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Title: Die Eiks von Eichen: Roman aus einer Kleinstadt
Author: Rose, Felicitas
Language: German
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    Anmerkungen zur Transkription


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    Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des
    Buches.



    Die Eiks von Eichen

    Roman aus einer Kleinstadt

    von

    Felicitas Rose

    Sechsundvierzigstes bis fünfzigstes Tausend

    Berlin * Leipzig * Wien * Stuttgart

    Deutsches Verlagshaus Bong & Co.



~Alle Rechte vorbehalten~

~Copyright 1910 by Deutsches Verlagshaus Bong & Co.~


~Graphia Akt.-Ges. vormals C. Grumbach in Leipzig~



[Illustration]



            _Motto_:

        Dort an der Ecke das alte Haus
        Wird doch noch stehn?
        An dem die Leute tagein, tagaus
        Vorübergehn?
        -- -- -- -- -- -- -- -- --
        O heil’ge Heimat, ich grüße dich
        An jedem Ort -- -- --

            Carmen Sylva.


Da stand es noch. -- Genau wie einst im Schatten der uralten Eichen.

Grau und langgestreckt mit einer langen Reihe niedriger Fenster. Und
aus dem Giebelfenster schauten die steinernen Pferdeköpfe, beide von
einem steinernen Eichenkranz umschlungen.

Wie ging noch die Sage? Die Sage vom Eichenborn?

Im Jahre 1298 hatte von diesem Fenster aus ein Jungfräulein Eik von
Eichen nach ihrem Liebsten ausgeschaut.

Das war ein Musikant gewesen, »ein fahrender Schüler, ein wilder
Gesell«, den erst die allmächtige Liebe zahm gemacht. Der ergrimmte
Vater hatte gesprochen:

»Ebensowenig wie meine Rösser hier oben in deine Kemenate steigen, sich
unser Wappen umhängen und aus dem Fenster hinabschauen ins Tal der
wilden Gera, ebensowenig sollst du und dein Buhle jemals es tun.«

Aber da hatte es plötzlich getrammst und getrappelt, und die beiden
Rosse waren die gewundenen Treppen hinaufgestiegen, umschlungen von
einem Eichenkranz. Sie hatten sich eng aneinander geschmiegt und
schauten ins Tal der wilden Gera, darinnen der herzwunde, einsame
Spielmann seines Weges zog.

Darauf gab es eine fröhliche Hochzeit und -- wenn sie nicht gestorben
sind, so leben sie heute noch.

Es gab kaum einen alten Mann oder eine alte Frau in Schwarzhausen, die
nicht auf diese Legende schworen.

Hinter dem schloßähnlichen Gebäude lag der weite, große, grasbestandene
Hof, in seiner Mitte standen steinerne Bänke um einen Riesentisch, und
über diesem Platz wölbte ein alter Nußbaum seine Riesenzweige.

O wie duftete ein Blatt von diesem Baum, wenn man es in die warme
Kinderhand nahm -- -- --

Alles kann man vergessen in der raschen, hastenden, lockenden Welt da
draußen, aber diesen Duft nicht, -- niemals -- -- --

Und auch jenen leisen Klang nicht, so eng verwachsen mit der
Kinderzeit, -- jenes melancholische Rieseln und Rauschen des alten
Brunnens im Grashof, der unter einem knorrigen Fliederstrauch stand.

Hatte man sich müde gespielt, dann setzte man sich unter den Nußbaum,
oder lief nach dem Fliederstrauch und pflückte sich schwere zartlila
Dolden. Die kleinen Blütchen steckte man ineinander und hing sich dann
die langen Ketten um den Hals, -- wie stolz sah man aus! Nicht nur die
Gespielen, -- nein, alle Hühner und Enten und der große, kollernde
Truthahn und der bunte, häßlich schreiende Pfau bewunderten die kleine
Tochter des Hauses.

Und ab und zu lief man nach dem Brunnen und besprengte die lila
Fliederdolden -- -- oh -- Nußbaum und Fliederstrauch -- -- --

       *       *       *       *       *

Schwer seufzte die junge Frau auf.

»Mutter, sind wir jetzt daheim?« fragte eine klare Knabenstimme.

Da konnte sie zum erstenmal wieder weinen.

»Ja, Bertold, wir sind daheim!«

Und sie nahm den Knaben fest an der Hand und schritt mit ihm über die
Schwelle ihres Vaterhauses.

       *       *       *       *       *

In der dämmerigen Diele, in die sie eintraten, war es köstlich kühl.
Die schwere Eichentür schloß sich hinter ihnen und sperrte die sengende
Mittagsglut eines heißen Julitages ab.

Der von langer Postfahrt ermüdete Junge atmete hoch auf. »Hier ist’s
schön, Mutter.«

Rings an den Wänden hingen Ölbilder. Ehrbare, ernste Gesichter in
steifen Ratsherrnkrausen sahen aus schwarzen, strengen Augen auf die
beiden Ankömmlinge nieder.

»Sind das die Onkel und Tanten, zu denen wir wollen, Mutter?« fragte
der Knabe.

»Nein, Bertold, -- diese hier sind lange tot.«

»Aber Großvater lebt!«

»Ja, mein Junge.«

Es fröstelte plötzlich die junge Frau.

Sie setzte sich auf die schmale Bank, die sich rings an der Diele
entlang zog, und lehnte den Kopf an die Holztäfelung.

Die feinen Nasenflügel bebten und sogen den Duft des Heimathauses ein.
Thymian und Lavendel. --

Spurlos war die Zeit an diesem Hause vorübergegangen -- -- alles
deutete auf Thymian und Lavendel.

Der kleine Bertold schlief auf der harten Holzbank und seine Mutter saß
und dachte nach in schwerer Beklommenheit.

Sie wußte, daß jetzt niemand kam.

Die Tante hielt ihren Mittagsschlaf, der Vater -- war wohl auch, wie
früher, zu dieser Stunde in seinem Arbeitszimmer, und Herr Eik von
Eichen ~junior~ kam nie in diesen Flügel des ausgedehnten Gebäudes.

Sie sehnte sich plötzlich nach einer Menschenstimme.

Wenn doch der alte Teichmann käme oder seine Frau, oder irgendeiner der
alten dienstbaren Geister.

Sie wußte, daß auch in ihren Reihen die letzten acht Jahre keine
Veränderung gebracht hatten.

Nervös strich sie an ihrem Trauergewand herunter. Herrgott, wie die
Gedanken auf sie einstürmten!

Sie krochen aus den Wänden und aus den Fugen der Holztäfelung, sie
schwebten wie kleine Spukgeisterchen in der Luft und hingen in den
Verschnörkelungen der Goldrahmen.

»Weißt du noch?« fragten sie wieder und wieder.

Und die junge Frau dachte daran, wie sie vorhin scheu aus der
Postkutsche gestiegen war, damit der Postverwalter sie nicht sehen
sollte und auch seine Frau nicht, die hinter dem »Spion« saß und
strickte.

Sonst würde es ja sofort jeder im Orte wissen --

Und wie sie den schwarzen, fadenscheinigen Regenschirm aufgespannt
und in der brennenden Mittagsglut unter seinem Schutze an den Häusern
entlang geschlichen war.

Nur niemandem begegnen von den Menschen da draußen, -- von den guten
Freunden, getreuen Nachbarn -- -- und desgleichen.

Aber jetzt -- jetzt sehnte sie sich nach einem Willkomm, -- nach einem
einzigen, kurzen, guten Wort.

»Alle guten Geister loben Gott den Herrn, -- da sitzt Fräulein
Franziska!«

Mit einem Schrei sprang sie auf, man wußte nicht, war’s ein Wehlaut
oder ein Jubelruf, und der alte Mann, der aus einem Seitengang
hervorgetreten war, setzte sich mit zitternden Knien auf dieselbe
Stelle, wo sie vorhin geruht, und starrte die Dame an.

Der Knabe war jäh erwacht. Er rieb sich die Augen.

»Bist du der Großvater?« fragte er beherzt.

»Gott soll mich bewahren in meinen alten Jahren. Wie sollt’ ich mich
vermessen, auch nur zum Schein, und dein Großvater sein?«

»Hieronymus!« jubelte die blasse junge Frau, -- »alter Hieronymus
Teichmann! Du bist’s noch! Gott Lob und Dank! Als du vorhin riefst: ›Da
sitzt Fräulein Franziska‹, gab es mir einen Stich ins Herz. Er reimt
nicht mehr, mein alter Teichmann -- -- -- dachte ich, -- aber nun --«

Der alte Diener hatte die runzligen Hände vor das Gesicht geschlagen,
schwere Tränen quollen zwischen den Fingern hervor.

»Herrgott, es war der erste Schreck, den hatt’ ich weg,« stammelte er
und trocknete sich die Augen.

»Guter, lieber Teichmann!«

Die junge Frau liebkoste seine rauhe Hand, sie lachte und weinte in
einem Atem. »Teichmann, ich bin daheim!«

Der Alte war immer noch fassungslos. Er deutete auf den Knaben.

»Ja, Teichmann, das ist mein Junge, -- hab’ ihn lieb, hörst du?«

Er nickte lebhaft.

»Herrgott, das Fräulein ist wieder da. Gott sei gepriesen, halleluja!«
murmelte Hieronymus Teichmann.

       *       *       *       *       *

An diesem Abende wurden drei Dinge in die Annalen der Schwarzhausener
Geschichte aufgenommen.

Da waren zum ersten die neuen Gaslaternen angekommen und aufgestellt,
zum zweiten war Franziska Malcroix, geborene Eik von Eichen wieder
heimgekehrt, nachdem ihr plötzlich verstorbener Mann sie völlig
mittellos und mit beflecktem Namen zurückgelassen, und drittens sollte
Fräulein Adelgunde Eik von Eichen so etwas wie der Schlag getroffen
haben, weil die verlorene Tochter des Hauses ihr die acht Jahre lang
geführten Schlüssel abverlangt und sich wieder an die Spitze des
Haushaltes gestellt hatte.

Der Provisor der Apotheke hatte unter dem Siegel der Verschwiegenheit
einigen Honoratioren erzählt, daß ~Dr.~ Hempel im Hause Eichenborn
Schröpfköpfe gesetzt habe, wem?, wußte er nicht zu sagen.

Aber mit ungewissen Dingen gaben sich die Schwarzhausener ungern ab
und wenn auch dem schlechten Kerl, dem alten Eiken zuzutrauen war,
daß er aus reiner Bosheit seinen Familienmitgliedern Schröpfköpfe
setzen ließ, -- so löste der Gedanke an einen Schlaganfall Fräulein
Adelgundens doch mehr Befriedigung aus in den Herzen der lieben
Mitmenschen. --

Der nächste Tag war ein Sonntag.

Die Schwarzhausener waren heute alle in der Kirche, und der alte Herr
Pfarrer Klingenreuter lächelte fein, als er die Kanzel bestieg.

Er hatte halb Schwarzhausen getauft, konfirmiert und getraut, er kannte
seine schwarzen und weißen Schäflein als getreuer Hirte. Er sah durch
ihre fromm emporgerichteten Stirnen in ihre unfrommen Gedanken. Und
predigte sehr schön und höchst unbequem heute vom Splitter im Auge des
Nächsten und vom Balken im eigenen Auge. Man war nicht befriedigt.
Vom Hören nicht und auch vom Sehen nicht. Denn der Kirchenstuhl der
Eik von Eichens blieb leer, und Fräulein Adelgunde, die nach dem
schweren Schlaganfall eigentlich auf dem Schragen liegen sollte, saß am
Fenster und häkelte ihre bekannte Gardinenspitze, von der Böswillige
behaupteten, sie ginge schon um das ganze Fürstentum herum. --

Es ward ein höchst langweiliger Sonntag vom Morgen bis zum Abend. Denn
man hatte gehofft, wenigstens an einem der Fenster des »Eichenhauses«,
wie es kurzweg genannt wurde, einen Schatten von Franziska Malcroix
oder ihrem Sprößling zu sehen, und vom Mittagessen an pilgerte ganz
Schwarzhausen dort vorbei, -- vergebens. Nur der alte Teichmann, der
so unverständig war, nie einen Ton über seine Herrschaft zu sagen, der
er seit fünfzig Jahren diente, -- ihn nur erspähte man. Er saß auf
seinem bekannten Platz, auf einer der steinernen Bänke im Grashof,
hatte sich das stadtbekannte Luftkissen untergeschoben, welches seit
zehn Jahren schadhaft war und von der guten Frau Teichmann unentwegt
aufgeblasen wurde. Man fürchtete sich etwas vor Hieronymus Teichmann,
denn man begriff immer noch nicht seine wunderliche Art zu reden,
trotzdem er schon als zehnjähriges Kind derselbe Reimschmied gewesen
war. Ja, die verstorbene Hebamme von Schwarzhausen behauptete unter
ihrem Eide, er sei »mit’n Versch« auf die Welt gekommen.

Was sie damit sagen wollte, verstand niemand, aber unheimlich war’s.

Nur Fräulein von Bebeleben, eine der zwanzig Stiftsdamen des adligen
Klosters Schwarzhausen, fürchtete sich nicht vor ihm und überhaupt vor
keinem Menschen und keinem †††.

Deshalb stelzte sie mit großen Schritten in den Grashof, und nun stand
sie vor dem ungeheuer pfiffig Dreinschauenden.

»Warum waren Sie heute nicht in der Kirche, Teichmann? Es könnte Ihnen
doch wahrhaftig nichts schaden, sich mit unserm Herrgott ein bißchen
auf du und du zu stellen.«

Die Antwort war unbefriedigend.

»Bei allem Respekt vor der Heiligkeit,« meinte Teichmann bedächtig,
»ich hatte dazu heut keine Zeit, und wo soviel Schafe im christlichen
Stall, kann so’n alter Hammel wohl fehlen mal, der liebe Gott ist ’n
braver Mann, aber ich schau’ ihn ganz gern von ferne an.«

»Ketzer!« rief die Stiftsdame entsetzt und wendete ihm den Rücken. Da
lachte der alte Teichmann wieder sein feines, pfiffiges Lachen und
nahm sein geliebtes Buch vor seine große Hornbrille, das Buch, das er
Sonntags kaum aus den Händen legte, -- das Neue Testament.

Aber die Frau Postverwalterin Nehring war heute die Heldin des Tages.

Sie hatte ja die schwarzgekleidete Fremde, welche mit der Post ankam,
gesehen und -- erkannt.

»Blaß, -- liebe Damen, war sie und verweint.« So lautete später ihr
Bericht. »Weiß wie mein Tischtuch, wenn ich’s Sonntags auflege, und
der Schirm zerlöchert; und das Kleid, -- höchstens eine Mark fünfzig
Pfennig das Meter bei Dingelmann und Sohn. Und der kleine Junge machte
’ne närr’sche ›Fichur‹, -- ich weiß nicht, hat er ’n Buckel, oder war’s
’n Rucksack.«

Die Schwarzhausener beschlossen, daß es ein Buckel gewesen sei.

Acht Tage später waren schon in aller Morgenfrühe die Fenster samt den
Spionen in Schwarzhausen besetzt, und junge und alte Leute drückten
sich die Nasen platt, -- Franziska Malcroix brachte ihren Sohn zur
Schule. Und vor dem Schulhause nahm sie das schöne Köpfchen in beide
Hände und küßte ihn auf die Augen. Dann ging sie heim.

»Na, nun werden wir doch endlich was zu wissen kriegen.«

»Wundern kann’s einen doch, daß der reiche Eik von Eichen dem Enkel
keinen Hauslehrer hält.«

»Wenigstens bis zum richtigen Gymnasium.«

»Man kann gespannt sein, was es für ein Früchtchen ist.«

»Nun, auf den Kopf gefallen sind ja die Eik’s nicht.«

»Die Franziska schon mal gar nicht.«

»Und der Lump, der Malcroix, auch nicht, sonst wäre er nicht mit der
reichsten Schwarzhausener durchgegangen.«

»Du lieber Gott, man freut sich ja wahrhaftig, wenn die Vaterstadt sich
durch Zuwachs vergrößert, ob aber der Buckolorum uns Ehre unters Dach
trägt -- der Enkel von so einem -- und der Sohn von so einem -- -- --«

Nun, jedenfalls schärfte man den Kindern der Schule ein, heute
tüchtig aufzupassen und gleich, aber auch gleich nach Schulschluß
heimzuspringen, ohne erst vorher Stinnerte zu spielen. -- -- --

       *       *       *       *       *

Bertold Malcroix stand mit sehr unbehaglichen Gefühlen in der
Schulstube und wartete mit zwanzig andern Kindern, Knaben und Mädchen,
auf den Herrn Rektor.

Es war eine Vorschule, die er bis zum zehnten oder elften Jahre
besuchen sollte, je nachdem er für reif erklärt wurde, ins Gymnasium
nach E. zu kommen. Auch Mädchen waren in der Klasse, die entweder beim
Herrn Rektor bis zu ihrem vierzehnten Jahre »weitergingen« und dann in
einen Dienst traten, oder -- eine Gouvernante bekamen. Die Rektorschule
erfreute sich eines großen Zuspruches und ungeteilter Beliebtheit nicht
nur im Orte, sondern auch in der Umgegend.

Denn, was der Herr Rektor lehrte, das saß fest.

Ja selbst die ganz Vernagelten profitierten noch etwas von ihm, ehe sie
abgingen; den dummen Buben gab er den ehrlichen Rat, nie zu heiraten,
damit diese Rasse ausstürbe, und den »törichten Jungfrauen« schenkte er
wenigstens »Kochrezepte«.

Zu jedem einzelnen dieser Unbegabten aber meinte er gütig:

»Du Brät! Sag’s nur kei’ Menschen, wie dei Lehrer geheißen hat.« -- --

Rektor Dillen war eigentlich kein Rektor, er hatte nur das zweite
Examen bestanden, aber zu seinem 50. Geburtstage beschloß man in
Schwarzhausen, ihn zu ehren, indem man ihn von diesem Tage an »Rektor«
nannte. Ihm selbst bekam die Standeserhöhung verhältnismäßig gut, aber
seine zarte, kleine, bescheidene Frau, die sogar vor der Köchin des
Herrn Bürgermeisters einen tiefen Knicks hinsetzte, war dem nicht mehr
gewachsen, und sie flüchtete sich aus dieser Welt der Titulaturen.

Das war nun fünf Jahre her, und seitdem führte »Fräulein Rektor«, seine
alte Schwester, ihm die Wirtschaft.

Sie pflegte zu sagen: »Ich habe bei Präsidents und bei Rats und bei
Majören gedient, -- nu werd’ ich wohl genug Benehmigung for’n Rektor
Dillen, meinen Herrn Bruder, haben.«

Doch auch der Name des Rektors war falsch, er hieß eigentlich »Tüllen«.
Aber mit so unerhörten sprachlichen Anstrengungen befaßt sich der echte
»Dhiringer« nicht, und der Mann selbst stellte sich vor: »Mei Name is
Dillen.«

Und als diesen Biederen einmal ein junger Kreisschulinspektor anschrie:
»Herr, wenn Sie Tüllen heißen, warum nennen Sie sich nicht so?«,
da antwortete er: »Es glingt so ibermit’ch, -- -- wenn ich ämol
Gultusminister bin, -- dann!«

Und zu ihm kam Bertold Malcroix, d. h. vorläufig noch nicht, denn
es war erst acht Uhr und Rektor Dillen hatte die Angewohnheit, das
akademische Viertel innezuhalten, das einzige Zugeständnis, das er
einer glorreichen Vergangenheit machte, -- er hatte einst Theologie
studieren sollen. -- An seinem fünfzehnten Geburtstage war ihm diese
schwindelnde Aussicht eröffnet worden, die sich dann auch als Schwindel
erwies. Denn er bekam nach und nach vierzehn Geschwister, und die
fraßen ihm mit ihren hungrigen Mäulern die Zukunftshoffnungen auf,
wenigstens knabberten sie so lange an der »Kanzel« herum, bis nur ein
schlichtes »Katheder« übrig blieb. --

Vor diesem Katheder wartete Bertold Malcroix, bis es ein Viertel nach
acht sein würde, sämtliche Mitschüler und Mitschülerinnen standen um
ihn herum, aber sie redeten ihn nicht an, sie kicherten nur, schubsten
ihn ein wenig oder traten ihm auf die Füße, es mußte irgend etwas
Ehrenrühriges darin liegen, ein »Neuer« zu sein.

Aber fünf Minuten vor ein Viertel auf neun flog ein kleines Mädchen
zur Tür herein, bahnte sich mit zwei rührigen Ellbogen durch die
Kinderschar eine Gasse und stand nun vor Bertold, den sie von allen
Seiten mit prüfenden Blicken musterte.

»Du hast ja gar keinen Buckel!« rief sie dann. Das war ihre Begrüßung.
Bertold lachte.

Es war ein herzliches, sonniges, frohes Kinderlachen, so recht aus dem
Innersten heraus, wie man es sonst nur bei ganz jungen Dreijährigen
hört, und das Gesicht des kleinen Mädchens erstrahlte bei diesem
Lachen, sie nahm den Jungen gleich fest bei der Hand.

»Warum sollte ich denn einen Buckel haben?« Und wieder lachte Bertold.
Diesmal war’s ein Duett mit dem Mädel.

»Sie sagten’s alle, -- aber es ist gut, daß du keinen hast, denn sonst
hätte ich sanft mit dir sein müssen, meinte Trine.«

»Wer ist Trine?«

»Trine ist -- Trine.«

»Wie heißt du denn?«

»Liselotte Windemuth. Aber halt jetzt nur den Mund, da ist der Herr
Rektor.«

Rektor Dillen sah erst den kleinen Ankömmling gar nicht, so groß und
schlank das Bürschchen auch war.

Oder _wollte_ er ihn nicht sehen?

Wurde die Erinnerung zu mächtig in ihm, die Erinnerung an die Mutter
dieses Knaben, die mit so sonnigen Augen in diese düstere Welt und
insbesondere in die düstere Welt der Eichenborns geschaut hatte, und
die seine Lieblingsschülerin gewesen war?

Neunzehn Zeigefinger fuhren in die Höhe, der zwanzigste lag still
geborgen in der Hand des einundzwanzigsten Schülers.

Bertold hielt Liselottes Händchen fest umklammert.

»’s is ein Neuer da! Herr Rektor.«

»Ruhig, liebe Kinder! Wir wollen erst unser Morgenlied singen.«

    »Unsern Eingang segne Gott,
    Unsern Ausgang gleichermaßen,
    Segne unser täglich Brot,
    Segne unser Tun und Lassen,
    Segne uns in sel’gem Sterben,
    Und mach’ uns zu Himmelserben.«

Schon bei dem ersten Vers, lange ehe die Strophe zu Ende ging, hatte
der Lehrer die Geige sinken lassen, -- denn eine helle, glockenreine
Knabenstimme führte den Chor fest und sicher bis zu Ende.

»Tausend Wetter, mein lieber Junge,« rief Rektor Dillen in ehrlicher
Begeisterung, aber dann mußte er sich umständlich die Nase schneuzen,
weil die Bewegung ihn übermannte. Zwei wunderschöne tiefe Kinderaugen
schauten ihn an, wie früher die stahlblauen Augen der Franziska, und
dieselbe klare Kinderstimme, die einst das Schulstübchen mit Wohllaut
erfüllte, rief ihm zu: »Ich soll Sie von der Mutter grüßen, und sie
würde ihren verehrten Lehrer bald aufsuchen.«

»Schön, schön, mein Junge.« Wieder schluckte er heftig. »Und nun sage
mir noch, wie du heißt und wie alt du bist.«

»Ich bin neun Jahre alt, und ich heiße: Bertold Eik von Eichen.«

Es ging ein Summen und Tuscheln durch die Kinderschar.

»Is ja gar nich wahr.«

»Malcroix, -- Malcroix --«

»_Wie_ heißt du, Kleiner? Besinne dich einmal!«

»Bertold Eik von Eichen. Großvater hat es gesagt, ich sollte so
antworten.«

»Ahhh! So so -- gut und schön! Setz’ dich! Oder nein, lies
mir gleich einmal ein Stückchen aus dem Kinderfreund. Seite
einhundertachtundsechzig oben, damit ich sehe, was du kannst.
Liselotte Windemuth, ich glaube gar, du willst schon frühstücken, das
ist sehr ungehörig.«

Liselotte wurde rot, aber es achtete niemand darauf, denn der neue
Bertold las ganz unerhört schön und gänzlich fehlerfrei das schwierige
Lesestück.

»Das war ja sehr gut, Bertold.« Die guten Augen des Lehrers strahlten.
»Ich sehe schon, du bist der echte Sohn meiner braven Schülerin
Franziska.«

Sei es nun, daß seine Stimme bei diesen Worten bebte, oder war es sonst
etwas, -- Bertold Eik warf plötzlich beide Arme auf den Tisch, legte
sein Gesicht darauf und fing an bitterlich zu weinen. --

Liselotte Windemuth saß verstört neben ihm, -- -- die anderen waren
je nach Veranlagung frech oder verlegen, beinahe aber alle stellten
innerlich fest, daß es noch nie so »fein« in der Schule gewesen sei,
-- Mütter und Tanten würden Augen und Ohren aufsperren, was sie heute
erführen.

Und Rektor Dillen stellte bei sich fest, daß die erste Stunde recht
unruhig verlaufen sei und die Kinder wenig in ihr gelernt hätten, --
nur ihm selbst hatte sie einen Gewinst gebracht.

Durch schöne, reine Kinderaugen hatte er in ein schönes, reines
Kinderherz geschaut, ein Erlebnis, das einem Lehrer wohl einen ganzen
Tag verklären konnte.

Er beschloß, die Pause heute etwas zu verlängern, um den Kindern
Gelegenheit zu geben, ihre Neugierde zu befriedigen und sich zu
sammeln. Und den arg verweinten Kinderaugen wollte er erlauben, sich zu
waschen und zu kühlen, damit sie wieder hell würden für den Rest des
Tages.

Rektor Dillen war ein erfahrener Lehrer, der ja auch in den dreißig
Jahren seiner pädagogischen Tätigkeit viel hatte strafen müssen, aber
Kindertränen waren seinem liebevollen Herzen immer etwas Heiliges
gewesen. --

Kaum hatte das kleine, heisere Schulglöckchen, von Fräulein Rektor in
Bewegung gesetzt, den Stundenschluß verkündigt, so wandte sich der
Rektor gleich an Bertold.

»Du kannst in das Grasgärtchen gehen, mein Sohn, und die Liselotte wird
dich begleiten, wenn du sie bittest.«

»Er braucht nicht zu bitten,« rief Liselotte rasch, »und ich hatte mir
gerade dasselbe ausgedacht, während er das lange Lesestück vorlas.
Komm, Bertold.«

Ihre schlanken Beinchen liefen sehr schnell, Bertold konnte kaum
folgen, und dann saßen sie einträchtig auf dem kleinen Holzbänkchen in
der Geißblattlaube.

»Warum hast du geweint, Bertold?« fragte die Kleine energisch.

»Ich weiß es nicht.« Seine Augen wurden schon wieder verdächtig blank.

»O, dann ist es sehr dumm. Man weint doch nicht, wenn man’s nicht weiß.
Man hat schon genug zu weinen bei Ungerechtigkeiten und Leibweh.
Willst du jetzt wieder heulen, oder kann ich dich viel fragen?«

»Frag’ mich nur.«

»Ich möchte wissen, ob wir sehr gut zusammen passen. Sieh mal, du bist
schon neun und ich erst sieben, das paßt doch schon nicht. Aber sag’
mal, bist du auch altklug, Bertold?«

»Das weiß ich nicht, -- bist du es denn?«

»Freilich, -- sie sagen’s alle in Schwarzhausen. Es tut nicht weh, aber
es ist nichts Schönes.«

»Nun dann sei es doch nicht.«

»Phh! Als ob das so ginge. Das ist so was Festgewachsenes, wie Haare
und Augen.«

»Das glaube ich nicht.«

»Dann laß es bleiben.«

Eine Pause entstand.

»Schade wär’s, wenn wir gar nicht paßten,« meinte die Kleine endlich
nachdenklich. -- »Und dann habe ich auch absolutes Tonbewußtsein!«

»Was ist denn _das_?« rief Bertold in ungemessenem Erstaunen.

»Junge, du weißt aber auch rein nichts. -- Das ist so: Wenn ich a
singe, denn ist es auch a.«

»So? Und wenn du nun b, c, d, e, f, g, h, i, k, l, m, n, o, p singst?«

Da lachten sie beide und es klang wie zwei Glocken, eine hohe und
eine tiefe, und der alte Rektor, der in einiger Entfernung an der
Geißblattlaube vorbeiging, meinte, sie läuteten gewiß eine schöne,
frohe Lehrstunde ein.

»Sag’ mal, Liselotte,« fragte jetzt Bertold, »warum meintet ihr denn
alle, ich hätte einen Buckel?«

»Ach so! -- Na ja, du hattest so ’ne Erhöhung auf dem Rücken, sagte die
Frau Postverwalter, wie du aus der Postkutsche stiegst.«

»I, seid ihr komische Menschen! Das war meine Geige!«

»Eine Geige? Eine ganz wirkliche Geige? Und du kannst richtig spielen?
Ist es eine kleine Kindergeige? Darf ich mal drauf probieren?«

»Oho, das ist nicht so einfach. Meine Geige ist außerdem eine echte
Amati.«

»Was ist denn das?«

»Oho, nun fragst du auch, und ich könnte dir sagen: du weißt aber auch
gar nichts. Amati und Stradivarius, das waren die zwei berühmtesten
Geigenbauer.«

»Ach so, dann will ich Väterchen bitten, daß er mir Stra--ti--«

»Stradivarius -- -- --«

»Ja, -- so ein Stratifarius kauft.«

»O du Dummerchen! Weißt du denn, wo man ihn so schnell kriegt? Meine
Amati hat Vater in Nürnberg gefunden, auf einer Bodenkammer, in einer
alten Truhe von einem alten Fräulein, die gar nicht wußte, wer sie da
mal reingelegt hatte, und dann machte Vater sie zurecht, und nun soll
sie fünfzigtausend Mark kosten.«

»So!!« Liselotte sah sehr nachdenklich aus. »Ich habe nur
achtunddreißig Pfennige. Von Herrn Organisten Brennstoff. Das ist ein
guter, lieber Mann. Immer, wenn er mich sieht, sagt er: Sing mal a,
dann tu’ ich’s und dann zieht er die Stimmgabel raus und probiert und
dann ruft er: Heil’ge Cäcilie, es stimmt! Du bist doch ä Luderchen. Und
dann schenkt er mir einen Pfennig.«

»Achtunddreißigmal!« rief Bertold, »das muß sehr lustig für dich sein.
Aber eine Stradivarius kriegst du nicht dafür.«

»Das ist einerlei, -- ich habe ja auch noch ’ne Akkordzither.«

Herr Rektor Dillen zog jetzt die beiden aus ihrem Plauderwinkel.

»Kinder, Kinder, ’s is die hechste Zeit, -- schreiben missen mer.«

Das war eine weitere Eigentümlichkeit des Herrn Rektors, -- er
sprach in der Aufregung, im Zorn und in der Begeisterung immer
arg thüringisch, aber sobald er in Ruhe war, redete er ein völlig
einwandfreies Hochdeutsch.

Und sie schrieben eine ganze Stunde lang Sprichwörter, und wieder
mußte Rektor Dillen den Neuen loben, der eine geradezu vorbildliche
Handschrift hatte.

»Aber ich kann nicht dahinter kommen, was du mit _diesem_ Sprichwort
gemeint hast, Bertold -- --«

Und der Lehrer las aus des Knaben Heft vor: »Wer achtunddreißigmal a
sagt, muß auch b sagen.«

Da lachte die ganze Klasse schallend, Bertold und Liselotte lachten
auch ihr schönes, klingendes Glöckchenduett, und Rektor Dillen legte
dem Knaben die alte runzlige Hand auf den dunkeln Lockenkopf und sagte
leise: »Lache nur zu, mein Junge, -- die im Eichenhause können Sonne
brauchen.«

Dann war der Unterricht beendet.

Man konnte von diesem Tage an von Schwarzhausen das Bild gebrauchen:
»Sturm im Wasserglase«.

Früher hatte es der alte gallige Herr Eik von Eichen öfter einen
stehenden Teich genannt, -- Teich mit Entengrün.

Es hatte ihm immer ungeheuern Spaß gemacht, ab und zu ein Steinchen
hereinzuwerfen in die grünüberzogene Stille, aber der Stein, den
sein eigenes, vergöttertes Kind durch kopflose Heirat und heimliches
Durchbrennen in den Teich warf, war zu schwer und wuchtig gewesen. Der
hatte einen brodelnden Morast aufgewühlt, dessen übelriechende Dünste
dem alten Vater das Leben, mindestens aber die letzten zehn Jahre
vergiftet hatten.

Jetzt war das Wasser heller und reinlicher geworden, aber es stürmte,
brauste und zischte, wie eitel Kohlensäure.

Also der Name Malcroix sollte einfach abgetan werden?

Und der Knabe war etwas ganz Besonderes? Der die ganze Stunde hindurch
über den Schellenkönig gelobt wurde und in den Pausen in Herrn Rektors
Grasgärtchen sitzen durfte, damit nur ja kein Schwarzhausener Kind ihn
necke und hänsele?

Man erwog ernstlich, ob der Rektor nicht etwa zu alt und kindisch würde
und durch eine strammere Kraft ersetzt werden müsse. --

Franziska aber zog ihren Jungen mit einem Jubelruf in die Arme, sie
war nur vier Stunden von ihm getrennt gewesen, aber ihr hatten es Tage
gedünkt, und Bertold schmiegte sich innig an die Mutter und plauderte
von seinen neuen Eindrücken und Erlebnissen.

Nur die Tränen des plötzlichen Heimwehs verschwieg er ihr, vielleicht,
weil sie zu rasch getrocknet waren durch Liselottes Plaudereien. Immer
wieder kam der Name des kleinen Geschöpfes in Bertolds Erzählungen
vor: »Da sagte Liselotte, -- da meinte Liselotte, -- und da lachte
Liselotte, -- und ich soll sie besuchen. Und denk dir, Mutter, sie ist
altklug und hat absolutes Tonbewußtsein und eine Akkordzither, und sie
hat noch nie gewußt, was ’ne Amati ist.« --

Durch Frau Franziskas Herz war während dieser Erzählungen ihres Jungen
etwas gehuscht, über das sie sich selbst ausschalt.

Wäre es möglich, daß sie Eifersucht empfand?

Aber sie war bis heute so ausschließlich das A und O ihres Jungen
gewesen, bisher hatte er nach jedem Schultag so aus Herzensgrund
gerufen: »Gottlob, Mutter, daß ich wieder bei dir bin!« Deshalb
erblaßte sie heute leicht, als dies Jubelwort fehlte und Bertold statt
dessen sagte: »Und nachher will ich Liselotte besuchen.«

Herr von Eichen ~senior~ kam ihr zu Hilfe. Er hatte dem Plaudern des
Knaben mit ganz merkwürdigem Gesichtsausdruck zugehört. --

»Daraus wird nichts,« erklärte er finster. »Die Schule bringt Unruhe
genug. Das fehlte noch gerade, daß mir hier kreischende, polternde,
unzurechnungsfähige Sprößlinge fremder Leute ins Haus kämen -- -- --«

»Da bin ich,« sagte in diesem Augenblicke eine frohe Kinderstimme und
ein warmes, kleines Händchen schob sich vertrauensvoll in die behaarte
große Rechte des Scheltenden. »Ihr habt gewiß schon gewartet, aber ich
konnte wirklich nicht eher, immer muß ich von dem Bertold erzählen, die
Leute sind schrecklich neugierig. Und kein Mensch wollte es glauben,
daß ich zu dir dürfte, denk bloß -- --«

Und Liselotte Windemuth lachte silberhell und lehnte ihr weiches
Körperchen an den grimmigen alten Herrn, so daß ihre blonden langen
Locken über seinen grauen Flaus fielen.

Niemand von der Tafelrunde, die um den Familientisch der Eik von
Eichens saß, sprach ein Wort. Aber von dem einen Ende des Tisches kam
ein häßliches, meckerndes, hölzernes Lachen, und dies Lachen berührte
um so verwunderlicher, als es aus dem Munde des »schönen Eiks« kam.
So nannte man Eik von Eichen ~junior~, den Pflegesohn und Haupterben
der Eichenschen Besitztümer, den vorbildlichen Prachtmenschen, den
korrekten, fleißigen, wohltätigen Handels-, Fabriks- und Gutsherrn, den
»Heiligen von Schwarzhausen«.

Liselotte warf einen etwas scheuen Blick auf ihn, dann drückte sie
rasch die Hand des stummen, alten Herrn und küßte sie, wie sie es von
ihrem Vater gewohnt war, darauf wandte sie sich an den Jungen:

»Komm, Bertold, -- komm rasch und zeige mir deine Geige,« rief sie,
anscheinend höchst froh, aus der stummen Gesellschaft fortzukommen.
»O, ich kann’s ja gar nicht erwarten, die Amati zu sehen, und Herrn
Organist Brennstoff habe ich auch schon davon erzählt, der freut sich
halbtot. Stunden will er dir geben, hat er gesagt, und etwas Großes aus
dir machen, und er rief immer: Heilige Cäcilie, habe Dank!«

Das Kind verstummte, denn der alte Herr von Eichen hatte sich langsam
aufgerichtet und sein verändertes Gesicht war furchtbar anzusehen. Die
Adern lagen wie große, blaurote Schwielen auf der breiten Stirn und die
grauen, düsteren Augen schossen Blitze. Schwer fiel seine Faust auf den
Tisch, daß das Kaffeegeschirr tanzte und klirrte. --

»Die Geige« -- keuchte er und faßte das Handgelenk seiner Tochter,
die blaß und schreckensbang zu ihm aufschaute. »Du hast es gewagt,
Franziska, sie mitzubringen?« -- --

Und nun folgte ein Jähzornsausbruch, so gewaltig, so wuchtig und
tobend, daß die jahrhundertealten Wände zu beben schienen. »Hinaus!«
schrie er mit einer Stimme, die nichts Menschliches an sich hatte,
und Frau Franziska nahm mit zitternden Händen die beiden Kinder und
flüchtete mit ihnen auf die große Diele. Von hier aus lief sie, wie
gejagt, in ihr eigenes Zimmer, während Bertold und Liselotte sich
erschreckt ansahen.

Liselotte strich sich die wirren Locken hinter die Ohren.

»Na so was!« meinte sie empört. »_Das_ erzähle ich aber zu Hause, --
das ist ja ffffurchtbar nett, daß ich nun auch den schlechten Kerl mal
gesehen habe.«

»Meinen Großvater,« stammelte Bertold, blaß bis in die Lippen.

»I wo, den mein’ ich ja gar nicht. Ich mein’ natürlich deinen Onkel,
der so gräßlich lacht und grinst.« -- -- --

Sie streichelte liebevoll den verstörten Kameraden. »Fürchte dich nur
nicht, Bertold, ich beschütz’ dich schon. Weißt du, ich hab’s furchtbar
gern, wenn einer so losballert wie dein Großvater, mein Väterchen tut
auch so, wenn die Base ihm Papiere verkramt, -- komm, Bertold, komm zur
Amati.«

       *       *       *       *       *

Am andern Tage ging es in der Schule weit lebhafter zu als am ersten.

Denn in den letzten zwölf Stunden des vergangenen Tages und der
vergangenen Nacht hatte man in Schwarzhausen so viel Neues erfahren,
wie sonst nicht in Wochen, und in jeder Familie, die schulpflichtige
Kinder besaß, ermahnte man die Kinder, den Bertold Malcroix ein bißchen
auszuhorchen und vor allen Dingen es nicht zu leiden, daß er während
der Pausen sich mit Liselotte Windemuth verkrümele.

Rektor Dillen war beim alten Herrn Eik von Eichen gewesen, das wußte
man auch, und er hatte dort verbrieft und versiegelt vorgefunden,
daß der Bertold wirklich Eik von Eichen hieß und daß der durch
leichtsinnige und schlechte Streiche des verstorbenen Malcroix
besudelte Name durchaus verschwinden solle. Das heißt, wenn dies
Frau Fama, das geschwätzigste aller Weiber, das in Schwarzhausen
Ehrendienstwohnung besaß, zuließ. Vorläufig nannte man den Bertold
_erst recht_ Malcroix, und es war ein fortgesetzter Ärger von den
Schwarzhausenern, daß der hergelaufene Junge nicht auf ihn hörte,
sondern den Rufenden höchstens mit ernsten, stillen Augen ansah, --
mit höchst unbequemen Augen, vor denen man sich beinahe schämte.

Ja, einer schämte sich so gründlich, daß er ein guter, zuverlässiger
Freund von Bertold wurde, trotzdem er wenige Minuten vor diesem
Schamprozeß recht hämisch quer über die Straße gerufen hatte: »Komm
einmal her, kleiner Malcroix!«

Dieser Mann, dem dann der abweisende, ernste, tiefe Kinderblick »bis
an die Nieren« gegangen war, war der Apotheker von Schwarzhausen, Herr
Nothnagel, -- und da er zu den gewichtigen Leuten zählte, konnte sich
Bertold zu dessen plötzlicher Freundschaft wohl beglückwünschen.

Und Herr Nothnagel bekräftigte diese Freundschaft mit einem halben
Pfund »Abfallschokolade«, die er einem geheimnisvollen Fache seiner
Apotheke entnahm und die Bertold und Liselotte auf einen Hieb
vertilgten.

Darauf bekamen sie drei Tage heftigen Durchfall, ohne zu ahnen, daß sie
ihn der plötzlich erwachten Zuneigung des Herrn Nothnagel verdankten.

In der Pause saßen Bertold und Liselotte doch wieder eng aneinander
geschmiegt im Grasgärtchen.

Sie hörten gar nicht auf das Höhnen und die Schmährufe der
anderen Kinder, sie waren auf der fernen, glückseligen Insel der
Jugendfreundschaft und des ersten rückhaltlosen Vertrauens.

Liselotte erzählte stürmisch und temperamentvoll die wichtigsten
Ereignisse ihres jungen Daseins.

Daß ihre Lieblingspuppe Emmy ein schleichendes Fieber habe und schon
seit einem Jahre ohne Kopf daliege, aber »zu süß« sei und gescheiter
und netter als alle anderen dreiundzwanzig Puppenkinder, -- daß ihr
Papa ein grundgelehrter Professor sei und »Väterchen« heiße, daß ihre
Mama schon seit vier Jahren im Himmel sei, gerade dort, wo er am
Tage am allerblauesten sei und wo des Nachts der Abendstern stünde
-- -- -- so hätte es Väterchen ihr erzählt. Und daß die Base Juliane
den Haushalt führe und die alte Trine koche und flicke und stopfe und
schimpfe, aber sonst beinahe so lieb sei, wie Puppe Emmy, -- nur eben
leider _mit_ Kopf.

Bei der Trine waren auch alle Puppen in »Penzion«, denn die Base
Juliane erlaube nicht, daß Liselotte viel mit ihnen spiele, und es
seien doch ihre Kinder, ihre süßen, wonnigen Kinder, die der Storch
gebracht habe und der habe sie Liselotte, ganz richtig ins Bein
gebissen, sie könne Bertold jeden Augenblick ihre große Zehe zeigen, wo
die Narbe noch dran wäre.

Liselottes Phantasie war großartig und ging jeden Tag zwölfmal mit ihr
durch, aber für den ernsten Jungen war es ein tiefes Glück, in die
begeisterten Augen seiner kleinen Gespielin zu schauen.

»Bring’ mir nur deine Puppen,« meinte er, »ich will sie auch lieb
haben.«

Diese Aussicht überwältigte Liselotte dermaßen, daß sie die Ärmchen um
seinen Hals legte und ihm einen Kuß gab, worauf sie sich beide den
Mund abwischten.

»Du bist ein _lieber_ Junge,« rief Liselotte, »willst du Puppe Emmy
heiraten, oder lieber Vater sein?«

»Vater sein,« erklärte Bertold, und die Sache war abgemacht.

Als Rektor Dillen die Pause für beendet erklärte, hatte man sich schon
für denselben Nachmittag verabredet, um fünf Uhr nach den Schularbeiten
auf Windemuths Oberboden zusammen zu kommen, und zwar sollte Bertold
seine Amati mitbringen und Liselotte ihre sämtlichen Puppen.

»Und wenn Base Juliane es nicht erlaubt, dann werde ich brüllen und um
mich schlagen, daß das Haus wackelt,« erklärte Liselotte, »dann darf
ich’s schon, denn Väterchen braucht Ruhe.«

Bertold lachte wieder sein herzliches, tiefes Lachen. Dann meinte er
sinnend: »Meine Mutter hat früher auch immer mit Puppen gespielt, sie
erzählt mir wunderschöne Geschichten davon. Deine Base Juliane ist
wahrscheinlich nie Mutter gewesen.«

Dies rührende Kinderwort sollte später die Schwarzhausener darin
bestärken, daß Bertold »Malcroix« ein grundverdorbener Bengel sei.

Denn als der Kampf mit Base Juliane an demselben Nachmittag wirklich
entbrannte und Liselotte wie eine Löwin um ihre Jungen kämpfen mußte,
rief das Kind ihrer Base empört zu: »Sag’ mal, bist du mal Mutter
gewesen?«

Und auf die wütende Gegenfrage der alten Jungfrau: »Wer, -- wer wagt
es, so gemein zu fragen?« kam die Antwort: »Der Bertold.«

       *       *       *       *       *

In all solchen Dingen handelte Schwarzhausen immer unglaublich rasch
und holte die zehntausend Meilen, die es sonst in der Kultur zurück
war, oft in einer Stunde ein.

Schon am Nachmittag brachte es Base Juliane dem Professor Windemuth,
der natürlich gerade in einer wichtigen archäologischen Arbeit saß,
unter Tränen, Wut, Zittern und schamhaftem Erröten bei, daß, -- (o
du mein himmlischer Vater, Vetter Windemuth, ich kann’s dir kaum
andeuten), daß der hergelaufene Bengel Malcroix an ihrer, Julianes,
Jungfrauschaft frech gezweifelt hätte, und der nun sehr aufgebrachte
Professor, der sich ohnedem nach seiner schnöde unterbrochenen Arbeit
zurücksehnte, rief: »Der Junge darf mir selbstverständlich nie ins
Haus.«

Und am selben Abend wußte es ganz Schwarzhausen mit Ausnahme des
Hauses Eik von Eichen, daß der neunjährige Bertold ein ganz und gar
verdorbenes Früchtchen sei.

»Sie sind alle wild und verrückt,« plauderte Liselotte und sah ihren
neuen Freund, der mit dem sorglich behüteten Geigenkasten vor ihr
stand, ängstlich an. »Du darfst nicht rein zu uns, Bertold, ich soll
nicht mit dir spielen.«

Ganz schwarz wurden seine Augen in der Schmach dieser Minute. Wortlos
drehte er Liselotte den Rücken und ging zurück ins Eichenhaus. Sie sah
ihm nach und begriff mit der ganzen Stärke ihres Empfindens seinen
Schmerz, und nun schrie und tobte Liselotte so ausgiebig, wie sie
sich’s am Vormittag vorgenommen, und weinte die Hausbewohner zusammen
mit dem unerklärlichen Jammerwort: »Ohhh, er wollte Vater sein und ihr
erlaubt es nicht.«

Ja, Schwarzhausen, das moralische Schwarzhausen, ging schweren Zeiten
entgegen.

       *       *       *       *       *

Im »Eichenborn« gab es einen Raum, ein echtes, rechtes
Poetenwinkelchen, das hatte sich der alte Hieronymus Teichmann, der
im übrigen eine schöne, geräumige Dienstwohnung besaß, ganz besonders
für sich ausbedungen, und in diese heiligen Hallen verirrte sich nicht
einmal seine liebe, gute, runde Frau.

Fingerdick lag der Staub allüberall, aber alles, was er bedeckte, waren
für Hieronymus Heiligtümer und unantastbare Geheimnisse.

Nur einmal hatte Frau Thereschen Teichmann in diese Blaubartkammer
hineingeschaut, und nachdem sie einen Schrei der Entrüstung
ausgestoßen, hatte sie sich schnurstracks Wassereimer und Schrubber,
grüne Seife, Besen, Schaufel und Wischtuch geholt.

Aber der unmelodische Schrei hatte die beiden Hüter des Heiligtums
herbeigelockt, und Frau Thereschen fand sich einem Doppelposten
gegenüber, der ihr den Eintritt samt den Abzeichen ihrer
Hausfrauenwürde wehrte.

»Bei allem Respekt vor deiner Weiblichkeit, Teichweibchen, -- halt’s
Maul,« rief ihr der Gatte Hieronymus entgegen. »Staub ist alles hier
auf Erden, auch du sollst einst zu Staube werden. Und nun mache kein
Federlesen und heb’ dich hinweg mit deinem Besen.«

Frau Therese warf noch drei vorwurfsvolle Blicke zurück, den einen
auf ihren Gatten, den andern auf den Staub und den dritten auf den
Organisten Brennstoff.

Das war der andere Teil des Doppelpostens, der beste und geliebteste
Freund ihres Hieronymus, an welchen niemand auch nur »tippen« durfte.
Vom sechsten Jahre ihres Lebens an waren die beiden unzertrennliche
Kameraden.

Brennstoff, selbst Lehrerssohn, hatte Musik studieren dürfen,
gab sämtlichen Musikunterricht in Schwarzhausen und war Organist
der Stadtkirche; Hieronymus Teichmann dagegen war der Nachfolger
seines eigenen Vaters geworden, -- die Teichmanns dienten seit
Menschengedanken den Eik von Eichens, waren Schloßverwalter,
Silberdiener und Haushofmeister seit Generationen. Originale waren
sowohl Brennstoff wie Teichmann.

Beide liebten in ihrer Jugend das gleiche Mädchen, aber Teichmann
durfte sie heiraten und hatte es nie bereut.

Thereschen Balian aber ahnte nichts von Kantor Brennstoffs Liebe und so
wurde sie Teichweibchen.

»Das paßt und klingt gut,« meinte der Kantor entsagungsvoll. »Der
Teichmann und das Teichweibchen. Hingegen _der_ ›Brennstoff‹, und
weiter gar nichts, noch mehr Brennstoff bringt nur Explosion.«

Ganz allmählich waren aus den zwei Freunden _vier_ Unzertrennliche
geworden, es hatten sich Beethoven und Wagner zu ihnen gesellt.

Auf irgendeinem spinnewebdunkeln Oberboden des grauen Hauses hatte
ein Spinett gestanden; Hieronymus erhielt die Erlaubnis, es sich
herunterzuholen, und auf diesem Spinett tippte er leise und andächtig
in seinen Mußestunden herum, bis dann abends Organist Brennstoff kam
und mit weichen, großen Händen wunderbare Töne daraus hervorlockte.

Diese Töne wühlten das Innere auf und sänftigten es wieder, diese Töne
ließen die beiden alten Herzen wunderbar schwingen, also daß die Hände,
die zu den Herzen gehörten, sich falten mußten.

»Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre!«

»Herrgott, lieber Zacharias Brennstoff, -- gibt es denn nur noch so
etwas auf dieser Erden! Man könnte wahrlich närrisch werden, -- spiel’
weiter, Brennstoff, -- damit ich mein’, es musizieren die Engelein.«

Dann präludierte der Stadtorganist weiter, und die schlichten Töne
verdichteten sich zu einem Gemälde, und es war den beiden Alten,
als hinge das Adagio der fünften Symphonie in breitem, wunderbarem
Goldrahmen an der Wand über dem alten Spinett.

Aber den Beschluß machte immer dasselbe Lied, das so gut zu dem
glutroten Ball stimmte, der allabendlich hinter den Tannen des
Thüringer Waldes versank:

    »Fahr wohl, du goldne Sonne,
    Du gingst zu deiner Ruh,
    Und voll von deiner Wonne
    Gehn mir die Augen zu.
    Schwer sind die Augenlider,
    Du nimmst das Lied mit fort,
    Fahr wohl, wir sehn uns wieder,
    Hier unten oder dort.
    Und trägt des Tods Gefieder
    Mich statt des Traums empor,
    Dann schau’ ich selbst hernieder
    Zu dir aus höherm Chor.«

So war es jahrelang gewesen, -- da sah und hörte und fühlte der
Organist Brennstoff zum ersten Male Bayreuth.

Ein Stipendium, eine Fahrkarte und eine Berechtigungskarte für den
Nibelungenring fiel vom Himmel hernieder in seine Hand, -- so meinte
er heute noch, und doch hatte er den eingeschriebenen Brief dem
Postboten selbst abgenommen.

Wie im Traum war er damals aus Bayreuth zurückgekommen, und die
Schwarzhausener merkten es nicht, daß die heiligen Hallen der
Stadtkirche sich mit Wotans und Siegfrieds Gesängen füllten, und daß
sich von dem Platze ihres Organisten aus ein goldener Regenbogen
spannte, auf dem der verzückte Orgelspieler geradeswegs in Walhalla
einzog.

