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Title: Aquis Submersus
Author: Storm, Theodor
Language: German
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Aquis submersus

Novelle (1876)

von Theodor Storm



In unserem zu dem früher herzoglichen Schlosse gehörigen, seit
Menschengedenken aber ganz vernachlässigten „Schloßgarten“ waren schon
in meiner Knabenzeit die einst im altfranzösischen Stile angelegten
Hagebuchenhecken zu dünnen, gespenstischen Alleen ausgewachsen; da sie
indessen immerhin noch einige Blätter tragen, so wissen wir Hiesigen,
durch Laub der Bäume nicht verwöhnt, sie gleichwohl auch in dieser Form
zu schätzen; und zumal von uns nachdenklichen Leuten wird immer der
eine oder andre dort zu treffen sein. Wir pflegen dann unter dem
dürftigen Schatten nach dem sogenannten „Berg“ zu wandern, einer
kleinen Anhöhe in der nordwestlichen Ecke des Gartens oberhalb dem
ausgetrockneten Bette eines Fischteiches, von wo aus der weitesten
Aussicht nichts im Wege steht.

Die meisten mögen wohl nach Westen blicken, um sich an dem lichten Grün
der Marschen und darüberhin an der Silberflut des Meeres zu ergötzen,
auf welcher das Schattenspiel der langgestreckten Insel schwimmt; meine
Augen wenden unwillkürlich sich nach Norden, wo, kaum eine Meile fern,
der graue spitze Kirchturm aus dem höher belegenen, aber öden
Küstenlande aufsteigt; denn dort liegt eine von den Stätten meiner
Jugend.

Der Pastorssohn aus jenem Dorfe besuchte mit mir die „Gelehrtenschule“
meiner Vaterstadt, und unzählige Male sind wir am Sonnabendnachmittage
zusammen dahinaus gewandert, um dann am Sonntagabend oder montags früh
zu unserem Nepos oder später zu unserem Cicero nach der Stadt
zurückzukehren. Es war damals auf der Mitte des Weges noch ein gut
Stück ungebrochener Heide übrig, wie sie sich einst nach der einen
Seite bis fast zur Stadt, nach der anderen ebenso gegen das Dorf
erstreckt hatte. Hier summten auf den Blüten des duftenden Heidekrauts
die Immen und weißgrauen Hummeln und rannte unter den dürren Stengeln
desselben der schöne goldgrüne Laufkäfer; hier in den Duftwolken der
Eriken und des harzigen Gagelstrauches schwebten Schmetterlinge, die
nirgends sonst zu finden waren. Mein ungeduldig dem Elternhause
zustrebender Freund hatte oft seine liebe Not, seinen träumerischen
Genossen durch all die Herrlichkeiten mit sich fortzubringen; hatten
wir jedoch das angebaute Feld erreicht, dann ging es auch um desto
munterer vorwärts, und bald, wenn wir nur erst den langen Sandweg
hinaufwateten, erblickten wir auch schon über dem dunkeln Grün einer
Fliederhecke den Giebel des Pastorhauses, aus dem das Studierzimmer des
Pastors mit seinen kleinen blinden Fensterscheiben auf die bekannten
Gäste hinabgrüßte.

Bei den Pastorsleuten, deren einziges Kind mein Freund war, hatten wir
allezeit, wie wir hier zu sagen pflegen, fünf Quartier auf der Elle,
ganz abgesehen von der wunderbaren Naturalverpflegung. Nur die
Silberpappel, der einzig hohe und also auch einzig verlockende Baum des
Dorfes, welche ihre Zweige ein gut Stück oberhalb des bemoosten
Strohdaches rauschen ließ, war gleich dem Apfelbaum des Paradieses uns
verboten und wurde daher nur heimlich von uns erklettert; sonst war,
soviel ich mich entsinne, alles erlaubt und wurde ja nach unserer
Altersstufe bestens von uns ausgenutzt.

Der Hauptschauplatz unserer Taten war die große „Priesterkoppel“, zu
der ein Pförtchen aus dem Garten führte. Hier wußten wir mit dem den
Buben angebotenen Instinkte die Nester der Lerchen und der Grauammern
aufzuspüren, denen wir dann die wiederholtesten Besuche abstatteten, um
nachzusehen, wie weit in den letzten zwei Stunden die Eier oder die
Jungen nun gediehen seien; hier auf einer tiefen und, wie ich jetzt
meine, nicht weniger als jene Pappel gefährlichen Wassergrube, deren
Rand mit alten Weidenstümpfen dicht umstanden war, fingen wir die
flinken schwarzen Käfer, die wir „Wasserfranzosen“ nannten, oder ließen
wir ein andermal unsere auf einer eigens angelegten Werft erbaute
Kriegsflotte aus Walnußschalen und Schachteldeckeln schwimmen. Im
Spätsommer geschah es dann auch wohl, daß wir aus unserer Koppel einen
Raubzug nach des Küsters Garten machten, welcher gegenüber dem des
Pastorates an der anderen Seite der Wassergrube lag; denn wir hatten
dort von zwei verkrüppelten Apfelbäumen unseren Zehnten einzuheimsen,
wofür uns freilich gelegentlich eine freundschaftliche Drohung von dem
gutmütigen alten Manne zuteil wurde.—So viele Jugendfreuden wuchsen auf
dieser Priesterkoppel, in deren dürrem Sandboden andere Blumen nicht
gedeihen wollten; nur den scharfen Duft der goldknopfigen Rainfarren,
die hier haufenweis auf allen Wällen standen, spüre ich noch heute in
der Erinnerung, wenn jene Zeiten mir lebendig werden.

Doch alles dieses beschäftigte uns nur vorübergehend; meine dauernde
Teilnahme dagegen erregte ein anderes, dem wir selbst in der Stadt
nichts an die Seite zu setzen hatten.—Ich meine damit nicht etwa die
Röhrenbauten der Lehmwespen, die überall aus den Mauerfugen des Stalles
hervorragten, obschon es anmutig genug war, in beschaulicher
Mittagsstunde das Aus- und Einfliegen der emsigen Tierchen zu
beobachten; ich meine den viel größeren Bau der alten und ungewöhnlich
stattlichen Dorfkirche. Bis an das Schindeldach des hohen Turmes war
sie von Grund auf aus Granitquadern aufgebaut und beherrschte, auf dem
höchsten Punkt des Dorfes sich erhebend, die weite Schau über Heide,
Strand und Marschen.—Die meiste Anziehungskraft für mich hatte indes
das Innere der Kirche; schon der ungeheure Schlüssel, der von dem
Apostel Petrus selbst zu stammen schien, erregte meine Phantasie. Und
in der Tat erschloß er auch, wenn wir ihn glücklich dem alten Küster
abgewonnen hatten, die Pforte zu manchen wunderbaren Dingen, aus denen
eine längst vergangene Zeit hier wie mit finstern, dort mit kindlich
frommen Augen, aber immer in geheimnisvollem Schweigen zu uns Lebenden
aufblickte. Da hing mitten in die Kirche hinab ein schrecklich
übermenschlicher Crucifixus, dessen hagere Glieder und verzerrtes
Antlitz mit Blute überrieselt waren; dem zur Seite an einem
Mauerpfeiler haftete gleich einem Nest die braungeschnitzte Kanzel, an
der aus Frucht- und Blattgewinden allerlei Tier- und Teufelsfratzen
sich hervorzudrängen schienen. Besondere Anziehung aber übte der große
geschnitzte Altarschrank im Chor der Kirche, auf dem in bemalten
Figuren die Leidensgeschichte Christi dargestellt war; so seltsam wilde
Gesichter, wie das des Kaiphas oder die der Kriegsknechte, welche in
ihren goldenen Harnischen um des Gekreuzigten Mantel würfelten, bekam
man draußen im Alltagsleben nicht zu sehen; tröstlich damit
kontrastierte nur das holde Antlitz der am Kreuze hingesunkenen Maria;
ja, sie hätte leicht mein Knabenherz mit einer phantastischen Neigung
bestricken können, wenn nicht ein anderes mit noch stärkerem Reize des
Geheimnisvollen mich immer wieder von ihr abgezogen hätte.

Unter all diesen seltsamen oder wohl gar unheimlichen Dingen hing im
Schiff der Kirche das unschuldige Bildnis eines toten Kindes, eines
schönen, etwa fünfjährigen Knaben, der, auf einem mit Spitzen besetzten
Kissen ruhend, eine weiße Wasserlilie in seiner kleinen bleichen Hand
hielt. Aus dem zarten Antlitz sprach neben dem Grauen des Todes, wie
hülfeflehend, noch eine letzte holde Spur des Lebens; ein
unwiderstehliches Mitleid befiel mich, wenn ich vor diesem Bilde stand.

Aber es hing nicht allein hier; dicht daneben schaute aus dunklem
Holzrahmen ein finsterer, schwarzbärtiger Mann in Priesterkragen und
Sammar. Mein Freund sagte mir, es sei der Vater jenes schönen Knaben;
dieser selbst, so gehe noch heute die Sage, solle einst in der
Wassergrube unserer Priesterkoppel seinen Tod gefunden haben. Auf dem
Rahmen lasen wir die Jahreszahl 1666; das war lange her. Immer wieder
zog es mich zu diesen beiden Bildern; ein phantastisches Verlangen
ergriff mich, von dem Leben und Sterben des Kindes eine nähere, wenn
auch noch so karge Kunde zu erhalten; selbst aus dem düsteren Antlitz
des Vaters, das trotz des Priesterkragens mich fast an die
Kriegsknechte des Altarschranks gemahnen wollte, suchte ich sie
herauszulesen.

—Nach solchen Studien in dem Dämmerlicht der alten Kirche erschien dann
das Haus der guten Pastorsleute nur um so gastlicher. Freilich war es
gleichfalls hoch zu Jahren, und der Vater meines Freundes hoffte, so
lange ich denken konnte, auf einen Neubau; da aber die Küsterei an
derselben Altersschwäche litt, so wurde weder hier noch dort
gebaut.—Und doch, wie freundlich waren trotzdem die Räume des alten
Hauses; im Winter die kleine Stube rechts, im Sommer die größere links
vom Hausflur, wo die aus den Reformationsalmanachen herausgeschnittenen
Bilder in Mahagonirähmchen an der weißgetünchten Wand hingen, wo man
aus dem westlichen Fenster nur eine ferne Windmühle, außerdem aber den
ganzen weiten Himmel vor sich hatte, der sich abends in rosenrotem
Schein verklärte und dann das ganze Zimmer überglänzte! Die lieben
Pastorsleute, die Lehnstühle mit den roten Plüschkissen, das alte tiefe
Sofa, auf dem Tisch beim Abendbrot der traulich sausende Teekessel—es
war alles helle, freundliche Gegenwart. Nur eines Abends—wir waren
derzeit schon Sekundaner—kam mir der Gedanke, welch eine Vergangenheit
an diesen Räumen hafte, ob nicht gar jener tote Knabe einst mit
frischen Wangen hier leibhaftig umhergesprungen sei, dessen Bildnis
jetzt wie mit einer wehmütig holden Sage den düsteren Kirchenraum
erfüllte.

Veranlassung zu solcher Nachdenklichkeit mochte geben, daß ich am
Nachmittage, wo wir auf meinen Antrieb wieder einmal die Kirche besucht
hatten, unten in einer dunkeln Ecke des Bildes vier mit roter Farbe
geschriebene Buchstaben entdeckt hatte, die mir bis jetzt entgangen
waren.

„Sie lauten C. P. A. S.“, sagte ich zu dem Vater meines Freundes; „aber
wir können sie nicht enträtseln.“

„Nun“, erwiderte dieser, „die Inschrift ist mir wohl bekannt; und nimmt
man das Gerücht zu Hülfe, so möchten die beiden letzten Buchstaben wohl
mit Aquis submersus, also mit ,Ertrunken‘ oder wörtlich ,Im Wasser
versunken‘ zu deuten sein; nur mit dem vorangehenden C. P. wäre man
dann noch immer in Verlegenheit! Der junge Adjunktus unseres Küsters,
der einmal die Quarta passiert ist, meint zwar, es könne Casu
periculoso—,Durch gefährlichen Zufall‘—heißen; aber die alten Herren
jener Zeit dachten logischer; wenn der Knabe dabei ertrank, so war der
Zufall nicht nur bloß gefährlich.“

Ich hatte begierig zugehört. „Casu“ sagte ich; „es könnte auch wohl
,Culpa‘ heißen?“

„Culpa?“ wiederholte der Pastor. „Durch Schuld?—aber durch wessen
Schuld?“

Da trat das finstere Bild des alten Predigers mir vor die Seele, und
ohne viel Besinnen rief ich: „Warum nicht: Culpa patris?“

Der gute Pastor war fast erschrocken. „Ei, ei, mein junger Freund“,
sagte er und erhob warnend den Finger gegen mich. „Durch Schuld des
Vaters?—So wollen wir trotz seines düsteren Ansehens meinen seligen
Amtsbruder doch nicht beschuldigen. Auch würde er dergleichen wohl
schwerlich von sich haben schreiben lassen.“

Dies letztere wollte auch meinem jugendlichen Verstande einleuchten;
und so blieb denn der eigentliche Sinn der Inschrift nach wie vor ein
Geheimnis der Vergangenheit.

Daß übrigens jene beiden Bilder sich auch in der Malerei wesentlich vor
einigen alten Predigerbildnissen auszeichneten, welche gleich daneben
hingen, war mir selbst schon klargeworden; daß aber Sachverständige in
dem Maler einen tüchtigen Schüler altholländischer Meister erkennen
wollten, erfuhr ich freilich jetzt erst durch den Vater meines
Freundes. Wie jedoch ein solcher in dieses arme Dorf verschlagen worden
oder woher er gekommen und wie er geheißen habe, darüber wußte auch er
mir nichts zu sagen. Die Bilder selbst enthielten weder einen Namen
noch ein Malerzeichen.


Die Jahre gingen hin. Während wir die Universität besuchten, starb der
gute Pastor, und die Mutter meines Schulgenossen folgte später ihrem
Sohne auf dessen inzwischen anderswo erreichte Pfarrstelle; ich hatte
keine Veranlassung mehr, nach jenem Dorfe zu wandern.—Da, als ich
selbst schon in meiner Vaterstadt wohnhaft war, geschah es, daß ich für
den Sohn eines Verwandten ein Schülerquartier bei guten Bürgersleuten
zu besorgen hatte. Der eigenen Jugendzeit gedenkend, schlenderte ich im
Nachmittagssonnenscheine durch die Straßen, als mir an der Ecke des
Marktes über der Tür eines alten hochgegiebelten Hauses eine
plattdeutsche Inschrift in die Augen fiel, die verhochdeutscht etwa
lauten würde:

Gleich so wie Rauch und Staub verschwindt,
Also sind auch die Menschenkind.


Die Worte mochten für jugendliche Augen wohl nicht sichtbar sein; denn
ich hatte sie nie bemerkt, sooft ich auch in meiner Schulzeit mir einen
Heißewecken bei dem dort wohnenden Bäcker geholt hatte. Fast
unwillkürlich trat ich in das Haus; und in der Tat, es fand sich hier
ein Unterkommen für den jungen Vetter. Die Stube ihrer alten
„Möddersch“ (Mutterschwester)—so sagte mir der freundliche Meister—,
von der sie Haus und Betrieb geerbt hätten, habe seit Jahren leer
gestanden; schon lange hätten sie sich einen jungen Gast dafür
gewünscht.

Ich wurde eine Treppe hinaufgeführt, und wir betraten dann ein ziemlich
niedriges, altertümlich ausgestattetes Zimmer, dessen beide Fenster mit
ihren kleinen Scheiben auf den geräumigen Marktplatz hinausgingen.
Früher, erzählte der Meister, seien zwei uralte Linden vor der Tür
gewesen; aber er habe sie schlagen lassen, da sie allzusehr ins Haus
gedunkelt und auch hier die schöne Aussicht ganz verdeckt hätten.

Über die Bedingungen wurden wir bald in allen Teilen einig; während wir
dann aber noch über die jetzt zu treffende Einrichtung des Zimmers
sprachen, war mein Blick auf ein im Schatten eines Schrankes hängendes
Ölgemälde gefallen, das plötzlich meine ganze Aufmerksamkeit
hinwegnahm. Es war noch wohlerhalten und stellte einen älteren, ernst
und milde blickenden Mann dar, in einer dunklen Tracht, wie in der
Mitte des siebzehnten Jahrhunderts sie diejenigen aus den vornehmeren
Ständen zu tragen pflegten, welche sich mehr mit Staatssachen oder
gelehrten Dingen als mit dem Kriegshandwerke beschäftigten.

Der Kopf des alten Herrn, so schön und anziehend und so trefflich
gemalt er immer sein mochte, hatte indessen nicht diese Erregung in mir
hervorgebracht; aber der Maler hatte ihm einen blassen Knaben in den
Arm gelegt, der in seiner kleinen, schlaff herabhängenden Hand eine
weiße Wasserlilie hielt; und diesen Knaben kannte ich ja längst. Auch
hier war es wohl der Tod, der ihm die Augen zugedrückt hatte.

„Woher ist dieses Bild?“ frug ich endlich, da mir plötzlich bewußt
wurde, daß der vor mir stehende Meister mit seiner Auseinandersetzung
innegehalten hatte.

Er sah mich verwundert an. „Das alte Bild? Das ist von unserer
Möddersch“, erwiderte er; „es stammt von ihrem Urgroßonkel, der ein
Maler gewesen und vor mehr als hundert Jahren hier gewohnt hat. Es sind
noch andre Siebensachen von ihm da.“

Bei diesen Worten zeigte er nach einer kleinen Lade von Eichenholz, auf
welcher allerlei geometrische Figuren recht zierlich eingeschnitten
waren.

Als ich sie von dem Schranke, auf dem sie stand, herunternahm, fiel der
Deckel zurück, und es zeigten sich mir als Inhalt einige stark
vergilbte Papierblätter mit sehr alten Schriftzügen.

„Darf ich die Blätter lesen?“ frug ich.

„Wenn’s Ihnen Pläsier macht“, erwiderte der Meister, „so mögen Sie die
ganze Sache mit nach Hause nehmen; es sind so alte Schriften; Wert
steckt nicht darin.“

Ich aber erbat mir und erhielt auch die Erlaubnis, diese wertlosen
Schriften hier an Ort und Stelle lesen zu dürfen; und während ich mich
dem alten Bilde gegenüber in einen mächtigen Ohrenlehnstuhl setzte,
verließ der Meister das Zimmer, zwar immer noch erstaunt, doch
gleichwohl die freundliche Verheißung zurücklassend, daß seine Frau
mich bald mit einer guten Tasse Kaffee regulieren werde.

Ich aber las und hatte im Lesen bald alles um mich her vergessen.



