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Title: Die Schelme von Steinach: Erzählung für die Jugend
Author: Siebe, Josephine
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Die Schelme von Steinach: Erzählung für die Jugend" ***

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STEINACH ***



    Anmerkungen zur Transkription


    Das Original ist in Fraktur gesetzt. Weitere Anmerkungen zur
    Transkription befinden sich am Ende des Buches.



    Die Schelme von Steinach

    Erzählung für die Jugend

    von

    Josephine Siebe

    Mit Buchschmuck von Ernst Kutzer

    Fünfte Auflage

    [Illustration]

    Verlag von Levy & Müller in Stuttgart



    Nachdruck verboten
    Alle Rechte, insbesondere das Übersetzungsrecht, vorbehalten
    Druck: Chr. Verlagshaus, G. m. b. H., Stuttgart



[Illustration]



Erstes Kapitel

Steinach am Wald

    Zwei Reisegefährten erzählen sich etwas von den Schelmen von
    Steinach, und Heinrich Fries plant mit seiner Mutter eine
    Sommerreise


In einem Bähnchen, das bedachtsam, ohne sonderliche Eile, aber mit viel
Gepuff und Gestöhn durch das Land lief, saßen zwei Männer. Der eine war
alt, der andere war jung. Der Alte kannte die Gegend, der Junge kannte
sie nicht, und weil der Junge zu denen gehörte, die sich gern belehren
lassen, fragte er dies und das. Der Alte gab ihm gern Auskunft, er gab
sie wie einer, der Land und Leute liebhat.

Das Bähnchen fuhr auch an einem Dorf vorbei, über dem das Gebirge
dunkel bergan stieg. Von drei Seiten liefen Straßen auf das Dorf zu;
sie waren mit Obstbäumen eingesäumt, die just in Blüte standen. Wie
weiße, schimmernde Bänder lagen die Straßen im Sonnenglanz, und ein
weißer Blütenkranz umschmiegte auch das Dorf. Es sah hübsch aus, und
der junge Mann im Zug beugte sich rasch hinaus und las, was an dem
Bretterbudchen stand, das sich stolz Bahnhof nannte. »Steinach am Wald«
hieß das Dorf.

Auch der alte Mann schaute hinaus und nickte dem Dörfchen zu wie einer,
der einen guten Freund grüßt, zu dem er sagen will: Wir haben uns lieb.

»Da oben hat wohl einmal eine Burg gestanden?« fragte der junge Mann
und deutete auf einen mäßig hohen, nach einer Seite steil abfallenden
Berg, dessen Gipfel ein paar Mauerreste krönten.

»Ja, dort oben -- der Berg heißt der Schafskopf -- hausten einst die
Schelme von Steinach, das war ihre Stammburg.«

»Die Schelme von Steinach auf dem Schafskopf!« Der junge Mann lachte
und fragte: »Ein verlockender Name! Gibt es die Schelme noch?«

»Nein, das Geschlecht ist ausgestorben, aber« -- ein heiteres
Schmunzeln lief über des Alten Gesicht -- »die Geschichten von ihnen
leben noch in der Erinnerung, und die Nachbarn ringsum nennen die
Steinacher gern nach den alten Herren von einst die Schelme von
Steinach.«

Das Züglein hatte den kleinen Bahnhof verlassen. Pustend und stöhnend
fuhr es weiter, und das Dorf mit den weißen, schimmernden Blütenstraßen
entschwand allmählich den Blicken der Reisenden. Doch die Gedanken des
jungen Mannes blieben noch daran hängen, er fragte: »Wie waren denn
die Schelme von Steinach, daß man noch heute ihren Namen den Dörflern
anhängt?«

»Nun, beim richtigen Namen genannt waren es Raubritter. Sie hausten
wie Habichte auf ihrem Bergnest und nahmen gern, was ihnen gefiel,
auch wenn es anderen gehörte. Aber die Schlimmsten waren sie nicht,
andere adelige Herren trieben es dazumal wohl ärger. Sie waren nicht
hart, sondern gutmütig und voll lustiger Einfälle. Ein Raubzug war
ihnen meist ein heiterer Spaß, und sie schädigten die Beraubten nicht
an Leib und Leben. Ja, es kam vor, daß sie einen Kaufmann, den sie
ausgeplündert hatten, noch gastlich auf ihrer Burg bewirteten, damit er
sich vom Schreck erhole, und er von ihnen ging, als wäre er zu Besuch
da droben gewesen.«

»Und wieso gleichen die Steinacher von heute ihnen, daß man sie auch
Schelme nennt? Rauben sie etwa auch?« fragte der junge Mann fröhlich.

»Na, rauben und plündern tun sie freilich nicht, sie sind ehrlich,
einer wie der andere, aber für einen lustigen Spaß sind sie immer
zu haben,« erwiderte der Alte lächelnd. »Die Steinacher sind ein
sangesfrohes, heiteres Völkchen, und weil sie Sinn für Scherz und
Fröhlichkeit haben, leben auch noch die Geschichten der Schelme in
ihrer Erinnerung. Es geht damit wie bei manchen Dingen: das Schlimme
wird vergessen, das Gute bleibt in der Erinnerung haften.«

»Jetzt ist Steinach ganz verschwunden!« Der junge Mann rief’s
bedauernd, denn auch das letzte Zipfelchen der weißen Blütenstraßen
verhüllte nun die Ferne. »Man muß einmal hinfahren und den Spuren der
Schelme nachgehen.«

Der alte Herr sah den jungen Mann, der blaß und schmal war, prüfend an.
»Ein paar Wochen in Steinach täten Ihnen wohl gut. Sichtbare Spuren der
Schelme sind nicht mehr viele zu finden. An der Kirche steht außen ein
Grabstein aufgerichtet, ein Herr Arnulf von Steinach liegt da begraben.
Und weil den die Steinacher alltäglich sehen, erzählen sie die meisten
Schelmengeschichten von diesem Herrn Arnulf. Die Burg selbst ist ein
Trümmerhaufen, nur ein Turm steht noch halb. Aber natürlich,« der Alte
schmunzelte wieder, »liegt oben ein Schatz begraben; die Steinacher
sagen es wenigstens.«

»Ich werde den Schatz suchen gehen,« sagte der junge Mann. Er sagte
es heiter und seufzte doch dabei, denn er dachte an die kleine, enge
Viertreppenwohnung, in der er mit seiner Mutter hauste, und in der es
reichlich knapp herging.

»Ja, ja, einen Schatz möchte wohl jeder gern finden, und doch gehen die
Menschen an so vielen Schätzen der Welt achtlos vorbei. Just so wie
einst Herr Arnulf von Steinach.«

»Wie war denn das?« Der junge Mann machte ein Gesicht, daß der Alte
neckte: »Ei, auch auf Geschichten hungrig?«

»Geschichten höre ich wirklich gern,« bemerkte der andere, »und auf
Steinach und die Schelme bin ich schon ganz neugierig geworden.«

»Also die Geschichte ist so: Herr Arnulf hatte einst gehört, daß ein
Kaufmann mit kostbarem Geschmeide von Köln am Rhein käme, an des
Markgrafen von Meißen Hof wollte er. Den muß ich fangen, dann hat alle
Not ein Ende, dachte der Schelm von Steinach. Er war nämlich nicht
sehr begütert, und seine Standesgenossen pflegten zu sagen: ›Arm wie
der Schelm von Steinach!‹ Herr Arnulf legte sich also auf die Lauer
mit seinen Mannen, und richtig, der Kaufmann mit seinen Leuten zog auf
der Straße einher. Es ging wie immer in solchen Fällen: mit lautem
Geschrei überfiel der Ritter mit seinen Knechten den Zug, der Kaufmann
schrie und jammerte, seine Leute schrieen und jammerten noch lauter; es
geschah aber keinem ein Leid, und der Kaufmann mit den Seinen wurde auf
die Burg gebracht. Inzwischen ging ein armseliges Bäuerlein mit einem
Sack auf der Landstraße dahin. Es grüßte demütig, und der Ritter, froh
über den reichen Fang, warf ihm ein paar Batzen zu. »Was trägst du denn
da?«

»Schweinefutter,« stammelte das Bäuerlein und dankte untertänig für die
milde Gabe.

Herr Arnulf hatte keine Zeit, sich weiter um das Bäuerlein zu kümmern;
froh über den reichen Fang, zog er zur Burg hinauf. Nach Schelmensitte
wurden der Kaufmann und seine Leute in ein anständiges Gemach gebracht
und mit Wildbret, Brot und Wein bewirtet, während der Ritter erst
einmal die Beute betrachtete. Da war aber die Enttäuschung groß! Von
dem kostbaren Geschmeide war nichts zu finden, einige Kasten waren ganz
leer, und der ganze Raub bestand in einigen Ballen geringer Leinwand.
Der Kaufmann wurde herbeigebracht, und Herr Arnulf fuhr ihn zornig an,
wo denn das kostbare Geschmeide sei.

»Ach du lieber Himmel,« rief der Mann klagend, »so etwas habe ich nie
besessen; aber Gewürze hatte ich und dergleichen, die hat mir schon
jemand geraubt. Es gibt der Herren mehr, die auf uns arme Kaufleute
fahnden. Ich bin ein armer, unglücklicher Mann!«

»Potzwetter, da haben wir die falschen erwischt!« dachte Herr Arnulf
grimmig. Er ließ aber den armen Kaufmann das nicht entgelten; der
durfte noch am Abend mit den Seinen weiterziehen und sogar seinen Kram
mitnehmen. Denn dazu war der Herr Arnulf zu stolz, zu nehmen, was einer
übriggelassen hatte.

Danach lag er viele Tage und Nächte auf der Lauer, aber kein Kaufmann
zog vorbei, und von dem kostbaren Raub, den er zu machen gedachte,
bekam er kein Ringlein zu sehen.

Nach ein paar Monden kam ein Vetter, ein reiselustiger Herr, der
wußte von einem Spottlied zu sagen, das man in Köln am Rheine auf den
Gassen sang. Der reichste Kölner Kaufmann, so hieß es in dem Liede,
sei den Schelmen von Steinach als Bäuerlein mit Schweinefutter an der
Nase vorbeigezogen. Im Walde habe er dann auf sein Gefolge gewartet,
und alle miteinander hätten sich weidlich gefreut über des Schelmen
Reinfall, der das Märlein von den ausgeraubten Kisten und Ballen so
leicht geglaubt habe.

Da half nun dem Herrn Arnulf kein Wüten und Zürnen mehr, der reiche
Kaufmann saß in Köln sicher in seinem stattlichen Hause und zeigte den
Batzen, den ihm der Schelm geschenkt hatte.

Noch jetzt sagen sie in der Steinacher Gegend, wenn einer gar armselig
tut und es nicht nötig hat: »Dem würde der Schelm auch einen Batzen
schenken.««

Es war, als hätte das Züglein darauf gewartet, bis die
Schelmengeschichte zu Ende war, es hielt, und alle Leute mußten
aussteigen. Die große Bahnlinie war erreicht, und etliche Reisende
sagten: »Gut, daß die Bummelei ein Ende hat und wir in den Schnellzug
steigen können.«

Der junge Mann dachte das nicht, als er nun allein weiterfuhr, denn
sein Reisegefährte hatte ein anderes Ziel. Er dachte an das Dorf im
Kranz der blühenden Bäume; es mochte sich dort wohl gut wohnen. Nun
lächelte er nicht mehr, nun seufzte er nur, weil es ihm einfiel, wie
anders alles in seinem Leben gekommen war, als er es einst erhofft.
Studieren hatte er wollen, da war sein Vater gestorben, just als er in
der Prima saß. Seiner Mutter blieb so ein winziges Geldchen, daß sie
gerade noch so lange davon leben konnte, bis sich ein kleiner Erwerb
gefunden hatte. Er ging auf ein Seminar und wurde Lehrer, weil er dort
eine Freistelle erhielt. Nun war er Hilfslehrer in einer großen Stadt,
seine Mutter stickte und nähte noch, und beide hofften, er würde bald
eine bessere Stelle erhalten. Er hatte darum die Reise gemacht, aber
sie war vergeblich gewesen, die Stelle war einem anderen zuerteilt
worden, und er kehrte in die graue Stadt zurück. Trübe blickte er zum
Fenster hinaus.

Draußen lag die Welt im Frühlingsglanz, aber ihm war das Herz schwer.
Er wußte wohl, er hatte es eigentlich ganz gut; sein Amt war zwar
bescheiden, aber es nährte ihn doch, er war zudem jung und gesund, und
die allerbeste Mutter umsorgte ihn. Doch er konnte es nicht vergessen,
daß er hatte studieren wollen, und sehnte sich danach, noch immer mehr
und mehr zu lernen, und sollte nun lehren, -- das machte ihn unfroh. Er
wollte höher hinaus im Leben, nach Ehre und Ansehen stand sein Sinn.

An alles das dachte er auf der Bahnfahrt, er dachte auch noch daran,
als er wieder die vier Treppen zu seiner Wohnung emporstieg, und oben
las ihm seine Mutter die Gedanken von der Stirn und sagte wehmütig:
»Mein armer Junge!«

Da bezwang er sich, und heiter erzählte er von seiner Fahrt durch
das frühlingsgrüne Land, und Steinach am Walde fiel ihm dabei ein.
Er schilderte das Dörfchen, zu dem drei weiße, schimmernde Straßen
führten, und er erzählte auch von den Schelmen. Darüber wurde er ganz
froh, und zuletzt sagte er: »Weißt du, Mutter, wir sparen recht, und
dann machen wir einmal eine Ferienreise nach Steinach am Walde.«

»Ach ja,« sagte die Mutter, und ein sehnsüchtiger Glanz trat in ihre
sanften Augen, »das wird schön!«

Sie dachte an ihre fröhliche Jugend, die sie auf dem Lande verlebt
hatte, und der Sohn dachte auch daran, denn die Mutter hatte ihm
viel erzählt. Und auf einmal verschwand seine trübe Stimmung, ein
fröhlicher Arbeitsmut kam über ihn, vielleicht konnte er noch mehr
durch Stundengeben verdienen, konnte wirklich einmal mit seiner Mutter
verreisen.

Herr Heinrich Fries, so hieß der junge Lehrer, reckte die Arme und rief
heiter: »Es bleibt dabei, Mutterle, wir reisen einmal nach Steinach am
Wald. Nächstes Jahr -- oder vielleicht noch diesen Sommer.«

Die Mutter mahnte lächelnd: »Bau’ dein Luftschloß nicht zu hoch!«

»Ach, warum nicht? Wer weiß, wie schnell so etwas wird! Recht fleißig
will ich sein, und in den großen Ferien reisen wir, -- ja sicher, --
schon in den großen Ferien.«



[Illustration]



Zweites Kapitel

Auf der Apfelstraße

    Warum Besenmüller auf der Pflaumenstraße sitzt und Schwetzers
    Fritze seinen Himbeerapfel fortwirft -- Der neue Lehrer findet
    die Begrüßung sehr seltsam, und Frau Besenmüller erscheint zur
    rechten Zeit


In Steinach am Wald blühten die Bäume an den Straßen nicht mehr, denn
es war Herbst geworden. Auf jeder Straße hatte ein anderer Baum die
Herrschaft, und die Steinacher redeten darum von einer Apfelstraße,
einer Birnen- und einer Pflaumenstraße.

Die Bäume hingen voller Früchte, und keine Steinacher Hausfrau
brauchte weder um Weihnachtsäpfel noch um Pflaumen zum Kuchen oder um
Birnenschnitze für die Winterszeit in Sorge zu sein. Von allem gab es
reichlich. Die Äste brachen fast unter der Last der reifen Früchte.

»Destowegen braucht das Kindervolk aber nicht immer auf die Bäume
zu klettern oder drumherum zu kriechen,« sagte Besenmüller, der in
dieser Zeit in Steinach das Amt eines Obstwärters ausübte. Das war
nicht leicht. Spazierte nämlich Martin Besenmüller auf der Apfelstraße
entlang, dann spielten die Kinder auf der Pflaumenstraße, und schrie da
ein Bube »Besenmüller!«, flugs liefen alle zur Birnenstraße.

An einem Herbsttag, der heiß und sonnenleuchtend war, -- man hätte
ihn für einen Sommertag halten können -- saß um die erste frühe
Nachmittagsstunde Besenmüller auf der Pflaumenstraße und strickte. Das
war eine Arbeit, die ihm manchen Spott eintrug. Die Steinacher Kinder
waren unnütz genug, ihn oft neckend zu bitten: »Besenmüller, ich hab’
’n Loch im Strumpf, geh, schenk mer ’n neuen!«

Dann tat Besenmüller zwar gewaltig böse, er schimpfte und schalt, und
seine liebe Frau schalt noch mehr, aber der Mann blieb doch sitzen und
strickte weiter. Und seine Frau sagte: »Strick’ nur, Besenmüller, was
for ’s Gemüt muß der Mensch haben. Was für Stadtleute das Gelese und
Klaviergespiele is, das is for dich das Gestricke. Laß dir deine Freude
nicht verärgern!«

Besenmüllers Ärger ging aber nicht tief, und wenn er zankte, lag wohl
ein heimliches Lachen in seinen Augen. --

Ein Vergnügen war es nun wirklich, so im Sonnenschein unter einem Baum
zu sitzen und zu stricken. Besenmüller hatte einen rosenroten Strumpf
vor, und seine Laune war auch rosenrot; er rief herzvergnügt »Guten
Tag!«, als ein Bauer vorbeikam.

»Na, Besenmüller, hütest du die Zwetschen mal wieder?« fragte der Mann.
»Freilich, freilich, se sin arg schene alleweil. Das Kindervolk möchte
zu gern ran.«

Besenmüller lächelte schadenfroh. Auf der Birnenstraße gab es nicht
mehr viel zu holen, und die Winteräpfel, die noch auf den Bäumen saßen,
lockten nicht so sehr. »Se sin jetzt sehre wilde, de Kinner,« brummelte
er.

»Jo, jo, wenn nur der neie Lehrer erst käme!« gab der Bauer zur
Antwort. »Vater Hiller ist zu gut.«

»Aus ’ner großen Stadt kommt der.« Besenmüller machte ein unzufriedenes
Gesicht, und der Bauer fragte: »Is dir wohl niche recht?«

»Nä, bewahre, ’n Städter ist ’n Städter, der wird nich nach Steinach
passen. Iche bin unzufrieden.«

Da ging der Bauer kopfschüttelnd weiter. Ja, wenn Besenmüller
unzufrieden war, so war das eine schlimme Sache. Besenmüller war nicht
allein Obstwächter, er war auch der Schul- und Kirchendiener. Je ja,
und der war nun mit dem neuen Lehrer unzufrieden!

Besenmüllers Laune war nun nicht mehr so rosenrot wie sein Strumpf,
der Gedanke an den neuen Lehrer hatte sie ihm ein bißchen verdorben.
Fünfunddreißig Jahre hatte der alte Lehrer Hiller in Steinach sein Amt
verwaltet, und auf einmal wollte er fort. Er brauche Ruhe, hatte der
Arzt gesagt. Nun wollte Vater Hiller, so wurde er gern genannt, zu
seinen Kindern ziehen, und ein neuer sollte an seine Stelle treten.

Wie dieser neue Lehrer sein würde, daran dachte nicht allein
Besenmüller an diesem Nachmittag, auch die Kinder redeten davon. Die
saßen alle miteinander, Buben und Mädel, große und kleine, auf der
Apfelstraße und fanden, daß Winteräpfel auch schon im Herbst ganz gut
eßbar sind. Sie kannten auch genau die Bäume, auf denen die frühreifen
Früchte hingen. Die Buben saßen auf den Bäumen, die Mädel darunter, und
alle schmausten sie mit vollen Backen.

Dort, wo sich die Apfelstraße schon dem kleinen Bahnhof näherte, --
er lag etwa eine Viertelstunde vom Dorf entfernt -- saß auf einem
Himbeerapfelbaum Arnulf Weber. Schlank und rank war er; wenn er mit
seinen Kameraden ging, ragte er immer ein Stückchen über sie hinaus.
Und lärmten die Buben auf der Straße gar zu arg, dann sagten die
Steinacher: »Mer hört’s, Arne is dabei.«

Arne saß oben auf dem Baum, und im untersten Geäst hing Fritze
Schwetzer. Der war kurz und stämmig, und seinen Namen verdiente er gar
nicht. Maulfauler als Fritze Schwetzer konnte nicht leicht einer sein.
Wenn den seine Mutter mit einer Bestellung zu einer Nachbarin schickte,
dann sagte er dort meist nur das letzte Wort, etwa »Kuchenblech«,
die Nachbarin mußte es sich dann dazu denken, daß Frau Schwetzer ein
Kuchenblech geliehen haben möchte. An diesem Herbstnachmittag sagte
Fritze überhaupt nichts. Er aß nur einen Himbeerapfel nach dem andern,
obgleich seine Mutter bei Tisch gesagt hatte: »Fritze, du wirst noch
platzen, wenn du so arg stopfst.«

Desto mehr redete Arne. Seine Stimme tönte hell die Apfelstraße
entlang, und von einem Pfundapfelbaum und anderen Bäumen, auch aus dem
Graben heraus, in dem die Mädel saßen, kam Antwort. Lustige Neckworte
flogen hin und her. Manchmal sauste ein Apfel von Baum zu Baum, im
Graben kicherte es, und in all den heiteren Lärm hinein schrie auf
einmal Zimplichs Max: »Nu kommt er balde!«

»Wer denn?« Die den Ruf gehört hatten, fragten es, und die anderen
riefen: »Was hat er gesagt?«

»Der Neue.« Zimplichs Max brüllte es laut, und Ach- und Ohrufe tönten
die Apfelstraße entlang. Auf einmal dachten sie alle an den neuen
Lehrer, auf den sie ungeheuer neugierig waren. Ob er wohl sehr streng
war? Strenger als Herr Hiller sicher! Und nun würden die schönen vielen
Feiertage ein Ende haben, denn Vater Hiller hatte zuletzt nicht mehr
soviel unterrichten können, er war lange leidend gewesen.

»Ich fürcht’ mich niche!« Ein kleiner, dicker Stöpsel, der mit Müh und
Not auf einen niedrigen Baum gekommen war, schrie es kühn und laut. Das
Wort fand Beifall von da und dort, von oben und unten versicherten es
Buben und Mädel: »Wir ferchten uns niche.«

»Jackenknöpfle hat recht!« Webers Arne warf dem kleinen, dicken
Burschen einen roten Himbeerapfel hinüber, der fing ihn auf, biß hinein
und ärgerte sich dabei. Sein Spitzname kränkte ihn. Jakobus Knöpfle
hieß er, daraus hatte ein Spaßvogel Jackenknöpfle gemacht, und dieser
Name hing ihm nun an. Seine Mutter tröstete zwar: »Sei froh, daß
sie nicht Hosenknöpfle sagen!« Aber das war doch nur ein schlechter
Trost. --

Während so die Kinder auf der Apfelstraße von dem neuen Lehrer redeten
und Besenmüller auf der Pflaumenstraße verdrießlich an ihn dachte,
fuhr Herr Heinrich Fries im Zuge nach Steinach. Er war der neue Lehrer,
und als er so das Land im Herbstschmuck sah und an seine Frühlingsreise
dachte, kam es ihm ganz wunderbar vor, daß nun Steinach sein Ziel war.
Wie es so kommt. Im Sommer hatten die Ersparnisse noch nicht zu einer
Reise gereicht, und Mutter und Sohn hatten zueinander gesagt: »Nächstes
Jahr vielleicht.« Und dann war Heinrich Fries eines Tages in die Schule
gekommen, in der er als Hilfslehrer unterrichtete, da hatte sein
Rektor zu ihm gesagt: »Wollen Sie auf das Land? Es ist schnell eine
gute Stelle zu besetzen. Der dortige Lehrer ist krank, er will in den
Ruhestand treten.«

Auf das Land? Dorflehrer sollte er werden? Nur zögernd hatte er
gefragt: »Wie heißt denn der Ort?«

»Steinach am Wald.« Der junge Lehrer im Zug mußte wieder lächeln, als
er an sein Erstaunen damals dachte und an das seiner Mutter über den
seltsamen Zufall. Steinach am Wald, dorthin sollte er. Nur drei Tage
blieben ihm Bedenkzeit, und in diesen Tagen hatten Mutter und Sohn viel
von dem fernen Dorf gesprochen. Sehr froh waren sie beide nicht, sie
wären gern in der Stadt geblieben.

Frau Fries gehörte zu jenen Müttern, in deren Herzstübchen die Wände
voller Bilder hängen, fast alles Bilder ihrer Kinder. In diesem
Stübchen stehen dann lauter Dinge, an denen die Kinder ihre Freude
haben oder sie einst hatten. Auch ein großes Sorgenwinkelchen gibt es
drin, dort liegt das Leid der Kinder. Manchmal ist dieser Sorgenwinkel
recht groß, und die Mutter hat viel, viel damit zu tun. Auch Frau
Fries’ Herzstübchen war immer ausgefüllt von der Sorge und Freude um
ihren Sohn. An sich selbst dachte sie nie, nur an den Sohn, und der
sollte mehr werden als nur ein Dorflehrer, ein Gelehrter sollte er
werden wie sein Vater. In der Stadt konnte er weiterarbeiten, auf dem
Dorfe wohl nicht.

Die gute Mutter! dachte Heinrich Fries, als er Steinach immer näher
kam. Nun würde er bald dort sein, aber allein zuerst, so hatte es die
Mutter verlangt. »Wenn es dir nicht gefällt, kommst du zurück,« waren
ihre Worte gewesen. Und der Sohn wußte, sie würde in ihrer Einsamkeit
von morgens bis abends arbeiten, nur für ihn. Sie würde für ihn sorgen
unermüdlich, vielleicht kam er bald zurück und brauchte ihre Hilfe.

Da hielt der Zug, Steinach am Wald war erreicht. Er stieg aus und sah,
daß er der einzige Reisende war, der das tat. Der Zug fuhr weiter,
und er schlug den Weg nach dem Dorfe ein. »Nur immer die Apfelstraße
hinunter,« sagte der Bahnbeamte freundlich. »Ihren Koffer lassen Sie
nur hier, Herr Lehrer, -- das sind Sie doch?«

Der Mann grüßte und nickte, und Heinrich Fries ging die Apfelstraße
entlang. In der großen Stadt, aus der er kam, konnte er durch viele
Straßen gehen, niemand kannte ihn, und hier wußten sie gleich, wer er
war. Es ist freilich ein Dorf, sagte er zu sich und seufzte im Herzen,
nur ein Dorf!

Um diese Zeit dachte Besenmüller gerade auf der Pflaumenstraße: »Heute
sin se aber brav, die Kinner!« und die braven Kinder jauchzten, lärmten
und schmausten vergnügt auf der Apfelstraße. Da tönte der schrille
Pfiff einer Lokomotive in das fröhliche Gelärm hinein, und Arne schrie:
»Vielleicht kommt jemand.«

Geschwind verkrochen sich die Buben im dichteren Blattgewirr, und die
Mädel duckten sich in den Graben. Es war doch möglich, daß jemand
vom Bahnhof kam, und wenn sie auch alle meinten, im Recht zu sein
mit dieser Schmauserei, erwischen lassen wollte sich keins. Ein paar
meinten: »Arne, paß auf!«

»Es kommt wer -- ’n Fremder!« schrie der zurück, und der Ruf eilte die
Apfelstraße entlang von Baum zu Baum.

Von den Bäumen herab, aus dem Straßengraben hinauf lugten schwarze und
blaue Augen dem Ankommenden lustig entgegen. Wer mochte das sein? Ein
Fremder in Steinach, welch ein Wunder!

Fritz Schwetzer allein kümmerte sich nicht um den, der kam. Er hatte
eben einen Himbeerapfel angebissen, der außen schön rot und glänzend,
aber innen verfault und bitter war, das ärgerte ihn. Er drehte den
Apfel rundum, biß noch einmal da an und dort, vielleicht gab es noch
eine süße Stelle, aber da der Apfel bitter blieb, warf Fritze ihn in
weitem Bogen auf die Landstraße, da mochte er liegen.

»Holla, was ist denn das?« Heinrich Fries sah sich erstaunt um, ihm
war etwas an den Kopf geflogen und hatte ihm den Hut heruntergerissen,
und doch war es ganz windstill, kein Lufthauch war zu spüren. Aber
freilich, in den Bäumen raschelte und zitterte das Laub, und der junge
Lehrer sah da und dort Bubenbeine hängen, er sah auch neben seinem Hut
einen angebissenen Apfel liegen. Rasch trat er auf den Himbeerapfelbaum
zu, packte Fritzes Beine und rief: »He, du da oben, ist das Sitte hier,
Fremden den Hut vom Kopf zu werfen?«

Fritze erschrak. Er sagte aber nichts, sondern versuchte nur seine
Beine zu befreien. Arne beugte sich rasch hinab, um sich den Fremden
näher anzusehen. Doch dabei entglitt ihm sein Apfel und traf Herrn
Fries an die Nase.

»Potzwetter,« rief der nun ärgerlich, »da sitzt ja noch so ’n heilloser
Bube! Ihr scheint mir ja nette Rangen zu sein! Kommt mal gleich
herunter.«

»Nä,« rief Arne trotzig. Der hatte gar keine Lust, mit dem
Fremden unten auf der Landstraße zu stehen. Auch Fritze Schwetzer
verspürte dazu keine Neigung, aber ihn konnte der junge Mann leicht
herunterholen. Das war bedenklich, und er überlegte, es wäre
eigentlich ganz ratsam, dem fremden Mann einfach über den Kopf weg zu
springen. Auf diese Weise entging er aller Fragerei. Gedacht, getan.
Ehe Herr Heinrich Fries noch wußte, wie und was, sauste Fritze vom
Baum herunter; aber hatte vorher sein Apfel des jungen Lehrers Hut
mitgenommen, so nahm der Bube gleich diesen selbst. Pardauz lagen beide
auf der Straße, Fritze überschlug sich zweimal, sprang auf und raste
hinweg.

Aus dem Graben schauten drei lachende kleine Mädel heraus, und oben auf
dem Baume kreischte Arne laut vor Vergnügen. Sein Jubel fand ein Echo.
Plötzlich lachte, schrie und kicherte es die ganze Apfelstraße entlang.
Den Buben und Mädeln schien die Purzelei des Fremden ein lustiger Spaß
zu sein, dieser selbst freilich fand es gar nicht lustig, der war sehr
verdrießlich. Er suchte mißmutig seine Sachen zusammen, die zerstreut
am Boden lagen, und dachte dabei: »Das ist ja ein netter Anfang! Wenn
das so weiter geht, wird es mir schwerlich gut in Steinach gefallen.«

[Illustration: Die Schelme von Steinach. Seite 22.]

Unschlüssig stand er eine Weile da und sah die lange Straße hinab.
Kerzengerade lief sie bis zum Dorfe hin; an ihrem Ende ragte fein und
schlank der Kirchturm in die Luft. Der junge Lehrer sah aber nicht
allein das Dorf im Hintergrunde, er sah auch da und dort Bubenbeine
von den Bäumen herabhängen, und kleine kecke Mädelnasen streckten sich
aus dem Graben heraus. Recht seltsame Früchte waren das. Wie er noch
so stand und sich seine zukünftigen Schulkinder betrachtete, tönte von
unten herauf der Ruf: »Besenmüller, Besenmüller kommt!«

Ritsch, ratsch verschwanden die Beine, wie reife Äpfel plumpsten die
Buben von den Bäumen, aus dem Graben kamen die Mädel heraus, und heidi
ging es nach rechts und nach links über die Stoppelfelder hinweg. Im
Umsehen lag die Apfelstraße verlassen da, nur eine auffallend große
Frau schritt dem jungen Lehrer entgegen.

In der Mitte der Straße trafen sich beide. Die Frau musterte rasch den
Fremden, dann sagte sie: »Ich bin die Besenmüllern, Herr Lehrer!«

»Ja, kennen Sie mich denn?«

»Nu freilich, sonst kommt doch ’n Fremder nich her um die Zeit. Und
Pflaumenkuchen hab’ ich schon gebacken, und unser alter Herr Lehrer
erwartet Sie. Und mein Mann sitzt unten auf der Pflaumenstraße, und ich
dachte gleich, de Kinner sin hier. Besenmüller is zu gut, viel zu gut,
Herr Lehrer, so gut is keiner wie der. Er müßte strenger sein gegen die
Kinner. Gelle, das meinen Sie auch?«

»Hm,« sagte der junge Lehrer nur. Er kannte weder Besenmüller noch
seine Frau, er wußte nichts von deren Güte oder Strenge. »Ich will nun
gehen,« murmelte er.

»Ich geh’ mit, und Ihr Zimmer ist schon fertig, Herr Lehrer.«

So schwatzte Frau Besenmüller, des Kirchen- und Schuldieners Frau,
unablässig weiter und führte den jungen Lehrer nach Steinach hinein.
Der brauchte nichts zu fragen und zu sagen, Frau Besenmüller erzählte
ihm alles, wie ein Mühlwerk ging ihre Rede, und dabei konnte ihr
Begleiter nie sehen, weinte sie oder lachte sie, weil nämlich ihr
Gesicht ganz merkwürdig schief war. Seltsame Leute und seltsame Sitten
scheint es hier in Steinach zu geben, dachte der junge Lehrer, als sie
das Dorf erreichten. Ob ich hier wohl lange bleiben werde? Sicherlich
nicht!

»Nä, so was,« rief da Frau Besenmüller, »Webersch Wagen is umgepurzelt,
nä aber!«

Quer über die Straße lag ein umgestürzter Düngerwagen und versperrte
den Zugang. Der Duft, der von ihm ausging, war nicht lieblich, und
Heinrich Fries schickte sich seufzend an, in einem weiten Bogen
herumzugehen, und so langte er endlich verdrießlich vor dem Schulhause
an.

[Illustration]



[Illustration]



Drittes Kapitel

Der Empfang

    Eine Ratssitzung auf dem Schelmenacker -- Malchen gibt ein
    rotes Band, und Fritze Schwetzer zeigt, wie gut er werfen kann
    -- Besenmüller nennt seine Frau Lydia, und Heinrich Fries
    lauscht dem Abendgesang


»Da sin mer also!«

Frau Besenmüller blieb vor einem großen, stattlichen, gelbgetünchten
Hause stehen, und der junge Lehrer sah verwundert daran empor. Das
sollte ein Dorfschulhaus sein?

»Gelle, das ist mal fein?« Die Frau Besenmüller schmunzelte, und selbst
ihre weinerliche Gesichtsseite wurde freundlich. Sie war ungemein stolz
auf das Schulhaus und merkte gleich, dem neuen Lehrer gefiel es.

Der maß das stattliche Gebäude mit hellen Blicken. Ja freilich, so
ein Haus konnte einem schon gefallen. Es glich eher einem großen
Gotteshaus, und es mochte anderthalb Jahrhunderte und mehr auf seinem
Platze stehen. Es war zweistöckig und hatte ein doppeltes Dach.
Lustig, wie lauter vergnügte Kinderaugen, schauten die Dachaugen in die
Welt hinein. An der Ostseite rankte sich wilder Wein am Hause empor,
der glühte im Herbstrot, und so in farbiger Schöne prangte auch der
Garten, der von zwei Seiten an das Haus grenzte.

»Gelle ja, das is fein?« sagte Frau Besenmüller noch einmal und führte
den jungen Lehrer in das Haus hinein. Dem weiten Hausflur und der schön
gewundenen Treppe war es auch anzumerken, daß das Haus nicht als Schule
gebaut worden war. »Ein Graf hat das Haus einmal gebaut,« erzählte denn
auch des Schuldieners Frau eifrig, als sie die Treppe voran emporstieg.
»Der hat gesagt, in der Stadt taugten die Leute nischte niche, womit
er ja recht hatte, und daderum wollte er auf dem Dorfe leben. Wie nun
das Haus fertig war, is er niche reingezogen, denn hat’s ihm gerade
wieder in der Stadt gefallen. Da hat er gesagt, auf dem Dorf taugten
sie nischte niche. Närrsch, gelle? Ja, so sin nu die Leute. Un hier is
unser alter Herr Lehrer, un ich bring’ gleich den Kaffee.«

Frau Besenmüller hatte eine Türe geöffnet und rief in das große, helle
Gemach hinein: »Hier is er!« Dann verschwand sie eilig, und die beiden
Lehrer standen sich gegenüber. Der eine weißhaarig und gebückt, viele,
viele Furchen im alten, milden Gesicht, der andere blond, groß und
schlank, seine grauen Augen blitzten tatenlustig. Sie schüttelten sich
die Hände, und jeder dachte vom andern: »Der gefällt mir.«

Frau Besenmüller brachte wirklich sehr schnell Kaffee und einen
ungeheuren Teller voll Pflaumenkuchen dazu, auch Brot, Butter und
Wurst, gerade so, als hätte Heinrich Fries eine Weltreise gemacht.
»Dieser Empfang gefällt mir besser,« sagte er heiter, und dann
berichtete er Vater Hiller von seinem Erlebnis auf der Apfelstraße. Der
lächelte dazu und erwiderte: »Böse gemeint war’s nicht, na ja, aber
wild sind sie freilich, das ist schon wahr.«

Er erzählte seinem jungen Nachfolger allerlei von Steinach und seinen
Bewohnern, von den Kindern und dem Schulhaus. Das war wirklich ein
altes Herrenhaus gewesen, wie es Frau Besenmüller erzählt hatte. Drei
alte Gräfinnen, Schwestern, hatten zuletzt viele Jahre darin gewohnt,
und es war nach ihrem Tode, weil ihr Erbe unauffindbar gewesen war, dem
Dorf als Schulhaus gegeben worden.

Während die beiden Lehrer so von alten und neuen Zeiten, vom Schulhaus
und den Steinacher Kindern sprachen, saßen die letzteren auf dem
sogenannten Schelmenacker. Das war ein Stück Wiesenland zwischen
der Apfelstraße und der Birnenstraße; dort lag inmitten ein großer
Steinhaufen, auf dem es sich wunderbar saß, wenigstens sagte es Webers
Arne. Alle die Buben und Mädel hatten sich hier versammelt, die auf der
Apfelstraße gewesen waren. Dort hatten etliche Frau Besenmüllers laute
Worte gehört, und sie wußten es jetzt, der Fremde war der neue Lehrer.

Sie waren sehr niedergeschlagen, denn so seltsam hatten sie den neuen
Lehrer doch nicht empfangen wollen. »Du bist dran schuld,« sagten sie
alle einmütig zu Fritze Schwetzer.

»Nä.« Fritze sagte weiter nichts, aber dies eine Wort ärgerte
die andern, sie riefen entrüstet: »Leugne nich, du hast’n Hut
runtergeschmissen!«

»Ja.« Fritze seufzte, das viele Reden war doch beschwerlich.

»Wir wollen was singen.« Ein Mädel mit Augen und Haaren, wie Tinte so
schwarz, rief das.

»Jetzt?« Ein paar Stimmen fragten es mißmutig. »Warum denn?«

»Hier doch nicht!« Hinzpeters Malchen, so wurde die Kleine genannt,
kicherte in ihre Schürze hinein. »Hihihi, ich meine -- nä -- so nich,
hihihi, wir wollen dem neuen Herrn Lehrer was singen.«

»Nä.« Fritze Schwetzer sah Malchen ganz wütend an. Singen, das könnte
ihm passen!

Die andern fanden den Plan aber nicht so dumm, einige sagten ja, andere
nein, bis Arne alle überschrie: »Wir wollen doch in der Schule singen,
beim ersten Mal, Herr Hiller hat’s gesagt.«

Freilich, so war’s, Arne hatte recht. In der Schule sollten sie den
Lehrer mit Gesang begrüßen.

»Wir bringen ihm ’nen Strauß.« Malchen kicherte wieder, und wieder
sagten etliche ja und etliche nein.

Die Buben waren die Neinsager, die Mädel die Jasagerinnen. »Blumen sind
Quatsch,« erklärte der kleine dicke Jakobus.

»Och, Jackenknöpfle, sei doch stille, Blumen sind fein! Und Stadtleute
lieben Blumen.«

Vier Mädel redeten auf einmal, und sie hörten auch nicht gleich auf,
sie erzählten von allerlei Blumenempfängen, von denen sie wußten oder
gehört hatten.

Eine Weile wogte der Streit hin und her, aber zuletzt fanden die Buben
den Blumenstrauß ganz gut, und sie beschlossen, jeder sollte rasch
laufen und Blumen holen, und dann wollten sie hier einen schönen Strauß
binden. Malchen Hinzpeter versprach ein rotes Band dazu.

Nun der Plan gefaßt war, gingen alle sehr eilig an die Ausführung.
Das Blumenholen war nicht so einfach. In den kleinen Gärten, die
so freundlich die Häuser von Steinach schmückten, gab es zwar noch
allerlei Blumen, aber die Bäuerinnen hüteten sie ängstlich. In Steinach
gingen die Frauen Sonntags noch mit einem Strauß zur Kirche, und jede
wollte einen schönen Kirchenstrauß haben. Weil es im Herbst auch
allerlei Feste gab, Hochzeiten und Kirmesfeiern, darum hüteten die
Steinacherinnen im Herbst ihre Gärten besonders gut. Heimlich huschten
die Buben und Mädel hinein, pflückten von den nur noch spärlichen
Blumen ab, was sie erreichen konnten, und kehrten mit ihrem Raube
vergnügt zum Schelmenacker zurück.

Dort wanden die Mädel den Strauß, alles kunterbunt durcheinander:
Astern, späte Levkoien, gelbe Studentenblumen und Georginen, so dick
wie Pfannkuchen; auch ein paar Reseden und Rosen kamen noch hinein,
dazu Spargelkraut, und das rote Band umschloß das Ganze zuletzt
feierlich.

Als der Strauß fertig war, entstand eine große Frage: Wer sollte ihn
überreichen?

»Ich, ich, ich!« schrieen geschwinde etliche Stimmen, aber schnell kam
es ihnen in den Sinn, daß es ein schweres Werk sei, dem neuen, fremden
Lehrer den Strauß zu geben, und alle riefen einmütig: »Ich nicht!«

»Webers Arne soll’s tun,« sagten die Mädel.

»Hinzpeters Malchen ist die Rechte dazu,« erklärten die Buben. Aber die
beiden wollten auch nicht. Sie redeten alle hin und her, bis zuletzt
Arne sagte, er wolle es tun, aber Malchen müsse den Strauß tragen,
und alle sollten mitgehen. Damit waren denn die andern einverstanden,
und sie zogen nach dem Schulhause, Malchen mit dem Strauß, den sie
ängstlich unter ihrer Schürze verbarg.

Sie beschrieben einen Umweg und langten so ziemlich unbemerkt vor dem
Schulhaus an. Dort schubsten sie sich vor der Türe herum und wagten
nicht hineinzugehen; die Allerfurchtsamsten mahnten ärgerlich: »Arne,
geh doch! Hinzpeters Male ist ’n Furchthase.«

Auf einmal rief aus einem der oberen Fenster Frau Besenmüller herab:
»Nu, was soll’s denn? Was wollt ihr?«

Husch, husch, rissen alle aus. Wie die Hasen liefen sie davon, denn
vor der Schuldienersfrau hatten sie gewaltige Angst. Frau Besenmüller
schalt noch eine Weile, dann klappte sie das Fenster zu, und es war
wieder still. Die Kinder standen alle hinter dem Hause und sahen zu den
Fenstern empor. Jackenknöpfle zeigte auf ein Fenster, das offen stand;
er flüsterte geheimnisvoll: »Dort wohnt er!«

»Fein!« jubelte Arne. »Wir werfen den Strauß rein.«

»Nä!« murrte Fritze Schwetzer, aber gleich fragten fünf zugleich:
»Willst du ihn reintragen?«

»Nä!« Fritze verzog sich. So ging es immer: Wenn er einmal was sagte
oder sagen wollte, schrieen die andern so sehr, das war wirklich
anstrengend.

»Ich werfe!« Webers Arne nahm Malchen den Strauß aus der Hand, zielte,
und bums schlug der Strauß an ein anderes Fenster an.

»Ich kann’s besser!« Heine Langbein griff nach dem Strauß, und die
Mädel kreischten: »Ihr zerhaut ihn noch!«

Richtig, pardauz klatschte der Strauß an die Mauer an und fiel zurück,
und Röse Traugott ergriff ihn noch, ehe er auf die Erde fiel.

»Ich will werfen!« -- »Nä, ich!«

Ein paar Bubenhände griffen nach dem Strauß, aber Röse wehrte ab und
klagte: »Da, die Rose ist schon abgebrochen und die auch.«

»Schwetzers Fritze, wirf du doch, du kannst das so fein!« rief Arne.
Das war nicht Spott, Fritze war als guter Werfer bekannt, und wirklich
kam er wieder herbei, und ihm gab Röse auch den Strauß. »Nimm ihn
recht in acht!«

»Hm!« Fritze wog den Strauß prüfend in der Hand, dann zielte er, trat
drei Schritte zurück, zielte wieder, und hoch im Bogen sauste der
Strauß durch die Luft. Wutsch, flog er in das offene Fenster hinein.
Drinnen erklang ein lautes Klirren, ein Rufen, und unten flohen die
Kinder entsetzt nach allen Seiten hin und schrieen: »Er hat das Fenster
eingeschlagen!«

»Nä, drinne etwas!« Husch, husch, husch waren alle fort, nur Fritze
Schwetzer stand wie erstarrt vor dem Hause, er war so tief erschrocken,
daß er nicht einmal an das Ausreißen dachte. Was war da oben geschehen?

