbst die Menschenfresserei
sehr vorteilhaft. Kann er doch hoffen, gerade dann im trüben Wasser noch
einmal seinen Fisch zu fangen: im rechten Augenblick, wenn die gequälte
Menschheit sich ihm wieder in die Arme wirft, von neuem der
„unumschränkte Alleinherrscher und die einzige Autorität dieser Welt“ zu
werden und somit endgültig sein Ziel zu erreichen. Dieses Zukunftsbild
ist leider – keine Phantasie. Ich bin fest überzeugt, daß es im Westen
schon von vielen gesehen wird, und wahrscheinlich sieht man es auch in
Deutschland. Doch die Führer des deutschen Volkes täuschen sich bloß in
einem: in der Leichtigkeit, die beiden furchtbaren und dann bereits
vereinten Feinde zu besiegen. Sie hoffen auf die Kraft des erneuten
Deutschland, auf seinen protestantischen, gegen das alte und neue Rom,
gegen Roms Grundsätze und deren _Folgen_ protestierenden Geist. Doch
nicht sie werden das Ungeheuer zum Stehen bringen: stellen und besiegen
wird es nur der wiedervereinte Osten durch das neue Wort, das er der
Menschheit bringen wird.

In _jedem Fall_ aber ist eines klar: Deutschland hat uns sogar weit
_nötiger_, als wir denken. Denn Deutschland braucht uns nicht zu einem
zeitweiligen politischen, sondern zu einem _ewigen_ Bündnis. Die Idee
des wiedervereinten Deutschland ist groß und stolz und reicht hinab bis
in die Tiefe der Jahrhunderte. Doch was will denn Deutschland mit uns
teilen? Die ganze westliche Menschheit ist sein Objekt, die ganze
westliche Welt Europas hat es für sich bestimmt: statt der römischen und
romanischen Idee soll hier die germanische die Führung übernehmen. Uns
aber, Rußland, überläßt es den Osten. Zwei großen Völkern, uns und ihm,
ist es bestimmt, das Angesicht der ganzen Welt zu verändern. Das ist
kein menschliches Hirngespinst, das ist kein menschlicher Ehrgeiz, der
sich das erdacht: so setzt sich die Welt selbst auseinander. Neue und
sonderbare Fakta tauchen auf und bestätigen es von Tag zu Tag. Als man
bei uns vom Besitze Konstantinopels noch nicht einmal zu träumen wagte,
sprachen die deutschen Zeitungen von der Besetzung Konstantinopels durch
uns Russen schon wie von einer ganz selbstverständlichen Sache. Das ist
beinahe sonderbar im Vergleich zu den früheren Beziehungen Deutschlands
zu uns. Man kann annehmen, daß die Freundschaft Rußlands zu Deutschland
aufrichtig und stark ist, und daß diese Freundschaft mehr und mehr im
Volksbewußtsein beider Nationen erstarken wird. Infolgedessen aber ist
für Rußland noch keine Zeit zur endgültigen Entscheidung der Orientfrage
so günstig gewesen wie gerade die gegenwärtige. In Deutschland wartet
man auf die Beendung des Krieges vielleicht noch ungeduldiger als bei
uns. Und doch kann man jetzt noch nichts voraussagen, und wäre es auch
nur auf drei Monate. Werden wir den Krieg noch vor den letzten und
schicksalsschweren Umwälzungen in Europa beenden? Alles dies ist noch
ungewiß. Doch ob wir Deutschland noch werden zu Hilfe eilen können oder
nicht, jedenfalls rechnet Deutschland auf uns nicht als zeitweiligen,
sondern als _ewigen_ Bundesgenossen. Was aber die Gegenwart anbetrifft,
so kann man nur sagen, daß der Schlüssel zur Katastrophe in Frankreich
und in der Wahl des neuen Papstes liegt. So kann denn der jetzt schon so
gut wie sichere Zusammenstoß Deutschlands mit Frankreich bald erfolgen,
besonders da England sich die größte Mühe gibt, sie aufeinander zu
hetzen, und dann auch Österreich das Seine dazu beitragen wird ...

Auf jeden Fall muß Rußland diesen günstigen Augenblick benutzen, denn
wir wissen nicht, wie lange er noch währen wird. Solange die jetzigen
großen Führer Deutschlands noch am Ruder sind, ist die Zeit für uns
wahrscheinlich am günstigsten ...



                             Vierter Teil.

                                 Asien


                             Die Asienfrage


                         Was ist Asien für uns?

Geok-Tepe, die Festung der Achal Teke, ist erstürmt! Die Tekinzen sind
geschlagen, und wenn sie sich uns auch noch nicht ganz unterworfen
haben, so ist doch unser Sieg gewiß![50]

Die Gesellschaft und die Presse sind wieder einmal stolz ... Doch wie
lange ist es denn her, daß sich diese wie jene noch vollkommen
gleichgültig zu unseren transkaspischen Angelegenheiten verhielten? War
das nicht, wenn ich mich recht erinnere, noch vor kurzem, noch nach dem
ersten Mißerfolge General Lomakins, und sogar noch zu Anfang der
Vorbereitungen zum zweiten Angriff?

