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Title: Die Familie Pfäffling: Eine deutsche Wintergeschichte
Author: Sapper, Agnes
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Die Familie Pfäffling: Eine deutsche Wintergeschichte" ***


Die Familie Pfäffling

Eine deutsche Wintergeschichte

von Agnes Sapper


1909



Meiner lieben Mutter
zum Eintritt in das 80. Lebensjahr.

Die Familie Pfäffling muß *Dir* gewidmet sein, liebe Mutter, denn was
ich in diesem Buche zeigen möchte, das ist Deine eigene
Lebens-Erfahrung. Du hast uns vor Augen geführt, welcher Segen die
Menschen durchs Leben begleitet, die im großen Geschwisterkreis und in
einfachen Verhältnissen aufgewachsen sind, unter dem Einfluß von
Eltern, die mit Gottvertrauen und fröhlichem Humor zu entbehren
verstanden, was ihnen versagt war.

Noch jetzt, wo wir Deinem 80. Geburtstag entgegengehen, steht die
Erinnerung an Deine Kinderzeit Dir lebendig vor der Seele, und wenn Du
die Beschwerden und Entbehrungen des Alters in geduldiger,
anspruchsloser Gesinnung erträgst so ist das nach deinem eigenen
Ausspruch noch immer eine Wirkung, die ausgegangen ist aus einer
entbehrungsreichen und dennoch glückseligen Jugendzeit.

Nicht eben *Deine* Familie, aber eine von demselben Geist beseelte
möchte ich in diesem Buch der deutschen Familie vorführen.

Herbst 1906.


Die Verfasserin.


Inhalt

 1 Wir schließen Bekanntschaft
 2 Herr Direktor
 3 Der Leonidenschwarm
 4 Adventszeit
 5 Schnee am unrechten Platz
 6 Am kürzesten Tag
 7 Immer noch nicht Weihnachten
 8 Endlich Weihnachten
 9 Bei grimmiger Kälte
 10 Ein Künstlerkonzert
 11 Geld- und Geigennot
 12 Ein Haus ohne Mutter
 13  Ein fremdes Element
 14 Wir nehmen Abschied



1. Kapitel
Wir schließen Bekanntschaft.


Ihr wollt die Familie Pfäffling kennen lernen? Da muß ich euch weit
hinausführen bis ans Ende einer größeren süddeutschen Stadt, hinaus in
die äußere Frühlingsstraße. Wir kommen ganz nahe an die
Infanteriekaserne, sehen den umzäunten Kasernenhof und Exerzierplatz.
Aber vor diesem, etwas zurück von der Straße, steht noch ein letztes
Haus und dieses geht uns an. Es gehört dem Schreiner Hartwig, bei dem
der Musiklehrer Pfäffling mit seiner großen Familie in Miete wohnt.

Um das Haus herum, bis an den Kasernenhof, erstreckt sich ein
Lagerplatz für Balken und Bretter, auf denen Knaben und Mädchen
fröhlich herumklettern, turnen und schaukeln. Meistens sind es junge
Pfäfflinge, die da ihr Wesen treiben, manchmal sind es auch ihre
Kameraden, aber der eine Kleine, den man täglich auf den obersten
Brettern sitzen und dabei die Ziehharmonika spielen sieht, das ist
sicher kein anderer als Frieder Pfäffling.

Um die Zeit, da unsere Geschichte beginnt, ist übrigens der Hof
verlassen und niemand auf dem weiten Platz zu sehen. Heute ist, nach
den langen Sommerferien, wieder der erste Schultag. Der Musiklehrer
Pfäffling, der schlanke Mann, der noch immer ganz jugendlich aussieht,
war schon frühzeitig mit langen Schritten den gewohnten Weg nach der
Musikschule gegangen, um dort Unterricht zu geben. Sechs von seinen
sieben Kindern hatten zum erstenmal wieder ihre Bücher und Hefte
zusammengesucht und sich auf den Schulweg gemacht. Die lange
Frühlingsstraße mußten sie alle hinunterwandern, aber dann trennten
sich die Wege; die drei ältesten suchten weit drinnen in der Stadt das
alte Gymnasiumsgebäude auf, die zwei Schwestern hatten schon etwas
näher in die Töchterschule und Frieder, der noch in die Volksschule
ging, hätte sein Ziel am schnellsten erreichen können, aber das kleine
runde Kerlchen pflegte in Gedanken verloren dahinzugehen und sich mehr
Zeit zu lassen als die andern.

Im Hause Pfäffling war nach dem lauten Abgang der sieben
Familienmitglieder eine ungewohnte Stille eingetreten. Es blieb nur
noch die Mutter zurück, und Elschen, das jüngste niedliche Töchterchen,
sowie die treue Walburg, die in der Küche wirtschaftete. Frau Pfäffling
atmete auf, die Stille tat ihr wohl. Was war das für ein Sturm gewesen,
bis der letzte die Türe hinter sich zugemacht hatte, und was für eine
Unruhe all die Ferienwochen hindurch! Während sie ordnend und räumend
von einem Zimmer ins andere ging, war ihr ganz festtäglich zu Mute. Sie
war von Natur eine stille, nachdenkliche Frau und gern in Gedanken
versunken, aber das Leben hatte sie als Mittelpunkt in einen großen
Familienkreis gestellt, und es drehten sich lauter lebhafte,
plaudernde, fragende, musizierende Menschen um sie herum. Während nun
die Mutter sich der Ruhe freute, wußte Elschen gar nicht, wo es ihr
fehlte. Allein zu spielen hatte sie ganz verlernt. So ging sie hinunter
in den Hof, wo die großen Balken lagen. Oft hatte sie sich in den
letzten Wochen geärgert, wenn sie ängstlich auf den glatten Balken
kleine Schrittchen machte, daß die Brüder das so flink konnten und sie
ihnen immer Platz machen sollte. Jetzt hatte sie alle die Baumstämme
allein zu ihrer Verfügung, aber nun machten sie ihr keine Freude. Sie
ging weiter zu den Brettern, die übereinander aufgestapelt lagen. Dort
oben, wo ein kleines dickes Brett querüberlag, war Frieders
Lieblingsplatz, auf dem er immer mit der Ziehharmonika saß. Wenn er gar
zu lang spielte und sie nicht beachtete, war sie manchmal ungeduldig
geworden und hatte sogar einmal gesagt, die Harmonika sei eine alte
Kröte. Aber jetzt, wo es überall ganz still war, hätte sie auch die
Harmonika gern gehört. Sie setzte sich auf Frieders Platz und dachte an
ihn. Es war so langweilig heute morgen—fast zum weinen!

Da tat sich oben im Haus ein Fenster auf und der Mutter Stimme rief:
"Elschen, flink, Essig holen!"

Einen Augenblick später wanderte auch Else die Frühlingsstraße
hinunter, zwar nicht mit den Büchern in die Schule, aber mit dem
Essigkrug zum nächsten Kaufmann.

Im untern Stock des Hauses wohnte der Schreiner Hartwig mit seiner
Frau. Es waren schon ältere Leute und er hatte das Geschäft abgegeben.
Sie war eine freundliche Hausfrau, die aber auf Ordnung hielt und auf
gute Erhaltung des Besitzes. Als diesen Morgen die Pfäfflinge
nacheinander die Treppe hinunter gesprungen waren, hatte sie zu ihrem
Mann gesagt: "Hast du schon bemerkt, wie die Treppe abgenutzt ist? Seit
dem Jahr, wo Pfäfflings bei uns wohnen, sind die Stufen schon so
abgetreten worden, daß mir wirklich bang ist, wie es nach einigen
Jahren aussehen wird." "Verwehr's ihnen, daß sie so die Treppen
herunterpoltern," sagte der Hausherr.

"Ich will gar nicht behaupten, daß sie poltern, sie sind ja
rücksichtsvoll, aber hundertmal springen sie auf und ab und es
pressiert ihnen allen so, ein Gehen gibt's bei denen gar nicht, sie
müssen immer springen. Ich will sie aber gleich heute aufmerksam machen
auf die abgetretenen Stellen."

"Tu's nur, aber das Springen wirst du ihnen nicht abgewöhnen, springt
doch der Vater selbst noch wie ein Junger. Wir haben doch nicht gewußt,
was es um so eine neunköpfige Musikersfamilie ist, wie wir ihnen
voriges Jahr selbst unsere Wohnung angeboten haben in ihrer
Wohnungsnot. Und jetzt haben wir sie, und zu kündigen brächtest du doch
nicht übers Herz."

"Nein, nie! Aber du auch nicht."

"Dann sprich nur beizeiten mit deinem Schwager, daß er Bretter für neue
Böden bereit hält," sagte der Hausherr und die Frau ging hinaus, stand
bedenklich und sinnend vor der Treppe, wischte mit einem Tuch über die
Stufen, aber sie blieben doch abgetreten.

Die Vormittagsstunden waren endlich vorübergegangen, die kleine
vereinsamte Schwester stand am Fenster, sah die Straße hinunter und
erkannte schon von weitem den Vater, der mit raschen Schritten auf das
Haus zukam. Bald darauf tauchten zwei Mädchengestalten auf, das waren
die Zwillingsschwestern, die elfjährigen, Marie und Anna, die der
Bequemlichkeit halber oft zusammen Marianne genannt wurden. So rief
auch Else jetzt der Mutter zu: "Der Vater ist schon im Haus und
Marianne sehe ich auch, aber sie stehen bei andern Mädchen und machen
gar nicht voran. Aber jetzt kommt der Frieder und dahinter die drei
Großen, jetzt muß ich entgegen laufen."

Die Schwestern hatten sich den Brüdern zugesellt und so kamen sie alle
zugleich ins Haus herein, wo ihnen die Kleine laut lachend vor
Vergnügen entgegenrief: "Alle sechs auf einmal!" Sie wollte zu Frieder,
der zu hinterst war, aber die Schwestern hatten sie schon an beiden
Händen gefaßt und alle drängten der Treppe zu, als die Türe der untern
Wohnung aufging und Frau Hartwig herbeikam. Flugs zogen die Brüder ihre
Mützen, denn die Rücksicht auf die Hausleute war ihnen zur heiligen
Pflicht gemacht, und die ganze Schar stand seit dem letzten Umzug in
dem Bewußtsein, durchaus keine begehrenswerte Mietspartei zu sein.

So blieben sie auch alle stehen, als Frau Hartwig ihnen zurief: "Wartet
ein wenig, Kinder, ich muß euch etwas zeigen. Schaut einmal die Treppe
an, seht ihr, wie die Stufen in der Mitte abgetreten sind? Voriges Jahr
war davon noch keine Spur, wer hat das wohl getan?"

Eine peinliche Stille, lauter gesenkte Köpfe. "Das habt ihr getan,"
fuhr die Hausfrau fort, "weil ihr mit euern genagelten Stiefeln
hundertmal auf und ab gesprungen seid. Wenn ihr nicht Acht gebt, dann
richtet ihr mir in _einem_ Jahr meine Treppe ganz zugrunde." Sie
standen alle betreten da, die Blicke auf die Treppe gerichtet. So
schlimm kam ihnen diese wohl nicht vor, aber die Hausfrau mußte es ja
wissen! In diesem kritischen Moment kam Karl, dem großen, der Mutter
Hauptregel ins Gedächtnis: nur immer gleich um Entschuldigung bitten!
"Es ist mir leid," sagte er, und alle Geschwister wiederholten das
erlösende Wort: "Es ist mir leid", und darauf fing Karl, der große, an,
langsam und behutsam die Treppe hinaufzugehen, ihm folgte Wilhelm, der
zweite und Otto, der dritte. Ihnen nach schlichen unhörbar Marie und
Anna mit Elschen. Nur Frieder, der vorhin zuhinterst gestanden war und
deshalb den Schaden an der Treppe noch nicht hatte sehen können, der
verweilte noch und betrachtete nachdenklich die Stufen. Dann sagte er
zutraulich zu der Hausfrau: "Nur in der Mitte sieht man etwas, warum
denn nicht an den Seiten?" "Kleines Dummerle," sagte Frau Hartwig,
"kannst du dir das nicht denken? In der Mitte geht man wohl am
öftesten."

"So deshalb?" sagte der Kleine, "dann gehe ich lieber an der Seite,"
und indem er dicht am Geländer hinaufstieg, rief er noch freundlich
herunter: "Gelt, so wird deine Treppe schön geschont?" "Ja, so ist's
recht," sagte die Hausfrau und indem sie wieder in ihre Wohnung
zurückkehrte, sprach sie so für sich hin: den guten Willen haben sie,
was kann man mehr verlangen?

Oben an der Treppe hatte Elschen schon auf Frieder gewartet, sie zog
ihn ins Zimmer und rief vergnügt: "Jetzt sind sie alle wieder da!"

Den Eßtisch hatte Frau Pfäffling gedeckt, ihr Mann war dabei lebhaft
hin und hergelaufen und hatte ihr erzählt, was Neues von der
Musikschule zu berichten war. Je mehr aber Kinder hereinkamen, um so
öfter lief ihm eines in den Weg, so gab er das Wandeln auf und
klatschte mit seinen großen Händen, was immer das Zeichen war, zu Tisch
zu gehen. Da gab es schnell ein Schieben und Stuhlrücken und einen
Augenblick lautloser Stille, während die Mutter das Tischgebet sprach.
Es war nicht alle Tage dasselbe, sie wußte viele. Sie fragte manchmal
den Vater, manchmal die Kinder, welches sie gerne hörten und richtete
sich darnach. Heute sprach sie den einfachen Vers: "Du schickst uns die
Arbeit, du gönnst uns die Ruh, Herr gib uns zu beidem den Segen dazu."

Das Essen, das die große Walburg aufgetischt hatte, schmeckte allen,
aber das Tischgespräch wollte heute den Eltern gar nicht gefallen. Sie
kannten es schon, es war immer das gleiche beim Beginn des
Wintersemesters.

"Wir müssen jetzt ein Physikbuch haben."

"Die alte Ausgabe von der Grammatik, die ich von Karl noch habe, darf
ich nimmer mitbringen."

"Zum Nähtuch brauchen wir ein Stück feine neue Leinwand."

"Bis Donnerstag müssen wir richtige Turnanzüge haben."

"In diesem Jahr kann ich mich nicht wieder ohne Atlas durchschwindeln."

"Mein Reißzeug sei ganz ungenügend."

So ging das eine Weile durcheinander und als das Essen vorbei war,
umdrängten die Plaggeister den Vater und die Mutter; nur Frieder, der
kleine Volksschüler, hatte keine derartigen Wünsche, er nahm seine
Ziehharmonika und verzog sich; Elschen folgte ihm hinunter auf den
Balkenplatz, wo eine freundliche Herbstsonne die Kinder umfing, die
sich noch sorgenlos in ihren Strahlen sonnen konnten.

Herr Pfäffling suchte sich dem Drängen seiner Großen zu entziehen,
indem er hinüberflüchtete in das Eckzimmer, das sein Musik- und
Stundenzimmer war. Dort wartete ein Stoß neuer Musikalien auf ihn, die
er prüfen sollte. Aber es währte nicht lang, so folgten ihm seine drei
Lateinschüler nach, und ein jeder brachte wiederholt sein Anliegen vor
und suchte zu beweisen, daß es dringend sei. "Ich glaube es ja," sagte
der Vater, "aber alles auf einmal können wir nicht anschaffen, ihr müßt
eben warten, bis sich wieder Geld angesammelt hat. Woher sollte denn so
viel da sein eben jetzt, nach den langen Ferien? Wenn sich nun wieder
Stundenschüler einfinden und Geld ins Haus bringen, dann sollt ihr
Atlas, Reißzeug und die neuesten Ausgaben der Schulbücher bekommen,
aber jetzt reicht es nur für das dringendste." Herr Pfäffling zog eine
kleine Schublade seines Schreibtisches auf, in der Geld verwahrt war,
"Schaut selbst herein und rechnet, wie weit es langt," sagte er. Es war
nicht viel in der Schublade. Jetzt fingen die Jungen an zu rechnen und
miteinander zu beraten, was das Unentbehrlichste sei. "Für Marianne muß
auch noch etwas übrig bleiben," bemerkte der eine der Brüder, "bei ihr
gibt es sonst gleich wieder Tränen. Leinwand zu einem Nähtuch wollen
sie, ob das wohl recht viel kostet?"

So unterhandelten sie miteinander, gaben von ihren Forderungen etwas ab
und waren froh, daß das Geld wenigstens zum Allernotwendigsten reichte.
Es blieb kein großer Rest mehr in der kleinen Schublade.

Als kurze Zeit darauf die Lateinschüler und die Töchterschülerinnen
sich wieder auf den Schulweg gemacht hatten, kam Frau Pfäffling zu
ihrem Mann in das Musikzimmer, wo sie gerne nach Tisch ein Weilchen
beisammen saßen.

"Sieh nur, Cäcilie," sagte er zu ihr, "die trostlos leere Kasse. Es ist
höchste Zeit, daß wieder mehr hineinkommt! Wenn sich nur auch neue
Schüler melden, die besten vom Vorjahr sind abgegangen und es sind
jetzt so viele Musiklehrer hier; von der Musikschule allein könnten wir
nicht leben."

"Es werden gewiß welche kommen," sagte Frau Pfäffling, aber sehr
zuversichtlich klang es nicht und eines wußte von dem andern, daß es
sorgliche Gedanken im Herzen bewegte.

In die Stille des Eckzimmers drang vom Zimmermannsplatz herauf der
wohlbekannte Klang der Harmonika. Frau Pfäffling trat ans offene
Fenster und sah die beiden kleinen Geschwister auf den Brettern
sitzend. "Es ist doch schon 2 Uhr vorbei," sagte sie, "hat denn Frieder
heute nachmittag keine Stunde?" und sie rief dieselbe Frage dem kleinen
Schulbuben hinunter. Die Harmonika verstummte, die Kinder antworteten
nicht, sie sahen sich nur bestürzt an und die Eile, mit der sie von den
Brettern herunterkletterten und durch den Hof rannten, dem Haus zu,
sagte genug.

"Er hat wahrhaftig die Schulzeit vergessen," rief Herr Pfäffling,
"daran ist wieder nur das verwünschte Harmonikaspielen schuld!" Als
Frieder die Treppe heraufkam—ohne jegliche Rücksicht auf abgetretene
Stufen—streckte der Vater ihm schon den Arm entgegen und nahm ihm die
geliebte Harmonika aus der Hand mit den Worten: "Damit ist's aus und
vorbei, wenn du sogar die Schulzeit darüber vergißt!"

Frieder beachtete es kaum, so sehr war er erschrocken. "Sind alle
andern schon fort? Ist's schon arg spät?" fragte er, während er ins
Zimmer lief, um seine Bücher zu holen. Elschen stand zitternd und
strampelnd vor Aufregung dabei, während er seine Hefte zusammenpackte,
rief immer verzweifelter: "Schnell, schnell, schnell!" und hielt ihm
seine Mütze hin, bis er endlich ohne Gruß davoneilte. Auf halber Treppe
blieb er aber noch einmal stehen und rief kläglich herauf: "Mutter, was
soll ich denn zum Lehrer sagen?" "Sage nur gleich: es tut mir leid,"
rief sie ihm nach. So rannte er die Frühlingsstraße hinunter und rief
in seiner Angst immer laut vor sich hin: "Es tut mir leid." Die
Vorübergehenden sahen ihm mitleidig lächelnd nach—es war leicht zu
erraten, was dem kleinen Schulbuben leid tat, denn es schlug schon halb
drei Uhr, als er um die Ecke der Frühlingsstraße bog.

Herr Pfäffling nahm die Harmonika und besah sie genauer, ehe er sie in
seinen Schrank schloß. "Redlich abgenützt ist sie," sagte er sich, "sie
wird bald den Dienst versagen und den kleinen Spieler nimmer in
Versuchung führen. Es hat wohl auch keinen Tag gegeben in den letzten
zwei Jahren, an dem er sie nicht benützt hat. Er ist ein kleiner
Künstler auf dem Instrument, aber er weiß es nicht und das ist gut und
von den Geschwistern hört er auch keine Schmeicheleien, sie ärgern sich
ja nur über den kleinen Virtuosen. Ich wollte, ich hätte auch nur
_einen_ Schüler, der so begabt wäre wie Frieder! Aber daß er seine
Schule über der Musik versäumt oder ganz vergißt wie heute, das ist
doch ein starkes Stück am ersten Schultag, das geht doch nicht an," und
nun wurde die Harmonika eingeschlossen.

War Frieder als letzter in die Schule gekommen, so kam er auch als
letzter heraus. Die Geschwister daheim hörten von der kleinen
Schwester, was vorgefallen war, und berieten, wie es ihm in der Schule
ergangen sein mochte. Sie hatten viel Erfahrungen bei allerlei Lehrern
gesammelt, und die Wahrscheinlichkeit sprach ihnen dafür, daß es
glimpflich abgehen würde. Aber Frieder hatte einen neuen Lehrer, den
kannte man noch nicht und die neuen waren oft scharf. Als nun endlich
der Jüngste heimkam und ins Zimmer trat, wo sie alle beisammen waren,
sahen sie ihn begierig, zum Teil auch ein wenig spöttisch an. Aber das
Spöttische verging ihnen bald beim Anblick des kleinen Mannes. Er sah
so kläglich verweint aus! Keine Frage, der Lehrer war scharf gewesen.
Zuerst wollte Frieder nicht recht herausrücken mit der Sprache, denn
der Vater war auch im Zimmer und das war in Erinnerung an sein
zürnendes Gesicht und die weggenommene Harmonika nicht aufmunternd für
Frieder. Aber Herr Pfäffling ging ans Fenster, trommelte einen Marsch
auf den Scheiben und achtete offenbar nicht auf die Kinder. Da hatte
Marie bald alles aus dem kleinen Bruder herausgefragt, denn sie hatte
immer etwas Mütterliches gegen die Kleinen, auch der Mutter Stimme. So
erzählte denn Frieder, daß der Lehrer ihm zuerst nur gewinkt hätte,
sich auf seinen Platz zu setzen, aber nach der Schule hatte Frieder
vorkommen müssen, ja und dann—dann stockte der Bericht. Aber die
Geschwister kannten sich aus, sie nahmen seine Hände in Augenschein,
die waren auf der Innenseite rot und dick. "Wieviel?" fragte Marie.
"Zwei." "Das geht noch an," meinte Karl, der große. "Es kommt darauf
an, ob's gesalzene waren," und nun erzählte Wilhelm, der zweite: "Bei
uns hat einer auch einmal die Schule vergessen, dann hat er zum Lehrer
gesagt, er habe Nasenbluten bekommen und so ist er ohne alles
durchgeschlupft, der war schlau!" Da hörte auf einmal das Trommeln an
den Fensterscheiben auf, der Vater wandte sich um und sagte: "Der war
ein Lügner und das ist der Frieder nicht. Geh her, du kleines Dummerle
du, wenn dir der Lehrer selbst deinen Denkzettel gegeben hat, dann
brauchst du von mir keinen, du bekommst deine Harmonika wieder, aber—"

Die gute Lehre, die dem kleinen Schulknaben zugedacht war, unterblieb,
denn in diesem Augenblick kam durchs Nebenzimmer Frau Pfäffling und
sagte eilfertig: "Kinder, warum macht ihr nicht auf? Ich habe hinten im
Bügelzimmer das Klingeln gehört und ihr seid vornen und achtet nicht
darauf!" Schuldbewußt liefen die der Türe am nächsten Stehenden hinaus
und riefen bald darauf den Vater ab, in freudiger Erregung verkündend:
"Es handelt sich um Stunden! Eine vornehme Dame mit einem Fräulein ist
da!" "Und ihr habt sie zweimal klingeln lassen! Wenn sie nun
fortgegangen wären!" sagte die Mutter vorwurfsvoll.

"Manchmal ist's recht unbequem, daß Walburg taub ist," meinte Anne und
Else fügte altklug hinzu: "Es gibt Dienstmädchen, die hören ganz gut,
die hören sogar das Klingeln, wenn wir so eine hätten!" "Seid ihr ganz
zufrieden, daß wir unsere Walburg haben," entgegnete Frau Pfäffling,
"wenn sie nicht bei uns bleiben wollte, könnten wir gar keine nehmen,
sie tut's um den halben Lohn. Und _wieviel_ tut sie uns! Es ist
traurig, zu denken: weil sie ein solches Gebrechen hat, muß sie sich
mit halbem Lohn begnügen. Wenn ich könnte, würde ich ihr den doppelten
geben." Unvermutet ging die Türe auf und die, von der man gesprochen
hatte, trat ein. Unwillkürlich sahen alle Kinder sie aufmerksamer an
als sonst, sie bemerkte es aber nicht, denn sie blickte auf das große
Brett voll geputzter Bestecke und Tassen, das sie aus der Küche
hereintrug. Walburg war eine ungewöhnlich große, kräftige Gestalt und
ihr Gesicht hatte einen guten, vertrauenerweckenden Ausdruck. Vor ein
paar Jahren war sie aus einem Dienst entlassen worden wegen ihrer
zunehmenden Schwerhörigkeit, die nun fast Taubheit zu nennen war. Als
niemand sie dingen wollte, war sie froh, bei kleinem Lohn in der
Familie Pfäffling ein Unterkommen zu finden. Seitdem sie nicht mehr das
Reden der Menschen hörte, hatte sie selbst sich das Sprechen fast
abgewöhnt. So tat sie stumm, aber gewissenhaft ihre Arbeit, und niemand
wußte viel von dem, was in ihr vorging und ob sie schwer trug an ihrem
Gebrechen. Durch der Mutter Worte war aber die Teilnahme der jungen
Pfäfflinge wach geworden und mit dem Wunsch, freundlich gegen sie zu
sein, griff Marie nach den Bestecken, um sie einzuräumen; die andern
bekamen auch Lust zu helfen, und im Nu war das Brett leer und Walburg
sehr erstaunt über die ungewohnte Hilfsbereitschaft. "Freundlichkeit
ist auch ein Lohn," sagte Frau Pfäffling, "wenn ihr den alle sieben an
Walburg bezahlt, dann—" "Dann wird sie kolossal reich," vollendete
Karl.

Unser Musiklehrer kam vergnügt aus seinem Eckzimmer hervor: "Ein guter
Anfang des Schuljahrs," sagte er. "Die Dame hat mir ihre Tochter als
Schülerin angetragen. Zwei Stunden wöchentlich in unserem Haus. Das
Fräulein mag etwa 17 Jahre alt sein und kommt mir allerdings vor, als
sei es noch ein dummes Gänschen, aber ein freundliches, es lacht immer,
wenn nichts zu lachen ist, und kam in Verlegenheit, als die Frau Mama
nach dem Preis fragte mit der Bemerkung, sie zahle immer voraus. Sie
zog auch gleich ein hochfeines Portemonnaie und zählte das Geld auf den
Tisch. 'Wenn es auch nur eine Bagatelle ist,' sagte die Dame, 'so
bringt man doch die Sache gerne gleich in Ordnung.' Darauf empfahl sie
sich, das Fräulein knixte und lachte und morgen wird die erste Stunde
sein. Da ist das Geld, wirst's nötig haben," schloß Herr Pfäffling
seinen Bericht und reichte seiner Frau das Geld hin. Die Kinder
drückten sich an die Fenster, sahen hinunter und bewunderten die Dame,
die mit ihrem seidenen Kleid durch die Frühlingsstraße rauschte,
begleitet von der Tochter, die mehr noch ein Kind als ein Fräulein zu
sein schien. "Hat je eines von euch schon diesen Namen gehört?" fragte
Herr Pfäffling und hielt ihnen die Visitenkarte der Dame hin. Sie
schüttelten alle verneinend, der Name war ganz schwierig
herauszubuchstabieren, er lautete: _Frau Privatiere Vernagelding_.



2. Kapitel
Herr Direktor?


November! Du düsterer, nebeliger, naßkalter Monat, wer kann dich
leiden? Ich glaube, unter allen zwölfen hast du die wenigsten Freunde.
Du machst den Herbstfreuden ein Ende und bringst doch die Winterfreuden
noch nicht. Aber zu etwas bist du doch gut, zur ernsten, regelmäßigen
Arbeit.

Was wurde allein in der Familie Pfäffling gearbeitet an dem großen
Tisch unter der Hängelampe, die schon um 5 Uhr brannte! Von den vier
Brüdern schrieb der eine griechisch, der andere lateinisch, der dritte
französisch, der vierte deutsch. Der eine stierte in die Luft und
suchte nach geistreichen Gedanken für den Aufsatz, der andere blätterte
im Lexikon, der dritte murmelte Reihen von Zeitwörtern, der vierte
kritzelte Rechnungen auf seine Tafel. Dazwischen wurde auch einmal
geplaudert und gefragt, gestoßen und aufbegehrt, auch gehustet und
gepustet, wie's der November mit sich bringt. Die Mutter saß mit dem
Flickkorb oben am Tisch, neben sich Elschen, die sich still
beschäftigen sollte, was aber nicht immer gelang.

Marie und Anne, die Zwillingsschwestern, saßen selten dabei. Sie hatten
ein Schlafzimmer für sich, und in diesem ihrem kleinen Reich konnten
sie ungestört ihre Aufgaben machen. Zwar war es ein kaltes Reich, denn
der Ofen, der darin stand, wurde nie geheizt, aber die Schwestern
wußten sich zu helfen. Sie lernten am liebsten aus einem Buch, dabei
rückten sie ihre Stühle dicht zusammen, wickelten einen großen alten
Schal um sich und wärmten sich aneinander. Nur mit der Beleuchtung
hatte es seine Schwierigkeit. Eine eigene Lampe wurde nicht gestattet,
es wäre ihnen auch nicht in den Sinn gekommen, einen solchen Anspruch
zu machen. Aber im Vorplatz auf dem Schränkchen stand eine Ganglampe.
Sie mußte immer brennen wegen der Stundenschüler, die den langen Gang
hinunter gehen mußten bis zu dem Eckzimmer, in dem Herr Pfäffling seine
Stunden gab. Hatte aber ein Schüler den Weg gefunden und hinter sich
die Türe des Musikzimmers geschlossen, so konnten die Mädchen wohl auf
eine Stunde die Ganglampe rauben. Dann war es freilich stockfinster im
Vorplatz und manchmal stolperte eines der Geschwister, wenn es über den
Gang ging und begehrte ein wenig auf, aber das nahmen die Schwestern
kühl. Schlimmer war's, wenn sie etwa überhörten, daß die Musikstunde
vorbei war und die Schüler im Finstern tappen mußten. Dann erschraken
sie sehr, stürzten eilig hinaus, um zum Schluß noch zu leuchten,
entschuldigten sich und waren froh, wenn der Vater es nicht bemerkt
hatte.

Am 1. November ging die Sache nicht so gut ab. Fräulein Vernagelding
hatte Stunde, die Ganglampe war weg. Aus der Ferne hörten die Mädchen
das Spiel. Jetzt wurde es still, rasch gingen sie hinaus mit der Lampe.
Aber die Stunde war noch nicht aus, sie lauschten und hörten den Vater
noch sprechen: "das ist doch nicht e, wie heißt denn diese Note?"

"Sie sind noch nicht fertig," sagten sich die Schwestern und gingen
wieder an ihre Arbeit. Aber Herr Pfäffling sagte nur noch etwas rasch
zu seiner Schülerin: "Ich glaube, es ist genug für heute, besinnen Sie
sich daheim, wie diese Note heißt," und gleich darauf kam Fräulein
Vernagelding heraus und stand in dem stockfinsteren Gang. Jede andere
hätte ihren Rückweg im Dunkeln gesucht, aber das Fräulein gehörte nicht
zu den tapfersten, sie kehrte um, klopfte noch einmal am Eckzimmer an
und sagte mit ihrem gewohnten Lachen: "Ach bitte, Herr Pfäffling, mir
graut so vor dem langen dunkeln Gang, würden Sie nicht Licht machen?"

Da entschuldigte sich der Musiklehrer und leuchtete seiner ängstlichen
Schülerin, aber gleichzeitig rief er gewaltig: "Marianne!" und die
Schwestern mit der Lampe kamen erschrocken herbei. Sie wurden noch in
Gegenwart von Fräulein Vernagelding gezankt, so daß dieser ganz das
Lachen verging und sie so schnell wie möglich durch die Treppentüre
verschwand. Das Arbeiten im eigenen Zimmer mußte also mit mancher
Aufregung erkauft werden, aber sie mochten doch nicht davon lassen.

So lernten denn die jungen Pfäfflinge an den langen Winterabenden, der
eine mehr, der andere weniger, im ganzen hielten sie sich alle wacker
in der Schule, machten ihre Aufgaben ohne Nachhilfe und brachten nicht
eben schlechte Zeugnisse nach Hause.

An einem solchen Novemberabend war es, daß Herr Pfäffling in das Zimmer
trat und seiner Frau zurief: "Cäcilie, komme doch einen Augenblick zu
mir herüber, aber bitte gleich!" und er hatte kaum hinter ihr die Türe
zugemacht, als er ihr leise sagte: "Ein hochinteressanter Brief!" Sie
folgte ihm über den Gang, dieser war wieder stockfinster, aber sie
beachteten es nicht. Im Musikzimmer, wo die Klavierlampe brannte, lag
auf den Tasten ein Brief. Lebhaft reichte er ihn seiner Frau: "Lies,
lies nur!" und als er sah, daß sie mit der fremden Handschrift für
seine Ungeduld nicht schnell genug vorwärts kam, sprach er: "Die erste
Seite ist nebensächlich, die Hauptsache ist eben: Kraußold aus Marstadt
schreibt, es solle dort eine Musikschule gegründet werden, und er wolle
mich, wenn ich Lust hätte, als Direktor vorschlagen. Ob ich Lust hätte,
Cäcilie, wie kann man nur so fragen! Ob ich Lust hätte, in einer
größeren aufblühenden Stadt eine Musikschule zu gründen, alles nach
meinen Ideen einzurichten, ein mit festem Gehalt angestellter Direktor
zu werden, anstatt mich mit Vernagelding und ähnlichen zu plagen;
Cäcilie, hast du Lust, Frau Direktor zu werden?" Da wiederholte sie mit
fröhlichem Lachen seine eigenen Worte: "Ob ich Lust hätte? Wie kann man
nur so fragen!"

Und nun setzten sie sich zusammen auf das kleine altmodische Kanapee
und besprachen die Zukunftsaussicht, die sich so ganz unvermutet
eröffnete. Und sprachen so lang, bis Elschen herübergesprungen kam und
rief: "Walburg hat das Abendessen hereingebracht und nun werden die
Kartoffeln kalt!"

"Eine ganz pflichtvergessene Hausfrau," sagte Herr Pfäffling neckend,
folgte Mutter und Töchterchen und war den ganzen Abend voll
Fröhlichkeit, ging singend oder pfeifend im Familienzimmer hin und her,
und die glückliche Stimmung teilte sich allen mit, obwohl nach stiller
Übereinkunft die Eltern zunächst vor den Kindern noch nichts von dem
unsicheren Zukunftsplan erwähnten.

Herr Kraußold aus Marstadt, der durch seinen Brief so freudige
Aufregung hervorgebracht hatte, war Herrn Pfäffling aus früheren Jahren
gut bekannt, doch hatte er die Familie Pfäffling noch nie besucht. Bei
diesem Anlaß nun kündigte er sich zur Vorbesprechung der Angelegenheit
auf den nächsten Mittwoch an. Zeitig am Nachmittag wollte er eintreffen
und mit dem fünf Uhr Zug wieder abreisen. Herr Pfäffling war in einiger
Aufregung wegen des Gastes. "Er ist ein etwas verwöhnter Herr," sagte
er zu seiner Frau, "ein Junggeselle, der nicht viel Sinn für Kinder
hat, am wenigsten für sieben auf einmal. Sie sollten ganz in den
Hintergrund treten."

"Du wirst ihn wohl im Musikzimmer empfangen, dann stören die Kinder
nicht," sagte Frau Pfäffling.

"Aber zum Tee möchte ich ihn herüber ins Eßzimmer bringen. Die Kinder
können ja irgendwo anders sein, dann richtest du für uns drei einen
gemütlichen Teetisch."

Am Mittwoch wurde bei Tisch den Kindern mitgeteilt, daß sie an diesem
Nachmittag möglichst unhörbar und unsichtbar sein sollten wegen des
erwarteten Gastes. Um der Sache mehr Nachdruck zu geben, sagte der
Vater zu den Kleinen: "Laßt euch nur nicht blicken, wer weiß, wie es
euch sonst geht, wenn der Kinderfeind kommt!"

Zunächst mußten alle zusammen helfen, die schönste Ordnung
herzustellen, bis der Vater mit dem Fremden vom Bahnhof herein käme.
Das Wetter war leidlich, sie wollten sich unten im Hof aufhalten.

Am Fenster stand immer einer der Brüder als Posten und als nun der
Vater in der Frühlingsstraße in Begleitung eines kurzen, dicken Herrn
auftauchte, rannte die ganze junge Gesellschaft die Treppe hinunter und
verschwand hinter dem Haus. Dort war der Boden tief durchweicht und mit
dem zäh an den Fußsohlen haftenden Lehm ließ sich nicht gut auf den
Balken klettern. Elschen fiel gleich beim ersten Versuch herunter und
weinte kläglich, denn sie sah übel aus. Die Schwestern bemühten sich,
mit Wischen und Reiben ihr Kleid wieder zu säubern. Da tat sich ein
Fenster auf im unteren Stock und die Hausfrau rief: "Kinder, ihr macht
das ja immer schlimmer, das kann ich gar nicht mit ansehen, kommt nur
herein, ich will euch helfen. Es ist doch auch so kalt, geht lieber
hinauf!"

"Es ist ja der Kinderfeind droben!" rief Elschen kläglich.

"O weh!" sagte die Hausfrau mit freundlicher Teilnahme, "was tut auch
ein Kinderfeind bei euch! Dann kommt nur zu mir, aber streift die Füße
gut ab."

Die Mädchen ließen sich's nicht zweimal sagen. Aber Frieder wußte nicht
recht, ob er auch mit der Einladung gemeint sei. Er sah sich nach den
Brüdern um, die waren hinter den Balken verschwunden. So wollte er doch
lieber mit hinein zu der Hausfrau. Inzwischen waren aber auch die
Schwestern weg und bis er ihnen nach ins Haus ging, hatten sie eben die
Türe hinter sich geschlossen. Anklingeln wollte er nicht extra für
seine kleine Person. So hielt er sich wieder an seine treueste
Freundin, die Ziehharmonika, und bestieg mit ihr den Thron, hoch oben
auf den Brettern. Im neuen Schuljahr wurden neue Choräle eingeübt, die
wollte er auf seiner Harmonika herausbringen. Darein vertiefte er sich
nun und hatte kein Verlangen mehr nach den Brüdern, obwohl er sie von
seinem hohen Sitz ans gleich entdeckt hatte. Die drei standen an dem
Zaun, der den Balkenplatz von dem Kasernenhof und Exerzierplatz
trennte. Im Oktober waren neue Rekruten eingerückt, die nun täglich
ihre Turnübungen ganz nahe dem Zaune machten. Unter diesen Soldaten war
ein guter Bekannter, ein früherer Lehrling des Schreiners Hartwig, der
zugleich ein Verwandter der Hausfrau war und bei ihr gewohnt hatte.
Diesen nun in Uniform zu sehen, ihm beim Turnen und Exerzieren
zuzuschauen, war von großem Interesse. Er kam auch manchmal an den Zaun
und plauderte freundschaftlich mit Karl.

Aufmerksam sahen die jungen Pfäfflinge nach dem Turnplatz hinüber.
Unter den Rekruten, die jetzt eben am Turnen waren und den Sprung über
ein gespanntes Seil üben sollten, waren drei, die sich gar ungeschickt
dazu anstellten. Der eine zeigte wenigstens Eifer, er nahm immer wieder
einen Anlauf, um über die Schnur zu kommen und wenn es ihm fünfmal
mißlungen war, so kam er doch das sechste mal darüber und der Schweiß
redlicher Anstrengung stand ihm auf der Stirne. Die beiden anderen
Ungeschickten machten gleichgültige, störrische Gesichter und träge
Bewegungen. Als die Abteilung zur Kaserne zurück kommandiert wurde,
mußten sie nachexerzieren. Das war nun kein schöner Anblick. Dazu fing
es an zu regnen, große wässerige Schneeflocken mischten sich darunter,
und die kleinen Zuschauer entfernten sich im lebhaften Gespräch über
die unbeholfenen Turner. So wollten sie sich einmal nicht anstellen.
Sie wollten all diese Übungen schon vorher machen, gleich morgen sollte
da, zwischen den Balken, ein Sprungseil gespannt werden. Sie kamen an
Frieder vorbei; der hatte auch bemerkt, daß Schnee und Regen herunter
fielen und kletterte von seinem Brettersitze. Nun besprachen sich die
Brüder über ihn. Er würde vielleicht auch einmal so ein Ungeschickter.
Welche Schande, wenn ein Pfäffling so schlecht auf dem Turnplatz
bestünde. Es durfte nicht sein, daß er immer nur Harmonika spielte, sie
wollten ihn auch springen lehren, er mußte mittun, gleich morgen. Er
sagte auch ja dazu, aber es war ihm ein wenig bedenklich und mit Recht:
drei eifrige Unteroffiziere gegen _einen_ ungeschickten Rekruten!

Als sie ans Haus kamen, fiel ihnen erst wieder der Gast ein, der droben
die Gegend unsicher machte. War er vielleicht schon fort? Die Mädchen,
die noch bei der Hausfrau waren, wurden gerufen und beschlossen, daß
sie erkundigen sollten, wie es oben stünde. Marie wagte sich hinauf,
erschien bald wieder an der Treppe und winkte den anderen, leise
nachzukommen. Elschen folgte nur zaghaft den Geschwistern, sie stellte
sich den Kinderfeind als eine Art Menschenfresser vor.

"Er ist im Wohnzimmer," flüsterte Marie, "wir gehen in das Musikzimmer,
da hört man uns nicht."

Auf den Zehen schlich sich die ganze Kindergesellschaft in das
Eckzimmer. Dort fühlten sie sich in Sicherheit. Nur war von allem, was
sie gerne gehabt hätten, von Büchern und Heften oder Spielen hier
nichts zu haben. So standen sie alle sieben herum, warteten und fingen
an, in dem kühlen Zimmer zu frieren, denn sie waren naß und
durchkältet. "Wir wollen miteinander ringen, daß es uns warm wird,"
schlug Wilhelm vor und Otto ging darauf ein. Karl war auch dabei: "Ich
nehme es mit der ganzen Marianne auf," rief er, "kommt, du Marie gegen
meine rechte Hand, du Anne gegen meine linke, Frieder, Elschen, stellt
die Stühle aus dem Weg." Sie taten es und dann machten sie es den
großen Geschwistern nach. Das gab ein Gelächter und Gekreisch und aber
auch einen großen Plumps, weil Otto und Wilhelm zu Boden fielen.

In diesem Augenblick ging die Türe auf; Herr Pfäffling hatte ahnungslos
seinen Besuch aufgefordert, das Klavier zu probieren und so traten sie
miteinander ins Musikzimmer. Nein, auch für einen Kinderfreund wäre
dieser Knäuel sich balgender Knaben und ringender Mädchen kein schöner
Anblick gewesen, und nun erst für den Kinder_feind_!

Er prallte ordentlich zurück. Elschen schrie beim Anblick des
gefürchteten Fremden laut auf und ergriff eiligst durch den anderen
Ausgang die Flucht, alle Geschwister ihr nach. Aber noch unter der Türe
besann sich Karl, kehrte zurück, grüßte und sagte: "Entschuldige,
Vater, wir wollten drüben nicht stören, deshalb sind wir alle hier
gewesen," dann stellte er rasch die Stühle an ihren Platz und rettete
dadurch noch einigermaßen die Ehre der Pfäfflinge, die sich wohl noch
nie so ungünstig präsentiert hatten, wie eben diesem Fremden gegenüber.

Eine kleine Weile darnach reiste der Gast ab, von Herrn Pfäffling zur
Bahn geleitet. Die Kinder nahmen wieder Besitz von dem großen Tisch im
Wohnzimmer und saßen bald in der gewohnten Weise an ihren Aufgaben,
doch war ihnen allen bang, wie der Vater wohl die Sache aufgenommen
habe und was er sagen würde bei seiner Rückkehr von der Bahn; die
Mutter war ja nicht dabei gewesen, sie konnte es nicht wissen.

Nun kam der Vater heim. Eine merkwürdige Stille herrschte im Zimmer,
als er über die Schwelle trat. Er blieb einen Augenblick stehen und
betrachtete das friedliche Familienbild. Dann sagte er: "Da sitzen sie
nun wie Musterkinder ganz brav bei der Mutter, sanft wie unschuldige
Lämmlein, nicht wieder zu erkennen die wilde Horde von drüben!" Bei
diesem Scherzenden Ton wurde ihnen allen leicht ums Herz, sie lachten,
sprangen dem Vater entgegen und Elschen fragte: "Ist der Herr weit
weggereist, Vater, und bleibt der jetzt schön da, wo er hin gehört?"

"Jawohl, du kannst beruhigt sein, er kommt nicht mehr. Und wenn er käme
oder wenn ein anderer kommt," setzte Herr Pfäffling hinzu, indem er
sich an seine Frau wandte, "dann geben wir uns gar keine Mühe mehr,
unser Hauswesen in stiller Vornehmheit zu zeigen und in künstliches
Licht zu stellen, denn so ein künstliches Licht verlöscht doch
plötzlich und dann ist die Dunkelheit um so größer."

Ein paar Stunden später, als Elschen längst schlief, die Schwestern
Gute Nacht gesagt hatten und Frieder mit Wilhelm und Otto im
sogenannten Bubenzimmer ihre Betten aufsuchten, saß Karl noch allein
mit den Eltern am Tisch. Seit seinem fünfzehnten Geburtstag hatte er
dies Vorrecht. Es wurde allmählich still im Haus. Auch Walburg hatte
Gute Nacht gewünscht; manchmal lag kein anderes Wort zwischen ihrem
"Guten Morgen" und "Gute Nacht".

Die drei, die nun noch am Tische saßen, waren ganz schweigsam und
bewegten doch ungefähr denselben Gedanken.

Herr Pfäffling dachte: Wenn nur Karl auch zu Bett ginge, daß ich mit
meiner Frau von Marstadt reden könnte. Die Kinder sollen ja noch nichts
davon wissen. Er zog seine Taschenuhr—es war noch nicht spät. Dann ging
er auf und ab, sah wieder nach der Uhr und wurde immer ruheloser.

Frau Pfäffling dachte: Meinem Mann ist es lästig, daß wir nicht allein
sind, aber er möchte Karl doch nicht so früh zu Bett schicken. Nein,
diese Unruhe! Und dagegen die Ruhe, mit der Karl in sein Buch schaut
und nicht ahnt, daß er stört.

Darin täuschte sich aber Frau Pfäffling, denn Karl dachte: Der Vater
schweigt und die Mutter schweigt. Wenn ich zur Türe hinausginge, würden
sie reden, über Herrn Kraußold aus Marstadt, denn mit diesem hat es
eine besondere Bewandtnis. Nun zieht der Vater zum drittenmal in fünf
Minuten seine Uhr. Er möchte mich fort haben und doch nicht
fortschicken. Und die Mutter auch. Da ist's wohl angezeigt, daß ich
freiwillig gehe. Er klappte das Buch zu, stand auf und sagte: "Gute
Nacht, Vater, gute Nacht, Mutter, ich will jetzt auch gehen."

"Gute Nacht, Karl."

Sie waren überrascht, daß er so bald aufbrach. "Es ist Zufall," sagte
Herr Pfäffling. "Oder hat er gemerkt, daß er uns stört," meinte die
Mutter. "Woran sollte er das gemerkt haben? Wir haben nichts gesagt und
er hat gelesen."

"Dir kann man so etwas schon anmerken," erwiderte Frau Pfäffling
lächelnd.

"Das muß ich noch erfahren," sagte Herr Pfäffling lebhaft und rief
seinen Jungen noch einmal zurück: "Sage offen, warum du so bald zu Bett
gehst?" Einen Augenblick zögerte Karl, dann erwiderte er schelmisch:
"Weil du dreimal auf deine Uhr gesehen hast, Vater."

"Also doch? So geh du immerhin zu Bett, Karl, es ist nett von dir, daß
du Takt hast—übrigens, wenn du Takt hast, dann kannst du ebensogut hier
bleiben, dann wirst du auch nicht taktlos ausplaudern, was wir
besprechen." "Das meine ich auch," sagte Frau Pfäffling, "er wird nun
bald sechzehn Jahre. Komm, Großer, setze dich noch einmal zu uns."

Dem Sohn wurde ganz eigen zumute. Mit einemmal fühlte er sich wie ein
Freund zu Vater und Mutter herbeigezogen, und in dieser Abendstunde
erfuhr er, was seine Eltern gegenwärtig freudig bewegte.

Als er sich aber eine Stunde später leise neben seine Brüder zu Bette
legte, da besann er sich, ob irgend etwas auf der Welt ihn bewegen
könnte, das Vertrauen der Eltern zu täuschen, und er fühlte, daß keine
Lockung noch Drohung stark genug wäre, ihm das anvertraute Geheimnis zu
entreißen.

In aller Stille reiste am folgenden Sonntag unser Musiklehrer nach
Marstadt, um sich dort den Herren vorzustellen, die über die Ernennung
des Direktors für die neu zu gründende Musikschule zu entscheiden
hatten. Es kam noch ein anderer, jüngerer Mann aus Marstadt für die
Stelle in Betracht, und nun mußte sich's zeigen, ob Herr Pfäffling
wirklich, wie sein Freund Kraußold meinte, die besseren Aussichten
habe. Unterwegs nach der ihm unbekannten Stadt wurde Herr Pfäffling
immer kleinmütiger. Warum sollten sie denn ihn, den Fremdling, wählen,
statt dem Einheimischen? Sie konnten ja gar nicht wissen, wie eifrig er
sich seinem neuen Beruf widmen wollte und wie ihm dabei all seine
seitherigen Erfahrungen an der Musikschule zustatten kommen würden!

In Marstadt angekommen, machte er Besuche bei den Herren, die sein
Freund Kraußold ihm nannte. War er bei dem ersten noch verzagt, so
wuchs seine Zuversicht bei jedem weiteren Besuch, denn wie aus _einem_
Munde lautete das Urteil über seinen Mitbewerber: "Zu jung, viel zu
jung zum Direktor" Und einmal, als er in Begleitung seines Freundes
über die Straße ging, sah er selbst den Jüngling, der sein Mitbewerber
war, und von da an war er beruhigt; das war noch kein Mann für solch
eine Stelle, der sollte nur noch zehn Jahre warten!

In froher Zuversicht konnte unser Musiklehrer die Heimreise antreten.
Am Bahnhof von Marstadt bot ein Mädchen Blumen an. In seiner
hoffnungsfreudigen Stimmung gestattete er sich einen bei ihm ganz
unerhörten Luxus: Er kaufte eine Rose. Sein Freund Kraußold sah ihn
groß an: "Zu was brauchst _du_ so etwas?"

"Für die zukünftige Frau Direktor," antwortete Herr Pfäffling fröhlich,
und als sein Freund noch immer verwundert schien, setzte er ernst
hinzu: "Weißt du, sie hat es schon manchmal recht schwer gehabt in
unseren knappen Verhältnissen."

Sie verabschiedeten sich und Kraußold versprach, am nächsten Donnerstag
gleich nach Schluß der Sitzung ihm den Entscheid über die Besetzung der
Stelle zu telegraphieren. Als bei seiner Heimkehr Herr Pfäffling seiner
Frau die Rose reichte, wußte sie alles, auch ohne Worte: seine
glückselige siegesgewisse Stimmung, seine Freude, daß er auch ihr ein
schöneres Los bieten konnte, das alles erkannte sie an der unerhört
verschwenderischen Gabe einer Rose im November!

Die Sache blieb nicht länger Geheimnis. Herr Pfäffling besprach sie mit
seinem Direktor, in der Zeitung kam eine Notiz aus Marstadt über die
geplante Musikschule und die zwei Bewerber um die Direktorstelle. Auch
die Kinder hörten nun davon, die Hausleute erfuhren es und Walburg
wurde es ins Ohr gerufen.

Je näher der Donnerstag kam, um so mehr wuchs die Spannung auf den
Entscheid. Am Vorabend lief noch ein Brief von Kraußold ein, der keinen
Zweifel mehr darüber ließ, daß Pfäffling einstimmig gewählt würde.

Gegen Mittag konnte das Telegramm einlaufen. Es war noch nicht da, als
Herr Pfäffling aus der Musikschule heimkam. So setzten sie sich alle zu
Tisch wie gewöhnlich, aber die Kinder stritten sich darum, wer
aufmachen dürfte, wenn der Telegraphenbote klingeln würde. Die Mutter
hatte das aufmerksame Ohr einer Hausfrau, sie legte den Löffel aus der
Hand und sagte: "Er kommt." Einen Augenblick später klingelte es, und
von den dreien, die hinaus gerannt waren, brachte Wilhelm das Telegramm
dem Vater, der rasch den Umschlag zerriß. Es war ein langes, ein
bedenklich langes Telegramm. Es besagte, daß noch in der letzten Stunde
der Beschluß, im nächsten Jahre schon eine Musikschule zu gründen,
umgestoßen worden sei und man eines günstigen Bauplatzes wegen noch ein
paar Jahre warten wolle!

Herrn Pfäffling war zumute, wie wenn man ihm den Boden unter den Füßen
weggezogen hätte, als er las, daß die ganze Musikschule, die er
dirigieren wollte, wie ein Luftschloß zusammenbrach.

O, diese traurige Tischgesellschaft! Wie bestürzt sahen die Eltern aus,
wie starrten die Buben das unheilvolle Telegramm an, wie flossen den
Mädchen die Tränen aus den Augen, wie schaute Elschen so ratlos von
einem zum andern, weil sie gar nichts von dem allen verstand!

Frieder, der neben der Mutter saß, wandte sich halblaut an sie: "Es
wäre viel freundlicher gewesen, wenn sie das mit der Musikschule schon
vorher ausgemacht hätten, und das mit dem Vater erst nachher."

"O Frieder," rief der Vater und fuhr so lebhaft vom Stuhl auf, daß alle
erschraken, "wenn die Marstadter nur so klug wären wie du, aber die
sind so—ich will gar nicht sagen wie, das _kann_ man überhaupt gar
nicht sagen, dafür gibt es keinen Ausdruck!"

Frau Pfäffling nahm das Telegramm noch einmal zur Hand: "Ein paar Jahre
wollen sie warten," sagte sie, "vielleicht nur zwei Jahre, dann wäre es
ja nicht so sehr ferne gerückt!"

"Es können auch fünf daraus werden und zehn," entgegnete Herr
Pfäffling, "inzwischen kommen die, die jetzt noch zu jung waren, ins
richtige Alter und ich komme darüber hinaus. Nein, nein, da ist nichts
mehr zu hoffen, Direktor bin ich _gewesen_."

Mit diesen Worten verließ er das Zimmer, und man hörte ihn über den
Gang in das Musikzimmer gehen. Die Kinder aßen, was auf ihren Tellern
fast erkaltet war. "Ich wollte, Herr Kraußold wäre gar nie in unser
Haus gekommen!" sagte Anne. Da stimmten alle ein und der ganze Zorn
entlud sich über ihn, bis die Mutter wehrte: "Herr Kraußold hat es nur
gut gemeint. Ihr Kinder habt überdies allen Grund, froh zu sein, daß
wir hier bleiben. Ihr bekommt es nirgends mehr so gut wie hier außen in
der Frühlingsstraße. Für euch wäre es kein Gewinn gewesen."

"Aber für den Vater und für dich," sagte Karl, und er dachte an den
schönen Abend, an dem die Eltern ihm die frohe Zukunftsaussicht
anvertraut hatten. "Ja," sagte die Mutter, "aber der Vater und ich
kommen darüber weg. In der ersten Viertelstunde ist man wohl betroffen,
aber dann stemmt man sich gegen das Ungemach und sagt sich: dies gehört
auch zu den Dingen, die uns zum besten dienen müssen, wie alles, was
Gott schickt, und dann besinnt man sich: wie muß ich's anpacken, damit
es mir zum besten dient?" Die Mutter versank in Gedanken.

"Seid ihr satt, Kinder?" fragte sie nach einer kleinen Weile. "Dann
deckt den Tisch ab, ich will ein wenig zum Vater hinübergehen. Nehmt
auch die Rose mit hinaus, die Blätter fallen ab."

Im Eckzimmer wanderte Herr Pfäffling auf und ab und wartete auf seine
Frau, denn er wußte ganz gewiß, daß sie zu ihm kommen würde. Sie hatten
schon manches Schwere miteinander getragen, und nun mußte auch diese
Enttäuschung gemeinsam durchgekämpft werden.

Als Frau Pfäffling eintrat, hatte ihr Mann ein Blatt Papier in der Hand
und reichte es ihr mit schmerzlichem Lächeln: "Da sieh, gestern abend
war ich so zuversichtlich, da habe ich für dich ein kleines Lied
komponiert, das wollte ich dir heute abend mit der Guitarre singen. Die
Kinder hätten im Chor den Schlußreim mitsingen dürfen, auf den jeder
Vers ausgeht:

"'Drum rufen wir mit frohem Sinn:
Es lebe die Direktorin!'


"Nun muß es heißen:

"'Schlag dir die Ehre aus dem Sinn
Du wirst niemals Direktorin.'"


"Nein, nein," wehrte Frau Pfäffling, "du mußt es anders umändern, es
muß ausgedrückt sein, daß wir trotz allem einen frohen Sinn behalten."

"Für den Gedanken finde ich jetzt noch keinen Reim," sagte er
trübselig, "ich brauche auch keinen, mit dem Lied kannst du Feuer
machen."

Sie sprachen noch lange von der großen Enttäuschung, und dann kamen sie
auf den beginnenden Winter zu sprechen, für den noch nicht so viel
Stunden angesagt waren als nötig erschien, um gut durchzukommen. So
erschien ihnen die Zukunft grau wie der heutige Novemberhimmel.

Inzwischen war wohl eine halbe Stunde vergangen. Da fragte vor der Türe
eine Kinderstimme: "Dürfen wir herein?"

"Was wollt ihr denn?" rief dagegen, wenig ermutigend, der Vater. Unter
der Türe erschienen die drei Schwestern; voran die Kleine mit
strahlendem Ausdruck, dann Marie und Anne. Sie trugen zwei Tassen,
Kaffee- und Milchkanne und stellten das alles vorsichtig auf den Tisch.
Die zwei Großen sahen zaghaft aus, wußten nicht recht, wie die
Überraschung wohl aufgenommen würde. "Was fällt euch denn ein, Kinder?"
fragte die Mutter. Marie antwortete, aber ihre Stimme zitterte und die
Tränen wollten kommen: "Wir haben auf heute einen Kaffee gemacht, weil
ihr fast nichts gegessen habt!" und Anne flüsterte der Mutter zu: "Von
unserem Geld, du darfst nicht zanken." Schnell gingen sie wieder hinaus
und hörten eben unter der Türe, wie die Mutter freundlich sagte: "Dann
kann ich freilich nicht zanken," so war also die Überraschung gut
aufgenommen worden.