So war ich denn wieder daheim in unserm Holstenlande; am Sonntage
Cantate war es Anno 1661!—Mein Malgeräth und sonstiges Gepäcke hatte
ich in der Stadt zurückgelassen und wanderte nun fröhlich fürbaß, die
Straße durch den maiengrünen Buchenwald, der von der See ins Land
hinaufsteigt. Vor mir her flogen ab und zu ein paar Waldvöglein und
letzeten ihren Durst an dem Wasser, so in den tiefen Radgeleisen stund;
denn ein linder Regen war gefallen über Nacht und noch gar früh am
Vormittage, so daß die Sonne den Waldesschatten noch nicht überstiegen
hatte.

Der helle Drosselschlag, der von den Lichtungen zu mir scholl, fand
seinen Widerhall in meinem Herzen. Durch die Bestellungen, so mein
theurer Meister van der Helst im letzten Jahre meines Amsterdamer
Aufenthalts mir zugewendet, war ich aller Sorge quitt geworden; einen
guten Zehrpfennig und einen Wechsel auf Hamburg trug ich noch itzt in
meiner Taschen; dazu war ich stattlich angethan: mein Haar fiel auf
mein Mäntelchen mit feinem Grauwerk, und der Lütticher Degen fehlte
nicht an meiner Hüfte.

Meine Gedanken aber eilten mir voraus; immer sah ich Herrn Gerhardus,
meinen edlen großgünstigen Protector, wie er von der Schwelle seines
Zimmers mir die Hände würd’ entgegenstrecken, mit seinem milden Gruße:
„So segne Gott deinen Eingang, mein Johannes!“

Er hatte einst mit meinem lieben, ach, gar zu früh in die ewige
Herrlichkeit genommenen Vater zu Jena die Rechte studiret und war auch
nachmals den Künsten und Wissenschaften mit Fleiße obgelegen, so daß er
dem Hochseligen Herzog Friederich bei seinem edlen, wiewohl wegen der
Kriegsläufte vergeblichen Bestreben um Errichtung einer
Landesuniversität ein einsichtiger und eifriger Berather gewesen.
Obschon ein adeliger Mann, war er meinem lieben Vater doch stets in
Treuen zugethan blieben, hatte auch nach dessen seligem Hintritt sich
meiner verwaiseten Jugend mehr, als zu verhoffen, angenommen und nicht
allein meine sparsamen Mittel aufgebessert, sondern auch durch seine
fürnehme Bekanntschaft unter dem Holländischen Adel es dahin gebracht,
daß mein theuerer Meister van der Helst mich zu seinem Schüler
angenommen.

Meinte ich doch zu wissen, daß der verehrte Mann unversehrt auf seinem
Herrenhofe sitze, wofür dem Allmächtigen nicht genug zu danken; denn,
derweilen ich in der Fremde mich der Kunst beflissen, war daheim die
Kriegsgreuel über das Land gekommen; so zwar, daß die Truppen, die
gegen den kriegswüthigen Schweden dem Könige zum Beistand hergezogen,
fast ärger als die Feinde selbst gehauset, ja selbst der Diener Gottes
mehrere in jämmerlichen Tod gebracht. Durch den plötzlichen Hintritt
des Schwedischen Carolus war nun zwar Friede; aber die grausamen
Stapfen des Krieges lagen überall; manch Bauern- oder Käthnerhaus, wo
man mich als Knaben mit einem Trunke süßer Milch bewirthet, hatte ich
auf meiner Morgenwanderung niedergesenget am Wege liegen sehen und
manches Feld in ödem Unkraut, darauf sonst um diese Zeit der Roggen
seine grünen Spitzen trieb.

Aber solches beschwerete mich heut nicht allzu sehr; ich hatte nur
Verlangen, wie ich dem edlen Herrn durch meine Kunst beweisen möchte,
daß er Gab und Gunst an keinen Unwürdigen verschwendet habe; dachte
auch nicht an Strolche und verlaufen Gesindel, das vom Kriege her noch
in den Wäldern Umtrieb halten sollte. Wohl aber tückete mich ein
anderes, und das war der Gedanke an den Junker Wulf. Er war mir nimmer
hold gewesen, hatte wohl gar, was sein edler Vater an mir gethan, als
einen Diebstahl an ihm selber angesehen; und manches Mal, wenn ich, wie
öfters nach meines lieben Vaters Tode, im Sommer die Vacanz auf dem
Gute zubrachte, hatte er mir die schönen Tage vergället und versalzen.
Ob er anitzt in seines Vaters Hause sei, war mir nicht kund geworden,
hatte nur vernommen, daß er noch vor dem Friedensschlusse bei Spiel und
Becher mit den Schwedischen Offiziers Verkehr gehalten, was mit rechter
Holstentreue nicht zu reimen ist.

Indem ich dieß bei mir erwog, war ich aus dem Buchenwalde in den
Richtsteig durch das Tannenhölzchen geschritten, das schon dem Hofe
nahe liegt. Wie liebliche Erinnerung umhauchte mich der Würzeduft des
Harzes; aber bald trat ich aus dem Schatten in den vollen Sonnenschein
hinaus; da lagen zu beiden Seiten die mit Haselbüschen eingehegten
Wiesen, und nicht lange, so wanderte ich zwischen den zwo Reihen
gewaltiger Eichbäume, die zum Herrensitz hinaufführen.

Ich weiß nicht, was für ein bang Gefühl mich plötzlich überkam, ohn
alle Ursach, wie ich derzeit dachte; denn es war eitel Sonnenschein
umher, und vom Himmel herab klang ein gar herzlich und ermunternd
Lerchensingen. Und siehe, dort auf der Koppel, wo der Hofmann seinen
Immenhof hat, stand ja auch noch der alte Holzbirnenbaum und flüsterte
mit seinen jungen Blättern in der blauen Luft.

„Grüß dich Gott!“ sagte ich leis, gedachte dabei aber weniger des
Baumes, als vielmehr des holden Gottesgeschöpfes, in dem, wie es sich
nachmals fügen mußte, all Glück und Leid und auch all nagende Buße
meines Lebens beschlossen sein sollte, für jetzt und alle Zeit. Das war
des edlen Herrn Gerhardus Töchterlein, des Junkers Wulfen einzig
Geschwister.

Item, es war bald nach meines lieben Vaters Tode, als ich zum ersten
Mal die ganze Vacanz hier verbrachte; sie war derzeit ein neunjährig
Dirnlein, die ihre braunen Zöpfe lustig fliegen ließ; ich zählte um ein
paar Jahre weiter. So trat ich eines Morgens aus dem Thorhaus; der alte
Hofmann Dieterich, der ober der Einfahrt wohnt und neben dem als einem
getreuen Mann mir mein Schlafkämmerlein eingeräumt war, hatte mir einen
Eschenbogen zugerichtet, mir auch die Bolzen von tüchtigem Blei dazu
gegossen, und ich wollte nun auf die Raubvögel, deren genug bei dem
Herrenhaus umherschrien; da kam sie vom Hofe auf mich zugesprungen.

„Weißt du, Johannes“, sagte sie; „ich zeig dir ein Vogelnest; dort in
dem hohlen Birnbaum; aber das sind Rotschwänzchen, die darfst du ja
nicht schießen!“

Damit war sie schon wieder vorausgesprungen; doch eh sie noch dem Baum
auf zwanzig Schritte nah gekommen, sah ich sie jählings stille stehn.
„Der Buhz, der Buhz!“ schrie sie und schüttelte wie entsetzt ihre
beiden Händlein in der Luft.

Es war aber ein großer Waldkauz, der ober dem Loche des hohlen Baumes
saß und hinabschauete, ob er ein ausfliegend Vögelein erhaschen möge.
„Der Buhz, der Buhz!“ schrie die Kleine wieder. „Schieß, Johannes,
schieß!“—Der Kauz aber, den die Freßgier taub gemacht, saß noch immer
und stierete in die Höhlung. Da spannte ich meinen Eschenbogen und
schoß, daß das Raubthier zappelnd auf dem Boden lag; aus dem Baume aber
schwang sich ein zwitschernd Vöglein in die Luft.

Seit der Zeit waren Katharina und ich zwei gute Gesellen mit einander;
in Wald und Garten, wo das Mägdlein war, da war auch ich. Darob aber
mußte mir gar bald ein Feind erstehen; das war der Kurt von der Risch,
dessen Vater eine Stunde davon auf seinem reichen Hofe saß. In
Begleitung seines gelahrten Hofmeisters, mit dem Herr Gerhardus gern
der Unterhaltung pflag, kam er oftmals auf Besuch; und da er jünger war
als Junker Wulf, so war er wohl auf mich und Katharinen angewiesen;
insonders aber schien das braune Herrentöchterlein ihm zu gefallen.
Doch war das schier umsonst; sie lachte nur über seine krumme
Vogelnase, die ihm, wie bei fast allen des Geschlechtes, unter
buschigem Haupthaar zwischen zwei merklich runden Augen saß. Ja, wenn
sie seiner nur von fern gewahrte, so reckte sie wohl ihr Köpfchen vor
und rief. „Johannes, der Buhz, der Buhz!“ Dann versteckten wir uns
hinter den Scheunen oder rannten wohl auch spornstreichs in den Wald
hinein, der sich in einem Bogen um die Felder und danach wieder dicht
an die Mauern des Gartens hinanzieht.

Darob, als der von der Risch deß inne wurde, kam es oftmals zwischen
uns zum Haarraufen, wobei jedoch, da er mehr hitzig denn stark war, der
Vortheil meist in meinen Händen blieb.

Als ich, um von Herrn Gerhardus Urlaub zu nehmen, vor meiner Ausfahrt
in die Fremde zum letzten Mal, jedoch nur kurze Tage, hier verweilte,
war Katharina schon fast wie eine Jungfrau; ihr braunes Haar lag itzt
in einem goldnen Netz gefangen; in ihren Augen, wenn sie die Wimpern
hob, war oft ein spielend Leuchten, das mich schier beklommen machte.
Auch war ein alt gebrechlich Fräulein ihr zur Obhut beigegeben, so man
im Hause nur „Bas’ Ursel“ nannte; sie ließ das Kind nicht aus den Augen
und ging überall mit einer langen Tricotage neben ihr.

Als ich so eines Octobernachmittags im Schatten der Gartenhecken mit
beiden auf und ab wandelte, kam ein lang aufgeschossener Gesell, mit
spitzenbesetztem Lederwams und Federhut ganz alamode gekleidet, den
Gang zu uns herauf; und siehe da, es war der Junker Kurt, mein alter
Widersacher. Ich merkte allsogleich, daß er noch immer bei seiner
schönen Nachbarin zu Hofe ging; auch daß insonders dem alten Fräulein
solches zu gefallen schien. Das war ein „Herr Baron“ auf alle Frag’ und
Antwort; dabei lachte sie höchst obligeant mit einer widrig feinen
Stimme und hob die Nase unmäßig in die Luft; mich aber, wenn ich ja ein
Wort dazwischen gab, nannte sie stetig „Er“ oder kurzweg auch
„Johannes“, worauf der Junker dann seine runden Augen einkniff und im
Gegentheile that, als sähe er auf mich herab, obschon ich ihn um halben
Kopfes Länge überragte.

Ich blickte auf Katharinen; die aber kümmerte sich nicht um mich,
sondern ging sittig neben dem Junker, ihm manierlich Red und Antwort
gebend; den kleinen rothen Mund aber verzog mitunter ein spöttisch
stolzes Lächeln, so daß ich dachte: ,Getröste dich, Johannes; der
Herrensohn schnellt itzo deine Waage in die Luft‘ Trotzig blieb ich
zurück und ließ die andern dreie vor mir gehen. Als aber diese in das
Haus getreten waren und ich davor noch an Herrn Gerhardus’ Blumenbeeten
stand, darüber brütend, wie ich, gleich wie vormals, mit dem von der
Risch ein tüchtig Haarraufen beginnen möchte, kam plötzlich Katharina
wieder zurückgelaufen, riß neben mir eine Aster von den Beeten und
flüsterte mir zu: „Johannes, weißt du was? Der Buhz sieht einem jungen
Adler gleich; Bas’ Ursel hat’s gesagt!“ Und fort war sie wieder, eh ich
mich’s versah. Mir aber war auf einmal all Trotz und Zorn wie
weggeblasen. Was kümmerte mich itzund der Herr Baron! Ich lachte hell
und fröhlich in den güldnen Tag hinaus; denn bei den übermüthigen
Worten war wieder jenes süße Augenspiel gewesen. Aber diesmal hatte es
mir gerad ins Herz geleuchtet.

Bald danach ließ mich Herr Gerhardus auf sein Zimmer rufen; er zeigte
mir auf einer Karte noch einmal, wie ich die weite Reise nach Amsterdam
zu machen habe, übergab mir Briefe an seine Freunde dort und sprach
dann lange mit mir, als meines lieben seligen Vaters Freund. Denn noch
selbigen Abends hatte ich zur Stadt zu gehen, von wo ein Bürger mich
auf seinem Wagen mit nach Hamburg nehmen wollte.

Als nun der Tag hinabging, nahm ich Abschied. Unten im Zimmer saß
Katharina an einem Stickrahmen; ich mußte der Griechischen Helena
gedenken, wie ich sie jüngst in einem Kupferwerk gesehen; so schön
erschien mir der junge Nacken, den das Mädchen eben über ihre Arbeit
neigte. Aber sie war nicht allein; ihr gegenüber saß Bas’ Ursel und las
laut aus einem französischen Geschichtenbuche. Da ich näher trat, hob
sie die Nase nach mir zu. „Nun, Johannes“, sagte sie, „Er will mir wohl
Ade sagen? So kann Er auch dem Fräulein gleich Seine Reverenze
machen!“—Da war schon Katharina von ihrer Arbeit aufgestanden; aber
indem sie mir die Hand reichte, traten die Junker Wulf und Kurt mit
großem Geräusch ins Zimmer; und sie sagte nur: „Leb wohl, Johannes!“
Und so ging ich fort.

Im Thorhaus drückte ich dem alten Dieterich die Hand, der Stab und
Ranzen schon für mich bereit hielt; dann wanderte ich zwischen den
Eichbäumen auf die Waldstraße zu. Aber mir war dabei, als könne ich
nicht recht fort, als hätt ich einen Abschied noch zu Gute, und stand
oft still und schaute hinter mich. Ich war auch nicht den Richtweg
durch die Tannen, sondern, wie von selber, den viel weiteren auf der
großen Fahrstraße hingewandert. Aber schon kam vor mir das Abendroth
überm Wald herauf, und ich mußte eilen, wenn mich die Nacht nicht
überfallen sollte. „Ade, Katharina, ade!“ sagte ich leise und setzte
rüstig meinen Wanderstab in Gang.

Da, an der Stelle, wo der Fußsteig in die Straße mündet—in stürmender
Freude stund das Herz mir still—, plötzlich aus dem Tannendunkel war
sie selber da; mit glühenden Wangen kam sie hergelaufen, sie sprang
über den trocknen Weggraben, daß die Fluth des seidenbraunen Haars dem
güldnen Netz entstürzete; und so fing ich sie in meinen Armen auf. Mit
glänzenden Augen, noch mit dem Odem ringend, schaute sie mich an.
„Ich—ich bin ihnen fortgelaufen!“ stammelte sie endlich; und dann, ein
Päckchen in meine Hand drückend, fügte sie leis hinzu: „Von mir,
Johannes! Und du sollst es nicht verachten!“ Auf einmal aber wurde ihr
Gesichtchen trübe; der kleine schwellende Mund wollte noch was reden,
aber da brach ein Thränenquell aus ihren Augen, und wehmüthig ihr
Köpfchen schüttelnd, riß sie sich hastig los. Ich sah ihr Kleid im
finstern Tannensteig verschwinden; dann in der Ferne hörte ich noch die
Zweige rauschen, und dann stand ich allein. Es war so still, die
Blätter konnte man fallen hören. Als ich das Päckchen aus einander
faltete, da war’s ihr güldner Pathenpfennig, so sie mir oft gezeigt
hatte; ein Zettlein lag dabei, das las ich nun beim Schein des
Abendrothes. „Damit du nicht in Noth gerathest“, stund darauf
geschrieben.—Da streckt ich meine Arme in die leere Luft: „Ade,
Katharina ade, ade!“—wohl hundertmal rief ich es in den stillen Wald
hinein;—und erst mit sinkender Nacht erreichte ich die Stadt.

—Seitdem waren fast fünf Jahre dahingegangen.—Wie würd ich heute alles
wiederfinden?

Und schon war ich am Thorhaus und sah drunten im Hof die alten Linden,
hinter deren lichtgrünem Laub die beiden Zackengiebel des Herrenhauses
itzt verborgen lagen. Als ich aber durch den Thorweg gehen wollte,
jagten vom Hofe her zwei fahlgraue Bullenbeißer mit Stachelhalsbändern
gar wild gegen mich heran; sie erhuben ein erschreckliches Geheul, der
eine sprang auf mich und fletschete seine weißen Zähne dicht vor meinem
Antlitz. Solch einen Willkommen hatte ich noch niemalen hier empfangen.
Da, zu meinem Glück, rief aus den Kammern ober dem Thore eine rauhe,
aber mir gar traute Stimme. „Hallo!“ rief sie; „Tartar, Türk!“ Die
Hunde ließen von mir ab, ich hörte es die Stiege herabkommen, und aus
der Thür, so unter dem Thorgang war, trat der alte Dieterich.

Als ich ihn anschaute, sahe ich wohl, daß ich lang in der Fremde
gewesen sei; denn sein Haar war schlohweiß geworden, und seine sonst so
lustigen Augen blickten gar matt und betrübsam auf mich hin. „Herr
Johannes!“ sagte er endlich und reichte mir seine beiden Hände.

„Grüß Ihn Gott, Dieterich!“ entgegnete ich. „Aber seit wann haltet Ihr
solche Bluthunde auf dem Hof, die die Gäste anfallen gleich den
Wölfen?“

„Ja, Herr Johannes“, sagte der Alte, „die hat der Junker hergebracht.“

„Ist denn der daheim?“ Der Alte nickte.

„Nun“, sagte ich, „die Hunde mögen schon vonnöthen sein; vom Krieg her
ist noch viel verlaufen Volk zurückgeblieben.“

„Ach, Herr Johannes!“ Und der alte Mann stund immer noch, als wolle er
mich nicht zum Hof hinauf lassen. „Ihr seid in schlimmer Zeit
gekommen!“

Ich sah ihn an, sagte aber nur: „Freilich, Dieterich; aus mancher
Fensterhöhlung schaut statt des Bauern itzt der Wolf heraus; hab
dergleichen auch gesehen; aber es ist ja Frieden worden, und der gute
Herr im Schloß wird helfen, seine Hand ist offen.“

Mit diesen Worten wollte ich, obschon die Hunde mich wieder
anknurreten, auf den Hof hinausgehen; aber der Greis trat mir in den
Weg. „Herr Johannes“, rief er, „ehe Ihr weiter gehet, höret mich an!
Euer Brieflein ist zwar richtig mit der Königlichen Post von Hamburg
kommen; aber den rechten Leser hat es nicht mehr finden können.“

„Dieterich!“ schrie ich. „Dieterich!“

„—Ja, ja, Herr Johannes! Hier ist die gute Zeit vorbei; denn unser
theurer Herr Gerhardus liegt aufgebahret dort in der Kapellen, und die
Gueridons brennen an seinem Sarge. Es wird nun anders werden auf dem
Hofe; aber—ich bin ein höriger Mann, mir ziemet Schweigen.“

Ich wollte fragen: „Ist das Fräulein, ist Katharina noch im Hause!“
Aber das Wort wollte nicht über meine Zunge.