„Was suchen wir dort, was schert uns dieses Asien?“ hieß es damals.
„Wieviel Geld ist dafür verschwendet worden, während bei uns Hungersnot
und Diphtheritis herrschen und Schulen gebaut werden müssen!“

Natürlich waren längst nicht alle derselben Meinung – o nein! Doch
trotzdem laßt es sich nicht leugnen, daß es eine Zeit gab, in der sich
sogar sehr viele zu unserer Offensivpolitik in Asien feindselig
verhielten. Allerdings trug die Ungewißheit der unternommenen Expedition
manches zu dieser Feindseligkeit bei. Aber trotz alledem kann man nicht
sagen, daß unsere Gesellschaft sich unserer Mission in Asien klar bewußt
sei, noch dessen, was Asien überhaupt für uns bedeutet oder in Zukunft
bedeuten wird. Die meisten europäischen Russen sehen auf unser
russisches Asien – auch Sibirien einbegriffen – immer noch wie auf
irgendein Anhängsel, an das man am liebsten überhaupt nicht denkt. „Wir
sind Europäer,“ heißt es, „was sollen wir in Asien machen?“ oder: „Ach,
dieses ewige Asien! Wir können ja nicht einmal in Europa Ordnung
schaffen, da lädt man uns nun zum Überfluß auch noch Asien auf den Hals!
Ach was, – schütteln wir es einfach ab!“ Diese Auffassung wird selbst
jetzt noch von unseren „Klugen“ geteilt (die haben sie natürlich nur von
ihrem allzu großen Verstande) ...

Der Sieg Skobeleffs wird in ganz Asien, selbst in seinen weltfernsten
Winkeln, Widerhall finden. „Also hat sich wieder ein wildes und stolzes
mohammedanisches Volk dem weißen Zaren unterworfen,“ werden jetzt die
asiatischen Völker denken. Möge das Echo unseres Sieges über ganz Asien
hallen, bis nach Indien hin! Möge es in diesen Millionen von Menschen
den Glauben an die Unbesiegbarkeit des weißen Zaren verstärken! Auf
diesem Wege können wir nicht mehr stehenbleiben. Diese Völker können
ihre Chans und Emire behalten, in ihrer Phantasie mag England, dessen
Macht sie in Erstaunen setzt, als drohende Wolke fortbestehen, – doch
der Name des weißen Zaren muß über den Chans und Emiren stehen, muß über
dem der Kaiserin von Indien leuchten, ja sogar über dem des Kalifen. Der
weiße Zar ist Zar auch des Kalifen. Diese und keine andere Überzeugung
muß dort Wurzel schlagen! Und das geschieht ja auch schon von Jahr zu
Jahr immer mehr, und das ist es, was not tut, denn es bereitet die
Zukunft vor und gewöhnt jene Völker an das Unvermeidliche.

„Was für eine Zukunft? Worin besteht die Notwendigkeit, Asien uns
einzuverleiben? Was sollen wir denn in Asien tun?“

„Es ist eine Notwendigkeit, weil Rußland nicht nur in Europa liegt,
sondern auch in Asien, weil der Russe nicht nur Europäer, sondern auch
Asiate ist. Weil in Asien vielleicht noch mehr unserer Hoffnungen liegen
als in Europa. Und das ist noch nicht alles: in unserem zukünftigen
Schicksal wird gerade Asien unser Ausweg sein!“