Solch ein Kaffee nach Tisch war eine Liebhaberei von Herrn Pfäffling,
die er sich nur an Festtagen gestattete. So kam es ihm auch wunderlich
vor, sich gerade heute mit seiner Frau an den Kaffeetisch zu setzen, er
war sich keiner festtäglichen Stimmung bewußt! Aber man mußte es doch
schon den Kindern zuliebe tun, sicher würde Marie, das Hausmütterchen,
gleich nachher visitieren, ob auch die Kannen geleert seien. Diesem
festtäglichen Kaffee gegenüber wich die graue Novemberstimmung
unwillkürlich, und bei der zweiten Tasse sagte unser Musiklehrer zu
seiner Frau: "Man müßte eben den Schlußreim so verändern:

"'Direktor her, Direktor hin,
Wir haben dennoch frohen Sinn.'"


Der letzte Schluck Kaffee war noch nicht genommen, da klingelte es.
Frau Pfäffling horchte und rief erschrocken: "Kann das Fräulein
Vernagelding sein?"

"Donnerstag? Freilich, das ist ihr Tag. O, die unglückselige Stunde,
die hatte ich total vergessen, muß die auch gerade heute sein! Wenn ich
die jetzt vertrage, Cäcilie, dann bewundere ich mich selber. Du glaubst
nicht, wie unmusikalisch das Fräulein ist!" Frau Pfäffling hatte das
Kaffeegeschirr rasch auf das Brett gestellt und war längst damit
verschwunden, bis Fräulein Vernagelding im Vorplatz am Kleiderhalter
und Spiegel Toilette gemacht und ihre niedlichen Löckchen
zurechtgesteckt hatte. Herr Pfäffling nahm sich gewaltig zusammen, als
diese unbegabteste aller Schülerinnen sich neben ihn ans Klavier setzte
und mit holdem Lächeln sagte: "Heute dürfen Sie es nicht so streng mit
mir nehmen, Herr Pfäffling, ich konnte nicht so viel üben, denken Sie,
ich war gestern auf meinem ersten Ball. Es war ganz reizend. Ich war in
Rosa."

"Freut mich, freut mich," sagte Herr Pfäffling und trippelte bereits
etwas nervös mit seinem rechten Fuß. "Aber jetzt wollen wir gar nicht
mehr an den Ball denken, sondern bloß an unsere Tonleiter. G-dur. Nicht
immer wieder f nehmen statt fis, das lautet greulich für mich. Schon
wieder f! Wieder f! Aber Sie nehmen ja jedesmal f, Sie denken wieder an
den gestrigen Ball!" "Nein, Herr Pfäffling," entgegnete sie und sah ihn
strahlend an, "ich denke ja an den morgigen Ball, was sagen Sie dazu,
daß ich morgen schon wieder tanze! Diesmal in Meergrün. Ist das nicht
süß?" Herr Pfäffling sprang vom Stuhl auf. "Süß, ja süß!" wiederholte
er, "aber zwischen zwei Bällen Sie mit der G-dur Tonleiter zu plagen,
das wäre grausam, vielleicht auch gegen mich. Da gehen Sie lieber heim
für heute."

"Ja, darf ich?" sagte sie aufstehend, und die hoffnungsvolle Schülerin
empfahl sich mit dankbarem Lächeln und Knix.

Als Frau Pfäffling durch den Vorplatz ging, sah sie mit Staunen, daß
Fräulein Vernagelding schon wieder am Spiegel stand. Sie hatte diesmal
entschieden mehr Zeit am Spiegel als am Klavier verbracht.

Herr Pfäffling erzählte, daß ihm die Geduld ausgegangen sei, er glaube
aber nicht, daß es das Fräulein übelgenommen habe.

"Aber Frau Privatiere Vernagelding wird um so mehr gekränkt sein,"
sagte Frau Pfäffling besorgt.

Unnötige Sorge! Als das tanzlustige Fräulein daheim von der abgekürzten
Stunde berichtete, sagte die Mutter: "Dies ist ein einsichtsvoller
Herr. Er gönnt doch auch der Jugend ihr unschuldiges Vergnügen. Wir
müssen ihm gelegentlich ein Präsent machen, Agathe."



3. Kapitel
Der Leonidenschwarm.


Samstag nachmittag war's und eifrige Tätigkeit in Haus und Hof. Frau
Pfäffling und Walburg hatten viel zu putzen und zu ordnen und auf die
Hilfe von Marie und Anne wurde dabei schon ganz ernstlich gerechnet. Ob
sie gerne das Geschirr in der Küche abtrockneten und mit Vorliebe den
Staub wischten, ob sie mit Lust die Leuchter putzten und mit Freuden
die Lampen, das wußte niemand, aber das wußten alle, daß diese Arbeiten
geschehen mußten und Walburg nicht mit allem allein fertig werden
konnte.

Die Brüder hatten auch für etwas einzustehen im Haus: Sie mußten
sorgen, daß in der Holzkammer stets fein gespaltenes Holz vorrätig war.
Das hatten sie aber heute schon besorgt und nun waren sie in fröhlicher
Tätigkeit auf dem Balkenplatz. Der Schreinersgeselle, Remboldt, der als
Soldat diente und durch den Zaun die Freundschaft mit den jungen
Pfäfflings pflegte, hatte gesehen, wie sie sich mühsam ein Sprungseil
zu spannen versuchten und nicht zurecht damit kamen. Darauf hatte er
ihnen versprochen, ihnen zu helfen, sobald er frei habe, und nun war er
herübergekommen. Mit seiner Hilfe ging die Sache anders vonstatten.
Zwei Pfähle wurden eingerammelt, an denen sich das Seil in
verschiedener Höhe spannen ließ, ganz wie drüben auf dem
Militärturnplatz, nur daß auf kleinere Turner gerechnet werden mußte.
Frieder wurde herbeigeholt. Er war für einen Achtjährigen noch ein
kleiner Kerl und nicht so gewandt wie seine leichtfüßigen Brüder. Es
zeigte sich, daß man das Seil noch viel näher am Boden spannen mußte,
und als er seine ersten Sprungversuche machte und fest auf das Seil,
anstatt darüber sprang, lachten sie alle und nannten ihn, wie in seinen
früheren Kinderjahren, das kleine Dummerle. Er nahm das aber nicht
übel, um so weniger als Remboldt, der inzwischen Frieders Harmonika
genommen und umsonst probiert hatte, etwas Wohlklingendes
herauszulocken, bewundernd sagte: "Wie der Kleine nur so umgehen kann
mit dem großen Instrument, gestern haben ihm viele Soldaten zugehört,
da hat's geklungen wie das Lied: 'Wachet auf, ruft uns die Stimme'."
"Ja, das war's," sagte Frieder, "das lernen wir jetzt in der Schule."

"Was sagt denn dein Lehrer dazu, wenn du die Lieder so spielen kannst?"

"Ich nehme doch die Harmonika nicht mit in die Schule!" sagte Frieder
ganz erstaunt. "Nimm sie doch einmal mit," entgegnete Remboldt, "da
wirst du sehen, wie der Lehrer Respekt vor dir bekommt und alle deine
Mitschüler." Frieder machte große Augen. Daheim war eigentlich immer
nur eine Stimme des Ärgers über sein Spiel, und nun meinte Remboldt, er
sollte seine Harmonika absichtlich dahin mitnehmen, wo recht viele sie
hören würden? Zweifelnd sah er auf seine alte, treue Begleiterin.
Bisher hatten sie sich immer möglichst miteinander entfernt von allen
Menschen, und nun sollten sie sich vordrängen? Ihm kam es unbescheiden
vor, aber doch auch lockend, und so ging er nachdenklich davon, während
seine Brüder sich noch mit Remboldt unterhielten. Dieser erzählte gern
von seinem Soldatenleben, bei dem er mit Leib und Seele war. Und heute
hatte er Neues zu berichten: "Heute nacht war ich auf der Wache," sagte
er, "vor dem Kasernentor. Da bläst einem der Wind eisig um die Ohren
und die Füße werden steif, wenn man nicht immerzu hin und her läuft.
Man hört auch gern seinen eigenen Tritt, weil's so totenstill ist, man
meint, man sei ganz allein auf der Welt. Es war so eine finstere Nacht,
kein Mondschein am Himmel und im Westen eine schwarze Wand, nur im
Osten war's hell und ein paar Sterne am Himmel. Vor mir war der weite,
leere Kasernenhof, hinter mir die lange, schwarze Kasernenmauer, ganz
unheimlich, sage ich euch. Da, nach Mitternacht, hat sich der Wind
gelegt und der Himmel ist klarer geworden. Wie ich nun so hinausschaue,
wie immer mehr Sterne herauskommen, da fliegt einer in großem Bogen
über den halben Himmel, und wie ich dem nachschaue, kommt wieder einer
und zwei auf einmal und so ging's fort und mir war's gerade, wie wenn
mir zuliebe so ein himmlisches Feuerwerk veranstaltet wäre, denn,
dachte ich, es sieht's ja sonst niemand als du. Mir war's ganz
feierlich zumute. Ich nahm mir aber vor: den Kameraden erzählst du das
nicht, sie meinen sonst, du flunkerst. Aber da kam morgens eine
Abteilung von einer nächtlichen Felddienstübung heim und die hatten es
auch beobachtet und fingen gleich davon an zu erzählen. Ihnen hat ihr
Hauptmann erklärt, daß alle Jahre in den Nächten um den 12. bis 15.
November herum so ein Sternschnuppenschwarm sei, der heiße der
Leonidenschwarm. In manchen Jahren sei er besonders reich und so in
diesem. Aber erst nach Mitternacht und man sehe es nur selten so schön
wie in der vergangenen Nacht, weil die Novembernächte meistens trüb
seien. Wenn's heute nacht hell wäre, ich wollte gleich wieder auf die
Wache ziehen um den Preis."

Karl, der große, Wilhelm, der zweite, Otto, der dritte, sie kamen alle
mit _einem_ Gedanken vom Hof herauf: den Leonidenschwarm mußten sie
sehen! Heute oder morgen wollten sie nach Mitternacht hinuntergehen und
von dem Balken aus die Sternschnuppen beobachten. Wenn nur die
Erlaubnis der Eltern zu bekommen war. Oder konnte man's ungefragt
unternehmen? Es war ja nichts Schlimmes. Sie berieten miteinander. Die
Schwestern kamen dazu und wurden eingeweiht in den Plan. Da entschied
Marie, das praktische Hausmütterchen: "Ohne Erlaubnis geht das nicht,
weil es nicht ohne Hausschlüssel geht, die Haustüre wird nachts
geschlossen." Also mußte man bittend an die Eltern kommen. Der Vater
wollte nicht gern der Jugend den Hausschlüssel anvertrauen und die
Mutter meinte, so vom Bett in die Novembernacht hinaus würden sie sich
erkälten. Und alle beide fürchteten sie, die Hausleute möchten bei
Nacht gestört werden. Dagegen sagte der Vater, seine Buben dürften
nicht so zimperlich sein, daß sie nicht eine Stunde draußen in der
Winternacht aushalten könnten, und die Mutter erzählte, daß sie schon
von ihrer Jugend an den Wunsch gehabt hätte, so einen
Sternschnuppenschwarm zu sehen, die drei Brüder versicherten, daß sie
lautlos die Treppe hinunterschleichen würden. Da machte die kleine
Else, die gespannt zugehört hatte, ob die Brüder mit ihrer Bitte wohl
durchdringen würden, den Schluß, indem sie erklärte: "Also dann dürft
ihr!" Da lachten sie alle und niemand widersprach. Aber doch war es nur
so eine halbe Erlaubnis, und die Brüder hielten es für klug, nimmer auf
das Gespräch zurückzukommen. Überdies fing es am Abend an zu regnen, ja
es regnete auch noch den ganzen Sonntag und niemand dachte mehr an die
Sternschnuppen. Als aber am Sonntag abend Karl zu Bett ging, bemerkte
er, daß am Himmel ein paar Sterne sichtbar waren. Wenn es nun doch
möglich würde? Er richtete seine Weckuhr auf 1 Uhr und konnte vor
Erwartung kaum einschlafen. Während nun Stille im ganzen Haus wurde und
die Nacht weiter vorrückte, lösten und verteilten sich am Himmel immer
mehr die schweren Wolken, ein Stern nach dem andern leuchtete hervor
und als, vom Wecker aufgeschreckt, Karl ans Fenster huschte um zu
sehen, ob etwas zu hoffen wäre, strahlte ihm der klarste Himmel
entgegen, ja, er meinte sogar ein kurzes Leuchten wie von einer
fliegenden Kugel gesehen zu haben.

Es war nun keine kleine Aufgabe, Wilhelm und Otto zu wecken, ohne dabei
das ganze Haus aufzumuntern. Zum Glück lag das Bubenzimmer nicht neben
dem Schlafzimmer der Eltern. Die verschlafenen Brüder hatten nicht
einmal mehr Lust zu dem nächtlichen Unternehmen, aber die stellte sich
wieder ein, sobald sie ganz wach waren, und nun richteten sich die Drei
in aller Stille. Nebenan schliefen die Schwestern. Plötzlich ging die
Türe leise auf, ein Arm streckte sich herein und ein geheimnisvolles:
"Gelt ihr geht? Da habt ihr unsern Schal!" wurde geflüstert; das große
warme Tuch flog herein, die Türe ging leise wieder zu. Mit klopfendem
Herzen nahm Karl den Hausschlüssel vom Nagel, in Strümpfen, die Stiefel
in der Hand, schlichen sie alle Drei über den Gang, und die Treppe
hinunter. Aber ehe sie hinaustraten in den nassen Hof, mußten doch die
Stiefel angezogen werden und das ging nicht so ganz ohne jegliches
Geräusch, nicht ohne Geflüster. Auch der Schlüssel bewegte sich nicht
ohne metallenen Klang im Schloß und die Türe nicht ohne Knarren in den
Angeln. Hingegen ging sich's lautlos auf dem bodenlosen Weg nach dem
Balken, und als die Drei erst hinter den Brettern, nahe dem
Kasernenzaun waren, schien ihnen das Unternehmen gelungen.

Das wachsame Ohr von Frau Hartwig, der Hausfrau, hatte aber etwas
gehört. Sie wußte zunächst selbst nicht, an was sie erwacht war, aber
sie hatte das Gefühl: Irgend etwas ist nicht in Ordnung. Sie setzte
sich im Bett auf, horchte, vernahm ganz deutlich den ihr wohlbekannten
Ton der sich schließenden Haustüre und dann ein Flüstern außerhalb
derselben. "Es ist jemand hinausgegangen," sagte sie sich, "wer hat
nachts um 1 Uhr hinauszugehen?" Sie besann sich, es war ihr
unerklärlich. "Es ist ungehörig," sagte sie sich, "wer solch nächtliche
Spaziergänge macht, der soll nur draußen bleiben," und rasch
entschlossen ging sie hinaus und schob den Nachtriegel an der Haustüre
vor. Dann legte sie sich beruhigt wieder, nun konnte niemand ins Haus
herein, ohne anzuklingeln; auf diese Weise wollte sie schon
herausbringen, wer hinausgeschlüpft war. War es jemand mit gutem
Gewissen, der mochte klingeln.

Auf Frieders hohem Brettersitz saßen die drei Brüder in der Stille der
Nacht und sahen erwartungsvoll hinauf nach dem Sternenhimmel. In
wunderbarer Klarheit wölbte er sich über ihnen. Das war ein Schimmern
und Leuchten aus unendlichen Fernen! Keiner von ihnen hatte es je so
schön gesehen. "Wenn auch weiter gar nichts zu sehen wäre," sagte Karl,
"so würde mich's doch nicht reuen, daß ich aufgestanden bin." "Mich
reut's auch nicht," sagte Wilhelm, "obwohl ich's gar nicht glaube, daß
einer von den Sternen auf einmal anfängt zu fliegen. Die stehen da
droben alle so fest!"

"Seht, seht da!" rief in diesem Augenblick Otto und deutete nach Osten.
Ein heller, weißglänzender Stern schoß am Firmament in weitem Bogen
dahin und war dann plötzlich verschwunden. In einem Nu hatte er die
riesige Bahn durchflogen, wie weit wohl? Ja, das mochte wohl eine
Strecke gewesen sein, größer als das ganze Deutsche Reich. Staunend
sahen die Kinder hinauf: da—schon wieder eine Sternschnuppe, größer als
die vorige, in gelbem Licht strahlend, und nach wenigen Minuten wieder
eine. Die meisten kamen aus derselben Himmelsgegend und flogen in
gleicher Richtung. Die Kinder fingen an zu zählen, aber als die Zeit
vorrückte und es auf den Turmuhren 2 Uhr geschlagen hatte, wurden die
Sternschnuppen immer häufiger, oft waren zwei oder drei zugleich
sichtbar, es war über alles Erwarten schön. Allmählich schoben sich
aber von Westen herauf immer größere Wolkenmassen und fingen an, die
Sterne zu verdunkeln. Endlich kam das Gewölk bis an die Himmelsgegend,
von der die meisten Sternschnuppen ausgingen, und wie wenn den
staunenden Blicken nicht länger das schöne Schauspiel vergönnt sein
sollte, zog sich eine dichte Decke über die ganze Herrlichkeit.

Noch standen die Kinder auf ihrem Posten und hofften, die Wolken würden
sich wieder verteilen. Da und dort schimmerte zwischendurch ein
einzelner Stern. "Sie sind alle noch da und fliegen herum," sagte Otto,
"nur die Wolken sind davor." Nun wurde es vollständig Nacht, und die
Brüder empfanden auf einmal, daß es kalt war und sie selbst müd und
schläfrig. Jetzt ins warme Bett zu schlüpfen, mußte köstlich sein! Also
kletterten sie herunter und gingen in der Stockfinsternis dem Haus zu.

"Hast du doch den Schlüssel, Karl?" "Jawohl, da ist er."

"Das wäre kein Spaß, wenn du den verloren hättest und wir müßten da
draußen bleiben in der Kälte!"

Sie kamen nun nahe an das Haus, schlichen sich leise und schweigend an
die Türe. Karl schloß auf und klinkte an der Schnalle, aber die von
innen verriegelte Türe ging nicht auf. "Was ist denn das?" flüsterte
Karl, drehte den Schlüssel noch einmal im Schloß auf und zu und klinkte
und drückte gegen die Türe, aber die gab nicht nach.

"Laß doch mich probieren," sagte Wilhelm leise, "du hast wohl falsch
herumgedreht," er brachte ebensowenig zustande und Otto nicht mehr.

"Laßt doch, ihr verdreht das Schloß noch," sagte Karl, "ihr seht doch,
es geht nicht. Was kann denn aber schuld sein? Das Schloß ist doch in
Ordnung, was hält die Türe zu?"

In leisem Flüsterton gingen nun die Vermutungen hin und her. "Jemand
hat etwas vor die Türe gestellt, damit wir nicht hereinkönnen." "Oder
den Riegel vorgeschoben."

"Ja, ja, den Riegel. Natürlich, der Riegel ist vorgeschoben! Wer hat
das getan? Wer hat uns hinausgeriegelt?" Da meldete sich das Gewissen:
"Vielleicht der Vater, weil wir nichts gesagt haben!"

"Aber er hat es doch erlaubt!"

"Ich weiß nicht mehr so recht, hat er's wirklich erlaubt?"

"Wir hätten vielleicht um den Hausschlüssel bitten sollen."

"So wird's sein: Der Vater hat den Wecker gehört, hat gemerkt, daß wir
ungefragt fortgehen und hat hinter uns zugeriegelt. Es muß ja so sein,
wer hätte es sonst tun sollen?"

Nach einigem Nachdenken über diese traurige Lage sagte Karl: "Klingeln
dürfen wir nicht, gehen wir wieder hinter auf den Platz, wickeln uns in
den warmen Schal und legen uns auf ein Brett, da kann man schon
schlafen."

So schlichen sie noch einmal wie drei kleine Sünder ums Haus herum und
suchten sich ein Lager zu machen auf den Brettern. Wenn es nur nicht so
stockfinster gewesen wäre und die Bretter so naß und so hart und so
unbequem und wenn es nur vor allem nicht so bitter kalt gewesen wäre!
Karl blieb nur einen Augenblick liegen, dann sprang er auf: "Der Schal
reicht doch nicht für drei, ihr könnt ihn haben und ich laufe lieber
hin und her, wie wenn ich Wache hätte. Wer weiß, in drei Jahren muß
ich's ganz im Ernst tun." Er wickelte die Brüder in das Tuch, wanderte
stramm hin und her, war ganz wohlgemut und dachte an das Soldatenleben.
Aber nach einer kleinen Weile hörte er einen seltsamen Ton. Was war
denn das? Er kam näher zu den Brüdern her—wahrhaftig, Otto schluchzte
und weinte ganz laut. Er hatte ein wenig geschlafen und war nun
aufgewacht und klagte, es tue ihm alles weh. Auch Wilhelm erhob sich
wieder aus seiner unbequemen Lage und schien ebenso nahe am Weinen. Da
fühlte sich Karl als Ältester verantwortlich: "Die müssen ins Bett,"
sagte er sich, "sonst werden sie krank. Kommt, wir wollen sehen, ob wir
nicht die Marianne wach rufen können, damit sie uns ausriegelt." Da
waren die Verschlafenen gleich wieder munter. Sie gingen nach der Seite
des Hauses, wo das Schlafzimmer der Mädchen lag, und nun galt es so
laut zu rufen, daß diese aufwachten, und zugleich so leise, daß
Hartwigs, die unter ihnen schliefen, nichts hörten. "Marianne,
Marianne," klang es zuerst leise und allmählich lauter. Es ging aber
umgekehrt, als es hätte gehen sollen, die Schwestern hörten nichts und
die Hausleute wachten auf.

Die Hausfrau lächelte ganz befriedigt. "Aha," sagte sie sich, "nun
möchte man wieder herein." Sie erzählte ihrem Mann von der verriegelten
Türe. Er machte das Fenster auf: "Wer ist da?" rief er. Die Brüder
erschraken, als sie des Hausherrn Stimme hörten. Keiner rührte sich,
keiner antwortete. Der Hausherr starrte in die Dunkelheit hinaus,
lauschte—sah nichts, hörte nichts und schloß das Fenster. Eine gute
Weile blieben unsere drei Ausgestoßenen wie angewurzelt stehen. "Wir
wollen etwas an das Fenster hinaufwerfen," schlug Karl vor, und sie
tasteten nach Steinchen und warfen. Aber sie trafen ganz schlecht in
der Dunkelheit, fingen wieder an "Marianne" zu rufen und fanden es
unbegreiflich, daß die Schwestern so fest schliefen.

"Ich habe ganz deutlich die Stimme von einem Pfäffling erkannt," sagte
die Hausfrau zu ihrem Mann, "es wird doch keines von den Kindern
draußen sein in der kalten Nacht? Laß mich mal rufen, mich kennen sie
besser!" und leise öffnete sie das Fenster und rief freundlich: "Seid
Ihr es, Kinder?" Auf diesen Lockton gingen sie. "Ja wir sind's," riefen
sie dreistimmig, näherten sich dem Fenster und sagten: "Wir wollten nur
Marianne rufen, damit sie uns hereinläßt." Die Hausfrau erschrak. So
hatte sie die Kinder hinausgeschlossen. An die Bösen hatte sie gedacht,
denen es recht geschah, an die Guten, die klingeln würden, aber nicht
an die Bescheidenen, die nicht klingeln mochten.

"Ich mache euch gleich auf, Kinder," sagte sie, "wie kommt ihr nur
hinaus?"

"Wir haben den Leonidenschwarm angesehen." "Aber Kinder!" rief sie
vorwurfsvoll und schloß das Fenster.

"Was haben sie angesehen? Den Leonidenschwarm?" fragte der Hausherr,
"was ist denn das wieder? Eine Studentenverbindung? Ein Verein? Und da
schwärmen die Buben hinaus ohne ihren Vater und bleiben bis gegen
Morgen?"

Herr Hartwig war sehr aufgebracht. "Bleibe du nur da," sagte er zu
seiner Frau, "ich will selbst hinaus, und ihnen sagen, was nötig ist.
Wenn man nicht mehr seine Nachtruhe hat, nicht weiß, ob das Haus nachts
geschlossen bleibt, dann hört ja alles auf. Für solche Mietsleute
bedanke ich mich!"

Mittlerweile hatte der Hausherr sich angekleidet, kam heraus und schob
den Riegel der Haustüre zurück. Die drei frierenden, übernächtigen
Kameraden sahen nicht erfreulich aus und Schreiner Hartwig maß sie mit
so verächtlichem Blick, daß ihnen sogar die gewohnte Entschuldigung
entfiel, sie standen vor ihm wie das böse Gewissen. Er schob sie von
der Türe weg und den Riegel mit Gewalt wieder vor und dann sprach er
ruhig und deutlich den _einen_ Satz: "Sagt eurem Vater, auf ersten
Januar sei ihm die Wohnung gekündigt."

Ach, auf den nassen, harten Brettern draußen in der Winterkälte war es
den drei Brüdern nicht so elend zumute gewesen als in den eigenen
Betten, in die sie ganz vernichtet sanken. Sie waren ja noch immer der
Meinung, der eigene Vater habe den Riegel vorgeschoben; hatte er ihr
Fortgehen schon so schlimm aufgenommen, wie mußte er erst zürnen, wenn
er erfuhr, was daraus entstanden war! Und wie deutlich erinnerten sie
sich der Wohnungsnot vor zwei Jahren, wo der Vater von einem Haus zum
andern gegangen und von jedem Hausherrn abgewiesen war, weswegen? Wegen
der sieben Kinder! Und nun war durch sie die Kündigung
herausbeschworen, in ihren Augen das größte Familienunglück!

Wilhelm und Otto schliefen trotz allem bald ein, denn sie fühlten sich
ein wenig gedeckt dadurch, daß Karl, der große, der Anführer gewesen
war. Um so schwerer lag diesem die Sache auf, und er konnte sich nicht
vorstellen, wie er am Morgen den Eltern unter die Augen treten sollte.
Er fand nur einen kurzen, unruhigen Schlaf.

Frieder hatte von allem, was seine Schlafkameraden erlebt hatten, keine
Ahnung. Er wunderte sich aber am Morgen, daß sie alle schwer aus dem
Bett kamen, bedrückt und einsilbig waren, und wunderte sich noch mehr,
als die Schwestern durch die Türspalte hereinriefen: "War's recht schön
heute nacht?" Als er aber gern erfahren hätte, von was die Rede sei,
bekam er ungeduldige Antwort: "Sei nur still, du wirst noch genug davon
hören." Sie waren sonst alle flinker als Frieder, heute aber kam dieser
zuerst ins Wohnzimmer, wo die Eltern schon mit den Schwestern beim
Frühstück waren und von Marie und Anne wußten, daß die Brüder in der
Nacht fort gewesen waren. Diese zögerten aber immer noch, zu kommen.
Endlich sagte Karl: "Es hilft uns ja doch nichts, einmal muß es gesagt
werden, kommt!"

Er ging tapfer voran, Wilhelm und Otto hinter ihm. So traten sie in das
Wohnzimmer, wo Herr Pfäffling sich gleich lebhaft nach ihnen umwandte.
"Nun," fragte er, "ist eure Expedition geglückt? Heute nacht um 11 Uhr
hat sich der Himmel so schön aufgeklärt, da dachte ich an euch, war
aber der Meinung, ihr würdet die Zeit verschlafen. War's denn nun
schön?"

Die drei waren so betroffen über die unerwartet freundliche Anrede, daß
sie zunächst gar keiner Antwort fähig waren. Frau Pfäffling ahnte
gleich Böses. "Ihr seht alle so schlecht aus," sagte sie, "ist's euch
nicht gut? Oder habt ihr den Hausschlüssel verloren?"

"Das nicht."

"Also, was sonst, redet doch!" rief der Vater. Da trat Karl näher und
sagte: "Ich will es ganz erzählen wie es war. Um ein Uhr sind wir
hinunter gegangen, ganz leise, ohne Stiefel. Sind auf den Balken
gewesen—wie schön es da war, sage ich später. Um halb drei Uhr etwa
wollen wir wieder ins Haus, da ist die Türe von innen zugeriegelt."

"Aber wie abscheulich! wer hat das getan!" riefen die Schwestern wie
aus einem Mund.

"Klingeln mochten wir nicht, so gingen wir wieder zurück, wollten auf
den Brettern schlafen, aber es war zu kalt. So schlichen wir unter
Mariannens Fenster und wollten sie wecken. Wir riefen ihr leise, das
hörte die Hausfrau und fragte durch's Fenster, ob wir's seien. Wir
sagten, wo wir herkämen und daß wir nicht hereinkönnten. Da riegelte
Herr Hartwig die Haustüre auf und ließ uns herein." Karl hielt inne.

"So habt ihr richtig die Hausleute gestört!" sagte Frau Pfäffling.
"Hättet ihr mir doch gesagt, daß ihr in dieser Nacht fort wollt, ich
würde euch vorher hinunter geschickt haben, damit sie davon wissen. So
aber waren sie wohl ängstlich, als sie etwas hörten und haben deshalb
geriegelt. Habt ihr euch recht entschuldigt?"

"Er hat uns dazu gar keine Zeit gelassen." Sie senkten die Köpfe. Herr
Pfäffling sah seine Söhne aufmerksam an. "Kinder, ihr habt noch nicht
alles gesagt."

"Nein." Da trat eine bange Stille ein, bis Karl sich ermannte und die
schlimme Botschaft aussprach: "Der Hausherr läßt dir sagen, auf 1.
Januar sei gekündigt."

Ein Ausruf des Schreckens entfuhr der Mutter, und den Schwestern der
Jammerschrei: "O hätten wir doch das Rufen gehört, wären wir doch
aufgewacht!" Herr Pfäffling aber sträubte sich, die Nachricht zu
glauben. "Es ist doch gar nicht möglich, daß das sein Ernst ist,
glaubst du das, Cäcilie? Kann das wirklich sein? Kündigt man, weil man
einmal im Schlaf gestört wird? Täten wir das? Mich dürfte man zehnmal
wecken und ich dächte noch gar nicht an so etwas. War er denn im Zorn,
was hat er denn sonst noch gesagt?"

"Kein Wort weiter, aber das so langsam und deutlich, wie wenn er sich's
schon vorher ausgedacht hätte."

"Und ihr habt euch nicht entschuldigt, habt kein Wort gesagt, um ihn zu
begütigen? Ihr Stöpsel! Und warum habt ihr denn nicht lieber
geklingelt? Ist unsere Hausglocke zum Schmuck da oder zum Läuten? Die
Marianne rufen! Der Einfall! Die schlafen doch wie Murmeltiere!"

Frau Pfäffling unterbrach die immer lebhafteren Ausrufe ihres Mannes:
"Es ist gleich Schulzeit und ich meine, wenn es die Buben auch nicht
verdient haben, sollten sie doch einen warmen Schluck trinken, ehe sie
in die Schule gehen, sieh, wie sie aussehen."

"Wie die Leintücher," sagte der Vater, "schnell, setzt euch,
frühstückt!"

So waren die drei doch wieder zu Gnaden am Tisch angenommen und konnten
wirklich ihr Frühstück brauchen, nach dieser Nacht! Wilhelm und Otto
verschlangen ihr Teil mit wahrem Heißhunger, und als sie damit fertig
waren, griffen sie noch über zu dem Teil ihres Frieders, der vor
Horchen und Staunen noch gar nicht ans Essen gekommen war und sich auch
nicht wehrte gegen den Übergriff; so etwas kam hie und da vor und heute
fühlte er, daß es so sein müsse.

Herr Pfäffling umkreiste noch eine Weile den Tisch in heftiger
Erregung, so daß es seiner Frau schier schwindelte, endlich atmete er
tief auf, seufzte: "O Marstadt, Marstadt!" und verließ das Zimmer, um
sich zum täglichen Gang nach der Musikschule zu richten. Rascher noch
als sonst eilte er durch den untern Hausflur, er hatte keine Lust, den
Hausherrn zu begegnen. Aber da wäre gar keine Gefahr gewesen, auch der
Schreiner wünschte keine Begegnung und wartete ab, bis alle Glieder der
Familie Pfäffling auf dem Schulweg waren, ehe auch er das Haus verließ.

So gab es zwei Männer im Haus, die sich mieden, aber es gab auch zwei
Frauen, die sich suchten. Frau Hartwig tat das Herz weh bei dem
Gedanken an die Sorge, die der Familie Pfäffling auferlegt wurde, jetzt
bei Beginn des Winters und nach der eben erlebten Enttäuschung durch
die Direktorsstelle. Und es kränkte sie, daß ihr Mann mit Recht von der
leichtsinnigen Gesellschaft da droben sprechen konnte. Sie hatte so
viel von der Familie gehalten, ja, sie spürte es erst jetzt recht
deutlich, eine wahre Liebe hatte sie für sie alle empfunden, ganz
anders als je für frühere Mietsleute. Sie mußte das alles mit Frau
Pfäffling besprechen. Aber ihr Mann war dagegen, daß sie hinaufging.

Frau Pfäffling ihrerseits war ganz irre geworden an den Hausleuten. Sie
hatte so viel Vertrauen in sie gehabt und sie hochgeachtet wegen des
echten christlichen Sinnes, den sie jederzeit bewährt hatten. Wie
stimmte dazu die Lieblosigkeit, die Kinder in die kalte Nacht
hinauszuschließen und dann noch zu kündigen, und das alles bloß wegen
einer gestörten Nachtruhe! Sie mußte sich das erklären lassen von Frau
Hartwig, aber mit ihr _allein_ wollte sie sprechen. So strebten die
beiden Frauen zusammen, und wo ein Wille ist, findet sich bald ein Weg.

Im obersten Stock des Hauses war ein Revier, das beide Familien
benützten. Das war der große Bodenraum, wo die Seile gezogen waren zum
Wäschetrocknen und die Mange stand, zum Mangen und Rollen des
Weißzeugs. Die Hausfrau war mit einem kleinen Korb Wäsche
hinaufgegangen, fing an, das Rad zu drehen und zu mangen.

Frau Pfäffling konnte das unten gut hören. Nicht lange, so stieg auch
sie hinauf. Vom Drehen des Rades war bald nichts mehr zu hören.

Nach einer guten Weile kamen die beiden Frauen fröhlichen Sinnes
miteinander herunter, zwischen ihnen gab es kein Mißverständnis mehr
und sie waren der guten Zuversicht, daß sich auch die beiden Männer
miteinander verständigen würden.

Frau Hartwig sagte an diesem Mittag zu ihrem Mann: "Hat dir nicht
gestern Remboldt erzählt von den vielen Sternschnuppen, die er auf der
Wache gesehen hat?"

"Ja, du warst ja dabei."

"Weißt du, wie man diese Sternschnuppen heißt? Ich habe es heute zum
erstenmal gehört, die heißt man 'den Leonidenschwarm'." Weiter sagte
Frau Hartwig gar nichts. Aber sie beobachtete, wie dieses Wort ihrem
Mann zu denken gab. Sie wußte ja, daß mit dem richtigen Verständnis des
Wortes sein ganzer Zorn gegen die Familie Pfäffling schwinden mußte.
Sie wollte ihm gar nicht zureden, sein eigenes Gefühl würde ihn
treiben, zu tun, was recht war.

Am Nachmittag faßte er die drei Lateinschüler ab, als sie heimkamen. Er
ließ sich von ihnen genau erzählen, wie herrlich der Sternenhimmel
gewesen sei, und wollte auch wissen, warum die Sternschnuppen der
Leonidenschwarm hießen. Das wußte Karl: weil diese Sternschnuppen, die
da im November so massenhaft fielen, aus dem Sternbild des Löwen
ausgingen.

Während sie zusammen sprachen, bemerkten die Kinder wohl, daß der
Hausherr sie wieder ganz anders ansah, als in der vergangenen Nacht,
und fingen an, auf seine Verzeihung zu hoffen, und wirklich sagte er
nun mit all seiner früheren Freundlichkeit: "Seht, ich weiß eben gar
nichts von der Sternkunde, ich habe den Leonidenschwarm für einen
Verein oder dergleichen gehalten, mit dem ihr euch nachts herumtreibt.
Und so etwas dulde ich nicht in meinem Haus. Aber ich werde euch doch
nicht bös sein, wenn ihr nach dem Himmel schaut? Nein, wir sind nun
wieder gute Freunde. Sagt nur eurem Vater: die Kündigung gilt nicht!"

Nach dieser offenen Aussprache herrschte wieder Friede und Eintracht,
Freundschaft und Fröhlichkeit im ganzen Haus.

Als gegen Abend die Kinder von ihren Turnübungen zurückkehrten, trafen
sie an der Treppe mit Frau Hartwig zusammen, die eben aus dem Keller
einen Vorrat Äpfel herausgeholt hatte. "Ihr kommt mir gerade recht,"
sagte sie und gab jedem einen Apfel.

"Hausfrau," sagte Frieder, "wir haben miteinander etwas ausgemacht,
damit deine Treppe geschont wird, sieh einmal her. Die Schwestern gehen
jetzt immer ganz nahe am Geländer und wir Buben müssen ganz dicht an
der Wand gehen, dann werden deine Stufen in der Mitte geschont. Sieh,
so hinauf und so wieder herunter." Um recht dicht an der Mauer zu
gehen, setzte er einen Fuß vor den andern, verlor das Gleichgewicht und
kollerte den ganzen Rest der Treppe hinunter, gerade vor die Füße der
erschrockenen Hausfrau.

Geschadet hat es ihm nichts. Aber als Frau Hartwig in ihre Wohnung
zurückkehrte, sagte sie zu sich: "Da ist gar nichts zu machen. Je
besser sie's meinen, um so ärger poltert's."



4. Kapitel
Adventszeit.


"Wer darf den letzten Novemberzettel vom Block reißen, das dünne
Blättchen, das allein noch den Weihnachtsmonat verhüllt?" Die jungen
Pfäfflinge standen alle in die eine Ecke gedrängt, wo der Kalender
hing, und stritten sich, halb im Spaß, halb im Ernst darum, wer den
Dezember aufdecken dürfe. Die Eltern, am Frühstückstisch, sahen auf.
"Buben, galant sein!" rief der Vater. Da traten die vier Brüder vom
Kampfplatz zurück. Elschen konnte den Kalender noch gar nicht
erreichen, so kam das Vorrecht an die Zwillingsschwestern. "Wir machen
es miteinander," sagten sie. Da kam denn der erste Dezember zum
Vorschein, und zwar rot, denn es war Sonntag, und kein gewöhnlicher
Sonntag, sondern der erste Advent. Die schönste Weihnachtsstimmung
stieg auf mit diesem Tag und nicht nur bei den Kindern. Herr Pfäffling
stimmte unvermutet und ohne Begleitung an: "Wie soll ich dich empfangen
und wie begegnen dir, O aller Welt Verlangen, o meiner Seele Zier!"
Alle Kinder sangen mit, erste Stimme, zweite Stimme, je nach Begabung,
auch die Mutter, aber sie recht leise, denn sie allein von der ganzen
Familie war vollständig unmusikalisch und sang, wie Frieder einmal
gesagt hatte etwas anderes als die Melodie.

Bald darauf war es für diejenigen, die zur Kirche gehen wollten, Zeit
sich zu richten. Ein Teil pflegte vormittags zu gehen, einige
nachmittags oder in den Kindergottesdienst. Frau Pfäffling wollte heute
mit ihrem Mann gehen, unter den Kindern gab es ein Beraten und
Flüstern. Als nach einer Weile die Eltern, zum Ausgang gerichtet, an
der Treppe standen und sich von den Zurückbleibenden verabschieden
wollten, fand sich's, daß es heute gar keine solchen gab, daß alle
sieben bereit standen, mitzugehen. Das war noch nie so gewesen. "Wer
soll dann aufmachen, wenn geklingelt wird?" fragte Frau Pfäffling
bedenklich.

"Es klingelt fast nie während der Kirchenzeit," versicherte der
Kinderchor.

"Aber wir können doch nicht zu neunt aufziehen, das ist ja eine ganze
Prozession!" wandte Herr Pfäffling ein.

"Wir gehen drüben, auf der anderen Seite der Straße," sagten die Buben.

"Aber Walburg muß wenigstens wissen, daß sie ganz allein zu Hause ist,
hole sie schnell, Elschen," rief Frau Pfäffling. Als das Mädchen die
ganze Familie im Begriff sah, auszugehen, wußte sie schon, was man von
ihr wollte, und sagte in ihrer ernsthaften Weise: "Ich wünsche
gesegnete Andacht".

Draußen schien die Wintersonne auf bereifte Dächer, Sonntagsruhe
herrschte in der Vorstadt und die Familie, die hier den Weg zur Kirche
einschlug, hatte die Adventsstimmung schon im Herzen. Die vier Buben
ließen aber, ihrem Versprechen gemäß, die ganze Breite der
Frühlingsstraße zwischen sich und den Eltern und Schwestern, bis nach
einer Weile Elschen dem Frieder immer dringlicher winkte. Da konnte er
nicht länger widerstehen und gesellte sich der kleinen Schwester zu.

Adventsstimmung, Weihnachtsahnung wehten heute den ganzen Tag durchs
Haus. Wenn im November eines der Kinder vom nahen Weihnachtsfest
sprechen wollte, hatte die Mutter immer abgewehrt und gesagt: "Das
dauert noch lange, lange, davon reden wir noch gar nicht, sonst werden
die Kleinen ungeduldig." So hätte sie auch gestern noch gesagt, aber
heute war das etwas ganz anderes, man feierte Advent, Weihnachten war
über Nacht ganz nahe gerückt. Im Dämmerstündchen zog Frau Pfäffling
Elschen zu sich heran und fragte selbst: "Weißt du denn noch, wie schön
der Christbaum war?"

Sie wußte es wohl noch, und als nun die Geschwister über Weihnachten
plauderten, da konnte sie mittun, ja in der Freude auf Weihnachten
stand sie nicht hinter den Großen zurück, im Gegenteil, wenn sie mit
leuchtenden Augen vom Christkindlein sprach, so war sie die kleine
Hauptperson, die allen die Freude erhöhte.

Bald taten sich in einer Ecke die Geschwister zusammen und berieten
flüsternd, was sie den Eltern zu Weihnachten schenken könnten. Es
durfte kein Geld kosten, denn Geld hatten sie nicht. Von Geschenken,
die Geld kosteten, sprachen sie ganz verächtlich. "Es ist keine Kunst,
in einen Laden zu gehen und etwas zu kaufen, aber ohne Geld etwas recht
Eigenartiges, Schönes und Nützliches zu bescheren, das ist eine Kunst!"
Ja, eine so schwere Kunst ist das, daß sich die Beratung sehr in die
Länge zog. Frieder nahm nicht lange daran teil, ihm klang heute immer
der Adventschoral im Ohr: "Wie soll ich dich empfangen," er mußte ihn
ausstudieren. Er fing an zu spielen, und als er merkte, daß ungnädige
Blicke auf seine Ziehharmonika fielen, zog er sich hinaus in die Küche,
wo Walburg saß und in ihrem Gesangbuch las. Sie hörte diese Töne, und
da sie sich in ihrer Taubheit über alles freute, was bis an ihr Ohr
drang, schob sie ihm den Schemel hin, zum Zeichen, daß er sich bei ihr
niederlassen sollte. So kam die Adventsstimmung bis in die Küche.

Am nächsten Tag mußten freilich die Weihnachtsgedanken wieder in den
Hintergrund treten, denn in die Schule paßten sie nicht. Nur Frieder
wollte sie auch dorthin bringen; was Remboldt ihm einmal gesagt, hatte
er nicht vergessen, er wollte seine Harmonika mit in die Schule nehmen
und dort den Adventschoral vorspielen. Die Mutter hörte es und wunderte
sich: Er hatte sich noch nie zeigen oder vordrängen wollen mit seiner
Kunst, nun kam ihm doch die Lust, sich hören zu lassen. Sie mochte es
ihm nicht verbieten, aber es war ihr fremd an ihrem kleinen,
bescheidenen Frieder. So zog er mit seiner großen Harmonika in der
Hand, den Schulranzen auf dem Rücken, durch die Frühlingsstraße.

Freilich, als er sah, welches Aufsehen es bei den Schulkameraden
machte, bereute er es fast. Er hatte sein Instrument verbergen wollen
bis zu der großen Pause um 10 Uhr, wo die Lehrer ihre Klassenzimmer
verließen und die Schüler sich in dem weiten Schulhof zerstreuten. Aber
es ging nicht so.

Der Lehrer war kaum in das Schulzimmer getreten, so riefen ihm auch
schon ein paar kecke Bürschchen zu: "Der Pfäffling hat seine
Ziehharmonika mitgebracht." Da verlangte er sie zu sehen und fragte, ob
Frieder denn mit dem großen Instrument zurechtkäme. Nun stießen ihn die
Kameraden von allen Seiten: "Spiel doch, gelt, du kannst es nicht?
Spiel doch etwas vor!" Darauf spielte Frieder seinen Adventschoral,
vergaß seine vielen Zuhörer, vergaß die Schulzeit und sagte, nachdem er
fertig war: "Jetzt kommt: Wachet auf, ruft uns die Stimme."

Der Lehrer ließ ihn gewähren, denn er sah, wie gern ihm alle zuhörten
und wie der kleine Musiker ganz und gar bei seinen Liedern war. "Hast
du das bei deinem Vater gelernt?" fragte er ihn jetzt. "Nein," sagte
Frieder, "Harmonika muß man nicht lernen, das geht von selbst."

"Das geht vielleicht bei euch Pfäfflingen von selbst, aber bei anderen
nicht. Was meinst du," sagte er zu dem, der am nächsten stand,
"könntest du das auch?" "O ja," sagte der, "da darf man nur auf- und
zuziehen." "Du wirst dich wundern, wenn du es probierst!" entgegnete
der Lehrer, "aber jetzt: auf eure Plätze."

Um 10 Uhr, in einer Ecke des Schulhofs, wurde Frieder umringt und mußte
spielen. Es kamen auch größere Schüler von anderen Klassen herbei und
die wollten nicht nur hören, die wollten es auch probieren. Die
Harmonika ging von Hand zu Hand. Sie zogen daran mit Unverstand, einer
riß sie dem andern mit Gewalt weg und der sie nun hatte, der sagte:
"Sie geht ja gar nicht, ich glaube, sie ist zerplatzt." Da bekam sie
Frieder zurück und als er sie ansah, wurde er blaß und als er sie zog,
gab sie keinen einzigen Ton mehr. Da wurden sie alle still und sahen
betroffen auf den kleinen Musikanten.

"Wer hat's getan?" hieß es nun. Die Frage ging von einem zum andern und
wurde zum Streit, aber Frieder kümmerte sich nicht darum, er verwandte
keinen Blick von seiner Harmonika, er strich mit der Hand über sie, er
drückte sie zärtlich an sich, er probierte noch einmal einen Zug, aber
er wußte es ja schon vorher, daß ihre Stimme erloschen war und nimmer
zum Leben zu erwecken.

Nach der Schule lief er all seinen Kameraden, die ihn teilnehmend oder
neugierig umgaben, davon, er mochte nichts hören und nichts sehen von
ihnen. Er trug seine Harmonika im Arm, lief durch die lange
Frühlingsstraße nach Hause, rief die Mutter und drückte sich bitterlich
weinend an sie mit dem lauten Ausruf: "Sie ist tot!"

Eine ganze Woche schlich Frieder ruhelos im Hause umher wie ein
Heimatloser. Immer fehlte ihm etwas, oft sah er auf seine leeren Hände,
bewegte sie wie zum Ziehen der Harmonika und ließ sie dann ganz
enttäuscht sinken. Das bitterste an seinem Schmerz war aber die Reue.
Er selbst hatte ja seine Freundin den bösen Buben ausgeliefert. Hätte
er sie in der Stille für sich behalten und nicht mit ihr Ruhm ernten
wollen, so wäre sie noch lange am Leben geblieben. Dagegen half kein
Trost, nicht einmal die Vermutung der Geschwister, daß er vielleicht
eine neue Harmonika zu Weihnachten bekommen würde.

Aber etwas anderes half ganz unvermutet.

Es war wieder Sonntag, der _zweite_ Advent, und wieder standen die
Kinder beisammen, noch immer ratlos wegen eines Weihnachtsgeschenks für
die Eltern. Diesmal lief aber Frieder nicht weg, wie er vor acht Tagen
getan hatte, er konnte ja kein Adventlied mehr üben, so zog ihn nichts
ab. Er hatte still zugehört, wie allerlei Vorschläge gemacht und wieder
verworfen wurden, nun mischte er sich auch ein: "Unten," sagte er, "auf
den Balken, da kann man sich alles ausdenken, aber da oben nicht."

"So geh du hinunter und denke dir etwas für mich aus," sagte eines der
Geschwister. "Für mich auch!" "Und für mich," hieß es nun von allen
Seiten. Er war gleich bereit dazu. Die Schwestern gaben ihm ihren
großen Schal mit hinunter. Er ging auf das Plätzchen, das er so gern
mit seiner Harmonika aufgesucht hatte. Es war kalt heute und er
wickelte sich ganz in das große Tuch, saß da allein, war vollständig
erfüllt von seiner Aufgabe, zweifelte auch gar nicht daran, daß er sie
lösen würde. Auf der Harmonika war ihm hier unten auch alles gelungen,
was er versucht hatte. Der kleine Kopf war fest an der Arbeit.

Als Frieder wieder heraufkam, sammelten sich begierig alle Geschwister
um ihn, und er, der in ihrem Rat noch nie das große Wort geführt hatte,
streckte nun seine kleine Hand aus und sagte so bestimmt, wie wenn da
nun gar kein Zweifel mehr sein könnte: "Du, Karl, mußt ein Gedicht
erdichten und du, Wilhelm, auf einen so großen Bogen Papier schöne
Sachen abzeichnen und Otto muß so laut, wie es der Rudolf Meier beim
Maifest getan hat, vom Bismarck deklamieren und Marianne soll das
schönste Lied vom Liederbuch zweistimmig vorsingen. Aber wir zwei
können nichts," sagte er, indem er sich an Elschen wandte, "darum
müssen wir solche Sachen sammeln zum Feuer machen, wie es manchmal
Walburg sagt, Nußschalen und Fadenrollen, Zwetschgensteine und alte
Zündhölzer, einen rechten Sack voll."

Jedes der Kinder dachte nach über den Befehl, den es erhalten hatte,
und fand ihn ausführbar. "Ich weiß, was ich zeichne!" rief Wilhelm,
"dich zeichne ich ab, Frieder, wie du mit deiner Harmonika immer da
gestanden bist."

"Und ich mache ein Gedicht über unsern Krieg in Afrika, wenn der
Morenga darin vorkommt, dann gefällt es dem Vater." Sie waren alle
vergnügt. "Frieder," sagte Karl, "es tut mir ja leid für dich, daß du
deine Harmonika nimmer hast, aber mir bist du lieber ohne sie." Die
andern stimmten ein und Frieder machte nimmer das trostlose Gesicht,
das man die ganze Woche an ihm gesehen hatte, zum erstenmal fühlte er
sich glücklich auch ohne Harmonika.

Zwischen den Adventssonntagen lag ernste Lernzeit, denn da galt es,
viele Probearbeiten anzufertigen, von denen das Weihnachtszeugnis
abhing. Die Fest- und Ferienzeit wollte verdient sein.

Unter den jungen Pfäfflingen war Otto der beste Schüler, und er galt
viel in seiner Klasse. Nun saß hinter ihm ein gewisser Rudolf Meier,
der machte sich sehr an Otto heran, obwohl dieser ihn nicht eben lieb
hatte. Er war der Sohn von dem Besitzer des vornehmen Zentralhotels und
machte sich als solcher gern ein wenig wichtig. Alle Kameraden mußten
es erfahren, wenn hohe Persönlichkeiten im Hotel abgestiegen waren, und
wenn gar Fürstlichkeiten erwartet wurden, fühlte er sich so stolz, daß
sich's die andern zur Ehre rechnen mußten, wenn er sich an solchen
Tagen von ihnen die Aufgaben machen ließ. Er war älter und größer als
alle andern, weil er schon zweimal eine Klasse repetiert hatte; dessen
schämte er sich aber keineswegs, sondern sagte gelegentlich von oben
herab: "In solch einem Welthotel müsse selbstverständlich die
gewöhnliche Schularbeit manchmal hinter wichtigerem zurückstehen."

Dieser Rudolf Meier hatte seine guten Gründe, warum er heute ein ganzes
Stück Weges mit Otto ging, obwohl das Zentralhotel der Frühlingsstraße
entgegengesetzt lag.

Sie sahen gar nicht wie Schulkameraden aus, diese beiden. Otto in
kurzem, schlichtem, etwas ausgewaschenem Schulbubenanzug, Rudolf Meier
ein feines junges Herrchen, mit tadellos gestärkten Manschetten und
Kragen nach neuester Fasson. Und doch wandte sich nun der um einen Kopf
Größere bittend zu dem Kleinen und sagte: "Ich bin etwas in
Verlegenheit, Pfäffling, wegen der griechischen Arbeit, die wir morgen
abliefern sollen. Es ist gegenwärtig keine Möglichkeit bei uns, all
dies Zeug zu machen, ich habe wahrhaftig wichtigeres zu tun. Würdest du
mir nicht heute nachmittag dein Heft mitbringen, daß ich einige Stellen
vergleichen könnte?" "Von mir aus," sagte Otto, "nur wenn du mir wieder
einen Klex hineinmachst, wie schon einmal, dann sei so gut und setze
deine Unterschrift unter den Klex."

Rudolf Meier wollte auch die Mathematikaufgabe ein wenig vergleichen.
"Was tust du eigentlich den ganzen Tag, wenn du gar nichts arbeitest?"
sagte Otto ärgerlich, "mir ist's einerlei, wenn du auch alles
abschreibst, aber ich kann dich gar nicht begreifen, daß du das magst."

"Weil du nicht weißt, wie es bei uns zugeht, Pfäffling, anders als bei
euch und das kannst du mir glauben, ich habe oft mehr zu leisten als
ihr. Da ist zum Beispiel vorige Woche eine russische Familie
angekommen, Familie ersten Rangs, offenbar steinreiche Leute, gehören
zur feinsten Aristokratie. Haben fünf Zimmer im ersten Stock vorn
heraus gemietet. Sie beabsichtigen offenbar lange zu bleiben, sieben
riesige Koffer. Werden wohl die Revolution fürchten, haben ihr Geld
glücklich noch aus Rußland herausgebracht und warten nun in Deutschland
ab, wie sich die Dinge in Rußland gestalten. Gegen solche Gäste ist man
artig, das begreifst du. Da sagt nun gestern die Dame zu meinem Vater,
sie möchte ihren beiden Söhnen Unterricht geben lassen von einem
Professor, welchen er wohl empfehlen könnte? Mein Vater verspricht ihr
sofort Auskunft, kommt natürlich an mich. Ich sitze an meiner Arbeit.
Nun heißt es: 'Rudolf, mach deine Aufwartung droben. Besprich die
Unterrichtsfächer, gib guten Rat, nenne feine Professoren mit
liebenswürdigen Umgangsformen. Erbiete dich, die Herrn Professoren
aufzufordern und den Unterricht in Gang zu bringen.'

"Ich mache feinste Toilette, mache meine Aufwartung. So etwas ist keine
Kleinigkeit, besonders bei solchen Leuten. Du spürst gleich, daß du mit
wirklich Adeligen zu tun hast, und der große Herr mit seiner
militärischen Haltung und strengem Blick, die Dame in kostbarem
Seidenkostüm imponieren dir, du mußt dich schon zusammennehmen. Die
zwei jungen Herrn sehen dich auch so an, als wollten sie sagen: Ist das
ein Mensch, mit dem man sich herablassen kann zu reden oder nicht?

"Nun, ich kenne ja das von Kind auf und lasse mich nicht verblüffen. Es
hat ihnen denn doch imponiert, wie ich von meinem Gymnasium und meinen
Professoren gesprochen habe. Aber du kannst dir denken, daß ich genug
zu laufen hatte, bis ich die Sache in Gang brachte, und nun bin ich
wohl noch nicht fertig, denn sie haben gestern ein Pianino gekauft,
eine Violine haben sie auch, da wird sich's um Musikunterricht
handeln."

Bei diesem Wort horchte Otto; Musikunterricht—wenn das ein Pfäffling
hört, so klingt es ihm wie Butter aufs Brot. "Wer soll den
Musikunterricht geben?" fragte er.

"Weiß ich nicht."

"Meier, da könntest du meinen Vater empfehlen."

"Warum nicht, das kann man schon machen. Das heißt, für solche
Herrschaften muß man immer das feinste wählen."

"Du kannst dich darauf verlassen, mein Vater gibt feinen Unterricht."

"Wohl, wohl, aber so ein _Titel_ fehlt, Professor oder Direktor oder so
etwas, das hören sie gern."

"Jetzt will ich dir etwas anvertrauen, Meier. Mein Vater kommt als
Direktor nach Marstadt, sobald es mit der Musikschule dort im Reinen
ist. Er hat schon seine Aufwartung dort gemacht und alle Stimmen waren
für ihn. Nur ist es noch nichts geworden, weil erst gebaut werden muß."

"Dann kann ich wohl etwas für ihn tun," sagte Rudolf Meier
herablassend, "vorausgesetzt, daß sie sich bei mir nach dem Musiklehrer
erkundigen und nicht bei den Professoren."

"Dem mußt du eben zuvorkommen, gleich jetzt, wenn du heimkommst, mußt
du mit den Russen sprechen."

"Meinst du, da könnte ich so aus- und eingehen, wann ich wollte? Du
hast keinen Begriff von Umgangsformen."

"Nein," sagte Otto, "wie man das machen muß, weiß ich freilich nicht,
aber wenn _du das_ nicht zustande bringst, dann möchte ich wohl wissen,
was du kannst: dein Griechisch ist nichts, deine Mathematik ist gar
nichts und dein Latein ist am allerwenigsten, wenn du also nicht einmal
in deinem Zentralhotel etwas vermagst, dann ist deine ganze Sache ein
Schwindel."

"Ich vermag viel im Hotel."

"So beweise es!"

"Werde ich auch. Vergiß nicht, daß du mir deine Hefte versprochen
hast."

So trennten sich die Beiden. Otto aber rannte vergnügt heim, rief die
Geschwister zusammen und erzählte von der schönen Möglichkeit, die sich
für den Vater auftat, die reichen Russen aus dem Zentralhotel zum
Unterricht zu bekommen. Sie trauten aber diesem Rudolf Meier nicht viel
zu und kamen überein, daß sie den Eltern zunächst kein Wort sagen
wollten, es sollte nicht wieder eine Enttäuschung geben.

Am Nachmittag empfing Rudolf Meier die beiden Hefte. Am nächsten Tag,
in einer Unterrichtspause sagte er leise zu Otto: "Wenn ich deinen
Vater empfehle, gibst du mir dann deinen Aufsatz abzuschreiben?"

"_Zehn_ Aufsätze," sagte Otto, "mach aber, daß es _bald_ so weit
kommt."

Einen Augenblick später traf Otto im Schulhof seinen Bruder Karl und
erzählte ihm das. Da wurde Karl nachdenklich, und noch ehe die Pause
vorüber war, faßte er Otto ab, nahm ihn beiseite und sagte: "Du
solltest das zurücknehmen, so eine Handelsschaft gefiele dem Vater
nicht. So möchte er die Stunden gar nicht annehmen. Sag du dem Rudolf
Meier, er soll seine Aufsätze selbst machen, zu solch einem Handel sei
unser Vater viel zu vornehm."

Das sagte Otto und noch etwas dazu, was ihm nicht der Bruder, sondern
der Ärger eingegeben hatte: "Du bist nichts als ein rechter
Schwindler." So ging die Sache aus und die Kinder waren nur froh, daß
sie darüber geschwiegen hatten. Sie dachten längst nicht mehr daran,
als eines Nachmittags Wilhelm meldete: "Vater, der Diener vom
Zentralhotel hat diesen Brief für dich abgegeben, er soll auf Antwort
warten."