Drüben, in einem hinteren Seitenbau des Herrenhauses, war eine kleine
Kapelle, die aber, wie ich wußte, seit lange nicht benutzt war. Dort
also sollte ich Herrn Gerhardus suchen.

Ich fragte den alten Hofmann: „Ist die Kapelle offen?“, und als er es
bejahete, bat ich ihn, die Hunde anzuhalten; dann ging ich über den
Hof, wo niemand mir begegnete; nur einer Grasmücke Singen kam oben aus
den Lindenwipfeln.

Die Thür zur Kapellen war nur angelehnt, und leis und gar beklommen
trat ich ein. Da stand der offene Sarg, und die rothe Flamme der Kerzen
warf ihr flackernd Licht auf das edle Antlitz des geliebten Herrn; die
Fremdheit des Todes, so darauf lag, sagte mir, daß er itzt eines andern
Lands Genosse sei. Indem ich aber neben dem Leichnam zum Gebete
hinknien wollte, erhub sich über den Rand des Sarges mir gegenüber ein
junges blasses Antlitz, das aus schwarzen Schleiern fast erschrocken
auf mich schaute.

Aber nur, wie ein Hauch verweht, so blickten die braunen Augen herzlich
zu mir auf, und es war fast wie ein Freudenruf. „O Johannes, seid Ihr’s
denn? Ach, Ihr seid zu spät gekommen!“ Und über dem Sarge hatten unsere
Hände sich zum Gruß gefaßt; denn es war Katharina, und sie war so schön
geworden, daß hier im Angesicht des Todes ein heißer Puls des Lebens
mich durchfuhr. Zwar, das spielende Licht der Augen lag itzt
zurückgeschrecket in der Tiefe; aber aus dem schwarzen Häubchen
drängten sich die braunen Löcklein, und der schwellende Mund war um so
röther in dem blassen Antlitz.

Und fast verwirret auf den Todten schauend, sprach ich: „Wohl kam ich
in der Hoffnung, an seinem lebenden Bilde ihm mit meiner Kunst zu
danken, ihm manche Stunde genüber zu sitzen und sein mild und lehrreich
Wort zu hören. Laßt mich denn nun die bald vergehenden Züge
festzuhalten suchen.“

Und als sie unter Thränen, die über ihre Wangen strömten, stumm zu mir
hinübernickte, setzte ich mich in ein Gestühlte und begann auf einem
von den Blättchen, die ich bei mir führte, des Todten Antlitz
nachzubilden. Aber meine Hand zitterte; ich weiß nicht, ob alleine vor
der Majestät des Todes.

Während dem vernahm ich draußen vom Hofe her eine Stimme, die ich für
die des Junker Wulf erkannte; gleich danach schrie ein Hund wie nach
einem Fußtritt oder Peitschenhiebe; und dann ein Lachen und einen Fluch
von einer andern Stimme, die mir gleicherweise bekannt deuchte.

Als ich auf Katharinen blickte, sah ich sie mit schier entsetzten Augen
nach dem Fenster starren; aber die Stimmen und die Schritte gingen
vorüber. Da erhub sie sich, kam an meine Seite und sahe zu, wie des
Vaters Antlitz unter meinem Stift entstund. Nicht lange, so kam draußen
ein einzelner Schritt zurück; in demselben Augenblick legte Katharina
die Hand auf meine Schulter, und ich fühlte, wie ihr junger Körper
bebte.

Sogleich auch wurde die Kapellenthür aufgerissen; und ich erkannte den
Junker Wulf, obschon sein sonsten bleiches Angesicht itzt roth und
aufgedunsen schien.

„Was huckst du allfort an dem Sarge!“ rief er zu der Schwester. „Der
Junker von der Risch ist da gewesen, uns seine Condolenze zu bezeigen;
du hättest ihm wohl den Trunk kredenzen mögen!“

Zugleich hatte er meiner wahrgenommen und bohrete mich mit seinen
kleinen Augen an. „Wulf“, sagte Katharina, indem sie mit mir zu ihm
trat; „es ist Johannes, Wulf“

Der Junker fand nicht vonnöthen, mir die Hand zu reichen; er musterte
nur mein violenfarben Wams und meinte: „Du trägst da einen bunten
Federbalg; man wird dich ,Sieur‘ nun tituliren müssen!“

„Nennt mich, wie’s Euch gefällt!“ sagte ich, indem wir auf den Hof
hinaustreten. „Obschon mir dorten, von wo ich komme, das ,Herr‘ vor
meinem Namen nicht gefehlet—Ihr wißt wohl, Eueres Vaters Sohn hat
großes Recht an mir.“

Er sah mich was verwundert an, sagte dann aber nur: „Nun wohl, so magst
du zeigen, was du für meines Vaters Gold erlernet hast; und soll dazu
der Lohn für deine Arbeit dir nicht verhalten sein.“

Ich meinete, was den Lohn anginge, den hätte ich längst vorausbekommen;
da aber der Junker entgegnete, er werd es halten, wie sich’s für einen
Edelmann gezieme, so fragte ich, was für Arbeit er mir aufzutragen
hätte.

„Du weißt doch“, sagte er und hielt dann inne, indem er scharf auf
seine Schwester blickte—„wenn eine adelige Tochter das Haus verläßt, so
muß ihr Bild darin zurückbleiben.“

Ich fühlte, daß bei diesen Worten Katharina, die an meiner Seite ging,
gleich einer Taumelnden nach meinem Mantel haschte; aber ich entgegnete
ruhig: „Der Brauch ist mir bekannt; doch, wie meinet Ihr denn, Junker
Wulf?“

„Ich meine“, sagte er hart, als ob er einen Gegenspruch erwarte, „daß
du das Bildniß der Tochter dieses Hauses malen sollst!“

Mich durchfuhr’s fast wie ein Schrecken; weiß nicht, ob mehr über den
Ton oder die Deutung dieser Worte; dachte auch, zu solchem Beginnen sei
itzt kaum die rechte Zeit.

Da Katharina schwieg, aus ihren Augen aber ein flehentlicher Blick mir
zuflog, so antwortete ich: „Wenn Eure edle Schwester es mir vergönnen
will, so hoffe ich Eueres Vaters Protection und meines Meisters Lehre
keine Schande anzuthun. Räumet mir nur wieder mein Kämmerlein ober dem
Thorweg bei dem alten Dieterich, so soll geschehen, was Ihr wünschet.“

Der Junker war das zufrieden und sagte auch seiner Schwester, sie möge
einen Imbiß für mich richten lassen.

Ich wollte über den Beginn meiner Arbeit noch eine Frage thun; aber ich
verstummte wieder, denn über den empfangenen Auftrag war plötzlich eine
Entzückung in mir aufgestiegen, daß ich fürchtete, sie könne mit jedem
Wort hervorbrechen. So war ich auch der zwo grimmen Köter nicht gewahr
worden, die dort am Brunnen sich auf den heißen Steinen sonnten. Da wir
aber näher kamen, sprangen sie auf und fuhren mit offenem Rachen gegen
mich, daß Katharina einen Schrei that, der Junker aber einen schrillen
Pfiff, worauf sie heulend ihm zu Füßen krochen. „Beim Höllenelemente“,
rief er lachend, „zwo tolle Kerle; gilt ihnen gleich, ein Sauschwanz
oder Flandrisch Tuch!“

„Nun, Junker Wulf“—ich konnte der Rede mich nicht wohl enthalten—,
„soll ich noch einmal Gast in Eueres Vaters Hause sein, so möget Ihr
Euere Thiere bessere Sitte lehren!“

Er blitzte mich mit seinen kleinen Augen an und riß sich ein paar Mal
in seinen Zwickelbart. „Das ist nur so ihr Willkommensgruß, Sieur
Johannes!“ sagte er dann, indem er sich bückte, um die Bestien zu
streicheln. „Damit jedweder wisse, daß ein ander Regiment allhier
begonnen; denn—wer mir in die Quere kommt, den hetz ich in des Teufels
Rachen!“

Bei den letzten Worten, die er heftig ausgestoßen, hatte er sich hoch
aufgerichtet; dann pfiff er seinen Hunden und schritt über den Hof dem
Thore zu.

Ein Weilchen schaute ich hintendrein; dann folgte ich Katharinen, die
unter dem Lindenschatten stumm und gesenkten Hauptes die Freitreppe zu
dem Herrenhaus emporstieg; ebenso schweigend gingen wir mitsammen die
breiten Stufen in das Oberhaus hinauf, allwo wir in des seligen Herrn
Gerhardus Zimmer traten.—Hier war noch alles, wie ich es vordem
gesehen; die goldgeblümten Ledertapeten, die Karten an der Wand, die
saubern Pergamentbände auf den Regalen, über dem Arbeitstische der
schöne Waldgrund von dem älteren Ruisdael—und dann davor der leere
Sessel. Meine Blicke blieben daran haften; gleichwie drunten in der
Kapellen der Leib des Entschlafenen, so schien auch dies Gemach mir
itzt entseelet und, obschon vom Walde draußen der junge Lenz durchs
Fenster leuchtete, doch gleichsam von der Stille des Todes wie
erfüllet.

Ich hatte auf Katharinen in diesem Augenblicke fast vergessen. Da ich
mich umwandte, stand sie schier reglos mitten in dem Zimmer, und ich
sah, wie unter den kleinen Händen, die sie daraufgepreßt hielt, ihre
Brust in ungestümer Arbeit ging. „Nicht wahr“, sagte sie leise, „hier
ist itzt niemand mehr; niemand als mein Bruder und seine grimmen
Hunde?“

„Katharina!“ rief ich; „was ist Euch? Was ist das hier in Eueres Vaters
Haus?“

„Was es ist, Johannes?“ Und fast wild ergriff sie meine beiden Hände,
und ihre jungen Augen sprühten wie in Zorn und Schmerz. „Nein, nein;
laß erst den Vater in seiner Gruft zur Ruhe kommen! Aber dann—du sollst
mein Bild ja malen, du wirst eine Zeitlang hier verweilen—dann,
Johannes, hilf mir; um des Todten willen, hilf mir!“

Auf solche Worte, von Mitleid und von Liebe ganz bezwungen, fiel ich
vor der Schönen, Süßen nieder und schwur ihr mich und alle meine Kräfte
zu. Da lösete sich ein sanfter Thränenquell aus ihren Augen, und wir
saßen neben einander und sprachen lange zu des Entschlafenen
Gedächtniß.

Als wir sodann wieder in das Unterhaus hinabgingen, fragte ich auch dem
alten Fräulein nach.

„Oh“, sagte Katharina, „Bas’ Ursel! Wollt Ihr sie begrüßen? Ja, die ist
auch noch da; sie hat hier unten ihr Gemach, denn die Treppen sind ihr
schon längsthin zu beschwerlich.“

Wir traten also in ein Stübchen, das gegen den Garten lag, wo auf den
Beeten vor den grünen Heckenwänden soeben die Tulpen aus der Erde
brachen. Bas’ Ursel saß, in der schwarzen Tracht und Krepphaube nur wie
ein schwindend Häufchen anzuschauen, in einem hohen Sessel und hatte
ein Nonnenspielchen vor sich, das, wie sie nachmals mir erzählte, der
Herr Baron—nach seines Vaters Ableben war er solches itzund
wirklich—ihr aus Lübeck zur Verehrung mitgebracht.

„So“, sagte sie, da Katharina mich genannt hatte, indeß sie behutsam
die helfenbeinern Pflöcklein um einander steckte, „ist Er wieder da,
Johannes? Nein, es geht nicht aus! O, c’est un jeu très-compliqué!“

Dann warf sie die Pflöcklein über einander und schauete mich an. „Ei“,
meinte sie, „Er ist gar stattlich angethan; aber weiß Er denn nicht,
daß Er in ein Trauerhaus getreten ist?“

„Ich weiß es, Fräulein“, entgegnete ich; „aber da ich in das Thor trat,
wußte ich es nicht.“

„Nun“, sagte sie und nickte gar begütigend; „so eigentlich gehöret Er
ja auch nicht zur Dienerschaft.“

Über Katharinens blasses Antlitz flog ein Lächeln, wodurch ich mich
jeder Antwort wohl enthoben halten mochte. Vielmehr rühmte ich der
alten Dame die Anmuth ihres Wohngemaches; denn auch der Epheu von dem
Thürmchen, das draußen an der Mauer aufstieg, hatte sich nach dem
Fenster hingesponnen und wiegete seine grünen Ranken vor den Scheiben.

Aber Bas’ Ursel meinete, ja, wenn nur nicht die Nachtigallen wären, die
itzt schon wieder anhüben mit ihrer Nachtunruhe; sie könne ohnedem den
Schlaf nicht finden; und dann auch sei es schier zu abgelegen; das
Gesinde sei von hier aus nicht im Aug zu halten; im Garten draußen aber
passire eben nichts, als etwan, wann der Gärtnerbursche an den Hecken
oder Buchsrabatten putze.

—Und damit hatte der Besuch seine Endschaft; denn Katharina mahnte, es
sei nachgerade an der Zeit, meinen wegemüden Leib zu stärken.



Ich war nun in meinem Kämmerchen ober dem Hofthor einlogiret, dem alten
Dieterich zur sondern Freude; denn am Feierabend saßen wir auf seiner
Tragkist, und ließ ich mir, gleich wie in der Knabenzeit, von ihm
erzählen. Er rauchte dann wohl eine Pfeife Tabak, welche Sitte durch
das Kriegsvolk auch hier in Gang gekommen war, und holete allerlei
Geschichten aus den Drangsalen, so sie durch die fremden Truppen auf
dem Hof und unten in dem Dorf hatten erleiden müssen; einmal aber, da
ich seine Rede auf das gute Frölen Katharina gebracht und er erst nicht
hatt ein Ende finden können, brach er gleichwohl plötzlich ab und
schauete mich an.

„Wisset Ihr, Herr Johannes“, sagte er, „’s ist grausam schad, daß Ihr
nicht auch ein Wappen habet gleich dem von der Risch da drüben!“

Und da solche Rede mir das Blut ins Gesicht jagete, klopfte er mit
seiner harten Hand mir auf die Schulter, meinend: „Nun, nun, Herr
Johannes; ’s war ein dummes Wort von mir; wir müssen freilich bleiben,
wo uns der Herrgott hingesetzet.“

Weiß nicht, ob ich derzeit mit solchem einverstanden gewesen, fragete
aber nur, was der von der Risch denn itzund für ein Mann geworden.

Der Alte sah mich gar pfiffig an und paffte aus seinem kurzen
Pfeiflein, als ob das theure Kraut am Feldrain wüchse. „Wollet Ihr’s
wissen, Herr Johannes?“ begann er dann. „Er gehöret zu denen muntern
Junkern, die im Kieler Umschlag den Bürgersleuten die Knöpfe von den
Häusern schießen; Ihr möget glauben, er hat treffliche Pistolen! Auf
der Geigen weiß er nicht so gut zu spielen; da er aber ein lustig
Stücklein liebt, so hat er letzthin den Rathsmusikanten, der überm
Holstenthore wohnt, um Mitternacht mit seinem Degen aufgeklopfet, ihm
auch nicht Zeit gelassen, sich Wams und Hosen anzuthun. Statt der
Sonnen stand aber der Mond am Himmel, es war octavis trium regum und
fror Pickelsteine; und hat also der Musikante, den Junker mit dem Degen
hinter sich, im blanken Hemde vor ihm durch die Gassen geigen
müssen!—Wollet Ihr mehr noch wissen, Herr Johannes?—Zu Haus bei ihm
freuen sich die Bauern, wenn der Herrgott sie nicht mit Töchtern
gesegnet; und dennoch—aber nach seines Vaters Tode hat er Geld, und
unser Junker, Ihr wisset’s wohl, hat schon vorher von seinem Erbe
aufgezehrt.“

Ich wußte freilich nun genug; auch hatte der alte Dieterich schon mit
seinem Spruche: „Aber ich bin nur ein höriger Mann“, seiner Rede Schluß
gemacht.

—Mit meinem Malgeräth war auch meine Kleidung aus der Stadt gekommen,
wo ich im Goldenen Löwen alles abgeleget, so daß ich anitzt, wie es
sich ziemete, in dunkler Tracht einherging. Die Tagesstunden aber
wandte ich zunächst in meinen Nutzen. Nämlich, es befand sich oben im
Herrenhause neben des seligen Herrn Gemach ein Saal, räumlich und hoch,
dessen Wände fast völlig von lebensgroßen Bildern verhänget waren, so
daß nur noch neben dem Kamin ein Platz zu zweien offen stund. Es waren
das die Voreltern des Herrn Gerhardus, meist ernst und sicher blickende
Männer und Frauen, mit einem Antlitz, dem man wohl vertrauen konnte; er
selbsten in kräftigem Mannesalter und Katharinens früh verstorbene
Mutter machten dann den Schluß. Die, beiden letzten Bilder waren gar
trefflich von unserem Landsmanne, dem Eiderstedter Georg Ovens, in
seiner kräftigen Art gemalet; und ich suchte nun mit meinem Pinsel die
Züge meines edlen Beschützers nachzuschaffen; zwar in verengtem
Maßstabe und nur mir selber zum Genügen; doch hat es später zu einem
größeren Bildniß mir gedienet, das noch itzt hier in meiner einsamen
Kammer die theuerste Gesellschaft meines Alters ist. Das Bildniß seiner
Tochter aber lebt mit mir in meinem Innern.

Oft, wenn ich die Palette hingelegt, stand ich noch lange vor den
schönen Bildern. Katharinens Antlitz fand ich in dem der beiden Eltern
wieder: des Vaters Stirn, der Mutter Liebreiz um die Lippen; wo aber
war hier der harte Mundwinkel, das kleine Auge des Junker Wulf?—Das
mußte tiefer aus der Vergangenheit heraufgekommen sein! Langsam ging
ich die Reih der älteren Bildnisse entlang, bis über hundert Jahre weit
hinab. Und siehe, da hing im schwarzen, von den Würmern schon
zerfressenen Holzrahmen ein Bild, vor dem ich schon als Knabe, als ob’s
mich hielte, still gestanden war. Es stellete eine Edelfrau von etwa
vierzig Jahren vor; die kleinen grauen Augen sahen kalt und stechend
aus dem harten Antlitz, das nur zur Hälfte zwischen dem Weißen Kinntuch
und der Schleierhaube sichtbar wurde. Ein leiser Schauer überfuhr mich
vor der so lang schon heimgegangenen Seele; und ich sprach zu mir:
,Hier, diese ist’s! Wie räthselhafte Wege gehet die Natur! Ein saeculum
und drüber rinnt es heimlich wie unter einer Decke im Blute der
Geschlechter fort; dann, längst vergessen, taucht es plötzlich wieder
auf, den Lebenden zum Unheil. Nicht vor dem Sohn des edlen Gerhardus;
vor dieser hier und ihres Blutes nachgeborenem Sprößling soll ich
Katharinen schützen.‘ Und wieder trat ich vor die beiden jüngsten
Bilder, an denen mein Gemüthe sich erquickte.