Es war ein Glück, daß Hieronymus Teichmann eine so gleichgestimmte
Seele war, -- Meister Richard Wagner brauchte gar nicht lange auf
dieser Harfe zu schlagen, da hatte er den ganzen Menschen schon mit
Haut und Haar.

Alles ersparte Geld ging beinahe auf Partituren drauf, die Brennstoff
dem Freunde mit himmelhochjauchzender Begeisterung vorspielte, und
Hieronymus sang beim Silberputzen: »Winterstürme wichen dem Wonnemond«
und »Heialaweia«.

Und jedesmal, wenn die beiden Freunde über Wagner philosophierten,
schlossen sie ihr Zwiegespräch: »Es war ein herrlicher Mann und ein
göttlicher Musiker, aber auch der, der uns die Bayreuther Karten gab,
soll bis in die Knochen gesegnet sein!«

»Uns« -- sagten sie, -- denn wenn auch nur der eine im gnadenreichen
Bayreuth gewesen war, -- sie fühlten sich eben beide als dieser eine.

Heute waren sie wieder einmal in Walhall gewesen, -- hatten dann den
herabsinkenden Sonnenball mit Beethoven heimgeleitet und wollten nun
selbst die Ruhe aufsuchen, als der Organist plötzlich sagte: »Meister
Beethoven hängt tatsächlich in der Luft. Mir ist’s, als hätte ich ihn
heute immerfort in den Ohren, auch wenn dieses Klavizimbel schweigt, --
hörst du nichts, Hieronymus?«

»Freilich, -- ich wollt’ es nur nicht wagen, und dir von der
Erscheinung sagen, -- hör’ nur -- -- als ob’s hier oben wär’. Oder
kommt es von draußen her?«

Die beiden Freunde sahen sich an und lauschten wieder.

Es war wie der Gesang einer Äolsharfe.

Aber Äolsharfen pflegen nicht Beethoven zu säuseln, und doch
unterschieden die beiden alten Freunde gar genau, wenn auch nur
harfenfein, die Töne.

    »Heil’ge Nacht, o gieße du
    Himmelsfrieden in dies Herz -- -- --«

Sie forderten sich nicht zu irgendeiner Tat auf, -- wann wären sie
jemals uneins in ihren Gedanken gewesen?

Mit dem Finger auf dem Mund stiegen sie die gewundenen, schnörkeligen
Holztreppen hinauf, und auf dem zweiten Absatz kam Beethoven schon
deutlicher zu Wort. Aber nirgends eine Spur von dem Sänger oder
Spieler, nur -- die Tür eines uralten Schrankes klaffte ein wenig,
allein dem strengen Auge eines ordentlichen Haushofmeisters bemerkbar,
und dann zogen die Freunde aus den Tiefen des Riesenschrankes das
Geigerlein hervor, das ganz betäubt war von Dunkelheit, Musik und --
Mottenpulver.

»Jesus! Unser Junker Bertold!« rief Hieronymus »Nun sag’ nur mal, wie
kommst du rein in diesen dunkeln Kleiderschrein?«

Bertold blinzelte die beiden an.

»Ach, nirgends darf ich spielen, -- und nun hast du mich auch hier
gefunden, Hieronymus. Wirst du es dem Großvater sagen?«

Der Alte schüttelte begütigend den Kopf und zog ihn mit sich die
Treppe hinunter. Organist Brennstoff aber hatte vorsichtig die Geige
dem Knaben abgenommen und prüfte nun beim Dämmerlicht, das durch das
Flurfenster fiel, die herrliche Maserung des alten Holzes und erkannte
schließlich mit andächtigem Entzücken den Namen auf dem Boden der Geige
durch das geschwungene ~S~ hindurch.

»Heilige Cäcilie, ich halte eine Amati in der Hand, -- Herr, nun
lässest du deinen Diener in Frieden fahren.« Brennstoff drohte zu
explodieren, »Das, was ich sagte, ist keine Gotteslästerung, -- das sei
ferne von mir, -- aber es ist etwas Heiliges um eine Amati, und dieser
Jungherr scheint zu wissen, was er Kostbares hegt.«

Sie waren wieder in das Poetenwinkelchen eingetreten.

»Ja, ich weiß es,« entgegnete Bertold ernsthaft. »Vater hat sie
mir ja gegeben, ehe -- ehe er starb. Heiligtum, sagte er nur, und
dann -- -- --«

Die Augen des Knaben waren wieder ganz schwarz vor Erregung, und
Hieronymus strich ihm hastig über den dunkeln Kopf. Still bei sich
dachten beide Männer dasselbe.

Daß der Name Malcroix auch ehemals ein Heiligtum gewesen sei und
durch die Schuld des Mannes, der eine Geige so hoch hielt, zu einem
wertlosen Fetzen geworden war, den man seinem Knaben zum eigenen Besten
fortgenommen.

»Nun spiele,« brach Hieronymus das Schweigen, »hier ist mein Reich, und
ich kann wehren, wer uns hier etwa wollte stören.«

Und der Knabe spielte.

Ob auch die goldene Sonne längst zur Ruhe gegangen war, es lag ein
lichter Schein um das Haupt des Kindes.

Das jubelte und jauchzte, das klagte und zitterte in den Saiten, es
war ein gewaltiges, sehnsüchtiges Klingen. -- Spielte wirklich nur ein
kleiner, schwarzlockiger Junge, oder meisterte unsichtbar ein anderer
die Saiten des wunderherrlichen Instrumentes?

Organist Brennstoff saß mit gefalteten Händen da, und Träne auf Träne
tropfte auf sie herab.

Er war nicht imstande, dem Jungen auch nur ein Wort zu sagen, als
dieser endlich den Bogen sinken ließ und mit leisem, ernsten »Gute
Nacht« das Zimmer verließ.

Aber dann brach es los bei ihm, -- wie ein Sturzbach kamen die
ungestümen Worte:

»Ich hab’ mich vermessen, Freund Hieronymus. Ich wollte ihn
unterrichten und fühle, ~den~ kann ich nichts mehr lehren. Heilige
Cäcilie, wie ist’s möglich, daß ein Kind so wunderbar spielt! Ich will
dir etwas sagen, Freund, -- dies Spielen hat ihn sein Vater gelehrt.
O, ich habe die Fräulein Franziska immer verstanden, daß sie diesem
Rattenfänger von Hameln folgte, -- »sie mußten alle hinterdrein«. Und
so ein zartes Weibchen, so eine schöne Seele in einem schwächlichen
Gefäß -- was sollte sie wohl widerstehen? Und wir zwei, Hieronymus,
wir müssen diesem kleinen Musikus das Andenken seines Vaters retten,
denn wo viel Licht ist, ist viel Schatten, und jener Malcroix war ein
Genie. Heilige Cäcilie, es kommt wieder echte Musik nach Schwarzhausen,
es kommt wieder Klang in unsere verdudelte Leierkastenatmosphäre --
Hieronymus, die Manen Beethovens und Wagners schwebten heute in diesem
gesegneten Raume!« -- --

Er war ganz außer sich, der lange, hagere Organist, raffte seinen Hut
und seine große Pelerine zusammen und stürzte zur Tür hinaus, kaum noch
hörend, was Teichmann ihm unter Kopfschütteln nachrief: »Gute Nacht,
gute Nacht! Allen Müden sei’s gebracht.« --

       *       *       *       *       *

Im Frühstückszimmer des Hauses Eichen herrschte die Stimmung wie nach
dem Gewitter. Eben war die schwere Tür mit lautem Krach zugeflogen, und
die wilden Flüche und Reden des alten Herrn hingen noch in der Luft.
Erschreckt und blaß saß Frau Franziska auf ihrem Stuhl, und ihre Augen
standen voll Tränen.

Sie starrte gequält vor sich hin, und vielleicht ohne daß sie es
wollte, kamen die Worte von ihren Lippen: »O Gott, soll das nun immer
so fortgehen?«

Ihr gegenüber saß Herr Baldamus Eik von Eichen.

Er hatte sich mit keiner Silbe an dem vorhergegangenen Wortwechsel
beteiligt.

Er liebte das Reden nicht und war zu korrekt für eine Einmischung.
Er verabscheute Aufregungen und mied sie auch aus gesundheitlichen
Gründen, -- die wilden Jähzornsanfälle des Pflegevaters waren ihm
höchst unsympathisch, und da er immer logisch dachte, so versuchte er
jetzt, nachdem er mit großer Seelenruhe eine echte Importe in Brand
gesetzt, seiner Pflegeschwester Franziska den einzig möglichen Schritt
zur Vermeidung solcher Auftritte anzuraten.

»Tue Bertold von hier fort in eine Knabenpension,« meinte er in seiner
leisen, lauernden Art, die immer sofort auf die Antwort horchte.

»Niemals!« war die rasche Erwiderung. »Mein Junge entbehrt schon den
Vater in so jungen Jahren, _mich_ soll er wenigstens behalten.«

»Hm.« -- -- Herr Baldamus bog sich etwas vor, um ihr besser in die
Augen schauen zu können. »Und die Geige, -- sein Wimmerholz -- möchtest
du ihm nicht fortnehmen? Dann wäre doch _ein_ Stein des Anstoßes fort.«

»Aber auch seine einzige Freude,« rief Franziska leidenschaftlich.

»Ich denke, die einzige Freude bist _du_?« fragte die verhaltene Stimme
des Mannes.

Sie sah ihn jetzt ruhig an.

»Bertold, die Geige und ich sind eins,« sagte sie langsam und betonend.
»Und wo man dies eine verjagt, da verjagt man uns drei.«

Das unsympathische Lachen, welches die kleine Liselotte so sehr empört
hatte, tönte wieder zu der jungen Frau hinüber, aber heute war es nicht
so meckernd, -- heute schwang etwas anderes mit, ein Unterton, der
Franziska erschreckte, denn sie kannte dies Lachen ihres Pflegebruders
von ihren Kindertagen her; es sollte oft sein Temperament verbergen,
das er immer sorgsam gezügelt hatte vor anderen.

»Franziska -- -- komm zu mir!«

Sie sah ihn ohne Verständnis an.

»Franziska!!!« Er war sachte aufgestanden und trat mit lautlosen
Schritten zu ihr. »In _meinem_ Hause hat dir niemand etwas zu
verbieten, und ich will deinen Knaben und« -- jetzt kam doch das
meckernde Lachen, -- »auch das Marterholz will ich schützen.«

»Wir schützen uns schon selbst.« Ganz ruhig klang es. »Vater ist maßlos
in seinem Zorn, aber -- ich habe ja auch gefehlt und muß es büßen.«

»Du sollst aber nicht büßen, und du _willst_ mich nicht verstehn,«
flüsterte eine heiße Stimme, »Franziska, -- hör’ mich, komm, --
Franziska -- --«

Er bebte vor Leidenschaft und suchte sie in seine Arme zu ziehen.
Ganz weiß war ihr Gesicht und eisigkalt Stirn und Hände, -- sie war
aufgesprungen und wich vor ihm weit ins Zimmer zurück.

»Ich bitte dich, mein Trauerkleid zu achten, das ich um meinen Mann
trage,« sagte sie tonlos.

»Wie lange noch?« fragte er lauernd.

»_Immer!_«

Er sah aus, als wolle er sich auf sie stürzen, -- -- aber da klopfte es
an die Tür, und Hieronymus Teichmann meldete, daß Herr Eik von Eichen
~senior~ die Frau Tochter zu sprechen wünsche und recht matt wie nach
einem schweren »Anfall« in seinem Zimmer liege.

Teichmann brachte seine Meldung, wie immer, in Reimen vor, ohne aber
eine Miene dabei zu verziehen.

»Alter Schwätzer!« murmelte Herr Baldamus, während Franziska hastig zum
Vater eilte.

Hieronymus sah den jüngeren Eik ernst an, -- es lagen tausend schwere
Worte in diesem einen Blick. --

       *       *       *       *       *

»Du wirst noch deine Stelle verlieren, Bruder,« meinte Fräulein Rektor
klagend und hob eindringlich die rechte Hand, in der sie einen großen
Holzlöffel hielt, von dem es unaufhörlich blutrot herabtropfte, ohne
daß sie es merkte.

Sie kochte Saft in der Küche.

»So will ich sie lieber verlieren,« meinte Rektor Dillen ruhig, »aber
es geht nicht so rasch mit dem Absetzen.« --

»Gott, dieser Leichtsinn in deinen alten Tagen! Und alles wegen so
’nem Bengel. Du hast ’n Narren an ihm gefressen, wie früher an seiner
Mutter, und eines schönen Tages wird er auch durchgehen.«

»Das gehört hier gar nicht her.« Der Bruder war plötzlich sehr ernst
geworden. »Und in meiner Schule habe _ich_ zu sagen.«

Die Schwester lief ärgerlich in die Küche zurück, und auf dem Teppich
in der Studierstube blieb eine kleine Blutlache vom Saftlöffel zurück,
als Zeichen des harten Kampfes.

Sturm im Wasserglase.

Die Schwarzhausener litten durchaus das liebe, köstliche
Plauderviertelstündchen nicht, welches Bertold mit Liselotte alltäglich
pflegte, und sie machten der braven Rektorschwester die Hölle heiß
und das Leben sauer. Aber Rektor Dillen lief wie eine brave Glucke um
seine zwei Kücken herum und verscheuchte jeden jungen Habicht, der
es wagte, die beiden zu stören. Das tiefe, gute Lachen des Knaben und
das altkluge Geplauder des Blondchens waren jetzt die Freude seines
einförmigen, stillen Lebens geworden. Er wollte sie sich nicht rauben
lassen durch Weibergeschwätz und Kleinstadtklatsch. -- Er liebte den
Eichenborn, er war mit dem Hause Eik verwachsen und mit ihm durch Höhen
und Tiefen geschritten, trotzdem Jahrzehnte dazwischen lagen, seitdem
er den Eichenborn das letztemal betreten.

Aber er war doch einmal ein Jemand gewesen, der in dem langen grauen
Hause etwas zu sagen hatte, -- der Hauslehrer des jungen stattlichen
Baldamus von Eichen.

Aber der Volksschulmeister, der von früher Jugend an von jedem geduckt
wurde, von vielen über die Achsel angesehen, die es wahrlich nicht
nötig hatten, der spielte oft eine klägliche Rolle in dem Herrenhause.

Sein Brotgeber war der jähzornige Eichen ~senior~, der damals noch
nicht alt, dafür aber noch maßloser heftig war, als ihm jetzt die Leute
andichteten, und sein Schüler war der schöne Pflegesohn, der sich
nichts sagen lassen wollte von einem »Seminaristen«.

Und unbequem war es ja, daß auch Seminaristen helle, scharfe Augen
haben und eine unbegreifliche Art, das Unrecht auch Unrecht zu nennen,
selbst wenn es von reichen Zöglingen begangen wird.

Nun hätte der Seminarist Tüllen ~alias~ Dillen ja ruhig und unbehelligt
alles von dem verwöhnten Baldamus _denken_ können, nur das _laute_
Denken war sehr unvorsichtig von ihm.

Eik von Eichen ~senior~ verbat es sich auch einfach, denn trotzdem er
den Lehrer Tüllen schätzte, so reichte das doch nicht an den Stolz und
die Liebe, mit denen er an seinem Pflegesohn hing.

Baldamus Eik war schon als Knabe unfehlbar in den Augen seines
Pflegevaters, der dem höchst anfechtbaren und zweischneidigen
Wahlspruch huldigte: »Nun gerade!«

Unter den Schwarzhausener Bürgern waren keine Pestalozzis, und auch der
junge Lehrer Tüllen war keiner.

Hätte er nur ein einziges Mal Herrn von Eichen ~senior~ als lohnendes
Erziehungsobjekt angesehen und sich überlegt, daß er ihn mit seinem
eigenen Wahlspruch schlagen und auf den richtigen Weg bringen konnte,
-- er hätte sich wahrhaft Verdienste erworben, -- aber krumme oder
schwachbeleuchtete Wege waren vor Herrn Lehrer Tüllens Augen verborgen,
und er tat aus Gewissenhaftigkeit, was die Schwarzhausener aus Freude
am Schelten und Nörgeln taten, er sagte Herrn von Eichen ~senior~, daß
sein Neffe Baldamus sich zum Schleicher und Taugenichts auswachse.
Aber der Wahlspruch: »Nun gerade« ließ die Ankläger als grobe Lügner
scheinen. Mut besaß der kleine Seminarist damals für zwei, das
mußte man ihm lassen, doch nachdem sich Herr von Eichen von seiner
Verblüffung über die Dreistigkeit des Hauslehrers erholt, warf er ihn
hinaus.

Das ließ sich Lehrer Tüllen auch gefallen, denn er war schmächtig und
klein, und die Faust des alten Eiks hatte schon Stärkere geworfen,
aber er ließ es sich nicht gefallen, daß Baldamus, sein Schüler, ihn
auf offener Straße verhöhnte, sondern er verabreichte ihm eine ganz
gepfefferte Ohrfeige vor allen Leuten, welche die Beleidigung angehört.

Diese Ohrfeige vergaß Baldamus nie, und auch Lehrer Tüllen hatte
vollauf Ursache, sich stets ihrer zu erinnern, denn sie war sozusagen
der Stein, über den er fortgesetzt in seiner Laufbahn stolperte, der
Knüppel, der ihm ins Rad flog, der Balken, der sich vor jede Tür legte,
durch welche er in ein besseres Amt schreiten wollte.

Schon hatte er sich es als das Beste ausgedacht, seine Heimat ganz zu
verlassen, als sich etwas sehr Verwunderliches ereignete.

Die guten Schwarzhausener waren bibelfest, aber sie hielten sich
zumeist an das Alte Testament, das gar kräftig »Auge um Auge, Zahn um
Zahn« predigte, das Neue Testament mit dem Evangelium der Liebe war
ihnen noch fremd.

Und so begriffen sie es niemals, daß Lehrer Tüllen ohne weiteres die
rasenden Pferde aufhielt, welche das Gefährt des Baldamus und ihn
selbst darin hinter sich herschleiften.

Arg zerschunden und zerrissen hing der Lehrer am Zügel des Handpferdes,
das endlich zitternd stand, während der junge Herr Baldamus zwar
blaß, aber nach dem bewährten Sprichwort: »Unkraut vergeht nicht«,
doch völlig gesund aus dem Wagen kletterte, ohne seinem Todfeind ein
Dankeswort zu gönnen.

Dafür dankte Eik von Eichen ihm mit der leitenden Stelle an der
Rektorschule, und Lehrer Tüllen nahm sie ohne weiteres an. Hatte
er doch eine alte, verwitwete Mutter und eine Menge halbwüchsige
Geschwister zu unterstützen. Er nahm sie auch an, weil sein Herz ein
energisches Veto gegen das Verlassen von Schwarzhausen einlegte,
sein Herz, das gar nicht einmal mehr ihm gehörte, sondern der
wunderlieblichen, ach so fröhlich-sonnigen Anna Teichmann, der Tochter
des alten Hieronymus.

Er hatte sie schon als Kind geliebt, das Ännchen, und obgleich ihre
Augen nachtdunkel waren, für ihn waren sie die Sonne.

Freilich war das Mädel viel jünger als er, aber er hatte sich innerlich
jung, rein und herzwarm gehalten; der Vater Hieronymus liebte ihn, und
das Ännchen vertraute ihm alle ihre Geheimnisse.

Nur das eine nicht, -- -- und er war doch jahrelang ihr treuester
Freund, der nur auf ihren achtzehnten Geburtstag wartete, um die
inhaltreiche Frage zu tun: »Hast du mich lieb, Ännchen?«

Zu spät, du dummer, gescheiter Herr Lehrer.

Denn an ihrem achtzehnten Geburtstage zog man Ännchen aus dem
Mühlenteich, das kleine, liebevolle, vertrauende Mädel, das dem Lehrer
Tüllen zu jung gedünkt hatte für die heilig-tiefe Frage -- -- --

Und wie er damals den rasenden Pferden in die Zügel fiel, so tat er es
jetzt mit dem rasenden Vater Hieronymus, er nahm ihm den Revolver aus
der Hand.

Schlaf ruhig, Ännchen!

Dein alter braver Vater soll nicht zum Mörder werden und -- dein
Liebster ist keinen Schuß Pulver wert.

Lehrer Tüllen betrat Haus Eichenborn nicht wieder.

Wenn er und Vater Hieronymus Teichmann sich begegneten, dann grüßten
sie sich stumm mit schweren Blicken; gesprochen hatten sie nicht wieder
miteinander.

Wie lange war das alles schon her!

Ewigkeiten!

Die Thüringer Edeltanne auf Ännchens Grab war schon ein stattlicher
Baum, beinahe so stattlich, wie der Herr Baldamus Eik von
Eichen. -- -- --

»Rektor Dillen« mußte jetzt manchmal dieser alten Zeiten gedenken,
und er jagte nicht, wie früher, die düsteren Gedanken fort, sondern
vertiefte sich in sie.

Denn er liebte den kleinen Bertold Malcroix und ahnte mit dieser Liebe,
daß von dem glatten, korrekten, angesehenen und hochgeachteten Herrn
Baldamus ein Unheil für den Knaben ausgehe.

       *       *       *       *       *

Bertold und Liselotte saßen wieder im Grasgärtchen zusammen.

»Nun kommen bald Ferien,« lachte das Mädchen, »und dann kommt Hans.«

»Hans? Ist das dein Bruder?«

»O nein! Ein Vetter. Hans von Windemuth!«

»Wie komisch! Du bist doch nicht ›von‹!«

»Nein. Väterchen sagt, drei Buchstaben tun’s nicht, wenn’s nicht drin
steckt.«

»Verstehst du das, Liselotte?«

»Ach -- ich weiß nicht, ich denke nicht stark dran. Weißt du es denn?
Du bist nur zwei Jahr älter als ich.«

Bertold reckte sich. »Zwei Jahre sind sehr viel. Ja, ich weiß, was
dein Vater meint. ›Wenn man dumm und schlecht ist, dann kann einem der
adlige Name nichts nützen.‹«

»Hans von Windemuth ist aber nicht dumm und schlecht.«

»O, den meine ich auch gar nicht. Erzähl’ mir von ihm, was ist er?«

»Kadett ist er. Schon beinahe Fahnenjunker. In Groß-Lichterfelde ist
das Kadettenhaus.«

»Ist es ein guter Junge?«

»Hm -- -- ja -- ich glaub’ -- --«

»Klug?«

»Klüger als die meisten Menschen. Er weiß alles, das sagt er selbst.«

»Meinst du, daß er mich gern haben wird?«

»Aber natürlich. Du spielst ja Geige. Er spielt ja so prachtvoll
Klavier, schon ganz rasend schwere Stücke. O, es ist zu fein, daß Hans
kommt, dann können wir zusammen musizieren. Du Geige, -- ich und der
Hans begleiten dich abwechselnd -- -- --«

»Ja, das wird herrlich!« rief Bertold lebhafter, als es sonst seine Art
war. »Du kannst mir nun jeden Tag von dem Vetter erzählen, damit ich
ihn richtig kennen lerne. Und wenn er so furchtbar klug ist, dann will
ich mich ordentlich auf die Hosen setzen.«

»Sitzt du denn nicht immer drauf, Bertold?«

Der Junge lachte. »Wie du ernsthaft fragst. Es ist nur so ’ne
Redensart. Ich mein’ damit, ich will noch strammer arbeiten.«

Liselotte erhob Einspruch. »Das kannst du gar nicht, Bertold. Herr
Rektor sagt, du wärst der Beste von uns allen.«

Bertold zuckte die Achseln. »Na weißt du, Liselott, viel gehört da
nicht zu. Findest du nicht, daß die Kinder sehr faul sind?«

Liselotte zog ihr nachdenkliches Gesichtchen. »Weiß nicht. Aber es
ist am Ende einerlei. Bertold, ich hab’ Sorgen, Puppe Emmy kommt gar
nicht aus dem Fieber raus. Weißt du, die Base versteht gar nichts von
Kinderkrankheiten, sie meint, Fieber käme nur vom Kopf, und Puppe Emmy
hätte keinen, und deshalb könnte sie auch kein Fieber haben, aber das
ist ja Unsinn. Wenn die Base ’ne Mutter wär’, wie ich, und an die
vierundzwanzig Kinder hätte, dann würde sie nicht so dumm reden. Was
meinst du, Bertold?«

Der Knabe sah voll Ernst und Mitgefühl in das Gesichtchen der
Spielgefährtin, das im Schmerz um die kranke Puppe einen ganz rührenden
Ausdruck zeigte. Er hätte es um die Welt nicht vermocht, ihr einen
wehtuenden Vortrag über kopflose Geschöpfe zu halten, trotzdem etwas in
ihm sagte: »Sie ist doch ein furchtbar dummes kleines Mädchen.«

»Puppe Emmy ist schwer krank,« meinte er zögernd, »weißt du, Liselotte,
wenn der Kopf fehlt, wirft sich alles aufs Innerliche -- -- --«

Sie nickte ernst und sah beruhigt aus. »Du hast recht, Bertold. Es wird
eine Sägespänentzündung sein. Gott, was hat man für Sorgen mit seinen
Kindern!«

Dann schritten sie wieder zum gemeinsamen Unterricht, und so vergingen
die Tage und Wochen im gleichmäßigen Einerlei.

Aber doch nicht ganz.

Denn Bertold war die feierliche Erlaubnis zuteil geworden, in das Haus
von Professor Windemuth zu kommen. Die Base war zwar noch immer von
tiefem Mißtrauen gegen ihn erfüllt und überhaupt gegen alles, was von
dem alten »Eik« abstammte, aber Liselotte war wenigstens beschäftigt,
wenn sie mit dem Freunde zusammen war, und die Base konnte nichts
Anstößiges entdecken, wenn sie einmal »revidierte«, was gewöhnlich
in der Weise geschah, daß sie auf Filzpantoffeln zu der Kinderstube
schlich und mit einem ganz plötzlichen Ruck die Tür aufriß.

Weder Bertold noch Liselotte waren nervös, sie guckten manchmal kaum
von ihrem Spiel auf, während die Base doch gewohnt war, bei derartigen
Überfällen, z. B. der Dienstboten, diese mit glühend roten, arg
verlegenen Gesichtern verschiedenes verbergen und fortpacken zu sehen.
So ließ sie jetzt tagelang die beiden unbehelligt. Noch lieber freilich
war es dem Bertold, wenn er zu Professor Windemuth ins Arbeitszimmer
durfte. Im Gegensatz zum Großvater war der Gelehrte nicht wortkarg oder
mürrisch und ernst, sondern ein herzensheiterer, mitteilsamer Mann,
der mehr als einmal einen lustig sprühenden Humor zu Hilfe nahm und
mit ihm gegen Base Juliane zu Felde zog. Für alle kleinen Herzensnöte
seines Töchterchens hatte Professor Windemuth offene Augen und Ohren,
und daher kam es, daß Liselotte die längst verstorbene Mutter gar nicht
vermißte, vielmehr noch nie darüber nachgedacht hatte, was ihrem Leben
eigentlich mangelte. Der Vater ersetzte ihr alles und nahm sie auch
gegen allzu heftige An- und Übergriffe der Base kraftvoll in Schutz.

Der Professor hatte längst erkannt, daß seine kleine wilde Hummel nur
gewinnen könne, wenn Bertold ihr Spielkamerad bliebe, es hatte ihm
imponiert, daß der Junge streng das einstmalige Verbot, das Haus zu
betreten, innehielt. Von wem er wohl diesen festen Gehorsam hatte?
Vom Großvater sicherlich nicht, der sich in seinem ganzen Leben noch
niemandem gebeugt, und von der Mutter, die das vierte Gebot so wenig
geachtet, daß sie bei Nacht und Nebel aus dem Hause entwich, um ihrem
Liebsten zu folgen, doch sicher auch nicht.

Gewiß hielt der ehrenfeste Herr Baldamus von Eichen seine strenge Hand
über den Knaben. Dieser Sproß des Hauses ging wenigstens seine geraden
Bahnen, wie sie Schwarzhausen jedem seiner Bürger vorschrieb -- -- --
sympathisch war er ja dem Professor nicht, aber das lag wohl mehr
daran, daß Eik ein vollständiger Zahlenmensch war, während bei ihm,
Professor Windemuth, das Herz öfter mal mit dem Verstande durchging.
Vom weiblichen Einfluß hielt Professor Windemuth nicht viel. Seine
eigene, früh verstorbene Gattin war ein hilfsbedürftiges Wesen ohne
jede eigene Meinung gewesen, der Inbegriff aller zarten Weiblichkeit.
Liselottes Geburt kostete ihr das Leben, und da ihre Nachfolgerin in
Küche und Haus, Base Juliane, das genaue Gegenteil von ihr bildete,
mürrisch, ungehobelt, lärmend, aber tüchtig und umsichtig schaltete, so
nahm der Professor an, daß Frauenzimmer unberechenbare Geschöpfe seien,
durchaus keine Logik und erwiesenermaßen anderthalb Lot Gehirn weniger
besäßen.

Das alte Fräulein Adelgunde von Eichen aber, das am liebsten das ganze
Deutsche Reich umhäkelt hätte, zählte überhaupt nicht mit.

Armer, kleiner Bertold!

So sollte er wenigstens ein klein wenig den Zuspruch eines gebildeten
Mannes genießen. --

Vielleicht hätte sich das Schicksal dem jungen Bertold ein bißchen
gnädiger erweisen sollen; es wäre so gut gewesen, wenn Liselotte ihr
feines musikalisches Gehör vom Vater geerbt hätte, anstatt von der
früh heimgegangenen Mutter, die ihren Gatten nun nicht mehr darauf
aufmerksam machen konnte, daß da in unmittelbarer Nähe ein Genie
steckte. Infolgedessen bekam Bertold keinen weiteren Unterricht und
hatte nichts als die beinahe vergötternde Zustimmung von Brennstoff
und Teichmann, bei denen er noch allabendlich musizierte, ein
gelegentliches Melden beim Großvater, der aber den Enkel so wenig als
möglich zu sehen wünschte, ferner einen täglichen einstündigen Besuch
bei Tante Adelgunde von Eik und ihrer sprichwörtlichen Häkelei und --
seine Mutter.

Frau Franziska Malcroix war so jung, so schön und -- so ernst. Sie
lebte _nur_ für ihren Bertold, -- sie erhob sich des Morgens um vier
Uhr und blieb, nachdem sie abends neun Uhr mit ihrem Knaben gebetet,
noch ein Stündchen in dem neben Bertolds Schlafstube befindlichen
Zimmer, wo sie arbeitete und schrieb und auf die regelmäßigen Atemzüge
ihres Einzigen lauschte. An den Tag, der ihr den Knaben nehmen und
in das Gymnasium nach E. führen würde, dachte sie mit Grauen. Jetzt
gehörte er ihr noch, wenn sie auch mit leisem Schmerz fühlte, daß sie
seine Liebe mit der kleinen Liselotte teilen müsse.

So handelte sie wie eine echte Mutter und nahm auch das Mädelchen noch
an ihr Herz, -- ja sie ließ die beiden kaum von sich, denn sie waren
der sicherste Schutz gegen die Besuche ihres Vetters Baldamus. --

Franziska Malcroix hatte Angst vor ihm.

Sie konnte sich selbst nicht begreifen, denn sie war doch sonst so
energisch und zielbewußt gewesen.

Sie hatte Angst vor Herrn Baldamus, wenn dieser auch ganz ruhig und
scheinbar in ein interessantes Buch oder eine Zeitung vertieft in
seinem Lehnstuhl saß, oder wenn er Bertold etwas erklärte, der seinen
Wissensdurst stillte, wo immer er eine Quelle fand. Ja, sie hatte
Angst, auch wenn er nur Bertolds Geige zur Hand nahm, -- Angst, daß er
das Instrument mit einem Griff seiner schmalen, weißen Hände zerbrechen
könne. Sie hatte Angst, daß er irgendein Mittel besitzen oder ergreifen
könne, sie zu zwingen, sein Weib zu werden.

Denn er war beinahe allmächtig in Schwarzhausen, das konnte sie täglich
erfahren, und sie wäre wohl mit einem Male wieder angesehen in dem
Städtchen gewesen, wenn sie plötzlich die Braut des hochmögenden Herrn
Baldamus wurde.

Wie sie dieser Gedanke schauern machte und ihre Arme so fest um ihren
Bertold legen ließ, ja er ließ sogar den Schmerz um den verachteten,
toten Gatten milder werden und die Liebe heller leuchten, die doch die
Vergangenheit geheiligt hatte.

Merkwürdig war es, daß der Vater, Herr Eik von Eichen ~senior~, sich in
keiner Weise in die Angelegenheiten des Pflegesohnes Baldamus mischte,
-- er, der die Tochter einst verstieß, weil sie diesem Pflegesohn einen
Korb gab um eines Unwürdigen willen.

Die Liebe der Schwarzhausener hatte Herrn Eik ~senior~ kopfscheu
gemacht. »Nun gerade!« war und blieb sein Wahlspruch, und der
Pflegesohn sank um so viel Grade in seiner Wertschätzung, wie er in der
seiner Vaterstadt stieg. Die verachtete Tochter aber kam dem alten,
verbitterten Vaterherzen wieder näher, während der Junge, der Bertold,
weit, weit von ihm abrückte, denn von diesem Knaben erzählten die Leute
Wunderdinge; und besonders Rektor Tüllen und Hieronymus Teichmann taten
sich in begeisterten Lobeserhebungen hervor.

       *       *       *       *       *

Und nun kamen die Ferien, und Hans von Windemuth, der Herr
Fahnenjunker, zog in Schwarzhausens Hallen ein.

»Das ist also Hans?« fragte sich selbst Bertold von Eiken, der mit
einer Mischung von begeisterter Erwartung und leiser Eifersucht der
Bekanntschaft entgegengesehen hatte.

»Das ist Hans!« bestätigte strahlend Liselotte Windemuth, und der
Herr Fahnenjunker brauchte gar nichts zu sagen, dem sah man das
stolze Bekenntnis schon auf drei Schritte weit an: »_Ich bin Hans von
Windemuth!_«

Die dreiundzwanzig Puppen wurden in die tiefsten Tiefen des Schrankes
versenkt und Puppe Emmy ohne Kopf ganz besonders fest und weitab
verstaut, denn der Fahnenjunker fand sie »scheusälig«. Bertold wunderte
sich über all diese Dinge, wunderte sich auch, daß Liselotte so
fröhlich und gleichmütig blieb und nur leise ihm zuflüsterte: »Weißt
du, Bertold, die Puppen verreisen jetzt ins Bad, und Puppe Emmy kommt
zu einem Kopfspezialisten. Wenn dann Hans abgereist ist, holen wir die
Puppen wieder von der Bahn ab, und dann spielen wir weiter.«

»Puppe Emmy hat dann aber immer noch keinen Kopf,« gab Bertold zu
bedenken.

»O, ich hab’ mir das alles überlegt,« meinte Liselotte. »Dann ist eben
die Operation nicht geglückt, -- es kommt oft vor bei großen Leuten,
nur daß ich eben meine süße Emmy nicht sterben lasse.«

Liselotte sah ernsthaft und wichtig aus; dann zog sie Bertold mit
sich nach Hause in das große, tiefe Zimmer, in welchem der prächtige
Bechsteinflügel stand, und sagte: »Nun wirst du gleich nicht mehr an
die Puppen denken, denn Hans will uns vorspielen.«

Der Fahnenjunker betrachtete etwas spöttisch seine gespannt dasitzende
Zuhörerschaft, -- die kleine, strahlende Base, den ernsthaften Jungen
und die Base Juliane, welche Tränen vergoß, wenn er den »guten Mond«,
den »schönen Schweizerbub« oder »das Gebet der Jungfrau« vom Stapel
ließ, während sie bei Chopin und Grieg in der Stube herumwirtschaftete,
mit Scheren und Fingerhüten, Messern und Gabeln, Gläsern und Tellern
viel Spektakel vollführte und schließlich türschlagend das Zimmer
verließ.

Hans von Windemuth war ein künstlerischer Dilettant.

Die schwersten Sachen perlten unter seinen weißen, wohlgepflegten
Händen, Grieg und Schumann, Chopin, Liszt, er spielte sie alle
herunter, und Bertold und Liselotte starrten ihn an, als sei er etwas
ganz Unglaubliches.

Das gefiel dem jungen Krieger über die Maßen.

»So, nun spielt ihr,« meinte er gnädig und überließ seinen Platz am
Flügel der kleinen Base.

Aber sie kam nicht zum Spielen, denn die Tür war mit leisem Klapp
hinter Bertold zugefallen, -- er ging ohne Abschiedswort.

»So ist er nun,« klagte Liselotte. »Du hast _zu_ schön gespielt, dann
kann er immer kein Wort sagen.«

»Er hat keine Manieren,« meinte Hans von Windemuth streng.

Bertold aber war nach Hause gelaufen, hatte seine Geige aus dem Kasten
gerissen, und in den tiefsten Tiefen des Riesenkleiderschrankes ließ er
das, was seine Seele bewegte, ausklingen. Dann stieg er langsam aus
dem Schranke heraus, sah sich vorsichtig um und huschte in das Zimmer
von Hieronymus Teichmann.

»Gott steh’ mir bei und soll mich bewahren, Büblein, was ist in dich
gefahren?« fragte dieser erschrocken, als er den blassen Jungen sah.

»O Teichmann, -- Teichmann --« murmelte Bertold.

»Du siehst ja aus, als wolltst du versaufen, -- welche Laus ist dir
über die Leber gelaufen?«

Ein stoßweises Schluchzen brach aus der Brust des Knaben.

»Teichmann, er verhunzt mir den Grieg -- --«

»Büblein, -- wo soll Krieg sein?«

»Ach, Teichmann, ich meine ja den Komponisten, -- -- der Hans von
Windemuth spielt ihn und verhunzt ihn, ich kenne ihn nicht wieder,
-- -- hör’ nur mal, Teichmann -- (Bertold nahm hastig die Geige und
fuhr mit ein paar Strichen darüber hin) -- hör’ nur, das Grollen und
Stöhnen der Nordsee, das Kreischen der Möwen, die Klagen des Mädchens
-- -- o und _so_ spielt er das, -- -- Teichmann, ich _kann_ das nicht
mit anhören, und die Liselotte ist doch ganz begeistert.«

»Büblein, ich kann dich nicht recht verstehn, -- Grieg? sagst du, oder
wer und wen?«

»Teichmann, du wirst doch den großen Grieg kennen? Kantor Brennstoff
hat dir doch so viel von ihm vorgespielt.«

Der Alte strich sich besinnend über die Stirn.

»Den _großen_ Grieg, sagst du? Ich kenne nur _einen_ Großen, das ist
der alte Beethoven. Schweig’ still, Büblein, sag’s dem Brennstoff
nicht, er zieht dann gleich so’n närrisch Gesicht, -- er steckt so ganz
im Wagner drin und, weiß es Gott, ich lieb’ auch _ihn_, aber sie sind
nicht zu vergleichen. Ob der eine den andern mag erreichen, -- ich weiß
es nicht, mich kümmert’s nicht. Nur eins tu’ ich mir ausbedingen, zu
jedem Tag, zu jeder Stund’, man soll mir immer den Wagner singen, so
lange ich lebe und bin gesund. Aber in Krankheitstagen, in bangen, will
ich nach meinem ›Großen‹ langen, -- und die Fünfte Symphonie führ’ mich
zur ew’gen Harmonie.

Büblein, was schaust du mich so an?«

Bertold sah in der Tat ganz selbstvergessen in das Gesicht das alten
Faktotums.

»Rektor Dillen fragte heute, ob wir schon mal ’n Dichter gesehen
hätten -- -- --« antwortete er stockend, »und da riefen wir alle ›nö‹,
aber nun, -- aber nun, -- bist _du_ ein Dichter, Teichmann?«

Der alte Diener sah sehr ärgerlich aus, weit ärgerlicher und grimmiger,
als er eigentlich war, denn er war in der Hauptsache verlegen.

»Ein Dichter! Wie kann ein kluger Junge so dummerhaft fragen! Schiller,
Goethe, Lessing und Uhland sind Dichter, und dann die Loreley und die
Wacht am Rhein und Heil dir im Siegerkranz, verstanden?«

»O, Teichmann, jetzt hast du nicht ein einziges Mal gereimt, wie kommt
das?«

»Junge, du bist genau wie deine Mutter war, -- die fragte mich auch
immer das Blaue vom Himmel runter. Ich kann dir aber nichts Gescheites
antworten. Das kommt eben vom Himmel geflogen, daß es dann so mit den
Wörtern paßt.«

»Aber nun, Teichmann, aber nun? Es paßt ja gar nicht -- -- --«

»Weil ich in Wehmut und Aufregung bin, Bertold. Dann verliert sich
das. Sobald milde Denkart eintritt, kommt das andere so sachtchen mit,
ich merk’ es freilich selber nicht, Freund Brennstoff steckt mir auf
das Licht, und Thereschen freundlich auf mich blickt und sagt: Mein
Teichmann, du bist verrückt.«

Bertold lachte.

»Wie einem gleich froh ums Herz wird, wenn man bei dir ist, Teichmann.
Ich war ganz unglücklich und zerschlagen vorhin. Vielleicht ist auch
Grieg zu schwer und wunderlich. Er dürfte nur von musikalischen
Menschen gespielt werden. Gelt, Teichmann, du verstehst mich doch, daß
ich das so einfach sage? Klingt es sehr eingebildet? Denn ich spiele ja
Grieg -- o so gern!«

»Musik ist eine Gottesgabe. _Ich_ kann nichts dafür, daß ich sie habe,
und dir geht es ebenso, sei darüber ganz ruhig und froh!«

»Sieh, Teichmann, weil der Grieg so leicht _aussieht_, da meinen
alle, sie könnten ihn spielen, und mein Vater sagte -- -- --: ›Das
kleinste lyrische Stück von ihm sollte man erst einmal ein Jahr lang
durch_leben_, ehe man wagte, es mit einem Instrument anzufassen‹.« --

Teichmann antwortete nicht. Vielleicht verstand sein einfacher Sinn
nicht diese Tiefe der Auffassung, -- aber sein feines Gefühl spürte
aus den Worten des Knaben und aus der Art, wie dieser den Vater
erwähnte, die grenzenlose Verehrung, welche dem verachteten Toten
bewahrt wurde. Und mit einem Male fühlte er auch, daß das Leben dieses
jungen Menschenkindes ein Dornenweg sein würde, voll Stacheln, voll
Lieblosigkeit und Häßlichkeiten, wie der seiner Mutter. Und das Ende
des Dornenweges?

Teichmann schüttelte seinen grauen Kopf. »Was kümm’re und vergrübel’
ich mich? Da oben ist einer klüger als ich.«

»Was murmelst du da, Teichmann? -- Wenn sie nun morgen wieder mit mir
spielen wollen, und ich kann es doch nicht mit anhören?«

»Ich will dir etwas sagen, Bertold.« Der alte Mann geriet in
Begeisterung. »Du nimmst _Beethoven_ mit. Ganz einfach Beethoven! Und
den spielt ihr! Himmelherrgott, -- _den_ können sie einfach nicht
verhunzen, -- sie _können’s_ nicht. Der bleibt immer Beethoven, --
verstehst du, Sohn? Und wenn sie ihn dreschen und hacken oder schludern
und verludern, -- Junge, er bleibt Beethoven. Das ist einer, das ist
einer!«

»Teichmann, du hast wieder nicht gereimt!«

Der Alte sah den Knaben starr an.

»_Das_ hörst du? Auf solchen Kram achtest du, wenn ich von dem Großen
rede? Schäm’ dich, Bertold! Und könntest _du_ irgendeinen Reim auf
Beethoven finden? Ich nicht! Schäm’ dich, Bertold!«

       *       *       *       *       *

Drei ganze Tage ließ Bertold dahingehen, ehe er sich den Spielkameraden
wieder zugesellte.

Aber diese drei Tage dünkten ihm Jahre. Frau Franziska sah bekümmert
auf ihren Jungen, der mit großen Augen sehnsüchtig aus dem Fenster
schaute in der Richtung, in welcher man den Giebel des roten
Windemuthhauses erblickte.

Die leise Eifersucht regte sich wieder in ihrer Brust. Drei Tage war
ihr Junge verändert und scheu, bis sie selbst ihm zurief: »Du warst so
lange nicht bei Liselotte, habt ihr euch gezankt?«

Da leuchtete sein Blick. »Mutter, -- ich gehe! Darf ich lange bleiben?
Ich nehme die Geige mit! Mutter, und Beethoven nehme ich mit. Den
können sie mir nicht verhunzen! Den nicht! Teichmann hat’s gesagt.«

Frau Franziska strich sanft über sein dunkles Haar.

»Du Wilder! Geh nur -- geh! Sei brav! Und kehr’ mir gesund wieder!«

Ihre eigenen Worte hallten in ihr nach, als sie ihrem Jungen
nachblickte, wie er mit dem Geigenkasten dahinschritt durch die
Eichenstraße und immer wieder zurückwinkte nach der Mutter.

Er war doch _ihr_ Junge.

Du Wilder! Sei brav! Diese Worte sprach ihr Herz und ihr Mund täglich
unzählige Male und hatte sie gesprochen beinahe von dem Tage an, da man
ihr den Knaben zuerst in die Arme gelegt hatte.

Denn vom ersten Atemzug an war er ein ungebärdiges Büblein gewesen. Als
der Verstand kam, wurde er merkwürdig still, nachdenklich und ernst.
Aber daneben wucherte ein Kräutlein auf, das giftige, verderbliche,
zerstörende Erbteil der Eik von Eichens, -- der Jähzorn.

Wie Franziska Malcroix diesen Jähzorn haßte! Die Chronik des Hauses war
erfüllt von Beispielen seiner unheimlichen Macht über die Eiks.

Er überschlug aber immer eine Generation.

So war sie selbst verschont geblieben von diesem unseligen Temperament,
das ihren Vater bis zur Sinnlosigkeit beherrschte und einen gehaßten,
gefürchteten, gemiedenen Mann aus ihm gemacht hatte.

Aber ihr Junge, ihr lieber Trost, ihr ein und alles, den sie
herausgerettet aus einer tief unglücklichen Ehe, welche der Tod zur
rechten Zeit noch getrennt hatte! Sie hatte schon geglaubt, daß das
böse Erbteil vor ihm haltmache, hatte dankbar die Hände gefaltet,
daß ihr Sohn weder den haltlosen Leichtsinn seines Vaters, noch den
lodernden Jähzorn des Großvaters geerbt, hatte sich in der Sicherheit
gewiegt, daß ihm ein gütiges Geschick nur die heilige Wahrheitsliebe
und den eisernen Fleiß der Eik von Eichens in die Wiege gelegt habe --
bis vor drei Jahren.

Ja, so lange war es her.

Da hatte sie an einem heißen Nachmittage arbeitend am Fenster gesessen,
ihr Mann war wieder einmal auf »Kunstreisen«, von welchen er immer
haltloser denn je und oft in zweifelhafter Gesellschaft heimkehrte,
-- -- ihre Gedanken weilten bei dem Fernen, dem sie von Tag zu Tag
fremder wurde, -- da hatte sie gellendes Kindergeschrei gehört und war
auf die Straße gestürzt, ohne Hut, ohne Tuch, wie sie gerade war.

Zur rechten Zeit kam sie, um Bertolds kleine, feste Fäuste aus dem
dunkeln Schopf eines Spielkameraden loszulösen, aber ganze Büschel
Haare blieben trotzdem in der Hand des Raufenden.

Frau Franziska hatte entsetzt in die entstellten Züge ihres Knaben
gesehen.

Dunkelrot das kleine Gesicht, schneeweiß die Lippen und die
Nasenspitze, und die Augen sprühend vor Zorn.

»Er liegt, Mama, er liegt!« Mehr konnte der Junge nicht hervorkeuchen.

Ja, das war der Eiksche Jähzorn.

Eine Menschenmenge hatte sich damals angesammelt, o sie wußte es so
genau noch. Der Vater des gemißhandelten Jungen war dazu gekommen und
hatte von »Zwangserziehung« gesprochen. Böse Reden waren gegen sie und
Bertold geflogen -- -- welche Schmach für die feinfühlige Frau!

Und ihr kleiner, guter, stolzer Junge!

Als die lodernde Aufregung nachließ, weinte er bitterlich und war ganz
krank. Es hatte sich um eine Kinderei gehandelt, um eine Unwahrheit,
wie sie unter Kindern im täglichen Spiel oft vorkommt, aber dem streng
wahrheitsliebenden Jungen war sie unerhört erschienen.

An all dies dachte Frau Franziska und dachte auch an die große
Ähnlichkeit zwischen Großvater und Enkel.

Zug für Zug glich der junge Bertold dem alten Bertold.

Nichts hatte er von seinem Vater bekommen, als etwa die dunkeln Augen,
die bei Lotar Malcroix aber übermütig gestrahlt hatten, während Bertold
gewöhnlich ernst dreinschaute.

Auch die große Figur und die kerzengerade, aufrechte Haltung würde er
gleich dem Großvater haben, ebenso die dichten, schöngeschwungenen
Augenbrauen, den energischen Mund und -- -- den Jähzorn.

An all dies dachte Frau Franziska, als sie ihrem fröhlichen Knaben
nachschaute, wie er federnden Ganges mit seiner geliebten Geige
dahinschritt, und an all dies dachte sie, als er nach kaum einer halben
Stunde totenblaß zu ihr ins Zimmer zurückkam und sich vor ihr auf die
Knie warf, den wirren Lockenkopf in ihren Schoß drückte und nur immer
wieder stammelte: »Mutter, ach Mutter!«

»Was war geschehen?« So fragte sie sich selbst, als sie nur einen
Augenblick in das verstörte, gramvolle Gesicht ihres Buben geschaut
hatte, das so traurig, so krank aussah, daß sie die Frage gar nicht
laut stellen mochte.

»Mutter, ach Mutter!« Wieder ein wehes Aufschluchzen.

»Werde ruhig, mein Herzensjunge!«

»Ich kann nicht ruhig werden, nie wieder, Mutter! Mutter -- sag’ -- ist
es wahr? War der Papa, -- _mein_ Papa, -- -- sie sagen, er wäre ein
Schuft gewesen.«

Das Gespenst! Da stand es wieder vor Franziska Malcroix und grinste sie
an. Es würde nie verschwinden, das wußte sie. Und ob sie fliehen würde
weit über die lieben Thüringer Berge, das Gespenst ihres befleckten
Namens würde neben ihr schreiten oder hinter ihr drein laufen und sie
immer wieder einholen.

Frau Franziska weinte bitterlich. »Mein Junge, mein armer Junge!«

Bertold strich sich die feuchten Locken aus dem verweinten Gesicht und
sah die Mutter an. »Du sagst nichts, Mutter? Ist es wahr?«

Ihre Augen sahen über ihn hinweg ins Weite.

»Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet!« sprach sie laut
und hart, und dann schlossen sich ihre Lippen fest. Ein unendlicher
Jammer lag in ihren Augen, und Bertold fühlte, daß er nicht fragen, daß
er nur trösten müsse.

Seine Arme umschlangen sie fest, und so saßen Mutter und Sohn
schweigend mit ihren übervollen Herzen.

Die Abendsonne stahl sich herein und wob überall lichte Kränzlein: das
eine legte sie um Bertolds dunkeln Lockenkopf, der an der Brust seiner
Mutter ruhte, ein anderes flimmerte an dem Rahmen, der ein Pastellbild
des alten Eik von Eichen aus seiner Knabenzeit darstellte, ein drittes
tanzte auf Bertolds poliertem Geigenkasten.

Und als die Sonne unterging, ließ sie das Licht dieser drei Kränzlein
in den Herzen von Mutter und Sohn zurück. --

Franziska küßte die Stirn des Knaben.

»Erzähle mir alles,« bat sie.

Bertold bettete seinen Kopf wieder fest an ihre Schulter.

»Mutter, sie spielten wieder Grieg, als ich hinkam, die Ballade, die
-- -- die Väterchen noch vor seinem Tode mit uns aus der Partitur las,
-- oh -- weißt du noch?« Die Erinnerung überwältigte das Kind förmlich.

»Ich weiß,« flüsterte Frau Franziska.

»Ich hatte die Hände an den Ohren, denn ich konnt’s nicht ertragen, wie
der Hans von Windemuth alles herunterspielte, -- du weißt ja, wie Vater
so eine Technik haßte, die nur Technik war. Irgend was spielte Hans,
nur eben Grieg war es nicht. -- Dann sollte ich sagen, es sei herrlich
gewesen, die Liselotte verlangte es. -- Ich rief nur immer, der Hans
spiele sehr schön und fertig, und das war ihnen denn auch genug. Dann
legte ich still den Beethoven auf das Pult, -- es war nur der Auszug
aus Vaters Lieblingssymphonie, -- wir spielten es zu deinem letzten
Geburtstag zusammen, und du sangst uns damals die Worte dazu: ›Still
sank der Abendsonne Gold hinunter an das Himmelszelt, in Abendfrieden
süß und hold ruht um uns her die ganze Welt‹ -- -- --«

»Mein Junge!« stöhnte Franziska, denn alles Leid und alle kargen
Freudenstunden der Vergangenheit wurden in diesem Liede lebendig.

Bertold hatte den Kopf aufgerichtet und sah jetzt mit leuchtenden Augen
in den dämmernden Abend.