Frau Pfäffling begriff nicht die Blicke glücklichen Einverständnisses,
die die Kinder wechselten, während ihr Mann die Karte las, auf der
höflich angefragt wurde, ob er sich im Zentralhotel wegen Violin- und
Klavierstunden vorstellen möchte. Die Karte war an Herrn Direktor
Pfäffling adressiert, und als die Brüder diese Aufschrift bemerkten,
flüsterten sie lachend einander zu: Ein Schwindler ist er trotzdem, der
Rudolf Meier!

Der Diener des Zentralhotels bekam für die Überbringung einer so
erwünschten Botschaft ein so schönes Trinkgeld, wie er es von dem
schlichten Musiklehrer nie erwartet hätte, und als er Herrn Meier
senior ausrichtete, daß Herr Direktor Pfäffling noch diesen Nachmittag
erscheinen werde, fügte er hinzu: "Es ist ein sehr feiner Herr."

Bei Pfäfflings war große Freude. Otto erzählte alles, was Rudolf Meier
von dem Fremden berichtet hatte, die Eltern und Geschwister hörten ihm
zu, er war stolz und glücklich und konnte gar nicht erwarten, bis der
Vater sich auf den Weg nach dem Zentralhotel machte. Aber so schnell
ging das nicht, im Hausgewand konnte man dort nicht erscheinen. Herr
Pfäffling suchte hervor, was er sich neulich zu seiner Vorstellung in
Marstadt angeschafft hatte. "Wenn es nur nicht wieder eine Enttäuschung
gibt," sagte er, während er sich eine seine Krawatte knüpfte, "wer
weiß, wie die hohen Aristokraten sich in der Nähe ausnehmen, mit denen
dieser Rudolf Meier prahlt!" Frau Pfäffling hatte aber gute Zuversicht:
"Das erste Hotel hier ist es immerhin," sagte sie, "und die Russen
gelten für ein sehr musikalisches Volk, da wirst du hoffentlich bessere
Schüler bekommen als Fräulein Vernagelding."

"Ach, die Unglückselige kommt ja heute nachmittag," seufzte Herr
Pfäffling, "ich werde aber zu rechter Zeit wieder zurück sein, für
meine Marterstunde."

Er ging, und sie sahen ihm voll Teilnahme nach, Otto noch mehr als die
andern, er fühlte sich doch als der Anstifter des ganzen.

Unser Musiklehrer blieb lange aus. Der kurze Dezembernachmittag war
schon der Abenddämmerung gewichen, die Lampe brannte im Zimmer, auch
die Ganglampe war schon angezündet und von Marie und Anne in ihr
Stübchen geholt worden. Um fünf Uhr war Fräulein Vernageldings Zeit.
Frau Pfäffling wurde unruhig. So gewissenhaft ihr Mann sonst war, heute
schien er sich doch zu verspäten. Nun schlug es fünf Uhr, es klingelte,
Marie und Anne eilten mit der geraubten Lampe herbei.

Zwischen Fräulein Vernagelding und den Zwillingen hatte sich allmählich
eine kleine Freundschaft angesponnen. Wenn die Schwestern so eilfertig
herbeikamen mit der Lampe und gefällig Hilfe leisteten bei dem Anziehen
der Gummischuhe, dem Zuknöpfen der Handschuhe und dem Aufstecken des
Schleiers, so freute dies das Fräulein und es plauderte mit den viel
jüngern Mädchen wie mit ihresgleichen. Als sie nun heute hörte, daß
Herr Pfäffling noch nicht da sei, schien sie ganz vergnügt darüber,
lachte und spaßte mit den Schwestern.

"Herr Pfäffling ruft immer 'Marianne'," sagte sie, "welche von Ihnen
heißt so?"

"So heißen wir bloß miteinander," antworteten sie, "wir können es
eigentlich nicht leiden, jede möchte lieber ihren eigenen Namen, Marie
und Anne, aber so ist's eben bei uns."

Das fand nun Fräulein Vernagelding so komisch, daß ihr etwas albernes
Lachen über den ganzen Gang tönte. Sie hatte inzwischen abgelegt.

"Mutter sagte, Sie möchten nur einstweilen anfangen, Klavier zu
spielen," richtete Marie aus.

"Ach nein," entgegnete das Fräulein, "ich möchte viel lieber mit Ihnen
plaudern. Klavierspielen ist so langweilig. Aber es muß doch sein. Es
lautet nicht fein, wenn man gefragt wird: Gnädiges Fräulein spielen
Klavier? und man muß antworten: nein. So ungebildet lautet das, meint
Mama. Mein voriger Klavierlehrer war so unfreundlich, er sagte immer,
ich sei unmusikalisch. Herr Pfäffling ist schon mein vierter Lehrer.
Die Herrn wollen immer nur musikalische Schülerinnen, es kann aber doch
nicht jedermann musikalisch sein, nicht wahr? Man muß es doch auch den
Unmusikalischen lehren, finden Sie nicht?"

"Bei uns ist das anders," sagte Anne, "wir sind sieben, da wäre es doch
zuviel für den Vater, wenn wir alle Musik treiben wollten; er nimmt
bloß die, die recht musikalisch sind."

Die drei Mädchen, an der Türe stehend, fuhren ordentlich zusammen, so
plötzlich stand Herr Pfäffling bei ihnen. Im Bewußtsein seiner
Verspätung war er mit wenigen großen Sätzen die Treppe heraufgekommen.
Fräulein Vernagelding tat einen kleinen Schrei und rief: "Wie haben Sie
mich erschreckt, Herr Pfäffling, aber wie fein sehen Sie heute aus, so
elegant." Herr Pfäffling unterbrach sie: "Wir wollen nun keine Zeit
mehr verlieren, bitte um Entschuldigung, daß ich Sie warten ließ."

"O, es war ein so reizendes Viertelstündchen," hörte man sie noch
sagen, ehe sie mit ihrem Lehrer im Musikzimmer verschwand und einen
Augenblick nachher wurde G-dur gespielt ohne jegliches Fis, was immer
ein sicheres Zeichen war, daß Fräulein Vernagelding am Klavier saß.

"Habt ihr dem Vater nichts angemerkt, ob er befriedigt heimgekommen
ist?" wurden Marie und Anne von den Brüdern gefragt. Sie wußten nichts
zu sagen, man mußte sich noch eine Stunde gedulden. Das fiel Otto am
schwersten, und er paßte und spannte auf das Ende der Klavierstunde,
und im selben Augenblick, wo Fräulein Vernagelding durch die eine Türe
das Zimmer verließ, schlüpfte er schon durch den andern Eingang hinein
und fragte: "Vater, wird etwas aus den Russenstunden?" Herr Pfäffling
lachte vergnügt. "Wo ist die Mutter," sagte er, "komm, ich erzähle es
euch im Wohnzimmer," und schon unter der Tür rief er: "Cäcilie,
Cäcilie," und seine Frau konnte nicht schnell genug aus der Küche
herbeigeholt werden. Sie kannte aber schon seinen Ton und sagte: "Wenn
ich kaum meine Tassen abstellen darf, dann muß es auch im Zentralhotel
gut ausgefallen sein!"

"Über alles Erwarten," rief Herr Pfäffling, "eine durch und durch
musikalische Familie, die beiden Söhne feine Violinspieler, ich glaube
kaum, daß wir _einen_ solchen Schüler in der Musikschule haben, und
ihre Mutter spielt Klavier mit einer Gewandtheit, daß es ein Hochgenuß
sein wird, mit ihr zusammen vierhändig zu spielen. Aber nun will ich
euch erzählen. Im Vorplatz des Zentralhotels hat mich ein junges
Herrchen empfangen, den ich nach deiner Beschreibung, Otto, gleich als
Rudolf Meier erkannt habe. Der führt mich nun in einen kleinen Salon,
spricht mit mir wie ein Herr, das versteht er wirklich, der Schlingel,
kein Mensch denkt, daß man einen Schuljungen vor sich hat, der von so
einem Knirps, wie du daneben bist, seine Aufgaben abschreibt. Der sagte
mir nun, er habe es für besser gehalten, mich als Herr Direktor
einzuführen, und ich möchte nur auch meine Honoraransprüche darnach
richten, die Familie würde sonst nicht an den Wert meiner Stunden
glauben, solchen Leuten gegenüber müsse man hohe Preise machen. Dann
geleitete er mich die breite, mit dicken Teppichen belegte Treppe
hinauf. Rudolf Meier fühlte sich ganz als mein Führer, klopfte für mich
an und stellte mich dem russischen General als Herrn Direktor Pfäffling
vor. Eine Weile blieb er noch im Zimmer, als aber niemand von ihm Notiz
nahm, empfahl er sich.

"Der General ist schon ein älterer Herr mit grauem Bart und ist nicht
mehr im Dienst, aber er hat eine imponierende Haltung und einen
durchdringenden Blick. Er stellte mich seiner Frau und seinen zwei
jungen Söhnen vor und bot mir einen Platz an. Aber sie waren alle
ziemlich zurückhaltend, vielleicht hatten sie nicht viel Vertrauen in
die Empfehlung von Rudolf Meier. Sie sprachen nur ganz unbestimmt
davon, daß die Söhne später vielleicht einige Violinstunden nehmen
sollten, und ich hatte das Gefühl: es wird nichts daraus werden. Die
Unterhaltung war auch ein wenig schwierig, sie sprechen nicht geläufig
Deutsch, versuchten es mit Französisch, als sie aber mein Französisch
hörten, da meinte die Dame, es gehe eher noch Deutsch.

"Mir wurde die Sache ungemütlich, es beengten mich auch die ungewohnten
Glacéhandschuhe, dazu mußte ich in einem weich gepolsterten, niedrigen
Lehnsessel ruhig sitzen und wußte gar nicht, wohin mit meinen langen
Beinen, dabei war es mir immer, als müßten sie mir ansehen, daß ich
kein Direktor bin. Endlich hielt ich es nimmer aus, sprang auf, worüber
allerdings die Dame ein wenig erschrak, zog meine Handschuhe herunter
und sagte: 'Ich denke, es ist besser, wir machen ein wenig Musik, dabei
lernt man sich viel schneller kennen,' und ich fragte die Dame, für
welchen deutschen Komponisten sie sich interessiere? Sie schien etwas
überrascht, nannte aber gleich Wagner, was mir recht war. Da ging ich
ohne weiteres an das Instrument, machte es auf und fragte, aus welcher
Oper sie etwas hören wollte? 'Bitte, etwas aus den Nibelungen, Herr
Direktor,' antwortete sie, da drehte ich mich rasch noch einmal nach
ihr um und sagte: 'Nennen Sie mich nur mit meinem Namen Pfäffling; ich
wäre allerdings fast Direktor geworden, werde es auch vielleicht
einmal, aber zur Zeit habe ich noch kein Recht auf diesen Titel.' Dann
spielte ich.

"Es war ein prächtiges Instrument; die beiden jungen Herren kamen immer
näher heran und hörten mit sichtlichem Interesse zu, ich merkte, daß
wir uns verstanden, und bald war alles gewonnen. Sie spielten dann
Violine, und die Dame versicherte mich, daß vierhändiges Klavierspiel
ihre größte Passion sei und endlich wurde ich aufgefordert, jeden Tag
ein bis zwei Stunden zu kommen. Zuletzt fragte der General noch nach
dem Preis, der war ihnen auch recht, eine unbescheidene Forderung
mochte ich nicht machen; das kann Herr Rudolf Meier tun, wenn er seine
Hotelrechnung stellt, aber ich kann das nicht so. Als ich fortging,
begleiteten die Herren mich ganz freundlich an die Türe, alle Steifheit
war vorbei und die Dame reichte mir noch die Handschuhe, die ich
vergessen hatte.

"Hinter einem Pfeiler im Treppenhaus kam Rudolf Meier zum Vorschein. Er
hat offenbar die Verhandlungen von außen beobachtet und wird morgen in
der Klasse wieder versichern, zum Arbeiten habe er keine Zeit gehabt.
Er ist aber, wie mir scheint, nebenbei ein gutmütiger Mensch, schien
sich wirklich zu freuen, daß die Sache gut abgelaufen war, und
flüsterte mir zu: 'Sie sind von allen drei Herren zur Türe begleitet
worden, diese Ehre ist keinem der Professoren zuteil geworden.' Ich
habe ihm auch gedankt für seine Vermittlung, und wenn ich ihn öfter
sehe, werde ich ihm einmal sagen: Sei doch froh, daß du noch ein junger
Bursch bist, gib dich wie ein solcher und wolle nicht mehr vorstellen,
als du bist! Er macht sich ja nur lächerlich; wer verlangt von ihm das
Auftreten eines Geschäftsmannes? Der General hat ihn natürlich längst
durchschaut."

"Ja, ja," stimmte Frau Pfäffling zu, "er soll von dir lernen, daß man
sich sogar klein macht, wenn andere einen zum Direktor erhöht haben."

"Ja," sagte Pfäffling vergnügt, "und daß man trotz allem Stunden
bekommt. Kinder, kommt mit herüber, jetzt muß noch ein gehöriges
Jubellied gesungen werden!"

Während im Haus Pfäffling in fröhlichem Chor gesungen wurde, sagte der
General im Zentralhotel zu seiner Familie: "Der Mann ist ein ehrlicher
Deutscher."

Rudolf Meier sagte zu sich selbst: "Der Pfäffling wird mir morgen
meinen Aufsatz machen."

Und Fräulein Vernagelding sprach an diesem Abend zu ihrer Mama: "Die
Marianne ist süß, ich möchte ihr etwas schenken." Da überlegte Frau
Privatiere Vernagelding und entschied: "Das beste sind immer
Glacéhandschuhe."



5. Kapitel
Schnee am unrechten Platz.


Der Dezember war schon zur Hälfte vorüber, bis endlich, endlich der
erste Schnee fiel. Der richtige Schnee, der in feinen, dichten
Flöckchen stundenlang gleichmäßig zur Erde fällt und in einem einzigen
Tag das ganze Land überzieht mit seiner weichen, weißen Decke; der
alles verhüllt, was vorher braun und häßlich war, der alles rundet und
glättet, was rauh und eckig aussah. Immer ist sie schön, die
Schneelandschaft, aber am allerschönsten doch, wenn das lautlose Fallen
des Schnees sich verbindet mit dem geheimnisvollen Reiz der deutschen
Weihnacht.

Dezember—Schnee—Tannenbaum—Weihnacht, ihr gehört zusammen bei uns in
Deutschland. In manchen Ländern hat man versucht, unsere Feier
nachzumachen, und wir wollen ihnen auch die Freude gönnen, aber solch
eine Sitte muß aus dem Boden gewachsen sein. Wenn man sie künstlich
verpflanzt, wird etwas ganz anderes daraus.

Es wurde einmal eine junge Deutsche in die Fremde verschlagen, um die
Weihnachtszeit. "Wir kennen auch den Christbaum," sagten die fremden
Kinder zu ihr, "wir bekommen einen." Die Deutsche freute sich. Aber wie
wurde es? Viele Kinder waren eingeladen worden und fuhren an in hellen
Kleidern. Sie versammelten sich, und als der Baum hineingetragen wurde,
klatschten sie Beifall wie im Theater. Sie nahmen die kleinen Geschenke
herunter, die man für sie hinaufgehängt hatte. Dann wurden die Lichter
ausgeblasen, damit kein Ästchen anbrenne und der Diener gerufen, daß er
sogleich den Baum, der in einem Kübel voll Erde steckte, zurücktrage zu
dem Gärtner, von dem er gemietet war. Keine Stunde war der Christbaum
im Haus gewesen, keinen Duft hatte er verbreitet.

"Bei uns bleibt der Christbaum bis nach Neujahr," sagte die junge
Deutsche und sah ihm wehmütig nach. Es wurde ihr entgegnet, das sei
doch unpraktisch, er nehme ja so viel Platz weg.

Ja, das tut er allerdings, aber welche deutsche Familie gönnt dem
Christbaum nicht den Platz?


Im Dunkel des frühen Dezembermorgens waren die jungen Pfäfflinge durch
den frischgefallenen Schnee in ihre Schulen gegangen und mit
dickbeschneiten Mänteln und Mützen angekommen. Im Schulhof flogen die
Schneeballen hin und her, und bis zu der großen Pause um 10 Uhr waren
die zahllosen Spuren der Kinderfüße schon wieder von frischem Schnee
bedeckt und die größten Schneeballenschlachten konnten ausgeführt
werden.

Daheim hatte Elschen sich einen Stuhl ans Fenster gerückt, kniete da
und sah vom Eckzimmer aus hinunter nach den Brettern und Balken, die
wie ein großer weißer Wall vor dem Kasernenzaun aufgetürmt lagen. Und
von diesem Zaun hatte jeder Stecken sein Käppchen, jeder Pfosten seine
hohe Mütze auf.

Frau Pfäffling suchte die Kleine. "Elschen, komm, du darfst etwas
sehen," und schnell führte sie das Kind mit sich in das Wohnzimmer und
öffnete das Fenster. Eine frische Winterluft strich herein. Am Haus
vorbei, nach der Stadt zu, fuhr eine ganze Reihe von Leiterwagen, alle
beladen mit Christbäumen.

"Christbäume, Christbäume," jubelte Elschen so laut, daß einer der
Fuhrleute, der selbst wie ein Schneemann aussah, herausschaute, und als
er das glückselige Kindergesicht bemerkte, rief: "Für dich ist auch
einer dabei!" Die Kleine erglühte vor Freude und winkte dem Schneemann
nach.

Aber alles auf der Welt ist nur dann schön und gut, wenn es an seinem
richtigen Platz ist, das gilt auch von dem Schnee. Eine einzige Hand
voll von diesem schönen Dezemberschnee kam an den unrichtigen Platz und
richtete dadurch Unheil an.

Das ging so zu: Im Heimweg von der Schule an einer Straßenecke, wo
einige Lateinschüler mit Realschülern zusammentrafen, gab es ein
hitziges Schneeballengefecht. Wilhelm Pfäffling war auch dabei. Einer
der Realschüler hatte ihn und seine Kameraden schon mehrfach getroffen,
indem er sich hinter der Straßenecke verbarg, dann rasch hervortrat,
seinen Wurf tat und wieder hinter dem Eckhaus verschwand, ehe die
anderen ihm heimgeben konnten. Nun aber wollten sie ihn aufs Korn
nehmen. Es waren ihm einige tüchtige Schneeballen zugedacht, wurfbereit
warteten sie gespannt, bis er sich wieder blicken ließe. Jetzt wurde
eine Gestalt sichtbar, die Ballen sausten auf sie zu. Aber es war nicht
der Realschüler gewesen, sondern ein gesetzter Herr. Zwei Schneeballen
flogen dicht an seinem Kopf vorüber, zwei trafen ihn ganz gleichmäßig
auf die rechte und linke Achsel. Und das war nicht der richtige Platz
für den Schnee!

Herr Sekretär Floßmann, der so ahnungslos um die Ecke gebogen war und
so schlecht empfangen wurde, stand still, warf böse Blicke und kräftige
Worte nach den Jungen. Daß sie ihn getroffen hatten, war ja nur aus
Ungeschick geschehen, daß nun aber einige laut darüber lachten und
dicht an ihm vorbei weiter warfen, das war Frechheit.

Zu den ungeschickten hatte auch Wilhelm gehört, zu den frechen nicht.
Nach Pfäfflingscher Art ging er zu dem Herrn, entschuldigte sich und
erklärte das Versehen, half auch noch die Spuren des Schnees
abschütteln. Der Herr schien die Entschuldigung gelten zu lassen und
Wilhelm ging nun seines Wegs nach Hause. Er sah nicht mehr, daß Herr
Sekretär Floßmann, als er ein paar Häuser weit gegangen war, einem
Schutzmann begegnete, sich bei ihm beschwerte und verlangte, er solle
die Burschen aufschreiben und bei der Polizei anzeigen. Das war nun
freilich nicht so leicht zu machen, denn alle, die den Schutzmann
kommen sahen, liefen auf und davon.

Aber einen von Wilhelms Kameraden faßte er doch noch ab und fragte nach
seinem Namen. Der zögerte mit der Antwort und sah sich um, keiner der
Kameraden war noch so nahe, um seine Antwort zu hören.

"Also, dein Name," drängte der Schutzmann. "Wilhelm Pfäffling," lautete
die Antwort, die vom Schutzmann aufgeschrieben wurde.

"Die Wohnung?"

"Frühlingsstraße."

"Jetzt rate ich dir, heim zu gehen, wenn du nicht lieber gleich mit mir
auf die Polizei willst." Er ließ sich's nicht zweimal sagen. Ein
"Wilhelm" war er allerdings auch, aber kein Pfäffling. Baumann war sein
Name.

"Das hast du klug gemacht," sagte er bei sich selbst. "Dem Pfäffling
schadet das nichts, der ist überall gut angeschrieben, aber bei mir ist
das anders, wenn ich noch eine Rektoratsstrafe bekomme, dann heißt's:
fort mit dir. Ich sehe auch gar nicht ein, warum gerade ich
aufgeschrieben werden sollte, der Pfäffling hat ebensogut geworfen wie
ich."

Ahnungslos und mit dem besten Gewissen saß am nächsten Abend unser
Wilhelm an seiner lateinischen Aufgabe. Vielleicht war er ein wenig
zerstreuter als sonst, denn er hatte sich heute bemüht, seinen Frieder,
mit der Harmonika in der Hand, abzuzeichnen, und da war Frieders
Gesicht so ausgefallen, daß allen davor graute. Nun mußte er
unwillkürlich auf seinem Fließblatt Studien machen über des kleinen
Bruders gutmütiges Gesichtchen, das sich über die biblische Geschichte
beugte, die vor ihm lag. Dazu kam, daß die Mutter und Elschen nicht am
Stricken und Flicken saßen, wie sonst, sondern Zwetschgen und
Birnenschnitze zurichteten zu dem Schnitzbrot, das alle Jahre vor
Weihnachten gebacken wurde. So waren Wilhelms Gedanken heute zwischen
Weihnachten und Latein geteilt; er achtete gar nicht darauf, daß Herr
Pfäffling eintrat und gerade hinter seinen Stuhl kam.

"Du, Wilhelm, sieh mich einmal an!" sagte er. Der wandte sich, sah
überrascht auf und begegnete einem scharfen, durchdringenden Blick.
"Was ist's, Vater?" fragte er.

"Das frage ich dich," sagte Herr Pfäffling, "ein Polizeidiener war da
und hat dich vorgeladen, für morgen, auf die Polizei. Was hast du
angestellt?"

"Gar nichts," rief Wilhelm und dann, nach einem Augenblick: "es kann
doch nicht sein, weil wir gestern beim Schneeballen einen Herrn
getroffen haben, der gerade so ungeschickt daher gekommen ist?"

"Der Herr wird wohl nicht ungeschickt gekommen sein, sondern ihr werdet
ungeschickt geworfen haben. Könnt ihr nicht aufpassen?" rief Herr
Pfäffling, und bei dieser Frage kam Wilhelms Kopf auch so ungeschickt
an des Vaters Hand, daß es klatschte.

"Aber, Wilhelm," rief die Mutter und schob ihr Weihnachtsgeschäft
beiseite, "warum hast du dich denn wieder nicht entschuldigt?" Aber auf
diesen Vorwurf versicherte Wilhelm so eifrig, er habe darin sein
Möglichstes getan, daß man ihm glauben mußte. Die ganze
Geschwisterschar fing nun an, aufzubegehren über den unguten Mann, der
trotzdem auf der Polizei geklagt habe, bis die Mutter sie zur Ruhe
wies; sie wollte noch genau hören, wie die Sache sich zugetragen, und
woher man seinen Namen gewußt habe. Das letztere konnte aber Wilhelm
nicht erklären. "Muß ich denn wirklich auf die Polizei?" fragte er, "um
welche Zeit?"

"Um 11 Uhr."

"Aber da kann ich doch nicht, da haben wir Griechisch. So muß ich es
dem Professor sagen, dann erfährt es der Rektor und schließlich kommt
die Sache noch ins Zeugnis!"

"Natürlich erfährt das der Rektor," sagte Herr Pfäffling, "die anderen
sind jedenfalls auch vorgeladen. Warum machst du so dumme Streiche!"

Es war eine Weile still, jedes dachte über den Fall nach. "Könntest du
nicht etwa mit ihm auf die Polizei gehen," sagte Frau Pfäffling zu
ihrem Mann, "und ein gutes Wort für ihn einlegen?"

Herr Pfäffling überlegte. "Morgen, Freitag? Da ist Probe in der
Musikschule, da kann ich unmöglich fort. Das muß er schon allein
ausfechten. Es kann ihm auch nicht viel geschehen, wenn es sich nur um
einen Schneeballen an die Schulter handelt; war auch gewiß sonst gar
nichts dabei, Wilhelm, ich kann es kaum glauben!"

"Gar nichts, als daß die andern gelacht und ungeniert weitergeworfen
haben, dicht um den Herrn herum, das hat ihn am meisten geärgert.
Besonders der Baumann war so frech, du kennst ihn ja, Karl."

"Warum treibst du dich auch mit solchen herum? Da heißt es mitgefangen,
mitgehangen." Elschen drückte sich an die Mutter und sagte kläglich:
"Jetzt wird Weihnachten gar nicht schön." Und es widersprach ihr
niemand, für diesen Abend wenigstens war die ganze Weihnachts-Vorfreude
aus dem Hause gewichen.

Noch spät abends, im Bett, flüsterten die beiden Schwestern zusammen,
berieten, ob Wilhelm bei Wasser und Brot in den Arrest gesperrt würde,
und als Anne eben im Einschlafen war, rief Marie sie noch einmal an und
sagte: "Das ärgste ist mir erst eingefallen! Wenn Herr Hartwig von der
Polizei hört, dann kündigt er uns!"

Da war es denn schon wieder in der Familie Pfäffling, das
Schreckgespenst, die Kündigung!

So bangen Herzens, wie am nächsten Morgen, hatte sich Wilhelm noch nie
auf den Schulweg gemacht. Zwar hatte der Vater ihm an den Professor ein
Briefchen mitgegeben, und die Mutter hatte ihm gesagt: "Habe nur keine
Angst, ein Unrecht ist's nicht, was du getan hast," aber er hatte ihr
doch angemerkt, wie unbehaglich es ihr selbst zumute war, und hatte
zufällig gehört, wie der Vater zu ihr gesagt hatte: "Eine Mutter von
vier Buben muß sich auf allerlei gefaßt machen."

In der Schule war es sein erstes, sich nach den anderen Übeltätern zu
erkundigen. "Müßt ihr auch auf die Polizei?" fragte er Baumann und die
übrigen Kameraden, die mitgetan hatten. Kein einziger war vorgeladen!

"Du wirst wohl auch noch vorgeladen werden," sagte ein dritter zu
Baumann, "dich hat der Schutzmann aufgeschrieben."

"Es ist nicht wahr."

"Freilich ist's wahr, ich war doch noch ganz in der Nähe und habe es
deutlich gesehen."

Baumann leugnete und wurde grob, und es war ein erbitterter Streit, als
der Professor in die Klasse trat. Er bemerkte gleich die Erregung
seiner Schüler und hatte keine Freude daran. Als ihm Wilhelm nun Herrn
Pfäfflings Brief reichte und er las, um was es sich handelte,
erkundigte er sich gleich, ob noch mehrere vorgeladen seien, und als er
hörte, daß Pfäffling der einzige sei, sagte er: "Dann möchte ich mir
auch ausbitten, daß die anderen sich nicht darum kümmern. Es ist schon
störend genug, daß einer vor Schluß der Stunde fort muß, gerade heute,
wo die letzte griechische Arbeit vor Weihnachten gemacht wird. Wer sich
sein Zeugnis nicht noch verderben will, der nehme seine Gedanken
zusammen!"

So wurde äußerlich die Ruhe in der Klasse hergestellt, und es war nicht
zu bemerken, wie dem einen Schüler das Herz klopfte vor innerer
Entrüstung, daß er allein zur Strafe gezogen werden sollte, dem anderen
vor Angst darüber, daß sein Betrug an den Tag kommen würde.

Kurz vor elf Uhr verließ Wilhelm auf einen leisen Wink des Professors
das Zimmer. Unheimlich still kam es ihm vor auf den sonst so belebten
Gängen und auf der breiten Treppe, die nicht für so ein einzelnes
Bürschlein berechnet war, sondern für einen Trupp fröhlicher Kameraden.
Heute begleitete ihn keiner, den sauern Gang auf die Polizei mußte er
ganz allein tun. Und nun betrat er das große Gebäude, in dem er ganz
fremd war, hielt sein Vorladungsformular in der Hand und las: Erster
Stock, Zimmer Nr. 12. Leute gingen hin und her, keiner kümmerte sich um
ihn; vor mancher Zimmertüre standen Männer und Frauen und warteten. Nun
war er bei Nr. 10, die übernächste Türe mußte die richtige sein, Nr.
l2. Vor diesem Zimmer stand ein Mann—und das war Herr Pfäffling.

"Vater!" rief Wilhelm, "o Vater!" und in diesem Ausruf klang die ganze
Qual, die Angst und die ganze Wonne der Erlösung. Herr Pfäffling faßte
ihn bei Hand. "Ich habe mich doch auf eine Viertelstunde los gemacht,"
sagte er, "jetzt komm nur schnell herein, daß wir bald fertig werden!"

Im Zimmer Nr. 12 saß ein Polizeiamtmann.

Nach einigen Fragen und Antworten kam die Hauptsache zur Sprache:
Wilhelm war angezeigt worden, weil er Herrn Sekretär Floßmann mit
Schneeballen getroffen, darnach in frecher Weise gelacht und das
Schneeballenwerfen in unmittelbarer Nähe fortgesetzt habe.

"So hat sich's verhalten, nicht wahr?" fragte der Amtmann.

"Getroffen habe ich einen Herrn aus Versehen," sagte Wilhelm, "aber
weiter nichts." Nun mischte sich Herr Pfäffling ins Gespräch: "Du hast
mir erzählt, daß du dich ausdrücklich entschuldigt habest und sofort
heimgegangen seiest." Da lächelte der Amtmann und sagte: "Damit sollte
wohl der Vater besänftigt werden, in Wahrheit verhielt sich's aber,
nach der Aussage des Herrn Sekretärs und des Schutzmanns ganz anders,
und Sie werden begreifen, daß ich diesen mehr Glauben schenke als dem
Angeklagten; es liegt auch gar nicht in der Art des Herrn Sekretär
Floßmann, einen Jungen zur Anzeige zu bringen, der sich wegen eines
Vergehens entschuldigt hat."

"Ich darf wohl behaupten," sagte Herr Pfäffling, "daß sowohl Frechheit
als Lüge auch nicht im Wesen dieses Kindes liegen. Ich wäre sonst nicht
mit ihm gekommen, sondern hätte mich seiner geschämt. Wäre es nicht
möglich, den Herrn Sekretär oder den Schutzmann zu sprechen?"

"Gewiß," sagte der Amtmann, "Herr Sekretär hat seine Kanzlei oben und
der Schutzmann Schmidt war eben erst bei mir." Er rief einen
Polizeidiener. "Bitten Sie Herrn Sekretär Floßmann, einen Augenblick zu
kommen und rufen Sie den Schutzmann Schmidt herein."

"Wir machen zwar gewöhnlich nicht so viel Umstände, wenn es sich um
solch eine Bubengeschichte handelt," sagte der Amtmann, "aber wenn Sie
es wünschen, können Sie von den beiden selbst hören, wie der Verlauf
der Sache war."

Ein paar Minuten später trat der Sekretär Floßmann und gleich darnach
der Schutzmann ein. "Da ist der Junge," sagte der Amtmann, "der wegen
der Schneeballengeschichte aufgeschrieben wurde," aber ehe der Beamte
noch weiter sprechen konnte, fiel ihm Herr Sekretär Floßmann ins Wort,
indem er sich an den Schutzmann wandte: "Aber warum haben Sie denn
gerade _diesen_ Jungen aufgeschrieben, den einzigen, der sofort
aufgehört hat zu werfen, und der sich in aller Form entschuldigt hat,
der mir selbst noch den Schnee abgeschüttelt hat?" und indem er auf
Wilhelm zuging, sagte er ganz vertraulich zu ihm: "Wir zwei sind in
aller Freundschaft auseinandergegangen, nicht wahr, dich wollte ich
nicht anzeigen." Da wandte sich der Amtmann ärgerlich an den
Schutzmann: "Haben Sie Ihre Sache wieder einmal so dumm wie möglich
gemacht?" Der rechtfertigte sich: "Das ist nicht der Wilhelm Pfäffling,
den ich aufgeschrieben habe. Der meinige hat einen dicken Kopf und ein
rotes Gesicht. Sag' selbst, habe ich dich aufgeschrieben?"

"Nein, aber es heißt keiner Wilhelm Pfäffling außer mir."

"Oho," sagte der Amtmann, "da kommt es auf eine falsche Namensangabe
hinaus, das muß ein frecher Kamerad sein. Kannst du dir denken, wer dir
den Streich gespielt hat?" fragte er Wilhelm. Der besann sich nicht
lange. "Jawohl," sagte er, "es ist nur ein solcher Gauner in unserer
Klasse."

"Wie heißt er?" Da sah Wilhelm seinen Vater an und sagte zögernd: "Ich
kann ihn doch nicht angeben?"

"Nein," sagte Herr Pfäffling, "du weißt es ja doch nicht gewiß, und
deine Menschenkenntnis ist nicht groß."

"Den Schlingel finde ich schon selbst heraus, den erkenne ich wieder,"
sagte der Schutzmann, "ich fasse ihn ab um 12 Uhr, wenn die Schule aus
ist."

Nun wandte sich der Amtmann an Herrn Pfäffling: "Ich bedaure das
Versehen," sagte er, und Wilhelm entließ er mit den Worten: "Du kannst
nun gehen, aber halte dich an bessere Kameraden und paß auf mit dem
Schneeballenwerfen, in den Straßen ist das verboten, dazu habt ihr
euren Schulhof!"

Vater und Sohn verließen miteinander das Polizeigebäude. "O Vater,"
rief Wilhelm, sobald sie allein waren, "wie bin ich so froh, daß du
gekommen bist! Mir allein hätte der Polizeiamtmann nicht geglaubt."

"Du hast dich auch nicht ordentlich verteidigt, hast ja nicht einmal
erzählt, wie der Verlauf war. Bei uns zu Hause hast du deine Sache viel
besser vorgebracht."

"Mir geht das oft so, Vater, wenn ich spüre, daß man mir doch nicht
glauben wird, dann mag ich gar nichts zu meiner Verteidigung sagen. Oft
möchte ich etwas erzählen oder erklären, wie es gemeint war, dann denke
ich: ihr haltet das doch nur für Schwindel und Ausreden, und dann
schweige ich lieber."

"Ich kenne das, Wilhelm, es kommt daher, weil es so wenig Menschen
genau mit der Wahrheit nehmen, dann trauen sie auch den andern keine
strenge Wahrhaftigkeit zu. Aber da darf man sich nicht einschüchtern
lassen. Wer recht wahrhaftig ist, darf alles sagen und Glauben dafür
fordern. Halte du es so, und wird dir etwas angezweifelt, so sage du
ruhig zu demjenigen: 'Habe ich dich schon einmal angelogen?' Aber
freilich mußt du sicher sein, daß er darauf 'nein' sagt."

Die Beiden waren inzwischen dem Marktplatz nahe gekommen, wo ihre Wege
auseinandergingen.

"War es dir recht ungeschickt, Vater, aus der Probe wegzukommen?"
fragte Wilhelm. "Höllisch ungeschickt!" sagte Herr Pfäffling, "ich
mochte den Grund nicht angeben, ich sagte nur schnell den
Nächstsitzenden etwas von Familienverhältnissen und lief davon; wer
weiß, was sie sich gedacht haben. Der junge Lehrer wird mich inzwischen
vertreten haben, so gut er es eben versteht."

"Ich danke dir, Vater," sagte Wilhelm, als er sich trennte, und ganz
gegen die Gewohnheit der Familie Pfäffling griff er rasch nach des
Vaters Hand, küßte sie und lief davon.

Als Herr Pfäffling zu der musikalischen Jugend zurückkam, sah er viele
freundlich lächelnde Gesichter und dachte sich: Die haben es doch schon
erfahren, daß du mit deinem Wilhelm auf der Polizei warst, es bleibt
nichts verborgen. "Darf man gratulieren?" fragte ihn leise eine
Bekannte, als er nahe an ihr vorbeiging. "Jawohl," sagte er, "es ist
gut vorübergegangen." Nach ein paar Minuten war er mit vollem Eifer bei
der Musik, und Wilhelm in gehobener Stimmung bei seinem griechischen
Schriftsteller.

"Dir ist es offenbar gnädig gegangen auf der Polizei," sagte der
Professor nach der Stunde zu Wilhelm.

"Ja, Herr Professor, es war eine Verwechslung, ich war gar nicht
aufgeschrieben worden, ein anderer hat meinen Namen statt seinem
angegeben."

"Wer? Einer aus meiner Klasse?"

"Wer das war, will der Schutzmann erst herausbringen," antwortete
Wilhelm.

Der Professor hatte kaum das Schulzimmer verlassen, als alle Kameraden
sich um Wilhelm drängten und näheres erfahren wollten, auch Baumann war
unter ihnen. Der eine, der schon am Morgen behauptet hatte, daß Baumann
aufgeschrieben worden sei, sagte ihm frei ins Gesicht: "Du hast den
falschen Namen angegeben." Da versuchte er nimmer zu leugnen, sondern
fing an, sich zu entschuldigen: "Dem Pfäffling hat das doch nichts
geschadet, für mich wäre es viel schlimmer gewesen. Du mußt mir's nicht
übelnehmen, Pfäffling, ich habe ja vorher gewußt, daß dir das nichts
macht."

"So? frage einmal meinen Vater, ob ihm so etwas nichts macht?" rief
Wilhelm, "du bist ein Tropf, ein Lügner, das sage ich dir; aber dem
Polizeiamtmann habe ich dich nicht verraten. Wenn dich der Schutzmann
nicht wieder erkennt, dann kann es ja wohl sein, daß du dich
durchgeschwindelt hast." Nun sprang einer der Kameraden die Treppe
hinunter, um zu sehen, ob ein Polizeidiener unten stehe. Richtig war es
so. Da wurde verabredet, Baumann in die Mitte zu nehmen, einige Größere
um ihn herum und dann in einem dichten Trupp die Treppe hinunter und
bis um die nächste Straßenecke zu rennen. So geschah es. Die meisten
Klassen des Gymnasiums hatten sich schon entleert; der Schutzmann stand
lauernd am Tor. Da, plötzlich tauchte ein Trupp von Knaben auf und
schoß an ihm vorbei, in solcher Geschwindigkeit, daß er auch nicht
_ein_ Gesicht erkannt hatte. Ärgerlich ging er seiner Wege, aber hatte
er den Übeltäter auch noch nicht fassen können, das war ihm jetzt
sicher, daß er zu dieser Klasse gehörte, und er sollte ihm nicht
entgehen.

Wie war für Frau Pfäffling dieser Vormittag daheim so lang und so
peinlich! Immer mußte sie an Wilhelm denken. 'Er hat gewiß nichts
getan, was strafwürdig ist,' sagte sie sich und dann fragte sie sich
wieder: 'warum ist er dann vorgeladen?' Gestern hatte sie in fröhlicher
Stimmung alles vorbereitet für das Weihnachtsgebäck, heute hätte sie es
am liebsten ganz beiseite gestellt, alle Lust dazu war weg. Sie mühte
sich sonst so gern den ganzen Vormittag im Haushalt und dachte dabei:
'Wenn Mann und Kinder heimkommen von fleißiger Arbeit, sollen sie es zu
Hause gemütlich finden.' Aber wenn die Kinder nicht ihre Schuldigkeit
taten, wenn sie draußen Unfug trieben, sollte man dann daheim Zeit und
Geld für sie verwenden?

In dieser Stimmung sah Frau Pfäffling diesen Morgen manches, was ihr
nicht gefiel. Im Bubenzimmer lagen Hausschuhe, nur so leichthin unter
das Bett geschleudert; häßlich niedergetreten waren sie auch, wie oft
hatte sie das schon verboten! Im Wohnzimmer lag ein Brief, den hätten
die Kinder mit zum Schalter nehmen sollen, alle sechs hatten sie ihn
sehen müssen, alle sechs hatten ihn liegen lassen, sogar Marianne, die
doch als Mädchen allmählich ein wenig selbst daran denken sollten, ob
nichts zu besorgen wäre! Das waren lauter Pflichtversäumnisse, und wer
daheim die Hausgesetze nicht beachtete, der konnte leicht auch draußen
gegen die Ordnung verstoßen. Aber freilich müßte die Mutter ihre Kinder
fester dazu anhalten, strenger erziehen, als sie es tat! Sie selbst war
schuld.

Elschen, die nicht wußte oder nimmer daran dachte, was die Mutter heute
bedrückte, kam in der fröhlichsten Weihnachtsstimmung herbeigesprungen.
Walburg hatte ihr die Teigschüssel ausscharren lassen. "Mutter," rief
die Kleine, "die Backröhre ist schon geheizt!" Aber die Mutter hatte
heute einen unglückseligen Blick. An dem ganzen kleinen Liebling sah
sie nichts als drei Streifen, Spuren von Teig an der Schürze.

"Else, dahin hast du deine Finger gewischt," sagte sie mit ungewohnter
Strenge, "gestern erst habe ich dir gesagt, du sollst deine Hände
waschen, und nicht an die Schürze wischen," und sie patschte fest auf
die kleinen Hände. Das Kind zog leise weinend ab, und die Mutter sagte
sich vorwurfsvoll: 'Deine Kinder sind alle unfolgsam!' Darnach ging sie
aber doch zum Backen in die Küche, das angefangene mußte trotz allem
vollendet werden. Sie wollte den Schlüssel zum Küchenschrank mit
hinausnehmen, fand ihn nicht gleich und dachte bekümmert: 'Wo die
Hausfrau selbst ihre Ordnung nicht einhält, muß freilich die ganze
Wirtschaft herunterkommen!' In dieser schwarzsichtigen Stimmung
vergingen ihr langsam die Stunden, und gegen Mittag sah sie in
ängstlicher Spannung nach den Kindern aus. Diese hatten sich alle auf
dem Heimweg zusammengefunden und in der Frühlingsstraße holte auch Herr
Pfäffling sie ein. Die Losung war nun: "Nur schnell heim zur Mutter,
sie allein ist noch in Angst, hat keine Ahnung, wie gut sich alles
gelöst hat. Wie wird sie sorgen und warten, wie wird sie sich freuen!"

Aber nicht nur Frau Pfäffling paßte auf die eilig Heimkehrenden, auch
Frau Hartwig sah heute Mittag nach ihnen aus, freilich aus einem ganz
andern Grund. Sie hatte diesen Morgen an die Haustüre einen großen
Bogen Papier genagelt, auf dem mit handgroßen roten Buchstaben
geschrieben stand:

Man bittet die Türe zu schließen!


Darüber lachte ihr Mann sie aus und versicherte, es würde gar nichts
helfen, die Pfäfflinge würden die Türe offen stehen lassen.

Die Hausfrau nahm ihre Mietsleute in Schutz. "Sie sind viel
ordentlicher, als du denkst. Wilhelm und Otto sind ja ein wenig
flüchtig, aber Karl ist immer aufmerksam und auch die Mädchen sind
manierlich; der kleine Frieder sogar wird zumachen, wenn er hört, daß
es mich sonst friert. Du wirst sehen, die Haustüre wird geschlossen."

Um das zu beobachten stand nun die Hausfrau am Fenster, sah wie die
Familie Pfäffling sieben Mann hoch heim kam—eifriger sprechend als
sonst, hörte sie die Treppe hinauf gehen—noch flinker als gewöhnlich,
ging dann hinaus, um nachzusehen und fand die Haustüre offen stehend,
so weit sie nur aufging.

Kopfschüttelnd schloß sie selbst die Türe. Aber sie verlor nicht den
guten Glauben an ihre Mietsleute. Sie hatte ihnen ja wohl angemerkt,
daß heute etwas besonderes los war.

Im Zimmer fragte Herr Hartwig: "Nun, wer hat denn zugemacht?" Etwas
kleinlaut erwiderte sie: "Zugemacht habe ich."

Droben herrschte nach überstandener Angst große Freude; auch Frau
Pfäffling war es wieder leicht ums Herz, glücklich und dankbar saß die
ganze Familie am Essen. Aber doch—zwischen Suppe und Fleisch—sagte die
Mutter: "Marianne, warum habt ihr den Brief nicht in den Schalter
geworfen?"

"Vergessen!"

"So geht jetzt und besorgt ihn."

"Aber doch _nach_ dem Essen?" fragte fast einstimmig der Kinderchor.

"Nein, nein, eben zwischen hinein, damit ihr es merkt. Ich kann euch
nicht helfen, ich hätte gar kein gutes Gewissen, wenn ich es nicht
verlangte." Da widersprach niemand mehr, die Mutter konnte man sich
nicht mit schlechtem Gewissen vorstellen. Die Mädchen gingen mit dem
Brief, Herr Pfäffling sah seine Frau verwundert an.

Sie ging nach Tisch mit ihm in sein Zimmer. Da sagte sie ihm, wie
schwer es ihr den ganzen Vormittag zumute gewesen sei, und es kamen ihr
fast jetzt noch die Tränen. Sie sprachen lange miteinander, dann kehrte
Herr Pfäffling in das Wohnzimmer zurück, wo die Großen noch beisammen
waren.

"Hört, ich möchte euch dreierlei sagen: Erstens: sorgt jetzt, daß vor
Weihnachten nichts mehr vorkommt, gar nichts mehr, denn bis man weiß,
wie die Sachen hinausgehen, sind sie doch recht unangenehm, besonders
für die Mutter. Zweitens: Sagt dem Baumann: er solle sich bei Herrn
Sekretär Floßmann entschuldigen, sonst werde es schlimm für ihn
ausgehen. Drittens: Walburg soll eine Tasse Kaffee für die Mutter
machen, es wird ihr gut tun, oder zwei Tassen."

Einer von Herrn Pfäfflings guten Ratschlägen konnte nicht ausgeführt
werden, denn Wilhelm Baumann wurde noch an diesem Nachmittag aus der
Schule weg und auf die Polizei geholt und war von da an aus dem
Gymnasium ausgewiesen.

Am Abend überbrachte ein Dienstmädchen einen schönen Blumenstock—eine
Musikschülerin ließ Frau Pfäffling gratulieren.

"Ich werde morgen hinkommen und mich bedanken," ließ Herr Pfäffling
sagen.

Ja, es gibt allerlei Freuden, zu denen man gratulieren kann! Warum
nicht auch, wenn ein unschuldig Verklagter freigesprochen wird? Oder
war etwas anderes gemeint?



6. Kapitel
Am kürzesten Tag.


Es war der 21. Dezember, der kürzeste Tag des Jahres. Um dieselbe
Tageszeit, wo im Hochsommer die Sonne schon seit fünf Stunden am Himmel
steht, saß man heute noch bei der Lampe am Frühstückstisch, und als
diese endlich ausgeblasen wurde, war es noch trüb und dämmerig in den
Häusern. Allmählich aber hellte es sich auf und die Sonne, wenn sie
gleich tief unten am Horizont stand, sandte doch ihre schrägen Strahlen
den Menschenkindern, die heute so besonders geschäftig durcheinander
wimmelten. Es war ja der letzte Samstag vor Weihnachten, zugleich der
Thomastag, ein Feiertag für die Schuljugend. Jedermann wollte die
wenigen hellen Stunden benützen, um Einkäufe zu machen. Wieviel Gänse
und Hasen wurden da als Festbraten heimgeholt und wieviel Christbäume!
Auf den Plätzen der Stadt standen sie ausgestellt, die Fichten und
Tannen, von den kleinsten bis zu den großen stattlichen, die bestimmt
waren, Kirchen oder Säle zu beleuchten.

Mitten zwischen diesen Bäumen, von ihrem weihnächtlichen Duft und
Anblick ganz hingenommen und im Anschauen versunken, stand unser
kleiner Frieder. Er hatte für den Vater etwas in der Musikalienhandlung
besorgt, kam nun heimwärts über den Christbaummarkt und konnte sich
nicht trennen. Nun stand er vor einem Bäumchen, nicht größer als er
selbst, saftig grün und buschig. Sie mochten vielleicht gleich alt
sein, dieser Bub und dies Bäumchen und sahen beide so rundlich und
kindlich aus. Sie standen da, vom selben Sonnenstrahl beleuchtet und
wie wenn sie zusammen gehörten, so dicht hielt sich Frieder zum Baum.

"Du! dich meine ich, hörst du denn gar nichts; _so_ wirst du nicht viel
verdienen!" sagte plötzlich eine rauhe Stimme, und eine schwere Hand
legte sich von hinten auf seine Schulter. Frieder erwachte wie aus
einem Traum, wandte sich und sah sich zwei Frauen gegenüber. Die ihn
angerufen hatte, war eine große, derbe Person, eine Verkäuferin. Die
andere eine Dame mit Pelz und Schleier. "Pack an, Kleiner, du sollst
der Dame den Baum heimtragen, du weißt doch die Luisenstraße?" sagte
die Frau und legte ihm den Baum über die Schulter.

"Ist der Junge nicht zu klein, um den Baum so weit zu tragen?" fragte
die Dame.

"O bewahre," meinte die Händlerin, "der hat schon ganz andere Bäume
geschleppt, sagen Sie ihm nur die Adresse genau, wenn Sie nicht mit ihm
heim gehen." "Luisenstraße 43 zu Frau Dr. Heller," sagte die Dame.
"Sieh, auf diesem Papier ist es auch aufgeschrieben. Halte dich nur
nicht auf, daß dich's nicht in die Hände friert." Da Frieder immer noch
unbeweglich stand, gab ihm die Verkäuferin einen kleinen Anstoß in der
Richtung, die er einzuschlagen hatte.

Frieder, den Baum mit der einen Hand haltend, den Papierzettel in der
andern, trabte der Luisenstraße zu. Er hatte so eine dunkle Ahnung, daß
er mehr aus Mißverständnis zu diesem Auftrag gekommen war, er wußte es
aber nicht gewiß. Die Damen konnten die Bäume nicht selbst tragen, so
mußten eben die Buben helfen. Er sah manche mit Christbäumen laufen,
freilich meist größere. Er war eigentlich stolz, daß man ihm einen
Christbaum anvertraut hatte. Wenn ihm jetzt nur die Brüder begegnet
wären oder gar der Vater!

Wie die Zweige ihn so komisch am Hals kitzelten, wie ihm der Duft in
die Nase stieg und wie harzig die Hand wurde! Allmählich drückte der
Baum, obwohl er nicht groß war, unbarmherzig auf die Schulter, man
mußte ihn oft von der einen auf die andere legen, und bei solch einem
Wechsel entglitt ihm das Papierchen mit der Adresse und flatterte zu
Boden, ohne daß die steife, von der Kälte erstarrte Hand es empfunden
hätte. Nun schmerzten ihn die beiden Schultern, er trug den Baum frei
mit beiden Händen. Aber da wurde Frieder hart angefahren von einem
Mann, der ihm entgegen kam: "Du, du stichst ja den Menschen die Augen
aus, halte doch deinen Baum hinter dich, so!" und der Vorübergehende
schob ihm den Baum unter den Arm. Nach kürzester Zeit kam von hinten
eine Stimme: "Du, Kleiner, du kehrst ja die Straße mit deinem
Christbaum, halte doch deinen Baum hoch!" Ach, das war eine schwierige
Sache! Aber nun war auch die Luisenstraße glücklich erreicht. Freilich,
die Adresse war abhanden gekommen, aber Frieder hatte sich das
wichtigste gemerkt, Nr. 42 oder 43 und im zweiten Stock und bei einer
Frau Doktor, das mußte nicht schwer zu finden sein. In Nr. 42a wollte
niemand etwas von dem Baum wissen, aber in Nr. 42b bekam Frieder guten
Bescheid, das Dienstmädchen wußte es ganz gewiß, der Baum gehörte nach
Nr. 47, die Dame war zugleich mit ihr auf dem Markt gewesen und hatte
einen Baum gekauft. Also nach Nr. 47. Als man ihm dort seinen Baum
wieder nicht abnehmen wollte, kamen ihm die Tränen, und eine mitleidige
Frau hieß ihn sich ein wenig auf die Treppe setzen, um auszuruhen.

"In der Luisenstraße wohnt nur _ein_ Doktor," sagte sie, "und das ist
Dr. Weber in Nr. 24, bei dem mußt du fragen." Unser Frieder hätte nun
lieber in Nr. 43 angefragt, denn er meinte sich zu erinnern, das sei
die richtige Nummer, aber Frieder traute immer allen Leuten mehr zu als
sich selbst, und so folgte er auch jetzt wieder dem Rat, ging an Nr. 43
vorbei bis an Nr. 24 und hörte dort von dem Dienstmädchen der Frau Dr.
Weber, sie hätten längst einen Baum und einen viel schöneren und
größeren. Jetzt aber tropften ihm die dicken Tränen herunter, und als
er wieder auf der Straße stand, wurde ihm auf einmal ganz klar, wo er
jetzt hingehen wollte—heim zur Mutter. Es mußte ja schon spät sein,
vielleicht gar schon Essenszeit. Kam er da nicht heim, so hatte die
Mutter Angst, und der Vater hatte ja gesagt, es dürfe nichts, gar
nichts mehr vorkommen vor Weihnachten. Also nur schnell, schnell heim!

Und es war wirklich höchste Zeit.

Niemand hatte bis jetzt Frieders langes Ausbleiben bemerkt, als nun
aber Marie und Anne anfingen, den Tisch zu decken, sagte Elschen:
"Frieder hat versprochen, mit mir zu spielen, und nun ist er den ganzen
Vormittag weggeblieben!"

"Er ist gewiß schon längst bei den Brüdern, im Hof, auf der Schleife.
Sieh einmal nach ihm," sagten die Schwestern.

Aber Frieder war verschollen und die Geschwister fingen an, sich zu
ängstigen, nicht sowohl für den kleinen Bruder—was sollte dem
zugestoßen sein—, aber wenn er nicht zu Mittag käme, würden sich die
Eltern sorgen und darüber ärgern, daß doch wieder etwas vorgekommen
sei. "Er wird doch kommen bis zum Essen," sagten sie zueinander und,
als nun die Mutter ins Zimmer trat, sprachen sie von allerlei, nur
nicht von Frieder. Elschen stand an der Treppe, nun kam der Vater heim,
fröhlich und guter Dinge und fragte gleich: "Ist das Essen schon
fertig?"

"Es ist noch nicht halb ein Uhr," entgegnete Karl, der die Frage gehört
hatte. "Es wird gleich schlagen," meinte der Vater, ging aber doch noch
in sein Zimmer. Im Vorplatz berieten leise die Geschwister: "Wenn man
nur das Essen ein wenig verzögern könnte," sagte Karl.

"Das will ich machen," flüsterte Marie, ging in die Küche, zog Walburg
zu sich und rief ihr dann ins Ohr: "Frieder ist noch nicht daheim, der
Vater wird so zanken, und die Mutter wird Angst haben, kannst du nicht
machen, daß man später ißt?" Walburg nickte freundlich, ging an den
Herd, deckte ihre Töpfe auf und sagte dann: "Du kannst der Mutter
sagen, den Linsen täte es gut, wenn sie noch eine Weile kochen
dürften." Da sprang Marie befriedigt hinaus, Walburgs Ausspruch ging
von Mund zu Mund, und bis es der Mutter zu Ohren kam, waren die Linsen
ganz hart.

"So?" sagte sie verwundert, "mir kamen sie weich vor, aber wir können
ja noch ein wenig mit dem Essen warten."

"Ja, harte Linsen sind nicht gut, sind ganz schlecht," sagten die
Kinder.

So vergingen fünf Minuten. Inzwischen lief unser Frieder, so schnell er
es nur mit seinem Baum vermochte. Jetzt trabte er die Treppe herauf,
und bei seinem Klingeln eilten alle herbei, um aufzumachen. Frau
Pfäffling merkte jetzt, daß etwas nicht in Ordnung war und ging auch
hinaus. Da stand Frieder ganz außer Atem, mit glühenden Backen, den
Christbaum auf der Schulter und fragte ängstlich: "Ißt man schon?"

Als er aber hörte, daß die Mutter ihn nicht vermißt hatte, und sah, wie
man seinen Baum anstaunte und die Mutter so freundlich sagte: "Stell
ihn nur ab, du glühst ja ganz," da wurde ihm wieder leicht ums Herz.
Sie meinten alle, der Christbaum gehöre Frieder. "Nein, nein," sagte
dieser, "ich muß ihn einer Frau bringen, ich weiß nur nimmer, wie sie
heißt und wo sie wohnt." Da lachten sie ihn aus und wollten alles genau
hören, auch Herr Pfäffling war hinzu gekommen und hörte von Frieders
Irrfahrten, nahm ihn bei der Hand und sagte: "Nun komm nur zu Tisch, du
kleines Dummerle, du!"

Die Linsen waren nun plötzlich weich, und wie es Frieder schmeckte,
läßt sich denken.

Beim Mittagessen wurde beraten, wie man den Christbaum zu seiner
rechtmäßigen Besitzerin bringen könne. "Einer von euch Großen muß mit
Frieder gehen, ihm helfen den Baum tragen," sagte Frau Pfäffling.

"Aber wir Lateinschüler können doch nicht in der Luisenstraße von Haus
zu Haus laufen, wie arme Buben, die die Christbäume austragen,"
entgegnete Karl.

"Wenn mir da z.B. Rudolf Meier begegnete," sagte Otto, "vor dem würde
ich mich schämen."

"So, so," sagte Herr Pfäffling, "seid ihr zu vornehm dazu? Dann muß
wohl ich meinen Kleinen begleiten," und er nahm den Baum, der in der
Ecke stand, hob ihn frei hinaus, daß er die Decke streifte und sagte
spassend: "So werde ich durch die Luisenstraße ziehen, eine Schelle
nehmen und ausrufen: 'Wem der Baum gehört, der soll sich melden.'"

"Ich denke doch," sagte Frau Pfäffling, "einer von unseren dreien wird
so gescheit sein und sich nicht darum bekümmern, wenn auch je ein
Kamerad denken sollte, daß er für andere Leute Gänge macht." Sie
schwiegen aber. Da setzte Herr Pfäffling den Baum wieder ab und sagte
sehr ernst: "Kinder, fangt nur das gar nicht an, daß ihr meint: dies
oder jenes paßt sich nicht, das könnten die Kameraden schlecht
auslegen. Mit solchen kleinlichen Bedenken kommt man schwer durchs
Leben, fühlt sich immer gebunden und hängt schließlich von jedem Rudolf
Meier ab."

Nach dem Essen wurde Herr Hartwig um das Adreßbuch gebeten und mit
Hilfe dessen und Frieders Erinnerung war bald festgestellt, daß der
Baum in die Luisenstraße Nr. 43 zu Frau Dr. Heller gehörte.

Die drei großen Brüder standen beisammen und berieten. "Ich mache mir
nichts daraus, den Baum zu tragen," sagte Wilhelm, "ich hätte gar nicht
gedacht, daß es dumm aussieht, wenn ihr es nicht gesagt hättet."

"Aber wenn du hinkommst, mußt du dich darauf gefaßt machen, daß man dir
ein Trinkgeld gibt," sagte Karl.

