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Title: Yussuf Khans Heirat
Author: Heller, Frank
Language: German
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  ####################################################################

                     Anmerkungen zur Transkription

  Der vorliegende Text wurde anhand der 1919 erschienenen Buchausgabe
  so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische
  Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute
  nicht mehr gebräuchliche Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original
  unverändert; fremdsprachliche Zitate und Ausdrücke wurden nicht
  korrigiert. Umlaute in Großbuchstaben (Ä, Ö, Ü) werden durch ihre
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  Die Seitenzahlen des Inhaltsverzeichnisses wurden, falls notwendig,
  entsprechend des jeweiligen Kapitelanfangs in der Buchausgabe
  korrigiert. Die dort aufgeführten Kapitelüberschriften stimmen nicht
  in allen Fällen mit den Überschriften im Text überein; dies wurde
  aber so belassen.

  Das Original wurde in Frakturschrift gesetzt. Besondere
  Schriftschnitte wurden mit Hilfe der folgenden Sonderzeichen
  gekennzeichnet:

      gesperrt:      +Pluszeichen+
      Antiqua:       _Unterstriche_

  ####################################################################



                  Frank Heller / Yussuf Khans Heirat

   Autorisierte Uebertragung aus dem Schwedischen von Marie Franzos

                            [Illustration]



                             Frank Heller

                          Yussuf Khans Heirat

                                 Roman

                     München 1919 bei Georg Müller



                          1. bis 10. Tausend

              _Copyright 1919 by Georg Müller in München_



Inhalt


  Erstes Kapitel

    Lyrischer Prolog                                                   7

  Zweites Kapitel

    Vorsicht bei Eisenbahnfahrten                                     21

  Drittes Kapitel

    Das große Hotel                                                   57

  Viertes Kapitel

    Yussuf Khan, Maharadscha von Nasirabad                            82

  Fünftes Kapitel

    Das große Hotel (Fortsetzung)                                     92

  Sechstes Kapitel

    Das Loch in der Wand und das Loch im Boden                       108

  Siebentes Kapitel

    Ein Verschwinden mit Nebenumständen                              143

  Achtes Kapitel

    Mynheer van Schleetens Erlebnisse                                162

  Neuntes Kapitel

    Yussuf Khans Wiederkehr                                          187

  Zehntes Kapitel

    Die Nachwirkung einer tollen Nacht auf Fürsten und Poeten        211

  Elftes Kapitel

    das seinen Zweck erfüllt, den Leser zu verwirren                 239

  Zwölftes Kapitel

    Ein Fest und sein Abschluß                                       256

  Dreizehntes Kapitel

    Yussuf Khans Heirat                                              269

  Vierzehntes Kapitel

    Einfach, Nasirabad                                               286



I

Lyrischer Prolog


Held eines Romans, Held einer Folge von Abenteuern -- klingt das nicht
wie törichter Nonsens? Wer glaubt an Romane im wirklichen Leben, wer
glaubt daran, daß es noch Abenteuer gibt? Die Abenteuer, sagte man im
achtzehnten Jahrhundert, sind vor zweihundert Jahren ausgestorben. Zur
Zeit der Renaissance, +da+ gab es Abenteuer!

Sie sprechen heute von Abenteuern, wiederholt man im neunzehnten
Jahrhundert, ha ha! Sie entschuldigen schon ... Die Abenteuer sind mit
Napoleon ausgestorben, dem leibhaftigen Abenteuer in Fleisch und Blut.
Zu Napoleons Zeit gab es Abenteuer. Aber +jetzt+! Nein wirklich,
Sie müssen schon entschuldigen.

Herrn Allan Kraghs Zeit fiel in das zwanzigste Jahrhundert, das heißt
jener Teil seines Lebens, den er wirklich so nennen konnte. Er war
nämlich 1885 geboren; und wenn auch die ersten fünfzehn Jahre unseres
Lebens später fast immer mit einem Seufzer zu den glücklichsten
gerechnet werden, ist es zweifelhaft, ob sie während ihres Verlaufes
auch in dieser Weise aufgefaßt werden. Höchst zweifelhaft. Ja, warum
sollte man Haeckels berühmte These vom Leben des Individuums als Resumé
des Lebens der Gattung nicht darauf anwenden können? Genau wie es für
die meisten Menschen ein Glaubensartikel ist, daß alles Romantische
sich zur Zeit Roms, zur Zeit der Renaissance, zur Zeit der Revolution
zugetragen hat und auf jeden Falls jetzt, seit der eigene kleine
Privatlebensbetrieb des Betreffenden begonnen hat, so ferne und tot
ist, wie ein geologisches Zeitalter -- genau in derselben Weise denkt
man mit dreißig Jahren an die Zwanzig zurück (+da+ war es noch
eine Freude zu leben), mit Fünfzig an die Dreißig, und überhaupt die
ganze Zeit, seit man lange Hosen oder Röcke zu tragen bekommen hat, an
die unaussprechlich fröhliche, spannende, romantische Kindheit, die
jetzt tot und begraben ist, und nie zu einem armen Teufel wiederkehrt,
der in einem grauen, uninteressanten Alltagsleben verkümmern muß.

Und dabei sind die ganze Zeit die Abenteuer da, für den, der sie zu
finden weiß. Sie sind überall da, wie Sonnenschein und Regen, aber
im Gegensatz zu diesen mehr oder weniger ungleichmäßig verteilt auf
Gerechte und Ungerechte. Es gibt Individuen, in deren Leben die
Abenteuer sich geradezu häufen, ohne daß sie eigentlich etwas dafür
können, und es gibt andere, die in die Grube fahren, ohne daß ihnen ein
Abenteuer begegnet ist. Wer weiß? Vielleicht begegnet es ihnen dort!

Daß Allan Kragh Abenteuer erlebte, lag sowohl an ihm selbst wie an den
Umständen, deren Verlauf wir in Kürze skizzieren wollen. Sein Dasein
begann so uninteressant als nur möglich; denn was ist uninteressanter
als ein junger Mann, dessen Leben im Alter von einundzwanzig
Jahren schon Punkt für Punkt arrangiert vor ihm liegt, wie ein
Konzertprogramm? Zuerst ein Einzugsmarsch: einige flotte Studienjahre;
ein Walzer: eine bessere Verlobung; Stimmungsstück: die Ehe beginnt,
und so weiter bis zum Schlußmarsch hinter dem Sarg. So sah es aus,
als sollte Allan Kraghs Leben sich gestalten, und dann kam von dem
ursprünglichen Programm eigentlich nur der Einzugsmarsch zur Ausführung.

Jetzt fragt wohl der Leser: Wie konnte Herrn Allan Kraghs Leben schon
im Alter von einundzwanzig Jahren so wohlgeordnet aussehen? Es steht
in der Regel, Gott sei’s geklagt, um die jungen Männer nicht so gut.
Sollte Herr Kragh vermögend gewesen sein? Auf diese Frage beeilen wir
uns wahrheitsgetreu zu antworten: Herr Allan Kragh war vermögend.
Und er war sogar mit einundzwanzig Jahren Herr über sein Vermögen,
da seine Eltern tot waren. Und in diesem Alter finden wir ihn an der
Universität, ohne beschützende Verwandte, als Herr über fünfzigtausend
Kronen und im übrigen als einen etwas trägen, gutmütigen, ziemlich
begabten, hübsch gewachsenen schwedischen Jungen; außerdem (oder
folglich) so wie König Erik XIV., leichtsinnig und mit einer Umgebung
von nicht gerade trefflichen Ratgebern.

Herrn Allan Kraghs Studien interessieren uns nicht im besonderen
Grade. Schon zur Zeit Mäcenas’ gab es solche, die Freude daran hatten,
den olympischen Staub der Rennbahn mit dem Rade aufzuwirbeln; andere
wiederum, die größeres Interesse daran fanden, in wechselndem Metrum
den von Königen herstammenden Mäcenas zu preisen. Allan Kragh zeigte
sich bald von der erstgenannten dieser beiden Tätigkeiten gefesselt;
er wirbelte recht viel Staub auf seiner akademischen Rennbahn auf,
während Personen seiner Umgebung, ohne seine Genealogie von so
hohem Ursprung wie die Mäcenas’ abzuleiten, ihn doch als geeigneten
Gegenstand für Huldigungsoden erkannten und ihn ihren Schutz und Schirm
nannten.

Was sagt doch der Dichter von einem achtjährigen rauschenden Gelage?
Allan Kragh brachte es nicht weiter als bis zu sechs Jahren an der
Universität, aber daß diese von rauschenden Festen erfüllt waren, hätte
nur ein sehr weitgehender Jünger Zenos bezweifeln können. Jedenfalls
nicht die Kellner der Universitätsstadt oder ihrer Umgebung, auch nicht
die Kellermeister, auch nicht die Schneider. Und schon gar nicht die
Bank, wo seine Fünfzigtausend standen und sich nicht nur hartnäckig
weigerten, sich zu verzinsen, sondern vielmehr eine unheimliche Tendenz
zeigten, zum Kassagitter hinauszurutschen.

Schon in seinen ersten Studienjahren lernte er Hermann Bergius kennen,
der der Feldmarschall bei den Feldzügen von Allans sechsjähriger
Glanzzeit wurde. Hermann Bergius war ein spätgeborener Sprößling der
großen Freibeuterführer; die verweichlichten Zeiten hinderten ihn,
gleich diesen mit dem Schwert zu kämpfen und sich zu bereichern;
er stritt deshalb mit der Zunge. Jahr um Jahr war vergangen, eine
Generation war der anderen an der Universität gefolgt, der ungestüme
Strom der Zeit war vorbeigebraust, und jede neue Generation fand
Hermann Bergius da, wo er, wenn nicht tausend, so doch fünfzehn runde
Jahre gestanden hatte, den Blick, zwar nicht in den trüben Strom der
Zeit, so doch in den des Punsches versenkt. Wie gewisse griechische
Philosophen vor Sokrates teilte er den Weg in eine unendliche
Anzahl kleiner Teilchen; und so wie jene auf diese Art nachwiesen,
daß Achilles die Schildkröte nicht einholen konnte, bewies Hermann
Bergius auf seine Weise, daß die Zeit ihn nie zu erreichen vermochte.
Seine Bildung war umfassend, sein Humor ungewöhnlich, sein Appetit
unermeßlich, sein Durst noch größer; seine Fähigkeit, Strapazen und
Ausschweifungen gleich gut zu ertragen, des Größten aller Römer würdig.

In seiner Armee spielte Allan Kragh hauptsächlich die Rolle des
Quartiermeisters; er bezahlte die Tagesrationen aus, sorgte für die
Verpflegung und das Nachtlager der Truppen und hatte nach der Regel
des siebzehnten Jahrhunderts vor allem dafür einzustehen, daß sie,
wenn schon nichts anderes, so doch jeden Tag einen tüchtigen Trunk
erhielten. Dank dem freundschaftlichen Fuße, auf dem er mit den Banken
stand, war dies ein zwar schwieriger, aber doch zu bewältigender
Posten. Seine Belohnung war die Freundschaft des großen Feldmarschalls
und verschiedentliche Erwähnungen in den Tagesrapporten.

Es würde zu weit führen, alle Helden der Armee der großen Zeit
aufzuzählen. Da war John Peter S., Hermann Bergius’ nächster
Mann und Adjutant. Da war eine unzählige Schar Kombattanten und
Nichtkombattanten, Freibeuter aus allen Teilen des Reiches, Söldner
für längere oder kürzere Zeit. Da war O. B., ein alter Spartaner,
wie Bergius sagte, der sich auch in gebettete Betten nur mit den
Kleidern legte. Da war der Amanuensis, unabsetzbarer Amanuensis in
den Kaffeehäusern, aber von der Institution in dieser Eigenschaft
längst verabschiedet. Sein Wahlspruch war: „Kreuzdonnerwetter, was ein
alter Feldwebel ist, der kann immer noch eins vertragen.“ Abgesehen
vom Amanuensis war er nämlich auch Feldwebel, und zwar mit ebenso
großem Recht, ganz wie der König von Dänemark in seinen Kundgebungen
noch immer über Dithmarschen, Lauenburg, Venden und weiß Gott was
regiert. Da war Aistjerna, der eine kurze Gastrolle gab, bevor ihn
seine hochadelige Familie noch rasch rettete, und dessen berühmtester
Ausspruch fiel, als er Hermann Bergius über seine schon längere Zeit
andauernde Obdachlosigkeit trösten wollte: „Ja, lieber Hermann, auch
ich -- äh -- habe die Schrecken des Bohemelebens kennen gelernt --
es hat Nächte gegeben, -- äh -- wo ich mich nicht nach Hause traute,
sondern -- äh -- tatsächlich im Bristol übernachten mußte.“ Berühmt
waren auch seine Reflexionen über die Spatzen: „So ein Spatz -- äh
-- das ist wohl so ’ne Art Müller oder Schulze in der Vogelwelt.“ --
Eine kurze, vielversprechende Laufbahn, so lautete Hermann Bergius’
Grabschrift für ihn, als die hochadeligen Verwandten ihr Rettungswerk
vollendet hatten. -- Da war noch der berühmte Baron vom Altmarkt, der
Schrecken errötender Jungfrauen und die Sorge weinender Mütter, ein
Casanova, fehl an Zeit und Ort -- ja es war ein buntes Gefolge, und
es waren bunte Erlebnisse, die Allan in ihrer Gesellschaft hatte.
Natürlich immer in einem engen geographischen Kreis: Von Langfahrten
war eigentlich nur die große Expedition nach Berlin zu verzeichnen,
hauptsächlich denkwürdig durch den von Allan meisterlich geleiteten
Rückzug: Fast ohne Geld, bedroht von der Meuterei der erregten
Truppen und zu beständigen Hinterhutgefechten mit der rachedurstigen
Bevölkerung genötigt, hatte er eine nichts weniger als leichte
Aufgabe. Endlich stand man tiefbewegt wieder auf schwedischem Grund
und Boden, wo Allan bei der großen Festmahlzeit vom Feldmarschall
mit einer Umarmung vor den Truppen ausgezeichnet wurde, worauf man
telegraphischen Rapport über den Rückzug an Seine Majestät den König
absandte, an das deutsche Departement des Aeußern und den Sultan von
Marokko, dem es augenblicklich auch dreckig ging.

Sechs Jahre von goldenen Sekunden waren auf diese Weise verronnen, da
kam ein schöner Tag, der Allans großer Zeit ein katastrophales Ende
bereitete. Und die direkte Ursache war so unbedeutend, daß sie auf den
ersten Blick lächerlich erscheinen kann. Es begab sich, daß Allan am
ersten Tage des Wintersemesters des siebenten Jahres an einen Ort kam,
den er schon sehr lange nicht gesehen hatte -- die Universität. Die
Vorlesungen in den Sälen sollten eben beginnen. Der Gedanke, eine davon
zu besuchen, berührte Allan höchst humoristisch und barock -- eine gute
Geschichte für den Freundeskreis. Es waren gut drei Jahre her, seit er
zuletzt da oben gewesen war. Er ging in den ersten besten Hörsaal, ohne
auch nur nachzusehen, was in seinen Mauern verkündet wurde. Er nahm
Platz; der Vortragende kam und begann. Es erwies sich, daß Allan zu dem
englischen Lektor der Universität geraten war.

Als Allan das merkte, gab es ihm einen Ruck. Gerade die Vorlesungen
der fremden Lektoren hatte er während seiner ersten Jahre an der
Universität tatsächlich besucht ... Er besaß Sprachentalent und
hatte sich in den ersten Jahren das Deutsche und Englische in
anerkennenswerter Weise angeeignet. Erinnerungen erwachten in ihm. Der
jetzige Lektor war ein athletisch gebauter junger Mann mit klaren,
kühnen Augen. Er hielt einen einleitenden Vortrag über die englische
Kolonialliteratur; er war selbst rings um die halbe Erde gewesen und
verflocht in seinen Vortrag persönliche Erinnerungen und Beobachtungen.
Allan merkte, daß er noch genügend Englisch konnte, um ihn vollständig
zu verstehen; er war, wie gesagt, nicht auf den Kopf gefallen. Er
hörte zu, er fühlte sich interessiert, ja mehr als das, gefesselt von
den Schilderungen der Länder dort draußen, und plötzlich spürte er,
wie ihm eine heiße Röte ins Gesicht stieg. Was war das eigentlich für
ein Leben, das er und die anderen hier führten! Was war das doch für
ein Provinz-Sybaris! Wie konnte man nur Jahr für Jahr in diesem engen
Kreis totschlagen? Wie konnte man! ... Jahr für Jahr ... Jahr für
Jahr ... Was dachte er sich eigentlich, was wollte er? War es denn
überhaupt amüsant? ... Was er und die anderen da trieben, waren ja doch
Kindereien, ohne Spannung, ohne Interesse.

Schließlich war die Vorlesung zu Ende, und das Publikum strömte heraus.
Allan blieb als letzter zurück und ging, von Gedanken erfüllt, die
wie Blasen in ihm aufstiegen, aber zerstoben, bevor sie sich noch
ganz geklärt hatten. Gleich vor der Universität stieß er mit der
ganzen Armee zusammen und wurde mit Jubelrufen begrüßt. Es gab ein
Mittagessen im Park; es gab Kaffee und Punsch. Der Abend verging, und
das große Hauptquartier der großen Armee begann die Pläne für den
Feldzug des kommenden Jahres zu entwerfen. Es war das erstemal, daß man
sich nach den Sommerferien traf. Die kommende Jahreskampagne sollte
alle vorhergegangenen der Kriegsgeschichte schlagen; man erörterte
ihre Einzelheiten unter mehr oder weniger formeller Befragung des
Quartiermeisters, der stumm und grübelnd vor seinem Whiskyglas saß,
die Ohren erfüllt von dem Geplauder der Kampfgenossen, den Kopf voll
von einem Gefühl, das neu schien, alt war und sehr rasch allmächtig
wurde: Jetzt ist Schluß! Schluß für immer. Das war die letzte Revue
der Truppen; Fontainebleau; Abschied ohne Tränen, Umarmungen oder
Ueberreichung des Degens; und dann fort, sei es auch nach Elba oder
Sankt Helena!

Mit anderen Worten: Eine Pflanze, deren Keim schon lange in Allans Herz
gelegen war, hatte an diesem Tage endlich die Hülse gesprengt, die
Wurzeln ausgebreitet und war zum vollen Tageslicht hinaufgedrungen. Das
einzige Verwundernswerte war, daß dies nicht schon längst geschehen war.

Sein ganzes Leben lang hatte Allan eigentlich den Zug hinaus gehabt,
den Zug zum Fernen, Neuen, Unbekannten. Vielleicht war es Hermann
Bergius gerade dadurch, daß er diese Saite berührte, gelungen, ihn
zum Quartiermeister des sechsjährigen Krieges zu machen. An diesem
Abend merkte er, wie es ihm vorkam, plötzlich, mit einem Male, wie
unbefriedigt ihn alle Eskapaden dieser sechs Jahre eigentlich gelassen
hatten. Kinderstreiche ... ohne Bedeutung ... ohne Spannung ... Er
dachte all der Morgen, an denen er durch irgendeine dämmergraue Straße
einer fremden Stadt, in die der Zufall und Bergius ihn verschlagen
hatten, heimwärts gewandert war, und der Lust, die er auf diesen
einsamen Morgenwanderungen verspürt, von den anderen zu desertieren
und von dem ganzen großen Frühschoppen am nächsten Tage, der der Clou
dieser Eskapaden war. Jedesmal war dieser Impuls von irgendeinem
anderen verdrängt worden. Jetzt begriff er, was dies eigentlich
bedeutet hatte. Er durchforschte sein Gedächtnis und verstand auch
andere kleine, fast kindische Züge an sich selbst, seine Lust (zu
Bergius’ großem Verdruß), mit exotischen Gestalten anzubändeln, die man
zufällig in Schenken und auf Dampfern traf; sein Versinken in trockene,
dicke, ausländische Fahrpläne, Henschel und Bradshaw, die er in den
Vestibüls der Hotels fand; seine Manie für die großen ausländischen
Zeitungsdrachen ...

Und während man die Becher leerte, die die Ouvertüre zu einem weiteren
Jahr kriegerischer Heldentaten und Idyllen bilden sollten, saß Allan
da, ohne sein Glas zu berühren. Die verheißenen Idyllen erschienen
ihm mit einem Male überaus banal und der Wein der Freudenbecher schal
geworden ... Fort, auf neuen Straßen, fort, um die Sonne über Städten
zu sehen, wo noch etwas Neues geschah und wo man dem Abenteuer
begegnen konnte! Denn was war er eigentlich alle diese sechs Jahre
nachgejagt, wenn nicht den Abenteuern, dem Neuen? Morgen! ...

So dachte Allan Kragh, weil er eine jener Naturen war, die dazu
bestimmt sind, Abenteuer zu suchen; während er, wenn er das nicht
gewesen wäre, daran gedacht hätte, ein neues Leben zu beginnen und die
weiteren Vorlesungen des englischen Lektors zu besuchen.

Die Uhr zeigte am nächsten Morgen halbzehn, als Allan auf dem Trottoir
vor dem großen Hotel der Universitätsstadt seine Pläne in dem
Septembersonnenlicht einer Musterung unterzog. Und während er dasaß
und überlegte, ob ein gesunder und normaler Mensch den Schritt, den
er machte, machen konnte, ohne verfolgt zu werden, entdeckte er so
allmählich noch einen Grund, seinen unklaren Plan ins Werk zu setzen,
einen Grund, der möglicherweise etwas unkameradschaftlich war, aber
dafür in gewissem Maße das sonst recht Phantastische seines Vorhabens
aufwog.

Allan Kragh und seine Freunde waren schwedische akademische Bürger;
damit ist gesagt, in welcher Weise Allan seine Quartiermeisterschaft in
den berühmten Heerzügen der sechs Jahre ausgeübt hatte.

Selbst war er ja durch vorsorgliche Eltern von der Notwendigkeit
befreit, aus eigener Vernunft oder Kraft Geld aufzubringen; aber die
Eltern seiner Freunde waren nicht ebenso vorsichtig gewesen, und darum
war es auf Allans Los gefallen, ihnen in der erwähnten Hinsicht durch
verschiedentliche Autogramme zu Hilfe zu kommen. „Nicht der Endossent
allein gewinnt die Schlachten, die namenlosen Reihen gewinnen sie ihm,“
pflegte Hermann Bergius jedesmal zu versichern, wenn er, wie er sich
ausdrückte, Allan wieder einmal einen Ehrenposten zugedacht hatte;
aber in der Regel hatte Allan gefunden, daß der Endossent sich wie die
Feldherren früherer Zeiten selbst ins Kampfgewühl stürzen mußte, um
die Feinde nicht triumphieren zu lassen -- in diesem Falle die Banken.
Mit einem Wort: er hatte sich auf Dokumenten von einer Anzahl, die er
selbst nicht näher kannte, verewigt; und obgleich er zu dem Zeitpunkt,
zu dem der Feldzug des siebenten Jahres beginnen sollte, noch nicht
völlig erschöpft war, war er doch nicht allzu weit davon entfernt.
Wenn er nun, dachte er mit einem stillen Lächeln, seinen rasch
entstandenen Plan verwirklichte, und er schon zu gar nichts anderem
führte, konnte er doch wenigstens zur Folge haben, daß die namenlosen
Reihen sich gezwungen sahen, sich auf eigene Hand ohne den Feldherrn
durchzuschlagen -- bekanntlich der erstrebenswerteste Höhepunkt, den
die militärische Erziehung erreichen kann ... und das wäre ja immerhin
ein gewisser Vorteil für den in sechs Kriegsjahren geprüften Feldherrn,
für den Fall, daß sein eigener Kriegszug in unbekannte Länder mit
Niederlage und Rückzug enden sollte ...

Allan war boshaft genug, sich bei dem Gedanken an die nicht sehr
platonischen Dialoge, denen die namenlosen Reihen sich hingeben
würden, wenn sie die Niedertracht ihres Führers erkannten, ein Lächeln
zu gönnen. Dann klopfte er dem bejahrten, rotnasigen Kellner, der
seine einstündige Morgengrübelei an dem Trottoirtisch ehrfurchtsvoll
beobachtet hatte. Als dieser Allans Klopfen vernahm, stürzte er, wie
aus der Kanone geschossen, herbei.

„Wieviel?“

„Zwei Pilsner, sechzig Oere.“

Allan legte das Geld auf den Tisch und stand auf.

„Soll ich drinnen ein Frühstück für den Herrn Doktor bestellen?“

Allans Doktorpromotion hatte in den Hotels, nicht in der Universität,
stattgefunden. Allan schüttelte den Kopf.

„Herr Doktor warten vielleicht auf die anderen Herren Doktoren?“

„Das glaube ich nicht,“ sagte Allan, „sagen Sie ihnen, sie können auf
mich warten!“

Er warf einen Blick auf die Uhr. Halb elf; das Schiff ging um ein Uhr;
die Bank, das Packen, ein Paß -- er hatte gerade noch Zeit!

Zweiundeinehalbe Stunde später sah das Vaterland Herrn Allan Kragh an
Bord eines kleinen weißen Raddampfers steigen, einer von jenen, die
während der sechsjährigen Kriegsfahrten in das näher gelegene Ausland
oft als Wikingerschiffe gedient hatten. Die Taue wurden gelöst; die
Dampfpfeife tutete mit einem heiseren, versoffenen Baßton; die Räder
schaufelten das Wasser auf, und Herr Allan Kragh hatte mit zwölftausend
Kronen Bargeld (dem Rest eines einstmals fürstlichen Vermögens) sowie
zwei wohlgefüllten Reisekoffern und einem Spazierstock seine große
Reise in die Welt angetreten.

Vorwärts! Den Abenteuern entgegen! Schicksal _en garde_!



II

Vorsicht bei Eisenbahnfahrten!


„Diner, meine Herrschaften! Wünschen die Herrschaften zu dinieren?
Diner, meine Herrschaften, zweites Service jetzt fertig.“

Der Zug flog über die blinkenden Stahlschienen, Köln zu. Die Wagen
schlingerten in den Kurven und neigten sich bald auf die eine, bald auf
die andere Seite. Die Landschaft flog vorbei, flach und nichtssagend;
vor ein paar Stunden hatte man Osnabrück passiert. Der Septemberhimmel
war klar, blau, unendlich hoch, mit leuchtenden, weißen Wolkenmassen,
die einander jagten; der Wind war frisch, kühl mit einem feinen, schon
vernehmlichen Herbstduft. Ab und zu, wenn man an irgendeinem Fluß oder
Kanal vorbeiflog, war sein Wasser durchsichtig grün, und hier und dort
segelten früh abgefallene Blätter auf seinem Spiegel. Der Zug hastete
weiter und weiter; und Allan Kragh stand in private Meditationen
versunken, den Kopf halb zu einem Korridorfenster hinausgestreckt,
ohne sich daran zu kehren, daß der Wind ihm ins Gesicht peitschte und
hie und da Rußflocken von der Lokomotive mitbrachte. Die Stimme des
Speisewagenkellners weckte ihn aus seinen Grübeleien; er sah auf seine
Uhr, die etwas über eins zeigte und erinnerte sich plötzlich, daß er
seit den zwei Eiern und dem Kaffee im Hauptbahnhof in Hamburg nichts
gegessen hatte. Zugleich mit diesem Gedanken verspürte er mit einem
Male einen vortrefflichen Appetit. Er nickte dem Mann in der weißen
Jacke zu und bekam von ihm eine Platzkarte.

„Ganz besetzt heute, für alle Diners,“ vertraute er Allan an, wie um
diskret anzudeuten, daß das Trinkgeld danach sein sollte.

„Hat das Service schon begonnen?“ fragte Allan.

„In zwei Minuten, mein Herr.“

Der Abgesandte des Speisewagens eilte weiter, und Allan ging durch den
schwankenden Korridor in die Toilette am anderen Ende des Wagens.

Aus welchen Anlässen Allan Kragh sich in diesem Zug befand, ist
eigentlich nicht leicht zu erklären -- richtiger gesagt, der einzige
Anlaß, der vorlag, war so bizarr, daß er lächerlich wirkt, wenn man
ihn erzählt. Am frühen Morgen dieses Septembertages war er nach
Hamburg gekommen, ohne die leiseste Ahnung, wohin er seine Schritte
lenken oder was er zunächst unternehmen sollte. Er machte aufs
Geratewohl einen Spaziergang um das Viertel gegenüber der Ankunftseite
des Hauptbahnhofes, befand sich nach einigem Herumirren unten an
der Alster, und dachte schon daran, bis auf weiteres in Hamburg zu
bleiben, das eine schöne und anziehende Stadt zu sein schien. Dann
verabschiedete er diesen Gedanken wieder und kehrte durch die noch
morgenleeren Straßen (die Uhr war etwas über sieben) zum Hauptbahnhof
zurück. Er fand ihn mit allen modernen Bequemlichkeiten versehen, ließ
sich rasieren, wechselte etwas Geld und nahm ein hastiges Frühstück in
dem großen Restaurant ein. Fünf Minuten vor halb acht Uhr wurde von
einem galonierten Bediensteten ein Zug nach Paris ausgerufen; Allan
verließ das Restaurant, noch immer im Unklaren, was er tun sollte,
und ging zu den Billettschaltern. Fahrpläne bedeckten die Wände in
militärischen Kolonnen; keine verlockenden Affichen mit Bildern des
blauen Meeres und der grünen Wälder, nur Betriebsverordnungen und
Ziffern. Vor einem der Billettschalter für den Fernverkehr standen drei
Personen, die plötzlich Allans Aufmerksamkeit erregten: Ein junger
Mann von vielleicht dreißig, etwa von seiner eigenen Statur, mit einem
glattrasierten dunklen Schauspielergesicht, kurzen Koteletten und
goldgefaßtem Zwicker; ein alter Herr mit roter Raubvogelnase, gelben,
stechenden Trinkeraugen und einem gelbgrauen Schnurrbart; ferner eine
junge Dame in grünem Reisekostüm, um den Hals ausgeschnitten, über
die Hüften knapp anschließend und so fußfrei, daß zwei Knöpfelschuhe
mit grauen Gamaschen zu sehen waren. Ihr Gesicht hatte einen etwas
hochmütigen Ausdruck, mit zwei großen grauen Augen und einer etwas
geschürzten Oberlippe. Es war äußerst frappierend unter dem Reisehut
in schwarz und grün, der wie ein Musketierhut auf ihrem rotblonden
Haar saß. Sie hatte drei oder vier amerikanische Zeitschriften in
der Hand. Allan verschlang sie mit den Augen: Sie hätte d’Artagnans
Geliebte sein können oder eine der schönen blonden Agentinnen des
Kardinals. Jetzt eilte der jüngere Herr vom Billettschalter fort; der
ältere nahm seinen Platz ein, auf dem Fuß gefolgt von der auffallenden
jungen Dame, die einige Goldmünzen zwischen ihren behandschuhten
Fingern hielt. Nun ging der ältere Herr, und sie nahm seinen Platz ein.
Allan kam ein Einfall, und er folgte nach. Er hörte sie in vollkommen
korrektem Deutsch sagen: „Erste einfach, Paris.“ Sie stellte noch
ein paar Fragen, die der Mann am Schalter beantwortete. Sie war also
eine Deutsche, obwohl sie so amerikanisch aussah. Nun hatte sie ihre
Fahrkarte. Allan verließ den Billettschalter und folgte ihr in einiger
Entfernung. Er sah sie etwas Reisegepäck aufgeben und die Treppe zum
Perron hinuntergehen. Sie war in ihrem raschen, elastischen Gang noch
schöner, als wenn sie stille stand. Er sah sie noch dort unten den Zug
entlang gehen, dann war sie außer Sehweite. Der galonierte Mann kam
durch die Bahnhofshalle gewandert und schrie mit Stentorstimme:

„Schnellzug nach Paris und Holland! Eine Minute!“

Da kam Allan eine barocke Idee. Ohne zu überlegen, was er tat, oder
weshalb er es tat, stürzte er zum Billettschalter zurück, an dem er die
drei gesehen, riß eine Banknote heraus und rief dem Mann dahinter, der
ihn vorhin, als er gegangen war, ohne eine Karte zu lösen, erstaunt
angestarrt hatte, zu:

„Paris, einfach, erste!“

„Sie müssen sich aber eilen!“ schrie der Mann zurück. „Der Zug geht um
sieben Uhr neununddreißig. -- Sie haben gerade noch vierzig Sekunden.“

Allan stürzte zurück, das Billett in der Hand, während in seinem
Kopf sich die Gedanken kreuzten. Das war der helle Wahnwitz ... Sein
Gepäck stand in der Garderobe deponiert; er hatte unmöglich Zeit,
es herauszubekommen; er mußte natürlich diesen geistesgestörten
Einfall aufgeben. -- Oder sollte er das Gepäck hier lassen und später
telegraphieren? Das war offenkundig vollkommen irrsinnig ... Es gingen
ja noch Züge, aber ... aber sie fuhr mit diesem! Wenn es ihm gelang,
ihr von dem Opfer zu erzählen, das er um ihretwillen gebracht, würde
sie das vielleicht rühren ... Ohne daß er wußte wie, hatte er die
Kontrolle passiert, stürzte Hals über Kopf eine Treppe hinunter, zu
einem Zug, der sich eben in Bewegung setzte, während die Schaffner die
letzten Türen zuschmetterten. -- Da, gerade noch in der letzten Sekunde
war er mit einem Sprung in einem der rückwärtigsten Waggons. Glücklich
hinaufgekommen, zauderte er wieder. Das war ja der reine Wahnsinn!
Sollte er wieder abspringen? Dann zuckte er die Achseln mit einem
Lächeln über sich selbst.

„Fahre ich mit,“ murmelte er vertraulich dem Korridorfenster zu,
„dann brauche ich wenigstens keine Polizeistrafe wegen unerlaubten
Abspringens zu bezahlen.“

Nachdem er sich überzeugt hatte, daß er sich im letzten Personenwagen
befand, machte er sich auf die Wanderung durch die Korridore, um nach
der Unbekannten auszuschauen.

Der Wagen, in dem er gelandet war, war ein Waggon dritter Klasse; er
ging durch, ohne sich die Passagiere näher anzusehen. Darauf folgte
ein durchgehender Waggon zweiter Klasse nach Amsterdam, er drängte
sich mit einer gewissen Schwierigkeit hindurch, so voll war er von
Passagieren. Darauf kam ein direkter Wagen nach Süddeutschland, beinahe
ganz besetzt. Daran schloß sich der Speisewagen. Hier war es verboten,
zu passieren, da man sich durch die Küche hätte drängen müssen. Allan
versuchte es mit Bestechungen, deren Annahme verweigert wurde, und
erhielt den Bescheid, daß er bis Bremen warten müsse, wo man eine
Minute Aufenthalt hatte. Er setzte sich an einem Fenster im Korridor
des süddeutschen Wagens zur Ruhe, wo er sich von dem Morgensonnenschein
durchrieseln ließ und nach Herzenslust die kühle Septemberluft
einatmete. Er dehnte die Brust und lachte in sich hinein; das war doch
etwas anderes, als auf den ausgetretenen Straßen dieses Provinz-Sybaris
herumzustampfen! Plötzlich begannen die Wagen gegeneinanderzurasseln,
der Zug wurde langsamer und rollte durch eine Vorstadt von roten
Ziegelvillen in Bremen ein. Im Handumdrehen war Allan draußen in der
Bahnhofshalle, kaufte sich ein Päckchen Zigaretten, etwas Obst und
einige Zeitungen und sprang in das nächste Coupé nach dem hinderlichen
Speisewagen.

Er wartete, bis der Zug sich in Bewegung setzte, bevor er seine
Forschungen wieder aufnahm. Dieses Mal waren sie von besserem Erfolg
gekrönt. Der Wagen hinter dem, in den er aufgesprungen war, war
ein Wagen erster und zweiter Klasse nach Paris, und in der dritten
Coupéabteilung der ersten Klasse saß die Unbekannte.

Leider war sie nicht allein. Der alte Herr mit der roten Raubvogelnase
und dem buschigen, graugelben Schnurrbart, saß ihr gegenüber am
Fenster; sie fuhr zurück, er in der Richtung des Zuges. Sie schienen
einander fremd zu sein. Allan sah einen Augenblick zögernd in den
Wagen; der alte Herr mit der feinen Rotweinnase hatte das Netz auf
seiner Seite mit einer Menge Gepäck beladen -- _suitcases_,
_gladstone-bags_, Reiseplaids, Fernstecherfutterale und weiß
Gott was -- es stand im Verhältnis zum vornehmen Aussehen seines
Riechorganes. Die Unbekannte ihm gegenüber hatte zwei kleine Täschchen,
eine Hutschachtel und einige Reisekissen. Im Augenblick saß sie in
einer künstlerisch berechneten Pose zwischen vier Stück der letzteren
hingegossen und schien zu schlafen. Allan starrte bewundernd ihr
Rasseprofil an und den Schatten, den ihre Wimpern auf der feinen
Wange bildeten; ihr rotblondes Haar, das wellig und reich war,
schien ein wenig derangiert. Der fußfreie Reiserock war ein bißchen
hinaufgeglitten und zeigte eine schlanke, aber volle Wade über der
grauen Gamasche. Nach ein paar Augenblicken andächtiger Versunkenheit
trat er ein und setzte sich auf das Sofa des alten Herrn.

Dieser begrüßte sein Erscheinen mit einem Blick des herzlichsten
Widerwillens. Er schlug sein Auge zum Netz auf, wie um anzudeuten,
daß, wenn Allan (der sich zu allen Teufeln scheren mochte) sein ganz
unerwünschtes Reisegepäck dort placieren wollte (was Gott verhüte),
er genötigt wäre, seine eigenen, dort befindlichen Habseligkeiten
fortzuschieben. Allan zuckte die Achseln mit einer Miene, die der der
Rotweinnase an Mitreisendenverachtung nur wenig nachgab, und kundgeben
sollte, daß er (der nach internationalen Konventionen das volle Recht
hatte, in der Klasse zu reisen, für die er eine Karte gekauft hatte) es
aus einer Laune vorzog, während er in diesem preußisch-hessischen Wagen
fuhr, sein Reisegepäck, das den Vergleich mit dem des bordeauxnasigen
alten Herrn in diesem Zug keineswegs zu scheuen brauchte, von der
Garderobe des Hamburger Hauptbahnhofs verwahren zu lassen. Nach diesem
Austausch von Florettblicken ließen sich die beiden Herren in Ruhe
auf ihren Plätzen nieder; die Raubvogelnase im Schutze des Hamburger
Fremdenblattes, Allan ohne Bedeckung. Die Augenwimpern der jungen Dame,
die sich ein paar Sekunden eine Ahnung gehoben hatten, ohne daß jemand
es gesehen, nahmen ihre frühere entzückende Lage auf den Wangen wieder
ein.

Der Zug sauste weiter, und die Wolken leuchteten im
Septembersonnenschein. Allan versank in vage Träumereien, während seine
Augen über sein Visavis hin und her wanderten.

Man war nun etwa auf halbem Wege von Bremen nach Osnabrück (die Uhr
zeigte ungefähr zehn), als plötzlich ein Kondukteur erschien, um die
Billette zu markieren und Platzkarten auszufertigen. Allan reichte sein
Billett hin, das besichtigt wurde; der alte Herr mit der Raubvogelnase
desgleichen. Die Unbekannte in der Fensterecke schlief noch immer. Der
Kondukteur räusperte sich und ließ ein paar vergebliche „Gnädige!“
hören. Sie rührte sich nicht. Allan glaubte eine Chance zu sehen. Er
beugte sich vor und legte seine Hand vorsichtig auf jene Stelle ihres
grünen Reisekostüms, wo man die Rundung des Knies ahnte. Sie schlug die
Augen auf, starrte einen Augenblick Allans Hand an, die dieser noch
nicht zurückgezogen hatte und fuhr mit einer Miene so unverkennbaren
Widerwillens auf, daß Allan zurückprallte, während eine lebhafte Röte
sich über sein Gesicht verbreitete. Der Kondukteur lächelte diskret und
wiederholte sein: „Gnädige!“ Die Unbekannte reichte ihm ihre Fahrkarte,
während ihre Augen damit beschäftigt waren, Allan zu morden; worauf
sie plötzlich vom stummen Spiel zur Sprechszene überging. Und zwar auf
englisch. -- Allan war ein wenig erstaunt, da sie auf dem Bahnhof in
Hamburg perfekt deutsch gesprochen hatte. Sie mußte doch voraussetzen,
daß er ein Deutscher war. Sie wandte sich an den alten Herrn mit der
Raubvogelnase.

„Sir, ich vermute, Sie verstehen meine Sprache? Ich spreche die Ihre
nicht.“

Lüge, dachte Allan, aber warum?

„Ich spreche Ihre Sprache,“ sagte der alte Herr.

„Danke. Wissen Sie, ob dieser junge Mensch dort sich noch andere
Freiheiten gegen mich herausgenommen hat, während ich geschlafen habe?“

Der alte Herr warf Allan einen Dolchblick zu und sagte:

„Das weiß ich nicht, ich habe Zeitung gelesen.“

„Es ist gut. Ich danke Ihnen.“

Sie brach in einen Strom von indigniertem Amerikanisch aus: Eine Dame
konnte also in Europa nicht allein mit der Eisenbahn fahren, ohne vom
ersten besten beleidigt zu werden? -- Warum gab es keine Damencoupés?
Man sollte glauben, daß Leute, die die Mittel hatten, erster Klasse zu
reisen, Gentlemen wären.

Der alte Herr hörte ihr mit sichtlicher Billigung zu. Allan, der kaum
wußte, ob er schlief oder wachte, begann eine stammelnde Entschuldigung:

„Madame, gestatten Sie mir, Ihnen zu erklären ...“

„Wie können Sie es +wagen+, mich anzusprechen?“ rief sie.

Das war Allan doch zu stark. Er erhob sich mit der ironischsten Miene,
die er aufbringen konnte -- er fühlte, daß seine Wangen vor Verblüffung
und Zorn noch ganz rot waren -- und sagte mit einer untertänigen
Verbeugung:

„Gestatten Sie mir, Sie in einem Punkte zu korrigieren, Madame. Wenn
Sie es vermeiden wollen, noch mehr Gentlemen von meiner Art zu treffen,
steht dem kein Hindernis im Wege: Das nächste Coupé ist ein Damencoupé.“

Mit so viel Würde, als man aufbringen kann, wenn man mit einem Stock,
vier Zeitungen und einem Obstsack beladen ist, verließ er das Coupé.
Ein langes, eiskaltes „_im--per--ti--nence_“ der Unbekannten
durchbohrte seinen Rücken mit einem letzten Stich.

Der erste Mensch, den er im Korridor erblickte, war zu seiner
Ueberraschung niemand anders als der dritte des Trios, das er beim
Billettschalter in Hamburg gesehen -- der dunkle Mann mit dem
Schauspielergesicht, den Koteletten und dem goldgefaßten Zwicker. Als
Allan aus der Coupétür trat, hatte er einen Augenblick den Eindruck,
daß dieser Herr die ganze Szene drinnen verfolgt hatte und daß ein
halb unmerkliches Lächeln um seine Mundwinkel zitterte. Aber im
nächsten Augenblick waren seine Augen schon gerade durch die offene
Türe seines eigenen Coupés gerichtet, in fernschauende Bewunderung
der Heidelandschaft dort draußen versunken. Allan warf ihm einen
kurzen Blick zu und ging an ihm vorbei den Korridor hinunter. Die
anderen Wagenabteile waren mehr oder weniger voll, mit Ausnahme des
Damencoupés, über dessen Existenz er die Unbekannte eben aufgeklärt
hatte. Er kehrte zu dem Abteil zurück, vor dem der Mann mit dem Zwicker
postiert war und fragte mit einer leichten Handbewegung:

„Sie gestatten?“

„Natürlich.“

Der Mann mit dem Schauspielergesicht neigte artig den Kopf. Allan ging
hinein, warf sich auf das unbesetzte Sofa und zündete eine Zigarette
an, nachdem er sich vorsichtig vergewissert hatte, daß er sich in einem
Rauchcoupé befand.

Solch eine kleine, unverschämte Hexe! Amörrica, Amörrica! Hol’ der
Teufel Amörrica und alle Amörrikanerinnen. Ferner mochte der Teufel
ihn selbst holen und alle anderen Idioten, die sich auf sogenannte
Abenteuerfahrten einließen, von falschen Irrlichtern gelockt. Und
schließlich mochte er ihn selbst noch einmal holen, weil er von seinem
Gepäck in Hamburg weggereist war, um sich ohne allen Anlaß von einer
unverschämten, kleinen, schönen, verdammten Hexe beschimpfen zu
lassen....

Seine ärgerlichen Betrachtungen dauerten ein paar Stunden. Der
Zug sauste durch Osnabrück mit einigen Augenblicken der Pause in
dieser friedenschließenden Stadt; er brauste weiter gegen Köln;
Leute wanderten dem Speisewagen zu, um sich an dem Zwölfuhrdiner zu
erquicken; unter anderen sah er die Amerikanerin und den alten Herrn
mit der Raubvogelnase hinpilgern, jetzt im eifrigen Gespräch; aber
Allan hatte das Interesse für das Ganze verloren. Die Septemberluft,
die eben noch klar und blau gewesen, wie die Luft bei einem Abenteuer
sein muß, war nunmehr kalt und von abstoßender Farbe; die Sonne ohne
jede Wärme. Der Herr mit dem Zwicker kam in den Wagen und vertiefte
sich in das Studium eines illustrierten Katalogs. Hie und da warf er
einen verstohlenen Blick auf Allan, den dieser jedesmal mit einem
herausfordernden Starren erwiderte. Schließlich ging Allan in den
Korridor hinaus und hatte da wohl dreiviertel Stunden lang den Kopf zu
einem Fenster heraushängen lassen, als der Agitator des Speisewagens
ihn mit seinem: Wünschen die Herrschaften zu dinieren? aus seiner
mißmutigen Laune riß. Er machte eine rasche Toilette und steuerte durch
die Korridore dem Speisewagen zu.

Im Waggon neben seinem eigenen hatte er noch einen kleinen Chok; die
heißblütige Amerikanerin wandelte gerade in ladylikem Balancegang
durch den Korridor. Hinter ihr wurde der bordeauxnasige alte Herr
sichtbar, dessen Riechorgan leuchtender denn je war; im Munde hatte
er eine frischangezündete Havanna, deren rote Spitze neben besagtem
Organ nur unbedeutenden Effekt erzielte. Allan trat rasch in ein
Coupé, um das Paar vorbei zu lassen; als die junge Dame passierte,
entging ihm jedoch nicht ein Blick aus ihren grauen Augen -- aber
-- o Wunder! Sah er recht? Diese Augen schienen nun fast freundlich
mit der Ahnung eines Lächelns ganz tief drinnen. Sie fegte mit einem
Rauschen von Seidenunterkleidern vorbei. Der alte Herr, dessen Augen
einen befriedigten Sultanglanz angenommen hatten, watschelte hinter
ihr drein, ohne einen Blick für Allan oder überhaupt etwas anderes als
den weidenschlanken Rücken der Amerikanerin. Allan starrte ihnen nach,
und zuckte zusammen, als er am Ende des Korridors den Herrn mit dem
Schauspielergesicht erblickte, der die beiden mit dem hundertsten Teil
eines Lächelns durch seinen goldgefaßten Zwicker musterte. Allan sah
ihn einen Augenblick an und ging weiter.

Der Speisewagen war beinahe ganz besetzt; unten in der Ecke zunächst
der Küche fand sich noch ein Tisch für zwei, der frei war. Der
weißbejackte Agitator von vorhin wedelte mit einer Serviette quer über
den Wagen, um anzudeuten, daß es ihm mit unerhörter Schwierigkeit
gelungen war, Allan einen Platz an diesem Tisch zu reservieren. Allan
ließ sich nieder, sah die Speisekarte an und ging sodann zur Weinliste
über. Er war eben zu der Ueberzeugung gekommen, daß Graacher Auslese
der richtige September- und Reisewein ist, als sich jemand an dem
anderen Platz am Tisch niederließ. Er sah auf. Mit einer unlogischen
Ueberraschung erkannte er in seinem Tischkameraden den Mann mit dem
goldgefaßten Zwicker und dem Schauspielergesicht.

Dieser lächelte Allan wiedererkennend zu und begann dann zum Fenster
hinauszusehen. Allan betrachtete eine Weile die Zirkusnummer des
Kellners mit Schüsseln und Tellern zwischen den Tischen; jedesmal, wenn
der Zug sich in einer Kurve seitlich neigte und er selbst vom Schwung
auf eine Seite geschleudert wurde, dachte er mit einem Kitzeln in der
Magengrube: Jetzt geht die ganze Bescherung zum Teufel! Aber kein
einziges Mal gab es auch nur einen Fleck auf dem Tischtuch. Plötzlich
stand der Kellner mit einem Suppenteller vor seinem Platz. Allan
schnitt eine unwillkürliche Grimasse und schüttelte den Kopf. Suppe
um diese Tageszeit! Der Mann mit dem Zwicker lächelte wieder leise,
während er seinen Löffel in die Suppe tauchte.

„Sie sind kein Freund der deutschen Speiseordnung?“ sagte er.

„Nein, weiß Gott.“

„Der deutsche Wein sagt Ihnen besser zu?“

„Allerdings. Trinken Sie vielleicht ein Glas mit mir?“

Allans Laune stieg rasch um einige Grade, sowie er den Mund geöffnet
hatte; er begann zu erfahren, daß der Mensch ein Gesellschaftstier
ist, auch wenn er auf eigene Faust auf Abenteuer auszieht. Der Fremde
verbeugte sich leicht.

„Mit Vergnügen, wenn Sie mir gestatten, Ihre Liebenswürdigkeit später
zu erwidern.“

Allan winkte dem Kellner, ein Glas zu bringen. Er und der Fremde
tranken sich zu.

„Sie sind Skandinavier?“

„Warum glauben Sie das? Hört man es mir an?“

„Das eigentlich nicht, aber Ihr Aussehen sagt es mir, und dann noch so
irgend etwas Unbestimmtes. Ich möchte sogar wetten, daß Sie entweder
Schwede oder Norweger sind.“

„So?“

„Die Dänen erlernen nie unser a -- sie meckern. Und da Sie das nicht
tun --“

Allan nickte ohne die Hypothese des Fremden zu bestätigen. Allerdings
war er ja ziemlich groß und schlank, aber da er dunkel war, hätte ihn
das nicht verraten müssen, wenn seine Sprache es nicht besorgt hätte.
Der Mann mit dem Zwicker, der nun seine Suppe verzehrt hatte, beugte
sich vor und knüpfte die Konversation wieder an. Allan betrachtete
sein Gesicht, das energisch und intelligent war; die Augen unter den
Zwickergläsern schienen durchaus nicht von Kurzsichtigkeit geschwächt.
Es war unleugbar ein sympathisches Gesicht. Einmal, als der Fremde
nach einer Aeußerung, die er selbst gemacht hatte, in ein Gelächter
ausbrach, bemerkte Allan im Flug, daß einer seiner Backenzähne über
und über mit Gold plombiert war. Eigentümlicherweise grub sich dieser
kleine Zug, so wie es bei solchen kleinen Zügen oft der Fall ist,
in sein Gedächtnis ein; und obgleich er für den Augenblick kaum an
die Sache dachte -- er konnte ja nicht ahnen, daß er den Mann je
wiedersehen würde -- sollte es bei einer späteren Gelegenheit von einer
Bedeutung werden, die er jetzt unmöglich vorausahnen konnte. Plötzlich
merkte er, daß er so ganz damit beschäftigt gewesen war, den Fremden zu
beobachten, daß er ganz vergessen hatte, zuzuhören, was dieser sagte;
er zuckte zusammen, als er das Wort Paris mit fragender Betonung hörte
und nahm in der Eile an, daß sein Tischgenosse ihn gefragt hätte, wann
man dorthin käme.

„Ich weiß nicht,“ sagte er.

Der Mann mit dem goldgefaßten Zwicker sah ihn überrascht an.

„Sie wissen nicht, ob Sie nach Paris fahren?“ wiederholte er. „Dieser
Zug geht auf jeden Fall hin, wenn Sie es nicht wissen sollten!“

Allan wandelte eine plötzliche Lust an, mit sich selbst und seiner
heutigen Heldentat zu brillieren.

„+Das+ weiß ich,“ sagte er ernst. „Aber ich weiß hingegen nicht,
ob ich nach Paris fahre. Ich weiß es ebensowenig, als ich weiß, warum
ich überhaupt mit diesem Zug fahre.“

„Sie wissen nicht, warum Sie mit diesem Zug fahren?“

„Nein, oder warum ich überhaupt fahre.“

„Donnerwetter! Sie pflegen ganz einfach in einen Expreß einzusteigen,
ohne zu wissen, wohin er geht?“

„Ich habe es wenigstens heute morgen getan.“

„Donnerwetter! Darf ich fragen: Finden Sie bei solchen
Reisegewohnheiten Zeit zu vielem Packen?“

„Heute morgens nicht, das muß ich gestehen -- ich war gezwungen, mein
Gepäck in der Eile in Hamburg zurückzulassen.“

Und Allan ließ mit einer Gleichgültigkeit, eines Phileas Fogg würdig,
die rote Kontramarke aus dem Hamburger Hauptbahnhof durch die Luft
flattern. Nr. 374 stand in gotischem schwarzen Druck darauf. Der Fremde
starrte den Zettel und ihn mit einer Achtung an, die unter diesen
Verhältnissen höchst schmeichelhaft war, und trank nach noch einem
Donnerwetter einen Schluck aus seinem Rheinweinglas; Allan füllte es
mit Mäzengefühlen nach. Im selben Augenblicke kam der Fisch; nachdem
sich der Mann mit dem Zwicker vom Kellner hatte vorlegen lassen, nahm
er den Faden wieder auf.

„Verzeihen Sie, wenn ich indiskret bin: Sind Sie wirklich aus einer
bloßen Laune von Ihrem Gepäck mit einem Zug weggereist, an dem Sie kein
besonderes Interesse hatten?“

Er fixierte Allan, der jetzt gerade der Gegenstand der Obsorge des
Kellners war und für den Moment für nichts anderes Augen hatte als für
das Essen.

Es lag ein eigentümlicher Ausdruck der Spannung in den Augen des
Fremden; und wenn Allan aufgeblickt hätte, hätte er sehen können, wie
sein Visavis dem Kellner eine eigentümliche Grimasse schnitt: ein
Vorschieben der Lippen und zwei kurze Signale mit dem Kopf in der
Richtung nach Allan. Aber Allan hatte kein Auge für diese Grimasse,
und ebensowenig sah er, was darauf folgte: Der Kellner drehte hastig
den Kopf, fixierte ihn und zog die Augenbrauen in die Höhe, wobei er
den Mann mit dem goldgefaßten Zwicker ansah. Dieser formte hastig
ein Wort mit den Lippen, das der Kellner offenbar verstand, denn
er zog die Augenbrauen noch höher, und zum ersten Male während
des ganzen Mittagessens zitterte seine Hand. Das Ganze hatte kaum
fünfzehn Sekunden gedauert. Allan, der noch überlegte, ob er seinem
Tischkameraden die Episode mit der unbekannten Dame in Hamburg
mitteilen sollte, sah endlich auf.

„Eigentlich hatte ich einen Grund,“ sagte er, „mein Gepäck so im Stich
zu lassen, aber -- nun ja, ich weiß nicht recht, ob ich wagen kann, ihn
Ihnen zu erzählen. Aber es ist derselbe Grund, der mich veranlaßte,
diesen Expreßzug zu nehmen -- und der ist etwas delikater Natur.“

Der Herr mit dem Zwicker konnte gerade noch dem Kellner, der aufmerksam
gelauscht hatte, eine fast unmerkliche Geste machen, bevor dieser mit
den Schüsseln wieder verschwand. Dann hob er sein Glas.

„Gestatten Sie mir, zu fragen, ob Sie Bordeaux oder Burgunder
vorziehen,“ sagte er.

Sie blieben nach dem Dessert noch etwa eine halbe Stunde sitzen und
nippten an ihrem Kaffee, während der Zug weiter durch den klaren
Herbsttag brauste. Allan empfand mehr und mehr Interesse für seinen
Reisekameraden; er war unterhaltend, originell, offenbar viel gereist
und wußte Geschichten aus allen Ecken und Enden Europas zu erzählen.
Hie und da kam er wieder auf sein Erstaunen über Allans Art, einfach
von seinem Gepäck fortzufahren, zurück, und Allan fühlte sich mehr
und mehr befriedigt von sich selbst. Einmal verschwand er für einen
Augenblick und wechselte in der äußeren, nunmehr leeren Wagenhälfte
einige Worte mit dem Kellner, ohne daß Allan dies beachtete oder
weiter daran dachte. Als er zurückkam, begann er eine Geschichte, die
Allan Gelegenheit gab, seine Theorie, daß er ein Schauspieler sein
müsse, zu bestätigen; er erwähnte sogar flüchtig seinen Namen -- Ludwig
Koch. Allan erwog eben, ob es korrekt sei, sich vorzustellen oder
nicht, als der Zug in eine große Station einfuhr, wo er langsamer wurde
und stehen blieb. Der Mann mit dem Zwicker lehnte das Gesicht an die
Fensterscheibe, während man dem Perron entlang rollte. Mit der Hand
über den Augen musterte er rasch die Menschen auf dem Perron; offenbar
erkannte er jemand, denn ein leichter Ausruf entschlüpfte ihm. Er erhob
sich von seinem Platz, nickte Allan zu und eilte hinaus.

„Komme gleich wieder!“ rief er.

„Fahren Sie nur nicht von Ihrem Gepäck weg, wie ich,“ rief Allan zurück.

Der Mann mit dem Zwicker verschwand ohne weitere Repliken. Zu Allans
Erstaunen waren nach seinem Abgang kaum fünfzehn Sekunden verstrichen,
als der Zug mit einem Ruck aus der Station hinausrollte, deren Namen
Allan nicht bemerkte, so sehr war er damit beschäftigt, nach seinem
Tischgenossen auszulugen. Er sah keine Spur von ihm auf der Plattform;
er mußte also in eines der Coupés weiter vorne aufgesprungen sein.
Allan drehte den Kopf dem Eingang des Speisewagens zu, bereit, Herrn
Koch mit einem Glückwunsch zu begrüßen, daß die Sache noch gut
abgelaufen war, aber es vergingen ein und zwei Minuten, ohne daß Herr
Koch sich zeigte. Allan setzte sich wieder auf seinen Platz zurecht
und begann die Landschaft zu betrachten.

Der Zug rollte jetzt durch einen Fabrikdistrikt. Man sah nur hohe
Schlote, von denen der fette Rauch in langen, schweren Streifen,
die Meertang glichen, über den blauen Himmel wogte; graugelbe
Fabrikfassaden, Massen von Seitengleisen, wo schmutzigrote Güterwagen
angehäuft standen. Gras und Unkraut wucherte mager und gelb, als
hätte es Fieber; die Schlackenhaufen türmten sich darum wie um einen
Krater. Das Ganze war beklemmend, trostlos. In einer solchen Umgebung
zu existieren, für sein ganzes Leben lang an ein solches Gefängnis
gebunden zu sein ... Allan schauderte. Er sah zu dem abenteuerblauen
Septemberhimmel empor und freute sich, in diesem Wagen zu sitzen, der
in taktfesten Wellenbewegungen dahinrollte, und er zitierte halblaut
und pathetisch vier Zeilen von Snoilsky, die den Unterschied zwischen
einem Passagier erster Klasse und einem Lokomotivführer hervorheben.
Dann fiel ihm wieder Herr Koch ein, und er klopfte dem Kellner.

„Ich möchte zahlen, Ober. Ich muß dann hineingehen und mich nach meinem
Freunde umsehen.“

Ueber das Gesicht des Kellners huschte ein rasches Zucken, aber er
sagte nichts anderes als: „Sehr wohl,“ und kritzelte hastig einige
Hieroglyphen auf ein Blatt Papier.

„Neun Mark, sechzig Pfennig!“

Allan bezahlte und gab ein Trinkgeld. Plötzlich fiel ihm etwas ein.

„Aber Herr -- -- -- aber der andere Herr?“

„Hat schon bezahlt.“

„Hat schon bezahlt?“

„Jawohl, schon längst.“

Die Stimme des Kellners war so gleichgültig als nur möglich, und er
eilte weiter, sowie er geantwortet hatte. Allan unterdrückte ein
hastiges Gefühl des Staunens. Herr Koch hatte bezahlt! Pflegte man im
Speisewagen zu bezahlen, bevor man fertig war? Und insgeheim? Er für
seine Person hatte Herrn Koch dem Kellner keinen Pfennig geben sehen.
Er zuckte die Achseln und ging in sein Coupé zurück, um Herrn Koch zu
interviewen, wie die Sache zugegangen war.