Sein Kindergesicht sah reif und ernst aus, als habe die Hand des
Schicksals heute darüber gestreift und die harmlose Freude daraus
mitgenommen.

»›O wohnte doch im Herzen mein so tiefer Friede für und für; mein
Gott, laß mich dein Eigen sein, den Frieden find’ ich nur bei dir!‹
Mutter, -- als du das sangst, da hielt uns Vater beide umschlungen und
war so gut, so gut -- --«

Bertold drückte sich wieder fest in den Arm der Mutter, als könne
dieser allein ihm Schutz gewähren vor dem Furchtbaren, das heute auf
ihn geschleudert worden war. --

Und die Mutter hielt ihn fest, so fest -- aber sie schwieg.

Dies Kindergemüt war ihr zu heilig, zu zart noch, um es auch nur
schattenhaft ahnen zu lassen, wie furchtbar sie unter dem genialen
Künstler Malcroix gelitten, wie selbst die härtesten Beschuldigungen,
die fremde Menschen aussprachen, noch nicht die Wirklichkeit
erreichten -- -- --

Der Knabe schrie plötzlich weh auf, und seine Fäuste ballten sich.

»_Ein schlechter Kerl!_ Mutter, -- Mutter -- einen schlechten Kerl
nannte ihn der Hans, und die Liselotte nickte dazu, -- ja Mutter, das
tat sie. Und ich hatte ihnen doch nichts zuleide getan, -- -- war nur
ein paarmal aufgesprungen und hatte gerufen: ›~Es~, ~es~, um Gottes
willen ~es~‹, -- kannst du dir vorstellen, Mutter, daß der Hans ~e~
spielte in ~As-dur~? Da lachten sie über mich, und das machte mich
so wütend; und immer mehr lachten sie, und dann verhunzten sie den
Beethoven weiter -- -- -- und Teichmann hatte doch gesagt -- -- -- es
ginge gar nicht -- -- -- da riß ich Hans die Geige aus der Hand und
schlug -- -- --«

»Bertold!!!«

Der Knabe war aufgesprungen, -- starrte seiner Mutter ins Gesicht, und
es war, als käme er durch ihren Ruf erst langsam zur Besinnung. Langsam
strich er sich über die Stirn. »Mutter,« stammelte er, »ich glaube, ich
habe ihn sehr geschlagen, _sehr_, Mutter, -- er gab ja dem Beethoven
Schimpfnamen, und dann -- dir -- und dann -- -- dem Vater -- -- ich
solle nicht mit ihm prahlen, -- er sei ein großer Künstler gewesen,
aber ein schlechter Kerl, -- ein ganz, ganz schlechter Kerl -- -- --«

»Schweig!« rief Franziska außer sich. »Du sollst das Wort nicht sagen,
ich kann es nicht hören.« Sie schüttelte ihren Knaben in Zorn und Weh
und hielt ihn dann doch wieder umschlungen, ihren Einzigen, -- ihren
Augen- und Herzenstrost.

So brach die Nacht herein über den beiden, -- die große Trösterin.

       *       *       *       *       *

Nur mit einem aufgescheuchten Wespennest konnte man anderntags
Schwarzhausen vergleichen.

Es war ganz unerhört, was geschehen war.

Der Wagen des Herrn Kreisphysikus ~Dr.~ Hempel hielt vor Professor
Windemuths Hause, und ~Dr.~ Hempel selbst hatte beim üblichen
Abendschoppen im »Weißen Roß« sehr freimütig erzählt, daß der kleine
schwarze Satan, Bertold Eik von Eichen, ~alias~ Malcroix, dem hübschen
Fahnenjunker Hans von Windemuth die Geige buchstäblich auf dem Kopfe
zerschlagen habe. »Kaput, -- ganz kaput!«

»Um Gottes willen, der Kopf?«

»Nein, die Geige.«

Und wieder sprach man von Zwangserziehung und »Rauhem Haus«, wieder
erörterte jeder Vetter und jede Base, vom Bürgermeister an bis herunter
zum Nachtwächter, daß der Knabe erblich belastet sei, und daß es wohl
nur _ein_ Mittel gebe: eine feste Hand und gebietende Persönlichkeit
über ihn zu setzen, und für die Schwarzhausener konnte diese
Persönlichkeit nur Herr Baldamus Eik von Eichen sein, dessen Zuneigung
für Frau Franziska stadtbekannt war. Aber würde seine Liebe groß genug
sein, um sich aufzuopfern für eine Frau mit beflecktem Namen und mit
einem mißratenen Buben, wie dieser Bertold war?

Der eine ganze Stadt durch sein bisheriges Wohlverhalten und Ehrbarkeit
getäuscht hatte?

Der schon an seinem letzten Aufenthalt reif für eine Besserungsanstalt
gewesen war und dessen schlechter Charakter noch gerade zeitig genug
zum Vorschein kam?

       *       *       *       *       *

Das Haus Windemuth konnte die Zahl der teilnehmenden Frager kaum
fassen, -- freilich sah der Professor immer aus, als nähme er am
liebsten die Mitbürger beim Kragen und würfe sie zur Tür hinaus; aber
man hielt sich an Base Juliane, die bereitwillig und ausführlich die
Schreckensszene immer wieder schilderte und stundenlang schwatzend vor
der Haustür stehen konnte. »Zerrissen und zerschunden sei das hübsche
Gesicht des Fahnenjunkers,« berichtete sie, »und die Kopfhaut an zwei
Stellen genäht, und die wertvolle Geige -- -- --«

»Sei sofort vom alten Herrn Eik von Eichen ersetzt worden, und
zwar durch eine weit wertvollere,« war hier Hieronymus Teichmann
eingefallen, der gerade vorbeiging und sich ausnahmsweise und nur zum
Steuer der Wahrheit in die Verhandlung mischte.

»Nun ja freilich -- ersetzt,« murrte Base Juliane, »als ob damit alles
abgetan sei! Der Hieronymus Teichmann war eben Partei. In seinen Augen,
das wußten alle, waren die Eik von Eichens geborene Engel, und sie
hätten auch einen Raubmord begehen können, Teichmann würde doch noch
Entschuldigungsgründe für seine langjährige Dienstherrschaft gefunden
haben.«

Aber man wollte in Schwarzhausen nicht so lange warten, bis etwas ganz
Schreckliches durch diesen Bertold Malcroix geschah; man wollte den
Brunnen zudecken, ehe das Kind hereinfiel, und da man nicht den Mut
hatte, zum alten Eik zu gehen, der nun doch einmal die meisten Steuern
zahlte, und ihm zu sagen: »Nimm dein Enkelkind aus der Schule heraus,
es stört da unsere sorgfältig erzogenen Sprößlinge«, so bearbeitete man
eben jene sorgfältig Erzogenen, und diese isolierten den Bertold.

Er fand sich immer allein, beim Spiel und beim Lernen, beim Plaudern,
beim Stillsitzen und beim Frühstücken.

Während der ersten Tage nach jenen bösen Jähzornsstunden fehlte
Liselotte ganz in der Schule. Der Anblick ihres leeren Platzes gab dem
Jungen immer einen Stich ins Herz, mehr noch die kummervollen Augen des
Rektors Tüllen, zu welchem die aufgebrachten Schwarzhausener gesagt
hatten: »Entweder der jähzornige Bengel geht, oder wir nehmen unsere
Kinder fort.« Es war verlorene Liebesmühe des braven Rektors gewesen,
daß er alle guten Seiten des Knaben hervorgehoben hatte; man machte die
Frage einfach zu einer Existenzfrage für den Rektor und seine brave
Schwester.

Als Liselotte zum ersten Male wieder in der Schule erschien,
hatte sie etwas Merkwürdiges mitgebracht, ein längliches, sauber
zusammengeschnürtes Paket, das sie hastig unter die Bank steckte.

Erst als die lange Pause kam, holte sie das Päckchen vor und begab sich
mit ihm nach dem Grasgarten. Bertold folgte ihr dorthin, wie er es ja
immer getan hatte, ehe er sich durch sein strafwürdiges Verhalten die
Pforten zum Paradiese verschloß.

Und ein Stück Paradies war ihm das Windemuthhaus gewesen. -- Die
ganze Klasse wollte den beiden nachstürmen, aber Rektor Tüllen stand
sozusagen mit feurigem Schwerte vor der kleinen, grün angestrichenen
Tür, die zum Grasgarten führte, und sein Lineal, mit dem er wild
umherfuchtelte, glänzte leuchtend in der Sonne. »Weg da,« rief er und
scheuchte die Neugierigen fort, »in das Grasgärtchen dürfen nur die
besten Schüler.«

Das war die Wahrheit, und das half auch. --

Liselotte setzte sich, Bertold stand vor ihr mit bekümmerter, ernster
Miene. Liselotte hatte das Paket auseinandergeschnürt, und nun lag
»Puppe Emmy ohne Kopf« auf ihrem Schoß.

»Liselotte, bist du böse mit mir?« begann Bertold das Gespräch.

Das kleine Mädel schaute nicht auf, ihre Augen guckten nur die Puppe
an, und dann erwiderte sie:

»Sieh mal, liebe Puppe Emmy, ich darf doch nicht mit dem bösen Bertold
sprechen, weil er ein schrecklicher Bengel ist. Nun habe ich dich
mitgenommen, und du kannst ihm alles sagen.«

Der Schatten eines Lächelns flog über des Knaben Gesicht, als er
die List der kleinen Evastochter verstanden, aber es war nur ein
Augenblick, dann fragte er ganz ernst: »Puppe Emmy, ist Liselotte
Windemuth mir böse?«

Und die kopflose Puppe Emmy besaß ein furchtbar erregtes Stimmchen, das
antwortete: »Gräßlich böse ist Liselotte, und aus und vorbei ist’s.
Hans von Windemuth ist ganz schwach und dösig, er hat so schauderhaft
geblutet und liegt immer noch zu Bett. Nie darfst du wieder zu
Liselotte kommen, -- du wärst ein Rowdy, hat Vater gesagt. Und wenn du
wieder Geigen zerschlügst, solltest du lieber deine eigene Geige an
deinem eigenen Kopf zertrümmern.«

»Meine Amati!« stammelte Bertold.

»Jawohl, deine Amati,« bestätigte Puppe Emmy ohne Kopf ungerührt. »Und
es ist eine ganz schreckliche Geschichte. Hans wartet jetzt bloß, bis
du ein Mann bist, dann fordert er dich zum Duell, hat er gesagt, und
schießt dich tot.«

Bertold wollte laut rufen, daß er doch auch dabei den Hans totschießen
könnte, aber sein Gerechtigkeitsgefühl verbot es ihm, und im Bewußtsein
seiner Schuld senkte er tief den Kopf.

»Darf ich auch nicht, bis ich tot bin, mit Liselotte spielen?« fragte
er zaghaft.

»Nein,« lautete Puppe Emmys unbarmherzige Antwort. »Die Liselotte mag
auch gar nicht. Alle Leute sagen, du wärst so ein Zornnickel, daß man
seines Lebens nicht sicher wäre.«

In Bertold begann sich schon wieder etwas zu regen, -- es stieg ihm
heiß ins Gesicht, und Tränen des Zorns füllten seine Augen.

»Wie die Nachtwächter habt ihr Beethoven gespielt,« brach er leise
grollend los, »und dann nachher -- -- --«

»Wenn es doch aber _wahr_ ist --« eiferte Puppe Emmy und stürzte sich
in des Wortes vollster Bedeutung unüberlegt und »kopflos« in eine
höchst gefährliche Situation, -- »dein Vater hat doch auch --«

»Schweig!« schrie Bertold und sah mit seinen erhobenen Fäusten so
schreckenerregend aus, daß Liselotte einen gellenden Schrei ausstieß.

Auf diesen Ausbruch lief sofort Rektor Tüllen herbei, und auch seine
Schwester kam aus der Küche gelaufen, und die übrigen Kinder verließen
ihre Spiele und schauten neugierig in das verbotene Gebiet des
Grasgärtchens.

Da stand der Junge, der beste Schüler, der seit wenigen Tagen das
schwarze Schaf des Städtchens war, mit rollenden Augen und knirschenden
Zähnen, aber in Gegenwart des Herrn Rektors fürchtete sich Liselotte
nun nicht mehr. Sie raffte Puppe Emmy an sich, nestelte an ihrer
Tasche, die sich ziemlich dick und auffällig unter ihrer Schulschürze
bauschte, und dann flog etwas vor Bertolds Füße, und noch etwas und
noch etwas.

»Da! -- da! und da!« rief diesmal nicht Puppe Emmy, sondern Liselotte,
die ebenso blaß war, wie ihr ehemaliger Freund rot; und alle
Schwarzhausener Kinder sahen mit Genugtuung, daß hier eine von ihnen
längst geneidete Freundschaft in Stücke ging.

Unzählige Bildchen flatterten zur Erde vor Bertolds Füße, viele seltene
Steinchen, getrocknete Vierkleeblättchen und bunte Glaskugeln -- lauter
Sachen, die Bertold ach so mühselig einst gesammelt und der kleinen,
geliebten Freundin dargebracht hatte. Auch seine wertvollsten Marken
waren darunter und selbstgezeichnete Bildchen -- -- es lag nun alles im
Kies des Grasgärtchens, und viele schmutzige Kinderhände bückten sich
danach und schlugen sich darum. -- -- --

Totenblaß, aber mit hoch erhobenem Kopf schritt der Knabe über all die
verschmähten Liebesgaben hinweg, die Hände hatte er tief in den Taschen
vergraben, seine Augen schauten geradeaus -- -- -- so ging er zur
Schultür und zum Hause hinaus, ohne sich nur ein einziges Mal umzusehen.

       *       *       *       *       *

Zum erstenmal seit ungezählten Jahren stand Rektor Tüllen wieder im
Hause Eichen vor dem alten Herrn, der einst sein Gönner und Brotgeber
gewesen war.

Und daran, daß er dort wirklich wieder stand, konnte der Rektor die
Kraft der Liebe ermessen, die ihn mit seinem kleinen Schüler verband.

Diese Kraft allein hatte ihn über die Schwelle des Hauses gezogen, aus
dem er einst fortgewiesen wurde, und das er mit einem jungen Herzen
voll Haß und Bitterkeit verlassen hatte.

Jetzt war er alt und mild geworden, und der Greis, der ihm einst wilde,
harte Worte zugerufen, streckte ihm heute die Hand entgegen. Dabei
wetterleuchtete es förmlich in dem alten Gesicht, -- er setzte auch
ein paarmal zu einer Begrüßung an, aber das Reden war nie eigentlich
seine Sache gewesen, und er fühlte wohl, wie schwer es war, nach
fünfundzwanzig Jahren plötzlich eine Anknüpfung zu finden, besonders
bei einem so jäh zerrissenen Faden.

Aber sein Händedruck war ehrlich und fest, und Rektor Tüllen erwiderte
ihn ebenso.

Herr Eik von Eichen ~senior~ führte seinen Gast zu einem der tiefen
Sessel in seinem Arbeitszimmer, und beide setzten sich.

»Erzählen!«

Es war nur ein barsch geknurrtes Wort, aber der Rektor hatte ein
scharfes Auge und ein feines Ohr, er sah, daß sein Gegenüber
heftig erregt war, und er hörte aus der Art, wie das einzige Wort
hervorgestoßen wurde, etwas heraus, das ihn veranlaßte, sofort zu
willfahren.

Ruhig und mit mildem Ernst setzte er dem alten Herrn alles auseinander,
schilderte mit etwas trockener Sachlichkeit die Freundschaft des Knaben
Bertold mit der kleinen Liselotte Windemuth, schilderte den Auftritt im
Hause des Professors, soweit er ihn vom Hörensagen kannte, und betonte
den heftigen Jähzorn des Knaben, der sich am letzten Schultage wieder
erschreckend gezeigt und die Schwarzhausener von neuem aufgeregt habe.
Er selbst, der Rektor, würde den Knaben nie aus der Schule gewiesen
haben, denn Bertold sei ein kluger Kopf und lerne fleißig, im übrigen
sei es ihm, Rektor Tüllen, gleichgültig, was seine Mitbürger dächten,
aber Bertold habe vor drei Tagen die Schule freiwillig verlassen und
sei bis heute nicht zurückgekehrt, deshalb sei er hier und wolle Herrn
Eik von Eichen gut überlegte Vorschläge unterbreiten. --

Rektor Tüllen fühlte plötzlich bei dieser Unterredung, daß ein Diplomat
an ihm verloren gegangen war.

Mit keiner Silbe lobte er den Jungen, dem sein ganzes altes Herz
gehörte, mit keinem Worte beschönigte er Bertolds Jähzorn, -- und von
dem gottbegnadeten, wunderbaren musikalischen Talent des Knaben sprach
er mit einer Nüchternheit, daß der argwöhnische Zuhörer auch nicht
schattenhaft die Sorge spürte, welche Rektor Tüllen beseelte, wenn er
an eine Erfolglosigkeit seiner Mission dachte. Er hatte ja vor diesem
Gang eine lange Unterredung mit dem Organisten Brennstoff gehabt, und
dieser hatte ihn nach allen Regeln der Diplomatie bearbeitet.

»Immer an den Wahlspruch des Alten denken: ›Nun gerade‹. Nicht das Herz
›weghuppen‹ lassen, wir müssen das Kind für Frau Musika retten, und
dazu brauchen wir den alten Isegrimm. Rektor, reden Sie vorsichtig,
Rektor, machen Sie keine Dummheiten!«

Der alte Eik war aufgesprungen und lief wild im Zimmer umher. Es
schüttelte ihn wie ein Sturm. »Bande!« knirschte er, »Bande! Sie
sind um kein Haar besser geworden, meine lieben Schwarzhausener. Was
nicht im Geleise geht mit hü und hott, das wird einfach verfemt und
totgeschlagen, -- ich kenne sie, o ich kenne sie!«

Immer wieder durchmaß er das tiefe, große Zimmer mit wuchtigen
Schritten, und sein schweres, stoßweises Atmen begleitete jeden Schritt.

Mit hartem Ruck blieb er endlich vor dem Lehrer stehen.

»Und Sie wollen sich überwinden, Herr Tüllen, und täglich hierher
kommen, meinen Enkel weiter unterrichten?« fragte er ungläubig.

»Ja, das will ich,« bestätigte der Rektor. Plötzlich reckte er seine
schmächtige Gestalt hoch auf und sah dem alten Eik furchtlos in die
düsteren Augen. »Unter zwei Bedingungen will ich’s.«

Eik von Eichen ~senior~ erstaunte. Er kannte seit seiner frühesten
Jugend nur gebückte, demütige Kreaturen, oder hämische und
schadenfrohe, immer aber furchtsame Seelen, die ihm, wenn möglich, weit
aus dem Wege gingen.

Daß dieser »hungrige Lehrer«, der ganz mit seiner Existenz auf die
Milde der Schwarzhausener Bürger angewiesen war, und der offenbar ihn
doch jetzt auch brauchte, -- -- ihm Bedingungen zu stellen wagte, war
ihm mindestens neu, und deshalb interessierte es ihn.

»Bedingungen?« lachte er kurz auf. »Und die wären?« --

»Daß ich niemals Herrn Baldamus von Eik zu sehen brauche, und daß ich
niemals für meine geistige Arbeit an dem Knaben Bertold irgendein
Honorar anzunehmen brauche.« -- -- --

»Was für eine Verrücktheit!« rief Eik von Eichen ~senior~. »Was wollen
Sie damit? Meinen Sie, ich lasse mir etwas von Ihnen schenken?«

Lehrer Tüllen sah ihn ruhig an.

»Das müssen Sie wohl, Herr von Eik, -- oder Sie verzichten eben auf
mich. Nur die -- -- Anhänglichkeit an Frau Franziska, meine ehemalige
Schülerin, führte mich nach fünfundzwanzig Jahren über diese Schwelle,
und der Gedanke, daß Bertold Eik von Eichen zu schade ist, um in die
Schablone der Schwarzhausener eingepreßt zu werden.«

Eine lange Pause entstand.

Unverwandt schaute der Greis mit den düsteren Augen auf den kleinen
Lehrer, der wieder zusammengesunken, wie unter einer großen
Anstrengung, in dem tiefen Lehnsessel saß.

»Ich nehme beide Bedingungen an.« Wieder streckte sich die große Hand
aus, und der Lehrer legte die seine hinein.

»Herr Baldamus von Eik, mein Pflegesohn, will in den nächsten Wochen
eine Auslandsreise antreten. Vorher will er sehen, ob sich einige
Wünsche und Hoffnungen von ihm verwirklichen lassen, -- -- -- hm -- --
das würde dann große Veränderungen in meinem Hause bedingen, die auch
den Knaben mit betreffen würden. Vorläufig -- -- sehe ich Sie also
täglich hier, mein Arbeitszimmer ist ~tabu~ für jedermann,« (wieder
lachte er rauh), »Sie werden niemandem hier begegnen. Ich stelle aber
_auch_ eine Bedingung.«

Lehrer Tüllen sah gespannt fragend auf.

»Sie erwähnten vorhin, daß mein Enkel im Hause Windemuth musiziert
habe, ich hörte aus Ihren wenn auch noch so bedachten Worten heraus,
daß Bertold das Talent seines Vaters erbte, -- ich will davon _nie_
wieder etwas hören, merken Sie wohl auf. In dem Augenblick, da auch
nur ein Ton des verfluchten Instrumentes an mein Ohr dringt, ziehe ich
meine Hand von meinem Enkel ab.«

Wieder ging die große Gestalt mit dröhnenden Schritten auf und ab.

»Das ist eine sehr harte -- -- und eine ungerechte Bedingung,« tönte
die ruhige Stimme des Lehrers.

»Darüber habe _ich_ zu entscheiden,« lautete die schroffe Erwiderung.
»Ich habe dem Bengel Windemuth die zerstörte Geige ersetzt, -- wie ein
Hohn war’s auf die ganze Vergangenheit, -- ich -- Eik von Eichen kaufte
eine Geige -- --« Wieder das heisere, rauhe Lachen, und wieder der
Unterton dabei, nur dem feinen Ohre des Lehrers vernehmbar, ein Ton des
grollenden Schmerzes, der vom bitteren Hasse kaum mehr zu unterscheiden
war.

Lehrer Tüllen stand auf.

Er überlegte, daß er heute genug erreicht hatte, er wußte wenigstens,
daß der Junge ihm für einige Zeit wieder gehörte, und daß die Förderung
dieser jungen Menschenseele die köstlichste Aufgabe für ihn sein werde.
Ruhig verabschiedete er sich vom Herrn des Hauses. Es wurde kein Wort
weiter gewechselt, dann fiel die schwere Eichentür hinter ihm ins
Schloß.

Ganz erschöpft saß der Rektor dann noch eine Stunde in dem Stübchen von
Hieronymus Teichmann, der gemeinsam mit Kantor Brennstoff auf ihn mit
Spannung gewartet hatte. Das Wiedersehen mit dem alten Vater seiner
einstigen Liebe griff den Rektor ungemein an. Er war ja kein Jüngling
mehr, und es stürmten seit einiger Zeit zu viel neue Eindrücke auf ihn
ein. Fast mechanisch berichtete er über seine Unterredung mit Herrn von
Eik, und der alte Teichmann saß ihm stumm und bedrückt gegenüber. Jeder
erlösende Reim schien ihm abhanden gekommen zu sein.

Desto lebhafter und aufgeregter war Brennstoff.

»Diese ganze Sache ist nur ein Danaergeschenk,« grollte er.
»Himmelherrgott, was nützt uns alles, wenn diese verrückte, tolle,
hirnverbrannte Bedingung mit der Geige bestehen bleibt. Diese ist
sozusagen die Hauptsache im Leben des jungen Eik, wie Frau Musika
überhaupt das A und O eines jeden musengeküßten Individuums sein müßte.
Wenn Jung-Bertold auch weder schreiben, noch lesen könnte, -- mit
seinem Geigenspiel allein käme er durch die ganze Welt. Musik macht gut
und groß und erbt in jedem Falle den Himmel, und die heilige Cäcilie
ist wahrhaft anbetungswürdig!«

»Brennstoff, stoppe ein wenig!« bat jetzt Hieronymus. »Mir scheint,
das Schicksal hat’s schon gut gemeint. Unser Junge, der Bertold, in
sicherer Hut, -- der Gedanke belebt schon meinen Mut. Paßt auf, -- was
heute noch meilenweit, das kommt schon näher mit der Zeit.«

»Unsinn, Hieronymus! Frau Musika ist ’n ungeduldiges Weibsen. Das
wartet nicht. Und so’n Talent verkommen lassen, -- was sag’ ich,
Talent? -- -- so’n Genie!« -- -- --

»Ein Genie bricht sich _immer_ Bahn,« warf Rektor Tüllen ruhig und
etwas müde ein, reichte den beiden still die Hand und ging.

»Billige Brombeerenweisheit,« rief ihm Brennstoff nach. »Herrgott,
_ich_ hätte dem alten Eik gegenüber stehen sollen,« tobte er weiter
und vergaß ganz, daß er vor kaum zwei Stunden noch ausgerufen
hatte: »Mönchlein, Mönchlein, du gehst einen schweren Gang, Gott
sei gepriesen, daß ich mit dem Schlagetot nicht allein zu sein
brauche!« -- --

Schwarzhausen selbst stürmte, brauste und gärte in ungeheurer
Aufregung. -- Daß man den Bertold nicht sofort auf den Schub gebracht
und irgendwohin expediert hatte, war so echt Eikensch. Alles sah dem
alten Einsiedler in Eichenborn aufs Haar ähnlich nach der Meinung der
Schwarzhausener Bürger:

Daß er dem Herrn Professor Windemuth wieder nachträglich die ersetzte
Geige mit einem groben Brief abgejagt und sie dem Bertold geschenkt
habe, damit dieser ein großer Künstler werde, daß er den »Rektor
Dillen« mit unerhörten Drohungen gezwungen habe, den Unterricht des
Knaben im Hause Eichen zu übernehmen, und daß er mit dem jähzornigen
Enkel zusammen nun einen bitteren Haß gegen alle gut gesinnten Bürger
der Stadt fühle und immer neu schüre, so daß man sich ja wohl seines
Lebens nicht mehr sicher fühlen könne. Wie wohl der ehrenfeste Herr
Baldamus Eik darunter litt. Er sah in letzter Zeit recht schlecht
aus -- -- -- ein Jüngling war er ja gerade auch nicht mehr, und es
wäre wohl die höchste Zeit für ihn gewesen, sich nach einer Hausfrau
umzusehen, die dann vielleicht die Macht gehabt hätte, etwas mehr Zucht
und Ordnung in den Eichenborn zu bringen. Das, was einige munkelten,
-- -- Herr Baldamus stiege noch immer der schönen Witwe Malcroix nach,
die ihn einstens verschmähte, war natürlich Unsinn, -- die hätte wohl
mit beiden Händen zugegriffen, wenn ihr Gelegenheit geboten wäre, sich
warm und unabhängig vom Vater in Eichenborn festzusetzen. Denn Herr
Baldamus besaß ein großes, eigenes Vermögen. -- -- --

Durch die dicken Mauern des Eichenborns drangen diese Gerüchte nicht.

»Wie kann ich Ihnen danken!« hatte Franziska Malcroix mit hellen Tränen
in ihren schönen Augen den Rektor gefragt, als er zum erstenmal den
Unterricht beginnen wollte.

»_Ich_ habe zu danken!« lautete die ruhige Antwort, »daß Sie so viel
Vertrauen hatten, mir dies seltene, liebe Kind zu überlassen.«

über die Bedingungen, die von beiden Parteien gestellt waren, sprachen
sie nicht. Bertold, dem Nächstbeteiligten, war der Befehl seines
Großvaters unbekannt geblieben.

Seine Freunde, von denen ja die Mutter sein allerbester war, wollten
ihn nicht zum bewußten Ungehorsam verleiten, aber sie wollten auch
nicht die Schuld auf sich laden, dies herrliche Talent verkümmern zu
lassen, so ging Bertold jeden Tag eine Stunde in das Haus von Kantor
Brennstoff, und dieser gab ihm gediegenen theoretischen Unterricht
mit dem innerlichen, heißen Wunsche, Gott möge ein Wunder tun und
irgendeinen großen Meister nach Schwarzhausen führen, der dann den
Jungen mit sich fortnehmen würde.

Inzwischen führte Bertold ein strenges Leben der Arbeit.

Er sah so wenig frohe Menschen, es war, als ob die Luft des Hauses
Eichenborn jedes Lachen im Keime erstickte.

Und Bertold hatte doch so gern gelacht.

Seine Mutter bemühte sich wohl, in seiner Gegenwart heiter und froh zu
erscheinen, aber sein feines Empfinden fühlte deutlich das Bemühen und
den Schein heraus. Zudem glaubte er, daß sein häßlicher Jähzorn die
Ursache von Frau Franziskas Tiefstimmung sei, und er grämte sich darum.

Täglich wurde sein nachdenkliches Gesichtchen etwas schmaler, trotzdem
ihm seine Mutter die sorgsamste körperliche Pflege angedeihen ließ,
trotzdem im Parke Luft- und Sonnenbäder errichtet waren für ihn und
der Großvater, den er aber selbst kaum jemals zu Gesicht bekam, ihn
auf vier Wochen nach Borkum geschickt hatte, unter Aufsicht des Herrn
Rektors Tüllen, seines verehrten Lehrers.

War es die Scheu, täglich unter so vielen, fremden Menschen zu sein,
war es die Sehnsucht nach seiner geliebten Mutter, die beim Großvater
zurückgeblieben war, -- -- Bertold kam noch ein wenig blasser und
hagerer, sowie gänzlich appetitlos aus dem Seebade zurück.

Sie forschten und fragten und ergingen sich in Mutmaßungen, aber keiner
ahnte, daß es ein kleines, quecksilbriges Persönchen war, das dem
Knaben beständig vorschwebte, -- daß Liselottes altkluges Reden, ihr
unermüdliches Interesse, ihre frische Lebendigkeit ihm fehlte, -- wo
er ging und stand, -- ach so sehr fehlte!

Aber über seine Lippen kam kein Wort, und auf seinem ausdrucksvollen
Knabengesicht lag ein neuer Zug, -- etwas wie Verachtung; der war an
jenem Tage entstanden, als seine kleine Freundin ihm so mitleidlos das
liebevoll aufgespeicherte Sammelsurium vor die Füße warf. --

       *       *       *       *       *

In dem ausgedehnten Parke hinter Eichenborn ging der alte Eik von
Eichen täglich eine Stunde spazieren.

In früheren Zeiten, die aber weit, weit zurücklagen, hatte das
Herrenhaus ganz einsam dagestanden, nur Wald und Wiesen, Sträucher und
Hecken waren seine Nachbarn gewesen, und ganz am Ende der Besitzung,
die sich weithin ausdehnte, schlängelte sich die wilde Gera wie ein
silbernes Band.

Genau so entfernt, wie Haus Eichenborn vom _Ort_ Schwarzhausen lag,
war auch die seelische Entfernung der aristokratischen Bewohner
von den Bürgern des Städtchens. Kaum einer fühlte das Bedürfnis,
die lange und langweilige, schnurgerade Allee zu durchwandern, um
das langgestreckte düstere Haus Eichen aufzusuchen, das wie ein
verwunschenes Märchenschloß in seinem Eichendickicht lag, in welchem
nur ruhig-ernsthafte oder boshaft-jähzornige Menschen wohnten, auf
manches Glied waren auch beide Eigenschaften zusammengefallen.

Nur die jeweiligen Pfarrer hatten seit Generationen treu zu den
Eichens gehalten, weil sie sich allzeit als ein frommes Geschlecht
auszeichneten, zu denen auch die Kirche immer mit ihren Wünschen und
Bedürfnissen kommen konnte, ohne Gefahr zu laufen, abgewiesen zu
werden. Knauserei gehörte jedenfalls nicht zu den vielen Untugenden,
die den Eik von Eichens mit Recht oder Unrecht nachgesagt wurden. Im
achtzehnten Jahrhundert ward ein ganz besonders tatkräftiger Bertold
Zacharias Eik von Eichen Erbe des Eichenborns, und er war es, der auf
seinem eigenen Grund und Boden Reichtümer in Gestalt von Feldspat
entdeckte. Er war der Begründer der großen Eikschen Porzellanfabriken
und zugleich der festgegründeten Wohlhabenheit des Hauses Eichenborn.

Beziehungen mit Frankreich wurden angeknüpft, und der Gatte von
Franziska Malcroix war der Urenkel jenes Mannes, der durch die erste
Lieferung von weichem Frittenporzellan mit Haus Eichen in Verbindung
trat.

Schwarzhausen fing an, sich zu dehnen und zu strecken, Fabrikgebäude,
Schmelzöfen und Ziegeleien wuchsen auf, alle unter der Firma: »Eik«,
und um das düstere Haus selbst lagerten sich wie ein Kranz die roten
Ziegeldächer der schmucken Häuschen, in denen die Angestellten wohnten.

Es hatte in merkwürdig genauer Abwechslung immer einen streng
gewissenhaften, fleißigen Eiksohn gegeben, der das Besitztum mehrte,
und dann wieder einen genialen Feuerkopf, der sich nicht in Schablonen
pressen ließ, und der in einem selbstgewählten Berufe genügend Zeit
fand, aus dem Geleise der Eiks zu weichen und das reichlich vorhandene
Vermögen auch nützlich oder unnützlich zu verbringen. Ein solcher
Feuerkopf war Lorenz Eik von Eichen, der Vater des Herrn Baldamus
gewesen.

Bertold Eik ~senior~ hatte diesen jüngeren Bruder sehr geliebt, aber
das Drohnenleben, welches Lorenz führte, war allezeit der Gegenstand
heftigen Unfriedens zwischen ihnen beiden gewesen.

Durch die vom älteren Bruder und Chef des Hauses förmlich aufgezwungene
Ehe mit einer stillen, demütigen Frau, die sich später als eine
im ärgsten Muckertum steckende Seele entpuppte, wurde Lorenz zur
Verzweiflung getrieben, -- er nahm sich das Leben. -- Bertold Eik
holte den verwaisten Baldamus zu sich und führte einen jahrelangen
erbitterten Kampf mit der Mutter des Knaben, bis auch diese starb.
Baldamus war das getreue Ebenbild seiner Eltern. Vom Vater den Hang
zum Leichtsinn, ohne die geniale Offenheit und Frohmütigkeit dabei,
die ersetzt wurde von der glatten, gesellschaftlichen Miene des
Scheines. Von der Mutter den Hang zum Duckmäusern. -- »Laß dich nicht
erwischen!« war ein Gebot, das obenan im Katechismus des Baldamus
Eik stand, und da er es verstand, diese Lehre mit dem, was Kirche und
Schule von ihm verlangten, in Einklang zu bringen, so fand sich niemand
genötigt, seinem Pflegevater die Augen zu öffnen, ausgenommen der junge
Hauslehrer vor vielen Jahren, der denn auch umgehend »flog«.

An all dieses dachte Herr Bertold Eik, wenn er in der Mittagsstunde
seinen Spaziergang machte. Er schlief trotz seines hohen Alters niemals
nach Tisch, wie er auch Schlafrock und Hausschuhe verachtete und wegen
seiner immer noch scharfen, alles Ungehörige sofort entdeckenden Augen
in Haus und Fabriken sehr gefürchtet war.

Heute dachte er noch an etwas anderes.

Seit fünfzig Jahren spielte er mit seiner Schwester Adelgunde jeden
Abend eine Stunde Schach.

Die Schwarzhausener irrten sich sehr, wenn sie glaubten, Fräulein
Adelgunde hätte keine weiteren Interessen als ihre Häkelspitze,
die allerdings beinahe um das Fürstentum herumreichte, -- sie
hatte nur kein Interesse für Kaffee- und Teegesellschaften, für
Skandalgeschichten und fahrlässige Verleumdungen, sie besaß aber
eine tiefe Heimatliebe, einen Lokalpatriotismus, der weit über alles
Maß hinausging, und der sie einst in jungen Jahren alle Bewerber
ausschlagen ließ, -- sie wollte ihre Geburtsstadt nicht verlassen. Sie
liebte Schwarzhausen, wie eine Mutter ihr ungeratenes Kind liebt, denn
als solches hatte sich das Städtchen ihr gegenüber immer bewiesen,
freilich ahnte es ja auch nicht, wem es sein Krankenhaus, sein
Säuglingsheim, seine schönen Anlagen und den bedeutenden jährlichen
Zuschuß zum Damenstift verdankte.

Fräulein Adelgundes rechte Hand wußte niemals, was die linke tat,
aber das war in Schwarzhausen nicht wohl angebracht. Deshalb liebte
Fräulein von Eik mehr als die Mitbürger die Heimaterde, das heilige
Fleckchen, darauf sie geboren und darinnen ihre Ahnen schlummerten, sie
liebte die dunkeln Tannenwälder und grünen Fichten, die geheimnisvollen
Waldwiesen und rauschenden Waldbäche und die muntere, glänzende,
heiter-geschwätzige, wilde Gera.

Fräulein Adelgunde zählte fünfundachtzig Jahre, aber ihr Geist war
klar, ihre Augen waren durchdringend und scharf, und wenn sie abends
dem Bruder zurief: »Schach dem König!« dann klang ihre Stimme beinahe
jugendlich und hell.

Hatte sie Herrn Bertold dann, wie es gewöhnlich geschah, matt gesetzt,
dann warf sie froh-geschäftig die Figuren zusammen und äußerte wohl:
»Gott Lob und Dank! Wenn ich heute nacht sterbe, so habe ich wenigstens
die letzte Partie gewonnen!«

Und einmal hatte der Bruder darauf geantwortet: »Die _vorletzte_! Ob
man die _letzte_ Partie gewinnt, das weiß kein Mensch!«

Jedenfalls war dies Schachspiel allabendlich, wenn nicht
unaufschiebbare Geschäftsreisen oder ernste Krankheiten dazwischen
gekommen waren, seit fünfzig Jahren so wiederkehrend, wie das
Amen in der Kirche, und deshalb hatte es denn auch Herrn von Eik
stark verblüfft, daß gestern abend die Schwester weder die Figuren
aufstellte, noch, als er ihr diese Obliegenheit abgenommen, irgendeinen
Schachzug tat.

Tief nachdenklich hatte sie im Sessel gelehnt und zum ersten Male in
ihrem Leben statt des Spieles ein absonderliches Gespräch eröffnet.

»Das ist _sehr_ unrecht von dir, Bruder Eik!«

Daß irgend jemand es wagte, ihn, Bertold Eik ~senior~, zur Rede zu
stellen, war jedenfalls neu, und deshalb erregte es das Interesse des
Alten.

»_Was_ ist unrecht?«

»Ich kenne ja das Kind nicht,« fuhr Fräulein Adelgunde jetzt mit
etwas belegter Stimme fort. »Ich _will_ es nicht kennen, wie ich auch
deiner Tochter noch meine Schwelle bis jetzt verweigerte. Sie hat das
ehrenhafte Haus Eichen durch Flucht verlassen, und ich bin zu alt, um
Eichenborn als ein Gasthaus ansehen zu lernen, in das man beliebig zu
jeder Stunde kommen oder aus dem man ohne Gottbehüt gehen kann. Das
müßt ihr erwachsenen, denkenden Menschen mit euch selbst ausmachen.
Aber ich bin Mitglied vom Tierschutzverein, und ebenso hilfsbedürftig,
wie die stumme Kreatur, dünken mich Kinder. Und hier bei uns im
Eichenborn wird eins gequält, -- _das_ ist sehr unrecht von dir,
Bruder.«

»Ich quäle keine Kinder,« war die rauhe Erwiderung.

Mit einem einzigen Griff hatte Fräulein Adelgunde alle aufgestellten
Figuren umgeworfen. Damit zeigte sie, daß das Spiel ihr heute völlig
verleidet sei.

»Du tust es!« entgegnete sie fest. »Nie kommt ein anderes Kind in
unser stilles Haus, dein Enkel hat keinen Umgang als seine Mutter, die
mehr Tränen als Lachen kennen gelernt hat. -- Du hältst dem Knaben
kein Pferd, und nie sah ich ihn im Hofe turnen oder spielen oder auf
dem See rudern; die Schwimmanstalt am Ende des Parkes ist verfallen,
weil Baldamus ein Weichling und du zu alt bist, -- -- hast du dir denn
schon einmal überlegt, Bertold, daß dieses Kind der _Letzte_ unseres
Stammes ist? Weißt du etwas von ihm? Was hat er für Anlagen? Was für
Eigenheiten? Hat er das Talent seines Vaters geerbt? Oder nur schlechte
Anlagen von ihm? Liebt er dich und die Familienüberlieferungen unseres
Hauses? Wird er in unser ehrbares, philisterhaftes Gefüge passen,
oder --«

Wie scharfe Hiebe waren diese Fragen der alten Schwester auf den Herrn
des Hauses gefallen und hatten einen seiner heftigsten Zornanfälle
hervorgerufen. Aber dieser Anfall hatte gar keinen Eindruck auf
Fräulein Adelgunde gemacht, -- sie legte die Schachfiguren in den
alten, wunderbar eingelegten und geschnitzten Kasten, und dann war sie
mit der eindringlichen Mahnung: »Besinne dich, Bruder -- -- auf dich
und unser altes Haus!« in ihr Schlafgemach gegangen.

Das fand Herr Eik von Eichen abscheulich von der Schwester, denn er
selbst hatte natürlich kein Auge zugetan, und die ganze Nacht hindurch
wie auch den heutigen Tag hatte ihn die Frage verfolgt: »Denkst du
daran, daß er der Letzte unseres Stammes ist?«

Über Baldamus, der ja noch in den besten Jahren stand, war die
Schwester einfach hinweggegangen.

Er war ihr sein Leben lang unsympathisch und fremd geblieben, und
manchmal hatte auch Herr Bertold Eik an ein Kuckucksei denken müssen,
denn die Vereinigung von böser Lust und Muckertum war bisher unbekannt
in der Geschichte des Hauses gewesen.

Und daß niemand aus der weiteren Verwandtschaft, niemand aus seinem
Fabrikbereich, niemand von den maßgebenden Persönlichkeiten in der
Stadt selbst ahnte, daß Herr Baldamus nicht ganz der Erzengel Gabriel
war, für den man ihn hielt, -- das hatte den alten, grimmen Eik oft
höhnisch und überhebend lachen lassen. Er war sich ja über sich selbst
nicht klar.

Er wußte nicht, daß er selbst den einst so geliebten Pflegesohn noch
immer viel zu hoch einschätzte, -- wie hätte er sonst auch nur einen
Gedanken an seinen ehemaligen Plan verschwenden können, seine Tochter
Franziska mit seinem Neffen Baldamus Eik zu vermählen, -- eine Hoffnung
zu nähren für seine letzten Tage, daß der Name Eik von Eichen in aller
Reinheit der Rasse neu erstehen könne.

       *       *       *       *       *

Mit schweren, wuchtigen Schritten ging der Greis den schmalen,
tannenbestandenen Weg entlang, der zu einem kleinen Tempelchen führte,
von welchem man einen schönen Blick auf die Berge, Wiesen, Wälder und
den Fluß hatte. Dieser steinerne Tempel hatte auf die Kinderspiele
von Generationen Eiks hinabgeschaut, -- die Chronik erzählte von
Kinderbällen und Theateraufführungen, von Festgelagen der Stadt- und
Dorfjugend, sogar von dem Besuche eines jungen königlichen Prinzen
bei den Eiks, und so wenig sentimental der grimme Bertold Eik auch
veranlagt war, er wußte, daß bei diesem altersgrauen Tempel immer etwas
wie Heimatgefühl über ihn kam, weil seine Kindheit sich unter den Augen
einer guten, sorglichen Mutter dort abgespielt hatte.

Ein schmaler Weg mündete von den Anlagen des Damenstiftes her an dem
Tempel, aber er wurde beinahe nie begangen, denn die adligen Jungfrauen
hatten eine wahre Dornröschenhecke um ihre Burg wachsen lassen, und
nur wenige von ihnen wußten noch um den Weg, den einst Adelgunde von
Eik und Hermine von Windemuth, eine Großtante der kleinen Liselotte,
angelegt, als sie noch junge, reizende Mädchen voll glühender
Freundschaftsgefühle gewesen waren. Jetzt war der Weg moosbewachsen
und durch überhängende Zweige beinahe unkenntlich geworden, nur sehr
schmale Füßchen konnten ihn durchwandeln und sehr schmale Persönchen:
wie es auch damals die feingliedrige Hermine von Windemuth gewesen, der
die erste, bewundernde Liebe des Bertold Eik ~senior~ gegolten.

Schmal und fein war auch das goldlockige Mädchen, das heute diesen Weg
entlang geschlüpft war und -- nun auf der Korbbank des Tempels saß,
mit großen, trotzigen Blauaugen auf ein Bündel schauend, das in seinem
Schoß lag.

Liselotte bemerkte kaum das Herannahen des alten Herrn, der unhörbar
auf dem weichen Moose daherschritt, und als sein großer Schatten in den
Raum fiel, erhob es erschrocken den Kopf.

»Ach _du_ bist’s,« meinte Liselotte dann aber ganz ruhig, »ich glaubte
schon, es sei der schreckliche Kerl.«

»Wer ist denn _das_?« fragte Herr von Eik und wunderte sich selbst, daß
er sich mit der Kleinen in ein Gespräch einließ, aber dies Kind hatte
die Windemuthschen Augen, und er sah gern in sie hinein.

»Eigentlich bist _du_ es ja,« entgegnete Liselotte gleichmütig, »aber
ich nenne den Herrn Baldamus so.«

Eik ~senior~ lachte heiser. »Und wer nennt _mich_ so?« fragte er rauh.

»O -- alle! Die Base Juliane und die Trine und die Frau Postverwalter
und die Eiermale und der Briefträger und -- --«

Liselotte streckte ihm plötzlich die Hand hin. »Ich hab’ dich nie so
genannt,« versicherte sie treuherzig, »ich fürchte mich auch gar nicht
vor dir, du darfst dich gern neben mich auf die Bank setzen, du störst
mich nicht.«

Eik ~senior~ sah mit einem Gemisch von Zorn und Humor auf das kleine
Ding hin, das ihm auf Eikschen Grund und Boden gnädigst erlaubte sich
zu setzen. Aber zu seinem eigenen großen Erstaunen setzte er sich
wirklich.

»Wo kommst du eigentlich her, Hermine?« fragte er weiter.

»Liselotte heiße ich. Hermine ist ja meine Großtante drüben im
Damenstift, und die habe ich eben mit Base Juliane besucht. Es ist
furchtbar langweilig bei ihr, und denke dir, -- sie kann Puppe Emmy
nicht leiden. Deshalb zwängte ich mich durch die Dornenhecke und lief
hierher.«

Voll Entrüstung sagte es die Kleine, und gleichzeitig hob sie das
Bündel von ihrem Schoß auf und drückte es in den Arm des neuen
Freundes. »Ist sie nicht süß? Leider immer krank!«

Herr von Eik beschaute sich das grau-schmutzige Bündel, ohne sich zu
rühren. »Ich kann den Kopf nicht finden,« meinte er unbehaglich.

»Den kann auch kein Mensch mehr finden,« berichtete Liselotte
entsagungsvoll. »Weiß Gott, wo er sein mag. Das ist ja eben ihre
schwere Krankheit. -- Bitte, rühr’ dich nicht,« bat sie eindringlich,
als Herr von Eik Miene machte, seine unbequeme Stellung als
Kinderwärter aufzugeben, »Puppe Emmy mag gern so liegen, es beruhigt
alle ihre Nerven so.«

Die Windemuthsaugen sahen vertrauend in die strengen, von buschigen
Brauen umrahmten Eiksaugen und übten seltsame Macht. Herr Bertold
~senior~ rührte sich nicht. --

»Sprechen kannst du gern,« ermunterte ihn Liselotte nach einer Weile.
»Auch lachen, wenn es dir Spaß macht.«

»Ich wüßte nicht, worüber,« war die kurze Antwort.

»Ich meine auch bloß so.«

»Woher kennst du denn diesen Platz?« fragte der alte Herr, und da er
ein leises Kribbeln in seinem linken Arm wahrnahm, bettete er Puppe
Emmy in seinen rechten, welche Tätigkeit ein ganz süßes, mütterliches
Lächeln auf Liselottes Gesichtchen zauberte.

»Diesen Tempel? -- Da hat mir zuerst Großtante Hermine davon erzählt,«
beantwortete sie jetzt die Frage. »Auch von dir hat sie mir erzählt,
lauter so gute, schöne Sachen, wie du früher warst vor hundert Jahren,
und dann brachte ich ihr auch mal den Bertold. Da meinte sie, das wäre
auf und nieder dein Ebenbild, -- sie hatte auch so’n närrischen Namen
für ihn, den lernten Bertold und ich auswendig: ›Schewalliee ßang Pör
ang Minniatür‹.«

»So? Hm!«

»Ja und dann fragten wir sie, was das auf Deutsch wäre, -- ein Ritter
ohne Furcht und Tadel, aber nicht so’n großer, wie du, sondern ein
winziger. Das war doch nett von ihr, nicht wahr, Herr von Eik? Ich habe
ihr auch nicht erzählt, daß du dem Diener manchmal die Feuerschaufel an
den Kopf geworfen hast und so viele Gläser.«

Mit einem einzigen Ruck stand der alte Herr auf, und Puppe Emmy flog
auf den Boden. Ein Wehschrei ertönte, und jetzt sah ein blasses,
zorniges Gesichtchen den Schloßherrn an.

»Du hast es wohl gar mit Willen getan?« fragte ein ungläubiges,
bebendes Stimmchen. »Ja, ist denn das möglich? So ein armes,
krankes Emmylein auf die Erde zu ballern? Mit ohne Kopf und
Sägspänenentzündung? I, da glaub’ ich aber nun _auch_, daß du
ein -- -- --«

Herr von Eik sah mit unbeschreiblichem Ausdruck auf das Kind nieder,
und in seinem Blick mußte etwas liegen, was dieses unerschrockene
Persönchen zwang, seinen Satz unvollendet zu lassen. Hastig nahm es
die mißhandelte Puppe auf den Schoß und begann, sie kunstgerecht
aufzuwickeln. »Natürlich,« -- meinte Liselotte verlegen-sachverständig,
»naß ist sie auch, -- natürlich, bei der Aufregung, -- sie tut es sonst
nie.«

Rasch wurde dem Puppenwagen anderes Weißzeug entnommen und das Püppchen
trocken gelegt.

Wie lange war es her, seit Herr von Eik ~senior~ solch weiche
Kinderlaute gehört, solch zarte Fingerchen hantieren sah! -- Seine
Franziska, ja die war auch solch Puppenmütterchen gewesen, und hier
am Tempel hatte sie halbe Tage lang gespielt und mit der eigenen
Mutter ihre kleinen Sorgen und großen Freuden besprochen. Nie mit ihm,
dem Vater. Er hatte immer nur zürnend oder spöttisch ihr gegenüber
gestanden und kein Verständnis für Kinderlachen und Kindertränen
gezeigt. Und als die Mutter starb, da lag alles kindliche Vertrauen
mit in dem schwarzen Schrein, darin man sie begrub, und Vater und Kind
waren arm und einsam. Zwar kam die Liebe und das Vertrauen wieder, aber
das wurde dann dem fremden Manne geschenkt, mit dem sein Kind entfloh.

Vielleicht waren es alle diese schweren, so plötzlich auf den alten
Eik hereinstürmenden Gedanken, daß er einen Schritt näher herantrat,
den blonden Scheitel der kleinen Zürnenden sacht berührte und mit
guter, sanfter Stimme sagte: »Gib her, ich will dein Kind wieder gesund
machen.«

Liselotte sah ihn prüfend und forschend an.

»Aha,« meinte sie verständnisvoll, »du willst nun gewiß Doktor
sein, weil du so’n schlechter Vater bist. Na dann nimm sie, aber --
vooorsichtig -- ohhhh vooorsichtig -- -- --«

Als trüge er seltenes Glas oder Porzellan, so besorgt schritt Herr
Eik von Eichen den Waldpfad zurück nach Haus Eichenborn mit einem
wunderlichen, nie gekannten Gefühl im Herzen.

Vorsichtig schaute er sich um, ob ihn auch niemand sähe, wie er das
kleine, unförmliche Bündel auf seinem Arm hütete.

Es war niemand Störendes zu sehen, nur die blondlockige kleine
Gestalt stand unbeweglich im Tempelchen und blickte ihm mit großen,
vertrauenden Augen nach.

Da winkte er mit der Hand, und das Mädelchen zog ein winziges, arg
schmutziges Taschentüchlein hervor und winkte auch.

So schaute er sich wohl dreimal um, blieb auch dabei stehen und hörte
die klare Stimme rufen: »Komm bald wieder, hörst du? Morgen, oder
übermorgen, -- ade, ade!«

Dann kam eine Wegbiegung und entzog ihm den lieben, ungewohnten Anblick.

Auch im Herrenhause selbst begegnete dem alten Herrn niemand, aber es
fiel ihm heute zum ersten Male auf, wie öde und einsam die großen,
weiten Hallen und Gänge waren.