So weilte ich derzeit in dem stillen Saale, wo um mich nur die
Sonnenstäublein spielten, unter den Schatten der Gewesenen.

Katharinen sah ich nur beim Mittagstische, das alte Fräulein und den
Junker Wulf zur Seiten; aber wofern Bas’ Ursel nicht in ihren hohen
Tönen redete, so war es stets ein stumm und betrübsam Mahl, so daß mir
oft der Bissen im Munde quoll. Nicht die Trauer um den Abgeschiedenen
war deß Ursach, sondern es lag zwischen Bruder und Schwester, als sei
das Tischtuch durchgeschnitten zwischen ihnen. Katharina, nachdem sie
fast die Speisen nicht berührt, entfernte sich allzeit bald, mich kaum
nur mit den Augen grüßend; der Junker aber, wenn ihm die Laune stund,
suchte mich dann beim Trunke festzuhalten; hatte mich also hiegegen
und, so ich nicht hinaus wollte über mein gestecktes Maß, überdem wider
allerart Flosculn zu wehren, welche gegen mich gespitzet wurden.

Inzwischen, nachdem der Sarg schon mehrere Tage geschlossen gewesen,
geschahe die Beisetzung des Herrn Gerhardus drunten in der Kirche des
Dorfes, allwo das Erbbegräbniß ist und wo itzt seine Gebeine bei denen
seiner Voreltern ruhen, mit denen der Höchste ihnen dereinst eine
fröhliche Urständ wolle bescheren!

Es waren aber zu solcher Trauerfestlichkeit zwar mancherlei Leute aus
der Stadt und den umliegenden Gütern gekommen, von Angehörigen aber
fast wenige und auch diese nur entfernte, maßen der Junker Wulf der
Letzte seines Stammes war und des Herrn Gerhardus Ehgemahl nicht
hiesigen Geschlechts gewesen; darum es auch geschahe, daß in der Kürze
alle wieder abgezogen sind.

Der Junker drängte nun selbst, daß ich mein aufgetragen Werk begönne,
wozu ich droben in dem Bildersaale an einem nach Norden zu belegenen
Fenster mir schon den Platz erwählet hatte. Zwar kam Bas’ Ursel, die
wegen ihrer Gicht die Treppen nicht hinauf konnte, und meinete, es möge
am besten in ihrer Stuben oder im Gemach daran geschehen, so sei es uns
beiderseits zur Unterhaltung; ich aber, solcher Gevatterschaft gar gern
entrathend, hatte an der dortigen Westsonne einen rechten Malergrund
dagegen, und konnte alles Reden ihr nicht nützen. Vielmehr war ich am
andern Morgen schon dabei, die Nebenfenster des Saales zu verhängen und
die hohe Staffelei zu stellen, so ich mit Hülfe Dieterichs mir selber
in den letzten Tagen angefertigt.

Als ich eben den Blendrahmen mit der Leinewand darauf gelegt, öffnete
sich die Thür aus Herrn Gerhardus’ Zimmer, und Katharina trat herein.
Aus was für Ursach, wäre schwer zu sagen; aber ich empfand, daß wir uns
dießmal fast erschrocken gegenüber standen; aus der schwarzen Kleidung,
die sie nicht abgeleget, schaute das junge Antlitz in gar süßer
Verwirrung zu mir auf.

„Katharina“, sagte ich, „Ihr wisset, ich soll Euer Bildniß malen;
duldet Ihr’s auch gern?“

Da zog ein Schleier über ihre braunen Augensterne, und sie sagte leise:
„Warum doch fragt Ihr so, Johannes?“

Wie ein Thau des Glückes sank es in mein Herz. „Nein, nein, Katharina!
Aber sagt, was ist, worin kann ich Euch dienen?—Setzet Euch, damit wir
nicht so müßig überrascht werden, und dann sprecht! Oder vielmehr, ich
weiß es schon. Ihr braucht mir’s nicht zu sagen!“

Aber sie setzte sich nicht, sie trat zu mir heran. „Denket Ihr noch,
Johannes, wie Ihr einst den Buhz mit Euerem Bogen niederschosset? Das
thut dießmal nicht noth, obschon er wieder ob dem Neste lauert; denn
ich bin kein Vöglein, das sich von ihm zerreißen läßt. Aber,
Johannes—ich habe einen Blutsfreund—, hilf mir wider den!“

„Ihr meinet Eueren Bruder, Katharina!“

—„Ich habe keinen andern.—Dem Manne, den ich hasse, will er mich zum
Weibe geben! Während unseres Vaters langem Siechbett habe ich den
schändlichen Kampf mit ihm gestritten, und erst an seinem Sarg hab
ich’s ihm abgetrotzt, daß ich in Ruhe um den Vater trauern mag; aber
ich weiß, auch das wird er nicht halten.“

Ich gedachte eines Stiftsfräuleins zu Preetz, Herrn Gerhardus’ einzigen
Geschwisters, und meinete, ob die nicht um Schutz und Zuflucht
anzugehen sei.

Katharina nickte. „Wollt Ihr mein Bote sein, Johannes?— Geschrieben
habe ich ihr schon, aber in Wulfs Hände kam die Antwort, und auch
erfahren habe ich sie nicht, nur die ausbrechende Wuth meines Bruders,
die selbst das Ohr des Sterbenden erfüllet hätte, wenn es noch offen
gewesen wäre für den Schall der Welt; aber der gnädige Gott hatte das
geliebte Haupt schon mit dem letzten Erdenschlummer zugedecket.“

Katharina hatte sich nun doch auf meine Bitte mir genüber gesetzet, und
ich begann die Umrisse auf die Leinewand zu zeichnen. So kamen wir zu
ruhiger Berathung; und da ich, wenn die Arbeit weiter vorgeschritten,
nach Hamburg mußte, um bei dem Holzschnitzer einen Rahmen zu bestellen,
so stelleten wir fest, daß ich alsdann den Umweg über Preetz nähme und
also meine Botschaft ausrichtete. Zunächst jedoch sei emsig an dem Werk
zu fördern.



Es ist gar oft ein seltsam Widerspiel im Menschenherzen. Der Junker
mußte es schon wissen, daß ich zu seiner Schwester stand;
gleichwohl—hieß nun sein Stolz ihn, mich gering zu schätzen, oder
glaubte er mit seiner ersten Drohung mich genug geschrecket—, was ich
besorget, traf nicht ein; Katharina und ich waren am ersten wie an den
andern Tagen von ihm ungestöret. Einmal zwar trat er ein und schalt mit
Katharinen wegen ihrer Trauerkleidung, warf aber dann die Thür hinter
sich, und wir hörten ihn bald auf dem Hofe ein Reiterstücklein pfeifen.
Ein ander Mal noch hatte er den von der Risch an seiner Seite. Da
Katharina eine heftige Bewegung machte, bat ich sie, auf ihrem Platz zu
bleiben, und malete ruhig weiter. Seit dem Begräbnißtage, wo ich einen
fremden Gruß mit ihm getauschet, hatte der Junker Kurt sich auf dem
Hofe nicht gezeigt; nun trat er näher und beschauete das Bild und
redete gar schöne Worte, meinete aber auch, weshalb das Fräulein sich
so sehr vermummt und nicht vielmehr ihr seidig Haar in freien Locken
auf den Nacken habe wallen lassen; wie es ein Engelländischer Poet so
trefflich ausgedrücket, „rückwärts den Winden leichte Küsse werfend.“
Katharina aber, die bisher geschwiegen, wies auf Herrn Gerhardus’ Bild
und sagte: „Ihr wisset wohl nicht mehr, daß das mein Vater war!“

Was Junker Kurt hierauf entgegnete, ist mir nicht mehr erinnerlich;
meine Person aber schien ihm ganz nicht gegenwärtig oder doch nur
gleich einer Maschine, wodurch ein Bild sich auf die Leinewand malete.
Von letzterem begann er über meinen Kopf hin dieß und jenes noch zu
reden; da aber Katharina nicht mehr Antwort gab, so nahm er alsbald
seinen Urlaub, der Dame angenehme Kurzweil wünschend.

Bei diesem Wort jedennoch sah ich aus seinen Augen einen raschen Blick
gleich einer Messerspitze nach mir zücken.

—Wir hatten nun weitere Störniß nicht zu leiden, und mit der Jahreszeit
rückte auch die Arbeit vor. Schon stand auf den Waldkoppeln draußen der
Roggen in silbergrauem Blust, und unten im Garten brachen schon die
Rosen auf; wir beide aber—ich mag es heut wohl niederschreiben—, wir
hätten itzund die Zeit gern stille stehen lassen; an meine Botenreise
wagten, auch nur mit einem Wörtlein, weder sie noch ich zu rühren. Was
wir gesprochen, wüßte ich kaum zu sagen; nur daß ich von meinem Leben
in der Fremde ihr erzählte und wie ich immer heim gedacht; auch daß ihr
güldner Pfennig mich in Krankheit einst vor Noth bewahrt, wie sie in
ihrem Kinderherzen es damals fürgesorget, und wie ich später dann
gestrebt und mich geängstet, bis ich das Kleinod aus dem Leihhaus mir
zurückgewonnen hatte. Dann lächelte sie glücklich; und dabei blühete
aus dem dunkeln Grund des Bildes immer süßer das holde Antlitz auf, mir
schien’s, als sei es kaum mein eigenes Werk.— Mitunter war’s, als
schaue mich etwas heiß aus ihren Augen an; doch wollte ich es dann
fassen, so floh es scheu zurück; und dennoch floß es durch den Pinsel
heimlich auf die Leinewand, so daß mir selber kaum bewußt ein
sinnberückend Bild entstand, wie nie zuvor und nie nachher ein solches
aus meiner Hand gegangen ist.—Und endlich war’s doch an der Zeit und
festgesetzet, am andern Morgen sollte ich meine Reise antreten.

Als Katharina mir den Brief an ihre Base eingehändigt, saß sie noch
einmal mir gegenüber. Es wurde heute mit Worten nicht gespielet; wir
sprachen ernst und sorgenvoll mitsammen; indessen setzete ich noch hie
und da den Pinsel an, mitunter meine Blicke auf die schweigende
Gesellschaft an den Wänden werfend, deren ich in Katharinens Gegenwart
sonst kaum gedacht hatte.

Da, unter dem Malen, fiel mein Auge auch auf jenes alte Frauenbildniß,
das mir zur Seite hing und aus den weißen Schleiertüchern die stechend
grauen Augen auf mich gerichtet hielt. Mich fröstelte, ich hätte nahezu
den Stuhl verrücket.

Aber Katharinens süße Stimme drang mir in das Ohr: „Ihr seid ja fast
erbleichet; was flog Euch übers Herz, Johannes?“

Ich zeigte mit dem Pinsel auf das Bild. „Kennet Ihr die, Katharina?
Diese Augen haben hier all die Tage auf uns hingesehen.“

„Die da?—Vor der hab ich schon als Kind eine Furcht gehabt, und gar bei
Tage bin ich oft wie blind hier durchgelaufen. Es ist die Gemahlin
eines früheren Gerhardus; vor weit über hundert Jahren hat sie hier
gehauset.“

„Sie gleicht nicht Euerer schönen Mutter“, entgegnete ich; „dies
Antlitz hat wohl vermocht, einer jeden Bitte nein zu sagen.“

Katharina sah gar ernst zu mir herüber. „So heißt’s auch“, sagte sie,
„sie soll ihr einzig Kind verfluchet haben; am andern Morgen aber hat
man das blasse Fräulein aus einem Gartenteich gezogen, der nachmals
zugedämmet ist. Hinter den Hecken, dem Walde zu, soll es gewesen sein.“

„Ich weiß, Katharina; es wachsen heut noch Schachtelhalm und Binsen aus
dem Boden.“

„Wisset Ihr denn auch, Johannes, daß eine unseres Geschlechtes sich
noch immer zeigen soll, sobald dem Hause Unheil droht? Man sieht sie
erst hier an den Fenstern gleiten, dann draußen in dem Gartensumpf
verschwinden.“

Ohnwillens wandten meine Augen sich wieder auf die unbeweglichen des
Bildes. „Und weshalb“, fragte ich, „verfluchete sie ihr Kind?“

„Weshalb?“—Katharina zögerte ein Weilchen und blickte mich fast
verwirret an mit allem ihrem Liebreiz. „Ich glaub, sie wollte den
Vetter ihrer Mutter nicht zum Ehgemahl.“

—„War es denn ein gar so übler Mann?“

Ein Blick fast wie ein Flehen flog zu mir herüber, und tiefes Rosenroth
bedeckte ihr Antlitz. „Ich weiß nicht“, sagte sie beklommen; und
leiser, daß ich’s kaum vernehmen mochte, setzte sie hinzu: „Es heißt,
sie hab einen andern lieb gehabt; der war nicht ihres Standes.“

Ich hatte den Pinsel sinken lassen; denn sie saß vor mir mit gesenkten
Blicken; wenn nicht die kleine Hand sich leis aus ihrem Schoße auf ihr
Herz geleget, so wäre sie selber wie ein leblos Bild gewesen.

So hold es war, ich sprach doch endlich: „So kann ich ja nicht malen;
wollet Ihr mich nicht ansehen, Katharina?“

Und als sie nun die Wimpern von den braunen Augensternen hob, da war
kein Hehlens mehr; heiß und offen ging der Strahl zu meinem Herzen.
„Katharina!“ Ich war aufgesprungen. „Hätte jene Frau auch dich
verflucht?“

Sie athmete tief auf „Auch mich, Johannes!“—Da lag ihr Haupt an meiner
Brust, und fest umschlossen standen wir vor dem Bild der Ahnfrau, die
kalt und feindlich auf uns niederschauete.

Aber Katharina zog mich leise fort. „Laß uns nicht trotzen, mein
Johannes!“ sagte sie.—Mit Selbigem hörte ich im Treppenhause ein
Geräusch, und war es, als wenn etwas mit dreien Beinen sich mühselig
die Stiegen heraufarbeitete. Als Katharina und ich uns deshalb wieder
an unsern Platz gesetzet und ich Pinsel und Palette zur Hand genommen
hatte, öffnete sich die Thür, und Bas’ Ursel, die wir wohl zuletzt
erwartet hätten, kam an ihrem Stock hereingehustet. „Ich höre“, sagte
sie, „Er will nach Hamburg, um den Rahmen zu besorgen; da muß ich mir
nachgerade doch Sein Werk besehen!“

Es ist wohl männiglich bekannt, daß alte Jungfrauen in Liebessachen die
allerfeinsten Sinne haben und so der jungen Welt gar oft Bedrang und
Trübsal bringen. Als Bas’ Ursel auf Katharinens Bild, das sie bislang
noch nicht gesehen, kaum einen Blick geworfen hatte, zuckte sie gar
stolz empor mit ihrem runzeligen Angesicht und frug mich allsogleich:
„Hat denn das Fräulein Ihn so angesehen, als wie sie da im Bilde
sitzet?“

Ich entgegnete, es sei ja eben die Kunst der edlen Malerei, nicht bloß
die Abschrift des Gesichts zu geben. Aber schon mußte an unsern Augen
oder Wangen ihr Sonderliches aufgefallen sein, denn ihre Blicke gingen
spähend hin und wider. „Die Arbeit ist wohl bald am Ende?“ sagte sie
dann mit ihrer höchsten Stimme. „Deine Augen haben kranken Glanz,
Katharina; das lange Sitzen hat dir nicht wohl gedienet.“

Ich entgegnete, das Bild sei bald vollendet, nur an dem Gewande sei
noch hie und da zu schaffen.

„Nun, da braucht Er wohl des Fräuleins Gegenwart nicht mehr dazu!—
Komm, Katharina, dein Arm ist besser als der dumme Stecken hier!“

Und so mußt ich von der dürren Alten meines Herzens holdselig Kleinod
mir entführen sehen, da ich es eben mir gewonnen glaubte; kaum daß die
braunen Augen mir noch einen stummen Abschied senden konnten.



Am andern Morgen, am Montage vor Johannis, trat ich meine Reise an. Auf
einem Gaule, den Dieterich mir besorget, trabte ich in der Frühe aus
dem Thorweg; als ich durch die Tannen ritt, brach einer von des Junkers
Hunden herfür und fuhr meinem Thiere nach den Flechsen, wannschon
selbiges aus ihrem eigenen Stalle war; aber der oben im Sattel saß,
schien ihnen allzeit noch verdächtig. Kamen gleichwohl ohne Blessur
davon, ich und der Gaul, und langeten abends bei guter Zeit in Hamburg
an.

Am andern Vormittage machte ich mich auf und befand auch bald einen
Schnitzer, so der Bilderleisten viele fertig hatte, daß man sie nur
zusammenzustellen und in den Ecken die Zierathen daraufzuthun brauchte.
Wurden also handelseinig, und versprach der Meister, mir das alles wohl
verpacket nachzusenden.

Nun war zwar in der berühmten Stadt vor einen Neubegierigen gar vieles
zu beschauen, so in der Schiffergesellschaft des Seeräubers Störtebeker
silberner Becher, welcher das zweite Wahrzeichen der Stadt genennet
wird, und ohne den gesehen zu haben, wie es in einem Buche heißer,
niemand sagen dürfe, daß er in Hamburg sei gewesen; sodann auch der
Wunderfisch mit eines Adlers richtigen Krallen und Fluchten, so eben um
diese Zeit in der Elbe war gefangen worden und den die Hamburger, wie
ich nachmalen hörete, auf einen Seesieg wider die türkischen Piraten
deuteten; allein, obschon ein rechter Reisender solcherlei
Seltsamkeiten nicht vorbeigehen soll, so war doch mein Gemüthe, beides,
von Sorge und von Herzenssehnen, allzu sehr beschweret. Derohalben,
nachdem ich bei einem Kaufherrn noch meinen Wechsel umgesetzet und in
meiner Nachtherbergen Richtigkeit getroffen hatte, bestieg ich um
Mittage wieder meinen Gaul und hatte allsobald allen Lärmen des großen
Hamburg hinter mir.

Am Nachmittage danach langete ich in Preetz an, meldete mich im Stifte
bei der hochwürdigen Dame und wurde auch alsbald vorgelassen. Ich
erkannte in ihrer stattlichen Person allsogleich die Schwester meines
theueren seligen Herrn Gerhardus; nur, wie es sich an unverehelichten
Frauen oftmals zeiget, waren die Züge des Antlitzes gleichwohl strenger
als die des Bruders. Ich hatte, selbst nachdem ich Katharinens
Schreiben überreichet, ein lang und hart Examen zu bestehen; dann aber
verhieß sie ihren Beistand und setzete sich zu ihrem Schreibgeräthe,
indeß die Magd mich in ein ander Zimmer führen mußte, allwo man mich
gar wohl bewirthete.