Der Zug hatte wieder begonnen zu schwanken und zu schlingern, und
es brauchte einige Zeit, und nicht wenig Balancierungskunst, um
glücklich durch die Korridore zu kommen, die jetzt leer waren.
Einmal kam ein so heftiger Stoß von einem Stationswechsel, den man
im Eilzugstempo passierte, daß Allan ganz linksum geworfen wurde.
Zu seiner Ueberraschung erblickte er am anderen Ende des Korridors
keinen geringeren als den Speisewagenkellner, der ihm zu folgen
schien. Im selben Augenblicke, in dem Allan den Mann ansah, verschwand
er jedoch in ein Coupé. Allan erinnerte sich, daß man sich auch in
den Coupés servieren lassen konnte, und vermutend, daß der Mann zu
diesem Behufe da war, ging er weiter. Endlich hatte er seinen Wagen
erreicht. Er ging an dem Coupé vorbei, das die Amerikanerin und der
alte Herr mit Beschlag belegt hatten, und zog die Schiebetüre zu seinem
eigenen Abteil zurück. -- Nun, Herr Koch, Sie sind ja gar nicht
wiedergekommen! hatte er auf den Lippen, als er plötzlich innehielt.

Herr Koch befand sich nicht in dem Coupé. Das Coupé war leer.

Allan blieb eine Minute in der Türe stehen, bevor er sich entschloß,
einzutreten. Was in aller Welt? Er war gar nicht da? Sehen wir mal,
sein Gepäck ... Es war auch kein Gepäck da! Nur eine ganz diminutive
Handtasche. Plötzlich kam ihm eine blitzartige Erinnerung: Es war
ja auch zu der Zeit, als Herr Koch noch im Coupé saß, kein anderes
Gepäck dagewesen. Herr Koch reiste fast ebenso ohne Gepäck wie er
selbst ... Er fuhr aus seinen Gedanken bei dem Laut diskreter, beinahe
schleichender Schritte im Korridor auf. Bei allen Göttern, war das
nicht schon wieder der Speisewagenkellner!

Diesmal berührte seine Anwesenheit und sein blitzschnelles
Hineinblicken in Allans Coupé diesen als so unnötig, ja geradezu
eigentümlich, daß er von seinem Platz aufsprang und in den Korridor
hinausstürzte, um mit dem dienenden Bruder ein Wörtchen zu sprechen.
Aber dieser war schon in den nächsten Wagen verschwunden, und Allan
kehrte mit gerunzelter Stirne zu seinem Platz zurück. Ein paar
Augenblicke dachte er daran, den Schaffner aufzusuchen und mit ihm über
Herrn Kochs Schicksal zu beratschlagen; dann beschloß er, sich einen
blauen Teufel darum zu scheren -- er kannte den Mann ja gar nicht --
und versank in das Studium des einzigen Gepäckstückes, das dieser,
abgesehen von der diminutiven Handtasche auf dem Sofa zurückgelassen
hatte, einen illustrierten Katalog einer Zauberfirma in Berlin.

Es war ungefähr fünf Uhr, als der Zug in die Bahnhofshalle von Köln
rollte, wo Allans erstes wirkliches Abenteuer begann. Er vergaß
nachher nie das Nachmittagssonnenlicht, das die gewaltige Halle mit
gelben Staubgürteln durchzog. Der breite Perron war voll von Menschen,
die durcheinanderwimmelten, von Zeitungs- und Bücherkiosken, von
Verkaufsständen, wo man Bier, Bananen und Bäckereien bekam. Eine alte
Vettel, im Hinblick auf die Gestalt von frappanter Aehnlichkeit mit
einem _Ballon captif_, im Begriffe, die Vertauungen zu lösen,
hatte die Rolle des Blumenmädchens übernommen. Allan zog den Kopf vom
Coupéfenster zurück und streckte die Hand zum Netz nach seinen einzigen
Gepäckstücken aus -- einem Hut und einem Stock (der Ueberrock war in
Hamburg geblieben). Er wollte aussteigen, um seine Beine ein bißchen
auszugraden. Eben hatte er den Hut auf den Kopf gesetzt, als die Türe
seines Coupés von drei Gestalten verdunkelt wurde. Der vorderste trug
einen diskreten zivilen blauen Sakkoanzug; hinter ihm gewahrte Allan
zu seiner unaussprechlichen Verwunderung einerseits den weißbejackten
Kellner aus dem Speisewagen, andererseits einen kolossalen behelmten
Schutzmann.

Allans erster Impuls (wie wahrscheinlich auch der des Lesers) war,
einen Schritt zurückzutreten, während er das Trio anstarrte; er hatte
Zeit zu einem Schritt, aber nicht zu mehr, denn offenbar befürchtend,
daß er zum Fenster hinausspringen könnte, stürzten der Mann in Zivil
und der Polizist auf ihn los, legten jeder eine Hand auf seine
Schulter und riefen mit Stentorstimme:

„Im Namen des Gesetzes, Sie sind verhaftet!“

Allan war zu betäubt, um an Widerstand zu denken. Der einzige Gedanke,
den er formulieren konnte, war: Was zum Teufel soll das heißen? Ist
das die Rache der Akzeptanten? Lassen sie mich durch diese Schergen
heimholen? Nun tat der Zivilist (ein schwammiger Herr mit schwitzenden
Händen) seinen Mund auf und sagte hohnvoll:

„Machen Sie kein so erstauntes Gesicht, mein lieber Benjamin Mirzl! Man
weiß schon, daß Sie sich verkleiden können. Aber es gibt Leute, die
Ihre kleinen Kniffe durchschauen. Kommen Sie ohne Aufsehen mit. Sie
können sich dieses Mal einen Träger für Ihr Gepäck ersparen.“

„Gepäck? Das ist nicht meine Tasche,“ gelang es Allan hervorzustoßen.

„Natürlich nicht! Haha, natürlich nicht!“

„Mein Gepäck steht in Hamburg,“ schrie Allan außer sich, während eine
dunkle Ahnung des Zusammenhanges sich aus den Nebeln in seinem Innern
kristallisierte.

„Haha, ja gewiß, ja gewiß! Warum nicht in Petersburg? Nein, nein,
Mirzl, Sie sind in der Schlinge gefangen. Machen Sie gute Miene, das
ist wohl das einzige, was Sie tun können.“

„Ich heiße nicht Mirzl, oder was Sie da zum Donnerwetter sagen, ich
heiße Kragh, und ...“

„Stillschweigen!“ brüllte der gigantische Schutzmann, dessen Gemütsruhe
durch die Lorbeeren des Zivilisten gestört wurde. „Mit aufs Amt, und
keinen Ton, dann werde ich mich hinter Ihnen halten.“

„Aber ...“ setzte Allan an und hielt inne; es hatte ja keinen Zweck,
+hier+ zu protestieren. Mit einem Achselzucken trat er in den
Korridor. Der Zivilist mit Herrn Kochs diminutiver Tasche folgte
ihm auf dem Fuße und der Mammut-Schutzmann beschloß die Prozession.
Plötzlich hörte Kragh den Kellner rufen:

„Aber meine Belohnung! Wo kann ich mir die abholen?“

„Das werden Sie später erfahren!“ rief der Mann in Zivil über die
Achsel zurück. „Uebrigens sind Sie ja zwei; der in Essen ausgestiegen
ist, wird Ihnen schon nicht das Ganze lassen.“

Mit diesen Worten des Zivilisten im Ohr, ihn selbst an seiner Seite
und den gewaltigen Gesetzeswächter hinter sich, passierte Allan das
Paar im anderen Coupé -- die Amerikanerin und den alten Herrn mit der
Raubvogelnase. Er sah, wie sie ihre feinen Augenbrauen emporzog und dem
bordeauxnasigen Alten etwas zuflüsterte -- die waren jetzt offenbar ein
Herz und eine Seele. Er senkte den Kopf, um nicht mehr zu sehen und
ging nach rechts, in der Richtung, die der Zivilgekleidete angab. Was
hatte das Ganze zu bedeuten? Abenteuer, Septemberabenteuer in Sonne
und blauer Luft -- das sah mehr nach totaler Sonnenfinsternis und sehr
eingeschlossener Luft aus. Was hatte das Ganze zu bedeuten?

Kein Philosoph hätte sich diese Frage mit mehr Nachdruck stellen können.

              --  --  --  --  --  --  --  --  --  --  --

„Das ist Ihr Paß? Sie sind Herr Allan Kragh, Student, schwedischer
Bürger?“

Allan bejahte diese beiden Fragen mit einem Nachdruck, der nur von
seiner Furcht, den kleinen dicken Polizeirichter, der Geijerstam
ähnlich sah, unwiderruflich zu verletzen, gedämpft war. Keine schwarzen
Fahnen jetzt, nur weiße Friedensflaggen, bis man loskam. Anderthalb
Tage im schwarzen Loch!

„Warum haben Sie nicht schon früher bei mir protestiert, wenn das Ihr
Paß ist?“

Allan fixierte den geijerstamähnlichen Repräsentanten der Gerechtigkeit
und schluckte erst einige kernige schwedische Ausdrücke, bevor er
erwiderte:

„Ich habe doch vom ersten Augenblick an gesagt, wer ich bin, obgleich
Ihre verdamm -- -- -- obgleich niemand auf mich hören wollte. Es wurde
als mathematisch feststehend angesehen, daß ich Mirzl sein muß -- wer
zum Teufel nun dieser Mirzl ist! Mirzl! In meinem Leben habe ich nichts
von einem Mirzl gehört.“

„Dann lesen Sie die Zeitungen schlecht, oder auch sind die schwedischen
Zeitungen hinter ihrer Zeit zurück. Nun gut, wir werden telegraphisch
anfragen. Fällt die Antwort zu Ihren Gunsten aus, werden wir Ihre Sache
schon heute nachmittag in Erwägung ziehen.“

„Danke allerergebenst, danke +aller+...“

„Aber ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß uns die Sache mit der
Handtasche sehr bedenklich vorkommt. Sie enthielt allerdings nichts
direkt Kompromittierendes, aber es ist bekannt, daß Mirzl eine solche
Tasche in seinem Besitz hatte, als er aus Berlin verschwand.“

„Die Tasche! Wie oft muß ich noch sagen, daß das nicht mein Gepäck ist?
Daß mein Gepäck in der Garderobe in Hamburg mit dieser Kontramarke
steht und ...“

„Sie werden zugeben, daß man nicht gerade häufig sein Gepäck in der
Garderobe in Hamburg läßt, wenn man mit dem Expreßzug nach Paris fährt?
... Nun ja, nun ja, wir werden telegraphieren!“

Es vergingen sechs Stunden, bis Allan den Polizeirichter mit dem
rundbäckigen Aussehen, den Brillen und dem Schnurrbart wiedersah. Als
es dazu kam, war es in einem kleinen, ganz ungestörten Raum des großen
Amtsgebäudes. Der kleine Mann mit dem literarischen Aussehen hielt ein
paar Telegramme in der Hand und betrachtete abwechselnd eine Karte des
Deutschen Reiches und ein Album mit vielen Photographien.

„Ja, ja, wir haben untersucht, wir haben telegraphiert ... ich muß
sagen, Herr Kragh, Sie haben höchst außerordentliche Erfahrungen
gemacht. Ist das Ihre erste längere Reise ins Ausland?“

„Ja“ (erbittert).

„Das glaube ich, ich konnte es mir denken. Höchst außerordentliche
Erfahrungen, das muß ich sagen.“

„Ist Ihnen meine Identität bestätigt worden?“ (äußert erbittert, denn
sechs Stunden der Abgeschiedenheit bei spartanischer Kost tragen nicht
gerade dazu bei, die Laune zu verbessern.)

„Wir glauben es. Ja, wir glauben, überzeugt sein zu dürfen, daß Sie
tatsächlich Herr Allan Kragh aus Schweden sind.“

„Gedenken Sie mich also loszulassen? Gedenken Sie die Bevölkerung von
Köln diesem Risiko auszusetzen? Ist das Kölnischwasser eingesperrt? Und
der Dom bewacht?“

„Einen Augenblick, Herr Kragh. Wir bedauern den Mißgriff sehr, wir
bedauern ihn außerordentlich, und wir wollen Sie gerne, soweit es in
unseren Kräften steht, schadlos halten. Natürlich werden Sie sofort
in Freiheit gesetzt (die Stimme des Polizeirichters war so sanft und
versöhnlich, daß es beinahe klang, als spräche er finnisch). Gestatten
Sie mir nur eine Frage: Waren in Ihrem Gepäck in Hamburg große Werte
enthalten?“

„Werte? Hm. Das gewöhnliche Reisegepäck, einige Anzüge und dergleichen.
Gold und Juwelen nicht.“

„Ausgezeichnet ... Ihr Garderobeschein hatte die Nummer 374?“

„Ja, was meinen Sie?“

„Warten Sie ein bißchen! Hm ... 374. Nun wohl, Herr Kragh, warum sollte
ich Ihnen die Sache verbergen: Ihr Gepäck ist gestohlen.“

„Gestohlen? Stiehlt man Gepäck, das einer deutschen Eisenbahngarderobe
eingeliefert ist? Ich habe meinen Schein.“

„Ja, ja, Ihren Schein, Nr. 374, drei Kolli. Aber vorgestern, als Sie
... als Sie irrtümlich angehalten wurden, kam ein Telegramm an die
Garderobe, die drei Kolli auf Nummer 374 expreß nach Osnabrück zu
schicken; der Inhaber habe nicht Zeit gefunden, sie abzuholen. Die
Garderobe sandte sie noch am selben Tage ab, sie wurden um sechs Uhr
abends in Osnabrück (mit einem falschen Gepäckschein, wie wir allen
Grund haben, zu vermuten, ja allen Grund) von einem Herrn abgeholt,
der sofort nach Holland weiterreiste ... Ihre zwei Handkoffer und Ihr
Ueberrock, Herr Kragh, sind also gestohlen.“

„Putz weg! Donnerwetter ...“ Allan starrte den sanftäugigen
Polizeirichter ganz verblüfft an. „Wer in Teufels Namen ...“

„Ja, wer kann die Nummer Ihres Garderobescheines wissen! Hat man Sie im
Hamburger Bahnhof darangekriegt? Wir verstehen die Sache ebensowenig
wie Sie selbst -- und Sie sollten sie besser verstehen als wir. Ja, das
sollten Sie wirklich.“

Allan bog in einen neuen Gedankenkanal ein.

„Das sollte ich! Aber wie konnten Sie sich unterstehen, mich zu
arretieren? Warum haben Sie diesem Kerl Gelegenheit gegeben, mein
Gepäck zu stehlen? Haben Sie die Güte und erklären Sie mir, was hinter
dieser anderen Geschichte steckt! Jetzt bin ich nicht mehr Angeklagter!“

„Herr Kragh!“ Die Stimme des Polizeirichters war voll sanftem
Tadel, aber Allan hörte nicht mehr auf diesem Ohr, seine erlittenen
Verunrechtungen begannen ihm zu Kopf zu steigen. Wie ein Verbrecher
arretiert und obendrein noch bestohlen werden! Das war zuviel. Wozu
hatte man Konsuln?

Er hörte die sanfte, gleichsam bebrillte Stimme des Polizeirichters:

„... daß die ganze Geschichte im Speisewagen entstanden ist. Sie haben
den Mann nicht gekannt, mit dem Sie zu Mittag gegessen haben?“

„Gekannt? Habe den Kerl noch nie im Leben gesehen. Es ist das erstemal,
daß ich im Ausland bin.“

„Hm, ja, ich kann ... nun schön, dieser Mann -- Aber warten Sie, Sie
sollen die Geschichte aus erster Hand hören.“

Der Polizeirichter drückte auf einen Knopf, gab einem Bediensteten
eine Weisung und begann in der Erwartung, daß sie ausgeführt werde,
wieder in dem Album mit den vielen Photographien zu blättern. Hie
und da schob er die Unterlippe auf halbem Wege zur Nase hinauf,
offenbar in tiefe Grübeleien versunken. Von Zeit zu Zeit fanden diese
in einem gedankenvollen p--r--m, p--r--m Ausdruck, das an den Ton
erinnerte, den eine Kindertrompete von sich gibt, wenn ihr kleiner
Besitzer hineingespuckt hat. Plötzlich öffnete sich die Türe, und der
Bedienstete kam mit jemand herein, der sich als der Speisewagenkellner
von vorgestern entpuppte. Der kleine Polizeirichter schnitt die
untertänigen Bücklinge des Sangmeds mit einer Geste ab und sagte kurz:

„Erzählen Sie. Erklären Sie dem Herrn die Sache.“

„Ach, gnädiger Herr, es ist ein Irrtum, ein furchtbarer Irrtum. Man
hat mich beschwindelt, man hat mich betrogen, gnädiger Herr. Es war
der Herr, der an Ihrem Tische gespeist hat -- hol’ ihn der Teufel.
Gerade als ich dem gnädigen Herrn den Fisch serviert habe, machte
mir der andere Herr Grimassen: Sehen Sie den Herrn an, das ist ein
durchgegangener Verbrecher -- ganz vorsichtig, so daß der gnädige
Herr nichts gemerkt hat. Ich sah den gnädigen Herrn an und hörte, wie
der gnädige Herr sagte, daß er von seinem Gepäck und allem fortreisen
mußte; und der andere Herr nickte mir nur immer zu -- der Teufel soll
ihn holen. Auf einmal kommt er zu mir hinaus in den rückwärtigen Teil
des Wagens und sagt: Der Herr an meinem Tisch ist kein anderer als
Mirzl selbst.“

„Aber wer ist denn dieser Mirzl?“ rief Allan, dem nun schon zum
dritten Male dieser Name ins Gesicht geschleudert wurde. Statt aller
Antwort reichte der Polizeirichter ihm stumm das Album mit den vielen
Bildern und eine zwei Tage alte Berliner Zeitung. Da fand er fett
gedruckt die Ueberschriften: -- +Großer Hoteldiebstahl in Berlin W.
-- Benjamin Mirzl wieder in Aktion -- der Betrag über siebzigtausend.
-- Mirzl entkommt im Auto.+ -- Und im Album fand Allan eine
Serie Photographien _en face_, im Profil, von rückwärts, einen
dreißigjährigen Herrn darstellend, an dessen Züge er sich dunkel zu
erinnern glaubte, vermutlich aus irgendeiner illustrierten Zeitung. --

„Unser größter Schwindler,“ sagte der Polizeirichter. „Er ist noch nie
gefaßt worden, aber diesmal ist er mit knapper Not entwischt und mußte
das meiste im Stich lassen.“

„Das war am Tage, bevor ich mit dem Expreß abreiste!“ rief Allan.

„Ja, so war es.“

Der dienende Bruder setzte unverdrossen seinen Bericht fort.

„Ich spitzte natürlich die Ohren; der andere Herr zog eine Visitkarte
hervor und sagte: ‚Ich bin Rechtsanwalt Dr. Hauser.‘“

„Aber mir sagte er doch, er hieße Koch und sei Schauspieler!“ rief
Allan.

„Er hat den gnädigen Herrn irreführen wollen. ‚Mein Name ist
Rechtsanwalt Dr. Hauser,‘ sagte er zu mir. ‚Ich springe in Essen ab,
um einen Detektiv zu holen und Mirzl zu arretieren. Komme ich nicht
zurecht, so lassen Sie ihn um Gottes willen in Köln festnehmen! Auf
dem dortigen Bahnhof sind immer Polizisten. Bedenken Sie, daß nur für
seinen letzten Streich allein fünftausend Mark Belohnung ausgesetzt
sind!‘ So sagte der gottverdammte Mensch, und in Essen sprang er ab. Er
kam nicht wieder. Ich behielt den gnädigen Herrn im Auge, und in Köln
...“

„Das übrige weiß ich,“ sagte Allan.

„Ach, gnädiger Herr, ich bin ein armer Mann, verheiratet, Familienvater
mit vier Kindern, wie sollte ich ahnen, daß dieser elende Mensch mich
ins Verderben stürzen wollte. Nicht einmal sein Mittagessen hat er
bezahlt, bevor er in Essen abgesprungen ist.“

„Ich bezahle es nicht. Aber ich unternehme auch nichts gegen Sie. Ich
rate Ihnen nur, ein andermal mehr an das Service und weniger an die
Gäste zu denken. Das ist eine gute Regel für einen Kellner, glaube ich.“

„O gnädiger Herr ...“

„Es ist schon gut. Kann ich gehen, Herr Polizeirichter?“

„Aber -- aber natürlich. Und Sie -- Sie gedenken die Sache nicht weiter
zu verfolgen?“

„Diesmal nicht. Ich zog aus, um Abenteuer zu suchen, wenn ich sie
auf den Hals bekomme, kann ich nicht klagen. Falls mein Gepäck noch
auftauchen sollte -- aber das kommt wohl nicht in Frage. Darauf wird
Herr Mirzl wohl auch Beschlag gelegt haben.“

„P--r--m -- ach nein, der bewegt sich in einem höheren Genre.“

„Ich bin ebenso gespannt, seine nähere Bekanntschaft zu machen, wie
Sie, Herr Polizeirichter. Leben Sie wohl.“

Allan verließ das kleine Zimmer des großen Gebäudes; der kleine
Polizeirichter folgte ihm durch die Korridore bis zum Ausgang, wo Allan
und er sich voneinander unter tiefen Verbeugungen verabschiedeten.
Allan ging nun durch die Straßen, etwas wirr im Kopf von all den
Ereignissen, ohne daran zu denken, welche Richtung er einschlug. Es war
nun, wie ein Blick auf die Uhr ihm sagte, fast vier Uhr nachmittags.
Plötzlich, als er an einer Straßenecke stehen blieb, um zu überlegen,
was nun zu tun sei, spürte er eine Hand auf seiner Schulter und zuckte
zusammen. Eine neue Arretierung? Das wäre doch zuviel des Guten. Er
drehte sich um. Ein junger Mann im Strohhut grüßte ihn lächelnd und
reichte ihm einen Brief.

„An Sie,“ sagte er.

Bevor Allan ihn noch aufhalten konnte, war er verschwunden. Allan
starrte ihm in dem Volksgewühl nach, ohne zu wissen, was er eigentlich
glauben sollte. Er lief einige Schritte in der Richtung, die der
Unbekannte eingeschlagen hatte, aber ohne ihn zu erblicken; der Verkehr
war im Augenblicke überwältigend. Dann sah er den Brief an, der die
Aufschrift trug: „Herrn Allan Kragh aus Schweden“, und riß ihn auf, von
einer plötzlichen Ahnung gepackt.

Was er las, war dies:

  „Lieber Herr Kragh! Sie haben ohne Zweifel viele Flüche auf mein
  Haupt herabbeschworen, seit wir uns zuletzt sahen, obwohl es fraglich
  ist, ob Sie diese Flüche richtig adressieren konnten. Verzeihen
  Sie mir, daß ich Ihre Freundlichkeit, mir im Speisewagen Graacher
  Auslese vorzusetzen, so schlecht gelohnt habe; verzeihen Sie mir in
  noch höherem Grade die Unannehmlichkeiten, die ich Ihnen späterhin
  verursacht habe -- Unannehmlichkeiten, deren Charakter ich selbst nur
  zu gut einzuschätzen verstehe.

  Ich weiß, daß der Verlust Ihres Reisegepäcks auf den Garderobeschein
  374 des Hamburger Hauptbahnhofes, den Sie so unvorsichtig waren,
  mir beim Diner zu zeigen, gegen die eben erwähnten anderen
  Unannehmlichkeiten nicht ins Gewicht fällt. Leider war ich wirklich
  durch die Verhältnisse gezwungen, so zu handeln. Seien Sie überzeugt,
  daß es eine zwingende Notwendigkeit war.

  Sollten Sie geneigt sein, mich sämtliche Unannehmlichkeiten
  sühnen und Ihnen natürlich in erster Linie Ihr elegantes Gepäck
  zurückstellen zu lassen, so können Sie mich Freitag abend, den
  zwölften dieses, um zehn Uhr in The Leicester Lounge am Leicester
  Square in London treffen. Seien Sie überzeugt, daß ich Sie erkennen
  werde, wenn Sie sich einfinden, auch wenn Sie mich nicht erkennen
  sollten. Ich mache Ihnen diesen Vorschlag, um zu sehen, ob ich den
  Charakter eines Mannes, der ohne weiteres einer Laune wegen sein
  Gepäck im Stiche läßt, richtig beurteilt habe.

  Also auf Wiedersehen!

                                                Ihr ergebener
                                                    Ludwig Koch,
                                                    alias Dr. Hauser,
                                                    alias .....

                          (nach Belieben von Ihnen selbst auszufüllen.)“

  _P. S._ Daß ich Ihren Namen in Erfahrung gebracht habe, werden
  Sie hoffentlich nicht übelnehmen.“

Wie oft Allan, mitten im Gewühl der Jülichstraße stehend, diese Epistel
durchlas, ist ungewiß. Schließlich sahen doch die Passanten dieser
Straße, wie er sich aufraffte, den Brief in die Tasche steckte, einen
Polizisten über irgend etwas befragte und in der Richtung zum Bahnhof
forteilte. Es war über vier Uhr; er hatte eine knappe Stunde, um den
Zug zu erreichen, über dessen Abgang er eben den kölnischen Wächter des
Gesetzes konsultiert hatte. Diese Stunde mußte genügen, um seinen Magen
nach den Prüfungen im Arrest zu befriedigen.

„Es fängt an!“ murmelte Herr Kragh für sich. „Das war ja eine feine
Reisegesellschaft, die ich hatte! Auf diese Weise sind die Koffer also
fortgekommen. Nun wollen wir vor allem das tun, was Hermann Bergius als
das oberste und unveräußerlichste Menschenrecht erklärte -- Frühstück
essen. Es ist spät und wohlverdient. Und dann auf nach London, um mit
Herrn Benjamin Mirzl Bekanntschaft zu machen! Das dürfte interessant
sein.“



III

Das große Hotel


Einmal hatte Allan die größte der großen Turbinenanlagen in Südschweden
besucht. Es war ihm, als wäre er in ihre maschinendruckvibrierende und
dröhnende Luft gekommen, als er am 11. September spät abends in London
eintraf.

Er rieb sich die Augen, wie er da in seinem Taxi saß. Das war eine
Stadt! Hier mußten die Abenteuer zu Hause sein; hier mußten sie gerade
an jeder Straßenecke lauern. Was war dagegen Hamburg und Köln! Was
war die unbeschreibliche Atmosphäre von jagender Eile, raffiniertem
Luxus und unerhörtem Geldzustrom, die sein Eindruck des Luxuszuges von
Köln nordwärts war, gegen dieses London! Schon die Luft war neu, eine
phantasiereizende Mischung von tausend Ingredienzien: Dem Geruch des
heißen Steinpflasters, von parfümiertem Virginiatabak, Benzindämpfen
der zahllosen Autos, deren Gummiräder über den spiegelblanken Asphalt
zischten; dem Duft des parfümierten Reichtums der ganzen Welt und
all ihres unaussprechlichen stinkendsten Elends. Die Häuser jagten
wie im Traum an seinem Auto vorbei; gigantische Fassaden verloren
sich nach oben zu in der nebligen Abendluft; es flammte und zuckte
von unzähligen Lichtern; die Reklamen krochen wie regenbogenfarbene
Schlangen die Mauern auf und ab; der Himmel über den offenen Plätzen
brannte schlackenrot wie vom Widerschein einer kolossalen Feuersbrunst
oder dem Ausbruch eines Riesenkraters. Und der Menschenstrom brauste
und brauste. Das Auto, das Herrn Allan Kragh aus Schweden auf der Suche
nach Abenteuern und eventuell einer Zukunft umschloß, eilte lautlos
durch das Gewirr, vermied es zu kollidieren, vermied es, jemand zu
töten, zog hier und da an einer Straßenecke eine augenblickliche Ritze
durch die Menschenfluten; stürzte dahin, scheinbar ebenso sinnlos, wie
die tausend anderen Autos, denen es begegnete, hundertmal schneller
als die dahinströmenden Menschenfluten, aber ebenso sinnlos. Plötzlich
bog es in einen offenen Platz, der weniger lichtflammend war, als die
vorhergehenden Straßen und hielt vor einer Fassade, an der die Lichter
sich zu einem gewaltigen Feston zusammengeballt hatten. „Grand Hotel
Hermitage“ sagten die Lichtkränze; der Chauffeur wiederholte es, indem
er die Türe des Autos aufriß, und Herr Allan Kragh ging über eine
breite Treppe hinauf, in eine große Halle, die nach dem Souza-Marsch
der Straßen unerhört still wirkte -- die ungeheure Drehtüre des
Vestibüls schnitt den Lärm der Außenwelt ab wie eine Klosterpforte.

Das war also das berühmte Grand Hotel Hermitage. Hundertmal hatte Allan
diese drei Worte im Henschel, Bradshaw und den großen ausländischen
Zeitungen gesehen; jedesmal hatte er gedacht: Wer doch da wäre; und als
er nun auf seiner großen Reise vom Zufall und Herrn Mirzl nach London
verschlagen wurde, da war es ihm ganz selbstverständlich erschienen,
dem Chauffeur die Adresse des großen Hotels anzugeben.

Auf dem Wege von Köln hatte Allan sich in Belgien mit den notwendigsten
Reiseeffekten versehen -- man durfte vielleicht Herrn Mirzls
Versprechen nicht allzu ernst nehmen; aber andererseits wäre es töricht
gewesen, sich mit einer doppelten Ausstattung zu belasten; und er
war folglich nicht ganz gepäcklos, als er, den Hotelträger hinter
sich, durch die Drehtüre eintrat. Dennoch war es nur natürlich, daß
der ernste Portier des Luxushotels (dessen Figur am ehesten an eine
Benediktinerflasche erinnerte) ihn mit einer etwas herablassenden
Nuance im Ton empfing. Hinter dem Portier bemerkte Allan im Kontor
einen vierschrötigen Herrn mit graugesprenkeltem Yankeebart ohne
Schnurrbart, der Direktor des Hotels, wie er später erfahren sollte.
Hätte der Direktor und der Portier die Ereignisse vorausahnen können,
die sich während Allans Aufenthalt im Grand Hotel Hermitage abspielen
sollten und die Rolle, die Allan darin zu spielen bestimmt war, hätten
sie ihn vermutlich mit Grüßen ganz anderer Art aufgenommen als die, mit
denen der Portier Allan jetzt empfing.

„Das ist Ihr ganzes Gepäck, Sir?“

„Ja. Ich erwarte noch mehr. Ich möchte ein Zimmer haben.“

Der Portier musterte ihn noch einen Augenblick, und weichere Gefühle
erlangten die Oberhand.

„Kleines Zimmer für diesen Gentleman, Jones. Ist 417 frei?“

Es stellte sich heraus, daß 417 frei war. Ein uniformierter magerer
junger Mann übernahm Allans unbeträchtliches Gepäck und geleitete
ihn zum Lift. Dieser machte sich mit der würdigen Langsamkeit eines
alten Herrschaftsdieners auf den Weg und blieb mit derselben Würde im
vierten Stock stehen. Der uniformierte Herr führte Allan über einen
teppichbelegten Korridor in das kleine Gemach, das geeignet befunden
worden war, ihn zu beherbergen. Es war wirklich klein, das heißt, in
der Breite, denn die Höhe ließ nichts zu wünschen übrig. Es wurde zum
größeren Teil von einem Bett und einem Toilettetisch ausgefüllt und
erinnerte infolge seiner architektonischen Gestalt in hohem Grade
an eine Grabkammer in einer ägyptischen Pyramide. Dahinter befand
sich, wie Allan sah, ein Badezimmer. Aber Allan hatte von Hermann
Bergius gelernt, daß nichts gleichgültiger ist, als das Zimmer, das
man auf seinen Reisen bewohnt, da man sich ja doch nie in wachem oder
nüchternem Zustande darin aufhält. Er erklärte sich folglich mit der
ägyptischen Grabkammer zufrieden, drückte dem uniformierten Herrn einen
Schilling in die Hand und ging dazu über, Toilette zu machen.

Als er eine halbe Stunde später, ohne sich wegen seines Reiseanzuges
zu genieren, in den Speisesaal des großen Hotels wanderte, fand er
Gelegenheit, zu konstatieren, daß nicht nur die Zimmer für Reisende
mit unbedeutendem Gepäck klein sind, auch die Welt selbst ist überaus
klein. Ja, offenbar, denn als er sich an einem Tisch niedergelassen,
die Speisekarte verlangt hatte und sich im Speisesaal umzusehen begann,
wen erblickte er an dem Nebentisch rechts, wenn nicht die Dame, die
ihn vom Hamburger Bahnhof in die Welt hinausgelockt hatte, und als
ihren Kavalier den alten Herrn mit der Raubvogelnase und dem gelbgrauen
Schnurrbart.

Allan fixierte sie überrascht. Es war unleugbar kurios, dieses Paar
gerade hier zu treffen! Es gab doch tausend Hotels in London. Nun, es
war natürlich ein Zufall, aber ... das Freundschaftsbündnis, das er
im Expreß beginnen gesehen und zu dem er selbst teilweise die direkte
Ursache gewesen, war offenbar von nachhaltigerer Art geworden, als
Reisebekanntschaften zu sein pflegen. Er konnte die alte Bordeauxnase
gut verstehen ... trotz des Grolls, den er noch gegen die junge Dame
wegen ihres Auftretens im Coupé hegte, mußte er sich selbst gestehen,
daß sie eine Messe wert war ... sie schien ihm sogar mehrere Messen
wert. Es bedurfte der Phantasie einer Pariserin, dachte er, um sich
eine solche Toilette, wie sie sie heute abend trug, auszudenken,
und der Courage einer Amerikanerin, um sie zu tragen. Seine Blicke
irrten über die Linie des Ausschnittes um ihren weißen Busen, der so
herausfordernd entblößt war wie auf einer Zeichnung von Rops, und
wenn sie nicht da umherirrten auf der Grenzlinie zwischen der weißen
Haut und der grünen Seide, ist es möglich, daß sie etwas weiter
hinabschweiften, wo der knapp anliegende Rock fast bis zum Knie
aufgeschlitzt war ... Welche Linie ist mystischer und verlockender zu
verfolgen als die Linie einer schönen Frauenwade? Namentlich wenn sie
von einem Strumpf von jener diskreten Durchsichtigkeit umschlossen
ist, wie sie Madame offenbar bevorzugte ... Die Wellenlinie ihrer
Wade zeichnete sich durch den grünen Strumpf ab wie Marmor durch den
adriatischen Wasserspiegel. Allan starrte, ganz im klaren darüber, daß
er zudringlich war, und plötzlich drehte Madame den Kopf nach Allans
Seite (sie saß im Halbprofil) und ließ den Blick über ihn hingleiten;
Allan sah, daß sie ihn erkannte. Im selben Augenblick stand der Kellner
an seinem Tisch, mit Speisekarte und Weinliste, und er war genötigt,
seine Augen von ihr loszureißen.

Wer konnte sie sein, und wie kam es, daß sie in dieser Gesellschaft
hier war? Diese Frage summte Allan im Kopf, während er ein paar
Gerichte der Speisekarte und einen Bordeaux von der Weinliste wählte.
Der Kellner verschwand, und er hatte die Aussicht auf den anderen Tisch
wieder frei.

Man sprach dort ziemlich eifrig. Ueber ihn? Nicht unmöglich, denn
eine flüchtige Sekunde flog ihr Blick wieder zu ihm hinüber; der alte
Herr mit der Raubvogelnase bekundete hingegen kein Interesse für
ihn, wenn nun wirklich über ihn gesprochen wurde. Allan nahm seine
bewundernde Betrachtung ihrer Person wieder auf, ohne daß sie sie
nunmehr zu berühren schien, und war noch damit beschäftigt, als der
Kellner mit der Omelette und dem Wein, den er bestellt hatte, erschien.
Er machte einen Schluck aus seinem Glas und begann zu essen, während
seine Gedanken von dem geheimnisvollen Paar dort drüben zu Herrn
Benjamin Mirzl schweiften. Plötzlich kam es ihm, eigentümlicherweise
zum erstenmal, zum Bewußtsein, daß er gerade dieses Trio in seiner
Gesamtheit -- den alten Herrn, die junge Dame und Herrn Mirzl -- vor
dem Billettschalter in Hamburg gesehen hatte. Allerdings schienen
sie damals ganz unabhängig voneinander, aber ... Herr Mirzl war ein
internationaler Schwindler, wenn auch vielleicht ein exzentrischer,
wohlwollender; waren die beiden anderen von derselben Sorte? Das
war natürlich nicht ausgeschlossen, und Allan beschäftigte sich mit
dieser Möglichkeit, während er vom Poulard und Bordeaux zum Dessert
und einem Glas Madeira überging (man mußte doch die Bekanntschaft mit
der Mutter aller Städte feiern), aber verwarf sie nach dem zweiten
Glas Madeira als unwahrscheinlich. Er bestellte Kaffee und Likör,
wobei das Wesen des Kellners ebenso milde zu werden begann, als
wenn er im _evening-dress_ gewesen wäre, und blieb bei diesen
angenehmen Getränken sitzen, auch als das Paar, das ihn intrigierte,
den Speisesaal verlassen hatte. Zu seiner nicht geringen Ueberraschung
sah er, als die Rechnung beglichen wurde, daß sie für beide bezahlte;
der alte Herr war also offenbar von ihr eingeladen. Kontinental, dachte
Allan. Sie passierten seinen Tisch ohne ein Zeichen des Wiedererkennens
-- oder sah er recht, als er ein kleines Blinzeln zu merken glaubte,
die Ahnung eines spöttischen Lächelns in ihren Augen? Es war unmöglich
zu entscheiden.

Um halb elf Uhr, als Allan sich zu einem Abendspaziergang mit Zigarre
durch London entschlossen hatte, zeigte es sich, daß die Stadt
ihrerseits entschlossen war, seine Ankunft mit einem undurchsichtigen,
gelbgrauen, brandrauchduftenden Nebel zu feiern, der zur Folge hatte,
daß er (nach zwei Whisky mit Soda, zu Ehren der Riesenstadt) in der
ägyptischen Grabkammer zu Bette ging. Er schlummerte sofort ein und
schlief wie ein Stück Holz.

London ist eine wunderbare Stadt, voll Ueberraschungen, unerforschlich
wie das Menschenherz, mehr Dinge bergend als die Philosophie sich
träumen läßt oder Baedeker in seinen roten Büchern mit Sternen
bezeichnet hat. Und Herr Allan Kragh fand in seinem bescheidenen Maße
Gelegenheit, diese Binsenwahrheiten schon im Laufe des folgenden
Tages bestätigt zu finden. Die Nebel des Abends waren von einem
sanften Sonnenschein, der von einem milden, veronikablauen Himmel
erstrahlte, abgelöst, als er am Vormittag seine Streifzüge vom
Grand Hotel Hermitage antrat, und, Goethe gehorchend, ins volle
Menschenleben der Straßen hineingriff. Seine Streifzüge gehen jedoch
diese wahrheitsgetreue Erzählung nichts an, und wir begnügen uns damit,
den Kontakt mit ihm wieder aufzunehmen, als er gegen ein Uhr nachts
ins Grand Hotel Hermitage heimkehrte. Da beschäftigten ihn nicht die
Geheimnisse von London, sondern das Geheimnis Benjamin Mirzl.

Was hatte Herr Mirzl mit dem Brief beabsichtigt, den er Allan durch
einen seiner Helfershelfer vor zwei Tagen in Köln hatte zustecken
lassen? Ein Bluff? Aber warum? Konnte einem Herrn seines Schlages
etwas derartiges Spaß machen? Es war ja denkbar, aber paßte nicht zu
der Vorstellung, die Allan sich von Herrn Mirzl gemacht hatte. Es war
ja auch möglich, daß dieses Vorstellungsbild Herrn Mirzl ebensowenig
ähnlich sah, wie dieser sich selbst in seinen verschiedenen
Verkleidungen. Auf jeden Fall: Schlag neun Uhr, eine Stunde vor der
angegebenen Zeit, hatte sich Allan in dem von Mirzl bezeichneten Kaffee
„The Leicester Lounge“ eingefunden. Seine Londoner Eindrücke waren
dadurch um noch einen vermehrt worden, aber als er gegen halb ein Uhr
aus dem Kaffee hinausgeworfen wurde (Polizeivorschrift), war dies auch
seine einzige Ausbeute. Dem Kaffee hatte sein dreiundeinhalbstündiger
Besuch etwas mehr Ausbeute gebracht. „The Leicester Lounge“ erwies
sich als ein Kaffee von der Art, wo Maria Magdalena auch vor ihrer
Reue Zutritt hat. Es gab dort ein paar Dutzend Magdalenen vor der Bar
und ein halbes Dutzend innerhalb derselben. Der Raum im übrigen, der
sehr beschränkt war, wurde von dem leichtlebigen männlichen London in
Anspruch genommen. Die Losung sowohl für das leichtlebige männliche
London wie für die Direktion des Lokales war fixe Expedition. Das
größtmöglichste Glück der größtmöglichsten Anzahl: ein schöner
Leitsatz. Die Zirkulationsgeschwindigkeit war bewunderungswürdig:
Entree, ein Drink, Bekanntschaft, noch ein Drink, Sortie. Herren,
die keine Bekanntschaften machten, wurden über die Achsel angesehen.
Herr Allan Kragh wurde über die Achsel angesehen. Es nützte nichts,
daß er, so oft das dunkle Auge des Kellners ihn traf, einen Drink
bestellte, oder daß eine unbestimmte Anzahl Magdalenen sich an seinem
Tisch bezechten; er blieb sitzen und wurde folglich über die Achsel
angesehen. Und Herr Mirzl kam nicht. Oder gab sich wenigstens nicht
zu erkennen. Konnte es ihn amüsieren, Allans drinkerfüllte Erwartung
in einer Verkleidung zu beobachten? Konnte er (da war der Kellner mit
dem Auge schon wieder -- _Whisky and soda, please!_) -- konnte
er vielleicht von der weltlichen Gerechtigkeit arretiert sein? Die
Polizisten Londons waren ja so flink. Reichte Herrn Mirzls Schlauheit
nicht hin, um sie zu überlisten? Sherlock Holmes, _you know_. Auf
jeden Fall (_Whisky and soda please_, der Kellner mit dem Auge)
-- reichte sie für Allan Kragh aus. Nach einer dreiundeinhalbstündigen
Whisky-Orgie verließ Herr Allan Kragh (auf Grund der polizeilichen
Bestimmungen und Müdigkeit in der Kehle) The Leicester Lounge,
durchdrungen von der eben erwähnten Ueberzeugung.

Und das erste, was er in der ägyptischen Grabkammer Nr. 417 erblickte,
waren seine ehrlichen schwedischen Handkoffer. Es fehlte nicht viel,
und er hätte geglaubt, eine Säufervision zu haben.

Aber faktisch; da standen seine beiden Handkoffer, der aus braunem
Rindsleder und der aus eisenbeschlagenem Holz ... Sein Klingeln rief in
weniger als einer Minute einen uniformierten Herrn in die Grabkammer
hinauf.

„Diese Koffer?“

„Wurden heute abend um halbzehn Uhr von einem Träger abgegeben, Sir. Es
liegt ein Brief an Sie auf dem Toilettetisch, Sir. Wünschen Sie noch
etwas, Sir?“

Allan machte eine stumme Handbewegung. Jetzt wurde die Sache aber doch
zu mystisch. Wie in -- -- konnte Herr Benjamin Mirzl denn wissen, wo
er wohnte. -- Er stürzte sich über den Brief auf dem Tisch, ohne seine
verwirrten Fragen zu Ende zu denken. Er enthielt zwei Schlüssel und
folgende Zeilen:

„Lieber Herr Kragh! Entschuldigen Sie, daß ich Sie vergeblich in The
Leicester Lounge warten ließ. _Business, you know_; unmöglich
für mich, abzukommen. Hoffe, Sie waren nicht gezwungen, allzu viele
Whisky mit Soda zu nehmen; kenne das Lokal; sollte mir leid tun. Füge
die Schlüssel bei, die ich während der Zeit, als ich Ihr prächtiges
Gepäck inne hatte, zu verwenden pflegte; hoffe, Sie können sie als
Reserveschlüssel brauchen; danke Ihnen nochmals für die freundliche
Ueberlassung des Gepäcks; bitte Sie um Entschuldigung wegen all der
Mühe, die ich Ihnen verursacht habe und verbleibe in aller Eile

                                                 Ihr ergebener
                                                     Ludwig Koch,
                                                     alias Dr. Hauser,
                                                     alias ......
                                           (nach Belieben auszufüllen.)“

Es ist unnötig, die Ausrufe, Fragen und Gesten zu verzeichnen, mit
denen Allan Kragh diese Epistel kommentierte. Das Leben ist kurz, wie
schon Mark Twain sagte; es war drei Uhr, als er sich nach der dritten
Visitierung der Koffer -- nichts fehlte -- und der achtundneunzigsten
Lektüre von Benjamin Mirzls Brief zu Bett legte. Es dauerte noch eine
Stunde, bis er einschlief, und als er es tat, war sein Schlummer
unruhig.

Er hätte gar zu gerne Herrn Mirzl getroffen.

Es war bestimmt, daß er seinen Willen in dieser Hinsicht durchsetzen
sollte, aber das dauerte noch eine Weile.

                               *       *
                                   *

Es war spät, als Allan am nächsten Tag die Augen aufschlug. Sein erster
Blick galt den Koffern und sein zweiter Herrn Mirzls Brief, den er nun
schon auswendig wußte, wie einen Bibelspruch im Katechismus. Erst sein
dritter Blick galt der Uhr. Sie zeigte fünf Minuten vor zwölf. Allan
flog aus dem Bett und begann sich anzukleiden. Unmittelbar vor dem
Einschlafen war ihm etwas eingefallen: Es gab eine Möglichkeit, Herrn
Mirzl aufzuspüren, durch den Dienstmann, der die Koffer gebracht hatte!
Allan runzelte die Stirn und entwarf in Gedanken einen Kriegsplan, der
auf besagtem Dienstmann aufgebaut war, und durch den Herr Mirzl sich
wohl bald in seiner Höhle aufgespürt sehen sollte.

Aber ach, schon der erste Faden riß, als er gegen halb ein Uhr sein
Verhör im Hotelbureau anstellte. Der Dienstmann? Ein gewöhnlicher
Träger. Nummer? Weiß Gott, was für eine Nummer er hatte. Er hatte ganz
einfach die Koffer niedergestellt, erklärt, daß sie dem Herrn auf Nr.
417 gehörten, dessen Namen auf beifolgendem Briefe stand, und daß alles
bezahlt sei, worauf er sich ohne weiteres entfernt hatte. Nun, wenn man
es sich recht überlegte, hatte er wohl überhaupt keine Nummer gehabt.
Es war vermutlich ein gewöhnlicher Arbeitsloser gewesen. Stimmte etwas
mit den Koffern nicht? Hatte der Mann etwas gestohlen oder verschlampt?

Allan beeilte sich, nein zu sagen und verschwand. Es war nicht so
leicht, die Sachlage mit einem unromantischen Hotelkontoristen zu
diskutieren. Er versuchte sich vorzustellen, was Sherlock Holmes in
seiner Lage getan hätte, und da kam ihm plötzlich eine Idee. Eine
Annonce! Das war es. Sherlock Holmes hätte eine Annonce eingerückt und
dem unnumerierten Dienstmann eine Belohnung in Aussicht gestellt.

Allan erkundigte sich und suchte das Zeitungsbureau des Hotels auf; er
fand es in einer kleineren Halle rechts von dem großen Entree gelegen.
Es war eine weitläufige Anlage, wo alle Zeitungen der Welt verkauft,
Annoncen für sie, Abonnements auf sie und (gegen eine kleine Abgabe)
persönliche Notizen für sie über den Aufenthalt der Betreffenden
im Grand Hotel Hermitage, ihre Gewohnheiten, ihren Lieblingssport,
aufgenommen wurden. Allan erhielt ein Blankett und formulierte nach
einiger Gedankenarbeit folgende Annonce:

Träger! Zwei Pfund Belohnung erhält der Träger, der am Abend des 12.
dieses, halb zehn Uhr, drei Gepäckstücke im Grand Hotel Hermitage
abgegeben hat, wenn er sich ehestens im besagten Hotel einfindet.


Der Kontorist des Zeitungsbureaus war ein ernster junger Mann vom
Detektivtypus. Er nahm Allans Annonce ohne jeden Kommentar entgegen und
fragte nur, in welche Zeitungen Allan sie aufgenommen wünsche. Allan
überließ ihm selbst, dies zu bestimmen, worauf der hagere junge Mann
dekretierte, daß Star, Daily Mail und Daily Citizen am besten seien,
und einen Betrag für die zweimalige Einschaltung in jeder derselben
entgegennahm. Sehr zufrieden mit sich selbst begab sich Allan in die
Stadt, um sein Lunch einzunehmen.

Im Laufe des Nachmittags, während er in Pall Mall promenierte, kam
ihm jedoch eine Idee, die zur Folge hatte, daß er eine Viertelstunde
später aus einem Auto vor dem Grand Hotel Hermitage sprang. Er hatte
ja ganz verabsäumt, in Erfahrung zu bringen, wer seine mystische
Reisegenossin war, die Dame aus Hamburg! Und sie wohnte doch in
demselben Hotel! So ist es, wenn man den Kopf mit einer Sache voll
hat. Der benediktinerflaschenähnliche Portier selbst führte den Befehl
im Hotelbureau, als Allan hereinkam, um sein Verhör anzustellen. Die
Wärme seines Tones war seit der Ankunft von Allans Gepäck um fünf Grad
gestiegen.

„Wünschen Sie ein größeres Zimmer, Sir?“ fragte er.

„Vielleicht später,“ sagte Allan. „Ich möchte Sie gerne etwas fragen,
Portier.“

Er wühlte einen Augenblick in seinen Erinnerungen an Sherlock Holmes.

„Ich glaube hier im Hotel eine Bekannte gesehen zu haben, eine
Dame. Ich bin meiner Sache aber nicht ganz sicher und möchte nicht
zudringlich erscheinen, Sie verstehen, Portier. Sie ist blond, schlank,
von Mittelgröße oder etwas darüber, sieht sehr gut, aber ein bißchen
hochmütig aus und speiste vorgestern mittag im Speisesaal -- -- --“

Ein plötzliches Rauschen von Seidenröcken neben ihm ließ ihn
zusammenzucken. Er wandte sich seitwärts und da stand die Unbekannte
selbst!

„Ich hörte zufällig Ihre freundliche Anfrage,“ sagte sie. „Sollte am
Ende ich es sein, die Sie dem Portier beschrieben haben?“

Diesmal konnte kein Zweifel über ihren Gesichtsausdruck herrschen, wie
vor zwei Tagen im Speisesaal. Jetzt war es genau dieselbe Miene, die er
vom Expreß her kannte; und ihre grauen Augen hatten einen Blick, der
ihm kalt über das Rückgrat lief. Endlich gelang es ihm, sich zu fassen.

„Sie, Madame? Soviel ich weiß, habe ich nicht das Vergnügen, Sie zu
kennen.“

„Ich Sie auch nicht -- dem Namen nach.“

Es lag eine vernichtende Betonung auf den letzten zwei Worten, die
nur zu gut ausdrückten, was sie meinte -- die Szene in Köln, wo sie
ihn vor fünf Tagen arretieren gesehen hatte. Allan nahm eine hübsche
Preißelbeerfarbe an, aber es gelang ihm zu sagen:

„Sie haben gewiß etwas mit dem Portier zu besprechen. Ich will mich
außer Hörweite zurückziehen, damit ich Sie nicht zu belauschen brauche.“

Er wußte, daß dieser Abschiedspfeil sie in das Tiefste ihrer
anglosächsischen Seele treffen mußte, aber trotzdem empfand er seine
Sortie aus dem Bureau nicht als eine _Sortie d’éclat_. Er kreuzte
die Halle so rasch, als es seine Würde zuließ. -- Was er hauptsächlich
befürchtete, war, daß sie ihn zurückrufen und bitten würde, das
Interview mit dem Portier fortzusetzen; er fühlte sich dieser Aufgabe
jetzt nicht gewachsen. Und plötzlich fand er sich im Konversationssalon
des Hotels, in den seine Beine ihn, ohne daß er es selbst wußte,
getragen hatten, und hörte ein _damn and confound_, das mit
ungeheurer Energie in seiner unmittelbaren Nähe ausgestoßen wurde.
Erst im nächsten Augenblick dämmerte es ihm auf, daß ihm selbst diese
Worte entschlüpft waren; und noch ganz erstaunt über seine rasche
Akklimatisierung hörte er eine schrille Stimme, die sagte:

„Hallo, junger Mann! Solche Worte pflegt man nicht in Damengesellschaft
zu sagen.“

Allan drehte sich um. Trotz der wenig menschenfreundlichen Laune, in
der er sich für den Augenblick befand, mußte er lächeln. Auf einem der
roten Lederstühle saß eine alte Dame mit dem New York Herald in der
Hand -- sie wäre von der Zeitung verdeckt gewesen, wenn sie sie nicht
gesenkt und Allan über den Rand angeguckt hätte. Ihr Gesicht glich
auf das I-Tüpfelchen einem alten, schlauen Papagei. Sie hatte graues
Haar, das von den Ohren abstand, zwei scharfe kohlschwarze Augen und
eine Nase, die den Rest des Gesichtes ebenso gründlich ausfüllte,
wie die Sankt Paulskathedrale den offenen Platz, an dem sie liegt.
So wie die Kathedrale kam sie architektonisch nicht zu ihrem vollen
Recht, aus Mangel an Perspektive ... Man sah jedoch einen breiten Mund
mit schmalen und offenbar sehr scharfen Lippen, und ein Kinn, das
napoleonisch zu wirken versuchte. Die kohlschwarzen Augen fixierten
Allan schräg, ganz wie die eines Papageis. Allan verbeugte sich
ehrfurchtsvoll:

„Ich bitte Sie tausendmal um Entschuldigung, Madame! Ich dachte
wirklich nicht daran, was ich sagte, und ich wußte kaum, wo ich mich
befand.“

„Warum haben Sie geflucht?“ sagte die alte Dame. Sie betonte das Wort
geflucht so, daß es klang, wie gemordet oder falsches Zeugnis abgelegt.

Allan wandelte die barocke Lust an, ihr alles zu erzählen.

„Ich will versuchen, es Ihnen zu erklären,“ begann er. „Sind Sie
Amerikanerin, wenn ich fragen darf?“

„Ja. Haben Sie deshalb geflucht?“

„Nicht weil +Sie+ Amerikanerin sind. Gott bewahre mich. Aber
aufrichtig gesagt, war es eine Ihrer Landsmänninnen, die mich zum
Fluchen brachte.“

„Ein Gentleman flucht nie über eine Dame oder in Damengesellschaft.“

„Sie haben recht. Ich bereue aus der Tiefe meines Herzens. Sehen Sie,
diese Dame überraschte mich gerade, als ich dabei war, den Portier
auszufragen ...“

„Hat sie gehorcht? Dann ist sie keine Dame. Dann haben Sie das Recht zu
fluchen.“

„Hm, sehen Sie, ich war eben im Begriff, den Portier nach ihr selbst
auszufragen ...“

„Sind Sie in sie verliebt? Dann haben Sie ein Recht dazu. Dann verstehe
ich Sie.“

„Sie interessiert mich. Und Sie begreifen, daß ...“

„Haben Sie vom Portier erfahren, wer sie ist? Sind Sie ein Engländer?“

„Sie kam gerade zurecht, um mich daran zu verhindern. Nein, ich bin ein
Schwede, Madame.“

„Warum fluchen Sie dann auf englisch?“

„Ja, wer das sagen könnte! Das Klima, vermute ich. Nochmals, ich bitte
Sie um Entschuldigung, Madame.“

„Oh, _demmit_, ist nicht nötig. Ich fluche selber, wenns sein
muß. Setzen Sie sich nieder, Sie interessieren mich. Was machen Sie in
London?“

„Ja, wenn ich das wüßte. Eigentlich bin ich hier, um einen Herrn zu
treffen, der meine Koffer gestohlen hat.“

„Die kriegen Sie nie zurück. In London kriegt man nie etwas zurück,
nicht einmal das Geld, das bei den Rechnungen übrig bleibt. Ich kenne
die Engländer. Hat er Ihre Koffer hier in London gestohlen?“

„Nein, im Expreß in Deutschland; und sehen Sie, das Lächerliche ist --“

„Was ist das Lächerliche? Da ist Helen. Grüß Gott, mein Kind. Was ist
das Lächerliche?“

„Daß er sie mir unversehrt hierher zurückgeschickt hat.“

„_Now demmit_ ... ich meine, sitzen Sie da und machen Sie sich
über mich lustig, junger Mann? Helen, komm her, dann wirst du etwas
hören. Hier ist ein junger Mann, der Märchen aus Tausendundeiner Nacht
erzählt. Außerdem flucht er in Damengesellschaft.“

Allan sah auf und erblickte ein junges Mädchen von zwanzig Jahren,
die jetzt auf die alte Dame im Klubsessel zukam. Sie war schlank,
blond und unaussprechlich amerikanisch. Allan fühlte eine instinktive
Sympathie, die, wie er ebenso instinktiv empfand, verschieden von dem
war, was er sonst für junge Damen zu empfinden pflegte. Sie hatte graue
Augen und sehr reine Züge. War sie die Tochter der alten Dame auf dem
Klubfauteuil, dann mußte sie wohl mehr ihrem Vater nachgeraten sein ...

„Das hier ist meine Tochter, junger Mann, ob Sie es glauben oder nicht.“

Die kohlschwarzen Papageienaugen hatten offenbar seine Gedanken
gelesen. Allan verbeugte sich und zog eine Visitkarte hervor.

„Ich weiß nicht, was in Amerika korrekt ist,“ sagte er ein bißchen
befangen. „Gestatten Sie?“

Die alte Dame erfaßte seine Karte mit einer krallenähnlichen Hand,
hielt sie vorsichtig auf Armeslänge von sich ab (in diesem Falle keine
besonders große Distanz) und betrachtete sie mit schräggelegtem Kopf.

„K--r--a--g--h, Kragh, ist das ein komischer Name! Well, mein Name ist
Mrs. Bowlby aus Worcester, Massachusetts, Sir!“

Sie sprach Allans Namen aus, als bedeutete er Kreide[1].

  [1] Auf englisch _Cray_. Vorsichtige Bemerkung.

Allan versuchte, ihr eine skandinavischere Aussprache beizubringen.

„_Now demmit_, glauben Sie, ich bin nach England gekommen, um
Schwedisch zu lernen? Wenn Sie auf englisch fluchen, können Sie sich
auch auf englisch titulieren lassen. _There_, fahren Sie in Ihrer
Erzählung fort.“

Seine weiteren Erlebnisse in Mrs. Bowlbys Gesellschaft hatte Allan
folglich als Mr. Cray.

Unter einem Regen von Interpellationen berichtete er seine Abenteuer im
deutschen Expreßzug, in Köln und in London. Plötzlich schweiften die
Gedanken der alten Dame zum Ausgangspunkt zurück.

„Und die Dame, die Sie am Hamburger Bahnhof sahen, ist dieselbe, die
hier im Hotel wohnt?“

„Ja.“

„Wie kann das Hotel so etwas zulassen, das ist doch natürlich eine
Hochstaplerin. Schon die Art, wie sie einen feinen jungen Mann wie Sie
behandelt, beweist es.“

„Mrs. Bowlby, ich war sehr unbescheiden ...“

„Gewiß nicht. Absolut nicht. Das ist eine Schwindlerin, denken Sie an
meine Worte! Wie sieht sie aus?“

„Sie ist ein bißchen mehr als mittelgroß und etwas hochmütig. Mit
grauen Augen wie Miß Bowlby und recht kurzer Oberlippe. Sie sieht aus
wie eine blonde spanische Infantin, wenn Sie verstehen, was ich meine,
Mrs. Bowlby.“

„Natürlich. Und sie ist Amerikanerin?“

„Ja. Ich glaube wenigstens. Das heißt, auf dem Bahnhof sprach sie
allerdings deutsch, wie ich Ihnen schon erzählt habe -- aber später ...“

„Haha!!“

Mrs. Bowlbys Lachen war so triumphierend-krächzend, wie das eines
Papageis, dem es soeben gelungen ist, einen Feind so recht tüchtig in
den Zeigefinger zu beißen.

„Haha! Die habe ich schon im Hotel gesehen, ganz richtig. Jetzt weiß
ich’s. Sie hätte ebensogut französisch sprechen können, junger Mann.
Sie sind in gute Gesellschaft gekommen! Glauben Sie, ich weiß nicht,
wer sie ist?