Vater Hiller hatte seinen jungen Nachfolger gerade in das Zimmer
gebracht, in dem er vorläufig wohnen sollte. Zur Einrichtung hatte
Frau Besenmüller überall im Dorfe Hausrat zusammengeborgt. Ein wenig
zusammengewürfelt sah daher das Zimmer innen aus, aber doch freundlich
und behaglich, und Heinrich Fries meinte, bis seine Mutter nachkäme,
würde es schon gut gehen. Aus dem Tische stand Frau Besenmüllers
Glanzstück, eine himmelblaue Glasvase, die ihr gehörte. Und just als
der junge Lehrer die ansah und dachte: »Nein, so ein häßliches Ding!«
kam etwas in das Zimmer geflogen. Klirr ging’s in eine Scheibe des
Fensters hinein, und klirr, bums, klatsch! lag auch die himmelblaue
Vase zerschmettert am Boden. Frau Besenmüller kreischte entsetzlich.
Heinrich Fries eilte zum Fenster und sah hinaus. Dort unten stand
Schwetzers Fritze unbeweglich wie ein Baum. »He du,« rief der junge
Lehrer hinab, »was soll der Unsinn? Hast du geworfen?«

Dem Fritze war die Stimme bis in den Magen gerutscht, dort saß sie, und
Fritze konnte sich noch so abquälen, kein Wörtlein kam heraus.

»Nun, sehen Sie nur, Herr Hiller den Jungen da unten, wie frech er
dasteht! Ob er geworfen hat?«

Der alte Mann hatte den Strauß erblickt, der in eine Ecke gefallen war,
er hatte ihn aufgehoben und strich nun liebevoll über die zerknickten
Blumen. Er sah auch Fritze unten stehen und ahnte, die andern waren
ausgerissen. Milde sagte er: »Es sollte wohl ein Willkommensgruß für
Sie sein, Herr Kollege.«

»Ein eingeschlagenes Fenster, eine zerbrochene Vase und --,« Heinrich
Fries sah nun auch den Strauß mit dem roten Bande, da mußte er lächeln.
»Ein wenig seltsam ist ja die Art, mir die Blumen zu bringen.«

»Aber gut gemeint. Ich kenne meine Steinacher Kinder, sie haben
gedacht, es sei sehr schlau so.« Vater Hiller lächelte gütig, und
sein Lächeln fand auch auf dem Gesicht seines Nachfolgers heiteren
Widerschein.

Frau Besenmüller dagegen sah nicht allein grimmig drein, sie schalt
auch für drei, und als sie die Scherben ihrer himmelblauen Vase auflas,
drohte sie bei jedem Stück: »Na, wartet nur, Besenmüller soll euch
schon strafen, wartet, wartet!«

Es wartete aber keiner von den Missetätern ab, was geschehen würde,
selbst Schwetzers Fritze war auch davongelaufen. Auf dem Schelmenacker
fanden sich alle wieder zusammen, und sie berieten, was zu tun sei.
Zerschlagen hatte Fritz mit dem Strauß etwas, das stand fest. Etliche
wollten ihm darum Vorwürfe machen, aber da erhoben Arne und Malchen
laut ihre Stimmen: »Er kann nischte dafor.«

»Nä,« sagte Jackenknöpfle in edler Selbsterkenntnis, »ich hätte noch
mehr zerschmissen.«

Sie überlegten ernsthaft, was sie tun sollten, und alle meinten, Frau
Besenmüller müßte versöhnt werden; denn war Frau Besenmüller böse,
dann ging sie sicherlich von Haus zu Haus und erzählte die Geschichte,
oder sie stellte sich morgen an die Schultüre und gab jedem einen
Katzenkopf, ob groß, ob klein, ihr war es gleich, die stärksten Buben
duckten sich vor Frau Besenmüller.

»Wir sagen’s Besenmüller, der hilft uns schon,« riefen nach etlichem
Hin- und Herreden ein paar Stimmen. Der Vorschlag fand gleich
ungeteilten Beifall, und die Kinder wunderten sich schließlich alle,
daß sie nicht gleich auf den Gedanken gekommen waren.

»Hurra, zu Besenmüller! Hurra, hurra!«

»Auf der Pflaumenstraße sitzt er.«

Auf der Pflaumenstraße saß Besenmüller wirklich. Sein rosenroter
Strumpf war ziemlich vollendet, keine Bäuerin hätte ihn glatter
und sauberer stricken können. Aber beinahe entfiel die rosenrote
Herrlichkeit Besenmüllers Händen, so eilig, mit so viel Geschrei und
Geschwätz kamen die Kinder alle an.

»Holla, an die Zwetschen geht mir keins!«

»Nä, Besenmüller, nä, wir kommen nur mal so.«

»So, ih nä!« Besenmüller zwinkerte mit den Augen. »Was ist denn? Warum
ist meine Frau denn so böse?«

»Ach, nur wegen dem Strauß!«

»Was ist mit dem Strauß?«

»Wir wollten dem neuen Herrn Lehrer einen schenken.«

»Und Schwetzers Fritze hat ihn geworfen.«

»Das Fenster war offen.«

»Nur --.« Da schwiegen alle, und Besenmüller strickte klapp, klapp,
Nadel um Nadel. Endlich sagte er: »Das Fenster ist wohl zerschmissen?«

»Ja -- aa,« ertönte es kleinlaut, »und -- und --«

»Was denn noch?«

»Das wissen wir niche!«

»Hm, und nun ist Frau Besenmüller böse?«

»Ja, Besenmüller. Wir haben sie noch schimpfen hören.«

»Ihr seid wohl gleich ausgerissen, haste nich, kannste nich?«

»Ja.« Sie drängten sich alle lachend dichter und dichter an Besenmüller
heran. »Sag’s ihr doch, sie soll wieder gut sein.«

»So fix geht das niche. Erst versprecht, Zwetschen werden nich genommen
heute.«

»Nä,« riefen alle einstimmig; sie sahen aber gar nicht erst zu den
Bäumen hinan, so voll hingen sie, so köstlich blau schimmerten die
Früchte.

»Also euer Wort?«

»Ja!« Sie schrieen es wieder im Chor, und Besenmüller wickelte darauf
sorgsam seinen Strumpf zusammen, nahm seinen Stock und verließ für
diesen Tag die Pflaumenstraße. Er wußte, die Kinder hielten ihr
Versprechen, also mußte er nun auch das seine halten und seine Frau
versöhnen. Bis in die Nähe des Schulhauses gab die Schar dem alten
Manne das Geleit, weiter nicht; Frau Besenmüller könnte sie ja sehen.
Die hatte freilich längst den Zug erblickt, und als ihr Mann das Haus
betrat, kam sie ihm entgegen und rief vorwurfsvoll: »Besenmüller, du
bist zu gut, nä, die Kinner verdienen’s nicht!«

»Aber Lydia, Kinner sin Kinner!« Weiter sagte der Schuldiener gar
nichts. Es war auch nicht nötig. Seine Frau vergaß die himmelblaue
Vase, das zerschlagene Fenster, ihren Zorn und alles; wenn ihr Mann sie
Lydia nannte, dann war es ihr immer gleich wie Feiertag, pflegte sie
zu sagen. Es gab nämlich auf der ganzen weiten Welt keinen Menschen,
den die Schuldienersfrau mehr bewunderte als ihren Mann. Was der sagte,
galt. Wenn der Herr Schulrat gekommen wäre und hätte Besenmüller du
genannt und ihn zum Schulvorstand ernannt, Frau Besenmüller hätte sich
kein bißchen darüber verwundert. Höchstens hätte sie gesagt: »So was
ist richtig!«

Die Kinder sahen den Schuldiener in das Haus treten, hörten drinnen die
Stimme der Frau, dann liefen sie beruhigt von dannen -- nun war Frau
Besenmüller versöhnt.

Sie schliefen alle trotz ihrer verschiedenen Dummheiten, die sie
tagsüber begangen hatten, sehr gut. Nur Schwetzers Fritze träumte
schwer, er war im Traum als riesengroßer Blumenstrauß dem neuen Lehrer
selbst vor die Füße gefallen. Doch Träume sind Schäume, sie vergehen im
Lichte des neuen Tages.

Ernste Gedanken vergehen nicht so leicht, die verscheuchen selbst den
Schlaf. Während in Steinach am Wald alles in tiefer Ruhe lag, strahlten
im Schulhaus noch lange zwei Fenster hell in die Nacht hinaus. Der
alte und der junge Lehrer, sie wachten beide, jeder saß einsam in
seinem Zimmer, der eine sann der Vergangenheit, der andere der Zukunft
nach. »Ich wollte, ich könnte in meinem Steinach bleiben,« dachte
Vater Hiller wehmütig; es wurde ihm schwer, aus seinem lieben Amt zu
scheiden. Sein junger Nachfolger aber seufzte: »Werde ich es je in
diesem Steinach aushalten?« Er stand am offenen Fenster, ringsherum
lag alles im Schweigen. Bis auf einmal ein fernes Sausen durch die
Nacht kam; es klang näher, ein Pfiff ertönte, dann verhallte das Sausen
wieder: ein Zug war vorbeigefahren. »Könnte ich doch wieder mit hinaus
aus dieser Enge!« entfuhr es dem jungen Lehrer, und er seufzte abermals.

Heinrich Fries streckte die Arme aus, aber plötzlich ließ er sie
sinken und lauschte, ein anderer Ton wurde laut, ein feines, süßes
Singen rauschte auf.

    »Breit aus die Flügel beide,
    O Jesu, meine Freude,
    Und nimm dein Küchlein ein!
    Will Satan mich verschlingen,
    So laß die Englein singen:
    Dies Kind soll unverletzet sein.
    Auch euch, ihr meine Lieben,
    Soll heute nicht betrüben
    Ein Unfall noch Gefahr,
    Gott laß euch ruhig schlafen ...«

Die Stimme verhallte, und nichts regte sich mehr im Dorf. Heinrich
Fries stand noch lange am Fenster. Er war aber nicht mehr unruhig und
niedergedrückt, das holde Singen hatte ihn froh gemacht, und er dachte
an die neue Arbeit, und daß er sein Amt mit frischem Mut antreten wolle.

[Illustration]



[Illustration]



Viertes Kapitel

Ein letzter Schultag

    Die Brummer wollen auch singen, und die Katze Minchen will in
    die Schule gehen -- Die Hohenstaufen sollen Berge sein, und
    Frau Besenmüller redet von der rechten Liebe


Am nächsten Morgen lag Steinach im Nebel. Die Sonne wollte zwar sehr
gern scheinen, sie bezeigte die allergrößte Lust dazu, aber der Nebel
ließ sich nicht so schnell verjagen. Der hatte das ganze Dorf in
dichte, weißgraue Schleier gehüllt, und es konnte gerade jeder noch
seinen Nachbar sehen, mehr nicht. Es sah sehr lustig aus, wenn auf
der Dorfstraße Gestalten im Nebel auftauchten und gleich darin wieder
verschwanden. »Wie Rosinen im Mehl,« sagte Frau Knöpfle, des Jakobus
Mutter.

Den Kindern schien der Nebel ein vergnügliches Ding zu sein, und
Jackenknöpfle stellte die nachdenkliche Frage: »Ob’s mal so dicken
Nebel gibt, daß mer die Schule nich findet?«

Die andern meinten zwar alle, dies würde sehr fein sein, und etliche
strengten sich auch an, die Schule nicht zu sehen, sie sahen sie aber
doch. Zum Überfluß klingelte Frau Besenmüller auch noch lauter als
sonst, und die Kinder dachten schon: »Oje, vielleicht ist sie doch
böse!« Aber die Schuldienersfrau war nicht mehr böse. Die hatte schon
am frühen Morgen das Klassenzimmer blitzblank geputzt, hatte ein
Blumengewinde um die Türe angebracht und einen Strauß auf das Pult
gestellt. Es sah sehr festlich aus, und die Kinder staunten ehrfürchtig
ihr Schulzimmer an; es wurde ihnen darüber auch ganz festlich zumute,
und alle nahmen sich vor, sehr gut zu singen. Die Steinacher waren
ein sangeslustiges Völkchen. Sie sangen gern und gut, aber Brummer
gab es auch unter ihnen und solche, die nicht singen konnten, so gern
sie vielleicht auch wollten. Unter den Kindern war Schwetzers Fritze
ein rechter Brummer. Alle meinten, dem Buben wäre das gleich, aber da
irrten sie alle, denn heimlich im Herzen bekümmerte es Fritze sehr,
daß er so schlecht singen konnte. Er hätte manchmal gern recht aus dem
Herzen heraus gesungen, wie er sich auch sehnte zu schwatzen wie die
andern. Es war aber damit schlimm. Wenn er was sagen wollte, hatten es
zwei andere schon gesagt, und wenn er singen wollte, rief selbst der
gute Vater Hiller: »Hör’ auf!«

Schweigsam war Hinzpeters Malchen nun freilich nicht, und wenn sie
sprach, hatte sie auch ein glockenhelles Stimmlein, aber singen, das
konnte sie nicht. Sie sang immer ein paar Töne zu tief oder ein paar
Töne zu hoch, sie rutschte mit ihrem Singsang immer aus, und wenn die
andern in die Höhe kletterten, saß sie im Graben. Sie wurde darum
die »Krähe« genannt, ein Name, der Malchen bitter kränkte, denn sie
war so singlustig wie eine rechte Lerche. Daheim sang sie auch nach
Herzenslust, und niemand störte sie. Ihr Vater meinte: »Ein Hahn kräht
ja auch, die Schafe blöken, die Gänse schnattern, ja, warum soll da
mein Malchen niche singen?«

Auch die alte Großmuhme sagte das. Sie war freilich ziemlich taub, sie
erklärte aber doch: »Malchen singt sehre scheene, fast wie ’n Engel.
Vielleicht gefällt’s auch dem neuen Herrn Lehrer besser, mer kann so
was niche wissen.«

Daran nun dachte Malchen, als sie an diesem Nebelmorgen zur Schule
wanderte. Ach, vielleicht konnte sie auch noch einmal so singen
wie Pastors Regine. Sehr froh, sehr hoffnungsvoll trat sie in das
Schulzimmer, und dort setzte sie sich so brav an ihren Platz, wie es an
diesem Tag alle taten. Sie waren alle schrecklich neugierig, wie der
neue Herr Lehrer sein würde, und als Vater Hiller mit seinem jungen
Nachfolger das Zimmer betrat, war es, als wollten alle blauen, grauen
und braunen Augen den neuen Herrn Lehrer verschlingen, selbst die
Schüchternen starrten ihn unentwegt an. Der mußte ein wenig lächeln,
als er die Kinder alle so vor sich sah, rechts die Großen, links die
Kleinen, da die Buben, dort die Mädel. Er sah sich auch in dem großen
Klassenzimmer um, das blinkte vor Sauberkeit, und seine schön mit Stuck
verzierte Decke erzählte von glanzvoller Vergangenheit.

Vater Hiller sprach das Gebet, und dann begann der Gesang. Sorgsam
hatte der alte Lehrer das Loblied eingeübt, festlich und rein sollte es
klingen, dem neuen Lehrer zum Gruß. Daran, daß an einem solchen Tag die
Brummer teilnehmen wollten an der allgemeinen Freude, hatte er freilich
nicht gedacht. Malchen schmetterte zuerst los, Schwetzers Fritze folgte
ihr, und als das die andern Brummer hörten, sangen sie unverzagt mit.
Hui ging’s in die Höhe, bums saß Schwetzers Fritze in der Tiefe;
Malchen war einen halben Takt voraus, Hans Neuber schleppte dreiviertel
Takte hinterher.

Klapp! schlug Vater Hiller auf das Pult. »Stille! Was ist das für eine
Singerei? Es darf nur mitsingen, wer es kann.«

Ein paar senkten verlegen ihre Köpfe, nur Malchen nicht, die dachte:
»Ich kann’s doch, ich habe fein gesungen!«

Das Lied begann noch einmal, und hui entwischte Malchens Stimme wieder,
die kletterte gleich bis aufs Dach. Die andern stockten, und ein paar
murrten: »Die Krähe singt so falsch!«

Malchen wurde blutrot vor Schreck und Scham, und die Tränen stürzten
ihr aus den Augen. Malchen weinte gleich sehr heftig los, und Heines
Marlise tat es ihr nach, und Vater Hiller ließ verdrießlich den
Taktstock sinken. »Aber Kinder,« rief er ärgerlich, »was soll das?
Schämt euch, so das Festlied zu singen! Wer heult, muß raus. Also eins,
zwei, drei, jetzt noch einmal!«

Das half, die Mädel stellten das Weinen ein, die schlechten Sänger
schwiegen, und nun brauste feierlich und rein im Klang der Lobgesang
auf. Es ging glatt, nur beim letzten Vers mischte sich ein seltsamer
Ton, ein Schnurren, Scharren und Schreien hinein. Kaum war das Lied
verklungen, da riefen ein paar Stimmen: »Eine Katze, eine Katze!«

Vater Hiller war sehr sanftmütig und geduldig, er war auch immer mit
seinen Schulkindern gut fertig geworden. An diesem Tage wurde er
aber doch ärgerlich. Er hatte seinem jungen Nachfolger recht zeigen
wollen, wie nett und brav seine Schulkinder waren. Nun gab es erst die
verkehrte Singerei und jetzt das Geschrei einer Katze wegen. Er rief
darum strenger als sonst: »Wo steckt denn die Katze? Wer hat eine mit?«

Alle schwiegen, eines sah das andere an, und merkwürdig, die Katze
schwieg auch.

»Es ist ja keine hier,« brummte der alte Lehrer, »irgend jemand --«

»Miauau, raurau, miau!« schrie es jämmerlich, und Kinder und Lehrer
sahen sich an und im Zimmer herum.

»Vielleicht im Schrank,« sagte Heinrich Fries, der daran dachte,
daß auch in der Stadt mitunter eine Maus auf seltsame Weise in den
Schulschrank geriet. Vater Hiller sah prüfend die Kinder an. Offen,
zutraulich, sehr erstaunt waren aller Augen zu ihm aufgeschlagen, er
sah es gleich, keins hatte ein schlechtes Gewissen. Er trat aber doch
an den Schrank und schloß ihn auf. Keine Katze war darin.

»Miauau, raurau, miau!« quäkte es wieder, und ein paar Stimmen zugleich
schrieen: »Im Pulte ist das!«

»Ach Unsinn!« Der alte Lehrer klappte das Pult auf, keine Katze war zu
sehen. »Es wird vor der Türe sein. Also aufgepaßt, wir fangen an!«

»Miauau, raurau, miauau!« Noch kläglicher klang’s, und Heinrich Fries
sah sich verdutzt um, das kam doch von unten herauf.

Aller Augen starrten zu dem neuen Lehrer hin, das klang ja gerade, als
käme das Miauzen von dessen Platz.

Vater Hiller schritt zur Türe, öffnete sie, sah hinaus, -- nirgends war
eine Katze zu sehen, und auf einmal war alles still. War es doch ein
dummer Bubenspaß, das Gemauze?

»Miauau!« quäkte es drinnen immer jämmerlicher. Er hörte es nun genau,
es kam aus dem Zimmer. »Frau Besenmüller, Frau Besenmüller!« rief er
laut. »Kommen Sie einmal her, hier schreit eine Katze irgendwo.«

Frau Besenmüller kam mit unheimlicher Eile angelaufen, und noch an
der Türe rief sie atemlos: »Das ist sicher so ’n dummer Bube, der das
macht. Webers Arne kann gut mauzen.«

»Ich mauze nicht!« Arne kreischte ordentlich vor Entrüstung, und gleich
riefen ein paar Stimmen: »Nä, Arne war’s nicht!«

»Unterm Pult scheint etwas zu sein.« Heinrich Fries hatte es genau
gehört; er versuchte, das Pult wegzuschieben, aber Frau Besenmüller
sagte ordentlich ein wenig gekränkt: »So was is niche möglich. Erst
vorhin hab’ ich darunter und darüber gewischt. Ach nä, Herr Lehrer,
Katzen sitzen in Steinach niche im Schulzimmer. Die Buben sind’s, die
machen immer so ’ne Dummheit. Niche auszuhalten ist das manchmal mit
denen.«

»Nä,« schrieen die Buben und Mädel wie aus einem Munde, »Frau
Besenmüller verklatscht uns nur.«

»Klatsch, patsch, ich weiß, was ich weiß.«

Rutsch, schob der junge Lehrer das Pult zur Seite, und -- hervor
spazierte kläglich mauzend ein schneeweißes Kätzchen.

Erst starrte Frau Besenmüller mit offenem Munde das Tierchen an, dann
aber stürzte sie mit einem Schrei darauf los, hob es auf und sagte im
Tone allerbitterster Anklage: »Dich haben se unner’s Pult getan, mein
Minchen! Nä, aber auch so ’ne ungezogene Kinner!«

»Wir waren’s doch nicht!«

»Stille!« Vater Hiller hob den Taktstock. »Wer’s getan hat, kommt vor.«
Keins rührte sich, und wieder las der alte Mann in all den blühenden
Gesichtern, -- nein, es hatte keins ein schlechtes Gewissen. »Frau
Besenmüller,« sagte er gütig, »besinnen Sie sich mal, die Katze wird
Ihnen wohl nachgelaufen und selbst unter das Pult gekrochen sein.«

»Hm!« Die Schuldienersfrau sah ihr Kätzchen an, dann nickte sie
langsam. »Ja, erstaunlich klug ist’s freilich, da kommt kein so ’n
Dickkopp von Bube gegen auf, nä, nä! ’s ist schon möglich, se hat
zuhören wollen.«

»Aber Besenmüllern!« Die Kinder kreischten vor Vergnügen, daß die Katze
hatte zuhören wollen, und Frau Besenmüller zog schmunzelnd mit ihr zum
Zimmer hinaus.

Der Friede war wiederhergestellt, und Vater Hiller sagte ernsthaft:
»Doch jetzt Ruhe!«

Der alte Lehrer war verstimmt, daß dieser erste Schultag so laut und
zerfahren begann. Er sah wohl das leise Lachen in den Augen des andern.
Wehmütig überschaute er seine Schar, und Mädel und Buben spürten es,
ihr guter, alter Freund war unzufrieden. Da nahmen sie sich zusammen;
ganz still und feierlich saßen sie da, und so begann der Unterricht.
Es ging nun alles glatt und gut, die Kinder wußten viel, wenn auch
nicht alles. Manch einem wollte und wollte die Antwort nicht zum
Munde heraus, was natürlich von der Antwort schnöde Bosheit war.
Mitunter klang auch wohl die Antwort so verkehrt, als wäre sie vom
Monde herabgefallen. So kam der Stille Ozean auf einmal in die Nähe
von Berlin, und die Donau bezeigte die allergrößte Lust, vom Gotthard
herunter zu rinnen. Die Hohenstaufen sollten durchaus Berge sein, und
Kaiser Friedrich Barbarossa saß auf einmal mitten im Siebenjährigen
Kriege drin, und niemand wußte, wie er hineingekommen war.

Sonst ging es aber ganz gut, Vater Hiller war leidlich zufrieden,
und die Kinder waren es ungemein, und weil der neue Lehrer lächelte,
meinten sie alle: »Der findet’s fein bei uns.«

Frau Besenmüller klingelte draußen, grell und laut fuhr der Ton durch
das weite Haus.

Der alte Lehrer erschrak. Das hörte er nun zum letztenmal. Morgen war
Sonntag, und am Montag in aller Morgenfrühe wollte er abreisen. Wenn
die Klingel wieder ertönte, dann trug ihn der Zug schon von Steinach
fort. Er stand ein wenig geneigt, weil ihn das Alter müde gemacht
hatte, vor den Kindern, zu ihnen sprechen wollte er, gütige Worte
sagen, aber die Stimme versagte ihm.

»Liebe Kinder!« setzte er an, und dann noch einmal: »Liebe, liebe
Kinder!«

Da war es Hinzpeters Malchen, als müsse ihr das kleine, zärtliche Herz
brechen vor Kummer, sie schluchzte laut auf und rief flehend: »Ach,
bleiben Sie doch bei uns, lieber Vater Hiller!«

»Ach bitte, bitte, ja, Vater Hiller!« tönten alle andern Stimmen nach.
Sonst hatten die Kinder »Herr Lehrer« gesagt, in der Abschiedsstunde
kam ihnen das trauliche »Vater« auf die Lippen. Und wie einen gütigen
Vater umdrängten sie jäh den alten Mann. Sie sprangen über Tische und
Bänke hinweg, krochen unten durch, um nur ja schnell des alten Freundes
Hand fassen zu können.

Die Mädel heulten, die Buben schnitten so widerborstige Gesichter, als
wäre ihnen ein bitteres Tränklein im Halse stecken geblieben, und immer
wieder bettelten sie: »Bleiben Sie doch da, Vater Hiller, ach bitte,
bitte!«

»Ich reise ja erst übermorgen, Kinder.« Ein paar helle, glänzende
Tropfen rannen dem alten Mann über die Backen. Die Kinder sahen es,
aber sie hörten zugleich das verheißungsvolle »Übermorgen«. Da war ja
noch viel Zeit, da konnten sie Vater Hiller noch oft besuchen, konnten
ihn sehen, wenn er durch das Dorf ging. Sie konnten ihn auch zur Bahn
bringen. Das sagten sie gleich laut: »Wir gehn mit auf ’n Bahnhof,
alle!«

»Dann müßt ihr aber alle früh aufstehen.«

»Ach ja, das wird fein! Hurra, wir gehn mit auf ’n Bahnhof!«

»Und Sie besuchen uns bald, Vater Hiller, ja?« bettelte Malchen.

»Ja freilich, ich besuche euch bald.«

»Hurra, Vater Hiller besucht uns!« In den Augen standen noch Tränen,
die Münder lachten schon, und immer wieder drückten die kleinen derben,
braunen Hände die welke Hand des treuen Freundes. Sonst liefen Buben
und Mädel immer alle, so flink sie nur konnten, zur Schule hinaus,
heute konnten sie sich gar nicht trennen. Vater Hiller mußte sie selbst
mit sanfter Gewalt bis zur Haustüre geleiten, und draußen ging es
nochmals an das Abschiednehmen.

In einem Winkel stand Frau Besenmüller, sie hatte die große Schulglocke
mit beiden Händen an ihr Herz gedrückt, und ihre Tränen fielen darauf
nieder.

»So ist’s recht, so muß nu ’n Abschied sein,« brummelte sie vor sich
hin. »Da sieht man doch, ’s war die rechte Liebe.«

Die rechte Liebe! Das Wort tönte wie ein silbernes mahnendes Glöcklein
im Herzen des jungen Lehrers. Still entfernte er sich, und niemand
merkte es. Er stieg die Treppe hinauf, betrat sein Zimmer, und dort
öffnete er weit das Fenster. Er sah, wie sich draußen der Nebel löste
und die letzten Fetzen zerflossen. Die Sonne ging siegreich hervor,
und schimmernd glänzten Büsche und Bäume im goldenen Herbstkleid. Die
rechte Liebe, dachte Heinrich Fries, -- würde sie ihm auch wachsen zu
Steinach und seinen Kindern?

[Illustration]



[Illustration]



Fünftes Kapitel

Auf der Schelmenburg

    Frau Besenmüller erlebt eine ganz schauerliche
    Gespenstergeschichte -- Ihr Korb füllt sich geschwinde, und
    Webers Arne und Schwetzers Fritze bekommen Zwetschgenkuchen zu
    essen -- Der neue Lehrer aber denkt an die alten Schelme von
    Steinach


»Besenmüllern«, wie die Kinder die Schuldienersfrau nannten, hatte
viele vortreffliche Eigenschaften, aber auch zwei Fehler: sie war
neugierig und sehr abergläubisch. Zwar sagten die Kinder, Frau
Besenmüller scheure auch zuviel, das hielten sie für deren allergrößten
Fehler, aber die Erwachsenen waren anderer Meinung. Vater Hiller nannte
Frau Besenmüller eine tüchtige, saubere Frau, während besonders die
Buben es höchst überflüssig fanden, wenn Frau Besenmüller sie immer
ermahnte: »Putzt eure Schuhe ab, tragt mir nicht die ganze Dorfstraße
ins Haus!«

Zimplichs Max knurrte immer: »Um so ’n bißchen Dreck!« Aber wie es halt
ist, Frau Besenmüller hatte andere Ansichten. Sehr lustig dagegen
fanden die Kinder es, wenn die Frau ihnen allerlei erzählte, was sie
vorausgeahnt hatte, und was sonderbarerweise immer ganz anders in
Erfüllung ging. Es sah Frau Besenmüller zum Beispiel aus allerlei
Zeichen und Andeutungen, auch aus ihren Träumen, daß sie einen Unfall
erleiden würde; dann fiel vielleicht Hinzpeters Malchen auf die Nase,
und das war weder für Malchen noch für Frau Besenmüller ein großes
Unglück.

Aber die Frau blieb dabei, dies und das als besonderes Zeichen
zu deuten, und darum sagte sie auch nach Heinrich Fries’ erstem
Schulvormittag zu ihrem Mann: »Paß auf, mit dem neuen Herrn Lehrer wird
das nischt hier!«

»Warum denn niche, Frau?«

»Na, da ist das zerbrochene Fenster und dann -- die Katze. Nä, das wird
nischt!«

»Aber Frau!« Der Schuldiener lachte. »Scherben bedeuten Glück, und die
Katze, die war doch weiß, und nur die schwarze Katze bringt Unglück,
und stimmen tut das nicht emal. Mir hat noch nie ’ne Katze Verdruß
gebracht. Nur einmal hat mir eine meine Wurst gestohlen, und die war
grau, die Katze nämlich.«

»Hm!« Frau Besenmüller seufzte, sie hätte ihres Mannes Worten schon
gern vertraut, aber sie konnte nicht. »Nä, nä, Scherben und ’ne Katze,
was zuviel is, is zuviel!« murmelte sie.

Während Frau Besenmüller so geheimnisvoll allerlei Ungemach
vorausahnte, ging Heinrich Fries sehr vergnügt in Steinach spazieren.
Das Dorf gefiel ihm immer besser. Es war sauber und wohlhäbig. Die
kleinen, weißen Häuser waren alle mit Schiefer gedeckt, und diese
dunklen Dächer glänzten in der Sonne wie edles Gestein. Ein Gärtchen
schmiegte sich an jedes Haus an, und hinter den Fenstern blühten noch
Geranien und manche andere feine Blumen. Der junge Lehrer ging bis
zur Kirche, die inmitten des Dorfes lag; sie war grau und alt, Efeu
war an ihr emporgewachsen, und ein wenig hatte der auch den Grabstein
des Schelmen umrankt, der hier begraben lag. Die Inschrift war schwer
zu lesen, und der Ritter, der fromm die Hände gefaltet hatte, sah gar
nicht so schelmisch drein, wie das doch eigentlich ein Held so vieler
Schelmengeschichten tun müßte.

[Illustration: Die Schelme von Steinach. Seite 56.]

Von der Kirche aus führte ein schmaler Weg zum Pfarrhaus hinüber.
Das lag weiß und still in einem großen Garten, die Fenster standen
offen, und die weißen Vorhänge flatterten und wehten, als wollten sie
winken: »Komm herein, komm herein!« Doch Samstag nachmittag war keine
Besuchszeit für ein Pfarrhaus, und darum blieb der junge Lehrer auch
nur draußen am Zaun stehen. Vater Hiller hatte ihm viel Liebes und
Freundliches von den Pfarrersleuten erzählt. Sieben Kinder waren in dem
weißen Haus groß geworden. Sechs waren draußen in der Welt, lernten und
schafften dort, und nur die Jüngste war noch daheim.

Ob das wohl die Sängerin war, die mir gestern einen so guten Trost ins
Herz gesungen hat? dachte Heinrich Fries. Er brauchte nicht lange auf
eine Antwort zu warten, denn drinnen im Garten hub die gleiche Stimme
ein lustiges Liedchen an. Kinderstimmen fielen ein, und als der junge
Lehrer weiterging, da sah er auf zwei langen Bänken viele kleine Mädel
sitzen, die strickten und nähten, und ein junges Mädchen saß vor ihnen,
schön und anmutig anzuschauen: Pfarrers Regine. Eine allzu strenge
Lehrerin mußte sie nicht sein, denn man konnte nicht leicht etwas
Vergnüglicheres sehen als diese Nähstunde im herbstlich bunten Garten.

Die Mädel saßen alle dort, aber wo mochten die Buben sein? Heinrich
Fries sann darüber nach, als er weiterging. Er sah nur die
Allerkleinsten auf der Gasse spielen, jene, die noch nicht am ersten
Schultag zu seufzen brauchten: »Wenn doch erst wieder Ferien wären!«
Die großen Buben waren alle unsichtbar, sie mochten wohl wieder auf
einer der Obststraßen sein, denn nicht einmal ihr Rufen ertönte. Da und
dort grüßte man den jungen Lehrer freundlich, der redete mit dem und
jenem, und dabei wunderte er sich, daß niemand die Frage tat, wie es
ihm hier gefalle. Er wußte nicht, daß die Steinacher meinten, ihr Dorf
müsse eben jedem gefallen, weil es gar so hübsch war.

Als Heinrich Fries es nach allen Seiten hin durchwandert hatte,
beschloß er, da die Sonne noch hoch stand, gleich noch den Schafskopf
zu besteigen, um von dort aus das Land zu überschauen. Eine halbe
Stunde, länger währte der Weg wohl nicht. Ein Bauersmann gab ihm
bereitwillig Auskunft, welcher Weg zu gehen sei, und versicherte dabei:
»’s ist recht sehre scheene oben, nur niche, wenn’s dunkel ist.«

»Warum? Spukt es vielleicht?«

Der junge Lehrer lachte, und der Bauer lachte auch. Er sagte nicht ja,
er sagte nicht nein, in seinen Augen aber war ein lustiges Blinken,
und Heinrich Fries dachte: »Wirklich, die Schelme scheinen noch nicht
ausgestorben zu sein.« Er schlug den Weg nach dem Schafskopf ein, und
um die gleiche Zeit tat dies Frau Besenmüller auch. Oben am Berghang
gab es viele wilde Rosen, und ihre kleinen roten Früchte wollte Frau
Besenmüller pflücken. Ihr Mann liebte den Hagebuttentee, meinte, er
sei gut für allerlei Gebreste im Winter, und darum sorgte die Frau
immer beizeiten für einen rechten Wintervorrat. Es war ihr immer ein
schwerer Weg; sie ging nicht gern auf den Schafskopf, selbst nicht am
Tage, abends wäre sie um keine Königskrone gegangen. Sie graulte sich,
sie meinte immer, von den Schelmen säße noch etwa ein halbes Dutzend in
irgendeinem Mauerloch zu allerlei Untaten bereit.

Weil sie sich fürchtete, rannte Frau Besenmüller; je schneller sie oben
war, desto schneller war sie wieder unten. Sie kam daher auch viel
früher oben an als der neue Lehrer und begann eilfertig zu pflücken.
Die wilden Rosen hatten das alte Gemäuer dicht umzogen. Wo nur ein
freies, sonniges Plätzchen war, gleich hatte sich so ein Rosenbusch
hingesetzt und gedacht: Da bin ich und bleib’ ich, das ist nun mein
Reich. Weil die Sonne immer so warm auf dem Schafskopf ruhte und
niemand den Frieden dieses stillen Fleckchens störte, blühten die
Rosen meist in üppiger Fülle, und ebenso ungestört wurden kleine, rote
Hagebutten daraus.

Frau Besenmüller brauchte nur zuzugreifen, ribsch, rabsch, da füllte
sich ihr Korb. Um den Turm herum, von dem freilich nur noch ein
kümmerliches Restlein stand, wuchsen die meisten Rosen, und die
größten Hagebutten gab es da. Wie sich die Schuldienersfrau nun dem
Turme näherte, graulte sie sich wie immer etwas. Sie blickte an
dem grauen Gemäuer empor. Nur auf der einen Seite gab es noch eine
Fensteröffnung, und aus diesem Loch heraus hing ein Strick.

Frau Besenmüller schrie laut auf, als sie das sah. Sie rannte gleich
den Berg wieder ein Stück abwärts. Wo kam der Strick her in dem
verfallenen Turm? Von unten herauf starrte die Frau zu dem Strick
empor, -- ganz ruhig, unbewegt hing er da. Von den alten Herren von
Steinach konnte er nicht mehr übrig geblieben sein, denn sooft Frau
Besenmüller auch schon hier gewesen war, den Strick hatte sie noch nie
gesehen.

Also war jemand oben gewesen, jemand hatte den Strick dorthin getan.
Wozu? Warum? und wer war es gewesen? Die Frau seufzte schwer. Sie
graulte sich und war neugierig, die Furcht trieb sie zurück, die
Neugier wieder vorwärts. Sie stand und überlegte, sah auf den Strick,
der seltsam in der Sonne glänzte und dahing, als müßte es so sein. Und
just über den allerschönsten Rosenbüschen hing er, an denen die roten
Früchte schimmerten und lockten.

Und Frau Besenmüller ließ sich locken. Schritt um Schritt kam sie
näher, bis sie vor den Büschen stand. Sie pflückte rasch und
eilfertig, rupfte und rupfte, und dabei blinzelte sie immer wieder nach
dem Strick. Was tat denn der? Er schwankte und zitterte doch hin und
her!

»Was nur damit ist? Müßte mal dran ziehen!« Frau Besenmüller überlegte
das eben, als sie Schritte hörte; trapp, trapp kamen sie den Berg
herauf.

Sie erschrak sehr, aber da begann ein lustiges Singen, und da
Gespenster am hellichten Tage nicht Wanderlieder zu singen pflegen,
beruhigte sie sich gleich wieder. Ein Weilchen lauschte sie dann,
da sah sie Heinrich Fries den Weg emporkommen, und sie brummelte
zufrieden: »Das ist mal recht, der sieht sich gleich gut um.« Alle
Furcht war wie weggeblasen, nur die Neugierde war geblieben, und die
trieb sie noch näher zu dem Stricke hin. Sie mußte doch sehen, wie der
hierher kam. Was hatte so ein Strick hier zu diesem Loch, das früher
ein Fenster gewesen war, herauszuhängen?

»Überall Unordnung! Ärgern muß mer sich alleweil,« schalt die Frau,
griff rasch nach dem Strick und zog fest daran und --

Heinrich Fries hörte auf einmal ein lautes Geschrei, ein Poltern und
Rasseln. Er brach jäh sein Lied ab und war mit ein paar Sätzen im
Burghof.

»Hilfe, Hiiiilfe, uuh, uuh!« kreischte Frau Besenmüller. Die hielt den
Strick in der Hand, schwankte mit ihm wie eine Fahne im Winde, während
unaufhörlich Mauergeröll purzelnd von oben herabrieselte.

»Lieber Himmel, was ist das?« Der junge Lehrer hatte die Frau erreicht,
er hielt sie fest. »Was ist geschehen? Lassen Sie doch den Strick los!«

»Huuhhu,« heulte Frau Besenmüller, »er -- er -- is -- ja verhext!«

»Was, der Strick?« Heinrich Fries wollte auch danach greifen, aber
er zog rasch seine Hand zurück. »Der klebt ja, der ist mit Vogelleim
eingeschmiert.«

»Huuhhuuh, drinne sitzt -- huhuhuh -- so ’n Graul!« Frau Besenmüller
zog angstvoll am Stricke, der gab jäh nach, und plumps saß die
Schuldienersfrau halb in den Rosenbüschen drin. Von dem alten Mauerwerk
bröckelte wieder etwas ab, das rieselte zu Boden, und eine Staubwolke
stieg empor.

»Holla, das Gespenst wollen wir mal fangen!« Der junge Lehrer hatte
flinke Beine, er lief um den Turm herum, fand den Eingang und fand
auch die bösen Neckgeister. Ein ganzes Nest voll war es. In dem von
drei Seiten nur mit ganz niedrigem Gemäuer umschlossenen Turmviereck
wimmelte es von Buben, und Arne Weber hatte Schwetzers Fritze auf den
Schultern, und der trug wieder das Jackenknöpfle; so reichte es knapp
bis zum Fensterloch. Jackenknöpfle wollte gerade herabklettern, als der
neue Lehrer erschien. Da wackelte die lebendige Leiter, und Heinrich
Fries konnte das Jackenknöpfle noch eben auffangen und es vor einem
vielleicht schlimmen Fall bewahren.

Draußen jammerte und schrie Frau Besenmüller noch immer angstvoll um
Hilfe, innen starrten die Buben den neuen Lehrer an, als wäre nun der
das Gespenst, mit dem sie die Schuldienersfrau hatten schrecken wollen.

»Kommt mal mit!« Kurz und scharf klang der Befehl, und kein Bube wagte
es, auszureißen. Wie eine Schafherde, die in einen Gewittersturm
geraten ist, so folgten sie alle ihrem neuen Lehrer. Der führte sie um
den Turm herum bis dahin, wo Frau Besenmüller noch immer einen wilden
Kampf mit dem geleimten Strick ausfocht.

»Da sind die Gespenster, Frau Besenmüller.«

»I du meine Güte, nä, so was!«

Die Frau wäre weniger verdutzt gewesen, wenn Heinrich Fries ein in
weiße Bettücher gewickeltes Gespenst oder einen alten, mit Ketten,
Schwertern, Schlössern und sonst was für Eisenkram rasselnden Ritter
angebracht hätte. »I du meine Güte, die verflixten Bengel!«

»So, jetzt helft einmal Frau Besenmüller vom Strick loskommen. Schnell,
eins, zwei, drei!«

Zehn Bubenhände und mehr griffen nach dem ungeleimten Ende, sie zerrten
und zogen. »Herrje,« schrie Frau Besenmüller, die vorwärtsgezogen
wurde, »nicht so rasch, du meine Güte!« Plumps, saß sie noch einmal in
den Rosenbüschen, aber sie war doch den unheimlichen Strick los.

»Und nun geschwind, Buben, alle heran und Hagebutten gepflückt! In
einer halben Stunde muß der Korb voll sein.«

Wieder klang der Befehl kurz und scharf, und wieder folgten die Buben
ohne Besinnen. Sie stürzten sich mit wildem Eifer auf die Büsche,
rissen ab, was ihnen unter die Finger kam, und Heinrich Fries mahnte:
»Nur die Früchte, keine Blätter, Äste oder gar die halben Büsche!«

Da blinzelten die Buben ein wenig nach dem neuen Lehrer hin. Das
letzte Wort klang ihnen fast wie ein Spaß, aber zu lachen wagten
sie doch nicht, und obgleich sie eine Hagebuttenernte wenig lustig
fanden, pflückten sie doch wie die Heinzelmännchen. Frau Besenmüller
vergaß darüber vor Staunen jegliche Strafrede, trotzdem sie sich von
ihrem Schreck schon wieder völlig erholt hatte. Sie saß auf einem
Mauerrest, rieb sich die Hände mit der Schürze sauber und sah zu. »Wie
’ne leibhaftige Prinzessin,« dachte sie, obgleich sie mit ihrem blauen
Kopftuch und der großen Küchenschürze nicht gerade einer Prinzessin
glich.

Von den Buben kam auch keiner auf den Gedanken, Frau Besenmüller mit
einer Prinzessin zu vergleichen, sie waren sogar alle miteinander etwas
böse auf die arme Frau. Warum hatte sie nur gleich so geschrieen? Wegen
so ’nem bißchen Vogelleim? »Sie brauchte doch nicht dranzufassen!«
brummelte Jackenknöpfle. Aber er pflückte trotzdem so geschwind wie die
andern. Ritsch, ratsch, da! Die roten Früchte kollerten in den Korb,
und sehr bald war der voll und die Rosenbüsche kahl.

»So ist’s recht!« lobte der Lehrer. »Und nun tragen zwei der Frau
Besenmüller den Korb nach Hause. Wer hat den Plan gehabt, den Strick zu
leimen?«

Einen Augenblick herrschte tiefe Stille, dann trat Arne vor. Er trug
den blonden Kopf ganz hoch, und der junge Lehrer lächelte ein wenig,
ein Heimlicher war der Bube nicht. Aber noch war Arne nicht am Korb, da
faßte schon Schwetzers Fritze mit an.

»Also ihr beide seid die Anstifter? Na, gut --«

»Nä, Schwetzers Fritze nich, der niche!« Sechs Stimmen riefen es auf
einmal, und Heinrich Fries sah etwas erstaunt auf Fritz. »Warum trittst
du denn dann vor?«

Fritz hätte schon gern eine Antwort gegeben, aber so etwas mußte doch
Zeit haben. Er blickte in die Luft, als käme eine Antwort vom Himmel
herunter, und da sagte auch schon der neue Lehrer: »Vielleicht hast
du’s gedacht?« Er nickte dabei den beiden ganz freundlich zu und mahnte
nur noch: »Tragt den Korb aber vorsichtig, damit nichts verschüttet
wird.«

Die beiden trabten los, Frau Besenmüller wanderte hinterher. Sie kam
sich nun wirklich wie eine leibhaftige Prinzessin vor. Weil sie so
schnell und sonder Plage ihre Hagebutten geerntet hatte, war ihr Herz
mild und versöhnlich gestimmt, und vor dem Schulhaus sagte sie gnädig:
»Wartet e’ bißchen, ihr sollt ’n Kuchen haben!«

Sie holte zwei mächtige Stücke herbei, von dem angeleimten Strick sagte
sie nichts mehr, und Arne und Fritze fanden den Lohn auch nur gerecht.
Sie zogen vergnügt von dannen, kauten mit vollen Backen und ahnten,
sie würden bald ihre Gefährten treffen. So war es auch. Die kamen
ihnen auf halbem Weg entgegen, und sie schrieen gleich: »Ihr eßt ja
Quetschenkuchen!«

»Na ja, von Besenmüllern!« Urne stopfte schnell sein letztes Stück in
den Mund, Fritze war schon fertig. Das war sicherer.