Ordentlich unheimlich kamen sie ihm vor, aber weil er sich doch nicht
gut fürchten konnte auf seine alten Tage, so zog er es vor, ärgerlich
zu werden. Schon wollte er mit Stentorstimme nach Hieronymus oder sonst
einem dienstbaren Geist rufen, doch da war etwas, das hielt ihn vor
solch rücksichtslosem Gebaren ab.

Vor seinem geistigen Auge gaukelte immer noch das kleine, zierliche
Mädchen mit den mahnenden Blicken: »Vorsichtig, damit Puppe Emmy nicht
aufwacht!«

Mit einem Male stand der alte Herr still und horchte.

Es klang wie unterdrücktes Weinen an sein Ohr, jedoch er konnte keine
Menschenseele entdecken.

Wieder ging er ein paar Schritte vorwärts und blieb dann abermals
lauschend stehen.

»Ist jemand hier?« fragte er halblaut.

Keine Antwort, doch drang das Schluchzen deutlicher zu ihm, was ihn
plötzlich veranlaßte, den mächtigen Kleiderschrank zu öffnen, der ihm
selbst in seiner fernen Knabenzeit als Unterschlupf gedient hatte. Er
fand eine zusammengekauerte Gestalt in der Schranktiefe, und nach ein
paar Sekunden stand sein Enkel Bertold vor ihm, und ein vom Weinen
verschwollenes Gesicht schaute zu ihm auf. Der Junge sah nicht sehr
schön aus in diesem Augenblick, sondern recht gedrückt, kläglich und
verzweifelt, und sein Anblick erbitterte den Alten, der gerade eben das
hübsche, unerschrockene Mädchen vor sich gehabt hatte.

»Warum heulst du?« fragte er barsch.

»Ich -- ich weiß nicht,« -- lautete die verzagte Antwort, verbunden mit
einem verlegenen Schulterziehen.

»Jammerlappen!« stieß Herr von Eik rauh hervor. Die Abneigung
gegen seinen Enkel übermannte ihn förmlich und er fühlte, wie ein
sinnloser Zorn in wilden Wogen über ihm zusammenschlagen wollte. Als
sei er selbst nicht fünfundsiebzig, sondern fünfundzwanzig Jahre
alt, mit solcher Kraft hob er den Knaben hoch und schüttelte ihn
derb und ungestüm, so daß die schlanke Gestalt hin und her taumelte.
»Jammerlappen! Deiner Lebtage wirst du kein Kerl, -- kein Eik von
Eichen! -- Und sowas ist mein Erbe!«

Der junge Bertold hatte die Lippen zusammengepreßt und sah dem
Großvater starr und groß in die Augen.

Da ließ ihn Herr von Eik los und stampfte mit schweren Schritten und
keuchendem Atem davon; an Bertolds Kopf aber flog ein Bündel, im
höchsten Zorn geworfen, und dann fiel die Eichentür hinter dem alten
Herrn ins Schloß und der Knabe stand allein. Mechanisch hob er das
Bündel auf, -- er zitterte vor Angst, Zorn und Weh.

Herrgott, was war er für ein unglücklicher Junge!

Wie verloren kam er sich vor in dem großen, weiten Hause, -- es litt
ihn nirgends.

»Sei doch tapfer!« hatte ihn die Mutter ermahnt, mit der er die
Aufgaben für Rektor Tüllen zu lösen versuchte, -- -- doch konnte er
nicht sehen noch lesen vor den verdunkelnden Tränen. »Sei doch tapfer,
was fehlt dir denn?«

Und zu wem er auch kam, -- sei es im Stübchen des Hieronymus oder in
der Wohnung des Organisten Brennstoff, -- überall ermahnte und fragte
man ihn: »Wer wird denn so weinen, -- so ein großer Junge!«

O wie er sich schämte! Wie die Schmach brannte, gleich einem Bündel hin
und her geschüttelt zu sein, er meinte, ersticken zu müssen vor Zorn
über die brutale Behandlung. Aber größer als der Zorn und die Scham war
das Weh in seiner Brust, -- das wunderliche Etwas, -- wie nannte er es?
O wenn er doch seine Geige hier hätte! Daß er seinen Jammer in all den
Melodien vergessen könnte, die in den Saiten schlummerten, und die er
so oft geweckt hatte, wenn er sich einsam fühlte. Aber die Geige war
dauernd zu dem Organisten gebracht worden, und nur in dessen Zimmer
durfte er spielen, -- nie allein mit ihr sein, nie. Wie furchtbar weh
das tat! Aber war es die Geige allein, die ihm so schmerzlich fehlte?
Wirklich ganz allein die Geige?

Wie aus weiter Ferne hörte Bertold die Laute einer zornigen
Kinderstimme: »Nie spiele ich wieder mit dir, _nie_!«

_Das_ war es. -- -- --

Mit einem Wehelaut warf sich Bertold auf den harten Fußboden und
stöhnte in das Bündel hinein, das ihm der harte Großvater in
ausbrechendem Jähzorn an den Kopf geworfen hatte.

Aber von dem Bündel ging etwas Seltsames aus, ein Duft, den der Knabe
kannte und den er jetzt spürend und begierig einsog. Alle Arzeneien
und Belebungsmittel, deren Liselotte in ihrem jungen Leben habhaft
werden konnte, besonders Baldriantropfen, Kamillentee und Eau de
Cologne, hatte sie verschwenderisch über Puppe Emmy ausgegossen, und
an diesem Duft erkannte Bertold mit einem Schlage, was da vom Himmel
herunter gefallen war.

Ja, vom Himmel. -- Vergessen war der Großvater und sein Jähzorn,
vergessen die schmähliche Behandlung, vergessen selbst die Geige -- --
»Puppe Emmy!« sprach der Junge laut, und eine heiße Zärtlichkeit lag
in den zwei Worten verborgen und eine feste Zuversicht, als ob ja nun
alles gut werden müsse.

Er erhob sich vom Boden, versicherte sich noch einmal am hellen
Fenster, daß er wirklich das liebste Eigentum der verlorenen Gespielin
in seinen Händen halte, schob dann die Puppe in seine weite Knabenbluse
und atmete tief auf.

Wo sollte er das Kleinod verbergen? Denn daß er es nicht wieder heraus
gab, stand ganz fest bei ihm. Er fragte sich gar nicht, wie das Bündel
in seines Großvaters Hand gelangt war, -- -- es war ihm in seiner
weichen Stimmung lieb, an ein Wunder zu glauben. --

Aber er zermarterte nun seinen Kopf, ein dauerndes Versteck ausfindig
zu machen, wo er doch ab und zu hingelangen konnte, um das Bündel zu
sehen. Der Boden! Das war ein Gedanke! Auf seinen Streifzügen war er
in die verschiedensten Regionen gekommen, aber vor dem Boden hatte
er sich immer noch etwas gescheut. Denn an der Bodendecke prangte
ein unheimliches, mächtiges Bild in düster-bunten Farben, den großen
Christopher darstellend -- -- er sah das Bild, wenn er den Kopf weit
zurückbog und in die Höhe blickte.

Heute fühlte er keine Angst.

Puppe Emmy war wie ein Talisman, -- ein Amulett, das ihn vor allem
Bösen schützen mußte.

Sinnend, lächelnd und glücklich stieg der Knabe die Treppen in die
Höhe, aber er erreichte den Oberboden nicht, er verirrte sich in
andere, weite Gänge, in nie zuvor gesehene Säle und Zimmer, auf
hallende, von schön und seltsam geschnitzten Geländern umgebene Treppen
und in unzählige geheimnisvolle, dunkle Winkel.

Endlich geriet er auch wieder auf weiche Teppiche, die seinen Schritt
dämpften, er sah lichte Fenster- und dunkle Türvorhänge und entdeckte
schöne, farbenprächtige Bilder an den Flurwänden. Eine große, weiße
Katze strich an ihm vorbei, und als er sie anrief, rieb sie sich
zärtlich an seinem Körper. Das Wunderbarste aber war, daß ihm jemand
aus einem der verschlossenen Zimmer »Bertold! Bertold!« zurief.

Er klopfte bescheidentlich an und trat ein.

Zuerst sah er nur einen großen, grauen Papagei, der sich schwatzend
und kreischend in seinem Ringe schaukelte, dann gewahrte er in
dem behaglichen Raume einen teppichbelegten, altmodischen Tritt,
auf diesem ein in voller Bewegung befindliches Spinnrad, und
davor -- -- -- das konnte nur die alte Spinnerin aus Dornröschens
Zauberschloß sein. Etwas wie Furcht beschlich ihn, aber er bezwang sich
tapfer. »Haben Sie mich gerufen?« fragte er höflich und mit tiefer
Verbeugung. Die graue, etwas gebückte Gestalt, die so eifrig spann, sah
ihn forschend an. --

»Bertold, Bertold!« krächzte der Papagei, und nun lachte der schlanke
Junge, lachte so herzhaft, so klingend, so musikalisch, so aus dem
Innersten heraus, daß es tönend von den Wänden zurückkam.

Da stand das Spinnrad plötzlich still, und der Stuhl, worauf die
graue Gestalt saß, wurde polternd zurückgestoßen. Trippelnde Schritte
näherten sich dem Knaben, dann umschlangen ihn zwei Arme, und er sah in
ein gutes, altes Gesicht, dessen blaue Augen voll Tränen standen.

»Du Junge! Du Bertold! Du echter Eik mit deinem Eikschen Lachen!
Willkommen bei Großtante Adelgunde!«

Es mußte ja ein Märchen sein. Bertold rieb sich immer wieder die
Augen, aber der Papagei und das Spinnrad blieben und die graue Gestalt
blieb auch leibhaftig vor ihm, nur daß sie jetzt geschäftig im Zimmer
herumlief und kleine Kuchen, Obst und feine Schokolade vor Bertold
hinsetzte mit der Aufforderung, tüchtig zuzulangen. Das tat der Junge
gern, denn in seinem großen Kummer war er nicht dazu gekommen, sein
Vesperbrot zu genießen. Nun saß er neben der plötzlich entdeckten
Großtante, die wohl hundert Jahre nach seiner Schätzung zählte, und
sie nötigte ihn immer wieder liebevoll zum Zulangen, bis auch kein
Stellchen in seinem Magen mehr frei war.

»Jetzt erzähle!« bat die alte Dame.

»Warum ruft der Papagei immer Bertold?« wollte der Junge gern noch
wissen, »er kennt mich ja gar nicht.«

»Das gilt deinem Großvater,« lachte leise die Großtante. »Früher war
der Papagei immer bei ihm, -- -- aber er ist so sehr gelehrig und
gewöhnte sich alles an, was dein Großvater rief -- -- hm, -- das war
oft lästig -- wenn er es so unablässig wiederholte. Jetzt habe ich ihm
alles bis auf den Namen seines früheren Herrn abgewöhnt, -- -- der ja
auch der deine ist, mein kleiner Bertold!«

Sie war so vertrauenerweckend, die Großtante Adelgunde!

Weit tat sich Bertolds Herz auf und erzählte ihr alles, seine Freuden,
seine Leiden, seinen ganzen letzten Kummer.

»Du stehst jetzt unter meinem Schutz,« bedeutete ihm die alte Dame.
»Und du wirst nicht mehr heimlich beim Organisten Brennstoff spielen,
sondern du wirst hier laut und deutlich bei mir üben, und ich werde
nach E. schreiben und den besten Lehrer für dich bestellen. Du wirst
gleich heute noch deine Geige holen und sie zu mir bringen, -- du
lieber Herrgott, ich soll wieder einmal eine Amati in den Händen halten
-- und vielleicht können wir beide sogar zusammen musizieren.«

Die Achtzigjährige wurde ganz lebhaft, -- sie trippelte zu dem hellen
Mahagonispinett und öffnete es feierlich. »Mach’ noch einmal eine
tiefe Verbeugung, kleiner Bertold, denn auf diesem Instrument hat --
Beethoven gespielt.«

Der Junge atmete tief auf. Immer noch meinte er, alles müsse vor seinen
Augen plötzlich verschwinden, -- es war zu wunderseltsam, was er
erlebte. Ungestüm warf er beide Arme um den Hals der alten Dame, daß
sie sogar ein wenig taumelte.

»Ei, ei,« mahnte sie, »du ungestümer Eik! So sind und so waren sie eben
_auch_ alle. Aber ungestüm und musikalisch darfst du sein, wenn du
nur nicht jähzornig bist,« setzte sie leise hinzu, indessen doch laut
genug, daß Bertold sie verstanden hatte. Er erblaßte bis in die Lippen.
»Schließ das Beethovenspinettchen!« bat er schmerzlich. »Ich -- ich
verdiene nicht, drauf zu spielen.« -- -- --

Der Abend brach herein. Mit einem zärtlichen »Gott behüt« wurde der
Junge entlassen unter dem feierlichen Bedeuten, sein Mütterchen
aufzufordern, sie möchte Großtante Adelgunde besuchen. Dann schritt
er all die Gänge, Treppen und Treppchen wieder zurück bis zu dem
Seitenflügel, den er und seine Mutter bewohnten.

Lange saß er noch mit Mutter Franziska in eifriger, zärtlicher
Zwiesprache zusammen, und dann brachte sie ihn zu Bett und betete
dankbar mit ihm. Unter seinem Kopfkissen aber lag, ohne daß es eine
Menschenseele außer ihm selbst ahnte, ein schmutzig-weißes Bündel,
und vielmals in der mondhellen Sommernacht zog er es hervor, um die
geliebte Puppe Emmy ohne Kopf anzuschauen und sich zu vergewissern, daß
dieser Gruß und Augentrost wirklich bei ihm sei. -- Bis ihm nach all
den aufregenden Sachen am heutigen Tage die müden Augen zufielen. --

       *       *       *       *       *

Gegen Abend des nächsten Tages schritt Frau Franziska über Gänge und
Treppen des Vaterhauses denselben Weg, den Jung-Bertold zurückgelegt.
Sie aber kannte jedes Winkelchen, und aus jedem Eckchen schaute sie die
Erinnerung an.

Das ernste Zürnen von Großtante Adelgunde hatte ihr schmerzlich weh
getan, kaum wollte sie die liebe, freudige Botschaft aus dem Munde
ihres Jungen als richtig ansehen.

So klopfte sie nur zaghaft an, aber auch ihr erschien der Ruf des
grauen Papageis als eine günstige Vorbedeutung. Still öffnete sich die
Tür, so als ob jemand schon lange, lange dahinter gestanden und auf
ihren Schritt gewartet habe, -- still öffneten sich zwei alte Arme, und
das alte, dazugehörende Herz hatte wohl schon längst offen gestanden
und sich nur noch etwas gewehrt, das auffordernde »Herein« laut zu
rufen.

Die Liebe zu Jung-Bertold überbrückte auch lückenlos die große Kluft,
welche die Flucht der Nichte vor Jahren gerissen, Tante Adelgunde
dachte nicht mehr an Unrecht und Schmach, sie dachte nur an das Leid,
das Frau Franziska getroffen, und das wollte sie jetzt mit ihren
schwachen Kräften in Sonnenschein wandeln.

»Von gestern ab gehört der Junge mir mit,« rief die alte Dame in
ungewöhnlicher Lebhaftigkeit, »er selbst hat mein Reich erobert.«

In all den Tagen, die nun folgten, sah Frau Franziska ihren Vater
wenig oder gar nicht, und Fräulein Adelgunde mußte es erleben, daß der
Schachtisch und das Schachbrett völlig verwaist blieben.

Das war etwas Unerhörtes, und die Schwester nahm sich vor, dem
Oberhaupt vom Eichenborn einmal wieder gründlich ihre Meinung zu
sagen; als sie aber durch Zufall ihm begegnete, erschrak sie vor dem
finsteren, gequälten Ausdruck in seinem Gesicht und verlor den Mut, ihn
nach der Ursache zu fragen. Herr Baldamus von Eik war verreist.

Frau Franziska freute sich dieser Tage, -- man hörte sie sogar mit
ihrem Knaben lachen, und ihre Wangen bekamen einen Anflug feiner Röte,
so daß sie oft wie ein junges Mädchen aussah.

So gern hätte sie nun recht gemütliche Mittagstunden mit ihrem Vater
genossen, aber sobald sie mit Jung-Bertold das große Eßzimmer betrat,
meldete ihr der Diener, daß Herr Eik von Eichen ~senior~ heute allein
zu speisen wünsche. Dies »heute« bezog sich nun aber schon auf viele
Tage. --

War es der junge Diener, der die Meldung machte, dann begnügte sich
Frau Franziska mit einem Kopfnicken, -- als aber Hieronymus Teichmann
bei Tisch aufwartete und sie wieder nur zwei Gedecke erblickte, da trat
sie rasch auf den alten Getreuen zu.

»Hieronymus, was ist’s mit dem Vater? Irgend etwas bedrückt ihn schwer,
-- ich sorge mich. Und du scheinst es zu wissen, Hieronymus, was hier
vorgeht.«

Der Diener wich ihrem forschenden Blicke aus.

»Da ist nichts zu raten und nichts zu sagen,« murmelte er. »Haus Eichen
hat einen guten Magen, und wenn wir dem lieben Herrgott trauen, kann
der Eichborn auch _das_ verdauen.«

»Ist es etwas sehr Schweres, Hieronymus?« fragte Franziska, ängstlich
geworden, -- -- »ich kann es mir gar nicht zusammenreimen. Sind es etwa
gar -- Zahlungsschwierigkeiten?«

Ein leises Lächeln trat auf das gute, alte Gesicht des Faktotums.

»Du liebe Zeit, -- so Schwierigkeiten, was haben _die_ für Haus Eik zu
bedeuten? ’s sind weiter nichts als Mückenstiche. -- Aber es gibt so
_andere_ Schliche, -- -- die sich nicht ziemen für Eichenborn -- die
bringen Herzweh und heiligen Zorn. Ich bin nur ein Diener und hab’
nichts zu sagen, aber der Herr sollt’ dazwischen schlagen mit Knüppeln
-- und mit eisernem Besen auskehren all das schlimme Wesen.«

Er hatte sich in Zorn geredet, der Alte, und nun erschrak er, daß
sowohl Frau Franziska, als auch Bertold die Suppe völlig unberührt
gelassen hatten, und daß beide mit traurigen, ängstlichen Augen zu ihm
aufschauten.

»Ich bin ein Schwätzer, Fräulein Franziska,« stotterte er, denn diese
Bezeichnung gebrauchte er immer für seine liebe Herrin; sie sah so
mädchenhaft aus, und der fremdländische Name, der ihr zukam, wollte
nicht über seine Lippen.

»Vorhin ging der alte Valentin die Treppe hinunter,« nahm Bertold das
Wort. »Er grüßte mich gar nicht, ich glaube, er war sehr krank und sah
aus, als ob er geweint hätte.«

»Der alte Valentin?« fragte lebhaft Frau Franziska. »Ich war lange
nicht bei ihnen, das ist eine häßliche Unterlassung von mir. Hat das
hübsche Jettchen genug zu tun immer? Ich will ihr gern wieder Aufträge
für Wäschesticken zuwenden -- -- --«

Hieronymus antwortete nicht, er hatte sich plötzlich zur Tür
gewendet und war mit dem großen Präsentierbrett hinausgeschritten in
unziemlicher Hast, die er sich noch niemals sonst hatte im Beisein der
Herrschaft zuschulden kommen lassen. Mit bangen Blicken schaute ihm
Frau Franziska nach.

Als er mit dem zweiten Gang herein kam, winkte ihm die junge Frau,
damit er recht leise hantiere.

Im Nebenzimmer, dem Arbeitsgemach des alten Herrn von Eichen, hatten
sich laute Stimmen erhoben, die sich immer mehr steigerten. Bekümmert
und verständnislos sah Frau Franziska drein.

Jetzt nickte Hieronymus gleichmütig.

»Das ist die Arbeiterdeputation,« meinte er. »Wenn doch da unser Herr
nachgeben wollte. Sie verlangen nicht zu viel, die Leute, es ist eben
alles teurer geworden, und die Eiksche Fabrik sollte lieber mit gutem
Beispiel vorangehen, als im alten Schlendrian verbleiben. Es gärt schon
allzuviel unter den Böswilligen, aber das sind alles junge, verführte
Leute, -- _unsere_ Arbeiter sind gut, -- nur besser möcht’s eben jeder
haben.«

»Ihr irrt euch,« tönte von drüben scharf und laut die Stimme, »zu mir
kommt nur nicht mit so hirnverbrannten Ideen. Ob ich euch aufbessern
_kann_, habe ich allein zu entscheiden, jedenfalls _will_ ich es nicht,
weil die letzte Aufbesserung erst vor Jahresfrist erfolgte und ich eine
neue noch nicht für nötig halte; zwingen lasse ich mich nicht, das wißt
ihr ja.«

Man konnte die Erwiderung nicht verstehen, aber jedenfalls wurde sie
von einem Einzelnen in heftigem Ton gegeben.

»Der Heinrich Liebetraut ist’s,« murmelte Hieronymus ängstlich. »Nur
beim Reden tut der Kerl _nicht_ faul, -- ich wollt’, er hielte jetzt --
den Mund.«

Dem treuen Hieronymus versagte plötzlich der beabsichtigte, kräftigere
Reim, denn drüben hatte Herr von Eik mit seiner kräftigen Faust auf den
Tisch geschlagen. »Hinaus!« brüllte er, »macht, daß ihr hinaus kommt!«

Dann ein nicht eben sachtes Türenschlagen, das erregte Sprechen von
drei oder vier Menschen auf dem Hausflur und hastiges Entfernen stark
und polternd auftretender Männerfüße.

Mit klopfenden Herzen standen Franziska und Bertold nebeneinander,
während Hieronymus leise das Zimmer verlassen hatte. Er konnte es nicht
mit ansehen, wie eine Speise nach der anderen unberührt stehen blieb,
und er konnte auch nicht der verehrten Tochter seines Herrn ganz genau
Rede und Antwort stehen, konnte vor allen Dingen ihren ernsten, reinen
Augen gegenüber nicht der Aufklärende sein, der ihr sagte, daß ihre
letzte Zuflucht, ihre geliebte Heimat, in welche sie sich aus Unehre
und Schmutz gerettet, längst eines eisernen Besens bedürfe, der viel
Fäulnis, viel böse Stoffe herauskehren müsse.

Als Hieronymus die Tür öffnete, steckte Herr Eik von Eichen ~senior~
zur gleichen Zeit den Kopf aus seinem Zimmer herein, und der Diener
erschrak, so grau und verärgert sah das Gesicht aus, so zornig die
Augen zwischen den starken Brauen.

»Ich bin für _niemand_ zu sprechen,« rief der alte Herr ihn an, »für
niemand, weder jetzt, noch nachher, noch heute abend. Sorge dafür, daß
keine Menschenseele auf diesen Flügel kommt, -- meine Tochter und ihr
Sohn sollen anderswo essen.«

»Sehr wohl, Herr von Eichen!« war die leise Antwort des bestürzten
Hieronymus, und dann war er auf leisen Sohlen zu Frau Franziska
zurückgekehrt, um ihr Bescheid zu bringen. Sie entfernte sich
traurigen Blickes mit Bertold, -- gar zu gern hätte sie mit ihrem
Vater alle Vorgänge besprochen, wäre ihm so gern eine verständnisvolle
Gefährtin gewesen in all diesen Wirren einer neuen Zeit, die den
patriarchalischen Zuschnitt vom Hause Eichenborn längst nicht mehr
verstand.

Aber Franziska wußte, daß ein Hereinreden in den väterlichen Zorn ihn
nur noch mehr schüren und zur lodernden Flamme anfachen würde.

Mit mächtigen Schritten durchmaß der alte Herr sein
Riesenarbeitszimmer. Beide Hände hielt er geballt, -- ein schweres
Stöhnen, unartikulierte Laute, die beinahe nichts Menschenähnliches
hatten, entrangen sich seiner heftig atmenden Brust. Ein Jähzornanfall
schlimmster Art hielt ihn gepackt, dabei schlug sein Herz hart und
schmerzhaft gegen die Brust, und kalter Schweiß bedeckte seine Stirn.
Immer wieder nahm er die Wanderung auf, der dicke Teppich minderte nur
wenig das Dröhnen seiner Schritte.

Wütende Flüche und eine Flut von Schmähungen ergossen sich aus seinem
Munde, er tobte in wilden Drohungen, bis er sich erschöpft niedersetzen
mußte. Aber auch jetzt noch umkrampften seine großen Fäuste die Lehnen
des tiefen Sessels, als wollte er sie zerdrücken. -- -- --

»Da bist du ja!« tönte ein durchaus tapferes, selbstbewußtes Stimmchen
durch die schwüle Zornatmosphäre des großen Raumes. Liselotte Windemuth
schloß sorgfältig die Tür wieder, legte beide Händchen auf den Rücken
und schritt ruhig zum Arbeitssessel des alten Herrn. »_Wo hast du Puppe
Emmy?_« fragte sie energisch.

Herr von Eik griff mit beiden Händen nach seinem Kopfe. Es sah aus, als
glaubte er eine Erscheinung vor sich zu haben. Dann wich allmählich
dieser Wahn von ihm, um einem erneuten Wutanfall Platz zu machen. Beide
Hände hob er, als wolle er diese unglaublich freche, kleine Person da
vor ihm niederschlagen.

Liselotte fing aber die Hände unterwegs auf und hielt sie fest. »Was
machst du denn?« fragte sie unwirsch. »Du hast wohl Angst, ich tu’ dir
nun was? -- Ich will bloß mein Kind wieder haben. Auch wenn’s noch
krank ist. Macht nichts! Gib’s her!«

»Ich habe es nicht,« stotterte Herr von Eik verblüfft. Ja, es muß
gesagt werden, der grimmige, jähzornige, gegen jegliche Gefühlsduselei
abgehärtete Herr von Eik war verlegen diesen blauen, unerschrockenen
Kinderaugen gegenüber, besonders weil noch etwas anderes aus ihnen
sprach, eine wirkliche, mütterliche Angst um ihr Puppenkind.

Und der alte Herr war all sein Lebtag ein zu gewissenhafter Mensch und
Geschäftsmann gewesen, als daß er jetzt nicht eine Art unbehaglicher
Beschämung empfinden sollte, weil er das Eigentum eines anderen
verschleppt hatte. Wo in aller Welt hatte er Puppe Emmy gelassen?

Ob er diese Frage laut getan hatte? Jedenfalls zog sich Liselotte
Windemuth einen der großen Sessel herbei, lehnte sich behaglich hinein
und meinte: »Besinn dich nur, -- ich habe Zeit!«

Dieses Wort hatte sie öfters von ihrem Väterchen gehört, wenn sie
irgendeinen wertvolleren Gegenstand verschleppt hatte und sich nicht
erinnern konnte, wohin er gekommen war. --

Bei Herrn von Eik war dies Verfahren aber doch nicht angebracht. Denn
beim Besinnen kam ihm auch wieder der Zorn über den Eindringling,
kam ihm das Bewußtsein, daß der Wertgegenstand eine abscheuliche,
zerschlagene und zerrissene Puppe sei, und daß er über dem für ihn
unwürdigen Forschen nach ihrem Verbleib eine Menge wertvoller Zeit
vertrödele.

»Du mußt jetzt gehen,« beschied er die Kleine. »Die Puppe wird sich
finden.«

Liselotte setzte sich noch etwas fester zurück. »Wo ist sie denn?«
fragte sie ungerührt.

»Ich weiß es jetzt nicht, du hörst es ja.«

»Du hast sie jetzt schon viele, viele Tage, Herr von Eik. Hast du sie
immer gut gefüttert?«

»Wen? Die Puppe? -- Nein!«

»Nicht gefüttert? So lange nicht? Du hast sie hungern lassen?«

»Ach, Dummheiten! Puppen hungern nicht.«

Liselotte war starr über diese vermessene Behauptung. Aber sie hielt
sich nicht dabei auf, sondern setzte streng das Verhör fort.

»Hast du sie gebadet?«

»Nein.«

»Trocken gelegt?«

»Nein.«

»Hast du ihr Geschichten erzählt und sie abends mit in dein Bett
genommen?«

Liselotte hatte den Bogen zu straff gespannt. Die letzte Zumutung
brachte dem gestrengen Herrn von Eik seine unwürdige Lage diesem
Dreikäshoch gegenüber besonders zum Bewußtsein.

Mit einem energischen Ruck hob er das kleine Mädchen aus dem
Sessel hoch, es wehrte sich kräftig und stieß und schlug um sich,
verschlechterte aber dadurch nur seine Lage. Denn der Griff, der sie
umklammert hielt, wurde nun fester und äußerst schmerzhaft, sie wurde
von dem jetzt sehr aufgebrachten Herrn einfach zur Tür hinausgeworfen,
die er dann unbarmherzig hinter sich abschloß. Liselotte wußte zuerst
kaum, was ihr geschehen war, sie strich ihr zerknülltes, weißes
Röckchen glatt und schüttelte die zerzausten blonden Locken, dann aber
begannen ihre kleinen Fäuste energisch an die verschlossene Tür zu
schlagen und zu pochen, -- ein ohnmächtiges Beginnen diesem schweren
Eichengefüge gegenüber. »Gib mir Puppe Emmy her! Ich will meine Emmy
wieder haben!« schrie und schluchzte in Zorn und Verzweiflung das
kleine Ding, daß das Echo gellend von den hohen, hallenden Gängen
wiederkam. »Du da drinnen! Du großes Ungetüm! Du schlechter Kerl! Ich
will meine Emmy ohne Kopf wiederhaben!«

Und als dieser Ausbruch nichts nützte, -- ach so ganz und gar nichts,
und nichts in dem weiten, unheimlichen, einsamen Gebäude sich rührte,
niemand sich blicken ließ, der ihr Antwort auf ihre tobenden Fragen
geben konnte, da brach Liselotte in ein schluchzendes, bitterliches
Weinen aus, dann lief sie die Treppe herunter, durch das Grasgärtchen,
zum Tor hinaus, durch die Straßen an schwatzenden Kindern, an neugierig
stehen bleibenden Leuten vorüber, und in jammervoll hohen Tönen
schrie sie: »Der schlechte Kerl! O der schlechte Kerl!« bis sie das
Haus Windemuth erreicht hatte und Base Juliane das aufgeregte Kind in
Empfang nahm. --

       *       *       *       *       *

Der Spätabend war hereingebrochen, als Herr von Eik sich von seinem
Sessel erhob und auf ein sachtes Pochen an der Tür diese öffnete.

Stundenlang hatte er allein gesessen, er hatte auch hin und wieder
einen leichten Schritt sich nahen hören, und einmal hatte auch eine
bittende Stimme gerufen: »Vater, willst du nicht wenigstens etwas zu
dir nehmen? Ich ängstige mich.«

Aber er hatte mit finster gefalteter Stirn geschwiegen, und die
leichten Schritte hatten sich wieder entfernt. Dann wieder nach Stunden
hatte Schwester Adelgunde sich energisch gemeldet: »Bruder, -- das ist
ja Torheit, du wirst uns ja krank!« Aber auch sie war ohne Erfolg in
ihre Gemächer zurückgekehrt.

Auch Hieronymus war zur Tür gekommen und hatte sich in wohlgeformten,
etwas unsicher hervorgebrachten Reimen zur abendlichen
Kammerdienstleistung gemeldet und durch die unerbittlich verschlossene
Tür den Bescheid bekommen, daß sie alle der Teufel holen solle, als
endlich ein bekanntes, etwas zögerndes Schreiten draußen vernehmbar
wurde und auf das vorsichtige Klopfen die Tür sich öffnete.

Baldamus Eik von Eichen glitt in das Zimmer.

Es war erhellt von einer hohen, altertümlichen Öllampe, die auf dem
Schreibtisch stand. Herr von Eik haßte Gaslicht und ebenso elektrische
Beleuchtung, er war ganz und gar altmodisch vom Kopf bis zu den Füßen
und stach gar nicht so sehr von seinem Pflegesohn ab, der in neuester
Biedermeiertracht sich äußerst würdevoll präsentierte.

Nicht vereinbaren mit dieser äußeren Würde ließ sich der flackernde
Ausdruck in seinen Augen, das verlegene Vorbeisehen an der imposanten
Gestalt des Greises, der ihn düster und scharf ansah.

»Du hast mir hübsche Neuigkeiten zutragen lassen, Baldamus,« begann der
alte Herr ohne Umschweife.

Dieser zuckte die Achseln. »Willst du es nicht _meine_ Angelegenheit
bleiben lassen, Pflegevater? Wir werden uns darüber nicht verständigen
können und --«

»Allerdings nicht.« Man hörte in der Stimme des alten Herrn den
aufsteigenden Sturm. »In derartig schuftigen Dingen habe ich keine
Erfahrung.«

»Ich muß doch bitten -- Pflegevater!« fuhr Herr Baldamus auf, aber
er sah dem Alten nicht in die Augen. »Es ist _meine_ Angelegenheit,«
setzte er trotzig hinzu.

»Nein, die ist es _nicht_.« Herr von Eik ~senior~ war einige Schritte
näher getreten. »Der alte Valentin Erkner ist seit vierzig Jahren an
unserer Fabrik, er und seine alte Frau sind ganz gebrochen von der
Schande ihrer Enkelin.«

Herr Baldamus zuckte unbehaglich die Achseln. »Laß uns doch nicht
darüber sprechen! Ich werde alles mit ihnen abmachen.«

»Du willst sie heiraten, Baldamus?«

Ein häßliches Lächeln trat auf das Gesicht des jüngeren Mannes, --
es verschwand aber sofort wieder und machte einem harten, wilden
Ausdruck Platz. »Ich heirate niemand und _will_ niemand heiraten, als
die eine, die du mir einst fest versprachst. Hörst du, Pflegevater,
-- _fest_ versprachst,« zischte Herr Baldamus. »Weiß Gott, ich bin
ein geduldiger Warter gewesen, -- -- -- hilf mir, Pflegevater!« Diese
letzten Worte wurden mit völlig veränderter Stimme gerufen, er schien
in großer Aufregung zu sein, ein ganz ungewohnter Anblick bei dem sonst
so glatten, ruhigen, gesetzten Manne, den ja auch die Schwarzhausener
gerade wegen dieser Ausgeglichenheit so sehr schätzten. Der alte Eik
sah seinen Pflegesohn zornig und ungläubig an.

»Du weißt wohl nicht mehr, was du sprichst, Baldamus. _Ich_ -- soll
Franziska zureden? Ich? Nachdem ich dies weiß? Und nachdem mir
schon jahrelang der Anblick von Hieronymus Teichmann unerträglich
war -- -- --«

»Laß doch die uralten Geschichten, Pflegevater. _Ich_ wärme ja auch
nicht auf -- -- --«

Lauernd richteten sich seine Augen auf den alten Herrn, der plötzlich
müde und verfallen aussah. »Du weißt ja selbst, Pflegevater,« fuhr er
langsam und streng betonend fort, »wie schwer es wird, immer und immer
den Schein zu wahren, -- -- deine ganze Lebensarbeit hast du daran
gesetzt, und die sittenstrenge Kleinstadt lohnt dir nicht einmal deinen
einwandfreien Lebenswandel. Mehr als einmal schon -- -- --« er lachte
hölzern und meckernd, »hörte ich, wie man _dich_ einen ›schlechten
Kerl‹ nannte.«

»Schweig!« rief Herr Eik ~senior~ heftig, und die Adern auf seiner
Stirn schwollen an.

»Gut, ich schweige! Aber dann erzähle auch du keine ollen Kamellen und
-- -- -- sprich mit Franziska.«

Herr von Eik ~senior~ antwortete nicht, er ließ sich schwer in den
Sessel fallen, und man sah, wie die furchtbare Aufregung in ihm
arbeitete. Erst als er bemerkte, daß Baldamus das Zimmer verlassen
wollte, beruhigte er sich etwas und rief mit heiserer Stimme seinen
Pflegesohn an.

»Bleibe noch, Baldamus! -- Ich habe noch etwas mit dir zu besprechen.
Wie kommst du dazu, den Leuten zu sagen, daß ihre höhere Lohnforderung
von mir berücksichtigt werden würde? Die Arbeiterdeputation war heute
bei mir, der Heinrich Liebetraut war der Sprecher, -- er ist ein
Stänker, behauptet aber, von dir besonders ausgesucht worden zu sein.«

»Damit hat er recht,« meinte Herr Baldamus gelassen. »Ich wollte durch
diesen verbissenen Krakehler, dem beinahe einzigen Wühler in unserem
kleinstädtischen, biederen Betriebe den Worten der Arbeiter etwas mehr
Nachdruck geben, falls du etwa zögern solltest, ihren unverschämten
Forderungen nachzugeben. Du hast bewilligt, Pflegevater?«

»Bewilligt? Ich denke nicht dran. Du nennst ja selbst ihre Forderungen
unverschämt. Besonders sind sie es deshalb, weil ich erst vor
Jahresfrist erhöhte.«

»Du wirst sie wohl annehmen, Pflegevater. Es ist besser, wir wenden
bei diesen Leuten Vorsicht an, als daß wir merken lassen, daß wir ihre
Nachsicht brauchen. Die Eiks wirft die Mehrbewilligung nicht um, den
Leuten wird der Mund gestopft, und sie trotten in ihrem Schlendrian
weiter, ohne Verlangen zu tragen, uns etwas am Zeuge zu flicken.«

Es sah aus, als striche wieder eine Hand über das Antlitz des alten
Herrn und ließe es grau und verfallen erscheinen.

»Baldamus, ich _kann_ nicht. Ich helfe ihnen, wo es nur möglich ist,
offen oder heimlich, aber nach _meinem_ Willen und Gesetz. Lasse ich
mir jetzt plötzlich von ihnen vorschreiben, dann bin ich nicht mehr
der alte Eik, und sie schieben mich zu den Fabrikbesitzern, die vor
ihren Arbeitern zittern, und ich bin bei ihnen drunter durch, denn für
Ertrotztes sagen sie mir keinen Dank.«

»Meinst du, sie danken dir, wenn du ihnen _gar nichts_ gibst?« fragte
Baldamus heftig; innerlich dachte er, daß sein Pflegevater jetzt doch
recht alt würde und sich mit einem Male durch verrückte Empfindungen
leiten ließe. Dieser starre Eiksche Ehrbegriff mußte etwas ins Wanken
gebracht werden.

»Ja, das meine ich,« stieß Herr Eik ~senior~ hastig heraus. »Die
meisten von unseren Leuten hängen an unserem Hause, wissen, daß sie
es gut haben, daß sie nicht gedrückt werden. Ihre Forderungen sind
ihnen von den paar jungen Kerlen, die frisch von der Walze kommen und
unverdauliches Zeug gehört und gelesen haben, aufgeschwatzt worden.
Ich werde ihre Entlassung verfügen, mit den Alten dann noch ein
vernünftiges Wort reden und -- -- --«

Herr Baldamus lachte laut und erbittert.

»Und Heinrich Liebetraut wird Herr der Situation sein.« Baldamus legte
schwer die Hand auf den Arm des Pflegevaters. »Du _mußt_ nachgeben,«
sagte er hastig. »Du _mußt_. Heinrich Liebetraut ist gefährlicher, als
du ahnst. Er hat viel gelernt, ist mit der Feder gewandt und lauert
darauf, uns einen Knüppel in den Weg zu werfen.« Herr Baldamus dämpfte
jetzt seine Stimme. »Er ist außerdem Jettchen Erkner nachgestiegen,
-- -- ahnt aber noch nichts. Bewilligen wir die Zulage, so geht er als
Agitator fort, denn in Schwarzhausen ist ihm der Horizont zu eng, --
bewilligen wir sie nicht, so bleibt er als unser Feind und wird nicht
ruhen, bis er alles herausgebracht hat. Dann ist aber auch _dein_
Königtum von Schwarzhausen vorbei, und du bist nichts als -- -- --«

»Ein schlechter Kerl,« lachte der alte Eik bitter-schmerzlich auf. »Das
meintest du ja wohl. -- _Ich werde bewilligen!_«

Das Letzte kam so unvermittelt heraus, daß Herr Baldamus über den
plötzlichen Sinneswechsel ganz verblüfft dastand und auf seinen
Pflegevater starrte, der jetzt mit gebietender Handbewegung nach der
Tür zeigte. Und wenn sein Königtum auch auf tönernen Füßen stand, wenn
es auch etwas im Leben dieses starren, unzugänglichen, finsteren Mannes
gab, das einen schweren, tiefen Schatten auf die Eik-Ehre warf, -- --
Herr Baldamus fühlte doch, daß er dieser gebietenden Hand, die ihm die
Tür wies, zu gehorchen habe. --

Ruhelos wanderte der alte Herr in seinem Zimmer umher. Ein paarmal
griff seine Hand nach dem altmodischen Klingelzug, der den Diener
herbeirufen sollte, aber er ließ sie immer wieder sinken.

Bis wieder ein leichter Schritt heran kam und auf sein müdes »Herein!«
Frau Franziska sich im Türrahmen zeigte.

»Endlich, Vater! Ich habe Angst um dich gehabt! Seit deinem
Frühbrot hast du nichts genossen. Denke doch auch ein wenig an dich
selbst -- -- --«

»Ich habe mit dir zu reden, Franziska.«

Seine Tochter sah erstaunt-forschend zu ihm auf. Die Stimme des alten
Herrn klang sonderbar rauh, gebrochen und müde, und er sah die junge
Frau nicht an.

»Ich höre, Vater!«

Lange Pause. -- -- »Baldamus Eik hat heute wieder um deine Hand
angehalten.«

»Ich trage noch Trauer, Vater -- -- --«

»Ich weiß es, -- und drängen wird dich Baldamus nicht, er will wohl nur
Gewißheit haben.«

»Ich begreife Baldamus nicht, Vater. Was mir vor Jahren unmöglich war,
-- ist es auch heute noch. Er _will_ mich nicht verstehen.«

»Franziska, -- bist du ganz von Grund aus mit dir zu Rate gegangen, und
-- bist du dir klar, was du aufgibst? -- Das große Vermögen würde in
einer Hand bleiben und dein Knabe einmal alles bekommen. Baldamus liebt
dich -- -- --«

Frau Franziska schauerte zusammen. »Laß mich bei dir bleiben, Vater,«
bat sie müde. »Ich habe so überreichlich zum Leben durch deine Güte,
und mein Junge soll werden wie du, so einfach -- und so aufrecht.«

Der alte Herr Eik zuckte zusammen, aber er litt es still, daß die
Tochter seine Hand an ihre Lippen zog.

Sie wußte, wie er an dem Gedanken hing, sie mit dem Pflegesohn eins zu
wissen, sie wußte, daß sie ihm auch heute wieder weh tat, wie sie ihm
vor Jahren den bittersten Schmerz seines Lebens zufügte, und daß nun
wieder eine Kluft zwischen Vater und Tochter sich auftat, die sich nie
mehr überbrücken ließ -- -- --

»Du weinst, Franziska?«

Sie schluchzte weh auf.

»Daß ich dir so wenig zeigen kann, wie lieb ich dich habe,
Vater -- -- --«

Er strich ihr sacht über das dunkle, wellige Haar mit einer scheuen,
verlegenen Bewegung, der man wohl anmerkte, daß Liebkosungen etwas
Seltsames für ihn bedeuteten.

Franziska hatte ihren Kopf tief geneigt, und der alte Eik schaute über
sie hinweg durch das Fenster in die grünen Parkwipfel hinein in ernstem
Sinnen.

Franziska fühlte ihr Herz hart und schwer klopfen. »Wie wird alles
werden,« dachte sie, »was wird er bestimmen, was wird er mir sagen,
wenn diese Pause vorüber ist?«

Herr von Eik richtete sich hoch auf.

»Ich habe eine Bitte an dich, Franziska, -- eine seltsame -- -- --«

»Wenn ich sie erfüllen _kann_, Vater, -- -- --« entgegnete sie zögernd.

Da zog es wie ein Lächeln über seine ernsten, finsteren Züge, -- und
Frau Franziska meinte, ihr eigener, lieber Junge schaue sie auf einmal
aus diesem erhellten Antlitz an.

Es fiel dem Alten schwer, seine sonderbare Bitte in Worte zu formen:
»Franziska, -- bringe mir, -- -- besorge mir aus der Stadt eine Puppe
-- -- eine große, schöne Puppe, -- -- hörst du, -- die schönste, die
das Nest hat.«

       *       *       *       *       *

Liselotte Windemuth führte ein recht einsames Dasein.

Der Professor lebte mit seinen Büchern, Base Juliane mit ihren
Kochtöpfen, und so kam es, daß Liselotte nur auf die Schule, auf Herrn
Rektor Tüllen, auf ihre Schulkameraden und ihre Puppen angewiesen war.

Unter den Schulgespielen hatte sie keinen Freund und keine Freundin.

Sie war zu eigenartig, das kleine Ding, und nichts verzeiht eine
Kleinstadt weniger als Eigenart.

Liselotte ließ sich in keine Schwarzhausener Schablone pressen, und
niemand wußte etwas mit ihr anzufangen. Ihre unerschrockene Offenheit
und Wahrheitsliebe, ihre wißbegierige Fragelust, -- das waren lauter
unbequeme Dinge für die Mitbürger und deren Sprößlinge. Man lachte wohl
laut und anhaltend über ihre närrischen Einfälle und Fragen, aber weit
öfter ärgerte man sich darüber und schalt; auch Base Juliane war mehr
grillig und grimmig mit dem Kinde, als liebenswürdig.

Ab und an, wenn der Professor Windemuth in seinen Arbeiten auf einen
toten Punkt geriet und eine kleine Rast halten mußte, fiel ihm wohl
sein kleines Töchterchen ein. Befand es sich gerade in der Schule,
so rief er Base Juliane und fragte, wie es dem Kinde ginge und ob es
auch ja alles empfange an Körperpflege, wie es die verstorbene Mutter
bestimmt.

Über diese Fragen empörte sich aber die Base immer weidlich.

»Wie eine Prinzessin hat sie’s,« -- das war gewöhnlich die Antwort,
»der Vetter braucht ja nur zu gucken, wie sauber und ordentlich ich das
Kind halte, -- eine leichte Arbeit ist’s nicht bei dem Quirlefitsch.
Und gesund ist’s auch alleweil, -- dafür bin ich da und der Herr
Doktor.«

So war der Professor beruhigt. Doktor Hempel war ein Mann der alten
Schule, recht für Schwarzhausen geboren. Er arbeitete mit altbewährten
Mitteln, bei den Erwachsenen mit Schröpfköpfen, Aderlässen und
Kamillentee, bei Kindern mit Wurmpulver und »Kurella«, und jedes
Frühjahr, wenn die Hausfrauen »reinegemacht« hatten und auf ihren
Lorbeeren ausruhten, benutzte Doktor Hempel diese Ruhezeit und unterzog
sämtliche Mitbürger einer Reinigungskur, wonach sie sehr abgemattet und
zahm wurden und manches für die Stadt bewilligten, was sonst noch gute
Weile gehabt hätte. --

Ja, Professor Windemuth sah es, seine Liselotte war ein gesundes,
blühendes, schönes Kind, und ihr lockenumrahmtes, blondes Köpfchen mit
den blauen, tiefen Schelmenaugen, die doch auch wieder so ernst blicken
konnten, wurde der verstorbenen Mutter immer ähnlicher.

Daß sein Kind geistige Nahrung entbehren könne, kam dem Manne nicht
in den Sinn. Ja, wäre Liselotte sein heißersehnter Knabe gewesen! --
Aber Mädchen blieben ja zu Hause, kochten, strickten und -- wurden
geheiratet.

So stillte denn Liselotte ihren geistigen Hunger durch Lesen, und
sie las bunt durcheinander, was ihr in den Weg kam, sie las aber
auch hauptsächlich immer wieder, was in dem Bücherschränkchen der
heimgegangenen Mutter steckte, und das war gut. Und sie las mit großem
Eifer, was der sorgende, wachsame Rektor Tüllen in ihre kleine Hand
legte, und das war noch besser. --

Was Liselotte gelesen, das erzählte sie gern wieder, und da Base
Juliane und der Professor nie Zeit für sie hatten, so erzählte sie es
ihren Puppen und wurde dadurch altklug und etwas selbstherrlich, denn
die Puppen widersprachen ihr niemals.

Seit dem Erlebnis mit dem »schlechten Kerl«, wie sie innerlich den
bösen, alten Herrn nannte, war Liselotte recht nachdenklich geworden,
so daß es selbst Base Juliane auffiel.

»Ist dir nicht extra?« fragte sie das Kind wohl zehnmal am Tage, »du
hast gewiß Würmer.«

»Es kann schon sein,« bestätigte Liselotte, denn sie aß Zitwersamen mit
Sirup recht gern. Und während sie das Kindertäßchen mit dem braunen
Saft auslöffelte, hatte sie eine eingehende Unterredung mit Base
Juliane.

»Darf man Müttern ihre Kinder einfach wegnehmen, wenn man groß ist,
Base Juliane?«

»Hm! Das ist eigentlich noch nichts für dich, Kind. Aber sowas gibt es.
Die Leute haben sich dann lieb und heiraten sich.«

»Weißt du das ganz sicher, Base Juliane?«

»Freilich, du Dreikäshoch.«

»Warum hat dich denn niemand der Mutter fortgenommen?«

»Das sind sehr unanständige Fragen, Liselotte, du solltest dich was
schämen. Es hat eben nicht jede Jungfrau das Glück -- -- --, ich meine,
-- nicht jede Jungfrau kann sich entschließen, ihr gottwohlgefälliges
Leben aufzugeben.«

»Bitte, sag’ das noch mal langsam, Base Juliane, und erkläre mir’s
recht ordentlich -- -- -- so kann ich dich nicht recht verstehen.«

»Du schreckliches Kind! Nein, das ist nichts für dich. Durchaus nicht.
Wo du nur immer die Fragen her hast!«

Liselotte saß tief nachdenklich da.

»Base Juliane, wenn nun aber der Mann alt und schrecklich ist und das
Kind ganz kopflos -- -- --«

»Du gerechter Gott,« schrie Base Juliane, »wie kommst du bloß auf so
was Fürchterliches! Das muß ich deinem Vater erzählen. Kind! Hast du
etwa schlechten Umgang? Mit wem redest du so am Tage?«

»Nur mit dir,« meinte Liselotte harmlos. »Mit dir und den Puppen, aber
sie wissen mehr als du und fahren mich nicht an und petzen nicht
alles, was ich sage, dem Väterchen.«

»Nur zahm, nur zahm!« meinte Base Juliane und sah doch selbst aus wie
ein geharnischtes Sonett. »Das ist längst nicht gepetzt, wenn ich so
gefährliche Sachen dem Herrn Professor wieder erzähle. Weiß Gott, kein
anderes Kind aus Schwarzhausen würde solche Dinge gefragt haben.«

In voller Entrüstung stand sie auf, räumte Zitwersamen und Sirup fort,
und Liselotte wischte sich das klebrige Mäulchen ab, packte ihren
Puppenwagen voll geliebter Babys und murmelte dabei unverständliche
Worte, von denen die entsetzte, kopfschüttelnde Base nur immer wieder:
»Alter schlechter Kerl« und »Kopfloses Kind« verstand.

Sie beschloß, umgehend dem Herrn des Hauses Mitteilung von dem eben
Erlebten zu machen, während Liselotte eilig das Haus verließ und sich
auf ihr stilles Plätzchen, zu dem Tempelchen im Park Eichenborn, begab.

Friedlich lag der Spielplatz da, -- goldene Sonnenlichtchen tanzten auf
den Zweigen der Tannen, und ein köstlich-herber Harzduft füllte rings
den Platz. Liselottchen fuhr schnuppernd mit ihrem feinen Näschen in
der Luft umher.

»O wie gut riecht es hier, wie gut!« meinte sie anerkennend zu sich
selbst, und den Puppen rief sie zu: »Kinder, sperrt die Nasenlöcher
auf, -- es ist ja _zu_ gesund!«

Rasch strebte sie der Steinbank zu, um ihre Kleinen darauf zu verteilen
und eine große »Bettensömmerung« vorzunehmen, aber zu ihrem höchsten
Erstaunen fand sie das Rundteil bereits von einer Persönlichkeit
besetzt, die ihr mit weit aufgerissenen und doch ziemlich
ausdruckslosen Augen entgegensah.

»Was ist denn _das_?« fragte Liselotte laut und sah sich nach
allen Seiten um, ob wohl jemand zu der Balldame gehöre, denn als
solche erwies sich die sehr große, majestätische Puppe, die da auf
der Steinbank mit tief ausgeschnittenem und weit ausgebreitetem
Staatskleide lehnte.

Niemand war ringsum zu sehen, nur Liselottes Puppenkinder schauten auf
den fremden Eindringling hin.

»Kannst du nicht antworten?« fuhr Liselotte ihn an. -- Auch nicht das
geringste Gefühl der Zuneigung zog sie zu der feinen Dame hin, und so
verschmähte sie es auch, auf ihre Frage selbst Antwort zu geben, wie
sie es sonst immer mit ihren Lieblingen tat.