Mrs. Langtrey, erinnerst du dich an Mrs. Langtrey, Helen?“

„Ich glaube, du hast von ihr gesprochen, Mama.“

„Ich? Nie im Leben. Ich spreche von solchen Personen nicht. Andere
Menschen haben vielleicht mit dir von ihr gesprochen ... Vor vier
Jahren sprachen alle Leute von ihr, obgleich sie sich schämen sollten,
überhaupt von so etwas zu sprechen.“

„Aber Mama!“

„Sch! Ich weiß, was ich sage. _Dash it_, ich sollte gar nicht
zu dir von ihr sprechen, Helen. Sie war mit dem Obersten Langtrey
in Boston verheiratet und eine große Modedame. Kurz bevor Langtrey
starb, hatte sie einen +gräßlichen+ Flirt mit einem französischen
Windbeutel, der sich Baron nannte oder Marquis oder König. De Citrac
hieß er. Langtrey hatte kaum die Augen geschlossen, als sie nach Europa
verduftete. Natürlich weiß man, was sie da wollte. Seither hat niemand
in Amerika von ihr gehört, obwohl alle von ihr gesprochen haben. Aber
ich glaubte sie gestern, als wir kamen, hier im Hotel zu sehen, und nun
nach Mr. Crays Beschreibung ...“

Mrs. Bowlbys Rede wurde dadurch unterbrochen, daß die Türe des
Lesesalons sich öffnete und jemand hereinkam, in strahlender,
rosafarbener Nachmittagstoilette, die um sie rauschte, wie der Schaum
um eine schlanke Säule. Sie warf einen eisig gleichgültigen Blick
auf Allan, ohne die beiden Damen auch nur zu sehen, und ging mit
königlicher Grazie auf einen der Tische mit den illustrierten Zeitungen
zu. Sie wählte The Queen aus und versank in einem Lederfauteuil im
rückwärtigen Teil des Lesesalons.

„_Well!_“ Mrs. Bowlbys Interjektion barg eine Welt von Bedeutung
-- „ist das nicht sie, die ...“

Allan, dessen Augen in dieselbe Richtung starrten, wie ihre
steinkohlenschwarzen Aeuglein, zog langsam seinen Blick wieder zurück.
Mrs. Bowlby, die diesen Blick gesehen hatte, erhob sich fünf Fuß hoch
aus ihrem Sessel.

„Zeit, Tee zu trinken,“ sagte sie. „Wollen Sie mit Helen und mir den
Tee nehmen, Mr. Cray? Sie brauchen Schutz und Schirm gegen die Welt,
junger Mann, sie ist voll Sünde, und unser eigen Fleisch der Sünde
bester Bundesgenosse.“

Allan riß die Tür für sie und Fräulein Helen auf, während er innerlich
im stillen bedauerte, daß die Sünde einerseits so verlockend aussehen
muß und andererseits nicht immer so geneigt ist, den Menschen zu
attackieren, wie die Theologen behaupten.

                               *       *
                                   *

Beim Tee in Mrs. Bowlbys Salon im ersten Stock gesellte sich Mr.
Bowlby hinzu. Mr. Bowlby war ein langer, breitschultriger, blonder
Mann, offenbar jünger als seine Gattin. Sein glattrasiertes Gesicht
erhielt seinen Charakter von dem breiten lustigen Mund. Er sah aus
wie ein Schuljunge. Mrs. Bowlby stellte Allan unter der Signatur vor,
unter der sie ein für allemal entschlossen war, ihn zu verbergen. Sie
entwarf eine farbenprächtige Schilderung seiner Abenteuer und eine noch
koloriertere Darstellung von Mrs. Langtrey und ihren Ansichten, wes
Geistes Kind diese Dame war. Mr. Bowlby interpunktierte ihre Erzählung
mit einer größeren Anzahl _blow me_ und ebenso vielen Tassen Tee.
Dann wischte er sich den Mund und sagte:

„_Well_, Susan (seine Stimme war laut und lärmend wie die eines
großen jungen Hundes), ich habe auch Neuigkeiten. Wir müssen in den
zweiten Stock ziehen.“

„Früher siehst du mich am höchsten Ast baumeln,“ sagte Mrs. Bowlby,
ohne einen Augenblick zu zaudern. „Ist die Börse zurückgegangen, John?
Du solltest sie sein lassen, wenn du auf Ferien bist.“

„Es ist nicht die Börse;“ sagte John. „Es ist ein König.“

„Ein König? Hast du einem König Geld geliehen, John?“

„Unsinn, ich leihe kein Geld aus, das weißt du. Der König soll hier
wohnen, ein richtiger König, der übermorgen herkommt, um sich in London
zu verheiraten. Der Direktor hat es eben als eine Gnade von mir erbeten
...“

„Ich sage dir eines, John, versuche nicht unser armes Kind an ihn
zu verheiraten! Helen! Du darfst nie an derartige Menschen denken,
versprich mir das, Kind.“

„Du phantasierst, Susan. Helen mit ihm verheiraten! Ebensogut könnte
ich sie mit einem Mormonen-Bischof verheiraten. Der König, der kommt,
hat schon hundertfünfzig Frauen.“

„Barmherziger Jesus! Was ist das für ein Untier, das uns aus unserer
Wohnung vertreiben will, John?“

„Ein König, ein richtiger König mit fünfzehn Millionen Untertanen, die
meisten davon braun, aber, _blow it_, ein richtiger König. Der
Direktor war geradezu verzweifelt, daß ...“

„Komme mir nicht mit dem Direktor! Bist du ein freigeborener
Amerikaner? Gibt es nicht noch andere Hotels in London?“

„Einige, Susan, aber das hier ist wohl das einzige, wo ein König
absteigen kann. Und wir bekommen eine Wohnung einen Stock höher, wo
Prinz Hieronymus von Bulgarien wohnte, als er zuletzt in London war.“

„Dann kann sich dieser König auch damit zufrieden geben. Was dem einen
recht ist, ist dem anderen billig.“

„Das ist aber ein regierender Fürst, Susan, und ein regierender Fürst
kann nicht höher wohnen als im ersten Stock.“

Mrs. Bowlbys steinkohlenschwarze Augen wanderten von John zu Fräulein
Helen und von ihr zu Allan.

„Hat er die hundertfünfzig Frauen mit, John?“

„Das weiß ich nicht, liebe Susan. Dann muß er wohl ein besonderes Hotel
für sie mieten, oder vielmehr hundertfünfzig besondere Hotels, damit
sie ihm das Leben nicht zu sauer machen.“

Mrs. Bowlby wurde weich.

„Ich bin überzeugt; daß er sie mit hat, John, ich kenne die Männer.
Ziehen wir also in die Wohnung des Prinzen! Ich muß hier bleiben und
diesen jungen Mann beschützen. Das ist meine Pflicht, Mr. Cray, denn
ich kenne auch die Frauen.“

Mrs. Bowlby stellte ihre Teetasse energisch hin und betrachtete Allan,
als wäre er ein junger Papagei vor seinem ersten unsicheren Flug. Dann
wendete sie sich an Mr. Bowlby.

„Wie heißt das Untier, John?“

„Yussuf Khan,“ antwortete Mr. Bowlby, indem er eine Zigarre ansteckte.
„Yussuf Khan, Maharadscha von Nasirabad.“



IV

Yussuf Khan, Maharadscha von Nasirabad


Als Ibrahim Khan, selbständiger Maharadscha des Staates Nasirabad,
in der nordwestlichsten Ecke Indiens, im Jahre 1885 am Khawakpasse
vom damaligen Obersten der angloindischen Armee, Sir George Merriman,
besiegt wurde, war es nicht ein Fürst, oder ein Volk, das fiel; es
war ein System. Ibrahim Khan hatte sich während einer vierzigjährigen
Regierung als der erbittertste Gegner bekannt gemacht, den das
englische Regime seit Tippo Sahib gehabt hatte; nur die Kleinheit
und Entlegenheit seines Staates hatte seine Feindschaft verhindert,
ebenso furchtbar zu werden als sie erbittert war. Als die Nachricht
vom Ausgang der Schlacht am Khawakpasse in Nasirabad eintraf, und es
klar wurde, daß die Tage von Ibrahim Khans Selbständigkeit gezählt
waren, beschloß er, wenigstens selbst über die Anzahl dieser Tage zu
bestimmen. Gleich einem berühmten König des alten Testamentes stürzte
sich Ibrahim Khan auf sein Schwert, und die Gesänge, die Sir George bei
seinem Einzug in Nasirabad begrüßten, waren keineswegs Lobeshymnen.

Es ist jedoch wohlbekannt (wir verweisen auf Alexander Carsons
vortreffliche Lebensbeschreibung Sir Georges, Heinemann & Co., London
1908), wie gut Ibrahim Khans Besieger die Kunst beherrschte, die
Hannibal nie erlernen konnte, den Sieg auszunützen. Zum Administrator
des Reiches ernannt, das er der Königin erworben, verwaltete er es
mit einer Pflichttreue und einem Eifer, der sogar in Indien wenig
Gegenstücke gehabt haben dürfte. Nicht genug damit: er sah sich
durch einen Erfolg belohnt, der wohl noch seltener erreicht worden
sein dürfte. Als er im Jahre 1905, am Jahrestage der Schlacht am
Khawakpasse, die Bergtäler Nasirabads verließ, war es als Vater des
Landes, nicht als sein Besieger; aufrichtige Tränen der Bevölkerung aus
allen Landesteilen folgten ihm; und diese Tränen verdoppelten sich,
als die Nachricht von seinem drei Monate später erfolgten Tode das
schlichte Gebirgsvolk erreichte. „Er schlug uns, und er wurde unser
Vater; als er seinem Herzen unsere Herzen nicht mehr entgegenschlagen
fühlte, hörte es selbst auf zu schlagen,“ sang der alte Hofdichter
Abdul Mahbub.

Der Schmerz über Sir Georges Hingang wurde einigermaßen dadurch
gemildert, daß ein Sohn des alten Fürstenhauses gleichzeitig (unter
Oberaufsicht des neuen Residenten, Sir Herbert Layson) die Regierung
übernahm. Es war Yussuf Khan, Ibrahim Khans ältester lebender Sohn --
selbst eines der Produkte und vielleicht nicht das glücklichste, von
Sir George Merrimans Reformen. Bei Sir Georges Einzug in Nasirabad
erst vier Jahre alt, wurde der junge Prinz sofort unter die Leitung
eines englischen Hofmeisters gestellt; es war Sir Georges Ueberzeugung,
daß die Reformen sowie die Kultur von oben nach unten gehen müssen.
Zum Hofmeister des jungen Prinzen Yussuf Khan wählte er einen alten
Oxforder Freund namens Bowles. Vermutlich sah Sir George diesen mehr
durch die Brillen der Freundschaft, als der Pädagogik; es ist auch
möglich, daß er zu sehr von den übrigen Einwohnern Nasirabads und
ihren bunten Angelegenheiten in Anspruch genommen war, um viel Zeit
für die zahlreichen Angehörigen des fürstlichen Hauses übrig zu haben.
Und jedenfalls trug der Nimbus, der den Eroberer Nasirabads umgab,
dazu bei, alle Exzesse des jungen Thronfolgers zu verhindern, solange
Sir George selbst die Leitung des Reiches inne hatte. Uebrigens
war Dr. Bowles dem Prinzen ein so guter Lehrer, daß er die Sprache
seines Vaterlandes fast ganz über der der Eroberer vergaß. Sogar mit
seinem eingeborenen Lehrer, dem alten Dichter Ali, sprach er meistens
englisch. Aber das Jahr 1906 -- Yussuf Khans fünfundzwanzigstes
Jahr -- war kaum angebrochen, als er auch schon Sir Herbert Layson
verschiedentliche Nüsse aufzuknacken gab.

Zu dieser Zeit war sein alter Erzieher Bowles schon aus dem Spiele,
mit einer schönen Pension und sämtlichen Orden des Staates Nasirabads
an seiner Brust nach England heimbefördert; es war also Sir Herbert
selbst, der dem Anprall des ersten Sturmlaufes des jungen Regenten
gegen das neue Regime standhalten mußte. Er tat es in seiner eigenen
Weise, und vielleicht wäre das, was nun geschah, nie eingetroffen, wenn
ein Mann von anderem Charakter Sir Herberts Platz bekleidet hätte, in
welchem Falle auch dieses Buch nie das Licht der Welt erblickt hätte.
_Habent sua fata libelli_, sagt mit Recht der römische Dichter.
Nun war Sir Herbert Layson gerade ein Jünger dieses römischen Dichters
sowie seines großen Namensvetters Herbert Spencer; er war ein stiller,
ironischer, arbeitsamer, verschlossener Mann, der seine Tagesarbeit
verrichtete und es liebte, auf das Leben von einer ebenso kühlen und
klaren Höhe herabzublicken, wie er von seinem Palast in Nasirabad
auf die Bergtäler unter der Hauptstadt herniedersah. Yussuf Khans
jugendliche Heißblütigkeiten fing er wie Wurfgeschosse mit dem Schild
seiner Ironie auf; es muß zugegeben werden, daß dieser Schild auf harte
Proben gestellt wurde. Es begann mit Regierungsfragen, in denen der
junge Regent seinen Willen durchsetzen wollte; die Angriffe auf diesem
Gebiet waren von kurzer Dauer. Sir Herbert ließ den jungen Mann bei
einer oder zwei passenden Gelegenheiten seinen Willen durchsetzen;
das war genug. Die Unruhe und Erregung der Bevölkerung, die sich
schon an die maßvollen Verordnungen und Auflagen des englischen
Residenten gewöhnt hatte, überzeugte sogar Yussuf Khan sehr bald, daß
seine Anlagen nach anderen Richtungen wiesen. Recht bald hatte er
auch herausgefunden, welche diese Richtungen waren: Pferdesport und
militärische Uebungen. Der Anfall dauerte gut zwei Jahre, von 1907
bis Ende 1909. Daraus folgte eine kurze Periode der Mattigkeit beim
Patienten, bis die neue Phase der Krankheit auftrat. Und als dies
geschah, wurde Sir Herbert zum ersten Male unruhig. Denn nun hatte das
Weib seinen Einzug in Yussuf Khans Leben gehalten, und was schlimmer
war, das geträumte, nur mit den Augen des Ideals gesehene Weib. Sir
Herbert hatte Grund zur Unruhe.

Bei diesem Punkt fragt sich der flüchtige Leser erstaunt: Was weiter?
Hat man nicht von diesen indischen Fürsten und ihren Harems gelesen,
wo die schönsten, üppigsten Frauen der Welt ausschließlich für ihre
Rechnung verwahrt werden, wie eine Bibliothek von Luxusausgaben?
Sind nicht ihre mandelförmigen Augen schwärzer und sanfter als
die der Gazelle, ihre Glieder geschmeidiger als Schlingpflanzen,
ihre Zärtlichkeit berauschender als Haschisch! Gibt es nicht eine
schwedische Zenanamission für diese Unglücklichen? Oder war Yussuf
Khan schlechter daran als seine Kollegen? -- Dem Leser, der diese
elegant formulierten Fragen stellt, können wir nur antworten: Möge
er sich selbst in Yussuf Khans Lage versetzen, als souveräner Gatte
von einhundertfünfzig schönen Asiatinnen aller Völkerschaften! Was
nützt ein Harem und seine arabeskengeschmückten Mauern gegen das
Ideal? Das Ideal findet immer eine Ritze in den Arabesken, durch die
es sich eindrängt; es ahmt die Stimme der Nachtigallen nach, um von
Frauen zu singen, tausendmal verführerischer als die Haremskönigin,
es flüstert im Palmenrauschen; sein Sirenengesang klingt aus dem
Rieseln der Springbrunnen. Oder, um so prosaisch zu sprechen wie Seine
allerchristlichste Majestät Franz I. von Frankreich, auch er Herr
eines (höchst christlichen) Harems -- „_toujours perdrix_“! Immer
Rebhühner! -- Leben Sie einmal einen Monat von Rebhühnern und Bordeaux,
und Sie sehnen sich nach Käse und Brot und einem Schluck Wasser. Leben
Sie ein paar Jahre von Rebhühnern, und Sie werden Vegetarianer. Yussuf
Khan, Maharadscha von Nasirabad war schon um die Mitte des Jahres 1909
definitiv zum Vegetarismus übergegangen, und zu Ende dieses Jahres
war seine idealistische Krankheit in ein bösartiges, akutes Stadium
getreten.

Er wollte eine europäische Prinzessin heiraten!

Hatte Sir Herbert Layson Grund, unruhig zu sein oder nicht?

Was die Sache noch verschlimmerte, war der Charakter des trefflichen
Sir Herbert. Sein Schädel entbehrte gänzlich jener idealistischen
Knollen, die ein Phrenologe an dem Yussuf Khans gefunden hätte; als
Yussuf Khan seine Gesellschaft aufsuchte und ihn zögernd in die stumme
Qual seines Geistes einzuweihen begann, begegnete ihm Sir Herbert mit
einem trockenen Lächeln und mit Reflexionen über die europäischen
Frauen, die Yussuf Khan vor Empörung aufflammen ließen, wie einen
neuen Bayard. Erst als es zu spät war, erkannte Sir Herbert, wie die
Dinge standen, und änderte seine Taktik; aber seine Versuche, den
jungen Regenten für Polo- oder für Regierungsfragen zu interessieren,
hatten keinerlei Erfolg mehr. Seine einzige Hoffnung war, daß der
Frühling, der die Liebe im Menschen wieder entzündet, auch seine
Wirkung auf Yussuf Khan nicht verfehlen würde. Der Frühling kam;
doch anstatt bei Yussuf Khan die Liebe zu den hundertfünfzig Frauen
wieder zu entflammen, ließ er seinen Idealismus auflodern wie die
Scheiterhaufen an den Landstraßen oben im Gebirge. Und was mehr war:
der Frühling brachte ihm einen Plan. Da es unwahrscheinlich war, daß
die europäischen Prinzessinnen ihn in Nasirabad aufsuchen würden, blieb
offenbar nichts anderes übrig, als daß er sie in Europa aufsuchte.

Nun begann Sir Herberts wirkliches Inferno. Endlose Ermahnungen und
ironische Ausfälle erwiesen sich als gleich fruchtlos. Den ganzen
Sommer streifte Yussuf Khan wie ein unversöhnter Schatten um seinen
Palast herum, einen einzigen Wunsch auf den Lippen. Der Sommer
Nasirabads, sonst kühl und angenehm gegen den Sommer im übrigen
Indien, wurde für Sir Herbert so allmählich heißer als der Bikanirs.
Die Quellen seiner Ironie vertrockneten vor Yussuf Khans asiatisch
glühender Halsstarrigkeit. Er wurde nervös und reizbar, er verlor
seine kühle Erhabenheit gegenüber den Phänomenen des Lebens und seine
Arbeitsfreude. Endlich faßte er Ende Juli seinen Entschluß und schrieb
an den Vizekönig in Simla: Konnte man es riskieren, einen vom Gifte des
Idealismus fieberkranken Himalaya-Löwen auf Europa loszulassen? Waren
die heiratsfähigen europäischen Prinzessinnen unfallversichert? Hatte
nicht Pasteur irgendeine Behandlungsmethode für diese neue Form der
Rabies?

Die Antwort des Vizekönigs, die mit bis dahin unbekannter Spannung in
Nasirabad erwartet wurde, lautete kurz und bündig: +Lassen Sie den
jungen Idioten reisen, aber sorgen Sie für Bewachung.+

Sir Herbert stieß einen Seufzer unsäglicher Erleichterung aus. In
einer Woche waren die Arbeiten an Yussuf Khans Ausrüstung in vollem
Gange -- dieser Zeitraum war nötig, um die Begriffe des jungen
Regenten über die Pracht, die bei der Werbung um eine weiße Prinzessin
entfaltet werden sollte, ein wenig zu modifizieren. Nachdem Elefanten,
goldschabrackengeschmückte Stuten und eine Eskorte von zweihundert
stummen Sklaven aus dem Programm gestrichen waren, blieb noch ein
Punkt; in dem er sich unerschütterlich zeigte: Die Kronjuwelen
Nasirabads vom ersten bis zum letzten mußten mitgenommen werden. Selbst
mit dieser Pracht wußte er nur zu gut, wie unendlich gering seine
Aussichten waren, die geträumte stolze Prinzessin zu erringen: ohne die
Juwelen waren diese Aussichten winziger als die Eier der weißen Ameise.
Sir Herbert zuckte die Achseln; tatsächlich konnte er in diesem Punkte
nichts machen, denn die Juwelen waren Yussuf Khans Privateigentum. Er
begnügte sich damit, sich die Juwelen zeigen zu lassen; es war ein
sehenswerter Anblick. Er wußte vom Hörensagen, welche Schätze der alte
Ibrahim Khan in seiner Juwelenkammer aufgestapelt hatte, aber bisher
waren sie ebenso sorgsam vor seinen Augen verborgen gewesen, wie die
hundertfünfzig Damen in Yussuf Khans Harem. Es war eine Pyramide
von Diamanten, Perlen, Topasen, Smaragden, Rubinen und Gold, ein
lichtsprühender Wasserfall von Farben. Halb geblendet von dem, was er
gesehen, beeilte er sich, für eine möglichst solide Verpackung der
Schätze Sorge zu tragen.

Wir werden Gelegenheit finden, später von ihnen zu sprechen.

Am 15. August ums Morgengrauen verließ Yussuf Khans Freierzug
Nasirabad. Die Sonne ging eben hinter den Kämmen des Himalaya auf,
und das Schloß Nasirabad mit seinen schlanken Türmen war wie in ein
Netz von weißem Licht verstrickt. Die Kanonen der Bastion verkündeten
dröhnend die Botschaft von der Abfahrt des Regenten, und das Volk
wimmelte in den Straßen, um Yussuf Khan auf seinem Schimmel zum
Stadttor hinausreiten zu sehen, durch das Sir George Merriman vor
fünfundzwanzig Jahren eingezogen war. Sir Herbert gab dem Maharadscha
bis zum ersten Pferdewechsel des Abends das Geleite. Dann kehrte er
zu seinem Tagewerk zurück, froh in dem Bewußtsein, daß die Aufsicht
über diesen beschwerlichen Schützling seinem alten barschen Freunde,
Oberst Morrel, anvertraut war, seit zehn Jahren Militärkommandant
von Nasirabad. Außer diesem befand sich keine andere Persönlichkeit
von Rang im Gefolge als Yussuf Khans alter eingeborener Lehrer, der
sechzigjährige Hofdichter Ali.

Der Abendhimmel zwischen den Talwänden, durch die Yussuf Khan mit
seinem Gefolge verschwand, war ein feuerlilienflammender Gürtel
über einer Region von blendendem Pfingstlilienweiß -- gleichsam ein
himmlischer Versuch zu einer Heraldik für seine Rechnung, als er nun
seine Freierfahrt in das Land der weißen Prinzessinnen antrat. Mit
einem Lächeln über die Aussichten von Yussuf Khans Werbeplänen wandte
Sir Herbert seinen Traber wieder Nasirabad zu, froh, in Ruhe seine
Arbeit wieder aufnehmen zu können, und seine ironische Betrachtung
der Phänomene des Lebens aus den Fenstern der Residenz, die auf die
Felsentäler Nasirabads blickten.



V

+Das große Hotel+ (Fortsetzung)


„Waren Sie oben, und haben Sie ihn gesehen, Miß Helen?“

„Gewiß. Nicht alle bleiben bis zum Lunch liegen, wie Sie, Mr. Cray.
Einen hübschen Schlips haben Sie da.“

„Sehr erfreut, das von Ihnen zu hören. Aber wie sieht er aus?“

„Prachtvoll. Er hatte weiße Tennishosen und einen Zylinder.“

„Nicht viel für September.“

„Machen Sie keine schlechten Witze! Er hatte noch eine Menge anderer
Dinge an. Uebrigens sieht er sehr gut aus, obwohl er ein bißchen dick
zu werden anfängt.“

„Wie alt ist er denn?“

„Er sieht aus, wie ungefähr dreißig. Er hat einen schwarzen Schnurrbart
und wunderschöne Zähne. Und das Gefolge -- Sie sollten sich wirklich
schämen, so lange zu schlafen.“

„Waren Elefanten, Kamele und Nigger dabei?“

„Wenigstens Nigger. Es war überhaupt nur ein weißer Mann in der
Gesellschaft, ein alter barscher Herr mit weißem Schnurrbart. Der
Portier sagte, es ist ein englischer Oberst, der dazu angestellt ist,
das Untier, wie Mama ihn nennt, zu bewachen.“

„Und die übrigen waren Nigger?“

„Wenn man sie so nennen will. Sie haben eine dunkle Gesichtsfarbe,
aber ich versichere Ihnen, sie sehen stattlich aus. Er hat so eine Art
Leibwache von zehn Mann mit Turbanen und Krummsäbeln, die seine Zimmer
Tag und Nacht bewachen sollen. Und dann war da noch ein alter Herr, so
irgendeine Art Würdenträger, vermute ich, der war in Zivil und sah so
ehrwürdig aus, wie ein Erzbischof. Er hatte einen grauen Bart, der nach
beiden Seiten weggekämmt war, ganz wie auf dieser Zeitungsreklame.“

„Die ungarische Pomade?“

„Ja, ganz richtig. Als sie die Eingangstreppe hinaufgingen, sprach er
irgend etwas in Versen. Es klang wie eine Beschwörung. Mir wurde ganz
andächtig zumute.“

„Kam ein Djinn? Hat er nicht auch irgendeine Kupferlampe gerieben?“

„Das weiß ich nicht. Er hatte so weite Kleider, das konnte man nicht
sehen.“

„Asiatische?“

„Jedenfalls nicht aus Newyork. Aber sonst ein stattlicher alter Herr.
Er sah ein bißchen wild aus, aber gebildet, wenn Sie verstehen, was ich
meine.“

„Aber sicherlich. Wie ein gebildeter Amerikaner.“

„Herrgott, wie witzig Sie sind, Mr. Cray! Hier kommt Mama.“

Mrs. Bowlby kam in weißer Morgentoilette in die Halle des Grand Hotel
Hermitage hereingehopst; es sah aus, als setzte sie, wenn sie ging,
beide Füße gleichzeitig vor wie ein Vogel. Sie ließ ein schrilles
Zwitschern der Befriedigung hören, als sie ihre Tochter und Allan
auf zwei der schwarzen Büffelledersessel der Halle entdeckte. Allan
beeilte sich, noch einen herbeizuziehen, in dessen Tiefen Mrs. Bowlby
verschwand wie ein Zuckerwürfel in einer Tasse Kaffee.

„Gott sei Dank! Ich habe geglaubt, das Untier hat dich schon entführt,
Helen.“

„Aber Mama! Er hat ja schon hundertfünfzig Sultaninnen.“

„Ach, ich kenne die Männer! Ob sie hundertfünfzig haben oder eine,
immer sind sie gleich bereit, zu betrügen.“

„Aber ich versichere dir, er hat mich nicht einmal angesehen.“

„Wie sieht er aus, Helen?“

„Er sieht sehr gut aus, nur ein bißchen fett.“

„Mit hundertfünfzig Frauen!“

„Er war natürlich ein bißchen exzentrisch angezogen. Aber du hättest
die Leibwache sehen sollen. Zehn -- Aber hier kommt Papa. Er sieht aus,
als hätte er etwas zu erzählen.“

Mr. Bowlby kreuzte die Halle, das Gesicht voll unerzählter Neuigkeiten.

„Guten Morgen, alle miteinander!“ rief er. „_Well!_“

„Nun, John, was gibt es?“

„Sei ruhig, Susan, du wirst es schon erfahren, obgleich es so geheim
als möglich gehalten werden soll, der Londoner Diebe wegen.“

„Was ist es, John? Etwas mit den hundertfünfzig?“

„Nicht mit denen, die du meinst. Er hat noch hundertfünfzig
Kleinigkeiten mit --“

„Also alles in allem dreihundert!“

„... auf die er wohl bedeutend mehr Wert legt. _By Jove!_ Der
Direktor zittert an allen Gliedern. Es gibt ihresgleichen wohl nicht in
Europa und kaum in Indien.“

„Wovon sprichst du denn, Papa?“

„Von seinen Juwelen, mein Kind! Hundertfünfzig Schmuckstücke und
eine Anzahl einzelner Steine, alle von einer Qualität, die _hors
concours_ ist. Oberst Morrel, der alte Engländer, der als sein
Beschützer mit ist, sprach davon wie vom achten Weltwunder, sagte
der Direktor, obwohl er sonst nicht den Eindruck macht, sich leicht
imponieren zu lassen.“

„Er hat sie natürlich dem Hotel zur Aufbewahrung im Safe übergeben, Mr.
Bowlby?“

„Nein, junger Freund, das ist eben das Arge. Der Oberst drang darauf,
daß sie übergeben werden sollten. Aber der Maharadscha will sie oben
in seiner Wohnung haben. Sie werden begreifen, daß der Direktor nervös
ist! Denken Sie sich, wenn so irgendeine Hotelratte ...“

„Aber in das Grand Hotel Hermitage kommt doch keine Hotelratte,
Mr. Bowlby! Ist das nicht überhaupt eine ausgestorbene Gattung wie
Plesiosauren und Pterodaktylen?“

„Glauben Sie das nicht so sicher, Mr. Cray. Ich erinnere mich, wie vor
zwei Jahren in Newyork -- aber das tut nichts zur Sache. Nun hat er
natürlich seine Leibwache, die Tag und Nacht vor seiner Suite ...“

„Unserer Suite, John.“

„... Wache hält. Die zehn wilden Gesellen mit den Krummsäbeln, die du
gesehen hast, Helen. Das wird wohl Schutz genug sein. Aber der Direktor
hat mir noch etwas erzählt.“

„Was denn, Papa? Etwas über den graubärtigen Bischof?“

„Bischof? Das ist sein Hofpoet und Lehrer! Ali heißt er, scheint mir.
Hast du ihn deklamieren gehört, als er die Treppe hinaufging, Helen?
Nein, vom Maharadscha selbst. Der ist noch verrückter als Pierpont
Morgan, nur in anderer Art. Pierpont J. sammelt alte Sachen, da das
Alte das einzige Neue ist, was er finden kann. Der Maharadscha, der
alle Hände mit alten Sachen voll hat, ist ihrer müde, und wißt ihr,
was er zu tun gedenkt? Er will die Fassungen aller Diademe ändern
lassen! Sonst, glaubt er, würde er von den Europäern ausgelacht werden.
_Well!_“

Mr. Bowlbys Ausruf kam ihm vom Herzen. Er sah sich in der Halle um, und
kaum hatte er das getan, als er einen neuen Ausruf von sich gab.

„_Blow me!_ Wenn man den Wolf nennt ... Da habt ihr schon den
Mann, der geholt wurde, um die Aenderungen vorzunehmen. Der Maharadscha
hat es aber eilig! Er hat noch kaum Zeit gehabt zu frühstücken!“

„Wo siehst du ihn, Papa?“

„Dort drüben. Der mit dem großen Schnurrbart, der da steht und mit dem
Direktor spricht.“

„_By Jove!_“

Nun war es an Allan, einen anglosächsischen Ausdruck des Erstaunens
hervorzustoßen. Gerade beim Eingang zum Hotelkorridor, im Gespräch
mit dem breitschultrigen, bocksbärtigen Herrn, der, wie er wußte,
der Direktor des großen Hotels war, stand kein anderer, als sein
alter Bekannter aus dem Hamburger Bahnhof -- der Mann mit der
bordeauxfarbenen Raubvogelnase und dem borstigen, graugelben
Schnurrbart. Der Direktor sprach überaus ehrerbietig zu ihm und schien
Erklärungen abzugeben. Er zuckte unaufhörlich die Achseln, so als
erzählte er etwas, wofür er jede Verantwortung ablehnen wollte.

„Was ist denn, Mr. Cray?“

Allan wandte endlich den Blick von den beiden Herren ab. Er zögerte
einen Augenblick, bevor er mit seiner dramatischesten Stimme erklärte:

„Was es ist, Miß Bowlby? Nichts anderes, als daß ich den Mann kenne,
von dem Mr. Bowlby eben sprach!“

„Sie kennen ihn? Wie heißt er?“

„Ja ... das weiß ich nicht.“

„Aber ich weiß es,“ sagte Mr. Bowlby, „er ist ein Holländer und heißt
van Schleeten. Er ist einer der größten Juweliere oder jedenfalls
Juwelenspezialisten Europas. Er hat das große Diadem gemacht, das
die französische Republik der Kaiserin von Rußland geschickt hat und
Dutzende ähnlicher Dinge. Der Direktor hat es mir erzählt. Er hat mir
auch anvertraut, daß der gute Mynheer van Schleeten seiner Zeit ein
großer Don Juan gewesen ist. Wie können Sie ihn kennen, ohne zu wissen,
wer er ist, Mr. Cray?“

„Das ist eine Spezialität von Mr. Cray! Er kannte ja auch Mrs.
Langtrey, ohne zu wissen, wie sie heißt.“

Allan nickte.

„Sie haben recht, Miß Bowlby, und das Wunderliche ist, daß ich sie von
derselben Gelegenheit her kenne. Ich fuhr damals mit ihnen, Sie wissen,
als man mein Gepäck stahl. Sie waren miteinander.“

„Dann ist der Juwelier ein Hochstapler. Langtreys Frau kennt nur
Hochstapler. Dann will er die Juwelen des Untiers stehlen.“

„Susan, sei doch vorsichtiger mit dem, was du über die Leute sagst. Ich
habe dir doch schon erzählt, wer er ist. Glaubst du, der Direktor würde
es wagen, eine zweifelhafte Persönlichkeit in die Nähe der Juwelen des
Maharadschas zu lassen, was er doch offenbar jetzt zu tun gedenkt?“

Mrs. Bowlby antwortete nur mit einem verächtlichen Kopfschütteln.
Sie fixierte den bordeauxnasigen Juwelier mit einem durchdringenden
Blick, während er an der Seite des Direktors durch die Halle zum
Aufzug ging. Ihre Nase drückte stumm, aber beredt die Auffassung aus,
die sie sich von Herrn van Schleeten nach dem, was Allan von seinen
Damenbekanntschaften erzählt, gebildet hatte. Der Direktor und der
Holländer verschwanden im Aufzug, und Mrs. Bowlby schnellte aus ihrem
Klubsessel empor wie aus einer chinesischen Schachtel.

„Zeit zu lunchen,“ dekretierte sie. „Leisten Sie uns Gesellschaft, Mr.
Cray, und erzählen Sie uns, was Langtreys Frau mit dem Juwelier zu tun
gehabt hat.“

                               *       *
                                   *

Der Tag brachte noch eine Sensation für Allan, und zwar kam sie von
jemand, den er in der Gesellschaft der Familie Bowlby schon fast
vergessen hätte, nämlich Herrn Benjamin Mirzl.

Die Sensation hatte wieder einmal die Form eines Briefes. Allan hatte
eben eine Nachmittagszigarre im Rauchzimmer beendet, als einer der
unzähligen dienstbaren Geister des Hotels hereinkam und nach einer
kurzen Inspektion des Zimmers auf Allan lossteuerte.

„Ein Brief für Sie, Sir.“

Allan sah auf, ein wenig erstaunt. Wer schrieb ihm hier einen Brief?

„An mich?“

„An Sie, Sir. Sie sind doch der Herr, der auf Nr. 417 wohnt, nicht
wahr?“

„Das stimmt.“

Allan nahm den Brief von dem Tablett des Livrierten und belohnte ihn
mit einem Sixpence. Aus alter Gewohnheit prüfte er das Kuvert, das eine
verwischt abgestempelte Marke trug und suchte vergeblich zu ergründen,
ob Paddington, Kensington oder Kennington daraufstand. Dann riß er das
Kuvert auf, das, wie es sich zeigte, folgendes Schreiben enthielt:

  „Lieber Herr Kragh! Nehmen Sie es nicht übel, wenn ich Ihnen einen
  guten Rat gebe: Verannoncieren Sie doch nicht Ihr Geld, um diesen
  Träger zu erwischen. Das einzige Resultat, wenn Sie so fortfahren,
  wird sein, daß Sie den Besuch irgendeines Schwindlers bekommen, der
  Ihre zwei Pfund nimmt und Ihnen den Buckel vollügt. Der wirkliche
  Träger kommt nie; sein Trägeramt währte nur einen einzigen Abend, und
  seine Ehrlichkeit ist zu groß, als daß er es so machen würde, wie
  jene Schwindler, vor denen er Sie soeben gewarnt hat.

  Also, inhibieren Sie weitere Annoncen!

                                       In Eile Ihr ergebener
                                           Dr. Hauser,
                                           alias Ludwig Koch,
                                           alias ...... (nach Belieben).

  _P. S._ Ich freute mich, daß Sie Star, Daily Mail und Daily
  Citizen für die Annonce gewählt haben und nicht die großen teuren
  Pennyzeitungen! D. O.“

Allan starrte stumm das kleine Schriftstück an. Das war doch ein
Teufelskerl! Der mußte im Nacken und an allen Fingern Augen haben! Die
Annonce hatte ja gar keinen Namen enthalten, nur die Adresse Grand
Hotel Hermitage, und trotzdem hatte dieser Erzschelm sofort begriffen,
von wem sie herrührte. Allan gab sich eine Weile der Bewunderung für
Herrn Benjamin Mirzl hin und überlegte, was dieser Herr wohl in London
vorhaben mochte. Nicht zum mindesten wunderte es ihn, daß Herr Mirzl
sich Zeit nahm, sich mit einer so unbedeutenden Person, wie er es war,
abzugeben. Schließlich steckte er den Brief in die Tasche und nahm sich
vor, Bowlbys von der Sache zu erzählen.

Er fand dazu Gelegenheit, als er gegen sieben Uhr in den Speisesaal
des Hotels kam. Mr. Bowlby mit Familie saß an einem der Tische in der
Mitte des großen Speisesaales, im Schatten der Palmen rings um den ewig
rieselnden Gold- und Marmorspringbrunnen. Er winkte Allan einladend
zu, und dieser beeilte sich, der Aufforderung nachzukommen. Diese
originellen, urwüchsigen Menschen waren ihm höchst sympathisch. Er ließ
sich nieder und erzählte Herrn Mirzls neue Leistungen, unter eifrigen
Kommentaren von Mrs. Bowlby.

„Wollen wir wetten, Mr. Cray, daß dieser Kerl die Leute in London
ausplündert! Das ist eine feine Nummer! Warum glauben Sie, hat er Ihnen
Ihre Koffer zurückgeschickt?“

„Um das zu erfahren, habe ich ja die Annonce eingerückt, und da sehen
Sie nun das Resultat.“

„Ein Erzgauner,“ bestätigte Mrs. Bowlby noch einmal. Dann unterbrach
sie sich plötzlich.

„Sehen Sie!“ flüsterte sie, „sehen Sie, dort, Mr. Cray! John!
Wahrhaftig, wird das wilde Tier nicht mit uns anderen zu Mittag essen!
Sieh dir doch ihre Kostüme an, Helen!“

Allan drehte sich hastig um und sah ein Bild, das er nicht sobald
vergaß. Im Parademarsch kam über die schweren gelben Teppiche des
Dinersaales ein Zug von fünf Personen, wie das Grand Hotel Hermitage
sie mit Ausnahme eines einzigen, wohl noch nie gesehen hatte. Voran,
mit unnachahmlicher angeborener Grandezza schritt ein junger Mann von
dreißig Jahren, etwas beleibt, aber von jener Beleibtheit, die Würde
gibt. Sein Gesicht war schön oval mit einem kurzen, glänzenden,
schwarzen Schnurrbart über einem unzufriedenen Mund. Der Teint
war mattbraun, aber kaum dunkler, als der eines sonnverbrannten
Sportsmannes. Yussuf Khan, Maharadscha von Nasirabad! Er trug
europäische Abendkleidung, aber hatte einen glänzenden weißen Turban
auf dem Kopf und um den Hals ein breites Band aus grauen Perlen,
das er wie einen Orden trug. In dem Turban stak eine Aigrette aus
großen funkelnden Smaragden. Einen halben Schritt hinter ihm kam ein
alter, ganz und gar englischer Gentleman mit frischer Gesichtsfarbe
und buschigem, weißem Schnurrbart. Seine Augen waren klar blau und
leuchteten augenblicklich vor Erregung; von welcher Art diese war,
verriet sein Mund, der noch größeres Mißvergnügen ausdrückte als der
des Maharadschas von Nasirabad. Es war sonnenklar, daß dieser Einzug im
Cortège in das Grand Hotel Hermitage ihm als englischem Gentleman nicht
gerade zusagte. Offenbar war dies Oberst Morrel, der die Verantwortung
für den Maharadscha hatte. Und im Hinblick auf die drei übrigen
Personen des Gefolges konnte man seine Gefühle nicht unberechtigt
nennen. Ihm zunächst kam ein Hindu, der in Bezug auf die Jahre wohl ein
Altersgenosse des Obersten sein konnte, aber dessen Aussehen im übrigen
wenig Aehnlichkeit mit dem dieses Militärs hatte. Sein Gesicht, das
von sechzig Jahren der Lebenserfahrungen gefurcht war, war lächelnd
und freundlich; es wurde von einem gescheitelten, üppigen, grauen
Barte umgeben, und Allan begriff sofort, warum Miß Helen mit ihrer
amerikanisch-presbyterianischen Phantasie gesagt hatte, er sehe aus
wie ein Erzbischof. Denn offenbar war dies die Persönlichkeit, die Mr.
Bowlby als den alten Hofdichter und Lehrer des Maharadschas bezeichnet
hatte -- Ali. Gleich seinem Herrn hatte er sich in europäische
Gewandung gehüllt, aber es war offenbar, daß er sie zum ersten Male
trug, und ebenso offenbar, daß es ihm kein Vergnügen bereitete. Das
einzige Kleidungsstück, das ihm zu passen schien, war der Turban.
Hinter ihm kamen die zwei letzten Personen der Eskorte, zwei schwarze
Krieger in ganz indischer Tracht, mit kurzen, vergoldeten Krummsäbeln
in bunten Gürteln. Ihre schwarzen Augen funkelten beim Anblick des
Speisesaales des Grand Hotel Hermitage und seiner Gäste. Aber im
übrigen zuckten sie mit keiner Muskel ihrer bärtigen Gesichter, während
sie in den Fußstapfen ihres Herrn einem rückwärtigen Tisch des Saales
zuschritten. Ein rotbefrackter Oberkellner stand mit einer tiefen
Verbeugung daneben; Yussuf Khan, Oberst Morrel und der alte Hofdichter
setzten sich, und die schwarzbärtige Leibwache faßte hinter dem Stuhl
ihres Herrn Posto. Rings an den Tischen in dem großen Saal schöpfte man
tief Atem, und ein leises Gemurmel erhob sich.

Miß Bowlby war die erste an Allans Tisch, die ihren Gefühlen Worte lieh:

„Mama, du kannst sagen, was du willst, aber solche Perlen und solche
Smaragden habe ich in meinem ganzen Leben nicht bei Tiffany gesehen!“

„Dacht’ ich mir’s nicht -- Helen! Mir scheint, du bist schon verl...“

„Aber Mama, rede doch nicht so! Sei aufrichtig und sage, ob du je so
etwas gesehen hast!“

Mrs. Bowlby schluckte eine Portion Gefrorenes, die ihr Inneres für
ewige Zeiten vereist hätte, wenn sie keine Amerikanerin gewesen wäre.

Dann kniff sie den Mund zusammen, so daß er ganz im Schatten der Nase
verschwand; so geschützt, gab sie zu:

„Nein, wenn du es durchaus wissen willst, ich auch nicht. Aber was
nützt es dem Menschen, wenn er ...“

Allan war unartig genug zu unterbrechen.

„Oberst Morrel scheint nicht gerade erbaut davon zu sein, mit seinem
Schützling hier zu essen, oder was meinen Sie, Mr. Bowlby?“

„Anscheinend nicht,“ gab Mr. Bowlby zu. „Er ist ein Engländer, und
dieses Perlenband und der schwarze Hofdichter gehen ihm auf die Nerven.
Wollen Sie um einen Cent wetten, Mr. Cray, daß er sich gesträubt hat,
bevor er in dem Triumphzug mitging! Und ich setze meinen letzten Dollar
gegen einen Hosenknopf, wenn er sich oft sträubt, dann gibt es Krach.
Yussuf Khan sieht aus, als hätte er seinen eigenen Willen, und den zu
zähmen braucht es eine Frau, vermute ich.“

Mr. Bowlby sah auf seine Uhr.

„_Well_, Susan, wir müssen aufbrechen, wenn wir zurecht kommen
wollen. Sie erinnern sich vielleicht, Mr. Cray, daß ich Ihnen erzählt
habe, daß wir beim amerikanischen Gesandten zum Souper geladen sind und
wohl erst nach vier Uhr heimkommen werden.“

Allan beeilte sich, Mrs. Bowlby, die nach dem Zugeständnis, das
sie ihrer Tochter eben in Bezug auf das Untier gemacht hatte, etwas
verstimmt schien, wieder aufzumuntern.

„Glauben Sie, daß Mrs. Langtrey auch beim Gesandten sein wird, Mrs.
Bowlby?“

„Langtreys Frau!“ Mrs. Bowlbys Mund kam wieder aus seinem Schlupfwinkel
hervor. „Die! Wenn die da ist, dann haben Sie uns in einer halben
Stunde wieder hier.“

Mr. Bowlby lachte.

„Na, Mr. Cray, wenn Sie nichts anderes vorhaben, so schauen Sie doch in
mein Rauchzimmer hinauf und trinken Sie dort einen Whisky, bevor Sie zu
Bett gehen. Ist doch immerhin gemütlicher als unten in der Bar, nicht?“

Allan verbeugte sich.

„Sie sind zu liebenswürdig, Mr. Bowlby ...“

„Keine Zeremonien, junger Freund. Sie gefallen mir, und ich lade Sie
ein. Gefielen Sie mir nicht, würde ich Sie nicht einladen. Gehen Sie
nur hinauf und machen Sie es sich oben bequem.“

„Aber was wird Ihre Dienerschaft sagen?“

„Ich werde Henry schon verständigen. _Well_, adieu einstweilen,
lieber Cray! Ich bin schon neugierig, welche Ueberraschungen der
Maharadscha morgen für uns _in petto_ hat!“

Die Familie erhob sich und nickte Allan zu. Allan sah sie in die
Vorhalle verschwinden. Er steckte sich eine Zigarrette an und warf
einen Blick auf den Tisch des Maharadscha. Oberst Morrels Laune
schien während des Mittagessens nicht besser geworden zu sein.
Er war krebsrot im Gesicht und richtete hier und da ein Wort, das
offensichtlich kein Kompliment war, an den alten Hofdichter, dessen
Kenntnisse der verschiedenen Gabeln und Messer bei einem europäischen
Galadiner augenscheinlich nicht sehr eingehender Natur waren.

Plötzlich fuhr Allan in dem eigentümlichen Gefühl zusammen, das man
manchmal hat, daß jemand einen fixiert. Er drehte rasch den Kopf nach
rechts und sah zu seinem Staunen am nächsten Tische Mrs. Bowlbys
Erzfeindin, Mrs. Langtrey. Sie saß tief im Schatten einer überhängenden
Palme, ihre grauen Augen funkelten in dem Dunkel unter den großen
grünen Blättern wie die einer Wildkatze. Hatte sie gehört, was Mrs.
Bowlby gesagt hatte? Unmöglich, es zu entscheiden; auf jeden Fall saß
sie vermutlich schon eine ganze Weile da, denn sie hatte eine Tasse
Kaffee und ein Likörglas vor sich und eine Zigarette zwischen den
Fingern.

Allan sah auf seine Uhr. Es war nach halb neun. Da Bowlbys so spät
fortblieben, beschloß er, in irgendein Varieté zu gehen. Eventuell
konnte man ja später von Mr. Bowlbys Einladung Gebrauch machen. Er
winkte dem Kellner, beglich seine Rechnung und verließ den Saal.

Zwei Sekunden, nachdem er gegangen war, ging Mrs. Langtrey.

„Ich bin schon neugierig, was für Ueberraschungen der Maharadscha
morgen für uns _in petto_ hat,“ hatte Mr. Bowlby im Gehen zu
Allan gesagt. Aber weder er noch Allan ahnte, was schon diese selbe
Nacht an Ueberraschungen bringen sollte.



VI

Das Loch in der Wand und das Loch im Boden


Aus Diskretion -- sowohl gegen das Etablissement wie gegen die
hochgestellte Person, deren Name sich auf dem Titelblatt dieses Buches
findet -- müssen wir das Lokal, das den Rahmen um das sechste Kapitel
bildet, mit den fünf ersten Worten benennen, die hier oben stehen. In
gewisser Weise weicht dieser Name auch nicht so sehr von dem wirklichen
Namen ab; und wer London gut kennt, kann vielleicht herausfinden,
was für ein Lokal wir meinen und wo Allan Kragh gewisse wunderliche
Abenteuer in der Nacht zum 16. September erlebte.

Als Allan das Grand Hotel Hermitage nach halb neun verließ, hatte er
keinen bestimmten Plan für den Abend. Er schlenderte nach Leicester
Square hinunter, ging ins Empire und sah eine Vorstellung, die aufs
Haar allen anderen Varietévorstellungen glich. Sie bereitete ihm
keinerlei Enttäuschung, aber, wie ein hervorragender Schriftsteller von
der Zigarette, dem Typus des Genusses sagt -- sie reizte ihn und ließ
ihn unbefriedigt. Er empfand das, was er so oft bei den Eskapaden der
Studentenzeit empfunden und was ihn schon soviel Geld gekostet hatte,
eine ausgesprochene Unlust, nach Hause zu gehen. Er bog in eines der
Gäßchen hinter dem Empire ein, schlenderte da aufs Geratewohl herum,
ohne irgendwelche Angst vor den Typen, die das Londoner Abendleben bot,
und ohne die zweifelhafte Beleuchtung weiter zu beachten. Wenn wir
sagen würden, daß er sich dabei beobachtet oder verfolgt fühlte, so
wäre dies eine Unwahrheit; aber trotzdem ist es, wie die Fortsetzung
zeigen wird, Tatsache, daß er seit dem Verlassen des Hotels beobachtet
und verfolgt und mit infernalischer Geschicklichkeit gerade an jenen
Ort gelotst wurde, wo man ihn haben wollte. Urplötzlich befand er sich
in, ja, in der Straße, in der +Das Loch in der Wand gelegen+ ist.
Er blieb vor der diskret beleuchteten Fassade stehen, die irgendeinem
kleinen Café in kontinentalem Stil anzugehören schien. Sollte man nach
Hause gehen und Mr. Bowlbys Einladung Folge leisten oder nicht? Ein
anderer Herr tauchte plötzlich auf, öffnete die Türe zum Loch in der
Wand und blieb einen Augenblick auf der Schwelle stehen; Allan sah im
Flug einen Raum, der einladend aussah, und faßte seinen Entschluß. Fast
in den Fußstapfen desjenigen, der die Türe geöffnet hatte, trat er ein,
nachdem er auf seine Uhr gesehen. Sie zeigte zwanzig Minuten über elf.

Das „Loch in der Wand“ erwies sich als eine Kombination von englischer
_private bar_ und kontinentalem Café, dem Aussehen nach überaus
respektabel. Ein mattglänzendes Mahagonibüfett in Halbmondform wölbte
sich um die rechte Längsseite des Raumes, dahinter thronten drei
diskret gekleidete Barmaids. Alle schön, aber von ebenso respektablem
Aussehen wie die Bar, in der sie figurierten. Die linke Hälfte des
Raumes hatte Korbstühle und kleine Tischchen. Da war ein offener
Kamin, augenblicklich unbenützt, und ein Tischchen mit Zeitungen und
Zeitschriften. Die Beleuchtung war ebenso diskret und angemessen wie
die übrige Einrichtung.

Für den Augenblick waren sämtliche hochbeinige Stühle an der Bar
von Herren in Frack und weißer Krawatte besetzt, die offenbar, so
wie Allan, auf dem Heimwege vom Theater oder von einer Gesellschaft
einen Blick hereingeworfen hatten. Der Mann, der unmittelbar vor
Allan eingetreten war, saß an einem der kleinen Tischchen. Allan ließ
sich am Nebentisch nieder, bestellte einen Whisky und gab sich der
Betrachtung der drei schönen Barmädchen hin. Die eine von ihnen war
von schwedischem Typus, mit länglicher Kopfform, schmalem Gesicht und
hellblauen Augen. Allan, der eben den ersten Schluck von seinem Whisky
getrunken hatte, fühlte sich mit einem Male heimisch und verspürte
die Lust, mit jemand zu plaudern. Er wendete sich seinem Nachbar am
nächsten Tisch zu und fand, daß dieser ihn beobachtete. Allans Wunsch
gleichsam zuvorkommend, beugte er sich lächelnd vor und sagte auf
deutsch:

„Entschuldigen Sie, wenn ich mich vielleicht irre, aber sind wir nicht
Landsleute?“

Allan hatte jetzt lange Zeit immer nur englisch gesprochen und empfand
es als eine angenehme Abwechslung, einmal eine andere Sprache zu reden.
Er schüttelte den Kopf:

„Nein, ich bin kein Deutscher, aber ich spreche Ihre Sprache. Sie
finden, daß ich deutsch aussehe?“

Der Fremde fuhr fort ihn zu mustern.

„Hm, vielleicht ja, bei näherer Betrachtung vielleicht nein. Sie haben
etwas Unenglisches ... ich weiß nicht recht was, und ich bildete mir
ein ...“

Allan nickte.

„Es ist nicht das erstemal, daß ich für einen Deutschen angesehen
werde. Aber das vorigemal war es nicht gerade angenehm!“

„Wieso? War es in Frankreich?“

„Nein, in Deutschland.“

„Aber wirklich? In Deutschland kann es doch keine Unannehmlichkeiten
verursachen, für einen Deutschen gehalten zu werden. Das ist ja nur
sehr schmeichelhaft für Ihre Sprachenkenntnisse.“

„Es war leider in anderer Beziehung weniger schmeichelhaft. Die Sache
verhält sich nämlich so, daß ich für eine bekannte, ja allzu bekannte
Persönlichkeit gehalten wurde, von der ich nicht weiß, ob +Sie+
sie kennen, nämlich Benjamin Mirzl. Ja, ich wurde sogar als er
angehalten.“

„Von der Polizei? Als Benjamin Mirzl?“

„Allerdings, und mußte fast zwei Tage für Herrn Mirzl sitzen. Sie
kennen diesen Mirzl also?“

„Wer kennt Mirzl nicht dem Namen nach? Und da Sie für ihn gehalten
wurden, weiß ich jetzt also wie er ausschaut.“

„Er wird wohl nicht lange dasselbe Aussehen beibehalten, damit können
Sie also nicht so sicher rechnen. Trinken Sie etwas?“ fügte Allan
hinzu, tief wurzelnden nationalen Instinkten folgend.

Der Fremde lachte.

„Mit Vergnügen, danke, Herr Mirzl.“

Allan lachte.

„Ich glaube, Sie können ebenso gut Mirzl sein, wie ich. Zwei Whisky mit
Soda, _please_!“

Sein Gegenüber schob seinen Stuhl näher heran. „Wollen Sie nicht
diese Geschichte mit Mirzl erzählen?“ sagte er. „Wenn es kein allzu
schmerzliches Thema für Sie ist!“

„Keineswegs. Mirzl ist vielleicht ein Schurke ...“

„Sicherlich! Ich kann Ihnen später einiges darüber erzählen.“

„... Aber wenigstens ein Schurke, der sein Handwerk versteht, -- Sie
werden es aus meiner Erzählung ersehen -- und der Humor hat. Ich bin
ihm gar nicht böse, daß er mir mein ganzes Gepäck gestohlen hat und
mich zwei Tage für ihn im Arrest sitzen ließ!“

„Er hat Ihr ganzes Gepäck gestohlen? Und Sie sind nicht böse! Sie sind
wirklich freisinnig. Erzählen Sie doch!“

Allan stärkte sich aus dem Glas und wiederholte noch einmal die
Geschichte, mit der er schon die Familie Bowlby erquickt hatte. Der
Fremde horchte mit weit offenen Augen und stieß hier und da einen
Ausruf aus. Als Allan zu Herrn Mirzls Ausbleiben vom Rendezvous in
Leicester Lounge kam, zur Zurückgabe der Koffer und dem vergeblichen
Versuch, den Dienstmann aufzuspüren, fing er so zu lachen an, daß es in
der Bar widerhallte. Als Allan geschlossen hatte, beugte er sich mit
Tränen in den Augen vor.

„Ein Dienst ist des anderen wert,“ sagte er. „Ihre Geschichte ist
das Tollste, was ich seit langer Zeit gehört habe. Haben Sie heute
abend Zeit, so möchte ich Ihnen etwas zeigen, das, wie ich glaube,
+Ihnen+ ein bißchen Spaß machen wird, da Sie neu in London sind.
Haben Sie Lust?“

Allan sah auf seine Uhr. Es fehlten zehn Minuten auf zwölf.

„Ich glaubte, man schließt um diese Zeit überall in London?“

„Man schließt spätestens um eins, aber +nicht überall+. Es gibt
Orte ... hier zum Beispiel.“

„Hier! In dieser kleinen Bar! Ich finde, es sieht so aus, als ob der
Barmann sich schon anschicken würde, uns hinauszubefördern.“

„Das würde er auch mit Ihnen tun, wenn Sie allein wären. Aber
zufälligerweise gehöre ich zu den Eingeweihten.“

„Aber in dieser kleinen Bar sitzen zu bleiben ...“

„Urteilen Sie nicht nach dem äußeren Schein, junger Mann. Nur bei den
Römern war der Eingang zum Avernus leicht. Hier muß sogar der Eingang
zu einer Taverne schwer sein.“

Der Fremde lachte herzlich über sein eigenes philologisches Wortspiel
und ging zur Bar, wo der Bartender -- ein dicker glattrasierter junger
Mann von dem Aussehen eines Wettrenntrainers -- jetzt allein war und
die Kasse überzählte. Die drei schönen Barmädchen waren verschwunden.
Allan sah seinem neuen Bekannten interessiert nach. Es war ein kleiner,
ziemlich untersetzter Herr mit glänzendem, schwarzem Haar und jener,
beinahe blauvioletten Gesichtsfarbe, die vom vielen Rasieren kommt und
bei Schauspielern nicht selten ist. Nun kam er zu Allan zurück.

„Nun, wie ist es? Haben Sie Lust, sich das kleine Lokal des
internationalen Feuerfresserklubs anzusehen?“

„Internationaler Feuerfresserklub?“ wiederholte Allan. „Hat der Klub
strenge Eintrittsbedingungen?“

„Ueberaus milde, wenn man von einem Klubmitglied vorgestellt wird.
Sonst sehr strenge. Uebrigens heißt der Klub nicht so. Das ist nur ein
Kosename unter den Mitgliedern.“

Allan erhob sich.

„Führen Sie mich in den Klub ein, wenn Sie wollen,“ sagte er. „Es wird
mir ein großes Vergnügen sein, die Gepflogenheiten der Feuerfresser
kennen zu lernen.“

Der Fremde rief dem Mann, der eben die Eingangstüre der Bar
verriegelte, etwas zu. Der Barmann zog pfeifend eine Draperie zurück,
die im Hintergrunde des Cafés hing, und einige Schritte weiter in
einem Korridor erblickte Allan einen Aufzug. Der Fremde winkte ihm,
vor ihm einzusteigen, und Allan tat es arglos. Als er später über die
Abenteuer dieser Nacht nachdachte, wunderte es ihn am meisten, daß man
nicht -- aber der Leser wird noch früh genug Gelegenheit finden, seine
Verwunderung zu teilen.

Der Fremde stieg nach ihm ein und drückte auf einen Knopf. Der Lift
glitt hinauf, so überaus langsam, daß er noch die Lifts des Grand Hotel
Hermitage bei weitem übertraf, und machte es Allan ganz unmöglich, zu
beurteilen, wie hoch er hinaufging -- er war mit mattgeschliffenen
Glasscheiben versehen. Allan dachte jedoch im Augenblicke nicht daran,
er dachte nämlich an etwas ganz anderes und wandte sich an seinen
Begleiter:

„Verzeihen Sie mir, aber wie soll ich denn wieder hinauskommen? Die Bar
schließt ja.“

Der Fremde lachte.

„Dabei werde ich Ihnen schon behilflich sein. Es gibt einen anderen
Ausgang. Nun sind wir da.“

Der Fahrstuhl blieb so vorsichtig stehen, als hielte er vor einer
Krankenwohnung. Der Fremde zog die mattgeschliffene Doppeltüre auf
und schob Allan in eine große Vorhalle, deren Boden mit dicken
Teppichen belegt war. Ein Diener in orientalischem Phantasiekostüm kam
herbeigeeilt und verbeugte sich, als er Allans Begleiter erblickte,
sehr tief.

„Die Loge Nummer fünf steht bereit, Sir,“ sagte er.

Das ist eigentümlich, dachte Allan, hat er die Loge schon vorher
reserviert? Oder kommt er jeden Abend her?