»Haste denn das wirklich gedacht mit ’m Strick?« forschte Jackenknöpfle
eifrig, während die andern maulten: »Wir hab’n keinen Kuchen gekriegt!«

»Hm, na ja!« Schwetzers Fritze nickte strahlend. Ihm gefiel der neue
Lehrer sehr gut. Bei dem brauchte er sich gewiß nicht mit Reden
anzustrengen, der las einem ja die Gedanken an der Nasenspitze ab.
»Hurra!« schrie er plötzlich und machte einen Luftsprung.

»Hurra!« schrieen die andern und taten es ihm nach. Und dann trabten
sie alle vergnügt dem Walde zu. Es war ja Samstag, und die Sonne
stand noch am Himmel, da konnten noch immer die allerschönsten Spiele
gespielt werden.

»Hurra, hurra!«

Der junge Lehrer Heinrich Fries hörte das Freudenrufen oben auf dem
Burgberg. Lächelnd schaute er ins Tal und dachte: »Wirklich, es scheint
so, die Schelme von Steinach leben noch immer!«



[Illustration]



Sechstes Kapitel

Die Mutter kommt

    Die Steinacher Frauen haben Angst, Vater Hiller könnte Not
    leiden -- Dem jungen Lehrer verderben die Novembertage die
    Laune, und Fritze Schwetzer erfährt, was alles bei einem
    Schweineschlachten herauskommen kann -- Eine Maus zieht aus dem
    Schulhaus aus und wird eine Kirchenmaus und sieht gleich am
    ersten Sonntag etwas, das ihr und andern Leuten gut gefällt


Tal und Höhen lagen noch im grauen Morgennebel, als Vater Hiller
Steinach verließ. Dem alten Mann war das Herz schwer, als er zum
letzten Mal die Schwelle des lieben, schönen Schulhauses überschritt.
Wie er aber so hinaustrat, grüßte ihn draußen ein lautes Singen: alle
seine Schulkinder standen da, bereit, ihn zum Bahnhof zu begleiten.
Die Brummer sangen auch diesmal mit, sie ließen sich nicht den Mund
verbieten, und wunderlich, dem alten Lehrer klang es hold und lieblich
in die Ohren. Er, der sonst so fein gehört hatte, vernahm diesmal kein
einziges falsches Tönlein.

Es war ein langer Zug, der sich durch die Apfelstraße hin nach dem
Bahnhof bewegte. Auch viele Erwachsene kamen mit. Jedes trug einen Korb
oder ein Päckchen, denn auf einmal war es den Steinacher Bäuerinnen
schwer auf das Herz gefallen, ihr lieber Vater Hiller könnte gar Hunger
leiden in der Fremde, könnte nicht so gute Butter, so frische Eier,
so goldgelben Honig und prächtigen Kuchen, so rundliche Würste und
köstliche Äpfel haben wie in Steinach. Für alles hatten sie gesorgt.
Als der Zug auf dem kleinen Bahnhof einlief und ein bitterschweres
Abschiednehmen begann, da füllte sich das Abteil mit Schachteln, Körben
und Paketen, und Vater Hiller wehrte erschrocken: »Das kann ich doch
nicht alles mitnehmen!«

»Ich helf’ beim Umsteigen!« Der Schaffner lachte über das ganze
Gesicht, er war doch ein Steinacher Kind, er war doch auch zu Vater
Hiller in die Schule gegangen. Die Kinder jammerten laut, als die Tür
geschlossen wurde und der Zug davonfuhr. Ein Weilchen konnten sie noch
das freundliche Gesicht ihres alten Lehrers sehen, dann entschwand es
ihren Blicken, und traurig zogen alle heimwärts. Die Großen redeten
unterwegs von dem Abgereisten; nur Gutes wußten sie alle von ihm zu
sagen.

Die Kinder aber tuschelten zusammen von dem neuen Lehrer. Wie würde
er sein? Vor der Hagebuttenernte hatte Frau Besenmüller gesagt: »Böse
wird’s!« Seit gestern sagte sie: »Gut wird’s!« Was war nun das Rechte?

»Simeliert nich so lange, geht nein!« riet Frau Hinzpeter, Malchens
Mutter, den Kindern vor dem Schulhause. Und wie sie schien innen auch
Frau Besenmüller zu denken; die klingelte laut, arg laut, dachten die
Kinder. Ein wenig seufzend zogen sie in das Schulhaus hinein, sie
meinten, Abreisetag könnte gut Ferientag sein, aber die Erwachsenen
waren alle miteinander anders gesonnen. Am wenigsten dachte Heinrich
Fries an Ferien, und schon an diesem ersten Tag spürten es die Kinder,
bei ihm mußten sie aufpassen. Ob er bös werden würde oder gut, wußten
sie diesen ersten Tag aber noch nicht, und noch viele weitere Tage
vergingen, ehe sie es erkannten.

Dem jungen Lehrer Heinrich Fries erging es in den ersten Wochen in
Steinach am Wald genau so wie seinen Kindern, er wußte auch nicht,
ob er bös werden würde oder gut. Es gefiel ihm manchmal recht gut in
der neuen Heimat und manchmal herzlich schlecht. Wenn er die Gegend
durchwanderte, zum Walde emporstieg, oder wenn er durch die weiten
schönen Räume seines Schulhauses ging und die Sonne zu den Fenstern
hineinschien, oh, dann gefiel es ihm. Als aber der November mit Sturm,
Regen und kurzen, grauen Tagen anrückte und man auf der Dorfstraße
nur die Wahl hatte, in eine Pfütze oder in den Schlamm zu treten,
da gefiel es ihm gar nicht. Es war ihm einsam und unbehaglich, er
ärgerte sich über Frau Besenmüllers Schelten und fand doch auch, die
Kinder brauchten nicht die halbe Dorfstraße mit ihren Schuhen ins Haus
zu tragen. Nur an einem Ort im Dorf war es ihm immer gemütlich: im
Pfarrhaus.

Das Fräulein Regine sah immer aus, als hätte ihr die liebe Sonne einen
Kuß auf den Mund gegeben. Wenn sie lachte, dann war es wie Frühling,
und wer ins Pfarrhaus kam, der vergaß schlechtes Wetter, schlechte
Laune und alle andern bösen Dinge, dem wurde es warm ums Herz.

Doch Heinrich Fries wohnte im großen Schulhaus, und da war es einsam.
Sein Zimmer war kahl und unwohnlich, und Frau Besenmüller ging nicht so
sacht und leis einher wie seine Mutter. Sie hatte auch nicht eine so
liebe, sanfte Stimme, sondern redete laut, es dröhnte immer durch das
ganze Haus. »Wie ein alter Landsknecht schreit sie,« dachte der neue
Hausbewohner wohl.

Und am allerwenigsten gefielen die Kinder an solchen Tagen dem jungen
Lehrer. Die schienen ihm besonders ungezogen zu sein und gar nicht
lernlustig. Er ärgerte sich und redete streng zu ihnen, verlangte, sie
sollten allerlei wissen, was sie nicht konnten. Eins um das andere
fehlte in dieser Zeit, und wenn er wissen wollte, warum, sagten sie,
daheim sei Schlachttag. Da schalt er, dies sei nicht so wichtig, um
die Schule zu versäumen. Da kränkten sich die Kinder, denn in Steinach
wußte es jeder, ein Schlachtfest ist eine wichtige Sache, eine
ungeheuer wichtige sogar.

Schwetzers Fritze dachte das auch, und seine Mutter dachte ebenso,
und darum kam Fritze eines Tages nicht in die Schule. Und am nächsten
Tage kam er und brachte, wie es Sitte war, dem Herrn Lehrer eine
frische Wurst und einen Topf der schönsten Wurstsuppe mit. Seine
Mutter schärfte ihm noch ein: »Sag’s ja recht höflich zum neuen Herrn
Lehrer!« Sie schmückte ihm auch die Wurst noch mit einem dicken
Petersilienbüschel, und darüber verging die Zeit, und da ein Topf mit
Wurstsuppe vorsichtig getragen werden muß, kam Fritze am Schulhaus an,
als Frau Besenmüller schon dreimal kräftig die Klingel geschwungen
hatte.

Auf dem Wege hatte Fritze sich ein gutes Sprüchlein vorgesagt. Immer
wieder hatte er sich die Worte überlegt, und er war sicher, diesmal
würde er reden können. »Einen schönen Gruß von meiner Mutter, und
der Herr Lehrer möchte entschuldigen, bei uns ist Schweineschlachten
gewesen,« so wollte er sprechen. Dazu wollte er einen Diener machen,
nicht so tief, damit die Suppe nicht überschweppte, und --

»Nä, Fritze, du schleichst ja, kommst nich heute, da kommste morgen. So
was!« Frau Besenmüller rief es ihm böse entgegen, und verwirrt betrat
er das Schulhaus. »Man schnell, man schnell!« Die Frau riß die Tür auf,
und Fritze platzte in das Klassenzimmer, just als sie sich alle nach
dem Morgengebet setzten. »So spät?«

Heinrich Fries runzelte die Stirn. Er sah Fritze drohend an. Jedesmal,
wenn er den Buben sah, mußte er an den Empfang auf der Apfelstraße
denken, und er hielt Fritze für einen besonders Unnützen und einen
Heimlichen dazu. »Warum so spät?«

Schwetzers Fritze wurde puterrot, und wie immer in solchen Augenblicken
versagte ihm die Stimme. Seine ganze schöne Rede hatte er vergessen,
die Worte liefen ihm davon, er konnte sie nicht aufhalten. Nur
eines fing er noch, das schrie er hinaus und verneigte sich dazu.
»Schweineschlachten« hallte es durch das Zimmer, und klatsch fiel
Wurstsuppe und die schön geschmückte Wurst dem Herrn Lehrer vor die
Füße.

»Bengel du!« Der junge Lehrer hielt’s für Frechheit, was
Ungeschicklichkeit war; er ärgerte sich, statt zu lachen, desto mehr
lachten die Kinder, aber sie schwiegen rasch, als Heinrich Fries mit
scharfer Stimme Ruhe bot. Er ging zur Türe und rief Frau Besenmüller,
und als die Frau eine lange Rede halten wollte ob der vergeudeten guten
Suppe, gebot er kurz Ruhe, und ebenso kurz sagte er zu Schwetzers
Fritze: »Du bleibst heute und morgen da.«

Nachsitzen hielten die Steinacher Kinder für eine ungeheure Schande.
Nur selten hatte Vater Hiller so gestraft, und daß einer zwei
Tage nacheinander dableiben mußte, so etwas war noch gar nicht
vorgekommen. Sie waren alle fast erstarrt vor Schreck, und weil sie
gar so erschrocken waren, gaben sie an diesem Tage unglaublich dumme
Antworten. Schwetzers Fritze gab überhaupt keine. Schnapp, war dem der
Mund zugeklappt wie ein Schloß, und niemand hatte den Schlüssel, es
wieder aufzuschließen.

Wenn er um Verzeihung bittet, erlaß ich ihm die Strafe, dachte der
Lehrer, der sich überlegt hatte, Wurst und Suppe seien doch wohl eine
gutgemeinte Gabe. Aber Fritze bat nicht. Wie himmelgern er es getan
hätte, ahnte Heinrich Fries nicht, der nahm es für Trotz. Und der arme
Fritze mußte dableiben und mußte doppelte Last tragen, denn auch daheim
bekam er Schelte, aber auch hier tat sich das Schloß vor seinem Munde
nicht auf.

Strafe erleiden ist nicht vergnüglich, aber strafen müssen auch nicht.
Heinrich Fries war an diesem Tage geradeso niedergeschlagen wie die
Buben und Mädel. Er stieg nach Schulschluß mit einem so finsteren
Gesicht zu seiner Wohnung empor, daß Frau Besenmüller kein Wort wagte.
Nachher sagte sie zu ihrem Manne: »Es wird doch nichts mit dem neuen
Herrn Lehrer, nä, nä!«

Heinrich Fries hatte nicht gehört, was Frau Besenmüller sagte, aber
als er durch seine kahlen Zimmer schritt und hinaussah, wie der Regen
langsam herniederrann, da dachte er auch: »Es wird nichts, hier halte
ich es nicht lange aus.« Und weil er Sehnsucht hatte nach eines lieben
Menschen Trost, setzte er sich hin und schrieb an seine Mutter einen
langen, langen Brief, wie es sei in Steinach am Wald, und daß es gut
wäre, sie käme nicht her, lange würde er doch nicht bleiben.

Als Frau Fries den Brief bekam, dachte sie gleich: »Ich muß zu ihm,
er braucht mich. Er ist zu einsam am fremden Ort, darum bleibt der
ihm fremd.« Und feinhörig, wie Mütter sind, las sie auch aus dem Brief
heraus, daß es dem Sohn eigentlich ganz gut in Steinach gefiel. Es ging
ihm damit wie mit manchen Menschen, von denen man nicht weiß, daß man
sie im Grunde seines Herzens eigentlich recht liebhat, weil man sich
über allerlei kleine Fehler an ihnen zuviel ärgert.

Wenn die Mutter Fries einmal etwas für richtig hielt, dann tat sie es
auch und wartete nicht lange. Sie schrieb also ihrem Sohn: »Ich komme
zu dir, hab’ es mir überlegt. Der Winter ohne dich ist mir zu einsam.«

Oho, die Mutter hält es nicht aus, dachte der Sohn und ahnte nicht, daß
die Mutter nur um seinetwillen kam. Er freute sich unbändig über seiner
Mutter Sehnsucht; freilich, wenn sie es nicht aushielt, mußte sie
kommen. Es war ein so ungemütlicher Tag, wie sie fast nur im November
zu finden sind, Regen, Sturm, Schnee, Kälte, alles kam zusammen; gerade
da erhielt Heinrich Fries den Brief seiner Mutter. Und an diesem Tage
staunten die Kinder, als sie nachmittags in die Schule kamen. Ihr
Lehrer schaute drein, als wäre Maientag draußen, oder als hätte er sich
von Fräulein Regine im Pfarrhaus mit Gutwetterlaune versorgen lassen.
Die Mutter kam, die Mutter kam! Wie ein Lied klang ihm das fort und
fort im Herzen.

In Steinach am Wald wußten die Nachbarn schnell, was in des andern
Haus vorging. Das war nun einmal so. In welchem Hause große Wäsche,
Schweineschlachten oder Kuchenbacken war, wußte jeder im Dorf, und
für wen Zimplichs Hulda, die Dorfschneiderin, gerade ein Kleid nähte,
wußten auch alle. Und so redeten auch schon am andern Tag die Großen
und Kleinen im Dorf: »Die Mutter vom neuen Herrn Lehrer kommt!«

Frau Besenmüller hatte diese Neuigkeit von Haus zu Haus getragen. Mit
Sack und Pack wollte sie kommen. Und der Herr Lehrer hatte selbst die
große Hinterstube bestimmt, in der sollte seine Mutter wohnen, weil man
von da aus den Wald sehen konnte und in den Garten hinein.

»Kurios so was,« meinte Besenmüllern, »mir ist’s alleweil lustiger,
auf die Straße zu gucken.« Aber sie scheuerte und putzte in der großen
Stube herum, so sehr, als müßte sie noch sauberer als sauber werden.
Kein Spinnchen wagte es darin zu bleiben, die holte Frau Besenmüllers
Scheuerlappen aus jedem Winkel heraus, und ganz schlimm erging es einer
kleinen Maus. Die hatte sich ein Loch genagt und hatte gemeint, die
große Stube würde eine gute Winterwohnung werden. Doch hui, da kam Frau
Besenmüller. Sie stopfte spitzige, scharfe Glasscherben in das Loch
und verkittete und verklebte es, -- nun mochte die Maus sehen, wo sie
blieb. Vielleicht war es die, die am nächsten Tage in das Schulzimmer
gelaufen kam. Sicher wollte sie Frau Besenmüller verklagen, aber weil
die Kinder gleich lachend ihren Namen schrieen, erschrak sie und
kletterte an Toni Hases Röckchen empor. Nun war Toni zwar kein Hase,
wenn sie auch den Namen trug, aber eine Maus, die den Weg zu ihrer Nase
nahm, war ihr doch greulich. Sie quietschte, schüttelte sich, schlug
um sich, traf ihre Nachbarin, warf die Bücher vom Tisch, und heilloser
Wirrwarr entstand.

Um eine Maus! Der junge Lehrer schalt an diesem Tage nicht, obgleich
er den Lärm doch recht überflüssig fand. Er fing selbst die Maus und
warf sie zum Hause hinaus; ein Tier zu töten tat ihm leid. Die arme
hinausgeworfene Maus erlebte an diesem Tage noch allerlei seltsame
Abenteuer, bis sie schließlich in die Kirche geriet. Sie wurde nun dort
eine arme Kirchenmaus, aber ihr neues Leben gefiel ihr gut, und sie sah
sich nie wieder nach einer andern Wohnung um.

Gleich am ersten Sonntag sah die kleine, graue Bewohnerin in der Kirche
etwas, das ihr besonders gut gefiel. Da saß eine schlichte ältere Dame
vorn auf der ersten Bank, und ein heiteres, frohes Scheinen lag in
ihren Augen, als die Orgel erbrauste. Droben spielte ihr Sohn schöne,
feierliche Weisen, und in der Kirche reckten und streckten alle die
Hälse vor und schauten auf die Fremde. »Die alte Frau Lehrerin ist’s,«
sagten sie. Es lag Neugier in den Blicken, aber auch viel herzliche
Freude, und Frau Fries spürte mehr die Freude, und wie sie so still in
der kleinen alten Kirche saß, dachte sie: »Hier gefällt es mir!«

Am Abend vorher war Frau Fries gekommen. Frau Besenmüller war sehr
zufrieden gewesen, daß jemand am Samstag kam, da war doch alles
blitzblank geputzt. Nur den Himmel hatte Frau Besenmüller nicht
scheuern können, so gern sie dies auch getan hätte. Der hing voller
grauer Wolken, und die Steinacher sagten: »Es gibt Schnee.« Es gab aber
nur einen Mischmasch von Schnee und Regen, und um die Geschichte noch
ungemütlicher zu machen, heulte der Wind wie ein ganzer Chor böser
Buben. Wirklich, es war höchst ungemütlich, und als Frau Fries in der
Dämmerung auf Bauer Hinzpeters Wagen in das Dorf einfuhr, schauerte sie
leicht zusammen; nein, schön war es wohl in Steinach am Wald nicht.
Aber schön war die große Freude ihres Sohnes, und die war es auch, die
es der Mutter behaglich in dem alten Hause machte.

In der Nacht hatte sich dann das Wetter besonnen, es zeigte ein
freundlicheres Gesicht. Der Sturm riß aus, und der Mond kam hervor.
Der hielt um die erste Tagesstunde Zwiesprache mit der Sonne, und
diese etwas launenhafte Dame erklärte sich bereit zu scheinen, weil
doch erster Advent war, und weil doch die alte Frau Lehrerin Steinach
im Sonnenglanz sehen wollte. Am nächsten Morgen lag eine zarte weiße
Schneedecke über dem Land. Wie versilbert standen die Bäume da, und
über alles breitete die Sonne goldenen Schein. Es schimmerte und
glänzte schöner als im Juwelenkästlein einer Königin. Als Frau Fries
hinaussah, erst hinüber nach den dunklen Waldbergen und dann hinweg
über das Dorf, sagte sie heiter: »Hier gefällt es mir!«

Die Steinacher mußten es wohl spüren: »Der Frau gefällt es unter
uns.« Sie grüßten sie, und viele reichten ihr die Hand. Sie taten das
treuherzig und freundlich, und Frau Hinzpeter sagte: »Es ist eben nich
Mode bei uns, fremde tun.«

Daß Fremdtun nicht Mode war, sah Frau Fries auch an den Kindern. Die
standen freilich erst scheu zur Seite, aber als sie ein paar kleinen
Mädeln die Hand gab, kamen geschwind andere herbei, und immer mehr
kleine, braune Hände, auch derbe Jungenpatschen, streckten sich ihr
zutraulich entgegen. Sie wollten alle gern der alten Frau Lehrerin
guten Tag sagen. Die Sonne strahlte hell, aber noch heller schien
ihr Glänzen zu werden, als Pfarrers Regine aus der Kirche trat.
Gerade neben dem alten steinernen Schelm von Steinach stand sie, als
Frau Fries sie erblickte. Die alte Frau und das junge Mädchen sahen
sich an, und beide spürten es gleich: wir werden uns liebhaben. Sie
schüttelten sich die Hände wie gute Bekannte, und dann gingen sie ein
Stück die Dorfstraße entlang heimwärts, und Frau Fries versprach zum
Nachmittagskaffee in das Pfarrhaus zu kommen. Regines Mutter war viel
krank; die freue sich schon auf den Besuch, sagte das junge Mädchen,
sehr sogar freue sie sich.

Da verging denn dieser erste Sonntag in Steinach am Wald für Frau Fries
hell und heiter, und sie nahm es als ein gutes Zeichen für kommende
Tage.



[Illustration]



Siebentes Kapitel

Schloß Moorheide

    Es weihnachtet sehr -- Frau Fries ladet zu einer Adventfeier
    ein, und Frau Besenmüller läßt die Schulglocke stehen -- Eine
    Geschichte wird erzählt, die im Sommer beginnt und in der
    Adventszeit endet, und die schon hundert Jahre alt ist


Ob es in der zweiten Nacht, die Frau Fries in Steinach zubrachte, der
Mond vergaß, mit der Sonne zu reden, ob sie sich stritten, -- wer
kann es wissen? -- jedenfalls blieb die Sonne am nächsten Morgen in
ihrer warmen Sonnenstube. Grau hing der Himmel über dem Dorf, und dann
begann es zu schneien. Erst sacht und sanft, dann wurden die Flocken
größer, sie wirbelten und tanzten in der Luft herum, und ganz Steinach
versank allmählich in ein weiches, weißes Schneebett. Es wurde so
huschelig, so weihnachtlich, und man hätte das ganze Dorf mit seinen
weißbeschneiten Dächern, den hohen Schneewällen ringsum gleich in ein
Weihnachtsbilderbuch setzen können, so sah es aus. Durch den Schnee
kamen eines Tages ein paar große Wagen gefahren vom Bahnhof her,
der Hausrat der alten Frau Lehrerin. Und nun schaffte diese emsig im
Haus, Frau Besenmüller half ihr, und selbst der Schuldiener mußte mit
eingreifen. Aus dem Pfarrhaus kam Fräulein Regine, und die rief einmal
über das andere: »Wie hübsch das ist, wie hübsch!«

Manch Stück aus der Großmutterzeit war unter den Sachen, das paßte gut
in die großen Stuben des Schulhauses, viel besser als in die enge,
kleine Viertreppenwohnung der grauen Stadt. Mutter und Sohn staunten
selbst, wie hübsch es wurde, und als dann die Bücherkisten kamen und
Heinrich Fries die lieben gedruckten Freunde wiedersah, da fand auch er
es nicht mehr so einsam in Steinach.

Draußen wurde es immer weihnachtlicher. Die Kinder sangen
Weihnachtslieder, wo sie gingen und standen, und keiner schalt, wenn
die Brummer auch sangen. Hinzpeters Malchen sang manchmal noch im Bett
ihre kleinen frohen Lieder. Im Schulhaus hörte die alte Frau Lehrerin
das frohe Singen auch, und sie meinte, seit vielen, vielen Jahren sei
es ihr noch nicht so weihnachtlich zumute gewesen wie hier in Steinach.
Ihr fielen allerlei heitere Dinge ein, die sie einst im Elternhaus
unter der Adventskrone getan hatte, und eines Tages wanderte sie
selbst in den Wald, holte sich Tannengrün, wand eine Adventskrone,
steckte drei Lichter darauf, denn so weit war die Zeit vorgeschritten,
und dann lud sie die Schulkinder zu einer Adventsfeier ein.

So etwas hatte es noch nie in Steinach gegeben, und sämtliche Spatzen
im lieben deutschen Land zusammen konnten nicht so neugierig sein
wie die Steinacher Kinder. Die hatten es an diesem Sonntagnachmittag
ungeheuer eilig, in das Schulhaus zu kommen. Eine Stunde früher als
angesagt waren sie schon da. Aber Frau Besenmüller war auch da, und die
fand gar nicht, daß es nötig sei, nur eine Minute früher zu kommen.
»Geht nur wieder,« sagte sie, hartherzig, wie die Kinder meinten, »ich
bimmle schon!« Und klapp schloß sie ihnen die Türe vor der Nase zu.

»Frech!« rief Arne.

»Besenmüllern ist komisch!« brummten etliche.

»Huje, da is die Bimmel!«

Zimplichs Max jauchzte es laut. Die andern folgten mit ihren Blicken
seinem Zeigefinger, und da sahen sie wirklich alle außen im Türwinkel
die große Schulglocke stehen. Frau Besenmüller hatte sie am Morgen in
Gedanken außen statt innen in die Ecke gestellt.

Die Schulklingel! Die liebten die Kinder und haßten sie. Wie manchmal,
wenn sie ertönte, atmeten besonders die Faulpelze auf, daß endlich die
Stunde aus war. Und dann wieder ärgerten sie sich über den hellen Ton,
wenn er ihnen mitten in ein lustiges Spiel hineinfuhr. Und nun stand
dieses Ding, das eine Stimme hatte und beinahe wie ein lebendiges Wesen
war, vor ihnen, von Frau Besenmüller unbeschützt.

»Wir bimmeln,« riefen Arne und Malchen.

»Ach ja, wir bimmeln,« schrieen ein paar andere.

»Nä, wir verstecken sie.« Zimplichs Max und Jackenknöpfle schrieen es,
und gleich schrieen die andern: »Wir verstecken sie, fein, hurra!«

Ein paar stürzten auf die Klingel los, und Schmiedemeister Traugotts
Hans warnte: »Laßt ’n Klöppel niche los!«

Die Warnung kam zu rechter Zeit, der Klöppel wurde festgehalten,
die Schulklingel mußte stumm bleiben. Sie konnte nicht rufen und
nicht anklagen, sie mußte es leiden, daß sie von unnützen Buben und
kichernden Mädeln in Besenmüllers Holzschuppen getragen wurde. Dort
erhielt sie ihren Platz auf einem hochgeschichteten Holzstoß, und da
saß sie und mußte schweigend warten, bis Frau Besenmüller Holz holen
kam.

Die Kinder zogen wieder vor das Schulhaus zurück, sie freuten sich
schon über Frau Besenmüllers Erstaunen, wenn sie die Klingel nicht
fand. Sie wollten ihr dann suchen helfen, das gab gewiß einen
Hauptspaß. Es kam aber anders. Fräulein Regine aus dem Pfarrhaus kam,
auch ehe es Zeit war. Und Fräulein Regine ließ Frau Besenmüller nicht
draußen stehen, und weil das junge Mädchen sagte, es sei so kalt
draußen, die Kinder könnten doch mit hinein, tat die Schuldienersfrau
wirklich weit die Tür auf, und alle liefen schwatzend und vergnügt in
das schöne, alte Haus hinein. Einige dachten: »Nun braucht Besenmüllern
die Bimmel nicht zu suchen, schade!« Aber dann vergaßen sie gleich den
andern die arme, verstoßene Schulklingel im Holzstall, denn es wurde
sehr fein.

Frau Fries hatte lange keine Adventsfeste gefeiert, und sie hätte wohl
auch die Kinder nicht zur Adventsfeier eingeladen, wenn nicht Fräulein
Regine ihr geholfen hätte. Aber Fräulein Regine konnte singen, die
allerlieblichsten Lieder, sie konnte erzählen und plaudern, und dann
konnte sie lachen. So mit dem Herzen zu lachen wie Fräulein Regine
verstand nicht leicht jemand, und dieses Lachen steckte an. Die große
Schulstube sah an diesem Nachmittag lauter heitere, lachende Gesichter,
trotzdem der neue Lehrer, vor dem die Kinder immer noch ein wenig
Angst hatten, auch im Zimmer blieb. Und Frau Besenmüller saß mit darin
und ihr Mann, der emsig an einem rosenroten Strumpf strickte. Frau
Fries zeigte es den Kindern, wie sie alle die bunten Papierstreifen,
von denen sie eine große Schachtel voll vor sich stehen hatte, zu
Ketten zusammenkleben konnten. So etwas hatten die Steinacher Kinder
noch nie getan, und sie fanden, es sei eine vergnügliche Arbeit.

Fräulein Regine erzählte dazu das lustige Märlein vom Vater Strohwisch,
und dazwischen wurden Lieder gesungen. An einer Geschichte hatten die
Kinder aber nicht genug, und sie baten um mehr. Da erzählte ihnen der
junge Lehrer etwas aus der Zeit der Befreiungskriege, von der Schlacht
bei Leipzig am 18. Oktober 1813.

»Ach Krieg,« rief Hinzpeters Malchen, »den gibt’s nicht mehr!«

»Na, du,« schrieen die Buben empört, »der kommt schon noch mal.«

»Krieg ist schwer,« seufzte Frau Fries. »Als ich ein junges Mädel war,
etwas älter als Malchen, hatten wir Krieg mit Frankreich.«

»Mutter, erzähle den Kindern doch einmal die Geschichte aus
Urgroßvaters Jugendzeit,« bat Heinrich Fries. »Sie ist zwar ernst,
aber eigentlich ist es eine Adventsgeschichte, wenn sie auch im Sommer
beginnt.«

»Sie ist zu lang,« warf die Mutter ein.

»Och nä,« schrieen die Kinder, just als wüßten sie genau, wie lang
die unbekannte Geschichte sei. Und selbst Besenmüller, der bis dahin
unentwegt und stumm an seinem rosenroten Strumpf gestrickt hatte, tat
seinen Mund auf und sprach: »Zu lang is ’ne Geschichte niche leicht,
wenn se scheene is.«

»Ob sie schön ist, mögt ihr alle nachher entscheiden,« sagte Frau Fries
lächelnd. »Sie ist lustig und ernst, und der Försterbube darin war mein
Großvater. Es ist also eine wahre Geschichte, und das ist auch etwas
wert. Nennen werde ich sie


Schloß Moorheide.

An einem See, den dunkler Tannenwald umschloß, lag ein graues Haus.
Schloß Moorheide wurde es genannt, obgleich der einfache, gerade Bau,
dem jeglicher Zierat fehlte, nichts Schloßartiges an sich hatte. Nur
die breite Freitreppe, die vom Eingang hinab in einen ziemlich wilden
Garten führte, verlieh dem Haus ein vornehmes Aussehen. Am Fuße dieser
Treppe stand an einem Sommertag des Jahres 1812 ein kleines Mädchen,
ein feines, zierliches Ding mit braunen Locken und veilchenblauen
Augen.

Vor ihr stand, die Hände in den Hosentaschen, ein etwas größerer
Bube. Er war halb städtisch, halb bäurisch gekleidet, und sein
braungebranntes Gesicht stach drollig gegen die flachsblonden Haare
ab. Dem ganzen kleinen Kerl sah man an, daß er in Wind und Wetter
draußen war, und seine blitzenden Augen verrieten, daß er zu allerlei
tollkühnen Unternehmungen gern bereit war.

»Du bist feige,« sprach er grollend zu seiner Gefährtin.

Sabina von Hartenstein, den Namen führte das zierliche Mädchen,
schüttelte traurig den Kopf. »Ich darf doch nicht,« sagte sie, und ein
sehnsüchtiger Blick flog nach dem Walde hin; in den Augen stand: »Ich
möchte schon.«

»Frag’ nur deine Frau Mutter,« drängte der Bube. »Pah, mit mir kannst
du doch in den Wald gehen!« fügte er ein bißchen prahlerisch hinzu und
reckte die Stupsnase gewaltig in die Höhe.

Babinchen, so wurde Sabina gerufen, lachte schelmisch: »Du tust gerade,
als wärst du mindestens ein Ritter, Heine. Großvater sagt, es sei jetzt
so unsicher, man könnte immer Soldaten erwarten, und du weißt« -- sie
sprach das Wort nicht aus, aber ein scheuer Blick flog nach dem Hause
hinauf. Oben stand ein Fenster offen, und manchmal hörte man ein paar
Männerstimmen in der friedlichen Nachmittagsstille aufklingen.

Heine Strohmanns hellblaue Augen blitzten, und er schaute mit
ehrfurchtsvoller Bewunderung zu dem Hause hinauf.

Der Bube war der Sohn des Försters, sein Vater wohnte nicht allzuweit
vom Schloß entfernt im Walde. Fast täglich kam Heine in das Schloß,
denn Babinchen war seine liebste Spielgefährtin; die beiden streiften
dann oft stundenlang in den weiten, sich bis an die russische Grenze
hinziehenden Wäldern umher. Heine kannte Weg und Steg so gut, daß er
sich selbst im Dunkeln zurechtfand. Er kannte aber auch jeden Vogelruf,
er wußte, wo die Rehe ästen, wo Füchse, Dachse und anderes Getier
hausten, und oft genug hatte er seiner kleinen Freundin schon allerlei
Wunder des Waldes gezeigt. Heute hatte er ihr einen Fuchsbau weisen
wollen, er hatte vor etlichen Tagen die jungen Füchslein gesehen;
morgen wollte der Vater das ganze Nest ausheben, da sollte es nun
Babinchen noch rasch sehen. Es kam ihm sehr ungelegen, daß Frau von
Hartenstein ihrem Mädel verboten hatte, im Wald herumzustreifen. Noch
waren nämlich die Truppen des Kaisers Napoleon auf dem Durchmarsch nach
Rußland begriffen. Dieses große Reich sollte Napoleons unersättlicher
Ländergier auch zum Opfer fallen, und das arme Preußen, halb vernichtet
in dem unglücklichen Krieg von 1806--1807, mußte sich den Durchzug
der Truppen gefallen lassen. Napoleon nannte den König von Preußen
zwar jetzt seinen Freund und Bundesgenossen, aber dabei glich der
Durchmarsch seines Heeres eher einem großen Raubzug.

Nach Schloß Moorheide, das abseits von der großen Heerstraße lag, waren
bisher noch keine Soldaten gekommen. Auch das nahe Dorf war noch davon
verschont geblieben, Vorspanne, Schlachtvieh und Lebensmittel aller Art
liefern zu müssen.

Auf Moorheide wohnten schon seit etlichen Geschlechtern die
Hartensteins. Der alte Herr Jobst von Hartenstein, der derzeitige
Besitzer, war schon lange verwitwet. Bei ihm lebte seine
Schwiegertochter mit ihrem Töchterchen Sabina. Auch ihr Mann war tot;
wenige Wochen nach Babinchens Geburt war er gestorben. Die Kleine
dachte oft sehnsüchtig an den Vater, den sie nie gekannt hatte, und
den sie doch so liebte, weil alle Menschen, die von ihm sprachen,
nur Gutes zu erzählen wußten. Wenn aber auf den Nachbargütern der
Name Ferdinand von Hartenstein genannt wurde, dann schwiegen meist
alle dazu, die Männer schauten ernst und trübe drein, und die Frauen
hatten Mitleidstränen in den Augen. Auch in dem etwas düsteren Schloß
am See wurde dieser Name nur in leiser, weher Trauer genannt, und
der Großvater, der seit einem Jagdunfall lahm war, sprach fast nie
den Namen aus. Ferdinand war sein Enkelsohn, Sabinas vierzehn Jahre
älterer Bruder. Der feurige, leidenschaftliche Jüngling hatte sich in
seiner heißen Vaterlandsliebe dem Schillschen Korps angeschlossen,
er hatte fliehen müssen und war in einer grauen Nebelnacht nach
Schweden entkommen. Die Mutter trauerte tief um den letzten Sohn. Der
älteste war einst bei Jena gefallen. Der Großvater sehnte sich nach
dem fernen Enkel, und Babinchen hatte dem Bruder schon viele heiße
Tränen nachgeweint. Mit ihrem Freund, Heine Strohmann, sprach sie oft
von dem Bruder. Der Bube bewunderte in dem Flüchtling einen Helden,
und er wurde nie müde, von ihm zu hören. Wie der Bruder aussah, wußte
Babinchen freilich selbst nicht mehr genau. Schon seit sieben Jahren
hatte sie ihn nicht mehr gesehen, und sein Bild hielt die Mutter
verborgen. So wußte auch niemand von den Hausgenossen sich recht an den
jungen Herrn zu erinnern.

»Ob er es wirklich ist?« fragte Heine jetzt voll ehrfürchtiger Scheu,
und sein Blick streifte wieder rasch das offene Fenster. Babinchen
legte ihre Arme um den Hals des Kameraden und flüsterte leise, obgleich
nirgends ein Lauscher zu sehen war: »Ich denke, er muß es sein. Und
weißt du, er ist gekommen, weil Großvater so lange, lange krank war.«

»Wenn ich ihn nur einmal sehen könnte, nur ein einziges Mal!« rief
Heine laut und aufgeregt.

Babinchen hielt ihm rasch den Mund zu. »Schrei doch nicht so, Stepke!«
schalt sie ärgerlich.

Heine wurde ein bißchen verlegen. Stepke nannte ihn seine kleine
Freundin immer, wenn er gar zu wild und jungenhaft war, und darum
mochte er den Namen nicht leiden. Er grollte auch jetzt: »Brauchst mich
nicht gleich Stepke zu nennen, wenn ich mal ’n bißchen laut rede. Ihr
Mariellen seid auch zu zimperlich!«

Mariell ließ sich nun wieder Babinchen sonst nicht gern nennen, sie war
an diesem Tag aber viel zu aufgeregt, um auf eine solche Kleinigkeit zu
achten. »Wenn du ganz leise gehst, weißt du, auf den Zehenspitzen und
ohne Stiefel, dann führe ich dich in die blaue Stube. Die hat nämlich
ein Fenster nach Großvaters Zimmer hin, und wenn wir recht leise sind,
dann können wir da rasch einmal hindurchsehen; der Vorhang ist nur halb
zu.«

Heine hätte beinahe einen lauten Jauchzer ausgestoßen, er besann sich
aber noch rechtzeitig auf Babinchens Mahnung zur Stille und hielt sich
geschwind seine kleine, braune Hand vor den Mund.

Einige Minuten später schlichen die Kinder auf Strümpfen durch das
Haus, während ihre Schuhe einträchtig nebeneinander in einem dichten
Holunderbusch im Garten standen. Babinchen führte Heine Strohmann durch
einige Zimmer, bis sie aufatmend einige Augenblicke stillstand. Nebenan
war das blaue Zimmer, und von dort aus konnten sie in Großvaters
Arbeitsstube sehen. Es hatte ihr niemand verboten, das blaue Zimmer zu
betreten, sie hatte schon oft durch das Fenster geschaut und dem lieben
Großvater zugenickt und zugelacht. Dennoch zögerte sie jetzt. War es
nicht doch etwas Heimliches, was sie nun tun wollte? Warum wagte sie
eigentlich nicht, Heine einfach in das Zimmer zu führen?

Seit zwei Tagen waren Gäste im Haus, ein paar junge Männer. Ihre
Namen wußten außer dem Großvater und der Mutter wohl nur noch
Förster Strohmann und die alte, treue Marinka. Die aber waren beide
verschwiegen und hätten sich eher die Zunge abgebissen, ehe sie ein
ihnen anvertrautes Geheimnis verraten hätten. Trotzdem niemand über
das Woher und Wohin der Fremden etwas wußte, sagten es doch alle im
Hause, von der Köchin Lisabetha an bis hinab zu dem kleinen frechen
Pferdeknecht Michael, daß der Jüngere der Fremden kein anderer sei
als Junker Ferdinand, der geflüchtete Sohn des Hauses. Auch Babinchen
glaubte es halb und halb, und sie hätte so gern den Fremden als Bruder
angeredet, aber sie sah ihn wenig; fast immer waren die beiden Gäste
in des kranken Großvaters Zimmer. Kam er aber einmal in das Wohnzimmer
und sprach zu ihr, dann schwieg sie befangen, ja dann schien es ihr
kaum möglich, daß dieser Mann mit dem ernsten Gesicht, der breiten,
roten Narbe über der rechten Wange, ihr Bruder sein sollte, so fremd
kam er ihr vor, und sie meinte, der fröhliche Jüngling, der sie als ein
noch viel kleineres dummes Mariellchen oft samt ihrer Puppe Rosalinde
spazierengefahren hatte, sei doch ein ganz anderer gewesen.

Babinchen hatte auch ihrem Freund Heine ihren Zweifel nicht
verschwiegen, der aber hatte versichert: »Wenn ich ihn nur eine Minute
sehen könnte, ich wüßte ganz genau, ob er’s ist.« Und dabei war der
Bube bei des Junkers Abschied auch erst ein rechter Dreikäsehoch
gewesen!

Aber die Kleine glaubte dem Freunde seine kühne Behauptung, und
darum schlichen sie jetzt alle beide in die blaue Stube, um den
geheimnisvollen Fremden zu sehen. Babinchens Herzlein schlug so laut,
daß sie meinte, man müsse sein Pochen drin im Nebenzimmer hören; sie
wagte kaum einen scheuen Blick durch das nur lose verhängte kleine
Fenster, das nach altmodischer Bauweise in die Stubenwand eingelassen
war. »Guckerchen« nannte man es im Hause, und am Guckerchen stand nun
Heine und starrte mit heißen Augen hinüber. »Er ist’s,« flüsterte er
der Freundin zu, die ihm rasch und angstvoll den Mund zuhielt, während
ihre Augen flehten: »Sprich nicht, sei leise!«

Drinnen in dem Zimmer saß in einem Lehnstuhl Babinchens Großvater.
Sein bleiches Gesicht trug die Spuren langer Krankheit, und blaß und
schmal lagen die Hände auf der dicken Decke, in die er sich trotz der
Sonnenwärme gehüllt hatte. Die schönen, klaren Augen des alten Herrn
ruhten liebevoll auf einem jungen Mann, der auf einem niedrigen Schemel
vor ihm saß und ihm etwas zu erzählen schien. Was er sagte, verstanden
die beiden Eindringlinge am Guckerchen nicht. Babinchen zitterte wie
ein Grasstenglein im Wind vor Aufregung, ihr Freund aber hatte ganz
vergessen, wo er sich befand. Der braunlockige junge Mann mit den
grauen, kühn blitzenden Augen, der zu den Füßen des Gutsherrn saß, das
mußte er sein, er, der Held.

Doch da zupfte ihn Babinchen am Jackenzipfel, das sollte heißen: »Komm,
komm!« Die Kleine hatte gesehen, daß nur noch der andere Gast, ein
hochgewachsener, schlanker, blonder Mann, der aber wohl erheblich älter
als sein Freund sein mochte, im Zimmer war. Die Mutter fehlte, und
Babinchen war besorgt, sie könnte kommen und sie beide am Guckerchen
finden. Endlich gelang es ihr mit Zupfen und zaghaft geflüsterter
Bitte, den Kameraden fortzulocken. Auf leisen Sohlen huschten beide
wieder hinaus, unten im Garten aber sprang Heine Strohmann hoch vor
Freude und rief: »Er ist’s, ganz gewiß, er ist’s! Den erkennt --«

»Babinchen, Heine!« rief Frau von Hartenstein. Babinchen konnte noch
gerade in ihre Schuhe schlüpfen, ehe die Mutter aus dem Hause trat.

»Frag’ wegen der Füchse!« tuschelte ihr Heine so laut zu, daß seine
kleine Freundin gar nicht erst zu fragen brauchte. Die Mutter hatte
es gehört und wollte nun wissen, was mit den Füchsen sei. Sie lachte,
als Heine Strohmann die Fuchsfamilie begeistert pries und treuherzig
hinzusetzte, mit ihm könne Babinchen schon gehen, es sei kaum eine
halbe Stunde weit; außerdem werde sein Vater vielleicht ganz in der
Nähe sein, er habe heute früh davon gesprochen.

»Nun, meinetwegen lauft,« sagte Frau von Hartenstein freundlich, »aber
bleibt nicht zu lange. Bittet Marinka, daß sie euch ein Vesperbrot
mitgibt.«

Die Kinder jauchzten auf, Babinchen umarmte die Mutter stürmisch, und
weil ihr das Gewissen beschwert war ob des heimlichen Schauens durch
das Guckerchen, nahm sie einen so zärtlichen Abschied, als ginge sie
auf eine große Reise. Da wurde der Frau das Herz seltsam schwer. Sie
preßte ihr Kind fest an sich und sagte mit leiser Bangigkeit: »Gib mir
gut acht auf mein Mädel, Heine!«

Das versprach der Bube wichtig, und bald darauf trabten die beiden
Kinder dem Walde zu. Die halbe Stunde, die Heine angegeben, hatte ein
recht tüchtiges Schwänzlein. So geschwind die Buben- und Mädelbeine
auch über den grünen Waldboden liefen, es dauerte doch über eine
Stunde, ehe sie am Fuchsbau anlangten. Sie hatten zuletzt die
Landstraße überschreiten müssen, die in einem Bogen um Schloß Moorheide
herum nach der nächsten Stadt führte. Eine Seitenstraße ging von ihr
aus nach dem einsamen Gutshof und dem nachbarlich gelegenen Dorf.

