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Title: Spitzbögen
Author: Kolb, Annette
Language: English
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                               SPITZBÖGEN


                                  VON
                              ANNETTE KOLB

                        MIT ELF ZEICHNUNGEN VON
                            RUDOLF GROSSMANN


                                  1925
                      S. FISCHER · VERLAG · BERLIN


                        Erste und zweite Auflage
                        Alle Rechte vorbehalten
           Copyright 1925 by S. Fischer Verlag A.-G., Berlin



                               SPITZBÖGEN



Es gibt Leute, die mit Recht oder Unrecht im Rufe stehen, daß sie
Unglück bringen. So war Offenbach als „Brandstifter“ berühmt, und sein
Verweilen in einem Hause galt als Signal für eine Feuersbrunst.

Daß aber auch Städte sich dem einzelnen feindselig erweisen können,
dürften die wenigsten noch erfahren oder bemerkt haben. Nun, _mein_
Jettadore war Florenz. In was für Klemmen ich dort geriet, was für
Schlingen dort jedesmal für mich bereit lagen, spottet jeglicher
Erfindung. Ach und überhaupt – Italien! – Wer vermöchte es einesteils
nicht zu lieben? – Aber die Ebene von Mailand, aber die seelische Kälte
der italienischen Mietswohnungen, ihre tiefe Ungemütlichkeit und
rudimentäre Öde, aber gewisse Häuser der Armen, die uns mit ihren
hohläugigen Fenstern wie Pestkranke ansehen!

Und dann schneiden so manche italienische Landschaften ins Herz. Fiesole
zum Beispiel, mit seinem verklärten Ausblick – so holdselig, aber so
abgeschieden, so vorbei! – Beklommenen Herzens blickte ich eines Morgens
auf diese laue, in ihrer durchsichtigen Bläue zärtlich berückende Natur,
und stärker noch empfand ich unter dem wolkenlosen Himmel die stille
Schärfe der Zypressen. Gewiß, es ist ein schönes Land! aber schön ist
auch der Anblick des unter der Fülle von Blumen fast verschwindenden
Sarges, daß kaum ein Beschlag, kaum eine Kante desselben sichtbar wird.
– So trauerte dort mein Auge und sehnte sich von diesem Bilde fort. Und
nur mehr die Straße hinabsehend, fing ich plötzlich an zu laufen; – und
ich lief, als gälte es dieser Gegend wie einem Gewölbe zu entfliehen,
und nicht zu rasten, als bis ich wieder zu unseren Flüssen und Brücken,
unseren lebendigen Wäldern gelangte. Denn Leopardis Seele war mir auf
jenem Hügel aufgegangen. Ja, solche Klagen mußten sich ihr entringen,
ein so herbes Echo mußte dies blühende, von Glanz und Duft umwobene Land
erwecken, das in seiner stillen Morbidezza zwischen dem Hades und der
Erde eingeschoben scheint. Die Einflüsse der Landschaft sind es ja
sicherlich, mehr noch als die des Klimas, die gleichsam spiegelnd die
Linien unserer Sinnesart und unseres geistigen Umkreises ziehen. So
verhält sich Leopardis Pessimismus zu dem seines Zeitgenossen
Schopenhauer wie der untröstliche Zypressenhain zum tiefen Tannenwald,
aus dessen Düsterkeit wir Stärkung noch und Hoffnung schöpfen.

Ich bitte indes nicht zu vergessen, daß ich den Berg hinunter laufe. So
mag es hingehen, daß ich so weit von meinem Thema abgekommen bin. Denn
ich wollte meine florentiner Mißgeschicke erzählen. Aber eine so
radikale Sprunghaftigkeit kann mit einer sehr bestimmten Einheitlichkeit
des Gedankens zusammenhängen; – ich meine, es käme auf eine Probe an.

Oder dürfen wir einen Gedanken nennen, was mehr wie ein Verdacht, wie
eine Hoffnung in uns schlummert? An manch schönen, wertvollen Dingen mag
einer vorübergehen, da vernimmt er, was ihm eine Botschaft bedeutet, und
gierig greift er es auf.

Immer noch laufe ich indes meinen italienischen Berg hinab. San Domenico
liegt schon hinter mir. Ich komme jetzt nach San Gervasio und bin dann
gleich in Florenz. Somit wäre die Einheit des Ortes wieder hergestellt
und ich könnte von neuem beginnen.



                             Erstes Kapitel


Nein, noch nicht. Wir müssen vorher noch einmal abzweigen. Es gibt kaum
eine Stadt, die einen so weiten Umkreis zieht. Wenn einer viele Stunden
ginge, vom frühen Morgen bis in den Abend hinein, immer wäre es noch das
holdselige Florenz. Villen, die von fernen Hügeln herunterschauen,
zwischen Abhängen versteckte Weiler, sie nennen sich noch Florenz. Wo
die Straße zweimal einen runden Kreis beschreibt und Pinien einen
zackigen Bau, halb Schlößchen, halb Klause schirmen, dort habe ich bei
einer Hexe gewohnt.

Wie? –

Aber warum nicht? Man sieht doch jetzt Geister erscheinen,
materialisierte Hände in der Luft entstehen, Blumen oder Reiterstiefel
aus dem Nichts in die Welt hineinwerfen. Was sollte da eine Hexe so
Wunderliches sein? Wie oft sah ich nachts zum Fenster hinaus, ob sie
nicht durch den Schornstein fuhr. Nicht mager, sondern ein Gerippe, war
ihre Brust eine Höhle, ihre Achseln eine Gruft. Sie hatte mich im Norden
eingefangen, und waghalsig, wie man in früher Jugend ist, war ich ihr
gefolgt. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, ein Buch über Musik zu
schreiben, und brauchte jemanden, der ihr abends all die Dinge
vorspielte, welche sie dann morgens, gleich nach dem Frühstück, schnell
in Literatur umsetzte. Es war ihre Art, musikalisch zu sein. Nun stand
mein Talent zum Vom-Blatt-Spielen zu meiner lückenhaften Schulung ganz
außer Verhältnis. Dies war just, was sie suchte. Unser Pakt war also
folgender: ich sollte nur für meine Reise aufkommen, ihr vierzehn Tage
lang allabendlich vorspielen, dafür bei ihr wohnen und Florenz sehen
können. Dieser Punkt wurde auch ganz geschäftsmäßig auf ihr Konto
gesetzt. Zwar, wie sollte man es anstellen, in Florenz Florenz nicht
sehen zu können, aber ich willigte ein. Florence vaut bien une sorcière,
dachte ich. So fuhr ich hin.

Aber leider lebte sie gar nicht in Florenz, sondern von der Piazza del
Duomo bis zu ihrer Mulde, die ganz ohne Verbindung lag und zu der keine
Straßenbahn, kein Gleis führte, hatte man geschlagene zwei Stunden zu
gehen. Nun herrschte sie allerdings über einen verhexten Schimmel und
ein Gefährt, das sie stets selbst kutschierte, aber Pferd und Wagen
standen nicht im Kontrakt, und sie bot mir niemals an, mit ihr zu
fahren.



                            Zweites Kapitel


Geist besaß sie ganz entschieden, aber die englische Spinster neigt
ohnedies zur Verdünnung und nie, schien mir, war eine so unbarmherzig
unter die Räder geraten, an keiner hatte sich die klassische Drohung,
von der uns Plato berichtet, so drastisch erfüllt, wie an der Hexe des
florentinischen Tales. Denn nicht nur, heißt es, hätten uns die Götter
dereinst gespalten, daß wir, statt über vier Beine und vier Arme zu
verfügen, auf die Hälfte unseres ursprünglichen Seins angewiesen wurden,
sondern es könne wohl geschehen, daß die also beraubte und reduzierte
Kreatur nicht mehr aus Übermut zwar, aber aus Mangel und Sehnsucht
heraus sich zum Schöpfer erhebe und von neuem die Götter reize. Und
diese in ihrem Zorn würden sie zum zweiten Male spalten, daß sie, zur
Profilgestalt geschwunden und nach Art der Zikaden dahinhüpfend, ihr
dürftiges Dasein verlebe.

Am frühen Nachmittag lenkte sie – die Finger um den Knauf der Peitsche
gekrallt – ihr leeres Gefährt nach der Stadt, und die unleibhafte Figur
mit der schiefen, gewölbten Schulter, dem scheinbar nur profilierten
Kopf, ragte gar spukhaft über das Pferd, das alsbald mit unheimlicher
Willenlosigkeit, ja wie entsetzt, zum Tore hinauslief. Ich folgte zu Fuß
den Weg hinab, den sie voranzog, und ihr nachsehend war ich es
zufrieden, daß sie mich nicht einlud, so wenig lockte mich ihre Nähe.
Aber das gealterte Jahr kehrte schon seine bleichsten, müdesten Tage ans
Licht, und die Dunkelheit überraschte mich oft mitten auf der Straße,
die sich in glatten Schleifen so lange hinzog. Sie war einsam genug. Die
wenigen verstreuten Bauernhäuser kehrten ihre Fenster scheu der Bergwand
zu und tauchten unter, bis es wieder tagte. Aber die dunkle Leere, der
frische Abendwind, die Einsamkeit dieses Tales war so hold; ich dachte
an unsere nordischen Berge; wie schroff und finster sie sich des Nachts
wider den Wanderer zusammenschlossen! Wie beschwichtigend dagegen
umschatteten sie ihn hier! Es lag etwas Schweifendes, weit Umfassendes
in der florentinischen Nacht, das bei Tag verflachte; etwas so
Beseeltes, daß es wie kleine Flügel an meinen Sohlen hing. Oder war es
die Freude, im Dunkeln die Gegend zu durchstreifen und die Welt so ganz
allein für sich zu haben, niemanden, der sie mit einem teilte noch durch
seine Begleitung störte? Es war so neu! Aber die Hexe hatte mir
verraten, wie sicher die Wege hier seien, und mir von der engelsgleichen
Bevölkerung, die hier lebte, erzählt. Vielleicht hätte ich mich auf
einer deutschen Landstraße im Finstern gefürchtet. Wer weiß? ich hatte
es nie erprobt. Es war mir nie gestattet gewesen. Hier aber fühlte man
sich so ungefährdet. Merkwürdig, wie man das fühlt, dachte ich. Denn
nichts lassen sich sehr junge Menschen schneller suggerieren, als den
Glauben an die Ungefährlichkeit aller Dinge: ja in ihrer bereitwilligen
Unerschrockenheit liegt etwas, das sie sozusagen an den Rand der Welt
hinaus verweist, als gehörten sie infolge ihrer Unerfahrenheit nicht
recht in sie hinein.

So kehrte ich jetzt nie mehr vor Abend zurück. Um die Teezeit hatte die
Hexe nicht selten Besuch. Doch als ich da anfangs erschien, hungernd
nach anderen Gesichtern, verhehlte sie mir nicht, daß sie meine
Gegenwart verwünschte. Die Leute, die mich hier trafen, schienen
überrascht, zeigten mir aber ein Entgegenkommen und ein Interesse, das
vielleicht auch Neugierde war. Auch mochte der Kontrast so großer Jugend
sie rühren. Einmal war die schöne Frau Coroughdeen gekommen, die mich zu
sich lud, als wüßte sie schon von mir. Aber ich wagte nicht sie
aufzusuchen, denn die Hexe schien zu glauben, diese Einladung sei nur
als Höflichkeit für sie selber gemeint. So machte ich mich jetzt schon
früh auf den Weg, um ihren Anblick zu fliehen und kam erst am späten
Nachmittag zurück. Ihr Speisesaal hatte vier Fenster, und im Tageslicht
von allen Seiten unerbittlich beleuchtet war sie entsetzlich. Ach! wie
trugen sich ihre trostlosen Umrisse über Treppen und Gänge ein und waren
vom Garten unzertrennlich. Nein; es half nichts bei Tage, von ihr
wegzusehen. Ich gab es auf, legte die Gabel hin und faßte sie ins Auge,
da es doch kein Entrinnen gab. Abends hatte man doch die dunklen Wände
und den Kerzenschein, in dem man – von ihr weg – entgeistert starren
konnte, während man mit ihr sprach. Ja sie liebte das. Ich war noch viel
zu harten Herzens, um zu würdigen, wie bitter sie selbst den
ausgreifenden Bannkreis ihrer Häßlichkeit empfand. Die Eisfelder von
Labrador wehten keine wehere Kälte aus als diese einsame Kreatur, und
ich war zu leichtsinnig, um zu bedenken, wie sehr ich sie durch meine
Abneigung reizte.

Meinen eingegangenen Verpflichtungen kam ich übrigens sehr gewissenhaft
nach und spielte ihr allabendlich auf einem erträglichen Flügel, solange
sie nur wollte. Ich tat es mit Vergnügen, wenn auch denkbar
dilettantisch und zerstreut. Ein richtiger Musiker hätte mich vor
Ungeduld geschüttelt. Die Hexe aber merkte nichts und ich frönte ihr
gegenüber jenem Hochmut, den sich der Deutsche in Dingen der Musik
gestattet. Damals trug ich mich allen Ernstes mit der wilden Idee,
dereinst als geniale Dirigentin die Welt an der Spitze eines Orchesters
zu überraschen. Zwar bereitete ich mich auf diesen glorreichen Moment
nicht anders vor, als daß ich, auf jenes imaginäre Talent mich berufend,
das Klavier geringschätzte! Dafür malte ich mir immer wieder und mit
besonderem Feuer aus, wie ich eines Tages das Publikum in atemlosem
Banne halten und mein Orchester zu fliegend stürmischen, trommelnden
Taten hinreißen würde. Je weniger die Wirklichkeit mich befriedigte, je
mehr Zeit verlor ich mit solch nichtigen Träumen.

Eines Abends auf dem Heimweg phantasierte ich wieder so lebhaft über
dieses Thema, daß ich unwillkürlich den Arm ausstreckte, als hielte er
schon den Stab über das Heer der Musiker geschwungen. Ich ergoß Ströme
tönenden Goldes in eine vor Schweigen knisternde Luft, beschwingte sie,
blies sie bis zur Trunkenheit an. So etwas hatte noch kein Publikum
erlebt. Es fehlte nicht viel, daß es vor Entzücken anfing zu tanzen.
Einige begannen heimlich zu fliegen. Als ich den Taktstock hinlegte,
entstand ein unheimliches Geheul der Begeisterung. Man stürmte das
Podium. Ich sah, ich hörte noch den Jubel der entfesselten Scharen, aber
ich konnte nicht mehr zur Wirklichkeit zurück. Plötzlich sah man mich
schwanken. Ich brach zusammen. Ich war tot.