Sein Begleiter hatte sich rasch zu dem Diener herabgebeugt und
flüsterte ihm etwas zu. Der Diener erwiderte etwas, worauf der
Schwarzhaarige einen Pfiff hören ließ.

„Schon in der Loge Nummer sechs!“

„Ja, Sir, sie sind vor einer halben Stunde gekommen.“

„_All right._ Ist die Passage frei?“

„Ja, Sir.“

Allans Begleiter drehte sich lächelnd zu ihm um.

„Entschuldigen Sie, wenn ich geheimnisvoll wirke,“ sagte er. „Ich habe
mich nur nach einem Bekannten erkundigt.“

„Sie müssen oft herkommen,“ sagte Allan, „da eine Loge für Sie
reserviert ist.“

„Ja, ich komme hie und da her. Wollen Sie nicht den Ueberrock ablegen?
Es pflegt hier sehr warm zu sein.“

Allan legte Rock und Hut ab und reichte sie dem Diener; sein Begleiter
tat das gleiche und ging auf eine Türe zu, die einen vergoldeten Fünfer
zeigte. Allan ging ihm nach, aber folgte halb unbewußt dem orientalisch
gekleideten Diener mit dem Blick. Er sah ihn auf einen Knopf drücken,
wobei die Türe zu einer Art Garderobe aufsprang, in der er die
Ueberkleider unterbrachte, die er in Empfang genommen hatte. Rechts in
der Garderobe sah Allan flüchtig eine halb geöffnete Türe mit einem
schmalen Treppenaufgang dahinter. Alles dies nahm kaum drei Sekunden in
Anspruch; aber wie es sich später zeigte, hing von diesen drei Sekunden
der Ausgang der Abenteuer des Abends ab. Nun war er wieder an der Seite
seines Begleiters. Dieser drehte sich lächelnd zu ihm um.

„Ich habe das Vergnügen, Sie in den Klub der internationalen
Feuerfresser einzuführen,“ sagte er und öffnete die Türe, die die
vergoldete Ziffer 5 zeigte. „Treten Sie ein!“

Allan trat vor ihm ein. Bei dem Anblick, der sich ihm bot, zuckte er
erstaunt zusammen. Er hatte sich irgendein kleines Klublokal von halb
zweideutiger Sorte erwartet, aber was er sah, war unleugbar etwas ganz
anderes.

Die „Loge“, in der er stand, war eine Art Mittelding zwischen
gewöhnlicher Theaterloge und Tribüne -- sie lag ein paar Fuß über
dem Boden der großen Halle und war von dieser durch eine Rampe von
flackernden Kerzenflammen getrennt, die der Halle zugekehrt waren. Die
Beleuchtung der Loge kam von oben, aus einem Netz von Geißlerschen
Röhren, durch die ein regenbogenschimmerndes Licht in feinen, lautlosen
Fluten strömte. Die Wände waren ganz unter schweren Draperien
verborgen. Es stand ein gedeckter Tisch da, mit Kuverts für zwei
Personen. Der Tisch hätte jedoch reichlich Platz für sechs gehabt.
Drei große Champagnerkühler auf hohen Silberfüßen standen daneben. Die
Stühle waren durch orientalische Diwane ersetzt. -- Auf der anderen
Seite der beständig flackernden Lichtrampe lag ein großer Saal in
groteskem Rokokostil mit einem mattgeschliffenen, durchsichtigen
Glasboden. Die Beleuchtung kam von tief unten in rhythmischen Kaskaden
von verschiedenfarbigen Lichtern, die aufwallten und erloschen und
den Paaren, die dort drinnen tanzten -- denn der Saal war offenbar
als Tanzsaal gedacht -- ein wunderliches Cachet der Unwirklichkeit
gaben. Eine Menge Menschen, Herren und Damen in bunten Kostümen,
morgen- und abendländischen, ethnographischen und rein phantastischen,
weitwallenden und zuweilen mehr als leichten, bewegten sich über den
regenbogenschimmernden Glasboden zum Takt einer Kapelle, die Allan
schließlich am entferntesten Ende des Saales entdeckte. Diese Kapelle,
in roten Mänteln, an jene erinnernd, mit denen die Inquisition ihre
Opfer ausstaffierte, saß auf einer Art schwarzen Insel des leuchtenden
Glasbodens. Das Ganze machte einen so verwirrenden Eindruck, daß Allan
sich mit beiden Händen an den Kopf griff. War er wach? Wie konnte ein
solches Lokal seinen Zugang durch das unscheinbare Loch in der Wand
haben? Er wendete den Blick seinem Begleiter zu und fand, daß er ihn
von einem der Diwane mit einem amüsierten Lächeln betrachtete.

„Das kleine Lokal der Feuerfresser macht Ihnen Eindruck?“ sagte er.

„Ich habe nie in meinem Leben etwas Aehnliches gesehen,“ sagte Allan
wahrheitsgemäß. „Aber wie --“

„Keine Fragen, lieber Freund. Sie begreifen, ein Klub wie der unsrige
ist exklusiv und will keine fremden Personen in seine Geheimnisse
einweihen. Sie haben mich dort unten amüsiert, und es hat mich
amüsiert, Ihnen einen kleinen Gegendienst zu erweisen. Aber keine
Fragen!“

Allan verbeugte sich.

„Gestatten Sie,“ sagte er, zum zweitenmal tiefverwurzelten Trieben
folgend, „daß ich mich vorstelle?“

„Ach, was ist ein Name! Lassen Sie mich Mirzl zu Ihnen sagen, wenn es
schon eine Ansprache sein muß. Name ist Schall und Rauch. Setzen Sie
sich und kosten Sie, was der Klub vermag. Trocken oder halbtrocken?“

„Trocken, danke,“ stammelte Allan und sank auf den Diwan gegenüber
seinem wunderlichen Begleiter. Dieser fuhr fort:

„Ich weiß nicht, ob es Sie interessiert, aber ich kann mir Ihre
Abenteuer mit Mirzl nicht aus dem Kopf schlagen. Würde es Sie
amüsieren, ihre Lösung zu hören? Ich glaube, merken Sie wohl, glaube,
daß ich sie gefunden habe.“

Allan riß die Augen auf und vergaß im Nu das wunderliche Lokal, in dem
er sich befand, sowie die tanzende Schar draußen auf dem Glasboden.

„Sie glauben, Sie haben die Lösung?“

„Ach, eigentlich ist sie doch ganz naheliegend. Ich weiß nicht, ob Sie
wissen, daß Mirzl vor acht Tagen in Berlin einen größeren Coup gemacht
hat.“

„Man sagte es mir in der Polizeikammer in Köln. An dem Tage, bevor ich
mit dem Expreß reiste. Hunderttausend Mark in irgendeinem Hotel des
Westens, nicht wahr?“

„Auf jeden Fall gut siebzigtausend. Er war diesmal ein bißchen gar zu
tollkühn gewesen. Er entkam gerade noch mit knapper Not, aber sein
Gepäck mußte er im Stich lassen. Nun können Sie sich denken, daß er
am liebsten aus Deutschland heraus wollte, und dabei wußte er, daß
die Polizei überall Spione hatte. Seine Helfershelfer wagte er nicht
aufzusuchen. Kam er an die Grenze und wollte sie ohne Gepäck passieren,
war er sofort verdächtig und wurde hoppgenommen. Suchte er sich Gepäck
von genügenden Dimensionen und entsprechender Qualität zu kaufen,
so war sein Signalement so verbreitet, daß er höchstwahrscheinlich
hängen blieb. Und der Boden brannte ihm unter den Füßen! Es handelte
sich um Stunden. Er war im Auto nach Hamburg geflohen, er stieg ohne
irgendeinen Plan in den Expreß, traf Sie -- und das übrige wissen Sie.
Aber nachdem er einmal glücklich in London war, brauchte er Ihre Sachen
nicht mehr. Und da er ein Freund von Exzentrizitäten ist, stellte
er sie eben zurück. -- Sie trinken nichts? Was sagen Sie zu meiner
Erklärung?“

Allan starrte seinen Begleiter mit weitgeöffneten Augen an. Das
war wirklich ein Sherlock Holmes! Er hob sein Glas, um ihm seine
Anerkennung auszusprechen, als eine Unterbrechung kam.

Die Draperien links begannen zu wogen, sie wallten auf und nieder
wie ein Wasserspiegel bei einem Unterseebootangriff und teilten sich
endlich. Jemand tauchte aus ihnen empor, wie Neptun aus den Fluten,
taumelte ein paar Schritte in die Loge, wo Allan und sein Begleiter
saßen, und blieb endlich auf ein paar nicht allzu festen Beinen mit dem
Rücken gegen sie stehen, während er mit der einen Hand die Draperien
festhielt, durch die er aufgetaucht war. Zu seinem Staunen merkte
Allan, daß gar keine Wand zwischen den Logen war; die Draperien waren
das einzige, was sie trennte. Offenbar waren sie schwer genug, um
alle Laute zu dämpfen, wenn man sie ruhig hängen ließ, denn während
er bisher keinen Ton aus der Nebenloge vernommen hatte, drang jetzt
ein Stimmengewirr heraus. Aber was war denn das für ein ungebetener
Gast? wollte er eben seinem Begleiter zurufen, als der Mann, der
hereingetaumelt war, ihnen plötzlich das Gesicht zukehrte. Allans
Ausruf sank zu einem Flüstern herab:

„Yussuf Khan! Der Maharadscha!“

Es war wirklich und unzweifelhaft der Maharadscha von Nasirabad, und
ebenso zweifellos war es, daß dieser mohammedanische Herrscher an
diesem Abend das Gebot des Propheten gröblich übertreten hatte: er war
sichtlich das, was man in höflicher Sprache angeheitert nennt und wofür
man in weniger höflicher Sprache eine Unzahl anderer Bezeichnungen
hat. Es war jedenfalls offenbar, daß sein Schwips von der guten
sanguinischen Sorte war. Jetzt wandte er sich mit einer vorsichtigen
Kreisbewegung Allan und seinem Begleiter zu, machte ein feierliches
Salaam und sagte mit Würde, wenn auch ein bißchen undeutlich:

„Edelgeborene Sahibs, ein armer Sohn eines toten Paria bittet euch um
Entschuldigung ob dieses Eindringens in euer königliches Z--z--ze--l--“

Er kam nicht weiter. Die Anstrengung war zu groß gewesen. Er fiel sanft
auf einen der Diwane und schloß seine Rede in sitzender Stellung ab:

„... Ze--zelt. Ich, Yussuf, der Sohn von tausend unwürdigen Vorvätern,
bitte euch um Entschuldigung.“

Allans Begleiter hatte sich hastig erhoben und eine Champagnerflasche
aus einem der silberfüßigen Kühler genommen.

„Yussuf, Sohn himmelgeborener Eltern, geruhe mit dem verächtlichsten
der weißen Männer zu trinken.“

Er schenkte ein Glas ein, das der Maharadscha mit einem wohlwollenden,
aber abwesenden Lächeln automatisch ergriff und austrank. Er blieb
mit dem Glas in der Hand sitzen, als die purpurroten, gelbgeflammten
Draperien zum zweitenmal zu wogen begannen, diesmal jedoch planmäßiger
als früher, worauf ein graubärtiger Kopf im Turban (der Maharadscha
hatte seinen verloren) sich in einer Spalte zeigte, so allmählich
folgte sein Besitzer nach, der sich als der alte Hofdichter Ali
entpuppte.

Er rief dem Maharadscha etwas zu, der nur mit einem Winken des
Champagnerglases und einem herzlichen Lachen antwortete, worauf er sich
wohlbehaglich seiner ganzen Länge nach auf dem Diwan ausstreckte. Der
alte Hofdichter, der selbst in aufgeräumter Stimmung zu sein schien,
zog die Draperie zurück und rief in die andere Loge hinein:

„Stanton Sahib, er hat sich hier drinnen zur Ruhe gelegt. Er weigert
sich, meinen weisen guten Ratschlägen Gehör zu schenken.“

Die Folge dieses Rufes war, daß eine dritte Person sich zwischen den
Draperien zeigte, ein junger blonder, scharfäugiger Engländer, mit dem
denkbar korrektesten Scheitel und dem denkbar reinsten Rasseprofil.
Auch er schien in brillanter Laune zu sein. Er puffte lächelnd den
alten Hofdichter in die Loge Nr. 5 und kam selbst nach. Dann wandte er
sich mit einem tiefen orientalischen Salaam an Allans Begleiter und
sagte mit singender Stimme:

„Edelgeborene Feuerfresser, verzeiht diese Zudringlichkeit meiner
zwei Schützlinge und meiner selbst, dem unwürdigen Sohn von zehn
Generationen von Sklaven! Salaam, edle Feuerfresser! Möge euer Schatten
stets zunehmen und eure Widersacher keine andere Speise finden als den
Schmutz der Erde.“

Allan beobachtete diesen Auftritt mit offenem Munde. Er blickte in
den Saal hinaus, wo der Tanz auf dem Glasboden herumwirbelte, um sich
selbst zu bestätigen, daß er wach war. Der Anblick der Tanzenden in
dieser phantastischen Beleuchtung trug nicht gerade dazu bei, sein
Zutrauen zu seinen Sinnen zu stärken. Yussuf Khan hier in dieser
Gesellschaft! Sein mystischer Begleiter aus dem ‚Loch in der Wand‘
war aufgestanden und hatte den Gruß des jungen Engländers mit einigen
ebenso orientalischen Wendungen erwidert, indem er erklärte, daß sein
Zelt (womit die Loge Nr. 5 gemeint war) der Ehre, die ihm von diesen
erhabenen Fremdlingen, deren Aussehen zur Genüge ihre Geburt und
ihre Tugenden bezeugte, erwiesen wurde, gänzlich unwürdig sei; doch
wenn sie sich in besagtem Zelt niederlassen wollten, wage er ihnen
vorzuschlagen, einen Becher elenden und essigsauren Weins zu leeren.

Der junge Engländer sank laut lachend auf einen Diwan und akzeptierte
ohne Umstände ein Glas; der alte Hofdichter trank das seine auf einen
Zug aus und erhob sich dann. Trotz des Weines stand er ziemlich
sicher. Der Maharadscha lag auf seinem Diwan und betrachtete sämtliche
Anwesende mit einem Lächeln des äußersten Wohlwollens. Der alte
Hofdichter hob die Hand und begann zu sprechen:

„Erhabene Sahibs! Sicherlich ist London die wunderbarste Stadt der
Welt. Ihre Schönheit ist märchenhaft, wenn auch von Nebeln verhüllt,
und die Tugenden und die Liebenswürdigkeit ihrer Einwohner übertreffen
die aller anderen Städte so wie der Koran alle anderen Bücher
übertrifft. Wisset (er wendete sich an Allan und seinen Begleiter),
erst heute morgens kam ich in Gesellschaft meines jungen Schülers, der
uns alle von seinem Diwan mit einem seligen Lächeln betrachtet, hier
an. Erst heute morgen trafen wir in dieser Stadt ein, wo wir niemand
kannten, und noch vor dem nächsten Morgen haben ich und mein Schüler
so viele Freunde gefunden, und sind in diesem Hause der Zehntausend
Freuden bewirtet worden, alles durch Stanton Sahibs Verdienst. An
diesem Abend, als wir uns von der Tyrannei, die ein alter Sahib,
dessen Namen ich nicht nennen will, gegen uns ausübt, befreit hatten,
machten mein Schüler und ich uns insgeheim auf einen Streifzug durch
London auf (Allan zuckte zusammen), um seine tausend Reize kennen zu
lernen, von denen wir in den Lehmhütten, die uns zur Welt kommen sahen,
soviel gehört haben. Kaum, o fremde Sahibs, waren wir hundert Schritte
gegangen, als wir uns schon verirrt hatten, verwirrt durch die Nebel,
die Londons Schönheiten zu verhüllen suchen, und von dem Getöse der
zehntausend Feuerwagen. Wir waren verirrt wie die Gottlosen, die die
Wahrheit außerhalb des Korans suchen (gepriesen sei sein Name). Wie
Abdul Mahbub, mein alter Lehrmeister, singt: ‚Weh dem, der die Wahrheit
anderwärts sucht.‘ So verirrt waren wir, als Stanton Sahib, dessen
Namen auf dem ganzen Erdenrund gerühmt werden wird, uns auf der Straße
sah, sich unser erbarmte (Allan zuckte wieder zusammen), und uns in
dieses Haus der Zehntausend Freuden führte. Immer und allezeit wird
Stanton Sahibs Name ob dieser Guttat gegen zwei arme Wanderer gepriesen
werden. Lasset uns auf Stanton Sahib, den edelsten der Engländer, mit
diesem Wein trinken, der frischer ist als Morgentau und kitzelnder als
die Lippen eines Weibes. Lasset uns dabei bedenken, was der göttliche
Zeltmacher sagt:

  O trinke Wein, die Sorgen dir zu brechen,
  Die zweiundsiebzig Sekten durchzurechen! --
  Nie trenne dich von dieser Alchimie,
  Ein Men davon heilt tausend von Gebrechen![2]

  [2] Diese und die folgenden Verse nach der Uebersetzung von
      Maximilian Rudolf Schenck.

Erhabene Sahibs, lasset uns ...“

Der alte Hofdichter kam nicht weiter; die Anstrengung war zu viel für
ihn gewesen, und mitten in seinem letzten Satz plumpste er plötzlich
auf einen Diwan, trank die letzten Tropfen aus dem Glas und sah sich
mit einem unsteten Lächeln um. Allans Begleiter füllte die Gläser
wieder und ließ sich bei dem jungen Engländer nieder, den man Stanton
genannt hatte. Allan saß da, in Grübeleien versunken, während seine
Augen auf die Tanzenden draußen auf dem Glasboden geheftet waren; das
war doch ein mehr als eigentümliches Zusammentreffen, daß er, der nie
von diesem Lokal gehört, und die beiden Hindu, die den ersten Tag in
London waren, alle drei von wohlwollenden Fremdlingen hier eingeführt
wurden ... Er starrte seinen Begleiter an, der mit dem jungen Engländer
beschäftigt war. Plötzlich kam ihm eine flüchtige Idee: Hatte er
den Mann, der ihn hier eingeführt hatte, nicht in dem Varieté im
Leicester Square gesehen? Unmöglich es zu sagen, man sieht ja an einem
solchen Ort tausend Gesichter, und das seines Begleiters war nicht
besonders auffallend. Und wenn er ihn auch in dem Varieté gesehen
hatte? ... Er fuhr unwillkürlich fort, darüber nachzugrübeln, was ihm
eigentlich daran, daß gerade +er+ und die beiden Hindu hier im
Feuerfresser-Klub saßen, so eigentümlich vorgekommen war. Plötzlich sah
er, wie der alte Hofdichter sich erhob und auf etwas unsicheren Beinen
zu seinem Platz herankam.

„Junger Mann,“ sagte er und setzte sich auf den Diwan neben dem Allans,
„ich will Ihnen etwas anvertrauen.“

Allan neigte lächelnd den Kopf.

„Ich will Ihnen etwas anvertrauen,“ wiederholte der alte Poet. „Dieser
Wein, der frischer ist als der Morgentau auf den Berghängen und
kitzelnder als die Lippen eines Weibes, ist auch ebenso hinterlistig
wie das Herz eines Bewohners der Ebene. Ach, was haben wir von den
Frauen, die wir lieben, und dem Wein, den wir trinken? Beide Räusche
verschwinden mit dem Morgen. Doch weiß ich nicht, ob der Rausch dieses
kitzelnden Weines, der wie ein Frühlingsbach perlt, morgen mit dem
Morgen verschwinden wird. Ich bin fast geneigt, es zu bezweifeln; aber
wenn es der Fall ist, so denke ich daran, was der göttliche Zeltmacher
sagte:

  Wein trinken will ich! Trinken, daß der Duft,
  Wo ich begraben, füllet einst die Luft;
  Daß all die Waller, trunken noch vom Abend,
  Im Rausche sinken rings um meine Gruft.

Junger Mann, hüten Sie sich vor dem Wein und den Frauen. Nehmen
Sie diesen Rat von dem alten Sänger Ali. Vernehmen Sie, daß mein
Schüler, der uns von seinem Diwan aus mit einem milden glücklichen
Lächeln betrachtet, über das große Wasser hergekommen ist, um sich zu
vermählen. Es ist eine Folge seiner jugendlichen Torheit, daß er zu
diesem Zweck einen so weiten Weg macht. Er ist wie der Steinbock, der
mühsam ins Dschungel herabwandert, um dort von den Tigern gefressen zu
werden. Das beweist, daß ich ihm ein schlechter Lehrer gewesen bin.
Lasset uns trinken!“

Allan erhob sein Glas.

„Verehrungswürdiger Dichter,“ sagte er, „wissen Sie, daß wir im selben
Hotel wohnen?“

Der alte Poet sah ihn mit Augen an, die vom Wein verdunkelt waren.

„Und wenn dem so ist?“ sagte er. „Ein Wohnort, was ist ein Wohnort? Je
mehr ich von diesem gelben Wein trinke, desto besser verstehe ich den
göttlichen Zeltmacher, und wenn Sie von Hotels sprechen, junger Mann,
denke ich daran, was er gesagt hat:

  O alte Welt! Du altes Herbergshaus,
  Wo Tag und Nacht gehn ewig ein und aus,
  Du warst die Bettstatt schon von tausend Dschemschids,
  Der Rest von tausend Behrams reichem Schmaus.

Was bedeutet es, ob wir im selben Hotel wohnen. Ein anderer liegt
morgen in dem Bett, das noch von uns lau ist.“

„Gottlob ist der Champagner für uns noch kalt,“ sagte Allan. „Prost!
Seine Königliche Hoheit dort auf dem Diwan scheint ein bißchen
ermüdet.“

„Mein Schüler“, sagte der alte Hofdichter, indem er sein Glas austrank,
„ist noch nicht recht vertraut mit dem Wein der weißen Sahibs. Seine
verräterische Süßigkeit hat ihn überwältigt. Bei der Erkenntnis dessen
schaudere ich, wenn ich an die blauäugigen weißen Frauen denke,
von denen er träumt. Sicherlich hat Nasirabads letztes Stündlein
geschlagen, wenn eine von ihnen ihn in ihre Arme schließt. Woher wissen
Sie, wer mein Schüler ist?“

„Ich habe ja schon gesagt, daß wir im selben Hotel wohnen.“

Kurz nach dieser letzten Antwort mußte auch Allans Bewußtsein sich
umnebelt haben. Auf jeden Fall war es das Letzte, was er am nächsten
Tag aus seiner Erinnerung hervorzuholen vermochte. Auch in die
Handlungen, die er und die anderen Anwesenden darnach vornahmen, konnte
er keine Klarheit bringen. Er erinnerte sich undeutlich, daß er,
nachdem er noch ein paar Gläser getrunken, aufgestanden und unter der
heiteren Zustimmung seines eigentümlichen Begleiters, der noch immer im
Gespräch mit Mr. Stanton dasaß, durch die Draperien in die Loge Nr. 6
gewankt war, aus der Mr. Stanton und seine Schützlinge gekommen waren.
Ein paar Augenblicke starrte er die Loge an, die ebenso eingerichtet
war wie die andere, und den Tanz, der draußen auf dem Glasboden
unablässig weiterging. Dann legte er sich auf einen Diwan.

Das nächste, woran er sich dann erinnerte, war, daß sein Begleiter und
Mr. Stanton durch die Draperie zu ihm hineinguckten; sie sahen auf ihre
Uhren, lächelten und zogen sich in die Loge Nr. 5 zurück; er fing
noch den Laut der Stimme des alten Hofdichters auf, der irgend etwas
rezitierte, und ein Schnarchen, das vermutlich von Yussuf Khan kam.

Vermutlich war er selbst gleich darauf eingeschlummert, aber es ist
unsicher, wie lange er geschlafen hatte, als er mit einemmal klar
wach war, so wie es manchmal vorkommt, von einer Idee gepackt, einer
halben Ahnung, wie man sie im Schlaf hat, einer Idee, die ihn dazu
brachte, sich kerzengerade auf dem Diwan aufzusetzen und vor sich
hinzustarren. War +das+ der Zweck des Ganzen. Waren deshalb gerade
er und die beiden Inder in dieses eigentümliche Lokal geführt worden?
Hatte deshalb sein Begleiter eine so plausible Erklärung für Herrn
Mirzls Vorgehen geben können? ... Dann war +eine+ Sache sicher
-- er mußte sich eilen, wollte er ihre Pläne durchkreuzen; und eine
andere Sache beinahe noch sicherer -- er mußte mit äußerster Vorsicht
zu Werke gehen, wenn es ihm gelingen sollte ... Noch wirr im Kopf von
dem Champagner und unsicher auf den Beinen nach dem Schlaf erhob er
sich von dem Diwan und schlich, so leise er konnte, zur Logentüre.
Dort angelangt, blieb er stehen und sah vorsichtig nach den Draperien
zur Loge Nr. 5. Sie hingen regungslos, kein Laut war von dort drinnen
zu hören. Er drückte vorsichtig die Klinke nieder. Sie gab lautlos
nach. Gott sei Dank, die Türe war also nicht verriegelt, wie er schon
befürchtet hatte.

Er öffnete sie so behutsam er konnte, und guckte mit einem Auge in
die Halle. Sie war leer; von dem orientalisch gekleideten Diener war
nichts zu sehen. Mit noch einem gemurmelten Segensspruch auf den Zufall
oder die Vorsehung ging er zur Türe hinaus, schloß sie hinter sich
zu und schlich auf den Zehen zu zwei großen Doppeltüren mit elegant
vergitterter Glasfüllung. Nur fort, so rasch als möglich. Er sah hastig
auf seine Uhr, die fast zwei zeigte -- keine Zeit, an Ueberrock und Hut
zu denken -- als er eine Entdeckung machte, die ihn zurücktaumeln ließ.

Die großen Hallentüren waren ebenso fest und unerschütterlich
verschlossen wie eine Gefängnispforte!

Für einen Augenblick stand er wie gelähmt da, fast bereit, in die Loge
zurückzukehren und die Dinge ihren Lauf nehmen zu lassen. Dann jedoch
gewann die Empörung die Oberhand, und er begann mit zusammengebissenen
Zähnen nach einer Möglichkeit zu suchen, den Leuten dort drinnen ein
Schnippchen zu schlagen. Er grübelte und grübelte, während seine
Augen rings um die Halle irrten, jeden Augenblick darauf gefaßt, den
Diener auftauchen zu sehen. Die Halle bog sich nach rechts und links
zu Korridoren um, die die Logen rings um den Saal mit dem gläsernen
Boden umschlossen. Vielleicht war dort irgendein Ausgang? Er verjagte
den Gedanken an diese Möglichkeit ebenso rasch, als er aufgetaucht
war. Fand sich dort irgendein Ausgang, so war er sicherlich ebenso
fest verrammelt wie der Hauptausgang. Der Diener in der orientalischen
Gewandung hatte natürlich dafür zu sorgen, daß kein Unberufener herein
oder heraus kam; und diesem Diener wollte er keinesfalls begegnen. Er
hätte darauf schwören mögen, daß er seine Weisungen hatte! -- War das
Spiel also verloren? Schon waren drei Minuten vergangen, seit er die
Loge verlassen hatte -- hallo!

Mit einem Male fiel ihm etwas ein.

Er sah die Szene wieder, als er mit seinem wunderlichen Begleiter
herausgekommen war; der Diener hatte ihre Ueberkleider genommen und
sie in die Garderobe hinüber getragen, deren Türe er durch den Druck
auf einen Knopf geöffnet hatte. Und drinnen in der Garderobe hatte
Allan einen Augenblick eine halb offene Türe gesehen, die zu einer
Hintertreppe führte. ... Ohne diesen Gedanken zu Ende zu denken oder
die Chancen zu berechnen, ob er auch den Knopf zur Garderobetüre
entdecken und die andere Türe geöffnet finden würde, stürzte Allan
quer durch die Halle zur Garderobetüre. Er ließ die Finger über die
Wand fahren, auf die er den Diener drücken gesehen hatte; Sekunde für
Sekunde verging, von seinem Herzen mit einem Hämmern markiert, das
man seiner Empfindung nach durch das ganze Haus hören mußte; seine
Finger flogen über die Wand hin und her, ohne jedes Resultat. Halb
verzweifelt ließ er die Hände sinken und starrte die Wand an. Seine
Verzweiflung ging in kindische Erbitterung über; er versetzte der Wand
einen Faustschlag, der dumpf krachte und weh tat, aber -- o Wunder! --
im selben Augenblicke öffnete sich die Türe. Im nächsten war Allan in
der Garderobe und zog die Türe hinter sich zu, ohne zu bedenken, daß er
keine Zündhölzchen bei sich hatte. Er tappte zu den Ueberkleidern, die
er dort drinnen hängen gesehen hatte, und durchsuchte mit fiebernden
Händen eine Tasche nach der andern: Die internationalen Feuerfresser
schienen den Gebrauch von Zündhölzchen abgeschworen zu haben, und sie
hätten doch die Nächsten dazu sein sollen! Ohne daran zu denken, was
er in Gestalt von gebrochenen Beinen und ähnlichem riskierte, gab er
seine Nachforschungen in den Ueberrocktaschen auf und tastete sich zu
jener Ecke der Garderobe, wo er am Abend die offene Türe gesehen hatte.
Eigentümlicherweise fand er sie so gut wie gleich, und zwar noch immer
angelehnt.

Er öffnete sie ganz und machte mit ausgestreckten Händen ein paar
vorsichtige Schritte über die Schwelle. Er fand ein eisernes Geländer
und konstatierte, daß da eine Wendeltreppe sein mußte. Er trat einen
Schritt zurück und schloß die Türe zur Garderobe wieder, um keinerlei
Spuren zu hinterlassen; dann begann er die Wendeltreppe herabzusteigen,
so rasch er es bei dieser Dunkelheit wagen konnte.

Wenn der Leser je eine dunkle Treppe in einem fremden Hause ohne andere
Richtschnur als das Gefühl hinauf oder hinunter gegangen ist, dürfte
dem Leser eines aufgefallen sein: Sie erscheint ebenso endlos wie
ein Satz eines besseren lateinischen Schriftstellers. Wenn der Leser
diese Beobachtung nicht gemacht hat, hat der Leser nie einen besseren
lateinischen Schriftsteller gelesen. Allan Kragh, der in dieser
Hinsicht zu den Bevorzugten gehörte, hatte Gelegenheit zu konstatieren,
daß die Wendeltreppe, die er gefunden, gut und reichlich so lang
war, wie der Satz, wo Livius seine Reflexionen über die Schlacht bei
Cannae beginnt. Er glaubte Aeonen gegangen zu sein und fragte sich
schon, ob die Treppe zu den Verließen des Feuerfresserklubs führte,
zum Inferno oder zu irgendeiner Station der Londoner Untergrundbahn,
als die Treppe plötzlich ein Ende nahm und er vor einer Türöffnung
stand, durch die graues Nachtlicht hereinrieselte. Er eilte so eifrig
hinaus, als sei es die Pforte zu einem verzauberten Garten. Sie führte
jedoch nur zu einem dunklen Brunnen -- wenigstens kam es ihm so vor.
Himmelhohe Hausgiebel und Feuermauern erhoben sich auf allen Seiten,
mit oder ohne Reihen von dunklen Fenstern. Er suchte die Finsternis
rings um sich mit den Blicken zu durchdringen. Sollte er seine Flucht
nur unternommen haben, um in eine Falle geraten zu sein? Er begann sich
zwischen den Gegenständen auf dem Grund dieses Schachtes, der sich
nach links ausbuchtete, weiterzutasten. Er folgte der Hausmauer. Nun
kam eine Biegung im rechten Winkel, dann wieder eine in der früheren
Richtung. Plötzlich fand sich Allan, mit einem Ruf der Erleichterung,
vor einem Gitter zwischen zwei hohen Hausgiebeln, von denen der eine
mit Efeu bewachsen war. Ohne eine Sekunde zu zögern, begann er das
Gitter zu überklettern und kam mit einem zerrissenen Hosenbein auf die
andere Seite hinüber. Die Straße, in der er nun stand, war kurz und sah
sehr vornehm aus. An ihrem einen Ende war ein offener Platz, undeutlich
beleuchtet; und auf diesem entdeckte Allan zu seiner unbeschreiblichen
Freude nichts Geringeres als ein Cab.

Der Cabby unterzog ihn einer genauen Okularbesichtigung und stellte
die Forderung eines Vorschußerlages, bevor er das Pferd aus seinem
beschaulichen Schlummer riß und es dem Grand Hotel Hermitage zutraben
ließ. Herren ohne Hut und Ueberrock um diese Tageszeit flößten ihm
offenbar gemischte Gefühle ein. Allan drinnen im Cab kam es vor, als
rührte sich dieser gar nicht vom Fleck; Straße um Straße passierten
in unendlicher Prozession vorbei, Häuser, Häuser und Häuser,
Firmenschilder und Schilder, die eine rotgelbe Gaslaterne nach der
anderen. Er starrte die Zeiger seiner Uhr an, wie sie dahinkrochen --
immerhin bedeutend schneller als der Cab, schien es ihm. Hier und da
sandte er durch die Dachluke dem Cabby einen flehentlichen Ruf zu;
jedesmal kam ein Ruck der Zügel als Antwort und eine schwache Reaktion
in der Mähne des Pferdes. Es wurde zehn Minuten vor halb drei, fünf
Minuten vor halb drei. Jetzt kam er sicherlich zu spät ... Endlich bog
der Cab in eine breitere asphaltierte Straße ein, die er erkannte, und
stand auf dem Monmouth Square.

Das Grand Hotel Hermitage lag stumm und schlummernd da, kaum ein
Fenster der großen Fassade war beleuchtet; es schien Allans Ahnungen
wenig Berechtigung zu geben. Und doch dauerte es kaum so lange, bis er
in die Halle gekommen war, als ihm auch schon die Bestätigung wurde,
die er zugleich befürchtet und ersehnt hatte.

Der Nachtportier, der den Seiteneingang mit einem erstickten Gähnen
geöffnet hatte, erstickte dieses gänzlich, als er Allan erblickte. Er
prallte zwei Schritte zurück und starrte Allan wie ein Gespenst an.

„Wer sind Sie?“ rief er.

„Nr. 417!“ rief Allan. „Rasch! Kommen Sie mit! Es ist keine Minute zu
verlieren.“

„Aber ich habe Sie doch vor zwei Stunden nach Hause kommen sehen ...“

„Ich weiß! Ich weiß! Ich werde Ihnen schon alles später erklären. Man
hat ein Verbrechen geplant -- ist Mr. Bowlby mit seiner Familie schon
nach Hause gekommen?“

„Nein, aber -- --“

„Kein Aber! Die Stiege hinauf in ihre Wohnung, und rasch, wenn wir
verhindern wollen, was man geplant hat!“

Ohne sich auf weitere Erklärungen einzulassen, packte Allan den
verblüfften Portier beim Arm und zog ihn die Treppe hinauf, zur
Suite der Familie Bowlby im zweiten Stockwerk. Als sie den großen
Treppenabsatz im ersten Stockwerk passierten, warf Allan einen Blick in
den Korridor, wo die Zimmerflucht lag, die Bowlbys früher inne gehabt
hatten und die nun vom Maharadscha bewohnt wurde. Er sah seine Annahme
bestätigt: Fünf Mann von Yussuf Khans zehn Mann starker Leibgarde
hielten vor den Türen seiner Wohnung Wache. Diesen Weg hatten also die
Betreffenden nicht einschlagen können, und deshalb hatten sie eben -- --
er verdoppelte seine Schritte. Würde er noch zurecht kommen? war der
einzige Gedanke, für den er Raum hatte. Den Portier hinter sich
herschleppend, erreichte er die Türe zu Mr. Bowlbys Privatrauchzimmer
-- dem Zimmer, das infolge seiner Lage und aus anderen Gründen das sein
mußte, das die Betreffenden für ihre Operationen gewählt hatten. Der
dicke Teppich im Korridor dämpfte den Laut ihrer Schritte; und richtig,
als sie die Türe erreicht hatten, und einen Augenblick davor stehen
blieben, war drinnen eben jenes Geräusch zu hören, das Allan erwartet
hatte, ein gedämpftes Scharren wie von einer Feile oder Säge ... Allan
packte die Klinke.

Die Türe war verriegelt.

„Ich verdammter Esel,“ murmelte Allan heiser. „Portier, haben Sie
Doppelschlüssel? Uebrigens was wollen wir mit Doppelschlüsseln? Ein
Stemmeisen, und zwar rasch!“

„Ein Stemmeisen?“ Der Portier starrte Allan wie einen Wahnsinnigen an.

„Ich sage,“ flüsterte Allan atemlos, „hier wird ein Attentat begangen,
das das Hotel für immer in Verruf bringen wird! Wissen Sie, was für ein
Zimmer unmittelbar hier darunter liegt?“

Der Portier dachte eine Sekunde mit weit aufgerissenen Augen nach.

„Das Privatschlafzimmer des Maharadscha!“ murmelte er schließlich.

„Wo er alle seine Juwelen hat! Verstehen Sie jetzt? Begreifen Sie, daß
dieser Herr, der vor zwei Stunden herkam, nicht ich war, sondern ein
verkleideter Einbruchsdieb! Rasch, ein Stemmeisen, und lassen Sie ihn
uns fangen, so lange es noch Zeit ist.“

Endlich ging dem Portier ein Licht auf. Er schoß wie ein Pfeil die
Treppen hinunter, und Allan stand allein vor der verriegelten Türe, die
er mit den Augen verschlang. Der verdammte Mirzl! +Wenn+ Allan
nicht auf die Gedanken verfallen wäre, dies ihm im Feuerfresserklub
gekommen waren, hätte jetzt wohl +er+ die Ehre des Einbruchs ...

Allan kam in seinem Gedankengang nicht weiter. Urplötzlich, ohne
daß er einen Laut gehört hatte, wurde die Türe vor ihm aufgerissen;
Jemand im _evening-dress_, der ihm selbst ähnlich sah, packte
ihn bei den Armen, drehte ihn im Kreise herum wie ein Kind und warf
ihn in das Zimmer hinein, vor dem er gewartet hatte. Er wurde einfach
hingeschleudert wie ein toter Gegenstand und konnte noch gar nicht
daran denken, sich zu erheben, als das elektrische Licht im Zimmer
erlosch und er sich in abgrundtiefer Finsternis befand. Sein Kopf
tickte und summte wie ein Uhrmacherladen, und seine Augen sahen mehr
Sterne als sich je auf einer Kognakflasche befunden haben. Endlich war
er wieder auf den Beinen und tappte, so rasch er konnte, zur Türe. Sie
war versperrt. Er warf sich dagegen, ohne daß sie nachgab. Es gelang
ihm, den elektrischen Kontakt zu finden, und er drehte ihn herum, so
wie man eine Uhr aufzieht, ohne daß auch nur ein Lichtfünkchen kam.
Endlich hörte er eilige Schritte dort draußen, ein Rütteln an der Türe
und die Stimme des Portiers:

„Haben Sie ihn drinnen? Haben Sie den Hauptkontakt abgedreht?“

Allan bemühte sich die Worte zu unterdrücken, die ihm auf der Zunge
lagen.

„Um Gottes willen!“ schrie er, „so lassen Sie ihn doch nicht
entwischen! Versperren Sie den Ausgang! Telephonieren Sie der Polizei!
Er hat mich hier drinnen eingesperrt!“

Er hörte den Portier die Treppe hinunter verschwinden, ohne sich auch
nur die Zeit zu nehmen, den elektrischen Kontakt aufzudrehen, und es
verging eine Ewigkeit, während der er, vor Ungeduld schnaubend, vor
der verriegelten Türe auf und ab tanzte. Von Zeit zu Zeit unternahm
er einen neuen Versuch, sie zu sprengen. Immer vergeblich. Es mochten
vielleicht zehn Minuten vergangen sein, die ihm wie zehn Jahrhunderte
vorkamen, als er zum zweiten Male draußen Schritte hörte, diesmal von
mehreren Personen. Das Zimmer füllte sich plötzlich mit Licht, und ein
Schlüssel drehte sich im Schloß. Er riß selbst die Türe auf und fand
draußen den Portier, atemlos vor Erregung, in Gesellschaft von zwei
Polizisten. Er setzte zu Erklärungen und Fragen an, aber ein Ausruf des
einen Polizisten kam ihm zuvor.

„Nanu! Einbruchsversuch, todsicher! Sehen Sie mal!“

Allan drehte sich nach der Richtung um, in die der Konstabler wies.
Wenn es noch eines Beweises für die Richtigkeit seiner Ahnungen bedurft
hätte, so hatte er ihn nun.

Eine Oeffnung von etwa sechzig Zentimeter im Durchschnitt klaffte
im Fußboden, daneben lag ein geschlossener Regenschirm und eine
Anzahl Holzscheiben und etwas Mörtel. Er starrte verständnislos den
Regenschirm an, bis der eine Polizist auf das Loch im Boden zueilte und
den Regenschirm aufhob. Er spannte ihn auf; es zeigte sich, daß er eine
Quantität Sägespäne, Mörtel und Gips enthielt. Der Polizist nickte:

„Der gewöhnliche Trick, damit der Mörtel nicht in das Zimmer darunter
fällt! Seine Strickleiter hat er glücklich mitgenommen.“

Endlich fand Allan die Sprache wieder.

„Ist er entwischt?“

Der Portier nickte düster.

„Er hat sowohl den Hauptkontakt abgedreht wie den Etagenkontakt für
dieses Stockwerk. Die sind beide hier drüben in der Treppenhalle. Ich
stand unten im Bureau und klingelte die Polizei an. Als es plötzlich
dunkel wurde, stürzte ich die Treppe hinauf. -- Sie brauchen mich nicht
so anzusehen, Sir; was hätten denn Sie getan? In solchen Fällen ist man
immer nachher am klügsten. Ich merkte in der Dunkelheit nichts, bis ich
den Hauptkontakt aufgedreht hatte -- den Etagenkontakt vergaß ich ganz.
Im selben Augenblicke sehe ich jemand die Treppe hinunter verschwinden.
Ich stürze nach --“

„Ist er denn +erst dann gegangen+?“ rief Allan, „warum ist er so
lange dageblieben?“

„Da müssen Sie einen anderen fragen, Sir. Ich stürzte ihm nach, aber es
war zu spät. Er war, bevor ich nur mau sagen konnte, schon draußen und
in einem Auto, das in der Nähe des Hotels stand. In diesem Moment kamen
die Konstabler --“

Der eine der erwähnten Konstabler unterbrach ihn.

„Wir müssen ein Protokoll aufnehmen,“ sagte er.

„Ist das notwendig?“ murmelte der Portier. „Der Maharadscha -- Bedenken
Sie den Ruf des Hotels!“

„Wir halten einstweilen alles geheim, wenn Sie selbst nicht darüber
sprechen.“

Noch halb wirr im Kopf nach seinen Erlebnissen, mußte Allan den
Polizisten erzählen, was er wußte. Bei seinem Bericht über den
Feuerfresserklub schüttelten sie den Kopf.

„Sicher, daß Sie nüchtern waren, Sir? Nichts für ungut, aber --“

Allan wiederholte seine Schilderungen mit einer gewissen Heftigkeit.

„Und die Adresse des Lokals, Sir?“

Allan wich einen Schritt zurück. Er hatte weiß Gott bei seiner Flucht
aus dem betreffenden Lokal solche Eile gehabt, daß er ganz vergessen
hatte, sich den Namen der Straße anzusehen, in der es gelegen war.

„Denn Sie sagten doch,“ fuhr der Polizist gelassen fort, „daß dieser
indische Prinz, dem die Juwelen im Zimmer unten gehören oder gehörten,
noch da war, als Sie fortgingen?“

Allan nickte stumm. Gütiger Gott, was würden die Verbrecher mit dem
Maharadscha beginnen, wenn sie merkten, daß der andere Plan mißlungen
war -- falls er nun mißlungen war.

„Der Maharadscha war noch dort, als es mir gelang, mich aus dem
Staube zu machen,“ stammelte er schließlich. „Mein Gott, wenn ich den
Einbruchsversuch nur verhütet hätte, um ...“

„Ob Sie den Einbruch verhütet haben, werden wir wohl kaum heute nacht
erfahren. Oder wollen Sie es auf Ihre Kappe nehmen, Portier, uns in die
Wohnung des Maharadscha zu bringen?“

Der Portier schüttelte energisch den Kopf. Nach einigen weiteren
Fragen steckte der Konstabler sein Notizbuch in die Tasche.

„Lassen Sie das Zimmer unberührt stehen. Die Detektivs kommen morgen
in aller Frühe, wenn nicht noch früher,“ sagte er und nahm mit seinem
Kollegen Abschied.

Allan wankte die Treppen in sein Zimmer hinauf, nachdem er den Portier
gebeten hatte, Mr. Bowlby mit einigen vorsichtigen Worten von dem
Vorgefallenen zu verständigen. Er war todmüde nach all dem Champagner,
der Spannung und dem Ringkampf mit Mirzl -- wenn es nun Mirzl gewesen
war.

Hatte er in diesem Punkte noch irgendwelche Zweifel gehegt, so sollten
sie jedoch behoben werden, als er glücklich in der ägyptischen
Grabkammer Nr. 417 angelangt war. Das Zimmer lag, als er die Tür
öffnete, in voller Beleuchtung da; und das erste, was er sah,
war sein einer Reisekoffer, in dem er außer auf Eisenbahnfahrten
unpraktischerweise sein Geld unter Schloß und Riegel zu verwahren
pflegte -- er hatte noch nicht die kluge Gewohnheit angenommen, es
im Bureau des Hotels, wo er wohnte, zu deponieren. Der Deckel, der
durch zwei gute Hängeschlösser geschützt wurde, stand offen, und der
Inhalt des Koffers -- allerlei Kleinigkeiten, darunter eine Kassette,
die seine Reisekasse enthielt -- lag in völliger Wirrnis da. Von
einer düsteren Ahnung ergriffen, stürzte er auf den Koffer zu und
riß die betreffende Kassette heraus -- ein kleines Silberkunstwerk,
das er einmal in Dänemark gekauft hatte. Sie hatte noch am Morgen
elftausendsechshundert Kronen in schwedischem Geld enthalten. Davon
waren jetzt nur fünftausendsechshundert da ...

Es dauerte etliche Minuten, bis er seine Sinne genügend in Ordnung
hatte, um auch den Rest des Zimmers zu sehen; und das erste, was er da
erblickte, war ein Brief, der an das elektrische Lämpchen auf seinem
Nachtkästchen gelehnt war. Er riß ihn mit einem wütenden Knurren auf:

  „Lieber Herr Kragh!

  Vielleicht finden Sie mein Vorgehen heute abend unlogisch und
  ungentlemanlike. Unlogisch, weil ich Ihnen früher, nach dem Dienst,
  den Sie mir in Deutschland erwiesen haben, Wohlwollen bezeigte;
  ungentlemanlike, weil ich Ihnen sechstausend schwedische Kronen
  raube. Es war, nebenbei gesagt, der reine Zufall, daß ich sie
  gefunden habe; es war nämlich nur meine Absicht, Ihnen hier oben in
  Frieden und Ruhe einige Zeilen zu schreiben. Aber lassen Sie mich
  Ihnen eines sagen: Sie haben heute abend meine Pläne durchkreuzt,
  und man durchkreuzt meine Pläne nicht ungestraft. Ihre Strafe für
  das erstemal ist sechstausend Kronen Buße -- das halbe Vermögen
  im Koffer. Sollte das Vergehen sich wiederholen -- aber ich bin
  überzeugt, daß Sie jetzt klug genug sind, es nicht zu wiederholen.

                                In Eile
                                      Dr. Hauser,
                             (alias Ludwig Koch, alias Benjamin Mirzl).“



VII

Ein Verschwinden mit Nebenumständen


Es war Mr. Bowlby, der Allan am nächsten Morgen etwas nach halb neun
Uhr weckte. Allan schnellte aus dem Bett, schlaftrunken und ganz
überzeugt, daß es Herr Benjamin Mirzl war, der kam, um sich sein
übriges Geld zu holen.

„Sie, Mr. Bowlby!“

„Allerdings ich, junger Freund. Ich erhielt Ihre Botschaft durch den
Portier, als ich heute nach vier Uhr nach Hause kam. Entschuldigen Sie,
daß ich so in Ihr Schlafgemach eindringe -- _damn it_, es ist
eines der kleinsten, das ich je gesehen habe! -- aber Sie werden doch
meine Neugierde begreifen! Ein Loch in meinem Rauchzimmer, groß genug,
um einen Indianer drinnen zu fangen! Das Zimmer voll von Detektivs,
die mich verhört haben und Sie zu verhören gedenken, und eine tolle
Deliriumsgeschichte des Nachtportiers von +zwei+ Herren auf
Nr. 417. Ich hatte erwartet, Sie schon früher zu sehen, aber Helen
vertraute mir eben an, daß Sie nie vor dem Lunch aufstehen.“

„Miß Bowlby ist zu strenge in ihren Urteilen. Gestatten Sie, daß ich
Toilette mache, dann will ich versuchen, Ihnen das Ganze zu erzählen.
Aber Sie wissen doch, daß alles vorderhand geheim bleiben muß?“

„Die Detektivs faselten irgend etwas vom Maharadscha.“

„Ich fürchte, es ist kein Gefasel, Mr. Bowlby.“

Allan hüpfte aus dem Bett und begann ungeniert seine Waschungen vor den
Augen des Amerikaners, während er die Abenteuer der Nacht erzählte.
Die Beschreibung des Feuerfresser-Klubs entlockte Mr. Bowlby eine
Serie Pfiffe, eines durchgehenden Expreßzuges würdig. Als Allan zu dem
Bericht über seine Flucht kam und wie es Mirzl gelungen war, ihn und
den Portier zu überlisten, unterbrach er ihn mit dem Ausruf:

„Aber das muß ja ein Teufelskerl sein, dieser Mirzl? Eine solche
Kaltblütigkeit! Das ist doch das Frechste, was mir noch im Leben
untergekommen ist!“

„Warten Sie einen Augenblick mit Ihrem Lob!“ sagte Allan. „Was glauben
Sie, tat der Mann, als er mich in das Rauchzimmer eingesperrt und die
Kontakte abgedreht hatte?“

„Verduftete, natürlich.“

„Verduften! Da kennen Sie Mirzl schlecht. Er ging in mein Zimmer hinauf
und setzte sich nieder, um mir eine Warnung zu schreiben, mich nicht
mehr in seine Angelegenheiten einzumischen --“

„Da hört sich aber alles auf!“

„Und als er dabei zufällig fand, daß ich einen verriegelten Koffer
hatte, der nach wertvollem Inhalt aussah, öffnete er ihn. Bedenken Sie,
daß der Portier die ganze Zeit dastand und der Polizei telephonierte.
Im Koffer hatte ich meine Reisekasse, elftausend schwedische Kronen und
etwas darüber --“

„Sie sind aber höchst unvorsichtig! Und die nahm er?“

„Von diesen nahm er die Hälfte oder ein bißchen mehr, worauf er sich
niedersetzte und mir diesen Brief schrieb.“

Allan reichte Mr. Bowlby nicht ohne einen gewissen Stolz Herrn Mirzls
Brief.

Der Amerikaner las ihn langsam durch und gab eine neue Serie
betäubender Expreßsignale von sich.

„Sie haben doch natürlich der Polizei telephoniert?“

„Der Polizei! Warum nicht gleich einer Kleinkinderbewahranstalt und
habe sie um eine Amme gebeten? Ich ging zu Bett.“

In das Gesicht Mr. Bowlbys trat ein Ausdruck von ehrlichem Respekt.

„_Well!_ Ich muß sagen -- --!“

Er starrte Allan an, während dieser sich das Jackett anzog. Allan
öffnete ihm die Türe, und sie gingen die Stiege hinunter. Mr. Bowlby
wiederholte:

„Ich muß sagen! Und gedenken Sie die Sache jetzt nicht anzuzeigen?“

„Da die Detektivs schon hier sind, werde ich ihnen die Sache natürlich
anzeigen, aber es ist nur der Form wegen.“

„Mirzl scheint Ihnen Respekt eingeflößt zu haben!“

Allan nickte zustimmend. Im selben Augenblick erblickten sie
Mrs. Bowlby und Miß Helen, die in der Treppenhalle des zweiten
Stockwerks saßen. Mrs. Bowlby, die ein grellgrünes Kleid trug und
papageienähnlicher aussah denn je, begrüßte Allan mit einem kleinen
Schrei, der des erwähnten Vogelgeschlechtes durchaus nicht unwürdig war.

„Mister Cray! So! Also auf diese Art verbringen Sie die Nächte, wenn
ich außer Sehweite bin! Ein großes Loch im Boden, und die Detektivs
darum geschart wie Fliegen um eine offene Marmeladendose. Sie
wollten mich nicht einmal in die Nähe lassen. Sie glaubten wohl, ich
gedächte in das Schlafgemach des Untiers hinunterzuspringen. -- Na,
was haben Sie zu sagen? Setzen Sie sich und lassen Sie uns hören,
aber +alles+, verstehen Sie? Sie waren natürlich in irgendeinem
entsetzlichen Lokal? Haben also +Sie+ das Loch in den Boden
gemacht?“

„Wenn Sie zwischen halb eins und halb drei in Mr. Bowlbys Rauchzimmer
gekommen wären, hätten Sie es sicherlich geglaubt, Mrs. Bowlby.“

Allan begann zum zweiten Male seine Erzählung. Mrs. Bowlby beehrte
seine Beschreibung des Feuerfresser-Klubs nicht mit denselben
Expreßpfiffen wie ihr Mann, aber ihre Kommentare waren darum nicht
weniger ausdrucksvoll. Als Allan zum Schlusse von Herrn Mirzls
Leistungen gekommen war, ergriff sie das Wort:

„Ja, dieser Herr ist natürlich ein Schurke. Aber ich sage Ihnen eines,
ich würde tausendmal lieber das Untier hoppnehmen sehen als ihn.“

„Ich für mein Teil sechstausendmal lieber Herrn Mirzl,“ meinte Allan.

„Denken Sie nur, den +ersten+ Abend, den er in London
verbringt, in +solche+ Lokale zu gehen,“ setzte die alte Dame
ihren Anklageakt fort. „Natürlich war er in Damengesellschaft --
versuchen Sie das nicht zu leugnen, ich glaube Ihnen ja doch nicht.
Natürlich, obwohl er daheim bei sich das Haus voll und +mehr+
als voll hat. Und natürlich ist es furchtbar unrecht von Ihnen, in
ein solches Lokal zu gehen, aber ein verheirateter Mann, ein Mann,
der +hundertfünfzigfach+ verheiratet ist -- -- Und dieser alte,
graubärtige Wüstling -- --“

Allan wagte sie zu unterbrechen.

„Sind sie noch nicht nach Hause gekommen, Mrs. Bowlby?“

„Die! Die werden sich nicht beeilen, nach Hause zu kommen, da seien Sie
ganz beruhigt! Ich kenne die Männer.“

Mr. Bowlby hatte gedankenvoll dem Reglement des Hotels getrotzt und
während Allans Erzählung eine Zigarre geraucht. Jetzt nahm er sie
plötzlich aus dem Mund und hinderte Allan, seine Befürchtungen über das
Schicksal des Maharadschas auszusprechen, nun der Einbruch mißlungen
war.

„Da sind zwei Dinge,“ sagte er, „die ich nicht begreife, wie
durchtrieben auch dieser Gauner und seine Bande sein mögen. Sie haben
Sie natürlich von dem Augenblicke an, in dem Sie das Hotel verließen,
beobachtet. Aber wie konnten sie Sie gerade in das Haus lotsen, wo sie
den Maharadscha hatten?“

„Hm, Mr. Bowlby, das ist ja nicht so merkwürdig. Zufälligerweise
marschierte ich ja in Gesellschaft des Helfershelfers in jenes Café,
und wurde von ihm angesprochen. Das war ein Zufall. Aber in einem
anderen Lokal wäre das Resultat dasselbe gewesen. Im Notfall wären sie
wohl auch nicht vor Gewalt zurückgeschreckt.“

„_Well_, soviel kann ich zugeben, aber da ist noch eine Sache.
Sie haben natürlich im Hause und außer dem Hause nach dem Maharadscha
Ausschau gehalten. Aber +Sie+ sind ja in keinerlei Verbindung mit
dem Maharadscha oder jemand aus seiner Gesellschaft gestanden, und Ihr
eigenes Zimmer liegt im vierten Stock. Gestern abend forderte ich Sie
allerdings auf, bei mir einen Whisky zu trinken ... Aber wie zum Teufel
konnten die Kerls das wissen und sich darnach richten? Das frage ich.
Wir saßen doch, soweit ich sah, allein an dem Tisch.“

„Und woher konnten sie wissen, daß wir die halbe Nacht wegbleiben
würden, Papa?“

„Das ist keine Kunst, liebe Helen, wenn sie Spione im Hotel haben.
Aber als ich diesen jungen Mann zu mir einlud, war, soviel ich mich
erinnere, keine Seele in der Nähe, und ich habe ein gutes Gedächtnis.“

„Sie brauchten es ja nicht zu wissen, Papa. Sie hätten das Attentat auf
die Juwelen auf jeden Fall unternehmen können. Sie haben gesehen, daß
Mr. Cray und wir verkehren, sie haben ihn den ganzen Abend beobachtet,
wie er selbst sagt und ihn aus dem Wege geschafft, und dann hat sich
dieser Mirzl als Mr. Cray verkleidet --“

Miß Bowlby kam in ihrer Erklärung nicht weiter. Allan war von seinem
Stuhl aufgesprungen und hatte Mrs. Bowlby beim Handgelenk gepackt. Die
alte Dame schnellte, den Kopf im streitbaren Papageienwinkel schräg
gelegt, in die Höhe:

„Was fällt Ihnen ein, Sir? Glauben Sie, Sie sind noch in diesem Lokal?“

„Mrs. Bowlby! Sie haben bestimmt mit dem, was Sie über Ihre Landsmännin
sagten, recht gehabt! Jetzt verstehe ich, oder glaube wenigstens zu
verstehen! Aha! Sie gehörten also doch zusammen!“

„Meine Landsmännin? Wer?! Was verstehen Sie?“

„Mrs. Langtrey! Jetzt erinnere ich mich. Gerade als Sie gestern vom
Speisen aufstanden, sah ich zufällig nach rechts, und da, tief im
Schatten der Palmblätter, saß Mrs. Langtrey. Sie wissen, Sie machten
einige ... hm, offenherzige Bemerkungen, bevor Sie gingen, wie groß die
Aussichten dieser Dame wären, auf den Gesandtschaftsball zu kommen.
Als ich sie erblickte, sah sie aus wie eine Tigerin. Seien Sie sicher,
sie hat sowohl das gehört, was Sie über sie sagten, wie das, was Mr.
Bowlby zu mir sagte, ich möge heraufkommen und einen Whisky trinken.
Ihr Mann versprach mir ja sogar, den Bedienten von meinem Kommen zu
verständigen. Und sie hat eben -- -- Sie wissen doch, daß ich sie und
Mirzl zusammen auf dem Hamburger Bahnhof sah, wenn ich auch damals
nicht glaubte, daß sie sich kannten -- --“

Allan hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als Mrs. Bowlby aus ihrem
Sessel aufflog wie der Habicht aus seinem Horst und mit raschen
Flügelschlägen die Stiege hinuntersauste. Ihre Augen strahlten vor
Triumph. Mr. Bowlby zuckte philosophisch die Achseln und steckte
eine neue Zigarre an. Allan, der über die Kampfesmiene der alten
Dame lächeln mußte, wollte eben seine Erklärungen ergänzen, als ein
Hotelangestellter auf ihn zukam.

„Der Detektivinspektor ist in Mr. Bowlbys Rauchzimmer und möchte Ihre
Aussage hören, Sir.“

Allan folgte ihm in den Raum, der am vorhergehenden Tage Zeuge von
Herrn Mirzls Niederlage gewesen -- und seiner eigenen. Er war nicht
ganz so mit Detektivs angefüllt, wie Mrs. Bowlbys Worte ihm Anlaß
gegeben hatten zu vermuten. Aber er beherbergte auf jeden Fall doch die
respektable Anzahl von vier Kollegen Sherlock Holmes’. Der unter ihnen,
der dem Aussehen nach seinem berühmten mageren Kollegen am ähnlichsten
sah, war offenbar auch der Inspektor; denn bei Allans Eintreten bat er
ihn, Platz zu nehmen und begann dann ihn zu verhören. Er saß an einem
kleinen Tischchen, das mit Dokumenten und mystischen Dingen in Kuverts
und Schachteln bedeckt war.

Allan appellierte an seine Sherlock Holmes-Erinnerungen und zog den
Schlußsatz, daß die Kuverts und Schachteln die „Spuren“ enthielten, die
man gefunden hatte. Der magere Mann blätterte ein paar Seiten in seinem
Notizbuch um und brachte die Füllfeder in Ordnung.