»Bis an die Landstraße sollte ich aber nicht,« sagte Babinchen zaghaft
beim Überschreiten, »Mutter hat es streng verboten!«

»Pah, was ist dabei!« meinte Heine. »Komm nur rasch! Eins, zwei, drei
sind wir drüben. Wir gehen doch nicht die Straße entlang, und ob wir
jenseits durch den Wald laufen oder hier, ist gleich.« Babinchen
ließ sich nur zu gern bereden, und husch liefen sie beide hinüber.
Die breiten Graben am Wegrand wurden mit kühnem Sprung genommen, und
dann tauchten die Kinder drüben in der grünen Dämmerung wieder unter.
Üppiger Laubwald drängte sich zwischen den Nadelwald hinein. Weil
die Vögel hier gut Nester bauen konnten und ein kleiner Waldsee auch
allerlei Wasservögeln Wohnung gab, so schwirrte, sang, kreischte,
rohrte und schnatterte das oben und unten lustig durcheinander. In all
das Vogelgeschwätz hinein aber sagte Babinchen: »Es klingt wie Donner,
was ist das nur?«

»Es wird ein Wagen auf der Landstraße sein,« sagte Heine achtlos, denn
seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Fuchsbau. Dort mußte er doch sein,
dort, wo die Sonne durch eine Lücke drang und einen großen hellen,
runden Fleck auf den Waldboden malte. Aber die Füchslein lagen nicht
wie am Tage vorher draußen und sonnten sich. Alle miteinander steckten
sie in ihrer dunklen Wohnstube, und nicht eine einzige rote Fuchsrute
war zu sehen.

»Das ist doch zu dumm,« brummte Heine, »was ihnen nur einfällt!«

»Wir müssen warten,« tuschelte er. »Komm, wir legen uns hier lang auf
den Boden. Ich habe aber auch Stein und Zunder mit, und wenn sie nicht
kommen, dann räuchere ich sie heraus.«

Dieser Plan war Babinchen etwas zu abenteuerlich; sie meinte, sie
wollten es lieber mit dem Warten versuchen. Erst steckte sie aber
neugierig ihr Näslein in den Fuchsbau hinein, sie fuhr aber geschwind
wieder zurück und rief verächtlich: »Pfui, wie das da drin riecht, brr!
Na, weißt du, deine Füchse sind auch was Rechtes, darum brauchten wir
nicht so weit zu laufen!«

»Wart’ es doch ab, bis sie herauskommen, nachher werden sie dir schon
gefallen!« murrte Heine Strohmann gekränkt. »Aber wenn du schwätzt und
schreist wie eine Elster, dann natürlich, dann können wir lange warten.
Auf der Jagd hält man den Schnabel!«

Des Freundes Strafrede verfehlte ihre Wirkung, denn Babinchen kicherte
so vergnügt darüber, daß es die Fuchsfamilie im Bau sicher hören mußte.
Endlich tat ihr aber Heine, der ein betrübtes Gesicht machte, leid,
sie verhieß still zu sein, und beide legten sich dann wie ein paar
richtige eifrige Jäger lang auf den grünen, weichen Waldboden nieder,
um die Füchse zu belauschen. Doch kaum hatten sie sich recht hingelegt,
da sprangen sie auch schon wieder entsetzt auf und starrten einander
schreckensbleich an. Der ganze Boden dröhnte nämlich. Das konnte nicht
nur ein Wagen sein, der die Landstraße entlang fuhr, viele mußten es
sein und viele Menschen, die da marschierten.

»Feinde sind’s,« stammelte Heine, »Franzosen!« Alle
Schreckensgeschichten fielen ihm ein, die man sich noch in der Gegend
erzählte.

Babinchen wiederholte angstvoll die Worte: »Feinde sind’s!«

»Wir müssen uns verstecken,« sagte Heine rasch, ohne Besinnen, »wir
sind so nahe, dein weißes Kleid kann man sonst sehen.« Er zog seine
kleine Freundin mit kräftigem Ruck in einen Graben hinein, der den Wald
durchlief. Er war trocken und von bunten Blumen überwachsen; in dieses
duftige Blütenbett versanken die Kinder, und einige Minuten saßen sie
stumm, fast betäubt von dem Schreck darin, während durch den Wald
lauter, unheimlicher das dumpfe Dröhnen klang.

»Wenn sie nach Hause kommen, unser Haus finden!« flüsterte Babinchen
zitternd.

»Und deinen Bruder! Den -- den nehmen sie gefangen, er ist doch ein
Flüchtling,« sagte Heine Strohmann, und sein sonst so vergnügtes
Bubengesicht war tief ernst geworden.

Das Mädchen schmiegte sich bebend an den Freund und schluchzte leise:
»O der arme Ferdinand! Ach Heine, wir müssen zu ihm und es ihm sagen!«

Sie wußte nur zu gut, daß Heine mit seiner Angst recht hatte. Erst
gestern hatte sie gehört, wie Lisabetha erzählte: »Wenn nur keine
Franzosen kommen! Die nehmen den jungen Herrn gleich mit oder schießen
ihn mausetot.« Und dann hatten die Mägde und Knechte sich allerlei
schauerliche Geschichten erzählt, von den jungen Offizieren, die
Napoleon in Wesel hatte erschießen lassen, und noch manche andere trübe
Begebnisse. Babinchen hatte schaudernd im Winkel gesessen und gelauscht
-- jetzt kam ihr alles wieder ins Gedächtnis, und aufgeregt flehte sie:
»Komm doch, Heine, komm, wir müssen zurück!«

Heine schüttelte nachdenklich, finster den Kopf. »Hör’ nur, sie müssen
schon nahe sein, und wenn wir zurück über die Straße laufen, dann sieht
man uns, und dann -- nein, das geht nicht.«

»Wir rennen eine Weile am Rand des Waldes entlang und dann fix
hinüber,« riet Babinchen.

Der Bube betrachtete seine Gefährtin. »Dein weißes Kleid verrät uns!«
Er wußte als Förstersohn zu gut, daß etwas Weißes im Walde weithin
leuchtet, deshalb wagte er sich mit seiner Freundin nicht nahe an den
Rand. Er allein wäre ohne Besinnen nach dem jenseitigen Wald gelaufen,
aber verlassen durfte er Babinchen nicht. Er fühlte sich als ihr
Beschützer, hatte er doch versprochen, sie sicher heimzubringen.

»Ach, wenn ich doch braun wäre,« schluchzte das Mädel, »dann liefen wir
schnell vierbeinig über die Straße, und die Franzosen dächten, es wären
Rehe, und --«

»Schießen auf uns,« vollendete Heine. Da schwieg Babinchen verzagt
und lauschte bebend auf den Lärm, der mehr und mehr die Waldstille
übertönte.

»Wir müssen hinüber,« überlegte Heine, »rasch hinüber, müssen die zu
Hause warnen!« Und er meinte, das einzige Hindernis sei Babinchens
weißes Kleid. Daß den Soldaten auch dunkle, über den Weg huschende
Gestalten verdächtig sein könnten, das überlegte er gar nicht.

Auf einmal aber kam ihm ein rettender Gedanke; ja, so mußte es gehen,
so. Hier ganz nahe war ein Moorloch. Sein Vater hatte ihn einmal
gewarnt, auf den dunklen Grund zu treten, er hatte ihm auch die
Stelle gezeigt, wo der feste Grund begann. In das Moor mußte Babinchen
ihr weißes Kleid tauchen, es darin dunkel färben, dann war die Sache
ungefährlich. Hastig teilte er seiner Gefährtin den Plan mit, und die
fand ihn über alle Maßen klug. »Ausziehen tu ich mich nicht erst, das
dauert zu lange, ich steig’ gleich so hinein,« sagte sie entschlossen.

Heine nickte. Ja, so war es gut; er wollte sie halten, damit sie nicht
im Moor versinken konnte, denn wirklich, das Umziehen hätte zu lange
gedauert. Babinchen war sonst ein rechtes Furchthäschen, aber in dieser
Stunde vergaß sie alle Angst. Sie war zu allem bereit, nur heim mußte
sie so rasch wie möglich, heim, alle warnen und bei der Mutter sein.
Wie sehr sie sich nach der Mutter sehnte! In wenigen Minuten waren die
Kinder am Moorbach angelangt; wie die Böcklein sprangen sie durch den
Wald und vergaßen in ihrem Eifer ganz, daß scharfe Augen sie jetzt gut
von der Straße aus hätten sehen können.

Doch dort zogen noch keine Soldaten, nur der Schall ihrer Schritte,
das Rasseln und Rollen ihrer schweren Wagen kam immer näher wie ein
aufziehendes Unwetter.

»Hier ist das Loch!« frohlockte Heine und führte seine kleine Freundin
ein Stück auf dem festen Boden entlang ins Moor hinein. Ein Busch
stand am Rand, an dem machte Heine halt und sagte: »Hier mußt du
hinein, ich halt’ dich fest. Hab’ keine Angst, du fällst nicht!«

Und Babinchen trat in ihrem weißen Kleidchen ganz still und ergeben auf
das Moor. Sie stand ein Weilchen drauf wie eine weiße, helle Blüte,
auf einmal aber begann sie zu sinken, nicht tief, nur etwa bis an die
Knie, da fühlte sie schon wieder festen Boden unter sich. »Es geht
nicht weiter!« klagte sie. Aber Heine, über den in dem Augenblick, da
Babinchen zu sinken begann, eine jähe Angst gekommen war, sagte ganz
beruhigt: »Das ist gut, dann legst du dich hin, dabei ist keine Gefahr.
Dreh’ dich ein bißchen im Moor herum, dann bist du dunkel genug.«

Babinchen befolgte auch diesen Rat des Freundes. Sie drehte sich
geschwind im Moor herum, kam mit dem Gesicht hinein, aber da riß Heine
sie schon wieder mit kühnem Griff empor und zog sie auf den Steg
zurück. Aus der weißen, feinen Lilie war nun auf einmal ein kleines,
grünbraunes Ungeheuer geworden. Ein dicklicher Brei rann an ihr
herunter, klebte im Gesicht, an den Händen und troff aus den dunklen
Locken.

»Himmel,« stammelte Heine, nun doch entsetzt von dem Anblick, »du
siehst ja gräßlich aus!« --«

»Fein is das!« rief hier Jackenknöpfle andächtig; ihm gefiel dies
Moorbad ungemein.

Die andern tuschelten: »Sei doch still, jetzt wollen sie doch
rüberlaufen!«

Frau Fries hielt einen Augenblick an, und dann fuhr sie fort, während
ihr Blick gut und froh über die Kinder ging: »Babinchen schluckte und
pustete, weil ihr der Schlamm in den Mund gekommen war; als sie endlich
Luft bekam, sagte sie tapfer: »Ach, was schadet das, komm nur schnell,
schnell heim!« -- »Wirst du laufen können?« fragte der Bube besorgt.
Die Kleine aber nickte nur, denn das Sprechen war beschwerlich: wenn
sie den Mund auftat, lief ihr Schlamm hinein. Heine sah die Freundin
stolz an, und er fand, weil diese so tapfer war, sein Plan sei doch
ausnehmend gescheit gewesen. »Komm!« sagte er rasch, faßte Babinchens
Hand, und beide eilten durch den Wald.

Nach einem Weilchen gebot der Bube: »Leg’ dich einmal auf die Erde, ich
klettere geschwind auf einen Baum und sehe, ob wir hier hinüberkommen.«
Und wieder gehorchte Babinchen wortlos; in ihrer großen, heißen Angst
hätte sie alles getan.

Heine kletterte unbekümmert um Hose und Jacke eine hochgewachsene Tanne
empor. Er riß sich die Hände blutig am rauhen Stamm, die schlanke
Tanne bog sich unter seiner Last, aber der Försterbube hatte noch
jeden Baum bezwungen, auf den er klettern wollte, er kam auch hier
hinauf. Nur einige Augenblicke spähten seine falkenscharfen Augen über
die Wipfel der niedrigen Bäume hinweg, dann sah er, was da heranzog:
eine ungeheure Staubwolke, in der blitzte und blinkte es, er sah Pferde
und Menschen: es war kein Zweifel mehr, die Feinde kamen. Aber noch
waren sie nicht ganz nahe, noch konnten es die Kinder wagen über die
Straße zu laufen. Heine sauste so blitzschnell den Stamm hinunter, daß
er unten das Gleichgewicht verlor, Babinchen mitriß und mit ihr etwas
unsanft auf dem Waldboden ankam.

Pah, ein paar Löcher, darum kümmerten sich Mädel und Bube in dieser
Stunde der Angst nicht, sie schnellten beide wie Gummibälle empor, und
fort ging es im Galopp. »Noch ein paar Schritte hinauf,« sagte Heine im
Laufen, »dann kommen wir hinüber.« Er hatte Babinchens Hand erfaßt und
zog die Freundin mit sich fort.

Nun standen sie am Graben, und es galt, die breite, sonnenbeschienene
Landstraße zu überschreiten.

Einige Augenblicke zögerten die Kinder. Ihre Herzen schlugen laut, ihre
Knie zitterten, und mit bangen Augen sahen sie auf den sonnigen Weg
hinaus. Sie hatten beide in ihrem jungen Leben schon zuviel von der
Not und dem Jammer des Krieges gehört, um nicht zu wissen, wie groß
die Gefahr war, in der sie sich befanden. Heine legte schützend seinen
Arm um Babinchen, er fühlte sich verantwortlich für die Freundin. Aber
die sonst so zaghafte Kleine war in dieser Stunde wirklich eine rechte
Heldin. Sie dachte nur immer an die Lieben daheim, und sie meinte
wieder durch das Guckerchen zu sehen, wie der Bruder zu des kranken
Großvaters Füßen saß. Ach, sie wußte, wie viele, viele Tränen die
Mutter um den fernen Bruder geweint hatte! Sie erinnerte sich noch,
wie einst die Mutter sie in die Arme genommen und mit tränenerstickter
Stimme gesagt hatte: »Laß uns beten, mein Mariellchen, und dem lieben
Gott danken, dein Bruder ist gerettet!«

Babinchen umfaßte fest des Freundes Hand, und aus ihrem braunen
Schlammgesicht schauten ihn die Augen zuversichtlich an. Heine nickte:
»Komm, wir müssen hinüber. Bücke dich etwas und renne, so schnell du
kannst, ich will zuerst hinaus!«

Nun waren sie in dem Graben, den sie kaum eine Stunde vorher lachend
übersprungen hatten. Diesmal sprangen sie nicht, sie kletterten
hindurch, holten noch einmal tief Atem, und los ging es.

War die Straße hell, war die Straße breit!

Die Kinder rasten mit vorgebeugtem Oberkörper hinüber, ihre Füße
flogen, aber wie weit schien doch der jenseitige Wald entfernt zu sein!

Heine wagte einen einzigen scheuen Blick zur Seite. Dort in der Ferne
blitzte es, dort kam etwas schnell heran. Wie ein Ruf klang es, nun
fiel ein Schuß.

Aber da war schon der Graben. Heine sprang hinüber, Babinchen kollerte
und fiel, der Bube riß sie empor. Nur hinein in den Wald, hinein in das
schützende Dunkel!

Keuchend rasten sie vorwärts, sprangen über Baumwurzeln, zwängten sich
durch dichtes Gebüsch, unbekümmert darum, daß Dornen ihre Kleider
zerrissen. Feucht und schwer schlug Babinchen das Kleid um den Körper,
aber die Kleine hielt doch neben dem Freunde aus.

Klangen dort nicht Stimmen? Hörte man nicht Pferdegetrappel? Kam nicht
der Lärm näher und näher?

»Sie haben uns gesehen,« dachte Heine Strohmann angstvoll und griff
nach Babinchens Hand. »Komm, komm, hier müssen wir durch!« Sie krochen
durch dichtes Buschwerk, dahinter war ein kleiner Kiefernwald, in dem
sie leichter vorwärtskamen, und endlich erreichten sie einen schmalen
Fußweg. Hier blieben sie aufatmend stehen und lauschten in den Wald
hinein. Ferner klang schon das Rollen und Stampfen, es wurde mehr und
mehr übertönt von dem Jubilieren und Zwitschern der Vögel.

Aber die Kinder hörten weder auf den Gesang der Vögel, noch achteten
sie auf die Blumen, die dort, wo die Sonne in den Wald hineinscheinen
konnte, ihre zarten, bunten Kelche geöffnet hatten.

»Wir müssen weiter,« sagte Heine rasch, er hatte nur Angst um seine
Freundin.

Babinchen nickte stumm. Sie fühlte jetzt auf einmal, wie schwer ihr
moorgetränktes Kleid war, und der angetrocknete Schlamm brannte auf
ihrem Gesicht. Dennoch folgte sie mutig dem Freund und rannte hinter
ihm drein mit flinken Füßen auf dem schmalen Weg. Sie sprachen beide
nicht viel zusammen, nur einmal sagte Heine: »Jetzt links!« dann nach
einer Weile: »Wir kommen noch zur rechten Zeit!«

Es war still geworden, nur ein ganz fernes, leises Grollen hörte man
noch. Aber die Kinder rannten in gleicher Hast weiter, bis auf einmal
die Stille wieder gestört wurde und Laute ertönten. Wie aus einem Munde
jauchzten sie beide: »Wir sind da!«

Wirklich, nach wenigen Minuten standen sie vor dem Schloß Moorheide,
in das Babinchen wie ein richtiges Moorfräulein zurückkehrte. Die
alte Marinka sah die Kinder zuerst, sie schlug die Hände über dem
Kopf zusammen und wollte eine lange Strafrede beginnen, aber zu ihrer
grenzenlosen Verwunderung rasten die Kinder einfach in das Haus hinein.
Sie liefen die Treppe hinauf, über die Gänge, den gleichen Weg, den sie
vor wenigen Stunden heimlich und leise geschlichen waren. In das Zimmer
des Großvaters rannten sie, und dort rief Heine Strohmann mit seiner
klingenden, hellen Knabenstimme: »Die Franzosen kommen!«

Der alte Herr von Hartenstein richtete sich jäh in seinem Stuhl auf
und sah die Kinder an, sein Enkeltöchterchen und den Buben, der vor
Aufregung bebte. »Erzähl’! Wo?« fragte er kurz.

Und Heine Strohmann erzählte alles ganz kurz und eilig, Babinchen gab
atemlos ein paar Wörtlein dazu, und nach wenigen Augenblicken wußten
die Erwachsenen alles.

»Ferdinand,« stammelte Frau von Hartenstein totenbleich, und der, denn
er war wirklich der flüchtige Sohn des Hauses, nahm sein kleines,
schmutziges Schwesterlein in den Arm und sagte bewegt: »O ihr Kinder,
ihr tapfern Kinder, du liebes, braves Schwesterherz du!«

Die Mutter schlang die Hände fest ineinander, bezwang die Tränen und
fragte zitternd: »Was tun wir?«

»Förster Strohmann muß kommen,« gebot der Großvater. »Geh, Heine, wenn
du noch laufen kannst, und hol’ deinen Vater her, und deine Mutter soll
sich geschwind rüsten und mit den andern Kindern zu uns kommen.«

Heine lief schon, da hörte er noch nachklingend das Wort: »Ein
Prachtbengel!« Hei, das fuhr ihm ordentlich in die Beine, er merkte
nichts mehr von Müdigkeit, sondern raste den kurzen Weg bis zum
Forsthaus hin wie ein Windhund.

Der alte Gutsherr gab inzwischen kurz und bündig seine Befehle, kein
Wort zuviel, keins zuwenig. Es war, als sei auf einmal alle Schwäche
und Krankheit von ihm gewichen, und seine Gelassenheit beruhigte alle
Hausgenossen.

Dann kam Förster Strohmann und sprach mit seinem Herrn, und wenige
Minuten später zog er mit den beiden Gästen davon. Vorher aber
umarmte der Bruder seine tapfere kleine Schwester noch einmal. »Auf
Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen!« wiederholte Babinchen, die alle Scheu vor dem
großen, ihr eigentlich so fremden Bruder verloren hatte. »Verstecke
dich, verstecke dich!« bat sie flehend.

Ferdinand von Hartenstein nickte schwermütig. Wirklich, er mußte sich
in seiner eigenen Heimat wie ein Verbrecher verbergen, nur weil er sein
Vaterland so heiß und treu liebte.

Als er ging, sahen Heine und Babinchen ihm nach. Mit Förster Strohmann
schritt er in den Wald hinein, und Heines Augen blitzten. »In Vaters
Schutz sind sie sicher,« sagte er, und gar zu gern wäre er mitgelaufen.
Aber da kam seine Mutter mit den drei kleinen Geschwistern, die alle
drei geradeso flachsblond und stupsnasig waren wie er selbst. Nun
fühlte er sich wieder als Beschützer, und auch Babinchen, die sich
gewaschen hatte und wieder fein und sauber aussah, kam sich den
heulenden Försterkindern gegenüber sehr verständig vor. Sie nahm
sie mit in die Wohnstube, dort sollten die Kinder bleiben, und dort
beschrieben sie und Heine ihren Gang zu den Füchslein so spannend, daß
die Kleinen das heulen darüber vergaßen.

»Ich denk’ immer, die Franzosen kommen gar nicht,« prophezeite
Lisabetha, »hierher finden die nicht!«

Aber sie fanden doch den Weg in diese friedliche Waldeinsamkeit. Etwa
dreißig Mann, geführt von zwei Offizieren, rückten gegen Abend im
Schlosse ein. Sie verlangten in ziemlich barschem Ton den Hausherrn zu
sprechen, verlangten von diesem Pferde, Schlachtvieh und Lebensmittel
aller Art. Herr von Hartenstein erfüllte schweigend die Wünsche, er
wußte, ein Widerstand würde doch nichts nützen. Wohl betonten die
Offiziere, daß sie Freunde wären, aber dabei sahen sie so drohend aus,
daß die alte Marinka sagte: »Der liebe Gott schütze uns vor so ’ner
Freundschaft, davon halte ich nichts, rein gar nichts!«

Drei Wagen waren beladen, Pferde und Rinder standen zum Fortzug bereit,
denn die ungebetenen Gäste wollten noch am Abend weiterziehen, als
plötzlich ein neuer Trupp Soldaten ankam. Der Offizier, der sie führte,
war ein hochgewachsener, stattlicher Mann, der den alten Gutsherrn
deutsch anredete. Es war einer der vielen Deutschen, die unter des
französischen Kaisers Fahnen fechten mußten. Höflich, aber streng
erklärte er, er hätte Befehl, das Haus zu durchsuchen.

»Nach was?« fragte der Gutsherr gelassen.

»Nach Ihrem Enkelsohn,« erklärte der Offizier, »man hat Verdacht, daß
er sich hier aufhält.«

»Bitte, suchen Sie,« sagte Herr von Hartenstein ruhig.

Diese Ruhe verwirrte den Offizier. Forschend sah er die Hausfrau an,
aber auch sie, obgleich ihr Herz in heißer Angst um den Sohn schlug,
sagte gelassen: »Bitte, suchen Sie!«

»Er ist nicht hier,« dachte der Offizier und frohlockte innerlich, denn
die Erfüllung dieses Auftrages war ihm schwer genug geworden. Einen
Mann suchen und verhaften müssen, der sein Vaterland so treu liebte,
wie dieser Ferdinand von Hartenstein es tat, das schien ihm eine harte
Aufgabe zu sein. Er mußte aber seine Pflicht erfüllen, und so ließ er
denn auch das Haus von oben bis unten durchsuchen. Kein Winkel blieb
unbeachtet, kein Kleiderschrank, keine Truhe, kein Bett undurchwühlt,
sogar in die Mehlkiste schauten ein paar Soldaten zu Lisabethas
Empörung hinein. Aus der Räucherkammer nahmen sie dabei gleich noch
die letzten Würste und Speckseiten mit. Gut war es nur, daß sie der
Wohnstube bloß einen kurzen Besuch abstatteten; darin gab es keine
großen Kisten und Wandschränke, in die hineinzusehen sich lohnte. In
die blitzenden, triumphierenden Augen Heines und Babinchens schauten
sie glücklicherweise nicht.

Im Haus fand sich keine Spur des Gesuchten, und von den Dienstboten
verriet niemand ein Wort von den geheimnisvollen Gästen, die so
plötzlich verschwunden waren. Auch das Forsthaus wurde durchsucht,
der Wald durchstreift, nirgends wurde eine Spur gefunden. Babinchen
zitterte und zagte, denn sie sah auch in der Mutter Augen Angst
und Sorge stehen. Doch Heine Strohmann tröstete: »Die werden nicht
gefunden, mein Vater hat sie geführt, da sind sie sicher!«

Des Buben felsenfestes Vertrauen auf seines Vaters Klugheit und Treue
gab Babinchen den Mut zurück. Als einer der französischen Offiziere
sie ansprach, da flüchtete sie nicht schreiend wie die kleinen
Förstermädel, sondern schaute zu dem Fremden so furchtlos auf und
antwortete so ruhig, daß Heine mal wieder sehr stolz auf seine kleine
Freundin war.

Am nächsten Morgen kam Förster Strohmann wieder. Er hatte allerlei
Raubtiere geschossen, einen Marder, ein paar Habichte und sogar einen
Fuchs. Den französischen Offizieren war das Verschwinden des Försters
aufgefallen. Wo war er? Warum weilte seine Familie im Herrenhaus?
Als nun aber der Mann so schwerbeladen und jagdmüde heimkam und die
unwillkommenen Gäste recht erstaunt und unwillig zu betrachten schien,
schwand ihr Mißtrauen, und sie gaben das Suchen nach dem Flüchtling
auf.

Am Nachmittag zogen die Soldaten ab. In den Ställen fehlten Pferde und
Rinder, die Vorratskammern waren leer geworden, und mancher Bauer im
Dorf dachte sorgenvoll an kommende Zeiten. Hunger und Not würden nun
wieder ihren Einzug halten. Mit derlei Sorgen plagten sich Babinchen
und Heine nicht, sie dachten nur an Ferdinand und seinen Freund. Waren
sie noch in der Nähe, im Wald verborgen, wie Heine meinte, oder waren
sie schon wieder in ein fremdes Land geflüchtet?

Einmal fragte Babinchen die Mutter; da strich ihr diese lind über die
Locken und sagte seufzend: »Wir wollen hoffen, mein Kind, daß alles gut
wird. Noch ist dein Bruder nicht in Sicherheit.«

Es vergingen einige Tage. In der Umgegend war es wieder ruhig geworden.
An einem schönen Sommermorgen weckte Frau von Hartenstein Babinchen mit
der Frage: »Wollen wir heute zusammen eine weite, weite Waldwanderung
unternehmen?«

Das Mädchen sprang geschwind mit beiden Beinen zum Bett heraus. »Zu
Ferdinand?« fragte es ahnungsvoll, hoffnungsfroh.

Die Mutter nickte, sie gebot aber Stillesein, denn nur der Großvater
und Marinka wußten etwas, und ermahnte ihr Mädel zur Eile. Eine Weile
später stand dann Babinchen heiß und aufgeregt vor dem Großvater, der
sagte herzlich: »Grüße deinen Bruder, Kind, bringe ihm meinen Segen.«
Und leiser, halb zu sich selbst sprechend, fügte der alte Mann hinzu:
»Ich wollte, es dächten viele so und liebten ihr Vaterland so wie er,
wären so treu in den Tagen der Not!« Dem Babinchen fiel das Wort des
Großvaters in ihr Herzlein wie ein köstlicher Edelstein.

Frau von Hartenstein trug einen Korb mit Eßwaren gefüllt, auch
Babinchen hatte einen zu tragen bekommen. Still bogen Mutter und
Tochter gleich dicht am Haus in einen schmalen Waldweg ein, nicht
jenen, den die Kinder vor wenigen Tagen gelaufen waren. Kaum waren die
beiden ein Stück Wegs gegangen, als ein lautes Hallo sie grüßte. Da
stand Förster Strohmann mit Heine, und der Bube schrie seiner kleinen
Freundin entgegen: »Wir gehen mit!«

Babinchen hätte sich nicht gefürchtet, mit der Mutter allein zu gehen,
sie fand es aber doch behaglicher, unter Förster Strohmanns Schutz zu
sein. Bald bogen die vier Wanderer von dem breiten Wege ab, und es
ging pfadlos quer durch den Wald, und nur jemand, der so gut im Wald
Bescheid wußte, konnte so unverzagt, ohne einmal zu irren, mitten
hindurchgehen.

Die vier Wanderer schritten kräftig aus. Nach zwei Stunden etwa hörte
der Hochwald auf, nur niedriges Gebüsch und Gestrüpp kam, der Bruch,
das Sumpfland; über dem stand hell und golden die Sonne. Hier hieß es
vorsichtig gehen, denn es gab tiefe Moorlöcher, in die ein Unkundiger
leicht versinken konnte, da man sie unter der schimmernden grünen
Pflanzendecke nicht bemerkte. Förster Strohmann führte die kleine
Gesellschaft am Rande entlang, und als Heine, seiner Ortskenntnis froh,
sagte: »Hier geht es nach dem Torfstich,« nickte der Vater und wies
nach einer Stelle. Dort arbeiteten zwei Männer. Sie stachen aus dem
schwarzen Boden etwa ziegelsteingroße Stücke aus und schichteten sie
zum Trocknen übereinander. Mit diesem trockenen Torf wurden nachher
im Winter die Öfen geheizt. An der Arbeitsstelle war eine kleine
Holzhütte, und daneben schwelte ein Feuerchen. Babinchen wunderte sich,
daß die Mutter auf einmal so eilig lief, und plötzlich begann sie gar
zu winken; der eine der Männer ließ seine Schaufel sinken und kam in
schnellen Schritten dahergesprungen -- es war Ferdinand.

Heine und Babinchen hatten gemeint, sie würden die Flüchtlinge tief im
Wald geheimnisvoll verborgen finden, nun standen beide da im hellen
Sonnenlicht; ach -- und wie sahen sie aus! Mit Moor beschmiert von
oben bis unten. Selbst die Mutter schaute den Sohn erstaunt an. Der
war wirklich von einem echten Torfstecher nicht zu unterscheiden, auch
der Freund nicht, der nun gleichfalls herankam. Die beiden Männer
lachten fröhlich, und Ferdinand nahm Babinchens beide Hände und sagte
schelmisch: »Weißt du auch, kleine Schwester, daß dein Moorkleid
neulich unsern guten Strohmann auf den Gedanken gebracht hat, uns hier
einfach als Torfarbeiter herzustellen, weil wir da am sichersten wären?
Unter dieser Verkleidung sucht uns niemand.«

»Und geschafft haben die Herren, alle Achtung!« rief Förster Strohmann
und schaute behaglich auf die großen Haufen aufgeschichteter
Torfstücke. »Das nenne ich arbeiten!«

»Will’s meinen,« sagte Ferdinands Freund stolz. Er erzählte noch, daß
ein paar französische Soldaten auch am Torfstich vorbeigekommen wären
und nach dem nächsten Weg zur Landstraße gefragt hätten, sie hätten
aber weder ihn noch den Freund recht genau oder forschend angeschaut.

Ein paar Stunden blieb Frau von Hartenstein mit den Kindern, dann
mußten sie Abschied nehmen.

»Und du?« fragte sie den Sohn traurig.

»Wir bleiben hier.« Der nickte seinem Freunde zu. »Ein paar Wochen
wollen wir noch Torfarbeiter sein, nachher finden wir wohl einen Weg
zur Flucht.«

»Komm doch mit,« flehte Babinchen, »es sind doch keine Feinde mehr da!«

Aber der Bruder schüttelte den Kopf. »Sie haben Späher ringsum, noch
kann ich’s nicht wagen.«

Der Abschied wurde allen schwer; die Kinder versprachen eifrig, sie
würden bald wiederkommen, und nahmen sich dies auch fest vor. Doch Tag
um Tag verging, die Tage wandelten sich zu Wochen, Förster Strohmann
führte die Kinder nicht mehr ins Moor hinaus. Aber manchmal in der
Nacht hörte Babinchen sprechen in des Großvaters Zimmer. Einmal kam
auch Ferdinand an ihr Bett und küßte die kleine Schwester; da wußte
sie, er kam zu nächtlichen Besuchen. Am Tag konnte er nicht kommen,
denn immerfort zogen Truppen die Landstraße daher, immer wieder suchten
Franzosen das einsame Schloß heim.

Der Sommer verging, der Herbst kam an. Der brachte klare, helle Tage,
aber auch frühe Kälte. Die Wetterkundigen sagten einen harten Winter
voraus, und oft sah Babinchen in diesen ersten kalten Tagen die Mutter
traurig hinausschauen. Weilt der Bruder noch in der kleinen Hütte
im Moor? Sie wagte es endlich, die Mutter zu fragen. Die sah sie
tieftraurig an. »Der Großvater ist sehr krank, darum will dein Bruder
nicht das Land verlassen. Er ist noch im Moor, und sein Freund hält bei
ihm aus.«

Babinchen und Heine redeten oft von den beiden Freunden im Moor. Sie
konnten es gar nicht begreifen, warum die nicht doch irgendwo versteckt
im Hause wohnten. Aber da kamen wieder unerwartet von der nahen Festung
ein paar Offiziere, und die Kinder merkten nun doch, der Bruder tat
wohl gut, sich verborgen zu halten.

Weihnachten rückte näher, aber Weihnachtsjubel, Weihnachtsfreude gab es
nicht. Es gab viel Armut und Not im Land, und immer heißer brannte die
Sehnsucht, das Joch der Fremdherrschaft abzuschütteln, in den deutschen
Herzen. Zur Sorge der Zeit kam für Frau von Hartenstein noch die Sorge
um den Vater. Seine Krankheit hatte sich verschlimmert, und wer das
bleiche, abgezehrte Gesicht sah, ahnte wohl, der Tod würde bald im
Schloß Moorheide einziehen.

Es war am letzten Adventssonntag. Nicht wie sonst brannten vier
Adventslichter, und nicht wie sonst erzählte die Mutter Babinchen
freundliche, liebe Weihnachtsgeschichten. Sie saßen alle beieinander
im Krankenzimmer, lauschten auf des Großvaters matte Atemzüge, und
Heine saß dabei, als müßte es so sein. Und eigentlich hätte er zu Hause
Mutter und Geschwister beschützen sollen, denn seit mehreren Tagen war
sein Vater fort. Niemand ahnte, wohin, selbst Frau von Hartenstein
schien es diesmal nicht zu wissen, sie hatte schon etliche Male
gefragt: »Wo mag nur der Förster sein?«

Die alte Kastenuhr an der Wand tickte laut und schwer, kein Laut
unterbrach sonst die Stille.

Doch plötzlich schlugen auf dem Hofe die Hunde an, kurz und scharf; sie
schwiegen gleich wieder, sie mußten den kennen, der kam. »Ferdinand!«
Der Kranke richtete sich plötzlich im Bett auf, laut und froh klang
seine Stimme.

»Ferdinand ist nicht hier,« sagte Frau von Hartenstein. Doch noch hatte
sie nicht recht ausgesprochen, da erklangen draußen Schritte, und über
die Schwelle traten wirklich die beiden Freunde und Förster Strohmann.

»Ferdinand, was bringst du?« Der Großvater sah dem Enkel entgegen, und
der sank mit einem Jubelruf an dem Bett nieder. »Großvater,« stammelte
er, »das französische Heer ist in Rußland vernichtet, der Kaiser nach
Frankreich entflohen.«

»Das ist Freiheit für uns!« Der alte Mann sagte es laut und feierlich.
Er legte die Hand auf des Enkels Scheitel. »Gott segne dich für diese
Botschaft! -- Nun erzähle!«

Und Ferdinand berichtete. Mit seinem Freund und dem Förster waren sie
in Rußland gewesen, dort hatten sie Kunde erhalten von dem Untergang
des Heeres an der Beresina. Mit ihren eigenen Augen hatten sie
schon die Jammergestalten der Heimkehrenden gesehen. Napoleons Heer
vernichtet! Vielleicht schlug nun für Preußen die Stunde der Befreiung!

Der Großvater lag still mit gefalteten Händen da, und die Mutter
flüsterte: »Er stirbt!« Aber wunderbar, von jener Stunde an wurde es
besser mit ihm. »Mein Gott läßt mich noch leben, bis das Vaterland frei
ist,« sagte er freudig.

So wurde es auch. Das neue Jahr brachte die Freiheit. Bei Leipzig
kämpfte Ferdinand von Hartenstein als ein Held wie Tausende und
Tausende mit ihm.

Er wurde verwundet und lag lange schwer darnieder; aber als wieder die
Adventsglocken tönten und zum vierten Mal mahnten, an das hohe Fest
der Liebe zu denken, kehrte Ferdinand heim. Der Großvater lebte nur
noch wenige Tage. Er schlief friedlich ein mit dem Bewußtsein, daß sein
geliebtes Vaterland frei wurde von fremder Herrschaft.«

Frau Fries schwieg, und ein Weilchen war alles ganz still im Zimmer.
Endlich tat Frau Besenmüller einen tiefen Atemzug und sagte feierlich:
»Gott behüte uns vor solchen Zeiten!«

»Sie sind uns vielleicht näher, als wir ahnen,« sagte der junge Lehrer
schwer. Aber das hörte nur seine Mutter und Besenmüller. Fräulein
Regine hatte einen kleinen Stab geschwungen, und jauchzend tönte es
durch das Schulzimmer:

    »Es gibt nichts Schönres auf der Welt,
    Als wenn das Christkind Einzug hält
    Ins Haus, ins liebe Vaterhaus,
    Trotz Sturmgetön und Wetterbraus.
    Es kommt so still in heil’ger Nacht
    Durch Schneegeflock und Eises Pracht.
    Begleiter ist der Weihnachtsmann,
    Der trägt, was er nur tragen kann.
    Wenn’s Kindlein noch so arm und klein,
    Das Christkindlein gedenket sein:
    Im Hüttlein schlecht, im reichen Haus
    Teilt es die Liebesgaben aus.
    Drum gibt’s nichts Schönres auf der Welt,
    Als wenn das Christkind Einzug hält.«

»Und nun geht’s heim!« Frau Fries sagte es, als das Lied verklungen
war. Ein paar Minuten später liefen die Kinder jauchzend die Dorfstraße
entlang, und Frau Besenmüller räumte auf. Sie brummte dabei nicht wie
sonst, sondern sagte vergnügt: »Scheene war’s, sehr scheene!«



[Illustration]



Achtes Kapitel

Geburtstagsveilchen

    Warum die Schulglocke einer entthronten Königin gleicht und
    Frau Besenmüller nicht mehr Reisig zu holen braucht -- Die Zeit
    läuft, auf dem Schafskopf blühen die Veilchen, und Besenmüller,
    der kein Gespenst ist, erzählt eine Geschichte, die erst im
    nächsten Kapitel steht


Über der Adventsfeier hatten die Kinder alle miteinander die
Schulklingel im Holzstall vergessen. Nur Schwetzers Fritze dachte
daran. Wenn nun Frau Besenmüller die Klingel nicht fand! Dann würde sie
schelten und schreien, und der Herr Lehrer würde es hören und die alte
Frau Lehrerin, und sie würden böse werden. Nein, das durfte nicht sein.
Zwischen Abendessen und Zubettgehen schlich sich Fritze noch einmal zum
Schulhaus hin. Vielleicht fand er einen Kameraden, der ihm half. Aber
es war kein Bube weit und breit zu sehen, dafür kam jemand anders, als
Fritze gerade am Holzstall anlangte: der Herr Lehrer selbst. Fritze
erschrak heftig und blieb wie erstarrt stehen.

»Na du, was tust du denn hier?« Heinrich Fries sah erstaunt drein.
»Warum bist du denn noch nicht daheim?«

Fritze hätte nun gern die Wahrheit gesagt, aber vor Schreck war ihm
der Mund noch fester verklebt als sonst, und in seiner Verlegenheit
drehte er sich um und rannte, ohne Antwort zu geben, davon. Der junge
Lehrer sah ihm ärgerlich nach. »Der ist verstockt!« dachte er, und oben
erzählte er dann seiner Mutter, Schwetzers Fritze sei ein Heimlicher,
von ihm wüßte er nie recht, was er im Sinne habe. Fritze lief
heimwärts, sehr bedrückt, aber dicht am Haus traf er Arne. Sie waren
Nachbarn und hielten auch gute Nachbarschaft. Dem Freund gegenüber tat
sich sein Mund auf, und er sprach von seiner Sorge.

Arne lachte ihn aus. »Besenmüllern muß doch früh Holz holen, da sieht
sie ja die Bimmel!«

Freilich, das stimmte. Fritze atmete auf und vergaß nun ebenfalls
die Klingel. Er träumte auch in dieser Nacht nicht von der großen,
strengen Ruferin zur Schule, von dem Kaiser Napoleon selbst träumte
er. Der verlangte von ihm, er solle geschwind nach Rußland laufen.
Fritze ängstigte sich sehr und sträubte sich, da wurde Napoleon
fuchsteufelswild, und wer weiß, was geschehen wäre, wenn nicht gerade
die Mutter gerufen hätte: »Aufstehen, ’s is balde Schulzeit!«

Es gab an diesem Morgen noch viel zu reden von gestern. Mädel und Buben
standen auf dem Dorfplatze zusammen und schwätzten und freuten sich,
daß sie alle so früh gekommen waren. Frau Besenmüller klingelte immer
dreimal, das erste Mal hieß: »Nun rüstet euch, es ist Zeit!« Das zweite
Mal wollte sagen: »Geschwind, geschwind ins Haus hinein!« und das
dritte Mal verkündigte: »Aufgepaßt, der Herr Lehrer kommt!«

Noch hatte die Klingel nicht einmal getönt, und die Kinder schwätzten
und vergaßen es, sich zu wundern, wie lange es heute währte, ehe es
bimmelte.

Frau Besenmüller aber rannte inzwischen im Haus aufgeregt treppauf,
treppab, -- wo war nur die Klingel? Gestern noch hatte sie unten im
Türwinkel gestanden, nun fehlte sie. »Wie närrsch bin ich,« brummelte
die Frau, »so ’ne Klingel is doch niche wie ’ne Stecknadel, die in ’ne
Ritze fällt. Nä, so was!«

Ihr Mann kam heim, der war schon beim Ortsvorsteher gewesen, er fragte
verwundert: »Du klingelst ja niche!«

»Die Bimmel fehlt.«

»I nä!«

»Frau Besenmüller, warum klingeln Sie nicht?« ertönte da die Stimme des
jungen Lehrers.

»Die Bimmel fehlt,« jammerte Frau Besenmüller. Und klagend beschrieb
sie, wo die Klingel gestanden habe, und auf einmal sei sie verschwunden.

»Die haben se versteckt,« knurrte der Mann. »Ich hol’ se alle rein.«

Heinrich Fries kam plötzlich die Begegnung mit Schwetzers Fritze
gestern am Holzstall in Erinnerung, und er sagte rasch: »Sehen Sie mal
im Holzstall nach.«

Und richtig, da war sie. Wie eine entthronte Fürstin saß die dicke
Klingel auf dem Holzstoß, und Frau Besenmüller nahm sie und schwang
sie, da gellte ihre Stimme in die Weite.

»Es bimmelt!« In all die Buben- und Mädelbeine auf der Dorfstraße fuhr
der Ton. »Bimbimbimbim!« Das schrie und schalt, so laut, so böse hatte
die Schulglocke noch nie getönt. »Bimbimbimbim!« Das hörte gar nicht
auf, und die Kinder rannten alle in der größten Eile ins Schulhaus.

Dort fanden sie zu ihrer Überraschung ihren Lehrer schon im
Schulzimmer. Der hielt seine Uhr in der Hand, zeigte darauf und sagte
streng: »Ihr kommt alle zu spät.«

»Es hat doch erst gebimmelt!« verteidigten sich etliche.

»Ja freilich, die Klingel war versteckt. Fritz Schwetzer, hast du die
Klingel versteckt?« Fritze sank fast zu Boden vor Schreck, als ihn der
Herr Lehrer so drohend ansah. Er klappte den Mund auf und zu, aber er
brachte kein Wort heraus.

»Dir steht das schlechte Gewissen an der Stirn geschrieben, und da
du mir keine Antwort gibst, bist du es jedenfalls gewesen. Du warst
gestern noch spät an Besenmüllers Holzstall. Du wirst jeden Tag in
dieser Woche eine halbe Stunde nachsitzen.«

Wieder klappte Fritze den Mund auf und zu, und wieder brachte er kein
Wort heraus. Dafür aber trat Arne vor, und Jackenknöpfle, Zimplichs Max
und ein paar andere folgten. »Ich war’s, Herr Lehrer,« rief Arne mit
heller Stimme.

»Ich auch.« -- »Ich auch.« -- »Ich auch,« klang es nach, und nun
endlich fand Fritze seine Sprache wieder, und im Baß brummte er nach:
»Ich auch.«

»Also ihr waret es alle!« Prüfend überschaute der Lehrer die Buben,
er schaute schon viel milder drein. »Wie war denn das? Arnulf Weber,
erzähle du einmal!«

Und Arne erzählte frank und freimütig, auch von Fritzens abendlichem
Gang nach dem Holzstall.

»So äne ausgesuchte Bosheit!« schrie Frau Besenmüller. Die hatte ganz
leise die Türe ein Ritzchen aufgemacht und hatte draußen gehorcht.
»Wartet ihr nur, ihr Rasselbande!« Sie streckte den Kopf zur Türe
hinein, drohte mit der Hand und fuhr blitzschnell wieder zurück. Von
der Treppe her sagte ihr Mann vorwurfsvoll: »Na, wenn nu das de Kinner
täten, Lydia!«

Tief beschämt zog Frau Besenmüller ab, und innen sagte der junge
Lehrer: »Für diesmal sei euch die Strafe geschenkt, weil ihr es
eingestanden habt. Aber wem es recht leid tut, der sammelt heute
nachmittag für Frau Besenmüller ein Bund Reisig im Walde; ihr selbst
wird das Bücken schwer.«

Danach begann der Unterricht. Die Kinder waren alle mäuschenstill und
sehr eifrig. In der letzten halben Stunde erzählte ihnen Heinrich Fries
noch etwas von der Zeit vor hundert Jahren. Das tat er jetzt oft, und
die Kinder meinten, zwischen 1913 und 1813 sei die Zeit gar nicht lang,
sie lauschten, als wären es Taten von heute. Darüber verrann ihnen
allen die Zeit gar geschwind. Auf einmal ertönte draußen die Klingel,
als wäre sie noch immer böse, so laut gellte ihre Stimme, und Fritze
Schwetzer dachte seufzend: »Wenn sie doch noch im Holzstall säße!«

Sie hatten alle gedacht, Frau Besenmüller würde noch schelten, aber
die ließ sich gar nicht sehen, sie saß in ihrer Küche und schämte
sich ihrer Horcherei. Der Nachmittag brachte ihr noch eine große
Überraschung. Der kurze Wintertag verdämmerte just zum Abend, als in
langem Zug Buben und Mädel daherkamen. Jedes trug ein Reisigbündel, und
diese vielen Bündel schichteten sie alle vor Besenmüllers Holzstall auf.