                   *       *       *       *       *

Ein kalter Wind, der vom Apennin herüberblies, riß mich aus dem
imaginären Konzertsaal ins Freie und zur Ernüchterung zurück. Ich
stolperte mit staubigen Füßen über ein paar Steine: und ich war müde.
Zur Erholung überdachte ich nun, wie gut ich es tags zuvor der Hexe
herausgegeben hatte, als sie mich auszuholen suchte für ihr dummes Buch.
Was schöner sei: eine Symphonie oder ein Quartett, hatte die gelehrte
Heuschrecke mich gefragt; und ich war stolz-ärgerlich um den Flügel
herumgegangen. Was schöner sei: ein Porträt oder eine Landschaft, hatte
ich sie zur Antwort schnippisch gefragt und alsbald wieder zu spielen
angefangen, zum Zeichen, daß ich nicht zu diskutieren wünschte. Denn,
hatte sie keinen Platz für mich in ihrem leeren Wagen, so gedachte auch
ich kein übriges zu tun. Wie sie mich haßte! Aber noch zwölf Tage ...
Inmitten der dunkelnden Leere wurden da in der Ferne Schritte
vernehmbar. Sie belebten irgendwie diese weite Stille. So war man doch
nicht ganz allein. – Ja noch zwölf Tage und die drei Wochen waren
vorüber und unser Pakt gelöst. Welches Glück! Wie bezaubernd war doch
das Leben! Und Hoffnungen und Illusionen beflügelten meinen Gang.

Der Takt der fernen Schritte wurde deutlicher, und unwillkürlich ging
ich auch ein wenig strammer. Man aß sehr pünktlich zu Abend bei der
Hexe. Sie warf sich dann stets in ein schwarzes Damastkleid von sehr
gesuchtem Schnitt und über ihre ungleichmäßige Rückenlinie ergoß eine
Watteaufalte ihren Schwall. Umsonst. – Sie hing ihr wie das gewölbte
Wappen eines stilisierten Drachen an. Und was half sie mit einer Krause
dem kranken Oval des Gesichtes auf? es glich doch höchstens einem
gesottenen, halb ausgelaufenen Ei.

Klapp, trapp, klangen die Schritte jetzt heller zu mir her. Konnten sie
sich denn so schnell genähert haben? Es war wohl der Wind, der sie
herübertrug, wie den Schrei der Lokomotive, der so unterschiedlich, bald
so nahe, bald weit weg zu uns Kindern herüberdrang, während jenes
Sommers im Gebirge, als wir dicht vor unseren Fenstern die Eisenbahn
achtmal des Tages in einen Tunnel eindringen sahen und nie müde wurden,
ihr aufzupassen und auf den grausigen kurzen Pfiff zu warten, mit dem
sie sich jedesmal in die schwarze Wölbung einließ. Es war so lustig
gewesen, und der Pfiff klang oft so anders – oft kläglich wie ein
Hilfeschrei, je nachdem die Luft ihn trug, wie jene Schritte her, wie
die meinigen hin. Die meinigen? – O Gott! an welcher Sturmglocke riß
dieser Gedanke so jäh, welcher Aufruhr erhob sich in meinem Innern – so
neu –, nur Bilder können es sagen – wie ein Orkan, der Staub und Blätter
dahinfegt, so wirbelte er die sorglose Leere meines Innern auf, und
kehrte ein ganz anderes Ich hervor, das ich selbst nicht kannte ...,
denn aus welch verborgener Zelle, o Gott! stammten die Requisiten des
argwöhnischen, uralten und wissenden Weibes, dem tausend Augen im Kopfe
saßen wie einem Tier, und in dem nichts lebendig war und nichts
vorhanden und nichts entfacht als eine wütende und namenlose Furcht,
dessen Sein sich nur mehr auf den Takt jener Schritte bezog und dessen
sonstige Identität erlosch. Nur eine Minute vielleicht und die Schritte
würden mich überholen; dennoch stand ich still, denn die Unhörbarkeit
der meinigen war das einzig Gebotene, nichts andres tat not auf dem
Höllenpfad, auf den ich mich mit einem Male gewiesen sah – fort von der
blumigen Au jugendlicher Weltunkenntnis. So stand ich still. Aber
brannten da meine Augen wie Scheinwerfer in ihren Höhlen, daß sie Dinge
beleuchteten, welche das Dunkel begrub: unkenntliche Holzlatten jenseits
der Straße, zu einem Viereck umrissen, – aufgeschüttetes Laub, fast eine
Hütte. Schnell wie eine Kugel flog ich da über den schmalen Graben zu
ihr hin, und dort zu Boden gestürzt sah ich aufblickend zum ersten Male,
ja wie zum ersten Male, einen mondlosen Himmel, der die Erde in seinem
Schoße zu halten schien, und sah diese Erde als leichten Ball um ihre
eigene Achse im Weltall fliegen. Doch nur einen schwindelnden Augenblick
lang durfte das Bewußtsein rasten, und zugleich mit ihm setzte ein
Innehalten meines Herzens ein, daß es still und schwer wie eine
zersprungene Glocke in mir lastete. Denn alles hat ja ausgesetzt, und es
gab für mich nichts mehr als diesen Himmel über mir und die hastig
schlürfenden Schritte, die jetzt innehielten, als horche hier einer, wo
denn die meinigen blieben; – vorüber alles andere, alle Ketten gelöst,
die mich in diese Welt eingliederten und alle Abkunft von mir genommen.
Nur mein Ich, oder ich weiß nicht welch losgelöster Bestandteil meines
Ichs, schoß da wie eine Schlange zum Himmel auf; und er schien mir mit
einem Male wie beengt von all den Sternen, die so neugierig, fast böse
aus seinen Tiefen stachen. Wie ließe sich’s beschreiben, daß hier ein
Körnchen Staub, ein Atom, das einen Moment lang zu einem Schein von
Leben sich entfachen durfte und wie ein armseliger Leuchtkäfer an den
faulen Balken dieser Hütte hing, die Folgenschwere eigener Geschicke an
diesem unendlichen, still kreisenden Himmel zu messen wagte, als hingen
sie mit seiner Ordnung irgendwie zusammen? Denn nicht anders forderte
ich ihn da heraus, hielt ich ihm vor, daß seine rätselhaften Sterne
nicht aus ihrer Bahn geschleudert, nicht als wilde Fackeln der
göttlichen und unbegreiflichen Harmonie zum Chaos entbrennen durften –
und hielt eiserne Arme emporgerichtet, nicht etwa flehend, sondern mit
jener Intensität ohnegleichen, die einer Beschwörungsformel die
hinreißende Kraft verleiht. Aber sie entrangen sich einem totenstillen
Herzen, dessen Last nicht länger auszuhalten war, und zugleich schienen
die Schritte, von welchen mich keine Entfernung, nur noch die Finsternis
trennte, die Luft bis ans Ende der Erde mit ihrem Gedröhn zu erfüllen. –

Und wie diese Schritte inmitten der Stille zuerst entstanden und dann
vernehmbarer geworden und sich genähert – wie sie innegehalten und dann
sich beschleunigt hatten, so fingen sie jetzt an, vorüber zu gehen, so
entfernten sie sich, so verhallten sie jetzt – so trug sie der Wind noch
einmal deutlicher her.

Ich sah mich verwundert um wie mitten am Tage. Schon begriff ich das
ganze dramatische Aufgebot nicht mehr recht, mit welchem mich die Angst
so wild und unvermittelt gegen diese Hütte geschleudert hatte, noch die
elementare Wucht, mit der sie wie ein Wagnersches Orchester einsetzend
ein Zaubergestrüpp um mich zog, das zugleich mit ihm so spurlos
entschwand. Ja ich schüttelte den Gedanken daran ab, und wollte im
Augenblick den ganzen Vorgang für eingebildet erachten, so stark war die
Reaktion. Über den Graben zurückspringend, ging ich wieder meinen
einsamen Weg. Schon rauschte mir jetzt das Flüßchen zwischen den Bäumen
beschwichtigend entgegen, und von der Anhöhe herab grüßten die ersten
Lichter der kleinen Ortschaft.



                            Drittes Kapitel


Der Vorgang wurde erst wieder real, als ich etwas später als
allabendlich am Flügel saß. Die Hexe hatte ein Konzert von Mozart auf
das Pult gelegt und hörte stirnrunzelnd, mit drangsalierter,
angestrengter Miene zu. Über die Noten hin sah ich sie nach einer Weile
einen kühn gespitzten Bleistift hervorziehen, um ihre grauen,
abenteuerlichen Hirngespinste über den liebenswürdigsten Genius zu
vermerken. Es war grotesk, zu weit weg jedoch von aller Heiterkeit, um
komisch zu sein. Das Zimmer lag zu ebener Erde und mit einem Male
rauschte ein schwerer Regen darnieder. Konnte es sein, daß man sich hier
auf demselben Planeten befand, auf dem ein Wien und ein Salzburg stand?
Und nicht einmal fern! Zurück über die Alpen nach Rosenheim, oder man
stieg in Franzensfeste um und fuhr durchs Pustertal hin ...

Ich war durch die ausgestandene Emotion noch so stark in Schwingung
begriffen, daß sich mein geistiges Auge unversehens schärfen durfte. Es
sah, erfaßte, erriet, möchte ich fast sagen, zum ersten Male Mozart als
Phänomen, seine Gestalt im Raum, Geste und Wesen, alles in der Bewegung
und im Relief, aber mitten in der Luftschicht damaliger Zeit und alles
mit der Gewalt, der Plötzlichkeit des Erdstoßes. Es war ein Divinieren,
dessen tiefe Schauer mich von allem Nichtigen und aller Unaufmerksamkeit
befreiten. Jeder Takt offenbarte sich mir neu, ich drang verwundert wie
zwischen Säulen in mystische Hallen vor, oft betretene, die ich doch gar
nicht kannte, hinein in eine Welt, in der das Unsichtbare Form und Farbe
gewann, und die in ihrer Entrücktheit so leugbar und doch so vorhanden,
o so viel vorhandener war als die Stunde, die gerade schlug!

Die Hexe merkte keinen Unterschied in meinem Spiel. Sie hatte schon
viele Seiten vollgekritzelt; im Kamin zerfielen die verglühten Scheite
und die Kerzen waren herabgebrannt. Plötzlich hob sich da auch die
Flamme der auf dem Weg ausgestandenen Furcht. Der schon angezweifelte,
schon fast verworfne Vorgang motivierte sich, wurde ernst und
majestätisch, wie der gestirnte Himmel, unter dem er sich begab.

„Denken Sie, ich habe mich heute auf dem Heimweg gefürchtet,“ sagte ich,
als ich den Flügel schloß. Sie hob ihren kleinen Drachenkopf und sah
mich teilnahmlos an. Man konnte sich nicht vergegenwärtigen, daß sie
jemals ein Kind oder jung gewesen war, noch Vater und Mutter besessen
hatte. Der Blick, den sie mir zuwarf, schüchterte mich ein. „Es war
gewiß töricht,“ sagte ich. „Allerdings,“ erwiderte sie kalt. Sie mußte
es wissen; lebte sie doch seit vielen Jahren in dieser Gegend und war
mit ihr verwachsen. Italien, die Renaissance waren für sie das letzte
Wort – Toskana und seine Hügel die Endstation der Schöpfung. Sie
gebärdete sich selbst so gut es ging als Italienerin; nannte ihre
Mädchen Cara, den Gärtner Caro, aß, lebte, wohnte à l’italienne, plagte
ihr Pferd und litt keinen Hund.

Mit jedem Tage haßte ich sie mehr.

„Es ist spät,“ sagte sie.

Wir traten zusammen auf den Vorplatz. Hier blies die Zugluft von allen
Seiten durch die lockeren Flügel der Haustüre herein. Der Regen
prasselte auf das Dach und die Steinfliesen zeigten schon feuchte
Stellen. Ich stieg müde und schweigsam die Treppe hinter der Hexe hinauf
und schützte meine flackernde Kerze.

„Ich traf heute in den Uffizien Frau Coroughdeen,“ sagte ich; „sie
fragte mich, warum ich denn nicht zu ihr kommen wollte.“

„Oh!“ Das ärgert sie! dachte ich froh.

Aber so leicht zog sie den kürzeren nicht.

„Mary Coroughdeen ist eine schöne, eine sehr schöne Frau,“ entschied sie
mit schaler Unparteilichkeit und einem literatenhaften Unterton. „Sie
ist sehr umringt und interessiert sich nicht für junge Mädchen.“

„Ja aber sie war es doch ...“

„Es ist natürlich,“ unterbrach sie mich, während ihre Halskrause ins
Beben geriet, „daß sie Ihnen freundlich begegnete, da Sie unter meinem
Dache sind.“

Wir standen uns jetzt vor meiner Türe gegenüber. Sie hielt ihre Augen
auf mich gerichtet, und wie immer fingen sich ihre Worte in ihren
langen, kränklichen Vorderzähnen.

„Hat Mrs. Coroughdeen einen Tag mit Ihnen ausgemacht?“

„Nein,“ gestand ich.

„Nein! – in der Tat“ – und ihre Krause rührte sich nicht mehr. – „Es
steht ganz bei Ihnen, auf eine so unformulierte Einladung hin die Dame
mit Ihrem Besuch zu überraschen. Ich möchte Sie um so weniger daran
hindern, als ich diejenige bin, welche für Ihre faux pas – oder
eventuellen Zudringlichkeiten – allein verantwortlich gemacht würde.
Denn Sie selbst sind noch zu jung!“

Zornig errötend wollte ich etwas entgegnen, aber so schnell bog sie da
in den Gang ein, der zu ihren Zimmern führte, daß ich nur mehr die
Watteaufalte sah, die sich über den unsicheren, gespenstigen Rücken
wölbte.



                            Viertes Kapitel


Am nächsten Morgen war der Himmel so rein und licht, nach allen
Richtungen sah man nur seine sonnige Bläue, als könne er sich gar keiner
Stürme entsinnen, als schiene er über eine ungetrübte und unsterbliche
Welt, und als seien alle ihre Grausamkeiten, ihre Morde und ihre
Schiffbrüche und ihre zerrissenen Herzen ephemer; so tilgte er sie; so
stellte er leuchtend alles wieder her. Ich bin der Himmel, ich bin blau!
lachte, tröstete er.

Doch ich ging traurig meine Florentinische Straße, die in weiten
Schleifen und so einsam den Hügeln entlang zog. Mir galt sie nichts,
diese Sonne. Den Gram der Jugend lindert sie nicht. Unter ihren
Lockungen verschärft er sich nur, und richtet sich heftiger auf.