Am Staatskleide der Puppe steckte ein Zettel mit den Worten: »Diese
Puppe soll Liselotte Windemuth gehören.«

Die Kleine entzifferte ihn mühelos, aber in ihrem Gesichtchen
veränderte sich kein Zug. »Wer schickt dich?« fragte sie noch einmal,
und als die Puppe nicht antwortete, sondern dumm weiter stierte, sagte
ihr Liselotte ehrlich und zornig die Meinung:

»Du bist furchtbar häßlich. Ich mag dich gar nicht. O Gott, wenn
ich denke, wie schön meine Puppe Emmy ohne Kopf war. Wie ihr alles
gut stand! Wenn ich nur wüßte, was ich mit dir anfangen soll! Du
versperrst nur den Platz, und ich will doch Betten sömmern. Pfui, was
für ’n ausgeschnittenes Kleid! Ich hab’ mal heimlich zum Hoffenster
reingesehen, wie Fräulein Ziddelmann auf den Ball ging. Base Juliane
sagte, ein Christenmensch müßte sich tot schämen. _So_ siehst du aus.
So sprich doch! Kannst du nicht? Willst du nicht? _Bist_ du am Ende
schon tot und willst es nur nicht sagen?«

Liselotte gab der Staatsdame einen derben Stoß, so daß sie auf die Bank
polterte und mit geschlossenen Augen liegen blieb.

»Siehst du, daß du tot bist? Du konntest es gleich sagen, du arme,
häßliche Person, dann hätte ich dich nicht erst so angefahren. Komm,
ich will dich begraben, -- ich habe es erst gestern gesehen beim
Nachbar. Base Juliane nahm mich mit auf den Kirchhof, -- ich weiß alles
gut.«

Liselotte sah sich aufmerksam um. -- Der Waldboden rings umher hatte
lockere, weiche Erde, und mit einem flachen Stein und ihren eigenen,
festen, kleinen Händen grub sie rasch und emsig ein genügend weites
Loch. --

»Kinder, ihr müßt jetzt stark weinen, es kommt was Trauriges,«
wandte sie sich an die anderen Puppen und fing sogleich selbst ein
jammervolles Heulen und Piepsen an.

»So, und nun ein Choral! -- Lobe den Herrn, den mächtigen König der
Ehren,« sang sie andächtig, und währenddem hob sie die Staatsdame
vorsichtig auf und trug sie unter die Tannen hin, wo sie feierlich
in die Erde gebettet wurde. Und da gerade die Sonne durch die grünen
Zweige auf das Grab schien, gab Liselotte noch ein Lied zu: »Goldne
Abendsonne, wie bist du so schön!«

Dann schickte sie sich an, das Grab zuzuschaufeln.

»Was spielst du denn da?« fragte eine tiefe Stimme hinter ihr.

Liselotte fuhr herum und starrte ihren größten Feind und Widersacher an.

»Beerdigen!« meinte sie kurz und ließ sich nicht weiter stören, sondern
grub und schaufelte, bis auch nicht ein Schimmer des himmelblauen
Seidenkleides mehr zu entdecken war.

Tief atmend sprang Liselotte auf und wischte sich mit den schwarzen,
erdigen Händen die feuchten Locken aus dem erhitzten Gesicht.

»Wie du aussiehst,« rief Herr von Eik vorwurfsvoll, »die Base Juliane
wird sich freuen -- -- --«

Liselotte sah ihn mürrisch an. »Nein, die freut sich nicht, wenn ich
schmutzig bin,« gab sie zur Antwort.

»Du bist ein närrisches Ding!« meinte der alte Herr kopfschüttelnd.
»Komm, setze dich zu mir auf die Steinbank dort, da will ich dir
etwas Schönes zeigen, -- das soll dir gehören, -- weil die Puppe Emmy
verloren ist -- weißt du -- die alte, häßliche, kranke Puppe Emmy
ohne Kopf -- -- -- da, -- ich habe dir eine wunderschöne, neue Puppe
gekauft --«

Herr von Eik wandte sich sehr verlegen zur Steinbank, denn ihm selbst
war seine Rolle als Beschützer und Beglücker kleiner, puppenspielender
Kinder neu, -- doch die Bank war leer, keine neue, feine, teure
Puppe weit und breit, aber vor ihm stand mit schmerzlich verzogenem,
schmutzigem Gesichtchen ein zartgliedriges, lebendiges Püppchen, das
warf beide Arme über die harte Steinbank und verbarg laut weinend das
Gesicht darein: »O meine Puppe Emmy, meine liebe, einzige, schöne Puppe
Emmy!!!«

»Immer dasselbe Lied!« stieß Herr von Eik hervor. »Was bist du für ein
sonderbares, unbändiges Kind! Wenn ich nur wüßte, wo die neue ist? Ich
habe sie vorhin selbst hergesetzt.«

»Da!« schluchzte Liselotte und wies nur eben mit dem Kopf nach der
Begräbnisstätte.

Herr von Eik ging mit schweren Schritten nach dem schwarzen Erdhügel,
und sein wuchtiger Stock schaufelte und bohrte in der Erde, bis er
nach einer Weile ein Stückchen blaue Seide entdeckte, -- das arg
zugerichtete Staatskleid der begrabenen Balldame. Rasch schaufelte er
sie wieder zu und kehrte mit finsterem Antlitz zu der heftig Weinenden
zurück.

»Warum tatest du das?« fragte er mit heiserer Stimme.

»Weil ich sie nicht lieb habe,« brach das Kind leidenschaftlich los.
»Weil sie dumm und häßlich und tot war. O du hast mir meine schöne,
süße, lebendige Emmy gestohlen und die garstige Balldame hingelegt! Tot
und häßlich war sie und deshalb habe ich sie beerdigt.« --

In fliegender Eile raffte Liselotte ihre Püppchen zusammen, man sah
es ihr an, ihr kleines Herz zitterte vor Angst, der große, harte,
böse Mann könnte sich an ihnen vergreifen. Dann fuhr sie, immer noch
bitterlich schluchzend, mit ihnen davon, ohne auch nur noch einen
Blick zurückzuwerfen. Auch Herr von Eik schritt langsam den Weg nach
seinem düsteren Hause zurück. Ein seltsames, bitteres Lächeln lag um
seinen Mund. »Tot und häßlich« hatte dieses Kind sein farbenprächtiges,
leuchtendes Geschenk genannt. Tot und häßlich hatte ihn auch gestern
seine Vergangenheit angestarrt, -- aber er konnte sie nicht so
verblüffend einfach beseitigen und begraben, wie dies mutige, kleine
Mädchen es vorhin getan, und für ihn gab es keine »goldene Abendsonne«
mehr. -- -- --

       *       *       *       *       *

Schwarzhausen schüttelte wieder einmal den Kopf.

Da lag das kleine Städtchen so recht warm eingebettet in den thüringer
Bergen, durchduftet von Tannenluft, umrauscht von der lustigen, wilden
Gera. Es war wohlhabend und stattlich gebaut, es hatte treue Väter, die
sein Wohl zu dem ihrigen machten, aber es hatte Sorgen, und so kam es
eigentlich nicht aus dem Kopfschütteln heraus.

Sorgen um das schwarze Schaf inmitten der reinlichen, frommen, guten
und vor allen Dingen ach, so selbstgefälligen Schäflein, -- Sorgen um
den Eichenborn. Würde er das Städtchen nie zur Ruhe kommen lassen???

Nun hatte Schwarzhausen wohl einen treuen, guten Stadtvater, der sich
mit gelegentlichem Kopfschütteln begnügte und wohlmeinend murmelte:
»Wir verdanken den Eiks eigentlich _alles_, und wenn ich bloß reden
dürfte -- --« Aber es hatte keine milde, liebe, ältliche, rundliche
Stadtmutter, sondern eine unendlich lange, hagere, spitze Frau
Bürgermeisterin, die es sich nicht einfallen ließ, wie gute Mütter
tun, sich von der mutmaßlichen Schlechtigkeit ihres Kindes persönlich
zu überzeugen, sondern die in vielen, besonders zu diesem Zwecke
anberaumten Kaffeegesellschaften die Abneigung gegen den Eichenborn und
seine Bewohner noch schürte. Und wenn der Kaffee auch koffeïnfrei war,
den die Frau Bürgermeisterin ihren Gästen vorsetzte, ihre _Reden_ waren
es nicht, in denen saß das Gift und harrte seiner Bestimmung.

Schon nach der dritten Tasse waren beinahe alle Damen einig darüber,
daß es so nicht weiter gehen könne.

Und daß Frau Pfarrer Klingenreuter und Frau Doktor Hempel so arg
zugeknöpft taten und besonders die Pfarrerin so gar nichts _gegen_,
wohl aber manch mildes Wort _für_ die Verurteilten einlegte, nun das
war ihre eigene Sache und störte die bösen Zungen nicht im mindesten in
ihrem Verdammungsgeschäft.

»Das ist nun eben Ihr Beruf, Frau Pfarrer,« meinte die Bürgermeisterin,
»ich könnt’s nicht, meine Ohren und Augen sind zu offen dazu.«

Die Pastorin lächelte.

»Meinen Sie, daß ich Augen und Ohren von Berufs wegen schließe?« fragte
sie mit feinem Spott. »Und sollte es nicht der Beruf _jeder_ Frau sein,
Gutes zu reden und erst einmal das Beste von jedem Menschen anzunehmen?«

»Bitte, Frau Pfarrerin, zeigen Sie uns bei dieser Geschichte das Gute!«
rief die Bürgermeisterin aufgeregt. »Sie können es einfach nicht,
denn es ist nicht vorhanden. Aus reiner Schlechtigkeit und Bosheit
hat dieser Bertold Malcroix, genannt Eik, den von uns allgemein so
verehrten Herrn Baldamus schwer verletzt -- -- --«

»Ich bitte mich von der Allgemeinheit auszunehmen, -- ich verehre den
Herrn nicht,« rief Frau Doktor Hempel kampfesmutig dazwischen.

»Und offenbare Schlechtigkeit gut nennen, das kann eben nur ein
Pfarrer,« schloß die Bürgermeisterin.

Logik war nie ihre Stärke gewesen und bei dem hellen Ärger, in dem sie
sich augenblicklich befand, besann sie sich überhaupt nicht auf ihre
Worte.

Frau Pfarrer Klingenreuter war rot geworden.

»Ei ei,« meinte sie dann. »Ich glaube, wirklicher Schlechtigkeit
und Bosheit gegenüber darf jeder Mensch, also auch jeder Pfarrer in
ehrlichen, heiligen Zorn geraten. Hier handelt es sich aber gar nicht
darum. Und das Gute kann ich Ihnen nicht zeigen, weil es nicht auf der
Oberfläche liegt. Es ist aber tatsächlich vorhanden. Selig sind die,
die da nicht sehen und doch glauben.«

Die Bürgermeisterin stieß unter dem Tisch die Frau Postverwalter an
und beide Damen verbargen darauf ein überlegenes Lächeln hinter ihren
Spitzentaschentüchern.

Natürlich, wenn die Pfarrerin mit Bibelsprüchen kam, -- da mußte man
schweigen. Man war ja freilich ein beglaubigter Christ, getauft,
konfirmiert und kirchlich getraut, aber -- -- Bibelsprüche waren doch
mehr für einfache Leute.

Die Unterhaltung ging weiter.

»Ist Herr Baldamus von Eik sehr krank?«

»_Sehr._«

»Weiß man, was nun mit dem Bengel, dem Bertold geschieht? Kommt er nun
endlich in Zwangserziehung?«

»Ich weiß es nicht. Jedenfalls nicht nach dem rauhen Haus, was doch das
einzig richtige wäre. Für die Eiks wird ja aber immer eine besondere
Wurst gebraten, und so soll Bertold Malcroix nach E. aufs Gymnasium
kommen -- -- --«

»Aufs Gymnasium?« schrien sämtliche Frauen, mit Ausnahme von Frau
Pfarrer Klingenreuter und Frau Doktor Hempel, welche still mit ihrer
Arbeit beschäftigt schienen. »Das ist doch ganz unmöglich! Solch
einen Buben in eine öffentliche Anstalt? Wenn er nun die Mitschüler
massakriert? Das ist ja gemeingefährlich!!!«

Die Frau Bürgermeisterin antwortete erst eine Weile nicht. Sie war
buchstäblich geschwollen vor Stolz und Mitteilungsbedürfnis. Denn sie
wußte _alles_ und noch ein bißchen mehr.

Erst nachdem sie sich zurecht gesetzt und eine tief heruntergefallene
Masche ihres Strumpfes wieder auf den Pfad des Rechtes gebracht, kam
sie mit dem Trumpf zum Vorschein.

»Unsere Rektorschule in Schwarzhausen verliert ihren Leiter,« sagte
sie langsam, wichtig und betonend. »Rektor Tüllen geht als Aufpasser
mit nach E., weil er den schlechten Charakter des Burschen kennt, und
damit er selbst geschützt ist, wenn Bertold Malcroix seine zerstörenden
Tobsuchtsanfälle bekommt, geht der Organist Brennstoff auch mit.«

»Herr du meines Lebens! Warum nicht noch zehn Hofmeister und seine
ganze Sippe dazu?« eiferte die Frau Postverwalter.

»Ja wahrhaftig! Da kann man auch sagen: ›Viel Lärm um einen
Eierkuchen‹,« rief Frau Großschlachter und Hoflieferant Bentel. Sie
konnte das Sprichwort auch französisch sagen und hätte es brennend
gern getan, aber sie wußte nicht genau, ob es »~un~« oder »~une
omelette~« hieß, und so unterließ sie es lieber. Manche Menschen waren
so »penniebel« in so was, und sie wollte ihren Ruhm als gebildete Frau,
die in »Penksion« gewesen, nicht einbüßen. --

»Und das sollen wir uns gefallen lassen?« Diesmal waren es mindestens
sechs aufgeregte Damen, die Antwort auf diese Frage heischten.

Die Bürgermeisterin zuckte die Achseln.

»Was sollen wir tun?« fragte sie dagegen. »Die Rektorschule ist
Privatsache, und der Organist sollte auf alle Fälle pensioniert werden,
weil ein Bericht über ihn gekommen ist, daß er heidnische Gesänge in
der Kirche spielt. Also, sagt mein Mann, wir täten klug, wenn wir ihn
einfach gehen ließen. Solchen Musiknarren ist überhaupt nichts zu
beweisen. Die halten manchen Kram für hochheilig, vor dem man sich
eigentlich bekreuzigen sollte.«

»Was sagen _Sie_ denn eigentlich zu dem allen, Fräulein Windemuth? und
was sagt Ihre Kleine?« wandte man sich jetzt an die eifrig stickende
und zählende »Base Juliane«, die sich noch mit keinem Worte an der
Unterhaltung beteiligt hatte, teils weil sie für den Professor ein
Paar Schuhe stickte mit schwierigem Muster, teils weil ihr der Vetter
eingeschärft hatte: »Halt lieber den Mund in der Kaffeeschlacht. Es
geht uns nichts an, und der Kleine war doch mal Liselottes Freund.«

Sie warf jetzt auch nur einen Blick gen Himmel und rief: »Ich sage _gar
nichts_.«

Aber dieser Himmelblick und ihr übereifriges Weitersticken redeten
ganze Bände und stellten sie sozusagen über die Parteien.

Wenn Base Juliane, die allzeit Redegewandte und Redelustige, schon
schwieg, wie entsetzlich mußte da die Wirklichkeit sein, -- und was
mußte sie mit dem altklugen, kleinen Mädchen erlebt haben, das von
allen Schwarzhäuser Kindern das einzige war, das sich nicht entblödet
hatte, mit Bertold Malcroix zu spielen.

Aber Base Juliane empfand mit einem Male ihre Schweigsamkeit als etwas
Entehrendes. Wo jeder seinen Senf dazu gab, sollte sie, die Base des
angesehenen und gelehrten Professors, alle schmackhaften Gewürze
für sich behalten? Sie grübelte und grübelte, welche von den vielen
pikanten Geschichtchen aus dem Hause Eik, die sie als verbürgt von
maßgebender Seite vernommen, sie wohl zum besten geben könnte, aber
immer sah sie die ernsten Augen des Vetters Windemuth vor sich und
begnügte sich deshalb mit der Bemerkung: »Ihr Bild wollte sie ihm
durchaus zum Abschied schenken, -- die Liselotte nämlich, -- wir waren
beim Photographen gewesen und gestern kamen die Bilder, -- sie hat ’n
weißes Spitzenkleidchen an mit rosa Schärpe, -- bildschön -- und auch
teuer genug -- die Bilder nämlich, aber das Kleid auch -- und da sagte
ich: ›Um Gottes willen, Liselotte, doch bloß so was nicht tun, da kann
man ja wohl noch mal ins Verbrecheralbum kommen mit dem Jungen‹.«

Das war stark! Aber Base Juliane war als furchtlos bekannt, und man
freute sich, von angesehener Seite etwas gehört zu haben, was Hand
und Fuß hatte, und das man abends überall wiedererzählen konnte, ohne
das bekannte Siegel der Verschwiegenheit zur lästigen Bedingung zu
machen. --

Es war wirklich nicht nett von der Frau Pfarrer, daß sie so einen
Aufstand um diese Bemerkung machte und mit so tränendurchzitterter
Stimme rief: »Tut denn niemandem von Ihnen der arme Junge leid, der im
Jähzorn fehlte? Wollen wir ihn mit so lieblosen Worten ziehen lassen?«

Und die sanfte Frau hatte mit flammenden Augen die ganze
Kaffeegesellschaft angeschaut, und als auf ihre Frage sich niemand
meldete, war sie ohne Abschied fortgegangen und Frau Doktor Hempel mit
ihr.

Das sah beinahe ein bißchen wie Verachtung aus, aber man war viel zu
sehr überzeugtes »weißes Schaf«, als daß man so etwas auf sich bezogen
hätte.

Mindestens aber war es ärgerlich.

Doch konnte ja die Frau Pfarrer tun, was sie wollte. Man würde sie eben
so bald nicht wieder einladen und ihretwegen sich gewiß nicht scheuen,
seine eigene Meinung über die Eiks zu haben und auch auszusprechen. --

Frau Doktor Hempel ging direkt von der Kaffeeschlacht heim und in
die Studierstube ihres Gatten, während Frau Pfarrer noch einige
Schwerkranke besuchte, um »ins Gleichgewicht zu kommen«, wie sie meinte.

Doktor Hempel war noch auf Praxis, aber seine Frau nahm sich gar nicht
Zeit, sich bis zu seiner Ankunft ihres seidenen Kleides zu entledigen
und sich’s hausfraulich bequem zu machen, -- ja sie setzte sich nicht
einmal, -- sie war zu aufgeregt dazu. Wie der förmlichste Besuch
wartete sie in Hut und Mantel auf ihren Mann, und auf ihrem offenen,
energischen Gesicht lag ein Ausdruck von Zorn und Trauer.

Da kam Doktor Hempel schon über den Platz in heftigen Schritten, er
grüßte die ihm Begegnenden nur mit einem Handwink und zerstreuter
Miene, und die Schwarzhausener sahen ihm nach und tuschelten
miteinander. Er kam ja vom Eichenborn. --

Als Doktor Hempel in sein Zimmer trat, kam ihm seine Frau entgegen und
forschte angstvoll in seinen Augen.

»Nun?«

»Es geht zu Ende. --«

»O der _arme_ Junge!« rief sie aus, »der arme Junge!«

Der Doktor war zu seinem Schreibtisch gegangen, um die eingetroffene
Post nachzusehen, jetzt drehte er sich schroff um.

»So ein Unsinn! Was hat der Junge damit zu tun? Das heißt, ja -- --
natürlich, -- _etwas_ schon, -- aber was will das besagen? Für den Arzt
gar nichts.«

»Aber für die Schwarzhausener,« fiel seine Gattin erregt ein und
erzählte ihm alles, was das Kaffeekränzchen an Gift entwickelt hatte.

»Verdammte Klatschweiber!« fluchte Doktor Hempel. -- »Jawohl, ich höre
sie ordentlich reden: ›Der allgemein verehrte Herr Baldamus!‹ So’n
Kerl! Pfui Teufel! Jetzt kann ich ja noch schimpfen. Du bist ja meine
liebe, dienstlich vereidigte Alte. Und wenn er erst tot ist, dann halte
ich’s mit dem Wort: ›~De mortuis nil nisi bene~‹.«

»Wird er wirklich sterben?« fragte sie bang.

Er nickte ernst. »Ich bitte dich, -- zuckerkrank in diesem Alter,
außerdem verseucht bis oben hin, -- herzleidend, -- -- nun ist eine
Fußwunde aufgebrochen und -- der heftig blutende Biß dazu -- -- --«

»Sie werden alle, alle dem letzteren die Schuld geben,« meinte Frau
Doktor Hempel traurig.

»Aber das ist Unsinn, -- verrückter Blödsinn,« fuhr der Doktor auf.
»Unsere verehrten Mitbürger sind Hornochsen, besonders aber die
Ehehälften. Ein paar vernünftige Kerle hielten heute Kriegsrat mit
mir, der Postverwalter und der Apotheker. Den Rektor Tüllen wollten
wir mit zuziehen, um dann dem alten Eik vorsichtig beizubringen, daß
es das beste wäre, den Jungen erst mal aus Seh- und Hörweite der
lieben Schwarzhausener zu bringen. Aber siehe da, der Alte war schon
von selbst so weitsichtig gewesen, -- die Übersiedlung des Bertold
~junior~ nach E. war schon beschlossene Sache. Herr von Eik ~senior~
ist vernünftiger als alle Schwarzhausener zusammen.«

Doktor Hempel schüttelte sich.

»Gib mir’n Kognak, liebe Alte! Brrr! Ich muß gleich nachher wieder
hinüber. Jetzt ist der Pfarrer dort. Aber dem wohnten auch ›zwei
Seelen, ach, in seiner Brust‹, -- -- ich möchte nicht die Beichte des
Herrn Baldamus abhören -- -- --.« Und der Doktor schüttelte sich noch
einmal.

       *       *       *       *       *

Am nächsten Abend war alles vorüber. -- -- --

Der junge Bertold konnte sich später, als er zwischen seinen beiden
treuen Begleitern im Arbeitszimmer zu E. saß, nur weniger Einzelheiten
erinnern, so rasch war alles gegangen. Aber die wenigen Einzelheiten
saßen um so fester, teils weil sie so schrecklich und traurig und
teils, weil sie so wunderlich süß waren.

Der Abschied von seinem Mütterchen, das war das Herbste an dem Ganzen
und der Knabe konnte nicht einmal darüber weinen. Denn in seinem tiefen
Empfinden und frühreifen Nachdenken meinte er, er müsse all seine
eigenen Tränen noch für sein Mütterchen aufheben, die sonst am Ende mit
heißen, trockenen, brennenden Augen dasäße, -- soviel weinte Mütterchen
jetzt.

Aber Bertold wußte wenigstens seit seiner Abreise, daß Mütterchen
nicht über ihn selbst weine, über seinen greulichen Jähzorn und seine
unheilvolle Tat, sondern hauptsächlich über die schlimmen Menschen,
die ihn dazu gebracht und nun so häßlich und verstockt und richtend
dastanden.

Auch der letzten Unterredung mit dem Großvater erinnerte er sich. Man
konnte dies Beisammensein wohl eigentlich nicht »Unterredung« nennen,
es war mehr ein Kampf gewesen. Wer war der Unterliegende darin? Der
junge Bertold wußte es nicht. Vielleicht war er es selbst, denn man
hatte ihn ja nach E. geschafft, und hier mußte er nun bleiben, --
ohne Mütterchen. Aber in den Augen des harten Großvaters hatte etwas
gelegen, -- Bertold wußte es nicht sicher zu deuten, etwas Müdes,
etwas, das den jungen Enkel beinahe veranlaßt hatte, zu sagen: »Stütz’
dich auf mich, Großvater, ich bin stärker als du!« War man aber
unterlegen, wenn man sich so stark fühlte? --

»Wir müssen den Jungen auf andere Gedanken bringen,« meinte Rektor
Tüllen und sah sorgenvoll auf Bertold Eik. »So sieht doch kein Kind
aus! Kein Zehnjähriger! Lieber Brennstoff, wir haben eine schwere
Verantwortung!«

»Das weiß ich, Rektor! Aber ich glaube, dies verträumte Hinstarren
hat einen Grund, der uns keine Sorge zu machen braucht. Er denkt an
Beethoven! Welch ein Umschwung seiner Verhältnisse! Aus der Wüste des
musik- und geigen-, kurz des tonlosen Daseins, plötzlich in eine Oase
des ungestörten Harmoniegenusses versetzt zu werden, muß ja etwas
Überwältigendes haben.«

Aber Rektor Tüllen teilte nicht die Ansicht des poetischen Brennstoffs,
und sein Antlitz blieb sorgenvoll.

Bertold aber sann weiter, und wie er alle Erlebnisse in seine Herz-
oder Gehirnkämmerchen verteilte, trat ein gespannter, frühreifer
Ausdruck auf sein schmales Jungengesicht.

Wie sie alle entsetzt gewesen waren im Eichenborn, als der Onkel
Baldamus starb. Und er selbst, Bertold, hatte nur _einen_ Gedanken
gehabt und ihn auch gleich ausgesprochen: »Mütterchen, nun kann er dich
nicht mehr quälen!«

»Still, o still!« hatte die Mutter erwidert, aber in ihrem ganzen
Wesen lag doch etwas wie aufatmende Zustimmung. O Bertold sah viel,
-- sah mehr, als andere sahen. Und sein Ohr war scharf, schärfer als
das der anderen, hätte es sonst wohl den halberstickten Hilferuf
vernommen, der damals aus Mütterchens Zimmer kam? Wie der Wind war er
aus seinem Bette gesprungen und von dort gleich durchs Fenster auf das
platte Dach, und von dort hatte er durch das offene Balkonfenster in
Mütterchens Zimmer geschaut. Sie hatte noch Licht gehabt, -- mitten in
der Nacht. Armes Mütterchen, gewiß las sie wieder stundenlang in des
verstorbenen Vaters Briefen -- -- --

Aber das Licht stand nicht an ihrem Bett -- das flackerte auf dem
Ofensims nahe der Tür und -- Mütterchen rang mit jemand -- rang mit
Onkel Baldamus.

Oh -- jetzt in der Ruhe kam die Erinnerung wieder klar über Bertold,
-- damals ging alles so furchtbar schnell. Der Jähzorn war über ihm
zusammengeschlagen, als er sein Mütterchen in Gefahr sah. Als ihm die
volle Besinnung wieder kam, da hatte ihn Onkel Baldamus schon vor den
Großvater geschleppt, und da sollte er angesichts des heftig blutenden
Baldamus Eik gezüchtigt werden. Warum hatte Großvater es nicht getan?

Mütterchen hatte sich zwischen ihn und Großvater geworfen und ihn
verteidigt, -- o wie seltsam hatte Mütterchen ausgesehn! Viel weißer
und starrer und seltsamer, als damals, da man Bertolds Vater tot ins
Haus brachte.

Und Onkel Baldamus hatte auf einen gebietenden Wink des Großvaters das
Zimmer verlassen müssen, und Bertold hatte ihn nicht wieder gesehen.

Dann schlich man auf leichten Sohlen durch den Eichenborn, denn Onkel
Baldamus war todkrank. Und auf alle seine, Bertolds, Fragen an das
Mütterchen: »Ist er von dem kleinen Biß krank, Mütterchen? Der so
blutete? Bin ich schuld? Was wollte er dir tun?« da hatte die Liebste
immer nur geantwortet: »Still, o still! Nicht fragen, mein Liebling!«
Und sie hatte ihn auf die Augen geküßt, daß er sie schließen mußte und
seiner Mutter blasses Antlitz nicht mehr sah. --

Dann waren seine Koffer gepackt worden, und Frau Thereschen Teichmann
hatte Betten verschnürt, und sein ganzes Jungenzimmer war auf einen
Wagen geladen worden und stand nun hier in der fremden Stadt E.

Wenigstens hatte man ihn nicht allein ziehen lassen.

Zwei so gute, treue Freunde, Mütterchens Freunde, waren mit ihm
gegangen. Und sie sahen ihn nicht mit häßlichen, beobachtenden Augen
an, wie alle die andern Leute in Schwarzhausen, sie redeten lind auf
ihn ein, daß er nicht schuld sei an Herrn Baldamus’ Tode -- -- sie
waren gut, -- gut. --

Und noch jemand war gut. Ein kleines, blondlockiges Mädchen, das er,
Bertold Eik, bestohlen hatte. Ja, es nützte gar nichts, daß er sich vor
sich selbst entschuldigt hatte: »ich habe sie ja _gefunden_,« oder, »es
ist ja _nur_ Puppe Emmy ohne Kopf,« er war doch ein ganz abscheulicher
Junge, er war wirklich ein »schlechter Kerl«.

Aber er hätte Puppe Emmy um die Welt nicht herausgeben können, -- etwas
_mußte_ er sich aus dem Eichenborn hinüber retten in die fremde Stadt.

Und nun, -- als er am Bahnhof in Schwarzhausen mit seinen beiden
Beschützern aus dem Eikschen Wagen gestiegen war, hatte sich im
Gedränge der Reisenden die Liselotte an ihn gedrängt, -- gute
Liselotte! -- und hatte ihm hastig und sprudelnd zugeraunt: »Ich
darf ja nicht mit dir reden, -- aber ich tu’s, weil du doch so
weit fortgehst. Da -- nimm! Es ist mein Bild. Steck’s ja nicht ins
Verbrecheralbum, sonst schimpft die Base Juliane. Dies hat mir der
Photograph geschenkt, -- weil’s verdorben war, -- ich habe gewackelt,
es kam gerade Musik vorbei. Ade, ade, ade!«

Oh, Bertold wußte noch Wort für Wort. Dann war sie davon gesprungen,
aber ihr Händchen hatte ihm wohl zehnmal noch zugewinkt, und er selbst
war wie angewurzelt auf einer Stelle stehen geblieben, bis ihn Rektor
Tüllen aus seiner Versunkenheit rüttelte.

Wie im Traum war er in den Zug eingestiegen und hierher gefahren. Zu
tiefst in seinem Reisekoffer ruhte Puppe Emmy, er hatte sie gleich
hervorgeholt und unter sein Kopfkissen gelegt, dort hatte sie Rektor
Tüllen gefunden.

Aber Bertold verriet mit keinem Wort, woher das kleine, unförmige
Bündel stammte, und man ließ es ihm stillschweigend.

Jetzt holte er es plötzlich sacht hervor und legte es vor sich
auf den Tisch. Und aus der Brusttasche holte er das Bildchen der
Jugendgespielin, legte es daneben und betrachtete es aufmerksam. Ja,
Liselotte hatte wohl gewackelt. Er nickte dem Bildchen ernsthaft zu und
fand es ganz in der Ordnung, daß es _zwei_ Köpfe zeigte, denn Puppe
Emmy hatte ja _gar_ keinen. Und plötzlich raffte er Puppe und Bild an
sich und legte seinen schwarzen Lockenkopf fest -- fest darauf.

»Er weint,« sagte Rektor Tüllen leise und winkte dem Organisten.

Dann war der Junge allein mit seinem tiefen, tiefen Heimweh. --

       *       *       *       *       *

In Schwarzhausen waren alle Fenster der kleinen und großen Häuser
besetzt, die an der Hauptstraße standen. Es lohnte sich wohl,
heute einmal alles stehn und liegen zu lassen und nur zu schauen.
-- Was nicht an den Fenstern stand, das kam aus den Nebenstraßen
herangeschritten und stellte sich dicht an die Häuser in langen Reihen.
Die Mütter hatten ihre kleinen Kinder auf dem Arm und die größeren an
der Hand. Wo ein Prellstein an der Ecke stand, hob man eine kleine
Person hinauf und besonders wagehalsige Buben saßen sogar in den Bäumen.

Herr Baldamus Eik von Eichen wurde zu Grabe getragen. --

Das war draußen auf dem neuen Friedhof für ihn ausgeschaufelt, wo es
noch recht kahl und unwirtlich aussah; aber er hatte es verschmäht, als
der »Frömmsten und Gerechtesten einer« in das Erbbegräbnis der Eiks
aufgenommen zu werden, wo gar zu viel wilde Gesellen drin moderten
und sogar ein paar heidnische Urnen standen; denn drei seiner Vettern
hatten sich in Gotha verbrennen lassen und der alte Eik hatte bereits
dieselbe Bestimmung getroffen, wenn er einmal mit Tode abgehen würde.
Aber das heutige Begräbnis war wirklich etwas für Herz und Gemüt.
Dieser prachtvolle, gelbe, silberbeschlagene Eichensarg, der beinahe
verschwand unter Lorbeer und Rosen, die Träger nebenher bis an die
Nasen in teuren Krepp gewickelt und mit Zitronen in den Händen, die
Kirchenjungen in schwarzen Mäntelchen, die Stadtkapelle mit Hofmusikus
Kniller an der Spitze, dessen rote Nase heute das einzig Leuchtende in
dem schwarzen Zuge darstellte. Und die ungeheure Menge Leidtragender!
Und die stattliche, unabsehbare Reihe leerer Staatswagen hinterher,
deren Kutscher sämtlich florumhüllte Peitschen trugen.

Man mußte selbst als unbeteiligter Zuschauer herzbrechend weinen, denn
so ungeheure Liebe und Verehrung für den hochangesehenen Toten können
und müssen überwältigen -- -- --

Hinter dem Sarge fährt ein einzelner Wagen und nach diesem kommen erst
die Verwandten, die Geschäftsfreunde und Angestellten der Eikschen
Fabrik, dann die lange Reihe der Arbeiter, der »Porzelliner«. Der
einzelne Wagen ist die alte Staatskarosse der Eiks und in ihr sitzt
Bertold Eik von Eichen ~senior~. -- »Ganz allein,« raunt man sich
zu, »Franziska Malcroix geleitet den Pflegebruder nicht zur letzten
Ruhestätte.«

»Das kann sie doch gar nicht. Wo ihr Junge, der schlechte Kerl, dran
schuld ist.«

»Weiß man das denn so genau? Er war doch immer leidend, der Herr
Baldamus, und sah aus wie Braunbier und -- -- --«

Schreinermeister Hellwig muß verstummen, denn man dreht ihm entrüstet
den Rücken. Es spricht ja auch nur der Ärger aus ihm, weil der Sarg
nicht bei ihm bestellt ist, sondern in der Residenz. Im übrigen wollen
sich die Schwarzhausener auch nicht ihren Prügeljungen nehmen lassen.
»Na überhaupt der junge Bertold Malcroix! Ein Glück, daß man ihn los
war, -- der hätte noch mal die Stadt an allen vier Ecken angezündet.« --

       *       *       *       *       *

Die Glocken läuten, und der Zug zieht langsam zum Kirchhof -- -- --

Im Eichenborn ist es auch still und leer. Sie sind alle zum Begräbnis
mit Ausnahme des alten Fräuleins Adelgunde, der Frau Franziska und
Hieronymus Teichmann. Der letztere hat einen Augenblick am Fenster
gestanden und hinabgeschaut auf die vielen Kränze und Blumen und
hinausgehorcht auf das mächtig tönende Geläute, und ein bitteres
Lächeln hat dabei auf seinem Antlitz gelegen. --

Tante Adelgunde sitzt in ihrem großen, weiten, behaglichen Zimmer, aber
nicht auf dem Fenstertritt, wo das Spinnrad steht, sondern weit ab vom
Lichte in einem der großen, tiefen Sessel. --

Sie will den langen, ehrenden Leichenzug nicht sehen und nicht den
blumenüberdeckten Sarg, sie will auch die Staatskarosse der Eiks nicht
sehen, worin der einsame Mann sitzt, der allzeit so aufrecht ging ...

Wie eigen mag ihm zumute sein, daß er jetzt in dem langsam fahrenden
Wagen drüber nachsinnt, wie blind die Menschen doch sind.

Fräulein Adelgunde will auch die Musik nicht hören, die so aufdringlich
laut mit Pauken, Drommeten und Schalmeien verkündigt: »Horcht alle auf!
Hier wird etwas ganz Besonderes zu Grabe getragen, der Gerechtesten
einer ...«

Sie liest laut aus der großen, alten Familienbibel, die in ihrem Schoße
ruht: »Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der
Liebe nicht, so wäre ich tönendes Erz oder klingende Schelle«, und sie
meint, solch tönendes Erz und solch klingende Schelle sei allzeit der
Baldamus gewesen und seine Leichenmusik das Sinnbild seines Lebens.

Aber Tante Adelgunde liest auch in der Bibel: »Richtet nicht, auf daß
ihr nicht gerichtet werdet«, und ihr Haupt neigt sich tiefer herab auf
das Buch der Bücher, und sie betet zum erstenmal seit dem Tode des
Neffen: »Herr, nimm ihn gnädig in dein himmlisch Reich!«

Auch Frau Franziska sitzt allein und auch sie liest, -- aber nicht in
der Bibel. Ein kleines Lederbuch liegt in ihrer Hand, abgegriffen und
viel benutzt. Vergilbte Blätter bilden seinen Inhalt, und sie sind
bedeckt mit den feinen Schriftzügen einer Frauenhand.

Dieses Buch hatte Baldamus Eik ihr vermacht.

Sie war, -- der Schmach nicht mehr denkend, die er ihr hatte antun
wollen, -- in sein Sterbezimmer geeilt, da man ihr sagte, der Kranke
versuche unablässig ihren Namen zu formen, er könne nicht leben und
nicht sterben, wie es scheine, ohne daß er sie noch einmal gesehen.

Als sie zu ihm trat, war ein Lächeln über sein Antlitz gegangen, -- ein
fürchterliches Lächeln, vor dem ihr graute.

Aber sie hatte sich selbst gescholten und war zu ihm getreten. Und weil
sie das Nahen des Todes spürte, beugte sie sich tief über den Kranken
und sagte laut: »Ich will vergessen und verzeihen.«

Da war wieder das fürchterliche Lächeln gekommen, und die matte Hand
hatte sich gehoben und nach dem Schreibtisch gezeigt. Dort lag das
Buch, umwunden mit Seidenband und mit dem großen Wappen der Eiks
versiegelt. Die Aufschrift lautete: »Mein Vermächtnis für Franziska
Malcroix, geb. Eik von Eichen.«

Erst als sie das Buch in Händen hielt und sich ihm so zeigte, -- da
wurde er ruhig und legte sich zum Schlafe hin, aus dem er nicht wieder
erwachte. Und auf seinem toten, starren Gesicht lag der Ausdruck
gesättigten Behagens.

Franziska hatte das Büchlein in ihr Zimmer mitgenommen und das Siegel
dort gelöst.

Und wie sie sah, daß der Umschlag ein Buch enthielt, das ihrer eigenen
Mutter gehört hatte, als sie die geliebten Schriftzüge erblickte von
der treuen Hand, die schon so lange moderte, -- da war das Verzeihen
für die Schuld des Toten bewußt in sie gekommen, -- er hat mir Gutes
tun wollen, er wollte sühnen, indem er mir als letzte Gabe das Liebste
reichte, was es für mich geben konnte.

Und sie hatte gelesen, was die teure Mutter in dem kleinen Buche
niedergelegt -- -- --

Aber das Haupt der Medusa konnte nicht schrecklicher blicken, als dies
kleine Buch mit den zarten Schriftzügen; und langsam, langsam erstarrte
das Herz der Lesenden. --

            Eichenborn, den 17. Mai ...

    »Nun bleiben aber Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei, aber die
    Liebe ist die größte unter ihnen.«

    Das war unser Trauspruch.

    »Und nun frage ich dich, Carola Dannenstein, willst du diesen
    gegenwärtigen Bertold Eik von Eichen lieben und ehren, und ihm
    treu sein, bis der Tod euch scheidet?«

    »Ja!« rief ich hell und freudig, »ja!«

    Die Schwarzhausener haben darüber gelacht und getuschelt,
    es ist nicht Sitte hier, daß eine Braut so laut das »Ja«
    herausjubelt, man darf es schon auf der ersten Kirchenbank
    nicht verstehen. Nur der Bräutigam darf es laut sagen.

    Was kümmert’s mich? Ich komme aus der freien Reichsstadt Bremen
    und -- wenn mein Herz »ja« jubelt, dann tut mein Mund es
    freudig kund.

    Wie gern hätte ich mich in Bremen trauen lassen, in derselben
    alten, lieben Kirche, da ich getauft und konfirmiert wurde,
    -- aber mir lebt niemand mehr dort, -- so ganz verwaist bin
    ich. Da bin ich vom Hause meiner Schwiegereltern in das meines
    Gatten getreten, -- es ist ja im Grunde ein und dasselbe, --
    der schöne Eichenborn. Aber der Flügel, da ich mit meinem
    Bertold hausen soll, ist hell und licht, -- -- die Zimmer der
    andern sind umschattet von hohen, dichten Eichen.

    »So ganz verwaist bin ich?« Lieber Herrgott, vergib mir dies
    Wort, da mich doch der Eine, der Einzige, der Herzliebste heute
    an sein reiches Herz genommen hat, das vor mir noch keine
    geliebt, und das mir Vater, Mutter, Bruder und Schwester sein
    will. -- Nein, ich bin wahrlich nicht verwaist.

    Frau Therese Teichmann, die runde, stattliche Frau unseres
    Dieners und Faktotums, hat mir geholfen, den Brautstaat
    abzulegen und mir das Strumpfband gelöst, -- eine alte, uralte
    Sitte im Hause Eichenborn. Bertold und ich wollten nicht in die
    Welt hinaus fahren, sondern die ersten, seligen Stunden des
    Vereintseins in unsern vier Wänden genießen.

    Jetzt umfängt mich das traute Wohnzimmer mit lauter lieben,
    alten Möbeln aus meinem Vaterhause, dem alten Bremer
    Patrizierheim. Nebenan liegt der ungeheure Saal, weit
    und dämmrig tut er sich auf und die vergoldete Stukkatur
    seiner Decke leuchtet matt zu mir herüber. Prunkvoll ist er
    eingerichtet, -- die Eiks sind ein reiches Geschlecht. -- An
    den Saal reiht sich Zimmer an Zimmer, ich habe sie alle an
    Bertolds Hand durchschritten.

    Nur das eine nicht, das neben diesem, meinem Wohnzimmer liegt.
    -- Aber heimlich, ganz heimlich hab’ ich hineingesehen, --
    dort stehen zwei ungeheure Riesenbetten, und schneeiges
    Linnen bauscht sich in ihnen unter rotleuchtenden, seidenen
    Decken. Eine herzbeklemmende, süße Angst befällt mich, wenn
    ich an das Stübchen denke -- -- -- Herzliebster! Herzliebster!
    Herzliebster!

    Mein Ruf holt ihn nicht herbei, -- -- er ist fortgeholt worden
    zu einem Schwerkranken, zu einem Sterbenden.

    Das war recht seltsam für mich, und Hieronymus Teichmann, der
    die Botschaft überbrachte, sah mich mit mitleidigem, ernstem
    Blicke an. Er wollte sich wohl überzeugen, wie tapfer oder
    untapfer ich sei an meinem Hochzeitstage.

    Aber das liebe ich ja gerade so an meinem Bertold, daß er in
    dem großen, ihm unterstellten Getriebe _alles_ ist, Herr und
    Arbeiter, Freund, Bruder, Körper- und Seelenarzt. Und so trete
    ich willig zurück, da man ihn an ein Sterbebett ruft.

    Ach, -- nicht nur das Ziel, auch der Weg dahin ist schön.

    Könnte ich wohl dies kleine Buch mit meinen tiefinnersten
    Gedanken füllen, wenn mein Bertold neben mir säße?

    Er würde mich stürmisch in seine urgewaltige Liebe reißen und
    mich ersticken mit seinen Küssen.

    Es ist süß, darauf zu warten und in diesem kleinen Buch von ihm
    zu träumen. --

            Eine Stunde später.

    Die Nacht, die stille Mainacht ist hereingebrochen.

    Vor dem geöffneten Fenster schluchzt klagend eine Nachtigall.

    Frau Therese Teichmann hat mir die Lampe gebracht und nach
    meinen Befehlen gefragt.

    Ich habe keine Befehle, ich habe nur den tiefen Wunsch, mein
    liebster Bräutigam möchte endlich bei mir sein, -- er zögert
    lange. -- Die Dienerin sah mich an, genau so seltsam ernst
    wie vorhin ihr Mann. Dann wollten wir beide scherzen, aber es
    gelang uns nicht.

    Sacht strich sie mir über das Haar und die gefalteten Hände,
    die auf diesen Blättern ruhten. Sie hat etwas Mütterliches an
    sich, ich werde diese Dienerin sehr lieb haben.

    »Eine ernste, stille Brautnacht!« meinte sie leise.

    »So wird unser Leben hoffentlich um so froher,« rief ich
    dagegen, vielleicht lauter als nötig, -- ich hatte viel
    Bangigkeit zu verscheuchen.

    »Gott walt’s!«

            Zwei Stunden später.

    Ich bin schon ein paarmal aus dem Schlafe aufgeschreckt, der
    mich im Sessel überfallen hatte. Alles ist so totenstill um
    mich. Ich wage nicht die Tür zu dem großen, gähnenden Saal zu
    schließen und wage nicht, jene zu öffnen, welche das heimliche
    Gemach, das liebe, traute auf der anderen Seite für mich
    verbirgt.

    Soll ich mich allein niederlegen? Der Schlaf wird mich fliehen,
    wenn er auch jetzt in öder Stille versucht, meine Augen zu
    schließen.

    Bertold! Bertold! Komm! Ach komm! Ist denn niemand bei dem
    fremden Sterbenden, der dich ablösen könnte? Das _Leben_ ruft
    dich, das süße, beglückende Leben. Dein junges Weib ruft dich
    und die Sehnsucht meines Herzens. Komm, ach komm zu mir!

            Eine Stunde später.

    Was ist dir jener Sterbende, Bertold? Warum findest du nicht
    ein paar karge Minuten Zeit, um zu mir zu eilen und mir ein
    liebes Wort zu sagen? Wie bin ich einsam!

            Drei Stunden später.

    Langsam dämmert der Morgen. Bleischwer liegt es in meinen
    Gliedern. Schon sendet die Sonne den ersten Schein über die
    dunklen Thüringer Berge, die von nun an meine Heimat sein
    sollen. -- Meine Heimat ist Bertold.

    Weh, ich bin heimatlos -- -- --

            Den 19. Mai.

    Soll ich die ersten Blätter mit ihren Seufzern und Tränen
    herauslösen aus diesem kleinen Buch? -- -- Ich will sie
    darinnen lassen, -- sie sollen der Ring des Polykrates sein,
    die Opfergabe, den Göttern dargebracht.

    Kann es nur so viel Glück auf dieser armen Erde geben?

    Nicht nur in dem köstlichen Rausche der hingebenden Liebe
    liegt und leuchtet es, -- -- für mich ruht es weit mehr in dem
    Lächeln, das auf dem ernsten Antlitz meines Gatten erstanden
    ist, seit wir vereint sind.

    »Der düstere Eik«, »der grimmige Eik!« Es paßt gar nicht mehr
    auf ihn.

    So nannten sie ihn in Bremen und auch hier in seiner Heimat
    sind es seine Übernamen.

    Er hat mir schon in unserer Brautzeit bekannt, daß der Jähzorn
    ein Erbteil der Eiks sei und daß seine Vorfahren ihn ganz
    besonders belastet hätten, aber er schreckte mich nicht mit
    diesem Geständnis.

    »Jähzornige sind immer auch gut,« gab ich ihm zur Antwort und
    er küßte mich dafür.

    Freilich ist seine Güte nicht augenfällig, -- seine Augen
    schauen dreuend unter dichten, schwarzen Brauen hervor,
    sein Mund ist herb geschlossen und kein Bart verdeckt den
    verächtlichen Zug, der um die Winkel liegt.

    »Wo hast du die Welt so verachten gelernt?« fragte ich ihn
    sinnend-neckend und strich mit meiner Hand sacht über die
    beiden Fältchen, die seinen schönen, großen Mund mit den
    eisenfesten, blitzenden Zähnen leicht herabziehen.

    Eine feine Röte stieg in sein Gesicht.

    Dann aber blitzten seine dunklen Augen mich an, sein dürstender
    Mund lag auf dem meinen, und wir tranken aus dem Becher der
    Seligkeit.

    »Ich liebe die Welt, seit sie dich trägt,« flüsterte er mir
    zu. --

    »Seit zwanzig Jahren?« fragte ich zweifelnd. »Wann kam denn das
    Verachten?«

    »So lieb’ ich die Welt, seit du mein eigen bist!«

    »Also _immer_!« rief ich jubelnd und schmiegte mich an sein
    Herz.

            Den 22. Mai.

    Eifersüchtig bin ich. Wer hätte das gedacht! Ich am wenigsten
    von mir selbst.

    Ich hatte es ja nie gespürt, -- wie sollte ich auch? Er
    liebte mich, er wählte mich, und aus den Wonnen eines kurzen
    Brautstandes, in welchem er nur für mich und ich für ihn lebte
    und webte, holte er mich in den Eichenborn, in das stille,
    düstere Haus seiner Väter.

    Und hier auf einmal tritt das Gorgonenhaupt des grüngeäugten
    Scheusals vor mich hin.

    Ich kann es nicht bannen, ich kann es nicht nehmen, fassen
    und unschädlich machen. Es ist ein Schmerz, der immer mit mir
    geht. Es ist klein und unvornehm von mir. Denn ich habe keinen
    Grund zur Eifersucht. Und mir schwebt auch keine bestimmte
    Person, keine Frau, kein Mädchen vor, -- mir ist, als sei ich
    eifersüchtig auf alles, was den Einzigen von mir fern halten
    könnte, auf seinen Beruf, -- -- ja auf die Luft, die er fern
    von mir atmet. Es ist ein so öder Gemeinplatz: »Eifersucht ist
    Mangel an Vertrauen.« Und dieser Gemeinplatz lügt.

    Eifersucht ist Liebe, höchste Liebe. Und Eifersucht ist
    Angst. --

    Auf die Stunden, die uns in der Brautnacht trennten, bin ich
    nie wieder zurückgekommen.

    Er war so blaß und verstört, mein armer Liebster, als er
    heimkehrte zu seinem jungen, wartenden Weib.

    »Ist er tot?« fragte ich.

    »Ja, Liebste.«

    »War er es wert, daß du mir fern bliebst?«

    »Ja, Liebste.«

    Das war unsere Unterredung.

            Im August.

    Heute führte uns der Weg nach dem kleinen, alten Friedhof.
    Man kommt zuerst an das Mausoleum mit untermauertem Grund, in
    welchem seit Jahrhunderten die Eiks von Eichen schlafen.

    Ach, bei solch einer Anhäufung von Särgen, da kann ich nie an
    Schlaf denken, sondern nur an Moder. Im grünen Wald oder im
    dichtverwachsenen, kleinen Totenhain, unter Efeu und Immergrün,
    umrauscht von alten Bäumen, da kann man schlafen. Vom Mausoleum
    ab führen die stillen moosbewachsenen Pfade nach den Gräbern
    der andern, die aber immer mit dem Hause Eik in irgendeiner
    Verbindung standen: Angestellte und Arbeiter der Fabrik,
    Gutsleute und ihre Kinder.

    »Warum ruht ihr Eiks nicht hier?« fragte ich, »o wie es hier
    nach Rosen duftet und Jasmin, nach Jelängerjelieber und
    Jesuskraut. Die Zypresse im Erbbegräbnis schaut so streng und
    traurig.«

    »Die Eiks sind ja auch ein strenges und trauriges Geschlecht,«
    meinte mein Liebster ernst. »Außerdem,« setzte er kurz
    auflachend hinzu, »wollen sie selbst im Tode noch etwas
    Besonderes sein und getrennt von den übrigen Sündern.«

    »Da liegt auch ein Sünder!« rief ich lebhaft und zeigte auf
    ein ziemlich neues Grab, dem mein Bertold den Rücken kehrte.
    Dünne Grashälmchen wuchsen darauf, durch welche man die kahle
    Erde überall hervorblicken sah. Ein kleiner, düstergrauer Stein
    schmückte die Stelle, -- nein doch, er _schmückte_ sie nicht,
    er zeigte sie drohend dem Beschauer. »Gott sei mir Sünder
    gnädig!« stand mit großen, schwarzen Buchstaben auf dem Stein.

    Mein Bertold hatte sich herumgedreht, und sein braunes Gesicht
    war blaß, als er die Worte las.

    »Wie furchtbar!« stieß er hervor. »Wie konnte der Alte das tun!«

    »Wer ist der Alte?« fragte ich.

    Bertold biß sich auf die Lippen. Vielleicht war ihm der Ausruf
    nur so entschlüpft, doch entgegnete er ruhig: »Der alte
    Hörschel. Sein Kind -- -- -- es war ein Selbstmörder.«

    »War es dein Freund?«

    »Nein.«

    Dann zog Bertold meinen Arm rasch und fest durch den seinen
    und schritt mit mir fort aus dem Reiche der Toten in unser
    lebendiges Heim. --

            _Ein Jahr später._

    Schwer habe ich gelitten. So schwer, daß ich nicht dazu
    kam, mein Wohnzimmer zu betreten, viel weniger, dies Buch
    aufzuschlagen.

    Eine Fehlgeburt brachte mich nahe an jenes dunkle Tor, das zum
    Erbbegräbnis der Eiks führt.