Ich fühle schon im voraus den Unwillen, mit dem viele meine rückständige
Anschauung lesen werden; – für mich aber ist das Gesagte bereits ein
Axiom. Ja, wenn es eine wichtige kranke Wurzel bei uns gibt, eine, die
man um jeden Preis heilen muß, so ist das gerade unsre Auffassung von
Asien. Wir müssen die knechtische Furcht, Europa könnte uns asiatische
Barbaren nennen und von uns sagen, wir seien überhaupt noch nicht
Europäer geworden, doch endlich einmal überwinden. Diese Angst vor der
„Schande“, Europa könnte uns vielleicht doch für Asiaten halten,
verfolgt uns ja fast schon zweihundert Jahre lang. Doch in diesem
neunzehnten Jahrhundert hat diese Scham sich in uns noch ganz besonders
verstärkt: sie ist beinahe schon in Panik ausgeartet. Diese falsche
Scham und falsche Selbstbeurteilung, wenn wir uns ausschließlich für
Europäer halten und nicht auch für Asiaten (die zu sein wir nie
aufgehört haben), sind uns in diesen letzten zwei Jahrhunderten teuer,
sehr teuer zu stehen gekommen: wir haben ihretwegen unsere geistige
Selbständigkeit eingebüßt und sie mit unserer mißlungenen europäischen
Politik bezahlt, und schließlich noch mit Geld, und Geld, und Geld, das,
Gott weiß wieviel, dafür verschwendet worden ist, nur um Europa zu
beweisen, daß wir ausschließlich Europäer seien und keineswegs Asiaten
... Aber der Vorstoß Peters nach Europa ist denn doch zu stark gewesen,
wenn er am Anfang auch notwendig und erlösend war, und so tragen
eigentlich nicht wir die Schuld an unserer schiefen Stellung. Was haben
wir nicht alles getan, damit Europa uns als die _Seinigen_ anerkenne,
als Europäer, als _Nur_-Europäer und _Nicht-Tataren_! Allstündlich und
unermüdlich sind wir hingelaufen und haben uns immer wieder aufdringlich
angeboten. Bald haben wir Europa durch unsere Kraft erschreckt, unsere
Heere hingeschickt, um die „Könige zu retten“; bald wiederum haben wir
uns vor ihm gebeugt und geschworen, unsere einzige Aufgabe sei, nur ihm,
Europa, zu dienen und es glücklich zu machen! Als wir 1812 Napoleon
vertrieben hatten, versöhnten wir uns nachher nicht mit ihm, wie es
damals einige kluge und einsichtsvolle Russen rieten und wünschten,
sondern rückten in geschlossenen Reihen weiter, um Europa zu beglücken,
da wir es nun einmal von dem großen Thronräuber befreit hatten. Das gab
natürlich ein schönes Bild ab: auf der einen Seite stand der Despot und
Räuber, auf der anderen – der Friedensstifter und Befreier. Doch unser
politisches Glück lag damals durchaus nicht in diesem Bilde, sondern
wäre anderswo zu finden gewesen. Dieser Räuber war nämlich gerade zu der
Zeit, zum ersten Male während seiner ganzen Laufbahn, in einer solchen
Lage, daß er sich aufrichtig und fest mit uns verbündet haben würde.
Unter der Bedingung, ihn in Europa nicht zu stören, hätte er uns den
Orient überlassen, und unsere heutige Orientfrage – das Unglück und das
drohende Gewitter unserer Gegenwart und Zukunft – wäre jetzt schon
längst abgetan. Der Usurpator hat es später selbst gesagt und hat
bestimmt nicht nachträglich gelogen; denn er hätte wahrlich nichts
Klügeres tun können, als auch hinfort mit uns verbündet zu bleiben, –
unter der Bedingung, wie gesagt, daß wir für den Osten ihm den Westen
überließen. Die europäischen Völker waren damals noch viel zu schwach,
um uns im Orient zu stören; selbst England hätte es nicht gekonnt.
Napoleon wäre später vielleicht gestürzt oder, wenn nicht er, dann nach
seinem Tode seine Dynastie; der Orient aber wäre uns verblieben, und wir
hätten jetzt das Meer und könnten England auch zur See entgegentreten.
Wir aber gaben alles hin für dieses schöne lebende Bild! Und was war die
Folge? Alle diese von uns befreiten Völker blickten sofort, noch bevor
sie Napoleon gänzlich geschlagen hatten, mißgünstig und mit den
gehässigsten Verdächtigungen auf uns. Auf den Kongressen verbündeten sie
sich alle gegen uns und nahmen alles für sich, uns aber ließen sie
nichts, und außerdem zwangen sie uns noch zu Versprechungen, die für
Rußland selbst nur nachteilig waren. Und trotz dieser erhaltenen Lehre,
– was haben wir in all den folgenden Jahren des Jahrhunderts und noch
bis auf den heutigen Tag getan? Haben wir nicht zur Verstärkung der
deutschen Mächte noch beigetragen? Haben wir nicht ihre Kraft so
anwachsen lassen, daß sie jetzt vielleicht mächtiger sind als wir
selbst? Es ist wirklich nicht übertrieben, wenn man sagt, daß wir ihr
Wachstum und ihre Stärke gefördert haben. Sind wir nicht auf ihren Ruf
hingegangen, um ihre Zwietracht beizulegen, haben wir nicht ihren Rücken
geschützt, wenn ihnen Gefahr drohte? Und siehe – waren es nicht gerade
sie, die uns in den Rücken fielen, als _uns_ Gefahr drohte, und wollten
sie uns nicht in den Rücken fallen, als eine andere Gefahr sich uns
näherte? Und die Folge ist, daß jetzt jeder in Europa, jede Rasse, jede
Nation einen Stein für uns in der Tasche bereit hält und nur auf den
ersten Anlaß wartet, um ihn auf uns zu schleudern. Was haben wir also
von den Europäern dadurch erworben, daß wir ihnen so oft gedient? – Nur
ihren Haß!

Warum nur haßt uns Europa so sehr, warum können die Menschen dort nicht
ein für allemal Zutrauen zu uns fassen und uns glauben, daß wir ihre
Freunde und Diener sind, ihre guten, treuen Diener? Und daß sogar unsere
ganze europäische Bestimmung nur ist: Europa und seiner Wohlfahrt zu
dienen. Oder wenn das vielleicht auch nicht ganz stimmen sollte, so
haben wir doch das ganze Jahrhundert hindurch danach gehandelt. Haben
wir denn etwas für uns getan, etwas für uns erstrebt? Alles doch nur für
Europa, immer nur für Europa! ... Nein, sie können kein Zutrauen zu uns
fassen! Warum nicht? – Weil es ihnen unmöglich ist, uns als
_Ihresgleichen_ anzuerkennen.