Wo nur hatte ich den Mut genommen, erwartungsvoll zu bleiben? Wie war es
meiner Freundin Amarant von Binnenlöhr gegangen, der zum Glück
Berufenen? Aber vielleicht war es so, daß die Menschen wie die Monate
des Jahres gewissen Jahreszeiten unterstehen. Wie auch die jüngsten
Bäume sich im Herbst entlauben müssen, so hatte sich der frostige Tod
über meine Freundin Amarant geworfen und ihrer langen Wimpern nicht
geachtet, sondern sie hingemäht wie einen Greis. Nie war ein Verdacht,
eine Witterung in uns gewesen, sie könnte eine Gezeichnete sein. Dies
war der Fehler. Denn wie Metalle den Blitz anziehen, so streben die
Begebenheiten einzuschlagen, wo kein Argwohn entgegenwirkt ... So war
Amarants Roman unermüdlich ausgesponnen worden, und nicht einen von uns
hatten je diese knospenden Augen, diese frischen Zähne, diese
schimmernde Haut an die Möglichkeit ihres nahen Todes gemahnt.

Hatte ich ihn schon vergessen? – sie war dahin, aber meine Wünsche und
Hoffnungen tangierte dies nicht, und für mich beanspruchte ich nach wie
vor das Glück. Ja, für mich sollte es einherrauschen und überfließen,
war auch Amarant dahin.

Glaubte ich dies wirklich! Ach nein! – Nicht der Vision des
durchsichtigen Baches, noch des Vergißmeinnichtes, das tauumfeuchtet im
Waldesschatten seine blauen Bänke wie holde Schrecken zieht, noch des
mächtigen Gartens, in welchem nur die kleinen edlen Vögel zu finden
sind, weil ihn die Nachtigallen jährlich übervölkern und dessen
reichgekrönte, von Putten so belebte Balustraden, dessen Statuen uns
ergreifen und dessen Rosenbeete, dessen Rosenstauden von den Strahlen
des hohen Springbrunnens weithin verschleiert stehen – nein, nicht von
solchen Bildern war mein Leben überhangen. Weitab von ihnen würde meine
Straße ziehen, leer abbiegen, wo sie sich nur zeigten, mein ganzes Leben
würde werden wie diese Reise: Enttäuschung und Verdruß.

Daß ich San Gervasio um eine Sekunde zu spät erreichte, bestärkte mich
noch in dem Glauben, denn Schlüsse, mörderische wie gute, konnte ich
ziehen wie keine. Der kleine elektrische Zug fuhr gerade davon. Da stand
ich also und sah zu den Türmen und der magischen Kuppel des Domes
hinüber. Hinter mir rollte ein Wagen; ich wich ihm nicht aus. Mein
durchwühltes Herz war in eine wilde Senkung geraten. Doch die Pferde
trabten fröhlich abseits, das flockige Weiß eines seidenen
Sonnenschirmes hob und senkte sich, darunter ein Lachen so abgetönt, so
leicht umflort, so unbeschwert, daß ich den Trübsinn, dem ich noch eben
frönte, weit zurückwies und mich seiner schämte. Denn Frau Coroughdeen
war es, die ihre großen Augen verwundert auf mich richtete und die
Pferde halten ließ. Ihr Wagen war es, in den ich sprang und einen
Augenblick später den Hügel von Fiesole hinauffuhr. Matt wie
angehauchtes Silber rückte die profilierte Stadt von neuem in die Ferne.
Auch in mir war alles licht und blau geworden und konnte sich keiner
Stürme mehr entsinnen, als wäre alle Not und alle Trübsal eintägig. So
tilgte sie ein einziger Freudenstrahl in meinem freudegierigen Gemüt und
stellte alles wieder her. War auch Amarant dahin ...



                            Fünftes Kapitel


Eine Stunde später saß ich in der geschützten Loggia einer Villa, die am
höchsten Plateau von Fiesole hinter Pinien und Tannen ungesehen die
Gegend übersah. Die schöne Mary, ihr Bruder, sommerlich gekleidet, und
ein junges Ehepaar umringten mich und hörten mir zu.

Denn ich erzählte. Und ein Vogel, der Haft entronnen, schmettert auf
seinem Ast nicht unentwegter darauf los. Und glaubt man, daß er fertig
sei, so setzt er schon wieder ein und ist in Zug geraten. Mary
Coroughdeen saß den Kopf zurückgeworfen und lachte. Keine Linie an ihr,
die nicht der Regelmäßigkeit spottete, so triumphierend aber, daß meine
Nöte mir verächtlich erschienen. Ich äffte jetzt das Pferd, wie es
geängstet aus dem Hofe ausriß, und mich selbst, wie ich dem Wagen folgte
und seine Spuren beging, und das Pferd, wie es scheute, wenn es ihrer
ansichtig wurde. Es ging mir wie ihm. „Ich kann sie nicht sehen!“ rief
ich aus. „Auch sehe ich sie nicht.“

„Wie bringen Sie das fertig!“ fragte der sommerliche Herr, „da Sie doch
Ihre Tage bei ihr verbringen.“

„Daß Gott verhüte! da bin ich doch in Florenz! möglichst früh und komme
erst abends zurück.“

„Allein?“

„Aber ja! Wer sollte mit mir kommen den weiten Weg? und er ist ja so
sicher.“

„Wer hat Ihnen das gesagt?“

Mary Coroughdeen hatte sich hoch aufgerichtet, und alle starrten mich
an.



                            Sechstes Kapitel


Ich verbrachte den Tag in der weitläufigen Villa und wußte nicht, wer
mir am besten gefiel: die schöne Mary, das junge Ehepaar, das zu Besuch
bei ihr war, oder der sommerliche Herr. Eilte denn meine Rückkehr nach
Hause? Wäre es nicht schöner, zu Neujahr nach Rom zu fahren? Man hat
eine Etage gemietet; es sei noch reichlich Platz. „Oh ich komme gerne!“
rief ich aus. „Abgemacht,“ klang es einstimmig zurück. Ich war im
siebenten Himmel.

Abends fuhr mich Mary Coroughdeen den Hügel hinab zur Hexe zurück. Sie
lenkte selbst. Nur wenig Sterne hingen am mondlosen Himmel. Wo blieb das
prangende, neugierig blitzende, unendliche Heer, das sich gestern Nacht
gesammelt hatte? Ich dachte an meine Angst. Wie war sie fern! Gar
gefällig lösten sich freilich von solch einem Wägelchen herab die
endlosen Schleifen des Weges.

Da sagte Frau Coroughdeen: „Sie müssen mir versprechen, hier nie wieder
im Dunkeln zu gehen.“

„So hat die Hexe gelogen!“ fuhr ich auf.

„Mit nichten“, sagte die sanfte Frau, „aber sie ist ein Sonderling.“ Sie
gab sich mit dem Pferde zu schaffen und trieb es an.

„Es ist immer besser,“ sagte sie dann und blickte geradeaus,
„Zerwürfnisse zu vermeiden.“ Es war fühlbar, daß sie selbst sich nicht
zerwerfen wollte. Und hier war kein Feld zu einer Diskussion. „Ich werde
die übrigen Tage bestehen, wie sie nun mal sind“, gelobte ich ihr,
seufzte, lachte aber sogleich.

„Und dann kommen Sie ja zu uns!“ rief sie sichtlich erleichtert aus.

Das Zimmer, das ich bewohnen sollte, hatte sie mir schon gezeigt, mit
den sanft vom Winde gebauschten großgeblumten Vorhängen, die Luft selbst
im Finstern so lauschig, und nirgends umlauert ...

Elf Tage jedoch können sich so lange hinausdehnen, daß man an ihrem Ende
verzagt. Sind sie verronnen, oh, so schöpft sie kaum mehr die hohle
Hand. Ich behalte von jener Zeit nichts mehr zurück, als daß sie mir
endlos erschien. So leichtfüßig ist überstandene Not.

Die Hexe ahnte nichts von dem romantischen Zwischenfall, der mir so
frohe Aussichten eröffnete. Ich erwähnte ihn nicht. Es war nicht immer
leicht, angesichts ihres täglich neu formulierten Erstaunens über meine
verfrühte Rückkehr aus Florenz. Bevor noch die Lampe einzog, betrat ich
den Salon. Es gab keinen anderen Aufenthalt, mein Zimmer war kalt. Und
dann stand ich an der Fenstertüre und starrte trübselig hinaus, Cara
aber brachte den Tee mit den merkwürdigen kleinen Kuchen wie aus
verzuckertem Sand, die man nicht essen konnte. Oder war es wirklich nur
die Beklemmung? Auch wenn ich noch so hungrig zu Tisch ging,
widerstanden mir alle Speisen. „Wie machen Sie es, daß Sie leben?“ hatte
die Hexe einmal gefragt. Aber es läßt sich nicht schildern, wie mir an
ihrem Tische das Gemüse sich zu ungenießbarem Schilfe verwandelte und
ihr Brot in den knolligen Rohzustand zurückkehrte. So furchtbar war es,
an ihrem Tische zu sitzen. Obwohl sie etwas ganz Unanimalisches hatte,
fand ich ihre Art zu essen mehr ein Vertilgen, wie bei den Schlangen,
und daß sie pfiff dabei wie eine Maus. Nur einen Lichtpunkt gab es, und
ich freute mich manchmal die halbe Nacht darauf: es war das erste
Frühstück, mit welchem die stumme Cara bei mir einzog. Sie zündete
zugleich das Feuer an, und freundliche, nach Pinien duftende Flammen
schlugen dann im Kamine auf. Und da war die braune Tonkanne und die
dicken gerösteten Brotschnitten, auf welchen die Butter zerfloß, alles
mit einer versteckten Sorgfalt bereitet, hin und wieder ein Blümchen,
blasse Heckenrosen vom Fluß. Doch als ich das erstemal dafür dankte,
lief Cara mit erschreckter Miene zur Tür.



                           Siebentes Kapitel


Es fehlten nur noch vier Tage. Mein Koffer stand inmitten des Zimmers
aufgeschlagen; im Tanzschritt hatte ich schon ein paar Sachen
hineingelegt, da sank mir noch einmal der Mut. An einem fast schwülen
Tag riß mir auf dem Heimweg ein plötzlicher Sturmwind den dünnen Umhang
immer wieder in die Höhe, während ein eisiger Regen die Schultern
durchnäßte. Es half nichts mehr, daß ich nachträglich eine gesteppte
Seidenjacke überzog und ganz vermummt zum abendlichen Spiele schritt.
Der Frost wollte nicht mehr weichen. Die Noten dagegen schienen alle aus
ihrer Bahn geschleudert, erst nur gefallenen Maschen gleich, und die
sich selber wieder fingen, dann aber sich auflösten zu einem verwirrten
Heere, das hinauf und hinab nach allen Seiten stob, die kleinen, die
schwachen und kurzen von den mächtigen tief unter die Linien
hinabgestoßen. Wer gab den verrannten Scharen die Ordnung, die Besinnung
wieder, die aufgewirbelt, mit gesenkten Köpfen losfuhren gegeneinander
und begeistert fielen. Hilf Gott. O der Not, o des Getümmels! Wüste
Bilder, Gesichte des Fiebers hatten im Nu unerträgliche Hitze erzeugt,
und ich warf Schal und Jacke von mir. Doch die Hexe hatte keinen
Unterschied in meinem Spiele wahrgenommen, sondern mit demselben
bemerkenswerten Stirnrunzeln zugehört wie alle Tage. Was legte sich
indessen wie eisige Tücher um Nacken und Hals, daß die Zähne
zusammenschlugen? Und wer, o wer hatte die Flammen im Kamin verräterisch
umnebelt, daß sie so trübe tanzten, kalt auch sie? Zuckte es da nicht
wie von Schlangenzungen in den Augen der Hexe auf, als sie, ohne ein
Wort zu sagen, endlich die Zeichen meiner Erkrankung las, die ihr doch
nicht genehm sein konnte ... und ich war nicht gewillt, so hart vorm
Ziele dem Becher der Freuden zu entsagen. Wie mit Krallen, alle Energie
der Jugend im Aufgebot, focht ich gegen die Erkältung an und trat sie
nieder. Als Cara nach einer schier endlosen Nacht endlich, endlich bei
mir eintrat, schlürfte ich den Tee, den sie mir brachte, wie ein
Elixier, und als wiederum der Abend kam, schlug ich den Flügel auf, als
fehlte mir nichts. Die Hexe konnte nicht umhin, sich gnädig zu zeigen.
In Wahrheit begegneten sich jetzt unsere Wünsche: der meine, sie zu
verlassen, der ihrige, mich los zu sein. Bedeutete sie mir doch seit
kurzem immerzu den deutschen Weihnachtsbaum, unter dem ich nun in Bälde
stehen würde, und was für eine hübsche Sitte er sei. So lag ich jetzt
tagsüber in meinem Zimmer zusammengerollt, Cara braute mir ungehindert
allerlei bittere Getränke und trug mir dann die entzauberten Speisen
auf, in welchen ich statt zerfaserten Schilfes Bohnen oder Spaghetti
erkannte.



                             Achtes Kapitel


Es dämmerte der Morgen meiner Abreise: hochgehißt, wie eine entrollte
Fahne, war er da. Zum letzten Male saß ich in dem zugigen Speisesaal zur
ebenen Erde und spürte seine kalten Ziegel unter meinen Füßen. Der Regen
schlug gegen die Scheiben; böse fuhr der Wind sie an. Aber trotz des
schonungslosen Mittagslichtes faßte ich heute die Hexe und ihre
Drachenschulter voll ins Auge. Sie glaubte noch immer, in einigen
Stunden würde mir der Apennin im Rücken liegen.

Es gab zu diesem Essen eine unvergleichliche Pastete. War sie wirklich
so vortrefflich, oder würzte sie zur Götterspeise das Gefühl des Sieges
und der überwundenen Krankheit? Zwei Riesenstücke hatte ich schon davon
gegessen und fuhr trotzdem fort, ihr Blicke zuzuwerfen. Auf einer Seite
hielt sich noch eine Kruste aufrecht. Etwas wie eine halbe
Entschuldigung, ein verlegenes Lächeln, und ich streckte sie hin. Denn
die Fenster sahen auf den Hof, und dort stand ja schon das Wägelchen
gerüstet, und meine Koffer lud man jetzt schon auf. Es folgten nur noch
die paar Augenblicke in dem verhängten Salon, wo die Schatten alle Dinge
schonten und man den Himmel weinen hörte über dieses Haus. Meinem stets
vorgreifenden Gemüte war es schon abgerückt, derweil ich mich noch darin
befand; schon war sie mir vergangen, diese ganze Zeit, mit der ich erst
im Begriff stand abzuschließen. Weggeblasen die lächerlichen
Klavierabende; alles vergessen, da es überwunden war!