Die Frau lief hinaus, und ihr Mann vergaß für einige Minuten sogar
Strickstrumpf und Pfeife, er rannte ihr nach. Draußen stand Heinrich
Fries, der lachte über das ganze Gesicht und erklärte die Sache.

»Nä, so was, so was!« Frau Besenmüller führte die Schürze an die Augen,
sie war tief gerührt, ganz stumm blieb sie vor lauter Rührung. Erst
oben bei sich fand sie die Worte wieder, und sie sagte zu ihrem Mann:
»Paß auf, mit dem neuen Herrn Lehrer wird’s gut.« --

Daß es schon gut geworden sei, meinten viele Leute im Dorf. Die Mädel
und Buben sagten nichts dazu, wenn sie aber ihren Lehrer die Straße
daherkommen sahen, dann rannten sie nicht mehr weg, sondern liefen ihm
entgegen und grüßten ihn mit frohem Lachen. »So muß es sein,« dachte
die alte Frau Fries, und sie seufzte doch leise dazu. Ihr Sohn freute
sich wohl über das wachsende Zutrauen der Steinacher, aber an ihm
zehrte doch die Sehnsucht nach der großen Stadt. Er zeigte es nicht,
aber die Mutter spürte es, und das Herz tat ihr darum weh. --

Auch in der Stille von Steinach hatte jeder Tag nur vierundzwanzig
Stunden, und Tag reihte sich an Tag. Eine Woche vorbei, Weihnachten
da, Weihnachten vorüber. Das neue Jahr stand vor der Tür, das alte
Jahr nickte noch einmal in alle Häuser hinein; es sah, wie in Steinach
die Christbäume brannten, wie Blei gegossen wurde und die Kinder auf
Waschschüsseln Lebensschifflein schwimmen ließen, -- vorbei, vorbei!

Das neue Jahr rief die Kinder wieder in die Schule, und Frau
Besenmüller seufzte: »Nu geht das Geschrei wieder los.« Aber das
neue Jahr, das sich stolz 1914 nannte, hatte ein strenges Gesicht
aufgesetzt, es dachte »nicht verwöhnen«, und Meister Januar kam mit
viel Schnee und Eis einher. Er blieb, solange er durfte, er zwackte
seinem Bruder Februar noch einen Tag ab, dann erst ließ er ihn herein.
Der nun liebäugelte schon ein wenig mit dem Frühling; warme, sonnige
Tage kamen, ein milder Wind wehte, bis es dem Februar wieder einfiel,
daß er eigentlich ein Wintermonat sei. Und schwuppdirwupp schüttelte er
ein paar Schneesäcke aus, überzog die Wässer mit Eis und schnob die
Menschen an: »Geschwind hinter eure Kachelöfen, da gehört ihr hin!«

Doch vorbei, vorbei! Der März löste den Februar ab, und je länger er
auf der Erde war, desto milder wurde sein Lächeln. Und dies milde,
sonnige Lächeln lernte der April von ihm, der sonst ein rechter Bube in
der Zeit der Flegeljahre ist. Den Schnee trank die Sonne auf, das Eis
zerfloß, und unversehens blühten in Steinach die Veilchen. Und nirgends
blühten sie reicher als auf dem Schafskopf.

Eines Tages wanderte Heinrich Fries mit seiner Mutter zur Schelmenburg
empor, und dort sahen sie beide das holde Frühlingswunder: Heckenrosen
im Sommer, Veilchen im Lenz, das waren die Blumen des Schafskopfes.

Es war ein sonnenheller Frühlingstag, und der junge Lehrer sagte droben
am Ziel laut das kleine Lied:

    »Saatengrün, Veilchenduft,
    Lerchenwirbel, Amselschlag,
    Sonnenregen, linde Luft!
    Wenn ich solche Worte singe,
    Braucht es dann noch großer Dinge,
    Dich zu preisen, Frühlingstag?«

Ganz still schauten Mutter und Sohn von der Höhe nieder in die
liebliche Landschaft. Da wurde plötzlich die Stille durch hellen
Singsang unterbrochen, aber Lerchen und Amseln waren es nicht, und
Heinrich Fries kannte seine Vöglein wohl, die da zwitscherten. Die
Steinacher Kinder kamen den Berg herauf. Die Schelme wollten die
Schelmenburg besuchen. Sie kamen aber nicht sacht und gemessen, wie man
wohl zu vornehmen Leuten geht, ihre Stimmen klangen immer lauter, und
es war eigentlich ein Wunder, daß der alte Turm nicht vor Schreck über
den Lärm umpurzelte.

»Holla, wo kommt ihr denn her?« Heinrich Fries stand vor Mädeln und
Buben, und jäh verstummten alle. Doch nur für einen Augenblick, dann
schnatterten sie los. »Wir wollen Veilchen suchen. Fräulein Regine hat
Geburtstag morgen, und die kriegt immer Veilchen, allemal.«

»Wenn se nämlich blühen,« fügte Jackenknöpfle vorsichtig hinzu.

Nun, blühen taten sie in diesem Jahr in reicher Fülle. Da und dort
schimmerte es ganz blau, und es war nicht schwer, die Körbchen zu
füllen. Malchen trug eins, ebenso die Freundin Sylvie, Rosine und Trude
Weber auch; da hinein kamen alle Blüten. Später sollten dann Sträuße
und Kränze gewunden werden. »Faden haben wir mit, aber die Kränze
wollen immer nicht werden,« erzählte Hinzpeters Malchen.

»Pflückt nur schnell, ich helfe euch dann,« versprach die alte Frau
Lehrerin. Da gingen die Kinder eifrig ans Werk, während Heinrich Fries
seine Mutter auf dem Berg herumführte. Sie war noch nicht oben gewesen,
denn der Weg war im Winter schwer begehbar. Plaudernd schritten sie
zwischen den Trümmern dahin, als ein lauter Schrei aufgellte; er kam
aus einem Winkel, wo noch ein Mauerviereck stand. Von allen Seiten
her eilten die Kinder dem Schrei nach. Der junge Lehrer machte lange
Schritte, und seine Mutter folgte, so schnell sie nur konnte.

Was war geschehen? War ein Kind gefallen, ein Stück Mauer
herabgestürzt? Bleich und zitternd kam Zimplichs Lenchen aus dem Winkel
heraus. »Da -- da,« stammelte sie, »sitzt der Alte!«

»Welcher Alte, Kind?« Der junge Lehrer nahm die Hand der Kleinen und
fragte noch einmal freundlich: »Welcher Alte?«

»Der alte Schelm, der immer spukt,« schluchzte Lenchen, die auch so ein
Angsthäslein war, »und -- und eine große Blume -- oder so was -- hat
er.«

»Komm mit, und ihr alle auch, wir wollen uns den alten Schelm mal
ansehen.« Heinrich Fries lachte, und sein heiteres Lachen gab den
Kindern Mut. Sie folgten mehr neugierig als bänglich, nur Lenchen
zitterte wie eine Feder im Wind.

[Illustration: Die Schelme von Steinach. Seite 137.]

Ein Stück Mauer lag völlig in der Sonne, und auf dieser Mauer saß
-- Besenmüller. Er strickte wieder an seinem rosenroten Strumpf und
schmunzelte über das ganze Gesicht, als er alle daherkommen sah. »Oh,
Besenmüller ist’s nur!« schrieen die Kinder enttäuscht.

»Nu freilich, iche bin’s.« Der Alte zog seinen Mund in die Breite, als
wäre der aus Gummi. »Ihr dachtet wohl, hier säße der Herr Arnulf und
dächte an alle dummen Streiche, die er gemacht hat in seinem Leben? Nä,
so etwas is niche.«

»Besenmüller, ach, erzähl’ uns mal von dem!« bettelten die Kinder.

»Heute niche,« brummelte der Alte, er warf dabei einen etwas scheuen
Blick auf Frau Fries und ihren Sohn. Doch auch die baten: »Erzählen
Sie, Besenmüller.« Heinrich Fries fügte hinzu: »Ich wollte schon
lange darum bitten. Der Herr Pfarrer sagte, es wüßte niemand so viel
Schelmengeschichten wie Sie.«

»Na ja, Geschichten sin was Feines!« Besenmüller nickte. Er sah auf die
Kinder und auf die noch halb leeren Körbchen. »Aber erst pflückt die
Veilchen, denn sonst kriegt ’s Fräulein Regine nischt.«

»Ja, erst pflücken. Wenn wir dann den Kranz und die Sträußchen winden,
erzählt Besenmüller,« sagte auch Frau Fries. Zur Eile brauchte sie
nicht erst zu mahnen. Die Kinder stoben davon und pflückten nun
wirklich mit der allergrößten Emsigkeit. Die Körbchen füllten sich,
und es dauerte nicht lange, da konnten sie die Blumen Frau Fries
bringen, die sich auf das sonnenbeschienene Mäuerlein gesetzt hatte.
Mit flinken Händen wand sie den Kranz. Die Mädel, denn dazu waren die
Buben zu tolpatschig, reichten ihr die Veilchen in kleinen Büscheln
zu. Besenmüller strickte emsig seinen rosenroten Strumpf, und dabei
erzählte er, wie einst Herr Arnulf von Steinach an des Kaisers Hof
gereist war. Die Kinder paßten alle sehr gut auf, am allerbesten aber
paßte ihr Lehrer auf. Der schrieb nach, so wie Besenmüller erzählte,
denn Besenmüller hatte seine eigene Weise, Geschichten zu erzählen.
Wort um Wort kam die Geschichte in Herrn Heinrichs Taschenbüchlein zu
stehen, und während er so zwischen den Trümmern der alten Schelmenburg
saß, kam es ihm in den Sinn, er möchte ein Buch von den Schelmen
schreiben.

»Fertig die Geschichte.«

»Fertig der Kranz,« sagten Besenmüller und Frau Fries fast zu gleicher
Zeit. »Fein!« schrieen die Kinder im Chor, und es war nicht recht zu
unterscheiden, ob sie die Geschichte oder den Kranz meinten.

Mutter und Sohn aber sagten, die Geschichte habe ihnen sehr gut
gefallen. »Ja, und derweile is mein Strumpf fertig geworden. Das is nu
en Jammer.«

»Warum denn?« fragte Frau Fries erstaunt. »Ein fertiger Strumpf ist
doch ein gutes Ding.« Doch da fiel ihr ein, Frau Besenmüller hatte
schon manchmal über ihres Mannes flinkes Stricken geklagt, über die
viele Wolle, die es kostete. Nur in Steinach gab es etliche Leute, die
rosenrote und kornblumenblaue Strümpfe tragen mochten, in der Stadt
wollte sie niemand kaufen. Besenmüllers hatten eine ganze Truhe voller
Strümpfe liegen, und am liebsten hätte er jeden Tag einen Strumpf
gestrickt.

Frau Fries versprach neue Wolle, da hellte sich Besenmüllers Gesicht
wieder auf, und vergnügt wandelten nun alle bergabwärts. Der Lehrer
stimmte ein Lied an, die Kinder sangen, es wurde ein lustiger Heimweg.
Dicht vor dem Dorfe erblickten sie alle auf einmal Fräulein Regine,
die durfte sie nicht sehen. Eins, zwei, drei rannten die Kinder dahin
und dorthin, nur die Erwachsenen blieben stehen. Erst schaute Fräulein
Regine erstaunt den Kindern nach, die liefen doch sonst nicht vor ihr
davon, aber plötzlich glänzte ihr Gesicht in heller Freude, und sie
sagte schelmisch: »Ach so, auf dem Schafskopf blühen die Veilchen.«

»Jawohl, und morgen hat unsere Fräulein Regine Geburtstag,« brummelte
Besenmüller schmunzelnd.

[Illustration]



[Illustration]



Neuntes Kapitel

Besenmüllers Geschichte

    Frau Mechthild findet, dreizehn Flicken auf dem Wams und
    neunzehn auf den Hosen wären zuviel, um damit an des Kaisers
    Hof zu reisen, aber Herr Arnulf weiß sich zu helfen, und der
    Graf von Gehlingsberg geht ihm fortan aus dem Wege


»Als die Schelme von Steinach noch lebten, haben die Leute noch keine
Strümpfe gestrickt. So dumm waren sie noch, aber ganz schön muß es
gewesen sein, ja ja, ganz schön.

Dem Herrn Arnulf von Steinach hat’s auch auf der Welt gefallen, das ist
ein lustiger Herr gewesen. Er ist auch immer ’n bißchen gern im Lande
rumkarriolt. Ja ja, das tat er gern. Auf seinem Schafskopf hielt er es
nie lange aus. Einmal sagte er zu seiner Frau Mechthild: »Frau, ich
will nach Wien an des Kaisers Hof reiten.«

Sagt Frau Mechthild: »Das kostet Geld.«

Sagt Herr Arnulf: »Ja, das weiß ich.«

Sagt Frau Mechthild: »Aber du hast keins.«

Sagt Herr Arnulf: »Ich werd’s schon kriegen.«

Sagt Frau Mechthild: »Und dein Wams, dein allerbestes, hat dreizehn
Flicke.«

Sagt Herr Arnulf: »Schaff ich mir ein anderes.«

Sagt Frau Mechthild: »Und deine Hosen haben neunzehn Flicke, und deine
güldene Halskette hast du verkauft, und deine Rüstung ist verbeult, daß
Gott erbarm, und dein Barett ist neulich in den Brunnen gefallen.«

Schreit Herr Arnulf: »Hör’ auf, hör’ auf!«

Klagt Frau Mechthild: »Also kannst du nicht reiten.«

Brüllt Herr Arnulf: »Und ich muß doch reiten!« Ja ja, das sagte er.
Herr Arnulf überlegte nun alle Tage: Wie komme ich in Glanz und Pracht
an des Kaisers Hof? Denn mit dreizehn Flicken auf dem Wams und neunzehn
auf den Hosen konnt’ er nicht reiten, das sah er ein.

Er seufzte nun schrecklich jeden Tag, und seine liebe Frau seufzte auch
schrecklich jeden Tag. Sie war ein gutes Weib, und ihr Mann tat ihr
leid; sie hätte ihm schon gern geholfen und hätte gern ihr Staatskleid
für ihn zu Wams und Hose zerschnitten. Es war nur -- sie hatte kein
Staatskleid.

Eines Tages reitet jemand den Schafskopf hinan: ein Bote war’s von dem
reichen Grafen auf dem Gehlingsberg. Der Mann stellt sich steif vor den
Herrn Arnulf, Schelm von Steinach, hin und sagt: »Mein Herr Graf will
an des Kaisers Hof reiten, er läßt den Herrn von Steinach fragen, ob er
mitreiten will.«

Sagt Herr Arnulf: »Ja, das will ich tun. Muß nur eiligst meine
Prunkgewänder richten.«

Sagt der Bote: »Mein Herr Graf reitet schon morgen.«

Sagt Herr Arnulf: »Ist mir auch recht.«

Der Bote geht nun wieder. Frau Mechthild aber jammert: »Mann, liebster
Mann, dich weisen sie ja mit Schimpf und Schande von des Kaisers Hofe.
Mit dreizehn Flicken auf dem Wams und neunzehn auf den Hosen!«

Doch Herr Arnulf lachte dazu. Er ließ die Pferde satteln und ließ ein
paar Betten zu großen Ballen zusammenschnüren. Das sei sein Gepäck,
erzählte er. Dann ging’s los. Hoppla hopp! Drei Knappen und der alte
Burgwart Berthold, die ritten mit. Frau Mechthild hatte gesagt: »Gib
fein acht, Berthold, daß sich mein Gemahl nicht noch ein Löchlein
reißt. Geflickt ist schon schlimm, aber Löcher sind noch schlimmer.« Ja
ja, das hat sie gesagt.«

Hier hatte Besenmüller Zimplichs Max scharf angesehen, und der war
feuerrot geworden. Er hatte geschwind die Hand auf sein Knie gelegt,
das Dreieck da im Hosenbein hätte Besenmüller auch nicht zu sehen
brauchen. Der erzählte weiter: »Hoppla hopp! Auf halbem Weg von Burg zu
Burg trafen die Ritter zusammen. Der von Gehlingsberg war reich, geizig
und faul, und neidisch war er auch, hochmütig und dumm dazu. Er hatte
den Schelmen von Steinach nur zu dem Ritte fordern lassen, um den wegen
seiner Armut zu verhöhnen.

Aber wie Herr Arnulf ihn sah, schrie er gleich: »Ei, lieber Freund
und Gevatter, so fein angetan? Zum Reisen trage ich immer nur alte
Kleider. Seht da die Ballen, die allerschönsten Gewänder hat meine Frau
Mechthild hineingetan.«

Der Graf erschrak. Er wurde gleich grün, gelb, rot, blau und braun vor
Neid. Weg war seine gute Laune, ganz weg.

Na, und nun ritten sie.

»Heiliger Severinus,« seufzte Berthold, »mein Herr hat ein neues Loch
in der Hose, wie soll das enden!«

Den Herrn Arnulf aber bekümmerte der neue Schaden kein bißchen. Der
erzählte, ein grünes Sammetwams sei in dem Ballen, ein rotes aus
Brabanter Tuch, eins, das sei braun wie die Eichenblätter im Herbst,
und alles sei gar köstlich gestickt und verziert.

So ritten sie. Und wie sie eine Stunde etwa geritten sind, da jackert
ihnen auf einem mageren Pferd ein Bursche nach. Der verneigt sich vor
Herrn Arnulf und ruft: »Die gnädige Frau Mechthild schickt Euch dieses
Amulett, möchtet es immer tragen, es soll Euch wohl schützen.«

Sagt Herr Arnulf: »Das war wohlgetan.«

Sagt der Graf von Gehlingsberg: »Was soll die Narretei?«

Sagt Herr Arnulf: »Das ist ein gutes Ding. Schlimm, schlimm, wenn Euch
Eure liebe Frau nicht auch ein Amulettlein gab!«

Das ärgerte nun den Grafen gewaltig. Er sagte grollend: »Ich lasse es
noch holen.« Sagt Herr Arnulf: »Tut das, viellieber Freund. Im Kloster
zu St. Kilian da warten wir auf den Boten.«

Sagt der Graf: »Der Kunz soll reiten.«

Sagt Herr Arnulf: »Eure Frau wird Euch gewiß ein gar köstlich
wertvolles Amulettlein senden, laßt zweie reiten, das ist sicherer,
oder dreie.«

Schreit der Graf: »Dreie, bei meiner Seel’!«

Also ritten dreie, Jörg, Hinz und Kunz. Zurück blieb nur der Damian,
der war so dumm wie dick, so faul wie lang.

Na, und dann kamen sie an das Kloster von St. Kilian, und die frommen
Mönche nahmen sie wohl auf. Die rüsteten ein Mahl, und dabei aß der
Graf von Gehlingsberg einen Rehschlegel, sechs Rebhühner, sechzehn
Krautklöße, eine Schweinspastete, einen gedünsteten Hecht, eine
Schüssel gedämpften Kohl, drei Teller voll Backwerk und dreizehn« --
»Besenmüller, das ist zu viel,« riefen die Kinder entrüstet, und Arne
fügte keck hinzu: »Da wäre ihm ja der Bauch geplatzt.«

»Na ja, meinetwegen, wenn ihr’s ihm nicht gönnt, mag er weniger
gegessen haben.« Besenmüller ließ sich nicht aus seiner Ruhe bringen,
gemächlich fuhr er fort: »Aber plumpsatt war er, das steht nu mal
feste. Kaum schnaufen konnt’ er. Ja ja, so war’s.

Der Graf müsse in ein pechdunkles Kämmerlein zu liegen kommen, riet der
Schelm von Steinach, da könnte er sich gut ausschlafen.

Sagten die Mönche: »Soll uns wohl recht sein.«

Meinte Herr Arnulf: »Den Damian müßten sie dazu legen.«

Sagten die Mönche: »Ei freilich, der soll seinem Herrn aufwarten.« Sie
führten denn nun den Grafen in ein fensterloses Kämmerlein, und weil
sie mit brennenden Kienspänen leuchteten, merkte der es nicht. Und
Damian merkte überhaupt nie etwas.

Der Graf von Gehlingsberg tat einen mächtigen Gähner, und plumps fiel
er auf sein Lager und schlief. Damian tat einen noch lauteren Gähner,
und er schlief schon, ehe er auf sein Lager kam.

Sagten die Mönche: »Unserem Gast wird nichts die Nachtruhe stören.«

Sagte Herr Arnulf: »Wäre auch schlimm. Wird der im Schlaf gestört, haut
er um sich wie weiland St. Georg der Drachentöter.«

Die Mönche erschraken sehr und versprachen, nichts, auch nichts sollte
ihren werten, vornehmen Gast stören.

Sagte Herr Arnulf: »Und verwahret seine Reisesäcke wohl. Ich muß mit
dem Frühesten davonreiten.«

Sagten die Mönche: »Wir wollen tun, wie du es befohlen.«

Als das Morgenglöcklein läutete, ritt Herr Arnulf mit den Seinen von
dannen. Seine Bettsäcke ließ er den Mönchen da, und er hieß seine
Knechte des Grafen wohlgefüllte Truhen aufladen. Die Mönche meinten,
so sei es richtig, und verwahrten die Bettsäcke in des Klosters
reicher Schatzkammer. Also ritt Herr Arnulf, der Schelm von Steinach,
geschwind hinweg. Der Graf von Gehlingsberg aber schlief zwölf Stunden,
da drehte er sich das erste Mal um. Er tat seine Augen ein viertel auf,
blinzte und dachte, ’s ist ja noch Nacht. Ja ja, das dachte er.

Darauf schlief der Graf wieder zwölf Stunden, drehte sich wieder um,
tat seine Augen halb auf und dachte, ’s ist ja noch Nacht. Ja ja, das
dachte er wieder.

Damian aber rührte sich nicht, tat seine Augen nicht auf, und denken
tat er erst recht nichts.

Inzwischen langten die drei Knappen Hinz, Kunz und Jörg am Kloster St.
Kilian an und begehrten, vor ihren Herrn geführt zu werden.

Sagten die Mönche: Nein, das ginge nicht, der müßte seine Ruhe haben.

Nun, die Knappen waren’s zufrieden. Der Bruder Küchenmeister wartete
ihnen gut auf. Der Bruder Kellermeister schenkte ihnen manche Kanne
Wein, da ließen sie sich’s wohl sein.

Zwei Nächte und einen Tag schlief der Graf von Gehlingsberg, dann
wachte er auf. Er brummte: »So einen unruhigen Schlaf habe ich lange
nicht getan; nun bin ich schon dreimal aufgewacht, und immer ist’s
noch Nacht.« Er seufzte schwer, und auf einmal fing ihm sein Magen zu
knurren an. Rrrrrrrrrrrrrruh ging es.

Schrie der Graf von Gehlingsberg: »Ich bin krank, ich bin krank. Oh,
wie tut mir das im Magen weh!«

Die Mönche hörten das mächtige Schreien und liefen angstvoll herbei.
Taten die Türe auf, und das helle Sonnenlicht strömte in das
fensterlose Kämmerlein.

Riefen die Mönche: »Ei, Herr, was habt Ihr für einen guten Schlaf
getan! Sechsunddreißig Stunden pflegtet Ihr der Ruhe.«

Schrie der Graf: »Was schwätzt ihr da, sechsunddreißig Stunden hätte
ich geschlafen? Wirklich, sechsunddreißig Stunden?« Ja ja, das fragte
er.

Seufzte der Damian: »Man kann sich auch niemals im Leben ordentlich
ausschlafen.«

Rief der Graf: »Oho, nun weiß ich’s, woher mir das Grimmen im Magen
kommt, ich habe Hunger!«

»Ich auch, ich auch!« stöhnte Damian, der wurde da ganz munter. Der
Bruder Küchenmeister aber lief eilig, um ein gutes Mahl zu rüsten. Der
Graf von Gehlingsberg ließ sich das Frühstück wohl schmecken, und erst
als er satt war, fragte er nach seinem Reisegenossen. Der sei schon
lange fort, hieß es, aber des Grafen Reisegut liege wohlverwahrt in
des Klosters Schatzkammer.

Sagte der Graf nachdenklich: »Ei, dann ist auch Zeit, wenn ich morgen
mit dem Frühesten reite. Will mich noch einmal ordentlich ausruhen für
den langen Ritt.«

Rief Damian: »Das ist wohlgetan. Ich spüre das erste Reiten noch in
allen Knochen. Umfallen könnte ich vor Müdigkeit.«

Also blieben der Graf und die Knappen noch den Tag und die nächste
Nacht im Kloster und ließen es sich wohl sein.

Seufzte der Bruder Küchenmeister: »O weh, sie essen alle meine Vorräte
auf!«

Klagte der Bruder Kellermeister: »O weh, mein schöner Wein, sie trinken
ihn allen aus!«

Am nächsten Morgen entstand ein lautes Geschrei, denn da merkte der
Graf von Gehlingsberg den Tausch des Schelmen von Steinach. Frau
Mechthild hatte ihre allerältesten Betten zur Reise hergegeben, und
soviel der Graf, seine Knappen und die Mönche auch suchten, die
köstlichen Gewänder, von denen der Schelm von Steinach erzählt hatte,
die waren nicht zu finden. Der Graf wurde fuchsteufelswild, und selbst
Damian vergaß vor Zorn seine Schläfrigkeit. Sie setzten sich auf ihre
Pferde und ritten eilfertig davon, um nur rasch an des Kaisers Hof zu
kommen und dem Schelmen seinen Raub wieder abzujagen. --

Herr Arnulf war unterdessen einen andern Weg geritten. Als das Kloster
St. Kilian hinter ihnen lag, sagte er zu Berthold, seinem Burgwart:
»Wie rede ich mich aus, wenn nun der Herr von Gehlingsberg auch an des
Kaisers Hof kommt?«

Sagte Berthold: »Reitet nicht an des Kaisers Hof.«

Zürnte Herr Arnulf: »Was soll der dumme Rat?«

Sagte Berthold: »Ein Kaiser ist freilich ein Kaiser, aber ein Herzog
ist auch ein hoher Herr. Reitet an eines Herzogs Hof.«

Sagte Herr Arnulf: »Das Wort läßt sich hören.«

Sagte Berthold: »An des bayrischen Herzogs Hof wird’s Euch wohlgehen.«

Sagte Herr Arnulf: »Das gilt. Kurzweil und ritterliche Spiele gibt’s
dort auch. Des Herzogs Sohn soll Hochzeit halten, da wird es gut sein.
Also reiten wir.« Ja ja, so sagte er.

Nun ritten sie und kamen auch an den Hof des Herzogs von Bayern. Dort
war ein lustiges Leben, und der Schelm von Steinach, der stattlich
in des Grafen von Gehlingsberg Kleidern einherging, wurde wohl
aufgenommen. Er gewann güldene Preise im ritterlichen Spiel, und weil
der Herzog um der Hochzeit willen seine Gäste freihielt, brauchte der
Schelm keinen Batzen und kein Hellerlein auszugeben. Auch ein reiches
Gastgeschenk erhielt er noch. Die güldenen Preise verkaufte er, und so
zog er mit wohlgefülltem Säcklein nach etlichen Wochen von dannen. Ja
ja, so war’s.

Inzwischen war der Graf von Gehlingsberg an des Kaisers Hof gewesen,
hatte dort den Schelm nicht gefunden und hatte dort viel Spott und
Neckerei erfahren. Es glaubte ihm niemand sein Märlein, und weil er
auch ein einfältiger Herr war, meinten alle, sie hätten einen Narren
vor sich. Der Graf vertat sein Geld und gewann nicht Ehre und nicht
Freunde, und mißmutig kehrte er nach etlichen Wochen heim. Im Kloster
zu St. Kilian gedachte er seine letzte Rast zu halten, und der Zufall
führte am nächsten Morgen den Schelmen vor das Kloster. Als dies
der Schelm hörte, ritt er eiligst von dannen, und an der Stelle,
an der er einst den Grafen getroffen hatte, sagte er zu Berthold,
seinem Burgwart: »Nun reite geschwind nach Gehlingsberg, bringe der
Frau Gräfin ihres Mannes Reisetruhen und dieses goldene Ringlein als
Reisegeschenk. Sag’ ihr, mit hohen Ehren sei ihr Mann an des Kaisers
Hof empfangen worden, und er sei nun schon auf dem Heimweg, sie möge
ihn wohl empfangen.«

Sagte Berthold: »Das will ich recht ausrichten.« Er ritt mit den
Knappen nach Gehlingsberg, während der Schelm heimwärts ritt im neuen
Wams, sein gutgefülltes Beutelchen in der Tasche.

Als er am Tor anlangte, lief Frau Mechthild ihm entgegen und klagte:
»O du armer Mann, ohne deine Knechte kehrst du heim! Dir mag es übel
ergangen sein.« Ja ja, so klagte sie.

Rief Herr Arnulf: »Schau her!« Er wies ihr das neue Wams, das Geld und
eine feine Gürtelschnalle.

Lachte Frau Mechthild: »Ich sehe schon, die Schelme verderben nimmer.«

Mißmutig kehrte der Graf zu seiner Burg zurück. Doch dort empfingen
ihn alle festlich geschmückt, und seine Frau Gräfin rief: »Willkommen,
edler Held!« Sie dankte ihm gar herzlich für das güldene Geschenk.

Sagte der Graf brummig: »Was soll das Geschrei?«

Schrie Damian: »Herr, da stehen unsere Truhen.«

Sagte die Gräfin: »Die sandtest du mit des Schelmen Knechten. Die haben
auch gesagt, wie reich du geehrt worden bist an des Kaisers Hof.« Da
schwieg der Graf mäuschenstill und verbot auch seinen Knechten zu
sagen, wie es ihnen ergangen war. Ja ja, das tat er.

Er erzählte viel von des Kaisers Hof, zuletzt glaubte er selbst, ihm
sei es gut gegangen dort, und schließlich glaubten alle, der Kaiser
würde wohl auch bald zu Besuch kommen, weil er dem Grafen so gut war.

Aber mit dem Schelmen von Steinach tat der Gehlingsberger nie mehr eine
Reise zusammen. Mit Fehde überzog er freilich auch nicht seine Burg,
wie er es sich vorgenommen hatte. Sah er von fern den Schelmen kommen,
dann beschrieb er einen großen Bogen um ihn, er fürchtete dessen Spott.
Ja ja, den fürchtete er.«

[Illustration]



[Illustration]



Zehntes Kapitel

Sommertage

    Des Pfarrers Freund redet vom Krieg, aber dem jungen Lehrer
    laufen die trüben Kriegsgedanken davon -- Auf dem Schafskopf
    brennt das Johannisfeuer, die Rosen blühen, es wird wieder
    Geburtstag gefeiert, und niemand weiß an dem Tage, was in der
    Welt geschehen ist -- Der Lehrer erzählt von Deutschland, und
    Frau Fries hält ihr Herz fest und klagt nicht.


Pfarrers Regine hatte ihren Geburtstag gefeiert, und die Sonne hatte
dazu geschienen, wie es sich für einen rechten Frühlingstag schickt.
Kein Wölkchen war zuerst am Himmel gewesen, aber plötzlich, am
Nachmittag, waren schwere, dunkle Wolken aufgezogen, Sturm, Regen, ein
Blitz, ein Donnerschlag, und im Umsehen war es wieder hell gewesen. Das
erste Frühlingsgewitter war vorübergerauscht. Ein paar Tage lang hatte
es im Pfarrhaus köstlich nach Veilchen geduftet, dann waren die kleinen
blauen Frühlingskinder verwelkt, und droben auf dem Schafskopf sproßten
Blätter und Knospen der Heckenröslein hervor. Die sagten: »Nun kommen
wir bald dran.«

»Nein, erst wir.« sagten im Wald die Maiglöckchen. In den Gärten
blühten Narzissen, Tulpen, Schwertlilien, Stiefmütterchen, hängende
Herzen und viele andere Blumen auf. Die drei Straßen hatten sich wieder
in weiße, schimmernde Wege verwandelt, gerade wie vor einem Jahr, als
Heinrich Fries Steinach am Wald zum erstenmal gesehen hatte. Er dachte
daran und dachte dabei auch an seinen Reisegefährten, der ihm zuerst
von den Schelmen erzählt hatte. Und ganz unvermutet lief ihm der alte
Herr über den Weg, mitten auf der Apfelstraße. Sie erkannten sich
beide, und der junge Lehrer erfuhr nun, sein Reisegefährte sei ein
Freund des Pfarrers. »Ich flüchte mich immer mal für etliche Tage in
Steinachs Stille, und dies Jahr war die Sehnsucht besonders groß. Es
sieht nicht gut aus in der Welt.«

»Nicht gut sieht es aus in der Welt? Wieso?« Der junge Lehrer fragte es
erstaunt, nachdenklich.

Der andere nickte: »Ja ja, mir will’s immer scheinen, als hinge Krieg
über uns gleich einer Wetterwolke.«

»Krieg!« Das Wort stimmte so gar nicht hinein in den heiteren
Frühlingsfrieden von Steinach, und Heinrich Fries sagte abwehrend:
»Ach Krieg, es wurde schon so oft davon gesprochen -- ich glaube nicht
daran.«

»Hurra, Hurra, bald ham’ mer se!« Wildes Geschrei gellte auf, und über
die Apfelstraße hinweg rasten vier Buben, ein halbes Dutzend andere
folgten ihnen, bewaffnet mit Blechsäbeln, einem Pusterohr und einem
Ding, das ungemein viel Lärm machte. Eine Rassel war es von lauter
alten Topfdeckeln.

»Wen habt ihr bald, he?« Jackenknöpfle lief seinem Lehrer gerade in
die Arme, und der hielt ihn fest. Doch der kleine, dicke Kerl mußte
erst ein paarmal nach Luft schnappen, ehe er Antwort geben konnte.
»Wen wollt ihr fangen?« Heinrich Fries fragte es noch einmal, und nun
stieß Jackenknöpfle heraus: »Die Indianer! Wir spielen Indianers, und
dahinten liegt Indien.«

Er deutete nach dem Schelmenacker hin, und sein Lehrer meinte heiter:
»Nenn’s Amerika, da nun doch einmal dort die Heimat der Indianer ist.«

Er ließ Jackenknöpfle los, der stürzte eilfertig davon, und das
Geschrei aller vereinte sich bald drüben am Schelmenacker. »Solchen
Krieg gibt’s immer,« sagte der junge Mann zu dem Alten.

Der sah ernst ins Weite. »Wer weiß, wie bald unsere Jungen gegen
Franzosen, Russen und noch sonst welchen Feind ins Feld ziehen wollen!«

»Glauben Sie das?« Nun lächelte auch Heinrich Fries nicht mehr. Er
sah zum Himmel auf, der klar und blau war. Würde so schnell ein Wetter
daherziehen wie an Fräulein Regines Geburtstag? --

Wie schön war der Frühling, wie schön, selbst wenn der Regen warm und
lind auf die Erde niedersank. Und wie leicht laufen trübe Gedanken
im Frühling davon. Heinrich Fries erging es so. Als er dann mit
seinem alten Reisegefährten am Pfarrhaus anlangte, stand Fräulein
Regine da, die hatte sich mehr noch als sonst ihr liebliches Gesicht
mit Frühlingssonne eingerieben, da liefen geschwinde alle trüben
Kriegsgedanken davon.

Das taten die bösen Gedanken noch manchmal in diesen Tagen, aber -- sie
kamen doch immer wieder. Der alte Herr Berner, so hieß des Pfarrers
Freund, war abgereist, beim Abschied hatte er gesagt: »Im August komme
ich wieder -- vielleicht.«

»Vielleicht, vielleicht,« sang Pfarrers Regine fröhlich, »vielleicht
reise ich im August in die Schweiz, vielleicht sehe ich Schneeberge.«

»Vielleicht, vielleicht baue ich mir ein Schloß im Monde,« neckte sie
der Vater.

»Vielleicht erhalte ich zum Herbst eine bessere Stelle in der Stadt,«
sagte Heinrich Fries zu seiner Mutter. Er sagte es hoffnungsfroh, und
die alte Dame unterdrückte den leisen Seufzer. Ach, sie wäre so gern
in Steinach geblieben!

Auch die Steinacher Buben und Mädel schmiedeten allerlei Pläne, die mit
»vielleicht« begannen, und die so wundervoll lustig wie die Sommertage
waren. »Vielleicht gibt’s diesmal länger Ferien,« sagten die Faulpelze,
obgleich sie nicht zu sagen wußten, warum dies geschehen sollte.

Vielleicht dürfen wir alle nach M. zum Jahrmarkt, hofften etliche.
Vielleicht dies, vielleicht das. Eine Ferienfahrt, ein neues Kleid,
ein riesengroßer Drache, ein langer Schulspaziergang, -- das waren
alles Dinge, die mit »vielleicht« gesagt wurden. Und darüber reihte
sich Tag an Tag. Flieder und Goldregen blühten auf und verblühten, die
Rosen dehnten sich in ihren engen Knospenkleidern und riefen: »Endlich,
endlich kommen wir an die Reihe!« Sie erblühten in köstlicher Schöne,
kein Gärtlein gab’s in Steinach, in dem nicht ein Rosenbusch wie ein
holdseliges Mädchen stand. Wer daran vorüberging und eine horchende
Seele hatte, der hörte wohl, wie die Rosen sangen: »Sonne, küsse uns,
Wind, streichle uns, Mensch, freue dich an uns!«

»O ihr Rosen, ihr lieben Rosen!« sang Pfarrers Regine, wenn sie
durch den Garten ging, und dann mahnte sie: »Vergeßt es nicht, am
Johannistag recht schön zu blühen, das gehört sich so, und dann noch
ein paar Tage länger, dann hat die alte Frau Lehrerin Geburtstag. Ihr
erster ist’s in Steinach, den wollen wir recht feiern.«

Der Johannistag kam, die Rosen blühten und dufteten, auf dem Schafskopf
brannte ein Johannisfeuer, und Frau Besenmüller schalt: »So etwas weckt
nur die alten Schelme auf, das is niche gut.«

»Lydia, schimpf’ nicht,« sagte ihr Mann. »Denk’ daran, Sonntag hat
unsere alte Frau Lehrerin Geburtstag.«

Da wurde Frau Besenmüller sanft und freundlich und redete von allerlei
Festvorbereitungen. Die alte Frau Lehrerin hatte sich längst viele
Herzen in Steinach gewonnen. Wenn sie über die Gasse ging und in
ihrer freundlichen, stillen Weise alle grüßte, dann sagten wohl die
Steinacher: »Die paßt nu so recht scheen zu uns.«

Und diese gütige, sanfte Frau hatte nun Geburtstag, an einem Sonntag
dazu. Die großen Leute fanden dies paßlich, und die kleinen Leute
ärgerten sich darüber. Warum nicht an einem Wochentag, der dann zu
einem Feiertag wurde? Wie konnte ein Geburtstag nur so ungeschickt
sein, auf einen Tag zu fallen, an dem es ohnehin Kuchen gab in den
meisten Steinacher Häusern! Trotz dieses Ärgers wanderten aber alle
Schulkinder in der rechten Geburtstagsstimmung am Morgen vor das
Schulhaus und sangen dort einen Morgengruß. Die Brummer mit. Fräulein
Regine hatte ihnen einen wundervollen Rat gegeben. Sie hatte gesagt:
»Singt stumm, den Mund auf, Mund zu und nur im Herzen mitgesungen.« Das
taten die Brummer nun auch voll Eifer, und Stipsels Oswald sah dabei
aus wie ein Fisch, den man statt ins Wasser auf ein Sofa gelegt hatte.
Schnapp auf, schnapp zu, so ging es bei ihm.

»Der Oswald hat wohl was verschluckt? Der kriegt Zustände,« sagte Frau
Besenmüller ängstlich. Mitten im Lied trat sie hinter den Buben und gab
ihm einen kräftigen Stoß in den Rücken. »Ist’s raus?« flüsterte sie so
laut, als müßte das Geflüster oben auf dem Schafskopf gehört werden.

»Hup!« machte Oswald; er konnte vor Schreck nicht sprechen.
Glücklicherweise ersah Fräulein Regine Frau Besenmüllers Tat, sie zog
rasch die Frau aus dem Kreis und erklärte ihr das Mund auf, Mund zu.

»I nä,« brummelte Frau Besenmüller, stumm singen, ja, das könnte sie
auch. Sie trat an ihren Platz zurück, klappte nun auch ihren großen
Mund auf und zu, und Webers Arne flüsterte Jackenknöpfle ins Ohr: »Wie
’ne Brotschachtel.«

Trotz dieser kleinen Zwischenfälle klang der Gesang festlich und
rein in den hellen Sonntagmorgen hinaus, und Frau Fries freute sich.
Sie freute sich auch über die Rosen, die Pfarrers Regine brachte,
über all die bunten Sträuße aus den Steinacher Gärten, sie freute
sich über die lachenden Gesichter der Kinder, und sie freute sich am
meisten über die Liebe, die man ihr erzeigte. Dieser Tag ging zur
Ruhe wie ein glückliches Kind, das sich müde gefreut hat und noch im
Schlafe lächelt. Die Nacht blieb hell, die Sterne funkelten in ewiger
Schönheit am Himmel, und im Grase wisperten die kleinen, lustigen
Johanniswürmchen: »Seht nur, wir funkeln auch wie die Sterne!«

»Noch mehr, noch mehr,« sagten die andern Käfer, die konnten nämlich
nicht bis zum Himmel hinauf sehen.

Im warmen Sommerfrieden schlief Steinach ein, und niemand darin ahnte
etwas von dem schweren Geschehen draußen in der Welt. Da hatten im
fernen Land ruchlose Buben Österreichs künftigen Kaiser und seine Frau
ermordet. Als die Kunde von dem Mord durch die Lande lief, von Stadt zu
Stadt, das einsamste Dorf nicht vergaß, erfaßte tiefes Entsetzen die
Menschen. Ein dumpfes Ahnen kommenden Leides lag über den Landen.

»Wir bekommen Krieg,« sagten manche. Aber jene, die nicht gern an
Sorgen und kommendes Leid dachten, sagten: »Ach nein, wer wird unseren
Frieden stören und unsere Sommerlust!«

Die Buben und Mädel in Steinach redeten nicht von Krieg und dachten
nicht an Krieg. Sie gingen in die Schule und freuten sich auf die
großen Ferien. Am Montag freuten sie sich auf den Sonntag, am Morgen
auf das Mittagessen, und zu Mittag redeten sie davon, wie sie abends
auf der Gasse spielen wollten. Sie stiegen auf den Schafskopf, riefen
und neckten die Geister der alten Schelme, zitterten, die könnten
wirklich erscheinen, und ärgerten sich, daß sie nicht kamen. Sie
zankten sich mit Frau Besenmüller und liefen dann schuldbewußt zu deren
Mann; der mußte seine Frau »Lydia« nennen, damit sie wieder gut werde.
Auf den Feldern reifte das Korn, und die Schnitter dengelten schon ihre
Sensen: bald, bald fängt die Ernte an.

So verging Tag um Tag. Das Jahr 1914 saß in seinem Himmelswinkel, es
strich die Tage aus, und immer ernster wurde sein Gesicht.

Der Juli neigte sich schon seinem Ende entgegen, da kamen Tage, an
denen niemand Lust zur Arbeit und Freude hatte. Selbst in Steinach
standen die Männer auf der Dorfstraße und redeten ernst und eifrig
zusammen, und die Frauen sahen zu ihnen hin, und manch eine wischte
sich heimlich eine Träne aus den Augen. Wer weiß, wie bald zog ihr Mann
hinaus!

Der junge Lehrer Heinrich Fries ließ jetzt immer Vaterlandslieder
singen, und wenn die Kinder aus dem Schulhaus kamen, dann sangen sie:
»Deutschland, Deutschland über alles,« und immer sang mit, wer es hörte.

Jeden Tag fuhr jetzt jemand nach dem nächsten großen Ort, um dort
die neuesten Telegramme zu lesen. Dann hieß es den einen Tag: Es
gibt Krieg! den andern: Der Friede bleibt erhalten. Noch lag eine
Lokalisierung des Krieges im Bereich der Möglichkeit. Die Diplomatie
arbeitete fieberhaft. Telegramme flogen hinüber und herüber. Viele
deutsche Herzen hofften noch, der Friede möchte der Welt erhalten
bleiben. Aber mitten in alle heitere Sommerschönheit hinein gellte
der Ruf: »Es gibt Krieg, Krieg mit Frankreich, Krieg mit Rußland, mit
England, Krieg mit der halben Welt.«

Die Buben und Mädel in Steinach hatten sich auf die Ferien gefreut,
wie sich überall Buben und Mädel auf die Ferien freuen. Aber als sie da
waren, dachte niemand an Ferienfreude. Am Samstag sollte Schulschluß
sein, und an diesem Tag gab der junge Lehrer Heinrich Fries keine
Stunde mehr. Er hatte die große Karte von Europa angehängt, und daran
zeigte er den Kindern, wie riesengroß die Länder der Feinde waren gegen
die der beiden treuen Bundesbrüder Deutschland und Österreich-Ungarn.
Weit, weit über halb Asien hinweg dehnte sich das unermeßliche
russische Reich, und Frankreich lag mit weiten Küsten am blauen Meer.
Im Norden drohte England. Feinde, Feinde, wohin das Auge blickte. Die
Brandfackel des Weltkriegs, des fürchterlichsten aller Kriege, war
entzündet. Das Verhängnis nahm rasch und unaufhaltsam seinen Lauf.