Es war schon spät am Nachmittage, da ich wieder fortritt; doch rechnete
ich, obschon mein Gaul die vielen Meilen hinter uns bereits verspürete,
noch gegen Mitternacht beim alten Dieterich anzuklopfen.—Das Schreiben,
das die alte Dame mir für Katharinen mitgegeben, trug ich wohl
verwahret in einem Ledertäschlein unterm Wamse auf der Brust. So ritt
ich fürbaß in die aufsteigende Dämmerung hinein; gar bald an sie, die
eine, nur gedenkend und immer wieder mein Herz mit neuen lieblichen
Gedanken schreckend.

Es war aber eine lauwarme Juninacht; von den dunkelen Feldern erhub
sich der Ruch der Wiesenblumen, aus den Knicken duftete das Geißblatt;
in Luft und Laub schwebete ungesehen das kleine Nachtgeziefer oder flog
auch wohl surrend meinem schnaubenden Gaule an die Nüstern; droben aber
an der blauschwarzen ungeheueren Himmelsglocke über mir strahlte im
Südost das Sternenbild des Schwanes in seiner unberührten Herrlichkeit.

Da ich endlich wieder auf Herrn Gerhardus’ Grund und Boden war,
resolvirte ich mich sofort, noch nach dem Dorfe hinüberzureiten,
welches seitwärts von der Fahrstraßen hinterm Wald belegen ist. Denn
ich gedachte, daß der Krüger Hans Ottsen einen paßlichen Handwagen
habe; mit dem solle er morgen einen Boten in die Stadt schicken, um die
Hamburger Kiste für mich abzuholen; ich aber wollte nur an sein
Kammerfenster klopfen, um ihm solches zu bestellen.

Also ritte ich am Waldesrande hin, die Augen fast verwirret von den
grünlichen Johannisfünkchen, die mit ihren spielerischen Lichtern mich
hier umflogen. Und schon ragete groß und finster die Kirche vor mir
auf, in deren Mauern Herr Gerhardus bei den Seinen ruhte; ich hörte,
wie im Thurm soeben der Hammer ausholete, und von der Glocken scholl
die Mitternacht ins Dorf hinunter. ,Aber sie schlafen alle‘, sprach ich
bei mir selber, ,die Todten in der Kirchen oder unter dem hohen
Sternenhimmel hieneben auf dem Kirchhof, die Lebenden noch unter den
niedern Dächern, die dort stumm und dunkel vor dir liegen.‘ So ritt ich
weiter. Als ich jedoch an den Teich kam, von wo aus man Hans Ottsens
Krug gewahren kann, sahe ich von dorten einen dunstigen Lichtschein auf
den Weg hinausbrechen, und Fiedeln und Klarinetten schalleten mir
entgegen.

Da ich gleichwohl mit dem Wirthe reden wollte, so ritt ich herzu und
brachte meinen Gaul im Stalle unter. Als ich danach auf die Tenne trat,
war es gedrang voll von Menschen, Männern und Weibern, und ein Geschrei
und wüst Getreibe, wie ich solches, auch beim Tanz, in früheren Jahren
nicht vermerket. Der Schein der Unschlittkerzen, so unter einem Balken
auf einem Kreuzholz schwebten, hob manch bärtig und verhauen Antlitz
aus dem Dunkel, dem man lieber nicht allein im Wald begegnet wäre.—Aber
nicht nur Strolche und Bauerbursche schienen hier sich zu vergnügen;
bei den Musikanten, die drüben vor der Döns auf ihren Tonnen saßen,
stund der Junker von der Risch; er hatte seinen Mantel über dem einen
Arm, an dem andern hing ihm eine derbe Dirne. Aber das Stücklein schien
ihm nicht zu gefallen; denn er riß dem Fiedler seine Geigen aus den
Händen, warf eine Handvoll Münzen auf seine Tonne und verlangte, daß
sie ihm den neumodischen Zweitritt aufspielen sollten. Als dann die
Musikanten ihm gar rasch gehorchten und wie toll die neue Weise klingen
ließen, schrie er nach Platz und schwang sich in den dichten Haufen;
und die Bauerburschen glotzten drauf hin, wie ihm die Dirne im Arme
lag, gleich einer Tauben vor dem Geier.

Ich aber wandte mich ab und trat hinten in die Stube, um mit dem Wirth
zu reden. Da saß der Junker Wulf beim Kruge Wein und hatte den alten
Ottsen neben sich, welchen er mit allerhand Späßen in Bedrängniß
brachte; so drohete er, ihm seinen Zins zu steigern, und schüttelte
sich vor Lachen, wenn der geängstete Mann gar jämmerlich um Gnad und
Nachsicht supplicirte.—Da er mich gewahr worden, ließ er nicht ab, bis
ich selbdritt mich an den Tisch gesetzet; frug nach meiner Reise, und
ob ich in Hamburg mich auch wohl vergnüget; ich aber antwortete nur,
ich käme eben von dort zurück, und werde der Rahmen in Kürze in der
Stadt eintreffen, von wo Hans Ottsen ihn mit seinem Handwäglein
leichtlich möge holen lassen.

Indeß ich mit letzterem solches nun verhandelte, kam auch der von der
Risch hereingestürmet und schrie dem Wirthe zu, ihm einen kühlen Trunk
zu schaffen. Der Junker Wulf aber, dem bereits die Zunge schwer im
Munde wühlete, faßte ihn am Arm und riß ihn auf den leeren Stuhl
hernieder.

„Nun, Kurt!“ rief er. „Bist du noch nicht satt von deinen Dirnen! Was
soll die Katharina dazu sagen? Komm, machen wir alamode ein ehrbar
hazard mitsammen!“ Dabei hatte er ein Kartenspiel unterm Wams
hervorgezogen. „Allons donc!—Dix et dame!—Dame et valet!“

Ich stand noch und sah dem Spiele zu, so dermalen eben Mode worden; nur
wünschend, daß die Nacht vergehen und der Morgen kommen möchte.— Der
Trunkene schien aber dieses Mal des Nüchternen Übermann; dem von der
Risch schlug nach einander jede Karte fehl.

„Tröste dich, Kurt!“ sagte der Junker Wulf, indeß er schmunzelnd die
Speciesthaler auf einen Haufen scharrte:

„Glück in der Lieb
Und Glück im Spiel,
Bedenk, für einen
Ist’s zu viel!


Laß den Maler dir hier von deiner schönen Braut erzählen! Der weiß sie
auswendig; da kriegst du’s nach der Kunst zu wissen.“

Dem andern, wie mir am besten kund war, mochte aber noch nicht viel von
Liebesglück bewußt sein; denn er schlug fluchend auf den Tisch und sah
gar grimmig auf mich her.

„Ei, du bist eifersüchtig, Kurt!“ sagte der Junker Wulf vergnüglich,
als ob er jedes Wort auf seiner schweren Zunge schmeckete; „aber
getröste dich, der Rahmen ist schon fertig zu dem Bilde; dein Freund,
der Maler, kommt eben erst von Hamburg.“

Bei diesem Worte sah ich den von der Risch aufzucken gleich einem
Spürhund bei der Witterung. „Von Hamburg heut?—So muß er Fausti Mantel
sich bedienet haben; denn mein Reitknecht sah ihn heut zu Mittag noch
in Preetz! Im Stift, bei deiner Base ist er auf Besuch gewesen.“

Meine Hand fuhr unversehens nach der Brust, wo ich das Täschlein mit
dem Brief verwahret hatte; denn die trunkenen Augen des Junkers Wulf
lagen auf mir; und war mir’s nicht anders, als sähe er damit mein ganz
Geheimniß offen vor sich liegen. Es währete auch nicht lange, so flogen
die Karten klatschend auf den Tisch. „Oho!“ schrie er. „Im Stift, bei
meiner Base! Du treibst wohl gar doppelt Handwerk, Bursch! Wer hat dich
auf den Botengang geschickt?“

„Ihr nicht, Junker Wulf!“ entgegnet ich; „und das muß Euch genug
sein!“—Ich wollt nach meinem Degen greifen, aber er war nicht da; fiel
mir auch bei nun, daß ich ihn an den Sattelknopf gehänget, da ich
vorhin den Gaul zu Stalle brachte.

Und schon schrie der Junker wieder zu seinem jüngeren Kumpan: „Reiß ihm
das Wams auf, Kurt! Es gilt den blanken Haufen hier; du findest eine
saubere Briefschaft, die du ungern möchtst bestellet sehen!“

Im selbigen Augenblick fühlte ich auch schon die Hände des von der
Risch an meinem Leibe, und ein wüthend Ringen zwischen uns begann. Ich
fühlte wohl, daß ich so leicht, wie in der Bubenzeit, ihm nicht mehr
über würde; da aber fügete es sich zu meinem Glücke, daß ich ihm beide
Handgelenke packte und er also wie gefesselt vor mir stund. Es hatte
keiner von uns ein Wort dabei verlauten lassen; als wir uns aber itzund
in die Augen sahen, da wußte jeder wohl, daß er’s mit seinem Todfeind
vor sich habe.

Solches schien auch der Junker Wulf zu meinen; er strebte von seinem
Stuhl empor, als wolle er dem von der Risch zu Hülfe kommen; mochte
aber zu viel des Weins genossen haben, denn er taumelte auf seinen
Platz zurück. Da schrie er, so laut seine lallende Zunge es noch
vermochte: „He, Tartar! Türk! Wo steckt ihr! Tartar, Türk!“ Und ich
wußte nun, daß die zwo grimmen Köter, so ich vorhin auf der Tenne an
dem Ausschank hatte lungern sehen, mir an die nackte Kehle springen
sollten. Schon hörete ich sie durch das Getümmel der Tanzenden
daherschnaufen, da riß ich mit einem Rucke jählings meinen Feind zu
Boden, sprang dann durch eine Seitenthür aus dem Zimmer, die ich
schmetternd hinter mir zuwarf, und gewann also das Freie.

Und um mich her war plötzlich wieder die stille Nacht und Mond- und
Sternenschimmer. In den Stall zu meinem Gaul wagt ich nicht erst zu
gehen, sondern sprang flugs über einen Wall und lief über das Feld dem
Walde zu. Da ich ihn bald erreichet, suchte ich die Richtung nach dem
Herrenhofe einzuhalten; denn es zieht sich die Holzung bis hart zur
Gartenmauer. Zwar war die Helle der Himmelslichter hier durch das Laub
der Bäume ausgeschlossen, aber meine Augen wurden der Dunkelheit gar
bald gewohnt, und da ich das Täschlein sicher unter meinem Wamse
fühlte, so tappte ich rüstig vorwärts; denn ich gedachte den Rest der
Nacht noch einmal in meiner Kammer auszuruhen, dann aber mit dem alten
Dieterich zu berathen, was allfort geschehen solle; maßen ich wohl
sahe, daß meines Bleibens hier nicht fürder sei.

Bisweilen stund ich auch und horchte; aber ich mochte bei meinem Abgang
wohl die Thür ins Schloß geworfen und so einen guten Vorsprung mir
gewonnen haben: von den Hunden war kein Laut vernehmbar. Wohl aber, da
ich eben aus dem Schatten auf eine vom Mond erhellete Lichtung trat,
hörete ich nicht gar fern die Nachtigallen schlagen; und von wo ich
ihren Schall hörte, dahin richtete ich meine Schritte, denn mir war
wohl bewußt, sie hatten hier herum nur in den Hecken des Herrengartens
ihre Nester; erkannte nun auch, wo ich mich befand, und daß ich bis zum
Hofe nicht gar weit mehr hatte.

Ging also dem lieblichen Schallen nach, das immer heller vor mir aus
dem Dunkel drang. Da plötzlich schlug was anderes an mein Ohr, das
jählings näher kam und mir das Blut erstarren machte. Nicht zweifeln
konnt ich mehr, die Hunde brachen durch das Unterholz; sie hielten fest
auf meiner Spur, und schon hörete ich deutlich hinter mir ihr Schnaufen
und ihre gewaltigen Sätze in dem dürren Laub des Waldbodens. Aber Gott
gab mir seinen gnädigen Schutz; aus dem Schatten der Bäume stürzte ich
gegen die Gartenmauer, und an eines Fliederbaums Geäste schwang ich
mich hinüber. Da sangen hier im Garten immer noch die Nachtigallen; die
Buchenhecken warfen tiefe Schatten. In solcher Mondnacht war ich einst
vor meiner Ausfahrt in die Welt mit Herrn Gerhardus hier gewandelt.
„Sieh dir’s noch einmal an, Johannes!“ hatte dermalen er gesprochen;
„es könnt geschehen, daß du bei deiner Heimkehr mich nicht daheim mehr
fändest, und daß alsdann ein Willkomm nicht für dich am Thor
geschrieben stünde;—ich aber möcht nicht, daß du diese Stätte hier
vergäßest.“

Das flog mir itzund durch den Sinn, und ich mußte bitter lachen; denn
nun war ich hier als ein gehetzet Wild; und schon hörete ich die Hunde
des Junker Wulf gar grimmig draußen an der Gartenmauer rennen. Selbige
aber war, wie ich noch tags zuvor gesehen, nicht überall so hoch, daß
nicht das wüthige Gethier hinüber konnte; und rings im Garten war kein
Baum, nichts als die dichten Hecken und drüben gegen das Haus die
Blumenbeete des seligen Herrn. Da, als eben das Bellen der Hunde wie
ein Triumphgeheule innerhalb der Gartenmauer scholl, ersahe ich in
meiner Noth den alten Epheubaum, der sich mit starkem Stamme an dem
Thurm hinaufreckt; und da dann die Hunde aus den Hecken auf den
mondhellen Platz hinaus raseten, war ich schon hoch genug, daß sie mit
ihrem Anspringen mich nicht mehr erreichen konnten; nur meinen Mantel,
so von der Schulter geglitten, hatten sie mit ihren Zähnen mir
herabgerissen.

Ich aber, also angeklammert und fürchtend, es werde das nach oben
schwächere Geäste mich auf die Dauer nicht ertragen, blickte suchend um
mich, ob ich nicht irgend besseren Halt gewinnen möchte; aber es war
nichts zu sehen als die dunklen Epheublätter um mich her.—Da, in
solcher Noth, hörete ich ober mir ein Fenster öffnen, und eine Stimme
scholl zu mir herab—möchte ich sie wieder hören, wenn du, mein Gott,
mich bald nun rufen läßt aus diesem Erdenthal!— „Johannes!“ rief sie;
leis, doch deutlich hörete ich meinen Namen, und ich kletterte höher an
dem immer schwächeren Gezweige, indeß die schlafenden Vögel um mich
auffuhren und die Hunde von unten ein Geheul heraufstießen.—„Katharina!
Bist du es wirklich, Katharina?“

Aber schon kam ein zitternd Händlein zu mir herab und zog mich gegen
das offene Fenster; und ich sah in ihre Augen, die voll Entsetzen in
die Tiefe starrten.

„Komm!“ sagte sie. „Sie werden dich zerreißen.“ Da schwang ich mich in
ihre Kammer.—Doch als ich drinnen war, ließ mich das Händlein los, und
Katharina sank auf einen Sessel, so am Fenster stund, und hatte ihre
Augen dicht geschlossen. Die dicken Flechten ihres Haares lagen über
dem weißen Nachtgewand bis in den Schoß hinab; der Mond, der draußen
die Gartenhecken überstiegen hatte, schien voll herein und zeigete mir
alles. Ich stund wie fest gezaubert vor ihr; so lieblich fremde und
doch so ganz mein eigen schien sie mir; nur meine Augen tranken sich
satt an all der Schönheit. Erst als ein Seufzen ihre Brust erhob,
sprach ich zu ihr: „Katharina, liebe Katharina, träumet Ihr denn?“

Da flog ein schmerzlich Lächeln über ihr Gesicht: „Ich glaub wohl fast,
Johannes!—Das Leben ist so hart; der Traum ist süß!“

Als aber von unten aus dem Garten das Geheul aufs Neu heraufkam, fuhr
sie erschreckt empor. „Die Hunde, Johannes!“ rief sie. „Was ist das mit
den Hunden?“

„Katharina“, sagte ich, „wenn ich Euch dienen soll, so glaub ich, es
muß bald geschehen; denn es fehlt viel, daß ich noch einmal durch die
Thür in dieses Haus gelangen sollte.“ Dabei hatte ich den Brief aus
meinem Täschlein hervorgezogen und erzählete auch, wie ich im Kruge
drunten mit den Junkern sei in Streit gerathen.

Sie hielt das Schreiben in den hellen Mondenschein und las; dann
schaute sie mich voll und herzlich an, und wir beredeten, wie wir uns
morgen in dem Tannenwalde treffen wollten; denn Katharina sollte noch
zuvor erkunden, auf welchen Tag des Junker Wulfen Abreise zum Kieler
Johannismarkte festgesetzet sei.

„Und nun, Katharina“, sprach ich, „habt Ihr nicht etwas, das einer
Waffe gleich sieht, ein eisern Ellenmaß oder so dergleichen, damit ich
der beiden Thiere drunten mich erwehren könne?“

Sie aber schrak jäh wie aus einem Traum empor. „Was sprichst du,
Johannes!“ rief sie; und ihre Hände, so bislang in ihrem Schoß geruhet,
griffen nach den meinen. „Nein, nicht fort, nicht fort! Da drunten ist
der Tod; und gehst du, so ist auch hier der Tod!“

Da war ich vor ihr hingeknieet und lag an ihrer jungen Brust, und wir
umfingen uns in großer Herzensnoth. „Ach, Käthe“, sprach ich, „was
vermag die arme Liebe denn! Wenn auch dein Bruder Wulf nicht wäre; ich
bin kein Edelmann und darf nicht um dich werben.“

Sehr süß und sorglich schauete sie mich an; dann aber kam es wie
Schelmerei aus ihrem Munde: „Kein Edelmann, Johannes?—Ich dächte, du
seiest auch das! Aber—ach nein! Dein Vater war nur der Freund des
meinen—das gilt der Welt wohl nicht!“

„Nein, Käthe; nicht das, und sicherlich nicht hier“, entgegnete ich und
umfaßte fester ihren jungfräulichen Leib; „aber drüben in Holland, dort
gilt ein tüchtiger Maler wohl einen deutschen Edelmann; die Schwelle
von Mynherr van Dycks Palaste zu Amsterdam ist wohl dem Höchsten
ehrenvoll zu überschreiten. Man hat mich drüben halten wollen, mein
Meister van der Helst und andre! Wenn ich dorthin zurückginge, ein Jahr
noch oder zwei; dann—wir kommen dann schon von hier fort; bleib mir nur
feste gegen euere wüsten Junker!“

Katharinens weiße Hände strichen über meine Locken; sie herzete mich
und sagte leise: „Da ich in meine Kammer dich gelassen, so werd ich
doch dein Weib auch werden müssen.“

—Ihr ahnete wohl nicht, welch einen Feuerstrom dies Wort in meine Adern
goß, darin ohnedies das Blut in heißen Pulsen ging.—Von dreien
furchtbaren Dämonen, von Zorn und Todesangst und Liebe ein verfolgter
Mann, lag nun mein Haupt in des viel geliebten Weibes Schoß.