Zum ersten Male seit meiner Ankunft schwang ich mich wieder auf den
hohen Sitz, von dem aus die Hexe ihr schemenhaftes Roß kutschierte.
Entzückt von den Schönheiten des Weges, seinem Flüßchen, seinem
Immergrün, hoben sich meine Arme zum Gruß der Rosen, die so spät von
einem ewigen Sommer träumten im Schutz des trügerischen Laubs.

In San Gervasio stieg ich aus.

„Ich hoffe,“ sagte die Hexe, – denn nichts hätte gesitteter sein können,
als unser Auseinandergehen – „ich hoffe, Sie besuchen mich, falls Ihr
Weg Sie wieder in die Gegend führt.“

„Ich werde gewiß nicht verfehlen.“

„Sie sind noch erkältet. Nehmen Sie sich in acht. Sie werden eine kalte
Reise haben.“

Ich lachte. Mochte das verderbliche Weib sich wundern über mein leichtes
Herz. Später, irgendwann, sollte es von meiner Übersiedelung nach
Fiesole erfahren, als hätte es sich auf Grund einer Begegnung ganz
improvisiert und zufällig ergeben. Denn so war es ausgemacht. Und alles
fügte sich gut. Ihr Gefährt war außer Sicht, bevor ich den Zug bestieg,
der statt nach Florenz den Hügel von Fiesole hinauffuhr.



                            Neuntes Kapitel


Hier oben setzte nun jenes Zwischenspiel ein, welches die Oase, die
selige Insel, die gedeckte Brücke darstellte über eine sonst wie auf
geheime Weisung mit großen und kleinen Steinen immer neu versperrte
Bahn. Glatt wie Marmorfliesen lief sie plötzlich dahin. Ich sah nur mehr
in die Luft und residierte auf Wolken. Die Geschwindigkeit, mit welcher
der auf Verwehrungen Gestellte sich an Erfüllungen gewöhnt, scheint
darauf hinzudeuten, diese seien letzten Endes doch unsere eigentliche
Bestimmung ... Geschmeidig, wie ein nach Maß verfertigter Handschuh,
paßte mir die Freude nach drei Tagen an. So sollte es bleiben, und so
war es recht. Blumengewinden gleich schlangen sich die Stunden hin;
schade um die, welche man verschlief. Des Nachts lag ich noch lange in
dem breiten Fenstersims meines Zimmers; zu meinen Füßen lag die
glitzernde Stadt, vom Mondlicht überströmt, und ruhelos überdachte ich
die Genüsse des vergangenen wie des kommenden Tages. Es fehlte nicht an
Depeschen, die mich bald zu diesem, bald zu jenem Vergnügen
hinunterriefen und die mir schmeichelten. Aber am schönsten war es doch
hier oben, am liebsten sah ich es, wenn die paar witzigsten oder
schönsten Florentiner in dem tiefen und dunklen und doch so frohgemuten
Saale sich zu uns gesellten, dessen Tisch, ans äußerste Ende gerückt,
sich wie auf einer Bühne ausnahm, nur von Kerzen beleuchtet, in deren
Schein die Gesichter noch schöner, die Gespräche noch beschwingter
wurden. Doch wer auch kam, immer war es Mary Coroughdeens Vorsitz, der
unsere Tafelrunde krönte. Denn wessen Blicke schweiften geruhsamer,
welcher Mund lächelte sanfter über uns hin? Ich nahm das Kolorit ihres
Haares, die Madonnenpracht ihrer Erscheinung für gegeben. Wer den
Schreck noch nicht erfuhr, die Reize eines Angesichtes, die er in ihrer
Blüte sah, welk oder zerstört wiederzufinden, der kennt das Leben nicht.
Hier vermag die Phantasie für sich allein ohne Erfahrungen nicht
vorzugreifen. Frau Coroughdeen stand in ihrem Zenit, und es kam mir
nicht in den Sinn, daß sie ihn gerade deshalb bald überschreiten würde.
Ich besaß noch nicht die Vorstellung von dem Prozeß, der sachte aber
geschäftig ein eben noch straffes Gewebe lockert: hier eine kleine
Schärfe, ein leises Erschlaffen dort, und der Verfall ist eingeleitet,
so unmerklich zwar, daß man sich fürs erste fragt, ob jenes Gesicht noch
ganz so schön ist, wie das Jahr zuvor.

Ähnliche, einer Beschämung so verwandte Erkenntnisse lagen mir noch
fern; es war alles zeitlos. –

Zwei hübsche Abendkleider, welche ich bei der Hexe nie Gelegenheit
gehabt hatte anzulegen, kamen mir jetzt sehr zustatten: eines besonders,
von flügelartigem Schnitt mit schwarzen Achselbändern. Wie entseelt hing
es vom Stuhle.



                            Zehntes Kapitel


Das junge Ehepaar war vorläufig nach Capri vorausgefahren; Mary
Coroughdeen, der sommerliche Herr und ich wollten mit dem Abendzug nach
Rom; Treffpunkt war die Bahn. In meinem Vergnügungsfieber folgte ich
vorher noch einer Einladung in die Stadt und aß in einem Kreis von
Leuten, welche den Eindruck in mir erweckten, daß sie mich bewunderten.
Dies bewirkte ein Gefühl so großer Sicherheit, daß meine Einfälle
einander richtig jagten. Denn was konnte mir das Schicksal noch anhaben?
Um sechs Uhr ging es mit Mary und dem sommerlichen Herrn nach Rom, und
Treffpunkt war die Bahn. Strahlend machte ich mich von meiner Umgebung
los, um einen Strohhut zu erstehen, der mir schon lange ins Auge stach.
Der Preis war toll, aber was schadete das? Eine solche Jahreswende, ein
solches Silvester mußte man feierlich begehen. Schon lag der kürzeste
Tag zurück: jetzt gerade setzte im Norden die ärgste Kälte ein. Dem
häßlichen und hassenswerten Winter war ich zum erstenmal entronnen, dem
grauen Schnee um drei Uhr nachmittags unter den abscheulichen
Glockenklängen meiner in den siebziger Jahren erbauten Stadtpfarrei. O
wie sie die Öde des todbringenden Alltags ausläuteten! Entronnen!

Ja, Treffpunkt war die Bahn.

Und stand da nicht schon Marys Wagen, der Insassen bar? kam mir da nicht
der sommerliche Herr entgegen? beschleunigte ich nicht meine Schritte?

„Ich zerbreche mir den Kopf,“ sagte er, „was am besten wäre.“

„Einen Strohhut kaufen!“ Und ich schwenkte lachend den papiernen Sack,
der ihn enthielt. „Ist schon geschehen.“

„Ein großes Unglück ist geschehen“, sagte er da. „Mein Schwager ist
plötzlich gestorben. Ich suchte vergebens, Sie zu erreichen. Mary ist
mit dem Mittagszug nach London abgereist.“

                   *       *       *       *       *

„Wollen Sie nicht nach Fiesole mit mir zurück?“ – – – – – – – – – – – –
– –

„Bis das Haus aufgelöst ist – Oder ziehen Sie vor, hier in Florenz zu
warten?“

„Wie lange bleibt sie fort?“

Er zögerte. „Auf den Tag natürlich läßt es sich nicht genau bestimmen.“

In diesem Augenblick wußte ich schon längst, daß mir keine andere Wahl
bliebe, als schnurgerade nach Hause zu fahren.

„Schade“, sagte er.

„Sehr schade, sehr traurig“, sagte ich und ging gemessenen Schrittes an
seiner Seite auf und nieder.

Auch nach Norden ging ein Zug in einer guten Viertelstunde. Recht so.
Ich löste alsbald eine Karte. Er schien betreten über eine so
kategorische Hast. Aber Leute, die das Schafott besteigen müssen, haben
es eilig.

So nahm ich Abschied, stieg ein und winkte lächelnd aus dem Fenster, als
ich schon fuhr. –

Ein Bäumchen, vorfrüh ganz in Blüten gehüllt, sogar von Hitze schon
umwoben, von Bienen und von Faltern schon umschwärmt, das schon Vögel
aussandte und in seinem Geäste nisten sah, und das im Mondlicht vor
Entzücken schauerte und plötzlich unter einem niedrigen und schwarzen
Himmel von einem harten Schneegestöber gefaßt wie erblindet steht, mit
knackenden Ästen, sein herrliches Kleid vernichtet und zerfetzt – der
Anblick eines solchen Bäumchens wird mich zeitlebens an den Bahnhof von
Florenz und jenen Tag zurückversetzen, an dem ich dem sommerlichen Herrn
entgegenging, die Tüte schwenkend mit dem neuen Hut, in dem ich ihn und
alle, die mich darin sehen würden, zu betören gedachte. Er, dieser Hut,
im Übermut gekauft, war schuld. Meine Fahrkarte reichte nur bis Bozen.
Dorthin kam telegraphisch das Geld, das meine Heimreise ermöglichte. Es
schwebte mir das Postamt vor, von dem es aufgegeben wurde. Leute mit
frostentflammten Nasen gingen aus und ein. Es war in der Tat die kalte
Fahrt, die mir die Hexe versprochen hatte. München lag wie vereist.

Dies war meine erste Abfahrt von Florenz.



                             Elftes Kapitel


Doch ich kam wieder. Im Frühling zog ich wieder die Via Tornabuoni
hinab, sicheren Schrittes auf den Arno los. Als wäre sie mein, diese
Stadt. Blumen gehörten jetzt zu ihrem Bilde. Es war die Mode der weißen
Handschuhe. Diese weißbehandschuhten Hände trugen alle Blumen.
Blumenbüschel schossen an allen Straßenecken auf, und wohlfeil war die
Anemone; und die gelben Sonnenkelche, die Narzissen, die hochgehißten,
fast wilden Sträuße der Mimosen. Mein waren auch die Düfte dieser Stadt,
die über die Brücke hinschlugen, ihre erste Hitze und ihr erstes Grün.
Jedoch mein Reiseziel war Rom. Und erfahrener kam ich wieder als im
vergangenen Jahr. Ich hatte alles mitgenommen dieses Mal. Am blauen
Seidenbande, im rosa Seidensäckchen eingenäht baumelten deutsche Zechini
mir vom Halse, die mir den Himmel öffnen sollten über Rom. Ich griff
nach ihnen: sie waren immer da. Auch der Gürtel mit der hohen Schließe,
immer aufs engste zugeschnallt, war eine Garantie. Und wieder einmal
fand ich das Leben eine schöne und merkwürdige Erfindung, unerschöpflich
an Genüssen. Denn die Wunder Gottes waren nicht allein. Die Menschen
hatten ihnen die Wunder ihrer Architektur und ihrer Musik, die Wunder
solcher Städte zugesellt: diesen Turm der Signoria zum Beispiel in
seiner direkten Beziehung zu den Wolken. O wie er sich reckte! wie er
aufflog zu ihnen.

Der Dom warf sich auf gleich einem Berg. Er warf Schatten gleich einem
Berg. Enge Gassen liefen auf ihn zu. Plätze gaben seinen himmellangen
Seitenwänden das Geleit; Straßen folgten ihnen von fern. In der
Buntheit, in der fließenden Glätte seines Gesteines pochte Gesang. Was
funkelte da in der Bläue des Tages über die Dächer der Stadt? der Hügel
Fiesoles, vielgekrönt, reich an Erinnerungen.

Marys Haus war geschlossen, aber sie und ihr sommerlicher Bruder
erwarteten mich in Rom; morgen, alle una mit dem direttissimo ... Alle
Hotels waren überfüllt. Man hatte mir eine Pension sehr angelegentlich
empfohlen, die mir außerordentlich mißfiel; in einem modernen Viertel
gelegen mit feudalen Mietsparteien in den unteren Etagen, von welchen
sie ihren Leumund bezog, vier Treppen hoch, die immer steiler und kahler
wurden.

Wer aber beschreibt den Speisesaal?

Fünfundvierzig – ich hatte sie gezählt – fünfundvierzig alte
Engländerinnen, alte Fräuleins, alte gezierte Schachteln sammelten sich
hier um die Essenszeit mit fürchterlicher Pünktlichkeit zu Hauf, nahmen
vor kleinen Tischen Platz und boten einen empörenden Anblick. Denn alte
Frauen sind wie Topfpflanzen aufzustellen, ja, und auch zu hegen, aber
sie gehören nicht in Sträuße wie die Zentifolie. Und nicht nur mit ihren
fünfundvierzig Teekännchen, die Damen waren auch samt und sonders mit
den Photographien der Primavera und des Konzertes von Giorgione
vermählt. Der melancholische Mönch, ohnehin das Symbol aller Verzichte,
mußte daran glauben.

O diese bornierten Stirnen, so untergeordnet und so ladylike, diese
zufriedenen Ohrmuscheln, diese phantasielosen Fingerknöchel, die
Monotonie dieser Münder, die alle dasselbe aßen, alle ohne Variante
dasselbe sagten; England, mochte es über den ganzen Erdball siegen,
England war blamiert mit ihnen! Mein Gegenüber war von einer so
housekeeperhaften Manierlichkeit, sie war so schrecklich fein, daß ich
jetzt beide Ellbogen aufstützte, um weiter zu essen – als die
sechsundvierzigste Engländerin in Begleitung eines Reverend unter die
Türe trat. Mit ihrem vornübergeneigten Kopf, der breiten und mächtigen
Nase, der braungelben Färbung, der langen und ungefähren Gestalt, trat
sie wie der aufrechte Genius der Sardine einher.

„Wer ist das?“ fragte ich unwillkürlich.

Meine Tischgenossin hätte meinen Ausruf lieber ignoriert, aber dann
siegte der Wunsch, mich zu belehren: „First cousin to Lord Sullivan“
beschied sie kurz. Hatte ich denn schon einen Lord oder die erste
Cousine eines Lords getroffen? Geschah es nicht zum ersten Male, he? War
ich denn von good family? Schwerlich. Sie richtete ihre Jammerbüste auf.
„Armer Lord Sullivan,“ bemerkte ich. Der Reverend trug einen Band Ruskin
unter dem Arm, er scheute sich nicht, Hahn in diesem Schauerkorb zu sein
und nahm gegenüber the Honourable Sardine Platz. Unter ihrem Vorantritt
verfügte man sich dann in den Salon. Es tagte noch. Ich floh ins Freie,
der Via Tornabuoni zu. Dort konnte man hübsche, junge, leichtsinnige
Kokotten sehen, das Hütchen lustig hinausgeschoben oder kecker noch
hereingesetzt. Und harmloser, unschuldiger muteten sie an, als die
geschützte Kohorte der Pension Malocchio. (Schon, o schon nannte ich sie
so.) Und sie taugte nichts, die miese, zufällige Jungfräulichkeit der
gealterten Schar dort oben, eine gezogene Niete nur, unheilig auch sie.