Niemals und für keinen Preis werden sie es glauben, daß wir fähig sind,
zusammen mit ihnen und auf ihrer Höhe an der ferneren Entwicklung der
Kultur mitzuwirken. Sie sagen, wir seien unfähig, ihre Kultur zu
begreifen, seien Fremdlinge in Europa, Namensusurpatoren. Sie nennen uns
Diebe, die ihre Bildung stehlen und sich mit ihren Kleidern schmücken.
Türken und Semiten stehen ihrem Herzen näher als wir Arier. All dieses
hat nun natürlich einen gewichtigen Grund: wir tragen eine ganz
besondere Idee, eine andere als sie, in die Menschheit – das ist die
Ursache! Und das tun wir – trotz der krampfhaften Versicherungen unserer
„russischen Europäer“ in Europa, daß es bei uns überhaupt keine
besondere Idee gebe, und es auch weiterhin keine geben werde, daß
Rußland überhaupt nicht fähig sei, eine eigene Idee zu haben, sondern
höchstens nachahmen könne, und es dabei auch bleiben werde, also beim
Nachahmen, und daß wir keineswegs Asiaten oder Barbaren seien, sondern
durchaus ganz so wie sie – „Europäer“. Europa jedoch glaubt unseren
„russischen Europäern“ _wenigstens dieses eine nicht_. Was dies
anbetrifft, so stimmt es in seinen Schlüssen eher mit den Slawophilen
überein, obgleich es die letzteren höchstens vom Hörensagen kennt, oder
selbst das nicht einmal. Diese Übereinstimmung besteht in folgendem:
Europa glaubt, ganz wie die Slawophilen, daß wir eine „Idee“ haben, eine
eigene, besondere und nicht europäische Idee, und daß Rußland fähig sei,
eine Idee zu haben. Vom Wesen dieser Idee weiß Europa natürlich noch
nichts, – denn wenn es etwas von ihm wüßte, würde es sich sofort
beruhigen, ja sogar freuen. Doch einmal wird es unsere Idee bestimmt
kennen lernen, und zwar gerade in dem Augenblick, wenn seine kritische
Zeit anbricht. Jetzt jedoch traut uns Europa noch nicht; indem es uns
überhaupt eine Idee zugesteht, fürchtet es sie bereits. Und schließlich:
wir erregen in den Europäern doch nur Ekel, sogar persönlichen Ekel,
obgleich man dort zuweilen auch höflich gegen uns ist. Man gibt dort
gerne zu, daß die russische Wissenschaft, so jung sie sei, doch schon
mehrere bemerkenswerte Vertreter aufzuweisen hat, sowie mehrere gute
Arbeiten, die sogar ihrer europäischen Wissenschaft zustatten gekommen
sind. Doch um nichts in der Welt würde uns Europa jetzt glauben, daß bei
uns in Rußland nicht nur Arbeiter in der Wissenschaft – sogar sehr
begabte – geboren werden können, sondern auch Genies, Führer der
Menschheit, von der Art der europäischen! Daran werden die Europäer
niemals glauben, denn sie können doch nicht _uns_ Kulturfähigkeit
zugestehen, und von unserer aufsteigenden Idee wissen sie ja noch
nichts. Nach den Tatsachen zu urteilen, haben sie ja schließlich auch
recht; denn ganz gewiß werden wir weder einen Bacon, noch einen Newton,
noch einen Kant hervorbringen, so lange wir uns nicht „gerade“ auf den
Weg stellen und geistig selbständig werden. Was das übrige betrifft, so
ist es dasselbe – in der Kunst, wie im Gewerbe: Europa ist bereit, uns
zu loben, uns wie einem braven Jungen den Kopf zu streicheln, doch als
die Seinigen erkennt es uns nicht an, o nein! Dazu verachtet es uns
innerlich und äußerlich viel zu sehr! Es hält uns für niedriger als
Menschen, niedriger als Rasse, und zuweilen flößen wir ihm sogar Ekel
ein, Ekel im allgemeinen – und Ekel im besonderen, wenn wir uns mit
brüderlichen Küssen ihm an den Hals werfen.

Es ist schwer, sich von dem Fenster nach Europa, das Peter für uns
durchbrochen hat, abzuwenden – das ist nun einmal unser Verhängnis.
Indessen ist aber Asien ... – Ja, das kann doch tatsächlich unsere
Rettung sein! Wenn sich bei uns nur ein etwas richtigeres Verständnis
für Asien, für diese Idee „Asien“ durchsetzen würde, welch eine große
nationale Wurzel würde dann gesunden! Asien, unser asiatisches Rußland
–, das ist ja gleichfalls eine unserer kranken Wurzeln, eine, die man
nicht nur pflegen, nein, die man ganz ausgraben und von neuem pflanzen
muß! Ein Prinzip, ein neues Prinzip, eine neue Anschauung – das ist es,
was uns not tut!


                          Fragen und Antworten

„Ja, aber warum denn, wozu?“ höre ich gereizte Stimmen fragen. „Asien
kostet uns sowieso schon viel verlorenes Geld und ununterbrochen
Militär. Und wo ist denn dort Industrie? Und wo findet man dort Abnehmer
für unsere Waren? Und da verlangen Sie nun, aus unbekannten Gründen, wir
sollen uns auf ewig von Europa abwenden!“

„Nicht auf ewig, nur zeitweilig und auch nicht ganz; wir würden uns doch
nicht losreißen können, selbst wenn wir es wollten. Wir dürfen Europa
nicht ganz verlassen. Aber das ist auch durchaus nicht nötig. Europa ist
und bleibt ‚das Land der heiligen Wunder‘ – wie es der eifrigste
Slawophile benannt hat. Europa ist uns gleichfalls eine Mutter, wir
haben viel von ihr genommen und werden noch vieles von ihr nehmen, und
wir wollen doch nicht undankbar sein. Ich habe einmal über die; große
zukünftige Bedeutung des russischen Volkes für Europa – meine
Überzeugung – einige Worte im vorigen Jahr zur Puschkinfeier in Moskau
gesagt, und man hat mich dafür später mit Schmutz und Schimpf beworfen,
und sogar diejenigen haben es getan, die mich damals für meine Worte
umarmten – ganz, als ob ich etwas Schmutziges, Gemeines begangen hätte,
als ich mein Wort sagte.