Da schrillte ein geller Pfiff, die Hunde drunten wurden jählings
stille, und da es noch einmal gellte, hörete ich sie wie toll und wild
davon rennen.

Vom Hofe her wurden Schritte laut; wir horchten auf, daß uns der Athem
stille stund. Bald aber wurde dorten eine Thür erst auf-, dann
zugeschlagen und dann ein Riegel vorgeschoben. „Das ist Wulf“, sagte
Katharina leise; „er hat die beiden Hunde in den Stall gesperrt.“—Bald
hörten wir auch unter uns die Thür des Hausflurs gehen, den Schlüssel
drehen und danach Schritte in dem untern Corridor, die sich verloren,
wo der Junker seine Kammer hatte. Dann wurde alles still.

Es war nun endlich sicher, ganz sicher; aber mit unserem Plaudern war
es mit einem Male schier zu Ende. Katharina hatte den Kopf
zurückgelehnt; nur unser beider Herzen hörete ich klopfen.—„Soll ich
nun gehen, Katharina?“ sprach ich endlich.

Aber die jungen Arme zogen mich stumm zu ihrem Mund empor; und ich ging
nicht.

Kein Laut war mehr, als aus des Gartens Tiefe das Schlagen der
Nachtigallen und von fern das Rauschen des Wässerleins, das hinten um
die Hecken fließt.—

Wenn, wie es in den Liedern heißt, mitunter noch in Nächten die schöne
heidnische Frau Venus aufersteht und umgeht, um die armen
Menschenherzen zu verwirren, so war es dazumalen eine solche Nacht. Der
Mondschein war am Himmel ausgethan, ein schwüler Ruch von Blumen
hauchte durch das Fenster, und dorten überm Walde spielete die Nacht in
stummen Blitzen.—O Hüter, Hüter, war dein Ruf so fern?

—Wohl weiß ich noch, daß vom Hofe her plötzlich scharf die Hähne
krähten, und daß ich ein blaß und weinend Weib in meinen Armen hielt,
die mich nicht lassen wollte, unachtend, daß überm Garten der Morgen
dämmerte und rothen Schein in unsre Kammer warf. Dann aber, da sie deß
inne wurde, trieb sie, wie von Todesangst geschreckt, mich fort.

Noch einen Kuß, noch hundert; ein flüchtig Wort noch: wann für das
Gesind zu Mittage geläutet würde, dann wollten wir im Tannenwald uns
treffen; und dann—ich wußte selber kaum, wie mir’s geschehen— stund ich
im Garten, unten in der kühlen Morgenluft.

Noch einmal, indem ich meinen von den Hunden zerfetzten Mantel aufhob,
schaute ich empor und sah ein blasses Händlein mir zum Abschied winken.
Nahezu erschrocken aber wurd ich, da meine Augen bei einem Rückblick
aus dem Gartensteig von ungefähr die unteren Fenster neben dem Thurme
streiften; denn mir war, als sähe hinter einem derselbigen ich
gleichfalls eine Hand; aber sie drohete nach mir mit aufgehobenem
Finger und schien mir farblos und knöchern gleich der Hand des Todes.
Doch war’s nur wie im Husch, daß solches über meine Augen ging; dachte
zwar erstlich des Märleins von der wieder gehenden Urahne; redete mir
dann aber ein, es seien nur meine eigenen aufgestörten Sinne, die solch
Spiel mir vorgegaukelt hätten.

So, deß nicht weiter achtend, schritt ich eilends durch den Garten,
merkete aber bald, daß in der Hast ich auf den Binsensumpf gerathen;
sank auch der eine Fuß bis übers Änkel ein, gleichsam, als ob ihn was
hinunterziehen wollte. ,Ei‘, dachte ich, ,faßt das Hausgespenste doch
nach dir!‘ Machte mich aber auf und sprang über die Mauer in den Wald
hinab.

Die Finsterniß der dichten Bäume sagte meinem träumenden Gemüthe zu;
hier um mich her war noch die selige Nacht, von welcher meine Sinne
sich nicht lösen mochten.—Erst da ich nach geraumer Zeit vom
Waldesrande in das offene Feld hinaustrat, wurd ich völlig wach. Ein
Häuflein Rehe stund nicht fern im silbergrauen Thau, und über mir vom
Himmel scholl das Tageslied der Lerche. Da schüttelte ich all müßig
Träumen von mir ab; im selbigen Augenblick stieg aber auch wie heiße
Noth die Frage mir ins Hirn: ,Was weiter nun, Johannes? Du hast ein
theures Leben an dich rissen; nun wisse, daß dein Leben nichts gilt als
nur das ihre!‘

Doch was ich sinnen mochte, es deuchte mir allfort das beste, wenn
Katharina im Stifte sichern Unterschlupf gefunden, daß ich dann zurück
nach Holland ginge, mich dort der Freundeshülf versicherte und
allsobald zurückkäm, um sie nachzuholen. Vielleicht, daß sie gar der
alten Base Herz erweichet; und schlimmsten Falles—es mußte auch gehen
ohne das!

Schon sahe ich uns auf einem fröhlichen Barkschiff die Wellen des
grünen Zuidersees befahren, schon hörete ich das Glockenspiel vom
Rathhausthurme Amsterdams und sah am Hafen meine Freunde aus dem Gewühl
hervorbrechen und mich und meine schöne Frau mit hellem Zuruf grüßen
und im Triumph nach unserem kleinen, aber trauten Heim geleiten. Mein
Herz war voll von Muth und Hoffnung; und kräftiger und rascher schritt
ich aus, als könnte ich bälder so das Glück erreichen.

—Es ist doch anders kommen.

In meinen Gedanken war ich allmählich in das Dorf hinabgelanget und
trat hier in Hans Ottsens Krug, von wo ich in der Nacht so jählings
hatte flüchten müssen.—„Ei, Meister Johannes“, rief der Alte auf der
Tenne mir entgegen, „was hattet Ihr doch gestern mit unseren gestrengen
Junkern? Ich war just draußen bei dem Ausschank; aber da ich wieder
eintrat, flucheten sie schier grausam gegen Euch; und auch die Hunde
raseten an der Thür, die Ihr hinter Euch ins Schloß geworfen hattet.“

Da ich aus solchen Worten abnahm, daß der Alte den Handel nicht wohl
begriffen habe, so entgegnete ich nur: „Ihr wisset, der von der Risch
und ich, wir haben uns schon als Jungen oft einmal gezauset; da mußt’s
denn gestern noch so einen Nachschmack geben.“

„Ich weiß, ich weiß!“ meinte der Alte; „aber der Junker sitzt heut auf
seines Vaters Hof; Ihr solltet Euch hüten, Herr Johannes; mit solchen
Herren ist nicht sauber Kirschen essen.“

Dem zu widersprechen, hatte ich nicht Ursach, sondern ließ mir Brot und
Frühtrunk geben und ging dann in den Stall, wo ich mir meinen Degen
holete, auch Stift und Skizzenbüchlein aus dem Ranzen nahm.

Aber es war noch lange bis zum Mittagläuten. Also bat ich Hans Ottsen,
daß er den Gaul mit seinem Jungen mög zum Hofe bringen lassen; und als
er mir solches zugesaget, schritt ich wieder hinaus zum Wald. Ich ging
aber bis zu der Stelle auf dem Heidenhügel, von wo man die beiden
Giebel des Herrenhauses über die Gartenhecken ragen sieht, wie ich
solches schon für den Hintergrund zu Katharinens Bildniß ausgewählet
hatte. Nun gedachte ich, daß, wann in zu verhoffender Zeit sie selber
in der Fremde leben und wohl das Vaterhaus nicht mehr betreten würde,
sie seines Anblicks doch nicht ganz entrathen solle; zog also meinen
Stift herfür und begann zu zeichnen, gar sorgsam jedes Winkelchen,
woran ihr Auge einmal mocht gehaftet haben. Als farbig Schilderei sollt
es dann in Amsterdam gefertigt werden, damit es ihr sofort entgegen
grüße, wann ich sie dort in unsre Kammer führen würde.

Nach ein paar Stunden war die Zeichnung fertig. Ich ließ noch wie zum
Gruß ein zwitschernd Vögelein darüber fliegen; dann suchte ich die
Lichtung auf, wo wir uns finden wollten, und streckte mich nebenan im
Schatten einer dichten Buche, sehnlich verlangend, daß die Zeit
vergehe.

Ich mußte gleichwohl darob eingeschlummert sein; denn ich erwachte von
einem fernen Schall und wurd deß inne, daß es das Mittagläuten von dem
Hofe sei. Die Sonne glühte schon heiß hernieder und verbreitete den
Ruch der Himbeeren, womit die Lichtung überdeckt war. Es fiel mir bei,
wie einst Katharina und ich uns hier bei unseren Waldgängen süße
Wegzehrung geholet hatten; und nun begann ein seltsam Spiel der
Phantasie; bald sahe ich drüben zwischen den Sträuchern ihre zarte
Kindsgestalt, bald stund sie vor mir, mich anschauend mit den seligen
Frauenaugen, wie ich sie letzlich erst gesehen, wie ich sie nun gleich,
im nächsten Augenblicke, schon leibhaftig an mein klopfend Herze
schließen würde.

Da plötzlich überfiel mich’s wie ein Schrecken. Wo blieb sie denn? Es
war schon lang, daß es geläutet hatte. Ich war aufgesprungen, ich ging
umher, ich stund und spähete scharf nach aller Richtung durch die
Bäume; die Angst kroch mir zum Herzen; aber Katharina kam nicht; kein
Schritt im Laube raschelte; nur oben in den Buchenwipfeln rauschte ab
und zu der Sommerwind.

Böser Ahnung voll ging ich endlich fort und nahm einen Umweg nach dem
Hofe zu. Da ich unweit dem Thore zwischen die Eichen kam, begegnete mir
Dieterich. „Herr Johannes“, sagte er und trat hastig auf mich zu, „Ihr
seid die Nacht schon in Hans Ottsens Krug gewesen; sein Junge brachte
mir Euren Gaul zurück;—was habet Ihr mit unsern Junkern vorgehabt?“

„Warum fragst du, Dieterich?“

—„Warum, Herr Johannes?—Weil ich Unheil zwischen euch verhüten möcht.“

„Was soll das heißen, Dieterich?“ frug ich wieder; aber mir war
beklommen, als sollte das Wort mir in der Kehle sticken.

„Ihr werdet’s schon selber wissen, Herr Johannes!“ entgegnete der Alte.
„Mir hat der Wind nur so einen Schall davon gebracht, vor einer Stund
mag’s gewesen sein; ich wollte den Burschen rufen, der im Garten an den
Hecken putzte. Da ich an den Thurm kam, wo droben unser Fräulein ihre
Kammer hat, sah ich dorten die alte Bas’ Ursel mit unserem Junker dicht
beisammen stehen. Er hatte die Arme unterschlagen und sprach kein
einzig Wörtlein; die Alte aber redete einen um so größeren Haufen und
jammerte ordentlich mit ihrer feinen Stimme. Dabei wies sie bald nieder
auf den Boden, bald hinauf in den Epheu, der am Turm
hinaufwächst.—Verstanden, Herr Johannes, hab ich von dem allem nichts;
dann aber, und nun merket wohl auf, hielt sie mit ihrer knöchern Hand,
als ob sie damit drohete, dem Junker was vor Augen; und da ich näher
hinsah, war’s ein Fetzen Grauwerk, just wie Ihr’s da an Euerem Mantel
traget.“

„Weiter, Dieterich!“ sagte ich; denn der Alte hatte die Augen auf
meinen zerrissenen Mantel, den ich auf dem Arme trug.

„Es ist nicht viel mehr übrig“, erwiderte er; „denn der Junker wandte
sich jählings nach mir zu und frug mich, wo Ihr anzutreffen wäret. Ihr
möget mir es glauben, wäre er in Wirklichkeit ein Wolf gewesen, die
Augen hätten blutiger nicht funkeln können.“

Da frug ich: „Ist der Junker im Hause, Dieterich?“

—„Im Haus? Ich denke wohl; doch was sinnet ihr, Herr Johannes?“

„Ich sinne, Dieterich, daß ich allsogleich mit ihm zu reden habe.“

Aber Dieterich hatte bei beiden Händen mich ergriffen. „Gehet nicht,
Johannes“, sagte er dringend; „erzählet mir zum wenigsten, was
geschehen ist; der Alte hat Euch ja sonst wohl guten Rath gewußt!“

„Hernach, Dieterich, hernach!“ entgegnete ich. Und also mit diesen
Worten riß ich meine Hände aus den seinen.

Der Alte schüttelte den Kopf. „Hernach, Johannes“, sagte er, „das weiß
nur unser Herrgott!“

Ich aber schritt nun über den Hof dem Hause zu. Der Junker sei eben in
seinem Zimmer, sagte eine Magd, so ich im Hausflur drum befragte.

Ich hatte dieses Zimmer, das im Unterhause lag, nur einmal erst
betreten. Statt wie bei seinem Vater sel. Bücher und Karten, war hier
vielerlei Gewaffen, Handröhre und Arkebusen, auch allerart Jagdgeräthe
an den Wänden angebracht; sonst war es ohne Zier und zeigete an ihm
selber, daß niemand auf die Dauer und mit seinen ganzen Sinnen hier
verweile.

Fast wär ich an der Schwelle noch zurückgewichen, da ich auf des
Junkers „Herein“ die Thür geöffnet; denn als er sich vom Fenster zu mir
wandte, sah ich eine Reiterpistole in seiner Hand, an deren Radschloß
er hantirete. Er schauete mich an, als ob ich von den Tollen käme.
„So?“ sagte er gedehnet; „wahrhaftig, Sieur Johannes, wenn’s nicht
schon sein Gespenste ist!“

„Ihr dachtet, Junker Wulf“, entgegnet ich, indem ich näher zu ihm trat,
„es möcht der Straßen noch andre für mich geben, als die in Euere
Kammer fahren!“

—„So dachte ich, Sieur Johannes! Wie Ihr gut rathen könnt! Doch
immerhin, Ihr kommt mir eben recht; ich hab Euch suchen lassen!“

In seiner Stimme bebte was, das wie ein lauernd Raubthier auf dem
Sprunge lag, so daß die Hand mir unversehens nach dem Degen fuhr.
Jedennoch sprach ich: „Hörer mich und gönnet mir ein ruhig Wort, Herr
Junker!“

Er aber unterbrach meine Rede: „Du wirst gewogen sein, mich erstlich
auszuhören! Sieur Johannes“—und seine Worte, die erst langsam waren,
wurden allmählich gleichwie ein Gebrüll—, „vor ein paar Stunden, da ich
mit schwerem Kopf erwachte, da fiel’s mir bei und reuete mich gleich
einem Narren, daß ich im Rausch die wilden Hunde dir auf die Fersen
gesetzet hatte;—seit aber Bas’ Ursel mir den Fetzen vorgehalten, den
sie dir aus deinem Federbalg gerissen,— beim Höllenelement! mich reut’s
nur noch, daß mir die Bestien solch Stück Arbeit nachgelassen!“

Noch einmal suchte ich zu Worte zu kommen; und da der Junker schwieg,
so dachte ich, daß er auch hören würde. „Junker Wulf“, sagte ich, „es
ist schon wahr, ich bin kein Edelmann; aber ich bin kein geringer Mann
in meiner Kunst und hoffe, es auch wohl noch einmal den Größeren
gleichzuthun; so bitte ich Euch geziementlich, gebet Euere Schwester
Katharina mir zum Ehgemahl—“

Da stockte mir das Wort im Munde. Aus seinem bleichen Antlitz starrten
mich die Augen des alten Bildes an; ein gellend Lachen schlug mir in
das Ohr, ein Schuß—dann brach ich zusammen und hörete nur noch, wie mir
der Degen, den ich ohn Gedanken fast gezogen hatte, klirrend aus der
Hand zu Boden fiel.



Es war manche Woche danach, daß ich in dem schon bleicheren
Sonnenschein auf einem Bänkchen vor dem letzten Haus des Dorfes saß,
mit matten Blicken nach dem Wald hinüberschauend, an dessen jenseitigem
Rande das Herrenhaus belegen war. Meine thörichten Augen suchten stets
aufs Neue den Punkt, wo, wie ich mir vorstellete, Katharinens
Kämmerlein von drüben auf die schon herbstlich gelben Wipfel schaue;
denn von ihr selber hatte ich keine Kunde.

Man hatte mich mit meiner Wunde in dies Haus gebracht, das von des
Junkers Waldhüter bewohnt wurde; und außer diesem Mann und seinem Weibe
und einem mir unbekannten Chirurgus war während meines langen Lagers
niemand zu mir gekommen.—Von wannen ich den Schuß in meine Brust
erhalten, darüber hat mich niemand befragt, und ich habe niemandem
Kunde gegeben; des Herzogs Gerichte gegen Herrn Gerhardus’ Sohn und
Katharinens Bruder anzurufen, konnte nimmer mir zu Sinnen kommen. Er
mochte sich dessen auch wohl getrösten; noch glaubhafter jedoch, daß er
allen diesen Dingen trotzete.

Nur einmal war mein guter Dieterich da gewesen; er hatte mir in des
Junkers Auftrage zwei Rollen Ungarischer Dukaten überbracht als Lohn
für Katharinens Bild, und ich hatte das Gold genommen, in Gedanken, es
sei ein Theil von deren Erbe, von dem sie als mein Weib wohl später
nicht zu viel empfahen würde. Zu einem traulichen Gespräch mit
Dieterich, nach dem mich sehr verlangete, hatte es mir nicht gerathen
wollen, maßen das gelbe Fuchsgesicht meines Wirthes allaugenblicks in
meine Kammer schaute; doch wurde so viel mir kund, daß der Junker nicht
nach Kiel gereiset und Katharina seither von niemandem weder in Hof
noch Garten war gesehen worden; kaum konnte ich noch den Alten bitten,
daß er dem Fräulein, wenn sich’s treffen möchte, meine Grüße sage, und
daß ich bald nach Holland zu reisen, aber bälder noch zurückzukommen
dächte, was alles in Treuen auszurichten er mir dann gelobete.

Überfiel mich aber danach die allergrößeste Ungeduld, so daß ich, gegen
den Willen des Chirurgus und bevor im Walde drüben noch die letzten
Blätter von den Bäumen fielen, meine Reise ins Werk setzete; langete
auch schon nach kurzer Frist wohlbehalten in der holländischen
Hauptstadt an, allwo ich von meinen Freunden gar liebreich empfangen
wurde, und mochte es auch ferner vor ein glücklich Zeichen wohl
erkennen, daß zwo Bilder, so ich dort zurückgelassen, durch die
hilfsbereite Vermittelung meines theueren Meisters van der Helst beide
zu ansehnlichen Preisen verkaufet waren. Ja, es war dessen noch nicht
genug: ein mir schon früher wohl gewogener Kaufherr ließ mir sagen, er
habe nur auf mich gewartet, daß ich für sein nach dem Haag
verheirathetes Töchterlein sein Bildniß malen möge; und wurde mir auch
sofort ein reicher Lohn dafür versprochen. Da dachte ich, wenn ich
solches noch vollendete, daß dann genug des helfenden Metalles in
meinen Händen wäre, um auch ohne andere Mittel Katharinen in ein wohl
bestellet Heimwesen einzufahren.