Süß aber war die Vergessenheit dieses Abends. Ich ging in einer
Rosenwolke. Der Frühling hatte einen wilden Tag gehabt. An wie viel
Hängen brach er heute aus! Den kühlsten Gründen nicht mehr neu. Zwischen
schweren Blättern drückten sich die Blumen vor. Jetzt ging er zur Ruh.
Es stand ihm eine aufgeregte Nacht bevor. Der Mond war voll. Schon
steigerte sich das Gebüsch. Ich sah ihm an, wie es sich bereitete. Vor
dem Hôtel de Ville machte eine offene Droschke halt: schmale Schuhe, die
schnell Fuß auf der Erde faßten, eine rasche Gestalt: „Wahrhaftig Sie
sind es!“ rief die Dame.

Es war die eine Hälfte jenes Hochzeitspaares, das zu Mary Coroughdeen
gekommen und dann nach Neapel gefahren war. Der Mann befand sich jetzt
in England infolge eines Trauerfalles, und sie wartete in Florenz auf
seine Wiederkehr. So kam ich ihr wie gerufen.

„Aber ich fahre morgen nach Rom.“

„Das dürfen Sie nicht! Sie dürfen mich nicht so verlassen. Warten Sie
nur noch drei Tage und ich komme mit Ihnen.“

„Meine Pension“, sagte ich, „ist wirklich zu greulich.“ – „Neben mir
wird morgen ein Zimmer frei,“ rief Eleonor. Sie lief in die Halle. Ich
wollte ihr folgen. Da war sie zurück. „Es ist schon reserviert!“ rief
sie mir zu und zog mich wieder ins Freie.

Es paßte mir nicht recht; ich wollte doch nach Rom, aber sie war so
willensstark. Arm in Arm streunten wir nun durch die Straßen, und ich
erzählte ihr alles. Ich trug den vorfrüh gekauften Hut. Wir lachten, und
ich aß noch einmal zur Nacht. Ich skizzierte ihr die Schreckensschar und
den Reverend in ihrer Mitte. Eleonor sagte: „Wir haben in Venedig eine
Wohnung gemietet, an der Giudecca, und Sie müssen uns dort besuchen.“
„Schön, schön“, sagte ich. Quer über den Platz kam ein Bekannter auf uns
zu, und ich nahm eine Einladung für den nächsten Abend von ihm an.

Die Steintreppen zu meiner Pension jedoch nahmen wieder einmal kein
Ende. Aber morgen hatte mich ja das Stift gesehen. Auf immerdar!



                            Zwölftes Kapitel


Mein Zimmer trug die Nummer 19. Es war häßlich, sah auf einen unwirschen
Hof hinaus und lag abgetrennt am äußersten Ende eines langen Ganges.
Häßlich, rot, grob, breitschrötig und cholerisch war auch die Magd, die
mir das heiße Wasser und das Frühstück brachte. Aber schon um neun Uhr
wollte Eleonor mich holen, um nach Santa Maria Novella zu gehen.
Ostersonntag! und ein lichter Himmel über dem düsteren Hof. Mir gleich
endgültig aus den Augen, so daß ich nicht umhin konnte, ein wenig hin
und her zu summen. Nur so eine kleine Barkarole, von der schönen Luft,
die hereinwehte, getragen und wie von Märzbechern eingeläutet. Es war
noch früh, aber ich störte niemanden. Das Zimmer hatte keine Nachbartür.
Die Fülle der Glocken über alle Dächer hin! Mein Herz war leicht. Jetzt
nur noch das seidene Säckchen über den Kopf gezogen, und ich stand
bereit. Nachts pflegte ich es unter das Kissen zu legen und nun hätte
ich es schier vergessen. Aber dort lag es nicht mehr. Wie zerstreut ich
doch heute war. Ich hatte es ja auf das Tablett gelegt. Aber das hatte
man schon abgetragen. Ich läutete. Niemand erschien. Ich läutete in
rascher Folge wieder, und verdrossen kam die Magd herein. Ich schickte
sie nach der Küche, nach dem Tablett zu schauen. Sie ging. Zitternd
stand ich vor dem Spiegel und starrte mich mit blutlosen Lippen selber
an, riß das Kleid von neuem auf, aber das blaue Band hing mir nicht an;
griff mich ab, die Stätte war leer. Die Person kam wieder: „Non c’è“,
sagte sie. „Si c’è“, rief ich in heller Verzweiflung. Ihr rotes Gesicht
wurde noch dunkler. Sie trat in den Gang hinaus und kam mit einem Manne
wieder, Hausdiener oder Portier, jedenfalls ihr geschworener Freund.
„Non c’è“, bekräftigte er. „Non è vero“, sagte ich. Da traten beide
näher. Die Worte „gettarla fuor dalla finestra“ drangen an mein Ohr und
ließen mich blitzartig die Situation übersehen, so daß ich mich wohl
hütete, von dem Fenster wegzurücken, vor dem ich stand, denn wir waren
ohne Zeugen. Warfen sie mich in ihrer Wut hinab, so konnten sie
beteuern, ich hätte mich selbst hinuntergestürzt. Der Gedanke an den
Freispruch, der ihnen zuteil würde, entwickelte in mir den Furor eines
Löwen. „Ich gehe jetzt auf eine Stunde fort“, sagte ich, als hätte ich
freie Bahn. „Mittlerweile suchen Sie gefälligst das ganze Zimmer durch,
dann wird der Sack sicherlich zum Vorschein kommen.“ Mit diesen Worten
wandte ich mich der Türe zu, allein die zwei blieben drohend vor mir
aufgepflanzt und ließen mich nicht durch. Was wollten sie? „Man kommt“,
sagte ich triumphierend. Eleonor trat ins Zimmer. Meine beiden Schergen
verließen es alsbald.

„Was ist?“ rief sie und fing mich auf. Denn die zurückgedrängte Angst
machte sich wie ein giftiger Nebel über mich her, jetzt, da Eleonor mir
zur Seite stand. Sie duldete nicht, daß ich dies Haus noch einmal
betrat; lieber sollte mein Koffer zurückbleiben, die Handtasche trugen
wir gemeinsam durch den leeren Gang. Niemand zeigte sich. Wir gingen die
Stiegen hinab, warteten auf einen Wagen und fuhren ins Hôtel de Ville.
Ein reizendes und neu tapeziertes Zimmer wartete da meiner, allein mir
blieben siebenundvierzig Lire, und ich fuhr mir ans Herz, als hätte es
einen Sprung.

O Kirche von Santa Maria Novella! Welch verwirrtes und bebendes Gemüt
entließen an diesem Ostermorgen deine heiligen Pforten! Aber war mir
nicht von neuem der Weg nach Rom verschüttet, wenn der Sack verloren
blieb? Was flogen die Vögel so hoch?

Und warum erspähte Eleonor den Schutzmann, der gelangweilt auf dem
Platze stand! Was radebrechte sie da mit ihm? War es nicht verfrüht, ihn
heranzuziehen? Er mußte ein Neuling sein, denn seine Bereitschaft war
nicht gering. „Chè,“ sagte er, „kriegen wir, kriegen wir,“ und machte
sich voll Eifer auf den Weg.

Eleonor war guter Dinge. Sie hatte einen Brief, der ihr die Rückkehr
ihres Mannes anzeigte. „Ich habe das bestimmte Vorgefühl, daß Sie heute
abend wieder im Besitz Ihres Sackes sind“, so sagte sie. „Wie sind denn
im allgemeinen Ihre Vorgefühle?“ „Immer richtig! Man kann immer darauf
gehen.“ Doch ich atmete wie ein Asthmatiker. „O Sie sind langweilig“,
rief sie aus, „wo wollen wir essen?“ Im Hotel wartete schon der
Polizist, zwar ohne Sack, aber mit zufriedener Miene. Die Magd befände
sich hinter Schloß und Riegel. Indes stelle sich die Pension auf ihre
Seite und verweigere die Herausgabe des Koffers. Die Magd leugnete
nämlich. Daher die Repressalie. Dann ging er.

Ein Abendfähnchen war alles, was mir blieb, außer dem Kleid, das ich
trug. Es dunkelte. Mir schauderte vor dem Anblick meines Fensters, es
war hochgelegen, wie das von heute morgen. Ich zündete alle Lichter an.
Auch über dem großen Spiegel war ein Kontakt. Er warf mein Bild zurück.
Und wieder starrte ich mich selber an, als könnte ich nur mir selbst
meine Bedrücktheit anvertrauen. Ich stand mit siebenundvierzig Lire und
ohne Koffer da. Dies waren die Tatsachen; mochte Eleonor sich mit noch
so guten Vorgefühlen tragen.

Der Mond war heute voll. Welch Geraune wohl und welch ein Rausch in den
Cascinen. O daß in den Tiefen des Gezweiges vielleicht sich regte der
Rhapsode unserer Ekstasen! Vielleicht entströmte ihm das erste Gold
erträumten Grams, und schlugen Bangigkeit und Wonne der Verliebtheit in
seiner Kehle an. Leid und Verliebtheit der Nachtigallen nur? O nein, der
Götter und der Menschenherzen.

Langsam fing ich an, mich für den Abend umzukleiden. Meine
emporgerichteten Arme, im Raume gesehen mit den hellbeschienenen Händen
in der Luft, bannten meinen Blick wie Bruchteile einer Statue und
anderer Wesenheiten teilhaft als nur des Ichs. Solche Gedanken entsandte
der Spiegel als letzte Labsal, letzte Stärkung dieses Tages ...

„Wann zeigst du dich in deinem Glanze?“ lachte Eleonor herüber. Als
Antwort ein wilder Schrei. Was hatte ich gesehen? Was zeigte sich mir
da? Sie stürzte herein, wähnend, meine Kleider steckten in Brand. Ich
hatte sie noch nicht angelegt. Was nun auch sie erblickte, war ein
Gegenstand in meiner rechten Hand: ein blaues Band an einem Ende
losgerissen, von dem ein schweres Säckchen herunterhing. Es war mitsamt
dem Bande bis zum Gürtel hinabgerutscht, hinter der hohen, nach innen
ausgebuchteten Schnalle platt gedrückt. Und das Mädchen im Gefängnis.
„Fliehen Sie, fliehen Sie!“ war Eleonors Schreckensruf, und sie verließ
das Zimmer. Zitternd und ungefähr zog ich mich an und lief aus dem
Hause.



                          Dreizehntes Kapitel


Der Florentiner, der mich zu Tisch erwartete und mit dem ich dann in die
Oper gehen sollte, wohnte mit seiner Mutter in der Via Alfieri. Er
gehörte dem Kreise Frau Coroughdeens an. Auch er zog alsbald das
Kursbuch hervor. Wir aßen nur so lange, als es Zeit bedurfte, die
Victoria anzuspannen und fuhren dann mit Diener und Kutscher auf dem
Bock nach der Pension Malocchio. Ich sollte mit dieser Doppelwache im
Wagen bleiben, denn mein Parlamentarier bestand darauf, allein die Höhle
meiner Mißgeschicke zu besteigen. Dem Säckchen, dem das blaue Band nur
auf einer Seite anhing (es hätte sich wirklich nicht gelohnt, es
anzunähen) entnahmen wir gerade so viel, als ich zur Rückfahrt nach
Deutschland brauchte; mit den achtzehn schönen, runden, dicken
Goldstücken, die als mein Lösegeld darin verblieben, zog er dann hinauf.
Er blieb sehr lange. Die Luft war lau. Im Norden gab es wohl noch
Schneegestöber und ein langes Hin und Her zwischen Winter und Frühling.
Warum kam mein Abgesandter nicht zurück? Das Theater mußte bald zu Ende
sein. Im dritten Akt hatte die Duse fast nichts zu tun. Da trat er
hervor.

„Mein Koffer“, sagte ich. „Man gibt ihn heute abend noch nicht frei. Ich
hatte einige Mühe mit dem Mädchen“, sagte er; auf seinen Wink fuhr jetzt
der Kutscher wie ein Teufel los. „Dann ist es ja gar nicht eingesperrt.“
„Man ließ es mangelnder Beweise halber nach zwei Stunden wieder laufen.“
Ein Groll stieg in mir auf. „Es ist zu arg!“

„Wie?“

„Erzählen Sie doch!“

„Ich bin sehr lange ausgeblieben, Sie haben lange warten müssen. Aber es
war so interessant und so unterhaltend, die alten Damen über Sie zu
verhören. Sie machen sich gar keinen Begriff, welche Abneigung die ganze
Pension für Sie gefaßt hat. Nein, wie Sie das in zwei Tagen fertig
gebracht haben, alle Hochachtung! Es herrscht nur eine Stimme über Sie.
Die fälschlich angeklagte Magd dagegen wurde umringt wie eine Diva. Sie
erhielt sechsundvierzig Geschenke. Von Ihnen, meine Liebe, wollte sich
jede schon beim ersten Blick des schlechtesten Eindrucks entsinnen. Ich
gab mich natürlich nicht als Ihren Freund aus. Es hätte den Redefluß
gestört.“ –

„Mein Koffer“, sagte ich.

„Ich kriege ihn schon frei. Lassen Sie die ersten Wogen der Rache sich
legen. Es war da noch ein Freund der armen Person ...“

„Armen Person?“ fuhr ich auf. „Sie hat das beste Geschäft ihres Lebens
gemacht. Schweigen Sie mir von der.“

„Ja, sie ist häßlich, aber sie hat einen sehr feurigen Freund, der unter
gräßlichen Schwüren beteuerte, er würde nicht eher ruhen, als bis Sie
selbst im Gefängnis säßen, und die sechsundvierzig Damen teilten
durchaus seine Ansicht. Es war wirklich nicht so einfach, wissen Sie.
Ich hatte Mühe mit dem Säckchen. Ich hielt es an seinem gerissenen Bande
hoch und schilderte, wie leid Ihnen alles täte.“ „Nichts tut mir leid.
Nur ich allein tue mir leid. Kein Wort mehr“, rief ich. Er zog seine
Uhr. „Wir kommen noch recht zum zweiten Akt.“

Der Morgen dämmerte. Es zwitscherten die ersten Vögel. Silberner Flor
war am Himmel zerstäubt. Man klopfte, um mich zu wecken. Doch ich stand
schon bereit. Fluchtartig also und bei Tagesgrauen mußte ich Florenz
verlassen. Es war meine einzige Ähnlichkeit mit Dante. Und mein zweiter
Abschied von dieser Stadt. Mary Coroughdeen und ihren sommerlichen
Bruder sah ich niemals wieder.