    Und nun eröffnen mir die Ärzte, daß ich nie mehr ein Kind zur
    Welt bringen würde -- -- --.

    Warum legte Gott solche tiefe Muttersehnsucht in mein Herz?
    Warum gab er tausend und abertausend vornehmen Frauen Kinder,
    die doch von den Müttern vernachlässigt und den Dienstboten
    übergeben werden? Warum sandte er tausend und abertausend
    siechen, verderbten, armen, hungernden Müttern und Vätern dies
    Gottesgeschenk und versagt es gerade mir so grausam? Warum,
    warum? Verlorene Frage! Aber sie verläßt mich nicht, sie wird
    zum Hammer und schlägt immerfort auf mein armes Herz. Warum?
    Warum? All mein Kinderglaube, mein starker Glaube, zerbricht,
    ich hadre mit Gott und nenne ihn nicht mehr den Allgütigen,
    Allweisen, nur noch den Allmächtigen, der mein Glück in Trümmer
    schlug. -- -- --

            _Ein Jahr später._

    Wenn ich mein ganzes Leben lang so selten in diese Blätter
    schaue, -- dann wird das Büchlein hundert Jahre aushalten.
    Und wer trägt die Schuld, daß die gern plaudernde Carola Eik
    verstummt ist? Verstummt? Kommt ins Kinderstübchen und lauscht
    dem sprudelnden Quell der Worte und Lieder, die ich meinem
    Kleinchen darbringe.

    Meinem Kindchen? -- -- Muß man denn immer Unmögliches haben
    wollen? Immer wie unmündige, törichte Kinder nach den Sternen
    langen?

    Mein Bertold wurde mein Arzt. Unter seinem guten, ernsten
    Zuspruch wurde ich ruhiger, wurde Trostgründen zugänglich,
    und er eröffnete mir das reiche Feld der Armen- und
    Krankenpflege, er schickte mich mit reichlichen Summen in die
    Wohltätigkeitsanstalten ringsum, damit ich mit eigenen Augen
    sähe, wo es not tut, mild und werktätig einzugreifen. So
    braucht der Liebesquell in meiner Brust nicht zu versiegen,
    täglich erneut er sich, und sein Reichtum wird größer, je mehr
    ich davon abgebe. --

    Und als ich eines Abends zu ihm sagte, ganz leise in sein Ohr
    flüsterte: »Bertold, -- für ein süßes Kindchen hätte ich _doch_
    noch Zeit bei all meiner Arbeit und vor allen Dingen, du großer
    Bertold brauchst so wenig Pflege, und ich habe solch einen
    Überschuß an Liebe in mir, -- -- es braucht doch nicht ein
    _eigen_ Kind zu sein -- -- --«

    Da -- -- am andern Tag lag’s in dem blau seidenen, weiß
    verschleierten Himmelbettchen, so recht mitten in den Thüringer
    Landesfarben. -- Und es war ein süßes, holdes, zweijähriges
    Mägdelein, das mich zur Mutter begehrt, weil seine eigene,
    gute, treue Mutter tot ist. -- Es heißt Franziska.

            _Ein halbes Jahr später._

    Ei du kleine Franziska, -- wie schwingst du dein winziges
    Machtzepterchen über den Eichenborn. Alles ist dir untertan,
    vom Vater an bis herunter zum kleinsten Küchenmädchen und
    Stiefelwichsjungen.

    Du hast auch gar zu liebe, blaue Augen, gar so ein feines
    Näschen, du siehst eigentlich aus, wie eine echte Eik von
    Eichen. Das macht unsere Pflegeelternliebe, die dich geboren
    hat, zu einem neuen Leben im Hause Eik. -- O ich könnte
    eifersüchtig werden, jetzt mehr denn je, ja jetzt sogar mit
    Berechtigung, denn mein Bertold liebt das Kind, -- beinahe
    hätte ich geschrieben: »über _alles_!«

    Aber das wäre Sünde, das darf ich meinem Liebsten nicht antun.

    Und es ist eigen, -- er kann nicht die zarteste Anspielung auf
    seine zärtliche Neigung zu Klein-Franziska vertragen. Er wird
    nicht heftig oder mürrisch oder abwehrend, -- er wird so tief
    ernst und traurig, daß mir das Wort, kaum dem Munde entflohn,
    schon leid tut und ich mir immer mehr vornehme, diesen Fehler
    meines Herzens zu bekämpfen. -- Eifersucht! Es ist ja auch zu
    häßlich, auf ein kleines, schönes, liebes Kind von zwei Jahren
    eifersüchtig zu sein. --

    Manchmal meine ich, Franziska gehöre mir, und ich sei seine
    Mutter. Meine Phantasie arbeitet dann so stark, daß ich mich
    in die Schmerzen noch einmal hineinträume, die ich um mein
    totes Glück erlitt, und dann träume ich weiter, daß dies
    _tote_ Glück nur ein Traum sei, -- daß es in Wahrheit lebe und
    Franziska Eik heiße.

    Kleines, liebes und geliebtes Fränzchen! Nie sollst du fühlen,
    daß ein andrer Schoß, als der meine, dich getragen -- -- _mein_
    Kindchen bist du! -- -- --

            _Ein halbes Jahr später._

    Gestern sah ich die Großeltern von -- meinem Kindchen. Das ist
    doch ein seltsames Gefühl. Mir war mit einemmal das Fränzchen
    fremder geworden, -- Das sollte doch nicht sein. -- Es war
    auf dem Friedhof, wohin ich so gern gehe, weil er so tief
    verwachsen die heiligste Ruhe predigt. Aber gestern war auch
    der Geburtstag der Urahnin und Stammutter der Eiks, und nach
    alter Familienüberlieferung pilgert an diesem Tage Herrschaft
    und Dienerschaft nach dem Mausoleum, um Blumen und Kränze
    niederzulegen. So auch gestern. Ich blieb dann mit Fränzchen
    noch etwas zurück, trotzdem mich mein Bertold gern mitgenommen
    hätte. Aber ich hatte zwei Charakterköpfe entdeckt, zwei alte
    Leute, die an dem Grabe beschäftigt waren, das mir von allen
    Gräbern am interessantesten dünkte, am Grabe des Selbstmörders:
    »Gott sei mir Sünder gnädig!«

    Bertold zog den Hut, als wir an dem Grabe vorbeischritten, aber
    die beiden Alten erwiderten seinen Gruß nicht.

    Nachdem wir den großen Kranz im Erbbegräbnis niedergelegt, nahm
    Bertold einen anderen Weg, um heimzugelangen, mir aber war
    Klein-Franziska entwischt, die sich gern zwischen Eibenhecken
    versteckt, wenn wir hier weilen. Dem Kinde dünkt der Kirchhof
    der liebste Spielplatz. -- --

    Klein-Franziska stand bei den beiden Alten, die so ernsthaft
    und düster dreinschauen, als habe der Tod des Sohnes jede
    Sonne von der Erde fortgenommen. Das Kind plauderte lieblich
    und hielt die Alten bei den Händen, -- es ist ein rechtes
    Sonnenscheinchen und meint, daß jeder Mensch sein bester Freund
    sei. Beide Altchen sahen unverwandt das Kind an, und dann rang
    es sich schwer von den Lippen des Alten: »Es gleicht Zug für
    Zug meiner Tochter, _aber es hat die Eikschen Augen_«.

    »So sind _Sie_ die Großeltern?« fragte ich leise und befremdet,
    denn Bertold hatte mir gesagt, das Kind sei ohne Anhang, seit
    seine Mutter gestorben. Über den Nachsatz machte ich mir keine
    Gedanken, -- ich wußte, daß alle mir, der kinderlosen Frau,
    gern etwas Liebes sagten, und Fränzchens Augen paßten ja auch
    wirklich in das Eikgeschlecht. Ich grüßte die beiden und
    schritt tief nachdenklich nach Hause.

            _Am nächsten Tage._

    Wie mit unsichtbaren Händen zog es mich heute wieder nach dem
    kleinen Friedhof. -- -- --

    »Gott sei mir Sünder gnädig.«

    Da waren die beiden Alten wieder, und mir war es, als winke
    mir der Mann. Ich hatte die Kleine wieder mitgebracht, -- sie
    weicht ja nicht von meiner Seite, wenn sie sieht, daß ich einen
    Ausgang habe, und ihre »Mutti« dünkt ihr alles -- -- --

    Ich schritt auf das Grab zu und reichte beiden die Hand, als
    könne es nicht anders sein.

    »Hören Sie nicht auf ihn!« raunte die alte Frau leise, »er soll
    nicht reden und darf es nicht. Wir leben jetzt schuldenfrei auf
    eigenem Grund und Boden, seit das Kind da ist, das vergißt er
    immer und ist undankbar.«

    Und dabei vergaß die alte Frau, der jetzt, während sie
    Fränzchen anschaute, die helle Güte aus den Augen sprach,
    völlig, daß sie doch wohl auch nicht reden durfte. Mich
    fröstelte inmitten der warmen Sommersonne. Aber ich konnte mich
    nicht vom Platze rühren.

    »Warum gaben Sie Ihrem Sohne solch’ einen traurigen Spruch?«
    fragte ich, um etwas zu sagen.

    »Unserm Sohne? Hier liegt unsere Tochter, die Fränze, die
    Schande auf uns brachte.«

    »Nicht Schande!« schluchzte die alte Frau, »sie war gut, -- so
    gut.«

    »Ja _zu_ gut war sie!« lachte der Alte heiser und dann loderte
    es in seinen Augen auf und er trat vor mich hin und zeigte auf
    die kleine Franziska: »Hüten Sie das Mädchen! Es ist Zug um
    Zug mein Kind, aber es hat die Eikschen Augen! Hüten Sie es«. --

    Das andere verlor sich im Murmeln, die Frau nahm den Arm des
    Mannes und zog ihn rasch vom Friedhof fort, sie weinte jetzt
    laut und bitterlich.

    Und ich war wissend geworden!

    O über jenen Augenblick, da mir so grausam die Augen geöffnet
    wurden!

    Nun ist etwas zerrissen in mir, was sich nie wieder heilen
    läßt. --

    O ich weiß, daß die Welt mich nicht verstehen wird. Es ist
    ja so etwas Alltägliches! Man kann darüber hinweggehen und
    lächeln. ›_Man_‹, aber nicht ›ich‹! Mir ist über dieser
    alltäglichen Geschichte das Herz gebrochen.

    Als Bertold mich zum gemeinsamen Mittagsmahl aus meinem Zimmer
    abholte, da sah er, daß sein Glück zertrümmert am Boden lag.

    Doch stand ich ganz ruhig vor ihm, -- mir war’s, als sei ich
    gealtert um viele Jahre in den wenigen Stunden.

    »Nicht deine _Schuld_ trennt uns,« sagte ich ihm mit beinahe
    tonloser Stimme, so daß er sein Haupt zu mir neigen mußte, um
    mich zu verstehen, »uns trennt deine _Lüge_!«

    »Du willst von mir gehen?« fragte er heiser, und seine Augen,
    seine lieben, dunklen Augen sahen mich wie erloschen an.

    »Nein, -- nicht von dir gehen, -- nicht äußerlich -- ich habe
    ja das Kind, -- ich will ihm weiter Mutter sein.«

    Kein Wort wurde sonst zwischen uns gewechselt. Bertold ging
    aus dem Zimmer und ließ sein Pferd satteln. Dann ritt er
    stundenlang in der Weite herum, und als er wiederkam, sah ich,
    daß er nicht mehr der »aufrechte Eik« war.

    Nun soll das Leben so weiter gehen. --

    Das Vertrauen zum liebsten Menschen ist dahin und das Kind?
    -- -- Ich sehe an ihm nur immer die Eikschen Augen und sehe
    Zug um Zug das Antlitz des unglücklichen Mädchens, das mein
    Bertold verdarb. Wo soll ich die Kraft hernehmen, weiter zu
    leben? Wie ein Gralskelch leuchtete mein Glück, -- jetzt
    liegen die Scherben, ein billiger Tand, staubbedeckt zu meinen
    Füßen. -- -- --

    Aber das Kind soll es nie erfahren. In jeder einsamen Stunde
    will ich mich stärken zu dem schweren Missionswerk, -- -- --
    hilf mir, -- hilf mir, Allerbarmer, der du diese Last auf meine
    Schultern legtest.

       *       *       *       *       *

Franziska Malcroix wußte nicht, wie lange sie gelesen hatte, -- waren
es Stunden, waren es Jahre? Sie strich mit der Hand über das kleine
Buch, das die liebste Mutter geschrieben, welche es auf Erden gegeben
hatte. --

Dann schritt sie langsam, -- o so langsam die gewundene Treppe hinunter
in ihres Vaters Zimmer.

Der alte Eik saß an dem wuchtigen Schreibtisch und schrieb und
rechnete, aber mitten in die Belege seines Reichtums kam die Störung,
und auf den Zahlen, die sich im letzten gesegneten Jahre wieder um eine
Null vergrößert hatten, lag plötzlich das kleine Buch, das er einst
vor so langen Jahren seiner jungen Braut geschenkt, damit sie ihre
beiderseitigen, glückseligen Erlebnisse darin verewige. -- -- --

Er hatte das Büchlein zuerst wiedergesehen, damals als sein Weib starb.
Von einem Eik konnte ja niemals Glück ausgehen, und so waren auch
diese Blätter erfüllt von Leid, erfüllt von jener häßlichen Schuld
und einzigen Lüge seines ehrenhaften Lebens. Er hatte das Buch am
Todesabend seines Weibes gelesen und war von jenem Augenblicke an der
düstere, grimme Eik geworden, der sich ganz in Schmerz und Bitterkeit
versenkte und kaum noch seines Kindes achtete.

Aber die kleine Franziska trat mit sicherem Schritt in die Fußstapfen
ihrer geliebten Mutter, deren Hinscheiden sie zuerst beinahe
verzweifeln ließ.

Als das Kind damals die tiefe, wortlose Trauer des Vaters gewahrte,
raffte es sich auf, und tausend kleine Aufmerksamkeiten, welche die
Verstorbene für den Gatten gehabt, die übernahm nun das Fränzchen
mit einer sicheren Liebe, welche den grimmen Eik rührte und zugleich
erstaunte. Ganz eng schlossen sich Vater und Tochter aneinander an,
und der alte Eik hatte nur die eine Sorge, das Buch, das kleine Buch
mit den feinen, zarten Schriftzügen, die doch so furchtbar beredt
von seiner Schuld erzählten, vor dem jungen Mädchen zu verbergen.
Jahrzehnte lang hatte es in der Schublade seines festen dunklen
Schreibtisches geruht, zu dem niemand gelangte, als er allein. Und nun
lag es plötzlich vor ihm, und seine Franziska stand so blaß und mit so
wehen, anklagenden Blicken im Zimmer, wie einst sein Weib. --

»Wer gab dir das Buch, Franziska?«

»Baldamus Eik.«

Der alte Eik stöhnte auf. »Dieb!« -- murmelte er, »Dieb!« Und dann
schüttelte ihn der Jähzorn, und wilde, schreckliche Worte und Flüche
kamen aus seinem Munde.

»Was siehst du mich so an, Franziska? Was forderst du von mir? Deinen
Namen? Deine Mutter? Deine Pflegemutter? -- Herrgott, ich habe nichts,
-- nichts, -- ich bin arm, arm -- -- --«

Franziska sah ihn an, -- nicht anklagend, nicht scheu, nicht
verachtend. Es wuchs etwas in ihr und blühte auf, etwas, das stärker
war als die Schmach und Bitterkeit jener Minuten, da sie das Büchlein
las -- -- ein tiefes, erbarmendes Mitleid mit dem armen Reichen vor
ihr.

»Ich will nicht meine Mutter und nicht meinen Namen,« sprach sie leise,
aber fest. »Ich will nur endlich meinen Bertold an dein Herz legen und
dich bitten: ›Hab uns lieb‹!«

Da schlang der alte Mann beide Arme um sein Kind, und im schweren
Weinen löste sich jahrelanges Leid.

       *       *       *       *       *

Der junge Bertold Eik war fleißig.

Er lebte nicht gerade als Bücherwurm, aber er betrachtete es auch nicht
als Vorrecht des Begabten, bummelig und nachlässig zu sein.

Für die Bezeichnung »Streber« und »Musterknabe« hatte er sein
wohllautendes, klingendes Lachen, das ihm manchen Freund schuf. Aber es
waren Schulfreunde, -- keine Lebensfreunde.

Es war etwas Knappes und Stolzes an ihm, das mit Unrecht von manchen
Lehrern mit Hochmut bezeichnet wurde. Denn Bertold hatte nie lange
bei dem Gedanken geweilt, daß er einem reichen und alten Geschlecht
zugehöre, sondern weit eher darüber gegrübelt, warum er seines eigenen
Vaters Namen nicht tragen dürfe. Und aus den vielen Bitterkeiten,
die sein junges Leben schon aufzuweisen hatte, aus den unschuldig
erlittenen Kränkungen entstand und wuchs ein ernster Stolz. Seine
beiden Begleiter waren wie zwei gute Gluckhennen, die Entlein
ausgebrütet haben und nun sorgenvoll am Ufer stehen. Aber es waren
_verständige_ Gluckhennen, die es sofort einsahen, daß Bertold sich
nicht zum Küchlein eigne, sondern unter allen Umständen schwimmen müsse.

Manch spottendes Wort fiel aus Schülermund über die beiden
»Kindermädchen«, ohne deren Begleitung Bertold nie in den Freistunden
zu sehen war, aber so lange der Spott harmlos blieb und sich mehr auf
Bertold, als auf die beiden Getreuen bezog, lachte Bertold sein liebes
Lachen und versöhnte die Spötter damit. Übelwollende aber banden nicht
mit ihm an, denn der junge Eik hatte eine kräftige Faust, und viel Gras
wuchs nicht mehr dort, wo er hinschlug.

Sein Geigenspiel aber war der Stolz aller.

Ganz unerwartet trat ein neuer Musikdirektor an die Spitze des
Gesangvereins in E., und dieser war ein feinsinniger Geiger, der
selbst einmal den glühenden Wunsch in sich getragen hatte, als ein
heller Stern am Kunsthimmel zu glänzen, aber durch das harte »Muß« der
Mittellosigkeit nach einer Brotstelle getrieben war.

Zu diesem Lieblingsschüler Meister Joachims kam nun Bertold Eik, und
nicht nur in seine Hände nahm der Alte den Jungen, nein er zog ihn
gleich in und an sein Herz.

»_Der_ soll das erreichen, was mir das Schicksal versagte,« rief er
nach der Prüfung den beiden Getreuen zu, »das ist einer von Gottes
Gnaden. Und er soll sein bißchen Geld zusammenhalten, damit es zum
ernsten Studium ausreicht, und er soll sich nicht verplempern mit
irgend einer Hanne oder Suse, sondern nur zur heiligen Cäcilie beten.
Zwei Jahre will ich das Büblein lehren, was ich selbst kann, dann soll
er mir nach Berlin.« --

Organist Brennstoff hörte dies alles mit wahrer Vaterwonne und nickte
begeistert dem Musikdirektor zu, aber Rektor Tüllen setzte gleich einen
Dämpfer auf die Geige, auf welcher so hochtönend musiziert wurde.

»Bertold Eik wird nach uralter Familienüberlieferung der Eichens zuerst
sein Abiturium ablegen, dann zwei Jahre die Universität Bonn beziehen
und darauf ins Ausland gehen. Nach seiner Rückkehr übernimmt er dann
Eichenborn und die übrigen ausgedehnten Besitzungen der Eiks -- -- --«

»Amen!« schrie der aufgeregte Direktor. Er dachte aber nicht »amen«,
sondern: »Der Teufel hole diese Familienüberlieferungen!« Mit beiden
Händen fuhr er sich durch seine Künstlermähne. »Da schafft nun unser
Herrgott mal was nach seinem Herzen, und bläst diesem Goldjungen einen
besonders musikalischen Odem in die Nase, -- -- nützt alles nichts,
die Familientradition verhunzt ihm sein Kunstwerk, -- ihm, dem großen
Schöpfer. Es ist, um gleich aus den Stiefeln zu springen! Wenn der alte
Banause von Großvater diesen Jungen durch’s Humanistische schleppt und
ihn dann noch die besten Jahre verkneipen läßt, -- -- dann hätte er
ihn gleich zu Anfang seines Daseins versaufen lassen sollen, -- wie’n
jungen Hund. -- Denn der Junge verfehlt seinen Beruf, und sein Beruf
ist: Sonne zu geben, Feuer zu entfachen in kalten Herzen, Himmelsfunken
zu senden in das dürre Stroh der Verstandsköpfe. -- Alles muß brennen,
leuchten, glühen, wenn ein wahrer Künstler von Gottes Gnaden geigt,
alle Zuhörer müssen durch himmlisches Feuer geläutert werden und
geheiligt, Frau Musika aufzunehmen.«

»Amen!« rief Brennstoff und meinte es nun wirklich so und drückte die
Hände des Musikdirektors, der noch ganz wild um sich blickte.

An demselben Tage noch ging ein langer Brief an Frau Franziska Malcroix
ab, der recht beweglich darstellte, wie es am besten wäre, den lieben
Bertold entweder gleich zu Meister Joachim zu geben, oder ihn auf
eine andere Schule zu tun, damit er in zwei Jahren, wenn auch keine
humanistische, so doch eine andere abgeschlossene Bildung erhielte,
die er später als Künstler auf seinen Reisen erweitern könne. Sie
schrieben alle Vier. -- Der Musikdirektor herrisch in kategorischen
Imperativen, denn hinter ihm stand die heilige Cäcilie mit göttlichen
Forderungen; der Organist als Kenner der Verhältnisse in Eichenborn
um eine Schattierung gedämpfter, aber immer noch beredt genug, um
seinen Namen nicht zu verleugnen; Rektor Tüllen mit warmer Bitte, die
vielleicht am eindringlichsten in ihrer Schlichtheit war. Bertold fügte
nur eine kurze Nachschrift hinzu: »Liebes, liebes Mütterchen, es wäre
schön, wenn Großvater und du ›_ja_‹ sagen möchtet. Aber nur, wenn du es
richtig willst, mein Mütterchen!«

Acht Tage warteten die vier Verbündeten in Spannung und Sorge auf
die Antwort, und dann kam nur ein kurzer, wehmütig-stiller Brief von
Bertolds Mutter zurück:

»Mein Junge! Wenn es dein Beruf ist, Sonne zu geben, so teilst du ihn
mit den andern Menschen. Wir sind alle dazu in die Welt geschickt,
diese kalte Erde zu durchsonnen. Tut dies ein Jeder auch nur mit dem
kleinen Teil, dem heiligen Heimatfleckchen, auf welches Gott ihn
gestellt hat, so wird schon viel Wärme geschaffen. Laß uns Deinem
Großvater Sonne geben, mein Junge! Dein Wunsch, schon jetzt die Geige
als Beruf in die Hand zu nehmen, würde tiefer Schatten für ihn sein.
Ich komme bald zu dir! Gott behüte Dich!«

       *       *       *       *       *

Bertold steckte den Brief ruhig in seine kleine Brieftasche, die er
immer auf dem Herzen trug, und zu seinen beiden Freunden, welche mit
erwartungsvollen Mienen das Lesen des Schriftstückes verfolgt hatten,
sagte er nichts als »Nein«.

Dies tapfere »Nein« wurde von Brennstoff dem Musikdirektor überbracht,
der sich darüber weidlich austobte. --

Dies Toben hinderte ihn aber nicht, mit feinstem Verständnis den
Knaben weiter zu führen, ihm alles zu geben, was er selbst besaß an
technischem Können und tiefer Auffassung, und so reifte Bertold Eik zum
Künstler heran, ohne daß man in Schwarzhausen eine Ahnung davon hatte,
ja ohne daß er selbst es wußte. Auf diese Weise gab er reiche Sonne
in die Herzen der drei alten Hüter seiner Jugend, und seiner Mutter
ernste Augen lernten das Lachen. Die Musik und die Natur, -- das waren
Jung-Bertolds Zerstreuungen, beide gaben ihm Reichtümer und blieben
doch selbst unerschöpflich reich und groß.

Die beiden alten Freunde führten ihn mit sorglichen Händen, auf
daß Seele und Körper zugleich gediehen, und so kam es, daß gute
Schulzeugnisse und schöne Prämien für Bertolds Wohlverhalten nach
Schwarzhausen geschickt wurden, von denen aber nur der Großvater
etwas erfuhr. Für die Schwarzhausener war und blieb Bertold der
geheimnisvolle Tunichtgut und manchesmal des Abends, wenn die Bürger
vor ihren Türen saßen und über das Wohl und Wehe der Stadt berieten,
legten sie den Finger an die Nase und versuchten ein weises Gesicht zu
machen: »Der alte Eik wird immer reicher. Aber ins Grab kann er nichts
mitnehmen! Was wird aus dem vielen Gelde, dem großen Besitz und den
Fabriken, wenn der schlechte Kerl, der junge Bertold, einmal alles
bekommt?«

In den Ferien kam Bertold nicht nach dem Eichenborn und nicht nach
Schwarzhausen. Sobald der Schulschluß da war, erschien sein Mütterchen
und reiste mit ihm. Sie zeigte ihm das Thüringerland mit all seiner
schlichten Schönheit, sie lehrte ihn die Heimat lieben und feste
Wurzeln in ihr schlagen. Sie gab ihm hohe Vorbilder in guten, großen
Menschen, die alle der Thüringer Mutterboden getragen und genährt, und
stählte in ihm den Willen, diesen Großen nachzueifern. -- Die Bücher,
von Rektor Tüllen und Brennstoff sorglich ausgewählt, wurden nicht
mit auf Reisen genommen, -- Frau Franziska liebte nicht dies bequeme,
elterliche Mittel, Störenfriede auf längere Zeit unschädlich zu machen,
-- sie _erzählte_ dem Knaben. Durch scharfe, feine, kluge und gute
Mutteraugen hindurch lernte er die Märchengestalten, die Helden der
Sage und die Großen der Gegenwart, betrachten. Kehrte er dann in die
Einsamkeit der großen Stadt und in die seines Studierstübchens zurück,
im Herzen noch das Trennungsweh vom Mütterchen, dann holte er sich ein
gutes Buch, schaute seine geliebten Helden mit geschärftem Verständnis
und ließ sich von ihnen wieder zur Mutter führen. Für Bertold war ja
sein Mütterchen der größte und liebste Held. Sie litt körperlich viel
und sah oft leidend aus, aber sie klagte nie, sie litt seelisch unter
dem gewiß oft harten Großvater und schien viele, ach so viele trübe
Erinnerungen zu haben, aber immer erzählte sie Gutes und Liebes vom
Eichenborn und seinen Bewohnern, so daß Bertolds Heimatliebe wachsen
und erstarken konnte. Die Mutter predigte nicht langweilige Moral, sie
_lebte_ alle ihre Ermahnungen und guten Worte selbst vor, -- wie hätte
ihr Junge da nicht nachleben sollen? Und wie die Mutter so gehorsam
gegen Gott war und sich beugte unter seinen Willen, so lernte Bertold
nach diesem Vorbilde Gehorsam und straffe Selbstzucht. -- -- --

Innerlich unendlich reich kehrte Frau Franziska immer heim und ließ
ihren Knaben gewachsen und reifer zurück. --

Trotz alledem behaupteten die Mitschüler in E.: »Der Eik hat was zu
verbergen«.

Der Jähzorn war’s, den er verbarg, der ihn noch oft peinigte und
quälte, den er doch Mütterchen zulieb als erstes bezwingen wollte.

Viele Anfechtungen hatte er durch ihn noch zu bestehen, und besonders
bei rohen Handlungen seiner Mitschüler, bei Tierquälereien und
häßlichen Lügen geriet er noch immer außer sich.

Und die tägliche Übung der Selbstüberwindung nahm ihm viel Kraft fort,
er blieb schmal und mager, und trotz sorgsamer Pflege schauten seine
großen, dunklen Augen ernst und viel zu düster aus seinem jungen
Gesicht.

Aber Bertolds Körper war sehnig dabei, nicht schlaff, et turnte gut und
gern und hob große Lasten ohne besondere Anstrengung. --

»_Der Eik hat was zu verbergen._«

Dies war das einzige, was von allen Dingen, die Bertold tat oder
versäumte, nach Schwarzhausen gelangte, und es wurde in allen
Kaffeegesellschaften erzählt, besprochen, weise belächelt und als
bestehende und längst bekannte Tatsache angesehen.

Und er hatte in Wahrheit etwas zu verbergen, drei Dinge: Den Jähzorn,
Puppe Emmy und einen Brief, einen langen, einzigen Brief der früheren
Gespielin, die er nun sechs Jahre nicht mehr gesehen hatte. Das Papier
mit der festen Kinderhandschrift war nicht mehr ganz sauber, es war ja
schon mehrere Wochen alt und vielfach von Bertold selbst aufgeplättet
worden, wenn er es verknüllt unter seinem Kopfkissen hervorgezogen
hatte. Die gute Hauswirtin, welche ihre fünf möblierten Zimmer noch
nie so vorteilhaft vermietet hatte, wie diesmal an die beiden ruhigen
Herren Lehrer und den braven, stillen, blassen Zögling, wußte schon
immer Bescheid, wenn der Junge mit seinem immer dunkler werdenden
Papier in ihre Küche kam: »Wenn ich bitten dürfte um ein Plätteisen!«
Die brave Frau glaubte freilich, es sei mindestens ein wertvolles
Dokument, das der »Jungherr« nicht von sich ließ, und hatte sich
eine ganze Legende selbst gedichtet um dieses Papier, Testament oder
unersetzliche Urkunde.

Den Jähzorn und Puppe Emmy kannten seine beiden Erzieher, aber diesen
Brief kannte nur Liselotte, der liebe Gott und er, Bertold: »Lieber
Bertold, ich soll fort in Pension, weil Base Juliane nicht mehr mit mir
fertig werden kann. Sie kann schon, aber die Schwarzhausener wollen
es. Es geht mir nun wie Dir, und deshalb schreibe ich Ihnen. -- Ich
soll nämlich ›Sie‹ zu Dir sagen, sagt die Gouvernante, und ich hatte
es wieder vergessen. Nämlich ich habe eine Gouvernante, und wir sind
nun fünf Frauenzimmer und nur der eine Papa. Die Gouvernante sagt, Du
würdest jetzt auch im Gymnasium ›Sie‹ genannt mit fünfzehn Jahren und
Sie müßten jetzt auch ›Sie‹ zu mir sagen. Ich hoffe, daß Du das nie
tun wirst, ich würde es gemein finden. Wie siehst Du jetzt aus? Es ist
schon wieder vor acht Tagen ein neues Bild von mir gemacht worden,
und ich hätte es Ihnen gern geschickt, aber die Gouvernante sagt, es
wäre der Gipfel der Pöbelhaftigkeit, wenn ein Mädchen einem Jungen ein
Bild von sich schenkte. -- Du siehst daraus, daß sie überhaupt sehr
viel sagt. Aber ich will nichts über sie sagen, denn es soll edle und
wohltätige Gouvernanten geben, meine ist es noch nicht. Lieber Bertold,
wenn Sie es keinem Menschen und sonst auch niemand wieder erzählen,
dann möchte ich es Dir allein kund tun, daß ich meine alte Puppe Emmy
nicht wiedergefunden habe. Ich habe viele Jahre so gespielt, als ob sie
von Zigeunern geraubt wäre, weil sie so schön und gut war. Aber es ist
mir ein Rätsel. Dein Großvater ist ja auch eigentlich kein Zigeuner. --
Ich mochte ihn auch beinahe immer so gern wie Dich, aber wir kommen nie
mehr zusammen. Niemand hier versteht meinen Schmerz. Und nun soll ich
in Pension, -- von meinem Väterchen fort, und kein Mensch beschützt
mich, sondern Papa steckt sich Watte in die Ohren, wenn ich tobe, und
die Base und die Gouvernante blasen in ein und dasselbe Horn. Die
Gouvernante will nämlich ihre letzten Nerven noch in Ruhe genießen, so
ähnlich hat sie sich ausgedrückt. Wir haben immer sehr schöne Ferien
gehabt und der Hans von Windemuth, -- nein, ich glaube -- ich darf Dir
nichts darüber schreiben, denn sie sind alle noch genau so böse wie vor
sechs Jahren auf Dich und höchstens noch mehr. Aber Hans’ Wunden von
Dir sehen schneidig aus, wie’n Korpsstudent.

Und indem ich noch zum Schluß mit einer Kusine zusammen in die Pension
komme, bleibe ich Deine

            Liselotte Windemuth.

P.S. Es ist niemand gestorben in Schwarzhausen, und ich weiß meine neue
Adresse nicht richtig, und ich grüße Dich! --«

O gewiß, es war nur ein dummer Brief eines kleinen Mädchens, aber er
war so ganz aus der echten Liselotte heraus geschrieben. Mit diesem
Briefe in der Hand träumte sich Bertold in die kargen Freudenstunden
seiner Kindheit zurück, und all das Trübe und Häßliche versank in den
äußersten Winkel des Erinnerns.

       *       *       *       *       *

Schwarzhausen alterte nicht. Es blieb jahraus, jahrein das hübsche,
schmucke Städtchen, dessen äußere Schäden sofort von einem aufmerksamen
Magistrat ausgebessert wurden. Und innere Schäden wurden überhaupt
selten bemerkbar, nur einem Fremden hätte es auffallen müssen und auch
dann nur, wenn er sich allsonntäglich in der Stadtkirche die Predigt
des alten Pfarrers Klingenreuter angehört, daß das Thema vom Balken
und Splitter, vom Zöllner und Pharisäer und von den neunundneunzig
Gerechten gar so oft wiederkehrte. Aber Fremde setzten sich nicht in
die Stadtkirche, sondern stiegen zu den Bergen und Wäldern empor, und
die Einheimischen hörten die Predigt, weil die gute Sitte es wollte,
und bezogen die Pharisäer nicht auf sich. Denn es war ja des Pfarrers
Beruf, von der Sünde zu reden, auch wenn diese nirgends vorhanden
war. Also blieb Schwarzhausen leichten Gemütes, hatte ruhige Nächte,
führte eine gute Küche und erhielt sich jung. Irgend ein moderner
Leichtfuß war zwar einmal nach Schwarzhausen gekommen und hatte im
großen Saale des Gasthauses zur Thüringer Edeltanne viel hohe Worte
von Luftkurort und Sanatorium geredet und sich erboten, Bohrungen auf
Solequellen vorzunehmen, aber er war bald wieder mit »dickem Kopfe«
abgezogen, trotzdem er schwindelnd hohe Zahlen vor den Augen und Ohren
der Zuhörer aufgebaut hatte. Nicht niedergeschrien wurde er, denn die
Schwarzhausener waren durchaus nicht für Schreien und Lärmen, sondern
einfach nieder_geschwiegen_. Erst nachher hielt noch der wohllöbliche
Magistrat eine Sitzung ab und verständigte sich mit ein paar Worten
sofort, daß sie die gute Thüringer Luft selbst brauchten, daß sie auch
ohne Solbäder gesund seien und daß sie wohlhabend genug wären, um keine
Sommerfremden zu brauchen. Dann redete man noch ein Weilchen über den
Brief, der vom alten Herrn von Eik eingegangen war, und worin er der
Stadt einen bedeutenden Zuschuß anbot, falls die Bohrungen vorgenommen
würden, kopfschüttelte, zuckte die Achseln und legte den Brief zu den
Akten. --

So fand der junge Bertold Eik von Eichen ein ganz unverändertes Bild,
als er nach neun Jahren zum erstenmal seine Heimat wieder betrat.

Nur er selbst war anders geworden. Hochgewachsen und gut gebaut,
überragte er seine Altersgenossen weitaus. Das zielbewußte Arbeiten,
das Vertiefen in gute Musik und das anstrengende Üben hatten ihm etwas
Vergeistigtes gegeben, das gut zu seinem scharf geschnittenen Gesicht
paßte. Von Traumseligkeit war nicht mehr viel zu entdecken in seinen
dunklen Augen, -- etwas nachdenklich konnten sie blicken, waren aber
sonst scharf und sogar ein wenig spöttisch. Frau Franziska hatte
leicht ihre kühlen, weißen Hände auf diese Augen gelegt bei der ersten
Begrüßung.

»Was ist denn _da_ hineingekommen?« fragte sie forschend.

»Nun, -- was sieht mein Mütterchen darin?«

»Zuerst mich selbst, Gott Lob und Dank!« meinte die Mutter, »aber dann
noch tausend Teufelchen.«

Da war das alte, echte Knabenlachen erklungen, das sie so sehr liebte,
und welches sie gleich beruhigte.

»Mütterchen, kam dir Schwarzhausen nicht heute etwas wie eine Humoreske
vor?«

Sie hatte wohl dasselbe gedacht, aber doch schmerzte sie der Ausspruch
aus seinem Munde. »Sahst du nichts anderes in deiner Heimat?« fragte
sie mit leisem Vorwurf.

»Mütterchen, ich sah zuerst nur _dich_,« entgegnete er frohmütig
und umschlang sie mit beiden Armen, »du wirst bei jedem Wiedersehen
schöner!«

Frau Franziska lachte nun doch ein wenig. »Und was sahst du dann, du
Schelm?«

»Unser _altes_ Schwarzhausen! Das aussah, als hätte man es vor
neun Jahren in eine Spielzeugschachtel gelegt, den Deckel fest
draufgedrückt, damit kein Staub darauf falle, und es nun herausgeholt
frisch und neu zu Ehren des Herrn Abiturienten Bertold Eik.«

»War es ein gutes Examen, Bertold?«

»Ja, Mütterchen! Nicht mit Befreiung vom Mündlichen. Weißt du, das
litten Johann Sebastian Bach und der alte Musikdirektor nicht; beide
wollten mir die Chaconne einverleiben, die ich vor Meister Joachim
spielen soll, ehe ich nach Bonn gehe. Im übrigen war ich ja nie ein
Musterbub’ und hab’ mich auch in Mathematik und Geschichte elend
verhauen. Da hieß es denn: ›Antreten zum Mündlichen‹. Aber oberfein
war’s. Da konnte man erst zeigen, was man ~intus~ hatte. Wir kreuzten
nicht schlecht die Klingen, die Herren Schulmonarchen und wir sieben.«

»Sind alle durchgekommen?«

»Freilich, Mütterchen! Wir gaben ihnen aber Nüsse zu knacken!«

Frau Franziska lachte. »Oder sie euch, mein Junge.«

»~Ergo~, es war famos.«

»Und wie nahmen die Lehrer deinen Entschluß auf, später dem Eichenborn
vorzustehen?«

»Mütterchen, -- der prächtige Doktor Gabriel war eigentlich der
einzige, der so mit mir drüber sprach, wie es nottat. Im ganzen finde
ich’s ja nett, daß es in E. noch so patriarchalisch zugeht und die
Tyrannen der Schulbank so gemütlich mit den Mulis zusammenkommen,
-- aber nur Doktor Gabriel sprach mir ernstlich zu, bevor ich zur
Universität gehe, noch mal vor den Großvater zu treten, ihn zu bitten:
›Laß mich Musiker werden!‹ Und dabei das stramme und doch gütige Wort:
›Kopf hoch, Eik!‹ Das tat mir wohler, als die Moralpauke über das
vierte Gebot, die mir Doktor Mops und die Schildkröte hielten. Ebenso
gaben der Patagonier, der Gesprächsgegenstand und der Schreibkrampf
noch ihren Senf dazu. Ach, und mir nützt das so gar nichts!«

Bertold sah mit einem Male sehr bekümmert aus. »Ich weiß nicht,
Mütterchen, ob du mich verstehst, wie mir zumute ist, so abseits zu
stehen, wenn die andern mit tausend Masten segeln.«

»Hat Doktor Gabriel keinen Spitznamen?« fragte Frau Franziska, sehr
beflissen, Bertolds Gedanken von seinem letzten schmerzlichen Ausruf
fortzulenken.

»Freilich, Mütterchen, -- Erzengel heißt er, und -- und er möchte so
gern mit Großvater sprechen -- --«

»Bertold! Wenn du ihm und uns doch das ersparen könntest! Kannst du dem
Großvater nicht wenigstens deinen guten, ehrlichen Willen zeigen?«

»Mütterchen, ich _habe_ hierin keinen guten ehrlichen Willen. Sieh’,
ich würde ja gern die Universität beziehen, wenn ich Arzt werden
dürfte. Lieber als alles aber ist mir die Musik. Darf ich weder Arzt
noch Musiker werden, dann ist mein Platz auf Eichenborn, wo junge
Kräfte unbedingt nötig sind. Für Frau Musika und für Eichenborn sind
die zwei Universitätsjahre vergeudete Zeit.«

»Und für dich?«

»Für mich auch, -- -- das heißt -- -- Mütterchen, -- ich habe nun mal
kein Verständnis für Familienüberlieferungen, die einen so dingfest
machen, wie mich jetzt eben.« Bertold lief im großen Zimmer auf und ab,
genau wie es der Großvater tat, wenn er erregt war.

»_Mein_ Junge!« -- Frau Franziska streckte ihm bittend die Hände
entgegen, und er hielt in seinem Sturmschritt inne. »Gott weiß, ob ich
dich verstehe. Aber, -- was wir haben und sind, verdanken wir deinem
Großvater. Ich -- -- ich -- sieh’, Bertold, -- ich wüßte gar nicht, wo
wir die Mittel zum Studium hernehmen sollten, wenn wir uns gegen meinen
Vater vertrotzten.«

»Das verstehe ich nun wieder nicht,« fiel Bertold erregt ein. »Soviel
ich weiß, war deine Mutter doch, wie alle Dannenbergs, sehr reich,
-- -- hat denn mein Vater alles -- -- ich meine -- -- --«

Frau Franziska war sehr blaß geworden. »Das war ein Irrtum, Bertold,
Mutter war nicht reich, nicht einmal wohlhabend, -- -- ich bin ganz
arm -- --«

Bertold schüttelte den Kopf und seufzte. »Der ganze Eichenborn ist ein
Geheimnis,« meinte er sinnend. »Es müßte schön sein, Mütterchen, wenn
man einmal alles wüßte und Unrecht von Recht sondern könnte. Und dann
allen Menschen klar in die Augen sehen. Manchmal habe ich schon gedacht
-- -- es klebe unrecht Gut --«

»Bertold! Nein, nein! Sieh’ auf deine Worte! Wenn dich der Großvater
hörte!« Franziska zog ihren Sohn neben sich auf das niedrige Sofa. Da
hatte sie oft mit ihm gesessen, als er noch ein kleiner Junge war, --
Bertold liebte das alte Möbel mit seinen vielen Erinnerungen. »Nein,
mein Junge, -- unser Eichenborn trägt kein unrecht Gut. -- Viel, viel
Schuld und Fehle anderer Art wohl -- -- verjährte Geschichten, aber die
sollen meines Bertolds Augen nicht verdunkeln.« Sie küßte ihn, und er
atmete erleichtert auf.

Frau Franziska lehnte ihren Kopf an Bertolds Schulter. »Wie gern hülfe
ich dir! Ich leide am meisten unter meiner Armut und -- daß ich meinem
Einzigen nicht helfen kann.«

Bertold umschlang sie fest mit beiden Armen. »_Du_ sollst nicht leiden,
Mütterchen,« rief er zärtlich und küßte sie knabenhaft stürmisch. Dann
bettete er sie wieder sorglich an seine Brust und sah auf den lieben,
schönen Kopf herunter. War es denn möglich, daß sich schon so viele
weiße Fäden durch das dunkle Gelock zogen? Wie er seine Mutter liebte!
Wie viel sie gelitten haben mußte! Durch ihn, Bertold, sollte ihr nur
Freude und Gehorsam kommen, das war sein Entschluß.

»Jetzt sage ich zu _dir_: ›Mütterchen, Kopf hoch!‹« versuchte er zu
scherzen. »Wir wollen nachher zum Großvater gehen und alles Nötige
wegen Bonn besprechen. Vielleicht kommt ihm auch selbst der Gedanke,
daß ich hier am nötigsten bin.«

Frau Franziska sah halb zweifelnd noch in das liebe, ehrliche Gesicht
ihres Jungen. Aber darin war nur ein fester Entschluß und mannhafte
Entsagung zu lesen. »_Mein_ Junge!«

»Mütterchen?«

Sie sahen sich beide wieder froh in die Augen und dachten nur daran,
daß sie beisammen waren.

Nach einer langen Weile des Schweigens meinte Frau Franziska: »Sahst du
die Liselotte Windemuth, als wir an der Kirche vorüberfuhren?«

»Ja, Mütterchen.«

»Sie ist groß geworden und sehr hübsch, Bertold. Das lange,
schwarze Kleid veränderte sie heute etwas, und die Feierlichkeit der
Konfirmation lag noch ganz auf ihrem Schelmengesicht.«

»Wie ist sie innerlich, Mütterchen?«

Die Frage klang seltsam, und ein Ton schwang mit -- Franziska hätte
keine Frau sein müssen, um die Worte nicht sofort als etwas Besonderes
aufzufassen. Sie hob den Kopf von der Schulter ihres Jungen und sah ihn
prüfend an. Da wurde er rot bis unter den dunkeln Lockenschopf.

»Deine erste Liebe, Bertold,« neckte die Mutter zärtlich. »Wie sie
sich entwickelt hat, die kleine Liselotte? Nun, wie ein Mädchen, das
keine Mutter hat und sich immer im Kampf mit halbgebildeten Hausunken
befindet. Wie ein Mädchen, das einen Vater hat, der in ihr den
ersehnten Buben vermißt und sie mit Gelehrsamkeit vollpfropft, -- einen
Knopf wird sie sich wohl nicht annähen können.«

»Mir schien, sie hatte heute alle Knöpfe am Kleidchen,« bemerkte
Bertold mit leisem Humor, und die Mutter lächelte.

»Willst du damit sagen, daß sie sehr ›zugeknöpft‹ war?« neckte sie.
»Aber ich will Liselotte nicht verkleinern, Bertold. Sie ist anders
als die Schwarzhausener Mädchen, und das kann ihr ja nur zum Vorteil
gereichen. Und aus der Pension, wo das arme Geschöpf sechs Jahre
verbleiben mußte, ist sie verändert wiedergekommen.«

»Verbildet? Mütterchen?«

»Nein, im Gegenteil. Das ›_arm_‹ bezog sich auf die Tatsache, daß
man so ein Mutterloses zu lange dem Vaterhause entfremdete. Aber dem
alten Jüngferchen, das dem Institut vorstand, verdankt Liselotte viele
unvergängliche Werte. ›Mütter werden _geboren_‹, sagt irgend ein
Großer, und diese alte Jungfer war eine echte Mutter!«

»Woher weißt du das alles, Mütterchen?« Bertold drückte die Erzählende
plötzlich zärtlich an sich, so als wäre der Ausspruch über jenes alte
Jüngferchen überaus beglückend für ihn.

»Von Liselotte selbst. Wir treffen uns manchmal am Tempel der
Geselligkeit unten im Park. Ich las diesen Namen in der Eikchronik. Es
waren damals wohl andere Zeiten für die Eiks, -- jetzt könnte man ihn
Tempel des Schweigens nennen.« Frau Franziska seufzte.

Sie löste sich leicht aus den Armen ihres Sohnes und strich sich Haar
und Kleid glatt. Denn es hatte an die Tür geklopft; der junge Diener
meldete irgendeinen Namen, und vor Mutter und Sohn stand gleich darauf
eine hochgewachsene, schlanke Mädchengestalt.

»Ich wollte meinen Dank für die Blumen selbst bringen,« sagte Liselotte
Windemuth.

Die Einleitung war nicht sonderlich geistreich oder verblüffend, aber
Bertold wußte nicht ein Wörtchen zu entgegnen oder sich selbst mit
irgendeiner passenden Redensart nach neun Jahren wieder vorzustellen.
Er, der den Herren Examinatoren »Nüsse zu knacken« gegeben, stand blöde
und stumm vor der Jugendgespielin.

Liselotte sah nicht gerade freundlich auf ihn hin. Sie hatte sich von
den Gratulanten fortgestohlen und selbst dem amüsanten, strahlenden
Leutnant Hans von Windemuth den Rücken gekehrt, um Bertold in der
Heimat willkommen zu heißen. Er war ihr ja fremd geworden, aber es
war so eine Art heißer Trotz gewesen gegen den moralischen Dünkel der
Schwarzhausener, sich plötzlich zu den Eiks zu bekennen, gerade als man
den heimgekehrten Bertold wieder einmal zwischen die Scheren nahm.

Und nun tat der einstige Freund nicht dergleichen, stand abseits mit
seinem düstersten Gesicht und schaute sie an, als empfände er ihre
Störung höchst lästig, ja als wollte er sie beinahe verschlingen.
Von beidem war ein Körnchen Wahrheit vorhanden, -- dem Bertold
war unglaublich beklommen zumute, und dabei fand er doch die
erwachsene Liselotte mit dem Mozartzopf und den großen Schleifen so
wunderniedlich, daß er sie nur immer und immer anschauen mußte. Es
war ja die alte Liselotte, und sie war es auch wieder nicht. In die
Augen des jungen sechzehnjährigen Menschenkindes war etwas getreten,
ein Ausdruck, den sich der Achtzehnjährige nicht zu deuten wußte. Denn
er sah beinahe wie »Hunger« aus, und wonach hätte die Liselotte wohl
hungern sollen?

Sogar eine große Erbschaft hatten die Windemuths gemacht, und Liselotte
plauderte sehr unbefangen über ihre veränderten Verhältnisse, daß sie
nun mit dem Vater reisen wolle durch das In- und Ausland, erzählte
auch, daß ihre Konfirmation eine Art von Familientag bedeute, denn
durch die Erbschaft seien die adligen Windemuths arg benachteiligt
worden, und da sollte nun ein Vergleich geschlossen werden.

Aber was sie auch plauderte, es riß Bertold nicht aus seinem
schweigenden Anstarren, denn weit interessanter als die Erbschaft
dünkten dem Jungen die blonden, eigensinnigen Löckchen, die sich so
lieblich über der weißen Mädchenstirn krausten, und die trotzigen,
stahlblauen Augen, in die richtig hineinzuschauen er sich doch nicht
einmal getraute. -- Zwei Dinge, zwei sonst so sehr wichtige, waren
überhaupt im Gespräche nicht berührt worden: die Geige -- und Puppe
Emmy.

»Du warst nicht höflich zu Liselotte,« meinte Frau Franziska
nachdenklich-vorwurfsvoll zu ihrem Jungen, als der Besuch sich entfernt
hatte.

»Höflich? Zu Liselotte? _Höflich???_« fragte Bertold verblüfft. Er
hätte am liebsten den ganzen Tag immerfort gestaunt und hätte es für
das einzig Richtige gehalten, mit diesem kleinen, süßen Mädchen gar
kein einzig Wort zu reden, es nur immer anzusehen und zu bewundern.
Höflichkeit war für irdische Menschen, aber nicht für den ersten Engel,
der zum Eichenborn herniedergestiegen war.

Tief enttäuscht schritt Liselotte heim.

Ihr Hinüberlaufen in den Eichenborn war ganz impulsiv gewesen.
Sie hatte den Jugendfreund sofort erkannt, als sie aus der Kirche
trat. Er saß neben seiner Mutter im Eikschen Viktoriawagen mit den
stadtbekannten schönen Apfelschimmeln, und die festen hellen Koffer mit
den leuchtenden Messingbeschlägen schienen vom Kutschbock herunter zu
lachen: »Bertold kommt wieder.« Und nun war er _so_ wiedergekommen.

So düster und ungesellig wie nur je. Steif und fremd hatte er
dagestanden, -- oh und sie hätten sich doch eine Menge zu erzählen
gehabt! Liselotte dachte gar nicht entfernt mehr daran, daß sie
ja ursprünglich das »Karnickelchen« gewesen war, sie tobte sich
rechtschaffen aus und arbeitete sich in einen tiefen Groll gegen den
»Unnahbaren« hinein.

Wäre sie doch nur nicht zuerst in den Eichenborn gegangen!

Hätte sie doch lieber erst Vetter Hans ins Vertrauen gezogen!

Neun Trennungsjahre hatten doch wohl eine zu tiefe Kluft gerissen, und
ihr lebhaftes Temperament hatte diese zu rasch überbrücken wollen. Nie,
nie würde sie wieder ungebeten den Eichenborn aufsuchen, nie!

Und sie, Liselotte Windemuth, glaubte nun auch, was sich alle von
Bertold erzählten: Düster und greulich und hochmütig war er und -- -- --

So kam es, daß, als Bertold sich in seinen Träumen recht eng mit der
Jugendgespielin verknüpft fühlte, er in Wirklichkeit weit -- weit ab
von ihr weilte. --

Haus Eichenborn versank nach Bertolds Abgang zur Universität noch ein
wenig mehr in Dornröschenschlaf.

Von außen und in einzelnen Teilen auch von innen, hätte man es mit
Recht für ein verwunschenes Schloß halten können, besonders, wenn man
Fräulein Adelgundes graue Gestalt am Spinnrade erblickte, oder wenn
man die alte Dame vor Beethovens Spinettchen sitzen sah, das unter dem
weichen Anschlag ihrer runzeligen Hände zitternde Klänge hinaussandte
durch das rosen- und efeuumrankte Fenster in den stillen verwachsenen
Park.