"Um so besser, wenn's nur recht groß ist, ich habe ohnedies keinen
Pfennig mehr."

Die Beratung wurde unterbrochen durch die Mutter, die mit Frieder ins
Zimmer kam und sagte: "Die Dame wird gar nicht begreifen, wo ihr Baum
so lang bleibt, tragt ihn jetzt nur gleich fort. Otto, du gehst mit,
deinem alten Mantel schadet es am wenigsten, wenn der Baum wetzt."

Diesem bestimmten Befehl gegenüber gab es keinen Widerspruch mehr. Otto
mußte sich bequemen, Frieder zu begleiten.

Sie gingen nebeneinander und waren bis an die Luisenstraße gekommen,
als Otto plötzlich seinem Frieder den Baum auf die Schulter legte und
sagte: "Da vornen kommen ein paar aus meiner Klasse, die lachen mich
aus, wenn sie meinen, ich müsse den Dienstmann machen. Das letzte Stück
kannst du doch den Baum selbst tragen? Und kannst dich auch selbst
entschuldigen, nicht?"

"Gut kann ich," sagte Frieder und ging allein seines Weges. Wie einfach
war das nun. Am Glockenzug von Nr. 43 stand angeschrieben: "Dr.
Heller", das stimmte alles ganz gut mit dem Adreßbuch und oben im
zweiten Stock stand noch einmal der Name. Diesmal war Frieder an der
rechten Türe.

Otto hatte sich inzwischen seinen Kameraden angeschlossen und war ein
wenig mit ihnen herumgeschlendert, denn er wollte nicht früher als
Frieder nach Hause kommen. Als er sich endlich entschloß, heim zu
gehen, war es ihm nicht behaglich zumute; es reute ihn doch, daß er den
Kleinen zuletzt noch im Stich gelassen hatte. In der Frühlingsstraße
wollte er mit dem Bruder wieder zusammentreffen. Er wartete eine Weile
vergeblich auf ihn, dann ging ihm die Geduld aus, vermutlich war
Frieder schon längst daheim. Er hoffte ihn oben zu finden, aber es war
nicht so, das konnte er gleich daran merken, daß er von allen Seiten
gefragt wurde: wie es mit dem Baum gegangen sei? Nun mußte er freilich
erzählen, daß er nur bis in die Nähe des Hauses Nr. 43 den Baum
getragen, und dann mit einigen Freunden umgekehrt sei. Aber nun hörte
man auch schon wieder jemand vor der Glastüre, das konnte Frieder sein,
und dann war ja die Sache in Ordnung. Sie machten auf: da stand der
kleine Unglücksmensch und hatte wieder seinen Christbaum im Arm! Sie
trauten ihren Augen kaum. "Ja Frieder, hast du denn die Wohnung nicht
gefunden?" riefen sie fast alle zugleich. Da zuckte es um seinen Mund,
er würgte an den Tränen, die kommen wollten, und preßte hervor:
"Neunmal geklingelt, niemand zu Haus!" Sie waren nun alle voll Mitleid,
aber sie konnten auch nicht verstehen, warum er nicht oben oder unten
bei anderen Hausbewohnern angefragt hätte. Daran hatte er eben gar
nicht gedacht. "Deshalb gibt man solch einem kleinen Dummerle einen
größeren Bruder mit," sagte Frau Pfäffling, "aber wenn der freilich so
treulos ist und vorher umkehrt, dann ist der Kleine schlecht beraten."

"Jetzt wird der Sache ein Ende gemacht," rief Wilhelm, "ich gehe mit
dem Baum und das dürft ihr mir glauben, ich bringe ihn nicht mehr
zurück," und flink faßte er den Christbaum, der freilich schon ein
wenig von seiner Schönheit eingebüßt hatte, und sprang leichtfüßig
davon.

In der Luisenstraße Nr. 43 wurde ihm aufs erste Klingeln aufgemacht und
sofort rief das Dienstmädchen: "Frau Doktor, jetzt kommt der Baum doch
noch!" Eine lebhafte junge Frau eilte herbei und rief Wilhelm an: "Wo
bist du denn so lang geblieben, Kleiner? Aber nein, du bist's ja gar
nicht, dir habe ich keinen Baum zu tragen gegeben, der gehört nicht
mir."

Wilhelm erzählte von den Wanderungen, die der Baum mit verschiedenen
jungen Pfäfflingen gemacht hatte.

"Der Kleine dauert mich," sagte die junge Frau. "Das zweite Mal, als er
kam, war ich wohl mit meinem Mädchen wieder auf dem Markt, ich habe
nämlich nicht gedacht, daß er noch kommt, und habe einen andern geholt,
ich brauche ihn schon heute abend zu einer kleinen Gesellschaft, da
konnte ich nicht warten. Was mache ich nun mit diesem Baum? Habt ihr
wohl schon einen zu Haus? Ich würde euch den gern schenken."

"Wir haben noch keinen," sagte Wilhelm.

"Also, das ist ja schön, dann nimm ihn nur wieder mit, und dem netten
kleinen Dicken, der so viel Not gehabt hat, möchte ich noch einen
Lebkuchen schicken, den bringst du ihm, nicht wahr?"

Auch dazu war Wilhelm bereit, und kurz nachher rannte er vergnügt mit
seinem Baum heimwärts.

Der kurze Dezembernachmittag war schon zu Ende und die Lichter
angezündet, als Wilhelm heim kam. Die Schwestern, welche die Ganglampe
geraubt hatten, kamen eilig mit derselben herbei, als Wilhelm
klingelte, und ließen sie vor Schreck fast aus der Hand fallen, als sie
den Baum sahen. "Der Baum kommt wieder!" schrien die Mädchen ins
Zimmer. "Unmöglich!" rief die Mutter. "Ja doch," sagte Karl, "der Baum,
der unglückselige Baum!" "Gelt," rief Frieder, "es wird nicht
aufgemacht, wenn man noch so oft klingelt!"

Aber Wilhelm lachte, zog vergnügt den Lebkuchen aus der Tasche, und gab
ihn Frieder: "Der ist für dich von deiner Frau Dr. Heller, und der
Baum, Mutter, der gehört uns, ganz umsonst!" Als Herr Pfäffling heim
kam, ergötzte er sich an der Kinder Erzählung von dem Christbaum, aber
er merkte, daß es Otto nicht recht wohl war bei der Sache, und wollte
sie eben deshalb genauer hören. "Also so hat sich's verhalten," sagte
er schließlich, "vor dem Lachen der Kameraden hast du dich so
gefürchtet, daß du den Bruder und den Baum im Stich gelassen hast? Dann
heiße ich dich einen Feigling!"

Weiter wurde nichts mehr über die Sache gesprochen, aber dies eine Wort
"Feigling", vom Vater ausgesprochen, vor der ganzen Familie, das
brannte und schmerzte und war nicht einen Augenblick an diesem Abend zu
vergessen. Es war auch am nächsten Morgen, an dem vierten
Adventssonntag, Ottos erster Gedanke. Es trieb ihn um, er konnte dem
Vater nicht mehr unbefangen ins Gesicht sehen. Da trachtete er, mit der
Mutter allein zu sprechen, und sie merkte es, daß er ihr nachging, und
ließ sich allein finden, in dem Bubenzimmer. "Mutter," sagte er, "ich
kann gar nicht vergessen, was der Vater zu mir gesagt hat. Soll ich ihn
um Entschuldigung bitten? Was hilft es aber? Er hält mich doch für
feig."

"Ja, Otto, er muß dich dafür halten, denn du bist es gewesen und zwar
schon manchmal in dieser Art. Immer abhängig davon, wie die anderen
über dich urteilen. Da hilft freilich keine Entschuldigung, da hilft
nur ankämpfen gegen die Feigheit, Beweise liefern, daß du auch tapfer
sein kannst."

Am Montag nachmittag, als die Kinder alle von der Schule zurückkehrten,
fehlte Otto. Er kam eine ganze Stunde später heim und dann suchte er
zuerst den Vater in dessen Zimmer auf. Herr Pfäffling sah von seinen
Musikalien auf. "Willst du etwas?"

"Ja, dich bitten, Vater, daß du das Wort zurücknimmst. Du weißt schon
welches. Ich bin deswegen heute nachmittag lang auf dem Christbaummarkt
gestanden und habe dann für jemand einen Baum heimgetragen. Drei von
meiner Klasse haben es gesehen. Und da sind die 20 Pfennig Trinkgeld,
die ich bekommen habe." Da sah Herr Pfäffling mit fröhlichem, warmem
Blick auf seinen Jungen und sagte: "Es gibt allerlei Heldentum, das war
auch eines; nein, Kind, du bist doch kein Feigling!"



7. Kapitel
Immer noch nicht Weihnachten.


Der letzte Schultag vor Weihnachten war gekommen. Wer sich von der
Familie Pfäffling am meisten freute auf den Schulschluß, das war gerade
das einzige Glied derselben, das noch nicht zur Schule ging, das
Elschen. Ihr war die Schule die alte Feindin, die ihr, solange sie
zurückdenken konnte, alle Geschwister entzog, die unbarmherzig die
schönsten Spiele unterbrach, die ihre dunkeln Schatten in Gestalt von
Aufgaben über die ganzen Abende warf und die auch heute schuld war, daß
die Geschwister, statt von Weihnachten, nur von den Schulzeugnissen
redeten, die sie bekommen würden.

Sie saßen jetzt beim Frühstück, aber es wurde hastig eingenommen, die
Schulbücher lagen schon bereit, und gar nichts deutete darauf hin, daß
morgen der heilige Abend sein sollte. Die Kleine wurde ganz ungeduldig
und mißmutig. "Vater," sagte sie aus dieser Stimmung heraus, "gibt es
gar kein Land auf der ganzen Welt, wo keine Schule ist?"

"O doch," antwortete Herr Pfäffling, "in der Wüste Sahara zum Beispiel
ist zurzeit noch keine eröffnet."

"Da mußt du Musiklehrer werden, Vater," rief die Kleine ganz energisch.
Aber da alle nur lachten, sogar Frieder, merkte sie, daß der Vorschlag
nichts taugte, und sie sah wieder, daß gegen die Schule ein für allemal
nichts zu machen war.

Heute sollte sie das besonders bitter empfinden. Als sie nach der
letzten Schulstunde den großen Brüdern fröhlich entgegenkam, wurde sie
nur so beiseite geschoben; die Drei waren in eifrigem, aber leise
geführtem Gespräch und verschwanden miteinander in ihrem Schlafzimmer.
Es waren nämlich die Zeugnisse ausgeteilt worden, und da zeigte es
sich, daß Wilhelm in der Mathematik die Note "4" bekommen hatte, die
geringste Note, die gegeben wurde. Das war noch nie dagewesen, die Zahl
4 war bisher in keinem Zeugnisheft der jungen Pfäfflinge vorgekommen.
"So dumm sieht der Vierer aus," sagte Wilhelm, "was hilft es mich, daß
ein paar Zweier sind, wo das letztemal Dreier waren, der Vater sieht
doch auf den ersten Blick den Vierer."

"Ja," sagte Karl, "gerade so wie unser Professor auch in der schönsten
Reinschrift immer nur die eine Stelle sieht, wo etwas korrigiert ist."

"Wenn wir es nur einrichten könnten, daß wir die Zeugnishefte erst nach
Weihnachten zeigen müßten. Meint ihr, das geht?"

"Nein," sagte Karl, "man hat sonst jeden Tag Angst, daß der Vater
darnach fragt. Aber es kann freilich die Freude verderben; hättest du
es nicht wenigstens zu einem schlechten Dreier bringen können?"

Wilhelm blieb darauf die Antwort schuldig. Die Schwestern waren
inzwischen auch mit ihren Zeugnissen heimgekommen und suchten die
Brüder auf. Marie warf nur einen Blick auf die Gruppe, dann sagte sie:
"Gelt, ihr seid schlecht weggekommen?" und da keine Antwort erfolgte,
fuhr sie fort: "Unsere Zeugnisse sind gut, besser als das letztemal,
und der Frieder hat auch gute Noten. Dann wird der Vater schon
zufrieden sein."

"Nein," sagte Wilhelm, "er wird nur meinen Vierer sehen."

"O, ein Vierer?" "O weh!" riefen die Schwestern.

"So jammert doch nicht so," rief Wilhelm, "sagt lieber, was man machen
soll, daß der Vater die Zeugnisse vor Weihnachten nicht ansieht?"

Sie berieten und besannen sich eine Weile, ein Wort gab das andere und
zuletzt wurde beschlossen, die Noten sollten alle zusammengezählt und
dann die Durchschnittsnote daraus berechnet werden. Diese mußte, trotz
des fatalen Vierers, ganz gut lauten, so daß die Eltern wohl befriedigt
sein konnten. Die Mutter hatte überdies selten Zeit, die Heftchen
anzusehen, und dem Vater wollte man die schöne Durchschnittsnote in
einem geschickten Augenblick mitteilen, dann würde er nicht weiter
nachfragen; erst nach Neujahr mußten die Zeugnisse unterschrieben
werden, bis dahin hatte es ja noch lange Zeit, so weit hinaus sorgte
man nicht. Wilhelm war sehr vergnügt über den Gedanken, Otto, der das
beste Zeugnis hatte, war zwar weniger damit einverstanden, wurde aber
überstimmt, und sie machten sich nun an die Durchschnittsberechnung.

Wilhelm holte Frieder herbei, der hatte der Mutter schon sein Zeugnis
gezeigt, nun wurde es ihm von den Brüdern abgenommen. "Seht nur," sagte
Wilhelm, "wie der sich diesmal hinaufgemacht hat!"

"Dafür kann ich nichts," sagte Frieder, "die Mutter sagt, das kommt nur
von der Harmonika. Wahrscheinlich, wenn ich eine neue zu Weihnachten
bekomme, werden die Noten wieder schlechter. Gibst du mir mein Heft
wieder, Karl?"

"Nein, das brauchen wir noch, sei nur still, daß ich rechnen kann."

"Geh lieber hinaus, Frieder," sagte Marie mütterlich, "das Elschen hat
sich so gefreut auf dich," und sie schob den Kleinen zur Türe hinaus.

Es ergab sich eine gute Durchschnittsnote, und Marie wollte es
übernehmen, sie dem Vater so geschickt mitzuteilen, daß er gewiß nicht
nach den Heften fragen würde. Sie wartete den Augenblick ab, wo Herr
Pfäffling sich richtete, um zum letztenmal vor dem Fest in das
Zentralhotel zu gehen. An seinen raschen Bewegungen bemerkte sie, daß
er in Eile war. "Vater," sagte sie, "wir haben alle unsere Zeugnisse
bekommen und die Noten zusammengezählt. Dann hat Karl berechnet, was
wir für eine Durchschnittsnote haben, weißt du, was da herausgekommen
ist? Magst du raten, Vater?"

"Ich kann mich nicht mehr aufhalten, ich muß fort, aber hören möchte
ich es doch noch gerne, eine Durchschnittsnote von allen Sechsen? Zwei
bis drei vielleicht?"

"Nein, denke nur, Vater, eins bis zwei, ist das nicht gut?"

"Recht gut," sagte Herr Pfäffling; er hatte nun schon den Hut auf und
Marie bemerkte noch schnell unter der Türe: "Die Zeugnisheftchen will
ich alle in der Mutter Schreibtisch legen, daß du sie dann einmal
unterschreiben kannst." "Ja, hebe sie nur gut auf," rief Herr Pfäffling
noch von der Treppe herauf.

Die kleine List war gelungen, die Heftchen wurden sehr sorgfältig, aber
sehr weit hinten im Schreibtisch geborgen; ungesucht würden sie da
niemand in die Hände fallen.

Herr Pfäffling freute sich jedesmal auf die Stunden im Zentralhotel,
denn es war dort mehr ein gemeinsames Musizieren als ein Unterrichten
und so betrat er auch heute in fröhlicher Stimmung das Hotel. Diesmal
stand die große Flügeltüre des untern Saales weit offen, Tapezierer
waren beschäftigt, die Wände zu dekorieren, der Besitzer des Hotels
stand mitten unter den Handwerksleuten und erteilte ruhig und bestimmt
seine Befehle. "Das ist auch ein General," dachte Herr Pfäffling,
nachdem er einige Augenblicke zugesehen hatte. Große Tätigkeit
herrschte in den untern Räumen. An der angelehnten Türe des
Speisezimmers stand ein kleiner Kellner, die Serviette über dem Arm,
einige Flaschen in der Hand und sah zu, wie eben zwei hohe Tannenbäume
in den Saal getragen wurden. Aber plötzlich fuhr der kleine Bursche
zusammen, denn hinter ihm ertönte eine scheltende Stimme: "Was stehst
du da und hast Maulaffen feil, mach daß du an dein Geschäft gehst!" Es
war Rudolf Meier, der den Säumigen so anfuhr. Als er Herrn Pfäffling
gewahrte, grüßte er sehr artig und sagte: "Man hat seine Not mit den
Leuten, heutzutage taugt das Pack nicht viel." Eine Antwort erhielt
Rudolf nicht auf seine Rede, ohne ein Wort ging Herr Pfäffling an ihm
vorbei, die Treppe hinauf.

Rudolf sah ihm nachdenklich nach. Es kam ihm öfters vor, daß er auf
seine verständigsten Reden keine Antwort bekam, und zwar gerade von den
Leuten, die er hoch stellte. Andere rühmten ihn ja oft und sagten ihm,
er spreche so klug wie sein Vater; ob wohl solche Leute, wie Herr
Pfäffling noch größere Ansprüche machten? Rudolf stellte sich die
Brüder Pfäffling vor. Wie kindisch waren sie doch im Vergleich mit ihm,
sogar Karl, der älteste; diesen Unterschied mußte ihr Vater doch
empfinden, es mußte ihm doch imponieren, daß er schon so viel weiter
war! Der kleine Kellner konnte es wohl noch bemerkt haben, wie
geringschätzig Herr Pfäffling an ihm vorübergegangen war: so etwas
erzählten sich dann die Dienstboten untereinander und spotteten über
ihn, das wußte er wohl. Ja, er hatte keine leichte Stellung im Haus.

Indessen war Herr Pfäffling die ihm längst vertraute Treppe
hinaufgesprungen. Droben empfing ihn schon das flotte Geigenspiel
seiner Schüler, und nun wurde noch einmal vor Weihnachten ausgiebig
musiziert.

"Es wird ein Ball im Hotel arrangiert zur Weihnachtsfeier," erzählte
ihm die Generalin am Schluß der Stunde, "es soll sehr schön werden."

"Ja," sagte der General, "der Hotelier gibt sich alle Mühe, seinen
Gästen viel zu bieten, er ist ein tüchtiger Mann und versteht sein
Geschäft ausgezeichnet, aber sein Sohn _spricht_ nur von Arbeit und tut
selbst keine! Der Sohn wird nichts."

Als Herr Pfäffling sich für die Weihnachtsferien verabschiedet hatte
und hinausging, sah er am Fenster des Korridors eben _den_ Sohn stehen,
über den einen Augenblick vorher das vernichtende Urteil gefällt war:
"Er wird nichts." Kann es ein traurigeres Wort geben einem jungen
Menschenkind gegenüber? Herr Pfäffling konnte diesmal nicht
teilnahmslos an ihm vorübergehen. Rudolf Meier stand auch nicht
zufällig da. Er wußte vielleicht selbst nicht genau, was ihn hertrieb.
Es war das Bedürfnis, sich Achtung zu verschaffen von diesem Mann. Ein
anderes Mittel hiezu kannte er nicht, als seine eigenen Leitungen zur
Sprache zu bringen.

"Wünsche fröhliche Feiertage," redete er Herrn Pfäffling an. "Für
andere Menschen beginnen ja nun die Ferien, für uns bringt so ein Fest
nur Arbeit."

Herr Pfäffling blieb stehen. "Ja," sagte er, "ich sehe, daß Ihr Vater
sehr viel zu tun hat, aber wenn die Gäste versorgt sind, haben Sie doch
wohl auch Ihre Familienfeier, Ihre Weihnachtsbescherung?"

"Ne, das gibt es bei uns nicht. Früher war das ja so, als ich klein war
und meine Mutter noch lebte, aber ich bin nicht mehr so kindisch, daß
ich jetzt so etwas für mich beanspruchte. Ich habe auch keine Zeit. Sie
begreifen, daß ich als einziger Sohn des Hauses überall nachsehen muß.
Die Dienstboten sind so unzuverlässig, man muß immer hinter ihnen her
sein."

"Lassen sich die Dienstboten von einem fünfzehnjährigen Schuljungen
anleiten?"

Rudolf Meier war über diese Frage verwundert. Wollte es ihm denn gar
nicht gelingen, diesem Manne verständlich zu machen, daß er eben kein
gewöhnlicher Schuljunge war?

"Ich habe keinen Verkehr mit Schulkameraden," sagte er, "in jeder
freien Stunde, auch Sonntags, bin ich hier im Hause beschäftigt."

"Sie kommen wohl auch nie in die Kirche?"

"Ich selbst nicht leicht, aber ich bin sehr gut über alle Gottesdienste
unterrichtet. Wir haben oft Gäste, die sich dafür interessieren, und
ich weiß auch allen, gleichviel ob es Christen oder Juden sind,
Auskunft zu geben über Zeit und Ort des Gottesdienstes, über beliebte
Prediger, feierliche Messen und dergleichen. Man muß allen dienen
können und darf keine Vorliebe für die eine oder andere Konfession
merken lassen. Wir dürfen ja auch Ausländer nicht verletzen und müssen
uns manche spöttische Äußerung über die Deutschen gefallen lassen. Das
bringt ein Welthotel so mit sich."

Herr Pfäffling sagte darauf nichts und Rudolf Meier war zufrieden. Das
"Welthotel" war immer der höchste Trumpf, den er ausspielen konnte, und
der verfehlte nie seine Wirkung, auch auf Herrn Pfäffling hatte er
offenbar Eindruck gemacht, denn der geringschätzige Blick, den er vor
der Stunde für ihn gehabt hatte, war einem andern Ausdruck gewichen.

Unten, im Hausflur, stand noch immer die Türe zu dem großen Saal offen,
die Dekoration hatte Fortschritte gemacht, Herr Rudolf Meier sen. stand
auf der Schwelle und überblickte das Ganze, und im Vorbeigehen hörte
Herr Pfäffling ihn zu einem Tapezierer sagen:

"An diesem Fenster ist noch Polsterung anzubringen, damit jede Zugluft
von den Gästen abgehalten wird."

Unser Musiklehrer, dem sonst, wenn er von seinen russischen Schülern
kam, die schönsten Melodien durch den Kopf gingen, war heute auf dem
Heimweg in Gedanken versunken. Er sah vor sich den tüchtigen
Geschäftsmann, der in unermüdlicher Tätigkeit sein Hotel bestellte, der
von seinen Gästen jeden schädlichen Luftzug abhielt, und der doch nicht
merkte, wie der einzige Sohn, dem dies alles einst gehören sollte, in
Gefahr war, zugrunde zu gehen. Herr Pfäffling war eine Straße weit
gegangen, da trieben ihn seine Gedanken wieder rückwärts. "Sprich mit
dem Mann ein Wort über seinen Sohn," sagte er sich, "wenn seinem Haus
eine Gefahr drohte, würdest du es doch auch sagen, warum nicht, wenn du
siehst, daß sein Kind Schaden nimmt, daß es höchste Zeit wäre, es den
schlimmen Einflüssen zu entziehen? Es sollte fortkommen vom Hotel, von
der großen Stadt, in einfache, harmlose Familienverhältnisse!" Während
sich Herr Pfäffling dies überlegte, ging er raschen Schritts ins
Zentralhotel zurück, und nun stand er vor Herrn Meier, in dem großen
Saal.

Der Hotelbesitzer meinte, der Musiklehrer interessiere sich für die
Dekoration und forderte ihn höflich auf, alles zu besehen. "Ich danke,"
sagte Herr Pfäffling, "ich sah schon vorhin, wie hübsch das wird, aber
um Ihren Sohn, Herr Meier, um Ihren Sohn ist mir's zu tun!"

Äußerst erstaunt sah der so Angeredete auf und sagte, indem er nach
einem anstoßenden Zimmer deutete: "Hier sind wir ungestört. Wollen Sie
Platz nehmen?"

"Nein," sagte Herr Pfäffling, "ich stehe lieber," eigentlich hätte er
sagen sollen, "ich renne lieber," denn kaum hatte er das Gespräch
begonnen, so trieb ihn der Eifer im Zimmer hin und her.

"Ich meine," sagte er, "über all Ihren Leistungen als Geschäftsmann
sehen Sie gar nicht, was für ein schlechtes Geschäft bei all dem Ihr
Kind macht. Ist's denn überhaupt ein Kind? War es eines? Es spricht wie
ein Mann und ist doch kein Mann. Ein Schuljunge sollte es sein, der
tüchtig arbeitet und dann fröhlich spielt. Er aber tut keines von
beiden. In dem Alter, wo er gehorchen sollte, will er kommandieren, den
Herrn will er spielen und hat doch nicht das Zeug dazu. Er wird kein
Mann wie Sie, er wird auch kein Deutscher, wird kein Christ, denn er
dünkt sich über alledem zu stehen. Der sollte fort aus dem Hotel, fort
von hier, in ein warmes Familienleben hinein, da könnte noch etwas aus
ihm werden, aber so nicht!"

Herr Pfäffling hatte so eifrig gesprochen, daß sein Zuhörer dazwischen
nicht zu Wort gekommen war. Er sagte jetzt anscheinend ganz ruhig und
kühl: "Ich muß mich wundern, Herr Pfäffling, daß Sie mir das alles
sagen. Wir kennen uns nicht und meinen Sohn kennen Sie wohl auch nur
ganz flüchtig. Mir scheint, Sie urteilen etwas rasch. Andere sagen mir,
daß mein Sohn der geborene Geschäftsmann ist und schon jetzt einem Haus
vorstehen könnte. Wenn er Ihnen so wenig gefällt, dann bitte kümmern
Sie sich nicht um ihn, ich kenne mein eigenes Kind wohl am besten und
werde für sein Wohl sorgen."

Herr Pfäffling sah nun seinerseits ebenso erstaunt auf Herrn Meier, wie
dieser vorher auf ihn. Endlich sagte er: "Ich sehe, daß ich Sie
gekränkt habe. Das wollte ich doch gar nicht. Wieder einmal habe ich
vergessen, was ich schon so oft bei den Eltern meiner Schüler erfahren
habe, daß es die Menschen nicht ertragen, wenn man offen über ihre
Kinder spricht und wenn es auch aus der reinsten Teilnahme geschieht.
Sagen Sie mir nur das eine, warum würden Sie es mir danken, wenn ich
Ihnen sagte: 'Ihr Kind ist in Gefahr, ins Wasser zu fallen,' und warum
sind Sie gekränkt, wenn ich sagte: 'dem Kind droht Gefahr für seinen
Charakter?' Darin kann ich die Menschen nie verstehen!"

Diese Frage blieb unbeantwortet, denn zwei Handwerksleute kamen herein,
verlangten Bescheid, und Herr Pfäffling machte rasch der Unterredung
ein Ende, indem er sagte: "Wie ungeschickt bin ich Ihnen mit dieser
Sache gekommen, ich sehe, Sie sind draußen unentbehrlich und will Sie
nicht aufhalten." Er ging, der Hotelbesitzer hielt ihn nicht zurück.

"Diese Sache ist mißlungen," sagte sich Herr Pfäffling, "ich habe
nichts erreicht, als daß sich der Mann über mich ärgert." Und nun
ärgerte auch er sich, aber nur über sich selbst. Warum hatte er sich
seine Worte nicht erst in Ruhe überlegt und schonend vorgebracht, was
er sagen wollte, statt diesen ahnungslosen Vater mit hageldicken
Vorwürfen zu überschütten? Nun ging er mit sich selbst ebenso streng
ins Gericht: "Nichts gelernt und nichts vergessen; immer noch gerade so
ungestüm wie vor zwanzig Jahren; immer vorgetan und nachbedacht, trotz
aller Lebenserfahrung: wenn du es nicht besser verstehst, auf die Leute
einzuwirken, so laß die Hand davon; kümmere dich um deine eigenen
Kinder, wer weiß, ob sie andern Leuten nicht auch verkehrt erscheinen."

Nachdem sich Herr Pfäffling so die Wahrheit gesagt hatte, beruhigte er
sich über Rudolf Meier, und versetzte sich in Gedanken zu seinen
eigenen Kindern. Nun kam ihm wieder die Pfäfflingsche Note in den Sinn:
eins bis zwei. Er dachte in dieser Richtung noch weiter nach, und die
Folge davon war, daß er nach seiner Rückkehr dem ersten, der ihm zu
Hause in den Weg lief, zurief:

"Legt mir alle sechs Zeugnishefte aufgeschlagen auf meinen Tisch, ich
will sie sehen!"

Das gab nun eine Aufregung in der jungen Gesellschaft! "Die Zeugnisse
müssen her, der Vater will sie sehen!" flüsterte eines dem andern zu.
"Warum denn, warum?" Niemand wußte Antwort, aber jetzt half keine List
mehr, Marie mußte die Heftchen hervorholen aus ihrem sichern Versteck
und sie hinübertragen in des Vaters Zimmer.

"Ich habe das deinige ein wenig versteckt," sagte sie zu Wilhelm, als
sie wieder herüberkam, "vielleicht übersieht es der Vater."

Herr Pfäffling kannte seine Kinder viel zu gut, als daß er ihre kleine
List mit der guten Durchschnittsnote nicht durchschaut hätte. "Irgend
etwas ist sicher nicht in Ordnung," sagte er sich, "gewiß sind ein paar
fatale Dreier da, oder eine schlechte Bemerkung über das Betragen." Er
überblickte die kleine Ausstellung auf seinem Tisch. Da lag zuvorderst
Karls Zeugnisheft. Dies hielt sich so ziemlich gleich, jahraus,
jahrein, nie vorzüglich, immer gut. Es gab das Bild eines
gewissenhaften Schülers, aber nicht eines großen Sprachgelehrten.

Dann Otto. In den meisten Fächern I. So einen konnte man freilich gut
brauchen, wenn sich's um eine Durchschnittsnote handelte, der konnte
viele Sünden anderer gut machen.

Maries Heftchen zeigte die größte Verschiedenheit in den Noten. Wo die
Geschicklichkeit der Hand in Betracht kam und der praktische Sinn, da
war sie vorzüglich, in Handarbeit, Schönschreiben, Zeichnen, da tat sie
sich hervor, aber bei der rein geistigen Arbeit war selten eine gute
Note zu sehen. Und von Anne konnte man das auch nicht erwarten, denn
sie war von der Natur ein wenig verkürzt, das Lernen fiel ihr schwer,
ohne Maries Hilfe wäre sie wohl nicht mit ihrer Klasse fortgekommen,
aber die Lehrer und Lehrerinnen hatten sich längst darein gefunden, bei
diesen Zwillingsschwestern das gemeinsame Arbeiten zu gestatten und die
Marianne als ein Ganzes zu betrachten. So schlugen sie sich schlecht
und recht miteinander durch und unter Annes Noten glänzten doch immer
zwei I, durch alle Schuljahre hindurch: im Singen und im Betragen.

Bis jetzt hatte Herr Pfäffling noch nichts Neues oder Besonderes
entdecken können und nun hielt er Frieders Zeugnis in der Hand und
staunte. Was für gute Noten hatte sich der kleine Kerl diesmal
erworben! Fast in jedem Fach besser als früher und in einer Bemerkung
des Lehrers waren seine Fortschritte und sein Fleiß besonders
anerkannt! Wie kam das nur? Es mußte wohl mit der Harmonika
zusammenhängen, die ihm früher alle Gedanken, alle freie Zeit in
Anspruch genommen hatte! Herr Pfäffling hatte seine Freude daran und es
kam ihm der Gedanke, seine Kinder seien vielleicht doch nur durch die
besseren Zeugnisse auf den Einfall gekommen, eine Durchschnittsnote
herauszurechnen. Wieviel Heftchen hatte er schon gesehen? Fünf, eines
fehlte noch, Wilhelms Zeugnis, wo war denn das? Ah, hinter den Büchern,
hatte es sich wohl zufällig verschoben? Er warf nur einen Blick hinein
und die ungewohnte Form der Zahl IV sprang ihm ins Auge. Also das
war's! Mathematik IV. Das war stark. Herr Pfäffling lief im Zimmer hin
und her. Wie konnte man nur eine so schlechte Note heimbringen! Und wie
feig, sie so zu verstecken, und wie dumm, zu meinen, der Vater ließe
sich auf diese Weise überlisten! Schlechtere Noten konnte Rudolf Meier
auch nicht heimbringen.

Er nahm das Heftchen noch einmal in die Hand. Im ganzen war das Zeugnis
etwas besser als die früheren, also Faulheit oder Leichtsinn war es
wohl nicht, aber für die Mathematik fehlte das Verständnis.

Eine Weile war Herr Pfäffling auf und ab gegangen, da hörte er jemand
an seiner Türe vorbeigehen und öffnete rasch, um Wilhelm zu rufen. Es
war Elschen. Als sie den Vater sah, sprang sie auf ihn zu, sah ihm
fragend ins Gesicht und sagte dann betrübt: "Vater, du denkst gar nicht
daran, daß morgen Weihnachten ist!" und sie schmiegte sich an ihn und
folgte ihm in sein Zimmer. Er zog sie freundlich an sich: "Es ist wahr,
Elschen, ich habe nicht daran gedacht, es ist gut, daß du mich
erinnerst."

"Die andern denken auch nicht daran," klagte die Kleine, "sie reden
immer nur von ihren Zeugnissen und freuen sich gar nicht."

"So?" sagte Herr Pfäffling und wurde nachdenklich, "am Tag vor
Weihnachten freuen sie sich nicht? Nun, dann schicke sie mir einmal
alle sechs herüber, ich will machen, daß sie sich freuen!"

Wie der Wind fuhr die Kleine durch die Zimmer und brachte ihre
Geschwister zusammen. Nun standen sie alle ein wenig ängstlich auf
einem Trüppchen dem Vater gegenüber. Es fiel ihm auf, wie sie sich so
eng aneinander drückten. Aus diesem Zusammenhalten war auch die
Durchschnittsnote hervorgegangen.

"Ihr haltet alle fest zusammen," sagte er, "das ist ganz recht, nur
gegen mich dürft ihr euch nicht verbinden, mit List und
Verschwiegenheit, das hat ja keinen Sinn! Gegen den _Feind_ verbindet
man sich, nicht gegen den _Freund_. Habt ihr einen treuern Freund als
mich? Halte ich nicht immer zu euch? Wir gehören zusammen, zwischen uns
darf nichts treten, auch kein Vierer!"

Da löste sich die Gruppe der Geschwister und in der lebhaften, warmen
Art, die Wilhelm von seinem Vater geerbt hatte, warf er sich diesem um
den Hals und sagte: "Nein, Vater, ich habe dir nichts verschweigen
wollen, nur Weihnachten wollte ich abwarten, damit es uns nicht
verdorben wird, du bist doch auch mit mir auf die Polizei gegangen,
nein, vor dir möchte ich nie etwas verheimlichen!"

"Recht so, Wilhelm," antwortete Herr Pfäffling, "was käme denn auch
Gutes dabei heraus? Es ist viel besser, wenn ich alles erfahre, dann
kann ich euch helfen, wie auch jetzt mit dieser schlechten Note. Was
machen wir, daß sie das nächste Mal besser ausfällt? Nachhilfstunden
kann ich euch nicht geben lassen, die sind unerschwinglich teuer, mit
meinen mathematischen Kenntnissen ist es nicht mehr weit her, aber wie
wäre es denn mit dir, Karl? Du bist ja ein guter Mathematiker und hast
das alles erst voriges Jahr gelernt, du könntest dich darum annehmen.
Jede Woche zwei richtige Nachhilfstunden." Karl schien von diesem
Lehrauftrag nicht begeistert. "Ich habe so wenig Zeit," wandte er ein.

"Das ist wahr, aber du wirst auch keinen bessern Rat wissen und den
Vierer müssen wir doch wegbringen, nicht? Gebt einmal den Kalender her.
Von jetzt bis Ostern streichen wir fünfundzwanzig oder meinetwegen auch
nur zwanzig Tage an für eine Mathematikstunde. Fällt eine aus, so muß
sie am nächsten Tag nachgeholt werden. Ich verlasse mich auf euch.
Macht das nur recht geschickt, dann werdet ihr sehen, im Osterzeugnis
gibt es keinen Vierer mehr." Die Brüder nahmen den Kalender her,
suchten die geeigneten Wochentage aus und ergaben sich in ihr
Schicksal, Lehrer und Schüler zu sein.

"So," sagte Herr Pfäffling, "und jetzt fort mit den Zeugnissen, fort
mit den Mathematik-Erinnerungen; Elschen, jetzt ist's bei uns so schön
wie in der Sahara, wo es keine Schule gibt! Wer freut sich auf
Weihnachten?" Während des lauten, lustigen Antwortens, das nun erklang,
und Elschens fröhlichem Jauchzen ging leise die Türe auf, ein
Lockenköpfchen erschien und eine zarte Stimme wurde vernommen: "Ich
habe schon drei Mal geklopft, Herr Pfäffling, aber Sie haben gar nicht
'herein' gerufen."

Es war Fräulein Vernagelding, die zu ihrer letzten Stunde kam. Noch
immer hatte sie Herrn Pfäffling allein im Musikzimmer getroffen, als
sie nun unerwartet die Kinder um ihn herum sah, machte sie große,
erstaunte Augen und rief: "Nein, wie viele Kinder Sie haben!" aber noch
ehe sie langsam diese Worte gesprochen hatte, waren alle sieben schon
verschwunden. "Und jetzt sind alle fort! Wie schnell das alles bei
Ihnen geht, Herr Pfäffling, ich finde das so reizend!"

Die fliehende Schar suchte die Mutter auf und fand sie in der Küche.
Als aber Frau Pfäffling die Kinder kommen hörte, ließ sie sie nicht
ein, machte nur einen Spalt der Türe auf und rief: "Niemand darf
hereinschauen," und sie sah dabei so geheimnisvoll, so verheißungsvoll
aus, daß das Verbot mit lautem Jubel aufgenommen wurde. Ja, jetzt
beherrschte die Weihnachtsfreude das ganze Haus und sogar aus dem
Musikzimmer ertönte nicht die Tonleiter, sondern "Stille Nacht, heilige
Nacht". Aber falsch wurde es gespielt, o so falsch!

"Fräulein," sprach der gepeinigte Musiklehrer, "Sie greifen wieder nur
so auf gut Glück, aber Sie haben einmal kein Glück, Sie müssen _die_
Noten spielen, die da stehen."

"Ach Herr Pfäffling," bat das Fräulein schmeichelnd, "seien Sie doch
nicht so pedantisch! Das ist ja ein Weihnachtslied, dabei kommt es doch
nicht so auf jeden Ton an!" Nach diesem Grundsatz spielte sie fröhlich
weiter und nun, als der Schlußakkord kommen sollte, hörte sie plötzlich
auf und sagte: "Ich habe mir auch erlaubt, Ihnen eine kleine Handarbeit
zu machen zum täglichen Gebrauch, Herr Pfäffling."

"Den Schlußakkord, Fräulein, bitte zuerst noch den Akkord!" Da sah sie
ihren Lehrer schelmisch an: "Den letzten Akkord spiele ich lieber
nicht, denn Sie werden immer am meisten böse, wenn der letzte Ton
falsch wird."

"Aber Sie können ihn doch nicht einfach weglassen?"

"Nicht? Das Lied könnte doch auch um so ein kleines Stückchen kürzer
sein?"

Darauf wußte Herr Pfäffling nichts mehr zu sagen. Er nahm ein in
rosenrotes Seidenpapier gewickeltes Päckchen in Empfang und sagte
zuletzt zu Fräulein Vernagelding, er wolle ihr nicht zumuten, vor dem
8. Januar wieder zu kommen. Darüber hatte sie eine kindliche Freude,
und diese Freude, vierzehn Tage lang nichts mehr miteinander zu tun zu
haben, war wohl die einzige innere Gemeinschaft zwischen dem
Musiklehrer und seiner Schülerin.

In vergnügter Ferienstimmung kam er in das Wohnzimmer herüber. Er hielt
hoch in seiner Rechten das eine Ende eines buntgestickten Streifens,
das über einen Meter lang herunter hing.

"Da seht, was ich erhalten habe!" sagte er, "was soll's denn wohl sein?
Zu einem Handtuch ist's doch gar zu schön, kannst du es verwenden,
Cäcilie?" Da wurde es mit Sachkenntnis betrachtet und als eine
Tastendecke für das Klavier erkannt.

"Und das soll ich in täglichen Gebrauch nehmen, immer so ein Tüchlein
ausbreiten?" rief Herr Pfäffling erschreckt; "nein, Fräulein
Vernagelding, das ist zu viel verlangt. Ich bitte dich, Cäcilie, ich
bitte dich, nimm mir das Ding da ab!"

Herr Pfäffling hatte bis zum späten Abend keine Gelegenheit gefunden,
seiner Frau von dem Gespräch mit Herrn Rudolf Meier sen. zu erzählen.
Nun waren die Kinder zu Bett gegangen, Karl allein saß noch mit den
Eltern am Tisch, und Herr Pfäffling berichtete getreulich die Vorgänge
im Zentralhotel. Er stellte sich selbst dabei nicht in das beste Licht,
aber Frau Pfäffling war der Ansicht, daß Herr Meier die Kritik seines
Sohnes wohl auch in milderer Form übelgenommen hätte. "Es gibt so wenig
Menschen, die sich Unangenehmes sagen lassen," meinte sie. "Und wenige,
die es taktvoll anfassen," sprach Herr Pfäffling und fügte lächelnd
hinzu: "wo aber zwei solche zusammen kommen, gibt es leicht ein
glückliches Paar, nicht wahr?"

Frau Pfäffling wußte, was ihr Mann damit sagen wollte, aber Karl sah
verständnislos darein. "Du weißt nicht, was wir meinen," sagte der
Vater zu ihm, "soll ich es dir erzählen, oder ist er noch zu jung dazu,
Cäcilie?"

"O nein," rief Karl, "bitte, erzähle es!"

"Soll ich? Nun also: Wie die Mutter noch ein junges Mädchen war und
dein Großvater Professor, da kam ich als blutjunger Musiklehrer in die
kleine Universitätsstadt und machte überall meine Aufwartung, um mich
vorzustellen. Fast zuerst machte ich bei deinen Großeltern Besuch. Es
war Regenwetter und ich trug einen langen braunen Überrock und hatte
den Regenschirm bei mir."

"Du mußt auch sagen, was für einen Schirm," fiel Frau Pfäffling ein,
"einen dicken baumwollenen grünen, so ein rechtes Familiendach, wie man
sie jetzt gar nicht mehr sieht. Mit diesem Überrock und diesem Schirm
trat dein Vater in unser hübsches, mit Teppichen belegtes
Empfangszimmer, und er behielt den Schirm auch fest in der Hand, als
mein Vater ihn aufforderte, Platz zu nehmen. Meine Mutter war nicht zu
Hause, so war ich an ihrer Stelle, und mir, die ich noch ein junges,
dummes Mädchen war, kam das so furchtbar komisch vor, daß ich alle Mühe
hatte, mein Lachen zu unterdrücken."

"Ja," sagte Herr Pfäffling, "du hast es auch nicht verbergen können,
sondern hast mich fortwährend mit strahlender Heiterkeit angesehen, und
um deine Mundwinkel hat es immerwährend gezuckt. Ich aber hatte keine
Ahnung, was die Ursache war. Dein Vater verwickelte mich gleich in ein
gelehrtes Gespräch, und wenn ich dazwischen hinein einen Blick auf dich
warf, so kam es mir wunderlich vor, daß du wie die Heiterkeit selbst
dabei warst. Aber nun paß auf, Karl, nun kommt das Großartige. Als ich
wieder aufstand, äußerte ich, daß ich im Nebenhaus bei Professer Lenz
Besuch machen wollte."

"Ja," sagte Frau Pfäffling "und ich wußte, daß Lenzens zwei Töchter
hatten, so kleinlich lieblos und spöttisch, daß jedermann sie
fürchtete. Ich dachte bei mir: wenn der junge Mann im Überrock und mit
dem Schirm in der Hand bei Professer Lenz in den Salon tritt, so wird
er zum Gespött für den ganzen Kreis. Da dauerte er mich, und ich sagte
mir, ich sollte ihn aufmerksam machen, doch war ich schüchtern und
ungeschickt."

"Du hast mich auch bis an die Türe gehen lassen," fiel Herr Pfäffling
ein, "ich hatte schon die Klinke in der Hand, da riefst du mich an,
wurdest dunkelrot dabei und sagtest: 'Herr Pfäffling, wollen Sie nicht
lieber ihren Überrock und Schirm ablegen?' Ich verstand nicht gleich,
was du meintest, wollte dir doch zu Willen sein und machte Anstalt,
meinen Überrock auszuziehen. Da war es aus mit deiner Fassung, du
lachtest laut und riefst: 'Ich meine nicht, wenn Sie gehen, sondern
wenn Sie kommen!' Dein Vater aber wies dich zurecht mit einem strengen
Wort und setzte mir höflich auseinander, daß es allerdings gebräuchlich
sei, im Vorplatz abzulegen; du aber warst noch immer im Kampf mit der
Lachlust."

"Ja," sagte Frau Pfäffling, "so lange bis du freundlich und ohne jede
Empfindlichkeit zu mir sagtest: 'Lachen Sie immerhin über den Rüpel,
Sie haben es doch gut mit ihm gemeint, sonst hätten Sie ihm das nicht
gesagt.' Da verging mir das Lachen, weil die Achtung kam."

"Ja, Karl, so haben sich deine Eltern kennen gelernt," schloß Herr
Pfäffling.



8. Kapitel
Endlich Weihnachten.


Gibt es ein schöneres Erwachen als das Erwachen mit dem Gedanken: Heute
ist Weihnachten? Die jungen Pfäfflinge kannten kein schöneres, und an
keinem anderen kalten, dunkeln Dezembermorgen schlüpften sie so leicht
und gern aus den warmen Betten, als an diesem und nie waren sie so
dienstfertig und hilfsbereit wie an diesem Vormittag. Man mußte doch
der Mutter helfen aus Leibeskräften, damit sie ganz gewiß bis abends um
6 Uhr mit der Bescherung fertig wurde. An gewöhnlichen Tagen schob
gerne eines der Kinder dem andern die Pflicht zu, aufzumachen, wenn
geklingelt wurde; heute sprangen immer einige um die Wette, wenn die
Glocke ertönte, denn an Weihnachten konnte wohl etwas Besonderes
erwartet werden, so z.B. das Paket, das noch jedes Jahr von der treuen
Großmutter Wedekind angekommen war und durch das viele Herzenswünsche
befriedigt wurden, zu deren Erfüllung die Kasse der Eltern nie gereicht
hätte.

Zunächst kam aber nicht jemand, der etwas bringen, sondern jemand, der
etwas holen wollte: Es war die Schmidtmeierin, eine Arbeitersfrau aus
dem Nebenhaus, die manchmal beim Waschen und Putzen half und für die
allerlei zurechtgelegt war. Sie brachte ihre zwei Kinder mit. Aber
damit war Frau Pfäffling nicht einverstanden. "Marianne," sagte sie,
"führt ihr die Kleinen in euer Stübchen und spielt ein wenig mit ihnen,
bis ich sie wieder hole." Als die Kinder weg waren, sagte Frau
Pfäffling: "Sie hätten die Kinder nicht bringen sollen, sonst sehen sie
ja gleich, was sie bekommen; hat Walburg Ihnen nicht gesagt, daß wir
einen Puppenwagen und allerlei Spielzeug für sie haben?" "Ach,"
entgegnete die Frau, "darauf kommt es bei uns nicht so an, die Kinder
nehmen es, wenn sie's kriegen, und wenn man ihnen ja etwas verstecken
will, sie kommen doch dahinter und dann betteln sie und lassen einem
keine Ruhe, bis man ihnen den Willen tut. Bis Weihnachten kommt, ist
auch meist schon alles aufgegessen, was man etwa Gutes für sie bekommen
hat. Ich weiß wohl, daß es anders ist bei reichen Leuten, aber bei uns
war's noch kein Jahr schön am heiligen Abend."

"Wir sind auch keine reichen Leute, Schmidtmeierin, aber wenn ich auch
noch viel ärmer wäre, das weiß ich doch ganz gewiß, daß ich meinen
Kindern einen schönen heiligen Abend machen würde. Meine Kinder
bekommen auch nicht viel—das können Sie sich denken bei sieben—aber
weil keines vorher ein Stückchen sieht, so ist dann die Überraschung
doch groß. Glauben Sie, daß irgend eines von uns einen Lebkuchen oder
sonst etwas von dem Weihnachtsgebäck versuchen würde vor dem heiligen
Abend? Das käme uns ganz unrecht vor. Und wenn der Christbaum geputzt
wird, darf keines von den Kinder hereinschauen, erst wenn er angezündet
ist und alles hingerichtet, rufen wir sie herbei, mein Mann und ich,
und dann sind sie so überrascht, daß sie strahlen und jubeln vor
Freude, wenn auch gar keine großen Geschenke daliegen."

"Bei Ihnen ist das eben anders, Frau Pfäffling, mein Mann hat keinen
Sinn für so etwas und will kein Geld ausgeben für Weihnachten."

"Haben Sie kein Bäumchen kaufen dürfen?" fragte Frau Pfäffling.

"Das schon," sagte die Schmidtmeierin, "er hat selbst eines
heimgebracht und Lichter dazu."

"Nun sehen Sie, was braucht es denn da weiter? Ein sauberes Tuch auf
den Tisch gebreitet und die kleinen Sachen darauf gelegt, die ich Ihnen
hier zusammen gerichtet habe, das wäre schon genug für Kinder, aber ich
denke mir, daß Sie noch von anderen Familien, denen Sie aushelfen,
etwas bekommen, oder nicht?"

"Frau Hartwig hat mich angerufen, ich solle nachher zu ihr herein
kommen, sie habe etwas für mich und die Kinder."

"So lange lassen Sie die Kleinen bei uns, und in einem andern Jahr
tragen Sie alles heimlich nach Hause, dann wird bei Ihnen der Jubel
gerade so groß wie im reichsten Haus, und Ihr Mann wird sich dann schon
auch daran freuen."

"Es ist wahr," sagte die Schmidtmeierin, "er hat am vorigen Sonntag
gezankt, weil ich den Kindern die neuen Winterkleider, die sie von der
Schulschwester bekommen haben, vor Weihnachten angezogen habe. Aber sie
haben so lang gebettelt und nicht geruht, bis ich ihnen den Willen
getan habe."

"Aber Schmidtmeierin, da würde ich doch lieber tun, was der Mann will,
als was die Kinder verlangen und erbetteln! Was wäre das jetzt für eine
Freude, wenn die Kleidchen noch neu auf dem Tisch lägen! So würde mein
Mann auch den Sinn für Weihnachten verlieren. Das müssen Sie mir
versprechen, Schmidtmeierin, daß Sie meine Sachen, und die von Frau
Hartwig, und was etwa sonst noch kommt, verstecken, und dann eine
schöne Bescherung halten. Wo können denn Ihre Kinder bleiben, solange
Sie herrichten, ist's zu kalt in der Kammer?"

"Kalt ist's, aber ich stecke sie eben ins Bett so lang!"

"Ja, das tun Sie. Und noch etwas: können die Kinder nicht unter dem
Christbaum dem Vater ein Weihnachtslied hersagen, aus der Kinderschule?
Das gehört auch zur rechten Feier. Und wenn Sie noch von Ihrem
Waschlohn ein paar Pfennige übrig hätten, dann sollten Sie für den Mann
noch einen Kalender kaufen, oder was ihn sonst freut, und dann erzählen
Sie mir, Schmidtmeierin, ob er wirklich keine Freude gehabt hat am
heiligen Abend, und ob es nicht schön bei Ihnen war."

"Ich mach's wie Sie sagen, Frau Pfäffling, und ich danke für die vielen
Sachen, die Sie mir zusammengerichtet haben."

"Es ist recht, Schmidtmeierin, aber glauben Sie mir's nur, die Sachen
allein, und wenn es noch viel mehr wären, machen kein schönes Fest, das
können nur Sie machen für Ihre Familie; fremde Leute können die
Weihnachtsfreude nicht ins Haus bringen, das muß die Mutter tun, und
die Reichen können die Armen nicht glücklich machen, wenn die nicht
selbst wollen."

Frau Pfäffling hielt die fremden Kinder noch eine gute Weile zurück;
als diese endlich heimkamen, waren alle Schätze im Schrank verborgen
und der Schlüssel abgezogen.

Da sich aber die Kinder schon darauf gefreut hatten, fingen sie an,
darum zu betteln und schließlich laut zu heulen. Damit setzten sie
gewöhnlich bei der Mutter ihren Willen durch. Heute aber nicht; "brüllt
nur recht laut," sagte die Schmidtmeierin, "damit man es im Nebenhaus
hört. Nichts Gutes gibt's heute, nichts Schönes, erst am Abend, wenn
ihr dem Vater eure Lieder aufsagt. Bei Pfäfflings ist's auch so."

Da ergaben sich die Kinder.

Frau Pfäffling und Walburg hatten noch alle Hände voll zu tun mit
Vorbereitungen auf das Fest. Aber die Arbeit geschah in fröhlicher
Stimmung. "Man muß sich seine Feiertage verdienen," sagte Frau
Pfäffling und rief die Kinder zu Hilfe, die Buben so gut wie die
Mädchen.

"Oben auf dem Boden hängen noch die Strümpfe von der letzten Wäsche,"
sagte sie, "die sollten noch abgezogen werden. Das könnt ihr Buben
besorgen." Wilhelm und Otto sprangen die Treppe hinauf. Auf dem freien
Bodenraum war ein Seil gespannt, an dem eine ungezählte Menge
Pfäffling'scher Strümpfe hing. Walburg war eine große Person und
pflegte das Seil hoch zu spannen, die Kinder konnten die hölzernen
Klammern nicht erreichen, mit denen die Strümpfe angeklemmt waren.
"Einen Stuhl holen und hinaufsteigen," schlug Otto vor, aber Wilhelm
fand das unnötig, "Hochspringen und bei jedem Sprung eine Klammer
wegnehmen," so war es lustiger. Er probierte das Kunststück und brachte
es fertig, Otto gelang es nicht auf den ersten Sprung, und ein Trampeln
und Stampfen gab es bei allen beiden. Sie bemerkten nicht, daß die Türe
von Frau Hartwigs Bodenkammer offen stand und die Hausfrau, die eben
ihren Christbaumhalter hervorsuchte, ganz erschrocken über den
plötzlichen Lärm herauskam und rief: "Was treibt ihr denn aber da oben,
ihr Kinder?"

"Wir nehmen bloß die Strümpfe ab", sagte Otto. "So tut es doch nicht,
wenn man Strümpfe abzieht," entgegnete Frau Hartwig. "Wir müssen eben
darnach springen," sagte Wilhelm, "sehen Sie, so machen wir das," und
mit einem Hochsprung hatte er wieder eine Klammer glücklich erfaßt, der
Strumpf fiel herunter.

"Aber Kinder, so fallen sie ja alle auf den Boden!" sagte die Hausfrau.

"Es sind ja nur Strümpfe," entgegnete Wilhelm, "die sind schon vorher
grau und schwarz, denen schadet das nichts."

Eine kleine Weile stand Frau Hartwig dabei und machte sich ihre
Gedanken. Welche Arbeit, für soviel Füße sorgen zu müssen! Fast alle
Strümpfe schienen zerrissen! Und welche Körbe voll Flickwäsche mochten
sonst noch da unten stehen und auf die Hände der vielbeschäftigten
Hausfrau warten, die doch kein Geld ausgeben konnte für Flickerinnen!
Ob es nicht Christenpflicht wäre, da ein wenig zu helfen?

Es dauerte gar nicht lange, da kamen die Brüder mit dem Bescheid
herunter: Die meisten Strümpfe seien noch zu feucht, die Hausfrau
meine, sie müßten noch hängen bleiben. Frau Pfäffling achtete im Drang
der Arbeit kaum darauf und dachte nicht, daß Frau Hartwig kurz
entschlossen den ganzen Schatz Pfäffling'scher Strümpfe
heruntergenommen hatte, und ihnen nun mit Trocknen und Bügeln viel mehr
Ehre erwies, als diese es sonst erfuhren. Dann stapelte sie den Vorrat
auf, legte sich das Nötige zum Ausbessern zurecht und sagte sich: Das
gibt auch eine Weihnachtsüberraschung und wird nach Jesu Sinn keine
Feiertags-Entheiligung sein.

Inzwischen war es Mittag geworden. Heute gab es bei Pfäfflings ein
kärgliches Essen. Mit Wassersuppe fing es an, und die Mutter redete den
Kindern zu: "Haltet euch nur recht an die Suppe, es kommt nicht viel
nach!" "Warum denn nicht?" fragte Elschen bedenklich. Die Antwort kam
von vielen Seiten zugleich. "Weil Weihnachten ist. Weißt du das noch
nicht? Vor dem heiligen Abend gibt es nie etwas ordentliches zu essen.
Die Walburg hat auch keine Zeit zu kochen." "Ja," sagte Frau Pfäffling,
"und selbst wenn sie Zeit hätte, heute Mittag müßte das Essen doch
knapp sein, damit man sich recht freut auf die Lebkuchen und auf den
Gansbraten, den es morgen gibt." Walburg brachte noch gewärmte Reste
vom gestrigen Tag herein, und als diese alle verteilt waren, sagte Herr
Pfäffling: "Wer jetzt noch Hunger hat, kann noch Brot haben und darf
dabei an ein großes Stück Braten denken!"

"Und nun," sagte die Mutter, "hinaus aus dem Wohnzimmer; wenn ihr
wieder herein dürft, dann ist Weihnachten!" Da stob die ganze Schar
jubelnd davon; wenn man nicht mehr in das Zimmer herein durfte, ja dann
wurde es Ernst!

Die Eltern standen beisammen und putzten den Baum, Frieders Baum. Die
kleinen Schäden, die er auf seinen vielen Wanderungen erlitten hatte,
wurden sorgfältig verdeckt, und bald stand er in seinem vollen Schmuck
da, mit goldenen Nüssen und rotbackigen Äpfeln, mit bunten Lichtern und
oben auf der Spitze schwebte ein kleiner Posaunenengel. Es gab in
andern Häusern feiner geschmückte Tannenbäume mit Winterschnee und
Eiszapfen, es gab auch solche, die mit bunten Ketten und Kugeln, mit
Papierblumen und Flittergold so überladen waren, daß das Grün des
Baumes kaum mehr zur Geltung kam. Pfäfflings Baum hatte von all dem
nichts, er war noch ebenso, wie ihn Großvater Pfäffling und Großmutter
Wedekind vor dreißig Jahren ihren Kindern geschmückt hatten, und weil
ihre seligsten Kindheitserinnerungen damit verbunden waren, mochten sie
nichts daran ändern. Mit der Krippe, die unter dem Baum aufgestellt
wurde, war es anders. Die feinen Wachsfiguren, die Tiere, die dazu
gehörten, standen nicht jedes Jahr gleich. Nach den Bildern, die uns
schon die alten deutschen Künstler gezeichnet haben, und in denen
unsere Maler uns auch jetzt noch die heilige Nacht darstellen, nach
diesen verschiedenen Bildern wurden die Krippenfiguren in jedem Jahr
wieder anders aufgestellt, das war Herrn Pfäfflings Anteil an dem
Herrichten des Weihnachtszimmers. Wenn aber die Tische gestellt waren,
und wenn die mühsame Arbeit des Einräumens von Puppenzimmer, Küche und
Kaufladen begann, dann verschwand der Herr des Hauses aus dem Gebiet
und übernahm die Aufsicht über die mutterlose Kinderschar, damit sie
nicht in Ungeduld und Langeweile auf allerlei Unarten verfiel. Gegen
vier Uhr, als es dunkelte, zogen sie zusammen fort nach der Kirche, in
der jedes Jahr um diese Zeit ein Gottesdienst gehalten wurde, so kurz
und doch so feierlich wie kein anderer im Jahr: Ein Weihnachtslied, das
Weihnachtsevangelium und ein paar Worte, nur wie ein warmer
Segenswunsch des Geistlichen. Es war genug, um in den Herzen der jungen
und alten Zuhörer die rechte Weihnachtsstimmung zu wecken.