Machte mich also, da mein freundlicher Gönner desselbigen Sinnes war,
mit allem Eifer an die Arbeit, so daß ich bald den Tag meiner Abreise
gar fröhlich nah und näher rücken sahe, unachtend, mit was vor üblen
Anständen ich drüben noch zu kämpfen hätte.

Aber des Menschen Augen sehen das Dunkel nicht, das vor ihm ist.— Als
nun das Bild vollendet war und reichlich Lob und Gold um dessen willen
mir zu Theil geworden, da konnte ich nicht fort. Ich hatte in der
Arbeit meiner Schwäche nicht geachtet, die schlecht geheilte Wunde warf
mich wiederum danieder. Eben wurden zum Weihnachtsfeste auf allen
Straßenplätzen die Waffelbuden aufgeschlagen, da begann mein Siechthum
und hielt mich länger als das erste Mal gefesselt. Zwar der besten
Arzteskunst und liebreicher Freundespflege war kein Mangel, aber in
Ängsten sahe ich Tag um Tag vergehen, und keine Kunde konnte von ihr,
keine zu ihr kommen.

Endlich nach harter Winterzeit, da der Zuidersee wieder seine grünen
Wellen schlug, geleiteten die Freunde mich zum Hafen; aber statt des
frohen Muthes nahm ich itzt schwere Herzensorge mit an Bord. Doch ging
die Reise rasch und gut von Statten.

Von Hamburg aus fuhr ich mit der königlichen Post; dann, wie vor nun
fast einem Jahre hiebevor, wanderte ich zu Fuße durch den Wald, an dem
noch kaum die ersten Spitzen grüneten. Zwar probten schon die Finken
und die Ammern ihren Lenzgesang; doch was kümmerten sie mich heute!—Ich
ging aber nicht nach Herrn Gerhardus’ Herrengut; sondern, so stark mein
Herz auch klopfete, ich bog seitwärts ab und schritt am Waldesrand
entlang dem Dorfe zu. Da stund ich bald in Hans Ottsens Krug und ihm
gar selber gegenüber.

Der Alte sah mich seltsam an, meinete aber dann, ich lasse ja recht
munter. „Nur“, fügte er bei, „mit den Schießbüchsen müsset Ihr nicht
wieder spielen; die machen ärgere Flecken als so ein Malerpinsel.“

Ich ließ ihn gern bei solcher Meinung, so, wie ich wohl merkete, hier
allgemein verbreitet war, und that vors erste eine Frage nach dem alten
Dieterich.

Da mußte ich vernehmen, daß er noch vor dem ersten Winterschnee, wie es
so starken Leuten wohl passiret, eines plötzlichen, wenn auch gelinden
Todes verfahren sei. „Der freuet sich“, sagte Hans Ottsen, „daß er zu
seinem alten Herrn da droben kommen; und ist für ihn auch besser so.“

„Amen!“ sagte ich; „mein herzlieber alter Dieterich!“

Indeß aber mein Herz nur, und immer banger, nach einer Kundschaft von
Katharinen seufzete, nahm meine furchtsam Zunge einen Umweg, und ich
sprach beklommen: „Was machet denn Euer Nachbar, der von der Risch?“

„Oho“, lachte der Alte; „der hat ein Weib genommen, und eine, die ihn
schon zu Richte setzen wird.“

Nur im ersten Augenblick erschrak ich, denn ich sagte mir sogleich, daß
er nicht so von Katharinen reden würde; und da er dann den Namen
nannte, so war’s ein ältlich, aber reiches Fräulein aus der
Nachbarschaft; forschete also muthig weiter, wie’s drüben in Herrn
Gerhardus’ Haus bestellet sei, und wie das Fräulein und der Junker mit
einander hauseten.

Da warf der Alte mir wieder seine seltsamen Blicke zu. „Ihr meinet
wohl“, sagte er, „daß alte Thürm’ und Mauern nicht auch plaudern
könnten!“

„Was soll’s der Rede?“ rief ich; aber sie fiel mir centnerschwer aufs
Herz.

„Nun, Herr Johannes“, und der Alte sahe mir gar zuversichtlich in die
Augen, „wo das Fräulein hinkommen, das werdet doch Ihr am besten
wissen! Ihr seid derzeit im Herbst ja nicht zum letzten hier gewesen;
nur wundert’s mich, daß Ihr noch einmal wiederkommen; denn Junker Wulf
wird, denk ich, nicht eben gute Mien zum bösen Spiel gemachet haben.“

Ich sah den alten Menschen an, als sei ich selber hintersinnig worden;
dann aber kam mir plötzlich ein Gedanke. „Unglücksmann!“ schrie ich,
„Ihr glaubet doch nicht etwan, das Fräulein Katharina sei mein Eheweib
geworden?“

„Nun, lasset mich nur los!“ entgegnete der Alte—denn ich schüttelte ihn
an beiden Schultern.—„Was geht’s mich an! Es geht die Rede so! Auf alle
Fäll’; seit Neujahr ist das Fräulein im Schloß nicht mehr gesehen
worden.“

Ich schwur ihm zu, derzeit sei ich in Holland krank gelegen; ich wisse
nichts von alledem.

Ob er’s geglaubet, weiß ich nicht zu sagen; allein er gab mir kund, es
sollte dermalen ein unbekannter Geistlicher zur Nachtzeit und in großer
Heimlichkeit auf den Herrenhof gekommen sein; zwar habe Bas’ Ursel das
Gesinde schon zeitig in ihre Kammern getrieben; aber der Mägde eine, so
durch die Thürspalt gelauschet, wolle auch mich über den Flur nach der
Treppe haben gehen sehen; dann später hätten sie deutlich einen Wagen
aus dem Thorhaus fahren hören, und seien seit jener Nacht nur noch Bas’
Ursel und der Junker in dem Schloß gewesen.

—Was ich von nun an alles und immer doch vergebens unternommen, um
Katharinen oder auch nur eine Spur von ihr zu finden, das soll nicht
hier verzeichnet werden. Im Dorf war nur das thörichte Geschwätz, davon
Hans Ottsen mich die Probe schmecken lassen; darum machete ich mich auf
nach dem Stifte zu Herrn Gerhardus’ Schwester; aber die Dame wollte
mich nicht vor sich lassen; wurde im übrigen mir auch berichtet, daß
keinerlei junges Frauenzimmer bei ihr gesehen worden. Da reisete ich
wieder zurück und demüthigte mich also, daß ich nach dem Hause des von
der Risch ging und als ein Bittender vor meinen alten Widersacher
hintrat. Der sagte höhnisch, es möge wohl der Buhz das Vöglein sich
geholet haben; er habe dem nicht nachgeschaut; auch halte er keinen
Aufschlag mehr mit denen von Herrn Gerhardus’ Hofe.

Der Junker Wulf gar, der davon vernommen haben mochte, ließ nach Hans
Ottsens Kruge sagen, so ich mich unterstünde, auch zu ihm zu dringen,
er würde mich noch einmal mit den Hunden hetzen lassen.— Da bin ich in
den Wald gegangen und hab gleich einem Strauchdieb am Weg auf ihn
gelauert; die Eisen sind von der Scheide bloß geworden; wir haben
gefochten, bis ich die Hand ihm wund gehauen und sein Degen in die
Büsche flog. Aber er sahe mich nur mit seinen bösen Augen an;
gesprochen hat er nicht.—Zuletzt bin ich zu längerem Verbleiben nach
Hamburg kommen, von wo aus ich ohne Anstand und mit größerer Umsicht
meine Nachforschungen zu betreiben dachte.

Es ist alles doch umsonst gewesen.


Aber ich will vors erste nun die Feder ruhen lassen. Denn vor mir liegt
dein Brief, mein lieber Josias; ich soll dein Töchterlein, meiner
Schwester sel. Enkelin, aus der Taufe heben.—Ich werde auf meiner Reise
dem Walde vorbeifahren, so hinter Herrn Gerhardus’ Hof belegen ist.
Aber das alles gehört ja der Vergangenheit.



Hier schließt das erste Heft der Handschrift. Hoffen wir, daß der
Schreiber ein fröhliches Tauffest gefeiert und inmitten seiner
Freundschaft an frischer Gegenwart sein Herz erquickt habe.

Meine Augen ruhten auf dem alten Bild mir gegenüber; ich konnte nicht
zweifeln, der schöne ernste Mann war Herr Gerhardus. Wer aber war jener
tote Knabe, den ihm Meister Johannes hier so sanft in seinen Arm
gebettet hatte?—Sinnend nahm ich das zweite und zugleich letzte Heft,
dessen Schriftzüge um ein weniges unsicherer erschienen. Es lautete wie
folgt:

Geliek as Rook un Stoof verswindt,
Also sind ock de Minschenkind.


Der Stein, darauf diese Worte eingehauen stehen, saß ob dem Thürsims
eines alten Hauses. Wenn ich daran vorbeiging, mußte ich allzeit meine
Augen dahin wenden, und auf meinen einsamen Wanderungen ist dann
selbiger Spruch oft lange mein Begleiter blieben. Da sie im letzten
Herbste das alte Haus abbrachen, habe ich aus den Trümmern diesen Stein
erstanden, und ist er heute gleicherweise ob der Thüre meines Hauses
eingemauert worden, wo er nach mir noch manchen, der vorübergeht, an
die Nichtigkeit des Irdischen erinnern möge. Mir aber soll er eine
Mahnung sein, ehbevor auch an meiner Uhr der Weiser stille steht, mit
der Aufzeichnung meines Lebens fortzufahren. Denn du, meiner lieben
Schwester Sohn, der du nun bald mein Erbe sein wirst, mögest mit meinem
kleinen Erdengute dann auch mein Erdenleid dahinnehmen, so ich bei
meiner Lebzeit niemandem, auch, aller Liebe ohnerachtet, dir nicht habe
anvertrauen mögen.

Item: anno 1666 kam ich zum ersten Mal in diese Stadt an der Nordsee;
maßen von einer reichen Branntweinbrenner-Witwen mir der Auftrag
worden, die Auferweckung Lazari zu malen, welches Bild sie zum
schuldigen und freundlichen Gedächtniß ihres Seligen, der hiesigen
Kirchen aber zum Zierath zu stiften gedachte, allwo es denn auch noch
heute über dem Taufsteine mit den vier Aposteln zu schauen ist. Daneben
wünschte auch der Bürgermeister, Herr Titus Axen, so früher in Hamburg
Thumherr und mir von dort bekannt war, sein Conterfey von mir gemalet,
so daß ich für eine lange Zeit allhier zu schaffen hatte.—Mein Losament
aber hatte ich bei meinem einzigen und älteren Bruder, der seit lange
schon das Secretariat der Stadt bekleidete; das Haus, darin er als
unbeweibter Mann lebte, war hoch und räumlich, und war es dasselbig
Haus mit den zwo Linden an der Ecken von Markt und Krämerstraße, worin
ich, nachdem es durch meines lieben Bruders Hintritt mir angestorben,
anitzt als alter Mann noch lebe und der Wiedervereinigung mit den
vorangegangenen Lieben in Demuth entgegenharre.

Meine Werkstätte hatte ich mir in dem großen Pesel der Witwe
eingerichtet; es war dorten ein gutes Oberlicht zur Arbeit, und bekam
alles gemacht und gestellet, wie ich es verlangen mochte. Nur daß die
gute Frau selber gar zu gegenwärtig war; denn allaugenblicklich kam sie
draußen von ihrem Schanktisch zu mir hergetrottet mit ihren
Blechgemäßen in der Hand; drängte mit ihrer Wohlbeleibtheit mir auf den
Malstock und roch an meinem Bild herum; gar eines Vormittages, da ich
soeben den Kopf des Lazarus untermalet hatte, verlangte sie mit viel
überflüssigen Worten, der auferweckte Mann solle das Antlitz ihres
Seligen zur Schau stellen, obschon ich diesen Seligen doch niemalen zu
Gesicht bekommen, von meinem Bruder auch vernommen hatte, daß selbiger,
wie es die Brenner pflegen, das Zeichen seines Gewerbes als eine
blaurothe Nasen im Gesicht herumgetragen; da habe ich denn, wie man
glauben mag, dem unvernünftigen Weibe gar hart den Daumen gegenhalten
müssen. Als dann von der Außendiele her wieder neue Kundschaft nach ihr
gerufen und mit den Gemäßen auf den Schank geklopfet, und sie endlich
von mir lassen müssen, da sank mir die Hand mit dem Pinsel in den
Schoß, und ich mußte plötzlich des Tages gedenken, da ich eines gar
andern Seligen Antlitz mit dem Stifte nachgebildet, und wer da in der
kleinen Kapelle so still bei mir gestanden sei.— Und also rückwärts
sinnend, setzete ich meinen Pinsel wieder an; als aber selbiger eine
gute Weile hin und wider gegangen, mußte ich zu eigener Verwunderung
gewahren, daß ich die Züge des edlen Herrn Gerhardus in des Lazari
Angesicht hineingetragen hatte. Aus seinem Leilach blickte des Todten
Antlitz gleichwie in stummer Klage gegen mich, und ich gedachte: So
wird er dir einstmals in der Ewigkeit entgegentreten!

Ich konnte heut nicht weiter malen, sondern ging fort und schlich auf
meine Kammer ober der Hausthür, allwo ich mich ans Fenster setzte und
durch den Ausschnitt der Lindenbäume auf den Markt hinabsah. Es gab
aber groß Gewühl dort, und war bis drüben an die Rathswaage und weiter
bis zur Kirchen alles voll von Wagen und Menschen; denn es war ein
Donnerstag und noch zur Stunde, daß Gast mit Gaste handeln durfte, also
daß der Stadtknecht mit dem Griper müßig auf unseres Nachbaren
Beischlag saß, maßen es vor der Hand keine Brüchen zu erhaschen gab.
Die Ostenfelder Weiber mit ihren rothen Jacken, die Mädchen von den
Inseln mit ihren Kopftüchern und feinem Silberschmuck, dazwischen die
hochgethürmeten Getreidewagen und darauf die Bauern in ihren gelben
Lederhosen—dies alles mochte wohl ein Bild für eines Malers Auge geben,
zumal wenn selbiger, wie ich, bei den Holländern in die Schule gegangen
war; aber die Schwere meines Gemüthes machte das bunte Bild mir trübe.
Doch war es keine Reu, wie ich vorhin an mir erfahren hatte; ein
sehnend Leid kam immer gewaltiger über mich; es zerfleischete mich mit
wilden Krallen und sah mich gleichwohl mit holden Augen an. Drunten lag
der helle Mittag auf dem wimmelnden Markte; vor meinen Augen aber
dämmerte silberne Mondnacht, wie Schatten stiegen ein paar Zackengiebel
auf, ein Fenster klirrte, und gleich wie aus Träumen schlugen leis und
fern die Nachtigallen. O du mein Gott und mein Erlöser, der du die
Barmherzigkeit bist, wo war sie in dieser Stunde, wo hatte meine Seele
sie zu suchen?—

Da hörete ich draußen unter dem Fenster von einer harten Stimme meinen
Namen nennen, und als ich hinausschaute, ersahe ich einen großen
hageren Mann in der üblichen Tracht eines Predigers, obschon sein
herrisch und finster Antlitz mit dem schwarzen Haupthaar und dem tiefen
Einschnitt ob der Nase wohl eher einem Kriegsmann angestanden wäre. Er
wies soeben einem andern, untersetzten Manne von bäuerischem Aussehen,
aber gleich ihm in schwarzwollenen Strümpfen und Schnallenschuhen, mit
seinem Handstocke nach unserer Hausthür zu, indem er selbst zumal durch
das Marktgewühle von dannen schritt.

Da ich dann gleich darauf die Thürglocke schellen hörte, ging ich hinab
und lud den Fremden in das Wohngemach, wo er von dem Stuhle, darauf ich
ihn genöthigt, mich gar genau und aufmerksam betrachtete.

Also war selbiger der Küster aus dem Dorfe norden der Stadt, und erfuhr
ich bald, daß man dort einen Maler brauche, da man des Pastors Bildniß
in die Kirche stiften wolle. Ich forschete ein wenig, was für Verdienst
um die Gemeine dieser sich erworben hätte, daß sie solche Ehr ihm
anzuthun gedächten, da er doch seines Alters halben noch nicht gar lang
im Amte stehen könne; der Küster aber meinete, es habe der Pastor
freilich wegen eines Stück Ackergrundes einmal einen Proceß gegen die
Gemeine angestrenget, sonst wisse er eben nicht, was Sondres könne
vorgefallen sein; allein es hingen allbereits die drei Amtsvorweser in
der Kirchen, und da sie, wie er sagen müsse, vernommen hätten, ich
verstünde das Ding gar wohl zu machen, so sollte der guten Gelegenheit
wegen nun auch der vierte Pastor mit hinein; dieser selber freilich
kümmere sich nicht eben viel darum.

Ich hörete dem allen zu; und da ich mit meinem Lazarus am liebsten auf
eine Zeit pausiren mochte, das Bildniß des Herrn Titus Axen aber wegen
eingetretenen Siechthums desselbigen nicht beginnen konnte, so hub ich
an, dem Auftrage näher nachzufragen.

Was mir an Preis für solche Arbeit nun geboten wurde, war zwar gering,
so daß ich erstlich dachte: sie nehmen dich für einen Pfennigmaler, wie
sie im Kriegstrosse mitziehen, um die Soldaten für ihre heimgebliebenen
Dirnen abzumalen; aber es muthete mich plötzlich an, auf eine Zeit
allmorgendlich in der goldnen Herbstessonne über die Heide nach dem
Dorf hinauszuwandern, das nur eine Wegstunde von unserer Stadt belegen
ist. Sagete also zu, nur mit dem Beding, daß die Malerei draußen auf
dem Dorfe vor sich ginge, da hier in meines Bruders Hause paßliche
Gelegenheit nicht befindlich sei.

Deß schien der Küster gar vergnügt, meinend, das sei alles hiebevor
schon fürgesorget; der Pastor habe sich solches gleichfalls
ausbedungen; item, es sei dazu die Schulstube in seiner Küsterei
erwählet; selbige sei das zweite Haus im Dorfe und liege nahe am
Pastorate, nur hintenaus durch die Priesterkoppel davon geschieden, so
daß also auch der Pastor leicht hinübertreten könne. Die Kinder, die im
Sommer doch nichts lernten, würden dann nach Haus geschicket.

Also schüttelten wir uns die Hände, und da der Küster auch die Maße des
Bildes fürsorglich mitgebracht, so konnte alles Malgeräth, deß ich
bedurfte, schon Nachmittages mit der Priesterfuhr hinausbefördert
werden.