Doch vielleicht wird man dieses Wort nicht vergessen. Übrigens, lassen
wir das ruhen. Wir haben nichtsdestoweniger das Recht, für unseren
Auszug aus Ägypten Sorge zu tragen; denn wir selbst haben uns aus Europa
gewissermaßen ein geistiges Ägypten gemacht.“

„Erlauben Sie mal! Wodurch kann uns denn Asien selbständig machen? Wir
können dort höchstens asiatisch einschlafen, nicht aber selbständig
werden!“

„Sehen Sie, durch die Wendung nach Asien und durch unsere neue
Auffassung dieses Landes kann mit uns vielleicht dasselbe geschehen, was
zum Beispiel mit Europa geschah, als Amerika entdeckt wurde. Denn genau
genommen ist Asien für uns dieses selbe von uns bisher noch nicht
entdeckte damalige Amerika. Mit der Strömung nach Asien wird sich unser
Geist wieder erheben und werden sich unsere Kräfte wieder stärken. Sind
wir erst selbständiger geworden, so werden wir auch sofort wissen, was
wir zu tun haben; in und mit Europa aber haben wir uns in zweihundert
Jahren nur von jeglicher Arbeit entwöhnt und sind zu Schwätzern und
Faulenzern geworden.“

„Na, wie wollen Sie uns dann bis nach Asien bringen, wenn wir Faulenzer
sind? Und wer wird denn von uns hingehen, selbst wenn man es so sicher
wie zweimal zwei beweisen könnte, daß dort unser Glück liegt?“

„In Europa waren wir aus Gnade und Barmherzigkeit aufgenommen, waren wir
Sklaven; nach Asien aber kommen wir als Herren. In Europa waren wir
Tataren, in Asien aber sind auch wir Europäer. Unsere Mission, unsere
zivilisatorische Mission in Asien, wird unseren Geist verlocken und uns
dorthin ziehen, wenn nur erst einmal die Bewegung angefangen hat. Baut
nur zwei Eisenbahnen, beginnt nur mit dem Bau, – eine nach Sibirien und
die andere nach Mittelasien, und ihr werdet euch von den Folgen
überzeugen können.“

„Haha, Sie wollen wirklich wenig!“ ist die Antwort, und man lacht mich
aus. „Woher die Mittel dazu nehmen, und was bringt uns das ein: Unkosten
und Verlust und weiter nichts.“

„Wenn wir in den letzten fünfundzwanzig Jahren im ganzen nur drei
Millionen jährlich für diese Bahnen zurückgelegt hätten – und drei
Millionen jährlich gleiten uns so manches Mal für nichts und wieder
nichts aus den Fingern –, so wäre jetzt schon für fünfundsiebzig
Millionen Eisenbahn in Asien gebaut, also ungefähr tausend Werst –
mindestens! Sie sprechen von Verlust. Oh, wenn in Rußland an unserer
Stelle Engländer oder Amerikaner lebten: die würden Ihnen diesen
‚Verlust‘ schon beweisen! Die hätten schon längst unser Amerika
entdeckt! Wissen Sie auch, daß es dort Länder gibt, die uns weniger
bekannt sind als das Innere Afrikas? Und wissen wir denn, was für
Reichtümer im Schoße dieser unermeßlichen Länder verborgen liegen? Oh,
die Engländer und Amerikaner, die würden schon alles hervorkratzen,
Metalle und Mineralien und unzählige Steinkohlenlager, – alles würden
sie finden, alles aufsuchen! Und die würden auch schon wissen, wie das
Material zu gebrauchen ist, und wozu es sich verwenden läßt. Sie würden
die Wissenschaft hinrufen und die Erde zwingen, fünfzigmal zu gebären, –
diese selbe Erde, von der wir hier glauben, daß sie eine wie unsere
Handfläche nackte Steppe sei. Zu dem erworbenen Brote würden die
Menschen hinziehen und Gewerbe und Industrie mitbringen. Und um Abnehmer
und den Weg zu ihnen braucht man sich nicht zu beunruhigen! – die würden
sie auch dort in den Eingeweiden Asiens, wo sie jetzt noch zu Millionen
schlafen, finden – und sie würden neue Wege zu ihnen bauen!“

„Wie, Sie singen das Lob der Wissenschaft und bereden uns doch zur
Abwendung von der Wissenschaft und Bildung, indem Sie uns auffordern,
Asiaten zu werden!?“