»Einsam wandelt dein Freund im Frühlingsgarten, Adelaide -- --«

Und von Beethoven, dem alten Meister, war es der Spielenden nur ein
kurzer Gedankensprung zu dem lieben Jungen, dem die Musik eine Kapelle
und Beethoven der Heilige darin dünkte. Tante Adelgunde hatte es dem
Knaben nie vergessen, daß er sich einst nicht würdig genug befunden
hatte, die Tasten auf dem Spinett zu berühren, das Beethovens Hände
gemeistert.

Mit klaren Augen und scharfen Ohren, zu denen sich ein junges, warmes
Herz gesellte, verfolgte die beinahe Neunzigjährige den Lebenslauf des
Großneffen.

Seine Briefe aus Bonn waren stärkender Wein und heilkräftige Arzeneien
für sie; Frau Franziska mußte ihr jede Epistel des Fernen bringen und
ihr vorlesen, dann wurde sie abends vor dem üblichen Schachspiel dem
Bruder noch einmal laut verlesen, hierauf nahm Tante Adelgunde den
Brief mit in ihr Schlafgemach und plauderte noch mit Frau Therese
Teichmann, während diese ihr kleine Handreichungen verrichtete, über
den Studenten, der beiden so sehr ans Herz gewachsen war. Die Ferien
führten Bertold nur auf kurze Tage in den Eichenborn, die übrige Zeit
dagegen hinaus in Gottes weite Welt. Und auch hier war wieder seine
Mutter sein treuer Reisekamerad, der mit so feinem Verständnis dem
Jüngeren sich anpaßte. Frau Franziska hatte auch an manchem Kommers,
sowie an einigen Ausflügen teilgenommen und die Kommilitonen verehrten
die schöne, ernste, jugendliche Mutter des Eik und achteten das enge,
innige Verhältnis zwischen Mutter und Sohn. --

Freundschaften wurden geschlossen und begeisterte Berichte hierüber
von Bertold heimgesandt, die die Vortrefflichkeit des Erkorenen in
begeisterten Worten schilderten, nie aber spielte irgend eines der
schönen, lebhaften, übermütigen, rheinischen Mädchen eine bedeutendere
Rolle in Bertolds Leben, so scharf auch Frau Franziska beobachtete,
wenn sie ihn in Bonn besuchte, und so aufmerksam sie auch zwischen den
Zeilen seiner Briefe las.

Trotzdem munkelten alle Schwarzhausener Bürger von einem tollen
Liebeshandel, als Bertold ein Säbelduell mit einem blutjungen
Husarenoffizier austrug.

Bertold lag sehr lange in der Klinik, und dann hatte er eine tiefe
Narbe über der Stirn von der dunkeln »Tolle« bis zur kühngezeichneten,
dichten Augenbraue des linken Auges ... das war wieder einmal etwas für
das Städtchen.

Dieses letzte hatte ja noch gefehlt zur Charakteristik des bösen Buben:
»~cherchez la femme~!« Noch so jung -- und schon _so_ Etwas.

Was dies Etwas gewesen war, wußte man nicht genau, aber man redete doch
laut und zischelte leise über das schwarzhaarige, junge Ding in Bonn am
Rhein, das den jungen Eik betört, um derentwillen der Zweikampf mit dem
Offizier stattgefunden hatte.

Auch Base Juliane verfehlte nicht, den interessanten Fall dem Professor
Windemuth mitzuteilen und Liselottes Gesicht überflog jedesmal eine
brennende Röte, wenn sie den Namen des Jugendgespielen nennen hörte,
beinahe immer mit einem Zusatz, von denen noch der mildeste war: »Kind,
den jungen Eik guck’ nur nie wieder über’n Weg an. Wie _der_ sich
aufführt! Wenn wir noch nicht genau wußten, _wer_ der schlechte Kerl in
Eichenborn ist, jetzt wissen wir’s.«

Professor Windemuth schüttelte in ehrlichem Bedauern den Kopf. »Schade,
schade um den Jungen! Ein begabter Mensch! Ein hübscher Kerl! Ein
musikalisches Genie, und nun will er sich zum Raufbold auswachsen?
Schade um die nutzlos vergeudete Kraft!«

Liselotte war und blieb ein wunderliches Ding. Sie vergoß sogar
heimliche Tränen über den Bertold Eik, trotzige Tränen, über deren
Ursprung sie sich gar nicht klar wurde. Sie führte auch immer noch
gelegentliche Selbstgespräche, was sie bei Base Juliane erst recht in
den Geruch einer »überspannten Lise« brachte, und da Puppe Emmy schon
so lange tot und verschwunden war, hielt sie Zwiesprache mit Bäumen
und Blumen und irgendeiner unsichtbaren Person, zu welcher sie ehrlich
sagte: »Pfui schäm’ dich, Bertold!«

Als Bertold nach der Verwundung übersiedlungsfähig war, holte ihn
Frau Franziska nach dem Eichenborn, um ihn gesund zu pflegen. Noch
ein anderes Geschöpf kam ebenfalls zur Pflege nach Eichenborn, ein
unglaublich häßlicher Pudel, der genau so verklebt und verbunden war
wie der junge Herr von Eik, und von dem man munkelte, daß er dem
»jungen, reizenden Ding vom Theater« gehört habe.

Bertold war ziemlich matt von Stubenluft und Blutverlust, er konnte
wohl schon auf Stunden aufstehen, aber er streckte sich noch immer mit
ganz besonderem Wohlgefühl in seinem Bette aus; vielleicht war ihm auch
der Anblick seiner sorgsamen Pflegerin, Mütterchen genannt, ein ganz
besonders lieber, den er auszukosten wünschte. Er brauchte nicht mehr
so streng mit Gesprächen und Aufregungen verschont zu werden, sondern
konnte schon wieder einen Puff vertragen und dieser Puff war ihm auch
von Tante Adelgunde nicht vorenthalten worden.

»Schlachtergesellen sind vom Eichenborn seiner Lebtage nicht zu
seinesgleichen gerechnet worden«, hatte sie mit ihrer feinen, dünnen,
alten Stimme zu Bertold gesagt. »Und ihr Raufbolde habt euch wie
Schlachtergesellen verhackstümmelt. Schäm’ dich! Der liebe Gott hatte
dich als hübschen Jungen erschaffen, jetzt gibt dir kein einigermaßen
hübsches Mädel je wieder einen Kuß.«

Wahrhaftig, der Junge konnte noch lachen, -- nicht mal verlegen,
sondern frisch, frei, frohmütig, so, wie nur er es verstand, echt aus
dem Herzen heraus. »Wieder? sagst du? Wieder? Tante Adelgunde? Meiner
Seel’, ich hab’ noch nie einen Kuß von einem Mädel gekriegt.«

Ganz ehrlich klang es, aber er brauchte doch nicht so krebsrot und
verlegen hinterher zu werden, -- es war also geschwindelt und Tante
Adelgunde verließ ärgerlich und aufgeregt den Kranken.

Frau Franziska hantierte ruhig und ernst im Krankenzimmer und bereitete
alles für die Nacht vor, die Bertold nun nicht mehr mit einem gelernten
Wärter, sondern nur noch unter Obhut von Hieronymus Teichmann
zubrachte, der im Nebenzimmer sein Lager aufgeschlagen hatte.

Bertold betrachtete sein Mütterchen mit einem humorvollen Lächeln.

»Wie schlecht du dich verstellen kannst, Liebstes«, meinte er leise
und ergriff ihre Hand, die ein Glas frischen Wassers auf das
Nachttischchen setzte. »Deine Augen fragen den ganzen Tag und ebenso
dein Mund, trotzdem er nur das Notwendigste mit deinem bösen Buben
spricht. Soll ich nun jetzt antworten, Mütterchen?«

Frau Franziska beugte sich über ihren Sohn, sah ihm ein Weilchen in die
Augen und küßte ihn dann auf die Stirn.

»Hast du es _doch_ gemerkt, du Siebengescheidter?« lachte sie leise und
verlegen auf, während helle Röte über ihr Gesicht flog. »Schön und gut,
ich erwarte deine Beichte. Aber gleich eins sage ich dir vorher.« Frau
Franziska reckte sich hoch auf. »Ich glaube _nichts_ von dem Unsinn,
den die Schwarzhauser über dich verbreiten und ich werde dir selbst
nicht glauben, wenn du mir jetzt etwa tolles Zeug vorreden willst.
_Mein_ Junge bist du und ich bin dein treuer Kamerad. Unbesonnen und
jähzornig kannst du handeln, aber nicht niedrig oder unritterlich, es
ist einfach nicht möglich -- und auch mit dem Mädel -- ich glaub’s
nicht, -- mein Bub ist höchstens in _mich_ verliebt, -- gelt, Bertold?«

Ein wahres Leuchten zog über des jungen Burschen Gesicht. »Gibt es nun
wohl noch _eine_ solche Mutter?« lachte er glücklich. »Wie du mich
kennst, deinen wilden Jungen! Komm her, Altchen, ganz nahe zu mir.«

Er zog die Mutter auf die Bettkante, wo sie sich möglichst bequem
hinsetzte und schmiegte sich in ihren Arm. »Also nur neugierig
ist meine kleine alte Dame?« fragte er zärtlich, -- »kein bißchen
mißtrauisch, trotz Schwarzhausen und angrenzender Raubstaaten? Aber ehe
ich dir mein kurzes, gar nicht sehr interessantes Erlebnis schildere,
muß ich erst von dir hören, wie rabenschwarz man mich in unserer lieben
Vaterstadt anstreicht.«

Frau Franziska erzählte ruhig und sachlich. Es wurde ihr nicht ganz
leicht, denn die Schwarzhausener waren hart und bös mit ihrem Jungen
verfahren, und sie vermochte es nicht über sich, vor Bertold das
ganze Gewebe von Häßlichkeiten auszubreiten. Immerhin blieb noch ein
großer Teil unguter Verleumdungen übrig und Bertold mußte erst ein
paar Mal rasch und heftig aufatmen und tapfer tausend Bitterkeiten
hinunterschlucken, ehe er antworten konnte.

»Armes Mütterchen!« sagte er zuerst nur. Dann legte sich ein
altmachender, verächtlicher Zug auf sein offenes Knabengesicht, so daß
Frau Franziska sacht glättend mit der Hand über seine Stirn strich.
Gerade diesen Zug mochte sie am wenigsten an ihm sehen, er tat ihr mehr
weh, als irgend sonst etwas.

»Es ist eigentlich schade, daß die Leute ihre Phantasie an eine so
kleine, unbedeutende Tatsache hängen,« meinte er spöttisch. »Du wirst
lachen, mein Liebes, wenn du siehst, was für ein harmloses Mäuslein der
kreisende Berg zur Welt bringt.«

»Je weniger es ist, desto lieber ist’s der Mutter von Bertold Eik,«
erwiderte sie einfach, »erzähle mir alles.«

Nun ja, der Jähzorn war wieder einmal mit ihm durchgegangen, aber
Mütterchen würde sich wahrscheinlich auch nicht beherrscht haben in
solch unwürdiger Sachlage.

Bertold schmiegte sich wie ein Kind behaglich in den Mutterarm:

»Ein schöner, sonniger Morgen war’s,« erzählte er, »und ich wollte
mir einen kleinen Brummschädel wegbringen durch rasches, kräftiges
Zuschreiten. In der Nähe vom Münsterplatz, ich nicke immer gern dem
Beethoven erst mal zu, ehe ich an mein Tagewerk gehe. -- Da höre
ich ein Jammergeschrei und Jammergeheul gleichzeitig von Mensch und
Vieh und finde ein scheues, sich bäumendes Pferd, an dem ein Pudel
unaufhörlich schnappend in die Höhe springt, und finde meine kleine
~filia hospitalis~ -- Mutterle, du kennst ja die schwarze Gretel --
die hat die Leine verloren, an der sie den Pudel halten soll, und wie
sie mich sieht, schreit sie wie besessen »Herr von Eik, Herr von Eik!«
und fällt mir beinahe um den Hals. Helfen konnte ich gar nichts, der
Offizier brachte sein Pferd selbst zur Ruhe, sprang ab und übergab es
seinem Burschen, der hinter ihm ritt.

Aber nun nahm er den Pudel vor, der ja wohl auch Prügel verdient hatte,
aber -- -- -- brrr!« Bertold schüttelte sich. »Na Mutterle, du weißt
ja, was für ein sieches, krüppeliges Jammergestell aus dem Pudel
Fidelio geworden ist -- -- ich riß ihn dem Leutnant aus den Fäusten
-- -- es war nicht schön, Mütterchen -- -- ja -- so kams.«

»Ihr wurdet handgreiflich?« fragte Frau Franziska leise.

»Was heißt da handgreiflich -- Mutterchen -- zwei neunzehnjährige
Kerle, denen beiden der Jähzorn im Nacken sitzt. Am andern Tag war
das Duell -- ich habe für mein Leben den scheußlichen Schmiß weg, der
mir noch genug Kopfschmerzen machen wird, und dem Leutnant von Senz
habe ich die Nase gespalten -- -- Tante Adelgunde hat ganz recht:
›Schlachtergesellen!‹«

»Du böser Wilder!« Frau Franziska strich sanft über die rote Narbe;
»du wirst dich nun umlegen und ganz ruhig schlafen viele Stunden lang,
damit das Fieber nicht wiederkommt.«

»I, das ist ja schon da, Mütterchen,« lächelte Bertold matt, »und da
schadet es nichts, wenn ich dir noch rasch sage, daß die schwarze
Gretel mir den zerschlagenen, geschundenen Pudel samt seinen
gebrochenen Rippen schenkte, weil sie meinte, ich hätte ihr und ihm das
Leben gerettet -- -- --«

»Schlaf, mein Junge!«

Frau Franziska erhob sich und verließ sacht das Zimmer. Vor der Tür
lag Fidelio. Trotz seiner Schmerzen schleppte sich der kluge, häßliche
Hund immer wieder in die Nähe Bertolds, und Franziska ließ den Pudel
gewähren, dessen Tage trotz guter Pflege gezählt waren -- man hatte dem
armen Tier gar so bös mitgespielt.

Sie dachte an die kleine ~filia hospitalis~, die ihre Nelken und
Geranienstöcke am Fenster plünderte, damals als der Bertold in die
Klinik kam -- die Mutter mußte ihm jede Blüte mitgeben. So ein gutes,
kleines, dankbares Ding! Und aus dem mageren, verwachsenen Persönchen,
das im Theater in dem Garderoberaum mithalf, weil es zu schwerer Arbeit
zu schwach war, hatten die Schwarzhausener ein ȟppiges, tolles,
schwarzes Theaterfräulein« herausphantasiert!

Gottlob, daß es Phantasie war. Sie tat ja weh, doch das würde
vorübergehen -- ihr Junge gehörte noch ihr, der Mutter, und das war für
das Mutterherz die Hauptsache. --

Der Großvater sah Bertold erst, als er sich schon wieder zur Abreise
nach der »Universität« rüstete. Diesmal setzte er sich selbst die
Gänsefüßchen in Gedanken vor das Wort. Denn er mußte erst einmal drei
Monate auf eine andere Art studieren, aber auch sein Mütterchen vermied
das Wort »Festung« und sprach immer nur von der Universität Bonn.

Nun hatte Bertold sich noch durch Teichmann in einer kleinen
Privatangelegenheit beim alten Herrn melden lassen und das Gespräch
zwischen Großvater und Enkel war sonderbar genug.

»Ich hatte dir deinen Wechsel schon durch deine Mutter zustellen
lassen« -- empfing Eik ~senior~ den Enkel.

»Es bedarf nicht noch eines besonderen Dankes, Bertold. Was wünschest
du sonst?«

»Die Erlaubnis, meinen Hund Fidelio im Park beerdigen zu dürfen,
Großvater.«

»Deinen Hund? Ist es der schauderhafte Pudel, den du aus Bonn
herschlepptest?«

»Jawohl, Großvater.«

»Man sagt -- -- hm -- er hätte einem Frauenzimmer gehört? Ist’s so?«

»Ja Großvater.«

»Die dir wert war? Du fängst früh an, Bertold, ich wünschte, du ließest
dir zu derartigen Sachen noch Zeit.«

»Mir war das Mädchen fast unbekannt. Ein armes, verwachsens Geschöpf,
älter als ich -- --«

»Du sprichst die Wahrheit? -- --«

Diesmal folgte als Antwort nur ein fester Blick.

»Also wieder einmal Schwarzhausener Geträtsch?«

»Ja Großvater.«

Laut und bitter lachte der Alte auf. --

»Bertold, dein Weg wird wahrscheinlich noch rauher, als der meine es
war. Verstehst du das, mein Junge?« Es war das erste Mal, daß eine
so gütige Bezeichnung erfolgte und Bertold empfand es mit dankbarer
Freude. »Du hast das unglückliche Temperament der Eiks, daneben aber
noch einen ganz unvernünftigen Idealismus, der dir -- hm -- wohl von
anderer Seite vererbt ist.«

Herr von Eik ~senior~ schritt jetzt im Zimmer auf und ab, man sah, daß
ihm die Trennung vom Enkel zu schaffen machte.

»Sich für ein unbekanntes, häßliches Weib aus dem Volke zersäbeln und
außerdem drei Monate aufbrummen zu lassen, ist der Gipfel der Dummheit;
auch für das Hundewrack, das du mit herschlepptest, fehlt mir das
Verständnis, obwohl wir Eiks alle Ursache haben, die stumme Kreatur
der schwatzenden, hechelnden, verleumderischen, hetzenden vorzuziehen.
Deinen Begräbnisplatz für das Vieh sollst du haben, komm mit.«

Bald darauf standen Großvater und Enkel vor dem Gesellschaftstempelchen
im Park, und Bertold sah sich nach einem geeigneten Platze um. Das tote
Tier lag, in ein Leinentuch geschlagen, unter der Tannengruppe; Bertold
hatte Schaufel, Hacke und Rechen mitgenommen.

»Hier!« rief der Großvater rasch und lebhaft und bezeichnete seinem
Enkel die Stelle, wo dieser graben sollte. Bertold war es froh ums
Herz, wie seit langer Zeit nicht. Er fühlte zum erstenmal bewußt,
daß er dem alten Eik verwandt war und die Zukunft, in der er mit dem
Großvater gemeinsam arbeiten sollte, sah ihn nicht mehr so fremd und
kalt an. Mit jedem Spatenstich, den er tat, wurde es ihm freier ums
Herz; es war ihm, als seien in dem verhüllten Bündel alle seine und
Mütterchens Sorgen verborgen, die er nun für immer verscharren wollte.

Vielleicht bewegten den alten Eik ähnliche Gedanken, er erschien dem
Enkel aufgeräumt und munter wie nie zuvor. Mit Interesse verfolgte er
das Ausschaufeln der Grube, half dann dem Enkel die Last hineinzusenken
und setzte sich beschaulich auf die Bank des Tempelchens. Als Bertold
die Öffnung zuschaufelte, fiel ihm etwas auf.

»Großvater«, rief er lebhaft, »hier daneben ist noch ein Grab, -- da
liegt gewiß schon ein vierbeiniger Eichenborner Hausgenosse.«

Wie sonderbar doch der Großvater war! Er lachte mit einem Male rauh und
schallend auf und schaute den Enkel belustigt mit wetterleuchtenden
Augen an.

»Nein Bertold, da ruht eine _Staatsdame_«, rief er zurück, und dann sah
ihn Bertold mit wuchtigen Tritten nach dem Herrenhause schreiten.

Kopfschüttelnd blieb der Enkel zurück.

       *       *       *       *       *

Schwarzhausen schwelgte in der Behaglichkeit des Rechthabens. Es war
alles bis auf das I-Tüpfelchen eingetroffen, was man seit zehn Jahren
vorhergesagt.

Bertold Eik taugte wirklich nichts. Der Ehrenhandel, den er in Bonn
ausgefochten hatte, mußte etwas ganz Unsauberes gewesen sein, denn der
Student saß im _Gefängnis_.

Man wußte nicht recht, sollte man empört sein über dies Vorkommnis,
das eine der angesehensten Schwarzhauser Familien betraf, oder sollte
man das Behagen überwiegen lassen, daß endlich einmal etwas Richtiges
in Schwarzhausen passierte. -- Es half nichts, daß ~Dr.~ Hempel und
Pfarrer Klingenreuter jedem, der es hören wollte, das Wort »Festung« in
die Ohren schrie, die lieben Mitbürger wurden dadurch weder gescheidter
noch wohlwollender. Und als irgendeiner von den »ganz Klugen« aus Fritz
Reuters »Festungstid« nachwies, daß in den Kasematten hauptsächlich
»Königsmörder« untergebracht würden, wurden die Mutmaßungen immer
geheimnisvoller und belastender für den Übeltäter. Man brauchte auch
nur Frau Franziska, die bedauernswerte Mutter anzusehen, um zu spüren,
daß das nichtsnutzige Leben ihres Einzigen ihr beinahe das Herz brach.
Wie sie aussah, -- so blaß, so erschöpft und hinfällig! Sie war doch
noch jung und die Nachtwachen und Krankenbesuche, die sie seit einiger
Zeit aufgenommen, konnten unmöglich solche Verheerungen in ihrem Körper
anrichten. --

Man fing wirklich an, die »arme« Frau aufrichtig zu bedauern, die solch
ein Kreuz zu tragen hatte, und den alten Herrn von Eik dazu, der seinen
herrlichen Besitz einst solchen unwürdigen Händen überlassen mußte. Man
sah jetzt Frau Franziska täglich.

Was man ursprünglich in edlem Zorn und Gerechtigkeitsgefühl für
Haus Eichenborn vom Himmel erfleht, nämlich eine kleine, reinigende
Sintflut, das kam mit einem Mal höchst unbegründet für ganz
Schwarzhausen, der Typhus. Wie aber nicht anders zu erwarten, war auch
hier die Quelle des Übels der Brunnen im Eichenborn, aus dem seit
uralten Zeiten die Mägde aus der Stadt das Brunnenwasser holten. Man
hätte doch vorsichtiger sein und von dem Augenblicke an, da Bertold
Malcroix sich zum Taugenichts auswuchs, den Eichenborn überhaupt meiden
sollen. Nun wurde er zum »~mal croix~« für ganz Schwarzhausen. Irgend
ein Schlingel des Städtchens, der viele krumme Wege ging, Vogelnester
ausnahm und reifes und unreifes Obst stahl, machte sich wichtig und
erzählte, daß er nach der Krankheit des jungen Herrn Bertold und kurz
vor dessen Abreise den alten Herrn mit seinem Enkel im Parke gesehen
habe, wie sie ein großes, geheimnisvolles Bündel in die Erde vergraben.
Man hätte dem als verlogen und diebisch bekannten Jungen sonst nicht
die einfachste Mitteilung geglaubt, aber diese Nachricht schlug ein
und zündete sofort. Der Erzähler wurde beinahe der Held des Tages
und in der Parochialschule umstanden ihn die Schüler, auf der Straße
die Bürger und seine Wahrnehmungen wurden andächtig aufgenommen.
Natürlich schwoll sein Kamm und je öfter er die Geschichte erzählte,
desto unheimlicher wurde der Inhalt des Bündels. Der Schauplatz des
Begebnisses verschob sich immer mehr, bis er schließlich nahe der
Quelle alles Übels, dicht vor dem verseuchten Brunnen lag. --

Es war nur Gerechtigkeit des Himmels, daß die Seuche als erstes
Opfer den Hieronymus Teichmann forderte, ihn, der immer und ewig die
Partei des schlechten Eiks genommen hatte und auch bei den letzten
Munkeleien, die sich ja leider als nur zu wahr erwiesen, ganz aus dem
Häuschen gekommen war. Nun hatte er’s, -- nun lag er in einer der
Isolierbaracken und seine Stunden waren jedenfalls gezählt.

Daß diese Isolierbaracken und alle die Vergrößerungen und
Neuanschaffungen im Krankenhause Geschenke des alten Herrn von Eik
waren, erschien nicht mehr als billig und ebenso richtig war es
gewesen, daß Frau Franziska sich tatkräftig der Kranken und ihrer
Pflege annahm, um die Schuld des schlechten Sohnes etwas zu versühnen.

Der alte, brave Teichmann schickte sich wirklich zum Sterben _an_.

Und so ruhig war er darüber, und so wenig Macht hatten die Schmerzen
über ihn, daß seine poetische Ader nicht versiegte, sondern bis zum
letzten Atemzuge kräftig quoll. --

Sein gutes Auge leuchtete, als Frau Franziska zu ihm trat; doch gleich
darauf erlosch der Glanz wieder, und bekümmert schaute er seinen
Liebling an:

»Das Fräulein -- sollt an sich -- selber denken -- und mir nicht noch
Zeit und Weile schenken,« flüsterte er zärtlich besorgt mit matter
Stimme.

»So blaß sieht Fräulein Fränzchen aus, -- ich kann’s nicht sehn und
nicht verstehn, vielleicht liegt es am Eichenhaus, daß Lust und Freuden
dort vergehn -- --«

»Das mag wohl sein, alter lieber Hieronymus, aber davon wollen wir
jetzt gar nicht sprechen, sondern nur sehen, wie wir dir Linderung
bringen. Wie geht es Frau Thereschen? Ruht sie sich ein wenig?«

Er nickte matt.

»Sie hat sich Ruhe nie gegönnt, hat all ihr Lebtag nur geschafft,
doch nun sie sieht, daß man uns trennt, da holt sie sich zum Schmerz
die Kraft, -- ich bin ohn’ Sorgen allerwegen, -- kann ja mein Weib in
Eiksche Hände legen.«

»Du Treuer! Frau Thereschen wird nie verlassen sein, wie du uns nicht
verlassen hast in guten und bösen Tagen.«

Er lächelte dankbar, schlummerte dann ein Weilchen und schlug wieder
die Augen auf. »Wenn ich bitten dürft -- -- mit schuldigem Respekt, --
daß man den Herrn von Eichen weckt, -- möcht gern die starke Hand noch
drücken und mich dann still bei Seite rücken. -- Und Brennstoff -- --
und den Rektor Tüllen -- wird man mir wohl den Wunsch erfüllen? Ich
möchte sie beide noch mal sehn -- -- und kann dann ruhig -- -- nach
Hause gehn.«

Er sprach abgerissen, leise und langsam, aber Franziska hörte deutlich
jedes Wort und nickte ihm gewährend zu. »Sie werden alle bald da sein,
mein guter Teichmann, soll ich auch Frau Thereschen holen?«

Er schüttelte abwehrend den Kopf. »Ich glaube nicht, daß ihr das
frommt; sie braucht die Ruh für das, was kommt, -- -- sie würde jammern
auch und klagen, -- ich kann das jetzt nicht gut vertragen« -- --
Teichmann schlummerte wieder und Frau Franziska verließ sacht das
Zimmer. Es währte nicht lange, und sie standen alle um ihn, die seine
Treue im Leben besessen und sie fühlten, daß etwas Gutes von ihnen
wegschritt. Die rechte Hand reichte der Sterbende dem Rektor Tüllen und
die Linke Frau Franziska. Zwischen ihm und dem alten Lehrer bildete
das längst verstorbene Ännchen das Bindeglied, aber der Tochter seines
alten Herrn schlug sein Herz unmittelbar entgegen.

Am Fußende ragte die hohe ungebeugte Gestalt des alten Eik, und zu
Häupten des Bettes mühte sich Kantor Brennstoff vergebens, einer
heftigen Bewegung Herr zu werden. --

»Will mir mein Herr ein gutes Sprüchlein sagen?« fragte Teichmann
mühsam. »Ich muß den letzten Gang nun wagen und aus dem Eichenhause
ziehn -- -- -- Den Pfarrer möcht’ ich nicht bemüh’n -- --«

Der alte Eik trat rasch näher, -- er legte seine große Hand auf die
des Kranken: »Ei du frommer und getreuer Knecht, du bist über Weniges
getreu gewesen, ich will dich über Vieles setzen, gehe ein zu deines
Herren Frieden!« -- --

Das war ein wunderschönes Lächeln, das jetzt auf dem Antlitz des
alten Dieners lag. Das Sprüchlein war wohl mitten in sein treues
Herz hineingesprochen worden und hatte ihm den Trost gegeben, nach
dem er verlangte. Deshalb suchten seine müden Augen nun nicht mehr
die umstehenden Menschen, sondern richteten sich in weite, lichte
Fernen -- -- --

»Brennstoff, ich sehe den Großen, ich sehe Beethoven« sagte er laut und
dann mühte sich seine sterbende Stimme, eine Melodie zu formen, aber es
war nur mehr eine zersprungene Glocke, die ihm heimläutete, -- heim.
Nur die Worte konnte man deutlich verstehen:

»Fahr wohl, du goldene Sonne -- -- --«

       *       *       *       *       *

Dem Schnitter Tod schien es in dem kleinen, freundlichen Schwarzhausen
wohl zu behagen, er kümmerte sich nicht um Hygiene und nicht um die
Ärzte, er rief: Arzt, hilf dir selber, und winkte Doktor Hempel. Dieser
sträubte sich zuerst mächtig, er war ein kräftiger, willensstarker
Mann und unermüdlich in dieser schweren Zeit auf dem Posten gewesen.
Vielleicht zu sorglos und unermüdlich.

Als er den Totenschein für Hieronymus Teichmann ausstellte, sprach
Doktor Hempel noch eindringlich mit Frau Franziska, daß sie sich
schonen und hinlegen müsse, sie sähe erbärmlich aus von ihren
angreifenden Nachtwachen, und die Schwarzhausener hätten es den Kuckuck
nicht verdient, daß sie sich aufopfere.

Doktor Hempel war überhaupt verdrießlich und heftig aufgebracht
gegen die ganze Welt, die einen schiefen Gang ginge, gegen die
Seuche insbesondere, die so tat, als hätte es nie die bewährten
und berühmten Hempelschen Reinigungskuren gegeben, und welche über
Kurellasches Brustpulver, Zitwersamen und Brennersches Pflaster einfach
hinwegschritt.

Ganz besonders aber war er aufgebracht gegen Schwarzhausen,
welches noch hinter dem Monde zurück war und von _absichtlicher_
Brunnenvergiftung »gärte und märte«.

»Und Sie müssen die Ohren steif halten, meine liebe Frau Fränzchen, und
sich für Ihren Bertold schonen und tapfer aufbewahren, denn der braucht
Sie wie das liebe Brot. Er hat nicht viel Freunde in Schwarzhausen und
die wenigen sind alt. Und das Heer seiner Feinde sieht scharf nach
ihm hin, der später doch einmal so eine Art Vater von ihnen sein soll
und doch ist es so kurzsichtig von den Einwohnern, nicht den Segen zu
erkennen, der vom Eichenborn für Schwarzhausen ausgeht. Darum hüten Sie
als Mutter Bertolds guten Engel, -- und der sind Sie selbst. -- Und nun
Gott befohlen! Mir ist heute selbst gar nicht »extra«, -- ich werde mir
jetzt einen Aromatique genehmigen und dann zu den Porzellinern gehn,
-- die sterben reineweg wie die Fliegen, weil sie alle Zwetschenbäume
gepachtet haben und »nichts umkommen« lassen wollen, das verbohrte
Volk -- -- --«

Aber Doktor Hempel ging nicht zu den Porzellinern und nahm auch
keinen Aromatique. Es war immer seine Art gewesen, sich hinter diesem
köstlichen Dietendorfer Schnabus tüchtig zu schütteln, aber diesmal
schüttelte es ihn selber vorher und er mußte sich ins Bett legen.

Und weil er selbst sein Wort nicht hielt, glaubte auch Frau Franziska
ihm nicht gehorchen zu müssen. --

       *       *       *       *       *

Bertold Eik saß unter fröhlichen Kumpanen auf der Kneipe, als man ihm
den Eilbrief von seinem Großvater brachte.

Schon den ganzen Abend hatte man Bertold seiner großen Schweigsamkeit
halber geneckt und ihn auf »tiefsten Dalles« oder »höchste
Verliebtheit« taxiert; er konnte einer unerklärlichen Bangigkeit nicht
Herr werden.

Sein Großvater schrieb sonst nie an ihn, alle Nachrichten, auch
die geschäftlichen, gingen ihm durch seine Mutter oder durch den
Prokuristen der Firma Eik zu, -- der Eilbrief übte einen seltsamen
Bann, -- er spornte nicht zur Eile, er lähmte alles Denken und Fühlen
und nur mechanisch betrieb Bertold seine Abreise, die noch in derselben
Nacht erfolgte.

Grau und trübe der Himmel über Schwarzhausen, grau und trübe die ganze
Stimmung in den Straßen, grau und düster das langgestreckte Herrenhaus
der Eik von Eichen.

Bertold fröstelte, als er heimkehrte in das Haus seiner Väter. Selbst
die Gesichter der Menschen, die ihm in der Herrgottsfrühe begegneten,
waren ihm grau erschienen, und sie waren es wohl auch wirklich, -- vor
Sorgen, vor Angst, weil die Seuche nicht schwinden wollte aus Thüringer
Landen.

Und noch etwas starrte dem jungen Studenten aus den Augen seiner
Landsleute in grauer Öde entgegen, -- tiefe Abneigung gegen ihn und
seine Heimkehr.

Er hatte in ruhig ernstem Gruß den Hut gezogen, als er rasch durch
die morgenstillen Straßen schritt und hatte den wenigen Kindern
freundlich zugenickt, die sich an den Fenstern zeigten. Aber sein Gruß
war nicht erwidert worden, und die Kinder hatten sich eilig und scheu
zurückgezogen.

Selbst die geliebten Thüringer Berge hatten eine Nebelkappe aufgesetzt,
die sie verhinderte, freundlich, heimatlich, vertraut auf den
Heimkehrenden zu blicken und die sonst so silberne Gera schien allen
Glanz verloren zu haben und schlich grau und langsam dahin.

Einmal mußte doch wieder alles hell und licht werden, mußte doch
dieses öde Grau verschwinden, dachte Bertold, und suchte durch junge,
hoffnungsfrohe Gedanken die unerklärliche Bangigkeit zu verscheuchen,
welche sich um sein warmes, junges Herz legte.

Einmal? Gleich! Jetzt! -- sobald er die Mutter an seine Brust drückte,
an seine junge, kraftvolle Brust, nach welcher sich die liebe Kranke
sehnte, wie der Großvater ihm geschrieben. Schien nicht die Sonne
schon ein wenig in das Nebelgrau des Morgens, da er so innig an die
Mutter dachte und sein Herz ihm selbst schon voraus flog zu ihr? Er
würde nicht wieder die Heimat verlassen, die liebe Heimat, die für ihn
gleichbedeutend war mit seiner Mutter Herz. Nie wieder! Er würde von
nun an immer zu ihren Füßen sitzen, und herrliche, trauliche Abende
sollten kommen nach des Tages Last und Mühe, frohe Feste nach sauren
Wochen. -- Liebe sollte den Eichenborn durchsonnen.

Der Großvater empfing den Enkel am Portal des Hauses -- war denn heute
alles so anders? Das hatte der gestrenge, alte Herr noch nie getan.
Die Förmlichkeit der ersten Begrüßung durch sämtliche Dienerschaft war
bisher immer streng innegehalten worden.

Und noch etwas verwunderte Bertold und erschreckte ihn zugleich:

Die gebeugte, müde Haltung des Großvaters, die ungewohnte Milde in
seinem strengen Gesicht.

»Grüß Gott, Großvater!«

»Lieber Bertold -- -- --«

Ihre Hände lagen mit festem Druck ineinander, dann lief der Jüngere
mit eiligen Schritten durch die Diele, die Treppen hinauf, daß er
nichts versäume, nicht _eine_ heilige Minute, die er bei der Mutter
sein konnte. Er hörte hinter sich den Großvater rufen, -- vielleicht
sollte er auf ihn warten, bis der alte Herr mit seinen wuchtigen,
langsamen Schritten ihn begleitete, aber das war ja sonst auch nie
geschehen, immer hatte er seine Mutter allein begrüßt. Beinahe lächelte
der Student ein wenig, daß er so knabenhaft ungestüm und trotzig dem
Großvater entlief. Und nun kam noch die braune Tür mit den blitzenden
Messingbeschlägen, die den Sohn noch trennte von der lieben Kranken.
Wenn er als Knabe Sehnsucht nach der Mutter empfand, dann stand diese
braune Tür vor seinem geistigen Auge, und es war ihm, als brauche er
nur die Klinke niederzudrücken, um sofort wieder daheim zu sein.

Sacht, sacht! -- die Mutter könnte schlafen, könnte erschrecken. Aber
eine Mutter erschrickt nicht, wenn der Einzige heimkehrt -- sie muß
ihn ja lange schon erwartet haben, sie hat sich gebangt nach ihm, so
schrieb der Großvater.

»Mütterchen!«

Nein, eine Mutter stört der heimkehrende Sohn nie -- besonders nicht,
wenn sie so fest schlummert wie Mütterchen Franziska -- -- aber trotz
des tiefen Schlafes hat sie das liebe Lächeln auf ihrem Antlitz für
ihn, für ihren Einzigen.

»Mutter! _Mutter!_«

Nie wieder vergißt der Eichenborn diesen Ton. Denn das Weh einer Welt
liegt in ihm. Und er wird noch tagelang und nächtelang nichts anderes
hören, als diesen Ruf.

Mutter! Mutter!

Die junge Seele drinnen ist aus den Fugen. Kleiner, großer, törichter
Bertold! Glaubtest du, ein Mutterherz sei so heilig und hehr, daß
niemand daran rühren könne; sei so lebendig, so liebeübervoll, daß es
nie verstumme? Daß es klopfen müsse in alle Ewigkeiten?

Mutter! Mutter!

Störe den heiligen Schlaf nicht, Bertold! Jammere nicht so wild! Es ist
umsonst, du weckst sie nicht. Du bist ein zwanzigjähriger Knabe und da
sind zwei Gewaltige, die leben seit Urbeginn, und sie sind wider dich.

Der Tod und -- der ihn rief.

Weine dich gesund.

Denn du brauchst Kraft, dir jetzt deinen Kinderglauben zu retten. -- Du
kanntest sie ja bis in ihre innersten Gedanken, deine Einzige.

Du weißt, daß sie ihren Mutterberuf als heilige Mission auffaßte, an
deren Erfüllung sie sich selbst hingab.

Nach ihrem unerschütterlichen Glauben warst du ihr von Gott gegeben --
würde Gott dich auch wieder von ihr fordern: »Wo ist dein Kind? Wie
erzogst du es? Was können seine Mitwanderer und Weggenossen von ihm
erwarten? Warst du würdig, eine Mutter zu sein?« --

Weine dich gesund, Bertold!

Denn du sollst jetzt einen einsamen Weg gehen, sollst aus dir selbst
heraus etwas Tüchtiges werden, ohne Mutterwort und Mutterrat, sollst
eine Persönlichkeit werden.

Kraft brauchst du, um Gottes Fragen an deine Mutter zu
beantworten. -- -- --

       *       *       *       *       *

Dicht hinter dem Sarge von Frau Franziska schritten Großvater und Enkel.

Die Augen des alten Herrn streiften besorgt das Antlitz des jungen
Mannes an seiner Seite.

Es war wie versteint in Schmerz.

Die Schwarzhausener fanden erst lange Zeit nach dem Begräbnis die
richtigen Worte, das Wesen des Bertold Eik zu zeichnen, -- während der
ganzen Zeremonie war er ihnen unheimlich und unverständlich.

»Bertold! Aber Bertold!«

Der alte Herr von Eichen nahm die Hand des Enkels und hielt sie fest.
Er wußte nicht, weshalb? -- er hatte das unbestimmte Gefühl, der junge,
verstörte Mensch an seiner Seite könne irgendeine kopflose Handlung
begehen.

Aber Bertold dachte gar nicht daran. Er hatte die Augen nicht zu Boden
gesenkt, wie es eigentlich die ehrbare, altväterische Trauersitte
vorschrieb, sondern hatte sie, weit aufgeschlagen, in Fernen gerichtet.

Wo war die Mutter?

Sein übermüdetes Herz klopfte flatternd und schmerzhaft in seiner
Brust. Er sah und hörte nichts, was um ihn vorging, vernahm nichts
von den herzlichen Worten des Predigers und hob die schlaffe,
herniederhängende Hand nicht, als man sie teilnehmend drücken wollte.

So schritt er wieder aus der Kirchhofspforte heraus und die Karosse der
Eiks nahm ihn auf und führte ihn zurück in den verödeten Eichenborn.

Er saß bei Großtante Adelgunde und die Neunzigjährige klagte mit
feinem, verstaubtem Stimmlein, daß der Herrgott sie vergessen habe und
alle die Jungen vor ihr fort hole.

Er hörte es, aber er faßte nicht den Sinn ihrer Worte. Er hörte auch
den Großvater sprechen und raten mit ernster, gütiger Stimme und sprach
selbst zustimmende Worte.

Seine Koffer standen wieder gepackt und ein Auslandspaß war
ausgefertigt.

Nach Paris würde er gehen, nach London und New York, er würde Holland
und Belgien bereisen und alle Plätze besuchen, an denen Haus Eik von
Eichen angesehen und berühmt war.

Aber er würde nicht die braune Tür wieder öffnen, die nahe, ganz nahe
an seinem eigenen Zimmer lag, die Tür, hinter welcher das leere Bett
stand und all die lieben Sachen lagen, die seine Mutter getragen.

Den Schlüssel zu dieser Tür barg er auf seiner Brust.

Der Vollmond stand am abendlichen Himmel und sah auf den rastlos
Wandernden, der noch einmal im Parke von Eichenborn alle Plätzchen
aufsuchte, die er als Kind geliebt.

Rastlos kamen und gingen die Gedanken.

Er hatte ja die Heimat nicht wieder verlassen wollen -- -- nun hatte
seine Heimat _ihn_ verlassen.

Drum ging er gern in die weite Welt.

In seiner wilden Verzweiflung hatte er nicht mehr an die offenkundige
Abneigung der Schwarzhausener gedacht und auch ehe der tiefe Schmerz
kam, hatte ihn seine Wahrnehmung nur stutzig, nicht grübeln gemacht.

Bertold war ja so jung, so gesund und so erfüllt von guten Gedanken für
die Heimat, für Schwarzhausen und den Eichenborn.

Er würde den närrischen Leuten schon zeigen, daß er nicht nur
jähzornig, sondern auch arbeitswütig war, und daß er gewissenhaft in
seines Großvaters Fußstapfen treten wollte.

Das war _gewesen_. --

Waren es Jahre, die zwischen dem Tage seiner Ankunft und heute lagen?
_Heute_ grübelte er, heute wurden ihm die vielen, unbeantworteten
»Warum« zu einer unerträglichen Pein.

Aber der Duft der Thüringer Tannen, die so dicht den Tempel der
Geselligkeit umstanden, und welche Bertold immer wieder auf schmalem
Wege umschritt, übte eine wunderbare Macht. Dieser Duft umfaßte den
jungen Menschen weich und stark zugleich -- wie Mutterarme.

Bertold lehnte seinen Kopf an die Rinde des nächststehenden Baumes
und griff über sich in das Geäst, wie er als Knabe oft getan, um in
kindischem Spiel zu fühlen, wie die spitzigen, braunen, welken Nadeln
herunterfielen und sich in seinem dichten Haar versteckten.

Seitwärts von der Tanne auf dem weichen Erdboden wölbten sich zwei
Hügel, ein großes und ein kleines Grab.

Da lag Fidelio, der häßliche, gute Hund und dort -- -- die Staatsdame.
So hatte der Großvater ohne weitere Erklärung ihm gesagt.

Aus dem kleinen Erdhügel schimmerte im Mondlicht etwas Weißes hervor
-- es mußte vor kurzem ein größeres Tier hier gewesen sein; vielleicht
ein Hund aus der Fabrik, der durch Zäune und Wiesen herlief. Das kleine
Grab war zerwühlt.

Bertold befühlte das weiß schimmernde Etwas mit seinem Stock und blieb
daran hängen; als er den Stock hob, fiel die wenige Erde zur Seite und
legte eine größere weiße Fläche frei, die Bertold, jetzt doch etwas
neugierig geworden, mit der Hand betastete. Seidenstoff war es, rauh
geworden von Erde und Nässe, aber an dem Seidenstoff hing ein kleiner,
harter, runder Gegenstand. Immer mehr schüttelte Bertold den Kopf,
denn er sah nun, daß er eine Puppe vor sich hatte, keine Emmy ohne
Kopf, aber einen Kopf ohne Haare und nun fand er auch die abgelöste
Perücke und einen dicht zusammengelegten Zettel. Der hatte so verborgen
in den Kleiderfalten der Puppe gelegen, daß die Schrift sich gut
gehalten hatte und er las die Buchstaben, von seines Großvaters Hand
geschrieben, deutlich im hellen Mondlicht: »Diese Puppe soll Liselotte
Windemuth gehören.«

Ergründen konnte Bertold dieses Rätsel nicht, -- aber er wollte es auch
gar nicht ergründen.

Er legte die Puppe wieder sorglich in die Grube hinein und holte noch
mehr Erde, die er darauf schüttete und dann gleichmäßig fest trat.

Viel ruhiger wurde er durch diese seltsame Arbeit -- denn der wehe
Schmerz um seine Mutter wurde abgelöst und abgelenkt durch ein warmes,
herzliches Sehnen nach einem lebendigen Menschenkinde, nach einem
lieben, rosig-weißen, trotzigen Mädchengesicht, nach einem Paar
stahlblauer Augen -- -- nach dem herzlieben, närrischen Mütterchen der
kopflosen Puppe Emmy und der begrabenen haarlosen Staatsdame.

Hoch atmete Bertold auf -- das Herz wurde ihm zu eng in der Brust.

Er mußte sie noch einmal sehen, die kleine Liselotte, seine
Jugendfreundin, ehe er ins Ausland ging.

Wie hatte er sie nur vergessen können drei lange Tage!

Mutter, liebe Mutter!

Verzeihst du es deinem Jungen, wenn er das lachende Leben mit seinen
tiefsten Gedanken verschwiegen grüßt?

Bertold schritt rasch aus dem Park. Im klaren Mondlicht schaute er noch
einmal alles hell und schön und vertraut, jeden Baum, jeden Strauch,
jede alte, seltsame, verwitterte Steinfigur. Im Grasgarten rauschte
der Born, da erzählten sich die Eichen flüsternde Märchen, Märchen von
Mutterliebe und Heimat, Märchen von Thüringer Edeltannen, von denen die
schlankste und schönste und lieblichste die Liselotte Windemuth war.

Bertold hielt die Hand unter die murmelnde Quelle, und auch sie
erzählte und rannte. Von einem jungen Burschen, der seine Mutter verlor
und der in die weite Welt ging. Aber er würde wiederkommen, bald -- in
einem Jahr oder in zweien, dann würde er in das hohe Giebelhaus treten
dort in der nahen Straße und würde das schöne Haustöchterlein fragen
und -- -- dann könnte es doch noch einmal sonnig werden im düstern
Eichenborn.

Hinschritt er durch die stille Straße mit leuchtenden Augen, mit
raschem Atem und jung -- junger Liebe.

Da lag es, das Windemuthhaus.

Aber nicht so still wie der trübe, ernste, schweigsame Eichenborn, aus
dem man die letzte Freude hinausgetragen und in die Erde versenkt hatte.

Die schöne, warme, helle Sommermondnacht hatte die Bewohner des Hauses
im Garten festgehalten.

Bertold unterschied ganz deutlich die einzelnen Personen: Base Juliane,
den alten Herrn Professor und eine junge Dienstmagd, welche noch einige
Blumen mit der Gießkanne tränkte.

Wie sah das alles so traut und heimelig aus.

Er trat in den Schatten der Geisblattlaube, die dicht am Straßenzaun
lag. Seine Augen spähten und suchten.

Wo bleibt sie? Wo bist du, Liselotte? -- Sieh -- ich will Abschied
nehmen.

Wie durch Gedankenübertragung schickte zu gleicher Zeit Professor
Windemuth seine Augen suchend durch den Garten, und deutlich vernahm
Bertold dessen behagliche Stimme: »Wo bist du Liselotte? Hans! Wo
bleibt denn unser Brautpaar -- -- --?«

Furchtbar deutlich -- lächerlich deutlich.

Und furchtbar und lächerlich war doch auch das, was der
unverantwortlich helle, abscheuliche Mond da beleuchtete, -- ein eng
verschlungenes Paar, das den Weg heranschritt, Arm in Arm, Auge in
Auge. -- Das weiße Kleid des Mädchens schimmerte zu Bertold hinüber und
ebenso die blitzende Uniform des Leutnants Hans von Windemuth.

Lächerlich deutlich.

So lächerlich, daß man eben lachen mußte.

Gellend lachte Bertold auf -- -- daß das glückliche in sich versunkene
Pärchen zusammenschreckte und der alte Herr eilends nach der Stelle hin
lief, von welcher das unheimliche Lachen ausging.

Aber Bertold war schon geflohen, und immer noch lachte er, --
jähzornig, wütend, weh, verzweifelt.

Ein paar Schwarzhausener Burschen standen mit ihren Liebchen vor den
Haustüren.

An ihnen vorbei stürmte Bertold, sie sahen sein seltsames Gebaren
und deuteten es sich in hellem Entsetzen und Empörung über so viel
Verworfenheit.

»Er muß betrunken gewesen sein, -- sonst könnte er nicht nachts --
durch die stillen, ehrbaren Straßen planlos rennen und lachen -- laut
lachen am Abend des Tages, da man seine Mutter begrub.«

»O über den schlechten Kerl!«

Am nächsten Abend wußte man es in ganz Schwarzhausen, daß der
Eichenborn nun wirklich verödet war.

Daß die großen Auslandskoffer gepackt im Zimmer des jungen Eik stünden,
aber niemals abgeholt würden. Daß der alte, grimme Eik als ein
einsamer Mann zurückgeblieben und sein Enkel geflohen war mit nichts
als seiner Amatigeige -- -- -- um ein Musikant zu werden.

       *       *       *       *       *

_Wird er kommen?_

Das war die brennende Frage des Abends.

Erregte Gruppen standen zusammen, Künstler und Kunstfreunde.

Der schlicht-vornehme kleine Saal harmonierte gut mit den Menschen,
die sich darin versammelt hatten; er sah feierlich aus in seinem
Weiß und Gold und Kerzenschimmer, feierlich mit dem strengen, grünen
Lorbeerschmuck.

Und wie Feiertagsstimmung lag es auch über den Versammeltem trotz
einiger erregter Lautsprecher.

_Wird er kommen?_

Meister Joachims Gestalt löste sich jetzt aus der einen Gruppe und
winkte abwehrend und lächelnd zurück.

»Versprechen kann ich gar nichts. Sie kennen doch den Malcroix. Der
läßt sich weder in Krieg noch in Frieden etwas abnötigen, was er nicht
selbst hergeben will, und ob er sich heute Ihnen gibt -- --«

»Gehen Sie gleich jetzt zu ihm, Meister?« fragte ein blutjunges,
blasses Bürschchen mit schwärmerischen Augen und blonder Künstlermähne.

»Ja, das tue ich. Aber ich weiß nicht, ob ich ihn treffe. Und weiß
nicht, ob ich meinen ehemaligen Schüler dann nicht für mich behalte. --
Kindskopf!!!« fuhr er gleich darauf den Frager an, dem wahrhaftig die
Augen feucht wurden. »Närrisches Volk alle miteinander! Aber mir geht’s
ja nicht um ein Haar besser. Herrgott, hat der Mensch gespielt! -- --
Guten Abend, meine Herrschaften!«

Man geleitete Meister Josef Joachim noch zur Tür und trat dann wieder
zusammen, bildete neue Gruppen und behandelte doch nur das alte Thema:
Bertold Malcroix und sein wunderbares Geigenspiel am heutigen Abend in
der Singakademie.

Der Impresario ging mit lebhaften, kleinen Schritten von Gruppe zu
Gruppe.

»Das war ein Erfolg!« Sein glatt rasiertes Gesicht glänzte und strahlte.

»Den halte ich noch fest -- der darf mir nicht schon wieder ins
Ausland, mag es nach ihm kabeln, so viel es will. Summen zahlt dies
Amerika -- -- Aber dem Malcroix ist das einerlei -- -- ich halte ihn
fest -- --«

»Menschenkinder -- ich hatte euch Berliner für viel nüchterner
gehalten,« meinte jetzt halblaut ein dunkler, geistvoll aussehender
Herr, der mit einem bekannten Berliner Maler allein an einem der
Marmortischchen saß. »Ihr treibt ja Götzendienst mit diesem Malcroix.«

Der Maler lachte.