„Sie sind Mr. Allan K--r--a--g--h?“

Er buchstabierte den Zunamen, offenbar gänzlich abgeneigt, sich in
irgendwelche phonetische Fallen zu verstricken.

„Ja. Aus Schweden.“

„Aus Schweden. Ja. Sie wohnen auf Nr. 417?“

„Ja.“

„Sie waren derjenige, der gegen halb drei Uhr nachts nach Hause kam
und in Gesellschaft des Nachtportiers einen Versuch machte, die
Einbruchsdiebe zu überraschen?“

„Ich war es.“

„Erzählen Sie, wie es kommt, daß Sie überhaupt eine Ahnung hatten, daß
ein Einbruchsdieb hier war.“

Allan begann zum dritten Male an diesem Morgen seine Erzählung in
derselben Form wie früher, er beschrieb seinen Besuch im ‚Loch in der
Wand‘, den Fremden, der ihn dort angesprochen, den Lift, der sie in den
Feuerfresser-Klub geführt, das Erscheinen des Maharadschas in ihrer
Loge, und wie ihm plötzlich der Verdacht aufgestiegen war, der ihn
dann dazu gebracht hatte, aus dem Klub zu flüchten. Offenbar hatte der
Detektivkommissar die Erzählung schon durch die Polizisten gehört, die
in der Nacht dagewesen waren; denn er verglich sie mit einem Papier,
das er bei sich hatte. Hier und da machte er eine Notiz. Er ließ Allan
zu Ende sprechen, bevor er sein Verhör begann.

„Wollen Sie den Mann, der Sie im ‚Loch in der Wand‘ ansprach, so genau
Sie können, beschreiben.“

„Er war ziemlich untersetzt, hatte ein viereckiges Gesicht, glänzende
schwarze Haare und eine blauviolette Schattierung am Kinn und an den
Wangen. Ich fürchte, nicht viel, wonach man sich richten kann. Er war
in Abendkleidung. Er behauptete ein Deutscher zu sein; auf jeden Fall
sprach er fließend Deutsch.“

„Sie sprechen selbst Deutsch?“

„Ja.“

„Und der Mann, der in Gesellschaft des Maharadscha war?“

„Das war ein Engländer, wenigstens sagten es die anderen; sie nannten
ihn Stanton. Er war blond, scharfäugig und überaus korrekt seinem
ganzen Aussehen nach -- eine ungewöhnlich typische Rasseerscheinung,
wenn ich so sagen darf.“

Der Detektivinspektor blätterte einen Augenblick in seinen Papieren.

„Sie hatten gestern abend die Adresse des mystischen Hauses vergessen.
Sie ist Ihnen nicht etwa heute nacht eingefallen?“

„Nein, ich hatte, als ich fortlief, zu große Eile, um daran zu denken,
aber wenn Sie wissen, daß die kleine Schenke das ‚Loch in der Wand‘
heißt --“

„Es gibt hundert Bars mit diesem Namen und von diesem Aussehen in
London. Wo war sie denn ungefähr gelegen?“

„Etwa eine halbe Stunde weit von Leicester Square. Ich kenne mich
in London nicht aus, aber ich glaube, so lange brauchte ich im
gemächlichen Schlendern, um hinzukommen. -- Darf ich eines fragen, Herr
Inspektor?“

„Lassen Sie hören!“

„Der Maharadscha ist also nicht zurückgekommen?“

„Nein, wir haben seit halb vier Uhr nachts Nachforschungen angestellt,
aber sie mußten so diskret als möglich durchgeführt werden. Sowohl des
Maharadschas, wie auch des Hotels wegen. Was uns freut, ist, daß der
Einbruchsdiebstahl verhütet wurde.“

Allan flog auf:

„Darf ich fragen, woher Sie das wissen?“

Der Detektivinspektor lächelte zum erstenmal.

„Ich weiß es durch einen ... hm ... eigentümlichen Zufall ... Wie ist
es denn, haben Sie nicht auch für Ihre eigene Person eine Anzeige zu
machen?“

Allan zuckte heftig zusammen. Das schlug jeden Rekord. Von solchem
Detektivscharfsinn hatte er noch nie gelesen oder auch nur geträumt!
Hatte der magere Inspektor seinen Geldverlust an der Art gemerkt, wie
er sein Schuhband knüpfte, oder an irgendeinem Fleck auf dem linken
Rockärmel? Er starrte den Inspektor an, ohne etwas zu sagen. Dieser zog
lächelnd ein Papier aus dem Haufen vor sich und reichte es ihm.

„Bitte lesen Sie,“ sagte er. „Das ist mit der ersten Morgenpost
gekommen.“

Allan nahm das Papier, das ihm gereicht wurde, und durchflog die Zeilen
mit ihrer nur allzubekannten Schrift:

  „An die Scotland Yard!

  Herr Allan Kragh aus Schweden, wohnhaft Zimmer Nr. 417 Grand Hotel
  Hermitage, wurde heute nacht zwischen halb drei Uhr und drei Uhr in
  seinem Zimmer um eine Summe von sechstausend schwedischen Kronen (in
  Tausendkronenscheinen) bestohlen.

  Der Verüber des Diebstahls möchte darauf aufmerksam machen, daß
  dies die überaus milde Strafe ist, die Herrn Kragh aufzuerlegen
  für angemessen befunden wurde, wegen seines Eingreifens in die
  andere Affäre, die sich in derselben Nacht im Grand Hotel Hermitage
  abspielte.

  Für den Fall, daß Herr Kragh die Sache noch nicht angezeigt haben
  sollte, gestatte ich mir hiermit Sie davon zu benachrichtigen.
  Herr Kragh ist ein liebenswürdiger junger Mann, der Ihre eifrigen
  Bemühungen verdient.

  In Eile

                                                     Benjamin Mirzl.

  _P. S._ Die Zeit gestattet mir nicht ‚alias‘ hinzuzufügen.“

Der Detektivkommissar beobachtete lächelnd Allans Mienenspiel bei der
Lektüre dieser Epistel.

„Sie kennen Mirzl offenbar nicht, da Sie so überrascht sind,“ sagte er.

„Ich kenne ihn nicht? O doch, ein bißchen, wie schon aus dem Brief
hervorgeht. Und Sie? Kennen Sie ihn?“

„Ich kann antworten wie Sie, ein bißchen! Er hat uns vor drei Jahren
hier in London das Leben zur Hölle gemacht -- die zehn Einbrüche in
Regent Street, die Entführung des Ascotpokales, die Eskamotierung der
irländischen Kronjuwelen und ein Dutzend anderer Dinge, die man ihm
allerdings nicht direkt nachweisen kann, aber von denen wir schwören
möchten, daß er dahinter steckt. Ja, wir kennen Herrn Mirzl ein wenig.
Gottlob verließ er das Land nach den Ascotrennen und ging dazu über,
sich den Behörden seiner Heimat unangenehm zu machen. Jetzt hat er das
wohl satt bekommen und --“

„Und wäre wohl nie über die Grenze gekommen, wenn ich ihm nicht dazu
verholfen hätte!“

Allan konnte es nicht unterlassen, diesen kleinen Trumpf auszuspielen.
Die Detektivs hörten schweigend die Schilderung seines Abenteuers im
Expreßzug an. Als er zu Ende gesprochen, sagte der Inspektor:

„Ich will Ihnen einen guten Rat geben: sprechen Sie drüben nicht von
dieser Geschichte, ich bezweifle, daß Sie eine Medaille dafür kriegen
werden.“

„Und welchen Dank ich von Mirzl selbst habe, haben Sie gesehen. Darf
ich fragen: Da Sie nun wissen, daß Mirzl im Spiel gewesen ist, und
so gründliche Untersuchungen angestellt haben, haben Sie doch wohl
Hoffnung, ihn wenigstens diesmal zu fangen?“

„Offiziell, offiziell,“ nickte der Detektivinspektor, „haben wir
überaus günstige Hoffnungen. Aber was uns für den Augenblick beinahe
noch mehr am Herzen liegt, als Herrn Mirzls habhaft zu werden, ist, Se.
Königliche Hoheit Yussuf Khan zu finden.“

Der Detektivinspektor verstummte und schlug mit gerunzelter Stirn
sein Notizbuch ein Mal ums andere auf den Tisch. Allan fing einen
gemurmelten Fluch auf, der sich den Weg aus seines Herzens Tiefen
bahnte. Im selben Augenblicke wurde die Türe aufgerissen, und ein
grimmiger alter Herr mit weißem Schnurrbart kam hereingestürzt. Allan
erkannte in ihm den europäischen Mentor des Maharadscha, Oberst Morrel.

„Na!“ rief er. „Neuigkeiten? Spuren?“

Der Detektivinspektor schüttelte den Kopf.

„Wir hoffen, im Laufe des Tages ...“ begann er.

„Im Laufe des Tages, im Laufe der Woche, warum nicht gleich im Laufe
des Jahres!“ brüllte der alte Oberst und stampfte auf den Boden, daß
alles dröhnte. „Sie müssen, hören Sie, Sie müssen meinen schwarzen
Ado -- Seine Hoheit vor heute abend finden. Wir sind zum Empfang beim
Minister für Indien gebeten, diesem Ziviltrott -- hm, -- für fünf Uhr.
Tee, und der Himmel weiß was! Sie +müssen+ ihn bis dahin hier
haben, hören Sie, sonst schlage ich alles kurz und klein --“

„Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, Herr Oberst, ich würde eine Absage
schicken. Unbedingt. Wenn wir noch irgendeinen Zweifel gehegt haben,
daß Benjamin Mirzl im Spiel ist, so ist er nach der Aussage dieses
jungen Herrn zerstreut; und Mirzl, der die irländischen Kronjuwelen
gestohlen hat, hat wohl auch nichts dagegen, einen regierenden Fürsten
zu stehlen --“

„Dieser junge Herr! Wer, zum Geier, ist dieser junge Herr?“ Der Oberst
starrte Allan an wie einen kleinen renitenten Trommelschläger.

„Mr. Allan K--r--a--g--h,“ buchstabierte der Kommissar aus seinen
Papieren, „aus Schweden.“

„Schweden, Norwegen, ist mir total schnuppe. Wer zum Henker ist Mr.
Allan K--r--a--g--h?“

„Der Herr, der seine Fürstliche Hoheit in dem mystischen Klub, von dem
Sie gehört haben, Herr Oberst, zuletzt gesehen hat!“

„Ah--h--h!“ Der Oberst brüllte auf, wie ein zuschanden geschossener
Tiger. „Sie waren es, Sir, der meinen schwarzen Ado -- Se. Hoheit durch
Gassen und Gäßchen in dieses verdammte Lokal hinaufgelockt hat, wo er
jetzt ausgeraubt und ermordet liegt. Sie waren es, versuchen Sie nicht
zu leugnen! Sie waren es!“

Allan, der aufgestanden war, hatte alle Mühe, ernst zu bleiben.
Der Oberst war burgunderrot vor Wut bei dem Gedanken an Allans
Schurkenstreich. Wahrlich, es lohnte sich, gute Werke zu tun und die
Kronjuwelen indischer Fürsten vor dem Gestohlenwerden zu retten! Es
schien eine ebenso dankbare Sache, wie den Personen, welche besagte
Juwelen zu stehlen wünschten, behilflich zu sein, sich ihrem allzu
anhänglichen Vaterland zu entziehen.

„Nicht ich habe Seine Hoheit dorthin gelockt --“

„Doch, Sie! Das sieht man Ihnen an. Ich pfeife auf alles, was Sie da
zusammenreden!“

„Ich nicht,“ sagte Allan, der schon befürchtete, daß den Oberst bei
seinem hartnäckigen Leugnen der Schlag treffen könnte. „Es war ein
Mithelfer von Mirzl, von dem Sie den Herrn Inspektor sprechen gehört
haben. Ich wurde selbst in den Klub hinaufgelockt --“

„Haha! Hahaha! Hinaufgelockt! Arretieren Sie ihn doch, Inspektor! Er
war es, zu allen Teufeln, das müssen Sie doch sehen und hören.“

„Ich wurde selbst von einem anderen Genossen Mirzls in den Klub
hinaufgelockt. Wir wurden freigebig mit Wein bewirtet, ich und der
Maharadscha und der alte Hofdichter, die nach einer Weile in die Loge
kamen, in der ich saß. Darf ich fragen, Herr Oberst, kennen Sie jemand,
der Stanton heißt?“

„Stanton? Stilton? Wer zum Teufel ist dieser Stanton?“

„Das war der Mann, der Se. Hoheit dort hinaufgelockt hatte.“

„Haha! Natürlich! Inspektor --“

„Nach einiger Zeit gelang es mir durchzubrennen, und ich kam
glücklicherweise noch zur rechten Zeit, um den Einbruch hier zu
verhindern, der von Mirzl selbst in höchsteigener Person ausgeführt
wurde. Er hatte sich so kostümiert, daß er mir ähnlich sah --“

„Gütiger Gott im Himmel, Inspektor, hören Sie, oder sind Sie taub?
Können Sie noch mehr Lügen dieses Menschen hinunterschlucken ohne
daß Sie daran ersticken? Kostümiert wie +er+. Da will ich doch
gleich tot niederfallen, wenn ich je etwas Aehnliches gehört habe! Er
+war+ es, natürlich, er +war+ es, wie ich Ihnen jetzt schon
seit einer Stunde in die Ohren schreie!“

„Lieber Oberst, darf ich Sie eines fragen: Kann man zugleich hinter und
vor einer Türe sein?“

„Natürlich, wenn man will!“

„Das ist nämlich die einzige Möglichkeit dafür, daß der Portier diesen
jungen Herrn einerseits durchs Eingangstor entfliehen sah und ihn
andrerseits, als er mit den Konstablern heraufkam, übel zugerichtet
hier im Zimmer fand.“

„Dann ist er einfach durch das Loch im Boden wieder heraufgeklettert.“

„Und ist also an den Wächtern vorbei in das Schlafgemach des
Maharadscha gekommen und ohne Leiter durch das Loch im Boden hier
herauf, um den Polizisten in die Arme zu laufen?“

Der Oberst verstummte endlich. Die Möglichkeiten, die der Inspektor
dafür dargelegt hatte, daß Allan der Verbrecher war, schienen sogar
seiner bereitwilligen Phantasie etwas zu vage. Er sank auf einen Stuhl
und wischte sich mit dem Taschentuch die Stirne.

„Aber gütiger Gott im Himmel,“ stöhnte er, „der Minister erwartet uns
um fünf Uhr mit Tee und der Himmel weiß was noch! Und mein Ruf! Und die
Regierung in Indien!“

„Sie sollten diesem jungen Mann dankbar sein,“ fuhr der Kommissar
sanft, aber unerbittlich fort, „daß er doch wenigstens verhindert hat,
daß die Juwelen gestohlen wurden. Es hing an einem Haar. Dankbar, ganz
gewiß.“

Der Oberst heftete ein blutunterlaufenes Auge auf Allan, das gerade
keine lebhaftere Potenz von Dankbarkeit ausdrückte. Er murmelte etwas
Unhörbares, sprang auf und stürzte zur Türe hinaus.

Allan sah den Kommissar an, der sein Lächeln erwiderte. Im selben
Augenblicke wurde die Türe aufgerissen, und Mrs. Bowlby sauste herein
wie eine grüne Bombe. Sie erblickte Allan und pflanzte sich vor ihm auf.

„Haben Sie ihnen von Langtreys Frau erzählt?“ rief sie, sich bald zu
Allan, bald zum Kommissar umwendend. „Ja?“

„Langtreys Frau?“ fragte der Kommissar. „Wer ist denn das?“

„Eine gräßliche Person,“ rief Mrs. Bowlby triumphierend. „Gräßlich. Sie
steckt hinter der ganzen Geschichte, Sie werden schon sehen.“

„Darf ich einen von Ihnen bitten, zu erzählen, aber so klar als
möglich,“ sagte der Kommissar und ergriff die Feder.

„Darf ich, Mrs. Bowlby?“ sagte Allan.

Mrs. Bowlby nickte, indem sie sich triumphstrahlend bereit hielt, alle
erforderlichen Randbemerkungen beizusteuern. Allan begann:

„Unmittelbar vor dem Verhör ist mir eine Sache eingefallen, die mir
zu denken gegeben hat, Herr Inspektor. Offenbar hat Mirzl und seine
Bande über alles, was im Grand Hotel Hermitage vorging, durch Spione
genaue Kontrolle ausgeübt. Es können ja Bediente, Kammerjungfern,
Kellner, Laufburschen gewesen sein, von denen es hier wimmelt. Durch
sie wußten sie Bescheid über die Lokalitäten, und auch, daß ich mich
mit der Familie Bowlby, die die Zimmerflucht über Seiner Hoheit hat,
angefreundet habe. Sie haben erfahren, daß Mr. Bowlby mit Familie
gestern bis spät nachts ausbleiben würde. Diese Sache war schon Freitag
bestimmt, und sie haben sofort ihren Coup geplant. Daß er unter
normalen Verhältnissen diese Form angenommen haben würde, nämlich
daß Mirzl sich gerade in meine Gestalt gehüllt hätte, ist wohl nicht
ausgemacht, wenn auch immerhin möglich. Aber nun kam hinzu, daß Mr.
Bowlby mich gestern, bevor er vom Mittagstisch aufstand, freundlich
aufforderte, ungeniert in sein Rauchzimmer hinaufzukommen, wenn ich
Lust hätte, einen Whisky mit Soda zu trinken. Dies war gegen acht Uhr,
und Mr. Bowlby versprach sogar, seinen Diener zu verständigen, daß ich
vielleicht kommen würde. Frappiert Sie dieses Detail? Wir waren damals
allein bei Tisch; es war niemand vom Personal in der Nähe. Sollte
Mirzl das im letzten Moment erfahren haben, hat es ihn natürlich in
seiner Wahl der Verkleidung bestimmt. Aber wie konnte er es erfahren
haben? Wie ich Ihnen schon sagte, war niemand von der Dienerschaft in
der Nähe. Aber kurz nachdem Mr. Bowlby mit seiner Familie gegangen
war, warf ich zufällig einen Blick nach rechts, von unserem Tisch
aus gerechnet; und da, tief im Schatten der Palmen, die diesen Teil
des Speisesaales dekorieren, und so gut wie von ihnen verborgen, saß
eine Dame, von der Mrs. Bowlby behauptet, daß sie von zweifelhaftem
Charakter ist, eine Amerikanerin aus guter Familie, die vor mehreren
Jahren aus Amerika durchgegangen ist und sich vermutlich hier in Europa
mit einem Abenteurer zusammengetan hat. Ihr Name ist Mrs. Langtrey ...“

„Und heute,“ ertönte Mrs. Bowlbys schrille Stimme wie ein Trompetenton,
„heute um halb acht Uhr morgens ist Mrs. Langtrey aus dem Hotel
verschwunden, nachdem sie ein Lokal-Expreßtelegramm bekommen hat!“



VIII

Mynheer van Schleetens Erlebnisse


Mynheer van Schleetens Leben hatte seine Wechselfälle gehabt; das
Angenehme daran für Mynheer van Schleeten war, daß sie sich in einer
stets aufsteigenden Kurve bewegt hatten. Aus einem Unbekannten war
er eine europäische Berühmtheit geworden; aus einem armen Schlucker
ein reicher Mann, aus einem reichen ein noch reicherer. In dem
Jahre, in dem Yussuf Khan von Nasirabad seinen ersten Besuch in dem
Weltteil machte, war Herr van Schleeten in demselben der berühmteste
Juwelenspezialist. Wie Mr. Bowlby schon Allan Kragh mitgeteilt hatte,
hatte er das Diadem angefertigt, das die französische Republik bei
einem denkwürdigen Anlaß der Kaiserin von Rußland sandte, und noch ein
Dutzend ähnlicher Dinge. Sein Hauptgeschäft war in Amsterdam, aber sein
Beruf brachte es mit sich, daß er sich fast ebensoviel in Berlin, Paris
und London aufhielt wie in seiner Heimatstadt. In allen diesen Städten
hatte er Filialen oder Korrespondenten.

Ende August des obenerwähnten Jahres hatte er in Berlin (wo er sich im
Auftrage eines später geadelten Finanzmannes befand, dessen Name mit
B. anfängt) einen Brief von seinem Korrespondenten in London erhalten,
daß ein gewisser Oberst Morrel seine Dienste für seinen Schützling,
den Maharadscha von Nasirabad wünsche. Mynheer van Schleeten, der noch
nie mit orientalischen Fürsten zu tun gehabt, aber um so mehr von ihren
Juwelen gehört hatte, hatte sich beeilt, das Anerbieten anzunehmen,
namentlich da es von einem sehr schmeichelhaften Honorarvorschlag
begleitet war. Er teilte seine Freude den Zeitungen mit, die sich in
mehreren Notizen mit ihm freuten. Es handelte sich um neue Fassungen
und Aenderungen der Edelsteine des Maharadscha. Der junge Fürst war
etwas exzentrisch, und war der Dinge, die seit tausend Jahren dasselbe
Aussehen hatten, müde geworden.

Anfangs September reiste Mynheer van Schleeten nach Hamburg, wo er ein
kleineres Geschäft hatte; und am selben Tage, an dem Herr Allan Kragh
aus Schweden in dieser Stadt ankam, verließ Herr van Schleeten sie mit
dem Morgenexpreß nach Paris, wohin ihn eine kleine Angelegenheit rief,
die ihm gestattete, ganz bequem zur festgesetzten Zeit in London zu
sein.

Mynheer van Schleetens Erlebnisse begannen im Expreß.

Er war als Holländer ein phlegmatischer Herr; die Erfolge, die er in
seinem fast sechzigjährigen Leben gehabt, hatten dazu beigetragen,
dieses holländische Phlegma noch zu erhöhen. Er ereiferte sich selten;
er hatte nur zwei Passionen, denen er sich in passender, phlegmatischer
Weise hingab. Die eine, die mit den Jahren gekommen war, galt altem
molligem Bordeaux; die andere, die mit den Jahren etwas abgenommen
hatte, jungen molligen Frauen. Mynheer van Schleetens Jugend war von
verschiedenen lustigen Soupers in Damengesellschaft belebt gewesen;
sein phlegmatisches Temperament hatte ihn jedoch abgehalten, so oft zu
soupieren, daß es ihm die Fähigkeit oder die Freude am Dinieren geraubt
hätte. In späteren Jahren hatte Herr van Schleeten viel häufiger
diniert als soupiert. Das ging auch aus seinem Aussehen hervor; seine
Nase war groß, gebogen, und hatte allmählich die Farbe des guten
französischen Weines angenommen, in dem er sie am liebsten spiegelte.
Sein gelbgrauer Schnurrbart war bei diesen Libationen gewachsen wie
ein Baum, am Bachesrand gepflanzt; und wenn Herr van Schleeten jetzt
trank, hing er auf das Bordeauxglas herab wie ein Grasbüschel über ein
Bächlein.

Diese Bemerkungen werden vorausgeschickt, um Herrn van Schleetens
Abenteuer im Expreß Hamburg-Köln und später zu erklären.

Sogleich, nachdem Herr van Schleeten seinen Platz in einem Coupé erster
Klasse eingenommen hatte, -- seiner Gewohnheit gemäß den Fensterplatz
in der Fahrtrichtung -- kam eine Dame ins Coupé. Sie betrachtete einen
Augenblick Herrn van Schleeten, der sie seinerseits betrachtete. Er
konstatierte, daß sie jung, ziemlich mollig war und sehr hübsch aussah,
wenn auch ein bißchen hochmütig, und daß er folglich in der Zeit seines
Leichtsinnes nichts dagegen gehabt hätte, mit ihr zu soupieren. Welche
Resultate ihre Prüfung seiner Person ergaben, ist unbekannt; jedoch
waren sie offenbar befriedigend, denn sie placierte ihre Reiseeffekten
in das Netz und sich selbst auf dem Sitz gegenüber Herrn van
Schleeten. Dann setzte sich der Zug in Bewegung, und Herr van Schleeten
versenkte sich, um seine phlegmatische Natur zu dokumentieren, in das
Studium der Morgenzeitungen.

Es dauerte bis Bremen, bevor sich etwas ereignete.

Kaum war der Zug in dieser Station stehen geblieben, als Herr van
Schleeten Schritte im Korridor hörte und sah, wie die Türe seines
Coupéabteils von einem jungen Manne geöffnet wurde, der auf der Suche
nach einem Platz zu sein schien. Herr van Schleeten konstatierte, daß
der junge Mann ein ganz sympathisches Aussehen hatte; aber da er es
höchst ungerne sah, wenn das Coupé, in dem er reiste, mehrere Personen
beherbergte, betrachtete er den jungen Mann mit einer bestimmten,
barschen, abweisenden Miene, die ausdrücken sollte: Gehen Sie in
das nächste Coupé, junger Freund. Ohne sich im geringsten daran zu
kehren, ließ sich der junge Mann ungeniert auf Herrn van Schleetens
Sofa nieder, ihm dadurch alle Chancen raubend, sich nach dem Lunch
auszustrecken und ein kleines Schläfchen zu machen. Herr van Schleeten
repetierte seinen barsch abweisenden Blick und legte noch eine Portion
wohlerzogenen Staunens über ein solches Betragen hinein. Leider merkte
er, daß dieser Blick an den jungen Mann (der übrigens gar kein Gepäck
hatte) verschwendet war; dieser war ganz und gar damit beschäftigt,
Herrn van Schleetens schönes Visavis mit den Augen zu verschlingen; sie
ihrerseits schien eingeschlummert zu sein. Herr van Schleeten gab sich
selbst seine Ansichten über die jungen Leute von heute kund, und nahm
nach einer Weile sein Studium der Morgenblätter wieder auf.

Die nächste Episode ereignete sich, als der Zug etwa eine halbe Stunde
weitergesaust war. Die Coupétüre wurde plötzlich wieder geöffnet,
diesmal zu Herrn van Schleetens Befriedigung vom Kondukteur, der die
Fahrkarten zu sehen wünschte. Der junge Mann wies die seine vor, die
zu Herrn van Schleetens Enttäuschung in Ordnung zu sein schien. Der
Schaffner wendete sich nun an Herrn van Schleeten, betrachtete seine
Fahrkarte und hustete dann zweimal ein „Gnädige“, um die Aufmerksamkeit
der jungen Dame zu erregen, die Herrn van Schleeten gegenüber saß. Dies
erwies sich jedoch als vergeblich. Sie schlief noch immer. Der junge
Mann schien einen Augenblick nachzudenken, dann beugte er sich vor und
tätschelte Herrn van Schleetens Visavis sanft das Knie.

Die Wirkung war eine momentane. Die junge Dame schnellte von ihrem
Platze auf, warf ihm einen furchtbaren, empörten Blick zu, starrte um
sich, reichte dem Schaffner die Karte und brach dabei in eine Sturzflut
von englischen Worten aus: Wie konnte dieser junge Mann es wagen?
Was meinte er eigentlich? Konnte man nicht in Europa reisen (sie war
also Amerikanerin), ohne beleidigt zu werden? Herr van Schleeten fand
ihren Zorn etwas übertrieben, in Gedanken an die Damen amerikanischer
Abstammung, die er sowohl am Knie wie auch anderswo getätschelt hatte;
aber als er bedachte, daß er durch eine feindselige Haltung den jungen
Mann möglicherweise von seinem (Herrn van Schleetens) Sofa vertreiben
konnte, hütete er sich wohl, sie zu unterbrechen. Plötzlich wendete sie
sich an ihn:

„Sir, haben Sie gesehen, ob dieser junge Mensch sich noch andere
Freiheiten gegen mich herausgenommen hat, während ich schlief?“

„Ich weiß nicht,“ sagte Herr van Schleeten diplomatisch, noch immer in
Gedanken an sein kleines Mittagschläfchen. „Ich habe Zeitungen gelesen.“

„Es ist gut!“

Sie setzte ihre Ausfälle gegen den jungen Mann fort, der zuerst ganz
verblüfft zugehört hatte und nun zu einer Entgegnung ansetzte. Sie
unterbrach ihn sofort.

„Wie können Sie es wagen, mich anzusprechen?“

Nun wurde es ihrem Widersacher zu toll. Er erhob sich zu Herrn van
Schleetens Entzücken von dem Sofa und verschwand in den Korridor.
Im selben Augenblick verspürte Herr van Schleeten eine leise Reue,
daß er dazu geholfen hatte, ihn in die Flucht zu jagen: es würde
wohl nicht sehr angenehm sein, allein mit solch einer empfindlichen,
streitsüchtigen, kleinen Xantippe zu reisen. Kaum war jedoch der
junge Mann zur Türe hinaus, als sie ihr Aussehen veränderte wie ein
Aprilhimmel und sich mit dem sonnigsten Lächeln der Welt Herrn van
Schleeten zuwendete:

„Ich war vielleicht ein bißchen heftig,“ sagte sie, „aber ich kann nun
einmal die Zudringlichkeit solcher junger Laffen nicht vertragen.“

Sie legte einen Akzent auf „solche junge Laffen“, der Herrn van
Schleeten angenehm berührte. Er konstatierte, daß sie weiße starke
Zähne hatte, und daß ihre Augen, wenn sie lächelte, ungewöhnlich
anziehend waren. Der Farbe nach waren sie grau; grau war mit den Jahren
Herrn van Schleetens Lieblingsfarbe geworden, nachdem er in allzuviel
blaue und schwarze Augen zu tief gesehen und dafür hatte büßen müssen.

„Madame,“ sagte er, „die Zudringlichkeit dieses jungen Mannes war
einfach unerhört.“

Bald waren sie in ein interessantes Gespräch vertieft, das nur dadurch
unterbrochen wurde, daß der Speisewagenkellner in ihr Coupé kam und
meldete, daß das Diner serviert sei. Obgleich Herr Van Schleeten jetzt
mit sich schon darüber einig war, daß er gar nichts dagegen hätte,
mit seinem Visavis zu soupieren, schob er den Gedanken daran doch bis
auf weiteres auf, und schlug ihr vor, mit ihm zu dinieren. Sie nickte
gnädig:

„Natürlich unter der Voraussetzung, daß ich selbst für mich bezahle.“

Herr van Schleeten verbeugte sich.

Nach dem Mittagessen, das bei gutem alten Bordeaux auf das angenehmste
verstrichen war, vergingen einige Stunden, bis Herr van Schleeten
wieder etwas von dem jungen Mann sah, der gedroht hatte, ihn seines
Mittagschläfchens zu berauben. Gegen die junge Dame, die ihm diesen
Genuß nun tatsächlich geraubt hatte, hegte er keinerlei Groll; sie
hatte ihm durch ihre höchst flirtoyante Konversation soviele andere
bereitet. Der Zug stand in Köln, als Herr van Schleeten und die junge
Amerikanerin, deren Name, wie er jetzt wußte, Mrs. Langtrey war,
durch aufgeregte Stimmen im Korridor mitten aus einem interessanten
Meinungsaustausch, ob gemeinschaftliche Schulen für Knaben und Mädchen
ratsam seien, gerissen wurden. Sie blickten hinaus und sahen den jungen
Mann, der sie beide zum Zorn gereizt hatte, in Gesellschaft eines
Polizeikonstablers und eines Zivilisten verschwinden, den Herr van
Schleeten sofort als Detektiv agnoszierte. Herr van Schleeten sah Mrs.
Langtrey an. Mrs. Langtrey sah ihn an und rief:

„Sehen Sie, was habe ich gesagt! Ich habe es förmlich im Gefühl, wenn
ich in der Nähe eines Verbrechers bin!“

Während Herr van Schleeten ihr seine Bewunderung für diese Clairvoyance
ausdrückte, mußte er sich selbst gestehen, daß seine Gefühle für sie
durchaus nicht telepathischer Natur waren.

Bei der Ankunft in Paris um halb elf Uhr abends machte es sich ganz
natürlich, daß sie im selben Hotel abstiegen. Herr van Schleeten wählte
ein ruhiges Familienhotel in der Nähe der Madeleinekirche, und sie
erklärte sich damit einverstanden. Wie sie sagte, war sie noch nie in
Paris gewesen. Sie war mit einem der Schiffe der Hamburg-Amerika-Linie
herübergekommen und reiste nur, um den Schmerz über den Verlust ihres
ersten Mannes zu betäuben, der gestorben war, und einem zudringlichen
Freier auszuweichen, der sich einbildete, daß sie ihn liebte.

Herr van Schleeten war gerne bereit, ihr schon am ersten Abend in Paris
behilflich zu sein, alle Schmerzen zu vergessen, aber er fand keine
Gelegenheit dazu. Nach einer Tasse Tee verschwand Mrs. Langtrey in ihr
Zimmer.

Zwei Tage später fuhren sie nach London, noch immer zusammen. Sie hatte
ein Telegramm bekommen, das sie zwang, am selben Morgen wie Herr van
Schleeten hinzufahren; sie würde im Grand Hotel Hermitage absteigen.
Bei der Ankunft in Charing Croß drückte sie Herrn van Schleeten so
ungeschminkt herzlich die Hand, wie es nur eine junge Amerikanerin
wagt, und bat ihn am nächsten Tage zum Diner im großen Hotel ihr Gast
zu sein.

Dieses Diner war entzückend; vor allem dekretierte sie mit
Prinzessinnenmiene, daß nur sie allein bezahlen dürfe. Herr van
Schleeten war der Gastgeber vieler junger Damen gewesen, doch nie der
Gast einer Dame. Es war ein eigentümlich prickelndes Gefühl, so etwa
wie ein neuer holländischer Likör. Er beeilte sich zu betonen, daß dies
nur unter der Voraussetzung denkbar sei, daß sie sobald als möglich mit
ihm im Savoy soupieren wollte. Sie akzeptierte, immer mit derselben
freimütigen Prinzessinnenmiene.

Beim Abschluß dieses Mittagessens entdeckten Herr van Schleeten und
seine Partnerin zu ihrem Staunen an einem Tisch im Speisesaal des
Hotels keinen Geringeren als den jungen Mann aus dem Eisenbahnzug.

„Sollten wir nicht eigentlich die Polizei verständigen, Mrs. Langtrey?“
sagte Herr van Schleeten.

Mrs. Langtrey schüttelte ihr schönes Haupt.

„Ich liebe meine Nächsten immer, wenn ich Champagner getrunken habe,“
sagte sie.

Herr van Schleeten beschloß, daß beim Souper im Savoy Champagner und
nicht Bordeaux serviert werden sollte.

Dies war Donnerstag, den 11. September. Herrn van Schleetens Geschäfte
zwangen ihn zu einer Spritztour nach Amsterdam, die auf die nächsten
drei Tage Beschlag legte. Als er Montag, den fünfzehnten, zu früher
Morgenstunde nach London zurückkehrte, erwartete ihn die Mitteilung,
daß Seine Hoheit, der Maharadscha von Nasirabad am selben Tage in
der Weltstadt eintreffen sollte, und, um sobald als möglich mit
präsentablen Juwelen auftreten zu können, sein sofortiges Erscheinen im
Grand Hotel Hermitage wünschte.

Herr van Schleeten empfand einen Augenblick Verwunderung, daß Seine
Hoheit und Mrs. Langtrey dasselbe Hotel gewählt hatten, aber vergaß
sie bald über der angenehmen Perspektive, sie im Hotel zu treffen und
das Datum für das kleine Souper festzusetzen, das er nun halb und halb
an einen bedeutend diskreteren Ort als das Savoy zu verlegen gedachte,
beispielsweise seine eigene überaus diskrete Privatwohnung. Er verfügte
sich ohne Aufschub in das Hotel.

Der Direktor empfing ihn selbst und führte ihn in die Suite des
Maharadscha im ersten Stock. Nach ein paar Minuten des Wartens wurde
Herr van Schleeten in die Privaträume des Maharadscha geleitet, und sah
sich einem bräunlichen, etwas korpulenten, jungen Manne mit dunklem
Schnurrbart gegenüber, offenbar Sr. Hoheit, einem graubärtigen alten
Hindu, dessen Identität ihm unbekannt blieb, und einem Engländer von
militärischem Typus mit weißem Schnurrbart. Der letztere ergriff das
Wort:

„Sie sind Mr. van Schleeten aus Amsterdam, Spezialist in Juwelen?“

„Ja.“

„Seine Hoheit wünscht Sie wegen Aenderungen einiger besonders
wertvoller Schmuckstücke zu konsultieren. Sie verstehen, besonders
wertvoll!“

„Wertvoll!“ unterbrach der junge Maharadscha, „Morrel Sahib, wie könnt
Ihr sie wertvoll nennen! Sie sind ebenso unwürdig der weißen Fürstinnen
wie ich selbst. Vielleicht können sie ihrer würdig werden durch die
Hilfe dieses Mannes, dessen Belohnung und Ehre in solchem Falle nicht
gering sein werden.“

„Kann ich die Schmucksachen sehen?“ sagte Herr van Schleeten, der
fand, daß dieser Meinungsaustausch den Juwelen kein gutes Prognostikon
stellte, und der an Mrs. Langtrey dachte.

Auf einen Ruf von Oberst Morrel öffneten sich die Türen zu
einem inneren Gemach, und zwei schwarze Diener von ernstem und
drohendem Aussehen kamen herein, eine eisen- und kupferbeschlagene
Mahagonikassette von ansehnlichen Proportionen schleppend. Die
schwarzen Diener verschwanden wieder, Herr van Schleeten wurde
aufgefordert, sich abzuwenden und hörte einiges Knirschen und Knacken.
Offenbar wurde diese Kassette durch ein verwickeltes Sesam geöffnet, in
das man ihn nicht einweihen wollte.

Nun, wenn die Steine nicht besser waren, als der Maharadscha meinte,
dann! Glaubten sie vielleicht, daß er das erstemal Juwelen sah? Nun
wurde er aufgefordert, sich umzudrehen. Er tat es und wäre fast
umgefallen.

Natürlich hatte er von den Juwelenkammern der orientalischen
Fürsten gehört und hatte selbst die Mehrzahl ihrer europäischen
Kollegen gesehen, aber das übertraf seine wildesten Phantasien.
Das war Tausendundeine Nacht. Das war der Todesstoß sogar für sein
holländisches Phlegma. Eine Flut von verschiedenfarbigen Steinen, von
denen ein jeder würdig war, ein Kronjuwel zu sein; ein Springbrunnen
von Licht; schwere blaue Trauben von Saphiren; Perlenschnüre, die sich
durch das Juwelengewühl ringelten wie matt blinkende graue Schlangen;
Smaragden, brennend wie Raubtieraugen; ein Blutgeriesel von Rubinen
über dem Ganzen, so, als wäre irgendein unredlicher Wächter über
der Truhe geköpft und gezwungen worden, sein Blut über ihren Inhalt
sprühen zu lassen -- und überall zwischen die anderen versprengt,
Diamanten und Diamanten, deren kaltes Feuer wie Wintersterne und
Nordlicht flammte. Diese ganze Eruption von farbenstrahlendem, aus sich
selbst geborenem Licht, die Herrn van Schleeten entgegengeschleudert
wurde, benahm ihm fast den Atem. Erst nach einiger Zeit sah er die
Einzelheiten, die seltenen Steine, deren Ton von dem normalen abwich;
schwarze Diamanten und Diamanten, deren blaue Farbe die Morgenbläue
um die Bergfirne des Himalaya war; Smaragden, deren grüner Glanz in
einen Opalton überging wie ein eben entflammter Abendhimmel, Rubine,
deren rotes Blut einen Stich ins Blaue hatte, wie um ihren uralten Adel
zu zeigen -- schließlich auch die Goldfassung um die Steine. Sie war
schwer, phantastisch, zuweilen grotesk, aber welcher Gedanke, sie zu
modernisieren! Herr van Schleeten schöpfte tief Atem und stammelte an
den Maharadscha gewendet:

„Und Hoheit wollen, daß ich das ändere?“

„Natürlich,“ sagte Yussuf Khan würdevoll. „Warum hätte ich Euch sonst
durch Oberst Morrel Sahib rufen lassen? Er hat mir gesagt, daß Ihr in
Europa der erste unter jenen seid, die edle Steine behandeln. Obwohl
die meinen von geringem Werte sind und Euch nicht fesseln können, bitte
ich Euch doch, sie der weißen Fürstinnen so würdig zu machen, als sie
werden können. Wisset, daß ich in Europa bin, um eine Sahibprinzessin
zu erringen. Und denkt daran, wenn Eure Hand an diesen Steinen
arbeitet. Euer Lohn und Eure Ehre werden groß sein.“

Herr van Schleeten, dessen Augen an der Kassette und ihrem Inhalt
hingen, wie die des Vogels am Reptil, wollte eben neue Einwände
erheben, als Oberst Morrel ihm zuvorkam.

„Die Sache ist durch den Willen Seiner Hoheit entschieden,“ sagte er
scharf. „Wollen Sie die Arbeit übernehmen oder müssen wir uns an einen
anderen wenden? Lassen Sie mich das gleich wissen.“

Herr van Schleeten stand noch einen Augenblick stumm da, bevor es ihm
gelang zu erwidern:

„Natürlich ... wenn es der Wille Seiner Hoheit ist ... Aber darf ich
fragen, in welcher Richtung Seine Hoheit wünscht, daß ...“

„Welche Richtung immer,“ unterbrach der Oberst. „Bestimmen Sie selbst.
Es ist ja Ihre Spezialität.“

Herr van Schleeten stand einen Augenblick stumm da und hörte den Oberst
in sich hineinmurmeln:

„Welche gottverdammte Richtung immer, kommt schon auf eins heraus.“

Herr van Schleeten begann zu verstehen, wie die Dinge standen, und fuhr
fort:

„Ist es gestattet, daß ich die Juwelen Seiner Hoheit in mein Atelier
hier in London bringe, oder --“

„Sie müssen hier arbeiten,“ sagte der Oberst. „Sie bekommen ein Zimmer
zu Ihrer Verfügung, und dorthin müssen Sie die Instrumente, die Sie
brauchen, schaffen lassen. Außerdem müssen Sie schon entschuldigen,
wenn vor dem Arbeitszimmer von der Leibgarde Sr. Hoheit Wache gehalten
wird. Es ist nicht Ihretwegen, sondern um einem Attentat von außen
vorzubeugen.“

„Ich verstehe,“ murmelte Herr van Schleeten, den Blick auf die Kassette
und ihren Inhalt geheftet. „Und wann soll ich anfangen?“

„Sobald als möglich, sobald als möglich!“ rief der Maharadscha eifrig.
„Am besten heute.“

„Heute, fürchte ich, muß ich mich damit begnügen, meine Instrumente
herzubringen,“ sagte Herr van Schleeten, „aber morgen.“

„Nun gut, morgen! Und Ihr versprecht, so rasch zu arbeiten, als Ihr
könnt, nicht wahr? Eure Ehre und Eure Belohnung werden nicht gering
sein, so wahr ich Yussuf Khan von Nasirabad bin, Sohn des Ibrahim Khan.“

„Ich werde mein Möglichstes tun, Hoheit,“ sagte Herr van Schleeten und
verabschiedete sich unter tiefen Verbeugungen. „Wenn es notwendig sein
sollte, werde ich Tag und Nacht arbeiten.“

Der Maharadscha klatschte vor Freude in die Hände, als er zur Türe
hinausschritt. Herr van Schleeten sah die schwarzen Diener auf einen
Ruf ihres Herrschers hereineilen.

Zu seiner Enttäuschung fand er, daß Mrs. Langtrey ausgegangen war, als
er sich beim Portier nach ihr erkundigte. Er schrieb einige Zeilen,
in denen er sie fragte, ob er sie nicht treffen könnte, bevor er am
nächsten Tage seine Arbeit in der Wohnung des Maharadscha begann, und
bat den Portier sie zu übergeben.

Dies war am 15. September. Dienstag, der 16., brachte für Herrn van
Schleeten ungeahnte Ueberraschungen.

Schon aus dem Gesicht des Portiers konnte er, als er sich gegen zehn
Uhr im Grand Hotel Hermitage einfand, sehen, daß nicht alles so war,
wie es sein sollte. Er war kaum zur Türe herein, als der Portier den
Direktor anklingelte und ihn bat, ins Kontor hinunterzukommen. Herr van
Schleeten beugte sich diskret zum Portier vor.

„Ich habe Ihnen gestern ein Briefchen gegeben,“ sagte er mit einem
bedeutungsvollen Blick und strich sich seinen gelbgrauen Schnurrbart.

Der Portier schien einen Augenblick nachzudenken.

„Ach ja!“ sagte er, „gewiß. An die Dame auf Nr. 320/21. Sie ist
abgereist, ohne eine Antwort zu hinterlassen.“

„+Sie ist abgereist!+“

In seiner Verblüffung und Enttäuschung sprach Herr van Schleeten in
gesperrten Lettern wie ein Schauspieler.

„Sie ist heute morgen abgereist,“ sagte der Portier, „so gegen halb
acht. Kurz zuvor ist ein Expreß-Telegramm gekommen.“

„Aus Amerika,“ murmelte Herr van Schleeten, plötzlich überzeugt, daß
der zudringliche Freier aufgetaucht war. Was würde nun aus dem Souper
werden?

„Nein, aus Paddington,“ sagte der Portier. „Ich habe es zufällig auf
dem Blankett gesehen. Hier kommt der Herr Direktor.“

Herr van Schleeten, der in diesem Augenblick den Direktor des großen
Hotels durch die Halle herankommen sah, war von dem Schlage, den der
Portier ihm ahnungslos versetzt hatte, so betäubt, daß er weder denken
noch sprechen konnte. Es dauerte darum eine Weile, bis er merkte, daß
der Direktor ebenso aufgeregt war wie er selbst.

Er blieb vor Herrn van Schleeten stehen und schien nach Worten zu
suchen. Endlich fiel es Herrn van Schleeten auf, wie eigentümlich es
doch war, daß man den Direktor überhaupt gerufen hatte. Er hatte ja gar
nichts mit ihm zu tun. Er wollte eben fragen, was denn los sei, als der
Direktor sich zu einem Entschluß aufzuraffen schien.

„Wollen Sie mit mir zum Herrn Oberst kommen, Herr van Schleeten,“ sagte
er. „Sprechen Sie mit ihm selber; das wird das beste sein.“

„Ja, was gibt es denn?“ fragte Herr van Schleeten erstaunt.

„Sie müssen über das, was ich Ihnen sage, Diskretion bewahren, Herr van
Schleeten, aber Sie müssen doch in die Sache eingeweiht werden. Der
Maharadscha ist verschwunden, und in seiner Wohnung ist heute nacht
ein Einbruch verübt worden.“

„Einbruch!“ stammelte Herr van Schleeten, für den Augenblick Mrs.
Langtrey und alles andere vergessend, als die wunderbaren Juwelen.
„Sind die Juwelen gestohlen?“

„Nein, glücklicherweise wurde der Diebstahl im letzten Moment von einem
jungen Manne verhindert, der hier im Hotel wohnt. Aber der Maharadscha
ist verschwunden, und Gott weiß, wann wir ihn wiedersehen.“

Herr van Schleeten brachte kein Wort der Erwiderung hervor. Was
waren das für Mysterien? Sowohl Mrs. Langtrey wie der Maharadscha
verschwunden! Waren sie zusammen durchgegangen? Hatte er sie entführt?
Dann, bei allen Mächten der Unterwelt, wollte sich Herr van Schleeten
mit den Juwelen nicht mehr abgeben, als mit dem Schmutz der Straße.
„Wann ist er verschwunden?“ stammelte er.

„Gestern abend. Er wurde an irgendeinen infernalischen Ort gelockt und
konnte nicht wieder gefunden werden. Aber um Gottes willen, seien Sie
diskret!“

Herr van Schleeten atmete wieder.

Herrn van Schleetens Unterredung mit Oberst Morrel auf dessen Zimmer in
der fürstlichen Suite war summarisch. Er fand den Oberst von einer Wand
zur anderen rennend, wie ein frisch gefangener Tiger und kaum weniger
blutdürstig anzusehen.

„Was zum Geier gibt es?“ war sein artiger Begrüßungsruf.

„Dies ist Herr van Schleeten, Herr Oberst,“ sagte der Direktor. „Der
Juwelier, der --“

„Juwelier her, Juwelier hin! Wenn mein schwarzer Diamant beim Teu--“

Herr van Schleeten begann sich verletzt zu fühlen. Er hatte
augenblicklich selbst seine Sorgen und fand sie groß genug, um nicht
noch mit denen anderer belastet zu werden. Er machte einen Schritt auf
die Türe zu.

„Ich werde meine Instrumente wieder holen lassen,“ sagte er mit
eiskalter Stimme, „gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, Herr Oberst, daß
ich nicht --“

„Gut! Gut! Zum Teufel hinein!“ rief der Oberst, aber hielt dann
inne, von einem Gedanken gepackt. „Ja, richtig -- es ist ja doch
eine Möglichkeit, daß die Blindschleichen dort oben (offenbar Oberst
Morrels Kosename für die Detektive) meinen schwarzen Ado -- Sr. Hoheit
finden ... Also arbeiten Sie nur nach Belieben, mein bester Herr van
Schleeten, ganz nach Belieben. Dann erweisen Sie meinem schwar... Sr.
Hoheit einen großen Dienst. Adieu!“

Der Oberst stürzte zur Türe hinaus und schlug sie mit einem Krach zu,
der an einen Felssturz gemahnte. Der Direktor wendete sich mit einem
entschuldigenden Lächeln Herrn van Schleeten zu.

„Der Oberst ist ein bißchen erregt,“ sagte er. „Nehmen Sie es nicht
krumm, Herr van Schleeten, Sie wissen, ein alter Soldat ... er hat es
momentan nicht sehr angenehm.“

„Das ist kein Grund, mich zu behandeln wie einen Kutscher, der falsch
gefahren ist,“ sagte Herr van Schleeten mit gerunzelter Stirne. „Ein
jeder hat seine Sorgen.“

„Herr van Schleeten, Sie sind doch ein Weltmann. Beachten Sie den
schlechten Humor eines alten Herrn nicht. Gestatten Sie mir, Sie in das
Zimmer zu führen, das für Sie reserviert ist.“

Noch etwas grollend wurde Herr van Schleeten in den Arbeitsraum
geleitet. Der erste Anblick der märchenhaften Edelsteine war genug,
um ihn sowohl den Obersten wie Mrs. Langtrey vergessen zu lassen. Er
verbrachte eine Stunde damit, sie einen nach dem anderen zu bewundern;
zwei damit, nachzudenken, wie er die Fassungen „ändern“ sollte, damit
sie nach dem Geschmack des Maharadscha ausfielen. Dann klingelte er
und ließ sich ein leichtes Frühstück mit einer halben Chateau-Lafitte
bringen und machte sich dann gegen zwei Uhr an die Arbeit. Er blieb bis
sieben Uhr dabei und merkte kaum, wie die Zeit verflog, so hypnotisiert
war er von den Steinen; was er hingegen, als er seine Instrumente
weglegte, merkte, war, daß er eine Hilfskraft haben mußte, wenn er die
Arbeit in annehmbarer Zeit fertig bringen sollte, ganz abgesehen von
der nervösen Eile des Maharadschas. Gegen halb acht Uhr verließ er das
Hotel.

Die schwarze Leibgarde hielt noch immer treue, stumme Wache vor
den Türen des Arbeitsgemaches. Herr van Schleeten sprach sie im
Vorüberstreifen auf englisch an, aber bekam keine Antwort. Offenbar
verstanden sie nur ihre Muttersprache.

Unten auf der Straße angelangt, ging er anfangs halb abwesend durch
das Menschengewühl. Der Septemberabend war etwas kühl, mit einem
herbstlichen Ton in der Luft. Herr van Schleeten, dessen Kopf ganz von
den wunderbaren Steinen erfüllt war, wurde sich erst nach einiger Zeit
bewußt, daß er Hunger hatte.

Er ging in ein kleines französisch-italienisches Restaurant, an dessen
Türe er gerade vorbeikam, setzte sich nieder, und wählte einige
Gerichte _à la carte_ und eine Halbe Kirwan-Cantenac. Er war zum
Kompott nach dem Huhn gekommen, als er aufblickte und sah, daß Mrs.
Langtrey an seinem Tische stand, allein, im Straßenkleid.

Herr van Schleeten flog in die Höhe.

„Sie!“ rief er. „Sie!“

„Ja, ich ...“ murmelte sie. „Ah, daß ich Sie treffe! ... Gott sei Dank!
Gestatten Sie, daß ich mich niedersetze?“

Herr van Schleeten riß einen Stuhl unter dem Tisch mit einem Schwung
hervor, als wollte er ihn als Wurfgeschoß verwenden und half ihr die
Ueberkleider ablegen. Das kleine Souper winkte, und in dem rosigen
Wachskerzenschein seiner Hoffnungen sah er sich ihr schon weit mehr
ablegen helfen als die Ueberkleider. Sie ließ sich nieder und blätterte
zerstreut in dem Menü, das der französische Kellner sich beeilt hatte,
ihr zu überreichen.

„Aber heute abend müssen Sie mir gestatten,“ sagte Herr van Schleeten
hastig. „Geben Sie mir die Weinkarte, Kellner.“

Sie nickte leicht und wählte ein paar Speisen. Herr van Schleeten, der
die Champagnerliste durchforschte, bemerkte, daß sie auf französisch
bestellte. Er war ein bißchen verwundert, und nachdem der Kellner
verschwunden war, sagte er:

„Ich habe geglaubt, Sie waren nie in Frankreich, Mrs. Langtrey.“

„In Frankreich?“ wiederholte sie nach einem Augenblick. „Nein, warum
denn? Ach so, weil ich Französisch spreche! Das tut doch jeder
gebildete Mensch.“

Herr van Schleeten beeilte sich, das einzuräumen.

Erst beim Dessert begannen sie von ihm und dem, was er vor hatte,
zu sprechen. Die Zeit bis dahin war mit ihren Berichten über die
Gründe ihrer überstürzten Abreise ausgefüllt gewesen, und Herrn van
Schleetens Sympathieausbrüchen bei der Anhörung derselben. Es war
dieser zudringliche Freier! Natürlich! Der brutale Egoist! (Herrn van
Schleetens Generalurteil.) Der rücksichtslose Geselle. Ganz einfach
telegraphieren: „Ich komme, erwarten Sie mich,“ und sich einbilden, daß
alles in Ordnung ist! Daß die Heirat ohne weiteres stattfinden kann!
Ach, was für verächtliche Typen es doch in der menschlichen Komödie
gibt (Herr van Schleeten); Wie schwer das Leben für eine arme Frau
ohne Freunde ist (Mrs. Langtrey); Aber schön für den, der +einen
einzigen+ guten Freund hat (Herr van Schleeten).

„Wollen Sie wirklich mein Freund sein?“ murmelte sie.

Herr van Schleeten erklärte sich bereit, diese Rolle ohne alle
Einschränkungen zu übernehmen.

„Mein wirklich guter Freund, nichts anderes?“ setzte sie fort.

Herr van Schleeten ging auch darauf ein, allerdings nicht so eifrig wie
auf das erste Programm. Aber er schenkte noch Champagner in ihr Glas,
im Vertrauen auf diesen gelben Wein, im Notfalle auf die Zukunft. Sie
war ja Amerikanerin, und die Amerikanerinnen -- man weiß schon. Ein
bißchen Belagerung.

„Wie froh bin ich, daß ich Sie getroffen habe!“ flüsterte sie und ließ,
wie zerstreut, ihre kleinen Finger Herrn van Schleetens etwas volle
Hand streifen. „Nein, wie der Zufall einem manchmal helfen kann, wenn
man es am schwersten hat. Wenn es nun der Zufall war!“

Herr van Schleeten sprach die feste Ueberzeugung aus, daß es die
Vorsehung gewesen, und suchte die kleinen Finger zu erhaschen, die sich
rasch aus seinem gierigen Griff retteten.

„Sprechen wir von Ihnen,“ unterbrach sie. „Was machen Sie denn jetzt?
Sind Sie sehr beschäftigt?“

Herrn van Schleeten wandelte die Lust an, sich interessant zu machen
und zu zeigen, was er alles konnte, dieselbe Lust, die der Grund ist,
daß er und wir alle, dank unserem Stammvater, nicht mehr im Paradiese
wohnhaft sind. Mit einer Beredsamkeit, die sie offenbar ganz und gar
bestrickte, beschrieb er den Auftrag, den er vom Maharadscha empfangen,
und wurde bei der Schilderung der Juwelen geradezu dramatisch.
Plötzlich fiel sie ihm mit funkelnden Augen ins Wort:

„Ich +muß+ sie sehen!“ rief sie. „Ich +liebe+ Juwelen! Ueber
alles andere auf Erden.“

„Ueber alles andere auf Erden?“ wiederholte Herr van Schleeten
enttäuscht. „Ich fürchte, das ist unmöglich, Mrs. Langtrey, es war
schon indiskret von mir, Ihnen überhaupt davon zu sprechen.“

„Mir! Haben Sie schon vergessen, daß Sie versprachen, mein Freund zu
sein? Wenn es etwas auf Erden gibt, das mehr wert ist als Diamanten,
ist es wahre Freundschaft. Und einem Freunde muß man seine intimsten
Geheimnisse erzählen können, nicht wahr, Herr van Schleeten?“

Herr van Schleeten gab zu, daß sie recht hatte. Aber ihr die Juwelen zu
zeigen --

„_All right._ Wir sprechen nicht mehr darüber,“ sagte sie, mit
einem kleinen Unterton kühler Verwunderung in der Stimme, der Herrn van
Schleeten einen Schauer über den Rücken jagte. „Sie brauchen sich wegen
Ihrer Indiskretion keine Sorgen zu machen. Ich plaudere nichts aus.“

Der rosige Wachskerzenschimmer über Herrn van Schleetens
Zukunftsträumen zuckte bei ihrer kalten Stimme wie unter einem Luftzug.
Er beeilte sich, einen stammelnden Satz zu beginnen:

„Mrs. Langtrey ... liebste Freundin ... sehen Sie ... ja, was soll ich
sagen? ... Warten Sie, unterbrechen Sie mich nicht! Es +gäbe+ ja
eine Möglichkeit ...“

Ihre Augen begannen ihn warm und strahlend anzusehen.

„Lassen Sie mich hören!“ rief sie. „Sie sind ein Engel!“

Herr van Schleeten strich sich seinen gelbgrauen Schnurrbart.

„Es ist nämlich so,“ flüsterte er, „daß ich bei meiner Arbeit eine
Hilfskraft brauche, das habe ich heute nachmittag konstatiert. Und wenn
-- ja das heißt, dann müßten Sie aber Männerkleider anziehen -- und das
--“

„Männerkleider! Gott, wie lustig! Was Sie sich alles ausdenken können,
lieber Freund! Sie +sind+ ein Engel.“

Herr van Schleeten begann seine Worte schon halb und halb zu bereuen.

„Aber das wäre doch eine schwierige Sache,“ sagte er zögernd. „Sie
verstehen, wenn jemand im Hotel Sie erkennen sollte, dann wären sowohl
Sie wie ich rettungslos kompromittiert.“

„Aber wenn es dunkel wird,“ sagte sie. „In der Verkleidung bei
elektrischem Licht wird man mich doch nicht erkennen. Wie lange
arbeiten Sie denn dort?“

„So lange ich will,“ gestand Herr van Schleeten.

„Gott, da können Sie ja auch in der Nacht dort sein!“

„Das kann ich,“ räumte Herr van Schleeten ein.

„Aber dann komme ich eben bei Nacht,“ rief sie entzückt, ganz glücklich
über diese einfache Lösung eines schwierigen Problems.

Herr van Schleeten erbebte innerlich. Wie wäre es mit einem kleinen
Souper, nur von der Glut der wunderbaren Juwelen beleuchtet?

„Sie müßten abends kommen, gegen zehn Uhr,“ sagte er, „und ich müßte
den Obersten vorbereiten, daß ich jemand zu meiner Hilfe mitbringe. Um
diese Zeit sind die meisten Hotelgäste zu Bett oder im Theater.“

Sie klatschte vor Entzücken in die Hände und drückte über den Tisch
hinweg seine Hand.

„Gott, wie reizend! Das wird das Reizendste, was ich noch im Leben
mitgemacht habe, und Ihnen habe ich es zu verdanken!“

„Aber,“ stammelte Herr van Schleeten wieder reuig und sich an diese
letzte Chance festklammernd, „es steht eine schwarze Leibwache mit
gezogenen Säbeln vor den Türen, und --“

„Das macht nichts,“ rief Mrs. Langtrey, „gar nichts, wenn ich weiß, daß
ich mit einem wirklichen Freund bin!“

Das Souper schloß in scharmanter Stimmung von seiten Mrs. Langtreys.
Aber die Hoffnung, die Herr van Schleeten an den Champagner geknüpft,
erfüllte sich nicht; trotz dieses gelben und verräterischen Trankes
mußte er Mrs. Langtrey an der Türe eines Autos Adieu sagen (sie war
in ein kleines Familienhotel irgendwo gezogen, sagte sie). Ein Druck
ihrer weichen festen Hand und ein Blick durch den Schleier, versprachen
immerhin deliziöse Möglichkeiten für die Zukunft, und während Herr
van Schleeten heimwärts ging, gelang es ihm bald, sich selbst zu
überzeugen, daß er ein verfluchter Kerl war und daß alles gut gehen
würde. Morgen abend, im Zimmer des Maharadscha ...