„Aber dort wird ja noch mehr Wissenschaft nötig sein! – Was sind wir
jetzt in der Wissenschaft anderes als Laien und Dilettanten? Dort aber
werden wir Schöpfer sein. Die Not wird uns zwingen zu schaffen und wird
uns zu allem geschickt machen, sobald sich erst nur ein wenig
selbständiger, unternehmender Geist erhebt! – So werden wir auch in der
Wissenschaft Meister sein und nicht nur ewig verehrende Jünger, wie wir
es bis jetzt sind. Doch das Wichtigste: unsere zivilisatorische Mission
in Asien wird – das unterliegt keinem Zweifel – vom ersten Schritte an
von uns verstanden werden, und sie wird uns begeistern. Sie wird unseren
Mut erheben, sie wird uns Würde und Selbstbewußtsein geben – die aber
hat jetzt keiner von uns, oder höchstens wenige nur ein wenig. Der Zug
nach Asien würde außerdem, wenn er bei uns erst einmal anfangen wollte,
für unzählige unruhige Geister ein Ausweg sein, für alle Sehnsüchtigen,
alle Gelangweilten, alle grundlos Faulen, alle grundlos Müden. Baut nur
einen Abzug für das Wasser, und der Schimmel und Gestank werden von
selbst verschwinden. Ist aber die Sache erst einmal im Gange, dann wird
sich schon niemand mehr langweilen, alle werden sich verändern. Sogar
mancher Unfähige mit verwundetem, quälendem Stolz würde dort seine
Erlösung finden. Wie oft haben wir es erlebt – besonders in den
europäischen Kolonien –, daß Menschen, die an einem Ort die Unfähigkeit
selber waren, am anderen sich womöglich als Genies erwiesen ... Rußland
wird deshalb nicht zur Wüste werden, das braucht ihr wahrlich nicht zu
fürchten. Zuerst werden nur wenige hingehen, doch bald werden
Nachrichten von ihnen zurückkommen und wieder neue Menschen hinziehen.
Und doch wird es in dem russischen Meere unbemerkbar sein. Zieht die
Fliege auf dem Honigseim und richtet ihr ein wenig die Flügel zurecht!
Es wird ja nur ein ganz geringer Prozentsatz der Bevölkerung hinziehen;
man wird es hier nicht einmal merken, daß wir Asien bevölkern. Dort
aber, – Gott, wie man es dort merken wird! Wo sich in Asien ein Russe
niederläßt, dort wird auch das Land gleich russisch. Es würde ein neues
Rußland entstehen, ein Rußland, das mit der Zeit das alte erneuen und
ihm seinen Weg weisen und erklären könnte. Zu all dem gehört aber ein
neues Prinzip und der Entschluß zur Umkehr. Und am allerwenigsten
braucht es dazu großen Lärmes und großer Erschütterungen. Möge man nur
ein wenig begreifen – aber auch wirklich begreifen –, daß in Zukunft
Asien unser Ausweg sein wird, daß dort unsere Reichtümer liegen, daß wir
dort den Ozean haben. Wenn in Europa der erniedrigende Kommunismus
eingeführt sein wird, wenn sie sich dort alle zuhauf um einen Herd
versammeln und mit der Zeit die einzelnen Haushaltungen auflösen und
alle in Kommunen leben, wenn dort die Kinder in Erziehungsanstalten
aufwachsen – drei Viertel von ihnen als Ausgesetzte –, dann wird bei uns
noch überall Weite und Licht sein, Wiesen und Wälder und weiter
Horizont; und unsere Kinder werden von den eigenen Vätern erzogen
werden, nicht in steinernen Massen, sondern zwischen Gärten und
Saatfeldern, und werden über sich noch den klaren Himmel schauen. Ja,
viele unserer Hoffnungen liegen dort, und unbegrenzte Möglichkeiten, von
denen wir uns hier überhaupt noch keinen Begriff machen können! Nicht
nur Gold allein liegt dort verborgen. Doch zuerst tut ein neues Prinzip
not! Haben wir erst das, dann werden wir auch das zur Sache nötige Geld
haben. Wozu sollen wir, und besonders jetzt, in Europa, sagen wir, so
viel Gesandtschaften mit so teuerem Aufwand, mit ihrem feinen Esprit und
ihren noch feineren Diners, mit so zahlreichem, überflüssigem Personal
unterhalten? Und was gehen uns denn – besonders jetzt – alle Gambettas
an und der Papst samt dem ihn erwartenden Schicksal, und ob er auch noch
so sehr von Bismarck bedrängt wird!? Wäre es nicht besser, zeitweilig
sich diesem Europa ärmer zu zeigen, sich an den Weg zu setzen und die
Kopeken in die Mütze zu sammeln? – ‚_La Russie se recueille_‘ würde es
dann heißen – und währenddessen sich zu Hause zu sammeln, sich innerlich
vorzubereiten? ...“

„Wozu sich denn erniedrigen?“ wird man fragen.

„Das täten wir ja gar nicht, ich habe das mit der Mütze doch nur
allegorisch gemeint. Nein, wir würden uns nicht erniedrigen, sondern uns
mit einem Schlage erhöhen, ja, so würde es sein! Europa ist schlau und
klug und würde uns sofort durchschauen und, glaubt mir, würde uns sofort
auch achten! Unsere Selbständigkeit würde zuerst natürlich stutzig
machen, doch würde sie teilweise auch gefallen. Wenn Europa jedoch
sieht, daß wir uns entschlossen haben, uns nach der Decke zu strecken,
und daß auch wir sparsam zu sein verstehen und unseren Rubel selbst
hüten und schätzen und ihn nicht mehr aus Papier machen, so wird auch
Europa unseren Rubel auf seinen Märkten sofort höher bewerten. Und wenn
die Europäer gar sehen, daß wir selbst Defizite und Bankerotte nicht
fürchten, vielmehr unentwegt auf unser festes Ziel zuschreiten, so
werden sie von selbst zu uns kommen, um uns ihr Geld anzubieten, – und
sie werden es dann wie ernsten Menschen anbieten, wie Leuten, die ihre
Sache gelernt haben und schon wissen, wie man etwas anfassen muß ...“

„Erlauben Sie ...“ unterbricht mich eine Stimme, „Sie sprachen da von
Gambetta. Wir können doch unmöglich dort alles im Stich lassen! Nehmen
wir allein die Orientfrage: die bleibt doch bestehen, und wie sollen wir
sie denn nun plötzlich aufgeben?“