Armes Deutschland, armes Vaterland! Dem jungen Lehrer wurde das Herz
schwer, als er an das furchtbare Ringen dachte, das nun beginnen
würde. Doch größer noch als die Sorge war die Freude, daß auch er mit
hinausziehen durfte in den Kampf für das Vaterland.

Und an diesem letzten Schultag ließen die Kinder Bücher und Hefte in
ihren Ranzen, und Heinrich Fries erzählte ihnen von Deutschland, von
seiner Vergangenheit, seiner Herrlichkeit und seiner Not, wie es immer
und immer wieder hatte kämpfen müssen um seine Freiheit. Auch von des
Vaterlandes stiller Schönheit sprach der junge Lehrer, von seinen
Städten, Dörfern, seinen Wäldern und Flüssen, seinen friedlichen Tälern
und vom deutschen Heimatzauber.

Es war mäuschenstill in der Schulstube. Noch nie hatten die Kinder so
lautlos zugehört, und keines sehnte das Ende dieser letzten Schulstunde
herbei. Und als draußen die Glocke ertönte, die Frau Besenmüller im
Jammer ihres Herzens wilder denn je schwang, da baten all die braunen
und blauen Kinderaugen, in die der Lehrer sah: »Weiter, weiter!«

Heinrich Fries atmete tief. Das eine Fenster der Stube lag in der
Sonne, und golden umwob der Schein die Buben- und Mädelköpfe. Das
würde er nun lange nicht mehr sehen, vielleicht nie wieder. Er zog
hinaus in den Kampf, vielleicht in den Tod! Er schwieg, atmete tief,
und dann sagte er einfach: »Ich gehe nun von euch, Kinder; ob wir uns
wiedersehen, steht in Gottes Hand. Er schütze unsere Heimat, er schütze
euch. Werdet tapfere deutsche Männer und Frauen und vergeßt es nie,
nie: Das Vaterland über alles!«

Deutschland, Deutschland über alles! Jauchzend brauste der Gesang
plötzlich auf, die Kinder wußten selbst kaum, wie es kam, daß sie
auf einmal das Lied sangen. Wie ein Jubelruf klang es und ein Gebet
zugleich. Draußen vor der Tür stand Frau Besenmüller, sie hielt die
Schulglocke fest im Arm, und heiße, heiße Tränen rannen darauf nieder.
»Das Herze bricht einem fast!« schluchzte sie. »Nä, der Jammer, nä, das
Unglück!«

»Schäm’ dich, Lydia, so redet keine deutsche Frau,« rief ihr Mann von
der Treppe her. »Sieh unsere alte Frau Lehrerin an, die nimmt ihr Herze
fest in die Hände.«

Da schwieg Frau Besenmüller beschämt. Ihr Mann hatte recht, der hatte
immer recht. Und stille nahm sie sich vor, so tapfer zu sein wie Frau
Fries, die ihr Herz fest hielt und nicht weinte und nicht klagte.

[Illustration]



[Illustration]



Elftes Kapitel

Schwerer Abschied

    Die Steinacher ziehen auch hinaus, und Schwetzers Fritze will
    mit -- Auch Pfarrers Regine will hinaus, geht aber dann zu
    Traugotts -- Der alte Briefträger übt wieder sein Amt aus, und
    Fritze schreibt einen Brief und prügelt sich mit seinem Freund
    Arne


Mobilmachung, Abschied!

In jeder Stadt, in jedem Dorf in deutschen Landen war es in den ersten
Augusttagen von 1914 das gleiche Bild. Stille legten viele, viele
Männer ihre Arbeit nieder und verließen Haus und Hof, verließen die
Heimat, um für den Frieden dieser Heimat zu kämpfen. In Steinach am
Wald war es nicht anders. Da mußten Frauen ihre Männer ziehen lassen,
die Kinder weinten den Vätern nach und die Mütter den Söhnen. Und wenn
in diesen Tagen einer Mutter das Herz gar so schwer wurde und ihre
Tränen nicht versiegen wollten, dann mahnte wohl der Mann oder der
Sohn: »Sieh unsere alte Frau Lehrerin an, die ist tapfer, und ’s ist
doch auch ihr Einziger.«

Frau Fries nahm wirklich ihr Herz fest in beide Hände, sie klagte
nicht und weinte nicht. Still und emsig half sie dem Sohn die Sachen
rüsten, und sie half auch andern. In diesen Tagen begannen die Frauen
von Steinach in das Schulhaus zu laufen, um sich Rat zu holen und
Trost dazu. Die sanfte Frau, die noch kaum ein Jahr in ihrer Mitte
lebte, wurde ihnen allen eine Helferin, und manch ein Mann sagte beim
Abschied: »Na, Pfarrers sin ja da un die alte Frau Lehrerin, da frag’
nur, die helfen schon.«

Mann um Mann verließ das Dorf. Am zweiten Tage schon zog Heinrich Fries
hinaus. Seine Schulkinder standen vor der Türe, die gaben ihm das
Geleit bis zur Apfelstraße, da sandte er sie heim. Zum Bahnhof sollte
ihn allein seine Mutter begleiten. Die ganze Straße entlang aber tönte
es ihm nach: »Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen!«

Endlich verhallten die Rufe, und ein paar Minuten waren Mutter und Sohn
allein, die andern Abfahrenden waren schon vorangegangen. Wie sie aber
beide an den Himbeerapfelbaum kamen, sahen sie dort einen Buben stehen,
der hatte den Baum umschlungen, als müßte er von dem Abschied nehmen.

»Holla, Fritz Schwetzer, was machst du hier?« Heinrich Fries trat
allein auf den Buben zu; seine Mutter blieb ein paar Schritte zurück,
sie dachte, mit dem Buben muß nur einer jetzt reden. »Sag’, was fehlt
dir? Dein Vater zieht doch nicht hinaus?« forschte der junge Lehrer.

Schwetzers Fritze schämte sich, daß er weinte, und er konnte doch
nicht anders. Es gibt halt Stunden, in denen auch ein Bube nicht ohne
Tränen fertig werden kann. Sein Lehrer spürte, hier gab es wirkliches
Herzeleid, und viel freundlicher als sonst klang seine Frage: »Wo
fehlt’s denn, Fritze, was bedrückt dich?«

»Weil -- weil -- Sie in ’n Krieg gehen un -- nu totgeschossen werden!«
Fritz stieß es heraus und umklammerte laut schluchzend des Lehrers
Hand. Der strich ihm sacht über den Struwwelkopf. »Na, na, mein Junge,
so schlimm braucht es doch nicht gleich zu werden. Tut’s dir denn so
leid?«

Der Bube nickte nur. Er rang mit den Worten, denn er hätte seinem
Lehrer in dieser Abschiedsstunde gern gesagt, daß er ihm gut war und
die Schule liebhatte, daß er sich sehnte, so zu werden wie dieser. Aber
ach, einem Schweiger purzeln die Worte eben nicht so flink aus dem
Munde!

Ganz langsam kamen sie nur, tropfenweise, aber Heinrich Fries verstand
auch jene, die ungesagt blieben, er verstand, daß Fritze ihn sehr
liebhatte.

Es war ihm eine Überraschung. Neun Monde lang war der Bube sein
Schüler gewesen, und er hatte gar oft in der Zeit gedacht, der ist
ein Trotzkopf, mit dem kann ich nicht viel anfangen. Und nun in der
Abschiedsstunde tat sich ihm Fritzes Herz auf, und er lernte verstehen,
wie schwer es ist, Schwetzer zu heißen und ein Schweiger zu sein.
»Lieber, lieber Junge, du!« dachte der Lehrer, »dich hab’ ich nun so
verkannt!«

»Ich -- ich -- will mit.«

»Mit in den Krieg? Das geht nun doch nicht, Fritz.« Heinrich Fries
sah zu seiner Mutter hinüber. Die stand ein wenig gebeugt, wie
niedergehalten von schwerer Last mitten auf der sonnigen Straße. Sie
weinte nicht, aber der Sohn wußte, ihr blutete das Herz in dieser
Abschiedsstunde. Da sagte er rasch: »Fritz, mitziehen kannst du nicht,
das weißt du, aber du kannst mir etwas zuliebe tun. Willst du?«

Fritz nickte heftig, ehe er aber noch eine Antwort geben konnte, bat
sein Lehrer: »Geh oft zu meiner Mutter, besuche sie und habe sie lieb.
Sieh mal, sie ist nun so allein. Sie braucht jemand in dieser Zeit!«

Heinrich Fries hielt Fritz die Hand hin, und der schlug fest ein. »Ich
will,« sprachen seine Augen, und der junge Lehrer sagte nur: »Ich danke
dir.«

Das war der Abschied zwischen den beiden. Fritz rannte davon,
querfeldein, es brauchte keiner zu sehen, wie traurig er war. Heinrich
Fries aber ging mit seiner Mutter die Apfelstraße hinab bis zu dem
kleinen Bahnhof. Der war heute so voller Menschen, als sei Steinach auf
einmal eine Stadt geworden. Aus ein paar Nachbardörfern trafen sie hier
zusammen, zehn Mann waren es, die mit dem jungen Lehrer zusammen die
Heimat verließen. Sie hatten Blumen an Röcken und Mützen stecken und
sangen wie viele Millionen in diesen Tagen: »Deutschland, Deutschland
über alles!«

Das Bähnchen pustete heran, an drei Haltestellen hatte es schon
Reisende aufgenommen. Die standen an den Fenstern, schwenkten die Hüte
und riefen den Steinachern zu: »Hurra, nun kommen die Schelme von
Steinach. Na, vor denen reißen die Franzmänner sicher aus.«

Die Steinacher nahmen den Scherz nicht übel. Frohgemut kletterten sie
in die Wagen. »Die Feinde sollen uns kennenlernen,« jauchzten sie, »die
Schelme verstehen das Dreinschlagen!«

Der Zug brauste davon. Der Gesang verhallte, und die Zurückbleibenden
gingen still heim. Frau Fries blieb ein wenig zurück, sie wollte
allein sein. Als sie aber dann, ein Stückchen hinter den andern, die
Apfelstraße entlang ging, kletterte Schwetzers Fritze auf einmal aus
dem Graben heraus. Er schob, ohne ein Wort zu sagen, seine Hand einfach
in die der alten Frau. »Willst du mich heimbringen, mein Junge?« fragte
diese.

Fritze nickte und brummelte halblaut dazu: »Der Herr Lehrer hat’s
gesagt.«

Frau Fries dachte an ihres Sohnes Wort in letzter Minute: »Mutter, wenn
Fritz Schwetzer zu dir kommt, denke, er kommt von mir.« Sie hielt die
Bubenhand fest in der ihren, und so gingen sie beide still miteinander
in das Dorf zurück. An der Haustüre trennten sie sich, und Frau Fries
sagte laut: »Auf Wiedersehen!« Fritz dachte es nur, aber seine neue
Freundin verstand ihn doch.

Auch dieser Tag ging zu Ende. Der Abend dämmerte herauf, ruhvoll und
schön glänzten die Sterne am Himmel, und viele, viele Seufzer, viele
heiße Bitten stiegen zu ihnen empor. Die Züge fuhren unablässig durch
das Land, und selbst in Steinachs Stille hinein tönte ihr Brausen.

Frau Fries hörte es. Sie hörte das Ticken der Wanduhr, das schwere,
lange Schlagen des eigenen Herzens die lange Nacht hindurch. Endlich,
als der Morgen sich aus den Schleiern der Nacht löste, hielt sie es
nicht mehr aus im Zimmer, sie rüstete sich zum Ausgang und stieg leise
die Treppe hinab. Sie wollte Besenmüllers nicht stören, aber unten
am Fuß der Treppe tat sie doch einen Schrei, denn sie stieß an einen
weichen, dunklen Gegenstand. Zusammengerollt lag da etwas am Fuß der
Treppe.

»Meine Güte, nä, unsre alte Frau Lehrerin!« Frau Besenmüller hatte auch
nicht schlafen können vor Herzeleid um den Krieg. Sie riß ihre Türe auf
und zündete ein Streichholz an, der Flur lag noch in tiefem Schatten.
»I nä, so was,« schrie sie, »da liegt ja woll ’n Junge und schläft.«
Zisch, entzündete sie noch ein Hölzchen, und in dem kleinen Licht
erkannte Frau Fries Fritze Schwetzer in dem Schlafenden.

»Still, still, Frau Besenmüller,« mahnte sie rasch, »wir wollen den
Buben nicht wecken, ich trag’ ihn in mein Zimmer.«

»I nä!« Frau Besenmüller sperrte den Mund weit auf, noch schiefer als
sonst wurde der. Sie war so verdutzt, daß sie nichts mehr zu sagen
wußte, sondern vor lauter Verwunderung half, Fritze hinauf in das
Wohnzimmer von Frau Fries zu tragen. Auf das schöne, moosgrüne Samtsofa
wurde der Bube gelegt, und wieder sagte Frau Besenmüller nur »I nä!«
Weiter nichts.

»Gehen Sie leise aus dem Zimmer,« bat Frau Fries, und Frau Besenmüller
tat, als wäre die Elfenkönigin ihre Muhme, so schwebte sie. Dabei stieß
sie freilich an den Tisch, rannte zwei Stühle fast um, eckte am Schrank
an, die Tür rutschte ihr aus und fiel krachend in das Schloß, und
zuletzt purzelten noch ihre Holzpantoffeln die Treppe hinab, sie selbst
glücklicherweise nicht. Aber all dies Gepolter, Gekrach und Gelärm
störte Schwetzers Fritze nicht, der schlief ruhig weiter auf dem grünen
Samtsofa, so ruhig, als wäre das sein Bett.

Frau Fries saß neben ihm und freute sich über den kleinen stummen Gast.
Wie er nur in das Schulhaus gekommen war? Ob er sie vielleicht hatte
beschützen wollen und darum auf der Treppe geschlafen hatte? Trotz
ihres Leides mußte die Frau lächeln, und sanft streichelte sie den
Buben ein wenig. Von Frau Besenmüllers Gepolter war der nicht erwacht,
aber das sachte Streicheln machte ihn munter, er reckte und streckte
sich und sah dann die alte Frau Lehrerin namenlos verwundert an. Wo
kam die nur auf einmal her, und warum war sein Bett ein grünes Sofa
geworden? Aber Frau Fries verstand es mit einem zu reden, der für
jedes Wort Vorspann braucht. So nach und nach kam es heraus, Fritze
hatte wirklich seines Lehrers Mutter bewachen wollen und hatte sich
darum an die Treppe gelegt. Daheim war er so in der Mitte drin. Ein
paar große Schwestern gab es und ein paar winzige Brüderlein, und in
dem lebhaften Haus hatte es wohl niemand gemerkt, daß er fehlte.

»Wer im Schulhaus schläft, muß auch drin frühstücken,« meinte Frau
Fries. Sie richtete den Kaffeetisch, und Fritz saß nachher daran
wie ein Großer, nein, eigentlich wie ein Graf, dachte er. Und dann
entdeckte seine neue Freundin ein Loch in seiner Jacke, das flickte
sie ihm noch zu, und darüber wurde es dem Buben immer heimatlicher im
Schulhaus. Er seufzte ein wenig, als Frau Fries sagte: »Nun mußt du
aber nach Hause gehen.«

»Hm!« -- eine lange Pause -- »nachmittag komm’ ich wieder.«

»Das ist recht so, also auf Wiedersehen!« Frau Fries lächelte wieder,
und als ihr Besuch die Treppe hinabstapfte, dachte sie: »Wenn es doch
schon Nachmittag wäre!«

Sie brauchte sich freilich nicht vor der Einsamkeit zu fürchten, denn
sie blieb nicht allein. Kaum war Schwetzers Fritze mit hocherhobenem
Kopf stolz an Frau Besenmüller vorbei zur Türe hinausgegangen, da tat
sich die Türe schon wieder auf. »Als ob’s Schultag ist,« brummelte Frau
Besenmüller. Diesmal war es Pfarrers Regine. Die kam in ihres Herzens
Not zu Frau Fries. Sie wollte auch hinaus, wollte draußen pflegen,
helfen, ihre Kräfte regen, den Sturm miterleben, nicht im Winkel in
der Stille sitzen bleiben. Aber ihre Mutter war krank; konnte sie die
verlassen?

»Wie sollte das werden, wenn jeder von seinem Posten davonlaufen
möchte?« gab ihre alte Freundin zur Antwort. »Wer daheim Pflichten hat,
muß erst die erfüllen.«

»Aber draußen wird es so viel Arbeit geben, so viel Leid und Not!«
klagte Pfarrers Regine.

»Warten Sie nur ab, mein Kind, das Leid kommt auch zu uns, auch hier
wird es Arbeit geben, hier werden Sie trösten und helfen können.«

Klipp, klapp ging’s draußen, und Frau Besenmüller lief ins Zimmer
hinein. Sie vergaß alle Höflichkeit, vergaß anzuklopfen, sie jammerte
laut: »Bei Traugotts, den Müller-Traugotts, ist ’n kleines Mädel
angekommen, un nu muß heut’ der Mann weg un beide Knechte. Nä, und die
Male, was das Mädchen ist, heult, weil ihr Schatz mit muß. Sie will
nach Wiesen gehen, Abschied nehmen. Nä, so was!«

Da küßte Pfarrers Regine die alte Frau Lehrerin und sagte tapfer: »Ich
will zu Traugotts gehen und der Frau helfen. Ich will in Steinach
bleiben auf meinem Posten.«

Klipp, klapp ging’s wieder draußen. Diesmal klopfte der Besucher an,
fest und laut, Frau Besenmüller riß die Türe auf und schrie: »Nä, so
was, nu ist Schwetzers Fritze schon wieder da!«

»Ich darf bleiben.« Fritze druckste die Worte heraus und sah strahlend
zu seiner neuen Freundin auf.

»Ih, das könnt’ uns gerade passen,« knurrte Frau Besenmüller, »so ’n
Nichtsnutz zur Ferienzeit im Schulhaus! Nä, git’s nicht, raus mit dir!«

»Frau Besenmüller möchte gern Wasser getragen haben, Fritze; willst du
das wohl tun?« fragte Frau Fries in ihrer sanften Weise.

»Hm,« Fritze nickte nur. Er wußte, wo die Eimer standen, wußte, wo der
Brunnen war; die alte Frau Lehrerin wünschte es, also ging er und trug
Wasser. Frau Besenmüller aber saß in ihrer Küche auf der Ofenbank und
sagte nur immerzu: »Nä, so was, die Welt dreht sich um und um, nu trägt
mir Schwetzers Fritze Wasser, und draußen ist Krieg.«

Frau Besenmüller gab dann freilich das Verwundern bald auf, zu viele
Wunder geschahen in dieser Zeit. Da schwiegen im Lande Streit und
Hader, eigensüchtige Ichmenschen wurden freundliche Helfer, alle
dachten sie nur: »Das Vaterland ist in Gefahr, Herr Gott, hilf uns!«

Die Glocken sangen über die Lande, Fahnen wehten: Sieg, Sieg! In
den Siegesjubel hinein aber tönte die Klage: »Ostpreußen in Not, in
Ostpreußen hausen die Russen, als wären die Zeiten des Dreißigjährigen
Krieges angebrochen.«

Pfarrers Regine lüftete die Fremdenzimmer, überzog Betten, suchte
Truhen und Schränke durch, das Pfarrhaus wollte Flüchtlinge aufnehmen.
Frau Fries aber ging von Haus zu Haus, und Schwetzers Fritze folgte
ihr. Sie bat um alles, was Hausfrauen entbehren konnten, der Landsleute
Not in Ostpreußen zu lindern. Die Steinacher Bäuerinnen gaben gern, und
im Schulhaus wurden Kisten gepackt für die Ostpreußen. Dazwischen kamen
die Frauen aus dem Dorfe und fragten: »Wie machen wir’s, daß unsere
Männer und Söhne alles richtig ins Feld bekommen? Dies soll verschickt
werden und das; wie packen wir es ein? Was schreiben wir darauf?«

Und immer wußte Frau Fries Rat. Frau Besenmüller brummelte freilich:
»Unsere alte Frau Lehrerin soll ja wohl zehn Hände und fünf Köpfe
hab’n. Nä, so was! Ein Getrample, ’s ist schlimmer, als wenn Schule
wär’.«

Und dabei rannte Frau Besenmüller doch selbst die Treppe auf, die
Treppe ab, als wäre sie sechzehn Jahre, nur um ihrer Hausgenossin zu
helfen. Am allerflinksten aber rannte sie, wenn sie von ferne den
Briefträger erblickte, aber sie erreichte ihn nie zuerst, immer war
Schwetzers Fritze schon da. Und Frau Fries erfuhr es schnell, wenn ein
Brief von ihrem Sohne da war. »Ein Brief vom Herrn Lehrer,« gellte
Fritzens Stimme auf. Vielfaches Echo antwortete, von da und dort kamen
Mädel und Buben gelaufen, und der Brief war wie ein König, der mit
großem Gefolge in sein Schloß einzieht.

Doch wie im Lehrerhaus, so wartete beinahe in jedem Bauernhaus eine
Mutter, eine Frau auf ein Wort, das von draußen hereinklang. Der alte
Briefträger Klöppel hatte kurz vor dem Kriege sein Amt aufgegeben
gehabt. Er lief nun aber wieder mit der Tasche, weil die jungen
Männer alle draußen waren, dachte unterwegs immer an die Briefe und
Karten, die er trug. Der hat geschrieben und der, überlegte er, aber
die Knöpfle wird warten, je, je, so lange kein Brief! Von Pfarrers
schreibt nur einer, eigentlich müßten’s zwei heute sein. Warum schreibt
der andere nicht? Ist dem was zugestoßen?

Früher hatten die Steinacher Mädel und Buben sich kein bißchen um
Briefe gekümmert, das waren für sie Dinge, an denen nur Erwachsene
Freude hatten. Jetzt war es auf einmal anders geworden, und als
Schwetzers Fritze selbst vom Herrn Lehrer eine Feldpostkarte bekam, da
beschlossen alle seine Kameraden und Kameradinnen: »Wir schreiben auch,
wir woll’n auch was kriegen.«

Etliche liefen auch geschwind zu der ganz kleinen, dicken Krämersfrau
Laura Langbein und verlangten einen feinen Bogen, aber nur etliche
feine Bogen wurden Briefe, die in den Krieg reisen konnten, auf den
andern wimmelten die Kleckse nur so herum wie Fliegen auf einem
Honigbrot.

Schwetzers Fritze hatte zwar drei Bogen verschrieben, aber zuletzt
hatte er doch einen vier Seiten langen Brief fertiggebracht.
Freilich standen auf jeder Seite nur fünf Wörter, doch das schadete
nichts. Brief ist Brief, und stolz zeigte er seinem Freund Arne das
Schriftftstück.

»Fein,« lobte der, »aber Briefe schreiben ist nischt, ich geh’ selbst
raus. Willste mit?«

»Nä.« Fritze sah den Freund verdutzt an, er schüttelte bedachtsam den
Kopf, das ging doch nicht.

Webers Arne war anderer Meinung. Er hatte sich schon alles fein
ausgedacht, einen richtigen Kriegsplan hatte er entworfen, und eifrig
erzählte er, wie er es machen wollte. Höchst einfach war es. »Gehste
mit?« fragte er wieder.

»Nä,« gab Fritze zur Antwort.

»Bist dumm,« brummte Arne und erzählte weiter. »Gehste mit?« fragte er
zum dritten Male, und wieder rief Fritze: »Nä.«

»Och, so feige!« kreischte Arne. Doch da verlor Fritze die Geduld,
puff, puff ging’s los. Einmal lag Arne unten, einmal Fritze. Weil
sie ziemlich gleich stark waren, bekam jeder Prügel. Der Kampf blieb
unentschieden, weil Frau Besenmüller mit ihrem Wappenzeichen, einem
Besen, dazwischentrat; mit Frau Besenmüller wollten sie aber beide
nicht kämpfen. Sie ließen sich los. Arne raffte seine Mütze vom Boden,
Fritze nahm den Brief vom Fenstersims, auf das er ihn vorsichtig gelegt
hatte, und im Davonlaufen schrie der eine noch: »Ich geh doch!« und der
andere: »Nä.«



[Illustration]



Zwölftes Kapitel

Zwei wollen Helden sein

    Frau Besenmüller sagt, es wären hundertvierunddreißig Strümpfe,
    und an einem Tag werden vier Strümpfe und zwei Buben vermißt --
    Zimplichs Max will auch hinaus -- Malchen Hinzpeter denkt nicht
    ans Mundhalten, und ein Bahnwagen fährt nicht immer dahin,
    wohin die Reisenden wollen -- Hindenburg unterhält sich nicht
    mit den Steinacher Buben, und Antwerpen fällt


Die Ruhestunden waren knapp in diesen ersten Kriegswochen. Doppelte
Last lag auf den Schultern der Daheimgebliebenen, und in Steinach
mußten auch die Kinder helfen die Ernte einbringen. Die Ferien gingen
vorbei, die keine Ferien gewesen waren, aber die Schule begann nicht,
der Lehrer fehlte. Zum lustigen Spiel blieb freilich wenig Zeit. Der
Schelmenacker lag öde, und auf dem Schafskopf hätten die Geister der
alten Schelme nach Herzenslust spuken können, es störte sie niemand.
Selbst Besenmüller saß nicht mehr auf der zerbröckelten Mauer im
Sonnenschein, der blieb auf der Bank vor dem Schulhaus sitzen. Da
hörte er es doch, wenn es wieder einen Sieg gab, oder wenn einer von
draußen geschrieben hatte. Dazu strickte er Strumpf um Strumpf, kein
Weiblein im Dorf konnte es flinker und besser als er. Hatte er wieder
ein paar Strümpfe fertig, dann seufzte er wohl und sagte zu seiner
Frau: »So hab’ ich’s mir nu mein Lebtag gewünscht, immer Wolle zu
haben, viel Wolle und stricken zu können alle Tage. Nä, und nu macht’s
mir kein rechtes Vergnügen.«

Eines Tages wusch Frau Besenmüller siebenundsechzig Paar rosenrote und
himmelblaue Strümpfe und hing sie vor dem Schulhaus zum Trocknen auf.
Sie fürchtete, sie könnten abfärben, und rote und blaue Beine sollten
die Feldgrauen draußen nicht bekommen. »Sie werden sich ohnehin ärgern
über die bunten Strümpe,« klagte die Frau, als sie die stattliche Reihe
überschaute.

»I nä, Lydia,« tröstete Besenmüller, »ob ’n rotes oder blaues Bein im
Stiefel steckt, ist gleich. So sehr ich for Strümpfe bin, Stiefeln sin
die Hauptsache.«

»Du hast alleweil recht,« sagte seine Frau. Sie schaute
bewundernd auf die bunte Pracht, wie ein Festschmuck sah sie aus.
»Hundertvierunddreißig Strümpe,« rief sie stolz, »nä, die beim Roten
Kreuz werden staunen!«

»Hundertdreißig,« brummelte Schwetzers Fritze von der Tür her. Dort
saß er und wartete auf Frau Fries; inzwischen hatte er die Strümpfe
gezählt. »Hundertvierunddreißig, du Naseweis,« rief Frau Besenmüller
ärgerlich, »was ich weiß, das weiß ich.«

»Nä, hundertdreißig.« Fritze blieb dabei.

Traugotts Hanne ging just vorbei, und Frau Besenmüller rief ihr zu:
»Hanne, wieviel Strümpe hängen hier?«

Hanne zählte stöhnend. »Hundertachtzehn!« rief sie.

»Hundertdreißig,« schrie Fritze.

»Hundertvierunddreißig,« zeterte Besenmüller.

»Hundertdreiundfünfzig.« Hinzpeters Malchen war dazugekommen; sie hatte
auch gezählt.

»Hundertdreißig,« rief nun auch Besenmüller, »Fritze hat recht.«

»Hundertvierunddreißig!« Frau Lydia wurde rot wie ein Krebs vor Ärger.
»Unsere alte Frau Lehrerin hat sie vorhin gezählt, und die kann’s.«

Zur rechten Zeit, so fanden alle, kehrte Frau Fries heim. Die zählte
noch einmal und noch einmal, es waren und blieben aber wirklich nur
hundertunddreißig Strümpfe, vier fehlten, denn auch Frau Fries sagte
es, vorhin wären es so viel gewesen.

»Die sind weggeflogen,« sagte Hanne und sah sich rundum.

»Da müßte der Wind gerade in deinem Korbe stecken,« spottete
Besenmüller. Es wehte wirklich kein Lüftchen. Der Tag war warm und
schön, er hätte ein Sommertag sein können, kaum war der Herbst zu
spüren.

»Die hat jemand geholt,« rief Frau Besenmüller zornig.

»I nä, ich hab’ doch alleweil hier gesessen!« Ihr Mann schüttelte den
Kopf. Wer sollte wohl in Steinach Strümpfe von der Leine wegtragen?
Solche Untaten mochten in Städten vorkommen, in Steinach nicht.

»Aber ’s waren doch hundertvierunddreißig,« jammerte Frau Besenmüller,
als Frau Fries einwarf, sie könnte sich vielleicht auch verzählt haben.

»Zählen, das kann ich, schreiben und lesen, nä, aber zählen fein. Und
hundertvierunddreißig Strümpe waren’s.« Dabei blieb Frau Besenmüller,
aber sooft sie es auch versicherte, die Strümpfe kamen nicht wieder,
und es wußte ihr auch niemand zu sagen, wohin sie gekommen waren.

Wenn vier Strümpfe auf einmal spurlos verschwinden, so ist das
sonderbar, viel sonderbarer aber ist es, wenn am hellen Tag zwei Buben
aus einem Dorf verschwinden, als hätte die Erde sie verschluckt.

Am Abend dieses schönen Herbsttages sagte Arne Webers Mutter ärgerlich:
»Der Junge ist nicht heimgekommen, seit Mittag sitzt er nun bei
Knöpfles.«

Knöpfles Haus lag am andern Dorfende, man ging sechs Minuten bis dahin,
und in Steinach nannten sie das einen weiten Weg. Frau Weber schickte
daher auch keinen Boten aus; kam Arne nicht heim, so schlief er wohl im
Knöpfle-Haus. »Morgen gibt’s Geschimpfe,« drohte nur die Mutter. Und
um die gleiche Stunde sagte dies Frau Knöpfle. Auch sie war ärgerlich,
daß ihr Jakobus seit Mittag bei Webers war, denn dahin hatte er gehen
wollen.

In dieser Zeit bedrängten die Bäuerinnen mancherlei Sorgen, und um die
Kinder, die daheim geblieben waren, konnten sie sich weniger kümmern.
Erst am nächsten Morgen -- schon war viel Arbeit im Hause getan -- lief
von Webers zu Knöpfles und von Knöpfles zu Webers je eine Magd, die
Buben heimzuholen. Die Botinnen kamen mit viel Geschrei zurück. Arne
war nicht bei Knöpfles und Jackenknöpfle nicht bei Webers.

Vielleicht waren sie bei Zimplichs, vielleicht bei der kleinen
Krämersfrau Langbein, vielleicht da, vielleicht dort? Erst war es ein
Fragen ohne Sorgen, aber wie der Tag weiter vorschritt und immer mehr
Leute im Dorf erklärten, sie hätten die Buben überhaupt nicht gesehen,
da wurden die Mütter ängstlich. Wo waren die nur? »Vielleicht auf dem
Schafskopf,« dachte der Bauer Weber, und er sagte nicht, wie jäh die
Angst riesengroß in ihm wurde, die beiden könnten oben in dem alten
Gemäuer verschüttet worden sein.

Er stieg selbst hinauf mit seinem alten Knecht, so schnell er konnte,
andere folgten, aber oben fanden sie alle nichts. Nicht einmal eine
frische Fußspur war zu sehen. Die Hagebutten glänzten rot wie vor einem
Jahr, als Heinrich Fries zum erstenmal auf dem Berg gewesen war.

Waren die Buben in den Wald gelaufen und hatten sich dort verirrt?
Steinacher Buben im Steinacher Wald verirrt! Es glaubte niemand
recht daran, immerhin begann man im Walde zu suchen. Der Förster war
eingezogen, nur der alte Waldhüter Michael war da, und der hatte an
diesem Tage keinen Buben im Walde erblickt.

Unten im Dorf vergaßen die Leute ihre Arbeit, je weiter der Tag
vorschritt. Immer ungeheuerlicher erschien ihnen das Verschwinden der
beiden Buben. Frau Besenmüller sagte wieder einmal zu ihrem Mann:
»Wenn uf emal zwei Buben un vier Strümpe verschwinden, dann hängt das
zusammen.«

»Hm!« -- Besenmüller sah nachdenklich auf seinen Strumpf, aber
plötzlich ließ er das Strickzeug fallen und schrie: »Lydia, die sind
vielleicht zu den Soldaten gerannt!«

Ein tiefer Seufzer gab Antwort. An der Türe stand Schwetzers Fritze,
der hatte so schwer geseufzt. Besenmüller sah ihn durchdringend an.
»Heda, mein Freund, du weißt etwas, raus mit der Sprache!«

Das ging nun freilich nicht so flink, und Frau Besenmüller tat das
Vernünftigste, was sie tun konnte, sie holte Frau Fries herbei. Die
wußte so lind zu fragen, und nach etlichen schweren Seufzern gab Fritz
endlich Antwort. »Die sin in ’n Krieg.«

»Wie denn das?« rief Besenmüller. »Einfach so nein, haste nich geseh’n,
da siehste, das geht doch niche. Wo sind sie hin?«

»Weiß nich,« stöhnte Fritz, »in ’n Krieg.« Und dann heulte er auf
einmal laut los, denn es tat ihm plötzlich bitter leid, daß er nicht
mitgezogen war. Er wußte auch wirklich nicht viel mehr; schreiben
wollten sie, wenn sie erst dort wären, und mit der Bahn fahren.

»Gut, dann kriegen wir sie,« tröstete der Pfarrer, als er das hörte.
»Irgendwo werden sie eines Tages hungrig und verzagt aufgefunden und
nach Hause zurückbefördert werden.«

Nun riefen es die Drähte ins Land hinaus: In Steinach haben zwei Buben
in den Krieg gewollt, sucht, sucht, sucht!

Ein Tag verging und noch ein Tag, keine Kunde von den Verlorenen
kam. Der Bahnvorsteher in Steinach hatte die beiden nicht gesehen,
aber in Rothaus, dem nächsten Ort, hatten sich an dem Tage zwei
Buben Fahrkarten bis zur Schnellzugshaltestelle L. genommen. So viel
Geld mochten sie gehabt haben, aber mehr nicht. Wo waren sie dann
hingekommen?

In L. wußte erst niemand etwas von den beiden. Der Pfarrer und Bauer
Weber -- Jackenknöpfles Vater war auch im Feld -- fuhren selbst hin,
forschten und fragten. Viel wußte niemand, nur ein Bahnwärter erzählte,
er hatte die beiden Buben gesehen, einer hätte ein Gewehr gehabt und
jeder einen Schulranzen.

»Das wird meine alte Windbüchse sein,« brummte der Bauer, »vor der
läuft kein Hase mehr davon, geschweige ’n Franzose.«

Wo waren die Buben aber mit Ranzen und Schießgewehr hingekommen? In L.
verlor sich ihre Spur, Fahrkarten hatten sie dort nicht gelöst. Waren
sie geradeswegs in die fremde Welt hineingelaufen?

»Die finden wir schon,« sagten die Bahnbeamten. Und wieder surrte der
Telegraph: Sucht, sucht, sucht, hier weinen Mütter in Angst um ihre
törichten Buben.

»So eine Not fehlt uns auch noch!« schalten in Steinach die
Erwachsenen. Die Buben, von den sechsjährigen an, die redeten anders.
»Vielleicht kommen sie doch in den Krieg,« sagten sie untereinander.
»Wenn sie hinkommen und mittun, dann geh’ ich auch,« erklärte Zimplichs
Max.

»Ich auch, ich auch,« riefen dann gleich ein paar andere. Alle wollten
sie gehen, und die Mädel schalten darob, fuchswild wurden die, waren
bitterböse auf Arne und Jackenknöpfle und weinten, wenn es hieß: »Noch
immer keine Nachricht.«

»Im Krieg müssen Mädel den Mund halten,« sagte Zimplichs Max einmal
hochmütig, als Hinzpeters Malchen und ihre Freundinnen auf Arne
schalten. Aber Zimplichs Max mußte dann bald einsehen, daß Malchen
auch in Kriegszeiten nicht an das Mundhalten dachte. Zehnmal versuchte
Max, ihr zu antworten, er kam aber nicht dazu, und zu guter Letzt rief
Fräulein Regine noch, es sei Strickzeit. Da rannten alle Mädel wie der
Wind davon, Malchen drehte sich noch auf den Hacken um und schrie
verächtlich: »Wir stricken fürs Vaterland, aber ihr, ihr, was tut ihr
denn?«

Weg war Malchen, und alle Buben entrüsteten sich über diese Frechheit.
Nä, die Mädel sollten nur sehen, wenn sie alle erst Arne und
Jackenknöpfle folgten. Die kommen hin, ganz sicher, und vielleicht
kriegen sie das Eiserne Kreuz, und vielleicht redet der Kaiser mit
ihnen, und vielleicht fangen sie den Franzosenkaiser und --

»Die haben doch keinen!«

»Doch, sie haben einen!«

»Ha, ich weiß es doch!« Zimplichs Max sah sich kampfbereit um, und
Heine Langbein höhnte: »Nä, so dumm, das niche zu wissen!« Die Buben
fuhren sich in die Haare, und Frau Besenmüller sagte zu Frau Fries:
»Wenn nur erst wieder Schule wäre, ’s wird Zeit!«

Und just um die gleiche Stunde ungefähr wurde in L. ein Güterzug
zusammengekoppelt. Die Wagen wurden hin- und hergeschoben, sie
pufften aneinander, endlich standen sie in Reih und Glied. Wie sie so
stillhielten, klang aus dem einen heraus ein jämmerliches Gebrüll.

»Je, je, was ist denn das?« Der Schaffner trat erstaunt an den Wagen,
riß die Türe auf, und heraus purzelten und schwankten bleich, verheult
und zitternd Webers Arne und Jackenknöpfle.

»Hopsassa, das sind ja die beiden Steinacher!« schrie der Mann. »Ja, wo
kommt ihr denn her?«

»Wir woll’n in ’n Krieg!« riefen beide etwas kläglich.

»Na, das ist der nächste Weg, wenn ihr drei Tage hier auf dem Bahnhof
sitzt. Wie seid ihr denn in den Wagen hineingekommen?«

Tief seufzend erzählten die beiden ihre Schicksale. Sie hatten kein
Geld gehabt, Fahrkarten zu lösen, und hatten sich heimlich auf den
Bahnhof geschlichen. Hier hatten sie einen Wagen gesehen, an dem stand
Straßburg, in den waren sie hineingekrochen. Kaum waren sie drin, hatte
jemand den Wagen zugeschlossen, und die Fahrt war losgegangen. »Wir
sind immerzu gefahren,« versicherte Arne. »Sind wir nun bald im Krieg?«
fragte er bedrückt.

»Im Krieg? Seid froh, daß der so ferne ist! In einer halben Stunde
fährt der Zug nach Steinach, da seid ihr zum Vesperbrot daheim.« Der
Bahnvorsteher, der dazugekommen war, lachte und erklärte den Buben, der
Wagen sei zwischen L. und M. ein paarmal leer hin und her gefahren. Nun
waren sie wieder in L.

Die beiden senkten die Köpfe wie die begossenen Pudel. So nahe waren
sie der Heimat, waren gar nicht nach Frankreich gelangt. Heimlich
frohlockte in ihren Herzen ein Stimmlein: »Wie gut, wie gut!« Aber
darauf mochten sie nicht hören, und verzweifelt heulten sie los: »Wir
woll’n in den Krieg!«

»Wohin wollt ihr Dreikäsehoch?« Eine feste, starke Stimme fragte das;
ein hochgewachsener, älterer Offizier war herangetreten, und der
Vorsteher klärte ihm den Fall auf. »In den Krieg zieht man nicht mit
dem Schulranzen.« Der Offizier sagte es ernst, aber er lächelte dabei.
»Kommt einmal mit, ich will euch etwas vom Krieg erzählen, bis euer Zug
kommt.«

Die Bahnbeamten machten dem Offizier ehrerbietig Platz. Man sah es
ihm an, er war schon draußen gewesen in Kampf und Not. Ganz verwirrt,
geblendet von der Tageshelle nach dem langen Aufenthalt in dem
dämmrigen Wagen, folgten die Buben. Sie bekamen Brot und Saftwasser,
aber so hungrig und durstig sie auch waren, denn die Vorräte aus der
Mütter Speisekammer hatten für die lange Reise nicht gereicht, sie
vergaßen doch Essen und Trinken vor dem, was sie hörten. Von dem
Krieg erzählte der fremde Offizier, von dem schweren, harten Kampf,
dem verzweifelten Ringen gegen anstürmende Übermacht. Im Osten hatte
der Erzähler mitgekämpft, und er erzählte von verbrannten Dörfern,
zerstörten Heimstätten, fliehenden Bewohnern, und er erzählte, wie
unermüdlich deutsche Männer das Land verteidigten. Im Kugelregen, im
nimmerruhenden Feuer hatten sie gestanden Stunden und Tage, und dann
waren sie marschiert, Stunden um Stunden, Tage um Tage, hungernd,
dürstend, aber sie hatten alle nur das eine gedacht: »Es ist fürs
Vaterland.« Es hatte keiner geklagt, es war keiner verzagt, singend
waren sie in den Tod gegangen. Und ob die Sonne glühend über ihnen
brannte, ob sie durch Moor und Wasser waten mußten, ob der Regen sie
durchnäßte, in Wunden und Schmerzen hatten sie nur an ihr Vaterland
gedacht. Das war der Krieg, in den die Buben mit dem Schulranzen ziehen
wollten.

Die beiden Buben saßen still mit gesenkten Köpfen am Tisch. Der Fremde
sagte nicht: Ihr seid recht dumme, unbedachte Jungen gewesen, was wollt
ihr mit euren schwachen Kräften da draußen? Aber sie hörten beide doch
in ihren Herzen diese Worte.

»Nach Steinach, einsteigen,« rief der Schaffner ihnen zu.

Der Offizier sprang auf und schob sie beide rasch dem Zuge zu. Sie
wurden in einen Wagen gehoben, die Türe wurde zugeschlagen, der Zug
setzte sich in Bewegung, und die beiden sahen noch eine Weile den
fremden Offizier groß und stattlich in der Sonne stehen. Wie ein
rechter Held stand er da. Da stöhnte Arne schwer und sagte scheu: »Am
Ende war das Hindenburg.«

Jackenknöpfle schnappte nach Luft vor Überraschung. »Hindenburg!«
Weiter konnte er zuerst nichts sagen, und auch Arne flüsterte es nur
nach: »Hindenburg!«

Der Gedanke an dieses ungeheure Erlebnis linderte ihren Kummer über die
verfehlte Reise, auch die Angst vor dem Empfang daheim war nicht groß.
Vielleicht hatten sie wirklich Hindenburg gesehen, nun konnten sie doch
etwas erzählen. Zuletzt wuchs ihre Ungeduld, und sie konnten es kaum
erwarten, wieder in Steinach zu sein. Als der Zug hielt, hatten sie es
sehr eilig, den Wagen zu verlassen. Sie wollten rasch die Apfelstraße
entlang laufen und ins Dorf stürmen mit dem Ruf: »Wir haben Hindenburg
gesehen!« Fein würde das werden, -- es kam aber anders. Auf dem
Bahnsteig standen Arnes Eltern, Jackenknöpfles Mutter und der Pfarrer,
denen liefen die beiden Ausreißer gerade in die Arme.

Der Schreck darob fuhr ihnen in die Glieder, und es dauerte ein
Weilchen, ehe sie reden konnten.

Wo sie gewesen wären, wollten die Erwachsenen wissen. Die hatten nur
die Nachricht von L. bekommen, die Buben wären gefunden. Da mußten sie
erzählen von ihrer Fahrt hin und her im Güterwagen von L. nach M. und
wieder von M. nach L.

»’n ganzen Tag sind wir gefahren,« versicherte Arne.

»Unsinn, drei Tage! Ihr habt wohl immer geschlafen?«

Ja, das mochte wohl sein, geschlafen hatten sie viel, auf Stroh und
Decken, die im Wagen gelegen hatten.

Was sie gegessen hätten, wollten die Mütter wissen.

Das war eine peinliche Frage, denn Mütter lieben es nie sehr, wenn
Kinder sich in die Vorratskammer schleichen. Arne half sich, er schrie:
»Wir haben Hindenburg gesehen!«

»Prahlhans!« Schwapp hatte er einen tüchtigen Katzenkopf weg. Sein
Vater sah ihn zürnend an. »Geflunkert wird nicht!«

»Vielleicht war er’s doch,« stammelte Jackenknöpfle. Recht kleinlaut
erzählte er das letzte Erlebnis. »Ihr Dösköppe,« brummte Bauer Weber,
»ein Hindenburg hat was anderes zu tun als mit zwei Ausreißern zu
reden.«

Der Pfarrer nickte ernst. »Der reist nicht im Lande herum, im Osten
hält er Wacht. Gott sei Dank, der uns solchen Wächter gab!«

Da war es nun nichts mit dem Sturm in das Dorf hinein, und doch
kamen sie mit Jubel an. Denn kaum waren sie wenige Schritte von dem
Bahnhöfchen entfernt, als der Vorsteher ihnen eiligst nachgelaufen kam.
»Sie haben Antwerpen, Herr Pfarrer, Antwerpen ist unser, eben wird’s
gemeldet.«

Antwerpen erobert! Da vergaßen die Männer die Strafrede, und die Mütter
hatten sie ohnehin schon vergessen in der Freude, ihre unnützen Buben
heil wiederzuhaben.