IX

Yussuf Khans Wiederkehr


Als die Detektivs endlich gegangen waren und die Familie Bowlby unter
dem Präsidium Mrs. Bowlbys die Einbruchsaffäre und Mrs. Langtreys
Verschwinden zu Ende debattiert hatte, dachte Allan an sein eigenes
Privatmißgeschick; aber es wäre unwahr zu sagen, daß er es sehr schwer
nahm. Was hatte er sich doch zugeflüstert, als er vor einigen Tagen die
Küste der Heimat verbleichen sah? Vorwärts, den Abenteuern entgegen!
Schicksal, _en garde_! Unleugbar waren ihm Abenteuer begegnet;
aber das Schicksal hatte seine Herausforderung ebenfalls angenommen und
zu einem recht fühlbaren ersten Gegenstoß ausgeholt. Wäre Herr Mirzl
nicht ebenso exzentrisch gewesen, als er kühn war, so stünde Allan
heute ohne Koffer und Kasse da -- und was hätte er dann angefangen?
Nach Hause telegraphiert ...? Das Vorstellungsbild der jetzt wohl laut
brüllenden Akzeptanten ließ ihn rasch davon abstehen, diesen Gedanken
zu Ende zu verfolgen. Auf jeden Fall wollte er einer Wiederholung
vorbeugen. Es konnte ja geschehen, daß Herr Mirzl in seiner
Exzentrizität sein Urteil kassierte und die Geldbuße in gleicher Weise
zurückschickte wie damals die Koffer; aber in der Erwartung dessen war
es wohl am besten, den Rest der Reisekasse außer Reichweite für ihn zu
placieren. Am Mittwoch deponierte Allan ihn folglich im Bankkontor des
Hotels, nur gegen von ihm signierte Schecks oder Quittung zu beheben.
Zwei Exemplare seiner eigenhändigen Namensunterschrift wurden dem
Bankbeamten eingehändigt.

Am selben Abend gegen sieben Uhr sah Allan den alten Herrn mit der
Raubvogelnase, der, wie er nun wußte, der Juwelenspezialist Mynheer
van Schleeten war, die Treppe von der Wohnung des Maharadscha
herunterkommen. Er sah ein bißchen erregt aus. Als der Hoteldirektor
etwas später die Halle passierte, nahm Allan seinen ganzen Mut zusammen
und ging auf ihn zu.

„Darf ich Sie etwas fragen, Herr Direktor?“

Der Direktor, der Allan von dem gestrigen Verhör kannte, nickte
wohlwollend. Das war ja dieser junge Mann, dem man es zu danken hatte,
daß nicht alles verloren war.

„Sie haben noch keine Nachrichten vom Maharadscha?“

Der Direktor schüttelte düster den Kopf.

„Leider nicht. Sie sind doch diskret gewesen, hoffe ich?“

„Absolut. Ich habe kein Wort über die Sache zu irgend jemand verlauten
lassen außer der Familie Bowlby. Aber darf ich Sie etwas fragen? Ich
sah gerade den alten Juwelier, den der Maharadscha berufen hat, aus
seinem Appartement herunterkommen. Arbeitet er denn an den Juwelen,
obwohl Se. Hoheit verschwunden ist?“

„Ja, er kam heute morgen, und da ich nicht wußte, was ich tun sollte,
führte ich ihn zu Oberst Morrel hinauf ...“

Der Direktor brach ab und bemühte sich ein Lachen zu verbeißen.

„Ich hatte selbst das Vergnügen, den Oberst gestern morgen zu treffen,“
sagte Allan. „Herr van Schleeten bekam vermutlich die Aufforderung,
sich an einen heißen Ort zu verfügen?“

„Etwas Aehnliches. Aber dann reute es den Obersten, und er bat ihn
-- na ja, +bat+, hm, -- die Arbeit in Angriff zu nehmen. Herr
van Schleeten hat den ganzen Tag oben in der Suite des Maharadscha
gearbeitet.“

„Glauben Sie nicht, daß er in der Einsamkeit in Versuchung kommen
könnte?“ fragte Allan. „Er geht ganz nach Belieben aus und ein?“

„Er! Er ist ja selbst ein Krösus und einer der bestrenommierten
Juwelenspezialisten in Europa! Ebensogut könnten Sie ihn des Einbruchs
verdächtigen.“

„Ich bitte um Entschuldigung,“ sagte Allan, „vermutlich geht mir der
Einbruch im Kopfe herum. Und dann ist da noch eine andere Sache, die
ich zufällig weiß.“

„Was denn?“

„Ich weiß zufällig, daß Herr van Schleeten intim oder zumindest bekannt
mit Mrs. Langtrey war, die gestern früh verschwunden ist.“

„Ich habe Mrs. Bowlbys Insinuationen gegen die betreffende Dame gehört.
Aber die Detektivs zuckten nur die Achseln darüber, und weder uns
noch ihnen ist etwas Nachteiliges über sie bekannt. Und wenn Sie sie
auch im selben Zug gesehen haben wie Mirzl, könnten Sie doch nicht
behaupten, daß sie einander kannten. Aber man wird sie natürlich im
Auge behalten.“

„_All right_,“ sagte Allan. „Ich wollte Ihnen nur sagen, was ich
weiß.“

Der Direktor neigte den Kopf und ging in das Bureau.

Kurz darauf wurde Allan Zeuge einer Szene, über die er hell aufgelacht
haben würde, wenn er ihren Ernst nicht erkannt hätte. Der alte Oberst
kam die Treppen herunter und stürzte mit nervösen Schritten auf das
Bureau zu. Im Vorbeieilen warf er Allan einen ergrimmten Blick zu.
Offenbar war er noch durchaus nicht überzeugt, daß nicht alle Attentate
ihren Ursprung von Allan herleiteten. Bevor er noch das Bureau erreicht
hatte, kam der Direktor wieder herausgeeilt; in seinem Gesicht prägte
sich die lebhafteste Erregung aus. Bei dem Anblick des Obersten stieß
er einen kleinen Schrei aus. Allan sah ihn mit gesenkter Stimme dem
alten Krieger etwas mitteilen. Der Oberst starrte ihn regungslos an und
stieß dann ein Gebrüll aus, bei dem die Leute rings in der Halle von
ihren Klubsesseln emporfuhren. In der nächsten Sekunde stürzte er wie
ein Wahnsinniger die Treppen hinauf. Allan eilte auf den Direktor zu,
um ihn zu fragen, was denn los sei. Hatten sie den Maharadscha ermordet?

„Der arme Oberst Morrel,“ sagte der Direktor. „Mich soll es wundern,
wenn nach seinem letzten Geheul nicht das ganze Hotel weiß, wie die
Dinge stehen.“

„Was gibt es denn? Ist Seine Hoheit tot aufgefunden?“

„So schlimm ist es nicht -- noch nicht. Aber er ist überhaupt nicht
gefunden, und das ist fast ebenso arg.“

„Aber das wußte ja der Oberst schon?“

„Ja, aber wir hatten eben eine telephonische Botschaft vom Inspektor
Mc. Lowndes -- Sie wissen, der magere Mann, der Sie gestern früh
verhört hat. Seine Leute haben das Lokal herausgeschnüffelt, von dem
Sie sprachen!“

„Sie haben den Feuerfresserklub gefunden?“

„Offiziell heißt er irgendwie anders -- englisch-französische
Theaterfreunde oder so ähnlich. Feuerfresserklub ist nur ein Kosename
unter den Mitgliedern. Ein Mann namens Hardy steht dem Ganzen vor. Die
Papiere waren in Ordnung. Hardy hat nie etwas von Mirzl oder seinem
Anhang gehört. Vor zwei Tagen erhielt er den Besuch der zwei Herren,
die Sie beschrieben haben, Stanton und dem anderen, der unter dem Namen
Müller eingeschrieben war. Sie bestellten die Logen Nr. 5 und 6 für
den Abend, das war das Ganze, und alles was Hardy wußte oder wissen
wollte. Der Diener konnte auch nicht viel mehr sagen. Wie es Ihnen
gelungen ist, herauszukommen, war ihm ein Rätsel, da er allein die
Gäste ein und aus ließ. Gegen drei Uhr morgens war er durch ein Signal
aus Nr. 5 alarmiert worden, wo er sowohl die Gesellschaft von Nr. 6
wie die von Nr. 5 vorfand, mit Ausnahme von Ihnen. Er stellte eine
Frage nach Ihnen an Müller, der antwortete, daß Sie drinnen seien und
tanzten und solange bleiben könnten als Sie wollten. Er, Stanton und
die zwei dunklen Herren, die leider etwas angeheitert waren, wollten
jetzt gehen. Sie verstehen, sie hatten nun Ihre Flucht entdeckt und
waren erschrocken. Der Diener half ihnen, den Maharadscha und den alten
Hofdichter, von deren Identität er keine Ahnung hatte, in den Lift
hinauszutragen. Unten auf der Straße bestiegen sie ein Auto, und er sah
sie fortrollen. Die Autonummer sah er nicht an, und die Adresse hörte
er nicht. -- Das ist das Ganze. Sie verstehen also, daß der Maharadscha
in den Krallen der Gauner ist, und Sie verstehen wohl auch, was das
bedeutet.“

„Erpressung?“

„Das ist das Geringste, und wir müssen leider sagen, das Günstigste.
Erpressung von mir, des Hotels wegen, und vom Obersten Seiner Hoheit
wegen. -- Ach, wenn ich doch diese Menschen nie in das Hotel gelassen
hätte!“

Der Direktor murmelte etwas, das Allan nicht hören konnte, aber das er
ohne Zögern als einen energischen Fluch agnoszierte. Allan wollte noch
einige Fragen stellen, aber plötzlich eilte der Direktor auf und davon,
ohne auch nur guten Abend zu sagen.

Allan ließ sich auf einem Fauteuil in der Halle nieder, bestellte einen
Whisky mit Soda und fing an, die letzten Nachrichten zu überdenken.
Einiges davon war ihm noch unklar, infolge der abrupten Art des
Direktors, die Konversation abzuschließen. Hatte die Polizei die
Angelegenheiten dieses Klubs nicht gründlicher durchwühlt? Kannte
Hardy die Herren Stanton und Müller als Klubmitglieder? In diesem Falle
mußte er doch ihre Adresse wissen. Suchte die Polizei sie durch das
Auto aufzuspüren?

Allan ging zu Bett, ohne den Direktor wiedergesehen oder eine Antwort
auf diese Fragen gefunden zu haben. Bowlbys waren an diesem Abend
eingeladen; in ihrer Suite wurde Wache gehalten, um einer Wiederholung
von Herrn Mirzls Besuch vorzubeugen.

Der nächste Tag war ebenso arm an Ereignissen, als ein paar der
vorangegangenen reich daran gewesen waren. Der Maharadscha war und
blieb verschwunden, und kein Wort von Erpressung kam von seinen
Entführern. Gegen sieben Uhr morgens sah Allan den Obersten wieder und
fühlte eine Anwandlung von Mitleid mit dem alten Herrn, so verstört und
nervös sah er aus. Kurz darauf, während er am Eingang des Speisesaales
stand und mit Mr. Bowlby plauderte, kam der Direktor vorbei.

„Wenn die Schurken doch wenigstens schreiben und ihren Preis sagen
wollten,“ rief er. „Der arme alte Morrel wird noch verrückt, wenn nicht
bald Nachrichten eintreffen.“

Allan benutzte die Gelegenheit, seine Fragen zu stellen. Der Direktor
zuckte die Achseln, und die Worte überkollerten sich förmlich in seinem
Munde.

„Untersuchungen! Natürlich tut die Polizei was sie kann, aber man
weiß ja, wieviel das ist! Dem Auto wird nachgespürt, Hardy und der
Diener sind heute ein halbes Dutzend mal verhört worden, und man hat
die Klubliste mit Argusaugen durchgesehen. Natürlich hatten Stanton
und Müller, seit sie sich einschrieben, ihre Adressen ein dutzendmal
gewechselt, und keine Menschenseele weiß, wo sie sich aufhalten. Der
Mann, der sie in den Klub, der eigentümlicherweise verdammt heikel
ist, eingeführt hat, war ein französischer Baron, de Citrac oder so
irgendwie --“

„De Citrac!“ Allan zuckte zusammen. „Kennen Sie den Namen, Mr. Bowlby?
Der Mann, der nach dem, was Mrs. Bowlby erzählt hat, in Amerika mit
Mrs. Langtrey geflirtet hat! Seien Sie sicher, de Citrac ist kein
anderer als Mirzl in höchsteigener Person!“

Der Direktor und Mrs. Bowlby starrten ihn an, und Mr. Bowlby ließ ein
schrilles, reich moduliertes Expreßsignal als Ausdruck seiner Gedanken
ertönen.

„_By Jove!_ Sie haben recht, junger Freund! Sicher! Sie haben
recht! Ich fühle es!“

Der Direktor zuckte die Achseln.

„Auf jeden Fall, behauptet Hardy, daß er steinreich ist und zwei, drei
Schlösser in Frankreich hat. Und wenn das auch unwahr ist, so hilft das
jetzt nicht viel, wo es so eilt, des armen Morrels wegen. Es wäre eine
Gnade des Himmels, wenn die Schurken schreiben und ihren Preis angeben
wollten, das sage ich, wenn es auch feige klingt.“

Mrs. Bowlby war nicht so sehr von Mitleid mit dem Maharadscha und
seinem Mentor erfüllt wie der Direktor, als man beim Diner die Debatte
wieder aufnahm.

„Der arme Oberst! Hätte er besser auf das Untier aufgepaßt. +Er+
müßte doch wissen, wie er ist. Wenn man hundertfünfzig zum täglichen
Gebrauch hat, gewöhnt man es sich nicht so plötzlich ab. Sie können
sagen, was Sie wollen, Mr. Cray, ich +weiß+, daß er in diesem
Lokal in Damengesellschaft war. Helen, mein Kind, höre nicht zu, was
ich sage.“

„Nein, Mama.“

„Und Langtreys Frau! Denken Sie, diese dickschädligen Detektivs wollten
nicht einmal auf das hören, was ich ihnen über sie sagte! Unschuldig!
Natürlich ist sie unschuldig, weil sie lange Haare hat. Ich kenne die
Männer. Sie hat den Verbrechern rapportiert, daß John Mr. Cray zu sich
eingeladen hat. Bitte stellen Sie das nicht in Abrede, Mr. Cray.“

„Nein, Mrs. Bowlby. Sie haben gehört, daß ein Baron de Citrac Mirzls
zwei Helfershelfer in den Feuerfresserklub eingeführt hat?“

„In das Lokal!“

„Ja. Und glauben Sie nicht, daß de Citrac und Mirzl eine und dieselbe
Person sind?“

„Sicher!! Sie sind genial, Mr. Cray. Sicher! Dann bedauere ich Mirzl.
Er war mir früher eigentlich nicht so unsympathisch, aber wenn er einen
solchen Geschmack hat. -- Aber +wissen+ Sie, was ich jetzt glaube,
Mr. Cray?“

„Nein, Mrs Bowlby.“

„Ja, daß Langtreys Frau den Prinzen für ihre private kleine Rechnung
entführt hat! Die ganze Welt weiß ja, wie sie ist, und sie -- Helen,
mein Kind, höre nicht zu, was ich sage.“

„Nein, Mama.“

Allan fiel etwas ein.

„Weiß jemand, ob der alte Juwelier auch heute dagewesen ist und
gearbeitet hat?“

Mr. Bowlby nickte.

„Er kam heute morgens wie gewöhnlich und arbeitete hier bis halb
sieben. Er sprach mit dem Direktor -- mit dem Obersten ist ja nicht
mehr zu reden -- und sagte, die Arbeit sei doch viel langwieriger als
er geglaubt hatte. Er bat um die Erlaubnis, am Abend wieder zu arbeiten
und einen Mann aus seinem Geschäfte zu seiner Hilfe mitzubringen.
Der Direktor sprach mit dem Obersten, und der Oberst gab seine
Einwilligung.“

„Ich kann mir denken, wie er sie formuliert hat,“ sagte Allan.

Nach dem Diner verfügte man sich in die Appartements der Familie
Bowlby, wo sich außer anderen Annehmlichkeiten auch ein amerikanischer
Whisky vorfand, der von Mr. und Mrs. Bowlby in hohem Grade goutiert
wurde, von der letzteren allerdings nur ferne von der Oeffentlichkeit.

Allan blieb bis kurz vor zehn Uhr sitzen, zu welcher Stunde die
amerikanische Familie erklärte zu Bett gehen zu wollen, da sie die
Nacht vorher lang aufgewesen waren. Allan wurde aufgefordert, sitzen zu
bleiben und sich allein zu erfrischen, aber lehnte ab und sagte gute
Nacht. In die Halle gekommen, dachte er einen Augenblick nach, was er
anfangen sollte. Die große Halle war leer bis auf einen Kellner und ein
paar Hotelbedienstete. Er beschloß, einen Abendspaziergang zu machen
und zog seinen Ulster an, der beim Garderobier hing. Gerade als er sich
anschickte zu gehen, ging die Drehtüre auf, und zum Vorschein kam der
alte Juwelier und ein einfach gekleideter Mensch. Offenbar hielt Herr
van Schleeten Wort und erschien nun zur Nachtarbeit an den Juwelen des
Maharadschas. Es war zu hoffen, daß der Maharadscha Gelegenheit finden
würde, ihn für seinen Eifer zu belohnen. Allan trat beiseite, um Herrn
van Schleeten und seinen Gehilfen passieren zu lassen. Er musterte
sie ohne weiter daran zu denken; Herr van Schleeten erwiderte seine
Blicke mit zornigem Funkeln. Was hatte er eigentlich für einen Grund
Allan böse zu sein? Es war doch Allans Verdienst, daß er überhaupt in
die Lage gekommen war, an den Juwelen zu arbeiten. Allan ging vorbei,
mit einem flüchtigen Blick auf den Gehilfen, der durch die Pracht des
großen Hotels befangen und geniert zu sein schien, er nahm nicht einmal
seine tief hineingezogene Sportmütze ab. Ganz flüchtig kam Allan die
Idee, daß er schon einmal ein paar graue Augen gesehen hatte, die denen
des Arbeiters glichen. Dann war er zur Drehtüre hinaus und ging die
breiten Marmorstufen hinunter.

Er blickte zur Hotelfassade empor. In der Suite der Familie Bowlby
waren noch ein paar Fenster hell. In der des Maharadscha war alles
dunkel bis auf ein einziges Fenster -- offenbar eines von denen,
die dem Obersten gehörten. Während Allan noch dastand und vor sich
hinblickte, wurden noch zwei Fenster hell. Herr van Schleeten war also
mit seinem Gehilfen oben angelangt. Allan wollte eben weitergehen, als
sich etwas Eigentümliches ereignete.

Eine Hand zeichnete sich seinen Augenblick von der Scheibe ab, die
eben erleuchtet worden war, mit ausgespreizten Fingern. Die Finger
schlossen sich, öffneten sich und schlossen sich abermals. Dann zeigten
sich nur zwei davon, ganz ausgespreizt; dann verschwand die Hand.
Alles war mit Blitzesschnelle gegangen. Allan, der noch dastand und
hinaufsah, wußte nicht recht, ob er richtig gesehen oder das Opfer
einer Halluzination gewesen war. Herrn van Schleetens guter Name und
Ruf war ja von keinem Geringeren als dem Direktor des Hotels bezeugt
worden. Aber wie sollte diese Hand an der Scheibe aufgefaßt werden,
wenn nicht als ein Signal für jemanden draußen? Und warum signalisiert
man jemandem draußen, wenn man das ganze Personal eines großen Hotels
zur Verfügung hat? Bei aller Achtung vor dem Direktor ...

Allan machte mit philosophisch gerunzelter Stirne einige Schritte der
Hotelfassade entlang. Verwirrte Gedanken wirbelten wie Schneeflocken
durch seinen Kopf. War Mirzl im Komplott mit Herrn van Schleeten? Erst
eine halbe Minute nach dem Verschwinden der geheimnisvollen Hand fiel
ihm etwas ein, das doch ganz selbstverständlich war: +Wenn+ man
von dem beleuchteten Fenster aus signalisierte, in der Hoffnung, von
jemand draußen verstanden zu werden, so mußte dieser Jemand in der Nähe
sein, um das Signal aufzufangen. Er begann sich auf dem ziemlich matt
beleuchteten Square, an dem das große Hotel gelegen war, umzusehen.
Massen von Menschen strömten vorbei, obgleich Monmouth Square nicht
zu den belebtesten gehört. Die Person, der man eventuell signalisiert
hatte, mußte also vor dem Hotel stehen und warten. War irgendeine
mystische stationäre Person da? Soweit Allan sehen konnte, war das
einzige Stationäre fünf oder sechs Autos. Nun, nichts hinderte ja, daß
es eines von ihnen war, dem man ...

Allan fuhr mit einem innerlichen Triumphschrei auf. Haha! War das der
kleine Plan? War Herr van Schleeten mit im Komplott? Oder war er nur
eine Marionette, an der man mit dem Faden manövrierte, von dem sie
sich am liebsten lenken ließ? Mr. Bowlby hatte ja von seiner Schwäche
für das schöne Geschlecht gehört und erzählt -- war Mrs. Langtrey in
Kenntnis dessen und in spezieller Absicht im Expreß so gnädig gegen ihn
gewesen und so aufgebracht gegen Allan, der ihr Tete-a-tete zu stören
drohte? ... Und war es denkbar, daß ihm darum die grauen Augen des
Gehilfen so bekannt vorgekommen waren?

Ein Schwarm von Gedanken, deren Ausgangspunkt der letztgenannte war,
summte durch Allans Kopf. Und nachdem er rasch die Ueberzeugung erlangt
hatte, die sowohl seine Eigenliebe wie seine Revanchelust kitzelte, daß
er recht hatte, blieb nur eine Frage: Was sollte er tun?

Er ging auf dem Trottoir auf und ab, die Augen bald auf das erleuchtete
Fenster geheftet, wo jetzt keine Hand zu sehen war, bald auf die Leute,
die vorbeipassierten, um den eventuellen Mitschuldigen zu entdecken.
Der Direktor? Ihn aufsuchen? Er würde unfehlbar ausgelacht werden.
Der Direktor hatte seinen Glauben an Herrn van Schleeten zu energisch
betont, als daß er seinen Standpunkt auf eine unbegründete Einbildung
eines jungen Herrn wie Allan ändern würde -- wenn es sich auch schon
erwiesen hatte, daß Allan glückliche Einfälle haben konnte.

Denn vielleicht war es doch nur eine unbegründete Einbildung, daß es
nicht ein Arbeiter war, der mit Herrn van Schleeten hinaufgegangen war,
das Signal, das Ganze. Was konnten die Betreffenden eigentlich gegen
Herrn van Schleeten unternehmen, +wenn+ Allan recht hatte? Es
stand ja eine Wache vor dem Eingang.

Ein neuer Gedanke ließ Allan zusammenzucken. Was ihn hervorgerufen
hatte, war nichts anderes, als der Anblick von Oberst Morrels Fenster,
wo noch Licht brannte.

Der Oberst! +Der+ ließ an Bereitwilligkeit nichts zu wünschen
übrig, jeden, wer es auch sein mochte, zu verdächtigen -- vermutlich
in erster Linie Allan! ... Aber ohne die Zeit mit weiteren Erwägungen
zu verschwenden, ob ein anderer Weg geeigneter wäre, oder wie dies
ausgehen würde, stürzte Allan die Eingangstreppe des Hotels hinauf und
weiter zur Suite des Maharadschas. Er sah die schwarze Leibgarde, die
in dem Korridor vor den Räumen, die ihr Herrscher inne hatte, Wache
hielt. Das Zimmer des Obersten lag am äußersten Ende des Korridors,
und davor stand ein Mann in Livree mit einem Syphon und einer Flasche
Whisky auf einem Tablett; er stand, den Knöchel an der Türe, als wenn
er eben angeklopft hätte. Offenbar wollte der Oberst versuchen, seine
Kümmernisse in einem kleinen Abendrausch zu ertränken. Im selben
Augenblick, in dem der Mann die Türe öffnete, stand Allan auch schon
davor.

„Ich muß mit dem Herrn Oberst sprechen!“ rief er und faßte den Mann am
Arm.

Der Livrierte betrachtete ihn kalt.

„Der Herr Oberst empfängt nicht um diese Tageszeit,“ sagte er und
versuchte, sich aus Allans Griff zu befreien. Aber Allan hielt sich
fest wie an einer Rettungsboje.

„Sie werden es zu verantworten haben, wenn Sie sich weigern, mich
anzumelden. Hören Sie, zu verantworten! Mein Name ist Allan Kragh, der
Oberst weiß, wer ich bin. Hören Sie!“

Allan konnte nicht zu Ende sprechen. Oberst Morrel zeigte sich
plötzlich in der Türöffnung, leichenblaß vor Erregung. Es war
unverkennbar, daß der Whisky, den der Bediente jetzt brachte, nicht der
erste war, den er heute sah. Es fiel ihm schwer, gerade zu stehen, und
seine Augen, die Blicke wie Lanzen um sich schleuderten, konnten nur
schwer damit zielen.

Als er Allan erblickte, stieß er ein Tigergebrüll aus.

„Sie! Was zum Teufel tun Sie hier? Ist es Ihnen gelungen die Juwelen zu
stehlen oder haben Sie Nachrichten von Ihren Kameraden, was sie für den
Maharadscha bezahlt haben wollen?“

Allan verzichtete auf alle Umschweife.

„Oberst Morrel, ich denke nicht daran, auf Ihre Insinuationen zu
antworten. Falls es Sie interessiert, daß man wahrscheinlich gerade
heute abend die Juwelen zu stehlen beabsichtigt, so wissen Sie es
jetzt. Gute Nacht!“

Der Oberst war mit einem Sprung zur Türe hinaus und packte Allan am
Arm.

„Gute Nacht! Was zum Henker meinen Sie? Gedenken Sie die Juwelen heute
nacht zu stehlen, und kommen Sie, um mir das im vorhinein zu erzählen!
So wahr mir Gott helfe, Sie werden ...“

Allan heftete einen Blick auf den alten Krieger, der ihn tatsächlich
dazu brachte, Allans Arm loszulassen und mitten im Satze zu verstummen.
Er starrte einen Augenblick um sich und sah dann Allan an.

„Was zum Teufel haben Sie gesagt?“ murmelte er undeutlich.

„Was ich Ihnen gesagt habe, Oberst Morrel, war, daß ich glaube, daß man
heute nacht den Versuch zu machen gedenkt, die Juwelen zu stehlen. Sie
hören, +heute nacht+? Vielleicht gerade jetzt, vielleicht in einer
Stunde. Ich weiß es nicht bestimmt, aber ich glaube es. Interessiert
Sie das genügend, um diesen Whisky zurückzuschicken?“

Der Oberst richtete sich heftig auf, aber senkte dann wieder den Blick.

„Nimm das weg, John,“ sagte er. „Heute abend nichts mehr! Kommen Sie
herein, junger Mann.“

Er wies den Weg in sein Zimmer, ging in das Badezimmer und fuhr sich
ein paarmal mit einem Schwamm über die Stirn. Dann kam er wieder zu
Allan heraus.

„Rauchen Sie?“ sagte er „Nicht? Erzählen Sie mir, was Sie zu wissen
glauben.“

Allan ging, so langsam und deutlich er konnte, die wenigen Tatsachen
durch, auf die er seine Theorie stützte. Der Oberst hörte mit
gerunzelter Stirne zu. Ein paarmal zeigten seine Augen, daß es ihm
schwer fiel, die Gedanken zusammenzuhalten. Allan wiederholte, bis er
glaubte, das Ganze klargelegt zu haben. Als er zum Schlusse gelangt
war, schüttelte der Oberst den Kopf.

„Ich will Sie nicht beleidigen,“ sagte er. „Das habe ich wohl schon oft
genug getan. Aber ... ist das Beweismaterial für Ihre Theorie nicht
recht mager im Verhältnis zur Theorie selbst?“

„Ganz wie Sie sagen. Aber wie erklären Sie sich die Hand?“

„Ein Zufall. Und wenn Ihre Theorie wahr wäre, was könnte eine Frau tun?
Van Schleeten ist doch kein Kind. Und wie sollte sie mit ihrer Beute
wieder hinauskommen?“

„Das kann ich Ihnen nicht sagen; aber van Schleetens Eifer zu arbeiten,
sogar um diese Tageszeit?“

„Er wurde dazu von Sr. Hoheit besonders aufgefordert. Und er erklärte
sich schon damals zur Nachtarbeit bereit, lange vor dem ersten
Attentat.“

Allan senkte den Kopf und überlegte. Der Oberst hatte recht. Seine
Theorie war phantastisch, aber dennnoch ... Er wendete sich dem alten
Krieger zu.

„Oberst Morrel!“ sagte er. „Ich verlange von Ihnen nichts anderes, als
eine einfache Probe. Sie verstehen, die Sache geht mich doch eigentlich
gar nichts an. Aber gehen wir in das Zimmer, wo van Schleeten arbeitet,
und sehen wir, ob dort alles mit rechten Dingen zugeht. Oder gehen nur
Sie hinein! Das können Sie ja, ohne das mindeste Aufsehen zu erregen.“

Der Oberst überlegte. Ein paarmal zuckte er die Achseln, und Allan
glaubte schon das Spiel verloren zu haben, als er plötzlich von seinem
Sessel aufsprang.

„_All right!_“ sagte er. „Es wäre unverzeihlich von mir, Ihnen
nicht diese einfache Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ich gehe
gleich hinüber. Sie können mir nachkommen, wenn Sie wollen, so daß Sie
ins Zimmer hineinsehen können. Mit hinein möchte ich Sie nicht nehmen,
Sie verstehen doch.“

Sie verließen das Zimmer des Obersten unter gegenseitigen
Höflichkeitsbezeigungen -- Allan wollte den alten Herrn vorangehen
lassen, und dieser wollte seinem Gast diese Ehre geben. Schließlich
gewann Allan mit seiner schwedischen höflichen Beharrlichkeit das
Spiel. Einige Schritte über den dicken orientalischen Teppich des
Korridors, und sie waren an der Türe des Zimmers, das Herr van
Schleeten überlassen worden war. Die schwarze Leibwache schulterte bei
dem Anblick des Obersten ihre krummen Yatagans. Dieser richtete in
einem krächzenden Dialekt einige Worte an sie.

„Ob sie etwas Verdächtiges gehört haben,“ wendete er sich erklärend an
Allan.

„Nun, haben sie das?“

„Nein. Aber nehmen wir die Untersuchung nur vor.“

Er faßte die Türklinke. Die Türe war verriegelt. Bevor Allan es
verhindern konnte, hatte er die Hand gehoben und geklopft.

„Oberst Morrel!“ flüsterte Allan. „Was tun Sie? +Wenn+ nun --“

Er konnte seinen Satz nicht abschließen. Von drinnen war keine Antwort
auf das Klopfen erfolgt, und plötzlich loderte die nur schlummernde
Whiskyraserei des Obersten in hellen Flammen auf. Er stieß ein Brüllen
aus, riß einen der Säbel der schwarzen Krieger an sich und hatte,
bevor Allan noch wußte, wie ihm geschah, den Türspiegel mit einem
Hieb gespalten, der wie ein Kanonenschuß durch den Korridor dröhnte.
Noch zwei Hiebe, dann warf er sich mit voller Kraft gegen die Türe.
Diese stürzte krachend ein; der Oberst flog hindurch, Allan in seinen
Fußstapfen und die schwarzen Krieger in einem Strom hinterdrein. Sie
erhaschten eben noch sein wunderliches Bild, bevor es, von sechs
aufeinander folgenden Revolverschüssen des Obersten begleitet,
verschwand.

Das Fenster stand offen, und über dem Fensterbrett tauchte in dem
Augenblicke, in dem sie das Zimmer betraten, ein einfach gekleideter
Mensch auf, oder richtiger der Kopf dieses Menschen, von einer grauen
Sportmütze bedeckt. Er verschwand gerade, als sie über die Schwelle
kamen, über den Rand des Fensterbrettes, von sechs Revolverkugeln des
Obersten gefolgt, und Allan konnte sich noch nicht recht von seinem
Staunen erholen, wie er da verschwinden konnte, als er auch schon am
Fenster stand und die Lösung hatte. Eine feine Strickleiter fiel die
Hausmauer entlang bis auf das Trottoir hinunter; die Person, die sie
verschwinden gesehen, war schon unten angelangt; und gerade, als Allan
und Oberst Morrel das Fenster erreicht hatten, kam das Ueberraschendste
in dieser blitzschnellen Folge von Ereignissen. Der Flüchtling, der mit
schlangenhafter Geschmeidigkeit die Strickleiter hinuntergeklettert
sein mußte, und nunmehr, offenbar schon ganz im klaren über den Ernst
der Situation war, hatte noch Zeit, eine hastige Bewegung mit der
Hand zu machen -- es war ein Zündhölzchen, das angerieben wurde.
Gerade als Allan die Beine über das Fensterbrett warf um sich die
Strickleiter hinunterzuschwingen, stand diese von einem Ende bis zum
anderen in hellen Flammen; sie mußte wohl schon früher mit irgendeinem
entzündlichen Stoff präpariert worden sein. Allan hatte gerade noch
Zeit, sich über das Fensterbrett zurückzuziehen, bevor die Flammen
darüber zusammenschlugen. In ohnmächtiger Wut schleuderte der Oberst
seinen leeren Revolver dem Entwichenen nach. Er fehlte, und binnen
einer Sekunde war der Flüchtling in einem schwarzen blanken Auto, das
aus dem Nichts aufzutauchen schien ...

Allan und der Oberst wendeten sich einander zu, und ihre Augen riefen
dasselbe Wort: Zu spät! -- als sie beide etwas erblickten, das ihren
Gedanken eine andere Richtung gab.

Und dieses etwas war Mynheer Jan van Schleeten, der berühmte
Juwelenspezialist, der sich in einer Ecke des Zimmers auf dem Ellbogen
von einer Chaiselongue aufrichtete und mit abwesenden Augen und offenem
Munde um sich starrte. Neben ihm stand ein Werkzeugtisch und eine
Mahagonikassette, die von glänzenden Edelsteinen überquoll. Und die
ersten Worte, die Herr van Schleeten sagte, waren: „Sie! Wo ist sie?“

Jetzt war Allan Herr der Situation. Mit zwei Schritten war er bei Herrn
van Schleeten; er nahm ein durchtränktes Taschentuch von der Brust
dieses Herrn und schwenkte es gegen den Obersten:

„Sehen Sie, Oberst Morrel, was ein schwaches Weib vermag! Chloroform
genug für ein Roß! Jetzt gilt es zu sehen, ob wir noch zurecht gekommen
sind oder nicht. Herr van Schleeten, auf, helfen Sie uns, und denken
Sie daran, daß Ihre Ehre und Ihr Name auf dem Spiele steht!“

Der alte Holländer erhob sich von der Chaiselongue, wankend wie ein
Schwertrunkener. Der Oberst war nach der Flucht des Verbrechers
plötzlich in einen Zustand der Lethargie versunken und starrte ratlos
um sich. Allan mußte das ganze in die Hand nehmen.

„Wollen Sie dafür sorgen, daß wir etwas Kaffee heraufbekommen, Oberst
Morrel!“ rief er. „Sie sehen, in welchem Zustande Herr van Schleeten
sich befindet. Starker Kaffee, das ist das einzige, was ihn auf die
Beine bringen kann.“

Der Oberst murmelte einem Mann von der schwarzen Leibwache einige Worte
zu, und dieser stürzte davon; eine Minute später goß Herr van Schleeten
mit Allans Hilfe eine Tasse dampfenden schwarzen Kaffee hinunter. Das
erste, was er dann tat, war, sich aufzurichten und Allan anzustarren.

„Sie kenne ich,“ sagte er mit lallender Stimme. „Sie sind -- Sie sind
ein Verbrecher.“

„Mund halten, Kerl,“ schrie der Oberst, plötzlich aus seiner Betäubung
erwachend. „Danken Sie Ihrem Schöpfer, daß dieser junge Mann gekommen
ist! Sonst säßen Sie morgigen Tags hinter Schloß und Riegel.“

Herr van Schleeten starrte ihn mit stumpfen Blicken an.

„Aber ich sah ihn doch,“ murmelte er, „sah ihn doch auf einer
Station -- wie hieß sie nur? -- ja -- K--köln -- und da wurde er
arre--arretiert. Er hat n--nämlich --“

„Trinken Sie Ihren Kaffee aus, und halten Sie den Mund!“ brüllte der
Oberst. „Und dann zur Kassette, und sagen Sie uns, wieviel fehlt!“

Es verging noch eine Weile, bis es Herrn van Schleeten gelang, diese
drei Wünsche zu erfüllen. Die Untersuchung der Mahagonikassette nahm
lange Zeit in Anspruch, eine Zeit, während der Allan unten war und
einen verstörten Nachtportier an die Polizei telephonieren ließ. Aber
als er wieder heraufkam, hatte er die Befriedigung, daß Oberst Morrel
ihm entgegenstürmte; der Oberst packte seine beiden Hände, es schien
nicht viel zu fehlen, und er hätte sie geküßt.

„Die Fassungen sind zu groß und hinderlich gewesen, und sie hat es zu
eilig gehabt!“ schrie er. „Es ist möglich, daß eins der Diademe fehlt,
aber mehr nicht. Darauf schwört der verdammte Holländer. Ganz richtig,
diese kleine listige Hexe von einer Abenteuerin hat ihn bestrickt, und
ihr Streich wäre ihr gelungen, wenn nicht Sie --“

Allan versuchte ihn mit schwedischer Bescheidenheit zu unterbrechen. Es
dauerte noch lange, bis er diese Nacht ins Bett kam. Denn einerseits
mußten alle von dem erschienenen Detektivinspektor Mr. Mc. Lowndes
in aller Form verhört werden (nach welchem Verhör Herr van Schleeten
die Heimfahrt in Gesellschaft eines Detektivs antreten durfte);
andererseits wollte Oberst Morrel nicht zu Bett gehen, ohne seinen
morgigen Katzenjammer durch eine Flasche Champagner mit Allan
verschärft zu haben. Zu Ende dieser Flasche erklärte er ohne alle
Einschränkungen, daß er seines Wissens noch nie einem Menschen begegnet
war, auf dessen Stirn alle guten Eigenschaften sich ein so harmonisches
Stelldichein gegeben hatten wie bei Allan.

                               *       *
                                   *

Allan wurde am nächsten Morgen gegen zehn Uhr in seiner Morgentoilette
dadurch unterbrochen, daß Mr. Bowlby höchst unzeremoniös die Türe zu
seinem Zimmer aufriß. Was er zu verkünden hatte, war nichts Geringeres,
als daß Yussuf Khan und der alte Ali am selben Morgen gegen halb sieben
Uhr im Viktoria-Park im East End in vollkommen bewußtlosem Zustand
aufgefunden worden waren, jeder mit der aufgeklebten Etikette versehen:
Abzugeben Grand Hotel Hermitage.

Allan hatte noch nicht zu Ende gefragt -- Mr. Bowlby wußte übrigens
kaum mehr als die Tatsache, die er vom Direktor erfahren hatte -- und
selbst noch nicht mehr erzählt als die Konturen der Ereignisse der
Nacht, als eine neue Sensation über ihn hereinbrach. Noch immer von Mr.
Bowlby begleitet, ging er in das Bankkontor des Hotels hinunter, um
einige Pfund seines deponierten Geldes zu beheben.

Der junge Mann hinter dem Schalter starrte ihn einen Augenblick
an und fragte ihn dann mit halb erschrockenem, halb mißtrauischem
Gesichtsausdruck, ob er denn vergessen habe, daß er erst vor einer
Stunde dagewesen war und sein ganzes Guthaben an der Kasse behoben
hatte.



X

Die Nachwirkungen einer tollen Nacht auf Fürsten und Poeten


Allan starrte Mr. Bowlby an und Mr. Bowlby Allan. Dann gab er ein
Expreßsignal von sich, das wie ein Schwert durch alle Stockwerke
des Hotels ging und klang wie: Lebensgefahr, alle Bremsen anziehen,
augenblicklich stoppen!

„Schon wieder Mirzl! _By Jove!_“

Endlich fand Allan die Stimme wieder und wendete sich an den Beamten.
„Kann ich mit Ihrem Chef sprechen?“

„Im Augenblick bin ich allein hier, Sir, aber wenn Sie es wünschen,
kann ich den Hoteldirektor anrufen. Ich sehe ja, daß da etwas nicht
klappt, obwohl ich es nicht verstehe.“

„Danke, rufen Sie ihn sofort.“

Drei Minuten später kam der Direktor in das Kontor gestürzt. Es war
schon von weitem unverkennbar, daß er nicht in rosiger Laune war, und
die Aeußerung, die er in der Türe Mr. Bowlby zuwarf, verriet sofort die
Ursache.

„Weiß Gott, warum ich Sie je gebeten habe, aus Ihrer Wohnung
auszuziehen, Mr. Bowlby!“

„Gibt es etwas neues?“

„Neues! Nichts anderes, als daß ich diesen Morgen vier Dutzend
Journalisten hinter mir her habe. Die Wiederauffindung des Maharadschas
im East End in einem solchen Zustande war in zehn Minuten in Fleet
Street verbreitet. Die dummen Polizisten, die ihn fanden, hatten
natürlich nicht den Verstand, das Maul zu halten ... Und dazu ein Loch
im Boden, das geflickt werden muß -- und eine Türe, vom Obersten ärger
zugerichtet als der Birnbaum von George Washington. Ein Vergnügen,
feine Gäste zu haben, was?“

„Sie haben auch heute Morgen feine Gäste hier gehabt, ohne daß Sie es
wissen,“ sagte Mr. Bowlby. „Hören Sie nur!“

Und er erzählte, was Allan widerfahren war. Der Direktor starrte ihn
an, wie ein Gespenst. Schließlich stammelte er:

„Also ... was meinen Sie? Wer ist hier gewesen?“

„Mirzl! Sie wissen doch, daß er meinem jungen Freunde die Hälfte
seines Geldes abgenommen hat, als er sich das erstemal konterkarriert
sah. Woher er weiß, daß der Rest hier deponiert wurde, kann ich nicht
verstehen.“

„Es ist vielleicht nicht so schwer zu erklären,“ sagte Allan. „Sie
sagen (er wendete sich an den Bankbeamten), daß ich vor einer Stunde
hier war und mein ganzes Guthaben behoben habe. Erzählen Sie, wie das
zuging.“

Der junge Bankbeamte warf einen scheuen Blick auf den Direktor und
begann:

„Es war eben, als ich öffnete. Da kam ein Herr herein, der Ihnen aufs
Haar ähnlich sah, Sir, und wendete sich an mich: ‚Wieviel habe ich doch
hier deponiert?‘ ‚Ihr Name, Sir,‘ sagte ich der Form wegen, denn ich
erkannte Sie ja ganz gut, Sir. ‚Am besten, ich buchstabiere ihn Ihnen
vor,‘ sagte er und lächelte. ‚Allan K--r--a--g--h. Schwer, den Namen
auszusprechen.‘ ‚_All right_, Sir,‘ sagte ich und schlug im Buche
nach. ‚Sie haben etwas über fünftausend schwedische Kronen deponiert --
dreihundert englische Pfund.‘ ‚Es ist gut, ich nehme sie heraus,‘ sagte
er, ‚geben Sie mir eine Quittung, dann werde ich unterzeichnen.‘ ‚Sie
haben den Depotschein, den Sie seiner Zeit bekamen, nicht bei sich,
Sir?‘ fragte ich. Er suchte in seinen Taschen. ‚Na aber! den muß ich in
meinem anderen Anzug vergessen haben. Aber wenn ich einstweilen hier
quittiere, kann ich ihn ja später bringen.‘ ‚_All right_, Sir,‘
sagte ich, denn ich dachte ja mit keinem Gedanken daran, daß es jemand
anderes sein könnte, als Mr. Kragh. Und die Schrift war ...“

„Der Teufel soll das ganze holen!“ schrie der Direktor. „Ich
werde schon bald ebenso verrückt, wie der Oberst. Journalisten,
Einbruchsdiebe, andere Diebe, schwarze Regenten, die um sechs Uhr früh
in öffentlichen Parks gefunden werden -- man kann ja toll werden! Von
heute an müssen die Leute sich einem Polizeiverhör unterziehen, bevor
sie die Nase zur Türe meines Hotels hereinstecken dürfen!“

Mr. Bowlby fiel ihm ins Wort.

„Sie sollten ein bißchen dankbarer gegen meinen jungen Freund aus
Schweden sein,“ sagte er. „Er hat nun schon zweimal die Diebstähle
beim Maharadscha verhindert ...“

„Dann sollte er zum Teufel doch auch die Diebstähle bei sich selbst
verhindern,“ rief der Direktor. „Dankbar! Gewiß bin ich dankbar.
Wieviel hatten Sie doch in englischer Münze?“

„Fünftausendvierhundert in schwedischer -- dreihundert englische
Pfund,“ sagte Allan kurz. „Bitte, machen Sie sich keine Gedanken
darüber, Herr Direktor. Aber ich muß um einen kleinen Aufschub bei der
Rechnung bitten, nachdem Herr Mirzl meine ganze Reisekasse übernommen
hat.“

Der Direktor schüttelte ihm die Hand.

„Aber, aber!“ rief er, „nehmen Sie es doch nicht übel. Mißverstehen
Sie mich nicht. Natürlich ist das Hotel für deponiertes Geld
verantwortlich. Aber die Umstände in diesem Falle sind solche, daß ich
nicht auf eigene Hand entscheiden kann. Mißverstehen Sie mich nicht.
Wenn Sie den Obersten drei Tage lang hinter sich her gehabt hätten,
und heute morgen einen Schwarm von Journalisten, die Ihnen die Ohren
vollschreien -- bei Gott, da kommt der Oberst. Was ist denn schon
wieder geschehen? Was für ein Verbrechen ist denn jetzt im Hotel verübt
worden?“

Die Miene des Obersten war wirklich nicht so sonnig, daß der Direktor
mit seinen Befürchtungen nicht recht haben konnte. Immerhin erwiesen
sie sich als unbegründet.

„Ich hörte, daß Sie hier sind, Direktor!“ rief er. „Warum um Himmels
willen lassen Sie dieses verdammte Zeitungsschmiererpack nicht
hinausschmeißen?! Sie setzen mir nach wie Hunde einem Fuchs. Ob
es wahr ist, daß der Maharadscha so gut wie ermordet in einem Park
aufgefunden wurde? Ob es wahr ist, daß man ein Attentat auf seine
Juwelen und ein anderes auf ihn selbst verübt hat? Welche Ansicht der
Maharadscha über London hat? Welche Ansicht ich über das eigentümliche
Attentat auf ihn habe -- -- Gentlemen, schrie ich, ich habe die
unmaßgebliche Ansicht, daß Sie ein Haufen gottverdammter Vampire sind,
und wenn Sie sich nicht augenblicklich packen, werde ich versuchen,
sie Ihnen mit meinem Sechsläufigen klarzumachen. Die Ansicht des
Maharadscha über London ist, daß es eine entzückende Stadt sein würde,
wenn die Londoner nicht wären, und um sie so wenig als möglich zu
sehen, pflegt Se. Hoheit jeden Morgen in aller Frühe einen Spaziergang
durch die Parks in East End zu machen, wo er heute von einer
bedauerlichen Schwindelattacke befallen wurde, die Anlaß zu tausend
idiotischen Gerüchten gab, die nur Leute glauben können, die dumm genug
sind, Zeitungen zu lesen, die von noch größeren Idioten geschrieben
werden als sie selbst; und wenn Sie mit diesem Bescheid nicht zufrieden
sind, meine Herren, dann können Sie mir den Bu -- --“

Die Stimme des Obersten kippte vor Gemütserregung um, ohne daß es
seinen Zuhörern Schwierigkeiten bereitete, seinen elliptischen Satz zu
ergänzen. Mr. Bowlby wischte sich die Augen und sagte:

„Sie sollten Minister des Aeußeren sein, Herr Oberst, dann käme doch
ein bißchen mehr Schwung in den diplomatischen Verkehr! Haben Sie
Herrn van Schleeten heute schon gesehen?“

„Schleeten! Ich habe mit den Tintenkulis genug zu tun gehabt. Er
wird schon im Laufe des Tages kommen, und dann werde ich ihm meine
Meinung sagen. Heute früh ist mir etwas eingefallen. Wer beweist mir,
daß Schleeten nicht mit im Spiel war? Ich glaube, das Ganze war ein
Komplott, und ich werde die Detektive davon verständigen.“

„Aber Herr Oberst, einer der ältesten und angesehensten Juwe ...“

„Der sich von einer verdammten kleinen Abenteuerin in Hosen düpieren
läßt. Es +war+ ein Komplott. Da können Sie Gift darauf nehmen.“

„Sie ging ja wohl nicht immer in Hosen herum, Herr Oberst. Und was
sagen Sie zum Chloroform? Sie haben doch selbst gesehen, daß er betäubt
dalag.“

„Als ob das nicht gerade das Komplott beweisen würde! Hat man nicht
schon tausendmal gehört, wie Leute falsche Einbrüche arrangieren!
Das ist mir nur nicht früher eingefallen. Das werde ich sofort den
Detektiven telephonieren! -- Guten Morgen, junger Freund! Wie steht es?“

Er schien Allan erst jetzt zu bemerken.

„Danke, Herr Oberst,“ sagte Allan. „Es geht mir so gut, als es einem
gehen kann, wenn man eben um seine ganze Barschaft bestohlen worden
ist.“

„Ihre ganze Barschaft! Das ist sie und Schleeten!“

„Ich bezweifle nicht, daß Herr van Schleeten ebenso bereit wäre, zu
behaupten, daß ich und sie das Attentat heute nacht arrangiert haben.
Nein, es war ein anderer ihrer Freunde, den sie in letzter Zeit auch
kennen gelernt haben -- Herr Benjamin Mirzl.“

Der Oberst lauschte mit weitaufgerissenen Augen Allans Erzählung,
drehte seinen weißen Schnurrbart und sprach in einigen kernigen Worten
seine Ansicht über Mrs. Langtrey und Herrn Mirzl aus:

„Wielange werden diese Blindschleichen die Herrschaften noch frei
herumlaufen lassen? Ich glaube wirklich, dieser Mirzl ist der
leibhaftige Teufel!“

Der Direktor unterbrach ihn.

„Wie steht es mit Seiner Hoheit, Herr Oberst?“

Die Stirne des Obersten umwölkte sich.

„Er und das andere Prachtexemplar liegen noch todbesoffen da,“ sagte
er. „Weiß Gott, was die Räuber ihnen eingetrichtert haben. Der Doktor
und die Krankenschwestern plagen sich schon eine Stunde lang mit
Massage, Injektionen und Elektrizität ab, sie stellen sie bald auf den
Kopf, bald auf die Füße, ohne daß sie sich mucksen. Der Doktor glaubt,
es wird Aether oder Morphium sein oder vielleicht beides.“

„Ist es nicht eigentlich merkwürdig, daß die Verbrecher sie losgelassen
haben, Herr Oberst?“ wagte Allan einzuwerfen. „Ohne den Versuch zu
machen, etwas zu erpressen! Und gerade in derselben Nacht, in der ihr
anderer Plan mißlungen ist!“

„Das ist mir total schnuppe,“ sagte der Oberst behaglich. „Sobald sie
nur wieder die Schnauze in die Luft strecken können, geht es nach
Indien zurück, da lassen Sie nur mich dafür sorgen. Ich gehe zum
Minister für Indien und erzähle ihm die ganze Sache privatim. Und
dann kann sich Se. Hoheit meinetwegen grün und blau protestieren, aber
es gibt keinen weiteren Europa-Séjour für ihn und keine Werbungen um
schöne weiße Prinzessinnen.“

Der Direktor des großen Hotels wendete die Augen mit einem Ausdruck der
lebhaftesten Dankbarkeit himmelwärts und verabschiedete sich, nachdem
er dem jungen Bankbeamten die Weisung gegeben, Allan auszuzahlen, was
er momentan von ihm haben wollte. Allan wendete sich an den Obersten.

„Kann man die Patienten sehen, Herr Oberst?“

„Noch nicht, junger Freund. Jetzt muß ich selbst hinauf und sie ein
wenig beaugapfeln. Wir treffen uns noch!“

Er stürzte davon. Mr. Bowlby sah auf seine Uhr.

„An der Zeit, etwas zu essen,“ sagte er. „Kommen Sie, wir wollen doch
sehen, was Susan und Helen machen.“

Sie fanden Mrs. Bowlby und Miß Helen im Salon der Familie Bowlby.
Mrs. Bowlby trug eine purpurfarbene Toilette, die ihr eine frappante
Aehnlichkeit mit einem brasilianischen Kakadu gab.

„Nun endlich!“ rief sie. „Wo hast du dich so lange herumgetrieben,
John? Ich und Helen, wir vergehen ja schon vor Neugierde. Was ist also
geschehen? Ist es wahr, daß man das Untier halb tot von Ausschweifungen
auf der Straße gefunden hat? Die Dienerschaft sagt es. Und den alten
grauhaarigen Wüstling? So erzähle doch, John! Und der Dritte aus der
sauberen Gesellschaft soll ja einen Anfall von Delirium gehabt haben,
er hat die Leibwache niedergemetzelt und große Löcher in den Fußboden
und die Wände gestoßen? So erzähle doch, John!“

„Sobald du mich läßt, liebe Susan. Der Ma...“

„Es ist also wahr, natürlich! Halbtot von Ausschweifungen! Helen, du
solltest nicht zuhören, mein Kind, aber es kann ganz gut für dich sein,
zu wissen, wie es die Männer treiben. Und der Oberst, John?“

„Liebe Susan, lasse mich doch zuerst nur zwei Worte über den
Maharadscha sagen.“

„Natürlich, du willst ihn in Schutz nehmen!“

„Der Maharadscha, geliebte Susan, wurde heute Morgen in einem Park in
East End aufgefunden, betäubt ...“

„Von Ausschweifungen!“

„Betäubt mit Aether oder Morphium von der Bande, die ihn und den alten
Hofdichter geraubt haben.“

„Behaupten sie selbst, haha!“

„Behaupten sie nicht selbst, da die Belebungsversuche des Arztes bis
jetzt weder beim Maharadscha, noch bei dem alten Ali gelungen sind.“

„Haha, John, du bist wirklich +zu+ naiv!“

„_All right._ Aber du hast nach dem Obersten gefragt.“

„Der gestern abend das Delirium hatte, das sagt die Dienerschaft. Ich
+will+ ja zugeben, daß der arme Prinz nicht gerade von leuchtenden
Beispielen umgeben war. Diese Gerechtigkeit muß man ihm widerfahren
lassen. Wenn er von einem alten Wüstling seiner eigenen Religion in
entsetzliche Lokale gelockt wird und sieht, wie sich ein weißhaariger
Heuchler, der sich Christ nennt, bis zur Besinnungslosigkeit betrinkt,
kann man ja verstehen, daß ein Mensch, von schwachem Charakter in
Versuchung geraten kann. Und dann fehlt ihm doch auch die Stütze einer
Frau.“

„Er hat doch hundertfünfzig, liebe Susan.“

„Solche nenne ich nicht Frauen, John, das weißt du.“

„Aber du hast es doch bisher getan, liebe Susan.“

„Weil ich die Ohren meiner kleinen Helen schonen wollte. Sie bekommt
ohnehin genug zu hören, das arme Kind.“

„Geniere dich meinethalben nicht, Mama, ich weiß sehr gut, was für ein
Wort du anwenden wolltest.“

„Helen!“

„Liebe Mama, es steht doch im Shakespeare und in der Bibel.“

Mrs. Bowlby wechselte das Gesprächsthema.

„Wie ist es also mit dem Obersten, John? Ist er in eine Irrenanstalt
gebracht worden?“

„Noch nicht, liebe Susan. Wir trennten uns eben vor einem Augenblick.
Er ging zu seinen Schützlingen hinauf. Er war ein bißchen erregt
nach seinen Gesprächen mit dreißig oder vierzig Reportern. Sonst
befand er sich ganz wohl. Und wenn du Mr. Cray so halbwegs in Frieden
erzählen lassen willst, kannst du hören, wie das mit seinem Delirium
zusammenhängt. Du glaubst doch Mr. Cray?“

„Soviel ich nach zwanzigjähriger Ehe einem Mann glauben kann, John.“

„Liebe Susan, sei mir nun nicht böse, weil ich dir deine Illusionen
über den Maharadscha und die beiden anderen geraubt habe. Erzählen Sie,
Mr. Cray!“

Allan wiederholte seinen Bericht über das, was am vorhergehenden Abend
passiert war. Mrs. Bowlby hörte halbwegs ruhig zu, bis er zu der Szene
kam, die sich dem Obersten und ihm selbst im Arbeitszimmer Herrn van
Schleetens geboten hatte. Da stieß sie einen Schrei aus, der der
baseballspielenden amerikanischen Nation würdig war.

„Der auch! Ein Schwindler! Der alte Roué! Jetzt sind die Juwelen also
gestohlen?“

„Noch nicht, Mrs. Bowlby. Der Oberst und ich kamen gerade in der
letzten Sekunde, um es zu verhindern, und sicherlich hat die
Säbelattacke des Obersten gegen die Türe den Dieb in die Flucht gejagt.“

„Den Dieb? Sie meinen den Mitschuldigen!“

„Sie sind derselben Ansicht wie der Oberst, wenn Sie das sagen, Mrs.
Bowlby. Aber sie ist, mit Ihrer Erlaubnis gesagt, nicht richtig. Es war
eine Schwindlerin, die Herrn van Schleeten düpiert hatte.“

In Mrs. Bowlbys Gedankennetz trat ein Kurzschluß ein.

„+Eine Schwindlerin!+ Sie haben doch gesagt, daß jemand in
Männerkleidern mit ihm hinaufging?“

„Ja, aber es war doch eine Schwindlerin, Mrs. Bowlby, verkleidet.“

„In Hosen! Da würde ich doch lieber ... Helen, du siehst, wie Frauen
werden können, wenn sie einmal anfangen. Tausendmal ärger als die
Männer. Wer war es, Mr. Cray? Weiß man es? Eine Holländerin?“

„Eine Amerikanerin, Mrs. Bowlby. Schöpfen Sie tief Atem, bevor ich
Ihnen den Namen sage.“

„Sie meinen doch nicht --“

„Ja, allerdings: Mrs. Langtrey!“

Es war offensichtlich, daß Mrs. Bowlby seiner Aufforderung in Bezug auf
das Atmen nachgekommen war, denn der Ruf, den sie ausstieß, ging durch
Mark und Bein.

„Hatte ich also recht, Mr. Cray?!“

„Es sieht so aus, Mrs. Bowlby.“

„So etwas, dieser alte ausschweifende Schwindler läßt sich verlocken,
von einem Frauenzimmer -- Helen, mein Kind, höre nicht zu was wir
sprechen -- in Hosen!“

„Er ist seiner Strafe nicht entgangen, Mrs. Bowlby. Sie hat ihn
chloroformiert und würde alle Juwelen gestohlen haben, wenn wir nicht
rechtzeitig gekommen wären. Nun gelang es ihr zu entkommen, aber
die Juwelen mußte sie im Stiche lassen. Es war ihr Glück, daß dem
Obersten die Hand zitterte. Er hat ihr sechs Schüsse durch das Fenster
nachgeschickt. Aber ich muß gestehen, daß ich ihre Kaltblütigkeit
bewundere, die Strickleiter anzuzünden!“

„Sie sollen nie etwas bewundern, was unmoralisch ist, Mr. Cray. Und um
die Juwelen ist sie also gekommen?“

„Ja, und zum Dank dafür bin ich heute durch Herrn Mirzl von dem Rest
meines Geldes befreit worden.“

„_Now, demmit lively!_ Was sagen Sie?“

Allan beschrieb, was im Bankkontor passiert war. Mrs. Bowlby hörte ihn
mit weit aufgerissenen Augen an. Als er zu Ende war, atmete sie tief
und sagte:

„Ich muß gestehen, dieser Mirzl ... Nein, daß er Langtreys Frau in
die Krallen geraten mußte! Ich bin überzeugt, sie hat ihn auf Abwege
gebracht wie diesen alten Roué von einem Juwelier.“

„Glauben Sie, sie hat ihn mit Chloroform betäubt, Mrs. Bowlby?“

„Eine Frau braucht zu so etwas kein Chloroform. Ich muß sagen, daß ich
diesen Mirzl auf jeden Fall beinahe bewundern muß.“

„Sie sollen nie bewundern, was unmoralisch ...“

„Keine vorlauten Bemerkungen, junger Mann. _Demmit._ Also jetzt
haben Sie es das zweitemal verhindert! Glauben Sie, er wird sich damit
zufrieden geben?“

„Wahrscheinlich ist es nicht. Aber sobald der Maharadscha sich erholt
hat -- die Schnauze in die Luft stecken kann, wie der Oberst sich so
schön ausdrückte -- soll er wieder nach Indien zurückgebracht werden.
Darauf schwor der Oberst. Und dann hat Mirzl keine Chancen mehr.“

Nach dem Lunch unternahm Allan einen Ausflug in das erste Stockwerk.
Aber die schwarze Leibwache versperrte ihm den Weg mit einem
wiedererkennenden Zähneblecken. Vor die Türe, die der Oberst gesprengt
hatte, hatte man eine Draperie gehängt. Allan suchte sich den schwarzen
Kriegern verständlich zu machen, aber sie antworteten nur mit einem
Wort, von dem Allan schließlich begriff, daß es +Oberst+ bedeute.
Der Oberst hatte offenbar allen den Zutritt verboten.