Frau Pfäffling hörte ihre Schar heimkommen, sie sah ein wenig heraus
aus dem Weihnachtszimmer und schob etwas durch den Türspalt, es war
eine Handvoll Backwerk, das etwas Schaden gelitten hatte durch die
Verpackung: "Das ist etwas zum versuchen," rief sie, "das ist
zerbrochen aus der Großmutter Paket gekommen, teilt euch darein! und
dann zieht frische Schürzen an und sagt auch Walburg, daß sie sich
bereit macht, nun wird bald alles fertig sein!" Der Mutter Angesicht
leuchtete verheißungsvoll, es rief auf allen Kindergesichtern das
gleiche Strahlen hervor.

Herr Pfäffling war bei seiner Frau, er half bei den letzten
Vorbereitungen. "Jetzt wären wir so weit," sagte er, "können wir den
Baum anzünden?"

"Wenn du einen kleinen Augenblick warten wolltest," erwiderte sie, "ich
bin so müd und möchte nur ein ganz klein wenig ruhen, um für den großen
Jubel Kraft zu sammeln."

"Freilich, freilich," sagte Herr Pfäffling, "die Kinder können sich
wohl noch eine Viertelstunde gedulden, setze dich hieher, ruhe ein
wenig und schließe die Augen."

"O, das tut gut," antwortete sie und lehnte sich still zurück. Aber nur
drei Minuten, dann stand sie wieder auf. "Nun bin ich schon wieder
frisch, und ich kann jetzt doch nicht ruhen, ich spüre die siebenfache
Unruhe, die klopfenden Herzen der Kinder da draußen, wir wollen
anzünden." Bald strahlten die Lichter an dem Baum, die großen Kerzen in
den silbernen Leuchtern, die die Tische erhellten, und die kleinen
Lichtchen in Puppenstube und Küche. Und nun ein Glockenzeichen und die
Türe weit auf! Sie drängen alle herein, die Kinder und Walburg hinter
ihnen. Dem Christbaum gelten die ersten Ausrufe der Bewunderung;
solange er die Blicke fesselt, ist's noch eine weihevolle Stimmung, ein
Staunen und seliges Widerstrahlen; dann wenden sich die Augen der
Bescherung zu, nun geht die beschauliche Freude über, immer lauter und
jubelnder wird das Kinderglück.

War denn so Herrliches auf dem Gabentisch? Viel Kostbares war nicht
dabei, aber es war alles überraschend und jedes kleine Geschenk war
sinnig auf den Empfänger berechnet und manches erhielt durch einen
kleinen Vers, den der Vater dazu gemacht hatte, noch einen besonderen
Reiz. Wenn eines der Kinder nach den Eltern aufblickte, so sah es Liebe
und Güte, wenn es einem der Geschwister ins Gesicht sah, so glänzte
dies in Glück und Freude, und über all dem lag der Duft des
Tannenbaums—ja die Fülle des Glückes bringt der Weihnachtsabend!

Frau Pfäffling berührte ihren Mann und sagte leise: "Sieh dort, den
Frieder!" An dem Plätzchen des großen Tisches, das ihm angewiesen war,
stand schon eine ganze Weile Frieder unbeweglich und sah mit
staunenden, zweifelnden Augen auf das, was vor ihm lag: Eine Violine!
Und nun nahm er den kleinen Streifen Papier, der daran gebunden war,
und las das Verschen:

Fideln darfst du, kleiner Mann,
Vater will dir's zeigen.
Aber merk's und denk daran:
Immerfort zu geigen
Tut nicht gut und darf nicht sein.
Halte fest die Ordnung ein:
Eine Stund' am Tag, auch zwei,
Doch nicht mehr, es bleibt dabei.


"Mutter!" rief jetzt Frieder, "Mutter, hast du's schon gesehen?" Er
drängte sich zu ihr und zog sie an seinen Platz und fragte: "Darf ich
sie gleich probieren?" Und er nahm die kleine Violine, und da die
Geschwister ihm nicht viel Platz ließen, drückte er sich hinter den
Christbaum und fing ganz sachte an, leise über die Saiten zu streichen
und zarte Töne hervorzulocken. Und er sah und hörte nichts mehr von
dem, was um ihn vorging, und mühte und mühte sich, denn er wollte
_reine_ Töne, dieser kleine Pfäffling. Die Eltern sahen sich mit
glücklichem Lächeln an: "Dies Weihnachten vergißt er nicht in seinem
Leben," sagte Frau Pfäffling. "Ja," erwiderte ihr Mann, "und auf diesen
kleinen Schüler braucht mir wohl nicht bange zu sein!"

"Vater, hast du gesehen?" riefen nun wieder zwei Stimmen. "Was ist's,
Marianne?"

"Ein Päckchen feinste Glacéhandschuhe hat uns Fräulein Vernagelding
geschickt!"

"Was? Euch Kindern, was tut _ihr_ denn damit?"

"Wir ziehen sie an, Vater, viele Kinder in unserer Schule haben
welche."

"Nun, wenn nur ich sie nicht tragen muß!"

Es gab jetzt ein großes Durcheinander, denn die Brüder probierten ihre
neuen Schlittschuhe an, liefen damit hin und her, fielen auch
gelegentlich auf den Boden. Im untern Stock erzitterte die Hängelampe.
"Man könnte meinen, es sei ein Erdbeben, die da droben sind heute ganz
außer Rand und Band!" sagte Herr Hartwig zu seiner Frau.
"Weihnachtsabend!" entgegnete sie, und das eine Wort beschwichtigte den
Hausherrn. Auch hörte das Getrampel der Kinderfüße plötzlich auf, es
wurde ganz stille im Haus, nur eine einzelne Stimme drang bis in den
untern Stock: Otto deklamierte. Nacheinander kamen nun all die kleinen
Überraschungen für die Eltern an die Reihe, zu denen sich an jenem
Adventsonntag Frieder auf den Balken die Eingebung geholt hatte. Alles
gelang zur Freude der Eltern, zum Stolz unserer sieben!

In ihrer Küche stand Walburg und sorgte für das Abendessen. Auch für
sie war ein Platz unter dem Christbaum, und sie war freundlich bedacht
worden. Aber die Freude und innere Bewegung, die sich jetzt auf ihren
großen, ernsten Zügen malte, hatte einen andern Grund. Schon seit heute
morgen bewegte sie etwas in ihrem Herzen, das sie gern besprochen
hätte, aber es hatte sich kein ruhiges Viertelstündchen finden lassen.
Wenn jetzt Frau Pfäffling herauskäme, jetzt hätte sie vielleicht einen
Augenblick Zeit für sie, aber sie würde wohl schwerlich kommen. Während
Walburg sich darnach sehnte, war Frau Pfäffling ganz von ihren Kindern
in Anspruch genommen, aber einmal, als ihr Blick zufällig auf Walburgs
Geschenke fiel, die noch auf dem Tisch lagen, dachte sie an das
Mädchen. Warum war es wohl gar so kurz im Weihnachtszimmer geblieben?
Es war noch nicht Zeit, das Abendessen zu bereiten, warum verweilte sie
nicht lieber unter den glücklichen Kindern, anstatt einsam in der
kalten Küche zu stehen?

Frau Pfäffling ging hinaus, nach Walburg zu sehen. Die Mutter wurde
zuerst nicht vermißt, es gab ja so viel anzusehen und zu zeigen, und
der Vater war ja da, aber allmählich ging von Mund zu Mund die Frage:
"Wo ist denn die Mutter?" Herr Pfäffling schickte Frieder hinaus. Er
kam zurück mit dem Bescheid, die Küchentüre sei ganz fest zu und
Walburg rede so viel mit der Mutter, wie sonst nie. "Dann laßt sie nur
ungestört," sagte der Vater, "wenn Walburg einmal redet, muß man froh
sein."

Frau Pfäffling brachte aus der kalten Küche einen warmen, sonnigen
Ausdruck mit herein. Die Kinder zogen sie an ihren Tisch heran, aber im
Vorbeigehen drückte sie unvermerkt ihrem Mann die Hand und sagte leise:
"Ich erzähle dir später!" Als Walburg das Abendessen auftrug wechselten
sie einen vielsagenden Blick, und Marie sagte: "Unserer Walburg sieht
man so gut an, daß heute Weihnachten ist."

An diesem Abend waren die Kinder gar nicht zu Bett zu bringen, sie
wollten sich nicht trennen von der Bescherung. Es wurde spät, bis
endlich Herr Pfäffling mit seiner Frau allein war. "Du wirst nun auch
der Ruhe bedürftig sein," sagte er.

"Ja, aber eines muß ich dir noch erzählen, was mir Walburg anvertraut
hat. Sie erhielt heute einen Brief von einer alten Frau aus ihrem
Heimatdorf, die schreibt in schlichten, einfachen Worten, daß vor einem
Jahr ihr Sohn Witwer geworden sei und mit seinen drei Kindern und dem
kleinen Bauerngut hilflos dastehe. Er müsse wieder eine Frau haben, und
weil er Walburg von klein an kenne, möchte er am liebsten sie haben. Er
wisse wohl, daß sie nicht gut höre, aber das mache weiter nicht viel.
Wenn sie einverstanden sei, möge sie in den Feiertagen einmal
herausfahren, daß man die Verlobung feiern könne und die Hochzeit
festsetze. Der Sohn hat dann noch an den Brief seiner Mutter unten
hingeschrieben, die Reisekosten wolle er zur Hälfte bezahlen. Walburg
kennt den Mann gut, denn sie waren Nachbarsleute, und sie ist ganz
entschlossen, ja zu sagen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie mich das
freut für Walburg!"

"Das ist freilich ein unerhofftes Glück, aber wird sie denn einem
Haushalt vorstehen können bei ihrer Taubheit?"

"Wenn ihr die alte Mutter zur Seite steht, wird sie schon zurecht
kommen. Ein schweres Kreuz bleibt es freilich für sie, aber ich finde
es rührend, daß der Mann es auf sich nehmen will, um ihrer andern guten
Eigenschaften willen. Übrigens sagt Walburg, sie verstehe die Leute da
draußen viel besser, weil sie ihren Dialekt reden."

"Das kann wohl etwas ausmachen, und mich freut es für die treue Person,
wenn auch nicht für uns. Aber wir werden auch wieder einen Ersatz
finden."

"Nicht so leicht! Doch daran denke ich heute gar nicht. Am zweiten
Feiertag möchte sie hinausfahren auf ihr Dorf. Vorher wollen wir mit
den Kindern noch nicht davon sprechen, sondern ihnen erst, wenn Walburg
zurückkommt, sagen, daß sie Braut ist."

Während unten so von ihr gesprochen wurde, war auch Walburg oben in
ihrer Kammer noch tätig. Sie hatte zuerst in diesem ihrem eigenen
kleinen Revier noch einmal ihren Brief gelesen und nun kniete sie vor
der hölzernen Truhe, in der ihre Habseligkeiten säuberlich und sorgsam
geordnet lagen. Sie hatte schon seit Jahren die Bauerntracht nimmer
getragen, die in ihrem Dorf gebräuchlich war, jetzt wollte sie sie
hervorsuchen, sie sollte ja wieder zu den Landleuten da draußen
gehören. Der dicke Rock und das schwarze Mieder, das Häubchen und die
breite blauseidene Schürze, das alles lag beisammen, und sollte nun
wieder zu Ehren kommen!

Am zweiten Weihnachtsfeiertag, früh morgens, noch ehe es tagte, reiste
sie in ihrem ländlichen Staat in ihre Heimat.

Erst wenn Walburg fehlte, merkte man, wie viel sie im Haus leistete. Es
war gar kein Fertigwerden ohne sie. Und nun gar in solchen Ferientagen.
Wenn Frau Pfäffling drei ihrer Kinder dazu gebracht hatte, schön
aufzuräumen, so hatten inzwischen vier andere wieder Unordnung gemacht
und auf dem großen Weihnachtstisch nahm der Kampf gegen die Nußschalen
und Apfelbutzen kein Ende. Dazu kam der Kinderlärm. Die Schlittschuhe
lagen bereit, aber das Eis wollte sich bei der geringen Kälte nicht
bilden, und Frau Pfäffling hatte doch so viel Feiertagsruhe davon
erhofft! So lockte nichts die Kinder ins Freie, sie trieben sich alle
sieben lachend, spielend oder streitend herum und machten der Mutter
warm. Bis sie das Mittagessen bereitet und auf den Tisch gebracht
hatte, war sie fast zu müde, um selbst davon zu nehmen. Da sah Herr
Pfäffling nach den Wolken am Himmel, erklärte, das Wetter helle sich
auf und er wolle einen weiten Marsch mit den großen Kindern machen. Als
eben beraten wurde, ob Marianne auch mittun könne, kam eine
Schulfreundin und lud die beiden Mädchen zu sich ein. Das war ein
seltenes Ereignis und wurde mit Freude aufgenommen. So blieben nur die
beiden Kleinen übrig, die begleiteten ein wenig traurig die Großen
hinunter, kamen dann aber um so vergnügter wieder herausgesprungen. Die
Hausfrau hatte sie eingeladen, ihren Christbaum anzusehen und bei ihr
zu spielen.

So geschah es, daß Frau Pfäffling an diesem Nachmittag ganz allein war;
ihr Mann, die Kinder, ja sogar Walburg fort, so daß nicht einmal aus
der Küche ein Ton hereindrang. Wie wohl tat ihr die unerhoffte Ruhe!
Wie viel ließ sich auch an solch einem stillen Nachmittag tun, an das
man sonst nicht kam! Es war schon ein Genuß, sich sagen zu dürfen: was
_willst_ du tun? Meistens drängten sich die Geschäfte von selbst auf
und hätten schon fertig sein sollen, ehe man daran ging. Eine Weile
ruhte sie in träumerischem Sinnen und über dem wurde ihr klar, was sie
tun wollte: "Mutter," sagte sie leise vor sich hin, "Mutter, ich komme
zu dir!"

Frau Pfäfflings Mutter lebte im fernen Ostpreußen, und seit vielen
Jahren hatten sich Mutter und Tochter nimmer gesehen. Die bald 80
jährige Frau konnte _nicht mehr_, und die junge Frau konnte _noch_
nicht die Reise wagen, die Kinder brauchten sie noch gar zu notwendig
daheim. Aber es war doch köstlich, das treue Mutterherz noch zu
besitzen, wenn auch in weiter Ferne. Seit langer Zeit hatte sie den
Ihrigen nur kurze, eilig geschriebene Briefe mit den nötigsten
Mitteilungen schicken können, jetzt wollte sie sich aussprechen, wie
wenn sie endlich, endlich einmal wieder bei der geliebten Mutter wäre.
Und es gab einen langen, langen Brief, in dem die ganze Liebe zur
Mutter sich aussprach, ja, in dem es fast wie Heimweh klang, aber das
konnte doch nicht sein, war Frau Pfäffling doch schon 18 Jahre aus dem
Elternhaus. Es stand in dem Brief viel von Glück und Dankbarkeit, viel
von des Tages Last und Hitze und davon, daß ihr Mann und sie noch immer
treulich an dem Trauungsspruch festhielten: Ein jeder trage des andern
Last.

Ihr Brief war fertig geworden beim letzten Schimmer des kurzen
Dezembertags. Jetzt, als es dunkelte, ging sie zum Christbaum und
zündete ein einziges Lichtchen an. Das warf einen schwachen Schein und
große breite Schatten von Tannenzweigen zeichneten sich an der Decke
des Zimmers ab. Es war eine feierliche Stille am Weihnachtsbaum und
Frau Pfäffling sagte leise vor sich hin: Nahet euch zu Gott, so nahet
er sich zu euch.

Eine Viertelstunde später mahnte die Glocke, daß wieder Leben und
Bewegung Einlaß begehre. "Nun werden die Kinder kommen," sagte sich
Frau Pfäffling. Sie fühlte sich wieder allen Anforderungen gewachsen,
fröhlich ging sie hinaus und sprach zu sich selbst: "Dein Mann soll
dich nicht so matt wiederfinden, wie er dich verlassen hat." Sie ging,
ihm und den Kindern zu öffnen, sie waren es aber nicht, die geklingelt
hatten, Walburg stand vor der Türe.

"Du kommst schon?" rief Frau Pfäffling erstaunt, "wir haben dich erst
mit dem letzten Zug erwartet."

"So kann ich das Abendessen machen," entgegnete das Mädchen.
"Kartoffeln zusetzen?"

"Ja, aber das ist mir jetzt nicht das wichtigste, sage mir doch erst,
wie alles gegangen ist," und da Walburg zögerte, fügte sie hinzu, "ich
bin ganz allein zu Hause." Und nun antwortete Walburg: "Er hat sich's
nicht so arg gedacht, er meint, für die Kinder wäre doch eine besser,
die hört." Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich um und ging die
Treppe hinauf in ihre Kammer. Sie wollte den bräutlichen Putz ablegen.
Sorgsam faltete sie die blauseidene Schürze, versenkte sie in die Truhe
und legte den Brief dazu, der sie zwei Tage glücklich gemacht hatte.
Dann schlüpfte sie in ihre alltäglichen Kleider, setzte sich auf die
alte Truhe und sah mit traurigen, aber tränenlosen Augen auf die kahlen
Wände ihrer Kammer. Es war so kalt und totenstill da oben, es war so
öde und leer in ihrem Herzen.

Da ging die Türe auf, Frau Pfäffling kam herein und stand unvermutet
neben dem Mädchen, das ihren Schritt nicht gehört hatte. "Walburg, du
tust mir so leid," sagte sie und ihre Augen waren nicht tränenleer.
Walburg aber beherrschte ihre Bewegung und erwiderte in ihrer ruhigen
Art: "Draußen habe ich selbst erst gemerkt, wie schlimm das mit mir
geworden ist, ich habe kein Wort verstanden, sie haben mir's auf die
Tafel schreiben müssen und die Kinder haben gelacht. So wird er wohl
recht haben. Er war freundlich mit mir bis zuletzt, das Reisegeld hat
er mir zu zwei Drittel gezahlt und die Alte hat mir noch Kuchenbrot
mitgegeben. Sonst wäre alles recht gewesen, nur gerade eben die
Taubheit. Und sie sagen auch, ich könnte gar nicht mehr so reden wie
sich's gehört. Ich weiß nicht wie das zugeht, Sie verstehe ich doch
auch ohne Tafel und rede ich denn nicht wie früher auch?"

"Für uns redest du ganz recht," entgegnete Frau Pfäffling, "wir
verstehen uns und darum ist's am besten, wir bleiben zusammen. Uns
ist's lieb, daß du uns nicht verläßt, Walburg, du hast uns so gefehlt."
Da wich der starre, traurige Zug aus Walburgs Gesicht, und sie sah voll
Liebe und Dankbarkeit auf zu der Frau, die sich so bemühte, ihr, der
Tauben, Trostreiches zu Gehör zu bringen. Worte des Dankes fand sie
freilich nicht, aber mit Taten wollte sie danken; eilfertig griff sie
nach ihrer Hausschürze, band sie um und sagte: "Wenn der Herr heimkommt
und das Essen nicht gerichtet ist!"

Frau Pfäffling sagte an diesem Abend zu ihren Kindern: "Walburg ist so
traurig aus ihrer Heimat zurückgekehrt, sie hat weder Eltern noch
Geschwister mehr draußen, wir wollen uns Mühe geben, daß sie sich bei
uns recht heimisch fühlt."

"Ich gehe mit meiner Violine zu ihr," sagte Frieder, "den Geigenton
hört sie."

Da warnte Herr Pfäffling mit dem Finger und sagte: "Nach dem Abendessen
noch geigen? Wie heißt dein Vers?

"'Eine Stund am Tag, auch zwei,
Doch nicht mehr, es bleibt dabei.'"


Aber Frieder konnte nachweisen, daß er heute noch nicht zwei Stunden
gespielt hatte, ging hinaus in die Küche und machte mit denselben
Violinübungen, die sonst die Zuhörer in Verzweiflung bringen, dem
traurigen Mädchen das Herz leichter, denn es erkannte die
Anhänglichkeit des Kindes, und in die tiefe Vereinsamung, die ihr die
Taubheit auferlegte, drang der Ton der Saiten zu ihr als eine
Verbindung mit den Mitmenschen.



9. Kapitel
Bei grimmiger Kälte.


Das Neujahrsfest brachte grimmige Kälte, brachte Eis, mehr als zum
Schlittschuhlaufen nötig gewesen wäre. Schon beim Erwachen empfand man
die menschenfeindliche Luftströmung und es gehörte Heldenmut dazu, aus
den warmen Betten zu schlupfen. In Pfäfflings kalten Schlafzimmern war
das Waschwasser eingefroren, und man mußte erst die Eisdecke
einschlagen, ehe man es benützen konnte.

Als die Familie sich mit Neujahrswünschen am Frühstückstisch
zusammenfand, galt Herrn Pfäfflings erster Blick dem Thermometer vor
dem Fenster, und er mußte das Quecksilber in ungewohnter Tiefe suchen.
"Zwanzig Grad Kälte," verkündete er, "Kinder, das habt ihr noch nie
erlebt; und Walburgs Neujahrsgruß lautete: 'Die Wasserleitung ist über
Nacht eingefroren.'"

Die Straßen waren ungewöhnlich still, wer nicht hinaus mußte, blieb
daheim am warmen Ofen und wer, wie die Briefträger, am Neujahrstag ganz
besonders viel durch die kalten Straßen laufen und vor den Häusern
stehend warten mußte, bis die Türen geöffnet wurden, der hörte manches
teilnehmende Wort. Frau Hartwig brachte ihnen bei jedem Gang eine Tasse
warmen Kaffees entgegen. Auch die Familie Pfäffling hatte ihr Päckchen
Glückwunschkarten und -briefe erhalten und unter diesen Briefen war
einer, der noch mehr als Glückwünsche enthielt. Es war die Antwort auf
Frau Pfäfflings Weihnachtsbrief und er brachte ihr eine warme,
dringende Einladung, sich zum achtzigsten Geburtstag ihrer Mutter, der
im Februar gefeiert werden sollte, einzufinden, damit nach langen
Jahren der Trennung auch _einmal_ wieder die drei Geschwister mit der
Mutter in der alten Heimat vereinigt wären. So viel Liebe und
Anhänglichkeit sprach sich aus in den Briefen von Frau Pfäfflings
Bruder und Schwester, denen ein eigenhändiger, mit zitternder Hand
geschriebener Gruß der alten Mutter beigesetzt war, daß Frau Pfäffling
tief bewegt war und zu ihrem Mann wehmütig sagte: "Ach, wenn es nur
möglich wäre, aber es ist ja gar nicht daran zu denken! So weit fort
und auf ein paar Wochen, denn für einige Tage würde sich die große
Reise gar nicht lohnen."

Es kam ganz selten vor, daß Frau Pfäffling für sich einen Wunsch
äußerte, und so war es nur natürlich, daß es der ganzen Familie
Eindruck machte, wenn es doch einmal geschah.

"Geht es denn wirklich nicht, Vater?" fragte Karl.

"So ganz unmöglich kommt mir die Sache nicht vor," antwortete Herr
Pfäffling, indem er sich an seine Frau wandte, "jetzt, wo die Kinder
groß sind und Walburg so zuverlässig ist."

Frau Pfäffling wollte etwas entgegnen, aber der ganze Kinderchor
stimmte dem Vater zu, wollte gar keine Schwierigkeit gelten lassen und
versicherte, es sollte in Abwesenheit der Mutter alles so ordentlich
zugehen, wie wenn sie da wäre. Aber sie schüttelte dazu ungläubig den
Kopf und brach die Beratung ab, indem sie sagte: "Bei solch einer Kälte
mag man gar nicht an eine Reise denken, wir wollen sehen, was der
Januar bringt!"

Zunächst brachte er den Abschluß der Ferienzeit, die Schulen begannen
wieder. So warm wie möglich eingepackt machten sich die Kinder auf den
Weg. Freilich, die drei großen Brüder besaßen zusammen nur zwei
Wintermäntel, bisher waren sie auch immer gut damit ausgekommen, heute
hätte jeder gerne einen gehabt. Otto hatte sich einen gesichert, indem
er ihn schon vor dem Frühstück angezogen hatte. Nun standen Karl und
Wilhelm vor dem einen, der noch übrig war. "Dich wird's nicht so arg
frieren wie mich," sagte Wilhelm zum größeren Bruder und Karl, obwohl
er nicht recht wußte, warum es ihn nicht so frieren sollte, war schon
im Begriff, auf den Mantel zu verzichten, als Otto sich einmischte:
"Laß doch Karl den Mantel. In den obern Klassen hat doch jeder einen,
es sieht so dumm aus, wenn er allein keinen hat!"

"Dumm?" sagte Herr Pfäffling, "es sieht eben aus, als seien keine
großen Kapitalien da, mit denen man ungezählte Mäntel beschaffen
könnte. So ist's und deshalb darf es auch so aussehen. Übrigens, länger
als fünfzehn Minuten braucht ihr nicht zum Schulweg, ist das auch der
Rede wert, wenn man eine Viertelstunde frieren muß? Seid ihr so
zimpferlich?"

"Ich nicht," rief Wilhelm, "ich brauche auch nur zwölf Minuten," er
ließ den Mantel fahren und rannte davon.

Elschen war diesmal nicht so unglücklich wie früher über den
Schulanfang, sie nahm die Schultasche her, die sie zu Weihnachten
bekommen hatte, packte die Tafel aus, fing an zu schreiben, was sie von
Buchstaben kannte, und tröstete sich mit der Aussicht, daß nach den
Osternferien auch sie mit den Großen den Schulweg einschlagen würde.

So wohl es Frau Pfäffling tat, wenn ihre Kinder nach solcher Ferienzeit
wieder zum ersten Male in die Schule gingen, so freute sie sich doch
auf das erste Heimkommen, denn sie wußte aus Erfahrung, daß Mann und
Kinder angeregt und von irgend welchen neuen Mitteilungen erfüllt,
zurückkommen würden. Um so mehr war sie überrascht, daß Marianne
diesmal weinend nach Hause kam. Die beiden Mädchen, obgleich sie gut
mit Wintermänteln versehen waren, weinten vor Kälte und die
Fingerspitzen wurden in der Wärme nur noch schmerzhafter, so daß sie
noch klagend im Zimmer herumtrippelten, als die Familie sich zu Tisch
setzen wollte. "Habt ihr denn eure Winterhandschuhe nicht angehabt?"
fragte Frau Pfäffling. Da kam ein kleinlautes "Nein" heraus und das
Geständnis, daß man sich den Mitschülerinnen mit den neuen, knapp
anschließenden Glacéhandschuhen habe zeigen wollen, die Fräulein
Vernagelding zu Weihnachten geschenkt hatte. Nun wurden die armen
Frierenden noch von den Brüdern ausgelacht.

"So, du lachst auch mit, Otto," sagte Frau Pfäffling. "Wenn du keine
Glacéhandschuhe trägst, so kommt es gewiß nur daher, daß du keine hast.
Aber Kinder, wer von euch eitel ist, der hat nichts vom Vater und ist
gar kein rechter Pfäffling, und das wollt ihr doch alle sein? Nun
kommt, ihr Erfrorenen, jetzt gibt es warme Suppe. Elschen und ich, wir
haben uns so gefreut, bis ihr alle heimkommt und von der Schule
erzählt. Kommt, wir wollen beten:

"Herr wie schon vor tausend Jahren
Unsre Väter eifrig waren,
Dich als Gast zu Tisch zu bitten,
So verlangt uns noch heute,
Daß Du teilest unsre Freude.
Komm, o Herr in unsre Mitte!"


Bei Tisch kamen nun, wie Frau Pfäffling erwartet hatte, allerlei
Mitteilungen. Über Weihnachten hatte man sich ganz in die Familie
vergraben, jetzt, durch die Berührung mit der Außenwelt, erfuhr man
wieder, was vor sich ging. Herr Pfäffling hatte vom Direktor der
Musikschule etwas gehört, was ihn ganz erfüllte: Ein Künstlerkonzert
ersten Ranges sollte in diesem Monat stattfinden. Ein Künstlerpaar, das
vor Jahren schon die Stadt besucht und alle Musikfreunde hingerissen
hatte, die Frau durch ihren herrlichen Gesang, der Mann durch
meisterhaftes Klavierspiel, wollte auf einer Reise durch die großen
Städte Europas sich hören lassen, und zwar nahm an dieser Konzertreise
zum erstenmal auch der kleine Sohn des Künstlerpaares als Violinspieler
Anteil, und die Zeitungen waren voll von überschwänglichen
Schilderungen des rührenden Eindrucks, den das geniale Violinspiel des
wunderbar begabten Knaben mache.

Freilich waren die Preise für diesen Kunstgenuß so hoch gestellt, daß
unser Musiklehrer nicht daran gedacht hätte, sich ein solch kostbares
Vergnügen zu gönnen, aber das Konzert sollte im Saal der Musikschule
gegeben werden, und in solchem Fall war es üblich, daß die Hauptlehrer
der Anstalt Freikarten erhielten. So gab er sich jetzt schon der Freude
auf diesen großen Kunstgenuß hin, umkreiste vergnügt den Tisch, blieb
dann hinter seiner Frau Stuhl stehen und sagte: "Ich bekomme eine
Freikarte zum Konzert, du bekommst von deinem Bruder eine Freikarte zum
80. Geburtstag der Mutter. Nicht wahr, Kinder, die Mutter muß sich zur
Reise richten?" Sie stimmten alle ein, und es schien der Mutter mit dem
Widerspruch nicht mehr bitterer Ernst zu sein.

Nun berichteten die Kinder von mancherlei Schulereignissen, ein Lehrer
war krank, eine Lehrerin gesund geworden, ein Schüler war neu
eingetreten, ein anderer ausgetreten. Herr Pfäffling hatte nur mit
halber Aufmerksamkeit zugehört, jetzt aber traf ein Name an sein Ohr,
der ihn aus seinen Gedanken weckte: "Was hast du eben von Rudolf Meier
erzählt?" fragte er Otto.

"Er ist aus dem Gymnasium ausgetreten."

"Hast du nichts näheres darüber gehört?"

"Sie sagen, er sei fortgekommen von hier, ich glaube zu Verwandten, ich
weiß nicht mehr."

Herr und Frau Pfäffling wechselten Blicke, die nur Karl verstand.
Gesprochen wurde nichts darüber, Herr Pfäffling sollte aber bald
näheres erfahren.

Er machte sich an diesem Nachmittag auf den Weg nach dem Zentralhotel,
im neuen Jahr die erste Musikstunde dort zu geben. Es war bitter kalt,
und selbst die russische Familie klagte über den kalten deutschen
Winter.

"Sie müssen von Rußland doch noch an ganz andere Kälte gewöhnt sein?"
meinte Herr Pfäffling.

"Ja, aber dort friert man nicht so, da weiß man sich besser zu
schützen. Alle Fahrgelegenheiten sind heizbar, alles ist mit Pelzen
belegt und Sie sehen auch jedermann in Pelze gehüllt auf der Straße.
Warum tragen Sie keinen Pelz bei solcher Kälte?" fragte die Generalin,
indem sie einen Blick auf Herrn Pfäfflings Kleidung warf. Ihm war der
Gedanke an einen Pelzrock noch nie gekommen. "Da gibt es noch vieles,
vieles Nötigere anzuschaffen, ehe ein Pelzrock für mich an die Reihe
käme," sagte er, "ich kann übrigens sehr rasch gehen und werde warm vom
Lauf, meine Hände sind nicht steif, wir können gleich spielen."

Am Schluß der Stunde erzählten die jungen Herren von dem Ball im Hotel.
"Es war sehr hübsch," sagten sie, "wir durften auch tanzen, der Sohn
des Besitzers, der viel jünger ist als wir, hat auch getanzt. Er ist
übrigens jetzt nicht mehr hier."

"Ja," sagte der General, "der Hotelier ist einsichtsvoller, als ich
gedacht hätte. Er sagte zu mir: 'Hier in diesem Hotelleben arbeitet der
Junge nicht, er kommandiert nur. Er soll fort von hier, in ein
richtiges Familienleben hinein.'"

Herr Pfäffling erkannte diese Worte als seine eigenen. "Der Mann hat
recht," fuhr der General fort, "wenn die Verhältnisse im Haus ungünstig
sind, ist es besser, ein Kind wegzugeben, und wenn sie im ganzen Land
ungünstig sind, so wie bei uns in Rußland, so ist es wohl auch besser,
die Kinder in einem andern _Land_ aufwachsen zu lassen. In Rußland
haben wir ganz traurige Zustände, die jungen Leute, die dort
aufwachsen, sehen nichts als Verderbnis überall, Unredlichkeit und
Bestechung sogar schon in den Schulen. Unsere eigenen Söhne haben von
dieser verdorbenen Luft schon mehr eingeatmet, als ihnen gut war. Meine
Frau und ich haben uns entschlossen, sie in einer deutschen
Erziehungsanstalt zurückzulassen, wenn wir nach Rußland zurückkehren,
was wohl in der nächsten Zeit sein muß. Wir stehen gegenwärtig über
diese Angelegenheit in Briefwechsel mit einer Berliner Anstalt."

Noch nie hatte der General so eingehend und offen mit dem Musiklehrer
gesprochen. Die Generalin sah ernst und sorgenvoll aus, die Söhne
standen beiseite mit niedergeschlagenen Augen. Herr Pfäffling fühlte,
daß diese reichen, hochgebildeten und begabten Leute auch ihren
schweren, heimlichen Kummer zu tragen hatten, und er sagte mit warmer
Teilnahme: "Jeder einzelne leidet mit, wenn sein Vaterland so schlimme
Zeiten durchmacht, wie das Ihrige. Möchte das neue Jahr für Rußland
bessere Zustände bringen!"

Als Herr Pfäffling kurz darauf die Treppe herunter ging, traf er
unvermutet mit Herrn Rudolf Meier sen. zusammen, der heraufkam. Einen
Augenblick zögerten beide. Sie hatten _ein_ gemeinsames Interesse, über
das zu sprechen ihnen nahelag. Aber an Herrn Meier wäre es gewesen, die
Sprache darauf zu bringen, wenn er nicht mehr zürnte. Er tat es nicht.
Mit dem höflichen aber kühlen Gruß des Gastwirts ging er vorüber,
gewohnheitsmäßig die Worte sprechend: "Sehr kalt heute!"

"Ja, 20 Grad," entgegnete Herr Pfäffling, und dann gingen sie
auseinander.

Daheim angekommen, hörte Herr Pfäffling Frieders Violine. Wie der
kleine Kerl sie schon zu streichen verstand! Ob er wohl einmal ein
Künstler, ein echter, wahrer, gottbegnadeter Künstler würde? Aber wie
war denn das? Hatte Frieder nicht schon gespielt, lange, ehe sein Vater
sich auf den Weg zum Zentralhotel gemacht hatte? Spielte er wohl
seitdem ununterbrochen? Er ging dem Geigenspiel nach. Aus der Küche
erklang es. Neben Walburg, die da bügelte, stand der eifrige, kleine
Musiker, ein herzgewinnender Anblick. Aber Herr Pfäffling ließ sich
dadurch nicht bestechen. "Frieder, wie lange hast du schon gespielt?"
fragte er.

"Nicht lange, Vater."

"Nicht immerfort, seitdem du aus meinem Zimmer die Geige geholt hast?
Sage mir das genau?"

"Immerfort seitdem," antwortete Frieder und fügte etwas unsicher hinzu:
"Aber das ist doch noch nicht lang her?"

"Das ist über zwei Stunden her, Frieder, und hast du nicht auch schon
heute nach Tisch gespielt? Und sind deine Schulaufgaben gemacht? Ei,
Frieder, da stehst du und kannst nicht antworten! Nimm dich in acht,
sonst kommst du noch ganz um die Geige! Gib sie her, in _der_ Woche
bekommst du sie nimmer!" Herr Pfäffling streckte die Hand aus nach der
Violine. Der Kleine hielt sie fest. Der Vater sah das mit Erstaunen.
Konnte Frieder widerstreben? Hatte je eines der Kinder sich seinem
Befehl widersetzt? Aber nein, es war nur _ein_ Augenblick gewesen, dann
reichte er schuldbewußt die geliebte Violine dem Vater hin und ergab
sich.

Herr Pfäffling ging hinaus mit dem Instrument. Walburg hatte nicht
verstanden, was gesprochen worden war, aber gesehen hatte sie und sie
sah auch jetzt, wie sich langsam ihres Lieblings Augen mit dicken
Tränen füllten. Sie stellte ihr Bügeleisen ab, zog den Kleinen an sich
und fragte: "Darfst du denn nicht spielen?"

"Nicht länger als zwei Stunden im Tag," rief Frieder in kläglichem Ton.

"Sei nur zufrieden," tröstete sie ihn, "ich sehe dir jetzt immer auf
die Uhr." Frieder zog traurig ab; jede Stunde sehnte er sich nach
seiner Violine, und nun war sie ihm für eine ganze Woche genommen!

Aber auch Herr Pfäffling war nicht in seiner gewohnten fröhlichen
Stimmung. Ihm war es leid, daß der Unterricht in der russischen Familie
zu Ende gehen sollte, eine große Freude und eine bedeutende Einnahme
fiel damit für ihn weg, und dazu kam nun, daß er auf dem Tisch im
Musikzimmer eine Neujahrsrechnung vorfand, die, nachdem er sie geöffnet
und einen Blick auf die Summe geworfen hatte, ihn hinübertrieb in das
Familienzimmer zu seiner Frau.

"Cäcilie," rief er schon unter der Türe, und als er die Kinder allein
fand, fragte er ungeduldig:

"Wo ist denn die Mutter schon wieder?"

"Sie ist draußen und bügelt."

"So ruft sie herein, schnell, Marianne!"

Die Mädchen gingen eiligst hinaus: "Mutter, der Vater fragt nach dir."
Frau Pfäffling bügelte eben einen Kragen. "Sagt nur dem Vater, ich
komme gleich; ich muß nur den Kragen erst steif haben."

"Wir wollen lieber erst mit dir hineingehen," sagten die Schwestern und
in diesem Augenblick ertönte ein lautes "Cäcilie".

Daraufhin wurde der halb gebügelte Kragen im Stich gelassen. Frau
Pfäffling kam in das Zimmer und sah ihren Mann mit einer Rechnung in
der Hand. "Ist denn das nicht eine ganz unnötige Komödie mit der ewigen
Bügelei," fragte Herr Pfäffling, "die Kinder wären doch ebenso
glücklich in ungebügelten Hemden!" Auf diese gereizte Frage antwortete
Frau Pfäffling bloß wieder mit einer Frage: "Ist das die
Doktorsrechnung? Sie kann doch nicht sehr hoch sein?"

"Sechzig Mark! Hättest du das für möglich gehalten?"

"Unmöglich! Sechzig Mark? Zeige doch nur! Die kleine Ohrenoperation von
Anne im vorigen Sommer fünfzig Mark?!" Bei diesem Ausruf sahen alle
Geschwister auf Anne, und diese fing bitterlich an zu weinen. Die
Tränen besänftigten aber den Vater. Er ging zu der Schluchzenden. "Sei
still, du armer Wurm," sagte er, "du kannst nichts dafür. Hast so viel
Schmerzen aushalten müssen, und das soll noch so viel Geld kosten! Aber
sei nur getrost, geholfen hat dir der Arzt doch, und wir wollen froh
sein, daß du nicht so taub geworden bist wie Walburg. Hörst du jetzt
wieder ganz gut, auch in der Schule?"

"Ja," schluchzte das Kind.

"Nun also, sei nur zufrieden, das Geld bringt man schon auf, man hat ja
noch das Honorar zu erwarten für die Russenstunden und andere
Rechnungen, als die vom Arzt, stehen nicht aus; nicht wahr, Cäcilie, es
ist doch immer alles gleich bezahlt worden?"

"Freilich," entgegnete sie, "aber ich kann es gar nicht fassen, daß
diese Ohrenbehandlung förmlich als Operation aufgeführt und angerechnet
wird. Ich war damals nicht dabei, Marianne ist immer ohne mich beim
Arzt gewesen und so schlimm haben sie es nie geschildert." Da sahen
sich die Schwestern ernsthaft an und sagten: "Ja, einmal war's
schlimm!"

Als Frau Pfäffling nach einer Weile wieder beim Bügeln stand, war ihr
der Kummer über die sechzig Mark noch anzusehen, während Herr Pfäffling
schon wieder guten Muts in sein Musikzimmer zurückkehrte und sich
sagte: "Es ist doch viel, wenn man es dahin bringt, daß die
Doktorsrechnung die einzige an Neujahr ist."

Sie war aber doch nicht die einzige. Keine halbe Stunde war vergangen,
als wieder so ein Stadtbrief an des Vaters Adresse abgegeben wurde, und
die Kinder, die denselben in Empfang genommen hatten, flüsterten
bedenklich untereinander: "Es wird doch nicht wieder eine Rechnung
sein?" Sie riefen Elschen herbei: "Trage du dem Vater den Brief
hinüber." Das Kind übernahm arglos den Auftrag und blieb, an den Vater
geschmiegt, zutraulich plaudernd bei ihm stehen. Er riß hastig den
Umschlag auf, eine Rechnung fiel ihm entgegen. Vom Buchhändler war sie
und lautete nur auf vier Mark, für eine Grammatik, aber sie empörte
Herrn Pfäffling fast mehr als die große Rechnung. "Wenn die Buben das
anfangen, daß sie auf Rechnung etwas holen, dann hört ja jegliche
Ordnung und Sicherheit auf," sagte er, indem er das Blatt auf den Tisch
warf und in der Stube hin und her lief: "Else, hole mir die drei Großen
herüber," sagte er, "aber schnell." Die Kleine ging mit besorgter
Miene, suchte Karl, Wilhelm und Otto auf und kam dann zur Mutter an den
Bügeltisch. "Es ist wieder etwas passiert mit einer Rechnung," sagte
sie, "und die Großen müssen alle zum Vater hinein. Sie sind gar nicht
gern hinübergegangen," fügte sie bedenklich hinzu. "Es geschieht ihnen
nichts, wenn sie nicht unartig waren," sagte die Mutter, aber nebenbei
wischte sie sich doch den Schweiß von der Stirne, trotz der zwanzig
Grad Kälte draußen und sagte zu Walburg: "Wieviel Kragen haben wir denn
noch zu bügeln, heute nimmt es ja gar kein Ende!" und Walburg
entgegnete: "Es sind immer noch viele da." Frau Pfäffling bügelte
weiter, sah müde aus und sagte sich im stillen: "Eine Wohltat müßte es
freilich sein, wenn man einmal ein paar Wochen ausgespannt würde!"

Inzwischen hatte Herr Pfäffling ein Verhör mit seinen Söhnen
angestellt, und Otto hatte gestanden, daß er bei Beginn des Schuljahrs
die Grammatik geholt hatte. Er suchte sich zu rechtfertigen: "Ich hätte
gerne die alte Ausgabe benützt," sagte er, "aber als sie der Professor
nur sah, war er schon ärgerlich und sagte: 'Die kenne ich, die habe ich
schon bei deinem ältesten Bruder beanstandet, und er hat sie doch immer
wieder gebracht, dann hat mich dein Bruder Wilhelm das ganze Schuljahr
hindurch vertröstet, er bekomme bald eine neue Auflage, und es ist doch
nie wahr geworden, aber zum drittenmal lasse ich mich nicht
anschwindeln. Die alte Auflage muß wohl noch von deinem Großvater
stammen?' So hat der Professor zu mir gesprochen, was habe ich da
machen können?"

"Mir hättest du das gleich sagen sollen, dann wäre sie bezahlt worden."

"Du hast damals gar nichts davon hören wollen," sagte Otto kläglich.

"Dann hättest du es der Mutter sagen sollen."

"Die Mutter schickt uns immer zu dir."

"Ach was," entgegnet Herr Pfäffling ungeduldig, "du bist ein Streiter;
wie du es hättest machen sollen, kann ich nicht sagen, jedenfalls nicht
so. Denkt nur, wohin das führen würde, wenn ihr alle sieben auf
Rechnung nehmen würdet. Wenn man so knapp daran ist wie wir, dann kann
man durchaus keine Neujahrsrechnungen brauchen, die Mutter und ich
bringen es immer zustande ohne solche, und ihr müßt es auch lernen.
Darum zahle du nur selbst die vier Mark. Du hast ja an Weihnachten Geld
geschickt bekommen?"

"Ich habe keine drei Mark mehr."

"Dann helfen die Brüder. Ihr habt es doch wohl gewußt, daß Otto die
Grammatik geholt hat? Also, dann könnt ihr auch zahlen helfen. Jeder
eine Mark, oder meinetwegen eine halbe, und die vierte Mark will ich
darauflegen. Aber springt nur gleich zum Buchhändler, zahlt und bringt
mir die Quittung, und am nächsten Neujahr kommt keine Rechnung mehr,
Kinder, nicht wahr?" Sie versprachen es, nahmen des Vaters Beitrag
dankbar entgegen und waren froh, daß die Sache gnädig abgelaufen war.
Das Geld wurde zusammengesucht, Otto wollte es gleich zum Buchhändler
tragen. Als er hinunterkam, hielt eben vor der Haustüre eine Droschke,
eine kleine Dame stieg aus, hinter Pelzwerk und Schleier hervor sah
Fräulein Vernageldings Lockenköpfchen. Sie kam zur Stunde. "Armer
Vater, auch das noch!" mußte Otto denken. Aber das Fräulein sprach ihn
freundlich an: "Es ist zu kalt heute, um zu Fuß zu gehen, wollen Sie
nicht auch fahren? Da wäre eben eine Droschke frei!"

"Danke, nein, ich gehe zu Fuß," entgegnete Otto, lief davon und lachte
vor sich hin über den Einfall, daß er zum Buchhändler fahren sollte.
Aber das Lachen verging ihm bald, es lacht niemand auf der Straße bei
zwanzig Grad Kälte!



10. Kapitel
Ein Künstlerkonzert.


Der Vorabend des Konzertes war gekommen, die ganze Stadt sprach von dem
bevorstehenden seltenen Kunstgenuß. Die schon früher Gelegenheit gehabt
hatten, die Künstler zu hören, stritten darüber, ob die entzückende
Stimme der Sängerin, die meisterhaften Leitungen des Klavierspielers
die Menschen von nah und fern herbei lockten oder ob das kleine
musikalische Wunderkind einen solchen Reiz ausübte.

Im Zentralhotel waren Zimmer bestellt für die Künstlerfamilie und ihre
Begleitung. Herr Pfäffling wußte das nicht, als er dem Hotel zuging, um
seine letzte Stunde bei der russischen Familie zu geben. Noch einmal
musizierten sie zusammen, weit über die festgesetzte Zeit hinaus, dann
nahm Herr Pfäffling Abschied. Der General und seine Gemahlin schienen
ihm ernst und traurig. Schwer lag auf ihnen der Gedanke, sich von den
Söhnen trennen zu sollen. Auf der Durchreise wollten sie die beiden
jungen Leute in Berlin zurücklassen. Schwer bedrückte sie auch der
jammervolle Zustand des Vaterlandes, in das sie zurückkehren mußten.
Unordnung herrschte im ganzen russischen Reich.

Bei diesem letzten Zusammensein schwand jede Schranke, welche durch den
großen Abstand der äußeren Stellung und Lebensverhältnisse zwischen den
beiden Männern etwa noch bestanden hatte; in offener Mitteilsamkeit und
warmer Teilnahme fanden und trennten sie sich.

"Unsere Söhne werden morgen noch zu Ihnen kommen," sagte der General,
"um sich bei Ihnen zu verabschieden und auch unseren Dank zu
überbringen. Übermorgen werden wir reisen. Das Konzert wollen wir noch
anhören, vielleicht sehen wir uns im Saal!"

Vom General und seiner Gemahlin freundlich bis zur Treppe geleitet,
verabschiedete sich Herr Pfäffling. Auf der Treppe mußte er Platz
machen. Ein prächtiger Blumenkorb wurde eben herauf getragen. Er war
für das Empfangszimmer des Künstlerpaares bestimmt. Eine gewisse Unruhe
und Erregung herrschte in dem ganzen Hotel. Um so mehr war Herr
Pfäffling verwundert, als ihn der Hotelbesitzer auf der Treppe einholte
und ruhig anredete. "Haben Sie vielleicht einen Augenblick Zeit, mit
mir hier herein zu kommen?" fragte er, die Türe eines Zimmers
aufmachend. "Ich wohl," sagte Herr Pfäffling, "aber Sie sind heute
wieder vollauf in Anspruch genommen?"

"Allerdings, und man sollte meinen, ich hätte keinen anderen Gedanken
als meine Gäste, aber auch uns Geschäftsleuten steht das eigene Fleisch
und Blut doch am nächsten. Mir klingt heute in aller Unruhe immer nach,
was mir mein Sohn diesen Morgen geschrieben hat. Sie wissen es
vielleicht, daß er seit Weihnachten bei meiner verheirateten Schwester
ist. Sie, Herr Pfäffling, haben mir ja damals, als ich blind war, den
Star gestochen. Es war eine schmerzhafte, aber erfolgreiche Operation."

"Wenn sie erfolgreich war, so freut mich das herzlich, denn ich bin mir
sehr bewußt, daß ich sie mit plumper, ungeschickter Hand vorgenommen
habe. Was schreibt Ihr Sohn?"

"Anfangs wollte er sich nicht recht in das einfache Familienleben
finden, aber nun sollten Sie hören, wie er begeistert schreibt über
seine Tante, obwohl diese ihn fest führt, wie wichtig es ihm ist, ob er
ihr zum Quartalsabschluß ein gutes Zeugnis bringen wird und wiederum,
wie vergnügt er die Schlittenfahrten, die Spiele mit den Kindern
schildert." Herr Meier warf einen Blick in den Brief, den er ans seiner
Tasche zog, und schien Lust zu haben, ihn vorzulesen, aber er steckte
ihn rasch wieder ein, da ein Bursche eintrat und ihm eine ganze Anzahl
Telegramme überreichte, die eben eingetroffen waren.

"Ich will Sie nicht länger aufhalten," sagte Herr Pfäffling. "Ihre
Telegramme beunruhigen mich, auch höre ich unten immerfort das
Telephon."

"Für dieses sorgt der Portier, und die Telegramme enthalten vermutlich
alle nur Zimmerbestellungen. Viele Fremde möchten da absteigen, wo sie
wissen, daß die Künstler ihr Absteigequartier genommen haben, besonders
auch die Berichterstatter für die Zeitungen, diese hoffen im gleichen
Hause etwas mehr zu hören und zu sehen von den Künstlern, als was sich
im Konzertsaal abspielt."

Herr Meier hatte einen Blick in die Telegramme getan: "Nur
Zimmerbestellungen," sagte er, "es ist aber schon alles bei mir besetzt
oder vorausbestellt. Ich muß für Aufnahme in anderen Häusern sorgen.
Mir ist es lieb, zu denken, daß Rudolf fern von dem allem an seiner
Arbeit oder auch beim Kinderspiel sitzt. Ich werde Ihnen immer dankbar
sein für Ihren Rat, Herr Pfäffling."

Die beiden Männer trennten sich und als Herr Pfäffling das Zentralhotel
verließ, dessen schöne Freitreppe er nun vielleicht zum letztenmal
überschritten hatte, wandte er sich unwillkürlich und warf noch einmal
einen Blick auf diesen Ort des Luxus und des Wohllebens zurück. Wie
wenig Unterschied war doch im Grund bei aller äußeren Verschiedenheit
zwischen dem, was hier und was im einfachen Hause die Herzen bewegte.
Der russische General, der reiche Geschäftsmann und er, der schlichte
Musiklehrer, schließlich hatten sie alle das gleiche Herzensanliegen.
Geld und Gut allein befriedigte keinen, um ihre _Kinder_ sorgten sie
sich, tüchtige Söhne wollten sie alle, und das konnte ein armer
Musiklehrer so gut oder leichter haben als die Reichen.

Am folgenden Morgen erschienen die beiden jungen Russen in der
Frühlingsstraße, um ihren Abschiedsbesuch zu machen. Herr Pfäffling war
in der Musikschule, seine Frau empfing mit Freundlichkeit diese beiden
Schüler, die ihrem Lehrer seine Aufgabe immer leicht gemacht hatten.
Die jungen Leute drückten sich nun schon gewandt in der deutschen
Sprache aus, baten Frau Pfäffling, ihren Dank zu vermitteln und teilten
ihr mit, daß die Eltern ihre Abreise noch um einige Tage verschoben
hätten, selbst noch einen Gruß schreiben und diesem das Honorar für die
Stunden beilegen wollten.

Unser Musiklehrer hätte sie noch in der Frühlingsstraße treffen müssen,
wenn er zur gewohnten Zeit heim gekommen wäre. Aber es hatte heute in
der Musikschule nach Schluß des Unterrichts eine sehr erregte
Besprechung zwischen den Lehrern der Anstalt gegeben, und Herr
Pfäffling kam später als sonst und nicht mit seiner gewohnten
fröhlichen Miene heim. Heute war er nicht, wie gestern, der Ansicht,
daß reich oder arm nicht viel zum Glück des Menschen ausmache! Der
Direktor hatte mitgeteilt, daß zu dem abendlichen Konzert nur eine
einzige Freikarte, auf seinen Namen lautend, für die Lehrer der
Musikschule abgegeben worden sei. Darüber herrschte große Entrüstung
unter den Kollegen. Manche konnten sich ja auf eigene Kosten noch
Plätze verschaffen, für Herrn Pfäffling war solch eine Ausgabe
ausgeschlossen. Seine Frau machte einen schwachen Versuch, ihn doch
dazu zu überreden. "Nein," sagte er, "ich säße nur mit schlechtem
Gewissen in dem Saal, habe ich doch noch nicht einmal die 60 Mark
beisammen für den Arzt! Wenn die Russen heute das Geld geschickt
hätten, das hätte mich vielleicht verführt. Die Leute sind auch so
gedankenlos, sie tun, wie wenn unser einem das ganz gleich wäre, ob man
auf das Stundenhonorar wochenlang warten muß oder nicht! Und die
Künstler! Wie leicht hätten sie noch eine Freikarte mehr schicken
können! Weißt du, daß Fräulein Vernagelding mit ihrer Mutter in das
Konzert gehen wird? Ich habe bisher nicht gedacht, daß ich neidisch
bin, aber: ich glaube wirklich, in diesem Fall bin ich es! Denke dir,
das junge Gänschen, das nicht hört, was recht und was falsch klingt,
soll diesen Kunstgenuß haben, und unsereines bleibt ausgeschlossen. Und
warum geht sie hin? Weil Mama sagt: Bei solch hohem Eintrittspreis sei
man sicher, nur die vornehmste Gesellschaft zu treffen! Und da soll man
nicht bitter werden!"

"Bitter?" wiederholte Frau Pfäffling, "du und bitter? Das ist gar nicht
zusammen zu denken."

Sie waren allein miteinander im Musikzimmer.

Frau Pfäffling sprach noch manches gute, beruhigende Wort, so lange bis
Elschen als schüchterner Bote eintrat und fragte, wann denn heute zu
Mittag gegessen würde? Mit dem schlechten Gewissen einer säumigen
Hausfrau folgte die Mutter augenblicklich der Mahnung. Herr Pfäffling
sah ihr nach; von Erbitterung war nichts mehr auf seinen Zügen zu
lesen, aber er sagte vor sich hin: "Das gibt eine öde Zeit, wenn sie
für vier Wochen verreist, ich wollte, es wäre schon überstanden."

Im Zentralhotel herrschte an diesem Tag Leben und Bewegung. Alle Zimmer
waren besetzt, Kunstverständige waren von nah und fern herbei geeilt,
alte Bekannte, neue Größen suchten das Künstlerpaar auf und das
Künstlerkind wurde liebkost, mit Bonbons überschüttet, aber dennoch
langweilte es sich heute und war verstimmt. Dem Fräulein, das für den
kleinen Künstler zu sorgen hatte und ihn an Konzerttagen bei guter
Laune erhalten sollte, wollte es heute nicht gelingen.

Am Nachmittag ließ die junge Mutter Herrn Meier zu sich bitten. Viele
Fremde der Stadt hätten ihn wohl beneidet um diese Audienz bei der
Künstlerin, um die Gelegenheit, die auch beim Sprechen so liebliche
Stimme der Sängerin zu hören und ihre anmutige Erscheinung zu sehen.
"Ich bin in Verzweiflung," sagte sie, "unser Edmund ist heute gar nicht
in Stimmung, und es wird mir so bang vor dem Abend. Denken Sie nur,
wenn das Kind sich weigern sollte, zu spielen, wenn es versagen würde
in dem Augenblick, wo alle auf ihn blicken? Er war noch nie so
verstimmt, sein Fräulein ist selbst ganz nervös von der Anstrengung,
ihn aufzuheitern. Nun möchte ich Sie bitten, daß Sie mir ein paar
muntere Kinder verschaffen, Knaben oder Mädchen, die mit ihm spielen
und ihn zerstreuen, bis es Zeit wird, ihn anzukleiden. Bitte, bitte,
sorgen Sie mir dafür, nicht wahr, und so bald wie möglich. Auch etwas
Spielzeug wird zu bekommen sein, aber vor allem lustige Kameraden!"

"Ich werde dafür sorgen, gnädige Frau," versicherte Herr Meier, und
verließ das Zimmer. Die Wünsche der Gäste mußten befriedigt werden, das
stand ein für allemale fest bei dem Besitzer des Zentralhotels. Also
auch dieser Wunsch. "Wo bringe ich schnell muntere Kinder her?" fragte
er sich und dachte an seinen Sohn Rudolf. In solchen Fällen hatte
dieser ihm oft Rat gewußt, er kannte so viele Menschen. Ja, manchmal
war Rudolf doch tatsächlich nützlich gewesen. Bei diesem Gedankengang
sah Herr Meier wieder den Musiklehrer vor sich, und nun kam ihm in
Erinnerung: Dieser Mann sollte ja Kinder haben in jedem Alter und
munter, lebhaft, temperamentvoll mußten die Kinder _dieses_ Mannes
sicherlich sein. Er ging zum Portier: "Schicken Sie sofort eine
Droschke zu Musiklehrer Pfäffling in die Frühlingsstraße. Lassen Sie
ausrichten, der kleine Künstler habe Langeweile und ich ließe Herrn
Pfäffling freundlich bitten, mir sofort zwei oder drei seiner Kinder,
Knaben oder Mädchen, zur Unterhaltung des Jungen zu schicken. Auch
Spielzeug dazu, aber rasch!"

So fuhr denn mitten am Nachmittag ein Wagen in der Frühlingsstraße vor,
und der Kutscher richtete aus: "Herr Meier vom Zentralhotel lasse
bitten um zwei bis drei Stück Kinder, Buben oder Mädel, das sei egal,
sie sollten dem kleinen Künstler die Zeit vertreiben, weil er gar so
zuwider sei."