                          Vierzehntes Kapitel


Doch ich kam wieder. Ich ließ mich so nicht unterkriegen. Diesmal stieg
ich in der Nähe des Bahnhofes ab, und länger als einen Tag und eine
Nacht gedachte ich nicht mich aufzuhalten. Mein Reiseziel war Rom. Kein
Säckchen hing mir diesmal an. Ich hatte einen Kreditbrief, das war
besser. Die Bäume freilich, die ich in ihrer ersten Pracht gesehen
hatte, standen längst entlaubt. Auf den Bergen lag Schnee, und es gab
viel Kranke in der Stadt. Mary Coroughdeen war nach England übersiedelt,
ihre Villa geschlossen. Allein das Licht tönte sich genau wie im
vergangenen Winter ab, und mit Macht versetzte es mich in jene Zeit
zurück, da ich traurig meine einsame Straße marschierte. Mir schien, es
sei vergangenes Jahr. Ahnte ich denn, wie weit das Tageslicht Leben ist
– wie das unsere? Schwingungen sind der Lüfte Schoß. Längst verwehte
Akzente der Leidenschaft, der Schönheit, des Affektes erstehen uns von
neuem. Ja, wer ihrer Sprache kundig wäre!

Betrachtet euch die Städter, wenn sie vernehmen, daß sich die
Wunderkrone der Victoria Regia aus vieljährigem Schlafe regt. In langen
Zügen sieht man sie zur Riesenblume pilgern wie zu einer Gottheit. Nur
eine Woche lang strahlt und duftet sie kostbarer und berückender, blüht
heißer als alle Blumen, dann schrumpft sie gelb und häßlich ein; welke
Stränge, ins Leere ausgeworfen, künden ihren Tod, ihr vergängliches
Sterben.

So kann den Hoffnungslosen, den auf immer – (aber was heißt immer?) –
den auf immer Beraubten ein jagendes Licht, seine Fülle oder sein
Versagen, der Atem einer Brombeerstaude, ein unvorhergesehenes Etwas an
der Biegung eines Weges, es kann der Schatten einer Bank ihn
überwältigen, daß er inmitten seines Grams vor Glück erschauert.

Ich wußte es noch nicht, ich wunderte mich nur. Nie wäre es mir auf
meiner Osterreise in den Sinn gekommen, die Hexe aufzusuchen, und nun
fuhr ich zu ihr. Die Münze war mir ausgegangen, ich reichte dem
Schaffner eine Banknote hin und starrte wunschlos in den Tag. Denn es
rastete mein Herz, als sei ihm Erkenntnis geworden, und es frönte der
ungewohnten Ruh. In San Gervasio stieg ich aus und zog die weiten
Schleifen der Straße dahin. Ein frischer Wind hatte sich aufgemacht und
wehte mir entgegen.

Die Stimmung der Hexe jedoch war eine andere, und sie empfing mich kalt
und überrascht. Die Uhr schlug zwei. Cara brachte den schwarzen Kaffee
herein und auch ein Täßchen für mich. Ich hielt es vor dem Fenster
stehend, das auf den Garten sah. Der Wind fegte einher. Kein Vorhang
dämpfte den fahlgewordenen Tag; er schwelgte in seiner Abgewandtheit,
und sonderbar mischte sich da in sein grenzenloses Schweifen das Ticken
der Pendule. Warum beklemmten ihre Schläge? Irrsinnig schwang der kleine
Pendel hin und her, als ob es ihm obläge, Zeit, Natur, alle Dinge, alle
Wünsche zu skandieren, so machte er sich laut. Aber plötzlich zerriß das
Gewölke, eine wahrhaft südliche Bläue triumphierte über den Sturm, und
Sonne erfüllte den Raum. Von ihrer Wärme einbezogen, hielt ich das
Gesicht zu ihr empor; von ihr umsponnen und gebleicht war es begeistert
ganz für sich allein ...

Neue Wolken jedoch trieben in der Luft heran, alle Glorie erlosch, die
Pinienkronen wirbelten auf, der schwarze Lack des Flügels spiegelte sich
in der zunehmenden Düsterkeit und anders behauptete sich jetzt das
Ticken der Pendule, beschwichtigend nunmehr wie Ammenworte in einer
Kinderstube. Und statt des Sonnenfeuers loderte das andere, das wir den
Göttern gestohlen hatten, still und geschäftig im Kamin, in dessen
Schein die fröstelnde Hexe saß. Wo waren meine Augen gewesen, daß ich
über das kranke Oval die schmale beschwingte Stirne übersehen hatte und
die in ihrer Zermürbtheit rührenden Schläfen? Was schied mich von so
viel Verblühtheit? Die irrsinnigen kleinen Pendelschläge nur, die, alles
mißachtend, mich alt oder verwest zurücklassen würden. Ein Jahr war
vergangen, seit mir die Hexe der Inbegriff alles Verabscheuungswürdigen
dünkte, ein Jahr, an dem ich mich noch schleppte. War sie nicht
vielleicht schön, diese Hexe? und war sie eine Hexe? Barg sie nicht ganz
andere Flügel vielleicht, als die des Drachen? – Die unter die Räder
geratene Spinster sollte dereinst mehr Wesensfülle, mehr Menschentum,
mehr Mut, mehr Edelsinn, mehr Unbeirrbarkeit des Geistes und des Herzens
zu Tage legen, als Millionen und Millionen ihrer Zeitgenossen. Wie die
auf hohem Brückenpfeiler gestellte Engelsfigur, so vereinzelt und
abseits sollte ihre barocke Gestalt sich im Weltkrieg umreißen und die
dumpfe Allgemeinheit überragen. –

War eine Ahnung in mir aufgestiegen? Alles stand hier unverrückt: der
Flügel, die Fenstertüren, die auf den blumenlosen Garten sahen, die Hexe
am Kamin. Nur ich war anders zurückgekehrt. So litt man denn nicht
vergebens ...

Bewegt sah ich zu ihr herab. Allein ihr Wunsch, von mir befreit zu sein,
funkte durch das Zimmer, und ich nahm Abschied; immer noch wie im Traum,
als ob ich es nicht selber sei, welche die oft begangenen Schleifen der
Straße dahinzog, und als sähe ich die vom Winde dahingewehten Umrisse
der eigenen Gestalt. Erst in San Gervasio, angesichts der schon grell
beleuchteten Schienen, erwachte ich, setzte schnell darüber und sprang
in den Wagen.

Auf dem Hinweg aber hatte der Schaffner meine Zerstreutheit
wahrgenommen, erfolgreich abgewartet und auf meine Banknote überhaupt
nichts herausgegeben. Ich merkte es erst jetzt, kramte fieberhaft in
meiner Tasche, und als kein Zweifel mehr bestehen konnte, reichte ich
dem neuen Schaffner schwer verdrossen einen neuen Schein. Er gab mir
reichlich Silber zurück; aufmerksam achtend fand ich, daß alles stimmte
und sah wieder zum Fenster hinaus. Aber das große Spiel der Schatten,
die ins Dunkel geworfenen Kirchen drangen nicht mehr bis zu mir. Damals
wie heute bildete der Domplatz die Endstation. Meine Börse war zum
Bersten voll, und es dünkte mir daher praktischer, sogleich einige
Einkäufe mit dem Hartgeld zu besorgen. Bei jedem Stück jedoch, das ich
hinreichte, hieß es jetzt: „Non è buono“. Die Hauptpost befand sich
damals den Uffizien gegenüber. Am Schalter regierte ein Mann mit den
Schultern eines Sklavenhändlers. Francobolli, herrschte ich ihn an,
zahlte verächtlich und ging ins Freie. Auch er jedoch, wenn auch nur um
ein paar Groschen, hatte mich begaunert. War mir aber der Gedanke nie
gekommen, die beiden froh dahinfahrenden Schaffner zu belangen, so
brachte mich diese letzte, kleine Übervorteilung zur Raserei. Wie in
einem fünften Akt und als stecke mir ein Dolch unter dem Mantel, so ging
ich wieder zurück, trat an den Mann heran und machte wegen der fünf
Soldi meine Szene. Wütend warf er sie auf den Tisch. „È pazza“, sagte er
zu den Umstehenden; ich strich die Groschen ein und ging.

Wie edel lag der Platz vor mir! Ein früher Mond hellte zarten Fluges
darüber. In der Loggia dei Lanzi hielt der Held den sterbenden Freund. O
des ewigen Augenblickes, da er, aufgegebenen Geistes, von seinem Arm
herabhing! Mein Herz strebte plötzlich himmelwärts wie der Turm der
Signoria. Wie fehlte dem Leben jede Majestät! Armselig war es eingedämmt
von Widrigkeiten, Zufällen, zerrissenen Schuhbändern, verlorenen
Gegenständen, Zahnschmerzen, verfehlten Zügen.

„Non è buono, non son buoni“, hieß es am nächsten Morgen beim Begleichen
meiner Rechnung. Alles Silbergeld falsch. Zum Glück war mein Billett
nach Rom schon lange gelöst. Von hundert Lire hatten fünfunddreißig ihre
Gültigkeit. Niemand ließ sich von den übrigen etwas andrehen, so
erbittert ich es auch versuchte. Nun rollte der Zug, in dem ich saß, aus
der dunklen Halle ins Tageslicht. Romwärts. – Also doch! –

Allein der angesammelte Ärger brodelte wie auf Feuer gesetzt. Nur auf
den Verlust des lumpigen Geldes versessen tobte Leidenschaft um so
peinigender darein, als ihr Mißverhältnis zu einer so jämmerlichen
Ursache mir nicht entging; eine Welle nach der andern schäumte an den
Strand, infuriata. Ob ich noch so sehr strebte, mich in die Hand zu
nehmen, zu einem vernünftigen neben einem unvernünftigen Wesen mich
verdoppelnd. Ermahnungen und Klagen gingen hin und her. War es nicht
verächtlich, eines so schnöden Anlasses wegen dieser maßlosen Aufregung
zu frönen? – Aber würde ich denn in Rom weniger unfähig sein, falsches
Geld von richtigem zu unterscheiden? Und was dann?

Wie vielen ist es vergönnt, fragte ich, zu ihrem Pläsier in der Welt
herumfahren? Pläsier? fragte ich.

Ich hielt einen Tauchnitzband, ohne je über die erste Seite zu gelangen.
Die Zeit verstrich, Stationen tauchten auf, hin und wieder hielt der
Zug, oder er flog vorbei. Ich saß am Fenster, die Landschaft wurde
kahler, ihr Lachen erstarb; sie war heroisch, aber nicht ohne
Grausamkeit, die Bäume so gezählt; – und ich beruhigte mich nicht.
Plötzlich ein großer Ruck. – Türen flogen auf. Chiusi. Mittagszeit. Ein
tiefer Saal; gedeckte Tische aus dunklem Grunde hervorschimmernd. Die
Reisenden strömten in Scharen dorthin. Ich sagte schon, es sei die Mode
der weißen Handschuhe gewesen. Wie? Was streifte ich in dieser
Kohlenatmosphäre ein schmiegsames, makelloses Paar über? Welche Stille
setzte plötzlich in mir ein? welcher Einfall hißte sich hoch? Wer ging
da? frage ich, ihren Tauchnitzband unter dem Arm, so kerzengrade, so
rhythmisch, so lässig, so gelassen, so bewußt, so offenkundig
distinguiert? Wer war sie? Man schaffte ihr Platz, sofort. Wie wäre es
anders gewesen? jedoch sie dankte. „Un cestino,“ sagte sie, „queste
pasticcerie“. Sie trank ein Glas Marsala, dann ein zweites, und
unauffällig, als wäre es ihr erstes, ließ sie sich ein drittes geben. Es
setzte sie in den Vollbesitz ihres Mutes. Sie deutete auf
Schinkenbrötchen; auf Orangen. – Sorglich, die pasticcerie zu oberst –
wurde alles hineingelegt. Ihr Buch fest an sich haltend, schritt sie
sodann, weltabgewandt, wie sie gekommen war, über die Schwelle des
ristorante. Sie eilte nicht; sie zögerte nicht. Nie würde sie wieder
eine so unnachahmliche Allüre aufbringen, um einen Perron zu
überschreiten, mit so liebenswürdiger Sicherheit, so effektvoller Ruhe,
so überlegener Grazie sich bewegen. Nunmehr hatte sie ihren Platz am
Fenster eingenommen. Von ihm aus konnte sie die Reisenden übersehen,
welche erst vereinzelt, dann in Scharen einzusteigen begannen. Saßen sie
alle? Nein. – Ein Weilchen dauerte es noch. „Pronti!“ erklang endlich
der willkommene Ruf. Man fuhr.

Am Eingang des Saales pflanzte sich jetzt der Padrone des Buffettos mit
seinen in Zeit und Raum ausgeweiteten Gliedmaßen auf. Befriedigt blickte
er seinen Konsumenten nach. Es hatte sich gelohnt.

Wer aber konnte da nicht umhin, die weiß behandschuhte Linke leicht
herablassend zum Gruße zu erheben? wer nickte ihm mit einem rätselhaften
Lächeln zu? – Der Zug fuhr ja schon, und ich war von drei Gläsern
Marsala (drei!) unbändig heiter gestimmt. Denn mit keinem Centesimo
hatte ich den Wein, hatte ich die aranccie, die pane con jambone, die
pasticcerie, noch die frutta secca berappt. Nicht war es nötig, daß ich
mich länger zurechtwies; das Gelingen des gewagten Streiches, die aus
dem Stegreif inszenierte Komödie hatte allen Schaden wett gemacht. Ich
war gerächt. – Er würde es heute abend schon gewahr werden, der dicke
Hans Dampf unter seiner Tür, daß an den Zecchini dieses Tages etwas
nicht stimmte, nie aber würde er auf die über jeden Verdacht so
erhabene, dem Alltag so entzogene Miß geraten, die ihr englisches Buch
fest an sich hielt, während sie sich unversehens mit Marsala half, um
ihrerseits Italien zu prellen. Es fehlte der Raum, sonst hätte ich
getanzt, es fehlte ein viertes Glas, sonst hätte ich ein Hoch auf mich
selber ausgebracht, so zufrieden war ich wieder mit mir selbst; so
zufrieden verzehrte ich jetzt den ganzen Proviant. Vor allem mein
_Gewissen_ aber hatte die verlorene Ruhe zurück erworben.

So kam ich zum erstenmal nach Rom.