„Lassen Sie mich mit dem Oberst sprechen,“ sagte er.

Sie schüttelten den Kopf und sagten irgend etwas Unverständliches, als
sich im selben Augenblicke eine Türspalte öffnete und ein blasser Kopf
im Turban sichtbar wurde. Es war der alte Ali.

„Verehrungswürdiger Poet,“ rief Allan. „Lassen Sie mich hereinkommen
und Ihnen die Hand drücken! Wie geht es Ihnen? Erinnern Sie sich meiner
nicht aus dem Hause der Tausend Freuden, auch Feuerfresserklub genannt?“

Der alte Hofdichter fuhr sich über die Stirne.

„Das Haus der Tausend Freuden war ein vermummter Eingang zum Palast der
Plagen,“ sagte er. „Es kommt mir nun vor, daß ich mich Ihrer erinnere,
junger Mann. Von Ihnen hat man uns gesprochen! Sie waren es, dem es
gelang, von diesen Söhnen Scheitans zu flüchten und es zu verhüten, daß
die Juwelen meines Schülers gestohlen wurden.“

„Es war meine Wenigkeit,“ sagte Allan.

„Kommen Sie also herein, und seien Sie gesegnet! Nicht so sehr von
mir -- denn was sind wohl Juwelen anderes als farbiger Kies? -- aber
von meinem Schüler, dessen Herz in jugendlicher Torheit von den
vielfarbigen Lichtnebeln dieser Welt erfüllt ist, von denen diese
Steine ein Symbol sind. Beim Propheten, mein Kopf schmerzt. Seit
Jamshyd König von Kaikobad war, hat es einen solchen Rausch nicht
gegeben, der große Richter sei mir gnädig. Kommen Sie herein!“

Allan passierte ein Spalier von Säbeln. Drinnen fand er den Mann, um
den so viele Intrigen gesponnen waren, in derselben Stellung liegen,
wie er ihn zuletzt im Feuerfresser-Klub gesehen, auf einem Diwan
ausgestreckt, aber mit einem bedeutend matteren und weniger freudigem
Lächeln als damals. In der halbgeöffneten Türe zu einem inneren Zimmer
sah er eine Krankenpflegerin. Bei Allans Eintritt hob Yussuf Khan beide
Hände zum Gruß.

„Seid mehr als tausendmal gegrüßt!“ sagte er mit schwacher Stimme.
„Verzeiht mir, daß ich mich nicht erhebe, edelster der Sahibs. Man hat
es mir verboten. Sagt, was Ihr als Belohnung für das, was Ihr an mir
getan, wünschet! Sprecht frei!“

„Wir wollen ein andermal darüber reden,“ sagte Allan, „es ist mehr dem
Zufall als mir zu verdanken, daß den Verbrechern ihr Anschlag mißlungen
ist. Lassen Sie mich lieber hören, was für Abenteuer Ew. Hoheit und
dieser verehrungswürdigste der Dichter, seit wir uns zuletzt sahen,
erlebt haben.“

Der alte Ali sank auf einen Stuhl, nachdem er Allan einen hingestellt
hatte.

„Setzen Sie sich,“ sagte er. „Ich bin, wie mein Schüler, ermattet von
der Behandlung, der die Söhne Scheitans uns unterworfen haben. Nach
dem, was mir Oberst Morrel Sahib sogleich, als ich hier wieder zum
Leben erwachte, anvertraute, habe ich für immer meinen guten Namen und
meinen Ruf verwirkt. Mit Recht sagt der göttliche Zeltmacher von sich
selbst:

  Gurt, Kleid und Seele, alles, was mir teuer,
  Gab ich als Pfand dem Schenken-Ungeheuer.
  Nun denn, so bin ich frei von Furcht und Hoffen
  Und los von Erde, Wasser, Luft und Feuer.

Dasselbe sagte Oberst Morrel Sahib von mir, nur nicht in so melodischer
Sprache wie der göttliche Omar. Ich weiß kaum, was ich erlebt habe,
junger Freund, und noch weniger, was mein Schüler erlebt hat. Von
dem Augenblicke, wo ich ihn mit mildem, freundlichem Lächeln um die
Lippen auf einem Diwan im Hause der Freuden ausgestreckt sah, habe ich
ihn nicht wieder gesehen, bis ich heute die bleischweren Augenlider
in diesem Zimmer aufschlug. Da war ich von weißgekleideten jungen
Frauen umgeben, die mich rieben, so wie der Wucherer sein Gold reibt
und beinahe noch eifriger. Außerdem befanden sich im Zimmer ein
weißgekleideter Hakim (Arzt) und mein Schüler sowie Oberst Morrel
Sahib, der mir sofort sagte, ich sollte geköpft und vor den Stadtmauern
Nasirabads aufgehängt werden, als milde Strafe für meine Untaten, für
die es in der Sprache der Sahibs gar keinen Ausdruck gibt.“

„Wo ist Oberst Morrel jetzt?“ warf Allan ein. Er konnte sich die Suada
des Obersten vorstellen.

„Oberst Morrel Sahib ist ausgegangen, um mit dem Minister für Indien
über wichtige Angelegenheiten zu sprechen, die er uns andeutete. Mein
Schüler und ich, die wir unseren guten Namen und unseren guten Ruf in
dieser Stadt verloren haben, die noch nie von ähnlichen Dingen gehört
hat, sollen so still und verschwiegen als möglich wieder heimgebracht
werden. Das will Oberst Morrel Sahib als eine Gnade vom Minister zu
erwirken trachten, der beabsichtigt hat, uns ohne Turbans und mit
geschorenen Köpfen fortzujagen.“

„Aber erinnern Sie sich an nichts aus dem Feuerfresser-Klub bis heute?“
rief Allan. „Das ist ja drei Tage her!“

„Junger Freund,“ sagte der alte Hofdichter, „ich bin ein rechtgläubiger
Anhänger des Propheten und habe stets getrachtet, mich unbefleckt
von den Irrlehren zu erhalten, die an Nirwana und ähnliche Einfälle
einer irregeleiteten Phantasie glauben. Aber wenn ich an den Zeitraum
zurückdenke, den Sie eben erwähnt haben, fühle ich eine bedauerliche
Neigung zu glauben, daß die Reden dieser Irrlehrer doch etwas für sich
haben, so vollständig erloschen war mein Bewußtsein in dieser Zeit, von
der Sie sagen, daß sie drei Tage währte. Und mein Schüler, den ich nach
seinen Erfahrungen befragt habe, sagt für seine Person das gleiche aus.“

„Das ist wahr,“ kam Yussuf Khans Stimme vom Sofa. „Was mein Lehrer
sagt, ist wahr wie der Koran. Ich erinnere mich an nichts anderes,
als an eine große Dunkelheit, in der ich auf einem unruhigen Meer zu
treiben glaubte und von bösen Träumen gequält wurde. Plötzlich faßte
jemand meine Seele, wie man einen Ertrinkenden faßt, und als ich den
Kopf wieder über das schwarze Meer hob, befand ich mich in diesem
Gemach, umgeben von weißgekleideten Krankenpflegerinnen und einem
weißgekleideten Hakim. Die Verbrecher, die uns in das Haus der Freuden
gelockt und dann entführt haben, konnten, dank Euch, meine Juwelen
nicht stehlen, aber sie stahlen mir drei Tage meines Lebens.“

„Mein Schüler spricht gut,“ sagte der alte Ali bewundernd. „Wenn
ich ihm auch, wie Oberst Morrel Sahib versicherte, ein so schlechtes
Vorbild gewesen bin, daß diese ganze Stadt darüber empört ist und
mich in vier Teile zerstückelt sehen will, merke ich doch, daß es mir
einigermaßen gelungen ist, seinen Sinn für Poesie und Beredsamkeit
auszubilden. Allah -- dessen Name ewig gepriesen sei -- gebührt die
Ehre dafür. Jetzt erinnere ich mich doch an etwas, das ich früher
vergessen hatte. Während meine Seele von dieser Dunkelheit umschlossen
dalag, wie von einem Gefängnis mit unendlich dicken Mauern, rieselte
plötzlich ein kleiner Lichtschimmer durch die Mauer hinein. Wie in
einem Traum, oder so wie man durch dichten Nebel sieht, entsinne ich
mich, daß ich ausgestreckt auf einem Lager lag, ob entkleidet oder
nicht, weiß ich nicht. Nicht weit von mir, auf einem anderen Lager
dünkte es mir, daß mein Schüler sich befand. Gerade als ich diese
Empfindung hatte, glaubte ich zu sehen, daß ein Mann, der über mich
gebeugt dagestanden hatte, von meinem Lager zu dem meines Schülers ging
und sich über ihn beugte, mit einem bösartigen Grinsen, wie es die
Götzenbilder in den Tempeln der Ungläubigen auf ihrem Antlitz tragen.
Und seltsamerweise glaubte ich dicht neben ihm eine Frau zu gewahren.
Doch, was wäre daran seltsam? Wo böse Menschen ihren Versammlungsort
haben, da ist auch das Haus voll Weiber, sagt das Sprichwort, und der
Koran -- der allzeit gepriesen sei -- teilt diese Anschauung.“

„Es ist um so wahrscheinlicher, daß Sie richtig gesehen haben,“ rief
Allan, „als eine Frau in das gestrige Attentat verwickelt war.
Vielleicht haben Se. Hoheit und Sie noch nicht davon gehört?“

Yussuf Khan, der sich lebhaft auf dem Ellbogen aufgerichtet und seinen
Lehrer während seiner Erzählung unverwandt angestarrt hatte, schüttelte
den Kopf, und der alte Ali sagte:

„Oberst Morrel Sahib nahm sich wenig Zeit zu anderem, als mir meinen
Mangel an guten Eigenschaften vorzuhalten, und wie ich ihn sühnen
könnte. Dann eilte er zum Minister, um einen Aufschub der Strafen zu
erwirken, die dieser mir zugedacht hat. Oberst Morrel Sahib hat ein
gutes Herz.“

Ohne dem alten Hofdichter seine Auffassung von Oberst Morrels Maßnahmen
zu rauben, erzählte Allan, was sich am vorhergehenden Abend zugetragen
hatte. Die Libationen des Obersten hüllte er in einen Schleier, aber
machte eine große Nummer aus seiner Attacke gegen die Türe. Die beiden
anderen lauschten ihm wie einem Märchenerzähler im Basar. Allan hatte
kaum zu Ende gesprochen, als im Korridor Schritte ertönten und die Türe
aufgerissen wurde. Es war der Oberst selbst, in Gesellschaft Herrn van
Schleetens. Der alte Ali erhob sich mit ängstlicher Miene von seinem
Sitz.

„Wie ist es abgelaufen, Oberst Morrel Sahib?“ fragte er. „Kann Se.
Exzellenz der Minister uns verzeihen, oder sollen wir wie Pferdediebe
aus der Stadt gejagt werden?“

Oberst Morrel zögerte einen Augenblick mit der Antwort, während er
den Maharadscha und den alten Hofdichter fixierte. Endlich sagte er
mit derselben Langsamkeit wie ein Klassenvorstand, wenn er zu zwei
schlechten Schülern spricht:

„Ich habe ein sehr schweres Stück Arbeit gehabt. Ich fand Se.
Exzellenz, den Minister für Indien, meinen hochgeschätzten Freund“
(Allan erinnerte sich, diesen Herrn von Oberst Morrel anders titulieren
gehört zu haben), „in äußerst erregter Verfassung. Die Ansichten, die
er über das Vorgefallene aussprach, und die ich leider nicht ganz
mißbilligen konnte, die Befürchtungen, die er davor hatte, was man
Allerhöchsten Orts sagen und denken würde; die Kommentare, die leider
in der Presse gemacht werden -- all dies hatte seine Gemütsstimmung
derart beeinflußt, daß ich fürchten mußte, meine Aufgabe würde sich als
unlösbar erweisen. Nur durch Aufgebot meiner ganzen Ueberredungskunst,
nur durch wiederholte Berufung auf unsere alte Freundschaft und nur
indem ich heilig und teuer versprach, daß die Abreise Ew. Hoheit
augenblicklich erfolgen würde, gelang es mir, zu erwirken, daß Se.
Exzellenz ihren Entschluß änderte. Ich kann also mitteilen, daß wir
unbehelligt abreisen dürfen, wenn dies längstens übermorgen geschieht.
Ein Dampfer nach Bombay geht an diesem Tage um drei Uhr ab.“

Während der alte Ali mit einem tiefen Salaam seine Hand zu fassen
suchte, wischte sich der Oberst die Stirne, ermattet von der
Anstrengung seiner Rede, und fuhr in einem völlig veränderten Tone fort:

„Jetzt habe ich für Ew. Hoheit getan, was ich konnte. Nun ist es Ew.
Hoheit Sache, mit diesem Herrn zu tun, was Sie für angemessen finden.
Es hängt von Ihnen ab, was mit ihm geschehen soll.“

Der Maharadscha, der nach der Rede des Obersten in die Hände geklatscht
hatte und eigentümlicherweise gar nicht enttäuscht darüber schien,
Europa so rasch verlassen und alle Träume von weißen Prinzessinnen
aufgeben zu müssen, wendete sich an Herrn van Schleeten.

„Das ist ja der Juwelenkünstler,“ rief er, „wie weit ist die Arbeit an
meinen Steinen gediehen?“

„Ich ... ich habe die Arbeit vorgestern begonnen,“ stammelte Herr van
Schleeten, „mit Erlaubnis des Herrn Obersten ...“

„Mit meiner Erlaubnis, an den Juwelen zu arbeiten,“ schrie der Oberst,
„aber nicht Frauenzimmer heraufzuschleppen, die Sie betäuben und jene
stehlen.“

„Ich ... ich sah mich gestern in die Notwendigkeit versetzt, einen
Mitarbeiter heranzuziehen, um ... um die Arbeit so rasch als möglich zu
Ende zu führen ... so rasch als möglich ... wie Ew. Hoheit wünschten.
Leider fiel meine Wahl auf eine ungeeignete Persönlichkeit, die ...“

„Auf ein Dämchen, in das Sie verliebt waren, das Sie mit Chloroform
betäubte wie in einer Klinik und alles in Bausch und Bogen gestohlen
hätte, wenn nicht der Zufall und dieser junge Herr dazwischengekommen
wäre! Heraus mit der Sprache!“ rief der Oberst. „Bedenken Sie, daß
niemand weiß, wieviel Sie von ihr wußten!“

Herr van Schleeten warf einen wütenden Blick auf Allan, getreu dem
Prinzip, sich über andere zu ärgern, wenn man sich selbst zürnen sollte.

„Es ist ja möglich, daß die Sache sich so verhält, wie der Herr Oberst
sagt,“ murmelte er, „aber diesen jungen Herrn habe ich auf jeden Fall
vor knapp einer Woche auf einem Bahnhof in Deutschland verhaften sehen.
Wer weiß, was er ...“

„Sie sollten sich schämen,“ rief der Oberst, „nun schon zum zweiten
Male mit solchem verdammten Gerede zu kommen. Sie wissen, daß es nur
Gerede ist. Versuchen Sie nicht zu leugnen!“

„Es ist leider kein Gerede, Herr Oberst,“ sagte Allan und berichtete in
wenigen Worten, was er im Expreß erlebt hatte.

„Ich fiel Herrn Mirzls List zum Opfer. Aber was Herr van Schleeten
nicht unerwähnt lassen sollte, ist, daß er bei dieser Gelegenheit die
Bekanntschaft der Dame von gestern Abend machte. Ich war selbst Zeuge
davon. Und daß diese Bekanntschaft in ihrem Plane lag, von Mirzl gar
nicht zu sprechen, ist wohl recht sicher. In der einen oder anderen
Weise haben sie Wind bekommen, welchen Auftrag Herr van Schleeten in
London hatte, und waren entschlossen, alle Möglichkeiten wahrzunehmen.
Herr van Schleeten ging in die Falle, begreiflicherweise, denn die
betreffende Dame spielt ihre Karten geschickt aus und ist ungewöhnlich
schön.“

„Hat sie blaue Augen,“ fragte der Maharadscha „und blondes Haar? Ah,
daß ich sobald nach Indien zurückreisen muß!“ (Oberst Morrel fuhr von
seinem Sessel in die Höhe und starrte ihn an.) „Nein, Oberst Morrel
Sahib, ich reise, beglückt über die Gnade Sr. Exzellenz des Ministers.
Aber ...“

„Und was sagen Ew. Hoheit zu der Affäre mit Herrn van Schleeten?“ sagte
der Oberst wieder beruhigt. „Hoheit wissen, daß man gestern abend eine
Anzahl Juwelen gestohlen hat.“

„Ach, ein paar Juwelen mehr oder weniger!“ sagte Yussuf Khan mit einem
müden, mißmutigen Kopfschütteln. „Ich kam nach Europa, um mein Herz an
eine weiße Frau zu verlieren, wie die Sahibs es tun, und alles, was ich
verloren habe, ist mein guter Name und ein paar Juwelen.“

„Mein Schüler spricht schön,“ sagte der alte Ali befriedigt. „Der
Aufenthalt in dieser Stadt hat ihm in dieser Beziehung merklich gut
getan.“

„Nun, und Herr van Schleeten?“ beharrte der Oberst, der den Holländer
ungerne dem Schandpfahl entgehen sah.

„Ich sage ja,“ sagte Yussuf Khan, „daß ich diesen Juwelenkünstler
beneide, dem es gelungen ist, sein Herz an eine Frau zu verlieren. Ich
habe hundertfünfzig Frauen in meinem Palast, schön wie Gazellen und
zärtlich wie Turteltauben im Lenzmonat, und noch hat keine von ihnen
mich für mehr als eine Stunde bezaubert. Seinen Namen und seinen Ruf
für eine Frau zu wagen wie dieser Mann -- das muß wunderbar sein. Der
Juwelenkünstler hat meine Vergebung und meinen Neid.“

„Wahrlich,“ sagte der alte Ali, „mein Schüler spricht immer besser und
besser! Die Lehren, die ich ihm eingepflanzt habe, tragen späte, aber
schöne Früchte. Es muß der Aufenthalt in dieser Stadt sein, der sie
zur Reife gebracht hat.“

Herr van Schleeten, dessen bordeauxfarbene Nase sich bei Yussuf Khans
Rede, die er als Hohn auffaßte, zornig gerümpft hatte, richtete
sich nach seinen letzten Worten erleichtert auf. Er begann etwas zu
stammeln, aber Yussuf Khan schnitt seine Danksagungen ab, indem er zum
Obersten sagte:

„Nun liegen mir noch zwei Sachen am Herzen, Oberst Morrel Sahib,
erstens, daß eine angemessene Belohnung diesem jungen Mann überreicht
wird, der nun zweimal den listigen Verbrechern zuvorgekommen ist. Wollt
Ihr dies besorgen, da ich der europäischen Gebräuche ungewohnt bin?“

Allan wollte protestieren, aber der Oberst schnitt ihm das Wort ab.

„Eine Weigerung würde den Maharadscha zwecklos verletzen,“ sagte er.
„Was meinen Ew. Hoheit zu einigen der Juwelen, die der junge Mann
gerettet hat? Und was sagen Sie selbst, junger Freund?“

Allan murmelte etwas, und Yussuf Khan klatschte in die Hände.

„Ausgezeichnet! Ausgezeichnet!“ rief er. „Man bringe die Juwelen
herein.“

Eine Minute später durfte Allan zum erstenmal die Juwelen in ihrem
vollen Glanze schauen, die er mitgeholfen hatte, ihrem rechten Besitzer
zu bewahren. Es wäre zu wenig gesagt, daß sie ihm den Atem benahmen.
Etwas Aehnliches hatte er nie gesehen, ja nicht einmal geträumt. Es
war das Morgenland, das ihm aus den Fassetten dieser tausend Steine
entgegenstrahlte, wie durch ein vielfarbiges Fenster. Als er sich
halbwegs erholt hatte, wählte er befangen ein paar einzelne Edelsteine
aus, aber der Maharadscha, in den beim Anblick der Juwelen neues
Leben gekommen zu sein schien, nahm ein Diamantenhalsband mit einem
blutroten Rubin in der Mitte, in einer Goldkettenfassung, die vom Alter
verblichen war, und reichte es Allan.

„Nehmt dies,“ sagte er, „wenn Ihr wollt. Es ist ein unwürdiger Beweis
meiner Dankbarkeit.“

„Es gehörte einmal,“ schaltete der alte Ali ein, „Mahmud, Sultan von
Naishapur, an dessen Hof der göttliche Zeltmacher lebte. Vielleicht
hat er es am Halse einer der Favoritinnen des Sultans bewundert und
vielleicht besang er dieses Diadem mit den Worten ...“

„Ja, ja! Vortrefflich!“ sagte der Oberst. „Und die andere Sache, die
Ew. Hoheit wünschten?“

Es war klar, daß der Oberst die Poesie des göttlichen Zeltmachers
nicht im gleichen Grade liebte wie der alte Ali, und auch, daß er in
glänzender Laune war, nun er die Abreise gesichert sah. Yussuf Khan
erwiderte:

„Die andere Sache war, daß ich gerne mit dem Mann sprechen möchte, der
diese Karawanserei innehat ... wenn er kommt, werde ich schon erklären,
warum. Wollt Ihr ihn rufen lassen, Oberst Morrel Sahib?“

Mit wieder unruhigem Gesichtsausdruck klingelte der Oberst; ein paar
Minuten später erschien der Direktor des großen Hotels, von einem
Angestellten gerufen. Er begann den Maharadscha zu seiner Genesung zu
beglückwünschen. Der Oberst unterbrach ihn:

„Se. Hoheit mit Gefolge reist übermorgen, Herr Direktor!“

Der Direktor schlug einen dankbaren Blick zur Höhe auf, während er sich
verbeugte.

„Nicht so eilig, Oberst Morrel Sahib!“ sagte Yussuf Khan. Der Direktor
blieb erschrocken in seiner Verbeugung stecken. „Nicht so eilig! Wir
reisen übermorgen, Dank der Gnade Sr. Exzellenz des Ministers, aber
vorher wünsche ich noch etwas.“

Er wendete sich an den Direktor:

„Zweifelsohne habt Ihr einen Saal, wo Festlichkeiten abgehalten werden?
Einen Saal mit Raum für viele, so wie ich ihn in dem Hause der Freuden
sah?“

Der Direktor bejahte es.

„Gut. Hört also meinen Willen. Dieser Saal soll für morgen abend zu
einem Feste bereitet werden, und alles soll dem, was wir in Indien
haben, so ähnlich als möglich sein. Da ich nicht mehr von dem Lande der
Sahibs sehen kann, will ich den Sahibs mein eigenes Land zeigen. Darum
ist es mein Wille, daß alles dem, was wir in meinem Lande haben, so
ähnlich als möglich sein soll.“

Der Direktor verbeugte sich tief.

„Zu diesem Feste,“ fuhr Yussuf Khan fort, „das so festlich sein soll
wie die Vermählung eines Maharadschas, ist es mein Wille, daß alle
jene eingeladen werden, die in der Zeit, die ich hier war, unangenehme
Erlebnisse gehabt haben.“

Er machte eine Geste, die sämtliche Anwesende umfaßte; Allan murmelte
dem Obersten zu:

„Dann müßten Bowlbys mit dabei sein.“

„Was sagte der junge Mann?“ fragte Yussuf Khan.

„Er meinte, daß eine amerikanische Familie, aus deren Wohnung das erste
Attentat unternommen wurde, eingeladen werden sollte,“ sagte der Oberst.

„Sie soll eingeladen werden,“ sagte Yussuf Khan ohne Zögern. „Und
dieser Mann, dem die Karawanserei gehört?“

Der Direktor erklärte mit einer Verbeugung, daß es ihm erstens
unmöglich sei, in seinem eigenen Hotel zu Gast zu sein, daß er sich
zweitens undenkbar zu der Kategorie von Personen rechnen könne, die
durch die Anwesenheit Sr. Hoheit Unannehmlichkeiten gehabt hatten. Die
Anwesenheit Sr. Hoheit im Hotel habe im Gegenteil ...

Yussuf Khan unterbrach ihn mit einer Handbewegung. Der Oberst warf
knurrig ein:

„Und Herr van Schleeten?“

„Natürlich auch der Juwelenkünstler,“ sagte Yussuf Khan. „Von allen
beneidet soll der Mann an der festlichen Tafel sitzen, der sein Herz an
eine Frau verlieren konnte.“

Herr van Schleeten verbeugte sich, ohne daß besondere Freude über
die Rolle, die ihm bei der Festtafel zugedacht war, sich auf seiner
bordeauxfarbenen Nase spiegelte. Der alte Ali rief hingegen:

„Mein Schüler spricht immer besser und poetischer! Der Aufenthalt in
dieser Stadt, die wir Dank Oberst Morrel Sahib mit unversehrtem Turban
und ungeschorenem Kopfe verlassen dürfen; hat ihm in dieser Beziehung
wunderbar gut getan.“



XI

Das vielleicht seine Aufgabe erfüllt, den Leser zu verwirren


In der Ziegelwüste des nordwestlichen Londons liegt, nicht weit von
Maida Vale, ein Ziegelkanon Chesterton Mansions genannt. Tatsächlich
erinnert er mit seinen steilen hohen Ziegelmauern an nichts so sehr wie
an die berühmten Schluchten, die sich die Flüsse im Westen Amerikas
gegraben haben. Warum er die Bezeichnung Mansions führt, ist unbekannt;
im allgemeinen pflegt dieses Wort anzudeuten, daß eine Straße mit
Bäumen bepflanzt ist; aber wenn das bei Chesterton Mansions einstmals
der Fall war, so ist jetzt nur mehr der Name als einziges Rudiment
übrig. Die siebenstöckigen Häuser der Straße sind in Mietwohnungen
geteilt, zwei in jedem Stockwerk, so wie man es bei uns zulande kennt,
aber wie es in England etwas relativ Neues ist. Da der Ruf der Straße
nicht der beste ist, stehen oft eine Menge Wohnungen leer. In jenem
September, in dem die Ereignisse dieses Buches sich abspielten, stand
beispielsweise das Haus Nr. 48, das die Mietwohnungen Nr. 659-672
enthält, noch am 11. September leer. Am 12. fand sich jedoch ein Herr
beim Hausverwalter ein, stellte sich als Baron de Citrac vor und
wünschte eine so ungestörte Wohnung als möglich zu mieten. Er sei
wissenschaftlicher Arbeiten wegen nach London gekommen und bringe seine
Frau mit, für die er am liebsten eine separate Wohnung gegenüber seiner
eigenen haben wolle. Der Häuserverwalter Mr. Markham, beeilte sich,
ihm das Haus Nr. 48 zu zeigen. Der Baron entschied sich sofort für
die Wohnungen Nr. 661-662 im ersten Stock, bezahlte im vorhinein und
bat den Verwalter, ein einfaches, aber solides Ameublement für beide
Wohnungen zu beschaffen. Er drückte seine Anerkennung für Mr. Markhams
Entgegenkommen durch eine Fünfpfundnote aus, die Mr. Markham zu seinem
Sklaven machte, und nahm dann Abschied.

Montag, den 15., zog er ein. Der Verwalter war selbst zugegen, und
fand Gelegenheit, seine Meinung über den neuen Mieter in einem Punkte
zu ändern. Die Reden des Barons von wissenschaftlichen Arbeiten
hatte er nur als einen durchsichtigen Vorwand für etwas ganz anderes
aufgefaßt, worin die Franzosen eine traurige Berühmtheit besitzen und
dem auch Chesterton Mansions nicht fremd war: eine Eskapade mit einer
nicht offiziellen Baronin. Er gab den Glauben daran auf, als er die
Baronin de Citrac erblickte; denn gewiß war sie schön und pikant, mit
grauen Augen und rotblondem Haar, aber dabei sah sie so vornehm aus,
daß der Verwalter die ganze Zeit, die sie da war, mit dem Hute in der
Hand dastand. Der Baron, der zwei Diener mit hatte, drückte seine
Zufriedenheit mit der Möblierung der Wohnungen aus und verabschiedete
den Verwalter.

Es dauerte bis zum 16., bevor dieser den neuen Mieter wiedersah, denn
er wohnte selbst in einer Quergasse; aber als dies geschah, war es
unter Umständen, die ihn aufs neue an dem Ernst von Herrn de Citracs
wissenschaftlichen Studien zweifeln ließen. Mr. Markham war am Abend
des 15. Septembers in einer Gesellschaft gewesen, die sich bedenklich
in die Länge gezogen hatte; ein Freund von ihm, der Junggeselle war
und ein Geschäft in einer Quergasse von Chesterton Mansions hatte,
hatte ihn zu einer Geburtstagsfeier eingeladen. Diese hatte im „Roten
Löwen“ in Maida Vale begonnen und war nach Schließung dieses populären
Lokales in der Junggesellenwohnung des Freundes fortgesetzt worden.
Die Haupterfrischung war irländischer Whisky gewesen, und Mr. Markham
war sich des Einflusses dieses Getränkes auf die Balancierfähigkeit
ganz bewußt, als er gegen halb vier Uhr morgens heimwanderte. Er nahm
den Weg durch Chesterton Mansions aus dem Grunde, weil diese Straße
eine unerklärliche Anziehung auf seine Beine auszuüben schien, doch
ohne daß diese irgendwelche Parteilichkeit für eine bestimmte Seite
derselben zeigten; und er hatte sich eben an einem Laternenpfahl auf
dem linken Trottoir verankert, als die Nachtruhe von etwas anderem als
dem Trommelwirbel, den seine Stöckel auf dem Pflaster vollführten,
unterbrochen wurde. Ein Auto kam nach Chesterton Mansions gesaust und
hielt vor dem Hause gegenüber von Mr. Markhams Laternenpfahl. Mr.
Markhams irrender Blick hatte soeben konstatiert, daß es das Haus Nr.
48 war. Jetzt sah er zwei Herren mit aufgestellten Rockkragen aus dem
Auto steigen und mit großer Anstrengung zwei andere herausheben,
die in beträchtlich schlimmerer Verfassung schienen als Mr. Markham
selbst. Sie konnten faktisch nicht auf den Beinen stehen. Mr. Markham
glaubte zu sehen, daß sie in irgendein exzentrisches Kostüm gekleidet
waren. Der Kontrast zwischen den Evolutionen der vier Herren und seiner
eigenen sicheren Position am Laternenpfahl erfüllte ihn mit einer
Befriedigung, die in einem herzlichen Lachen Ausdruck fand.

„Mi--mir scheint, die haben g--genug,“ sagte Mr. Markham.

Die Laterne, unter der Mr. Markham stand, war ausgelöscht, und Mr.
Markham erregte daher nicht die Aufmerksamkeit der vier Herren.
Jetzt sprang der Chauffeur ab und übernahm den einen der beiden
übererfrischten Herren, während einer der Herren, die zuerst
ausgestiegen waren, das Haustor von Nr. 48 öffnete. Der Mann, den der
Chauffeur stützte, fiel seinem Helfer in die Arme, und verlor dabei
einen weißen Turban, der auf das Trottoir rollte.

„Der ist wohl auf einem Ma--maskenball gewesen,“ sagte Mr. Markham.
„Mir scheint, der hat genug. Und jetzt trei--treiben sie es, scheint
mir, noch weiter!“

Jetzt öffnete sich die Haustüre, und ein mühsamer Transport begann,
dem Mr. Markham unter großer Heiterkeit zusah. Schließlich kehrte der
Chauffeur allein zurück, schloß das Tor und fuhr im Auto fort, ohne Mr.
Markham gesehen zu haben.

„De--der wird sich auch ein schönes Trinkgeld verdient haben,“ murmelte
Mr. Markham mit einem verständnisvollen Lächeln und löste sich von dem
Laternenpfahl los. Er erreichte die nächste Straßenecke, wo er sich
wieder verankerte, um einem Gedanken Luft zu machen, der sich in seinem
Innern emporgearbeitet hatte.

„Nummer ach--achtundvierzig, hol mich der und jener!“ brummte Mr.
Markham. „Die Wohnung des B--barons. Die einzige, die vermietet
ist! Wissenschaftliche Arbeiten, hahaha! Go--gott helfe mir,
wissenschaftliche Arbeiten!“

Er gewann diesem Gedanken alle Ergötzlichkeit ab, die er bot, bevor
er den Laternenpfahl wieder losließ und seinen unsicheren Heimweg
fortsetzte.

Mr. Markhams Gedächtnis war von jener beneidenswerten Sorte, die auch
an einem Morgen nach irländischem Whisky funktioniert. Er erinnerte
sich folglich am nächsten Morgen an die vier Herren, die er in das Haus
Nr. 48 gehen gesehen hatte; und in der Morgenbeleuchtung erschien ihm
dieser Vorfall nicht ganz so ausschließlich humoristisch wie in der
Nacht. Nur der Chauffeur war wieder aus dem Hause herausgekommen; waren
also die drei Herren die Nacht über beim Baron geblieben? Dann hatten
sie sicherlich Lärm gemacht und die Nachtruhe der Nachbarn gestört. Mr.
Markham machte einen Vormittagsbesuch in Nr. 46, um sich beim Nachbar
des Barons darnach zu erkundigen.

Dieser war ein jüdischer Geldverleiher, der immer mit der Sonne
aufstand, um soviel als möglich aus seinem fragwürdigen Beruf
herauszuschlagen. An diesem Morgen war er schon seit halb sechs Uhr
auf, wie er Mr. Markham erklärte, aber durchaus nicht infolge von Lärm
im Nebenhause. Er hatte im Gegenteil kaum einen Laut von dort gehört;
aber gegen sechs Uhr hatte er einen Herrn mit aufgestelltem Rockkragen
Nr. 48 verlassen und die Sutherland Avenue hinuntergehen sehen.

„Einen?“ fragte Mr. Markham, „nur einen, Herr Streptowitz?“

„Nur einen,“ bestätigte Herr Streptowitz mit dem melancholischen
Tonfall, den seine Stimme bei der Erwähnung so geringfügiger Zahlen
annahm.

„Nur einer!“ wiederholte Mr. Markham. „Aber ich sah doch vier
hineingehen, und da müßten wohl drei wieder herausgekommen sein, wenn
der eine der vier der Baron war!“

„Die andern zwei Herren sind wohl vorangegangen,“ sagte Mr.
Streptowitz, so melancholisch, als wollte er andeuten, daß die beiden
Herren in eine andere Welt gegangen seien.

Mr. Markham gab zu, daß dies wahrscheinlich sei, und verabschiedete
sich.

Am selben Nachmittag sah er den Baron und die Baronin. Sie standen im
Stiegenhaus vor der offenen Türe ihrer Wohnung und sprachen eifrig mit
gesenkter Stimme. Mr. Markham, der die Treppen hinaufkam, um die leeren
Wohnungen zu besichtigen und seiner Gewohnheit gemäß in Gummischuhen
ging, kam in Hörweite, ohne daß sie ihn bemerkten. Er fing einige Worte
des Barons auf:

„Der verdammte schwedische Schlingel! Diese Nacht gehörte ihm, aber
übermorgen gedenke ich durch dich Revanche zu nehmen ...“ Er erblickte
Mr. Markham und verstummte plötzlich.

Mr. Markham, der innerlich zu der Schlußfolgerung gelangt war, daß der
eine der Teilnehmer an der Orgie der Nacht -- vermutlich der Herr mit
dem Turban -- ein Schwede war und offenbar seinen Gastgebern lästig
geworden war, lächelte dem Baron diskret zu, während er grüßte. Er
wollte eben eine feine Anspielung machen, um zu zeigen, daß er von den
wissenschaftlichen Studien seines Mieters wußte, was er wußte, aber sah
aus Respekt vor der Baronin davon ab.

Es dauerte bis Freitag, den 19. September, ehe er Anlaß hatte, wieder
an die Herrschaften in Nr. 48 zu denken. Früh am Vormittag dieses Tages
ging er an Mr. Streptowitz’ Wohnung vorbei. Dieser Herr stand in der
Türe und rauchte in Hemdärmeln eine Pfeife. Als er Mr. Markham sah,
nahm er die Pfeife aus dem Mund und winkte ihm.

„Jetzt sind die aus Nr. 48 abgereist,“ sagte er mit betrübter Stimme.

„Abgereist? Der Baron ist abgereist?“ stammelte Mr. Markham.

„Das weiß ich nicht, aber die zwei Herren, von denen Sie dieser Tage
sagten, daß sie Ihnen fehlten.“

„Was meinen Sie, Mr. Streptowitz?“

„Die zwei Herren, die dieser Tage fehlten. Sie sagten doch, Sie hätten
drei fremde Herren hineingehen sehen, und ich sah nur einen wieder
fortgehen. Heute morgens um halb fünf Uhr, als ich mich ankleidete, sah
ich sie in einem Auto in Gesellschaft eines anderen Herrn fortfahren.
Sie sahen aus wie Inder und wie schwer betrunken. Es war noch kaum
taghell. Ich stehe am Freitag immer so früh auf, weil die Leute für den
Sabbath Geld brauchen.“

„Inder und bis jetzt da!“ rief Mr. Markham, „und um halb fünf Uhr früh
schwer betrunken! Das ist ja unanständig, Mr. Streptowitz.“

„Das ist es auch,“ gab Mr. Streptowitz mit einem etwas freudigerem
Tonfall zu. „Um fünf Uhr soll man aufstehen und arbeiten, und nicht
betrunken sein. Was macht denn der Baron auf Nr. 48?“

„Er studiert!“ rief Mr. Markham mit einem schrillen Lachen. „Studiert
die Wissenschaften, Streptowitz! Gott helfe mir, die Wissenschaften!“

„Das ist traurig,“ sagte Mr. Streptowitz, „sehr traurig. Sie werden
schon sehen, bei dem kommt noch etwas Merkwürdiges heraus, Mr. Markham.“

Mr. Markham, der sich an seine Fünfpfundnote erinnerte, erklärte
energisch, seine Mieter stünden hoch über jedem Verdacht.

Am selben Tage etwas später führte ihn sein Weg zum Baron. Chesterton
Mansions war bis jetzt nur mit Gas versehen gewesen; nun war die
Rede davon, Elektrizität einzuführen, wenn die Mieter sich dafür
aussprachen. Mr. Markham klingelte beim Baron an, um sich zu
erkundigen. In der Wohnung reagierte niemand darauf. Mr. Markham
klingelte bei der Baronin an. Zu seinem Staunen kam sie selbst und
öffnete. Sie machte nur einen kleinen Spalt der Türe auf, um zu sehen,
wer da war. Sie sah etwas übernächtig aus, ihre grauen Augen waren
nicht so ruhig und kalt wie sonst, und Mr. Markham bemerkte, daß sie
Ringe unter denselben hatte. Mr. Markham brachte sein Anliegen vor und
sagte, daß er schon an der Wohnung ihres Mannes geklingelt habe.

„Mein Mann ist ausgegangen,“ sagte sie kurz, aber verbesserte sich
sofort: „verreist, meine ich. Nach Oxford, seiner Arbeit wegen.“

Mr. Markham, der sich an Mr. Streptowitz’ Erzählung von den drei Herren
erinnerte, die am Morgen abgereist waren, starrte sie an und machte
seiner Neugierde Luft.

„Hat der Baron Besuch gehabt?“ fragte er.

Sie zog die Augenbrauen zusammen.

„Was meinen Sie?“

„Jemand hat heute morgens zu sehr früher Stunde drei Herren abreisen
sehen,“ stammelte Mr. Markham.

Die Baronin sah ihm fest in die Augen.

„Der Baron ist heute früh mit seinen zwei Dienern abgereist,“ sagte
sie kurz. „Ich bin bis morgen allein in der Wohnung, aber seien Sie
so gut und lassen Sie das nicht bekannt werden. Eine Dame allein kann
Unannehmlichkeiten haben.“

„Und die Elektrizität?“ murmelte Mr. Markham mit einer demütigen
Verbeugung.

„Hat Zeit, bis der Baron in ein oder zwei Tagen wiederkommt. Guten
Abend.“

Sie schloß die Türe artig, aber bestimmt Mr. Markham vor der Nase zu.
Dieser blieb stehen und starrte die Türe an, und plötzlich zuckte er
zusammen. Er hätte es nicht beschwören können -- aber war das nicht
eine Männerstimme, die er drinnen aus der Wohnung gehört hatte, in der
die Baronin +allein+ war? Nur einen Augenblick, dann war es wieder
still ... Mr. Markham machte einer ententefeindlichen Ansicht über die
Moral der Franzosen Luft und ging, indem er murmelte:

„Streptowitz hat recht, das ist bestimmt eine merkwürdige Gesellschaft,
die hier auf Nr. 48.“

Hätte Mr. Markham die Gabe gehabt, in dem Augenblicke, in dem er diese
Aeußerung machte, durch die geschlossene Türe zu sehen, wäre sie noch
berechtigter gewesen. Mr. Markhams Ohren hatten ihn nicht getäuscht; es
war eine Männerstimme, die er soeben aus der Wohnung der Baronin gehört
hatte, und was sie gesagt hatte, war:

„Wer war das? Der Verbrecherkönig?“

Die Stimme kam von einem jungen Manne, der auf einem Diwan lag. Er
war von bräunlicher Gesichtsfarbe mit einem kurzen Schnurrbart, nicht
ohne Spuren von Wohlleben, und seine Augen waren von schwarzen Ringen
umgeben, die ebenso gut von Wohlleben wie von Entbehrungen stammen
konnten. Denn der junge Mann, der auf dem Diwan lag, war an Händen und
Füßen gebunden und wurde außerdem durch einen losen Gürtel über der
Brust an dem Diwan festgehalten. Die Baronin hatte sich ruhig in einem
Fauteuil niedergelassen; der Gefangene auf dem Diwan wiederholte seine
Frage:

„War das Euer Gatte, der Verbrecherkönig?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Sie sind beharrlich in Ihrer Ausdrucksweise,“ sagte sie. „Wie oft
soll ich Ihnen noch sagen, daß der Mann, den Sie den Verbrecherkönig
nennen, nicht mein Gatte ist?“

„Aber ihr wohnt doch hier zusammen?“

„Nein, sage ich Ihnen. Wir haben jeder unsere Wohnung. Die seine liegt
meiner gegenüber, und der jetzt angeläutet hat, war der Mann, der
die Wohnungen vermietet. Er hatte eine Anfrage. Sind Sie jetzt nicht
durstig? Soll ich Ihnen Zitrone und Wasser geben?“

Der Gefangene auf dem Diwan runzelte heftig die Stirne.

„Ich nehme ebenso wenig von Euch etwas an, wie von ihm, von dem Ihr
behauptet, daß er nicht Euer Gatte ist,“ sagte er.

Seine Stimme zitterte vor unterdrückter Empörung.

„Ihr beide habt unauslöschliche Schmach auf meinen Namen gehäuft und
die Pläne ganz durchkreuzt, um deretwillen ich in diesen Weltteil
gekommen bin, der ewig verflucht sein möge.“

„Aber ich sage Ihnen, es dauert mindestens zwei Tage, bis Sie frei
werden. Sie werden verhungern oder verdursten.“

„Lieber das, als etwas von Euch annehmen.“

Dies junge Frau neigte den Kopf.

„Wie Sie wollen,“ sagte sie. „Vielleicht können Sie zwei Tage leben,
ohne sich so tief zu demütigen. Die Menschen in Ihrem Lande können sich
ja sogar lebend begraben lassen ohne zu sterben. Im übrigen müßte ja
Zitrone und Wasser nicht als Salz und Brot gelten.“

Der Gefangene lag mit geschlossenen Augen da, ohne zu antworten. Sie
fuhr langsam wie für sich selbst fort:

„Als Sie vor einigen Stunden zum Bewußtsein erwachten, tranken Sie zwei
ganze Gläser, die Ihnen gut zu tun schienen.“

Er öffnete die Augen und starrte sie an.

„Ist das wahr, oder lügt Ihr, um mich in einer Falle zu fangen?“

„Ich bin eine Abenteurerin, aber ich lüge Sie nicht an. Nicht einmal,
um Sie in eine Falle zu locken.“

Er starrte sie an ohne zu antworten. Endlich sagte er:

„Eine Abenteurerin? Was ist das?“

Sie zog die Augenbrauen empor.

„Wie soll ich es Ihnen sagen? Ich war verheiratet, mein Mann starb, ich
war des Lebens, das ich kannte, müde und zog aus, um etwas Neues kennen
zu lernen.“

„Und Ihr fandet es?“ Seine Stimme war eifrig, aber ohne die frühere
Erregung.

„Ich fand wenigstens eine neue Sorte von Mann,“ sagte sie.

„Wen? Den Verbrecherkönig?“

„Ja. Er glich keinem anderen Mann, den ich getroffen hatte. Er beging
Torheiten, die ihm das Leben und die Freiheit kosten konnten, um einer
Laune willen, und er konnte den Gewinn um einer Laune willen hinwerfen,
die törichter war, als andere Menschen es sich auch nur träumen lassen
können.“

Der Gefangene auf dem Diwan starrte vor sich hin und murmelte:

„Auch ich war des Lebens, das ich kannte, müde und zog aus, um etwas
Neues zu suchen, das ich nicht kannte.“

Sie lächelte.

„Aber das haben Sie ja unleugbar gefunden!“

„Was ich suchte, war ein Weib, dessengleichen ich noch nie gesehen.“

Sie lächelte wieder.

„Und ich suchte einen solchen Mann, vermute ich!“

Er starrte sie verachtungsvoll an.

„Und Ihr begnügtet Euch mit einem Verbrecherkönig!“

„Es gilt König auf irgendeinem Gebiete zu sein,“ sagte sie.

„Und Ihr, die Ihr es verdient, Königin, wo es auch sein mag, zu sein,
entscheidet Euch dafür, die Königin der Verbrecher zu sein. Beim
Propheten, ich kann meinen Sinnen nicht glauben.“

„Sie sind artig gegen mich,“ sagte sie. „Sie würden es vermutlich nicht
sein, wenn ich Ihnen sagte, daß ich mich nicht wie andere Königinnen
damit begnüge, den König regieren zu lassen. Heute nacht unternahm ich
einen Versuch, das zu tun, was dem König vor drei Tagen mißlungen ist.
Sie haben schon selbst herausgefunden, warum Sie hier sind.“

„Einer Anzahl farbiger Steine wegen; die weißen Sahibs denken nie an
etwas anderes als an Gewinn.“

„Einer Anzahl recht ungewöhnlicher, farbiger Steine wegen,“ wendete sie
ein. „Aber farbig oder nicht farbig hätten sie für mich nur durch das
Bewußtsein Wert gehabt, daß mir gelungen ist, was dem König mißlang.“

„Eurem Gemahl! Dem Mann, den Ihr liebt!“

„Nein, sage ich Ihnen!“ Sie stampfte mit ihrem schwarzen Samtschuh auf
den Boden, „ein Bewerber um meine Hand. Nichts anderes. Lassen Sie mich
erzählen, was er und was ich getan haben, und sagen Sie mir, wer bisher
des Throns würdiger ist.“

Indem sie ihre Finger miteinander verschlang und hie und da nach der
Sonne sah, die hinter dem Ziegelhorizont von Chesterton Mansions
verschwand und ihr Haar zu einer goldroten Krone machte, begann sie
zu sprechen. Der Gefangene auf dem Diwan hörte ihr schweigend zu,
während der Blick seiner Augen die ganze Skala von Verachtung bis
zum Enthusiasmus durchlief. Nach einiger Zeit verstummte sie und sah
ihn an, die Augenbrauen über ihren grauen Augen fragend gehoben. Er
schwieg, dann sagte er langsam:

„Und alles wegen ein paar farbiger Steine! Wäre ich frei, sie wären in
diesem Augenblicke die Euren.“

Sie richtete sich ein wenig auf.

„Meinen Sie, was Sie sagen?“ fragte sie. „Könnten Sie Juwelen, die in
Geld gar nicht zu schätzen sind, einem Wesen schenken, das alles dazu
getan hat, Sie derselben zu berauben? Ach, Sie sprechen wie andere
Männer -- der schönen Worte wegen.“

Er sah sie mit einem intensiven und zugleich müden Blick an.

„Ihr könnt so etwas nicht für möglich halten,“ sagte er, „seid Ihr
doch eine aus dem Volke der Sahibs. In meinem Lande werden Reichtum
und edle Steine nur für das geschätzt, was sie sind, und was ein Mann
leistet, gilt alles. Aber Ihr seid aus dem Volke der Sahibs, und Euch
scheint es undenkbar, daß ich aus einer Laune etwas wegwerfe, was für
Euch Ziel und Zweck des Lebens ist.“

Sie erhob sich aus ihrem Fauteuil und glitt zu dem Diwan, auf dem er
lag.

„Was würden Sie tun, wenn ich jetzt Ihre Bande löste?“ sagte sie.

Er sah sie mit derselben Ruhe im Blick an.

„Mein Versprechen lockt Euch?“ sagte er. „Ihr wollt sehen, ob eines
Königs Wort auch eines Königs Wort ist, wenn es sich um hundertfünfzig
Juwelen handelt?“

In ihren Augen blitzte es auf, und sie machte zwei Schritte zurück.

„Sie könnten mir die Steine jetzt geben, und ich würde sie Ihnen ins
Gesicht werfen,“ sagte sie. „Wenn es mir heute nacht gelungen wäre,
mich Ihrer Juwelen zu bemächtigen, für deren Besitz ich viele hundert
Meilen gereist bin, ich würde dasselbe damit tun. Sie können mir aufs
Wort glauben. So sehr Sie König sind, bin ich Königin.“

Er machte einen Versuch, sich auf dem Diwan aufzurichten, aber wurde
von den Banden gehindert und sank zurück. Er starrte sie lange und
unverwandt an, wie um sich von dem Gehalt ihrer Worte zu überzeugen.
Sie hielt stand und betrachtete ihn mit demselben Licht in den Pupillen
und derselben leichtgeschürzten Oberlippe. Endlich sagte er langsam und
beinahe demütig:

„Ich bin blind gewesen. Verzeiht! Ihr seid das, was Ihr sagtet, und
meine Kehle ist trockener als eine Wüste. Aus Eurer Hand empfange ich
alles, was sie gibt, wie der Bettler eine Gabe.“

Sie zuckte zusammen; ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln, und sie
eilte durch das Zimmer zu einem Tisch mit Gläsern und Flaschen. Nach
einem Augenblick war sie wieder bei ihm, mit einem Glas, dessen Inhalt
er auf einen Zug austrank. Er sank auf den Diwan zurück, sie zog den
Fauteuil etwas näher heran und setzte sich. Sie maßen einander noch
immer mit den Blicken, und schließlich sagte er:

„Erzählt mir noch mehr aus Eurem Leben. Seid Ihr wirklich mehrere
hundert Meilen gefahren, um meine Juwelen zu erringen? Ohne sie auch
nur um ihres Geldwertes willen zu begehren?“

Sie neigte den Kopf.

„Mich dünkt,“ sagte er langsam, „als wäre ich einen noch weiteren Weg
gepilgert, oh Maharaneeh, um Euch zu begegnen.“

                               *       *
                                   *

Am Nachmittag des nächsten Tages, als Mr. Markham bei der Baronin und
dem Baron anklingelte, meldete sich niemand. Mr. Markham stürzte zu Mr.
Streptowitz hinauf. Dieser nickte bestätigend.

„Jawohl, sie ist abgereist. Ich habe sie selbst gesehen. Aber sie war
nicht allein!“

„Nicht allein? War sie in Gesellschaft des Barons?“

„Nein,“ sagte Mr. Streptowitz, „sie war mit einem Hindu. Das Haus muß
voller Hindu sein. Ich bin überzeugt, das sind Anarchisten. Und dieser
Hindu und die Baronin lächelten sich an wie ein verliebtes Paar.“

Und das war das letzte, was Chesterton Mansions von dem freiherrlichen
Paar de Citrac sah.



XII

Ein Fest und sein Abschluß


Allan fiel der Auftrag zu, Yussuf Khans Einladung der Familie Bowlby
zu übermitteln, einerseits, weil der Maharadscha und der alte Ali
noch nicht fest genug auf den Füßen standen, um die fürstliche Suite
zu verlassen, andererseits, weil Allan als persönlicher Freund der
amerikanischen Familie sich für den Auftrag am besten eignete. Er
machte folglich am selben Abend einen Besuch bei ihnen und überbrachte
die Einladung.

Eine Debatte folgte. Mrs. Bowlby hatte ihn kaum bis zu Ende gehört, als
sie von ihrem Sessel aufsprang und erklärte, was sie alles eher sein
wollte, als zu einer solchen Veranstaltung zu gehen.

„Glauben Sie, ich durchschaue ihn nicht? Er will sich durch uns
rehabilitieren, nachdem er durch den heutigen Skandal in aller Leute
Mund gekommen ist! Das will er!“

„Aber er reist doch übermorgen ab, Mrs. Bowlby.“

„Und was wird nun mit der Prinzessin, um die er werben wollte?“

„Das muß er aufgeben, und ehrlich gestanden, schien er es ungewöhnlich
leicht zu nehmen. Ich hatte Proteste erwartet, aber der Oberst hatte
ihn sofort umgestimmt. Das einzige, was er in dieser Richtung sagte,
war, daß er Herrn van Schleeten beneide, dem es gelungen sei, sein Herz
an ein Weib zu verlieren. Das habe er selbst nie zustande gebracht,
obwohl er hundertfünfzig hat, die es ihm stehlen wollen.“

„Das ist wieder echt männlich, ha! Dasitzen und mit seinen Erfolgen bei
den armen Geschöpfen und seiner eigenen Gleichgültigkeit zu prahlen! Er
sollte hundertfünfzig Rutenstreiche auf die Fußsohlen haben, das sollte
er!“

„Sie wollen also nicht kommen, Mrs. Bowlby?“

„Da ginge ich noch eher in das Lokal, wo er und Sie sich kürzlich
herumgetrieben haben.“

„Ich werde Se. Hoheit bitten, den Schauplatz dorthin zu verlegen.“

„Keine Keckheiten, _demmit_, junger Freund. Helen, mein Kind, ich
hoffe, du hast auch +keinen Augenblick+ Lust gehabt, zu gehen?“

„Ich ginge gerne, Mama, furchtbar gerne.“

„Und ich gedenke, zu gehen, wenn niemand anderer sich entschließt,“
sagte Mr. Bowlby.

Mrs. Bowlby konnte nur einen ganz kurzen Entsetzensschrei ausstoßen,
als Allan auch schon diplomatisch etwas aus der Tasche zog -- das
Halsband, das er am selben Nachmittag von Yussuf Khan erhalten hatte.
Mrs. Bowlby blieb ihr Schrei in der Kehle stecken.

„Mr. Cray! +Wo+ haben Sie das aufgegabelt? Mirzl hat doch Ihr Geld
gestohlen!“

„Das Geld, von dem Mirzl mich befreit hat, hätte nicht einmal gelangt,
um die Goldeinfassung dieser Steine zu bezahlen, Mrs. Bowlby. Ich bekam
dies heute nachmittag vom Maharadscha als geringen Dank dafür, daß es
mir zweimal gelang, Mirzl und seiner Bande zuvorzukommen. Wollen Sie es
ansehen?“

Mrs. Bowlbys Arm schnellte gierig und diebisch vor, wie die Klaue eines
Papageis. Sie ließ die Juwelen durch ihre Finger rinnen.

„Wunderbar,“ flüsterte sie. „Und das haben Sie von ihm bekommen? Und
Sie haben seine anderen Juwelen gesehen?“

„Ich habe das von ihm bekommen. Es hat einmal einem persischen Sultan
gehört, sagte der alte Ali. Der Maharadscha hat es mir ausgewählt.
Selbst hätte ich ein Jahr gebraucht, um unter seinen Juwelen eine Wahl
zu treffen. Das einzige, was ich zu nehmen wagte, waren diese einzelnen
Steine.“

„Opale! Die Unglück bringen!“

„Wer weiß? Vielleicht bringen sie mir Glück -- ich habe meistens gerade
umgekehrt gehandelt, wie vernünftige Menschen.“

„Und wie waren die andern?“

„Bitten Sie mich einen Regenbogen zu beschreiben, Mrs. Bowlby! Wenn Sie
einen Begriff davon haben wollen, weiß ich keinen anderen Weg, als daß
Sie zum Fest des Maharadscha kommen.“

„Dorthin? Nie! Eher will ich -- gehst du, John?“

„Ja, liebe Susan.“

„Und du, Helen, du machst es wie ich, nicht wahr?“

„Ja, Mama, wenn du Papa folgst. Eheleute sollen einander nahe sein, das
haben wir in meiner Schule gelernt.“

Mrs. Bowlby stieß einen Seufzer aus, den sie nur mäßig überzeugend
gestalten konnte.

„So sagen Sie also dem Untier, daß ich komme,“ sagte sie. „Aber
+anständiges Benehmen+ ist meine Bedingung. Und +was+ soll
man anziehen, Mr. Cray?“

                               *       *
                                   *

Wahrscheinlich hatte Yussuf Khan seine Weisungen etwas modifiziert,
oder auch war London außerstande gewesen, sie in vollem Ausmaß
durchzuführen, denn ganz asiatisch war das Bild nicht, das sich den
Eingeladenen -- Familie Bowlby, Herrn van Schleeten und Allan --
bot, als sie am folgenden Abend in einer Prozession in den großen
Festsaal des Grand Hotel Hermitage wanderten und dort von Yussuf
Khan, dem Obersten und dem alten Ali empfangen wurden. Der Oberst,
Herr van Schleeten, Mr. Bowlby und Allan waren im Frack; Miß Bowlby
in ausgeschnittenem Tüll und Mrs. Bowlby in einer grünschwarzen
Brokattoilette mit einer Schleppe, die ebenso lang war wie sie selbst,
mit ihren besten Juwelen geschmückt und fest entschlossen, das
Sternenbanner hochzuhalten. Yussuf Khan und der alte Ali waren in ganz
orientalischen weißen weiten Gewändern, mit Turbans auf dem Kopfe.
Yussuf Khans Turban trug eine Aigrette von Diamanten, alle weiß bis
auf einen einzigen großen schwarzen, der wie ein brennender Pechsee
flammte. Ueber sein rechtes Ohr hing ein Büschel Smaragden, das Mrs.
Bowlbys Lippen ein unwillkürliches Ah! entlockte. Yussuf Khan begrüßte
sie mit einem tiefen Salaam.

„Willkommen, Gäste des Abends!“ sagte er. „Willkommen zu dieser
Festlichkeit, und nehmet meinen Dank, daß ihr sie durch eure Gegenwart
beehren wollt. Ich bitte euch, gütigst zu entschuldigen, daß die
Anordnungen, die getroffen wurden, euer ganz unwürdig sind, und bevor
wir zu dem dürftigen Tische gehen, bitte ich euch, Oberst Morrel
Sahib, diejenigen meiner Gäste vorzustellen, mit denen ich noch nicht
zusammengetroffen bin.“

Während der Oberst diese Vorstellung vornahm, hatte Allan Zeit, sich
umzusehen.