Diese Einladung erregte Heiterkeit bei den Eltern Pfäffling, und sie
waren gleich bereit, die Bitte zu erfüllen. Wer paßte am besten dazu?
Marianne war nicht zu Hause, Karl schon zu erwachsen, so konnten nur
Wilhelm und Otto, Frieder und Elschen in Betracht kommen. Otto
erklärte, er geniere sich. Wilhelm konnte das nicht begreifen. "Wie
kann man sich genieren, wenn man mit einem kleinen Buben spielen soll?
Dem wollte ich Purzelbäume vormachen und Spaß mit ihm treiben, daß er
kreuzfidel würde!"

"Gut," sagte Herr Pfäffling, "wenn es dir so leicht erscheint, wirst du
es auch zustande bringen. Und Frieder?"

"Der ist zu still," sagte die Mutter, "eher würde ich zu Elschen raten.
Wo ist sie denn? Ein Künstlerkind hat vielleicht Freude an dem
niedlichen Gestältchen."

"Meinst du?" sagte Herr Pfäffling zweifelnd, "ist sie nicht zu
schüchtern? Wir wollen sie fragen."

Sie suchten nach dem Kind. Elschen stand allein im kalten Schlafzimmer,
hatte in ihr eigenes Bett die Puppe gelegt, und als nun die Eltern und
Brüder unvermutet herein kamen, hob sie abwehrend die Hand und sagte
bittend: "Leise, leise, mein Kind ist krank!" Sie war herzig anzusehen.
Frau Pfäffling beugte sich zu ihr und sagte: "Ein wirkliches,
lebendiges Kind verlangt jetzt nach dir, Elschen. Der kleine
Violinspieler, von dem wir dir erzählt haben, ist so traurig, weil er
kein Kind in der Stadt kennt. Willst du zu ihm und mit ihm spielen?"

"Freilich," sagte Elschen mitleidig, "mein Kind schläft jetzt, da kann
ich schon fort."

Schnell waren die beiden Geschwister gerichtet, auch einiges Spielzeug
herbeigesucht und nun fuhren sie in der geschlossenen Droschke durch
die ganze Stadt, voll Freude über das unverhoffte Vergnügen.

Der Hotelbesitzer trat selbst herzu, als der Wagen vorfuhr, etwas
bange, ob entsprechendes herauskommen würde. Er öffnete den Schlag. Der
Anblick von Elschens lieblichem kleinem Persönchen erfreute ihn.
Behutsam hob er sie aus dem Wagen, stellte sie auf die Freitreppe und
sagte sich: "Das entspricht, wird sicherlich Beifall finden."
Inzwischen war Wilhelm mit Behendigkeit aus der Droschke gesprungen,
hatte das Spielzeug zusammen gerafft und war schon unter der großen
Haustüre. Lächelnd sah ihn Herr Meier an. "Ganz wie sein Vater,
langbeinig, hager und flink," dachte er und sagte befriedigt: "Nun
kommt mir, Kinder, ich will euch selbst einführen. Edmund heißt der
Kleine. Er ist ein wenig müde von der Reise, aber wenn ihr mit ihm
spielt, wird er schon lustig. Vom Konzert und von Musik müßt ihr nicht
mit ihm reden, das mag er nicht, er will nur spielen, er ist ganz wie
andere Kinder auch."

Oben am Zimmer angekommen, klopften sie an und horchten auf das
"Herein", statt dessen hörten sie die Stimme eines Fräuleins. "Aber
Edmund, wer wird denn die Fensterscheiben ablecken?" "Was soll ich denn
sonst tun?" hörte man eine weinerliche Kinderstimme entgegnen. Da
lachte Wilhelm und sagte zu seinem Begleiter: "Der muß freilich arg
Langeweile haben! Ich will lieber gleich mit einem Purzelbaum herein
kommen." Herr Meier wußte nicht recht, ob er das gut heißen sollte,
aber er hatte inzwischen noch einmal angeklopft, das "herein" war
erfolgt und durch die geöffnete Türe kam Wilhelm auf dem Kopf herein
und einen Purzelbaum nach dem andern schlagend, auf weichen Teppichen,
die dazu sehr einladend waren, bis zu dem Kleinen am Fenster, der nun
laut auflachte und sagte: "Wie macht man denn das?"

Das Fräulein atmete erleichtert auf bei dieser willkommenen Ablösung in
ihrer Aufgabe, das Kind zu unterhalten. Die Sängerin, die aus dem
nebenan liegenden Zimmer unter die Türe getreten war, lächelte
freundlich und dankbar Herrn Meier zu, der sich sofort befriedigt
entfernte, und kam Elschen entgegen, die auf sie zuging. Das Kind hatte
ein Gefühl dafür, daß die Art, wie ihr Bruder sich einführte,
ungewöhnlich und vielleicht nicht passend war, und in der mütterlichen
Art, die sie von ihrer älteren Schwester überkommen hatte, sagte sie zu
der jungen Frau: "Wilhelm kommt gewöhnlich nicht mit Purzelbäumen
herein, bloß heute, weil er lustig sein will."

"Ein süßes Kind," sagte die junge Mutter zu dem Fräulein. "nun ist
Edmund versorgt und wir können ein wenig ausruhen. Lassen Sie die
Kinder nur ganz gewähren, solange sie nicht gar zu wild werden." Das
Fräulein schien dieser Aufforderung sehr gern nachzukommen, zog sich
mit einem Buch zurück und die Kinder blieben sich selbst überlassen.

Die Freundschaft war bald geschlossen. Der kleine Künstler hatte etwas
sehr Gewinnendes in seinem Wesen und ein anmutiges Äußeres. Weiche,
blonde Locken umgaben das feine Gesicht, alles an ihm war schön und
wohlgepflegt. Das ansprechendste waren seine großen, tiefblauen Augen,
die mit ihrem träumerischen Ausdruck ahnen ließen, daß diese
Kinderseele mehr als andere empfand. Während er mit den Kindern
spielte, sah auch er kindlich-fröhlich aus, sobald er aber still war,
lag ein ungewöhnlicher Ernst und eine Frühreife in seinem Gesicht, die
ihn viel älter erscheinen ließen.

Eine gute Weile belustigte er sich an Wilhelms Spässen und ergötzte
sich mit diesem, während Elschen zusah. Nun wandte er sich an sie. "Mit
dir möchte ich gerne tanzen," sagte er, "kannst du tanzen?"

"Ja," sagte die Kleine zuversichtlich.

"Was willst du tanzen?"

"Was du willst," antwortete sie freundlich, zum Erstaunen ihres
Bruders, der von der Tanzkunst seiner Schwester bisher noch nichts
gewußt hatte.

"Also Walzer," entschied der kleine Kavalier und wollte sein Dämchen
zum Tanz führen.

"Warte ein wenig," sagte Elschen, "Wilhelm muß mir das erst vormachen."

Dieser hatte zwar noch nie getanzt, aber ihm machte das keine Bedenken,
für so kleine Tänzer traute er sich dennoch zu, den Tanzmeister zu
machen.

"Bei Walzer zählt man drei," sagte er zur Schwester, "ich will dir
einen Walzer vorpfeifen."

Und er fing an, die Melodie zu pfeifen, den Takt dazu zu schlagen und
sich im Kreis zu drehen. Das Fräulein, im Hintergrund, verbarg hinter
ihrem Buch das Lachen, das sie bei diesem Tanzunterricht schüttelte.
Edmund fuhr die Tanzlust in die Füße, er ergriff seine kleine Tänzerin.
Sie wäre ja keine Pfäffling gewesen, wenn sie den Rhythmus nicht erfaßt
hätte; niedlich tanzte das kleine Paar hinter dem pfeifenden, mit den
Fingern schnalzenden und sich drehenden Wilhelm einher. Das Fräulein
rief unbemerkt die Mutter des Kleinen herbei, auch der Vater trat unter
die Türe, sie sahen belustigt zu. "Eine solche Nummer sollten wir in
unserem Programm heute Abend einschalten," sagte er scherzend zu seiner
Frau, "das gäbe einen Jubel! Wem gehören denn diese Kinder?" fragte er
das Fräulein. Sie wußte es nicht.

"Der langbeinige, bewegliche Kerl ist zu drollig und das Mädchen ist
die Anmut selbst. Musikalisch sind sie offenbar alle beide."

Zwei Stunden waren den Kindern schnell verstrichen, nun mahnte das
Fräulein, daß es Zeit für Edmund sei, sein Abendessen einzunehmen und
sich umkleiden zu lassen für das Konzert. Als er das hörte, verschwand
alle Fröhlichkeit aus seinem Gesicht, er erklärte, daß er nichts essen
möge, sich nicht umkleiden und seine neuen Freunde nicht missen wolle.
Die vernünftigen Vorstellungen des Fräuleins, die zärtlichen Worte der
Mutter hatten nur Tränen zur Folge.

Wilhelm versuchte seinen Einfluß auf den kleinen Kameraden. "Du mußt
doch vorspielen," sagte er, "viele Hunderte von Menschen hier freuen
sich schon so lange auf das Konzert!"

"Geht ihr auch hin?" fragte der Kleine und ehe er noch Antwort hatte,
sagte er eifrig zu seiner Mutter: "Die Beiden sollen zu mir in das
Künstlerzimmer kommen, und den Abend bei mir bleiben, es ist immer so
langweilig, während du singst und Papa spielt."

Aber Wilhelm ging auf diesen Vorschlag nicht ein. "Wir können nicht
kommen," sagte er. "Elschen liegt um diese Zeit schon im Bett und ich
habe jetzt den ganzen Nachmittag nichts gearbeitet und habe viele
Aufgaben für morgen." Da flossen bei dem Kleinen wieder die Tränen, er
drückte sein Köpfchen an die Mutter und schluchzte: "Wenn er nicht
kommt, will ich auch nicht spielen, mir ist gar nicht gut." Es sah auch
tatsächlich ein wenig elend aus, das kleine Bübchen. Seine Mutter rief
den Vater zu Hilfe. "Sieh doch nur," sagte sie, "wie Edmund verweint
und jämmerlich aussieht! Was hat er nur? Er ist doch sonst so
verständig, aber heute will er nicht spielen. Ich werde Qualen
durchmachen, heute abend."

Der Vater stampfte ungeduldig mit dem Fuß. Edmund ergriff Wilhelms Hand
und hielt sie krampfhaft fest, um ihn nicht gehen zu lassen. Die beiden
Eltern besprachen sich eifrig miteinander, aber die Kinder verstanden
nichts davon, das Gespräch wurde in italienischer Sprache geführt.
Endlich wandte sich der Vater an Wilhelm: "Wir wären sehr froh," sagte
er, "wenn du zu unserem Kleinen in das Künstlerzimmer kommen und den
Abend bei ihm bleiben wolltest. Du müßtest eben deine Aufgaben einmal
bei Nacht machen. Ein frischer Junge, wie du bist, kann das doch wohl
tun? Wir verlangen auch diese Gefälligkeit nicht umsonst, wir bieten
dir dagegen ein Freibillet zu unserem Konzert an, das du gewiß jetzt
noch leicht an irgend jemand in deiner Bekanntschaft verkaufen kannst."

Bei dem Wort "Freibillet" hatte Wilhelms Gesicht hell aufgeleuchtet.
Ein Billet, für den Vater natürlich, welch ein herrlicher Gedanke!
"Ja," rief er, "ja, ja, für ein Freibillet, wenn ich es meinem Vater
geben darf, will ich gern zu Edmund kommen und gern die ganze Nacht
durch arbeiten!" Und als er bemerkte, wie nun der Kleine plötzlich vom
Weinen zum Lachen überging, sagte er zu diesem: "Könntest du nur dabei
sein, wenn ich meinem Vater die Karte bringe und sehen, wie er sich
freut! Mein Vater ist wohl so groß wie die Türe da, und wenn er einen
Freudensprung macht, dann kommt er fast bis an unsere Decke. Weißt du
so!" und Wilhelm fing an, Sprünge zu machen, daß der kleine Kamerad
laut lachte und seine Mutter leise zu dem Fräulein sagte: "Nun führen
Sie ihn rasch zum Umkleiden, so lange er noch vergnügt ist," und dem
Kinde redete sie gütig zu: "Wenn du nun artig bist, Edmund, so kommt
heute abend Wilhelm zu dir." Darauf hin folgte der Knabe willig dem
Fräulein und sein Vater wandte sich an Wilhelm. "Das Konzert ist in der
Musikschule; neben dem Saal ist das Zimmer, in dem wir uns aufhalten,
so lange wir nicht spielen, du darfst nur nach dem Künstlerzimmer
fragen."

"O, ich weiß es gut," sagte Wilhelm, "neben dem Garderobezimmer liegt
es."

Der Künstler wunderte sich. "Du bist ja zu allem zu brauchen," sagte
er, "woher weißt du das Zimmer?"

"Mein Vater ist Lehrer an der Musikschule, ich habe ihn schon oft dort
abgeholt."

"Ah, Musiklehrer, und hat dennoch kein Billet genommen für unser
Konzert?"

"Nein," sagte Wilhelm, "aber kein Mensch in der ganzen Stadt kann sich
mehr darüber freuen, als mein Vater!"

Auch Elschen stimmte zu mit einem fröhlichen "ja, ja!" und dabei
schlüpfte sie, so schnell sie konnte, in ihren Mantel und beiden
Kindern war die Ungeduld, heimzukommen, an allen Gliedern anzumerken.
Die Karte wurde ihnen denn auch wirklich eingehändigt und nachdem
Wilhelm fest versprochen hatte, sich rechtzeitig im Künstlerzimmer
einzufinden und Edmund zu unterhalten, ohne ihn aufzuregen, ihn zu
belustigen, ohne Lärm zu machen, wurden die Kinder entlassen.

Wilhelm faßte die kleine Schwester bei der Hand; "Jetzt nur schnell,
schnell, Elschen, wenn nur der Vater ganz gewiß zu Hause ist, es ist
schon sechs Uhr, um halb acht Uhr geht das Konzert an!"

So rasch eilten sie am Portier vorüber, daß dieser sie kaum mehr
erreichte, obwohl er aus seinem Zimmer ihnen nacheilte auf die
Freitreppe vor dem Hotel.

"Halt," rief er, "wartet doch, Kinder, ihr dürft wieder heim fahren."
Wilhelm wollte nicht. "Nein, nein," sagte er, "wir springen schnell und
kommen viel früher heim, als wenn wir auf eine Droschke warten." Aber
die Hand des großen, stattlichen Portiers lag fest auf der Schulter des
Knaben und hielt ihn zurück. "Herr Meier hat Auftrag gegeben, daß eine
Droschke geholt werden soll, es ist für dies kleine Mädchen ein weiter
Weg und draußen ist's kalt und dunkel; aber wenn du so Eile hast, so
kannst du ja selbst flink zum Droschkenplatz springen und einen Wagen
holen." Wie ein Pfeil war Wilhelm davon; seiner Schwester wurde im
Portierzimmer ein Sessel zurecht gerückt. Da saß sie neben zwei
riesigen Reisekoffern, und betrachtete die glänzenden Metallbeschläge.

"Das sind große Koffer, nicht?" sagte der Portier zu ihr, "die reisen
bis nach Rußland."

"Dann gehören sie dem General," sagte Elschen, "der in der nächsten
Woche nach Berlin reist."

"Weißt du davon? Du hast ganz recht, das heißt, er reist schon morgen."

"Nein, die Reise ist um ein paar Tage verschoben." Der Portier sah
erstaunt auf die Kleine. "Das wäre das neueste, wer hat denn das
gesagt?"

"Die zwei jungen Russen, wie sie heute vormittag bei Mama waren."

"Heute vormittag? Nun, dann ist's doch nicht wahr, denn der General
selbst hat heute nach dem Diner zu mir gesagt, sie reisen morgen
vormittag. Horch, nun kommt schon dein Bruder mit der Droschke."

Wilhelm hätte mehr Lust gehabt, seine eigenen flinken Beine in Bewegung
zu setzen als die eines müden Droschkengauls, Elschen hingegen war sehr
einverstanden mit der Fahrt und fand sich schnell darein, daß der
Wagenschlag für sie aufgerissen wurde wie für ein kleines Dämchen und
sie selbst sorgsam hinaufgehoben, damit sie auf dem schmalen Tritt
nicht ausgleite. Nun fuhren sie durch die schön beleuchteten Straßen,
dann durch die stillen Gassen der Vorstadt und endlich bogen sie in die
Frühlingsstraße ein. "Wenn der Vater nicht daheim ist, müssen alle
auslaufen und ihn suchen," sagte Wilhelm, "Karl und Otto, Marianne und
Frieder, vielleicht hat auch Walburg Zeit, der Vater muß das Billet zu
rechter Zeit bekommen!"

In der Frühlingsstraße war abends kein großer Wagenverkehr, und Frau
Pfäffling, die bei den Kindern am Tisch saß, horchte auf und sagte:
"Sie kommen!" Herr Pfäffling, der im Musikzimmer ein wenig unruhig hin
und her wandelte, seine Musikzeitung lesen wollte und dabei immer durch
den Gedanken gestört wurde, wie viel schöner es wäre, heute abend
Musik, Musik erster Klasse, zu hören, als über Musik zu lesen, Herr
Pfäffling hörte auch das Geräusch des Wagens: "Das können die Kinder
sein, ob _sie_ wenigstens etwas gehört haben in der Künstlerfamilie,
singen, Klavier oder Violine?" Das mußte er doch gleich fragen, also:
die Treppe hinunter. Im untern Stock sagte Frau Hartwig zu ihrem Mann:
"Es hält eine Droschke. Du wirst sehen, das ist mein Bruder, um die
Zeit kommt ein Zug an." Sie ging hinaus in den Vorplatz. Herr Pfäffling
stand inzwischen schon am Wagenschlag, machte ihn auf und wollte
fragen, aber so flink er war, diesmal kam er nicht zu Wort vor den
eifrigen Ausrufen seiner Kinder: "Wie gut, daß du zu Hause bist, Vater,
wir haben dir ja ein Billet, ein Konzertbillet, da, sieh nur, geschenkt
vom Künstler selbst!" Und wenn nun auch Herr Pfäffling nicht den
Freudensprung machte, den der kleine Edmund von ihm erwartet hätte,
enttäuscht wäre dieser doch nicht gewesen, denn dieser fröhliche Ausruf
der Überraschung, dieses stürmische Stufenüberspringen, um möglichst
schnell die Treppe hinauf zu kommen und dieser warme Ruf "Cäcilie!" der
durch die ganze Wohnung klang, war auch ergötzlich und herzerfreuend.

Wilhelm folgte dem Vater in gleicher Hast, der kleinen Else blieb es
diesmal überlassen zuzusehen, wie sie allein aus dem Wagenschlag
herauskam. Frau Hartwig, die ordentlich ausgewichen war, um nicht
überrannt zu werden, wollte eben die Haustüre zumachen, als sie die
Kleine, mit dem Spielzeug beladen, nachkommen sah. "Da hat es wieder so
pressiert," sagte sie vor sich hin, "daß sich keines die Zeit genommen
hat, auf das Kind zu warten," und sie reichte ihm die Hand und schloß
für sie die Haustüre, während oben schon die Tritte der Hinauseilenden
verhallten. Elschen fand es ganz natürlich, daß man sich nicht um sie
gekümmert hatte, auf ihrem Gesichtchen lag noch der Abglanz der Freude,
der Vater hatte ja sein Billet. Freundlich grüßte sie die Hausfrau und
sagte, auf der Treppe zurückblickend: "Jetzt weiß ich es, Hausfrau, wie
du das machen mußt, damit kein Gepolter ist und die Treppe geschont
wird, du mußt nur dicke, dicke Teppiche legen; so ist es im
Zentralhotel und es sieht auch viel schöner aus als das Holz da!"

"Wirklich?" sagte Frau Hartwig, "dann bringe du mir nur bald die dicken
Teppiche, damit ich sie legen kann."

Bei Pfäfflings war große Bewegung, die Freude über das Konzertbillet
hatte sich allen mitgeteilt, die Fragen und Antworten über die
Erlebnisse im Zentralhotel überstürzten sich, zugleich wurden die
Vorbereitungen für das Abendessen beschleunigt, damit Herr Pfäffling
und Wilhelm rechtzeitig zum Beginn des Konzertes kommen konnten. Frau
Pfäffling hörte mit besonderer Teilnahme und auch mit Besorgnis von dem
kleinen Violinspieler. "Wenn das Kind sich unwohl fühlt," sagte sie zu
Wilhelm, "so wirst du es auch nicht stundenlang mit Spässen bei guter
Laune erhalten können!" Aber Wilhelm war guter Zuversicht und war zu
vergnügt über die Freikarte, als daß er von dem heutigen Abend irgend
etwas anderes als Erfreuliches hätte erwarten können. Er strahlte mit
dem ganzen Gesicht und sah nur immer zu seinem Vater hinüber, der
ebenso strahlte, während sie beide das rasch erschienene Abendessen
verzehrten und sich dann unter allgemeiner Teilnahme und
Hilfsbereitschaft der Familie für das Konzert richteten. "Wenn der
Kleine aufgeregt wird oder nicht mehr spielen will," sagte Frau
Pfäffling zu Wilhelm, "so laß ihn sich zu dir setzen und erzähle ihm
allerlei, etwa von Frieders Harmonika und Geige oder von unserem
Weihnachtsfest; es wird besser sein, als wenn du ihn immer zum Lachen
bringen willst. Weißt du, wenn man unwohl ist, mag man gar nicht
lachen, aber über dem Erzählen vergessen die Kinder ihre kleinen
Leiden." Da mischte sich Elschen ein: "Er ist ja gar nicht krank, er
hat ja mit mir getanzt." "Freilich, und gelacht," sagte Wilhelm, "und
unartig ist er auch, weiter ist gar nichts los mit ihm."

So gingen Vater und Sohn fröhlich und guter Dinge miteinander nach der
Musikschule und trennten sich, Herr Pfäffling, um seinen Platz in dem
schon dicht gefüllten Saal aufzusuchen, Wilhelm, um seines Vaters
Billet nachträglich zu verdienen.

Er fand das Künstlerzimmer ziemlich besetzt, verschiedene Herrn
begrüßten hier die Künstlerfamilie, erwiesen der gefeierten Sängerin
allerlei Aufmerksamkeiten und umschmeichelten den Kleinen. Dieser stand
in schneeweißem Anzug da und lehnte das Lockenköpfchen an seine Mutter,
die in ihrem duftigen Seidenkleid reizend anzusehen war. "Sieh, da
kommt dein kleiner Freund," sagte Edmunds Vater, der Wilhelms
bescheidenes Eintreten bemerkt hatte. "Aber er macht ja keine
Purzelbäume," entgegnete Edmund, ohne seine Mutter zu verlassen.

"Das wäre hier wohl auch nicht gut möglich," sagte der Vater. Im
Hintergrund des kleinen Zimmers stand ein Tischchen, neben demselben
hielt sich das Fräulein auf, das Wilhelm schon im Hotel kennen gelernt
hatte. Zu ihr ging er hin und sagte: "Ich habe einen kleinen Kreisel
für Edmund mitgebracht, soll ich ihn auf dem Tischchen tanzen lassen?"
"Später, wenn wir allein sind und Edmund schwierig wird," sagte das
Fräulein, "jetzt hat er noch seine Mama." Ein paar Augenblicke später
kam geschäftig und ohne anzuklopfen ein Herr herein. "Ist es Zeit, Herr
Weismann?" frug ihn der Künstler. "Ja, wenn ich bitten darf." Die
anwesenden Herrn verließen nun rasch das Künstlerzimmer, um sich an
ihre Plätze im Saal zu begeben, das Fräulein strich noch die Falten am
Kleide der Sängerin glatt, der Vater löste mit einer gewissen Strenge
die Hand des Kindes aus der der Mutter und sagte: "Du gehst hierhin, zu
Wilhelm," die Mutter drückte rasch noch einen Kuß auf die Stirn des
Kleinen, der sie betrübt, aber doch ohne Widerspruch losließ. Dann
öffnete Weismann eine Seitentüre, von der aus ein paar Stufen nach dem
erhöhten Teil des Saals führten, auf dem nun das Künstlerpaar auftreten
sollte. Wilhelm konnte von dem tieferliegenden Künstlerzimmer aus nicht
hinaufsehen, aber er hörte das mächtige Beifallklatschen, mit dem das
junge Paar empfangen wurde, dann schloß Weismann hinter ihnen die Türe
und von den wunderbaren Tönen, die nun im Saal die Menschenmenge
entzückten, drangen nur einzelne Klänge herunter in das Nebenzimmer.

Weismann trat zu dem Kleinen heran: "Die dritte Nummer des Programms
hat unser kleiner Künstler," sagte er, und auf die bereit gelegte
Violine deutend, fragte er: "Ist dein Instrument schön im Stande?"
Edmund antwortete nicht.

"Ich denke wohl," sagte statt seiner das Fräulein, "sein Vater hat
vorhin darnach gesehen."

"Hast du dir auch den Platz auf dem Podium gut gemerkt, an dem du
stehen sollst, wenn du spielst?" fragte der Herr, "du weißt doch noch,
nicht ganz dicht am Flügel?" Es erfolgte wieder keine Antwort.

"Aber Edmund, wie bist du heute so unartig," sagte das Fräulein, "wenn
dich Papa so sähe!" Da ließ der Kleine den Kopf hängen und fing au zu
weinen. Erschrocken zog ihn das Fräulein an sich. "Sei nur zufrieden,
Kind," tröstete sie, "du darfst doch nicht weinen? Wer wird dir Beifall
klatschen, wenn du mit verweinten Augen kommst!" Sie trocknete ihm die
Tränen, Weismann hielt es für klüger, sich zurück zu ziehen, Wilhelm
ließ den Kreisel tanzen; halb widerwillig sah Edmund zu, dann versuchte
er selbst die Kunst, die seinen geschickten Fingerchen bald gelang. Er
vertiefte sich in das Spiel. Plötzlich horchte er auf. Ein
Beifallssturm dröhnte aus dem Saal.

"Nun ist Mama fertig," sagte er und sah nach der Türe. "Nein, sie muß
noch einmal wiederholen," fügte er nach einer Weile gespannten Horchens
hinzu und kehrte wieder an sein Spiel zurück. "Bei mir ist das auch
manchmal so, ich mag nicht gern wiederholen, aber man muß."

"Aber bei dir wird doch nicht so rasend geklatscht?" fragte Wilhelm,
"so etwas habe ich noch gar nicht gehört."

"O ja, einmal ist bei mir am allermeisten Beifall gewesen, du wirst es
nachher schon hören," sagte Edmund, war aber schon wieder bei dem
Kreisel, und als nun die Sängerin, bis zu den Stufen von ihrem Gemahl
geleitet, und dann von Weismann empfangen, wieder in das Künstlerzimmer
zurückkam, rief er ihr fröhlich entgegen: "Sieh Mama, was ich kann?"
Die Mutter beugte sich zu ihm und sagte: "Gottlob, daß er vergnügt
ist!" und ein dankbarer Blick fiel auf Wilhelm.

Im Saal erklang der Konzertflügel.

"Nach Papa kommst du an die Reihe," sagte die junge Mutter und sich an
das Fräulein wendend, fügte sie leise hinzu: "Wie mir immer angst ist,
wenn das Kind auftritt, kann ich gar nicht sagen! Früher war es mir
bange, wenn ich vorsingen mußte, aber seitdem das Kind öffentlich
spielt, hat diese große Angst jede andere vertrieben. Wir hätten es nie
anfangen sollen." Tröstend sprach das junge Mädchen der Mutter zu: "So
sagen Sie vor jedem Konzert und nachher, wenn alle Welt begeistert ist
von dem Kleinen, sind Sie doch glücklich und stolz, mehr als über Ihre
eigenen Erfolge. Er ist nun schon fünfmal aufgetreten und hat seine
Sache immer gut gemacht."

"Aber heute wird es anders werden," flüsterte die Mutter, "hat er nicht
auch trübe Augen? Edmund, gib mir deine Hände. Sie sind heiß, fühlen
Sie, Fräulein!"

"Vom Kreiseln," sagte sie, "er sollte vielleicht die Hände jetzt ruhen
lassen."

"Ja, ja, Wilhelm, bitte, fange ein anderes Spiel an! Die Hände dürfen
nicht müde sein vor dem Violinspiel."

Es war doch nicht leicht, immer wieder eine Beschäftigung zu wissen.
Eine gelernte Kindergärtnerin war unser Wilhelm denn doch nicht! Aber
ihm war, als verlöre sein Vater das Recht auf den Konzertbesuch von dem
Augenblick an, wo er aufhören würde, den Jungen zu unterhalten. Also
_mußten_ ihm Gedanken kommen, Einfälle, um die Zeit zu vertreiben, und
sie kamen auch, und als der Klaviervirtuose, mit einem Lorbeerkranz in
der Hand, unter lebhaftem Beifall den Saal verlassen hatte, fand er
Edmund bei guter Laune und bereit, ihm mit der Violine zu folgen.

"Nun wirst du hören, ob sie mir ebenso klatschen wie Papa und Mama,"
sagte er munter zu Wilhelm. Er schien gar nicht aufgeregt, um so mehr
war es seine Mutter. Sie flüsterte Wilhelm zu: "Sieh ein wenig durch
den Türspalt, wie er seine Sache macht!"

Wilhelm folgte leise die Stufen hinauf den beiden Künstlern, sah, wie
der Kleine, der mit freundlichem Beifall begrüßt worden war, in
kindlicher Weise den Gruß erwiderte und, von seinem Vater auf dem
Klavier begleitet, das Spiel begann. Wilhelm wurde durch den kleinen
Violinspieler an Frieder erinnert und deshalb kam ihm diese Leistung
nicht so wunderbar vor wie den Zuhörern im Saal. Mit denselben
träumerischen Augen wie Edmund, ganz in seine Musik versenkt, hatte
Frieder immer seine Harmonika gespielt und strich er seine Geige.
Freilich war Frieder erst ein Anfänger auf diesem Instrument und dieser
Kleine war ein Meister. Das Publikum lauschte in atemloser Stille; die
Violine war ja klein und der Spieler hatte nicht den kräftigen Strich
eines Mannes. Aber reine, zarte, tief empfundene Töne wußte er zu
wecken und eine staunenswerte Gewandtheit zeigten die kleinen Hände.
Unter den Zuhörerinnen war manche zu Tränen gerührt, und als der letzte
Ton sanft verklungen war, rauschte ein Beifallssturm durch den Saal,
Blumen flogen, und eine junge Dame trat auf das Podium, um dem kleinen
Künstler ein Füllhorn zu überreichen, das auf sein kindliches Alter
berechnet war, denn während es nur mit Rosen gefüllt schien, waren
unter den Blumen Bonbons verborgen. Weismann kam dem Kleinen zur Hilfe,
die Schätze zu sammeln. Man hörte die helle Kinderstimme ein
schlichtes, freundliches "Danke!" rufen.

In das Künstlerzimmer drangen einige Bekannte ein, den Eltern zu
gratulieren, und es kam so, wie das junge Mädchen voraus gesagt hatte:
die Mutter war über die Leistung ihres Kindes und seinen Erfolg
glücklicher, als über den eigenen; auch war es ihr nun leichter um das
Herz, Edmund hatte ja nur noch einmal vorzuspielen, freilich ein
schwieriges und längeres Musikstück und ganz ohne Begleitung, aber sie
war nun wieder guter Zuversicht und angeregt durch die begeisterten
Schilderungen einiger Freunde, die in das Künstlerzimmer eindrangen und
von dem bereits errungenen Erfolg berichteten. Fröhlich und siegesgewiß
trat das Künstlerpaar auf's neue auf, Edmund blieb wieder allein zurück
bei dem Fräulein und dem treuen Kameraden.

Aber so bald es still um ihn wurde, verfiel er wieder in seine
weinerliche Stimmung und war nicht mehr heraus zu reißen, Wilhelm
mochte sich buchstäblich auf den Kopf stellen, es war alles umsonst: Da
dachte er an seiner Mutter Rat, setzte sich neben den Kleinen und fing
an, ihm zu erzählen. Der lehnte sich an das Fräulein, und es dauerte
gar nicht lange, so fielen ihm die Augen zu und er schlief ein. Sie
ließen ihn ruhen, aber gegen den Schluß des Konzertabends, während sein
Vater allein spielte und schon am Ende des Stückes war, auf das Edmunds
Auftreten folgen sollte, mußte er doch geweckt werden. Die Mutter tat
es mit schwerem Herzen und unter zärtlichen Liebkosungen. Es kam ihr
grausam vor, und wieder versicherte sie, es sei das letzte Mal, daß sie
das Kind vorspielen lasse. Sie bemühten sich zu dritt um das Kind,
boten ihm Erfrischungen an und hatten ihn, bis sein Vater erschien,
wohl aus dem Schlaf gebracht, aber mit allen guten Worten nicht zu
bestimmen vermocht, daß er noch einmal vorspiele.

Draußen, im Saal war nichts als Wonne und Begeisterung und ungeduldige
Erwartung des kleinen Künstlers, auf dessen Wiedererscheinen die große
Menge sich mehr freute als über die großartigen Kompositionen, die der
Vater ihr soeben vorgetragen hatte. Innen, im Künstlerzimmer, herrschte
Niedergeschlagenheit, Sorge und Kampf.

"Laß nun einmal die zärtlichen Worte," sagte der Künstler zu seiner
Frau, "sie helfen nichts mehr, wie du siehst; laß mich allein mit
Edmund reden." Er führte das Kind beiseite, und sah ihm fest und streng
in die Augen.

"Du bist heute abend krank, Edmund," sagte er, "und möchtest lieber zu
Bette gehen als vorspielen. Ich war auch schon einmal krank und habe
doch dabei ein ganzes, langes Konzert allein gegeben, und du mußt nur
ein einziges Stück spielen. Fest habe ich mich hingestellt und gedacht:
Die vielen Menschen haben die teuern Karten gekauft, und ich habe ihnen
dafür Musik versprochen und muß mein Versprechen halten. Du mußt das
deinige auch halten, dann erst darfst du dich zu Bette legen. Aber
eines will ich für dich tun, wenn du mir versprichst, daß du dich
tapfer hältst, ich will dir erlauben, daß du anstatt des schwierigen
Mendelssohn die leichte kleine Romanze von Beethoven spielst, die du so
gut kannst. Ich will es den Zuhörern sagen; wenn du das Stück recht
schön vorträgst, sind sie damit auch zufrieden. Nun komm, in einer
Viertelstunde ist es überstanden. Sieh die Menschen freundlich an, dann
verzeihen sie es dir, daß du so ein kurzes Stück spielst." Und er nahm
das Kind fest an der Hand, machte der Mutter, die sich von ihm
verabschieden wollte, ein abwehrendes Zeichen, gab dem Kleinen die
Violine, die er folgsam nahm und führte ihn die Stufen hinauf. "Vater,"
fragte leise der Kleine, "haben vorhin bei dir die Bretter, der Boden,
auf dem man steht, auch so geschwankt? Ich habe gemeint, ich falle um."

"Die Bretter sind jetzt alle festgenagelt," sagte ruhig und bestimmt
der Vater.

Sie hatten schon den Saal erreicht und traten miteinander vor. Als das
Klatschen sich gelegt hatte und Edmund eben zum Spiel ansetzte, wandte
sich der Vater an das Publikum: "Ich bitte es dem zarten Alter des
Künstlers zugute zu halten, daß er sein Programm nicht einhält. Er
möchte Ihnen lieber eine Romanze von Beethoven als das Konzert von
Mendelssohn vorspielen." Ein freundliches Klatschen bezeugte die
Zustimmung, die wenigsten der Anwesenden wußten, daß ihnen damit die
Freude verkürzt wurde. "Nun mach es um so besser," flüsterte der Vater
noch seinem Kind zu und stellte sich so, daß sie einander im Auge
behielten. Ihm war es, als müßte er unablässig durch seinen Blick die
Selbstbeherrschung des Kleinen aufrechterhalten.

"Wie er das Kind anschaut," dachten manche der Zuhörer, aber die
meisten hatten keinen Blick für den Vater, sie waren wieder hingerissen
von dem Knaben und seinem einschmeichelnden Spiel.

Es ging vorüber. Dem Vater war die Viertelstunde wie eine Ewigkeit
erschienen, und diesmal kamen Beide wie träumend zurück zu der Mutter,
die den Kleinen in zärtlichen Armen empfing.

"Fahren Sie gleich mit dem Jungen heim und bringen Sie ihn zu Bett,"
sagte der Vater zu dem Fräulein, "Wilhelm begleitet Sie hinüber zum
Droschkenplatz, nicht wahr?"

Am Schluß des Konzerts sammelten sich viele der begeisterten Zuhörer
vor dem Künstlerzimmer, sie hofften, auch das Künstlerkind noch einmal
zu sehen. Umsonst. Es lag schon in dem Bett, das Herr Meier vom
Zentralhotel sorgsam hatte erwärmen lassen.

Am nächsten Tag kam in den Zeitungen eine begeisterte Schilderung des
Konzerts, und am übernächsten folgte eine Notiz: der kleine
Geigenspieler sei an den Masern erkrankt.

Acht Tage später lag auch seine kleine Tänzerin Elschen masernkrank
darnieder, und wenn Frau Pfäffling an ihrem Bettchen saß, dachte sie
manchmal mit Teilnahme an das kleine Menschenkind, das schon öffentlich
auftreten mußte, ehe es noch die Kinderkrankheiten durchgemacht hatte.

Über diesen Erlebnissen war der kalte Januar zu Ende gegangen.



11. Kapitel
Geld- und Geigennot.


Seit dem Konzert waren mehrere Tage verstrichen. Herr Pfäffling hatte
täglich und mit wachsender Ungeduld auf den verheißenen Abschiedsgruß
des russischen Generals gewartet, dem das Honorar für die Stunden
beigelegt sein sollte, aber es kam nichts. So mußte die russische
Familie doch wohl ihre Abreise verschoben haben, ja, vielleicht dachte
sie daran, den Winter noch hier zu bleiben und die Musikstunden wieder
aufzunehmen. Immerhin konnte auch ein Brief verloren worden sein. Herr
Pfäffling wollte sich endlich Gewißheit verschaffen und suchte Herrn
Meier im Zentralhotel auf. Er erfuhr von diesem, daß der General mit
Familie gleich am Morgen nach dem Konzert abgereist sei, zunächst nach
Berlin, wo er eine Woche verweilen wolle.

Herr Pfäffling zögerte einen Augenblick, von dem ausgebliebenen Honorar
zu sprechen, aber der Geschäftsmann erriet sofort, worum es sich
handelte und sagte: "Der General hat vor seiner Abreise alle
geschäftlichen Angelegenheiten aufs pünktlichste geregelt und großmütig
jede Dienstleistung bezahlt. Er ist durch und durch ein Ehrenmann, so
werden auch sie ihn kennen gelernt haben."

"Ja, aber wie erklären Sie sich das: er hat mir beim Abschied gesagt,
seine Söhne würden mich noch besuchen und hat dabei angedeutet, daß sie
das Honorar überbringen würden. Sie sind auch gekommen, aber ohne
Honorar, und sagten, die Abreise sei verschoben worden, die Eltern
würden deshalb noch schriftlich ihren Dank machen. Glauben Sie, daß es
von Berlin aus geschehen werde?"

"Nein, nein, nein," erwiderte lebhaft Herr Meier. "Man reist nicht ab,
ohne vorher seinen Verbindlichkeiten nachzukommen, da liegt etwas
anderes vor. Von einer Verschiebung der Reise war auch gar nie die
Rede, das haben die Söhne ganz aus der Luft gegriffen. Ich fürchte, das
Geld ist in den Händen der jungen Herrn hängen geblieben, das geht aus
allem hervor, was Sie mir erzählen. Sie sind etwas leichtsinnig, die
Söhne, und werden vom Vater fast gar zu knapp und streng gehalten. Es
scheint mir ganz klar, was sie dachten: Sie wollten sich noch etwas
reichlich mit Taschengeld versehen, bevor sie der Berliner Anstalt
übergeben wurden, und rechneten darauf, daß Sie, in der Meinung, die
Abreise sei verschoben, sich erst um Ihr Geld melden würden, wenn die
Eltern schon über der russischen Grenze wären. Es ist gut, daß Sie
nicht noch ein paar Tage gezögert haben, diese Woche ist die Familie
noch beisammen in Berlin. Ich habe die Adresse des Hotels und ich will
sie Ihnen auch mitteilen, Herr Pfäffling. Wenn ich Ihnen raten darf,
schreiben Sie unverzüglich. Sie brauchen ja durchaus keinen Verdacht
gegen die jungen Herrn auszusprechen, es genügt, wenn Sie den Hergang
erzählen, der General ergänzt sich das übrige und so wie ich ihn kenne,
wird er Ihnen sofort das Geld schicken. Es war dann ein Versehen und
alles ist gut."

In voller Entrüstung erzählte unser Musiklehrer daheim von dem
offenbaren Betrug seiner jungen Schüler. "Es ist ein Glück," sagte er
dann, "daß mein Brief die Eltern noch in Berlin erreichen kann. Ich
schreibe gleich. Wir brauchen unser Geld, brauchen es zu Besserem und
Nötigerem als diese leichtsinnigen Burschen."

Aber nach geraumer Weile kehrte Herr Pfäffling in ganz veränderter
Stimmung, langsam und nachdenklich zu seiner Frau zurück. "Cäcilie,"
sagte er, "was meinst du zu der Sache? Meine Feder sträubt sich
ordentlich gegen das, was sie schreiben soll. Was hilft es, wenn ich
auch nicht den geringsten Verdacht ausspreche, meine Mitteilung bringt
doch dem General die Nachricht von der verbrecherischen Handlung seiner
Söhne. Daß er ihnen so etwas nie zugetraut hätte, sieht man ja, er
hätte ihnen sonst das Geld nicht übergeben. Nun soll er das erfahren
müssen, unmittelbar vor dem Abschied. Er wird seinen Kindern die
ehrlose Handlung nicht verzeihen, er wird sie nie vergessen können.
Sich so von seinen Kindern trennen müssen, das ist ein namenloser
Schmerz für Eltern. Soll ich ihnen das Leid antun, um uns die hundert
Mark zu retten, was sagst du, Cäcilie?"

"Wenn ich auch 'ja' sagte, so glaube ich doch nicht, daß du es über
dich bringst," entgegnete Frau Pfäffling.

"Und du? Würdest du es über dich bringen? Würdest du schreiben, trotz
all dem Leid, was daraus entstehen muß?"

"Ich würde vielleicht denken, früher oder später werden die Eltern doch
erfahren, wie ihre Söhne sind, und für die Jungen selbst wäre es
heilsam, wenn der Betrug nicht ohne Strafe für sie hinginge. Überdies
ist ja immerhin die Möglichkeit, daß wir einen falschen Verdacht haben
und das Geld vergessen oder verloren wurde, obwohl ich mir dann die
unwahre Aussage der Söhne über die verschobene Abreise nicht erklären
könnte. Die hundert Mark sind uns auch gar so nötig."

"Also du würdest schreiben, Cäcilie?"

Sie besann sich einen Augenblick und sagte dann: "Ich weiß nicht, ich
würde meinen Mann fragen." Darauf hin ging Herr Pfäffling noch eine
Weile überlegend auf und ab. Die Augen seiner großen Kinder folgten ihm
mit Spannung. Sie waren alle empört über den Betrug, der an ihrem Vater
begangen war, hatten alle den Wunsch, der Vater möchte schreiben. Aber
sie wagten nicht, darein zu reden. Nun machte der Vater halt, blieb vor
der Mutter stehen und sagte bestimmt: "Hundert Mark lassen sich
verschmerzen, nicht aber die Schande der Kinder. Wir wollen das
kleinere Übel auf uns nehmen. Du machst ja auch sonst Ernst mit dem
Wort: Den Nächsten lieben wie dich selbst." So blieb der Brief an den
russischen General ungeschrieben.

Aber ein anderer Brief wurde in dieser Nacht abgefaßt. In ihrem kalten
Schlafzimmer bei schwachem Kerzenlicht hockten Karl, Wilhelm und Otto
beisammen und schrieben an die Söhne des Generals. Ihrer Entrüstung
über die schnöde Handlungsweise gaben sie in kräftigen Worten Ausdruck,
den Edelmut des Vaters, der aus Rücksicht auf den General diesem die
Schandtat nicht verraten wollte, priesen sie in begeisterten Worten,
schilderten dann die vielen Entbehrungen, die die Eltern sich auflegen
mußten, wenn eine so große Summe wegfiel, und wandten sich am Schluß
mit volltönenden Worten an das Ehrgefühl der jungen Leute mit der
Aufforderung, das Geld zurückzuerstatten. Otto mußte mit seiner
schönen, schulgemäßen Handschrift den Brief ins Reine schreiben und
dann setzten alle drei ihre Unterschrift darunter. Sie adressierten an
Feodor, den älteren der beiden Brüder, die Berliner Adresse hatten sie
gelesen, es fehlte nichts mehr an dem Brief, morgen auf dem Weg zur
Schule konnte er in den Schalter geworfen werden. Mit großer innerer
Befriedigung legten sie sich nun in ihre Betten; auf diesen Ausruf hin
mußte das Geld zurückkommen, an dem Erfolg war gar nicht zu zweifeln,
und welche Überraschung, welche Freude mußte das geben!

Es ist aber merkwürdig, wie die Dinge bei nüchternem Tageslicht so ganz
anders erscheinen als in der Abendbeleuchtung. Als die Brüder am
nächsten Morgen auf dem Schulweg waren, warf Karl die Frage auf: "Warum
lassen wir eigentlich den Vater unsern Brief nicht vorher lesen?"
Wilhelm und Otto wußten Gründe genug. "Weil sonst keine Überraschung
mehr dabei ist; weil die Eltern so ängstlich sind und keinen Verdacht
äußern wollen, während doch alles so klar wie der Tag ist; weil der
Vater die schönsten Sätze über seinen Edelmut streichen würde; weil
dann wahrscheinlich aus dem ganzen Einfall nichts würde; nein, wenn man
wollte, daß der Brief abging, so mußte man ihn heimlich abschicken,
nicht lange vorher fragen."

Aber das Heimliche, das eben war Karl zuwider. Am ersten Schalter warf
er den Brief nicht ein, es kamen ja noch mehrere auf dem Schulweg. Aber
die Brüder drangen in ihn: "Jede Überraschung muß heimlich gemacht
werden, sonst ist's ja keine; du bist immer so bedenklich und
ängstlich, was kann denn der Brief schaden? Gar nichts, im schlimmsten
Fall nützt er nichts, aber schaden kann er nichts, das mußt du selbst
sagen." Karl wußte auch nicht, was er schaden sollte, und dennoch
wollte er durchaus auch beim zweiten Schalter den Brief nicht
herausgeben. "Die Eltern sind immer so sehr gegen alles Heimliche,"
sagte er, "und es ist wahr, daß schon oft etwas schlimm ausgegangen
ist, was wir heimlich getan haben. Ihr habt gut reden: wenn die Sache
schief geht, heißt es doch: Karl, du bist der Älteste, du hättest es
nicht erlauben sollen." Allmählich brachte er mit seinem Bedenken Otto
auf seine Seite, nur Wilhelm blieb dabei daß sie ganz übertrieben
ängstlich seien, und machte bei dem dritten und letzten Schalter einen
Versuch, Karl den Brief zu entreißen. Es gelang aber nicht, und da nun
Schulkameraden sich anschlossen, mußte die Schlußberatung auf den
Heimweg verschoben werden. Das Ende derselben war: sie wollten der
Mutter von dem Brief erzählen, wie wenn dieser schon abgeschickt wäre.
Hatte sie dann nur Freude darüber, dann konnte man ihn ruhig einwerfen,
hatte sie Bedenken, so konnte man ihn vorzeigen. So wurde Frau
Pfäffling zugeflüstert, sie möchte nach Tisch einen Augenblick in das
Bubenzimmer kommen. Dort fand sie ihre drei Großen, die ihr nun
ziemlich erregt und meist gleichzeitig von dem Brief erzählten, den sie
gestern noch bei Nacht geschrieben, an den jungen Feodor adressiert und
heute morgen auf dem Schulweg mitgenommen hätten. Die kräftigen
Ausdrücke der Verachtung gegen die Handlungsweise der jungen Russen und
die Beschwörung, das Geld zurückzuerstatten, wurden fast wörtlich
angeführt.

Im ersten Augenblick hörte Frau Pfäffling mit Interesse zu, aber dann
veränderte sich plötzlich ihr Ausdruck, sie sah angstvoll, ja fast
entsetzt auf die drei Jungen und wurde ganz blaß. Sie erschraken über
diese Wirkung und verstummten.

"Kinder, was habt ihr getan," rief die Mutter schmerzlich, "wenn ihr
auch an Feodor adressiert habt, die Briefe bekommen doch die Eltern in
die Hand, die Söhne sind wohl gar nicht mehr bei ihnen im Hotel,
sondern in der Erziehungsanstalt und das könnt ihr glauben, der General
übergibt keinen Brief mit fremder Handschrift an seine Söhne, ohne ihn
zu lesen. Nun erfährt er durch euch auf die schroffste Weise eben das,
was der Vater vor ihm verbergen wollte. Es ist unverantwortlich, euch
so einzumischen in das, was euch nichts angeht!"

Die Kinder hatten der Mutter, als sie ihren Schrecken sahen, schon ins
Wort fallen, sie beruhigen wollen, aber Frau Pfäffling war nicht
begierig, Entschuldigungen zu hören, und anderes glaubte sie nicht
erwarten zu können. Da drückte ihr Karl den Brief in die Hand und rief:
"Fort ist der Brief noch nicht, Mutter, da hast du ihn, erschrick doch
nicht so!"

"Gott Lob und Dank," rief Frau Pfäffling, "habt ihr nicht gesagt, er
sei schon abgesandt? O Kinder, wie bin ich so froh! Es wäre mir
schrecklich gewesen für den Vater, für den General und auch für euch,
denn wir hätten nie mehr etwas in eurer Gegenwart besprochen, hätten
alles Vertrauen in euch verloren, wenn ihr euch heimlich in solche
Dinge mischt!" Sie standen beschämt, denn wie waren sie doch so nahe
daran gewesen, das Heimliche zu vollbringen!

"Später, wenn ich Zeit habe, will ich den Brief lesen," sagte Frau
Pfäffling, "ich kann mir ja denken, daß ihr empört seid über die jungen
Leute, aber was nur ein Verdacht ist, darf man nicht aussprechen, wie
wenn es Gewißheit wäre. Wißt ihr nicht, daß oft schon die klügsten
Richter einen Menschen verurteilt haben, weil der schwerste Verdacht
gegen ihn vorlag, und später stellte sich doch heraus, daß er
unschuldig war? Man kann da gar nicht vorsichtig genug sein."

Herr Pfäffling bekam den Brief zu lesen. Er wurde nachdenklich darüber.
"So, wie die Kinder gerne geschrieben hätten," sagte er zu seiner Frau,
"so kann man freilich nicht schreiben. Aber der Gedanke, sich an die
Söhne zu wenden, ist vielleicht nicht schlecht. Bisher waren sie noch
unter der steten Aufsicht der Eltern, ich wüßte nicht, wie sie in
dieser Zeit das unterschlagene Geld hätte verausgaben sollen. Ich müßte
an sie schreiben, sobald der General und seine Frau abgereist sind. Der
Abschied wird den jungen Leuten gewiß einen tiefen Eindruck machen, der
General wird ernste Worte mit ihnen reden. Wenn sie in dieser Stimmung
einen Brief von mir erhalten und sehen, wie ich ihre Eltern gerne
schonen möchte, ist es nicht unmöglich, daß sie ihr Unrecht wieder gut
machen. Sie mögen ja schwach sein und leicht einer Versuchung
unterliegen, aber sie sind auch weichen Gemüts und zum Guten zu
bestimmen, ich will wenigstens den Versuch machen."

Frau Pfäffling saß in dieser Zeit viel am Bett der kleinen
Masernkranken. Ihr Mann mußte das Krankenzimmer meiden um seiner
Schüler willen. Aber wie eine Erscheinung stand er eines Tages
plötzlich vor ihr, warf ihr eine Handvoll Geld in den Schoß, rief
vergnügt: "Das Russengeld" und war in demselben Augenblick schon wieder
verschwunden.

Seine drei großen Jungen rief er zu sich, las ihnen den reuevollen
Brief der jungen Leute vor und gab in seiner Freude jedem der Drei ein
kleines Geldstück, weil sie ihn durch ihren Brief auf einen guten
Gedanken gebracht hatten. Aber Wilhelm wollte es nicht annehmen. War er
es doch gewesen, der darauf beharrt hatte, den Brief, ohne vorher zu
fragen, einzuwerfen. "Vater," sagte er, "du weißt nicht so genau, wie
die Sache zugegangen ist. Ich bin schon froh, daß nur kein Unheil
entstanden ist aus unserm Brief, eine Belohnung will ich lieber nicht
nehmen, die hat nur Karl verdient, gib sie nur ihm."

Noch am selben Abend erhielt der Ohrenarzt sein Geld, mit einer
Entschuldigung über die Verzögerung und der aufrichtigen Bemerkung, daß
es Herrn Pfäffling nicht früher möglich gewesen sei, die Summe
zusammenzubringen.

Der Arzt saß schon mit seiner Gemahlin beim Abendessen. "Ist denn der
Pfäffling nicht der Direktor der Musikschule, der neulich einen Ball
gegeben hat?"

"Bewahre, du bringst auch alles durcheinander," sagte die Gattin, die
sich nicht durch Liebenswürdigkeit auszeichnete. "Der Pfäffling ist ja
bloß Musiklehrer. Es ist doch der, von dem man einmal erzählt hat, daß
er seine zehn Kinder ausschickt, um Wohnungen zu suchen, weil niemand
die große Familie aufnehmen wollte."

"O tausend!" rief der Doktor, "wenn ich das gewußt hätte, dem hätte ich
keine so gesalzene Rechnung geschickt!"

"Du verwechselst auch alle Menschen!"

"Die Menschen nicht, bloß die Namen; der Direktor heißt ganz ähnlich."

"Gar nicht ähnlich."

"Nicht? Ich meine doch. Wie heißt er eigentlich?"

"Mir fällt der Name gerade nicht ein, aber ähnlich ist er gar nicht."

"Doch!"

"Nein!"

Nachdem sie noch eine Weile über die Ähnlichkeit eines Namens
gestritten hatten, den sie beide nicht wußten, schob der Arzt das Geld
ein mit einem bedauernden: "Ändern läßt sich da nichts mehr."

Elschens Krankheit war gnädig vorübergegangen. Sie war wieder außer
Bett, hatte aber noch Hausarrest und viel Langeweile. So freute sie
sich über den heutigen Lichtmeßfeiertag, an dem die Geschwister
schulfrei waren. Am Nachmittag machte sie sich an Frieder heran, der
geigend in der Küche stand, und bat schmeichelnd, daß er nun endlich
aufhöre und mit ihr spiele. Er nickte nur und spielte weiter. Sie
wartete geduldig. Endlich mahnte ihn Walburg: "Frieder, hör auf, du
hast schon zu lang gespielt. Frieder, der Vater wird zanken." Da gab er
endlich nach, und Elschen folgte ihm fröhlich in das Musikzimmer, wo
die Violine ihren Platz hatte. Als Frieder aber sah, daß der Vater gar
nicht zu Hause war, nahm er schnell die Violine wieder zur Hand und
spielte. "Du Böser!" rief die kleine Schwester und Tränen der
Enttäuschung traten ihr in die Augen. Als aber nach einer Weile draußen
die Klingel ertönte, sah man ihr schon wieder die Angst für den Bruder
an: "Der Vater kommt!" rief sie und sah gespannt nach der Türe. Aber
ehe diese aufging, war Frieder mit seiner Violine durch die andere Türe
hinausgegangen und nun flüchtete er sich in das Bubenzimmer und spielte
und spielte. Da holte sich Elschen den Bruder Karl zur Hilfe.
"Frieder," sagte er, "ich rate dir, daß du jetzt augenblicklich
aufhörst, du hast gewiß schon drei Stunden gespielt!" Da machte der
leidenschaftliche Geiger ein finsteres Gesicht, wie es noch niemand an
dem guten, kleinen Kerl gesehen hatte, und sagte trutzig zu Karl: "Ich
kann jetzt nicht aufhören, ich spiele bis ich fertig bin."

In diesem Augenblick kam Frau Pfäffling herein, da stürzte sich Elschen
weinend auf sie zu und rief: "Alle sagen ihm, er soll aufhören und er
tut's doch nicht, vielleicht hört er gar nie mehr auf, sieh ihn nur
an!"

Aber durch diesen verzweifelnden Ausruf der Kleinen und vielleicht noch
mehr durch den Anblick der Mutter kam Frieder zu sich, ließ die Geige
sinken, legte den Bogen aus der Hand und senkte schuldbewußt den Kopf.

"Hast du gewußt, daß es über die Zeit ist und hast dennoch
weitergespielt?" fragte Frau Pfäffling. "Das hätte ich nicht von dir
gedacht, Frieder, wenn du über deiner Violine allen Gehorsam vergißt,
dann ist's wohl besser, das Geigenspiel hört ganz auf. Bleib hier, ich
will hören, was der Vater meint."

Frau Pfäffling ging hinaus, Frieder blieb wie angewurzelt stehen. Die
Geschwister sammelten sich allmählich um ihn, sie berieten, was
geschehen würde, drangen in ihn, er solle gleich um Verzeihung bitten,
und als nun die Eltern miteinander kamen, war eine schwüle Stimmung im
Zimmer. Frieder wagte kaum aufzusehen, aber trotzig schien er nicht,
denn er sagte deutlich: "Es ist mir leid."

"Das muß dir freilich leid sein, Frieder!" sagte der Vater. "Wenn du
bloß im Eifer vergessen hättest, daß du über die Zeit spielst, dann
könnte ich dir das leicht verzeihen, aber wenn du erinnert wirst, daß
du aufhören solltest und magst nicht folgen, wenn du mit aller Absicht
tust, was ich dir schon oft streng verboten habe, dann ist's aus mit
dem Geigenspiel. Was meinst du, wenn ihr Kinder alle nicht folgen
wolltet, wenn jeder täte, was ihm gut dünkt? Das wäre gerade, wie wenn
bei dem Orchester keiner auf den Dirigenten sähe, sondern jeder
spielte, wann und was er wollte. Nein, Frieder, meine Kinder müssen
folgen, mit deinem Violinspiel ist's vorbei, ich will nicht sagen für
immer, aber für Jahr und Tag. Gib sie her!"

Frieder, der die Violine leicht in der Hand gehalten hatte, drückte sie
nun plötzlich an sich, verschränkte beide Arme darüber und wich einen
Schritt vom Vater zurück. Sie waren alle über diesen Widerstand so
bestürzt, daß es fast einstimmig über aller Lippen kam: "Aber Frieder!"

Herr Pfäffling sah mit maßlosem Erstaunen den Kleinen an, der immer der
gutmütigste von allen gewesen war und der jetzt tat, was noch keines
gewagt hatte, sich ihm widersetzte. Einen Moment besann er sich, und
dann, ohne nur dem zurückweichenden nachzugehen, streckte er rasch
seine langen Arme aus, hob den kleinen Burschen samt seiner Violine
hoch in die Luft und rief, indem er ihn so schwebend hielt: "Mit Gewalt
kommst du gegen mich nicht auf, merkst du das?" und ernst fügte er
hinzu, als er ihn wieder auf den Boden setzte: "Nun gib du mir
gutwillig deine Violine, Frieder!" Aber die Arme des Kindes lösten sich
nicht. Von allen Seiten, laut und leise, wurde ihm von den Geschwistern
zugeredet: "Gib sie her!" und als Frau Pfäffling sah, wie er das
Instrument leidenschaftlich an sich preßte, fragte sie schmerzlich:
"Frieder, ist dir deine Violine lieber als Vater und Mutter?" Der
Kleine beharrte in seiner Stellung.