                          Fünfzehntes Kapitel


Unvorbereiteter waren sicher noch nicht viele nach der Stätte so großer
Ereignisse gewandert. Daten, früh erlernt, hatte ich prompt und auf
immer vergessen. Das Kolosseum stand mir als ein Sinnbild aller
Grausamkeiten, und nur mit Abscheu blickte ich zur niedrigen Türe hin,
aus welcher die Märtyrer den wilden Tieren entgegenzogen.

Wozu eigentlich Märtyrer? Wäre es nicht besser gewesen, sich zu drücken?

Auch die Engelsburg hatte mir viel zu viele Leiden beherbergt. St.
Peter, mit Ausnahme von Michelangelos Jugendwerk, auch die Kolonnaden
sprachen nicht zu mir, St. Clemens war die einzige Kirche, die mich
rührte, von den Museen beglückten mich nur die Thermen, vor dem Forum
versagte meine Phantasie. Schöner war es, in die Villa Medici zu gehen.
In einer der Alleen stand Meleager, den herrlichen Marmorleib von späten
Rosen umrankt, über ihn der verglühende Tag. Rom ist eine Stadt des
Abends. Er hob sie auf ihren Thron. Alle Städte waren ihr dann untertan.
Starke Tränke für den Beschauer waren ihre Sonnenuntergänge. Auch mir
benahmen sie die Armut. Doch nur auf Augenblicke.

Hier muß ich daran erinnern, was zu Anfang dieses Buches steht: eine
radikale Sprunghaftigkeit könne sehr wohl mit einer sehr bestimmten
Einheitlichkeit des Denkens zusammenhängen und es käme auf eine Probe
an.

Auch die Jugend, lieber Leser, überblickt das Leben. Nicht in der
Verkürzung wie der Greis, sondern in wilder Vielfältigkeit türmt es sich
vor ihr. Später, im Gewühle stehend, nehmen wir es in Kauf. Die Jugend
ist hierin feiner. Sie ist noch nicht mit ihm verwachsen; wie soll sie
es bewältigen? selbst mitten im Überschwang kennt sie das Zaudern und
das Grauen. Erbarmt euch ihrer Unreife. Gerade sie wird ihr leicht zum
Verhängnis. Keinem Lebensalter liegt der Selbstmord näher. Über die
Brücke gelehnt, bedachte ich nicht mehr die Ausblicke und Bahnen meines
Daseins, nur noch die besten Arten, mich ihm zu entziehen. Eine solche
Flucht war freilich eine Niederlage und ein anderes Wort für: nicht
bestehen. Allein es war der letzte Anker, wohl in Sicht zu halten.

Rom hatte versagt. Was hatte ich geglaubt? Saß es auf seinen sieben
Hügeln, um mir Richtlinien zu weisen? Ja, etwas Ähnliches hatte ich
gewähnt. Denn Dürftigkeit und Chaos stritten sich um die Herrschaft in
meinem Inneren. Die Intensität, mit welcher ich im Bahnhofsrestaurant in
Chiusi operierte, lag natürlich meinem Wesen überhaupt zugrunde. Aber
die letzten Dinge, nicht mehr noch minder, waren meine Sorge. Die Aula
jedoch hatte ich mir selbst aufrichten, ohne Anleitung durch Dornen und
Gestrüppe mich reißen müssen, nirgends zünftig, überall verwahrlost,
nirgends zugehörig, immer hospitierend. Statt des Führers, statt des
Rückhalts, statt des Abiturs – den Hokuspokus.

Aber die tollste meiner „Windmühlen“ war Richard Wagner geworden.

Ihn hatte ich zu meinem unmittelbaren Mentor erkoren. Seinem Dienste war
ich eingeschworen, seinem Genius verpflichtet, seinem Beistand
überantwortet. Seine gewichtigen zehn Bände waren das Bollwerk meines
Château du cœur. Seinen langatmigen Formulierungen folgte ich um seiner
kühnen Folgerungen willen gerne. Noch tobte die Wagnerische Mode, doch
schon mehrten sich die Anzeichen eines Umschwunges, und mit Genugtuung
nahm ich sie wahr. Bald, o bald fiel er fort, der lästige Chor, dann
blieben nur die Wenigen, die ihn wirklich erkannten, dann gehörte er
mir. Vor allem war es die Erhabenheit seiner Gesinnung, über die ich
nicht mit mir handeln ließ; jederzeit kampfbereit, wenn es galt, die
Standarte meines Glaubens flattern zu lassen. Zerwürfnisse nicht
vermeidend, im Gegenteil; zu reinlichen Scheidungen immer gewillt; zu
Donquichotterien immer aufgelegt. So erlebte eine Münchner Salonlöwin,
die über Wagner im familiären Tone aburteilte, daß ich, über die Köpfe
ihrer Gäste hinweg, lauten Protest erhob und augenblicklich ihren „jour“
verließ. Es war ein schöner Frühlingsnachmittag. Ein leichter Wind
umstrich mich linde: derweil die oben Gebliebenen empört über mich zu
Gerichte saßen; entfernte man sich so, und wer war ich denn?

Denn von der geistig besitzlosen Klasse wird das Recht auf eigene
Meinung, so wir eine haben, am längsten angezweifelt und bekämpft; daher
einem jungen Fräulein Niemand die beste Gelegenheit geboten wird, zur
Menschenkennerin heranzureifen. Diesbezüglich befand ich mich in
vorderster Szene, wo immer ich auftrat. London oder Berlin, es war ganz
gleich. Als ich zum ersten Male einen Winter in Paris verbrachte, lebte
noch der Gründer des Crédit Lyonnais, ein feiner, überlegener Greis. Auf
irgendeine Empfehlung hin wurde ich dort öfters eingeladen. Es war ein
Salon, der eben anfing, ein wenig auszuleiern. Nach einem kleinen,
köstlichen Diner stand ich am Kamin und überblickte die Gesellschaft.
Die schöne und noch junge Frau mit dem glitzernden und gewellten Haar
figurierte in ihrer Schlankheit zu Ehren des noch schönen Paul
Deschanel, das war klar. Sein Frack, dies letzte Wort von Frack, die
seidene Schmiegsamkeit seiner Socken, seine für weiße Manschetten wie
erdachten Hände, sein für den Zylinder wie erträumter Kopf, dies alles,
wenn ich es heute überdenke, war von einer vorkriegszeitlichen Pracht,
ohne störende Beziehung – seitdem haben sich ja der menschlichen
Gesellschaft dunklere Kulissen aufgetan – als Empfangsräume, als den
Salon.

Ich sah und staunte. – In Gespräche mischte ich mich nur selten. Es war
auch nicht nötig; im übrigen war ich eine jeune fille sans dot, und
weniger konnte man nicht sein.

Aber man kam an diesem Abend auf Bayreuth zu sprechen, und zu meinem
Schrecken riß die Frau des Hauses Wagners Charakter in den Staub.
„Ingratitude notoire“ waren ihre Worte. Schon führte ich wieder Schild
und Speer, schon hielt ich am Kamine aufgestellt meinen Speech, schon
war ich mitten in meiner Rhetorik. Hätte er Buch führen sollen über
Summen, die er zur allgemeinen Bereicherung entlieh? und wenn wir schon
feilschten, warum die vielen Existenzen nicht mit einbeziehen, die er
begründete, die Theater, die er dotierte oder ins Leben rief, die
Riesenvermögen der Wagnersänger? Was zollten sie ihm dafür? „Wenn wir
schon feilschten,“ sagte ich und blickte unbefangen im Kreise umher,
„gab er dem Etat der bayrischen Staatsbahnen, gab er“, höhnte ich, „den
Hoteliers nichts zu lachen? Auf welcher Seite liegt der Undank, wenn wir
schon rechnen?“ fragte ich. „O wie er das Geld verbrauchte, hinauswarf
und verachtete, wie er zu einer von Mark und Pfennig gravitätisch
eingedämmten Welt sich so unsäglich mittelbar bezog, Gott, wie
erfrischend, welche Labung!“ rief ich aus.

Nun war natürlich Dank oder Undank Wagners den Anwesenden denkbar egal.
Was sollte dies feierliche Gehabe? – Ich sah Blicke sich kreuzen,
Mundwinkel zucken; erst entstand ein Schweigen, dann sagte jemand:
„Comme il fait chaud!“

Begossenheit war da alsbald mein Anteil. Schüchternheit befiel mich
wieder und schmiedete mich an den Kamin, wie Andromeda an ihren Felsen.
Da aber trat Perseus in Gestalt eines ergrauten Mannes vom anderen Ende
des Zimmers näher, und es erklangen die rettenden und unverhofften
Worte: „Elle a raison“.

Es war ein Professor Coggia aus Palermo; er hatte dem greisen Wagner bei
Gelegenheit eines Aufenthaltes in dieser Stadt einige Dienste erwiesen
und pries nun seine rührende Erkenntlichkeit, seine einfache und
rücksichtsvolle Art. Dagegen machte er den denkbar schärfsten
Trennungsstrich zwischen ihm und seiner nächsten Umgebung. Ja, er
leugnete ganz und gar, daß sie Wagner homogen gewesen sei. Alle hörten
jetzt mit großer Spannung zu. Wie glücklich aber war ich selbst an
diesem Abend! Wie leicht tönte der Widerhall meiner Schritte auf dem
Heimweg an mein Ohr. In Paris, wo er in seiner Jugend darbte, Wagner als
armer Teufel, Wagner in Würzburg und Riga, schwebte mir mit ergreifender
Deutlichkeit vor.

Eines Nachts aber – kurz darauf – stand ich auf dem Platz des Münchner
Hoftheaters. Allein. Denn eine Siegfried-Aufführung war noch im Gang,
und ich war herausgelaufen, weil ich diese Musik nicht mehr ertrug. Sie
bekundete mir nichts mehr. Sie quälte mich. Die Vorstellung war
mittelmäßig, es ist wahr (die Ära Mottl stand noch aus), dennoch – ob
ich mir auch gewisse Sonaten, die, zu oft vernommen, auf immer
vielleicht erschöpft blieben, auch eine heruntergerasselte Eroica ins
Gedächtnis rief, die nichts besagte, dennoch, welch ein Stoß! – Zwar
erhielt mein Wagnerkult keine Einbuße deshalb. Ich gestattete ihm dies
nicht. Seine ewigen Augen, der Zug nach ewiger Vollendung, der
Weltenatem seines Geistes, dies war es, was ihn unsterblich machte.
„_Schafft Neues_“ war im Alter sein immerwährender Ruf gewesen. Setzte
da eine Stadt, seine Anwesenheit erfahrend, ihm zu Ehren eines seiner
Bühnenwerke an, so ergriff er eilend die Flucht. Welch ein Meister war
er des Überdrusses! – Er blieb mein Führer, mein Idol. Es rührte mich
unbeschreiblich, daß er für seinen „Ring“ eine einzige Aufführung
erträumt, und den naiven Wunsch gehegt hatte, die Bretter der eigens
dafür zu errichtenden Bühne zusammengeschlagen, und nur die Erinnerung
an das einmalige Fest verbleiben zu sehen.

Ahnte er das Brünnhildengewimmel, den Sieglinden-Vertrieb, die
Feuerzauberratsche, den Opernstaub, das Gerümpel manch geradezu
ochsenhaft einhermarschierender Wotane, die Hojotohos, die Beliebtheit
schlimmer als jeder Boykott?

Wie ersprießlich dagegen war es, Wagner-Anekdoten zu sammeln! Am besten
gefiel mir die einer alten Sängerin, an welcher er im Couloir des
Münchner Hoftheaters mit dem Ruf: „Ich halte es vor Langerweile nicht
mehr aus,“ in großer Aufregung vorbeilief. Er war mitten in einer
Tristanvorstellung aus einer Loge herausgestürzt.

„Wie war diese Vorstellung?“ fragte ich schnell.

„Glänzend, wunderbar,“ sagte sie.

Auch mit dem uralten sächsischen Gesandten von Fabrice, dessen
Erinnerungen bis in das Jahr 1847 zurückgingen, stellte ich mich gut. Er
lebte damals als junger Mann in Dresden, und der Kapellmeister Wagner
war ihm vom Sehen bekannt. An einem Wintermorgen auf der Straße hinter
ihm her gehend, sah er ihn von einem Bettler angehalten, seine Taschen
durchsuchend, ohne etwas hervorzuziehen, daraufhin kurzerhand seinen
Rock abwerfend, ihn dem Manne überlassend und weitereilen. Ein Brief aus
Zürich an Liszt, in welchem er wie gewöhnlich über seine Geldnot klagt,
über die einbrechende Kälte, und daß er keinen Wintermantel habe, ist
zwei Jahre später datiert. Und vielleicht war ich die einzig Eingeweihte
(denn Fabrice war tot), welche wußte, warum dies Garderobestück ihm
fehlte.

So blieb alles beim alten, ob ich auch in weiten Bögen
Wagner-Vorstellungen mied. Nietzsches Auffahrt überwand ich unschwer.
Selbst von einem so großen Geist beirrte sie mich nicht. Die Nähe war
eine Beeinträchtigung auch für ihn, da hier nur die Distanz den
richtigen Sehwinkel für ein maßgebendes Urteil schaffen konnte. Selbst
für ihn. Daher die Bitterkeit, der schmerzliche Unterton bei Nietzsche,
der seine eigene Desertion niemals verwand. Von Wagner wissen wir als
einzige Äußerung zu dem Bruche nur jene Worte, die er ihm bestellen
ließ: nunmehr sei er ganz allein. Und so dünkte mir denn auch der „Fall
Wagner“ an allen Ecken und Enden ein „Fall Nietzsche“.

In diesem Punkte hatte ich sicher recht. – Vierzig Jahre nach Wagners
Tod trat der französische Komponist Paul Ducas in der Revue Musicale mit
einer Charakteristik Wagners hervor, die, ein Meisterstück an Augenmaß –
eben diese Spanne von vierzig Jahren (die Zeit schafft hier den
geistigen Raum) zu einer ihrer wesentlichen Voraussetzungen hat.

Gedulde dich, lieber Leser. Jede noch so weit ausholende Kurve führt uns
zur Brücke zurück, auf der ich, mitten unter den Statuen stehend, über
beste Todesarten meditiere.