„In betreff der Orientfrage würde ich jetzt, in unserer Zeit, folgendes
sagen: so, wie die Dinge heute nun einmal liegen, findet sich in den
politischen Sphären vielleicht kein einziger, der es als
selbstverständlich zugeben würde, daß Konstantinopel unser werden muß –
außer vielleicht in ferner, dunkler Zukunft einmal. Worauf sollen wir
also noch warten? Das ganze Wesen der Orientfrage ist augenblicklich im
Bündnis Deutschlands mit Österreich enthalten, und außerdem noch in der
türkischen Beute, die Österreich mit Bismarcks Genehmigung einstecken
will. Wir können und werden natürlich dagegen protestieren, in
irgendeinem, sagen wir, äußersten Fall; doch so lange, wie diese beiden
Nationen zusammen sind, – was können wir da ohne große Gefahr für uns
tun? Und eines nicht zu vergessen: die Verbündeten warten vielleicht nur
darauf, daß wir endlich in Zorn geraten. Die slawischen Völker können
wir wie immer beschützen und lieben, und wenn es nottut, können wir
ihnen auch, so viel wie in unseren Kräften steht, helfen. Zudem werden
sie in nächster Zeit wohl nicht allzu große Gefahr laufen, unterzugehen.
Und wer weiß, ob diesem Zustande nicht sowieso bald ein Ende bereitet
wird? Wenn wir zeigen, daß wir nicht mehr Lust haben, uns wie früher in
Europa einzumischen, so werden sie sich dort, ohne uns, alle
wahrscheinlich noch früher in den Haaren liegen. Denn nie und nimmer
wird Österreich glauben, daß Deutschland es einzig wegen seiner schönen
Augen dermaßen liebgewonnen habe. Es weiß sogar ganz genau, daß
Deutschland zu guter Letzt doch die österreichischen Deutschen sich
einstecken will. Österreich jedoch wird um nichts in der Welt auf seine
Deutschen verzichten wollen, bewahre! – selbst dann nicht, wenn man ihm
als Ersatz für sie Konstantinopel geben würde, – dermaßen hoch schätzt
es sie! Somit wäre Grund zum Streit bereits genügend vorhanden. Und dann
haben unsere Nachbarn immer noch diese unentschiedene französische Frage
zu bewältigen, die jetzt für Deutschland vielleicht schon zur ‚ewigen‘
geworden ist. Und dann kann es noch geschehen, daß sich plötzlich selbst
die ganze Einigung Deutschlands als nicht nur unvollendet erweist,
sondern tatsächlich ins Wanken gerät. Und dann könnte es sich womöglich
noch erweisen, daß der europäische Sozialismus immer drohender wird.
Kurz, wir brauchen nur abzuwarten und uns nicht einzumischen, auch
nicht, wenn sie uns rufen, und dann – wenn dort der Streit ausbricht und
ihr ‚politisches Gleichgewicht‘ erzittert – dann mit einem Schlage auch
unsere ganze Orientfrage erledigen, den richtigen Augenblick wählen und
einfach erklären: ‚Wir wollen die österreichischen Aneignungen in der
Türkei nicht anerkennen‘, und die Aneignungen werden verschwinden,
vielleicht sogar mit Österreich zusammen ...

Nun, und dann werden wir schon wieder einholen, was wir zeitweilig
scheinbar versäumt haben ...“

„Aber England? Sie vergessen England? Unser Zug nach Asien würde es
fraglos sofort beunruhigen.“

„‚Wer England fürchtet, – der bleibe zu Haus‘ könnte auch ein Sprichwort
sein. Und was würde denn England so besonders beunruhigen? Was unsere
Absichten für die Zukunft betrifft, so erwartet es von uns doch sowieso
das Allerschlimmste. Wenn es dagegen den wahren Charakter unserer
Absichten in Asien begriffe, würde es wahrscheinlich viele seiner
Befürchtungen aufgeben ... Übrigens, ich gebe zu, daß es sie nicht
aufgeben würde. Doch wie gesagt: ‚wer England fürchtet, – der bleibe zu
Haus!‘ Und darum nochmals: Es lebe der Sieg von Geok-Tepe! Hoch
Skobeleff und seine Soldaten! Und ewiger Ruhm den Helden, die dort
gefallen sind!“



                                Fußnoten


[1] Tag des Attentats auf den Zaren Alexander II. E. K. R.

[2] Peter der Große. Ausdruck Puschkins. E. K. R.

[3] Von Dostojewski veröffentlicht im September 1873. E. K. R.

[4] Henri von Bourbon, Graf von Chambord, letzter Sproß der älteren
bourbonischen Linie, geb. 1820, gest. 1883, Prätendent auf den
französischen Thron nach dem Sturz Napoleons III. E. K. R.

[5] Französischer klerikaler Schriftsteller, seit 1848 Chefredakteur des
„Univers“, dem obiges Zitat entnommen ist. E. K. R.

[6] Der Graf von Chambord hatte dadurch, daß er die Gewährleistung einer
Verfassung ablehnte, selbst seine Thronbesteigung unmöglich gemacht. E.
K. R.

[7] Auf das Schreiben Pius’ IX. an Wilhelm I., in dem der erstere in den
Kulturkampf eingreifen wollte und die ganze Christenheit für sich in
Anspruch nahm, hatte letzterer bekanntlich geantwortet, er lehne als
Protestant im Namen seiner Vorfahren und dem des größten Teiles seiner
Untertanen jegliche Einmischung des Papstes als Anmaßung ab. E. K. R.

[8] Von Dostojewski veröffentlicht im März 1876. E. K. R.

[9] Von Dostojewski veröffentlicht im Januar 1877. E. K. R.

[10] Gemeint sind die Kämpfe der Balkanslawen gegen die Türkei im Jahre
1876, die unter begeisterter Anteilnahme des ganzen russischen Volkes
geschahen und im Jahre 1877 dann auch um Eingreifen Rußlands und zum
Ausbruch des Russisch-Türkischen Krieges führten. E. K. R.

[11] Von Dostojewski veröffentlicht im Mai 1877. E. K. R.

[12] Im Original gesperrt gedruckt. E. K. R.

[13] Von Dostojewski veröffentlicht im September 1877. E. K. R.

[14] Von Dostojewski veröffentlicht im September 1877. E. K. R.

[15] vgl. S. 88 Forts. „Das schwarze Heer.“ E. K. R.

[16] Von Dostojewski veröffentlicht im September 1877. E. K. R.

[17] Von Dostojewski veröffentlicht im Februar 1876. E. K. R.

[18] Russischer Mönch, lebte im 12. Jahrhundert in Kiew, Begründer des
russischen Mönchtums, Verfasser von Predigten. E. K. R.