Froh ging’s ins Dorf hinein. Nun konnten die Glocken rufen und die
Fahnen wehen: »Sieg, Sieg, Sieg!«

Arne und Jackenknöpfle marschierten einher, als wären sie wirklich
draußen gewesen, als hätten sie geholfen Antwerpen erobern. Sie hoben
stolz die Nasen, und ein Weilchen fühlten sie sich beinahe als Helden,
weil alle sie anstaunten. Aber nur ein Weilchen hielt der Stolz an,
dann kam die Vergeltung für begangene Missetaten. Einem Racheengel
gleich schoß Frau Besenmüller aus der Türe mit dem Rufe: »Meine Strümpe
her! Wo habt ihr meine Strümpe?«

Die Buben wurden feuerrot, himmelgern hätten sie jetzt wieder im
verschlossenen Güterwagen gesessen, es half aber nichts. Sie mußten
ihre Ranzen öffnen, und da kamen wirklich die vermißten Strümpfe zum
Vorschein. »Die waren doch für Soldaten, und weil wir doch Soldaten
werden wollten, darum -- --«

»Darum lirumlarum! Setzt euch auf den Schafskopf. Da paßt ihr hin,
da habt ihr gleich den rechten Namen,« schrie Frau Besenmüller
erbost. »Nä, so was, die scheenen Strümpe! Und gestimmt hat’s doch,
hundertvierunddreißig. Ja, zählen, das kann ich. Aber Zeit wär’s, die
Schule finge an, sonst kommen noch mehr Buben auf dumme Gedanken.«

[Illustration]



[Illustration]



Dreizehntes Kapitel

Advent in Sorgen

    Jemand kommt auf der Apfelstraße daher, und der alte
    Briefträger Klöppel sagt: »Morgen, morgen!« -- Weihnachtspakete
    werden gepackt, und diesmal erzählt Vater Hiller eine
    Geschichte, und die Mütter denken an ihre Söhne, Malchen aber
    stimmt die Wacht am Rhein an


Ein paar Tage nach Arnes und Jackenknöpfles Heimkehr war es, da kam
vom Bahnhof her ein alter Mann die Apfelstraße entlang. Er ging ganz
langsam, blieb auch einmal stehen und sah sich um, und obgleich es
ein trüber Tag war und der Nebel die Ferne verhüllte, schien dem
alten Mann doch alles sonderlich gut zu gefallen. Kurz vor dem Dorfe
bogen von einem Feldweg etliche Kinder auf die Apfelstraße ein. Sie
hatten Kartoffeln gegraben und sahen wie richtige Erdmännlein aus. Der
Fremde blieb stehen und ließ die Kinder herankommen; die musterten ihn
neugierig, aber nur wenige Augenblicke stutzten sie, dann schrieen sie
plötzlich alle wie aus einem Munde: »Herr Hiller, unser Herr Hiller!«

Es war wirklich Vater Hiller und kein anderer, der da auf der
Apfelstraße von Steinach stand und all die kleinen schmutzigen Hände
herzlich in die seinen nahm. Die Kinder meinten, er sei zu Besuch
gekommen, aber bald erfuhren sie es, Vater Hiller wollte wieder ihr
Lehrer sein. Er wollte seinen jungen Nachfolger vertreten, bis der
heimkam.

»Vater Hiller ist wieder da!« Der Ruf lief durch Steinach wie eine
Siegesnachricht, und wie bei einer solchen strömten die Leute aus den
Häusern. Vater Hiller war da, ihr alter, guter Vater Hiller, den mußten
sie doch sehen. Dem alten Mann streckten sich so viele Hände entgegen,
so viele Leute kamen, ihm guten Tag zu sagen, daß er nur ganz langsam
vorwärts kam. Frau Besenmüller im Schulhaus verging fast vor Ungeduld.
»Keinen Empfang, nischte nich hat er gewollt, un nu is ’n Lärm im Dorfe
wie beim Vogelschießen,« schalt sie. Die große Schulglocke hatte sie im
Arm, denn damit wollte sie den alten Lehrer begrüßen. Tüchtig klingeln
wollte sie, die Glocke sollte rufen: »Hurra, hurra!« Endlich näherte
sich der Zug langsam dem Schulhaus, und nun hielt es Frau Besenmüller
nicht mehr aus, sie wollte ihr Freudenklingeln beginnen, aber ihre
Hände zitterten vor Aufregung, die Klingel entrutschte ihr und kollerte
Vater Hiller vor die Füße.

Der hob sie lächelnd auf. »Ei, die kann es wohl nicht erwarten?« sagte
er heiter und schwenkte sacht die Klingel. Die tönte ein wenig, nur als
wollte sie fein bescheiden »Willkommen!« sagen.

So zog Vater Hiller ohne stürmisches Klingelgeläut in seinem lieben
Schulhaus wieder ein, und am nächsten Morgen stand Frau Besenmüller
wieder vor der Türe, wie schon viele Jahre, und die Glocke schrie: »Es
ist Zeit, Zeit, die Schule fängt an! Fleißige und Faule herbei, herbei!«

Die Kinder kamen gern, und als die so lange verschlossene Schulstube
sich wieder auftat, da wurde es ihnen ganz heimatlich zumute. Auf
einmal behaupteten sie alle miteinander, sie hätten die Ferien schon
recht satt gehabt; aber auf die Weihnachtsferien freuten sie sich doch
alle.

Den Erwachsenen war es nicht weihnachtlich ums Herz in diesem Jahr.
Die horchten alle hinaus, hin nach des Reiches Grenzen. Immer weiter
tobte dort der Kampf. Der November kam mit grauen, trüben Tagen, da
kehrte Trauer ins Pfarrhaus ein: der älteste Sohn war gefallen. Der
alte Briefträger sagte, als er die Nachricht überbrachte: »Es ist eine
schwere Zeit für unsereinen, man trägt so viele Sorgen aus.« Dabei
sah er trüb nach dem Schulhaus hinüber. Da drinnen wartete Frau Fries
seit zehn Tagen auf einen Brief des Sohnes. »Morgen kommt der Brief,«
versicherte der alte Briefträger, »morgen sicher.«

Am nächsten Tage -- gegen Mittag kam die Post erst ins Dorf -- rannte
Fritze Schwetzer weit hinaus auf die Birnenstraße; von dorther kam der
Bote, vielleicht brachte er heute den ersehnten Brief.

Der Alte winkte schon von weitem abwehrend mit der Hand. »Gibt nichts,
morgen, morgen -- vielleicht.«

Schwetzers Fritze raste zurück. Vor dem Schulhaus stand schon Frau
Fries, da tat es der Bube dem alten Briefträger nach, schüttelte auch
mit dem Kopf: »Morgen, morgen sicher!« Aber er sagte »sicher« dazu.

Und wieder wurde es Mittag, und wieder wartete Schwetzers Fritze weit
draußen auf der Straße, und der alte Bote schüttelte wieder den Kopf.
»Heute nicht, aber morgen -- vielleicht.«

So ging es fort Tag um Tag. Einmal stand Fritze nicht mehr allein weit
draußen, Pfarrers Regine stand neben ihm, die wollte auch wissen, ob
Heinrich Fries nicht geschrieben hatte. Aber wieder schüttelte der
Briefträger den Kopf. »Morgen -- vielleicht,« sagte er, wie schon so
viele Tage, und dann seufzte er: »Eine schwere Zeit, schlimm, schlimm!«

Tag um Tag verging so. Immer wieder lief Schwetzers Fritze hinaus, und
Fräulein Regine ging mit ihm, und immer kehrten sie beide enttäuscht
heim und sahen die alte Frau aus dem Schulhaus schon den Weg entlang
kommen. »Kein Brief, keine Nachricht!«

Dann endlich eine Karte von einem Kameraden. Heinrich Fries wurde
vermißt. War er tot, war er gefangen? Man wußte es nicht.

»Vermißt!« Es sah niemand in Steinach die alte Frau Lehrerin weinen,
still tat sie ihre Arbeit, still half sie andern, aber wenn die Leute
diese stille Frau durch die Gasse schreiten sahen, dann sagten sie
zueinander: »Der bricht das Herz.«

Im Pfarrhaus trauerten sie um den einen Sohn, aber die Pfarrersleute
waren noch reich, und die junge Regine tat den Eltern alle Liebe an.
Sie hatte aber auch immer noch Zeit, in das Schulhaus hinüber zu
laufen, gerade wie Schwetzers Fritze, der halb im Schulhaus wohnte. Er
machte seine Arbeiten an Frau Fries’ Tisch, er half Frau Besenmüller,
und wenn seine alte Freundin durch das Dorf ging, da ging er mit, immer
drei Schritte hinterher. Redselig war Fritze noch immer nicht, aber mit
Frau Fries unterhielt er sich doch gut, da brauchte er nur drei statt
zehn Worte zu sagen, gleich verstand sie ihn. Und wenn er einmal später
kam, dann sah sie schon nach ihm aus, atmete tief und sagte wohl: »Gut,
daß du da bist, Fritz!«

Der erste Schnee sank auf Steinach nieder, und er blieb liegen und
schmolz nicht gleich wie wohl in den großen Städten. Die Adventszeit
brach an, und wenn die Kinder untereinander waren, dann redeten sie
doch von Weihnachten, aber je näher das Fest kam, desto weniger wollten
die Erwachsenen davon wissen. Und doch lud auch dieses Jahr Frau
Fries die Kinder wieder zur Adventsfeier ein. Zu einem Arbeitsfest,
sagte sie, alle sollten ihr helfen, Weihnachtsgrüße zu packen. Nach
Ostpreußen sollten noch Pakete gehen, ins Elsaß und zu den Feldgrauen
in die Schützengräben, in denen sie in Regen, Schnee, Sturm und Kälte
hausten.

Diesmal kamen die Kinder nicht allein, auch die Mütter kamen mit, und
das große Schulzimmer war fast zu klein für alle Gäste. Besenmüller saß
wieder im Winkel und strickte, jetzt aber einen grauen Strumpf, und die
Bäuerinnen strickten auch. Die Kinder dachten alle, Besenmüller würde
vielleicht eine Geschichte erzählen. Erst warteten sie still, dann
fragten sie laut, doch Besenmüller schüttelte traurig den Kopf: »Nä,
nä, ich weiß nur was von den alten Schelmen, und das paßt nicht für
heute.«

»Keine Geschichte?« klagten die Kinder.

Frau Fries seufzte. Eine Geschichte erzählen, ja, das gehörte zu einer
Adventsfeier, aber ihr Herz war ihr so schwer, es tropfte und rann
unablässig darin, es weinte. Vater Hiller saß auch im Schulzimmer, und
als die Kinder so um ihre Geschichte klagten, da nickte er Frau Fries
zu und sagte: »Ich will euch heute eine Geschichte erzählen, eine
selbsterlebte dazu. Besenmüller sagt, eine Schelmengeschichte paßt
nicht in diese Zeit, aber eine aus dem Krieg von 1870/71, die kann es
wohl sein.«

»Vater Hiller war nämlich dabei,« flüsterten sich die Bäuerinnen zu,
und die Kinder spitzten die Ohren; hoho, ihr alter Lehrer war auch im
Krieg gewesen.

Der begann: »Die großen Schlachten des Krieges waren schon geschlagen,
ihr wißt: Gravelotte, Sedan, all die herrlichen Siege. Wir lagen vor
Paris. Ein kalter Winter war’s, wir haben weidlich gefroren, und wir
hatten viel auszustehen. In Frankreich kämpften auch jene gegen uns,
die nicht Soldaten waren, Männer und Frauen. Heimlich, hinterlistig
suchten sie uns zu verderben; es sind ihnen viele von uns zum Opfer
gefallen.

Im Quartier lag ich mit einem blutjungen Burschen zusammen. Heinrich
will ich ihn nennen. Ein feiner, hübscher Junge war es, mit
einem freien, hellen Blick. Dazu stimmte gar nicht sein stilles,
verschlossenes Wesen. Es war leicht zu merken, er trug einen Kummer,
der hatte ihn so ernst, fast finster gemacht. Durch einen Zufall erfuhr
ich, was ihn quälte. Er war einer Witwe einziger Sohn, und er hatte
sich das Hinausgehen ertrotzt. Von der Schule weg war er mitgegangen,
nur kämpfen für das Vaterland, das war sein einziger Gedanke. Keine
Mutterbitte hatte ihn gehalten.

Seine Mutter war eine zarte Frau, die Sorge um ihr einziges Kind hatte
sie aufgerieben. Sie war erkrankt, hatte es lange dem Sohn verborgen,
bis der es durch Verwandte erfuhr. Da quälte ihn die Sorge so, daß er
stumm und verschlossen darüber wurde. Immer wieder fragte er sich, ob
er unrecht getan, daß er ging. Aber dem Vaterland zu dienen, war doch
Pflicht und Ehre. Einen bitterschweren Kampf kämpfte der arme Junge in
aller Stille durch.

Es war um die Weihnachtszeit. Wir dachten viel an die Heimat,
und manchmal, wenn wir so hinübersahen nach Paris, da sangen wir
wohl halblaut die lieben deutschen Weihnachtslieder. Am dritten
Adventssonntag war es, da mußte Heinrich Wache stehen. Er hatte vorher
noch nachgefragt, ob ein Brief für ihn gekommen sei. Nein, es war
keiner da. Ich sah es ihm an, wie groß seine Enttäuschung war, und als
er fort war, fiel es mir ein, heute war sein Geburtstag. Einmal hatte
er halb scherzend, halb traurig gesagt, er sei ein Adventskind.

Am Geburtstag keinen Brief von der Mutter zu erhalten, von der Mutter,
die krank war, ihm vielleicht zürnte, das mochte hart sein. An diesem
Tag erhielten wir dann zufällig noch eine Postsendung, eine Anzahl
Briefe, einer für Heinrich war auch dabei. Ich nahm ihn an mich und
wollte ihn später abliefern, aber wunderlich, der Brief in meiner
Tasche machte mich unruhig. Ich war frei, und so überlegte ich nicht
lange, ich ging dahin, wo Heinrich die Wache hatte. Lesen konnte er den
Brief dort nicht, so hell war der Abend nicht, aber er wußte doch, die
Mutter hatte geschrieben, schon das mochte ihn freuen.

Ich ging also den Weg, ging ganz allein und dachte an die Heimat. Würde
ich nächstes Jahr Weihnachten wieder daheim sein? Ein leises Geräusch,
wie ein huschen von Schritten, ließ mich aufsehen. Ich sah vor mir zwei
dunkle Gestalten auftauchen und verschwinden -- Freischärler.

Ich spannte mein Gewehr, schlich langsam vorsichtig weiter, leise, ganz
leise, und dann plötzlich sah ich seitwärts jemand knien, eine Büchse
zielend gespannt in der Richtung, wo Heinrich auf Wache stand. Ich habe
nicht lange überlegen können, laut rief ich: »Wer da?«

Ein Schuß von mir, einer von dort, noch einer, der Mann überschlug
sich, aber er mußte noch nicht schwer verletzt sein, ich sah zwei
fliehende Gestalten.

Rasch vorwärts! Heinrich, war mein Gedanke. Er war unverletzt. Mein Ruf
hatte ihn aufmerksam gemacht, er hatte noch Deckung suchen können, er
hatte auch geschossen, wußte aber nicht, ob er jemand getroffen hatte.

Die Schüsse waren von unsern Leuten gehört worden, Hilfe kam herbei.
Wir durchsuchten die Gegend, fanden aber niemand. Die Wache wurde
verstärkt, und die Nacht ging ruhig vorüber.

Den Brief habe ich Heinrich gegeben, den Brief der Mutter, der ihm
eigentlich das Leben gerettet hatte. Nur um des Briefes willen hatte
ich ihn aufgesucht, und ohne mein Dazwischenkommen wäre der Anschlag
sicher geglückt. Am nächsten Tage hat mir Heinrich den Brief gegeben,
es war ein lieber, mutiger Brief, ein rechter, herzwarmer Mutterbrief.
Die einsame Frau klagte nicht, mutig, tapfer schrieb sie dem Sohn.
An seinem Geburtstag dankte sie ihm, daß er hinausgezogen war in den
Kampf für das Vaterland. »Ich bin stolz auf dich, mein Junge,« schrieb
sie ihm. »Und das ist so wundervoll, wenn eine Mutter dies an ihr Kind
schreiben kann, schreiben darf: Ich bin stolz auf dich. Ich war schwach
und kleinmütig, aber der Gedanke an meinen tapferen, pflichttreuen Sohn
hat mich stark gemacht.«

Heinrich ist heimgekehrt, seine Mutter hat auch sonst stolz auf ihn
sein dürfen. Er lebt noch heute, das Vaterland nennt ihn einen seiner
größten Gelehrten. Seine Mutter hat sich noch lange an ihm freuen
können.«

Der alte Lehrer schwieg. Die beiden Adventslichtchen auf dem dicken
Kranz, der an roten Bändern von der Decke herabhing, flackerten, und
ein Tannenzweiglein knisterte schwelend. Es war ganz still im Zimmer,
feiertagsstill.

Hinzpeters Malchen, die nicht singen konnte und doch so singlustig
war, dachte, nun müsse man singen. Aber ein Weihnachtslied wollte ihr
nicht aus der Kehle dringen, sie war viel zu kriegerisch gesinnt, und
plötzlich tat sie ihren Mund auf und sang so falsch als möglich: Es
braust ein Ruf wie Donnerhall ...

»Falsch,« riefen ein paar. Aber die andern redeten nicht, sondern
fielen richtig ein, übertönten Malchens falsche Töne, und der Gesang
schallte hinaus in die Winterstille. Ein paar Mütter saßen mit
gesenkten Häuptern, und jede dachte, vielleicht behütet auch meinen
Sohn mein Denken und Gebet.

Die Adventsfeier dehnte sich lange aus. So lustig war sie nicht wie vor
einem Jahre, aber zuletzt gingen doch alle zufrieden heim. Sehr viele
Pakete und Kisten waren gepackt worden, so viele fleißige Arbeit ruhte
darin. Und doch sagte die alte Frau Lehrerin zu Pfarrers Regine: »Man
muß noch mehr tun. Die Not ist groß!«

Frau Weber, Arnes Mutter, war eine kluge, tätige Frau, die es auch
verstand, über Steinachs Grenzen zu schauen. Sie hatte zudem Verwandte
drinnen im Elsaß, und sie erzählte allerlei, wie es dort zuging.
Befreien wollten die Franzosen das Land, so sagten sie, und hausten
darin, daß es zum Erbarmen war.

Pfarrers Regine hatte einen Brief mitgebracht, den eine Freundin der
Mutter geschrieben hatte. Aus Ostpreußen kam er, darin wurde erzählt,
wie die Russen gekommen waren über Nacht, und wie alles in Flammen
aufgegangen war. Und von der Russennot kam das Gespräch wieder auf
Held Hindenburg und auf andere Helden. Die Erwachsenen redeten, die
Kinder hörten zu, die Weihnachtslieder wurden vergessen, und erst als
spät alle auseinander gingen, rauschte noch einmal das alte, schöne
Lied auf: »Wie soll ich dich empfangen und wie begegnen dir?«

Und dann tat Frau Besenmüller die Haustür auf, und alle gingen heim.
Am nächsten Tag erhielt Frau Fries die Nachricht, ihr Sohn sei
schwerverwundet in französische Gefangenschaft geraten. Wo er sei, ob
er noch lebe, wußte man nicht. Verwundet und gefangen!

Die Frau preßte die Hände an ihr Herz, festhalten mußte sie es, stark
und tapfer sein. Noch lebte vielleicht der Sohn, vielleicht kehrte er
ihr doch zurück. Am gleichen Tage seufzte der alte Briefträger wieder:
»So lange trag’ ich nun schon die Post herum, aber so schwer war’s noch
nie, nä, noch nie.« Er hatte in ein Haus in Steinach die Nachricht
gebracht, daß der Mann gefallen sei. Der Schmiede-Franz war es, eine
junge Frau weinte sich fast die Augen aus, und Frau Fries ging zu ihr
und stand ihr bei in ihrer Not.

Und so kam Weihnachten heran, und es war still und feierlich. Es war
kein Freudenfest, aber die Herzen taten sich viel, viel weiter als
sonst auf, den Heiland zu empfangen.



[Illustration]



Vierzehntes Kapitel

Silvias Tat für das Vaterland

    Warum Silvia Traugott keine Strümpfe strickt, und was sie
    alles tun will -- Malchen sieht beinahe wie ein Junge aus,
    die Öllampe zerbricht, Fräulein Regine kommt, und zwei werden
    wieder die allerbesten Freundinnen


Unter den Kindern von Steinach gab es ein Mädchen, das redete nicht
viel mehr als Schwetzers Fritze. Aber während sich der Bube manchmal
ärgerte, daß ihm das Reden gar so schwer wurde, fühlte sich Silvia
Traugott so wohl in ihrer schweigsamen Stille wie jemand, der viele
Stunden seines Lebens in einem schönen, blumenreichen Garten verträumt.
Silvia war das einzige Kind ihrer Eltern, sie hatte aber Vettern und
Basen genug, denn in Steinach saßen auf vier Höfen Traugotts, die waren
alle versippt miteinander. In den Krieg hatte Silvias Vater nicht
mitziehen können, er hatte ein steifes Bein von einem Sturz vom Wagen
her, aber trotzdem wurde bei den Traugotts nicht weniger vom Krieg
gesprochen und nicht weniger daran gedacht als in andern Häusern.

Immer saß Silvia still dabei. Sie fragte und sagte nichts, sie ging
einher, als wäre kein Krieg auf der Welt. Ihre Mutter bekümmerte das
manchmal, und sie mahnte oft: »Silvia, strick’ an deinem Strumpf, denk’
an die Soldaten draußen!«

Dann strickte die Kleine wohl rasch ein paar Nadeln, aber meist ließ
sie die Arbeit bald wieder sinken und träumte vor sich hin. »Traumsuse«
nannte ihr Vater sie, auch Fräulein Regine sagte manchmal so, auch die
mahnte: »Silvia, dein Strumpf! Willst du gar nichts für die Soldaten
tun?«

Dann wurde Silvia feuerrot; sehr traurig machte sie so eine Frage,
denn sie hatte den sehnsüchtigen Wunsch, viel, sehr viel für die
Soldaten, für das Vaterland zu tun. Silvia hatte einmal von einem
Mädchen gelesen, das in großer Kriegsnot erschienen und allen voran in
die Schlacht gezogen sei, um ihr Volk zum Sieg zu führen. Daran mußte
Silvia immer denken, und sie hätte himmelgern auch so etwas getan.
Oder sie wäre gern mitten in die Schlacht hineingelaufen und hätte den
Soldaten Wasser gebracht oder die Verwundeten gepflegt. Seit Krieg war,
dachte Silvia nicht mehr an ihre Märchen wie früher, sie träumte nicht
mehr mit offenen Augen von goldenen Schlössern, Königen, Prinzessinnen,
von aller Lust und Pracht des Märchenlandes, sie dachte nur immer an
den Krieg.

Sie dachte, vielleicht kommen die Feinde einmal nach Steinach; ich
merke es zuerst, dann rufe ich es im Dorfe aus, ganz laut, und in
die Kirche renne ich und läute selbst die Glocke, und alle werden so
gerettet.

Die kleine Silvia wußte nicht viel von der Welt draußen, nicht, wie
weit sich die Länder dehnen, sie dachte, im Kriege müßte es so zugehen
wie in ihren Märchenbüchern: Puff, puff! und die Kriege waren gleich
aus. Als dann Webers Arne und Jackenknöpfle ausgerissen waren, um
geschwind in den Krieg hineinzulaufen, da klopfte ihr das Herz vor
Sehnsucht. Sie wäre gern mitgezogen, und sie überlegte ganz ernsthaft,
ob sie nicht nachrennen sollte. Sie lief auch die Birnenstraße entlang,
denn Frau Besenmüller hatte gesagt, dorthin ginge es nach Frankreich.
Wie sie aber so weit gelaufen war, daß sie Steinach nicht mehr sah,
überfiel sie eine furchtbare Angst vor der weiten Fremde, und sie
kehrte geschwind wieder um.

Die Buben kamen zurück, und im Dorfe lachten sie über die verunglückte
Reise in den Krieg. An diesem Tage gerade las Silvias Vater einen
Brief aus dem Felde vor, darin stand: »Vier Tage sind wir bis hierher,
bis an die russische Grenze gefahren!«

Vier Tage! Der kleinen Silvia verging aller Mut, jemals in den Krieg zu
kommen und draußen Heldentaten zu verrichten, und da Steinach wirklich
inmitten des deutschen Vaterlandes lag, sagten alle: »Zu uns kommt nie
der Krieg. Gott sei Dank!«

»Man kann auch im Lande Kriegsarbeit tun,« sagten die großen Leute.
Silvias Mutter meinte: »Strick’ fleißig, jeder Soldatenstrumpf hilft
den Krieg gewinnen.«

Das verstand Silvia nun ganz und gar nicht. Was hatten die dicken,
grauen, häßlichen Strümpfe mit glänzenden Heldentaten, mit Sieg und
Ruhm zu tun?

Als daher die Weihnachtspakete gepackt wurden, lag von jedem Mädel, das
in Steinach stricken konnte, eine Arbeit dabei, nur Silvia Traugotts
Strümpfe waren nicht fertig. Alle sagten, das sei eine Schande. Silvia
schämte sich auch sehr, aber trotzdem träumte sie weiter von großen
Taten, wenn sie stricken sollte, und vergaß darüber ihre Arbeit.

Die Kinder redeten viel davon, daß ihr junger Lehrer Heinrich Fries
gefangen sei. Silvia weinte heiße Tränen um ihn. Sie meinte, er säße
nun in einem finstern, dunklen Turm und müßte hungern. Wenn es nur
nicht so weit gewesen wäre, und wenn sie nur den Weg gewußt hätte,
sie wäre gleich zu ihm gewandert, hätte ihm Essen gebracht und ihn
vielleicht auch befreit. Ja, wären nur die vielen dummen Wenn und Aber
nicht gewesen, diese bösen Wörter, die sich stets so höhnisch in die
allerschönsten Pläne hineinschieben! Immer, wenn Silvia sich etwas
recht schön ausgedacht hatte, kam so ein Wort, nahm den Plan und riß
ihn mitten durch, -- ritsch, ratsch, nichts war es damit.

Weihnachten kam, und Weihnachten verging. Die laute Freude schwieg, und
viele, viele Tränen flossen an dem sonst so frohen Fest. Gabentische,
die fast brachen unter der Fülle, kannte man auch in guten Jahren in
Steinach nicht, aber in diesem Jahr lagen in den meisten Häusern nur
wenige Geschenke unter dem Baum. Silvia bekam eine neue Schürze und ein
Buch, das hatte eine Base aus der Stadt geschickt. In dem Buch stand,
wie es vor hundert Jahren in Deutschland gewesen war, als jahrelanger
Krieg das blühende Land verwüstet hatte. Was Silvia da las, verwirrte
ihren kleinen Kopf ganz und gar. Da stand von einem Mädchen, das als
Soldat mit in den Krieg gezogen war, eine andere hatte sich ihre
langen Haare abgeschnitten als Opfer für das Vaterland. Warum sie es
getan, verstand Silvia zwar nicht recht, aber schön fand sie es, und
sie träumte nun wieder davon, es dem schönen, blonden Edelfräulein von
einst nachzutun. Es mußte doch etwas sehr Schönes, Großes sein, sich
die Haare abzuschneiden, wenn es nach hundert Jahren noch in einem
Buche erzählt wurde.

Silvia dachte an die abgeschnittenen Zöpfe und nicht an ihren Strumpf,
und als sie nach den Feiertagen zum erstenmal in die Strickstube ging,
wie es Fräulein Regine nannte, da war der Strumpf noch immer nur ein
unförmliches Ding. Die Strickstube tagte jetzt immer im Schulhaus,
Frau Fries half dabei, und Besenmüller war Ehrengast. »Der sitzt da
als Vorbild,« sagte seine Frau, »denn mein Besenmüller ist in der
Strickerei, was Hindenburg for die Soldaten ist.«

An diesem ersten Nachmittag las Frau Fries ein paar Briefe vor, die den
weiten Weg von Frankreich und Rußland bis nach Steinach gereist waren,
um den kleinen Mädeln von Steinach Dank für alle gestrickten Sachen zu
sagen. Für alle war der Dank, nur für das Traumsuschen Silvia Traugott
nicht. Ein Soldat schrieb, er hätte tagelang halb im Wasser gestanden,
hätte keine trockenen Strümpfe, gar nichts mehr gehabt, da wäre das
Paket von Steinach gekommen, und er hätte weinen müssen vor Freude über
alle die schönen Weihnachtsgaben. Frau Fries tat das Herz weh, als sie
es las, so wie jener hätte sich ihr Sohn wohl auch gefreut, aber ihr
Sohn war gefangen, noch hatte kein Gruß ihn erreicht. Sie wußte nicht
einmal, ob er noch lebte, ob er nicht schon einsam und verlassen im
Feindesland gestorben war.

Die Mädel hörten alle nicht, wie das Mutterherz weinte, sie waren alle
glückselig über die Briefe. Nun hatten sie doch etwas getan, hatten für
das Vaterland gearbeitet. Sie alle, alle, nur eine nicht, Silvia nicht.

Die saß wie erstarrt. So war es, wie der Soldat schrieb, im Wasser
standen sie, nicht trocken wurden sie, und sie freuten sich, wenn sie
Strümpfe bekamen, sie dankten dafür, als wären es die allerköstlichsten
Dinge.

»Ich glaube,« las nun Pfarrers Regine aus einem andern Briefe vor,
»in Steinach gibt es nur fleißige Mädchen. Wenn ich heimkomme aus dem
Krieg, dann komme ich auch nach Steinach und bedanke mich bei allen.«

»Bei dir nicht,« durchfuhr es Silvia, und ihr Kopf sank ganz tief auf
den Strumpf herab. O die Schande! Sich verkriechen hätte sie mögen vor
Scham.

»Ich hab’ beinahe wieder ’n Paar fertig,« schwätzte neben ihr Malchen
Hinzpeter. »Fein, was?«

Silvia gab keine Antwort, Tränlein um Tränlein rann auf das graue
Wollgespinst nieder. Ihre Hände zitterten, und auf einmal bekamen die
Nadeln die ungeschickten Hände satt, sie rissen aus, eine, dann noch
eine, die dritte hielt Malchen auf. Die sah das Unheil und sah Silvias
Schmerz, und hilfsbereit sagte sie schnell: »Ich helfe dir.«

Silvia hörte das kaum. In ihr stürmte es. Nichts, nichts hatte sie für
das Vaterland getan, gar nichts, und doch hatte sie so viel tun wollen.
Immer heftiger rannen ihre Tränen, und Malchen tröstete: »Die fang’ ich
schon, wein’ doch nicht!«

Aber Silvia dachte gar nicht an die entwischten Nadeln. Das Herz
brannte ihr. Oh, nur etwas tun können für das Vaterland, nur zeigen
dürfen, wie gut ihr Wille war! Ganz jäh kamen ihr die abgeschnittenen
Zöpfe des blonden Edelfräuleins in den Sinn. Ihre waren zwar dunkel
wie die von Malchen, aber das schadete gewiß nichts. Zopf ist Zopf.
Ihre Nachbarin hatte eine Schere vor sich liegen, die sah sie, obgleich
ihr die Tränen fast den Blick verdunkelten. Ach, ein Zopf ist schnell
abgeschnitten! Eins, zwei, drei, ritsch! nur flink gleich alle beide.

»Au!« kreischte Malchen neben ihr auf, »huhuhu, mein Zopf, mein Zopf!
Silvia hat mei -- --,« weiter kam Malchen nicht, sie brach in ein
wildes Jammergeheul aus.

Es war, als wäre ein Wirbelsturm in die Strickstube gefahren. Zuerst
wußte im wilden Hinundher niemand, was geschehen war. Malchen schrie
vor Schreck und Empörung immer lauter, ihre Nachbarinnen zeterten:
»Der Zopf, der Zopf!« Nur Silvia stand leichenblaß, stumm inmitten des
Wirrwarrs, zwei Zöpfe hielt sie in der Hand, der eine war braun, der
andere schwarz, aber rote Schleifen hatten sie beide.

»Traugotts Silvia hat Hinzpeters Malchen einen Zopf abgeschnitten, sich
selbst aber auch einen.« So nach und nach erst bekamen Frau Fries und
Fräulein Regine heraus, daß dies geschehen war. »Warum? Silvia, warum
hast du das getan?«

Silvia gab keine Antwort. Sie konnte nicht, sie tat ein paarmal die
blassen Lippen auseinander, aber kein Laut kam hervor. Frau Fries sah
es, die Kleine konnte nicht sprechen, sie nahm sie sacht bei der Hand
und führte sie zu sich hinauf. Vielleicht erschloß sich ihr allein das
scheue Herz. Aber Silvia brach oben nur in ein verzweifeltes Weinen
aus, sie weinte und weinte und hörte auch nicht auf, als ihre Mutter
kam.

Unten hatte sich Hinzpeters Malchen viel schneller über den verlorenen
Zopf getröstet. Sie lachte schon wieder, als Silvia oben vor Leid
noch fast verging. Zimplichs Lenchen hatte nämlich mitten in das
Jammergeheul hineingerufen: »Jetzt biste beinahe wie ’n Junge.«

Dies Wort trocknete wie der Wind Malchens Tränen. Wie ein Junge
herumgehen dürfen, kurzgeschnitten, ohne Zöpfe, von denen man doch
immer die Bänder verlor, das war noch eine Sache. Am liebsten hätte
sie nun geschwind gleich den zweiten Zopf abgeschnitten, doch das
litt Fräulein Regine nicht. Die schloß für heute die Strickstube und
erklärte, sie selbst wolle Malchen heimbringen. Das wollten aber alle
andern auch, und so wurde Hinzpeters Malchen wie eine Prinzessin
heimgeleitet. Fräulein Regine trug selbst den abgeschnittenen Zopf und
erzählte Frau Hinzpeter auch die merkwürdige Geschichte, und Malchen
kam sich ungeheuer wichtig vor. Die Mutter sah nicht gerade erfreut
aus, sie verwunderte sich sehr über Silvias Untat, aber sie war keine
Frau, die viel unnütze Worte machte. »Meinetwegen mag auch der zweite
Zopf herunter,« sagte sie, »so halbseitig kannste niche rumlaufen.« Und
ritsch, ratsch schnitt sie den zweiten Zopf ab, und Malchen jauchzte
laut, als wäre ihr das größte Glück widerfahren. --

Inzwischen war auch Silvia heimgekehrt unter dem Schutz der Mutter. Die
hatte das weinende, zitternde Kind zu Bett gebracht und hatte neben ihr
gesessen, bis sie meinte, es schlief.

Aber Silvia schlief nicht. Die lag wach im allergrößten Herzeleid.
Sie wußte kaum, worüber sie trauriger war, über den Zopf, den sie der
Kameradin abgeschnitten hatte, oder über ihre Faulheit. Plötzlich fiel
es ihr ein, wenn sie nun strickte, immerzu strickte, Tag und Nacht,
dann wurden doch die Strümpfe fertig. Sie stand auf und tastete sich
vorsichtig hinaus; sie wußte, wo Zündhölzer lagen und ein Öllämpchen
stand, das holte sie sich, nahm ihr Strickzeug und begann zu stricken,
Nadel um Nadel. Und auf einmal war der Strumpf fertig und gleich wieder
einer und immer mehr und mehr, die türmten sich auf, ein Berg wurde es,
ein hoher, hoher Berg, und oben saß Malchen Hinzpeter und schwang ihren
Zopf; sie schlug damit auf die Strümpfe, und merkwürdig, das klirrte
und klang, und Silvia schrie laut vor Schreck.

»Aber Silvia, um Gottes willen, was ist das?« Silvias Mutter war von
einem Klirren aufgewacht und hinübergelaufen in ihres Mädels Kammer.
Da lag das Laternchen zerbrochen am Boden; glücklicherweise war es
ausgegangen, und Silvia lag auf dem Bett, ihren Strickstrumpf fest
umklammernd. Sie war eiskalt, und danach wurde sie glühend heiß. Sie
hatte heftiges Fieber, und in dem Fiebertraum klagte sie immer, sie
wolle etwas für das Vaterland tun. Ein paar Tage war Silvia krank, und
in dieser Zeit erschloß sich ihr Herzlein der Mutter, von ihrem Willen
redete sie, viel, ja ungeheure Taten für das Vaterland zu vollbringen.

»Lieber Himmel,« sagte Frau Traugott, »was kann so ein Dreikäsehoch in
dieser furchtbaren Zeit tun!« Sie redete lind und gut zu ihrem Kind,
und dann lief sie zu Pfarrers und holte Fräulein Regine herbei. Die
kam auch, und sie wußte Silvia gut zu raten und zu helfen, sie hatte
ja selbst anfangs gemeint, die stille Arbeit daheim in Steinach sei zu
klein, zu unbedeutend.

»Ich will stricken,« sagte Silvia demütig und sah sich wieder nach
ihrem grauen Strumpf um.

»Erst gesund werden,« riet Fräulein Regine, »dann kommst du wieder in
die Strickstube.«

Silvia seufzte bang. In der Strickstube war Malchen, da waren alle
andern, die würden böse sein, würden spotten und lachen -- wie schwer
würde das sein!

Aber es wurde gar nicht schwer, denn Malchen Hinzpeter hatte ein gutes
kleines Herz, und als sie von Fräulein Regine hörte, Silvia sei
krank, da kam sie geschwind angelaufen. Sie versöhnten sich beide und
waren Freundinnen wie zuvor nach Besenmüllers Wort, der immer sagte:
»Beim Dummtun und Bösesein kommt nischte nich heraus.« Immer wieder
versicherte auch Malchen: »Fein is das ohne Zöpfe!«

Freilich, bei Silvias erstem Schulgang wollten die Buben spotten über
die zopflosen Mädel, aber da kamen sie bei Malchen schlecht an. Der ihr
flinkes Zünglein gab jedes Wort doppelt zurück, und zuletzt rief sie
stolz: »Und die Zöpfe wer’n verkauft, un für das Geld gibt’s Wolle, und
da stricken wir Strümpfe davon!« Sie sah die Necklustigen strafend an.
»Könnt ihr so was?«

Nein, Zöpfe konnten sie sich nicht abschneiden, und Strümpfe konnten
sie auch nicht stricken; trotz Besenmüllers Vorbild.

»Aber wir gehen selbst in ’n Krieg,« schrie Zimplichs Max.

»Ja, und ihr schlaft bei Tage in der Eisenbahn, un denn seid ihr wieder
da!« Da behielt Malchen das letzte Wort, und Silvia sah bewundernd
zu der mutigen Freundin auf. Wie die wollte sie werden, und fortan
strickte sie auch Strümpfe wie die andern Mädel von Steinach, dicke,
graue Soldatenstrümpfe.



[Illustration]



Fünfzehntes Kapitel

Die Krone

    Der alte Briefträger kommt nicht, und Fritze geht ihn suchen
    -- Das Wort von der Krone, und wie selbst Klöße mit Speck und
    Backbirnen nicht locken -- Fritze kehrt von Ringelheim zurück,
    und Frau Fries denkt: Der wird noch einmal ein rechter Mann


An einem Februartag stand Schwetzers Fritze wieder auf der Birnenstraße
und wartete wie schon so oft auf den Briefträger. Die Sonne schien
hell, und ein sanfter Wind wehte, wie Frühling war es, aber darauf
achtete Fritze gar nicht. Er dachte nur an den Brief, der immer und
immer nicht kam. Seit Frau Fries die Nachricht erhalten hatte, ihr
Sohn wäre schwerverwundet in die Hände der Franzosen gefallen, hatte
sie nichts wieder von ihm gehört. Jeden Tag lief Fritz dem Briefträger
entgegen, und jeden Tag stand Frau Fries am Schulhaus und sah den Buben
mit leeren Händen kommen. Sie hatte nach Genf geschrieben, dahin und
dorthin, aber noch nichts über den Sohn erfahren. Lebte er noch? Hatten
ihn die Franzosen auch nach Afrika geschafft wie so viele andere?

»Er kommt nicht wieder, er ist tot,« sagte die Mutter sich oft in den
langen, langen Nächten, wo alles ruhte in dunkler Stille und nur die
Sorgen wach waren.

»Er kommt nicht wieder, er ist tot,« sprachen auch die Leute von
Steinach untereinander. Nur Pfarrers Regine und Fritze Schwetzer
sagten: »Er kommt wieder!« Und dieser beiden unverzagte Hoffnung
richtete Frau Fries immer wieder auf. Dann läutete auch in ihrem Herzen
das Hoffnungsglöcklein: »Er kommt wieder, er lebt!« --

Wo nur der Briefträger blieb? Fritze spähte scharf in die Ferne. Einsam
lag die Straße, niemand kam. Der Bube stapfte weiter. Es war zwar
Mittagszeit, aber das bekümmerte ihn nicht, seine Mutter hatte ohnehin
gesagt: »Wenn’s um den Brief für die alte Frau Lehrerin ist, nu, da mag
das Spätkommen schon sein.«

Fritze dachte nicht einmal daran, daß es heute eines seiner
Leibgerichte gab: Klöße mit Speck und Backbirnen, er hatte nur den
einen Gedanken, vielleicht kam heute, gerade heute der Brief. Aber
soviel er auch lugte, der Briefträger kam nicht.

Im Dorf schlug die Uhr. Ein Uhr schon! Das Mittagessen war vorbei,
und fast eine Stunde wartete er schon. War der alte Bote so lange im
nächsten Dorf geblieben? Fritzes Magen knurrte, aber der Bube trabte
weiter. Wiesen, das Nachbardorf, lag noch eine halbe Stunde entfernt,
vielleicht war der Briefträger dort, und er fand ihn, und wenn der
Brief da war, dann wollte er zurück mit dem Wind rennen.

Fritz rannte. Er sah nicht rechts, nicht links, und beinahe überhörte
er die schwache Stimme, die seinen Namen rief: »Schwetzers Fritze, Gott
sei Dank, lauf doch niche fort!«

Verdutzt sah sich Fritz um. Da unter einem Baum kauerte der alte
Briefträger, er hatte den Kopf an den rauhen Stamm gelegt, und selbst
Fritz sah es, der alte Mann war krank. Mit einem Satz war der Bube
neben ihm, sein Mund schwieg, aber seine Augen fragten, und der Kranke
verstand diese stumme Frage. »Ich komm niche mehr weiter, aber der
Brief ist da.«

»Der Brief!« jauchzte Fritz und vergaß darüber des alten Mannes Not.
Der lächelte matt. »Ja, er is da, und eures Herrn Lehrers Name steht
darauf, also er lebt. Und siehste, das hätt’ ich nu zu gern der alten
Mutter gebracht. Nä, nu is das niche!«

Er seufzte tief und versuchte seine Tasche zu öffnen, aber die Hand
sank ihm matt zurück. »Fritze«, stöhnte er, »jetzt gibste mir deine
Hand, daß du alles tust, wie ich’s sage, nimm deinen Verstand zusammen!«

[Illustration: Die Schelme von Steinach. Seite 229.]

Fritze legte seine Hand in die des alten Boten, kraftlos war die und
kühl, und nur mühsam redete der: »In Steinach gibste alles ab, was
dahin gehört, un dann läufste nach Ringelheim, denn da warten auch ’n
paar Frauen so arg auf Briefe, un grade heut’ sin se da. Verlier aber
nischte! In Ringelheim gibste alles dem Küster, der macht’s schon, un
denn kommste nach Steinach zurück -- -- un vielleicht bin ich dann da.«
Er nestelte mühsam seine Tasche ab. Fritze wollte sie nehmen, aber der
Alte hielt sie fest. »Niche so schnell! So ’ne Tasche is was Heiliges.
Weißte, wenn dir ’n König seine Krone geben möcht’ und sagt: »Heb se
auf!« das is justament so, als ob ich dir meine Tasche geb. Verstehste
mich?«

Fritz nickte. Es war ihm seltsam feierlich zumute. Auf einmal, er wußte
nicht, wie es ihm in den Sinn kam, dachte er, der alte Briefträger
Klöppel ist auch wie ein Soldat auf dem Schlachtfeld.

»Fritze,« mahnte der Alte noch, »hörste, du mußt aber auch reden, in
Steinach sagen, wie’s is mit mir, un in Ringelheim auch. Und rennen
darfste niche, auch jetzt niche, ’s könnt was aus der Tasche fallen,
aber dich auch niche aufhalten, ja niche! Versprichste mir das?«

»Ja,« sagte Fritz und sah dem Alten fest in die Augen.

»Un reden mußte, Fritze, alles sagen.«

»Ja.« Fritz seufzte, das war schwer, aber es mußte sein. Er griff
wieder nach der Tasche, und wieder hielt sie der alte Briefträger
fest. »Wie ’n König seine Krone, justament so is das.« Er strich fast
zärtlich über das abgeschabte Leder. »’s ist mir schwer geworden jetzt
das Tragen. Ja ja, schwer. Aber weißte, Fritze, ’s war auch fürs
Vaterland. Weil die Jungen fort sind, müssen’s die Alten tun. Ja ja! Un
wenn du jetzt gehst, Fritze, denk’ dran, ’s ist auch fürs Vaterland.
Niche rennen, un dann reden -- -- meine Krone trägste, Fritze, meine
Krone, merk’ dir’s.«

»Ja,« sagte Fritze wieder, und seine Stimme tönte wie eine Glocke.
Da gab ihm der Alte die Tasche. »Um mich brauch’ keiner sorgen, das
is ganz scheene so in der lieben Gottessonne« -- -- er sprach nicht
weiter, er nickte nur dem Buben noch einmal zu.