Der Festsaal des Hotels hatte, um nach Yussuf Khans Wünschen angeordnet
zu werden, die Voraussetzung gehabt, daß er in einer Art Tempelstil
erbaut war, mit sehr breiten Säulen an den Seiten, die eine nicht
besonders hohe Decke trugen. Jetzt waren sowohl Decke wie Wände und
Boden von ungeheuren schweren Teppichen in phantastischen teheranischen
Mustern verdeckt, zwischen denen die grünblauen breiten Marmorsäulen,
wenigstens für Allans Phantasie, asiatisch wirkten. Von der Decke
sanken die Draperien in einer weichen Kurve herab, in der Mitte
des Saales von zehn langen Lanzen gerafft; unter dem so gebildeten
Baldachin war die niedrige Festtafel gedeckt. Davor befanden sich an
der Stelle von Sesseln förmliche Berge von Kissen. Neben jedem Platz
stand ein niedriges Metallgestell, das eine Spülschale aus grünem
Porphyr trug. Die Beleuchtung war ein Kompromiß zwischen Europa und
der Religion des Propheten: Elektrische Lampen, die zusammen einen
gewaltigen Halbmond bildeten, glitzerten an der draperieverhüllten
Decke von der einen Längsseite bis zur anderen. In einem entsprechenden
Halbkreis stand die schwarze Leibwache, die Krummsäbel im Gürtel rings
um den Platz, wo der Maharadscha sitzen sollte und wo die Kissen
etwas höher aufgetürmt waren, als auf den anderen Plätzen. Zuletzt
erblickte Allan mit einem leichten Schauer in einer Ecke einige
halbnackte Tänzerinnen mit goldenen Ringen um Arme und Fußknöchel. Sie
hatten breite, groteske Saiteninstrumente und blinkende Tamburine.
Was würde Mrs. Bowlby dazu sagen? Er wandte die Aufmerksamkeit von
den Tänzerinnen gerade rechtzeitig ab, um zu hören, wie diese Dame zu
Yussuf Khan sagte:

„Ich muß gestehen, daß ich schwankte, bevor ich Ihre ... Ew. Hoheit (es
fiel ihr merklich schwer, den Titel hervorzubringen) Einladung annahm.“

„Und warum?“ sagte Yussuf Khan. „Hat der junge Sahib, der meine Juwelen
gerettet hat, meine Einladung so lau oder schlecht vorgebracht?“

„Nein,“ sagte Mrs. Bowlby, „aber ich befürchtete, daß, wenn das Fest
so werden sollte, wie die Feste in Ihrem ... in Ew. Hoheit Heimat zu
sein pflegen, ich ... hm ... Dinge zu sehen bekommen würde, die eine
anständige Frau nicht zu sehen gewohnt ist.“

„Das ist richtig,“ sagte Yussuf Khan, „in meinem Lande kommen ehrbare
Frauen nicht zu den Festen der Männer.“

Mrs. Bowlby zuckte bei dieser orientalischen Aufrichtigkeit zusammen.
Im Nu vergaß sie Zeremonien und Titel über Dinge, die ihr schon lange
am Herzen lagen.

„Und in meinem Lande“, rief sie, „hat kein anständiger Mann
hundertfünfzig Frauen auf einmal!“

Yussuf Khan überlegte einen Augenblick.

„Aber habe ich nicht gehört,“ sagte er ernst, „daß eine Frau
hundertfünfzig Männer hintereinander haben kann, wenn sie es darauf
anlegt?“

Mrs. Bowlby starrte ihn an.

„Wir wollen uns die Hand schütteln,“ sagte sie schließlich. „Das haben
Sie gut gemacht! _Demmit_, das ist mir noch nie eingefallen.“

„Jedes Land“, warf der alte Hofdichter ein, „hat seine Sitten, die zwei
Meilen von der Grenze lächerlich und unbegreiflich erscheinen. Dies
sollte uns lehren, zu bedenken, daß wir alle nichts anderes sind, als
Spielbälle des Schicksals, wie der göttliche Zeltmacher es so treffend
ausdrückt:

  Nur Puppen sind wir auf dem Schachbrett Welt,
  Ein Spielzeug nur, geschoben und gestellt;
  Ein Zeitvertreib! -- Und hat’s das Schicksal satt,
  Zum Kasten wandert, Stück an Stück gesellt!“

Er wiederholte eine Zeile für sich selbst in einer Sprache, die Allan
nicht kannte und die etwa klang wie:

„_U danad u danad u danad u_ ...“

Oberst Morrel beeilte sich das Wort zu ergreifen; Poesie gehörte
offenbar nicht zu seiner Vorstellung von _hors d’oeuvres_.

„Wäre es nicht an der Zeit zu Tisch zu gehen?“ sagte er. „Ew. Hoheit
wissen, daß wir morgen in aller Frühe abreisen.“

Yussuf Khan brach in ein Lachen aus, das Allan überraschte. Eine solche
Heiterkeit erwartete man nicht von einem passiven Orientalen. Aber
tatsächlich lachte Seine Hoheit so, daß er alle Zähne zeigte, wobei
Allan flüchtig bemerkte, daß einer davon ganz überplombiert mit Gold
war. Yussuf Khan wischte sich die Augen und sagte noch immer lachend:

„Ihr habt recht, Oberst Morrel Sahib, morgen verliert mich diese Stadt
für lange Zeit aus den Augen. Gehen wir also zu Tisch!“

Der Oberst, der diese Heiterkeit, deren Ursache ihm offenbar
unbegreiflich war, ganz verblüfft beobachtet hatte, zuckte die Achseln.
Yussuf Khan wiederholte:

„Zu Tisch!“

Er führte selbst die Gäste zu der gedeckten Festtafel und wartete, bis
alle unter dem niedrigen Baldachin versammelt waren, um dann zu sagen:

„In meinem Lande nehmen wir unsere Mahlzeiten nicht an einem Tische wie
diesem ein. Aber als ich mit mir selbst über das Fest zu Rate ging,
sagte ich mir zwei Dinge. Ich dachte zuerst: diese edlen Sahibs sind
nicht an die Sitten meines Landes gewöhnt, und was das Essen betrifft,
so lieben alle Menschen ihre eigenen Sitten am meisten.“

„Das ist wahr,“ sagte der alte Ali, „und mein Schüler spricht gut.“

„Ferner“, fuhr Yussuf Khan fort, „sagte ich mir selbst: was ist schuld
daran, daß ich diesen edlen Sahibs Unannehmlichkeiten bereitet habe,
die ich sie nun in unwürdiger Weise durch dieses Fest bitten möchte,
zu entschuldigen? Ich sagte mir selbst: meine Juwelen, denen von
schlauen, kühnen Dieben nachgetrachtet wurde. Wenn nun meine Gäste
diese Juwelen zu sehen bekommen, die trotz alldem von einer gewissen
Schönheit sind, können sie vielleicht den Grund der Gier der Diebe
begreifen und dadurch auch die Unannehmlichkeiten, die sie selbst
erdulden mußten. Und deshalb --“

Er brach plötzlich ab und klatschte in die Hände.

Im Nu, plötzlich, wie der Nebel bei einem Sonnenaufgang in den Tropen
verschwindet, verschwand eine Hülle aus weißer Seide, die über der
Festtafel ausgebreitet gelegen war -- wie es zuging, konnte niemand
sehen -- und Yussuf Khans Gäste starrten mit halbgeblendeten Augen
auf die Juwelen Nasirabads, die sich in einer Pyramide mitten auf
dem Tische auftürmten. Eine nette Tischdekoration! Allan, der Oberst
und Herr van Schleeten, die sie schon gesehen hatten, standen stumm
da, wieder ganz bezaubert von dem phantastischen Glanz der Steine.
Aber der Familie Bowlby, die sie noch nicht gesehen hatte, entrang
sich ein dreifacher erstickter Schrei. Mrs. Bowlbys Augen irrten von
einem Diadem und Halsband zum anderen, halb mit naiver Bestürzung,
halb mit Mißtrauen. Endlich wendete sie sich dem Maharadscha zu,
der sie ernsthaft beobachtet hatte, und murmelte, indem sie auf die
Familienjuwelen wies, die sie trug:

„Wollen Ew. Hoheit einen Augenblick warten, ich springe nur hinauf und
lege das ab!“

Yussuf Khan winkte majestätisch mit der Hand.

„Das wäre töricht, und wir würden Zeit verlieren,“ sagte er, ohne sich
auf irgendwelche Versuche zu Höflichkeiten einzulassen. „Nehmen wir
Platz!“

Er winkte den Gästen, sich zu setzen. Neben sich placierte er Mr. und
Mrs. Bowlby, dann Allan mit Miß Helen, dann den Obersten, Herrn van
Schleeten und den alten Ali. Selbst setzte er sich zu allerletzt,
indem er den rechten Arm zu dem Baldachin erhob. Im selben Augenblicke
tauchten von allen Seiten, wie es schien, aus dem Nichts, Diener mit
blinkender schwarzer Haut auf, füllten die Porphyrschalen vor jedem
Gaste mit parfümiertem Wasser und stellten vor jeden einen Becher mit
einem rosafarbenem Getränk hin.

„Das ist Sorbet,“ sagte Yussuf Khan, „später kommen die Getränke, die
die Sahibs lieben, aber zum Willkommengruß wünschte ich den Trank
meines eigenen Landes.“

Er erhob das Glas mit einer majestätischen Bewegung und trank es aus.

„Möchte diese unwürdige Mahlzeit euch alle Beschwerden vergessen
lassen, die ihr meinetwegen erduldet habt.“

Im selben Augenblicke, in dem er seinen Becher niederstellte, fiel ein
Regen von Rosen auf die Festtafel und die Gäste, und im Hintergrunde
des Saales begannen die braunen Tänzerinnen einen wirbelnden Tanz, den
sie auf ihren seltsamen Instrumenten begleiteten. Während Mrs. Bowlby
von ihren Kissen empor schnellte, um sie anzustarren, beugte Allan
sich zu Miß Helen herab, die mit träumenden Augen dasaß, als wüßte sie
nicht, ob sie wachte, und sagte:

„Se. Hoheit scheint kein weiteres Attentat auf seine Edelsteine zu
befürchten, da er sie hier so ausbreitet.“

„Er hat ja die Leibwache um sich,“ sagte sie, ohne ihre Blicke von
der Pyramide auf dem Tisch abzuwenden. „Sie haben aber auch gehörigen
Respekt vor diesem Mirzl!“

„Ich muß gestehen, daß ich ihn im Verdacht habe, wo immer zwei oder
drei versammelt sind und etwas in der Nähe ist, das des Stehlens wert
ist.“

„Da müßte er ja hier drinnen sein,“ lachte sie.

Allan fuhr bei ihren leicht hingeworfenen Worten zusammen. Was war ihm
doch früher am Abend eingefallen? Und nach welcher anderen Erinnerung
fahndete er nur?

Yussuf Khan, der Mrs. Bowlby mit tiefem Ernst beobachtet hatte, sagte:

„Es ist unbestreitbar, daß einige der Tänzerinnen, die der Besitzer
dieser Karawanserei aufgetrieben hat, nicht des Reizes entbehren. Aber
ich für meine Person finde weit größeres Gefallen an Eurer Tochter, die
mir herangewachsen genug scheint, um verehelicht zu werden.“

Mrs. Bowlby stieß einen Schrei aus, wie ein in der Schlinge gefangener
Papagei und wandte sich jäh von den Tänzerinnen ab, die in einem Zyklon
von nackten Gliedern und blinkendem Gold umherwirbelten.

„Helen!“ rief sie. „Helen, du darfst kein Wort von dem hören, was er
sagt!“

„Nein, Mama.“

„Sie sollten sich schämen!“ fuhr Mrs. Bowlby an Yussuf Khan gewendet
fort. „Sie sollten sich die Augen aus dem Kopfe schämen! Wo Sie
hundertfünfzig Weiber haben, die Sie Frauen nennen, Sie sollten sich
schämen, meinem armen, unschuldigen Kinde Fallstricke zu legen!“

„Diese hundertfünfzig Frauen“, sagte Yussuf Khan, „sind schon lange
in meinem Palast. Ueberdies können sie weggeschickt werden, wenn
es nötig ist. Vielleicht ist es leichter, eine Frau zu lieben als
hundertfünfzig.“

Mrs. Bowlby umklammerte ihren Sorbetbecher, wie um ihn ihm an den Kopf
zu werfen und starrte ihn sprachlos an. Yussuf Khan fuhr ebenso ruhig
wie immer fort:

„Mein Geschlecht zählt achtundvierzig Ahnen, und von meinem Palast
und meinen Besitztümern legen diese Juwelen ein wenn auch unwürdiges
Zeugnis ab. Wäre der Juwelenkünstler, der zur Linken meines Lehrers
sitzt, nicht von einem Weibe betört worden, worum wir ihn alle beneiden
müssen, hätten diese Juwelen ein anderes und gewinnenderes Aussehen.“

„Helen!“ schrie Mrs. Bowlby mit erstickter Stimme, „Helen, höre nicht
auf ihn!“

Miß Helen wollte etwas antworten, und die schwarzen Diener erschienen
eben in feierlicher Prozession mit einer Reihe Silberschüsseln in den
erhobenen Händen, als Allan eine Idee durchzuckte. Die Erinnerung, nach
der er gesucht hatte, war aufgetaucht, und im selben Augenblick war die
Idee gekommen -- wahnsinnig, aber!! Er beugte sich hinter Miß Helens
Rücken zu Oberst Morrel vor. Er flüsterte dem Obersten zwei Fragen zu,
worauf dieser ihn anstarrte wie einen Wahnsinnigen, bis er endlich die
Sprache wieder fand.

„Ja, was zum Henker soll das heißen?“ brüllte er. „Sind Sie denn ganz
toll?“

Allan erhob sich von seinem Platz.

„Was das heißen soll?“ rief er, indem er mit blitzenden Augen auf
Yussuf Khan deutete. „Das soll heißen, daß der Mann, der da sitzt, gar
nicht Yussuf Khan, Maharadscha von Nasirabad ist!“

Er hatte kaum diesen Satz herausgeschleudert, als an die Eingangstür
des Festsaals geklopft wurde. Sie öffnete sich, und drei wunderliche
Gestalten erschienen auf der Schwelle.

Zuerst kam der Mann, der behauptet hatte, einem Feste in seinem
eigenen Hotel nicht beiwohnen zu können -- der Direktor des Grand
Hotels Hermitage. Dann kam eine Frau, bei deren Anblick Mrs. Bowlby
zurückprallte wie vor dem Anblick einer Klapperschlange, und
schließlich ein Mensch im zerdrückten Anzug und nicht ganz reinem
Kragen, der eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Maharadscha von Nasirabad
aufwies.



XIII

Yussuf Khans Heirat


Der Direktor des großen Hotels brach das Schweigen, das durch
seinen und den Eintritt der anderen zwei Personen in den Festsaal
entstanden war. Er wendete sich an Oberst Morrel und sagte mit einer
entschuldigenden Betonung auf jedem Wort, das er sprach:

„Herr Oberst, Sie müssen mein Eindringen in Ihre Gesellschaft
verzeihen. Sie können sich denken, daß es nicht ohne zwingende Gründe
geschieht. Ich werde das, was vorgefallen ist, so kurz und deutlich
erzählen, als ich kann.

Vor zwanzig Minuten wurde ich in das Bureau gerufen, mit dem Bedeuten,
daß meine Anwesenheit unumgänglich notwendig sei. Ich eilte hinunter
und fand diese Dame, in der ich Mrs. Langtrey erkannte, die einige Zeit
im Hotel gewohnt hat, und diesen Herrn, der eine gewisse Aehnlichkeit
mit Sr. Hoheit hat (der Direktor verbeugte sich in der Richtung von
Yussuf Khan). Ich traute meinen Augen nicht, als ich Mrs. Langtrey
sah, die, wie wir wissen, vor zwei Tagen ein kühnes Attentat auf die
Juwelen Sr. Hoheit versucht hatte, über das einer der Gäste Sr. Hoheit
die ausführlichsten Aufklärungen geben kann. (Der Direktor verbeugte
sich leicht gegen Herrn van Schleeten, der ganz starr dasaß, die
Augen auf Mrs. Langtrey geheftet). Bevor ich noch meine Bestürzung
aussprechen konnte, sagte Mrs. Langtrey: ‚Ich weiß genau, was Sie
sagen wollen. Es ist unnötig. Ich bin Mrs. Langtrey, die in Ihrem
Hotel gewohnt hat; das ist der Maharadscha von Nasirabad, der vor fünf
Tagen geraubt wurde.‘ ‚Wie können Sie es wagen, zu behaupten, daß
dieser Mensch der Maharadscha ist,‘ rief ich aus, ‚ich weiß doch, daß
der Maharadscha gerade jetzt ein Abschiedsfest in meinem Hotel gibt!‘
‚Der Maharadscha,‘ erwiderte Mrs Langtrey, ‚ein sauberer Maharadscha!
Der Mensch, der heute abend in Ihrem Hotel das Fest gibt, ist nicht
mehr Maharadscha als Sie selbst oder der Portier hier. Ich verlange
augenblicklich in den Festsaal hinaufgeführt zu werden.‘ Jetzt wurde
mir die Sache zu bunt, und ich wollte die Dienerschaft rufen, um Mrs.
Langtrey aus dem Hotel zu weisen, als sie mir zuvorkam und sagte: ‚Tun
Sie nicht etwas, was Sie bereuen würden! Wir wollen nur ungerne mit
Hilfe der Polizei eindringen, aber wenn es notwendig ist, werden wir
es tun.‘ Nach dieser Aeußerung glaubte ich nichts anderes machen zu
können, als die Gesellschaft hierher zu begleiten, wie sie es wünschte.“

Der Direktor verstummte. Der Oberst blickte wie ein Schlaftrunkener
um sich, bald starrte er den Direktor, bald Allan an, bald die zwei
Personen, die auf den Thron von Nasirabad Anspruch erhoben. Der
zuletzt Erschienene, der Mann in Mrs. Langtreys Gesellschaft mit dem
zerdrückten Frack, ergriff das Wort:

„Wie lange werde ich noch warten müssen, bis dieser Verbrecher, der
mein Aussehen gestohlen hat, in Ketten gelegt wird?“ sagte er. „Fünf
Tage bin ich in seinen und seiner Bande Händen gewesen, und nun ich
wiederkomme und finde, daß er meinen Namen, wenn auch nicht mein Hab
und Gut, gestohlen hat, werde ich behandelt, als wäre +ich+ er.
Oberst Morrel Sahib, wie lange werde ich noch warten müssen, daß der
Verbrecher in Ketten gelegt wird?“

Der Oberst starrte von ihm zum Maharadscha am Tisch, ohne eine Silbe
hervorbringen zu können. Er kannte den Maharadscha seit vielen Jahren;
am Tische saß ein Yussuf Khan, an den er sich von tausend Gelegenheiten
her erinnerte, in der Türe stand ein Mann mit eingefallenen Wangen und
zerknitterter Kleidung, der wohl eine gewisse Aehnlichkeit mit dem
anderen Yussuf Khan hatte, aber auch nicht mehr als das.

Aber dieses Zusammentreffen mit dem jungen Mann aus Schweden, der seine
absurde Behauptung fast im selben Augenblicke hinausgeschleudert hatte,
in dem sie in so eigentümlicher Weise von anderer Seite vorgebracht
wurde! Er stand noch total konfus da, als das Schweigen gebrochen
wurde: Der Maharadscha am Tische wollte sprechen, aber Allan Kragh fiel
ihm höchst unartig ins Wort.

„Oberst Morrel,“ sagte er. „Ich stellte kürzlich zwei Fragen an Sie,
die Sie, wie ich sah, wahnwitzig fanden. Gestatten Sie, daß ich sie
noch einmal wiederhole?“

Der Oberst nickte starr, vermutlich ohne aufzufassen, was Allan sagte,
so verblüfft starrte er noch immer die beiden Kronprätendenten an.

„Ich habe Sie gefragt,“ sagte Allan, „ob Se. Hoheit, der Maharadscha,
Gelegenheit hatte in Nasirabad seine Zähne plombieren zu lassen? Wollen
Sie mir diesmal ausdrücklich darauf antworten?“

Der Oberst wendete seinen starren Blick ihm zu.

„Zähne plombieren,“ schrie er. „Das ist wirklich nicht die rechte Zeit
für Geschwätz und Dummheiten.“

„Es sind vielleicht nicht solche Dummheiten, wie Sie glauben,“ sagte
Allan. „Ich ziehe aus Ihrer Antwort den Schluß, daß Se. Hoheit keine
Gelegenheit hatte, seine Zähne in Nasirabad plombieren zu lassen. Und
in London?“

„Jetzt hören Sie aber, junger Freund --“

„_All right._ Also auch nicht in London. Nun weiß ich aber, daß
der Mann, der hier am Tische sitzt, einen Backenzahn hat, der mit einer
Goldplombe überzogen ist. Kann er dies widerlegen, entfällt einer der
Gründe für meine Behauptung, daß er nicht der Maharadscha von Nasirabad
ist. Ich gebe ihm hiermit Gelegenheit, es sofort zu widerlegen.“

Yussuf Khan sprang mit blitzenden Augen vom Tische auf.

„Ich weiß nichts von der Gastfreundschaft der Sahibs,“ sagte er, „wenn
sie die Gastgeber sind. Aber wenn jemand in meinem Lande zu mir, seinem
Gastgeber, so spräche, wie dieser junge Mann zu mir spricht, ich würde
ihn mit Hieben und Schlägen von meinen Dienern aus dem Hause jagen
lassen. Bin ich ein Pferd, daß ich mir auf einen Wink in den Mund
schauen lasse? Man treibe diese Menschen hinaus, die ich nicht kenne
und die sich hier eingedrängt haben wie freche Bettler, und zugleich
mit ihnen diesen jungen Mann, der mich beleidigt hat, wie ich noch nie
beleidigt wurde!“

Er betrachtete Allan und die ungebetenen Gäste mit blitzenden Augen.
Der Oberst richtete sich auf und war im Begriff seinen Wunsch zu
erfüllen, als Allan ihn mit einer Geste und einem leisen Lächeln
aufhielt.

„Oberst Morrel,“ sagte er, „einen Augenblick! Ich will mich gerne in
der Weise, wie Se. Hoheit es wünscht, hinausjagen lassen, aber unter
einer Bedingung. Ich glaube, daß Mrs. Langtrey und ihr Begleiter sich
mir anschließen werden, wenn sie diese Bedingung hören.“

Er wandte sich dem Maharadscha am Tisch zu:

„Benjamin Mirzl, du Sonne der Rechtgläubigen und aller Verbrecher
König, habe die Gewogenheit, deiner schwarzen Leibwache selbst den
Befehl meiner Verjagung zu geben! Ich weiß zufällig, daß sie nicht
englisch spricht!“

Die Züge des Maharadscha nahmen, während Allan sprach, einen
furchtbaren Ausdruck an. Er verließ seinen Platz und kam mit langsamen
Schritten auf die Gruppe zu, die in der Nähe des Eingangs stand. Seine
Augen waren durchbohrend auf Allan geheftet und funkelten wie die
eines Königstigers. Er blieb vor Allan stehen und fixierte ihn einen
Augenblick mit einem Ausdruck solchen Zornes, daß der Oberst eine
Bewegung machte, um einzuschreiten; es sah aus, als wollte er Allan
auf der Stelle niederschlagen. Im selben Augenblick geschah jedoch
etwas ganz anderes. Der Maharadscha machte an ihnen allen vorbei
einen Riesensprung, nicht unwürdig des königlichen Raubtieres, dem
er glich; und bevor jemand sich noch gerührt hatte, lag der Saal in
Stockfinsternis versunken; sie hörten die Eingangstüre zufliegen und
das Einschnappen eines Riegels. Für einen Augenblick war alles ein
wüstes Durcheinander; Rufe ertönten von Mrs. Bowlby, vom Obersten,
von der schwarzen Leibwache, vom Direktor und den eben eingetroffenen
ungebetenen Gästen. Dann kam ein Ausruf der Befriedigung von jemand,
dem es gelungen war, den Kontakt zu finden, und der Saal lag wieder im
Licht da. Ein Gewimmel von Armen und Beinen bearbeitete die Türe mit
Schlägen und Stößen; verschiedene Ausrufe des Obersten, der mitten im
Kampfgewühl war, deuteten an, daß nicht alle Schläge den Türspiegel
trafen. Endlich flog die Türe auf, und eine wilde Jagd begann die
Treppe hinunter in die große Halle. Zum Glück für den zukünftigen Ruf
des Hotels war die Halle bis auf ein paar Bedienstete und den Portier
ganz leer. Der Direktor schleuderte ihm mit Tigergebrüll eine Frage zu,
und nach einem Augenblick des erstaunten Starrens kam die Antwort von
dem würdigen Portier mit der Benediktinerfigur:

„Der falsche Maharadscha? Der Maharadscha ist vor einem Augenblick die
Treppe hinuntergekommen und ... nun ja, er schien ein bißchen unsicher
auf den Beinen. ‚Will b--bißchen an die f--frische Luft‘, hat er uns
zugemurmelt, Sir, und uns ein wenig unsicher angesehen. Wir hörten Rufe
oben aus dem Festsaal und dachten uns: Jetzt sind die Gäste in Stimmung
gekommen, und --“

Im nächsten Augenblicke waren sie an dem würdigen Portier vorbei, wie
ein Koppel Hunde, die die Fährte gefunden haben. Leider führte diese
Fährte nicht weiter als bis zum Monmouth Square. Der patrouillierende
Polizeikonstabler rapportierte, daß er vor zwei Minuten einem
asiatischen Gentleman, der etwas bezecht zu sein schien, in ein Auto
geholfen hatte, das dann zur Wohnung dieses Herrn, Grosvenor Hotel,
fortgerollt war.

Der Oberst sah Allan an, während er sich den Schweiß von der Stirne
wischte.

„Der verdammte Schurke,“ murmelte er. „Das drittemal! Und auf ein Haar
wäre es ihm geglückt ... Hol’s der Teufel -- ich kann nicht umhin, den
Kerl zu bewundern.“

„Gehen wir wieder hinauf,“ sagte der Direktor. „Seine Hoheit ... Seine
wirkliche Hoheit kann Entschuldigungen und Erklärungen verlangen.“

Er, der Oberst und Allan gingen die Treppe wieder hinauf; Herr van
Schleeten hatte an der Jagd auf den falschen Maharadscha nicht
teilgenommen. Die Leute auf dem Monmouth Square starrten die drei
Herren an, von deren Gesichtern der Schweiß troff, trotzdem sie in
Frack und weißer Krawatte waren. Im Festsaal angelangt, bot sich ihnen
eine bunte Szene.

Links von dem Eingange stand die Familie Bowlby unter dem Präsidium
von Mrs. Bowlby, die mit ausgebreiteten Röcken bereit war, ihr
Haus zu verteidigen, wie die Henne ihre Küchlein. Sie führte eine
eifrige, leise Konversation mit ihrem Mann und ihrer Tochter und
schleuderte hie und da einen herausfordernden Blick auf Mrs. Langtrey.
Mrs. Langtrey stand mitten im Saale mit stolzer Haltung und einem
unergründlichen Lächeln. Ihre Augen hingen an Yussuf Khan -- dem nun
anerkannt richtigen -- und auf ein Kissen an der Festtafel gesunken,
die Nasenfarbe von Chateau Lafitte in Haut Sauterne verwandelt, saß
ein Herr mit dickem, gelbgrauem, jetzt schlaff hängendem Schnurrbart,
dessen Augen nichts anderes sahen als Mrs. Langtrey -- Herr van
Schleeten.

Die schwarzen Diener und die Leibwache hatten sich in einem Kreis
versammelt, wie eine Krähenkolonie über das Passierte schnatternd.
Yussuf Khan -- der richtige -- stand, noch etwas schlapp, mit einem
geleerten Weinglas in der Hand da und war der Gegenstand zärtlicher
Worte und entschuldigender Bitten von seiten seines alten Lehrers.

„Beim Propheten, mein Sohn, ich schäme mich wie ein Dieb, der im Basar
auf frischer Tat ertappt wurde! Ich, ich selbst, dein Lehrer, ließ mich
zwei Tage von diesem frechsten unter den Betrügern täuschen. Sogar
seine Sprache war die deine, nur poetischer, worin ich eine Frucht
der Lehren sah, die ich dir beizubringen bemüht. Mein Hochmut darüber
machte mich noch blinder gegen seinen wirklichen Charakter, wofür Allah
mir gnädig sein möge. Wahrlich, beim Propheten! Ich schäme mich! Wäre
nicht dieser junge Mann mit dem wunderbar scharfen Falkenblick gewesen,
du wärest jetzt vertrieben, und er, der Betrüger wäre in wenigen
Wochen, wenn wir unser Land wiedersehen, nach dem ich mich sehne, wie
der Hirsch nach der Quelle, auf den Thron von Nasirabad erhoben worden.
Ueberaus treffend sagt der göttliche Zeltmacher --“

Der Maharadscha unterbrach ihn, ohne die treffende Aeußerung des
göttlichen Zeltmachers abzuwarten.

„Ohne Zweifel“, sagte er, indem er sich aufrichtete, „hat der junge
Mann, der mir unbekannt ist, jetzt das Verdienst, daß der Betrüger
entlarvt wurde, aber ich hatte jemanden in meiner Gesellschaft, der
bereit war, ihn zu entlarven. Sie wollte nur ihren Zeitpunkt wählen.“

„Mein Sohn, ich bedauere, daß du mir den Schmerz bereitest, den Worten
des göttlichen Zeltmachers nicht so gerne zu lauschen wie der elende
Betrüger, Sohn Scheitans. Aber du sagtest +sie+? Meinst du die
Frau, die in deiner Gesellschaft kam?“

„Wie du sagst. Sie, die in meiner Gesellschaft kam, die von diesem
Betrüger und Menschenräuber zu meiner Gefängniswärterin ausersehen
war, die sich meiner in meiner Gefangenschaft erbarmte, und von der
ich gleich noch mehr mit dir und Oberst Morrel Sahib sprechen werde.
Fünf Tage war sie meine Wächterin, nur anfangs von dem Verbrecherkönig
abgelöst. Ihre Milde zugleich mit der Festigkeit ihres Willens war
bewunderungswürdig, und die Zeit in meinem Gefängnis, wo sie über mich
wachte, war mir süßer als alle Stunden, die ich in der Gesellschaft
anderer Frauen verbracht habe. Sie war fest wie die Hand des Reiters,
wenn sie den Zügel hält, und sanft wie sie es ist, wenn sie das Fohlen
streichelt. Heute -- doch später mehr davon. Du sagtest, daß wir schon
in einigen Wochen unser Vaterland wiedersehen werden? War denn die Zeit
für Eure Abreise schon bestimmt?“

„Sie war von Oberst Morrel Sahib für morgen bestimmt, der es gestern
als eine Gnade von Sr. Exzellenz dem Minister erwirkte, daß wir diese
Stadt mit unversehrter Ehre und Turbans verlassen dürfen. Von solchen
Dingen wie die, die unsere Anwesenheit hier verursacht hat, hat diese
Stadt noch nie gehört, und sowohl die Bevölkerung hier wie Oberst
Morrel Sahib sind mit Recht über mich empört, der ich dir ein so
elendes Vorbild gewesen. Ach, du kannst in Wahrheit auf deinen Lehrer
anwenden, was der göttliche Omar von seinen Lehrern sagte:

  Die hellsten Leuchten von den klügsten Köpfen,
  Die von den Sternen selbst die Weisheit schöpfen,
  Da liegen sie ...“

„Da kommt Oberst Morrel Sahib,“ schnitt Yussuf Khan ab. „Das ist gut.
Ich will sogleich mit ihm von dem sprechen, was mir am Herzen liegt.“

Er ging dem Obersten entgegen, der sich noch nach der Verbrecherjagd
die Stirne wischte und hie und da mit einem gemurmelten energischen
Ausdruck die Fußknöchel rieb, die im Kampf gegen die Eingangstüre
mitgewirkt hatten. Er starrte Yussuf Khan mit Blicken an, in denen
allzu geringe Freude über die Rückkehr des rechten Thronprätendenten zu
lesen war.

„Eine saubere Geschichte,“ rief er, als trüge Yussuf Khan die Schuld
an Herrn Mirzls Missetaten. „Habe ich gesagt eine verdammt saubere
Geschichte? Was sage ich, ein ganzer Knäuel von verdammt sauberen
Geschichten! Hätte Gott uns nicht diesen jungen Mann gesandt“ -- er
wies auf Allan -- „so weiß der Teufel, wie es jetzt aussehen würde.“

„Wer ist dieser junge Mann?“ sagte Yussuf Khan.

„Er hat einen Namen, an dem man sich die Zunge zerbricht. Aber das tut
nichts. Das ist das drittemal, daß es ihm gelungen ist, den Erzgauner
zu überlisten, der sonst gewiß den Satan selbst beschwindeln kann,
wenn er es darauf anlegt. Haben sie viele solche in Deutschland, wo er
herkommt, dann begreife ich, daß wir Zölle gegen alles brauchen, was
aus diesem Lande kommt. Dieser junge Mann -- ja hören Sie nur!“

Er gab dem Maharadscha eine kurze, aber bunte und pittoreske
Beschreibung Von Herrn Mirzls und Allans drei Duellen und unterließ
es nicht, moralische Reflexionen über Yussuf Khans eigenen Anteil an
den Malheurs einzuflechten, die ihn (Oberst Morrel) seit der Ankunft
in Europa heimgesucht hatten, einem Weltteil, der vor Scham errötete,
daß sich solche Dinge vor seinen Augen abspielten. Yussuf Khan hörte
geduldig zu, bis er zu Ende war, und sagte dann:

„Mein Lehrer Ali hat mir gesagt, daß es Eure Absicht war, Oberst Morrel
Sahib, morgen nach Nasirabad mit diesem Betrüger als König an meiner
Statt abzureisen. Ist das richtig?“

Der Oberst knurrte ein halb zorniges, halb verlegenes „Ja“.

„Es ist gut. Dasselbe ist nun meine eigene Absicht. Was diesen jungen
Mann betrifft, werde ich mir später überlegen, was geschehen soll, um
ihm meine Dankbarkeit zu bezeigen. Vorher kommt etwas anderes. Ich bin
über das Meer in dieses Land gereist, um mir eine passende Gemahlin aus
dem Volke der Sahibs zu erringen.“

„Eine Prinzessin,“ knurrte der Oberst. „Diesen Plan müssen wir schon
auf den Nagel hängen, nach allem, was Ew. Hoheit hier in London
angestellt haben. Weiße Prinzessinnen sind ein bißchen heikel.“

„Ihr sprecht töricht, Oberst Morrel Sahib, wir müssen diesen Plan nicht
auf den Nagel hängen, wie Ihr sagt. Vielmehr wird schon an diesem Abend
meine Vermählung gefeiert werden.“

„Haha! Das ist gut! Wo ist denn die Prinzessin?“

„Hier,“ sagte Yussuf Khan gelassen und wendete sich Mrs. Langtrey zu.

So allmählich hatte sich ein Kreis aus allen Personen, die im Saal
waren, um ihn gebildet. Bei seinen letzten Worten ertönte ein schriller
Schrei von dem Punkt des Kreises, wo Mrs. Bowlby stand, noch immer ihre
Familie hinter ihren ausgebreiteten grünen Brokatflügeln schützend:

„+Haha! Die wird Königin!+“

Yussuf Khan sah Mrs. Bowlby an.

„Wer ist diese Frau, die törichte Worte durch die Nase entsendet?“
fragte er.

„Ew. Hoheit müssen das nicht beachten,“ sagte Mr. Bowlby, „wodurch
sollte sie sie sonst entsenden?“

„John! Du auch! Du verläßt deine Gattin und beleidigst sie öffentlich!“

„Geliebte Susan. Bist du auf deine alten Tage eitel geworden? Du weißt,
daß deine Nase Format zehn ist. Außerdem bist du Gast Sr. Hoheit,
und es schickt sich nicht für dich, ihn oder seine anderen Gäste zu
beleidigen.“

Mrs. Bowlby schien nahe daran, in ihrem grünen Brokat zu explodieren,
aber es gelang ihr, ihre Gefühle in ihren Busen hinabzupressen, und
sie schwieg, nachdem sie dem Kreis im übrigen eine tiefe ironische
Verneigung gemacht hatte. Yussuf Khan nahm Mrs. Langtrey bei der Hand
und wandte sich seinem alten Lehrer zu.

„Mein Lehrer Ali“, sagte er, „ist nächst mir selbst Scheik-ul-Islam in
Nasirabad. Als solcher ist er bei fürstlichen Vermählungen derjenige,
der das Ehepaar verbindet, und auch der berufenste, meiner Gemahlin
später Unterricht in der Lehre des Propheten zu erteilen.“

Bei diesen Worten bahnte sich trotz alledem ein heiserer Schrei den Weg
aus Mrs. Bowlbys Brust.

„+Die wird Mohammedanerin! Und die hundertfünfzig anderen?+“

Yussuf Khan wandte sich ihr wieder mit erstauntem Ernst zu.

„Wie töricht spricht doch diese Frau, jedesmal wenn sie sich äußert!
Ein Bekenner der Lehre des Propheten hat nur vier Frauen. Ich
persönlich habe nur zwei.“

„Zwei! Wie kann man nur ... die ganze Welt weiß doch ...“

„Die übrigen sind nur Nebenfrauen,“ sagte Yussuf Khan. „Und nun werden
alle aus dem Palast entfernt und an einen passenden Aufenthaltsort
gebracht werden. Von meiner Rückkehr nach Nasirabad an habe ich gleich
den Regenten der Sahib nur eine Gemahlin.“

Er machte einen ernsten Salaam vor Mrs. Langtrey, die ihm mit Blicken
gefolgt war, aus denen zärtliche Heiterkeit sprach, und wandte sich an
den Direktor.

„Lasset alles für das Vermählungsfest in meinen Gemächern anordnen,“
sagte er. „Ein Fest von passender Art soll dort nach der Vermählung
gegeben werden. In diesem Saal, der von dem Betrüger verunreinigt
wurde, will ich nicht länger weilen.“

                               *       *
                                   *

Trotz alldem besiegte die Neugierde Mrs. Bowlbys übrige Gefühle,
und als gegen elf Uhr abends das Vermählungsfest in Yussuf Khans
Appartements gefeiert wurde, war sie auch mit dabei, vom Maharadscha
eingeladen, der alles, was sie sagte, mit demselben erstaunten
Interesse anhörte wie einen Papagei, der sprechen gelernt hat. Das
Fest spielte sich diesmal nach europäischer Weise ab, und die Juwelen
Nasirabads waren in der Mahagonikassette wohl verwahrt und wurden von
der schwarzen Leibwache gegen alle neuen Versuche von seiten Herrn
Mirzls geschützt. Der einzige orientalische Einschlag war der alte Ali,
der in morgenländischem Kostüm ein hochgestimmtes Poem zu Ehren seines
Schülers deklamierte, das nur etwas darunter litt, daß man _Pommery
nature_ in ausgedehntem Maße serviert hatte. Mrs. Langtrey feierte
ihren letzten Abend in europäischer Tracht mit einer Modestie, die
sogar Mrs. Bowlby halb und halb versöhnte. Doch konnte diese Dame es
nicht lassen, bei der ersten Gelegenheit auf den Maharadscha Beschlag
zu legen, um zu fragen:

„Aber wissen Hoheit nicht, daß Ew. Hoheit ... hm ... Gemahlin
mindestens einmal verheiratet war?“

„Was bedeutet das für mich?“ sagte Yussuf Khan, „das war ich doch
selbst auch.“

Mrs. Bowlby konnte diese Tatsache schwer in Abrede stellen.

„Und daß sie die Freundin des Mannes war, der drei Attentate auf die
Juwelen Ew. Hoheit und auf Ew. Hoheit selbst unternommen hat?“ beharrte
Mrs. Bowlby, die ihren Ohren nicht trauen wollte. „Und daß sie selbst
-- --“

„Ich weiß alles. Was macht mir das? Sie ist mein Auge und mein Ohr. Was
ich nicht schauen konnte, werde ich durch sie schauen, und was ich nie
gehört, wird sie mir erzählen. Nie habe ich süßere Tage durchlebt, als
die zwei letzten, wo sie meine Wächterin war und wo sie während unserer
Gespräche allmählich etwas anderes wurde und mich wählte anstatt des
Mannes, der sie erstrebt hat und an dem sie durch seine Kühnheit
Gefallen gefunden. Vielleicht war er durch seinen Mut ihrer würdiger
als ich, der ich auch sonst ihrer unwürdig bin. In der Gesellschaft
keiner Frau habe ich ein Glück gekostet, wie damals, als sie mir Trank
und Speise reichte, und schließlich meine Bande löste. Ihr Wille ist
fest wie eine Stahlklinge und weich wie der Brustflaum einer Taube. Vor
allen anderen ist sie meine _Maharaneeh_.“

Das Fest hatte etwa eine Stunde gedauert, als der Direktor sich mit
einer Verbeugung auf der Schwelle des Speisesaales zeigte, mit einem
Silbertablett, auf dem zwei Telegramme lagen. Der Maharadscha kannte
die europäischen Gebräuche bei Hochzeiten nicht genügend, um die
Bedeutung dieser Gegenstände zu verstehen, aber Oberst Morrel beeilte
sich, die Telegramme in Empfang zu nehmen. Er riß das eine auf, starrte
es einen Augenblick an und wurde vor Zorn ganz rot. Er wollte es
wegwerfen, aber Yussuf Khan kam ihm zuvor.

„Was steht auf diesem Papier geschrieben?“ sagte er. „Ich will es
wissen. Handelt es von mir?“

Der Oberst räusperte sich.

„Es ist ein Telegramm von dem Schwindler,“ murmelte er.

„Gut, lasset hören! Wenn dieser Mann auch ein Betrüger ist, so hat er
doch Mut. Lasset hören, Oberst Morrel Sahib!“

Der Oberst las:

  „An das königliche Brautpaar, Grand Hotel Hermitage.

  Unwürdige Glückwünsche des gestürzten Prätendenten. Möge der legitime
  Stamm sich allzeit fortpflanzen! Saget Ihrer Majestät, ich begreife,
  daß es einer Frau interessanter erscheint, über fünfzehn Millionen
  Mann zu regieren, als über einen einzigen, der allerdings vielleicht
  die fünfzehn Millionen aufwiegt, und ruhmreicher, die Regentenreihe
  Nasirabads fortzupflanzen als den Stamm de Citrac!

                                     Benjamin Mirzl, Ex-Maharadscha,
                                          Ex-Baron de Citrac.“


„Und das andere?“ fragte Yussuf Khan, der den Oberst mit
unerschütterlichem Ernst angehört hatte.

„Das ist an den jungen Mann mit dem unaussprechlichen Namen.“

„An mich!“ rief Allan. „Ich konnte mir denken, daß ich nicht leer
ausgehen würde. Lesen Sie es nur, Oberst Morrel!“

„Wie Sie wollen,“ sagte der Oberst und öffnete das Telegramm:

  „Mr. Allan Kragh, Suite des Maharadscha von
  Nasirabad, Grand Hotel Hermitage!

  Sie haben meine Pläne dreimal durchkreuzt, aber ich bin Ihnen nicht
  böse. Ich bin ja selbst in die Falle gegangen. Wie Herr van Schleeten
  ließ ich mich von einer Frau betören. Ich strebte drei Jahre nach
  ihrer Hand, und sie verschmähte mich, um über fünfzehn Millionen
  Neger zu herrschen. Aber einen Rat: Lassen Sie uns kein viertesmal
  zusammentreffen!

                                                             Mirzl.“


                               *       *
                                   *

Die Privatauseinandersetzung zwischen Allan und der ehemaligen Mrs.
Langtrey gestaltete sich kurz und bestand nur in einem Lächeln und
einem Händedruck.



XIV

Einfach, Nasirabad!


Es besteht eine eingewurzelte Ueberzeugung bei alten Alkoholikern,
daß kein Katzenjammer schlimmer ist, als der, den man vom Champagner
bekommt. Allan Kragh war nicht abgeneigt, dieser Anschauung am Morgen
nach Yussuf Khans Vermählung beizupflichten.

Eigentlich war seine Lage nicht sehr angenehm. Nun wohl, er
hatte Abenteuer gehabt, Abenteuer aus Tausendundeine Nacht,
Champagnerabenteuer -- aber an diesem Morgen verspürte er hauptsächlich
den Katzenjammer darnach. Seine Kasse hatte Herr Mirzl übernommen, und
er wußte noch nicht, ob das Hotel dafür Ersatz leistete. Daß Herr Mirzl
es nicht tat, war ziemlich ausgemacht. Yussuf Khan hatte von Belohnung
für die Dienste gesprochen, die er dem Herrscher Nasirabads erwiesen,
aber nach einer unbestimmten Aeußerung in dieser Richtung hatte er den
Abend vorübergehen lassen, ohne daß mehr darüber verlautete. Allerdings
hatte er das Halsband aus der Kronjuwelensammlung Nasirabads, aber da
er es von Herrn Mirzl während dessen kurzer Regierungszeit erhalten,
konnte er offenbar nichts anderes tun, als es zurückerstatten. Und
selbst, wenn er vom Hotel Ersatz bekam, was sollte er dann anfangen?
Nach den Abenteuern, die er nun gehabt, würden die meisten Erlebnisse
schal wirken. Nach Hause reisen? Bei dem Gedanken an die brüllenden
Akzeptanten daheim fühlte er einen Schauer wie der Gladiator bei dem
Gedanken an die ausgehungerten Löwen der Arena. Nun, fürs erste war
wohl nichts anderes zu tun, als zum Direktor zu gehen und zu fragen,
wie es mit dem Ersatz für das gestohlene Geld stand.

Der Direktor hatte offenbar denselben Champagnerkatzenjammer nach den
Erlebnissen des gestrigen Tages wie Allan. Er war verschlossen und
nicht besonders entgegenkommend.

„Wie ich Ihnen schon gesagt habe, ich kann die Sache selber nicht
entscheiden. Natürlich weiß ich alles zu schätzen, was Sie, wenn nicht
für das Hotel, so für einen der Gäste getan haben, aber wie gesagt, ich
kann nichts Bestimmtes versprechen, bevor ich nicht mit der Direktion
gesprochen habe.“

Allan ging mit einem Achselzucken und spazierte ein paarmal durch die
große Halle, bis er sich erinnerte, daß Yussuf Khan und sein Gefolge
schon zu Mittag abreisen sollte, und daß es daher an der Zeit war,
das Halsband des Ex-Maharadschas Mirzl zurückzustellen. Er hatte es
im Bankkontor bei dem jungen Manne deponiert, der einmal Herrn Mirzl
sein Geld ausgeliefert hatte. Seltsamerweise war es noch da! Aber es
brauchte Zeit, bis der junge Bankbeamte genügend von seiner Identität
überzeugt war; und die Mühe, ihn zu überzeugen, brachte Allan nicht
gerade in bessere Laune.

„Wären Sie das vorigemal nur halb so genau gewesen, so wäre ich jetzt
um dreihundert Pfund reicher,“ knurrte er den Bankbeamten an und begab
sich in den ersten Stock. Die schwarze Leibwache, die im Korridor über
die Sicherheit ihres Herrschers wachte, schien nicht unter derselben
Depression zu leiden wie Allan. Sie schnatterte und wisperte in ihrem
krähenähnlichen Dialekt. Offenbar hatten sie schon von der Heimreise
erfahren und freuten sich bereits darauf. Sie ließen Allan mit einem
Grinsen ein. Nun kannten sie ihn schon.

Im Vorraum befand sich nur der alte Ali. Er begrüßte Allan mit
demselben heiteren Lächeln, das die Leibwache draußen zur Schau
getragen hatte.

„Ah!“ sagte er. „In einigen Stunden befinden wir uns auf dem großen
Wasser, von der Krankheit geplagt, die die Dämonen des Wassers die
Eigenschaft haben, bei den Reisenden hervorzurufen. Ja, nur einige
Stunden, und wir verlassen diese große wunderbare Stadt, von der wir
dank dem König der Betrüger so wenig gesehen haben.“

„Sie scheinen nicht gerade betrübt darüber, den Wasserdämonen zu
begegnen,“ sagte Allan.

„Nein, denn sie müssen mich ja doch in mein Land zurücktragen.
Treffend und anmutig sagt ein Dichter, der sich freilich nicht mit
dem göttlichen Zeltmacher messen kann: ‚Wer unter Palmen geboren ist,
findet die Tannen häßlich, und für die Einwohner Delhis ist der Gestank
ihrer Stadt schön.‘“

„Ausgezeichnet, auf Ehre,“ sagte Allan. „Wie sieht es denn jetzt in
Delhi aus?“

„Wahrlich, junger Freund, ich kann es Ihnen nicht sagen. Es ist
viermal zehn Jahre her, seit ich diese Stadt besucht habe. Und ich
erinnere mich tatsächlich nur an einen großen Gestank und an eine
Sonne, wie sie sich die Bevölkerung in London nicht träumen läßt,
selbst wenn sie Haschisch kaut, und die unerträglich war wie Allahs
Augen für den Ungläubigen.“

„Das klingt ja lockend,“ sagte Allan.

„Junger Freund,“ sagte der alte Hofdichter, „verstehe ich recht, Sie
sind nie in Delhi gewesen?“

„Sie haben mich recht verstanden,“ sagte Allan, „eigentümlicherweise
habe ich total vergessen, Delhi zu besuchen.“

„Aber sicherlich sind Sie in Indien gewesen,“ sagte Ali zuversichtlich.

„Ich schäme mich, Ihnen eine Enttäuschung bereiten zu müssen,“ sagte
Allan, „aber wie lächerlich es auch klingt, ich bin nicht einmal in
Indien gewesen. Ich bin ein unerzogener Esel, mit abgeschnittenen Ohren
und Scheuklappen um die Augen. Sagt das nicht der göttliche Zeltmacher
irgendwo?“

„Der göttliche Omar hat diese Aeußerung nie gemacht,“ sagte Ali. „Das
muß irgendein anderer Dichter von geringerer Bedeutung gewesen sein.
Aber wer nie in Indien war, der ist wie ein unerfahrenes Kind, und
wer nie in Nasirabad gewesen, wie ein Ungeborener. Da ist der Himmel
blauer denn irgendwo und die Luft kühler. Dort scheint die Sonne mit
ungewöhnlicher Klarheit, aber sie brennt nicht wie über den Ungläubigen
in Delhi. Die Berge sind mit Zedern und Pinien bewachsen, und in ihrem
Schatten duftet es süßer als aus dem Haar eines Weibes. Karawanen mit
bewaffnetem Schutzgefolge ziehen durch die Pässe auf und nieder, und
am Abend duftet es von ihren Lagerfeuern nach gekochtem Hammelfleisch,
Reis und guter Butter. Dieser Duft ist köstlicher als andere Düfte, und
wer ihn nie geatmet hat, ist wie einer, der nie Wein getrunken oder den
Mund einer Geliebten geküßt. Die Frauen in Nasirabad haben schlankere
Mitte, üppigere Hüften und kleinere Händchen und Füßchen als andere
Frauen, und ihre Augen sind schwarz und funkelnd wie die Nacht im
Winter. Nein, wer nie in Nasirabad gewesen, hat nie gelebt.“

„Ich beginne es zu glauben,“ murmelte Allan zu sich selbst; und während
der alte Dichter fortfuhr, in langen Sätzen und mit zahlreichen Zitaten
aus dem göttlichen Zeltmacher und anderen Dichtern von geringerer
Bedeutung sein Vaterland zu beschreiben, sah er vor seiner Seele in
einem Blitz den ganzen Orient, bunt flammend von Düften und Visionen,
so wie Yussuf Khans Juwelen von Licht und Farben flammten. Er stand
noch halb traumbefangen, als die Türe des inneren Gemaches sich öffnete
und Yussuf Khan selbst erschien, begleitet von seiner Gemahlin und dem
Obersten. Allan verbeugte sich und zog das Halsband hervor, das Yussuf
Khan mit erstaunter Miene betrachtete.

„Das habe ich von Ew. Hoheit falschem Repräsentanten bekommen,“ sagte
Allan, „darf ich bitten, es Ew. Hoheit selbst zurückgeben zu dürfen,
bevor er es mir wieder stiehlt.“

„Bekommen?“ wiederholte Yussuf Khan.

„Zur Belohnung,“ schaltete der alte Ali ein. „Weil dieser junge Mann
ihn zweimal verhindert hat, deine Juwelen zu stehlen, mein Sohn,
hat ihm der König der Betrüger dieses Geschmeide geschenkt, ich war
selbst anwesend. Die Schamlosigkeit dieses Betrügers wurde durch eine
Scherzhaftigkeit gemildert, die ich zuweilen bewundern muß.“

Yussuf Khan sah Allan an.

„Und nun wollt Ihr das zurückgeben,“ fragte er. „Warum?“

„Ich habe es doch von einem Schwindler bekommen,“ begann Allan.

Yussuf Khan unterbrach ihn:

„Es ist gut. Der Betrügerkönig, der meine Juwelen stehlen wollte und
zwei Tage hindurch meinen Namen stahl, hat ein Werk getan, das ihm zum
Verdienst gereicht. Ich bin Euch, junger Sahib, mehr schuldig, als mit
diesem Schmuckstück bezahlt werden kann. Sagt mir, was ich tun kann, um
meine Schuld zu tilgen. Sprechet frei, und wisset, daß alles, was Ihr
begehrt, im vorhinein bewilligt ist.“

Allan sah das Halsband, das er in der Hand hielt, unentschlossen
an. Geschenke und Belohnungen anzunehmen, widerstrebte seinem
Nationalinstinkt; aber dennoch wußte er, daß eine Weigerung verletzend
wirken würde, und dabei konnte er sich nicht von dem Gedanken
losmachen, was er eigentlich anfangen sollte, wenn diese Personen fort
waren, in deren Drama er mitgespielt hatte. Der alte Ali sagte zum
Maharadscha:

„Mein Sohn, denke dir, dieser junge Mann, aus dessen Zügen Begabung
und edle Gesinnung sprechen, und der uns große Dienste erwiesen hat,
hat in seinem ganzen Leben weder Delhi noch Nasirabad gesehen, ja,
er hat nicht einmal Indien besucht. Mit Worten, dem besten unserer
Dichter entnommen, zu denen ich für mein eigen Teil viel zu unwürdig
bin gezählt zu werden, habe ich versucht, ihm ein mattes Bild von
Nasirabads Schönheit zu geben.“

Allan kam eine Idee, die ihn erzittern ließ. Nach diesen Abenteuern aus
Tausendundeiner Nacht mußte alles andere als Tausendundeine Nacht einen
faden Geschmack haben ... und war Tausendundeine Nacht denn anderswo zu
finden als in dem uralten Märchenlande selbst?

„Hoheit,“ sagte er, „wollen mir Ew. Hoheit irgendeinen Posten in Ihren
Diensten in Nasirabad verleihen?“

Yussuf Khan starrte ihn an.

„Ist das alles, was Ihr wünscht?“ fragte er.

„Ja,“ sagte Allan, „welchen Platz immer.“

Yussuf Khan betrachtete ihn noch einen Augenblick.

„Gut,“ sagte er, „ich habe versprochen, Euren Wunsch zu erfüllen, was
immer Ihr begehrt. Von heute an seid Ihr mein nächster Mann in allem,
was nicht die Regierung der Sahibs in meinem Lande betrifft. Aber
wisset, daß wir diese Stadt in wenigen Stunden verlassen.“

„Ich weiß es,“ sagte Allan, „und ich werde mich mit dem Packen beeilen.
Ich packe jetzt meine Koffer zu einer Reise nach Tausendundeine Nacht!“

                               *       *
                                   *

Dasselbe sagte er ein paar Stunden später zur Familie Bowlby, als er
-- obendrein mit seinen dreihundert Pfund vom Hotel in der Tasche --
auf der Eingangstreppe des Hotels von ihr Abschied nahm. Mrs. Bowlby,
skeptisch bis zuletzt, sagte:

„Ich bin überzeugt, er wird Sie nur dazu verwenden, seine
Hundertundfünfzig zu bewachen.“

„Mrs. Bowlby,“ sagte Allan, „ich glaube, daß es Kompetenzbedingungen
für eine solche Stellung gibt, die ich nicht erfüllen kann.“

Oberst Morrel, der daneben stand, lachte barsch in seinen weißen
Schnurrbart und bemerkte:

„_All right_, junger Freund, Indien hat sich seit der Zeit
Harun al Raschids ein bißchen verändert. Es ist nicht gesagt, daß
Sie dieselben Abenteuer finden, wie in Tausendundeine Nacht. Aber im
Notfalle können Sie immer einen Platz unter dem Residenten haben und
mit etwas Bekanntschaft machen, worin Sie, wie ich glaube, noch keine
große Erfahrung haben, nämlich die Arbeit. -- Es ist Zeit, in das Auto
zu steigen.“

„Und die Arbeit“, rief Mr. Bowlby Allan nach, indem er ihm ein Lebewohl
zuwinkte -- „ist doch endlich und schließlich das größte Abenteuer.“



Frank Heller

Herrn Collins Abenteuer

Roman

Autorisierte Uebersetzung aus dem Schwedischen von Marie Franzos

21.-30. Tausend

  Geheftet Mk. 5.50      Gebunden Mk. 7.50

+Münchener Neueste Nachrichten+: ... mit dem vergnüglichsten
und kurzweiligsten Buch sei begonnen. Herrn Philipp Collins
Abenteuer von dem gewandten geschliffenen Schweden Frank Heller ist
ein Detektivroman, aber keiner jener dutzendhaften, langweiligen,
angelsächsischen Art, die nur mehr Köchinnen und Gymnasiasten gruseln
macht. In dem Buche ist Abwechslung, Spannung, unverbrauchter Witz.
Blitzschnelle Phantasie, die wie der elektrische Funke um den Erdball
springt, wirbelt die Geschehnisse durcheinander; dem Verfasser gelingt
die Verblüffung, die schließlich das Kunststück der Detektivgeschichte
ist.

+Das Literarische Echo+: Es hat nichts mit großer Literatur zu
tun, dieses famose Buch, und das ist seine oberste Tugend. Seine zweite
ist seine Tugendlosigkeit. Das Böse triumphiert zu unserem Entzücken,
und die Bravheit muß mit langer Nase abziehen. Man lacht nicht, aber --
was viel schöner ist -- man wird durch und durch heiter, stillvergnügt,
spitzbübisch froh. Es fließt kein Blut, kein Mord muß gesühnt werden;
unsere Spannung wird edler erregt. Das ist sympathischer als Doyle,
Green, Gaboriau. Also, Herr Heller, es hat uns sehr gefreut. Beehren
Sie uns wieder.


Georg Müller Verlag, München



Frank Heller

Die Finanzen des Großherzogs

Roman

Autorisierte Uebersetzung aus dem Schwedischen von Marie Franzos

13.-22. Tausend

  Geheftet Mk. 5.50      Gebunden Mk. 7.50

+Wiener Abendpost+: Dieser Autor läßt einen nicht zu Atem kommen,
bevor man auf der letzten Seite angekommen ist. Er hat ein Buch
geschrieben, das man verschlingt, wie man es in der seligen Bubenzeit
mit den Indianergeschichten getan hat. Wahrhaftig, dieser Frank Heller
ist ein Indianerromancier für Erwachsene, ein glänzend begabter,
ideenreicher, witziger, gescheiter noch dazu.

+Neue Züricher Zeitung+: So spannend in der Handlung die Romane
des jungen Schweden sind, so humorvoll sind sie zu gleicher Zeit. Wie
er es fertig bringt, das Ernsthaft-Gefährliche einer Situation und
deren komischen Moment stilistisch wiederzugeben, das verdient alle
Aufmerksamkeit. Zutiefst kollert immer ein befreiendes Lachen. Und
dieser Humor ist nichts Gesuchtes, sondern wirkt selbstverständlich und
berechtigt. Die Originalität dieses Kriminalromans stellt ihn auf eine
literarische Stufe, die bis jetzt auf diesem Gebiete wohl noch selten
oder nie erreicht worden ist.


Georg Müller Verlag, München



Frank Heller

Lavertisse macht den Haupttreffer

Roman

Autorisierte Uebersetzung aus dem Schwedischen von Marie Franzos

9.-18. Tausend

  Geheftet Mk. 5.50      Gebunden Mk. 7.50

+München-Augsburger Abendzeitung+: Wir bedürfen der leichtern
Kunst gegenüber den schweren Lasten des ernsten Lebens, wir brauchen
eine Stunde des Untertauchens, wenn unsere Seele oder unser Geist in
hochgespannter Arbeit sich heiß gelaufen haben. Der Roman Hellers
ist in diesem Sinne sogar ein Kohlensäure-Bad, prickelnd von einem
geistigen Fluidum, das erfrischend wirkt, gegossen in das Gefäß eines
glatten, blanken, glitzernden Stils und angereichert durch überlegenen
Humor von snobistischer Färbung.

+Neueste Hamburger Zeitung+: Was die Bücher Frank Hellers so
anziehend macht, ist die fast übermütige Darstellung der Gauner-
und Heldenstreiche, die famose Ueberlegenheit, mit der hier die
Wirklichkeiten durcheinandergeschoben und in immer neue, überraschende
Kombinationen gebracht werden. Es fehlt die Betonung des reinen
Handwerks (die bei Conan Doyle etwa vorherrscht), er ist nicht vom
„Fall“ ausgegangen, sondern vom Charakter des Helden. Das ist viel
interessanter als Sherlock Holmes, weil er ein lebendiger, beweglicher,
blendender Kerl ist.


Georg Müller Verlag, München


Druck von Mänicke und Jahn in Rudolstadt



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