"So behalte du deine Violine," rief nun lebhaft der Vater, "hier hast
du auch den Bogen dazu, du kannst spielen, solang du magst. Aber unser
Kind bist du erst wieder, wenn du sie uns gibst," und indem er die Türe
zum Vorplatz weit aufmachte, rief er laut und drohend: "Geh hinaus, du
fremdes Kind!" Da verließ Frieder das Zimmer.

Draußen stand er regungslos in einer Ecke des Vorplatzes, innen
schluchzten die Schwestern, ergriffen waren alle von dem Vorfall. Herr
Pfäffling ging erregt hin und her und dann hinaus in den Vorplatz, wo
er Walburg mit so lauter Stimme, daß es bis ins Zimmer drang, zurief:
"Das Kind da soll gehalten werden wie ein armes Bettelkind. Es darf
hier außen im Vorplatz bleiben, es kann da auch essen und man kann ihm
nachts ein Kissen hinlegen zum Schlafen. Geben Sie ihm den
Küchenschemel, daß es sich setzen kann. Es dauert mich, weil es keinen
Vater und keine Mutter mehr hat."

Hierauf ging er hinüber in sein Zimmer. Frau Pfäffling zog Elschen an
sich, die sich nicht zu fassen vermochte. "Sei jetzt still, Kind,"
sagte sie, "Frieder wird bald einsehen, daß er folgen muß. Wir lassen
ihn jetzt ganz allein, daß er sich besinnen kann. Er wird dem Vater die
Violine bringen, dann ist alles wieder gut."

Als die Zeit des Nachtessens kam, deckten die Schwestern auch für
Frieder. Sie rechneten alle, daß er kommen würde. Herr Pfäffling, der
zum Essen gerufen war, ging zögernd, langsam an Frieder vorbei, der als
ein jammervolles Häufchen auf dem Schemel saß und die Gelegenheit, die
ihm der Vater geben wollte, vorübergehen ließ. Er kam nicht zu Tisch.
"Tragt ihm zu essen hinaus, soviel er sonst bekommt," sagte Herr
Pfäffling, "der Hunger soll ihn nichts zu uns treiben, die Liebe soll
es tun und das Gewissen."

So aß der Kleine außen im Vorplatz und so oft die Zimmertüre aufging,
kamen ihm Tränen, denn er sah die Seinen um die Lampe am Tisch sitzen
und sein Platz war leer. Aber er hatte ja seine Violine, nach dem Essen
wollte er spielen, immerzu spielen.

Im Zimmer horchten sie plötzlich auf. "Er spielt!" flüsterte eines der
Kinder. Von draußen erklang ein leiser Geigenton. Sie lauschten alle.
Drei Striche—dann verstummte die Musik. Die drei Töne hatten Frieder
wehgetan, er wußte nicht warum. Der kleine Geiger hatte früher noch nie
mit traurigem Herzen nach seinem Instrument gegriffen, darum hatte er
auch keine Ahnung davon, wie schmerzlich die Musik das Menschenherz
bewegen kann.

Nach einer Weile begann er noch einmal zu spielen, aber wieder brach er
mitten darin ab. Denen, die ihm zuhörten, ging es nahe, vor allem den
Schwestern.

"Die Marianne möchte hinaus zu Frieder," sagte die Mutter. Herr
Pfäffling verwehrte es nicht. Sie fanden ihn auf dem Schemel kauernd,
wie er die Geige auf seinen Knieen liegend mit schmerzlichem Blick
ansah. Sie setzten sich zu ihm und flüsterten mit ihm. Eine Weile
später, als Herr Pfäffling in seinem Musikzimmer war, kam ein
sonderbarer Zug zu ihm herein: Voran kam Frieder und trug mit beiden
Händen etwas, das eingehüllt war in Mariannens großen, schwarzgrauen
Schal. Es war fast wie ein kleiner Sarg anzusehen; ernst genug sah auch
der kleine Träger aus, die Schwestern folgten als Trauergeleite.

"Da drinnen ist die Violine," sagte Frieder zu seinem Vater, der
fragend auf die merkwürdige Umhüllung sah. Da nahm ihm Herr Pfäffling
rasch den Pack ab, legte ihn beiseite, ergriff seinen kleinen Jungen,
zog ihn an sich und sagte in warmem Ton: "Nun ist alles gut, Frieder,
und du bist wieder unser Kind!" Und Frieder weinte in des Vaters Armen
seinen Schmerz aus.

Später erst vertrauten die Schwestern dem Vater an: "Solang Frieder
seine Violine gesehen hat, war es ihm zu schwer, sie herzugeben, erst
wie wir sie zugedeckt haben und ganz eingewickelt, hat er sie nimmer
mit so traurigen Augen angesehen!"

Als Frieder längst schlief, sprachen seine Eltern noch über ihn. "Wie
kann man nur so leidenschaftliche Liebe für die Musik haben," sagte
Frau Pfäffling, "mir ist das ganz unverständlich."

"Von dir hat er es wohl auch nicht," entgegnete Herr Pfäffling und
fügte nachdenklich hinzu: "Ganz ohne Musik kann ich ihn nicht lassen,
das wäre, wie wenn ich einem Hungrigen die Speise versagen wollte. Ich
denke, am besten ist, ich lehre ihn Klavierspielen. Danach hat er bis
jetzt kein Verlangen und wird es leichter mit Maßen treiben."

"Ja, und lernen muß er es doch, denn daran wird man kaum zweifeln
können, daß er einmal ein Musiker wird."

Unser Musiklehrer sagte schwermütig: "Es wird wohl so kommen."



12. Kapitel
Ein Haus ohne Mutter.


So ganz allmählich und unmerklich war es gekommen, daß von Frau
Pfäfflings Reise zur Großmutter gesprochen wurde als von einer
ausgemachten Sache, obwohl niemand hätte sagen können, an welchem Tag
sie die Ansicht aufgegeben hatte, daß die Reise ganz unmöglich sei.

Nur "auf alle Fälle" entschloß sie sich zum Einkauf eines
Kleiderstoffs, und als die Schneiderin das Kleid anfertigte, hörte man
Frau Pfäffling sagen: "Nicht zu lang, damit es nötigenfalls auch als
Reisekleid praktisch ist."

"Auf alle Fälle" nahm sie eines Tages das Kursbuch zur Hand, um zu
sehen, wie sich die Reise praktisch machen ließe, und was sie gesehen,
trug sie "auf alle Fälle" in ihr Notizbuch ein. Wer wird aber nicht
reisen, wenn das Reisekleid fertig im Schrank hängt und die besten
Zugverbindungen herausgefunden sind? So war es denn wirklich soweit
gekommen, daß sich Frau Pfäffling anfangs Februar für einen bestimmten
Tag bei ihrer Mutter ansagte. Darauf erfolgte eine Karte, die mit
herzlichem Willkommruf begann und mit der Anfrage schloß, ob Frau
Pfäffling nicht mit leichterem Herzen reisen würde, wenn sie ihr
Elschen mitnähme? Das Kind zahle ja nur den halben Fahrpreis.

Diese Karte, die Herr Pfäffling im Zimmer vorlas, brachte große
Aufregung in die Kinderschar, und ungefragt gaben sie alle ihre Gefühle
und Meinungen kund, bis der Vater die Türe weit aufmachte und den
ganzen aufgeregten Schwarm hinausscheuchte.

"Du hättest es gar nicht vor den Kindern vorlesen sollen, ehe wir
entschlossen sind," sagte Frau Pfäffling.

"Freilich, aber ich kann dich auch nicht bei jeder Gelegenheit zu mir
herüberrufen, und wo du bist, sind immer ein paar Kinder."

"Ja, ja," erwiderte Frau Pfäffling lächelnd, "und warten, bis sie in
der Schule sind oder bis am Abend, warten kann man nicht, wenn man
Pfäffling heißt!"

Sie berieten zusammen, waren sehr bald entschlossen und riefen die
Kinder zurück. Frau Pfäffling sah den Blick der Kleinen gespannt auf
sich gerichtet. Sie zog das Kind an sich. "Es kann nicht sein,
Elschen," sagte sie, "und ich will dir auch erklären warum. Bei einer
so weiten Reise ist auch der _halbe_ Fahrpreis schon teuer und selbst,
wenn ihn die gute Großmutter für dich zahlen wollte, könnte ich dich
doch nicht mitnehmen, denn wer sollte denn daheim die Türe aufmachen,
wenn es klingelt, während alle in der Schule sind? Walburg hört das ja
nicht und sie versteht nicht, was die Leute sagen, die kommen. Du mußt
unsere Pförtnerin sein, solange ich fort bin; wenn du nicht daheim
wärest, könnte ich gar nicht reisen."

Das kleine Jüngferchen war verständig, es sah ein, daß es zurückbleiben
mußte. Der Traum hatte nur kurz gedauert und war undeutlich gewesen,
denn was wußte Elschen von fremden Ländern und Menschen, von Reiselust
und Erlebnissen? Für sie war die Heimat noch die Welt, die Neues und
Merkwürdiges genug brachte. So kam es zur Verwunderung der großen
Geschwister nicht einmal zu ein paar Tränen bei der kleinen Schwester,
die doch heute nach Tisch geweint hatte, weil sie nicht mit hinunter
gedurft hatte auf die Balken in dem nassen Hof!

Der letzte Tag vor der Abreise war gekommen, Frau Pfäffling war es
schwer ums Herz. Gut, daß Tag und Stunde längst festgesetzt waren,
sonst hätte sie ihren Koffer wohl wieder ausgepackt. Aber sie wußte,
wie sehnlich sie erwartet wurde, es gab kein Zurück mehr, es mußte
jetzt sein. Geschäftig ging sie heute, alles voraus bedenkend, hin und
her im Haus. Aber überall, wo sie auch war, in Küche, Keller und
Kammern, folgte ihr Frieder. Er störte sie nicht, wenn sie räumte,
überlegte oder anordnete, er verlangte nichts, als bei ihr zu sein,
nahe, so nahe wie möglich. Sie spürte sein Heimweh. Es war ein langes,
stummes Abschiednehmen. Einmal kam es auch zur Aussprache, in einem
Augenblick, wo sie oben, in der Bodenkammer, allein mit ihm war.

"Mutter, gelt, du glaubst das nimmer, was du neulich gesagt hast?"

"Was denn, Kind?"

Es wollte nicht über seine Lippen.

"Was, mein Kind, komm, sage es mir!"

"Daß ich die Violine lieber habe als dich und den Vater."

"Nein, Herzkind, das glaube ich schon lange nimmer, du hast ja dem
Vater deine Violine gegeben. Ich weiß gut, wie lieb du uns hast. Darum
tut dir ja auch der Abschied weh. Aber es muß doch auch einmal sein,
daß ich zu meinem eigenen Mütterlein wieder gehe, eben weil man seine
Mutter so lieb hat, das verstehst du ja. Und denke nur, das
Freudenfest, wenn wir wieder zusammen kommen! Wie wird das köstlich
werden!"

So tröstete die Mutter den Kleinen und tröstete sich selbst zugleich.

Und dann nahm sie die Gelegenheit wahr und sprach mit Karl allein ein
Wort: "Nimm dich ein wenig um Frieder an, er ist immer noch traurig
wegen seiner Violine, darum fällt ihm auch der Abschied besonders
schwer."

"Ja, er geigt oft ohne Violine ganz in der Stille, Mutter, hast du es
schon gesehen? Er stellt sich so hin, wie wenn er seine Geige hätte,
neigt den Kopf nach links, biegt den Arm und streicht mit dem rechten,
wie wenn er den Bogen führte, und dann hört er die Melodien, das sieht
man ihm gut an. Da tut er mir oft leid."

"Ja, mir auch. Aber morgen, wenn ich fort bin, will ihm der Vater die
erste Klavierstunde geben, darüber wird er die Violine vergessen. Und
wenn nun der Schnee vollends geschmolzen ist und ihr wieder am
Kasernenhof turnen könnt, dann nimm nur auch Frieder dazu und mache ihm
Lust. Und noch etwas: ich meine, deine Mathematikstunden mit Wilhelm
werden nimmer regelmäßig eingehalten."

"O doch, Mutter."

"Oder sie sind so kurz, daß man nicht viel davon bemerkt?"

"Das kann sein, auf die Uhr schauen wir gewöhnlich nicht."

"Ich glaube, eure Stunde hat manchmal nur fünfzehn Minuten; das ist
aber nicht genug, ihr müßt eure Zeit einhalten; denke nur, wenn Wilhelm
wieder eine so schlechte Note bekäme!"

"Die bekommt er nicht noch einmal, Mutter, du kannst dich darauf
verlassen!"

Bald nachher rief Frau Pfäffling Wilhelm und Otto zu sich hinunter in
die Holzkammer.

"Ihr habt ja gar keinen Vorrat gespaltenes Holz mehr," sagte sie,
"daran dürft ihr es nicht fehlen lassen, solange ich fort bin. Walburg
muß in dieser Zeit alle meine Arbeit tun, sie kann nicht auch für Holz
und Kohlen sorgen."

Und nun ging's an die Mädchen. "Marianne, ihr müßt Walburg soviel wie
möglich alle Gänge abnehmen, solange ich fort bin."

"Ja, ja, Mutter, das tun wir doch immer!"

"Manchmal sagt ihr doch: wir haben zuviel Aufgaben, oder: wir haben die
Stiefel schon ausgezogen. Ihr müßt lieber die Stiefel dreimal aus- und
anziehen, als es darauf ankommen lassen, daß Walburg mitten am
Vormittag vom Kochen fortspringen muß."

So ging der letzte Tag mit Vorsorgen und Ermahnungen aller Art hin und
am Morgen der Abreise, schon im Reisekleid, nahm Frau Pfäffling noch
einmal Nadel und Fingerhut zur Hand, um einen eben entdeckten Schaden
an einem Kinderkleid auszubessern. Sie sorgte noch auf dem Weg zur
Bahn, ja aus dem Wagenfenster kamen noch hausmütterliche Ermahnungen,
bis endlich der Zug durch eine kaum hörbare erste Bewegung zur fertigen
Tatsache machte, daß Frau Pfäffling verreist war.

Sie konnte ihre Gedanken nicht gleich losmachen, die gingen noch eine
Weile im alten Geleise. Dann kam die Einsicht, daß all dies Denken ihr
selbst nur das Herz schwer machen und den Zurückgebliebenen nichts
nützen konnte. Zugleich verschwanden auch die letzten Häuser und
Anlagen der Stadt, freie, noch mit Schnee bedeckte Äcker und Felder
tauchten auf, eine stille, einförmige Natur. Da machte sie es sich
bequem in dem Wagen, lehnte sich behaglich zurück, ergab sich darein,
daß sie nicht sorgen und nichts leisten konnte, und empfand eine
wohltuende Ruhe, ein Gefühl der Erholung, während sie der Stätte ihrer
Tätigkeit mit gewaltiger Eile immer weiter entführt wurde.

Manches Dorf war schon an Frau Pfäffling vorübergesaust, bis ihr Mann
mit den Kindern nur wieder in die Frühlingsstraße zurückgekehrt war.
Sie machten sich an ihre Arbeit wie sonst und alles ging seinen
geregelten Gang. Nur Elschen lief an diesem Vormittag mit Tränen durch
die stillen Zimmer, die andern empfanden die Lücke erst so recht bei
dem Mittagessen. Es verlief auffallend still. Eigentlich war ja Frau
Pfäffling keine sehr gesprächige Frau, ihr Mann und ihre Kinder waren
lebhaftere Naturen; heute hätte man das Gegenteil glauben können, eine
so schweigsame Mahlzeit hatte es noch selten an diesem Tisch gegeben.
Freilich war der Vater auch von der ihm ungewohnten Beschäftigung
hingenommen, das Essen auszuteilen. Er merkte jetzt erst, wieviel das
zu tun machte, und es dauerte gar nicht lange, so führte er den Brauch
ein, daß Karl für Wilhelm die Suppe ausschöpfen mußte, Wilhelm für Otto
und so nacheinander herunter, immer das ältere unter den Geschwistern
dem jüngern. Anfangs machte es den Kindern Spaß, aber es ging nicht
immer so friedlich und so säuberlich zu wie bei der Mutter, und Walburg
wunderte sich, daß sie bald eine noch fast gefüllte, bald eine ganz
leere Suppenschüssel abzutragen hatte; da war gar kein regelmäßiger
Verbrauch mehr wie bisher.

Ganz kurios erschienen Herrn Pfäffling und Karl die späten
Abendstunden, wo sie allein beisammen saßen. Sie waren sich so nahe
gerückt und wußten doch nicht viel miteinander anzufangen, so glich das
Zimmer oft einem Lesesaal, in dem die Vorschrift befolgt wird: Man
bittet, nicht zu sprechen. Das wurde aber besser nach den ersten Tagen.
Es kamen ja auch Briefe von der Mutter, und diese bildeten ein
gemeinsames Interesse zwischen Vater und Sohn.

Die Briefe brachten gute Nachrichten. Es war ein beglückendes
Wiedersehen zwischen Mutter, Tochter und Geschwistern, wenn auch nicht
ganz ohne Wehmut. Was war es für ein gealtertes, pflegebedürftiges
Großmütterlein, das da im Lehnstuhl saß, nicht mehr imstande, ohne
Hilfe von einem Zimmer in das andere zu gehen! Und wiederum, wo war
Frau Pfäfflings Jugendblüte geblieben? Welch deutliche Spuren hatte die
Mühsal des Lebens auf ihren feinen Zügen eingegraben!

Aber dieser erste wehmütige Eindruck verwischte sich bald. Schon nach
einigen Stunden hatten sie sich an die Veränderung gewöhnt und fanden
wieder die geliebten, vertrauten Züge heraus. Es war auch kein Grund zu
trauriger Empfindung da, denn die _alte_ Frau hatte keine Schmerzen zu
leiden, sie genoß dankbar ein friedliches Alter unter der treuen Pflege
der unverheirateten Tochter, die bei ihr und für sie lebte. Und die
_junge_ Frau, wenn man Frau Pfäffling noch so nennen wollte, sprach mit
solcher Liebe von ihrem großen Familienkreis und schien so gereift
durch reiche Lebenserfahrung, daß es allen deutlich zum Bewußtsein kam,
das Leben habe ihr mit all seiner Mühe und Arbeit Köstliches gebracht.

Am wenigsten verändert hatte sich Frau Pfäfflings Schwester, Mathilde,
die noch ebenso frisch und kräftig erschien, wie vor Jahren. Sie führte
die Schwester in das freundliche, sonnig gelegene und wohldurchwärmte
Gastzimmer, zog sie an sich, küßte sie herzlich und sagte: "Cäcilie,
nun soll dir's gut gehen! Du wirst sehen, wie ich dich pflege!"

"Ich bin ja gar nicht krank, Mathilde."

"Nein, das ist ja eben das Gute, daß du nur überanstrengt bist. Nichts
tue ich lieber als solche abgearbeitete Menschenkinder zur Ruhe bringen
und herausfüttern. Es ist eine wahre Lust, zu sehen, wie rasch das
anschlägt, da kann man viel erreichen in vier Wochen."

Frau Pfäffling wurde nachdenklich. "Mathilde," sagte sie, "kannst du
das nicht in _drei_ Wochen erreichen?"

"Warum? Nein, das ist zu kurz, du hast doch vier Wochen Urlaub?"

"Ja, mein Mann und die Kinder denken auch gar nicht anders, als daß ich
vier Wochen wegbleibe, aber ich selbst habe mir im stillen von Anfang
an vorgenommen, nach drei Wochen zurückzukommen, und habe gehofft, daß
du mich darin unterstützest, denn sieh, es ist zu lange, einen solchen
Haushalt, Mann, sieben Kinder und ein fast taubes Mädchen zu verlassen.
Es kommt so oft etwas vor bei uns!"

"Was soll denn vorkommen? Was fürchtest du?"

"Das kann ich dir nicht sagen, ich weiß es ja selbst nicht vorher, aber
es ist so. Bald schreiben die Kinder einen Brief, der unangenehme
Folgen haben könnte, bald hört einer nicht auf zu musizieren, wenn er
einmal anfängt, und selbst, wenn nichts Besonderes vorkäme, das
Alltägliche bringt schon Schwierigkeiten genug: Elschen muß vormittags
immer allein die Türe aufmachen und Bescheid geben, das ist unheimlich
in einer großen Stadt. Und wenn du immer noch nicht überzeugt bist,
Mathilde, dann will ich dir noch etwas sagen: Ich meine, wenn mein Mann
einundzwanzigmal mit Karl abends allein am Tisch gesessen ist, so ist
das wirklich genug und es wäre an der Zeit, daß ich wieder käme!"

"So sollen wir dich ziehen lassen, ehe nur dein Urlaub abgelaufen ist?"

"Ich habe mir das so nett ausgedacht und freue mich darauf, Mathilde,
wenn ich etwa nach zwei Wochen heimschreibe, daß ich schon in der
nächsten Woche komme. Du kennst ja meinen Mann, er ist noch gerade so
lebhaft wie früher und die meisten unserer Kinder haben sein
Temperament. Da gibt es nun bei solch einer Nachricht immer gleich
einen Jubel, das solltest du nur einmal mit ansehen und hören können!"

Frau Pfäffling sah im Geist ihre fröhliche Schar, und ein glückliches
Leuchten ging über ihr Gesicht. In diesem Augenblick sah sie ganz
jugendlich, gar nicht pflegebedürftig aus.

Als die Schwestern das Gastzimmer verließen, hatten sie sich auf drei
Wochen geeinigt.

Die ersten Tage vergingen in stillem, glücklichem Beisammensein. Es war
für Frau Pfäffling eine Wonne, so ganz ohne häusliche Sorgen bei der
Mutter sitzen zu dürfen und zu erzählen. Teilnahme und volles
Verständnis war da zu finden für alles, was ihr Leben erfüllte, und
doch stand die Mutter selbst schon fast _über_ dem Leben. Einen weiten
Weg hatte sie in achtzig Jahren zurückgelegt und nun, nahe dem Ziel,
überblickte sie das Ganze wie aus der Ferne. Da sieht sich manches
anders an, als wenn man mitten darinsteht. Von der Höhe herab erkennt
man, was Irrwege sind oder richtige Wege, und wer hören wollte, der
konnte hier manch guten Rat für den eigenen Lebensweg bekommen. Frau
Pfäffling war von denen, die hören wollten.

In die zweite Woche ihres Aufenthalts fiel der achtzigste Geburtstag.
Zu diesem Familienfest fand sich unter andern Gästen auch Frau
Pfäfflings einziger Bruder ein mit seiner Frau und einer
fünfzehnjährigen Tochter, einem lieblichen, fein erzogenen Mädchen.
Diesen Bruder, der Professor an einer norddeutschen Universität war,
hatte Frau Pfäffling auch seit vielen Jahren nimmer gesehen, aber aus
der Ferne hatte eines an des andern Schicksal und Entwicklung stets
Anteil genommen, und so war es beiden eine besondere Freude, sich
einmal wieder ins Auge zu sehen.

"Wir müssen auch ein Stündchen herausfinden, um allein miteinander zu
plaudern," sagte der Bruder während des festlichen Mittagsmahls zu
seiner Schwester. Und als nach Tisch, während die Geburtstägerin ruhte,
eine Schlittenfahrt unternommen wurde, saßen Bruder und Schwester in
einem kleinen Schlitten allein. Hier, im nördlichen Deutschland, lag in
diesem Februar noch überall Schnee, die Bahn war glatt, die Kälte nicht
streng, die Fahrt eine Lust. Frau Pfäffling sah nach dem Schlitten
zurück, in dem mit andern Gästen ihre junge Nichte saß. "Wie reizend
ist sie," sagte Frau Pfäffling, "und so wohlerzogen. Wenn du meine
Kinder daneben sehen würdest, kämen sie dir ein wenig ungehobelt vor."

"Zum Abhobeln hast du wohl keine Zeit, meine Frau hat es leichter als
du, sie gibt sich auch viel Mühe mit der Erziehung."

"Ja, bei sieben geht es immer nur so aus dem gröbsten, und man wird
damit oft kaum fertig."

"Unsere drei haben trotzdem auch ihre Fehler. Sie streiten viel
miteinander, wie ist das bei euch?"

"Es kommt auch vor, aber meistens sind sie doch vergnügt miteinander.
Sie haben ihres Vaters frohe Natur und sind leicht zu erziehen, nur
sollte man sich eben mehr mit dem einzelnen abgeben können."

"Hat man für die deinigen zu wenig Zeit, so für die unserigen zu viel.
Ich fürchte, daß sie gar zu sorgfältig beachtet werden. Jederzeit ist
das Fräulein zu ihrer Verfügung, außerdem haben wir noch zwei
Dienstmädchen, und mit unserem Jungen werden sie oft alle drei nicht
fertig."

So besprachen die Geschwister in alter Vertraulichkeit miteinander die
häuslichen Verhältnisse, und dann wollte Frau Pfäffling Näheres hören
über einen Reiseplan, den ihr Bruder schon bei Tisch erwähnt hatte. Er
beabsichtigte in den Osterferien eine Reise nach Italien zu machen,
dabei durch Süddeutschland zu kommen und die Familie Pfäffling zu
besuchen.

An diesen Plan schloß sich noch ein weiterer an, den der Professor nach
dieser Schlittenfahrt faßte und zunächst mit seiner Frau allein
besprach. Wenn auf der einen Seite viele Kinder waren, auf der anderen
wenig, auf der einen Seite Zeit, Bedienung und Geld knapp, auf der
andern alles reichlich, warum sollte man nicht einen Ausgleich
versuchen? Bruder und Schwägerin machten den Vorschlag, einen der
jungen Pfäfflinge auf Jahr und Tag zu sich zu nehmen. Die Sache wurde
überlegt, und es sprach viel für den Plan. Frau Pfäffling wollte mit
ihrem Mann darüber sprechen, und wenn er einverstanden wäre, sollte der
Bruder auf der Osterreise sich selbst umsehen und wählen, welches der
Kinder am besten zu den seinigen passen würde. Das Auserlesene sollte
er dann auf der Heimreise gleich mit sich nehmen. Mit dieser Aussicht
auf ein baldiges Wiedersehen reiste der Bruder mit seiner Familie
wieder ab, und in der Umgebung der achtzigjährigen Mutter wurde es
still wie vorher.

Frau Pfäffling erhielt treulich Berichte von den Ihrigen, aber sie
erfuhr doch nicht alles, was daheim vor sich ging. Ihr Mann hatte die
Losung ausgegeben: "Nur was erfreulich ist, wird brieflich berichtet,
sonst ist der Mutter der Aufenthalt verdorben, alles andere wird erst
mündlich erzählt." So gingen denn Nachrichten ab über gelungene
Mathematikarbeiten und neue Klavierschüler, über einen Maskenzug und
Fastnachtskrapfen, über Frieders regelmäßiges Klavierspiel und über der
Hausfrau freundliche Teilnahme, aber worin sich zum Beispiel diese
Teilnahme Frau Hartwigs gezeigt hatte, das und manches andere blieb
verschwiegen.

Mit der Hausfrau hatte sich das so verhalten: Eines Mittags, als Herr
Pfäffling von der Musikschule heimkam, sprach ihn Frau Hartwig an:
"Haben Sie heute nacht nichts gehört, Herr Pfäffling, nicht ein Stöhnen
oder dergleichen?"

"Nein," sagte Herr Pfäffling, "ich habe gar nichts Auffallendes
gehört."

"Aber es muß doch aus Ihrer Wohnung gekommen sein. Nun ist es schon die
zweite Nacht, daß ich daran aufgewacht bin. Kann es sein, daß eines der
Kinder so Heimweh hat, daß es bei Nacht laut weint? Aus einem der
Schlafzimmer kommt der schmerzliche Ton. Irgend etwas ist nicht in
Ordnung, ich habe schon die Kinder danach gefragt, aber nichts erfahren
können."

"Das will ich bald herausbringen," sagte Herr Pfäffling und ging
hinauf. Er fragte zunächst nicht, sah sich aber bei Tisch aufmerksam
die Tafelrunde an. Frische, fröhliche Gesichter waren es, die nichts
verrieten von nächtlichem Kummer. Oder doch? Ja, eines sah allerdings
blaß und überwacht aus, ernst und fast wie von Schmerz verzogen. Das
war Anne. Ihr mußte etwas fehlen. Er beobachtete sie eine Weile und
machte sich Vorwürfe, daß er das bisher übersehen hatte. Wenn die
Mutter dagewesen wäre, die hätte es bemerkt, auch ohne der Hausfrau
Mitteilung.

Nach Tisch, als sich die Kinder zerstreut hatten, hielt er die
Schwestern zurück.

"Ist dir's nicht gut, Anne?" fragte er.

"O doch!" erwiderte sie rasch und wurde über und über rot.

"Du meinst wohl, in dem Punkt dürfe man lügen," entgegnete Herr
Pfäffling, "weil ich lieber höre, daß du wohl bist. Aber ich möchte
doch auch darüber gern die Wahrheit hören." Da senkte sie schon mit
Tränen in den Augen den Kopf, und Herr Pfäffling wußte, woran er war.

"Warum hast du denn geweint heute nacht?" fragte er, "wenn die Mutter
nicht da ist, müßt ihr mir euren Kummer anvertrauen." Das geschah nun
auch und er erfuhr, daß Anne wieder an Ohrenschmerzen litt. Diese waren
bei Nacht heftig geworden. Marie hatte ihr ein Mittel eingeträufelt,
das noch vom vergangenen Jahr dastand, und Umschläge gemacht, aber das
hatte alles nichts geholfen und erst gegen Morgen waren die Schwestern
eingeschlafen. So war es schon zwei Nächte gewesen. Sie hatten es dem
Vater verschweigen wollen, denn Anne mochte nicht zum Ohrenarzt
geschickt werden, sie fürchtete die Behandlung, fürchtete auch die
große Neujahrsrechnung.

Am Nachmittag saßen aber doch die zwei Schwestern im Wartezimmer des
Arztes. Der Vater hatte der Verzagten Mut gemacht und den Schwestern
vorgehalten, daß Anne so schwerhörig wie Walburg werden könnte, wenn
etwas versäumt würde.

Der Arzt erkannte das Zwillingspaar gleich wieder. Die zwei
Unzertrennlichen rührten ihn. Die gesunde Schwester sah gerade so
ängstlich aus wie die kranke, sie zuckte wie diese beim Schmerz, und
doch kam sie immer als treue Begleiterin. Diesmal konnte er beide
trösten. "Es ist nichts Schlimmes," sagte er, "das gibt keine so böse
Geschichte wie voriges Jahr. Aber das alte Mittel schüttet weg, das
macht die Sache nur schlimmer. Ich gebe euch ein anderes. Wenn eure
Mutter verreist ist, so kommt lieber alle Tage zu mir, ich will es
selbst einträufeln. Und sagt nur eurem Vater einen Gruß, und das gehe
noch auf die Rechnung vom vorigen Jahr, das ist Nachbehandlung, die
gehört dazu."

Darüber wurden die Schwestern so vergnügt, daß sie anfingen, mit dem
gefürchteten Arzt ganz vertraulich zu plaudern. So erfuhr er denn auch,
daß Anne nicht so taub werden wollte wie Walburg. "Hört die denn gar
nichts mehr?" fragte er.

"Uns versteht sie schon noch, wenn wir ihr etwas recht laut ins Ohr
sagen, aber es wird alle Jahre schlimmer."

"Geht sie nie zum Arzt?"

Davon hatten die Schwestern nicht reden hören, aber sie wußten ganz
gewiß, daß man ihr nicht helfen konnte.

"Manchmal kann man so ein Übel doch zum Stillstand bringen," sagte der
Arzt, "schickt sie mir nur einmal her, ich will danach sehen und sagt
daheim, das gehe auch noch in die alte Rechnung."

Die Schwestern konnten gar nicht schnell genug heimkommen, so freuten
sie sich, den guten Bescheid dem Vater mitzuteilen. Unverdrossen riefen
sie es auch Walburg ins Ohr, bis diese endlich verstand, daß es sich um
sie handelte, und ihren Auftrag erteilte: "Sagt nur dem Arzt, wenn
euere Mutter zurückkommt, werde ich so frei sein."

Das nächtliche Stöhnen war bald nimmer zu hören.

Die letzte Woche von Frau Pfäfflings Abwesenheit war angebrochen, zum
gestrigen Sonntag hatte sie die fröhliche Botschaft gesandt, daß sie
volle acht Tage früher heimkommen würde, als verabredet war.

In dieser Zeit wurde nie, wie sonst manchmal, vergessen, das Blättchen
vom Kalender rechtzeitig abzureißen. Sie sollte nur schnell vergehen,
diese letzte Februarwoche, zugleich die letzte Woche ohne die Mutter.

"Immer ist das Blatt schon weg, wenn ich zum Frühstück komme," sagte
einmal Karl, "das ist doch bisher mein Geschäft gewesen, wer tut es
denn so zeitig? Der Kalender gehört eigentlich mir." "Ich," sagte
Frieder, "ich habe es manchmal getan." "Du bist doch gar nicht vor mir
zum Frühstück gekommen?" Es wurde noch weiter nachgeforscht, und da
stellte es sich heraus, daß Frieder immer schon abends den
Kalenderzettel abzog und mit ins Bett nahm. "Du meinst wohl, es kommt
dann schneller der 1. März und die Mutter mit ihm?" sagte Karl und
wehrte dem kleinen Bruder nicht, dem war ja immer anzumerken, daß er
Heimweh hatte. Aber an diesem Montag morgen ging er vergnügt seinen
Schulweg mit den Geschwistern, die Heimkehr der Mutter war ja plötzlich
so nahegerückt.

Nur Elschen wurde heute die Zeit besonders lang, so allein mit Walburg;
ja im Augenblick war sie sogar ganz allein, denn am Samstag hatten die
jungen Kohlenträger und Holzlieferanten nicht genügend für Vorrat
gesorgt und Walburg mußte hinuntergehen, sich selbst welches zu holen.
Während dieser Zeit wurde geklingelt und Elschen lief herzu, um
aufzumachen. Ein Herr fragte nach Herrn Pfäffling, dann nach dessen
Frau und nach den Geschwistern. Als er hörte, daß sie alle fort seien,
bedauerte er das sehr und fragte, ob er wohl ein kleines Briefchen an
Herrn Pfäffling schreiben könne, er sei ein guter Bekannter von ihm,
und er wolle schriftlich ausmachen, wann er ihn wieder aussuchen würde.
Elschen führte den Herrn freundlich in des Vaters Zimmer an den
Schreibtisch, wo das Tintenzeug stand. "Es ist gut, liebes Kind," sagte
der Herr, "du kannst nun hinausgehen, daß ich ungestört schreiben kann,
den Brief für deinen Vater lasse ich hier liegen." Elschen verließ das
Zimmer. Nach einer ganz kurzen Weile kam der Herr wieder heraus.

"Sind Sie schon fertig?" fragte die Kleine verwundert. Aber sie bekam
keine Antwort, der Herr schien große Eile zu haben, ging rasch die
Treppe hinunter und hielt sich auch gar nicht bei Walburg auf, die eben
heraufkam.

"Wer war da?" fragte diese.

"Bloß ein Herr, der den Vater sprechen wollte," rief ihr Elschen ins
Ohr; weiteres von diesem Besuch zu erzählen war dem kleinen Persönchen
zu unbequem, Walburg verstand doch immer nicht recht. Aber beim
Mittagessen fiel ihr die Sache wieder ein und sie erzählte sie dem
Vater. Dem kam es verdächtig vor. "Wo ist denn der Brief?" fragte er.
Ja, wo war der Brief? Nirgends war einer zu finden! Und wo war denn—ja,
wo war denn das Geld, das in der kleinen Schublade jahraus, jahrein
seinen Platz hatte? Sie standen zu acht herum, der Vater mit allen
sieben, mit entsetzten Blicken stierten sie alle in den leeren Raum.
Oft schon war er dünn besetzt gewesen, aber so öde hatte es noch nie in
dieser Schublade ausgesehen, in die hinein, aus der heraus das kam, was
die Familie Pfäffling am Leben erhielt.

Ein Dieb, ein Betrüger, ein schändlicher Mensch hatte sich
eingeschlichen, hatte alles Geld genommen, nichts zurückgelassen,
keinen Pfennig fürs tägliche Brot!

Walburg wurde hereingeholt und über den "Herrn" ausgefragt. Man
brauchte ihr gar nichts ins Ohr zu rufen, die offenstehende leere
Schublade, die bestürzten Gesichter sprachen auch für sie deutlich
genug; sie wurde kreideweiß im Gesicht und fragte bloß: "Gestohlen?"

Und nun flogen Vorwürfe hin und her.

"Du bist die rechte Pförtnerin, führst den Dieb selbst an den
Schreibtisch!" warfen die Brüder der kleinen Schwester vor. "Es war ja
gar kein Dieb, es war ein freundlicher Herr," rief sie weinend. Marie
nahm sie in Schutz. "Sie kann nichts dafür, aber ihr, weil ihr kein
Holz getragen habt, wegen euch hat Walburg hinunter gemußt!"

"Hätte ich den Schlüssel abgezogen, o, hätte ich ihn doch nicht stecken
lassen!" rief Herr Pfäffling immer wieder.

Die sich keinen Vorwurf zu machen hatten, waren am ruhigsten; Frieder
wagte zuerst ein Trostwort: "Die Mutter wird schon Geld haben, wir
wollen ihr schreiben," aber der Gedanke an die Mutter schien diesmal
niemand zu beruhigen, es war so traurig, zu denken, daß man sie mit
solch einer Botschaft empfangen sollte! Karl und Marie hatten leise
miteinander gerechnet: "Vater," sagten sie jetzt, "wir alle zusammen
haben doch noch genug für eine Woche, und am 1. März kommt wieder dein
Gehalt. Wir sparen recht."

"Ja, ja," sagte Herr Pfäffling, "verhungern müssen wir nicht, ich habe
auch noch etwas im Beutel, aber alles, was für die Miete und für die
Steuer zurückgelegt war, ist weg, und wenn ich meinen Schlüssel
abgezogen hätte, wäre vielleicht alles noch da!" Er rannte aufgeregt
hin und wieder, bis ihn ein Wort Walburgs stillstehen machte, das Wort:
Polizei. Es war ja eine Möglichkeit, daß der Dieb ausfindig gemacht
werden und ihm das Geld wieder abgenommen werden konnte. Ja, sofort
Anzeige auf der Polizei, das war das einzig richtige. Elschen sollte
mit, um den Eindringling zu beschreiben. Nur schnell, nur schnell,
schon waren viele Stunden verloren!

Kaum wollte sich der Vater gedulden, bis die Kleine gerichtet war. Sie
setzten sie rasch auf den Stuhl, vor ihr knieten die Schwestern, jede
knöpfte ihr einen Stiefel an, Walburg brachte Mantel und Häubchen, die
Brüder wollten ihr die Handschuhe anziehen, machten es verkehrt,
erklärten dann Handschuhe für ganz übertrieben und die Kleine sprang
ohne solche dem Vater nach, der schon an der Treppe stand und nun mit
so langen Schritten die Frühlingsstraße hinunterging, daß das Kind an
seiner Hand immer halb springend neben ihm hertrippeln mußte.

Von der Polizei brachten sie günstigen Bescheid zurück. Ein junger
Musiker, der angeblich Arbeit suchte, war am Tag vorher auf Bettel
betroffen worden und mochte wohl der Missetäter sein. Man hoffte, ihn
aufzufinden.

Es war gut, daß am gestrigen Sonntag ein Brief an Frau Pfäffling
abgegangen war, denn heute und in den folgenden Tagen hätte niemand
schreiben mögen. So aber kam es, daß sie gerade, während ihre Lieben in
großer Trübsal waren, einen dicken Brief von ihrem Mann erhielt, aus
dem ihr eine ganze Anzahl Briefblättchen entgegen flatterten, alle voll
Jubel über das unerwartet nahe Wiedersehen. Jedes der Kinder hatte
seine Freude selbst aussprechen wollen. Nicht die leiseste Ahnung sagte
Frau Pfäffling, daß die Stimmung daheim inzwischen vollkommen
umgeschlagen war.

Herr Pfäffling ging gleich am nächsten Morgen auf die Polizei, um sich
zu erkundigen. Er erfuhr, daß bisher vergeblich nach dem jungen Musiker
gefahndet worden war. Als er aber am Nachmittag nochmals kam und ebenso
am nächsten Tag in frühester Morgenstunde auf der Polizei erschien,
wurde ihm bedeutet, daß er sich nicht mehr bemühen möchte, es würde ihm
Nachricht zukommen.

Darüber verstrich die halbe Woche und der Gedanke, daß man die Mutter
mit einer so unangenehmen Botschaft empfangen sollte, ließ gar nicht
die rechte Freude des Wiedersehens aufkommen. Herr Pfäffling war
unschlüssig, ob er die Nachricht nicht doch vorher schriftlich
mitteilen sollte, zögerte aber noch immer in der Hoffnung auf Festnahme
des Diebes und fand endlich, als er sich zum Schreiben entschloß, daß
der Termin doch schon verpaßt sei und der Brief erst nach der Abreise
seiner Frau ankommen würde. So blieb denn nichts übrig, als der
Heimkehrenden schonend die Hiobspost mitzuteilen.

Für Frau Pfäffling war die Abschiedsstunde gekommen. "Ich wundere
mich," sagte sie zu Mutter und Schwester, "daß ich nicht noch einen
letzten Gruß von daheim bekommen habe. Es wird doch alles in Ordnung
sein?"

"Alles ist nie in Ordnung, wenn die Hausfrau fort war," sagte die
Mutter, "auch dann nicht, wenn die daheim es meinen. Laß dir nur das
Wiedersehen nicht verderben, wenn du nun siehst, daß manches in
Unordnung geraten ist während deiner Abwesenheit. Unser Zusammensein
hier war so schön, das ist doch auch eines Opfers wert."

"Ja," sagte die Schwester, "du hast ja selbst gesagt, daß jeden Tag
irgend etwas Ungeschicktes vorkommt bei deinen Kindern, auch wenn du
daheim bist. Einundzwanzig Tage warst du fort, also so lang du nicht
mehr als einundzwanzig Dummheiten entdeckst, darfst du dich gar nicht
beklagen, darfst nicht behaupten, daß dein Wegsein daran schuld ist,
und nicht gleich erklären: ich reise nie mehr."

Frau Pfäffling lag freilich in dieser Abschiedsstunde der Gedanke sehr
fern, nie mehr reisen zu wollen, nie mehr hieher zu kommen. Sie riß
sich mit schwerem Herzen los von dem geliebten Mütterlein, von der
Schwester, die sie so treulich gepflegt hatte, und das Wort "auf
Wiedersehen" war ihr letzter Gruß aus dem abfahrenden Zug, als sie die
weite Heimreise antrat.

Noch immer war es draußen in der Natur kahl und winterlich, die drei
Wochen waren anscheinend spurlos vorübergegangen, noch war nirgends ein
Keimen und Sprossen, eine Frühlingsandeutung zu bemerken. Und doch
schien ihr die Zeit so weit zurück zu liegen, seitdem sie hieher
gereist war! Jetzt war ihr Herz noch vom Abschiedsweh bewegt, und doch
rührte sich schon und drängte gewaltig in den Vordergrund die Freude
auf das Wiedersehen mit Mann und Kindern. Wohl dem, der so von Lieben
zu Lieben kommt, der ungern entlassen und mit Wonne empfangen wird. Wer
kann sich reicher fühlen als so eine Frau, die von daheim nach daheim
reist?

Den Kindern hatte der Schrecken wegen des abhanden gekommenen Geldes
doch nicht lange die Freude auf das Heimkommen der Mutter verderben
können. Die Kleinen hatten das fatale Ereignis ohnedies von Montag bis
Samstag schon halb vergessen. Die Großen dachten ja wohl noch daran,
aber doch mit dem unbestimmten Gefühl, daß die Mutter um so mehr her
gehöre, je schwieriger die Lage im Haus war.

Herr Pfäffling sah auch nicht aus wie einer, der sich nicht freut, als
er am Samstagmittag, gleich von der Musikschule aus an den Bahnhof
eilte. Er kam dort fast eine Viertelstunde zu frühe an, lief in
ungeduldiger Erwartung der Kinder, die von der Schule aus kommen
sollten, vor dem Bahnhofgebäude hin und her und winkte mit seinen
langen Armen, als er in der Ferne zuerst Wilhelm, dann Karl und Otto
auftauchen sah.

Er hatte angeordnet, daß nicht alle Kinder die Mutter am Bahnhof
begrüßen sollten. "Sie ist den Tumult nicht mehr gewöhnt," sagte er,
"und soll nicht gleich so überfallen werden. Marianne kann uns bis an
den Marktplatz entgegenkommen, Frieder bis an die Ecke der
Frühlingsstraße und Elschen soll die Mutter an der Treppe empfangen,
denn etwas Liebes muß auch noch zu Hause sein."

So war es denn festgesetzt worden, daß bloß die drei Großen mit dem
Vater an die Bahn kommen sollten, aber bis zum Zug selbst durften auch
sie nicht vordringen, das wahrte sich Herr Pfäffling als alleiniges
Vorrecht. Sie standen alle drei spähend hinter dem eisernen Gitter,
während der Zug einfuhr, entdeckten die Mutter schon, als sie noch aus
dem Wagenfenster forschend nach ihren Lieben aussah, und bemerkten, wie
sich dann plötzlich ihre Züge verklärten, als sie den Vater erblickte,
der, dem Schaffner zuvorkommend, die Türe ausriß und mit froher
Begrüßung seiner Frau aus dem Wagen half.

Mitten im Menschengewühl und Gedränge gab es ein glückliches
Wiedersehen und Willkommenheißen und der kleine Trupp schob sich durch
die Menge hinaus auf den Bahnhofsplatz. Schwester Mathilde hätte
zufrieden sein können mit ihrem Erfolg, denn die Verwunderung über der
Mutter frisches, rundliches Aussehen kam zu einstimmigem Ausdruck und
hätte noch nicht so schnell ein Ende gefunden, wenn nicht Frau
Pfäfflings ängstlich klingende Frage dazwischen gekommen wäre, ob die
Kinder alle und auch Walburg gesund seien. Als sie die Versicherung
erhielt, daß sich alle frisch und wohl befänden wie bei ihrer Abreise,
da kam aus erleichtertem Herzen ein dankbares: Gottlob!

"Ich habe schon gefürchtet, da keine Karte kam, es möchte eines von
euch krank sein," sagte sie. "Nein, das war nicht der Grund, warum ich
nimmer geschrieben habe," entgegnete Herr Pfäffling und seine Antwort
lautete ein wenig bedrückt. Sie bemerkte es. "Alles andere, was etwa
vorgekommen ist, bekümmert mich gar nicht," sagte sie und drückte
glücklich die Hand ihres Mannes. Das freute ihn. "Hört nur, Kinder,"
sagte er lachend, "die Mutter ist ordentlich leichtsinnig geworden auf
der Reise." So kamen sie, fröhlich plaudernd, bis zum Marktplatz, wo
ganz brav, der Verabredung gemäß, die zwei Schwestern gewartet hatten
und jetzt der überraschten Mutter jubelnd in die Arme flogen.

Nun nahmen diese beiden der Mutter Hände in Beschlag, bis sie an der
Ecke der Frühlingsstraße von einem andern verdrängt wurden. Dort hatte
Frieder gewartet und ausgeschaut, schon eine gute Weile. Aber in dem
Augenblick, als die Familie um die Ecke bog, sah er doch gerade in
anderer Richtung.

"Frieder!" rief ihn die Mutter an. Da wandte er sich. "Mutter, o
Mutter!" rief er, drückte sich an sie und schluchzte. Sie küßte ihn
zärtlich und sagte ihm freundlich: "Warum weinst du denn, mein kleines
Dummerle, wir sind ja jetzt wieder beisammen!"

"O, du bist so lang, so furchtbar lang fort geblieben!" sagte er, aber
die Tränen versiegten schon, verklärt sah er mit noch nassen Augen zu
ihr auf, ging dicht neben ihr her und ließ ihre Hand nicht los, bis
sie, im Hausflur angekommen, wieder beide Arme frei haben mußte, um
darin die Jüngste aufzufangen, die ihr in lauter Freude entgegensprang
und schon auf der Treppe mit fröhlichem Plappermäulchen erzählte, daß
soeben zum Empfang eine Torte geschickt worden sei von Fräulein
Vernagelding, und daß Frau Hartwig einen großen, großen Kaffeekuchen
gebacken habe.

Unter ihrer Küchentüre stand Walburg und sah noch ernster aus als
sonst. Sie hatte die ganze Woche bei Tag und Nacht den Verlust nicht
vergessen können, an dem nach ihrer Überzeugung nur sie allein schuld
war. Was konnte man von Kindern erwarten? Auf sie hatte sich Frau
Pfäffling verlassen, ihr hatte sie das Haus übergeben, und wenn sie
nicht die Kleine allein im Stockwerk gelassen hätte, so wäre kein
Unglück geschehen.

Walburg hatte nicht an die Möglichkeit gedacht, daß Frau Pfäffling auf
dem langen Weg von der Bahn bis zum Haus noch nichts von dem Ereignis
erfahren hätte. Sie erwartete, daß Frau Pfäfflings erstes Wort ein
Vorwurf sein würde. Den wollte sie hinnehmen, aber ein anderes Wort
fürchtete sie zu hören, das sie schon einmal schwer getroffen hatte,
das Wort: "ich will lieber eine, die hört!" Darum stand sie so starr
und stumm, daß Frau Pfäffling fast an ihr erschrak, als sie nun an der
Küchentüre vorüber kam. Einen Augenblick durchzuckte sie der Gedanke:
es ist _doch_ etwas Schlimmes vorgefallen, aber im nächsten Moment
sagte sie zu sich selbst: nein, du hast es nur vergessen, wie groß, wie
ernst, wie stumm sie ist, und sie reichte dem Mädchen mit herzlichem
Gruß die Hand. Walburg hörte den Gruß nicht, aber den Händedruck, den
freundlichen Blick deutete sie sich als Verzeihung; es wurde ihr leicht
ums Herz, die Dankbarkeit löste ihr die Zunge und ihr Gegengruß schloß
mit den Worten: "einen Lohn nehme ich nicht für das Vierteljahr."

Das waren freilich unverständliche Worte für Frau Pfäffling, aber ehe
sie noch nach Erklärung fragen konnte, wurde sie von den Kindern
angerufen: "Dein Koffer kommt, wohin soll er gestellt werden?" Sie ließ
ihn in das Schlafzimmer bringen und nahm aus ihrem Täschchen ein
Geldstück für den Dienstmann. Frieder, der neben ihr stand, sah
begierig in den offenen Geldbeutel. "Die Mutter hat noch viel Geld,"
rief er freudig den Geschwistern zu. "Seit wann fragt denn mein Frieder
nach Geld?" sagte Frau Pfäffling und bemerkte, als sie aufsah, daß die
Großen ihm ein Zeichen machten, still zu sein. Einen Augenblick blieb
sie nachdenklich, dann war es ihr klar: am Geld fehlte es. Man hatte zu
viel verbraucht in ihrer Abwesenheit, und Walburg machte sich darüber
Vorwürfe. Aber viel konnte das in drei Wochen nicht ausgemacht haben,
dadurch sollte kein Schatten auf das Wiedersehen fallen.

"Ja, ich habe noch Geld," sagte sie heiter zu den Kindern, "aber nun
kommt nur, der Vater wartet ja schon, und der Tisch ist so schön
gedeckt, Walburg hat gewiß etwas Gutes gekocht."

Nun standen sie alle um den großen Eßtisch. "Heute betet die Mutter
wieder," sagte der Vater, "wir wollen hören, was ihr erstes Tischgebet
ist."

"Ich habe mich schon unterwegs auf diese Stunde gefreut," sagte Frau
Pfäffling und sie sprach mit innerer Bewegung:

"Von Dank bewegt, o Gott, wir heute
Hier vor dir stehen!
Du schenkest uns die schönste Freude,
Das Wiedersehen.
Nun gehn wir wieder eng verbunden
Durch Lust und Leid,
In guten und in bösen Stunden
Gib uns Geleit!"


Zur Feier des Tages hatte Walburg nach Tisch für die Eltern Kaffee
machen müssen, im Musikzimmer hatten die Kinder ein Tischchen dazu
gedeckt. "Sollen wir den Kaffee gleich bringen?" fragte Marie. "Ja,"
sagte die Mutter. "Nein, erst wenn ich rufe," fiel Herr Pfäffling ein
und schickte die Kinder hinaus. "Zuerst kommt etwas anderes," sagte er
nun zu seiner Frau, "zuerst kommt meine Beichte," und er führte sie an
den Schreibtisch und zog die kleine leere Schublade auf, deckte auch
das leere Käßchen auf, in dem sonst das Ersparte lag. Dieser Stand der
Dinge war schlimmer, als Frau Pfäffling gefürchtet hatte. "Ich habe
schon geahnt, daß mit dem Geld etwas nicht in Richtigkeit ist," sagte
sie, "aber daß _gar_ nichts mehr da ist, hätte ich doch nicht für
möglich gehalten, wie _kann_ man denn nur so viel verbrauchen, das
brächte ich ja gar nicht zustande!"

"Verbrauchen? Nein, verbraucht ist das Geld nicht, wir haben redlich
gespart; gestohlen ist es, gestohlen!"

Herr Pfäffling erzählte den Hergang und auch, daß er gestern die
Nachricht erhalten habe, der Dieb sei wegen mehrerer Schwindeleien
festgenommen, aber das Geld habe er verspielt. Es war keine Hoffnung
mehr, es zurück zu erhalten. Aber unentbehrlich war es und mußte auf
irgend eine Weise wieder hereingebracht werden.

Eine lange Beratung folgte zwischen den beiden Gatten. Der Schluß
derselben war, daß Herr Pfäffling lebhaft rief: "Ja, so kann es
gelingen, das ist ein guter Plan!" Und fröhlich klang sein Ruf hinaus:
"Jetzt, Kinder, den Kaffee!"



13. Kapitel
Ein fremdes Element.


Der gute Plan, den die Eltern ausgesonnen hatten, sollte am nächsten
Tag auch den Kindern mitgeteilt werden.

"Marianne wird keine Freude daran haben," meinte Frau Pfäffling.

"Nein," entgegnete Herr Pfäffling, "aber man muß ihnen die Sache nur
gleich im rechten Licht darstellen." Er rief die Kinder alle zusammen.
"Hört einmal," sagte er, "wir haben ein Mittel ausfindig gemacht, durch
das sich der Geldverlust wieder hereinbringen läßt. Zwei von euch
können uns allen helfen. Wer sind wohl die zwei Glücklichen? Ratet
einmal!"

Sie sahen sich fragend an "Wenn es gerade zwei sind, wird es Marianne
sein," schlug Karl vor.

"Richtig geraten. Aber wie?"

"Wenn sie nicht immer so schöne Kleider und seidene Zopfbänder tragen,"
meinte Wilhelm. Die Zwillinge musterten sich gegenseitig, und auch die
Blicke aller anderen ruhten auf ihnen. Die beiden Mädchen standen da in
ihren vertragenen schottischen Kleidern, mit grauen Schürzen, und ihre
blonden Zöpfe waren mit schmalen blauen Bändchen gebunden.

"Da werden wir keine großen Summen heraus sparen können," meinte Herr
Pfäffling, "eher könntet ihr Buben in der Kleidung etwas sparen, wenn
ihr eure Anzüge besser schonen würdet. Nein, das ist's nicht, wir
wissen etwas anderes."

"Etwas," setzte Frau Pfäffling hinzu, "das jeden Monat 20 Mark und noch
mehr einbringt."

Nun waren sie alle aufs äußerste gespannt. "Ihr erratet es nicht, ich
will es euch sagen," und Herr Pfäffling wandte sich an die Mädchen:
"Ihr Beiden zieht in die Bodenkammer hinauf, dann können wir euer
Zimmer an einen Zimmerherrn vermieten und schweres Geld dafür
einnehmen. Ist das nicht ein feiner Plan? Das muß euch doch freuen? Die
Mutter will alles Gerümpel aus der Kammer herausräumen und eure Betten
hineinstellen und im übrigen dürft ihr alles ganz nach eurem Belieben
einrichten; in eurem Reich da oben redet euch niemand darein; aus den
alten Kisten könnt ihr Tische machen und Stühle und was ihr nur wollt."

Die Zwillinge hatten zuerst ein wenig bedenkliche Gesichter gemacht,
aber zusehends hellten sich diese auf; jetzt nickten sie einander zu
und betätigten: "Ja, es wird sein!"

Gleich darauf erbaten sie sich den Kammerschlüssel, der sollte in
Zukunft auch ihr Eigentum sein und nun sprangen sie die Treppe hinauf
in großer Begleitung. Auch der Vater ging mit, sie aber waren doch die
Hauptpersonen. Sie schlossen ihr künftiges Revier auf. Es war ein
kleines Kämmerchen mit schrägen Wänden und einem Dachfenster. "Kalt
ist's da oben," meinte einer der Brüder. "Aber im Sommer ist's immer
ganz warm, das weiß ich noch vom vorigen Jahr," entgegnete Marie. "Da
hast du recht," bestätigte lächelnd der Vater, "und seht nur durch das
Fenster, wenn man den Kopf weit hinausstreckt, so hat man die schönste
Aussicht vom ganzen Haus. Und so gut vermacht ist die Kammer, nirgends
kann Schnee oder Regen durch; wißt ihr noch, wie Frau von Falkenhausen
in ihrer Lebensgeschichte erzählt, daß ihr in Afrika der Regen in ihr
Häuschen gedrungen ist, und die Betten wie in einem Teich standen? Und
wie eine dicke Schlange durch ein Loch am Fenster herein gekrochen ist?
Wie wäre sie glücklich gewesen über ein so gutverwahrtes Kämmerlein!
Ja, Kinder, da habt ihr es schon besser."

Als sie herunter kamen, waren alle ganz von den guten Eigenschaften der
Kammer erfüllt.

Es galt nun einen Zimmerherrn zu suchen und sich der Hausleute
Erlaubnis zu sichern. Frau Pfäffling besprach die Sache mit der
Hausfrau und diese wiederum mit ihrem Mann. Da stieß die Sache auf
Widerstand. Herr Hartwig wollte nichts davon wissen, durchaus nichts.
Er meinte, es sei schon reichlich genug, wenn zehn Leute den obern
Stock bewohnten und Zimmerherrn seien ihm ganz zuwider. Er habe nie
welche gehabt und geduldet. Frau Hartwig legte viel gute Worte ein für
die Familie Pfäffling und schilderte ganz ideale Zimmerherrn, aber ihr
Mann blieb bei seinem entschiedenen "nein" und sie konnte nicht anders
als dieses Frau Pfäffling mitteilen.

"Es tut mir so leid," sagte sie, "aber ich kann nichts machen; mein
Mann sagt ja selten 'nein', aber wenn er es einmal gesagt hat, dann
bleibt er dabei. Er meint, wenn ein Mann 'nein' gesagt hat, dürfe er
nachher nicht mehr 'ja' sagen, sogar wenn er's möchte."