Denn von meiner Verstiegenheit, wie grotesk sie auch sein mochte, gab es
kein Zurück. Es blieb nichts übrig, als die Probe auf das Exempel, in
diesem Fall auf die Verstiegenheit, zu stellen. Sie war das hohe Meer,
längst allen Ufern entzogen. Erreichbare Küsten forderte ich nicht mehr,
wohl aber, daß Küsten, wie immer unerreichbar, vorhanden seien. Dies
forderte ich. Ich forderte ein Zeichen. Mit dem Glauben, den ich mir
zurechtgelegt hatte, zu sehr verwachsen, konnte ich ihm nicht entsagen,
ohne mich selbst aufzugeben. Jener Satz, daß der Sprung vom niedrigsten
zum höchsten Menschen größer sei, als der vom höchsten Tier zum
niedrigsten Menschen, hatte Wasser auf meine Mühle getrieben. Denn
Rangunterschiede waren mein Steckenpferd. Es konnte nicht anders sein,
als daß der Auserwählte, die Persönlichkeit, nach besonderen Gesetzen
antrat, ob sie auch, infolge des verhängnisvollsten aller
Mißverständnisse, mit Vorliebe zum Haufen geworfen wurde. In diesem
Lichte nur war alles wahr und falsch zugleich, was vom Menschen als dem
Maß aller Dinge, wie als dem Ausbund aller Nichtigkeiten stand. „Ihr
seid Götter“, hieß es zu den einen, und den andern wird verkündet, daß
sie endlose Male wiederkehren oder sterben werden, was ja dasselbe ist.
Vom Gattungsmenschen und seinem Korrelate, dem Gemeinschaftsgrab, lief
die Leiter bis hinauf zur Marcia sulla morte d’un eroe. Viele lebten,
deren Anteil an grausamen Geschicken täglich sich vermehrte ... ebenso
sicher dünkte mir dies, als daß geheime Zaubersprüche walteten – deren
Formel wir nur nicht kennen – über die weniger sterblichen, die
vollendeten Typen. Freie waren’s. – Einen mächtigen Freibrief erkannte
ich ihnen zu: die Not, die eine mit der Erlesenheit ihrer Natur so
zerworfene Welt ihnen bereitet, genügte.

Aber meine geistige Existenz hatte ihre inavouablen Seiten: ich
erachtete mich als ein Wagnerisches Produkt. Wem hätte ich derartiges
eingestanden? Mußte meine Verstiegenheit nicht Folge und Grund zugleich
meiner Verlassenheit sein? Und wie hätte diese Verstiegenheit – ein
Notbehelf auf sie – mich nicht isoliert? Über Gute und Böse ging die
Sonne auf, über den Narren aber stand sie still.

Bücher hatten versagt; Rom hatte versagt. Ich hatte ich weiß nicht was
für Hoffnungen auf diese Stadt gesetzt, als müsse die Berührung ihres
Bodens mich heilen. Aber Rom hat nichts Beschwichtigendes, es sei denn
sein Licht. Rom wühlt alle Rätsel doppelt auf, und welche Argumente
hielten stand vor dem teuflischen Dreh, der teuflischen Zweideutigkeit
dieser Welt, den Abgründen, ins Unbeweisbare überall aufgetan, dem Netz
des Leidens ausgeworfen nach der Kreatur, dem weglosen, verwirrenden
Leiden des Getiers? Dies und meine geistige Einzelhaft schlug mir über
dem Kopf zusammen.

„Ein Zeichen!“ sagte ich laut. Ich forderte ein Zeichen unter diesem
Abendhimmel Roms. Wieder hielt ich meine geistigen Arme emporgerichtet,
wie in jener Nacht, da ich auf dem Weg zur Hexe, gegen die Hütte
geschleudert, das gestirnte Firmament vor die Schranken rief. Liefen
alle Anstrengungen und alle Opfer leer, dann war auch der Selbstmord
nicht die fausse sortie, die Schopenhauer meinte, lebten aber die
Kräfte, von welchen ich zehrte, warum sollten sie sich nicht bekunden?
Tat ich dies? Träume waren meine einzige Gewähr gewesen. Träume lagen
mittewegs. Aber Zweifel und Ernüchterung raubten mir die Kräfte, mich zu
ihnen aufzumachen. Was also waren Träume?

Aber kehren wir zur Brücke zurück.

Man schrieb den 7. Februar. Eleonor erwartete mich in Venedig. Sie hatte
endlich ihre erträumte Etage, und ich gedachte bis zum 13., dem Todestag
Wagners, bei ihr zu bleiben. Wie jene Kranken, die zur Schwelle eines
Tempels pilgerten, Rat oder Heilung dort erhoffend, so zog ich nach
Venedig, mein Orakel zu vernehmen; entschlossen, das Fazit meiner
mondsüchtigen Schritte zu ziehen. Zweck- oder Sinnlosigkeit meiner
verschütteten, greisenhaft verlebten Jugend bis zu den Sternen setzend,
die letzten Lose auswerfend, da ich nichts zu verlieren hatte, wenn ich
verlor. So wandte ich mich endlich von dem Flusse ab, ging in der
Dämmerung zwischen den Statuen, dann über den Korso zurück, zum ersten
Male wieder guten Mutes, ja entrückt.

Eine nette kleine Giftreserve zu unterst in meinem Koffer, sprang ich um
Mitternacht in die Gondel, in welcher Eleonor und ihr glücklich
heimgekehrter Gatte gekommen waren mich zu holen. Die stillen
Wasserstraßen klangen vollstimmig an mein Ohr; und als der Morgen
aufzog, sangen die Paläste, der Canale Grande lag in voller Bläue, seine
Wellen tönte ein Hauch von Rosenglut, und wie ein Lied entstieg San
Giorgio. Alles, selbst die Steine modulierten. Florenz ist Graphik, auf
Silbergrau gezogen; Literatur. Viel zu streng und steil und traumlos für
das unreife Gemüt. Venedig ist Musik. Süß durchbohrt es das gequälte
Herz. – Da war ein Gäßchen, hoch und steinern bis auf den schmalen
Himmelsstreifen, der darüber leuchtete. Glatte Mauern bis auf ein
Fenster, das offen stand. Schwefelgelbe Sonnenstrahlen schmetterten auf
rote Nelkenstöcke, die davor blühten. Lange mußte ich stehen und
schauen, aber so, wie einer horcht.

„Nicht denken“ war die Devise, nach welcher die folgenden Tage in großer
Scheinruhe verrannen. Im Nu war der Vorabend jenes Todestages (der
meiner Abreise) gekommen. Ich fürchtete mich. Ich dehnte ihn so lange
wie möglich aus. Mein Zug fuhr in der Frühe. Wenig Stunden trennten mich
von ihr. Die Nacht kam.

Ein schmales feldbettähnliches Gestell nahm die Mitte meines Zimmers
ein. Eleonor war stolz auf die bedruckte Leinwand, mit der es wie eine
kostbare Schachtel ausgeschlagen war. Nachts gab es viel Gezänke und
Gelächter in den Gassen. Heute belebten sie sich nicht. Wie
eingelassenes Wasser stieg die Luft. Ich sah mich selbst im hohen
Spiegel, feierlichen Auges gleichsam eingeschleiert, wie die Jungfrau,
welche ihre Öllampe für den Bräutigam bereit hält. Die Nacht hielt ihre
Runde. Über die Lagunen lag letzte Finsternis gefaltet; sie deckte alle
Pfade, alle Wälder, alle Brücken zu. Alle Flüsse rauschten unsichtbar.
Alle Tiere, die ihr Dasein noch gerettet hatten, schlummerten beruhigt.
Erst mit dem Morgen drohte ihnen wiederum Gefahr. Gesichert schliefen
die süßen Vögel im Gezweig. Friedliebend ist die Nacht, nur den Kranken
und unglücklich Liebenden abhold. Auch mich entriß sie ungnädig schnell
dem barmherzigen Schlaf. Stoßähnlich mein Erwachen, daß ich erschreckt
das Licht aufdrehte. Dumpfen Pulses. Leer. – Zu den hold umspannten
Wänden meines Zimmers verhielt ich mich nicht länger. Gefängnismauern
kamen sie gleich, feucht von Schlangen, die ihre Köpfe nach mir zuckten.
– Abgetrennt wie ein Gespenst. Nichts also. Es schlug vier Uhr von den
Kirchen und den Türmen Venedigs. – Also nichts. Ob ich auch meine Knie
umklammernd mich besann ... Nichts. Auf dem Flur eines gewöhnlichen
Hauses hatte ich gestanden auf der obersten Stufe einer alltäglichen
Stiege, fünf Treppen hoch. Das war alles. Ein paar Schritte trennten
mich von einer verschlossenen Tür. Warum verschlossen? und warum wollte
ich zu ihr? ich wußte es nicht einmal. So schwache Furchen hatte das
nichtssagende Bild gezogen. Was hielt mich ab, den Flur zu
überschreiten?

Ich sank zurück.

Solchen Nichtigkeiten nachzuspüren war zu verächtlich, Hunde nur nahmen,
was sie kriegten, und wühlten noch unter Knochen.

Das Licht verlöschend ward ich eins mit der Finsternis.

Der Riese aber ...

Ein Riese?

Der grauenhafte Riese, der mir den Weg zur Tür versperrte und sich über
mich warf. Der schreckliche und aussichtslose Ringkampf mit dem Riesen,
der, kaum überwältigt, in Nu emporgeschwungen, mit Würgerhänden mich von
neuem überfiel? Zu öfteren Malen, aber stets vergeblich, besiegte ich
den dunklen, nie erlahmenden Riesen, und doch, ob ich ihn auch in die
Tiefe stürzte, seiner immer entsetzter, immer atemloser gewärtig. Das
Ringen wiederholte sich so oft, es dauerte so lang, meine Kraft war
ausgegeben. Wie kam es, daß er doch noch einmal unterlag? Nur zum
Scheine zwar. Lautlos ballte sich flugs wieder die fürchterliche,
wesenlose Masse vor mir auf. In die Knie brechend stieß ich ihn hinab.
War mir ersterbend eine Frist gewährt, die Türe dennoch zu erreichen?
War diese Stiege nicht mehr gemein? Welche Schwelle überzog ich da so
tief aufatmend, so erschöpft, daß ich nicht mehr wußte, ob ich lebte?

O Gott, welch ein Gemach! wie ein Söller hochgelegen. Und wer war diese
alte Dienerin, so schmächtig und so edel von Gestalt, der ich mich
überließ, die nur insofern Anwesende, als sie mich stützte, mit meinen
Füßen sich zu schaffen gab und mich zu einem niedrigen antiken Bett
geleitete? Statt des Fensters eine breite Öffnung in der Mauer, die auf
eine klassische und rätselhafte Landschaft niedersah: Bergeslinien, die
mit so sanftem Schwunge zur Meeresebene ausliefen, als flössen die
Farben aller Tageszeiten in einem einzigen Glissando.

Aber die Luft um mich her, diese unnennbare Luft, sie vor allem war das
Kompendium des Glücks. Ich war allein. Ich wartete auf niemand. Niemand
kündete sich an. Doch mein Alleinsein war köstlichstes Umgebensein und
aller Fülle teilhaft. Jegliche Gemeinschaft, mit dieser Einsamkeit
verglichen, war Verlassenheit. War ich allein? Wo fände sich ein Wort
für solche Vielsamkeit?

Die Stiege, das unwirsche Alltagshaus entsunken und wesenlos das Ringen.
Geworden nur die Süße dieser Müdigkeit, die Wonne dieser Luft. Wie ein
Stern, dessen Licht den Äther durchfliegt, so hatte der Traum einer
Spanne Zeit bedurft, um mein Bewußtsein zu erreichen. Ich saß hoch
aufgerichtet, meine Knie umklammernd, mein Gesicht vergraben.

Mut, sagte ich zu mir, Mut, Mut.



Mit diesem Worte schließt die Geschichte. Es bedeutete einen Wendepunkt
in meinem Leben. Ein neues begann, und es zeigten sich Horizonte, von
denen meine gleichzeitig leichtsinnige und eingeschüchterte Jugend
bisher nichts gewußt hatte. Schließlich mischte sich sogar die
Weltgeschichte ein. Die Erzählung selber aber, die, als ein
umfangreiches Buch angelegt, „Unitalienischer Roman“ heißen sollte,
blieb darüber Entwurf. Der Weg, der an die Stelle zurückführen würde, wo
die kaum begonnene Geschichte abbricht, ist auf ewig verschüttet. Was
bleibt, ist ein großes Bedauern über die Zeitwende, das vielleicht auch
andere teilen werden – und diese kleine Novelle.



                                   WERKE
                                    VON
                               ANNETTE KOLB


                               DAS EXEMPLAR
                                   Roman
                                8. Auflage

   Der erste Eindruck des Buches, schon nach wenigen Seiten, ist
   Kultur. Es gibt wenig Bücher, die so scharf wie dieses die Zeitseele
   enthüllen. Und im übrigen ist das Buch reich an allerlei
   entzückenden Dingen. Man wird in ihm sehr heimisch in London und auf
   den Landsitzen der Gesellschaft. Das Buch vereint wirklich zwei
   selten verträgliche Eigenschaften: geistige Tiefe und Charme. Es ist
   nicht nur ein bedeutendes, sondern auch ein liebenswürdiges Buch.

                                                           Kurt Münzer

                                 ZARASTRO
                              Westliche Tage
                                5. Auflage

   Hier stürmt und braust es, hier läßt Annette Kolb, die alles mit
   scharfer Beurteilung ansieht, die ungehindert ihre Meinung
   ausspricht, die glühend kämpft, die oft hart wird, oft ihre Freunde
   kränkt, weil sie zu kraft- und willenlos seien. Es ist ein Buch der
   Gegenwart, ein Buch, das unsere ganze Zerrissenheit darstellt, denn
   Annette Kolb steht mitten in dieser Gärung, diesen Konflikten. Es
   sind Tagesaufzeichnungen, sie wirken daher überaus lebendig.

                                                           Minna Cauer



                                 FISCHERS
                        KLEINE ILLUSTRIERTE BÜCHER


                         THOMAS MANN, TONIO KRÖGER
                        Illustriert von E. M. Simon

                     HERMANN HESSE, IN DER ALTEN SONNE
                      Illustriert von Wilhelm Schulz

                        E. von KEYSERLING, HARMONIE
                        Illustriert von Karl Walser

                     BERNHARD KELLERMANN, DIE HEILIGEN
                       Illustriert von Magnus Zeller

                        THOMAS MANN, HERR UND HUND
                      Illustriert von Georg W. Rößner

                        GERHART HAUPTMANN, FASCHING
                       Illustriert von Alfred Kubin

         JOHANNES V. JENSEN, DER MONSUN UND ANDERE TIERGESCHICHTEN
                      Illustriert von Arthur Wellmann

                       HERMAN BANG, DIE VIER TEUFEL
                      Illustriert von George G. Kobbe



                     Anmerkungen zur Transkription


Die ursprüngliche Rechtschreibung und Zeichensetzung wurden beibehalten.



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