»Nennen Sie es so. Aber in Ihrem Munde hat das Wort Götzendienst einen
spöttischen Klang. Er ist jedoch von allen Völkern und Stämmen immer
sehr ernst betrieben worden, und so halten wir es auch mit Malcroix.
Daß Sie zum heutigen Konzert noch nicht in Berlin waren, sondern
genau eine Viertelstunde nach Schluß anlangten, machen Sie mit dem
Unglücksstern aus, der schon über Ihrer Wiege geschwebt haben muß.«

»Na, da haben wir’s! Stopp, alter Freund! Ehe Sie mir ganz aus dem
Häuschen geraten: Wer sind die zwei närrischen Zwickel dort in ihren
vorsintflutlichen Fräcken? Sie sehen aus, als seien sie aus der
Biedermeierzeit stehen geblieben, um für sie Reklame zu machen.«

»Ihr Scharfblick ehrt Sie,« lachte der Maler. »Diese _beiden_
närrischen Zwickel, wie Sie sich auszudrücken belieben, sind eigentlich
_Eins_, sind die Achse, um die wir uns hier drehen, sind der ruhende
Pol in der Erscheinungen Flucht, sind Jonathan für unsern David
Malcroix, sind Marquis Posa für unsern Don Carlos Malcroix, sind
Pylades für unsern Orest Malcroix, sind unsere einzige Hoffnung, daß
der Held heute abend doch noch erscheint, sind _Brennstoff und Tüllen_.«

»Herr Ober, bringen Sie sofort ein Glas eiskaltes Wasser und eine
Stirnkompresse für diesen Herrn, wenn irgend möglich noch Leibumschlag
und Wadenwickel,« rief der Doktor.

»Lieber Doktor, Sie scheinen uns hier alle etwas für geistesgestört zu
halten,« wehrte lachend der Maler.

»Ich sprach bis jetzt nur mit _Ihnen_,« neckte der andere, »und halte
da allerdings eine Ableitung vom Gehirn für geboten. Haben Sie Erbarmen
und erzählen Sie mir meinetwegen auf deutsch, französisch, spanisch,
italienisch, russisch, Volapükisch und Esperanto’sch von diesem
Malcroix, -- aber nüchtern -- nüchtern!«

»Ich bin so nüchtern wie ein Kalb vor seiner Geburt,« versicherte der
Maler. »Wie Sie sehen, ehren wir Bertold Malcroix noch auf andere Art,
indem wir in den kargen Stunden des Zusammenseins mit ihm den Alkohol
meiden.«

»Sind Sie verrückt?« entfuhr es dem andern.

»Ich glaube nicht.« Der Maler wurde ernst. »Malcroix hat vor Jahren
im betrunkenen Zustand irgend eine schwere Tat begangen -- als halber
Knabe allerdings, man weiß gar nichts Genaues, erzählt sich aber die
tollsten Geschichten von ihm, und besonders in seiner Vaterstadt
Schwarzhausen, berühmt durch Porzellan, viertausend und eine Seele
stark, gilt Malcroix als gänzlich schwarzes, verlorenes Schaf. --
Jedenfalls ist er völliger Abstinent, weil er einen angeborenen,
furchtbaren, schier grotesken Jähzorn meistern will, und -- alle
Achtung vor ihm -- wir helfen ihm stillschweigend dabei, wenigstens
solange wir ihn erwarten und mit ihm zusammen sind.«

»Soll ich heute den ganzen Abend Element in einer Trockenbatterie
spielen?« fragte der Gast kläglich. -- »Was trinkt denn euer großer
Geiger? Zu Beethoven und Bach paßt doch kein Himbeersaft?«

»_Muß_ denn immer ges... trunken werden?«

Der Doktor seufzte. »Es wäre nichts für mich, _nur_ am Busen der
heiligen Cäcilie zu saugen, besonders da diese Dame älteren Semestern
angehört, ich ziehe Pilsener vor -- -- --«

»Sie sind wohl nicht musikalisch, Doktor? -- --«

»Ich weiß nicht. Als zweijähriger holder Knabe sollte ich in der
Kindersymphonie von Haydn mitwirken, war aber noch nicht stubenrein
und vergaß mich. Es war mein erstes und letztes Auftreten, aber ich
getraue mich doch, das Gebet einer Jungfrau vom Radetzkymarsch zu
unterscheiden.«

»Malcroix! Hurra! Malcroix! Evviva! Malcroix!«

Der Maler war, jegliche Gastfreundschaft schnöde vergessend,
aufgesprungen und zur Tür geeilt, durch welche ein reckenhafter Hüne
eintrat. Es entstand ein völliger Tumult.

»Malcroix, evviva! Malcroix willkommen! Malcroix hoch!«

»Sie sind verrückt -- und alles ohne Alkohol,« murmelte der Doktor, der
still an seinem Platze geblieben war.

Aber dann erhob er sich ebenfalls rasch und über sich selbst erstaunt,
denn sein Malerfreund führte ihm den Helden des Abends zu.

Und vergessen war aller Spott, alle Kritik, alles Nörgeln, vergessen
das Vorhaben, recht ruhig und objektiv zu urteilen, sich nicht planlos
mitreißen zu lassen vom allgemeinen Taumel.

Es ging wirklich ein Zauber von diesem Hünen aus, der Zauber eines
Sonntagskindes. Was für kluge, ernste, tiefe, gute, leuchtende Augen
dieser Künstler hatte, was war er für ein bildschöner Kerl mit dem
dunklen Lockenhaar, das doch so gar nicht romantisch flatterte, sondern
einfach und schlicht gescheitelt die hohe sein gemeißelte Stirn
umrahmte. Und wie er lachte! Dies Lachen kennzeichnete ihn schon als
Liebling der Musen, -- das war Musik, die auch den unmusikalischsten
Menschen bezaubern mußte.

Und wie dieser Malcroix seine Mitmenschen um Haupteslänge überragte,
so war sein ganzes Wesen eher väterlich zu nennen, trotzdem er kaum
dreißig Jahre zählen konnte.

»Die Freunde meiner Freunde sind meine Freunde,« sagte Bertold Malcroix
herzlich und schüttelte dem Gast die Hand. »Wenn Sie erlauben, setze
ich mich nachher ein Weilchen still zu Ihnen, augenblicklich« -- er
deutete lachend auf die aufgeregten Verehrer ringsum -- »habe ich noch
keinen eigenen Willen.«

»Ein prächtiger Mann, ein lieber Kerl, ein Vollmensch!« Immer wieder
sagte es sich der fremde Gast an diesem Abend, je länger er Malcroix
beobachtete, wie er der gefeierte Mittelpunkt eines erlesenen Kreises
war, ohne auch nur ein einziges Mal unbescheiden, protzig oder
nervös-launenhaft zu sein. Dieser Malcroix besaß die »Höflichkeit
des Herzens, der Liebe verwandt, aus der die Höflichkeit des äußeren
Betragens entspringt«.

»Nicht wahr, Sie gehören ihm auch?« fragte scherzhaft-ernst der Maler,
als er wieder allein bei seinem Gaste saß, während Bertolds hohe
Gestalt bald hier, bald da unter neuen Gruppen auftauchte.

»Er muß ein treuer Freund und guter Lebenskamerad sein,« meinte der
Doktor sinnend, ohne direkt zu antworten -- »ist er verheiratet?«

»Nein. -- Auch über diesen Fall berichtet Frau Fama ganze Legenden.«

»Um Gottes willen, sagen Sie mir nicht, daß dieser Mann Herzensbrecher
oder Weiberfeind ist,« rief der Doktor. »Beides würde mir wie ein
platter, trivialer Berg zu einem Meisterbilde sein.«

»Malcroix ist auch keins von beiden nach meiner festen Überzeugung,
aber -- wie gesagt, ein wahrer Rattenkönig von Legenden heftet sich an
seine Person. Man kann sich ja schwer vorstellen, daß dieser Vollmensch
ein Erzengel Gabriel ist, wie einige behaupten, -- ich kann darüber gar
nicht urteilen, denn er spricht selten über Frauen und niemals über
›Weiber‹. Mit klugen Frauen plaudert er in derselben Weise wie mit
gescheiten Männern und mit Gänsen scherzt er gutmütig, ohne sich lange
bei ihnen aufzuhalten.«

»Ich kann mir nicht denken, daß ihm irgend eine Frau widerstehen
könnte,« meinte der Doktor, »und doch sieht er so gar nicht aus, als
läge ihm etwas daran, oder als hätte er sich vergeudet -- vielleicht
ist er irgendwo gebunden -- -- --«

Der Maler nickte.

»Man sagt es. Und ich selbst habe meine Beobachtungen gemacht. Er tritt
in keiner Stadt Deutschlands auf, ohne irgend ein geheimnisvolles
Landhaus in der Nähe zu mieten, wo er dann wohnt und auch hier hat
er in einer Tiergartenvilla sein Domizil aufgeschlagen -- nicht
allein. Aber das geheimnisvolle Wesen, das ihn begleitet, ist dicht
verschleiert und er selbst trägt es in den Wagen hinein und aus dem
Wagen heraus. Er mietet eine versteckte Loge, wo es seinem Spiel
lauschen kann und -- --«

»Ist wahrscheinlich eifersüchtig wie ein Türke, und das Weib ist schön
-- -- item, dieser Malcroix versteht’s. Wird er heute abend noch
spielen?«

»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich nicht. Neulich kamen wir -- es war
in Amsterdam -- ganz unverhofft zu so einem Genuß. Da stritt er sich
mit einem Kritiker herum, wurde wütend, riß die Geige aus dem Kasten
und überzeugte den Kerl mit der _Tat_, so daß dieser windelweich wurde.«

In diesem Augenblick trat eine kleine Stille im Saale ein, irgend
jemand, der von draußen hereingekommen war, erzählte eine Geschichte,
die sehr belacht wurde. Dann wurde die Unterhaltung wieder lebhaft und
allgemein.

»Wo ist er denn?« hörte man Bertold Malcroix fragen.

»Immer noch vor der Tür.«

»Er soll hereinkommen.«

»Aber er ist sehr schmutzig.«

Malcroix winkte ungeduldig mit der Hand.

»Was ist denn los?« fragten einige neugierig, die nichts Genaues von
dem Vorgang hören und sehen konnten.

»Nichts Besonderes,« war die Antwort. »Ein zerlumpter Bengel steht vor
der Hoteltür und will durchaus den ›großen Malcroix‹ sehen. Er ist der
Sohn eines verstorbenen Musikers, lebt bei fremden, harten Leuten und
sieht jammervoll aus. Jetzt läßt ihn der Künstler holen.«

Man erhob sich von den Sitzen und spähte neugierig nach der Tür.

Nach einer Weile ging diese auf und ein ungefähr zwölfjähriger Junge
kam hereingestolpert, -- er war offenbar geblendet von dem vielen
Licht. Seine Jacke war zerrissen und verknüllt, so als hätten viele
grobe Hände ihn daran herumgeschüttelt, auch der Junge selbst sah aus,
als sei er öfters mit Mutter Erde in allzu dichte, unsanfte Berührung
gekommen. --

Bertold hob das Kinn des Knaben leicht in die Höhe und sah ihm in das
zitternde, verweinte Gesicht.

»Nun, mein Junge, -- du wolltest mich sehen? Ich bin Malcroix.«

Und der fremde Junge sah.

Nicht wie Neugierde blickt, die sich mit Verständnislosigkeit paart,
es war auch nicht Liebe, mit der der blasse Knabe den großen Künstler
betrachtete, es war wie Durst.

Durst nach etwas Hohem, Herrlichem, das nie bis heute in sein armes
Leben getreten war.

Und die Umstehenden schauten wieder auf die beiden und sie vermochten
nicht einmal zu lächeln, so rührend war die Versunkenheit des Jungen.

»Wie heißt du?«

»Fritz Bach.«

»Du hast einen Wunsch an mich?«

»Ich habe den Herrn spielen hören -- heute im Konzert, aber ich wußte
nicht, ob ein Mensch spielte -- -- --«

»Was redest du da. Wo warst du? Im Saal drinnen? Erzähl ordentlich.«

»Hinter dem Vorhang auf der Bühne steckte ich. Die Frau, bei der ich
bin« -- der Junge schüttelte sich -- »ist Garderobefrau, der Mann hat
auch eine Anstellung da. Ich habe schon viele Musik gehört. Gestern
hatten sie mich so geschlagen, weil ich den Herrn geigen hören wollte,
daß ich mich nur noch hinter den Vorhang stecken konnte; ich meinte,
ich müßte sterben. Und als der Herr geigte, glaubte ich, ich wär’ tot,
und es wär’ schon ein Engel -- -- --«

Die Umstehenden sahen sich an.

Das war eine andere Sprache, als die gewohnten Huldigungen, die man
dem begnadeten Künstler darbrachte, und dabei dies selbstvergessene
Anschauen --

»Sprich weiter.«

»Dann wurde ich ohnmächtig, denn man fand mich, und dann wurde ich
wieder geschlagen -- es ist immer so -- aber ich _mußte_ Sie noch
einmal sehen.«

»Du liebst die Musik sehr, Fritz Bach?«

»Ohhh!«

Nun lächelten doch die Umstehenden, der Ausruf kam zu rasch und
urwüchsig heraus.

»Spielst du selbst?«

Der Junge nickte.

»Was kannst du?«

»Alles!!!«

Nun lachte Malcroix -- und das war auch schon Musik, es war sein altes
liebes Knabenlachen.

»Sieh, mein Junge, -- das ist mehr, als irgend ein Mensch von sich
sagen kann. Aber wenn du _Bach_ heißt, ist’s ja nicht so verwunderlich.
Bei wem hast du gelernt?«

»Ich kann’s von mir selbst.«

»Hm.« Malcroix winkte seinen getreuen Brennstoff zu sich heran und
raunte ihm etwas zu, worauf der alte Organist hinauseilte. Nicht lange
darauf kam er mit Bertolds Geige wieder, die er ihm reichte.

Jetzt kam Leben in die Versammlung, ein lautloses, rasches, freudiges
Verständigen, ein Zuraunen: »er wird spielen«; ein sachtes Hinsetzen
und gespanntes Lauschen.

Der Künstler stimmte leicht, dann führte er den Knaben zu seinem
eigenen bekränzten Sessel und drückte ihn sacht hinein. Malcroix setzte
die Geige an -- --

Es war wohl ein erlesenes Programm heute abend gewesen und alle alten
und neuen Meister hatten dem genialen Künstler ihre Stimmen verliehen,
um mit ihnen die Zuhörer zu packen und hinzureißen, aber was Malcroix
jetzt den Lauschern gab, das war mehr.

Sie saßen alle weltentrückt und Malcroix war es selbst. Der arme Junge
in der schmutzigen, zerlumpten Kleidung, der im bekränzten Sessel
kauerte, duckte sich immer mehr und kroch ganz in sich zusammen.

Denn der Reichtum war zu mächtig, der sich da auf ihn niederließ, und
sein kleines, verzagtes, verstörtes Herz konnte ihn nicht bergen.

»_Fahr wohl, du goldne Sonne!_«

Aber die Sonne ging nicht fort, sie schritt im Gegenteil golden und
groß in den Saal hinein. Alle ihre Strahlen verfingen sich in die
braune Amati und der Künstler webte aus ihnen ein goldenes Netz, das
alle umspann. --

Die Augen hingen an dem Geiger.

Was er ihnen sagte, war gewaltig.

Eine Predigt hielt die Geige, wie sie wuchtiger kaum je vernommen ward.
-- Mußte man wirklich einen solchen Dornenweg des Entsagens gehen, wenn
man zu dieser Höhe klimmen wollte?

Denn jene unter den Zuhörern, welchen Frau Musika zur Seherin wurde,
tief Verschlossenes offenbarend, sie fühlten jetzt mit dem Künstler
den Segen des Leides. Sie schritten mit ihm durch Höhen und Tiefen
und sahen mit leidgeschärften Augen, daß blumenumstandene Wege sich
in Sümpfe verirren und nur ein schmaler, rauher und einsamer Weg
hinaufführt ins lichte Kinderland, ins Hochland.

Dann war der letzte Ton verklungen, aber es blieb still im Saal. Nach
einem Weilchen hörte man ein wildes, wehes Weinen -- Fritz Bach sprang
auf, schob ungestüm seinen Sessel zurück und umklammerte den Arm des
Künstlers.

»_Nichts_ kann ich, _nichts_!« stöhnte er und lief hinaus, quer durch
den ganzen Saal mit den vielen fremden Leuten, ohne Gruß, ohne Dank.

»Den hole ich mir wieder,« sagte Bertold sinnend.

Er schlug das seidene Tuch um die Amati und legte sie wieder in
Brennstoffs Hände. Dieser sah besorgt in Bertolds Antlitz. Es war
tiefblaß und nur die rote Narbe quer über der Stirn brannte wie ein
feuriges Mal.

»Nur einmal gar nicht mehr an andere denken,« meinte der Organist,
»ganz und völlig ausruhen, nicht wahr, Meister Bertold?« Es klang, als
spräche eine gute, alte Mutter mit ihrem Sohne. --

»Gewiß, mein Alter, -- sei ganz ohne Sorgen.«

»Schmerzt die Narbe wieder?« fragte nun auch leise Rektor Tüllen. --

»Was soll ich’s hehlen? Ja, sie rumort etwas. --«

Die Umstehenden merkten kaum das Flüstern der drei. --

Nun der Bann des Schweigens gebrochen, waren sie alle völlig bei dem
seltenen Genuß, den sie eben gehabt. -- Sie redeten und gestikulierten
heftig, sie legten die Sonde der Kritik an einzelne Stellen, und
gegensätzliche Meinungen prallten hart aneinander.

Als man den Künstler zum Schiedsrichter nehmen wollte, war er mit den
beiden Getreuen verschwunden.

Die letzteren schritten durch die Nacht, glückselig wie zwei Kinder
über den wunderbaren Verlauf des Konzertes in Berlin, und auch darüber,
daß das Ausland wieder hinter ihnen lag. Sie hätten sich ja nie dazu
entschließen können, ihren jungen Meister Bertold allein ziehen zu
lassen, -- aber die Heimat übte ihre uralte Macht, und die Heimat war
auch den beiden nicht mehr nur Schwarzhausen, sondern Deutschland.
Und morgen, -- morgen wollten alle drei nach Bayreuth -- sie wollten
Parsifal hören, zum ersten oder zum wievielten Male, sie wußten es nie
zu sagen.

Es war ihnen ein Gottesdienst, den sie nie versäumten, wenn er sich
ihnen bot. --

Bertold Malcroix schritt durch den stillen Tiergarten, rasch und weit
ausschreitend.

Es ging schon stark auf Mitternacht, aber er wußte, daß er in dem
kleinen, verschwiegenen Gartenhaus immer willkommen war, und daß die
einsame Bewohnerin noch weniger Schlaf brauchte, als er selbst.

Etwas Starkes, Seltsames bewegte ihn heute.

Nicht der Künstlerstolz über den brausenden Erfolg des Abends,
auch nicht der Gedanke, daß er heute wieder das Steuer eines
Lebensschiffleins geworden war, denn daß er Fritz Bach die Mittel zu
einem ernsten Studium gewährte, stand bei ihm fest.

Es war etwas anderes. Er hatte eine Erscheinung gehabt, ein Erlebnis,
das ihn nicht losließ, und das er heute abend in Vergessenheit hatte
bringen wollen bei sich selbst. --

Er, Bertold Malcroix, der nie einen Menschen vom andern im gefüllten
Saale unterschied, er, dessen Sehen im Fühlen unterging, sobald er die
Geige im Arm hielt, er hatte heute abend diese seltsame Erscheinung.

Im Adagio von Beethoven war sie auf ihn zugetreten und hatte ihn mit
Augen der Erinnerung angeschaut.

Und sie war nicht leblos, trotzdem das schwarze Gewand der Trauer sie
umschloß, sie atmete und schaute aus stahlblauen, ernsten Sternen auf
seine Geige. Nur auf diese, nicht auf den Mann.

So jäh war sein Erschrecken und das wunderlich süße Entzücken gewesen,
als er sie sah, daß er im Spiel ganz leise stockte, und da war auch
über das süße Gesicht der Liselotte ein Rot des Erschreckens gegangen.

Jetzt quälte er sich mit dem Gedanken an ihr Aussehen, an ihr
verändertes, blasses, ernstes Gesicht, aus dem jedes Schelmenlachen
gewichen war.

Kleine Liselotte, dachtest du dir das Leben einfacher?

Du warst so für die Sonne geschaffen, gab es dir Schatten? Zu viel
Schatten? --

An diesem Abend hatte er nur für die junge, mädchenhafte Frau
gespielt, die so düster in dem tiefen Schwarz unter all den strahlend
geschmückten Menschen gesessen. Für ihre Augen hatte er gespielt, die
einst so lachen konnten, für die schlanken Hände, die gefaltet in ihrem
Schoß lagen, für den Heiligenschein, der in Gestalt von flimmernden
Löckchen das liebe Gesicht umgab, für die _Seele_ der kleinen Liselotte
Windemuth. Damit versank für ihn der große, helle Saal und alle
Menschen dazu, und das stille Grasgärtchen des Rektors Tüllen stieg auf
aus der Erinnerung. Nichts war auf dem Inselchen vorhanden, als die
kleine Liselotte und er.

So kam es, daß seine Geige heute jubelte und weinte und so inbrünstig
warb um die Vergangenheit. Die reiche, volle Tonflut der braunen Amati
wollte die Kluft ausfüllen, welche acht Jahre gerissen, wollte einen
neuen Weg schaffen zur Heimat und zum Herzen der Jugendgespielin.

Jeder Akkord, jeder Klang, jedes leise Schwingen der Saiten sprach zu
ihr und fragte sie und klagte mit jeder Frage sich selbst an: »Kleiner
Kamerad, warum blieben wir nicht zusammen? Meine Liselotte, warum ließ
ich dich mit einem andern ziehn? Du erfahrenes Mütterchen von Puppe
Emmy, warum verstandest du an deinem Konfirmationstage den großen,
unbeholfenen Jungen nicht, dem die Liebe zu dir über Kopf und Kragen
schlug?«

Und gerade bei dieser eindringlichen Frage, welche die Geige an das
Herz der blassen, jungen Frau tat, war eine Störung im Konzertsaal
entstanden und Bertold hatte gesehen, wie Liselotte aufstand und den
Saal verließ.

Wo war sie jetzt? Wie sollte er sie finden in dem großen, weiten Berlin?

Unter all diesen drängenden Erinnerungen war Bertold Malcroix an das
kleine versteckte Gartenhaus gekommen, das sich efeuumsponnen seltsam
verwunschen in der Großstadt mit ihren ragenden Prachtbauten ausnahm.
Bertold schloß die Gartenpforte auf, die sich lautlos in den Angeln
drehte, und schritt den hellen Kiesweg entlang nach dem Häuschen hin,
dessen Fenster erleuchtet waren.

Noch ehe er die Glocke zog, öffnete sich die Haustür.

Frau Thereschen Teichmann stand knixend auf der Schwelle.

»Wie geht es der Kranken?« fragte der Ankommende, »hat sie sehr auf
mich gewartet?«

»_Sehr!_ Sie ist aufgestanden und behauptet, ganz frisch zu sein. Denn
es ist ein Eilbrief gekommen und sie will heim.«

»Heim? Es ist wohl nicht möglich!«

Bertold hatte rasch Hut und Mantel abgelegt und klopfte nun leise
an die Tür des nächstliegenden Zimmers, deren Klinke er sacht
herunterdrückte.

Und dann hielt der Hüne in den Armen ein feines, kleines, graues
Persönchen und Tante Adelgundes verstaubtes Stimmlein schalt mit ihm.

»Du Langbleiber, du launischer Künstlerbub! Vergißt du mich ganz?«

Und als er besorgt nach ihrem Befinden fragte, wies sie ihn herrisch
zurecht.

»Ich bin gesund, und ich will reisen. Bertold, wir müssen beide heim.«

Sie hielt ihm einen großen Brief hin und Bertold sah, wie ihre
runzligen Hände zitterten. Und er selbst war blaß, nachdem er ihn
gelesen; er mußte sich in einen der tiefen Sessel setzen.

Das alte, heisere Stimmlein schalt weiter.

»Gelt, das ist nun doch was anderes und Schwereres, sich zu
entscheiden, wo deine Pflicht liegt, dummer Bub? Hier der Ruhm und die
Welt, dort die verhaßte Arbeit.«

»Die Arbeit war mir nie verhaßt, Tante Adelgunde,« murmelte Bertold.

»Ach, -- versteh mich doch recht, ich versteh’ dich ja auch. Hier
liebt und vergöttert dich alles und in dem fernsten Auslandsnest
bist du heimischer als in Schwarzhausen. Dort wartet schwere,
verantwortungsvolle Arbeit auf dich und ein verbitterter Greis, der
jetzt -- -- --«

Das verwitterte Stimmchen schlug um und Bertold trat zu dem uralten
Dämchen und umarmte es zärtlich. »Wann mag der Schlaganfall gekommen
sein, Tante Adelgunde?«

»Gott mag’s wissen. Der alte Prokurist schreibt ja nichts drüber, aber
du liest ja, daß der Großvater dringend nach dir verlangt -- -- --«

»In einer Stunde geht der Nachtzug, -- ich reise, Tante Adelgunde. Du
kommst morgen nach mit Brennstoff und Tüllen und Frau Teichmann. Wirst
du die Fahrt ertragen können?«

Da richtete sich das zusammengesunkene Körperchen auf. »Du fragst, wie
dumme Buben fragen.« Das Stimmlein war jetzt fest und ernst. »Wenn man
sich mit neunzig Jahren noch auf die Wanderschaft begibt, wie ich vor
acht Jahren, dann muß etwas Großes, -- das Größeste uns treiben: die
_Liebe_, du dummer Bertold Eik. Ich allein hatte dich lieb und ich
wußte, daß man einen Eik nicht mit dem Haß und der Menschenverachtung
in die Welt hinaus lassen darf. Aber nun hat dich deine Geige die
Menschenliebe gelehrt und du brauchst mich nicht mehr. Bald bin ich
hundert Jahr -- -- ich möchte in der _Heimat_ sterben.« -- --

       *       *       *       *       *

Das alte Windemuthhaus hatte lange einsam gestanden.

Man wunderte sich in Schwarzhausen darüber, denn man hatte eine
ausgeprägt praktische Veranlagung.

Das Grundstück mit dem schönen, geräumigen Wohnhaus und dem großen Park
hatte hohen Wert, und mancher Schwarzhausener Bürger suchte es an sich
zu bringen, aber ohne Erfolg.

Man sagte, die verwitwete Frau Oberleutnant von Windemuth wolle mit
ihrem einzigen Kinde nach Schwarzhausen ziehen, um das Grab des Vaters
pflegen zu können.

Aber es geschah nichts dergleichen, und die Einwohner der Stadt und
Umwohner des Windemuthschen Grundstückes gewöhnten sich schließlich
an die zugezogenen Fenster und freuten sich, daß der große Garten dem
Stadtgärtner übergeben war, der ihn sorglich pflegte.

Durch das Ereignis der Übersiedlung des berühmten Malcroix nach
Schwarzhausen wurde das Interesse für die Windemuths in den Hintergrund
gedrängt.

Man konnte sich zuerst gar nicht darein finden, daß der verachtete
Name mit einem Male so hoch in Ehren stand, daß viele Fremde nach
Schwarzhausen kamen und die Unbequemlichkeit des Reisens auf der
Nebenlinie und Klingelbahn nicht scheuten, nur um die Heimat des großen
Geigers zu besuchen. --

Und nun, da der Sohn den befleckten Namen des Vaters wieder ehrlich
gemacht, also daß jeder mit abgezogenem Hute davor stand, nun führte
Bertold wieder den Namen »Eik von Eichen«. -- Er war und blieb
eben »närrsch« und für die Schwarzhausener unverständlich. Und
unverständlich blieb ihnen lange Zeit der ungeheure Aufschwung, den der
Betrieb der Fabriken nahm, -- es war doch unmöglich, daß der »Musikant«
sich solche Fach- und Sachkenntnis angeeignet hatte, die den Erfolg
bedingten.

Bertold Eik schritt durch alle Neugierde, allen Spott und einen guten
Teil Nichtachtung, die sich trotz der acht Jahre gut erhalten hatte,
mit eherner Stirn hindurch.

Der alte Herr von Eik hatte sich wieder erholt, aber er überließ dem
Enkel die volle Verwaltung aller Geschäfte, und dieser ehrte den
Großvater als Senior und holte seinen Rat ein, kehrte jedoch mit
eisernem Besen jeglichen zopfigen Schlendrian aus. Das schaffte ihm
einige neue Feinde zu den vielen alten, aber es verschaffte ihm auch
treue Anerkennung und der Erfolg war auf seiner Seite.

Der Eichenborn blieb geheimnisvoll, weil niemand gebeten wurde, ihn von
innen zu besehen; man munkelte von Lebenspülverchen, die darin nach
einem Teufelsrezept verfertigt würden und zu tausendjährigem Dasein
berechtigten. Irgendwo mußte ja immer noch die Tante Adelgunde leben,
die man nie mehr sah; und doch brachte man nicht die Hundertjährige mit
der geheimnisvollen Person in Verbindung, welche Bertold mit auf Reisen
nahm und durch Heben und Tragen vor jeder unsanften Berührung schützte.

Es war doch weit interessanter, vom »schlechten Kerl« zu sprechen und
sich alle seine schlimmen Taten ins Gedächtnis zurückzurufen, als in
dem Herrn von Eichenborn einen ruhigen, arbeitsamen Staatsbürger zu
sehen.

Der Eichenborn blieb geheimnisvoll, weil das langgestreckte,
düstere Haus niemals Gäste sah, niemals Fremde hineinließ. Und weil
Dienstbotenklatsch keinen Nährboden hatte, denn die Schar der Dienenden
im Eichenborn war altbewährt und wurde im Todesfall immer nur durch
erprobte und empfohlene Verwandte des Verstorbenen ersetzt.

Die neue Zeit schritt rings um den Eichenborn und Bertold Eik ~junior~
tat ihr weit die Pforten der Fabrikräume auf und setzte sie auf den
Ehrenplatz. -- Was zum Wohle der Arbeiter geschehen konnte, das
wurde in den Eikschen Fabriken eingeführt; alle neuen Erfindungen
im Betriebe der Schutzeinrichtungen fanden einen warmen, tätigen
Förderer in dem jungen Besitzer. Aber die neue Zeit kam nicht nach
dem Eichenborn selbst; sie mußte Halt machen vor dem mächtigen
schmiedeeisernen Portal, das jeden Abend mit wuchtigem Schlüssel
verwahrt wurde, und sie durfte sich nicht einmal erlauben, den uralten
Klopfer durch den kleinen, weißen, elektrischen Knopf zu ersetzen.

Der Fürst des Landes war durch Schwarzhausen gereist und hatte dem
Städtchen dadurch ungeheure Kosten, Mühe und Aufregung bereitet. Und
wenn wirklich, wie man sagt, der Grad der Kultur eines Volkes nach dem
Verbrauch der Seife abgemessen wird, so stand Schwarzhausen durchaus
auf der Höhe.

Aber der Fürst fuhr mit dem ernstesten Gesicht durch all die
Reinlichkeit und Kultur, selbst der Anblick der jungen und alten
Ehrenjungfrauen vermochte sein Antlitz nicht zu erhellen, trotzdem die
alten schon seinen Vater und Großvater begrüßt hatten.

Ohne Aufenthalt begab er sich nach den Eikschen Fabriken, wo er
alles auf das eingehendste besichtigte. Und der Abend fand den
Landesherrn nicht auf dem Honoratiorenball in der Thüringertanne, wo
verschiedene Hände und Knopflöcher bereit waren, Segen zu empfangen,
sondern er fand ihn im Gartenhause des Parkes Eichenborn, und das
Gesellschaftstempelchen sah zum erstenmal wieder fürstliche Gäste, wie
in längst vergangenen Glanztagen.

Schwarzhausen hatte Ursache, wieder den Kopf zu schütteln. Denn der
als streng moralisch bekannte Fürst machte auch der geheimnisvollen
Liebsten des jungen Bertold seinen ehrenden Besuch, ja er nahm sogar
das »Pfand der Liebe«, die Frucht des unerhörten, lichtscheuen
Verhältnisses mit nach der Residenz, damit die musikalische Ausbildung
durch berühmte Hände erfolge.

Die neue Schwarzhausener »Schmach«, welche Bertold Eik den
sittenstrengen Mitbürgern angetan hatte, war ein vierzehnjähriger
Knabe, der in Eichenborn vom Rektor Tüllen unterrichtet wurde, wie denn
überhaupt Tüllen und Brennstoff auf Wunsch der Eiks sich dauernd in
Eichenborn niederließen.

Der »Sohn« von Bertold Eik ~junior~ wurde Fritz Bach genannt, und
trotzdem sich der Fürst zu der unerhörten Heimlichkeit hergab, die sich
im Gartenhause des Eikschen Parkes abspielte, und trotzdem überall
wachthabende Eichenborner Garde auf Posten gestellt war, hatte doch
ein Schwarzhausener Schlingel Gelegenheit, sich in einem Tannenwipfel
einzunisten; er erzählte dem atemlos lauschenden Städtchen, daß der
Fürst neben »_der_« gesessen. Er habe ihr sogar eigenhändig einen
Schemel gebracht. Bertold Eik ~junior~ habe Geige gespielt, worauf der
Fürst ihn _umarmt und geküßt habe_. Das gleiche habe darauf plötzlich
»Fritz Bach« getan und Bertold Eik habe darüber herzhaft gelacht,
worauf der Fürst laut und deutlich gesagt habe: »Mein lieber Eik, auch
ohne Ihr Geigenspiel, schon durch Ihr Lachen allein wären Sie der
musikalischste Mensch unter der Sonne!«

Man konnte sich nur denken, daß der Fürst schon »alt« wurde und deshalb
solche -- (mit tiefem Bückling wurde es gesagt) -- _Ungereimtheiten_
vorbrachte. -- Außerdem hatten sich Durchlaucht ja nie die Mühe
gegeben, sich zu überzeugen, wie seine übrigen Landeskinder lachten,
so z. B. ganz besonders laut die Tochter des Bürgermeisters, wenn sie
keinen Heuschnupfen hatte.

Irgend einen Haken besaß natürlich die ganze Geschichte; denn trotzdem
der Fürst öfters »unerhört gemütlich« zu den Eiks kam und Bertold Eik
~junior~ der Lieblingsgast des fürstlichen Residenzschlosses wurde,
nannte sich noch niemand der Eiks »Kommerzienrat« und nicht die
geringste Ordensdekoration wurde von ihnen getragen. --

Es war gut, daß das Schicksal dem Städtchen Ersatz gab und es
an einem anderen Schwarzhauser Kinde Freude erleben ließ. Das
war die Frau Liselotte von Windemuth, die nun als junge, ehrbare
Witwe des Oberleutnants in ihr Vaterhaus eingezogen war. Daß die
achtundzwanzigjährige Frau keinen Verkehr suchte, sondern nur der
Erziehung ihres Töchterchens lebte, daß sie weder Kaffees, noch
Abendgesellschaften mitmachte, sondern sich der Pflege der Musik
hingab, war freilich nicht nachahmenswert, aber sie war ja ein Mensch
und Fehler haben _die_ alle. Die Schwarzhausener rechneten sich selbst
nicht eigentlich in die Kategorie des ~homo sapiens Linné~, sie waren
eben etwas Besonderes, waren »Fürstlich Schwarzhausensch«.

Frau von Windemuth hätte wohl eigentlich bei ihrer Jugend noch nicht so
allein leben sollen, aber sie war nicht zu bewegen, der verstorbenen
Base Juliane eine würdige Nachfolgerin zu geben, und setzte allen
Anzapfungen dieser Art ein Lächeln entgegen, von dem man nicht recht
wußte, ob man es lieblich oder spöttisch nennen dürfe.

Wunderschön war jedenfalls die junge Witwe, und um einen Blick aus den
stahlblauen Augen zu erhaschen, ging, fuhr und ritt die Schwarzhausener
Männlichkeit mit besonderer Vorliebe durch die Straße, wo sie wohnte,
und der Verkehr in diesem Stadtteil hob sich, ohne daß Frau Liselotte
selbst eine Ahnung hatte. Einige hochangesehene, ernsthafte Bewerber
waren über die Schwelle des Windemuthhauses geschritten, aber die
junge Frau zeigte keine Bereitwilligkeit, ihr eigenes Ansehen und ihre
Ernsthaftigkeit zu teilen. --

So mußte man sich damit begnügen, manchmal beim Sonnenuntergang vor dem
Zaun des parkartigen, dicht verwachsenen Gartens zu stehen und nach dem
geöffneten Fenster des ersten Stockwerkes zu spähen, »bis die Liebliche
sich zeigte«.

Aber sie zeigte sich nie.

Nur die wunderbar weiche Altstimme drang zu den Lauschenden, ein Klang
wie aus anderen Welten: »Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit klingt
ein Lied mir immerdar -- -- --«

       *       *       *       *       *

Das kleine sechsjährige Wesen, das man im Windemuthsgarten spielen
sah, hatte den Unternehmungsgeist der Mutter geerbt. Es stieg über den
Windemuthzaun in Nachbargärten und sprach mit den Inhabern wie ein
alter Verstandskasten. Es lernte stundenweise ernsthaft sein Abc und
teilte ein Herzchen voll Liebe mit Blumen, Vögeln, Puppen, Mutti und
dem lieben Gott.

Stahlblaue Augen schauten aus rosigem Gesicht lachend und zeitweise
wiederum ernsthaft prüfend. Flimmernde Goldlöckchen umrahmten eine
feine Stirn und unter dem geraden Näschen plauderte ein nicht
allzukleiner Mund mit Mausezähnchen und etlichen Zahnlücken. --

Die Puppen des quecksilbrigen Wesens liebten weite, gefährliche
Spazierfahrten in der »Kajüte«, wie der uralte Puppenwagen genannt
wurde; und manche hatte schon ihr Dasein eingebüßt bei den verwegenen
Ausflügen und lag begraben im Garten. Etliche waren Krüppel für
Lebenszeit und dadurch ganz besonders verhätschelte Lieblinge.

Frau Liselotte erlaubte ihrem Kinde Selbständigkeit.

Automobile und elektrische Bahnen gab es nicht in Schwarzhausen;
kläffenden, knurrenden Hunden trat das kleine Mädchen furchtlos
entgegen und der Begriff des Bösen und Schlechten ging ihm überhaupt
ab, so daß es mürrische und garstige Leute einfach fragte: »Was fehlt
dir?«

Vor dem lauschigen, verwachsenen Eingang zum Eichenborn, darinnen die
Quelle murmelte, war die Kleine wohl manchmal mit ihrem Puppenwagen
stehen geblieben und hatte in das tiefe Grün des Parkes hineingestaunt.
Denn es erbte die Eigenart der Mutter, allüberall Melodien zu hören,
und im Eichenborn schienen wundersüße Klänge in der Luft zu hängen.
Aus der Quelle tönten sie, aus dem Gründickicht quollen sie hervor
und dort unten, wo sich das silberne Band der wilden Gera schlängelte
und das dunkle Gartenhaus stand, schienen sich die Weisen zu einer
geheimnisvollen Symphonie zu verdichten. --

Schon oft wollte das kleine Persönchen all dieses näher ergründen, aber
»Mutti« hatte es immer vor dem Eichenborn besonders eilig gehabt und
das Kind rasch vorbeigeführt.

So lebte in der Kleinen das unbewußte Gefühl, daß der Eichenborn
verbotenes Gebiet sei.

Wenn aber das Schicksal es gerade vor dem Eichenborn erlaubte, daß die
Lieblingspuppe heftiges Nasenbluten bekam und abgewaschen werden mußte,
dann konnte man natürlich ohne Bedenken hineingehen, und ebenso mußte
es jedermann als berechtigt ansehen, daß man die Schwerleidende nach
dem Abwaschen noch ein wenig in dem stillen Parke umherfuhr.

Also die kleine Diplomatin.

Sie schritt mit Trippelschrittchen den Melodien nach und machte mit
erhobenem Zeigefinger ihre zwei Puppen auf die immer lauter werdenden
Klänge aufmerksam. Vor dem Gartenhause hob sie unter Ächzen und Seufzen
den schweren Puppenwagen über die Schwelle und schob ihn und sich
selbst durch die Tür in die große, altväterisch möblierte Diele. Da saß
ein steinaltes Mütterchen am Spinnrade.

»Um Verzeihung --« begann die Kleine mit tiefem Knix, »sind Sie
vielleicht Frau Holle?«

Sie nannte sonst noch alle Menschen »du«, aber bei Personen aus dem
Märchenlande mußte eine höfliche Ausnahme gemacht werden.

»Komm her zu mir,« rief ein verstaubtes, heiseres Stimmchen, aber die
Kleine wehrte ab. »Danke, danke, ich muß rasch zu Mutti, aber vorher
möchte ich ›das da‹ sehen.«

Ohne Zögern klinkte sie das Nebengemach auf, und »das da« stand vor ihr
und starrte mit Schrecken und Entzücken in das liebe Kindergesicht.

»Liselotte!« rief der große dunkle Mann, der die Geige im Arm hielt,
aus welcher die märchenhaften Klänge gekommen waren.

Ein grauer Papagei, der im Bauer am Fenster saß, fing plötzlich an,
sich wild und heftig im Ringe zu schaukeln.

»Liselotte! Bertold!« krächzte er.

Die Kleine erschrak und machte einen tiefen Knix.

»Woher weiß er es?« fragte sie neugierig und schmiegte sich an den Mann.

»Was meinst du, du liebes Kind? Heißt du nicht Liselotte?«

Bertold Eiks Hand strich sacht und zärtlich über das blonde Gelock.

»Nein, ich heiße Elfi. Aber die beiden hier.«

Sie schlug die Wagendecke zurück und hob zwei Puppenkinder hoch, das
eine im Steckkissen mit verbundener Nase, das andere in schwarzen
Samthöschen: »Liselotte und Bertold«.

»Liselotte! Bertold!« schrie der Papagei.

»Siehst du, er weiß es,« triumphierte Elfi, »woher weiß er es?«

»Das war immer so,« murmelte der große Mann, dann legte er mit raschem
Griff die Geige in den Kasten, hob die federleichte Elfi hoch, was die
Kleine zu jubelndem Lachen veranlaßte, und drückte sie stürmisch an
seine Brust.

»Du hast mich wohl lieb?« fragte sie erstaunt-zutraulich, und ihre
Ärmchen legten sich weich und herzlich um seinen Hals.

Dann zog sie ein verknülltes, nasses Taschentüchlein, mit dem
sie vorhin die Puppe abgewaschen, aus dem perlengestickten
Margaretentäschchen und wischte damit dem fremden Mann über das Gesicht.

Denn er hatte Wasser in den Augen und immer mehr Tränen kamen noch,
trotzdem ihm die Elfi so mütterlich-zärtlich zusprach, genau so, wie
es ihre eigene Mutti bei ihr selbst tat: »Nicht weinen, -- nicht doch
-- es ist ja gar kein Grund da!«

Plötzlich lachte er herzlich und glücklich, was sehr hübsch klang, und
sie durfte mit ihren kleinen Fingerchen die Saiten der Geige zupfen und
nach Herzenslust mit ihrem neuen Freunde plaudern. Sie erzählte von
Mutti und vom Windemuthhaus und dem großen Garten, und daß Großvater
und Großmutter und auch der Papa im Himmel seien und daß Mutti oft
weine.

Unglaublich rasch verflog die Zeit, denn der ernste Mann und das holde
Kind hatten sich gar so viel zu erzählen, und als endlich Elfi mit
dem Puppenwagen heimfuhr, lag zutiefst auf seinem Boden ein graues,
närrisches Bündel und Klein-Elfi und Bertold von Eik hatten ein
wundersüßes, großes Geheimnis miteinander.

       *       *       *       *       *

Frau Liselotte schritt in ihrem Garten auf und ab; er war so dicht
verwachsen, daß er sie vor jedem Späherauge schützte, und das war
gut und verständig von seinen dichten Zweigen. Denn in den lieben
Garten des Vaterhauses trug Frau Liselotte viel heimlichen Kummer;
all die vertrauten Stellen darin kannten ihr Leid, wußten, wie schwer
sie an der Ehe mit Hans von Windemuth getragen hatte, und wie sie
geistig beinahe verhungert war an seiner Seite. Sie war auf Wunsch des
Arztes nach dem plötzlichen Tode des Gatten auf Reisen gegangen, aber
Mutterliebe trieb sie wieder, seßhaft zu werden, weil Klein-Elfi nicht
die Unruhe vertrug. Frau Liselotte hatte sich eine Villa im Tiergarten
gemietet, um ihre Stimme in Berlin noch weiter auszubilden, aber sie
litt unter dem Tanz um das goldene Kalb, der begann, als man erfuhr,
daß die schöne Gesangschülerin der Königlichen Hochschule reich und
frei war.

Ernst und unnahbar wurde sie und -- einsam.

Dann kam der Konzertabend in der Singakademie, an dem sie Bertold Eik
zum ersten Male wiedersah.

Wiedersah als großen, unerreichten Künstler.

Und das Kinderherz in ihr flog ihm entgegen und alles Trennende
schien zu versinken, aber sie hörte, daß er jäh die Künstlerlaufbahn
abgebrochen habe und die großen Besitzungen der Eiks übernehmen werde.
Sie hörte, daß seine schwere einstige Kopfwunde ihm immer noch zu
schaffen machte, und man verhehlte ihr nicht die häßlichen Einzelheiten
ihrer Entstehung.

Auch seine geheimnisvolle Begleiterin sah sie und hörte von ihr, aber
nichts von alledem drang in das Stillste und Tiefste ihres Herzens, das
dem Jugendfreunde seit Urbeginn gehörte.

Und als die Sehnsucht nach der Thüringer Heimat sie packte und
schüttelte, daß sie meinte in der fremden Großstadt verzagen zu müssen,
da ließ sie die Pforten ihres Vaterhauses öffnen, ließ Licht und Luft
und Sonne durch die unverhüllten Fenster einziehen und duckte sich mit
ihrem Kinde in das stille, sonnenwarme Nest. --

Heute an dem Sommernachmittag, der sich schon sacht mit dem
Abend grüßte, wartete Frau Liselotte auf Elfi, die ihren
Gesundheitsspaziergang mit den Puppen etwas gar zu lange ausdehnte, so
daß die Mutter schon ein paarmal in Sorge über den Gartenzaun gelugt
hatte.

Nun setzte sie sich in die Geisblattlaube und die sonst immer fleißigen
Hände, die am liebsten jedes Stück, dessen der Liebling bedurfte,
selbst nähten, lagen gefaltet auf der kühlen Platte des alten
Steintisches.

Allgemach kam ein süßes Träumen über sie und der Kopf sank auf die
verschlungenen Hände.

»Gewiß weint Mutti wieder,« meinte Elfi zu sich selbst, die ganz leise
durch das Gartenpförtchen über den weichen Rasen herangefahren war. Ein
glückliches Lachen überzog das Schelmengesicht und wechselte mit einem
rührend sorglichen Ausdruck.

Was hatte der große, gute Herr im Eichenborn ihr zugeflüstert?

»Wenn deine Mutti wieder weint, dann leg ihr dies Bündelchen in den
Schoß; gib acht, sie wird dann froh.« -- --

Und Elfis Herzchen pochte in Erwartung, das graue Bündel wanderte aus
dem Puppenwagen auf den alten Steintisch und berührte die gefalteten
Hände der Ruhenden. Langsam und verträumt hob Frau Liselotte den
blonden Kopf und kichernd schlüpfte Klein-Elfi, sich versteckend,
hinter einen dichten Fliederbusch.

Von dort aus sah sie, daß Mutti gar nicht geweint, vielleicht nur ein
wenig geschlafen hatte, aber nun lag der Trost doch einmal neben ihr
und -- -- --

       *       *       *       *       *

O was hatte Elfi da angerichtet!

Sie sah, wie das Bündel mit stürmischen Küssen bedeckt wurde, wieder
und immer wieder, und die Mutti rief einen Namen dabei, den Elfi nicht
verstand; was sie aber wohl verstand, war, daß Mutti _nun_ weinte, --
weinte, wie Elfi es nie gesehen, herzbrechend und bitterlich. --

Also hatte der Herr vom Eichenborn unrecht gehabt und sehr, sehr bös
gehandelt, daß er der Mutti solchen Kummer mit dem greulichen Bündel
verursachte, und Elfi war sofort entschlossen, es ihm zu sagen, gleich
jetzt -- sofort.

Die flinken Beinchen legten den kurzen Weg unglaublich rasch zurück und
Bertold von Eik war sehr erstaunt, seine kleine, neue Freundin sobald
schon wieder zu sehen. Der Plaudermund Elfis strömte über von raschen,
zornigen Vorwürfen und sie verhehlte ihm gar nichts von dem jähen Leid,
das über Mutti beim Anblick des grauen Bündels gekommen war.

Noch viel zorniger aber wurde ihr Herzchen, als sie den großen Herrn
lachen sah, ganz strahlend und herzlich lachen, und sie wehrte sich mit
Händen und Fäustchen, als er sie stürmisch lieb haben wollte, und fing
nun selbst an, kläglich zu weinen.

Da wurde er ernst und redete gute, liebe Worte und sie legte
vertrauensvoll ihre kleine Rechte in die seine und er ließ sich von ihr
leiten bis ins Windemuthhaus.

Dort ließ sie aber die große Hand nicht los, sondern gemeinsam
schritten die beiden durch das Portal des Windemuthhauses und hinaus in
den Garten.

Erst vor der Geisblattlaube löste sich Elfis Händchen aus der Hand des
Freundes, und sie stieß ihn ein wenig unsanft hinein. »Da!« sagte sie
nur --

       *       *       *       *       *

Und der große ernste Herr von Eichenborn mußte seine böse Tat wohl sehr
bereuen, denn er lag vor Mutti auf den Knien und küßte immer wieder
ihre beiden Hände und diese Hände legten sich auf seinen Kopf und
schlangen sich um seinen Hals und Mutti, die gute Mutti, schien ihm
auch verziehen zu haben, denn sie küßte ihn ja und sah unbeschreiblich
glückselig aus.

Da umfing Klein-Elfi beide liebe Menschen mit ihren weichen Kinderarmen.

       *       *       *       *       *

An Tante Adelgundes hundertstem Geburtstag führte Bertold Eik von
Eichen seine Liselotte heim. -- Eine hundertjährige Bürgerin hatte
Schwarzhausen seit seiner Begründung noch nicht aufzuweisen gehabt. --

Die Schwarzhausener waren sehr stolz.

Nirgends in der Welt passierten so seltsame Dinge, wie in ihrem
Städtchen, und es hatte den Anschein, als ob der liebe Gott die
Schwarzhausener ganz besonders liebte und ehrte.

Denn daß die liebe, gute Liselotte Windemuth, die so viel für die
Armen der Stadt tat, den Bertold Eik heiratete und damit den einzigen
schlechten Kerl, den Schwarzhausen aufzuweisen hatte, zur Besserung
vorbereitete, das wollten sie ihr nie vergessen, ja manchem dämmerte es
in seinem Pharisäerherzen, daß Herr Bertold Eik von Eichen es doch am
Ende verdiente, ein Schwarzhausener Bürger zu sein.

Und mehr kann der Leser wohl von Schwarzhausen nicht verlangen.

       *       *       *       *       *

»Du willst meinem Enkel das Glück bringen?« fragte Eik ~senior~ die
junge, blonde, schöne Frau.

Es war am Abend ihres Hochzeitstages.

»Ich will ihm die _Heimat_ geben,« antwortete Liselotte schlicht.

Da schloß der alte grimme Eik sie in seine Arme, und er fühlte
seherisch, daß das heilige Feuer in diesen beiden Menschenkindern wohl
imstande sein würde, das Gold, welches im Eichenborn verborgen lag, von
allen Schlacken zu läutern.

Vom Großvater fort schritten Bertold und Liselotte in Tante Adelgundes
Gemächer.

Und das Geburtstagskind segnete sie und gab ihnen die silberbeschlagene
Bibel, aus der sie noch eben gelesen: »Und wenn ich mit Menschen- und
Engelszungen redete und hätte der _Liebe_ nicht, so wäre ich tönendes
Erz und klingende Schelle -- --«

Denn sie ist die Größeste -- -- --!

Fräulein Adelgunde blickte aus hellen Augen dem schönen Paare nach --
es schritt Hand in Hand über den Hof des Herrenhauses und dann stand
es vom hellen Mondlicht beschienen im gegenüberliegenden Turmzimmer,
dem Brautgemach, von dem man weithin schauen konnte über die geliebten
Thüringer Berge.

Ein Rauschen ging durch die Edeltannen, wie eine ernste Mahnung, und
ihr herbes Duften war wie stilles Grüßen in dieser heiligen Nacht.

»_Heimat ist Glück_,« murmelte die Hundertjährige.


        Ende.



    Weitere Anmerkungen zur Transkription


    Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Lange
    Folgen von Gedankenstrichen wurden gekürzt. Die Darstellung der
    Ellipsen wurde vereinheitlicht. Gedankensprünge wurden einheitlich
    dargestellt.

    Korrekturen:

    S. 64: auf Jungen → auf ihren Jungen
      sah bekümmert auf {ihren} Jungen

    S. 65: Eikens → Eichens
      zerstörende Erbteil der Eik von {Eichens}

    S. 78: Vater doch → Vater hat doch
      dein Vater {hat} doch auch



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