Dieser Bescheid war eine große Enttäuschung für die Familie. Herr
Pfäffling konnte wieder einmal den Hausherrn nicht begreifen. "Wenn ich
sehe, daß jemand nicht auskommt, lasse ich ihn doch lieber sechs
Zimmerherrn nehmen, als in Geldnot stecken," rief er, indem er lebhaft
den Tisch umkreiste. "Nicht mehr 'ja' sagen dürfen, weil man vorher
'nein' gesagt hat? Soll sich darin die Männlichkeit zeigen? Dann wäre
jedes eigensinnige Kind 'männlich'. Glaubt das nicht, ihr Buben," sagte
er, vor Karl stehen bleibend, "ich will euch sagen, was männlich ist:
Nicht nachgeben, wenn es gegen besseres Wissen und Gewissen geht; aber
_nachgeben_, sobald man einsieht, daß man falsch oder unrecht geurteilt
hat."

Als zwei Tage über die Sache hingegangen waren, ohne daß mit den
Hausleuten weiter darüber gesprochen worden wäre, traf Frau Pfäffling
zufällig oder vielleicht absichtlich mit Herrn Hartwig im Hausflur
zusammen.

"Es war uns so leid," sagte sie zu ihm, "daß wir keinen Zimmerherrn
nehmen durften, denn wir sind durch den Diebstahl ein wenig in die Enge
geraten. Aber da Sie einmal 'nein' gesagt haben, möchte ich Sie nicht
plagen, und es ist ja wahr, daß manche Zimmerherrn spät in der Nacht
heimkommen, Lärm machen und dergleichen. So müssen wir uns eben jetzt
entschließen, eine ältere Dame als Zimmermieterin aufzunehmen, da
fallen ja alle diese Schattenseiten weg. Es ist nur für uns unbequemer
und auch schwerer zu finden als ein Zimmerherr. Wenn Sie uns ein wenig
behilflich sein möchten, eine passende Hausgenossin zu finden, wären
wir Ihnen recht dankbar. Meinen Sie, wir sollen es in die Zeitung
setzen?"

"Ja," sagte Herr Hartwig, "das wird am schnellsten zum Ziel führen."
Sie besprachen noch ein wenig die näheren Bedingungen und ohne recht zu
wissen wie, war Herr Hartwig dazu gekommen, sich selbst um eine elfte
Hausbewohnerin für den obern Stock zu bemühen.

Das seitherige Zimmer der beiden Mädchen wurde hübsch hergerichtet und
sie bezogen ihre Bodenkammer. Ein Inserat in der Zeitung erschien, und
nun kamen wieder einmal Tage, in denen sich die Kinder darum stritten,
wer die Türe aufmachen durfte, um etwaigen Liebhaberinnen das Zimmer zu
zeigen. Allzuviele erschienen nicht und Frau Pfäffling mußte erfahren,
daß die Frühlingsstraße "keine Lage" sei. Ihr selbst war auch nicht
jede von den wenigen, die sich meldeten, erwünscht; sie wollte nur das
Zimmer vermieten, nicht eine Kostgängerin an ihrem einfachen
Mittagstisch haben, kein fremdes Element in den vertrauten
Familienkreis aufnehmen. Aber als auf wiederholte Ankündigung die
Rechte sich nicht finden wollte, wurde Frau Pfäffling kleinmütig und
sagte zu ihrem Mann: "Mir scheint, wir müssen froh sein, wenn überhaupt
irgend jemand das Zimmer mietet, ich muß mich entschließen, auch die
Kost zu geben. Aber niemand begnügt sich heutzutage mit so einfachem
Mittagstisch, wie wir ihn haben."

"So machst du eben immer besondere Leckerbissen für solch eine
anspruchsvolle Dame und deckst für sie in ihrem eigenen Zimmer, dann
stört sie uns nicht," lautete Herrn Pfäfflings Rat.

Drei Tage später bezog Fräulein Bergmann das Zimmer. Pfäfflings durften
sich glücklich schätzen über diese Mieterin. Sie war eine fein
gebildete Dame, etwa Mitte der Vierziger. Erzieherin war sie gewesen,
meist im Ausland, hatte vorzügliche Stellen innegehabt und so viel
zurückgelegt, daß sie sich jetzt, nach etwa fünfundzwanzig Jahren
fleißiger Arbeit, zur Ruhe setzen und von ihrer Rente leben konnte. Sie
war gesund und frisch und wollte nun ihre Freiheit genießen, sich
Privatstudien und Liebhabereien widmen, zu denen ihr das Leben bis
jetzt wenig Muße gelassen hatte. Was andere Mieter abschreckte, der
Kinderreichtum der Familie Pfäffling, das war für sie ein
Anziehungspunkt, denn in der Wohnung, die sie zuerst nach dem Austritt
aus ihrer letzten Stelle bezogen hatte, war es ihr zu einsam gewesen.
Sie hatte es nur kurze Zeit dort ausgehalten und suchte jetzt eine
Familie, in der sie mehr Anschluß fände. Mit schwerem Herzen machte ihr
Frau Pfäffling das Zugeständnis, daß sie am Mittagstisch der Familie
teilnehmen dürfe.

"Ich konnte es ihr nicht verweigern," sagte sie zu ihrem Mann und fügte
seufzend hinzu: "Ursprünglich wollten wir freilich einen Herrn, der den
ganzen Tag fort wäre und nun haben wir eine Dame, die den ganzen Tag da
ist, aber ich glaube, daß sie keine unangenehme Hausgenossin sein
wird."

Nach den ersten gemeinsamen Mahlzeiten war die ganze Familie für
Fräulein Bergmann eingenommen. Sie war viel in der Welt herumgekommen,
wußte in anregender Weise davon zu erzählen und interessierte sich doch
auch für den Familienkreis, in den sie nun eingetreten war. Deutlich
war zu bemerken, daß sie sich von Frau Pfäfflings sinnigem Wesen
angezogen fühlte, daß sie Verständnis hatte für des Hausherrn
originelle Lebhaftigkeit und Anerkennung für der Kinder Bescheidenheit.
Freilich waren auch alle sieben voll Zuvorkommenheit gegen die neue
Hausgenossin. Hatte diese doch das Zimmer gemietet trotz der vielen
Kinder, und trotzdem die Frühlingsstraße "keine Lage" war. Überdies
flößten ihnen die feinen Umgangsformen und das sichere Auftreten der
ehemaligen Erzieherin Achtung ein. So ging anfangs alles aufs beste und
wäre auch wohl so weiter gegangen, wenn Fräulein Bergmann nicht das
Wort "ehemalig" vergessen hätte. Aber es dauerte gar nicht lange, so
gewann es den Anschein, als ob sie die Erzieherin der Kinder wäre; sie
ermahnte und tadelte sie, fragte nach den Schularbeiten, rief die
Schwestern zu sich in ihr Zimmer und ließ sie unter ihrer Anleitung die
Aufgaben machen. Die Mädchen, um deren Arbeiten sich bisher niemand
bekümmert hatte, fanden das vorteilhaft und kamen gerne, auch Frau
Pfäffling war anfangs dankbar dafür, aber die neue Einrichtung paßte
doch nicht zum Ganzen.

So waren auch eines Nachmittags die beiden Schwestern schon geraume
Zeit in Fräulein Bergmanns Zimmer, als Elschen bescheiden anklopfte.
"Marianne soll herüber kommen," richtete sie aus, "es gibt Ausgänge zu
machen." Die Mädchen standen augenblicklich auf, aber Fräulein Bergmann
hielt sie zurück: "Das eilt doch nicht so," sagte sie, "die Schularbeit
geht allem vor, das habe ich allen meinen Zöglingen eingeprägt. Die
Ausgänge könnten doch auch von dem Dienstmädchen gemacht werden."

"Walburg hat keine Zeit," entgegnete Elschen altklug, "und sie hört
auch nicht genug für manche Besorgungen."

"Dies taube Mädchen ist in jeder Hinsicht eine ungenügende Hilfe,"
sagte Fräulein Bergmann. "Nun geh nur, Elschen, und bitte deine Mama,
sie möchte den Schwestern noch ein halb Stündchen Zeit gönnen."

Es dauerte aber noch eine ganze Stunde, bis die Kinder herüberkamen.

"Ihr braucht länger zu den Aufgaben, als wenn ihr allein arbeitet,"
sagte Frau Pfäffling ärgerlich, "woher kommt denn das?"

"Weil Fräulein Bergmann immer zuerst das alte wiederholt und das neue
voraus erklärt. Sie sagt, so könnten wir bald alle Mitschülerinnen
überflügeln, und in der Schule würde jedermann staunen über unsere
Fortschritte."

"Das kann sein," entgegnete Frau Pfäffling, "aber dann hätte ich gar
keine Hilfe von euch und das geht nicht an, auch ist die Schule zum
lernen da und nicht zum prahlen. Nun eilt euch nur, daß ihr nicht in
die Dunkelheit kommt mit den Ausgängen." Sie kamen aber doch erst heim,
als es finster war. "Finden Sie das passend?" fragte Fräulein Bergmann
die Mutter, "sollten Sie nicht das Dienstmädchen schicken?"

"Walburg kann nicht alles besorgen."

"Nun ja, mit dieser Walburg kann es nicht mehr lange gut tun, wenn sie
vollends ganz taub ist, muß sie doch fort."

Diese Worte hörte auch Frieder, und sie gingen ihm zu Herzen. Er suchte
Walburg in der Küche auf und wollte sie sich daraufhin ansehen, ob sie
wohl bald ganz taub würde? Sie bemerkte seinen forschenden,
teilnehmenden Blick. "Willst du mir was?" fragte sie und beugte sich zu
ihm. Er zog ihren Kopf ganz zu sich und sagte ihr ins Ohr: "Ich mag
Fräulein Bergmann nicht, magst du sie?" Walburg antwortete ausweichend:
"Man muß froh sein, daß man sie hat."

Ja, man war froh, daß man sie hatte, und nahm geduldig manche
Einmischung hin. Da und dort zeigte sich bald eine kleine Veränderung
im Pfäffling'schen Haushalt. So am Mittagstisch. Dieser war bisher
immer mit einem hellen Wachstuch bedeckt worden.

"Ich habe noch überall, wo ich war, weiße Tischtücher getroffen,"
bemerkte Fräulein Bergmann.

"Vielleicht waren Sie noch nie in einem so einfachen und kinderreichen
Haus," entgegnete Frau Pfäffling, "wir müssen jede unnötige Arbeit
vermeiden und die großen Tischtücher machen viel Arbeit in der Wäsche."

"Aber das Essen mundet besser auf solchen."

"Dann will ich ein Tischtuch ausbreiten, es soll Ihnen gut schmecken an
unserem Tisch."

Kurz darauf beanstandete Fräulein Bergmann, daß die Türe zum
Nebenzimmer regelmäßig offen stand. "Wir können dadurch beide Zimmer
mit _einem_ Ofen heizen," erklärte Frau Pfäffling.

"Aber dann sollten Sie die Türe aushängen und eine Portiere anbringen,
das würde sich sehr fein machen."

"Ja gewiß, aber ich habe keine Portiere und auf solche Einkäufe kann
ich mich nicht einlassen. Sie müssen bedenken, daß Sie nun nicht mehr
bei reichen Leuten leben, sondern bei solchen, die recht dankbar sind,
wenn es nur immer zum täglichen Brot reicht."

"Sie haben recht, ich merke jetzt selbst erst, wie ich verwöhnt bin,
und ich habe mich schon oft gewundert, daß Sie so heitern Sinnes auf
vieles verzichten, woran Sie gewiß zu Hause gewöhnt waren. Ich weiß,
daß Sie aus fein gebildeter Familie stammen."

"Vielleicht kann ich mich gerade deshalb leicht in andere Verhältnisse
schicken. Die äußere Einfachheit macht mir wirklich nichts aus, mein
Glück ruht auf ganz anderem Grund, Portieren und dergleichen haben
damit gar nichts zu tun."

Ein paar Tage später brachte Fräulein Bergmann als Geschenk den Stoff
zu einer Portiere, auch den Tapezierer hatte sie bestellt. Die
Türöffnung wurde nun elegant verkleidet und sah in der Tat hübsch aus,
die Kinder standen voll Bewunderung. Aber der schöne Stoff paßte nicht
so recht zum Ganzen, Fräulein Bergmann selbst war die erste, die das
bemerkte. "Es sehen nun allerdings die Möbelbezüge verblichen aus,"
sagte sie, "aber über kurz oder lang müßten diese doch erneuert
werden."

Herr Pfäffling war sehr überrascht, als er zum erstenmal durch die
Portiere schritt. Sie streifte dem großen Mann das Haar. Er sah sie
mißliebig an.

"Es ist ein Geschenk von Fräulein Bergmann," sagte Frau Pfäffling, "du
solltest ihr auch ein Wort des Dankes sagen, wenn sie zu Tisch kommt."

"Auch noch danken?" entgegnete Herr Pfäffling, "ich habe ja gar keinen
Sinn für so etwas, es fängt nur den Staub auf und stimmt auch nicht zu
unserer übrigen Einfachheit. Fräulein Bergmann mag sich Portieren in
ihr Zimmer hängen so viel sie will, aber unsere Zimmer müssen ihr schön
genug sein, so wie sie sind."

Bei Tisch saß er gerade der Portiere gegenüber; sie kam ihm wie etwas
Zudringliches, Fremdes vor. Er wollte aber die Höflichkeit wahren und
sich nichts anmerken lassen. Da kam noch ein kleiner Ärger zum ersten
hinzu. Walburg hatte eben die Suppe abgetragen und drei Teller
gewechselt. Die Kinder bekamen immer nur _einen_ Teller.

"Finden Sie nicht, daß es gegen den Schönheitssinn verstößt, wenn die
Kinder alles auf einem und demselben Teller essen?" wandte sich
Fräulein Bergmann fragend an Frau Pfäffling.

"Es geschieht eben, um Arbeit zu sparen," antwortete sie, "sieben
Teller mehr aufzudecken, abzuwaschen und aufzuräumen ist schon ein
Geschäft."

"So viel könnte diese Walburg wohl noch leisten," entgegnen das
Fräulein, "das ist doch solch eine Kleinigkeit."

Da fiel ihr Herr Pfäffling ungeduldig in die Rede: "Aber ich bitte Sie,
geehrtes Fräulein, meine Frau als Hausfrau muß doch am besten wissen,
was in unsere Haushaltung paßt oder nicht, und wenn Sie bei uns sind,
müssen Sie mit unserer Art vorlieb nehmen."

"Gewiß, das tue ich ja auch, es ist mir nur wegen der Kinder leid, zu
sehen, wie der Schönheitssinn so ganz vernachlässigt wird. Aber ich
werde gewiß nicht mehr darein reden, kein Wort mehr."

"Ja, darum möchte ich Sie recht freundlich bitten," sagte Herr
Pfäffling, "und übrigens ist an meiner Frau und ihrem Tun alles
ordentlich, schön und rein und ich möchte durchaus nicht, daß sie sich
noch mehr Arbeit macht, und wenn meine Kinder ihr nachschlagen, wird
man sie überall gern sehen."

"Aber bitte, wer bestreitet denn das?" sagte das Fräulein und fügte
gekränkt hinzu: "Ich schweige ja schon!" Der Schluß der Mahlzeit
verlief in unbehaglicher Stille, und sobald das Essen vorüber war, zog
sich Fräulein Bergmann zurück.

"Sie ist beleidigt," flüsterte bekümmert eines der Mädchen dem andern
zu.

"Das ist nur ihre eigene Schuld," behaupteten die Brüder, "warum mischt
sie sich ein!"

"Aber es ist doch wahr, daß Teller schnell abgewaschen sind!"

"Nein, es ist nicht wahr. Ihr glaubt alles, was Fräulein Bergmann sagt
und haltet gar nicht zur Mutter!"

Dieser Vorwurf kränkte die Schwestern tief, sie weinten beide. Herr
Pfäffling bemerkte es: "Sie macht uns auch noch die Kinder uneins,"
sagte er zu seiner Frau. Die beruhigte ihn: "Fräulein Bergmann wird
sich jetzt schon besser in acht nehmen, wenigstens in deiner Gegenwart,
und mir ist ihr Dareinreden nicht so unangenehm, man macht doch seine
Sache nicht vollkommen und da ist es gar nicht übel, einmal zu
erfahren, wie andere darüber urteilen. Sie hat auch viel mehr von der
Welt gesehen als ich."

Mit Frau Pfäffling verstand sich Fräulein Bergmann am besten. Die
beiden Frauen standen eines Morgens vor dem Bücherschrank, Fräulein
Bergmann machte von der Erlaubnis Gebrauch, sich ein Buch auszuwählen.

"Es ist merkwürdig," sagte sie, "wie langsam der Tag vergeht, wenn man
keinen eigentlichen Beruf hat! Seit Jahren habe ich mich gefreut auf
diese Zeit der Freiheit, habe mich in meinen Stellen gesehnt, so recht
nach Herzenslust lesen, zeichnen, studieren zu können, und nun, seitdem
ich Muße dazu habe, so viel ich nur will, hat es seinen Reiz verloren."

Frau Pfäffling sagte nach einigem Besinnen:

"Ob es Sie wohl befriedigen würde, wenn Sie sich an gemeinnütziger
Arbeit beteiligten? Es gibt hier manche wirklich nützliche Vereine."

"Nein, nein," wehrte Fräulein Bergmann lebhaft ab, "dazu passe ich gar
nicht. Ich werde mich schon allmählich zurecht finden in meiner
veränderten Lebenslage. Haben Sie ein wenig Geduld mit mir, ich fühle
selbst, daß ich unausstehlich bin."

Frau Pfäffling übte Geduld, aber manchmal hatte sie den Eindruck, daß
Fräulein Bergmann im Vertrauen auf diese Nachsicht sich immer mehr
Kritik und Einmischung gestattete.

Es war kein schöner Monat, dieser März! Draußen in der Natur wollte
sich kein Frühlingslüftchen regen, ein kalter Ostwind hielt alles
zurück und brachte Erkältungen mancherlei Art in die Familie. Nach
Fräulein Bergmanns Ansicht waren all diese kleinen Übelbefinden selbst
verschuldet, sie behauptete, solches bei ihren Zöglingen durch
sorgfältige Aufsicht immer verhütet zu haben.

"Heute steht Frühlingsanfang im Kalender," sagte Karl am 21. März,
"weißt du noch, Vater, heute vor einem Jahr bist du mit uns allen
sieben ausgezogen, Veilchen zu suchen und Palmkätzchen heim zu bringen.
Aber dieses Jahr ist es so kalt."

"Ja, voriges Jahr war es viel schöner," darin stimmten alle überein,
schöner war es draußen gewesen, schöner auch im friedlich geschlossenen
Familienkreis.

Sie saßen wieder einmal an dem weiß gedeckten Mittagstisch, nachdem
Herr Pfäffling sich die Fransen der Portiere hatte durch die Haare
streichen lassen, und seine Frau ein Tischgebet gesprochen hatte.

"Wie wunderlich," begann Fräulein Bergmann, "daß Sie nicht ein
feststehendes Tischgebet haben! Das ist mir noch in keinem Haus
vorgekommen. Das heutige hat kein gutes Versmaß. Wie vielerlei haben
Sie eigentlich?"

"Eine ganze Sammlung," sagte Frau Pfäffling. "Ich denke, daß man
leichter mit dem Herzen und den Gedanken bei dem Tischgebet ist, wenn
es nicht jeden Tag das gleiche ist, und mir tut es immer leid, wenn ein
Gebet gedankenlos gesprochen wird."

"Ach, das können Sie doch nicht ändern. Ich bin nicht für solche
Neuerungen. Das Tischgebet ist eben eine Form, weiter nichts." Nun war
es mit Herrn Pfäfflings Geduld schon wieder zu Ende. "Aber meiner Frau
liegt daran, in diese Form einen Inhalt zu gießen," sagte er lebhaft,
"und wenn Sie lieber die leere Form haben, so brauchen Sie ja auf den
Inhalt nicht zu horchen."

"Aber, lieber Mann," sagte Frau Pfäffling und legte beschwichtigend
ihre Hand auf seine trommelnde, "Fräulein Bergmann hat das gar nicht
schlimm gemeint!"

"Dann meine ich es auch nicht schlimm," sagte Herr Pfäffling
begütigend. Im Weiteren verlief die Mahlzeit friedlich, wenn auch
einsilbig. Aber nach Tisch rief Herr Pfäffling seine Frau zu sich in
das Musikzimmer. "Das ist ein unleidlicher Zustand," begann er, "dieses
Frauenzimmer ist die verkörperte Dissonanz und stört jegliche Harmonie
im Hause. So etwas kann ich nicht vertragen. Tu mir's zuliebe und mache
der Sache ein Ende. Wir finden wohl auch wieder eine andere Mieterin."

"Aber nach so kurzer Zeit ihr schon die Türe weisen, das tut mir doch
leid für sie, wie soll ich denn das machen?"

"Ganz wie du willst, du bringst das schon zustande, ohne sie zu
kränken. Aber je eher, je lieber, nicht wahr? Kannst du nicht gleich
hinüber und mit ihr reden? Vielleicht ginge sie dann schon morgen!"

"Nein, so plötzlich läßt sich das doch nicht machen, bis zum 1. April
mußt du dich schon noch gedulden!" sagte Frau Pfäffling, und während
sie ihrer Arbeit nachging, überlegte sie, wie sie die Kündigung
schonend begründen könnte. Fräulein Bergmann tat ihr leid, aber die
Rücksicht auf ihren Mann, auf Harmonie und Frieden im Hause mußte doch
vorgehen.

Noch am selben Nachmittag kam ihr ein Umstand zu Hilfe. Fräulein
Bergmann suchte sie auf und bat sie, in ihr Zimmer zu kommen. Auf dem
Tisch lagen Papiere ausgebreitet. "Ich möchte Ihnen etwas zeigen,"
sagte das Fräulein, "hier habe ich die Zeugnisse von meinen letzten
Stellen hervorgesucht, möchten Sie diese nicht lesen? Ich muß Ihnen
sagen, daß ich mich ordentlich schäme über die Zurechtweisung, die ich
heute mittag erfahren habe; so etwas ist mir nicht vorgekommen in den
vielen Jahren, die ich in Stellung war. Aber ich fühle ja selbst, daß
ich unleidlich bin; was ist es denn nur? Ich war doch sonst nicht so,
bitte, lesen Sie!"

Fräulein Bergmann hatte als stellvertretende Hausfrau und Mutter viele
Jahre in ein und demselben Haus zugebracht und neben ihrer Tüchtigkeit
war in den Zeugnissen ausdrücklich ihre Liebenswürdigkeit, ihr Takt
hervorgehoben.

Indem Frau Pfäffling dieses las und überdachte, kam ihr plötzlich die
Erklärung dieses Widerspruches und der Gedanke, wie Fräulein Bergmann
wieder in das richtige Geleise zu bringen wäre.

"Ich glaube, Sie haben sich viel zu frühe in den Ruhestand begeben, und
das ist wohl der Grund für Ihre 'Unausstehlichkeit', wie Sie es nennen.
Sie stehen im gleichen Alter wie mein Mann; wie käme es Ihnen vor, wenn
er schon aufhören wollte, in seinem Beruf zu wirken? Er will erst noch
sein Bestes leisten, und so stehen auch Sie noch in der vollen Kraft,
und haben eine reiche Lebenserfahrung dazu. Sie könnten ein ganzes
Hauswesen leiten, eine Schar Kinder erziehen, und wollen hier in einem
Stübchen hinter den Büchern sitzen! Das ertragen Sie einfach nicht und
das wird wohl der Grund sein, warum Sie nun in unser Hauswesen
unberufen eingreifen. Ihre besten Kräfte liegen brach! Wenn ich Ihnen
einen Rat geben darf, so ist es der: Suchen Sie wieder eine Stelle, und
zwar eine solche, die Sie vollauf in Anspruch nimmt!"

Fräulein Bergmann hatte nachdenklich zugehört. "Ja," sagte sie jetzt,
"so wird es wohl sein. Ich kann die Untätigkeit nicht ertragen. Daß Sie
mir noch solch eine Leistungsfähigkeit zutrauen, das freut mich. Nur
schäme ich mich vor all meinen Bekannten, denen ich mit Stolz meinen
Entschluß mitgeteilt habe, zu privatisieren. Es war mir damals eine
verlockende Stelle als Hausdame angetragen, ich habe sie abgelehnt."

"Ist sie wohl schon besetzt?"

"Vielleicht nicht. Es hieß, der Eintritt könne auch erst später
erfolgen."

"Wollen Sie sich nicht darnach erkundigen?"

"Nachdem ich die Stelle so stolz abgewiesen habe? Allerdings hätte ich
keine passendere finden können. Meinen Sie, ich soll schreiben?"

"überlegen Sie es sich noch, lassen Sie eine Nacht darüber hingehen."

Eine halbe Stunde später hörte man Fräulein Bergmann mit eiligen,
elastischen Schritten die Treppe hinuntergehen, nach der Post.

"Ich bin Fräulein Bergmann begegnet," sagte Wilhelm, der eben heimkam,
"sie ist gesprungen wie ein Wiesel und hat mir ganz fidel zugenickt;
warum sie wohl gerade heute so vergnügt ist?"

Mit der Stelle kam es nach einigem Hin- und Herschreiben in
Richtigkeit. Schon zum 1. April sollte Fräulein Bergmann sie antreten.
Das letzte gemeinsame Mittagsmahl war vorüber, die Kinder freuten sich
unten, im Freien, der langersehnten warmen Frühlingsluft, Frau
Pfäffling war mit der Sorge um das Gepäck der Reisenden beschäftigt,
diese saß allein noch mit Herrn Pfäffling am Eßtisch.

"Wenn ich einmal alt und pflegebedürftig bin," begann Fräulein
Bergmann, "dann frage ich wieder an, ob Sie mich aufnehmen möchten in
Ihr Haus. Ich kenne niemand, dem ich mich in hilfloser Lage so gern
anvertrauen möchte, als Ihrer lieben Frau und den seelenguten
Zwillingsschwestern. Dann dürften Sie ja keine Angst mehr haben vor
meiner kritischen Art." Herr Pfäffling, der nach seiner Gewohnheit um
den Tisch gewandelt war, machte jetzt Halt und sagte: "Die Kritik ist
ja sehr viel wert, wenn sie nicht bloß aus schlechter Laune entspringt.
Solange Sie _alles_ tadelten, wehrte ich mich dagegen, aber jetzt, wo
wir in friedlicher Stimmung auseinandergehen, jetzt würde ich auf Ihr
Urteil viel geben. Sie sagten neulich, es sei alles unschön und unfein
bei uns—"

"Nein," fiel sie ihm ins Wort, "so sagte ich doch nicht und überdies
wissen Sie wohl, daß alles nur aus einer gewissen Streitlust gesprochen
war."

"Aber etwas Wahres lag doch wohl Ihren Äußerungen zugrunde. Möchten Sie
mir nicht sagen, was Ihnen unschön erscheint in unserem Hauswesen,
unseren Gewohnheiten?"

Fräulein Bergmann überlegte. "Ich kann meine Behauptung wirklich nicht
aufrecht erhalten," und mit einem gutmütigen, aber doch ein wenig
spöttischen Lächeln fügte sie hinzu: "Unschön ist eigentlich nur
_eines_."

"Und zwar?"

"Darf ich es sagen? Nun denn: unschön kommt mir vor, wenn Sie so wie
jetzt eben im Laufschritt den Tisch umkreisen, an dem man sitzt."

Herr Pfäffling hielt betroffen mitten in seinem Lauf inne.

"Ihr Wilhelm fängt das nämlich auch schon an," fuhr sie fort, "haben
Sie es noch nicht bemerkt? Neulich lief er ganz in Ihrem Schritt hinter
Ihnen, immer die gleiche Entfernung einhaltend, wahrscheinlich um einen
Zusammenstoß zu vermeiden, da Sie oft mit einem plötzlichen Ruck
stehenbleiben. Es war sehr drollig anzusehen, nur wurde mir schwindelig
dabei."

"Das begreife ich!" sagte Herr Pfäffling, "und wenn mir schließlich
alle Kinder folgen würden wie ein Kometenschweif, so ginge das zu weit.
Ich werde es mir abgewöhnen, sofort und mit aller Energie. Wie man nur
zu solchen übeln Gewohnheiten kommt?" Er versank in Gedanken
darüber—und nahm seinen Lauf um den Tisch wieder auf.

Fräulein Bergmann verließ lächelnd das Zimmer.

Im Vorplatz übergab Frau Pfäffling den vollgepackten Handkoffer an
Walburg. "Ist er nicht zu schwer?" fragte sie.

"O nein," entgegnete Walburg in ungewöhnlich lebhaftem Ton, "ich trage
ihn _gern_ fort."

Hatte sie auch nie die unfreundlichen Äußerungen gehört, die Fräulein
Bergmann über sie tat, so hatte sie doch in ihr eine Feindin gewittert
und war froh, daß diese so unerwartet schnell abzog. Warum, wußte sie
nicht, fragte auch nicht darnach, es genügte ihr, daß offenbar niemand
unglücklich darüber war, Marianne vielleicht ausgenommen, aber die
würde sich bald trösten, und eine neue Mieterin konnte sich nach Ostern
finden.

Frau Pfäffling begleitete die Reifende und Elschen durfte diesmal mit
zur Bahn. Die kleine Reisegesellschaft war kaum zur Haustüre hinaus,
als Herr Pfäffling seine drei Großen herbeirief: "Nun helft mir die
Portiere abnehmen, daß man wieder Luft und Licht hat und frei durch die
Türe kann. Aber vorsichtig, die Mutter sagt, sie könne den schönen
Stoff gut verwenden!"

So standen sie bald zu viert auf Tisch und Stühlen und hantierten
lustig darauf los, als heftig geklingelt wurde und gleichzeitig durch
das offene Fenster von der Straße herauf Elschens Stimme ertönte, die
nach den Brüdern rief. Otto sah durchs Fenster und fuhr blitzschnell
wieder herein: "Fräulein Bergmann hat ihren Schirm vergessen, sie kommt
selbst herauf!"

"Geht hinaus, laßt sie nicht herein," rief Herr Pfäffling, "den
schmerzlichen Anblick soll sie nicht erleben!" Draußen hörte man auch
schon ihre Stimme: "Ich muß den Schirm im Eßzimmer abgestellt haben."
Richtig, da stand er in der Ecke! Wilhelm erfaßte ihn, blitzschnell
rannte er durch die Türe und konnte diese gerade noch hinter sich
schließen und Fräulein Bergmann den Schirm hinreichen. Sie hatte nichts
gesehen und eilte davon.

"Wenn sie nun zu spät zum Zug kommt und wieder umkehrt!" sagte Herr
Pfäffling überlegend und sah nach der Portiere, die, halb oben, halb
unten, einen traurigen Anblick bot. "Wir hätten eigentlich warten
können bis morgen."

Nun blieb aber keine Wahl mehr, das Werk mußte vollendet werden; bald
sah alles im Haus Pfäffling wieder aus wie vorher; Fräulein Bergmann
kam nicht wieder, das fremde Element war ausgeschieden, Frau Pfäffling
kehrte mit Elschen allein zurück. "Sie läßt euch alle noch grüßen,"
berichtete sie, "ihr letztes Wort war: 'Vielleicht kann ich Ihnen auch
einmal ein schönes Tischgebet schicken!'"

Herr Pfäffling war in fröhlicher Stimmung. "Kommt, Kinder," rief er,
"wir singen einmal wieder zusammen, wie lange sind wir nimmer dazu
gekommen." Er stimmte ein Frühlingslied an, und daß es so besonders
frisch und fröhlich klang, das war Fräulein Bergmann zu danken!



14. Kapitel
Wir nehmen Abschied.


Frau Pfäfflings Bruder wurde noch vor Beginn der Osterferien erwartet,
und das leere Zimmer war für ihn als Gastzimmer gerichtet. Keines der
Kinder ahnte etwas davon, daß der Onkel bei seinem Besuch sie kennen
lernen und darnach beschließen wolle, welches von ihnen er heimwärts
mit sich nehmen würde. Sie wußten nur, daß die Mutter ihren einzigen,
innig geliebten Bruder erwartete, und freuten sich alle auf den
seltenen Gast. Die drei Großen hatten auch noch aus ihrer frühesten
Kindheit eine schöne Erinnerung daran, wie Onkel und Tante gekommen
waren und durch schöne Geschenke ihre Herzen gewonnen hatten.

Herr Pfäffling billigte den Plan, der am achtzigsten Geburtstag gefaßt
worden war. Er kannte die Verwandten seiner Frau und schätzte sie hoch,
auch war es ihm klar, daß in dem Haushalt seines Schwagers dem
einzelnen Kind mehr Aufmerksamkeit zuteil werden konnte als in der
eigenen Familie. Doch wollte er den Aufenthalt nur für ein oder
höchstens zwei Jahre festsetzen, damit keines der Kinder dem Geist des
Elternhauses entfremdet würde.

Einstweilen war das Wintersemester zu Ende gegangen, und was während
desselben geleistet worden, sollte sich heute in den Osterzeugnissen
zeigen.

In einem der großen Gänge des Gymnasiums wartete Karl auf seinen Bruder
Wilhelm, dessen Zeugnis war ihm diesmal so wichtig wie sein eigenes.
Doch nur für die Mathematiknote interessierte er sich. Wenn diese nicht
besser ausfiel als das letzte Mal, dann stund es schlimm um Wilhelm,
schlimm auch um die Ferienfreude. Nachhilfestunden zu geben war nicht
Karls Liebhaberei, der junge Lehrer und der Schüler hätten sie gleich
gerne los gehabt. Darum strebten die Brüder gleich aufeinander zu, als
die Klassentüre sich auftat und die Schüler herausdrängten. Über der
andern Köpfe weg reichte Wilhelm schon von der Ferne Karl sein Zeugnis
hin und dieser las: Mathematik III. Über diese Note, die wohl schon
manchem Schuler Kummer bereitet hat, waren unsere beiden hochbefriedigt
und beschlossen, rasch nach der Musikschule zu rennen, um den Vater
noch zu erreichen und mit ihm heimzugehen. Das gelang ihnen auch. Als
er die Jungen mit den bekannten blauen Heftchen auf sich zuspringen
sah, wußte er schon, daß es Gutes bedeute. "Diesmal ist wohl keine
Durchschnittsnote nötig?" fragte er und überblickte das Zeugnis, und
war zufrieden. Aber eben nur zufrieden. Die Brüder waren enttäuscht,
nach ihrer Meinung hätte der Vater viel vergnügter sein müssen. "Hast
du noch etwas Besseres erwartet, Vater?" fragten sie.

"Nein, aber ich traue noch nicht recht. Nach drei kommt vier, da sind
wir noch in gefährlicher Nachbarschaft. Ich weiß wohl, warum ihr so
vergnügt seid, ihr meint, die Nachhilfstunden seien nun überflüssig,
aber ganz kann ich euch noch nicht davon entbinden, Wilhelm könnte
sonst gleich wieder rückfällig werden. Sagen wir _einmal_ statt zweimal
in der Woche." Sie machten lange Gesichter. "Und in den Osterferien gar
keine, zum Lohn für den Erfolg," fügte der Vater hinzu. Da heiterten
sich die Gesichter auf. Wenn man nur wenigstens in den Ferien frei war,
im Schuljahr wurde doch immer gelernt, da ging das mehr in einem hin.
Und übermorgen war ja der erste Ferientag! Sie waren schon wieder
vergnügt und kamen in glücklicher Ferienstimmung nach Hause, wo die
Schwestern begierig auf die Zeugnisse warteten und diesmal mit Lust
sämtliche Heftchen auf des Vaters Tisch ausbreiteten.

"Was wohl unsere Kleine einmal heim bringt?" sagte Karl, als ersah, wie
Elschen ernsthaft die Zeugnisse betrachtete und sich bemühte, die
geheimnisvollen Ziffern zu deuten.

"Ich bringe lauter Einser," antwortete sie zuversichtlich. Aber diesen
Übermut hatte sie zu bereuen. "So?" rief Otto, "so sage einmal, was a
plus b ist? Das weißt du nicht einmal? Da bekommst du unbedingt einen
Vierer." Von allen Seiten kamen nun solch verfängliche Fragen und es
wurden ihr lauter Vierer prophezeit, bis ihr angst und bang wurde, sie
sich zu Frieder flüchtete und sagte: "Du gibst mir dann jeden Tag
Mathematikstunden!"

Die Noten der Schwestern waren gut ausgefallen. Drei Wochen lang hatten
sie eine richtige Hauslehrerin gehabt, dadurch waren sie in guten Zug
gekommen. Sie schrieben an Fräulein Bergmann eine schöne Karte.

Herr Pfäffling unterschrieb die Zeugnisse, und als er das von Frieder
in Händen hatte und sah, daß es besser war als die früheren, trat ihm
wieder das Bild vor die Seele, wie der Kleine ihm die verhüllte Violine
mit dem Ausdruck tiefsten Schmerzes übergeben hatte. Er war seitdem ein
gewissenhafter und geschickter Klavierspieler geworden, aber die Liebe,
die er zu seiner Violine und auch zu der Harmonika gehabt hatte, die
brachte er dem Klavier nicht entgegen, mit dem Herzen war er nicht
dabei. Mit keinem Wort hatte das Kind je wieder die Violine erwähnt. Ob
sie ihm wohl noch immer ein schmerzliches Entbehren war? Der Vater
hätte es gerne gewußt, und als am Abend, nach der Klavierstunde, der
kleine Spieler seine Musikhefte beiseite räumte, redete er ihn darauf
an.

"Frieder, macht dir das Klavierspielen jetzt auch Freude? Tut es dir
nicht mehr so leid, daß du deine Geige nimmer hast?" Ein tiefernstes
Gesicht machte das Kind, als diese Wunde berührt wurde, dann antwortete
er leise: "Ich möchte sie gar nicht mehr haben."

"Warum nicht, Frieder? Komm, sage du mir das!" "Weil ich nicht aufhören
kann, wenn ich angefangen habe, zu spielen." "Du _kannst_ nicht,
Frieder? Du _willst_ nur nicht, weil es dir schwer fällt; aber siehst
du nicht, daß wir alle aufhören, wenn wir müssen? Meinst du, ich möchte
nicht lieber selbst weiter spielen, als Fräulein Vernagelding Stunde
geben, wenn sie jetzt kommt? Meinst du, die Mutter möchte, wenn sie
nach Tisch in ihren schönen Büchern liest, nicht lieber weiterlesen als
schon nach einer halben Stunde wieder das Buch aus der Hand legen und
die Strümpfe stopfen? Und die großen Brüder möchten nicht lieber auf
den Balken turnen als ihre Aufgaben machen? Und die Schwalben unter
unserem Dach möchten nicht lieber für sich selbst Futter auspicken als
ausfliegen und ihre Jungen füttern, wie es der liebe Gott angeordnet
hat? Und der Frieder Pfäffling will allein dastehen auf der Welt und
sagen: 'Ich kann nicht aufhören'? Nein, der müßte sich ja schämen vor
den Tierlein, vor den Menschen, vor dem lieben Gott müßte er sich
schämen!"

"Ich kann auch aufhören," sagte Frieder, "bei allem andern, nur beim
Geigen nicht."

"Da gibt es keine Ausnahmen, Frieder, wer einen festen Willen hat, kann
mitten im Geigenstrich aufhören und das mußt du auch lernen. Gib dir
Mühe, und wenn du dann fühlst, daß du einen festen Willen hast, so sage
es mir, dann will ich dir jeden Sonntag für eine Stunde deine Geige
geben."

Da leuchtete es in Frieders Gesicht, und nach dem großen Schrank
deutend, der in der Ecke des Musikzimmers stand, sagte er mit
zärtlichem Ton: "Da innen ist sie!"

"Ja, da ist sie und wartet, ob ihr kleiner Freund bald einen festen
Willen bekommt und sie erlöst aus der Einsamkeit. Aber nun geh, Kind;
Fräulein Vernagelding ist im Vorplatz, ich höre sie schon lange
plaudern mit Marianne, ich weiß nicht, warum sie nicht herein kommt."

Unser Musiklehrer öffnete die Türe nach dem Vorplatz, die drei
plaudernden Mädchen fuhren auseinander, Fräulein Vernagelding kam zur
Stunde. Noch rosiger und lächelnder erschien sie als sonst, und hatte
solch eine wichtige Neuigkeit unter vielem Erröten mitzuteilen! Die
Karten waren ja schon in der Druckerei, auf denen zu lesen stand, daß
Fräulein Vernagelding Braut war! Solch einen schönen, jungen, reichen,
blonden Bankier hatte sie zum Bräutigam! Aber unmusikalisch war er
leider sehr, denn obwohl sie ihm vorgespielt hatte, war er doch der
Meinung, sie solle nicht mehr Klavier spielen.

"Grämen Sie sich darüber nicht," sagte Herr Pfäffling zu seiner
Schülerin, "vielleicht ist er sogar sehr musikalisch."

"Meinen Sie?" fragte Fräulein Vernagelding, "das wäre schön! Und nicht
wahr, wenn ich auch nicht mehr zur Stunde komme, bleiben wir doch gute
Freunde und Ihre Fräulein Töchter müssen zu meiner Hochzeit kommen. Das
gibt zwei süße Brautfräulein!"

"Meine Töchter?" fragte Herr Pfäffling verwundert. "Sie meinen die
Marianne? Das sind doch keine Brautfräulein? Da müssen Sie mit meiner
Frau sprechen."—

Der Tag war gekommen, an dem Frau Pfäfflings Bruder eintreffen sollte.
Alle Hände hatten sich fleißig gerührt, um für das Osterfest und
zugleich für den Gast das Haus festlich zu bereiten. Die letzten Spuren
des langen Winters waren mit den trüben Doppelfenstern, mit
Kohleneimern und Ofenruß aus den Zimmern verschwunden, die
Frühlingssonne durfte die hintersten Winkel bestrahlen, Walburg
brauchte die Prüfung nicht zu fürchten, alles war blank und rein. Eine
mühevolle Zeit war das gewesen, aber nun war sie glücklich überstanden,
Feststimmung breitete sich schon über das Haus und heute sollte der
Gast ankommen.

"Die Mutter sieht so aus wie am heiligen Abend vor der Bescherung,"
sagte Karl, als die beiden Eltern miteinander zum Bahnhof gingen. Ja,
Frau Pfäffling freute sich innig. War das Zusammensein mit dem Bruder
in der alten Heimat schön gewesen, so mußte es doch noch viel
beglückender sein, ihn im eigenen Familienkreis zu haben.

Die Kinder daheim berieten, wie sie den Onkel empfangen, ob sie ihm
alle miteinander entgegenkommen sollten? Sie entschieden sich aber
dagegen, er war nicht an so viele Kinder gewöhnt, sie wollten sich
verteilen und nur allmählich erscheinen, damit es keinen Lärm und kein
Gedränge gäbe.

Als es Zeit war, standen sie alle an den Fenstern des Wohnzimmers und
sahen begierig die Straße hinunter. Da tauchten schon die drei
Gestalten auf, und jetzt waren sie deutlich zu erkennen. Der Onkel,
fast einen Kopf kleiner als der Vater, ganz ähnlich der Mutter, nur
nicht so schmal. Fein sah er aus im eleganten Reiseanzug und daß er
eine voll gepackte Ledertasche in der Hand hatte, wurde von Elschen
besonders hervorgehoben. Nun mußten auch die Kinder bemerkt worden
sein, denn der Onkel winkte mit der Hand herauf, ja er schwenkte sogar
den Hut als Gruß. Das machte einen gewinnenden Eindruck. "Wir springen
doch entgegen, der ist gar nicht so!" sagte Wilhelm. "Nein, der ist
nicht so," entschied der ganze Chor. Die sieben Kinderköpfe
verschwanden vom Fenster, und vierzehn Füße trabten die Treppe
hinunter. "Die Treppe ist frisch geölt," rief Marie, "geht an der
Seite, daß sie in der Mitte schön bleibt!"

Nun kam die Begrüßung. Man war sich unbekannt und doch nicht fremd. Die
Kinder berührte es merkwürdig, daß der Onkel der Mutter so ähnlich war,
in den Zügen, in der Stimme und der Aussprache. Zutraulich begrüßten
sie ihn, und auch er fand in ihnen lauter verwandte Gesichter, die
einen seiner Schwester, die andern seinem Schwager ähnlich.

"Nun gebt die Treppe frei, Kinder," drängte Herr Pfäffling, "wir wollen
den Onkel doch auch hinauf lassen." Sie machten Platz, und ließen den
Gast voran gehen. Auf halber Treppe sah er zurück nach dem jungen
Gefolge. "Wie komisch sie alle an der Seite gehen," bemerkte er zu der
Mutter.

"Damit die Treppe in der Mitte geschont wird."

"Ah so!" sagte der Professor und sah sichtlich belustigt zurück.
"Cäcilie, nun kenne ich deine Kinder schon. Die heißt du ungehobelt?"

Droben, im Wohnzimmer, war der Mittagstisch gedeckt. "Was für eine
stattliche Tafel!" rief der Gast, und dann sah er erstaunt auf die
ungewöhnlich große Gestalt Walburgs, die stumm die Suppe auftrug. "Ihr
habt euch wohl eine besonders kräftige Magd ausgesucht für eure großen
Schüsseln?" sagte er spassend zu den Kindern, "ist das die treue,
stumme Dienerin? Wie schade um das Mädchen!"

"Es wird aber nicht mehr schlimmer bei ihr, Onkel," versicherte Marie,
"ich war mit ihr beim Arzt, er sagt, es kann sogar eher ein wenig
besser werden."

Sie sammelten sich um den Tisch. "Mutter," bat Wilhelm, "du hast einmal
ein Tischgebet gewußt, das müßte heute gut passen und dem Onkel
gefallen, es kommt etwas vom vielverheißenden Tisch vor, weißt du
nicht, welches ich meine?"

Frau Pfäffling wußte es wohl und sprach es:

In größerem Kreise stehen wir heute
Am Gutes verheißenden festlichen Tisch.
Aber die richtige fröhliche Stimmung
Die mußt auch heute Du, Herr, uns geben.
Nahe dich freundlich jedem von uns.


Drei Tage blieb der Onkel im Haus und beobachtete oft im stillen seine
Neffen und Nichten. Er hatte ihnen ein Spiel mitgebracht, an dem sich
alle beteiligen konnten. "Ich will es den Kindern lehren," sagte er,
"die meinigen haben es auch, es ist ein Tischcroquet, ein nettes Spiel,
bei dem es nur leider gar zu leicht Streit gibt unter den Spielern."
Sie machten sich mit Eifer daran und trieben es täglich fast mit
Leidenschaft. Sie achteten dabei nicht auf den Onkel, der, hinter der
Zeitung sitzend, seine Beobachtungen machte. "Wir müssen die zwei
Parteien so einteilen, daß die guten und schlechten Spieler gleichmäßig
verteilt sind," sagte Karl. "Nimm du Frieder auf deine Seite, Wilhelm,
der ist am ungeschicktesten, und ich will Anne auf meine Partei nehmen,
sonst können die nie gewinnen." So war es allen recht und das Spiel auf
seinem Höhepunkt, als Frau Pfäffling hereinkam.

"Kinder," sagte sie, "Walburg hat wieder kein Holz, laßt euch doch
nicht immer mahnen." Schuldbewußt legten zwei der Spieler ihre Schläger
aus der Hand und gingen hinaus. Der Onkel sah aufmerksam hinter seiner
Zeitung hervor. Das Wort: "Laßt euch doch nicht mahnen" schien noch
weiter zu wirken. "Hat jemand des Vaters Brief auf die Post getragen?"
fragte Marie. Niemand meldete sich. "Das könntest du besorgen,
Frieder," sagte die Schwester, "Elschen geht mit dir." So entfernten
sich auch diese Beiden. Die andern spielten weiter, Frau Pfäffling
setzte sich ein wenig zu ihrem Bruder. Sie sprachen halblaut zusammen.
"Es ist rührend," sagte der Bruder, "wie sich diese Lateinschüler so
selbstverständlich zum Holztragen verpflichtet fühlen und ohne
Widerspruch das Spiel aufgeben. Das täte meiner nie, wie hast du ihnen
das beigebracht?"

"Das bringen die einfachen Verhältnisse ganz von selbst mit sich. Die
Kinder sehen, wie Walburg und ich uns plagen und doch nicht fertig
werden, so helfen sie mit."

"Mir, als dem Juristen, ist wirklich euer kleiner Staat interessant und
ich sehe ordentlich, wie aus solcher Familie tüchtige Staatsbürger
hervorgehen. Wie die Starken sich da um die Schwachen annehmen, wie sie
ihr eigenes Ich dem allgemeinen Ganzen unterordnen und welche Liebe und
widerspruchslosen Gehorsam sie den Eltern als dem Staatsoberhaupt
entgegenbringen, wohl in dem Gefühl, daß sonst das ganze System in
Unordnung geriete. Dazu kommt auch noch, daß dein Mann ein so
leutseliger Herrscher ist und du bist sein verantwortlicher Minister.
Das muß ich dir sagen, wenn ich nun eines eurer Kinder zu mir nehme, in
ein so geordnetes Staatswesen kann ich es nicht versetzen."

Die Kinder hatten nicht auf das leise geführte Gespräch gehorcht; was
kümmerte sie, wenn vom Staat die Rede war? Aber die letzte Bemerkung
des Onkels, die traf Maries Ohr, die erfaßte sie. "Wenn ich eines eurer
Kinder zu mir nehme," hatte er gesagt. Sie hätte es offenbar nicht
hören sollen, es war nur halblaut gesprochen. Zunächst ließ sie sich
nichts anmerken, aber lange konnte sie diese Neuigkeit nicht bei sich
behalten. Nach Tisch fanden sich die Geschwister alle unten am
Balkenplatz zusammen. Dort konnte man sich aussprechen und Marie
vertraute ihnen an, was sie gehört hatte. Das ganze Trüppchen stand
dicht zusammengedrängt und besprach in lebhafter Erregung die
Möglichkeit, fortzukommen. Verlockend war das Neue, lieb war das Alte.
Wer ginge gern, wer ungern? Sie waren zweifelhaft. Wen würde der Onkel
wählen? Ein jedes meinte: "Sicherlich nicht gerade mich." Das war die
Bescheidenheit. Aber einer, der doch auch nicht unbescheiden war, der
Frieder, sagte: "Ganz gewiß will er _mich_ mitnehmen." Das war die
Angst, denn Frieder wollte nicht fort, für ihn gab es da nichts
Zweifelhaftes, er wollte daheim bleiben, er fürchtete die fremde Welt.
Und da er so bestimmt aussprach: mich will er mitnehmen, so glaubten
ihm die Geschwister. Schon einmal war er das fremde Kind gewesen, vor
die Türe gewiesen mit der Violine. Von jeher war er ein wenig allein
gestanden. Nun schauten ihn alle darauf hin an, daß er fort von ihnen
sollte. Sie sahen das gute Gesichtchen, die seelenvollen Augen, die
angsterfüllt von einem zum andern blickten, und da wurden sich alle
bewußt, daß sie doch den Frieder nicht missen mochten. Karl war es, der
aussprach, was alle empfanden: "Unser Dummerle geben wir nicht her!"

Oben, am Fenster des Musikzimmers, stand der Professor im Gespräch mit
Herrn Pfäffling und seiner Frau. Nun trat er an das Fenster und sah
hinunter, "Dort steht ja das ganze Trüppchen beisammen," sagte er,
"eines dicht beim andern, keinen Stecken könnte man dazwischen
schieben! Es ist köstlich anzusehen! Und wie sie eifrig sprechen!"

"Ja," sagte Frau Pfäffling, "irgend etwas muß sie sehr beschäftigen."

"Das haben eure Kinder doch vor andern voraus, daß jedes sechs treue
Freunde mit fürs Leben bekommt, denn die einmal so warm beieinander im
Nest gesessen waren, die fühlen sich für immer zusammengehörig. Daß ich
nun aber die Hand ausstrecken soll und ein Vögelein aus diesem Nest
herausnehmen, dazu kann ich mich immer schwerer entschließen. Geben wir
doch den Plan auf! Lassen wir das fröhliche Völklein beisammen, es kann
nirgends besser gedeihen als daheim!"

"Ich glaube, du siehst bei uns alles in zu günstigem Licht, wir sind
oft unbefriedigt und haben allen Grund dazu!"

"Das mag sein, an Unvollkommenheiten fehlt es gewiß auch bei euch
nicht. Aber den guten Grund fühle ich heraus, auf dem alles im Haus
aufgebaut ist, die Wahrhaftigkeit, die Religion, die bei euch
Herzenssache ist."

"Das hast du doch kaum in so kurzer Zeit beobachten können," meinte
Frau Pfäffling.

"Aber doch habe ich diesen Eindruck gewonnen, so zum Beispiel von
Wilhelm. Du kannst weit suchen, bis du wieder einen solch lustigen
Lateinschüler findest, der um ein bestimmtes Tischgebet bittet, wie er
neulich tat bei unserem ersten Mittagessen. Ich wollte, es wäre bei
meinen Kindern auch etwas von diesem Geist zu spüren! Kehren wir doch
die Sache um! Ich schicke euch lieber meinen Jungen einmal. In euren
einfachen Verhältnissen würde er ganz von selbst seine Ansprüche fallen
lassen, er wäre zufrieden und glücklich mit euren Kindern."

Es blieb bei dieser Verabredung.

Draußen im Freien hatte sich inzwischen alles verändert. Die Sonne war
von schweren Wolken verdeckt worden, in echter Aprillaune wirbelten
plötzlich Schneeflocken herunter und die jungen Pfäfflinge flüchteten
herauf.

"Da kommen sie ja wieder alle miteinander," sagte der Onkel, "wißt ihr
auch, Kinder, mit was für Gedanken ich hieher gekommen bin? Eines von
euch wollte ich mir rauben, weil bei mir noch so schön Platz wäre für
ein viertes, und eure Eltern hätten es dann leichter gehabt. Aber ich
tue es nicht. Wollt ihr hören warum? Weil ihr es so schön und so gut
habt, daß ihr es nirgends auf der ganzen Welt besser haben könnet. Ihr
lacht? Es ist mein Ernst."

Nun glaubten sie es ihm. Der Onkel, der weitgereiste, mußte es ja
wissen.

Elschen drückte sich schmeichelnd an den Onkel. "Wen von uns hättest du
denn mitgenommen?" fragte sie.

"Mußt du das wissen, kleine Neugier? Vielleicht den da," sagte er und
deutete auf Frieder. Der nickte zustimmend. Er hatte es ja gewußt!

Einige Tage später war Frau Pfäfflings Bruder wieder abgereist. Sie
stand mit wehmütigem Gefühl im Gastzimmer und war beschäftigt, es
wieder für eine fremde Mieterin zu richten, nach der man sich nun bald
umsehen mußte. In ihren Gedanken verloren, hörte sie doch mit halbem
Ohr einen Mann die Treppe heraufkommen, hörte klingeln, öffnen, wieder
schließen, hörte Marie zum Vater hinübergehen. An all dem war nichts
besonderes, es brachte sie nicht aus ihrem Gedankengang.

Aber jetzt?

Sie horchte. "Cäcilie, Cäcilie!" tönte es durch die ganze Wohnung. Sie
wollte dem Ruf folgen, aber da kam schon ihr Mann zu ihr herein, da
stand er vor ihr mit glückstrahlendem Angesicht und rief frohlockend:

"Cäcilie, ich bin Musikdirektor in Marstadt!" und als sie es nicht
fassen und glauben wollte, da reichte er ihr einen Brief, und sie las
es selbst schwarz auf weiß, daß die Marstadter vorläufig in einem
gemieteten Lokal die Musikschule eröffnen wollten und den Musiklehrer
Pfäffling zum Direktor ernannt hätten. Es fehlte nichts mehr als seine
Einwilligung, und auf diese brauchten die Marstadter nicht lange zu
warten!

Der jubelnde Ruf: "Cäcilie!" hatte die Kinder aus allen Zimmern
herbeigelockt. Zu verschweigen war da nichts mehr. Vom Vater hörten sie
die gute Kunde, sie sahen, wie die Mutter bewegt am Vater lehnte und
immer wieder sagte: "Wie mag ich dir das gönnen!"

Und das Glück war immer größer, weil es von so vielen Gesichtern
widerstrahlte.

Nur einer war davon ausgeschlossen, einer hatte alles überhört, weil er
mit seinen eigenen Gedanken vollauf beschäftigt war.

"Wo ist denn der Frieder?" fragte Elschen, "dem muß man es doch auch
sagen!"

Man suchte nach ihm und fand ihn ganz allein im Musikzimmer, vor dem
Schrank stehend, in dem seine Violine aufbewahrt war.

"Was tust du denn da?" fragte Herr Pfäffling.

"Ich warte auf dich, Vater, schon so lange!"

Dabei drängte er sich dicht an den Vater und fragte schüchtern: "Gibst
du mir am Sonntag meine Geige auf eine Stunde? Ich kann jetzt mitten
darin aufhören, ich habe es probiert."

"Wie hast du das probiert, Frieder?"

"Beim Essen. Dreimal. Aufgehört im ärgsten Hunger, auch bei den
Pfannenkuchen. Die andern wissen es."

"Ja, es ist wahr," betätigten ihm die Geschwister, die als seine
Tischnachbarn Vorteil aus diesen Proben gezogen hatten. Herr Pfäffling
schloß den Schrank auf. "Wenn es so steht, Frieder," rief er fröhlich,
"dann warten wir gar nicht bis zum Sonntag, denn heute ist ohnedies
Festtag bei uns, du weißt wohl noch gar nichts davon? Da hast du deine
Violine, kleiner Direktorssohn!"

Ja, das war ein seliger Tag!

Frau Pfäffling suchte Walburg auf; diese hatte von den Kindern schon
die Neuigkeit gehört, und da sie dem Leben nicht viel Gutes zutraute,
so fürchtete sie auch diese Veränderung. Aber da kam auch ihre Frau
selbst, sah sie mit herzlicher Freundlichkeit an und rief ihr ins Ohr:
"Der Herr Direktor will auch deinen Lohn erhöhen."

Nun war Walburg getrost, ihr Bleiben war besiegelt, und als sie wieder
allein in ihrer Küche stand, da legte sie einen Augenblick die
fleißigen Hände ineinander und sagte: "Lobe den Herrn!"

Frau Pfäffling ging hinunter zur Hausfrau. Diese sollte nicht durch
Fremde die Nachricht erfahren. Lange sprachen die beiden Frauen
zusammen, und während sie sprachen, tönte von oben Klavier und Gesang
herunter und Frau Pfäffling erkannte die frohlockende Melodie: ihr Mann
übte mit den Kindern den Chor mit dem Endreim:

"Drum rufen wir mit frohem Sinn:
Es lebe die Direktorin!"


Als Frau Hartwig wieder allein war, mußte ihr Mann sie trösten: "Leicht
bekommen wir eine bessere Mietspartei, sie haben doch recht viel Unruhe
im Haus gemacht und bedenke nur die Abnützung der Treppe!" Dabei suchte
er eine kleine Tafel hervor und gab sie seiner Frau. Sie ging hinaus
und befestigte an der Haustüre die Aufschrift:

_Wohnung zu vermieten_.


Und als sie die Türe wieder hinter sich schloß, fiel ihr eine Träne auf
die Hand und sie sagte vor sich hin: "Das weiß gar niemand, wie lieb
mir die Familie Pfäffling war!"





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Die Familie Pfäffling: Eine deutsche Wintergeschichte" ***

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