Der trabte von dannen. Er schritt rüstig aus, aber er rannte nicht, er
rannte auch nicht, als er von weitem Frau Fries kommen sah. Es zuckte
ihm freilich in den Füßen, er wäre ihr am liebsten entgegengestürmt,
hätte ihr den Brief hingehalten, aber sein Versprechen zwang ihn, und
er ging nicht einen Schritt rascher.

»Fritze,« rief Frau Fries ihm entgegen, »wo bleibst du? Wo ist der alte
Klöppel?«

»Der Brief!« Fritz hielt ihn hoch empor, und da endlich konnte er ihn
in die Hände der Mutter legen. Die faßte nach ihrem Herzen, das tat
laute Freudenschläge, der Brief kam von ihrem Sohn -- er lebte.

Sie konnte kaum mit ihren bebenden Fingern den Umschlag öffnen, und ein
paar Augenblicke tanzten ihr die Worte vor den Augen, alles flimmerte
und flirrte. »Er lebt, er lebt! Du gütiger Gott, mein Sohn lebt!«

Nur einen Augenblick blieb Fritz stehen, einen sehnsüchtigen Blick
warf er auf den Brief. Was mochte darin stehen? Doch sein Versprechen
zwang ihn vorwärts, und sein Versprechen zwang ihn zu reden, er sagte:
»Klöppel ist krank, ich muß die Briefe austragen und nach Ringelheim
gehen.«

Zum erstenmal achtete Frau Fries nicht auf das, was Fritze Schwetzer
sagte, und der ging still weiter und ließ die Mutter mit dem
Sohnesbrief allein.

Vor dem Schulhaus stand Besenmüller, und auf den trat Fritze zu und
erzählte das Geschehene. Er sparte Worte, aber er sagte alles. »Lieber
Himmel,« rief Besenmüller, »der alte Klöppel liegt auf der Straße, den
müssen wir reinholen.«

Vater Hiller kam dazu, und noch einmal erstattete Fritze Bericht. »Ich
muß nu weiter,« sagte er, »ich muß noch nach Ringelheim.«

»Es mag jemand hinfahren,« meinte Vater Hiller, aber Fritze entgegnete
ernsthaft: »Nä, ich hab’s versprochen, die Tasche niemand zu geben.«

Der alte Lehrer spürte aus des Jungen kargen Worten die große Bürde
heraus, die auf dessen Schultern lag, er sah aber auch, da war Wille
und Kraft, die übernommene Aufgabe zu vollenden, und er sagte ruhig:
»So geh! Wir wollen rasch dafür sorgen, daß Klöppel ins Dorf gebracht
wird.«

Schwetzers Fritze ging weiter, von Haus zu Haus. Überall mußte er
sagen, was geschehen war, und immer sagte er gleich dazu: »Ich muß
aber gehen.« Ins Pfarrhaus kam er, da rief er aber schon von weitem:
»Fräulein Regine, der Brief ist da, der Herr Lehrer hat selbst
geschrieben.«

»Er lebt!« jubelte Fräulein Regine, und dann lief sie fort, lief nach
dem Schulhaus hin und hörte nicht einmal darauf, was ihr Freund Fritz
noch zu sagen hatte. Fritze ärgerte sich nicht darum, er fand es
selbstverständlich, und dann -- er mußte ja auch weiter, die Briefe
austragen und nach Ringelheim wandern.

Er kam auch in sein Elternhaus, und seine Mutter eilte ihm ängstlich
entgegen. »Fritze, wo bleibst du?«

Der Bube gab Antwort, auch hier so knapp und kurz wie überall. Doch
seine Mutter war nicht damit zufrieden, die meinte: »Erst mußte zu
Mittag essen, und die Briefe, die kann unsere Emma nach Ringelheim
tragen.«

»Nä,« sagte Fritze, »ich hab’s versprochen.«

»Aber essen mußte, dein Mittag steht warm.«

Klöße mit Speck und Birnen dazu. Bei dem Gedanken daran spürte
Fritze, wie leer sein Magen war, ganz leer, das Wasser lief ihm im
Munde zusammen, er sagte aber fest: »Nä, kann nich essen. Ich hab’s
versprochen, die Tasche kriegt niemand.«

Die Mutter wollte widersprechen, aber als sie so in das entschlossene
kleine Bubengesicht sah, fühlte sie es, sie durfte ihn nicht hindern,
sein Wort zu halten. »Dann geh nur,« sagte sie, »trag’ die Briefe
weiter.«

Fritz tat einen Seufzer, nickte der Mutter zu und ging von Haus zu
Haus. Als er ans Dorfende kam, wo die Pflaumenstraße nach Ringelheim
abbog, stand seine Mutter dort, die steckte ihm einen Apfel in die
Tasche und gab ihm eine tüchtige Schnitte in die Hand. »Wirst doch
hungrig sein.«

»Danke,« sagte Fritze nur und stapfte weiter, Schritt um Schritt,
nicht zu schnell, nicht zu langsam. Einmal war’s ihm, als müßte er
sich umsehen, und als er rasch im Weitergehen rückwärts schaute, stand
seine Mutter noch am Wege und sah ihm nach. Das tat ihm gut, wie ein
zärtliches Wort der Mutter empfand er das stille Nachschauen.

Er mußte immer daran denken, was der alte Briefträger von der Krone
gesagt hatte. War’s so? Die Krone war die Arbeit, die einer tat, sein
Amt?

Der Wind hatte sich gedreht, er blies jetzt scharf von Osten her, er
brachte auch graue Wolken mit, die die glänzende Sonne überschatteten.
Einzelne Flocken fielen, dann kam Regen, der wurde heftiger und schlug
dem Buben ordentlich boshaft in das Gesicht. Den bekümmerte das nicht
viel. Er knöpfte nur seine Jacke auf und schob, so gut es ging, die
dicke, schwarze Tasche darunter. So erreichte er Ringelheim, und im
Küsterhaus sagte er seine Botschaft. Der Küster war zur Hilfe bereit,
die Post wurde ausgetragen, und Fritze konnte wieder heimwärts wandern.

In Steinach sagte es ihm eine Frau beim ersten Haus im Dorf: »Der alte
Klöppel liegt in der Schule, ach, er wird vielleicht schon tot sein.«

Fritze erschrak. Wenn der Briefträger tot war, dann konnte er doch
nicht mehr sehen, daß er die Tasche zurückbrachte, und unwillkürlich
begann er zu rennen. Aber gleich fiel ihm des Alten Mahnung ein; in der
Tasche waren noch allerlei Postsachen, die konnten verlorengehen, und
gleich ging er langsamer. Er kam auch noch zur rechten Zeit, er konnte
noch dem alten Briefträger die schwarze Tasche übergeben, und der gab
ihm die Hand und murmelte leise: »Haste alles besorgt?«

Fritz holte tief Atem und gab Bericht. Und dann, als er fertig war,
rief er mit einer ihm fremden Raschheit: »Hat jeder so ’ne Krone,
Klöppel? Wie ist das denn?«

»Das ist jedem seine Arbeit, sein Amt, das, wofür einer lebt -- und
stirbt.« Die letzten Worte klangen ganz matt, der alte Mann seufzte,
nicht schwer, sondern wie einer, der sich einer getanen Arbeit freut.
Er legte den Kopf zur Seite, faltete die Hände über der schwarzen
Tasche und schloß die Augen.

»Er will schlafen,« sagte Vater Hiller, der am Lager saß, »er ist müde
vom Leben. Geh du nun heim, Fritz.«

Der Bube ging nach der Tür, er trat so leise auf, so leise er konnte,
aber er ging nicht die Treppe hinab, sondern den Gang bis zu dem
Zimmer, in dem Frau Fries wohnte. Dort bekam er nun wirklich den Brief
seines Lehrers zu hören. Viel stand nicht darin, denn viel durften
die Gefangenen nicht schreiben. Heinrich Fries schrieb, es ginge ihm
leidlich gut, er sei lange, lange krank gewesen, nun wäre er aber
wieder ziemlich gesund. Daß er schon oft geschrieben hatte, teilte er
mit. Von der Heimat schrieb er, vom Wiedersehen; ganz froh klang alles,
und Fritze Schwetzer sah strahlend drein, ihm schien es, als sei nun
alle Sorge gelöst. Und weil er an diesem Tage nun schon so viel geredet
hatte, erzählte er auch seiner alten Freundin seine Erlebnisse. Auch
das Wort von der Krone sagte er, nur scheu, undeutlich, aber Frau Fries
verstand ihn doch. Sie beugte sich plötzlich über ihn und sagte mit
einer seltsam schweren Stimme: »Unser Vaterland ist auch eine Krone,
für die wir leben und sterben -- und leiden müssen.«

Der Bube saß ganz still, er ahnte nicht, daß die Mutter Leiden,
schweres Leiden aus dem Sohnesbrief herausgelesen hatte. Aber er
fühlte, da war etwas nicht so wunderherrlich, wie er es sich gedacht
hatte. Er wußte aber nichts zu sagen, und er sah die alte Frau
Lehrerin nur treuherzig an. »Nu muß ich gehn,« brummte er endlich. Und
nach einer Pause fügte er hinzu: »Ich komm’ noch mal wieder.«

»Heute nicht, du wirst müde sein und hungrig, Fritz, ich danke dir.«

Schwetzers Fritze stapfte zur Tür hinaus, und er ging so leise die
Treppe hinab, so leise es seine knarrenden Stiefel erlaubten, der
alte Klöppel schlief ja. Oben sah Frau Fries dem Jungen nach, und sie
dachte, wie seine Mutter zu Mittag auf der Landstraße gedacht hatte:
»Der wird noch einmal ein rechter Mann.«

[Illustration]



[Illustration]



Sechzehntes Kapitel

Heimkehr

    Es geschah viel, und Pfarrers Regine steigt auf den Schafskopf
    hinauf -- Fritze fährt nach L., es merkt aber niemand etwas
    davon, und Frau Besenmüller hält ihn für ein Gespenst -- Eine
    Unterredung im Holzstall -- In Steinach wird Hochzeit gefeiert,
    und die Kinder schreien hurra auf der Apfelstraße


Der alte Briefträger Klöppel wanderte nun nicht mehr auf der
Birnenstraße nach Steinach hin. Der war wirklich eingeschlafen für
alle Zeit, und seine geliebte schwarze Tasche trug ein anderer. Der
brachte die Nachrichten von Leid und Freud in die Dörfer, von großen
Siegen, von stolzen Taten, aber immer und immer nicht die ersehnte
Friedensbotschaft.

In Steinach war es nicht anders als in allen deutschen Städten und
Dörfern. Die Daheimgebliebenen schafften fleißig und sorgten um jene,
die draußen standen. Ein paar Bäuerinnen trauerten um ihre Männer, und
Hinzpeters Malchen kam eines Tages in großem Herzeleid in die Schule:
ihr Vater war gefallen. Da hatte Silvia Traugott viel zu tun, um der
Freundin beizustehen, und sie vergaß darüber noch mehr ihre Träume von
großen Wundertaten. An herzhaftem Mitleid fehlte es nicht. Selbst die
Buben sannen darüber nach, womit sie das Malchen wohl erfreuen könnten,
und sie kamen schließlich überein, sie wollten Malchen ein Tier fangen,
einen jungen Hasen, ein Rehlein vielleicht etwa, denn Malchen hatte an
allem Getier eine besondere Freude.

Es lenzte draußen schon an Hängen und Grabenrändern, an Büschen, die
in der Sonne standen, grünten Knospen und winzige Blättchen, und manch
ein kleines Hasenkind wurde um diese Zeit geboren. Im Walde war die
Aufsicht jetzt nicht so streng, und eines Nachmittags zogen ein halbes
Dutzend Steinacher Buben hinaus, um ein Tier zu fangen. Aber sie
brachten nur einen Igel heim und einen Maulwurf, und vor beiden graulte
sich Malchen schrecklich. Schelte gab’s obendrein. Das Tierfangen
im Walde war streng verboten. Die Buben bekamen so schwere Strafen
angedroht, daß ihnen die Lust zu weiteren Raubzügen verging. Also
ließen sie das Trösten sein.

Der Frühling kam, und er war so blütenreich, so voller Glanz und
Schöne, als wollte er liebreich den Menschen in ihrem großen Jammer
beistehen. Es blühte an allen Ecken und Enden, und kaum jemals hatte
es auf dem Schafskopf so viele Veilchen gegeben wie in diesem Jahr.
Aber Pfarrers Regine wollte in diesem Jahr keine Veilchenkränze zu
ihrem Geburtstag haben, und die Veilchen verblühten ungepflückt. An
ihrem Duft, ihrer Lieblichkeit freute sich Regine aber doch. Sie stieg
an ihrem Geburtstag allein auf den Schafskopf hinauf; lange saß sie
dort unter dem alten Gemäuer. Sie weinte bitterlich, denn sie trug ein
heimliches Leid im Herzen. Wie sie aber so weinte, so unendlich traurig
war, spürte sie den Veilchenduft. Der umschmeichelte sie, der zwang
sie, an den Frühling zu denken, an Sonnenschein und an Freude. Und ganz
leise sang sie vor sich hin, und im Singen löste sich ihre Traurigkeit.
Sie sang:

    »Die Welt wird schöner mit jedem Tag,
    Man weiß nicht, was noch werden mag,
    Das Blühen will nicht enden!
    Es blüht das fernste, tiefste Tal:
    Nun, armes Herz, vergiß die Qual,
    Es muß sich alles, alles wenden!«

Um die gleiche Stunde wohl dachte ein Mann an Steinach am Wald, der
in einem fremden Land in einem Zuge fuhr. Er trug einen abgetragenen
feldgrauen Rock, und die mit ihm waren, glichen ihm. -- Ein seltsamer
Zug war es. Lager reihte sich an Lager, Schwerverwundete, Krüppel
durften heimkehren aus Frankreich ins deutsche Vaterland.

Der Austausch der unheilbaren Kriegsverwundeten von Frankreich ging
über die Schweiz, und nach langer, langer Fahrt, durch das herrliche,
stets hilfsbereite Schweizer Land, das von den Schrecken des Krieges
verschont geblieben war, langte der Zug in der Nacht an der Grenze
an. Von Deutschland her kam um die gleiche Zeit auch ein solcher Zug.
Einmal fuhren die beiden aneinander vorbei, sie wußten es nicht; die
Männer, die jetzt todwund heimkehrten, hatten sich vielleicht schon im
Kampf gegenübergestanden.

Heinrich Fries, der Lehrer von Steinach, lehnte am Fenster. Er konnte
nicht schlafen, vor Freude nicht und vor Leid nicht. So mußte er
heimkehren, ein Krüppel! Ein Bein hatte er verloren, auch die linke
Hand fehlte ihm, und über die Stirn lief ihm eine breite rote Narbe.
Er dachte, mit welch hochfliegenden Plänen er einst im Leben gestanden
hatte, wie unzufrieden er in Steinach gewesen war. Nun war das alles
vorbei, selbst zum Lehrer in Steinach mochte er gewiß nicht mehr
taugen. Wunderlich war ihm das oft gegangen draußen. An die Stadt,
in der er so lange gelebt, hatte er wenig gedacht, immer, wenn er
mit seinen Kameraden von der Heimat sprach, kehrten seine Gedanken in
Steinach ein. In den heißen, blutigen Schlachten, mitten im Donnern
und Brüllen der Geschütze sah er plötzlich das Dorf vor sich und die
blühenden Straßen, so wie er es zuerst gesehen hatte. Er dachte an die
Kinder; er hatte sie doch alle lieb, selbst so unnütze Wildfänge wie
Jackenknöpfle und das lachlustige Malchen Hinzpeter. Einmal hatte er
gerade wieder an allesamt einen Brief geschrieben, da war eine Granate
neben ihm eingeschlagen, und er hatte die Stirnwunde bekommen.

Ins Lazarett sollte er, in die Heimat zurück, aber er hatte nicht
gewollt, und zwei Tage später hatte er, verwundet schon, mitten im
furchtbaren Kampf gestanden. Neben ihm waren seine Kameraden gefallen,
er war vorwärts gestürmt, immerzu, immerzu. Dann hatte ihn ein Schuß
getroffen, er war zusammengebrochen, und als er nach vielen, vielen
Stunden wieder zum Bewußtsein gelangte, war er in Gefangenschaft
gewesen. Krank und gefangen! Es ahnen nicht alle, wie groß dies Elend
ist.

Nun kehrte er heim. Heinrich Fries sah hinaus. Es war Mondschein, und
er sah im Silberglanz einen See, glatt wie ein Spiegel, und Berge,
hohe, weiße Berge. Wie ein Märchenland war es, so wunderschön. Er
hatte oft Sehnsucht gehabt, dies schöne Land zu durchwandern, das
war nun auch vorbei, nun sah er es so. Ein fremdes Land, aber kein
Feindesland. Ach nein, feindlich waren die Menschen nicht, die auf
den Bahnhöfen waren, die liebevoll die Verwundeten versorgten. Gute,
hilfsbereite Menschen waren es.

Einer, der mit im Zuge fuhr, richtete sich ein wenig auf seinem Lager
auf und flüsterte: »Kamerad, nun sind wir bald in Deutschland. Ich
habe eine Frau daheim und einen Buben, Herrgott, die soll ich nun
wiedersehen! Wen hast du?«

»Eine Mutter,« sagte Heinrich Fries.

»Da sind wir beide gut versorgt,« sagte der andere. »Sieh doch mal
raus, ist’s noch nicht bald Deutschland?«

»Es dauert noch ein paar Stunden.« Heinrich Fries sah wieder hinaus.
Der Mond stand nur noch als blasse Scheibe am Himmel, der Morgen
dämmerte herauf, und in dem fahlen, harten Licht des Morgens stiegen
die Berge riesenhaft empor. Aber dann begannen sie zu glühen und zu
schimmern, die Sonne ging auf.

Und im hellen, strahlenden Licht der Frühlingssonne fuhr Heinrich
Fries mit seinen Kameraden bei Konstanz über die deutsche Grenze. Ein
brausender Jubel empfing sie. Fremde Menschen kamen auf sie zu und
umarmten sie, Blumen wurden ihnen gebracht und Erfrischungen. Immer
neue Hände streckten sich ihnen entgegen, alle wollten ihnen helfen,
alle ihnen Liebes erweisen, alle, alle zeigten ihre Freude.

O Vaterland, o Heimat!

Die Todwunden, denen die Tage und Nächte in Schmerzen vergingen,
die Blinden, die Krüppel, sie alle sangen dem Vaterland entgegen:
»Deutschland, Deutschland über alles!«

Heinrich Fries hatte seine Heimkehr nicht melden können. Seine
Auslösung war überraschend gekommen, und seine Mutter ahnte nicht,
daß er in Deutschland war. Er hatte ihr auch nie geschrieben, wie
schwer seine Wunden gewesen, er wollte ihren Kummer nicht vergrößern.
Nun dachte er, wenn ich in ein Lazarett komme, dann schreibe ich ihr.
Noch wußte er ja nicht, wohin man ihn bringen würde. Nimmer hätte er
gedacht, daß er so sehr in Steinachs Nähe kommen würde. Erholen sollte
er sich nun, dann sollte er ein künstliches Bein bekommen, eine Hand,
und der Arzt, der ihm das versprach, tröstete: »Dann ist’s nicht mehr
schlimm.«

Eines Tages liefen Pfarrers Regine und Fritze Schwetzer auf der
Birnenstraße wieder dem Briefträger entgegen. Seit Wochen hatte der
nun nichts aus Frankreich ins Schulhaus gebracht, und die alte Frau
Lehrerin zagte und zitterte in Sorge. Der neue Briefträger, er hieß
zu der Kinder Ärger Schmidt, was doch kein richtiger Name sei, so
meinten sie, wußte nun auch schon, wer in Steinach um Briefe bangte. Er
schüttelte also den Kopf: »Kein Brief aus Frankreich, ’n anderer nur.«

Da rannte Fritze zurück, und Fräulein Regine ging ihm nach, der andere
Brief war ihnen nicht wichtig. Den erhielt ein paar Minuten später Frau
Besenmüller zur Besorgung. Die nahm ihn mit dem Schürzenzipfel, weil
sie nasse Hände hatte, und trug ihn so in das Haus hinein. Drinnen kam
ihr Mann ihr entgegen, und sie bat: »Besenmüller, trag’ du mal den
Brief rauf, der rechte ist’s wieder niche.«

Oben traf Besenmüller Vater Hiller, der gerade zum Mittagessen zu Frau
Fries gehen wollte, der nahm ihm den Brief ab, und Besenmüller sagte:
»Der rechte ist’s nicht.«

Vater Hiller trug den Brief in die Stube, legte ihn vor Frau Fries hin
und sagte auch bedauernd: »Ein Brief, leider nicht der rechte.«

Und es war doch der rechte Brief. Nur in die Hand nahm ihn Frau Fries,
dann wußte sie es. Mutteraugen sind scharf, Mutterherzen spüren des
Kindes Nähe.

Durch das Dorf lief die Kunde, der junge Herr Lehrer ist heimgekehrt
aus Frankreich, in L. ist er, aber -- er ist ein Krüppel. Fritze
Schwetzer raste zum Schulhaus hin. Und den Brief hatte er nun nicht
gebracht, gerade den Brief nicht. Er polterte mal wieder ungeheuer
auf der Treppe, aber Frau Besenmüller schalt nicht, die hörte es gar
nicht, die scheuerte im Schulzimmer, denn irgendwie mußte sie ihre
Freude zeigen, ritsch, ratsch mit der Bürste hin und her. »So recht
ausscheuern tut gut,« brummelte sie.

Fritz fand Frau Fries oben reisefertig. Die wollte gleich nach L.
fahren mit dem nächsten Zug. »Lauf zu Pfarrers,« bat die Frau,
»vielleicht kommt Fräulein Regine mit.«

Nie hatte Frau Fries nach einer Stütze verlangt, jetzt, da sie den Sohn
wiedersehen sollte, in der Freude verlangte sie Hilfe. Und Pfarrers
Regine kam. Fritz hatte seine Botschaft noch nicht raus, da sagte sie
schon: »Ich fahre mit, natürlich!«

Sie lief dem Buben voran und meinte, der käme hinterher, aber der kam
nicht. Der rannte heimwärts, fiel seiner Mutter beinahe ins Spülfaß und
schrie so laut, wie es noch nie jemand von ihm gehört hatte: »Meine
Sparbüchse!«

»Junge, biste närrisch?« Seine Mutter trocknete sich ärgerlich die
Hände ab. »Sag’, was soll das Geschrei?«

»Ich muß nach L.«

»So eins, zwei, drei im Handumdrehen?« Frau Schwetzer wollte nein
sagen, aber dann sagte sie doch ja, ging und schüttelte die Büchse vor
Fritz aus. »Viel ist nicht drin, ’n Groschen fehlt, den will ich dir
schenken. Da nimm ’n Brot und geh!«

Doch Fritze lief dem Brot davon. Er rannte die Apfelstraße entlang, bis
er Frau Fries und Fräulein Regine sah, da ging er langsam nach. Und
nach ihnen kletterte er in den Zug, und die beiden sahen ihn nicht.
Sie sahen ihn auch nicht, als sie in L. ausstiegen. Und wieder trabte
ihnen Fritz nach bis zu dem Lazarett, da gingen sie hinein, und --
Fritz blieb draußen. Hier verließ ihn auf einmal sein Mut, er wußte
nicht, wie er in das große Gebäude hineingehen sollte. Er ging auf und
ab, durch die Türe da waren die beiden Frauen hineingegangen, das mußte
doch der rechte Weg sein. Er rappelte sich endlich zusammen, trat auf
das Tor zu, klinkte es auf, da tönte ihm ein Halt! entgegen.

»Wo willst du hin?«

»Da ’nein.«

»Ei, da könnte jeder dumme Junge kommen; so was gibt’s nicht.«

Ein anderer hätte nun dem gestrengen Wärter am Tor geschwinde erklärt,
so ist die Sache und so, ich habe die Fahrt gemacht von Steinach
hierher. Aber das brachte Schwetzers Fritze nicht fertig; ehe er eine
Antwort heraus hatte, war das Tor geschlossen, klapp zu, ihm vor der
Nase, er konnte draußen stehen. Er ging wieder auf und ab, hin und her.
Drei Frauen kamen jetzt, dunkel gekleidet und ernst, die wollten auch
in das Lazarett gehen. Vor ihnen tat die Türe sich auf. Fritz lief
ihnen nach, aber klapp, schloß sich das Tor, und er stand wieder einsam
auf der Straße.

Noch einmal versuchte er es hineinzukommen, vergeblich. Endlich kamen
Frau Fries und Fräulein Regine wieder heraus, und wieder lief Fritz
ihnen stumm wie ein treuer Hund nach. Die Frauen gingen der Stadt zu.
Vor einem Haus, an dem ein Wort stand, das Fritz zehnmal las und doch
nicht verstand, es hieß »Hospiz«, nahmen sie Abschied voneinander. Frau
Fries ging mit ihrer kleinen Tasche in der Hand in das Haus hinein.
Fritz hörte sie noch sagen: »Bestelle, bitte, Frau Besenmüller, sie
möchte ja nicht vergessen, für Herrn Hiller heute Brusttee zu kochen,
er ist so erkältet,« dann trennten sich beide.

Nun rannte Fräulein Regine nach dem Bahnhof, und Fritz rannte
hinterdrein. Sie stiegen beide in den Zug, der fuhr davon, und in
Steinach kletterten beide heraus.

Es war schon dunkel, und Pfarrers Regine sah ihren kleinen Freund auch
jetzt nicht. Der trabte ihr nach, als sie aber erst nach dem Pfarrhaus
abbog, lief er gleich zum Schulhaus. Dort riß er die Türe auf, stürmte
in Besenmüllers Stube und schrie: »Se möchten Tee kochen für Herrn
Hiller.« Krach, schlug er die Türe zu und rannte davon.

Eine halbe Stunde später kam Fräulein Regine ins Schulhaus. Sie wollte
erzählen, wie es Heinrich Fries erging, und sie richtete auch den
Auftrag aus. »Teekochen?« rief Besenmüller. »Schwetzers Fritze hat’s ja
schon bestellt.«

»Wie kann er, ich habe ihm ja nichts gesagt?« Das Fräulein wunderte
sich, und Frau Besenmüller wunderte sich, ja Frau Besenmüller war
geneigt, Fritz für einen Geist zu halten, aber ihr Mann sagte: »Nä, das
war Fritze, und vielleicht hat’s ihm Frau Fries vorher bestellt.«

Auf dem Heimweg ging Regine noch einmal zu Schwetzers hinein, da
erfuhr sie Fritzens Reise. »Ein närrscher Junge,« klagte seine Mutter,
»nich Stipp, nich Stapp hat er erzählt, nur gegessen, und dann ist er
schlafen gegangen, aber geheult hat er in seinem Bette.«

Ja, geheult hat Fritz, aber der Schlaf hatte ihm die Tränen schon
wieder getrocknet, als Fräulein Regine an sein Bett trat. Und am
nächsten Morgen erzählte er auch mit so wenig Worten als möglich
seine Reise. Seine Mutter tat ihm schweigend so viel Geld in seine
Sparbüchse, als das Fahrgeld nach L. betrug, aber Fritz fuhr nicht
wieder hin. Er graute sich vor dem großen Haus und vor den vielen
Menschen, die da aus- und eingingen. Er wartete in Steinach auf seinen
Lehrer, und je näher der Tag kam, an dem er ihn sehen sollte, desto
größer wurde die Scheu vor ihm. Ob der ihn noch kannte, noch mit ihm so
sprach wie damals beim Abschied?

Heinrich Fries kam, als in Steinach der Flieder blühte. In jedem
Garten, in Hofwinkeln an der Kirche, da wo Heckenwege die Häuser
trennten und verbanden, überall blühte der Flieder. Dichte, blaue
Büsche, blaue Wände gab es und blaue Blumenberge, und ganz Steinach
war eingehüllt in Duft und Glanz. Vom Schulhaus wehte die Fahne, denn
ein Held kam ja heim, einer, der draußen gekämpft und gelitten hatte,
einer, dem das Kreuz von Eisen die Brust schmückte.

Heinrich Fries hatte gemeint, er würde still durch das Dorf fahren und
still in sein stattliches Schulhaus treten. Aber vor dem standen die
Kinder alle, auch die Brummer waren dabei, und alle sangen ihm das Lied
entgegen, das im Leben und Sterben kein Deutscher vergißt. Und danach
das schöne »Lobe den Herrn«.

Mitten im Gesang brach Malchen Hinzpeter in Tränen aus. Sie dachte
an den Vater, der nun nie wiederkehrte. Vater Hiller zog sie aus dem
Kreise und nahm sie in seine Arme, am Herzen dieses treuen Freundes
weinte sie sich ihren Kummer aus. Heinrich Fries hörte an diesem
Tage keinen falschen Ton heraus, er meinte, noch nie einen schöneren
Gesang gehört zu haben, und als ihn dann alle umdrängten, auch die
Erwachsenen, und alle baten: »Sie bleiben doch wieder hier?« da rannen
auch ihm die Tränen aus den Augen, und er schämte sich nicht.

Nachher sagte er zu Vater Hiller: »Werde ich es können, ein Krüppel als
Lehrer?«

Der alte Mann nickte. »Sie werden es können, und viele, die heimkommen,
werden siech sein und doch eintreten in ihren Beruf. Und unsere Jugend
wird lernen, Geduld haben und Ehrfurcht vor jenen, die um unseren
Frieden gekämpft haben. Ja, sie werden es können, wenn -- Sie in
Steinach bleiben wollen.«

»Wie gern!« Heinrich Fries hielt seiner Mutter Hand fest. »Du hast es
früher erkannt als ich, wie gut Steinach am Wald zur Heimat taugt.«

Es kamen viele an diesem Tag, um dem jungen Lehrer die Hand zu
schütteln, nur Schwetzers Fritze kam nicht. Wo blieb nur der? Fräulein
Regine ging ihn suchen, sie fand ihn nicht, die Kinder suchten ihn, er
war nirgends zu sehen. Endlich schaute Frau Besenmüller nach, und die
fand ihn in ihrem eigenen Holzstall.

»Gleich kommste rauf,« rief sie ärgerlich.

»Nä!« Fritze blieb auf seinem Holzstoß sitzen.

Frau Besenmüller zürnte: »Was soll denn der Herr Lehrer denken?
Geschwinde komm!«

»Nä!« Der Bube rührte sich nicht, und Frau Besenmüller mußte
unverrichteter Dinge wieder abziehen. Sie klagte oben über des Buben
Trotz, da stand Heinrich Fries auf und sagte: »Ich werde ihn holen.«

Er ging, obgleich es ihm noch arg schwer wurde, die Treppen zu steigen.
Auf einen Stock gestützt, hinkte er über den Hof und kam zu Fritz in
den Holzstall. »Fritz,« sagte er, »wenn du nicht zu mir kommst, muß
ich dich suchen, denn ich habe dir viel zu danken. Du warst meiner
Mutter ein rechter kleiner Freund, ein guter Trost in schwerer Zeit.«

Der Bube schluchzte wild auf und umklammerte seinen geliebten Lehrer,
und der redete mit ihm, lange, lange. Und sie schlossen beide
Freundschaft in dieser Stunde, Freundschaft für das Leben.

Frau Besenmüller lief unterdessen draußen scheltend auf und ab. »Im
Holzstall, um so ’nes Buben willen, nä, was zuviel ist, das ist zuviel.«

»Lydia,« mahnte ihr Mann endlich, »geh du da fort. Wenn einer was
auf dem Herzen hat, dann kann er auch im Holzstall reden. Und der
Fritze, um den lohnt’s schon. Den Besten hat sich der Herr Lehrer da
ausgesucht, das is mal wahr.«

»Wenn er sich nur die Beste aussuchte,« murrte Frau Besenmüller.
Und das tat der junge Lehrer wirklich. Als auf dem Schafskopf die
Heckenrosen blühten, gab es Hochzeit in Steinach. Eine stille nur,
denn für Feste war es keine Zeit. Aber Glück und Freude blühen auch in
Kriegszeiten, und Pfarrers Regine war eine glückliche und eine frohe
Braut.

»Der junge Herr Lehrer heiratet Pfarrers Regine!« Wenn die Spatzen
von Steinach hätten singen können, dies hätten sie gesungen, so oft
hörten sie es, von Mädeln und Buben, von Alten und Jungen. Am lautesten
freute sich Frau Besenmüller und am meisten doch darüber, daß Vater
Hiller in Steinach bleiben wollte. Er mochte nicht mehr zurückkehren in
die Stadt, die ihm fremd geworden war. In dem großen Schulhaus gab es
leere Zimmer, da wollte er wohnen, und Frau Fries und Frau Besenmüller
versprachen ihm alle Pflege.

Eine bittere Enttäuschung war es den Kindern, daß nach der Hochzeit ihr
junger Lehrer wieder fortging. Erst gesund werden, dann arbeiten, hieß
es, und mit dem Gesundwerden dauerte es noch an, so schnell lernt einer
nicht mit zwei Gliedern weniger fortzukommen.

Wieder reiften auf der Apfelstraße die Äpfel, und wieder mal hielt
Besenmüller auf der verkehrten Straße Wache, da kamen Heinrich und
Regine nach Steinach zurück. Draußen tobte noch der Krieg, aber
Steinach lag im Frieden. »Vor zwei Jahren kam ich her, ein gesunder
Mann mit einem mißmutigen Herzen, jetzt kehre ich zurück, ein Krüppel
mit frohem Herzen,« sagte der junge Mann heiter. Sie hatten sich nicht
angemeldet, sie wollten alle daheim überraschen. Wie sie aber so unter
den ersten Bäumen hingingen, rauschte es in den Zweigen, und ein
jauchzendes Gebrüll erhob sich: »Hurra, hurra, se sin da!«

Purzel, purzel kam es von den Bäumen herab, es hopste aus den Gräben
heraus, und jauchzend umdrängten die Kinder ihren Lehrer. »Hurra,
hurra!«

Bis zur Pflaumenstraße hin tönte das Geschrei, dort lauschte
Besenmüller. »Nu haben se wieder etwas angestiftet. Nä, nä, Schelme sin
se doch, was wahr ist, das ist wahr!«

[Illustration]



Lustige Erzählungen von Josephine Siebe:


Oberheudorfer Buben- und Mädelgeschichten

[Illustration]

Mit vier farbig. Vollbildern und zahlreichen Textillustrationen

Unter der Fülle von Jugendschriften verdient dieses Buch ganz besondere
Beachtung. Was an den Erzählungen so sehr gefällt, das ist die Frische,
Lebendigkeit und Anschaulichkeit der Darstellung und der köstliche
Humor, der uns fast in allen begegnet. Sie wollen unsere Jugend
erfreuen, und sie werden sie erfreuen. Wer also Kindern eine besondere
Freude bereiten will, der schenke ihnen dieses Buch.

            (Casseler Allg. Ztg.)


Lustige Fahrten ins Blaue hinein

Heitere Erzählungen f. d. Jugend Mit sechs farbigen Vollbildern

Alle Achtung vor diesem famosen Buche! Wenige Schriftstellerinnen
wissen so zu erzählen wie Josephine Siebe. Ein Sonnenglanz liegt über
allen kleinen und großen Begebenheiten, der Schelm Humor setzt überall
helle Lichter auf. In einzelnen Stücken, wie »Das Feuermännchen« und
in dem besonders wertvollen »Die Reise ins Graue«, erhebt sich die
Erzählerin zur Dichterin. Möge sie der Kinderwelt noch recht oft solche
urwüchsige und herzerfreuende Geschichten erzählen, sie sind dazu
angetan, unsern Lieblingen fröhliche Gesichter und Herzen zu machen.
Josephine Siebe hat’s von Gott, die rechte Heiterkeit nämlich, die sich
fein unterscheidet von der lärmenden Lustigkeit.

            (Alton. Nachr.)


Neue Kindergeschichten aus Oberheudorf

[Illustration]

Mit vier farbig. Vollbildern und zahlreichen Textillustrationen

Die fünfzehn Geschichten haben es vorzugsweise auf das Fröhliche, die
Komik, das drollig Vergnügliche abgesehen. Unsere Jugend muß sich
wohlfühlen unter diesen Dorfkindern, die sich so herzensfroh ihres
Daseins freuen, und die so lebenswahr vorgeführt werden in ihrer
Harmlosigkeit und Natürlichkeit, in ihren unschuldigen Freuden und
Vergnügungen, aber auch in ihren kleinen und großen Leiden und Sorgen.
Es ist eine recht humorvolle Lektüre.

            (Die Gartenlaube)


Die Oberheudorfer in der Stadt

[Illustration]

Reich illustriert

Alle, die die Oberheudorfer Kinder aus den früheren Erzählungen
von Josephine Siebe kennengelernt haben, werden sich freuen, ihnen
hier wieder zu begegnen, freuen auch, daß es dieselben prächtigen,
frischen Buben und Mädel sind, die in ihrem kleinen Dorf so viel echte
Herzensbildung gewonnen, daß sie manch hochgebildeten Städter beschämen
und ihm im Guten vorangehen können. Bei ihren Besuchen des alten
Kameraden, der in der Stadt das Gymnasium besucht, erleben sie manches,
bleiben aber immer in drolligster Art Herren der Lage.

            (Schwäbischer Merkur)


Dudeleins Garten und Schippels Kinder

Ein heiteres Kinderbuch mit vier farbigen Vollbildern

Die beliebte Verfasserin führt hier eine Anzahl Kinder eines
Mietshauses vor, deren Versammlungsort »das Himmelreich«, die Mauer
eines an den Hof stoßenden Parkes ist. Wie die Sehnsucht der Kleinen
nach den Schönheiten dieses prachtvollen Gartens gestillt wird, und
wie eine einsame, alte Frau durch diese Kinder wieder Freude am Leben
findet, das wird den jungen Lesern viel Vergnügen bereiten.

            (Reclams Universum)


Im Hasenwunderland

[Illustration]

Ein fröhliches Kinderbuch mit zwölf farbigen Vollbildern und vielen
Textillustrationen

»Im Hasenwunderland« gehört zu den Büchern, die den Kleinen lieb werden
müssen, zumal zu der glücklichen Idee, Meister Lampe zum Helden einer
wunderbaren Geschichte zu wählen, eine ganz ausgezeichnete illustrative
Ausstattung von Joseph Mauder hinzutritt, ausgezeichnet, weil echt
kindlich empfunden, wie übrigens auch die ganze Erzählung, die
schlicht und einfach die Abenteuer aus der Welt der Familie Hase nebst
Anverwandten vorträgt. Wir können dieses ganz vorzügliche Kinderbuch
nicht warm genug empfehlen.

            (Neue Zürcher Zeitung)


Verlag von Levy & Müller in Stuttgart



Lustige Erzählungen für die Jugend


Rose, Linde und Silberner Stern

[Illustration]

Erzählung für die Jugend von Josephine Siebe

Reich illustriert

Mit viel Aufwand von Lustigkeit und Humor, dem ein schöner, tiefer
Ernst nicht mangelt, erzählt hier Josephine Siebe von dem Leben und
Treiben einer Kinderschar aus der Rose, der Linde und dem Silbernen
Stern, drei befreundeten Häusern einer Kleinstadt, und weiß die
drolligen Vorgänge mit so viel Spannung und guter Laune zu schildern,
daß die kleinen Leser das Buch hochbefriedigt aus der Hand legen
werden. Unter den Siebeschen Büchern steht diese Erzählung ohne Zweifel
mit an erster Stelle.


Das Mondscheinprinzeßchen

Eine heitere Kindergeschichte von Thea von Harbou

Mit vier bunten Vollbildern

Taufrisch, voll warmer Lebensfreude und harmlosen Übermuts ist die
Erzählung von der verzogenen, grämlichen Mondscheinprinzeß Johanna, die
in das Forsthaus und in die derben Fäuste der Hubertusrangen gerät,
die ihr den eigensinnigen Kopf zurechtsetzen und die steifen, matten
Glieder durchkneten, bis sie straff und gelenkig werden. An der Hand
der liebreichen Hausmutter entdeckt Mondscheinprinzeßchen ihr Herz und
erfährt, daß man nicht immer an sich selbst denken, sondern andern
Liebes erweisen soll. Ohne Zweifel wird diese Erzählung den Kleinen
viel Freude bereiten.

            (General-Anzeiger für Hamburg)


Frohe Jugend

[Illustration]

Hundertein schöne Kindergeschichten von Helene Stökl u. Frau Juliane

Mit zahlreichen Illustrationen

Und ein gar liebes, den ganz Kleinen gewidmetes Buch heißt »Frohe
Jugend«. Es sollte in den Kinderstuben recht heimisch werden. Die
kurzen, ganz reizend erzählten Geschichtchen aus den verschiedensten
Gebieten, aber alle von einem warmen, poetischen Unterton getragen,
sind wie wenige geeignet, Phantasie und Gemüt des kleinen Volkes zu
beschenken. Vortrefflich eignen sie sich zum Vorlesen und Nacherzählen.

            (Leipziger Ill. Zeitung)


Kasperle auf Reisen

[Illustration]

Eine lustige Geschichte von Josephine Siebe

Mit vier farbigen Vollbildern

Einen ganz eigenartigen Stoff hat sich die bewährte
Jugendschriftstellerin diesmal erkoren. Der Puppenschnitzer Friedolin
findet beim Stöbern in einem alten Schrank ein aus langem Zauberschlaf
erwachendes Kasperle, das bereits seinen Vorfahren als Modell gedient
hat. Die Wanderlust treibt Kasperle indes im Frühjahr aus dem Waldhaus
in die weite Welt hinaus, wo der schnurrige Schelm die merkwürdigsten
Abenteuer erlebt und sich in dem Schloßtöchterlein Rosemarie und dem
Geißbuben Michele treue Freunde erwirbt, bis er schließlich nach
allerlei lustigen Erlebnissen wieder ins Waldhaus heimfindet.

            (Breslauer Zeitung)


Die Sternbuben in der Großstadt

Eine heitere Geschichte von Josephine Siebe

Mit vier Vollbildern

Die beiden Buben der Wirtin vom »Silbernen Stern« in Breitenwert werden
von ihrer Pate zum Besuch nach Leipzig eingeladen und erleben auf der
Fahrt und in der Großstadt die drolligsten Abenteuer. Ihre Erlebnisse
sind mit überwältigender Komik geschildert.

            (Reclams Universum)


Kasperle auf Burg Himmelhoch

[Illustration]

Lustige Geschichte v. Josephine Siebe

Mit farbigem Decken- u. Vollbild und zahlreichen Scherenschnitten

Der Untertitel verspricht nicht zu viel: es ist wirklich eine lustige
Geschichte, und vor allem weiß die Verfasserin so zu erzählen, wie man
Kindern erzählen muß. Jede Mutter, die aus diesem Buch ihren Kleinen
vorliest, wird ihre helle Freude daran haben, wie die Kinder mit
gespanntem Blick an ihren Lippen hängen und immer wieder in fröhliches
Gelächter ausbrechen, wenn der potzlustige kleine Spaßmacher wieder
einen neuen Unfug ausgeheckt hat und sich in jeder Lebenslage zu helfen
weiß. Die vielen Scherenschnitte, ganz im Ton der lustigen Geschichte
gehalten, bedeuten eine wertvolle Bereicherung des Buches.

            (Revaler Bote)


Verlag von Levy & Müller in Stuttgart



Unsre illustrierte, billige Jugendschriftenreihe:


Lieblingsbücher der Jugend

Bisher erschienen:

    Bd. 1: Im Schlaraffenland
        und andere Märchen von Ludwig Bechstein

    Bd. 2: Die wilden Schwäne
        und andere Märchen von H. Chr. Andersen

    Bd. 3: Das Riesenspielzeug
        und andere deutsche Sagen von Grimm, Bechstein u. a.

    Bd. 4: Mein liebes Fabelbuch
        Mit Fabeln v. Aesop, Lessing, Gellert

    Bd. 5: Lustige Geschichten
        fürs kleine Volk. Beiträge von Stökl, Hebel, Schwab

    Bd. 6: Abenteuergeschichten
        aus fernen Ländern von Sealsfield, Cooper, Wörishöffer
        u. Zwilgmeyer

    Bd. 7: Der Knabe des Tell
        Erzählung für Jugend und Volk von Jeremias Gotthelf

    Bd. 8: Das Drachenried
        Schweizer Sagen und Heldengeschichten I von M. Lienert

    Bd. 9: Das tapfere Schneiderlein
        und andere deutsche Sagen aus Österreich

    Bd. 10: Die sieben Schwaben
        und der Spiegelschwab von L. Aurbacher

    Bd. 11: Der gehörnte Siegfried
        u. der arme Heinrich von G. Schwab

    Bd. 12: Die Schildbürger
        von Gustav Schwab

    Jeder Band mit buntem Einlagebild und vielen
    Textillustrationen

[Illustration]

Unter der bewährten Leitung Dr. Otto Brandstädters liegen die von
verschiedenen Schriftstellern bearbeiteten schmucken Bändchen der
»Lieblingsbücher der Jugend« vor, deren Inhalt in Märchen und
Erzählungen, Sagen und Heldengeschichten gesunde Kost, Unterhaltung und
Anregung bringt für Jugend und Volk.

            (Schwäbischer Merkur)


Verlag von Levy & Müller in Stuttgart



    Weitere Anmerkungen zur Transkription


    Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Die
    Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht. Die ganzseitigen
    Abbildungen wurden auf die referenzierte Seite verschoben.



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