[19] Russischer Bischof, Zeitgenosse Peters des Großen, dessen Reformen
er billigte, gleichfalls Verfasser von Predigten, die im russischen
Volke sehr beliebt sind. E. K. R.

[20] Von Dostojewski im April 1876 veröffentlicht, als die Möglichkeit
eines neuen russisch-türkischen Krieges zum ersten Male festere Gestalt
annahm. E. K. R.

[21] Von Dostojewski veröffentlicht im Juni 1876. E. K. R.

[22] Kritiker (1811 bis 1848). Bahnbrecher einer westeuropäisch,
atheistisch und sozialistisch gefärbten russischen Literatur- und
Gesellschaftsauffassung. E. K. R.

[23] Großfürst von Moskau (von 1462 bis 1505), heiratete 1472 Sophie
Paläolog, die letzte byzantinische Prinzessin. E. K. R.

[24] Von Dostojewski veröffentlicht im Januar 1877. E. K. R.

[25] Russischer General, kämpfte 1876 mit den Serben unglücklich gegen
die Türken. E. K. R.

[26] 1675–1826, Historiker und Schriftsteller. E. K. R.

[27] Held eines sehr bekannten Romanes von Turgenjeff. E. K. R.

[28] Von Dostojewski veröffentlicht im Februar 1877. E. K. R.

[29] Gestalt in einem Gedicht von Nekrassoff. E. K. R.

[30] Von Dostojewski veröffentlicht im Mai 1877. E. K. R.

[31] Karamsin schrieb damals seine „Briefe eines russischen Reisenden“.
E. K. R.

[32] Von Dostojewski veröffentlicht im Oktober 1877. E. K. R.

[33] Von Dostojewski veröffentlicht im Januar 1881. E. K. R.

[34] Anspielung auf die russischen Westler und einen ihrer damaligen
Lieblingsaufenthaltsorte. E. K. R.

[35] Stundisten = lutheranisierende Sekte im Süden Rußlands, wo die
protestantischen Pastoren der deutschen Kolonisten für die russischen
Bauern „Bibelstunden“ eingeführt hatten. Daher die Benennung
„Stundisten“. E. K. R.

[36] Von Dostojewski veröffentlicht im Januar 1881. E. K. R.

[37] Von Dostojewski veröffentlicht im März 1877. E. K. R.

[38] Die Grundidee der Bourgeoisie, die am Ende des vorigen Jahrhunderts
die frühere Weltanschauung ersetzt hat und jetzt zur Hauptidee unseres
Jahrhunderts in der ganzen europäischen Welt geworden ist. Anmerkung von
F. M. Dostojewski.

[39] In Rußland wird das zu einem Dorf gehörige Land von der
Dorfbewohnerschaft gemeinsam zu gemeinsamem Nutzen bearbeitet. E. K. R.

[40] Von Dostojewski veröffentlicht im Juli 1876. E. K. R.

[41] Von Dostojewski veröffentlicht im März 1877. E. K. R.

[42] Siehe den Aufsatz „Utopische Geschichtsauffassung“. Seite 191. E.
K. R.

[43] Im Jahre 1483 durch Iwan III., Großfürsten von Moskau. E. K. R.

[44] Die Lichtgestalt unter den Helden der russischen Volkssagen. E. K.
R.

[45] Gemeint ist der Krimkrieg (1853–1856), dessen Veranlassung die
Weigerung des Sultans war, Rußland als Protektor der griechischen Kirche
in der Türkei anzuerkennen. E. K. R.

[46] Von Dostojewski veröffentlicht im April 1877. E. K. R.

[47] Von Dostojewski veröffentlicht im September 1877. E. K. R.

[48] Von Dostojewski veröffentlicht im September 1877. E. K. R.

[49] 1822–1885. Slawophiler Schriftsteller. E. K. R.

[50] Von Dostojewski veröffentlicht im Januar 1881 gelegentlich der
Siege Skobeleffs in Mittelasien. E. K. R.


                     Anmerkungen zur Transkription

Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen
Fassung der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren Auflagen und
Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde transkribiert
nach:

                  F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke.
                   Zweite Abteilung: Dreizehnter Band
                          Politische Schriften
                 R. Piper & Co. Verlag, München, 1917.
                             Zweite Auflage
                           3. bis 5. Tausend

Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen
Werke“ vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den
ursprünglichen Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr,
Copyright, Auflage usw. sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt
nach der Titelseite eingefügt.

Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt.

Das Inhaltsverzeichnis wurde an den Anfang des Bandes verschoben.
Inhaltsverzeichnis und Überschriften im Text wurden harmonisiert.

Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen
(„“) eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von
Gesprächen wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen.

Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: Der
Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben
„ja“. Die Schreibweise häufig vorkommender Namen wurde vereinheitlicht
(nicht verwendete Varianten in Klammern):

   Mac-Mahon (Mac Mahon)

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
Änderungen, teilweise unter Zuhilfenahme anderer Auflagen oder des
russischen Originaltextes, sind hier aufgeführt (vorher/nachher):

   [S. 435]:
   ... in diesem Gegenstand eurer Liebe ein Lüge, irgend ...
   ... in diesem Gegenstand eurer Liebe eine Lüge, irgend ...

   [S. 451]:
   ... Blick, lächte darauf ein wenig ironisch, zuckte die ...
   ... Blick, lächelte darauf ein wenig ironisch, zuckte die ...




*** End of this LibraryBlog Digital Book "Sämtliche Werke 13: Politische Schriften" ***

Copyright 2023 LibraryBlog. All rights reserved.



Home