Als mein Bruder dann nach Hause kam—erst spät am Nachmittage; denn ein
Ehrsamer Rath hatte dermalen viel Bedrängniß von einer Schinderleichen,
so die ehrlichen Leute nicht zu Grabe tragen wollten—, meinete er, ich
bekäme da einen Kopf zu malen, wie er nicht oft auf einem
Priesterkragen sitze, und möchte mich mit Schwarz und Braunroth wohl
versehen; erzählete mir auch, es sei der Pastor als Feldcapellan mit
den Brandenburgern hier ins Land gekommen, als welcher er’s fast wilder
denn die Offiziers getrieben haben solle; sei übrigens itzt ein
scharfer Streiter vor dem Herrn, der seine Bauern gar meisterlich zu
packen wisse.—Noch merkete mein Bruder an, daß bei desselbigen
Amtseintritt in unserer Gegend adelige Fürsprach eingewirket haben
solle, wie es heiße, von drüben aus dem Holsteinischen her; der
Archidiaconus habe bei der Klosterrechnung ein Wörtlein davon fallen
lassen. War jedoch Weiteres meinem Bruder darob nicht kund geworden.


So sahe mich denn die Morgensonne des nächsten Tages rüstig über die
Heide schreiten, und war mir nur leid, daß letztere allbereits ihr
rothes Kleid und ihren Würzeduft verbrauchet und also diese Landschaft
ihren ganzen Sommerschmuck verloren hatte; denn von grünen Bäumen war
weithin nichts zu ersehen; nur der spitze Kirchthurm des Dorfes, dem
ich zustrebte—wie ich bereits erkennen mochte, ganz von Granitquadern
auferbauet—, stieg immer höher vor mir in den dunkelblauen
Octoberhimmel. Zwischen den schwarzen Strohdächern, die an seinem Fuße
lagen, krüppelte nur niedrig Busch- und Baumwerk; denn der
Nordwestwind, so hier frisch von der See heraufkommt, will freien Weg
zu fahren haben.

Als ich das Dorf erreichet und auch alsbald mich nach der Küsterei
gefunden hatte, stürzete mir sofort mit lustigem Geschrei die ganze
Schul entgegen; der Küster aber hieß an seiner Hausthür mich
willkommen. „Merket Ihr wohl, wie gern sie von der Fibel laufen!“ sagte
er. „Der eine Bengel hatte Euch schon durchs Fenster kommen sehen.“

In dem Prediger, der gleich danach ins Haus trat, erkannte ich
denselbigen Mann, den ich schon tags zuvor gesehen hatte. Aber auf
seine finstere Erscheinung war heute gleichsam ein Licht gesetzet; das
war ein schöner blasser Knabe, den er an der Hand mit sich führete; das
Kind mochte etwan vier Jahre zählen und sahe fast winzig aus gegen des
Mannes hohe knochige Gestalt.

Da ich die Bildnisse der früheren Prediger zu sehen wünschte, so gingen
wir mitsammen in die Kirche, welche also hoch belegen ist, daß man nach
den anderen Seiten über Marschen und Heide, nach Westen aber auf den
nicht gar fernen Meeresstrand hinunterschauen kann. Es mußte eben Fluth
sein; denn die Watten waren überströmet, und das Meer stund wie ein
lichtes Silber. Da ich anmerkete, wie oberhalb desselben die Spitze des
Festlandes und von der andern Seite diejenige der Insel sich gegen
einander strecketen, wies der Küster auf die Wasserfläche, so
dazwischen liegt. „Dort“, sagte er, „hat einst meiner Eltern Haus
gestanden; aber anno 34 bei der großen Fluth trieb es gleich hundert
anderen in den grimmen Wassern; auf der einen Hälfte des Daches ward
ich an diesen Strand geworfen, auf der anderen fuhren Vater und Bruder
in die Ewigkeit hinaus.“

Ich dachte: ,So stehet die Kirche wohl am rechten Ort; auch ohne den
Pastor wird hier vernehmentlich Gottes Wort geprediget.‘

Der Knabe, welchen letzterer auf den Arm genommen hatte, hielt dessen
Nacken mit beiden Ärmchen fest umschlungen und drückte die zarte Wange
an das schwarze bärtige Gesicht des Mannes, als finde er so den Schutz
vor der ihn schreckenden Unendlichkeit, die dort vor unseren Augen
ausgebreitet lag.

Als wir in das Schiff der Kirche eingetreten waren, betrachtete ich mir
die alten Bildnisse und sahe auch einen Kopf darunter, der wohl eines
guten Pinsels werth gewesen wäre; jedennoch war es alles eben
Pfennigmalerei, und sollte demnach der Schüler van der Helsts hier in
gar sondere Gesellschaft kommen.

Da ich solches eben in meiner Eitelkeit bedachte, sprach die harte
Stimme des Pastors neben mir: „Es ist nicht meines Sinnes, daß der
Schein des Staubes dauere, wenn der Odem Gottes ihn verlassen; aber ich
habe der Gemeine Wunsch nicht widerstreben mögen; nur, Meister, machet
es kurz; ich habe besseren Gebrauch für meine Zeit.“

Nachdem ich dem finsteren Manne, an dessen Antlitz ich gleichwohl für
meine Kunst Gefallen fand, meine beste Bemühung zugesaget, fragete ich
einem geschnitzten Bilde der Maria nach, so von meinem Bruder mir war
gerühmet worden.

Ein fast verachtend Lächeln ging über des Predigers Angesicht. „Da
kommet ihr zu spät“, sagte er, „es ging in Trümmer, da ich’s aus der
Kirche schaffen ließ.“

Ich sah ihn fast erschrocken an. „Und wolltet Ihr des Heilands Mutter
nicht in Euerer Kirche dulden?“

„Die Züge von des Heilands Mutter“, entgegnete er, „sind nicht
überliefert worden.“

—„Aber wollet Ihr’s der Kunst mißgönnen, sie in frommem Sinn zu
suchen?“

Er blickte eine Welle finster auf mich herab; denn, obschon ich zu den
Kleinen nicht zu zählen, so überragte er mich doch um eines halben
Kopfes Höhe;—dann sprach er heftig: „Hat nicht der König die
holländischen Papisten dort auf die zerrissene Insel herberufen; nur um
durch das Menschenwerk der Deiche des Höchsten Strafgericht zu trotzen?
Haben nicht noch letzlich die Kirchenvorsteher drüben in der Stadt sich
zwei der Heiligen in ihr Gestühlte schnitzen lassen? Betet und wachet!
Denn auch hier geht Satan noch von Haus zu Haus! Diese Marienbilder
sind nichts als Säugammen der Sinnenlust und des Papismus; die Kunst
hat allzeit mit der Welt gebuhlt!“

Ein dunkles Feuer glühte in seinen Augen, aber seine Hand lag
liebkosend auf dem Kopf des blassen Knaben, der sich an seine Knie
schmiegte.

Ich vergaß darob, des Pastors Worte zu erwidern; mahnete aber danach,
daß wir in die Küsterei zurückgingen, wo ich alsdann meine edle Kunst
an ihrem Widersacher selber zu erproben anhub.



Also wanderte ich fast einen Morgen um den andern über die Heide nach
dem Dorfe, wo ich allzeit den Pastor schon meiner harrend antraf
Geredet wurde wenig zwischen uns; aber das Bild nahm desto rascheren
Fortgang. Gemeiniglich saß der Küster neben uns und schnitzete allerlei
Geräthe gar säuberlich aus Eichenholz, dergleichen als eine Hauskunst
hier überall betrieben wird; auch habe ich das Kästlein, woran er
derzeit arbeitete, von ihm erstanden und darin vor Jahren die ersten
Blätter dieser Niederschrift hinterleget, alswie denn auch mit Gottes
Willen diese letzten darin sollen beschlossen sein.—

In des Predigers Wohnung wurde ich nicht geladen und betrat selbige
auch nicht; der Knabe aber war allzeit mit ihm in der Küsterei; er
stand an seinen Knien, oder er spielte mit Kieselsteinchen in der Ecke
des Zimmers. Da ich selbigen einmal fragte, wie er heiße, antwortete
er: „Johannes!“—„Johannes?“ entgegnete ich, „so heiße ich ja auch!“—Er
sah mich groß an, sagte aber weiter nichts.

Weshalb rühreten diese Augen so an meine Seele?—Einmal gar überraschete
mich ein finsterer Blick des Pastors, da ich den Pinsel müßig auf der
Leinewand ruhen ließ. Es war etwas in dieses Kindes Antlitz, das nicht
aus seinem kurzen Leben kommen konnte; aber es war kein froher Zug. So,
dachte ich, sieht ein Kind, das unter einem kummerschweren Herzen
ausgewachsen. Ich hätte oft die Arme nach ihm breiten mögen; aber ich
scheuete mich vor dem harten Manne, der es gleich einem Kleinod zu
behüten schien. Wohl dachte ich oft: ,Welch eine Frau mag dieses Knaben
Mutter sein?‘—

Des Küsters alte Magd hatte ich einmal nach des Predigers Frau
befraget; aber sie hatte mir kurzen Bescheid gegeben: „Die kennt man
nicht; in die Bauernhäuser kommt sie kaum, wenn Kindelbier und Hochzeit
ist.“—Der Pastor selbst sprach nicht von ihr. Aus dem Garten der
Küsterei, welcher in eine dichte Gruppe von Fliederbüschen ausläuft,
sahe ich sie einmal langsam über die Priesterkoppel nach ihrem Hause
gehen; aber sie hatte mir den Rücken zugewendet, so daß ich nur ihre
schlanke, jugendliche Gestalt gewahren konnte, und außerdem ein paar
gekräuselte Löckchen, in der Art, wie sie sonst nur von den Vornehmeren
getragen werden und die der Wind von ihren Schläfen wehte. Das Bild
ihres finsteren Ehgesponsen trat mir vor die Seele, und mir schien, es
passe dieses Paar nicht wohl zusammen.

—An den Tagen, wo ich nicht da draußen war, hatte ich auch die Arbeit
an meinem Lazarus wieder aufgenommen, so daß nach einiger Zeit diese
Bilder mit einander nahezu vollendet waren.

So saß ich eines Abends nach vollbrachtem Tagewerke mit meinem Bruder
unten in unserem Wohngemache. Auf dem Tisch am Ofen war die Kerze fast
herabgebrannt, und die holländische Schlaguhr hatte schon auf Eilf
gewarnt; wir aber saßen am Fenster und hatten der Gegenwart vergessen;
denn wir gedachten der kurzen Zeit, die wir mitsammen in unserer Eltern
Haus verlebet hatten; auch unseres einzigen lieben Schwesterleins
gedachten wir, das im ersten Kindbette verstorben und nun seit lange
schon mit Vater und Mutter einer fröhlichen Auferstehung
entgegenharrete.—Wir hatten die Läden nicht vorgeschlagen; denn es that
uns wohl, durch das Dunkel, so draußen auf den Erdenwohnungen der Stadt
lag, in das Sternenlicht des ewigen Himmels hinauszublicken.

Am Ende verstummten wir beide in uns selber, und wie auf einem dunkeln
Strome trieben meine Gedanken zu ihr, bei der sie allzeit Rast und
Unrast fanden.—Da, gleich einem Stern aus unsichtbaren Höhen, fiel es
mir jählings in die Brust: Die Augen des schönen blassen Knaben, es
waren ja ihre Augen! Wo hatte ich meine Sinne denn gehabt!—Aber dann,
wenn sie es war, wenn ich sie selber schon gesehen?—Welch schreckbare
Gedanken stürmten auf mich ein!

Indem legte sich die eine Hand meines Bruders mir auf die Schulter, mit
der andern wies er auf den dunkeln Markt hinaus, von wannen aber itzt
ein heller Schein zu uns herüberschwankte. „Sieh nur!“ sagte er. „Wie
gut, daß wir das Pflaster mit Sand und Heide ausgestopfet haben! Die
kommen von des Glockengießers Hochzeit; aber an ihren Stockleuchten
sieht man, daß sie gleichwohl hin und wider stolpern.“

Mein Bruder hatte recht. Die tanzenden Leuchten zeugeten deutlich von
der Trefflichkeit des Hochzeitschmauses; sie kamen uns so nahe, daß die
zwei gemalten Scheiben, so letzlich von meinem Bruder als eines Glasers
Meisterstück erstanden waren, in ihren satten Farben wie in Feuer
glühten. Als aber dann die Gesellschaft an unserem Hause laut redend in
die Krämerstraße einbog, hörete ich einen unter ihnen sagen: „Ei
freilich; das hat der Teufel uns verpurret! Hatte mich leblang darauf
gespitzet, einmal eine richtige Hex so in der Flammen singen zu hören!“

Die Leuchten und die lustigen Leute gingen weiter, und draußen die
Stadt lag wieder still und dunkel.

„O weh!“ sprach mein Bruder; „den trübet, was mich tröstet.“

Da fiel es mir erst wieder bei, daß am nächsten Morgen die Stadt ein
grausam Spectacul vor sich habe. Zwar war die junge Person, so wegen
einbekannten Bündnisses mit dem Satan zu Aschen sollte verbrannt
werden, am heutigen Morgen vom Frone todt in ihrem Kerker aufgefunden
worden; aber dem todten Leibe mußte gleichwohl sein peinlich Recht
geschehen.

Das war nun vielen Leuten gleich einer kalt gestellten Suppen. Hatte
doch auch die Buchführer-Witwe Liebernickel, so unter dem Thurm der
Kirche den grünen Bücherschranken hat, mir am Mittage, da ich wegen der
Zeitung bei ihr eingetreten, aufs heftigste geklaget, daß nun das Lied,
so sie im voraus darüber habe anfertigen und drucken lassen, nur kaum
noch passen werde wie die Faust aufs Auge. Ich aber, und mit mir mein
viellieber Bruder, hatte so meine eigenen Gedanken von dem Hexenwesen
und freuete mich, daß unser Herrgott—denn der war es doch wohl
gewesen—das arme junge Mensch so gnädiglich in seinen Schoß genommen
hatte.

Mein Bruder, welcher weichen Herzens war, begann gleichwohl der
Pflichten seines Amts sich zu beklagen; denn er hatte drüben von der
Rathhaustreppe das Urthel zu verlesen, sobald der Racker den todten
Leichnam davor aufgefahren, und hernach auch der Justification selber
zu assistiren. „Es schneidet mir schon itzund in das Herz“, sagte er,
„das greuelhafte Gejohle, wenn sie mit dem Karren die Straße
herabkommen; denn die Schulen werden ihre Buben und die Zunftmeister
ihre Lehrburschen loslassen.—An deiner Statt“, fügete er bei, „der du
ein freier Vogel bist, würde ich aufs Dorf hinausmachen und an dem
Conterfey des schwarzen Pastors weiter malen!“

Nun war zwar festgesetzet worden, daß ich am nächstfolgenden Tage erst
wieder hinauskäme; aber mein Bruder redete mir zu, unwissend, wie er
die Ungeduld in meinem Herzen schürete; und so geschah es, daß alles
sich erfüllen mußte, was ich getreulich in diesen Blättern
niederschreiben werde.



Am andern Morgen, als drüben vor meinem Kammerfenster nur kaum der
Kirchthurmhahn in rothem Frühlicht blinkte, war ich schon von meinem
Lager aufgesprungen; und bald schritt ich über den Markt, allwo die
Bäcker, vieler Käufer harrend, ihre Brotschragen schon geöffnet hatten;
auch sahe ich, wie an dem Rathhause der Wachtmeister und die Fußknechte
in Bewegung waren, und hatte Einer bereits einen schwarzen Teppich über
das Geländer der großen Treppe aufgehangen; ich aber ging durch den
Schwibbogen, so unter dem Rathause ist, eilends zur Stadt hinaus.

Als ich hinter dem Schloßgarten auf dem Steige war, sahe ich drüben bei
der Lehmkuhle, wo sie den neuen Galgen hingesetzet, einen mächtigen
Holzstoß aufgeschichtet. Ein paar Leute hantirten noch daran herum, und
mochten das der Fron und seine Knechte sein, die leichten Brennstoff
zwischen die Hölzer thaten; von der Stadt her aber kamen schon die
ersten Buben über die Felder ihnen zugelaufen. Ich achtete deß nicht
weiter, sondern wanderte rüstig fürbaß, und da ich hinter den Bäumen
hervortrat, sahe ich mir zur Linken das Meer im ersten Sonnenstrahl
entbrennen, der im Osten über die Heide emporstieg. Da mußte ich meine
Hände falten:

„O Herr, mein Gott und Christ,
Sei gnädig mit uns allen,
Die wir in Sünd gefallen,
Der du die Liebe bist!“—


Als ich draußen war, wo die breite Landstraße durch die Heide führte,
begegneten mir viele Züge von Bauern; sie hatten ihre kleinen Jungen
und Dirnen an den Händen und zogen sie mit sich fort.

„Wohin strebet ihr denn so eifrig?“ fragte ich den einen Haufen; „es
ist ja doch kein Markttag heute in der Stadt.“

Nun, wie ich’s wohl zum voraus wußte, sie wollten die Hexe, das junge
Satansmensch, verbrennen sehen.

—„Aber die Hexe ist ja todt!“

„Freilich, das ist ein Verdruß“, meineten sie; „aber es ist unserer
Hebamme, der alten Mutter Siebenzig, ihre Schwestertochter; da können
wir nicht außen bleiben und müssen mit dem Reste schon fürlieb
nehmen.“—

—Und immer neue Scharen kamen daher; und itzund taucheten auch schon
Wagen aus dem Morgennebel, die statt mit Kornfrucht heut mit Menschen
voll geladen waren.—Da ging ich abseits über die Heide, obwohl noch der
Nachtthau von dem Kraute rann; denn mein Gemüth verlangte nach der
Einsamkeit; und ich sahe von fern, wie es den Anschein hatte, das ganze
Dorf des Weges nach der Stadt ziehen. Als ich auf dem Hünenhügel stund,
der hier inmitten der Heide liegt, überfiel es mich, als müsse auch ich
zur Stadt zurückkehren oder etwan nach links hinab an die See gehen,
oder nach dem kleinen Dorfe, das dort unten hart am Strande liegt; aber
vor mir in der Luft schwebete etwas wie ein Glück, wie eine rasende
Hoffnung, und es schüttelte mein Gebein, und meine Zähne schlugen an
einander. ,Wenn sie es wirklich war, so letzlich mit meinen eigenen
Augen ich erblicket, und wenn dann heute—‘ Ich fühlte mein Herz gleich
einem Hammer an den Rippen; ich ging weit um durch die Heide; ich
wollte nicht sehen, ob auf der Wagen einem auch der Prediger nach der
Stadt fahre.—Aber ich ging dennoch endlich seinem Dorfe zu.

Als ich es erreichet hatte, schritt ich eilends nach der Thür des
Küsterhauses. Sie war verschlossen. Eine Weile stund ich unschlüssig;
dann hub ich mit der Faust zu klopfen an. Drinnen blieb alles ruhig;
als ich aber stärker klopfte, kam des Küsters alte halb blinde Trienke
aus einem Nachbarhause.

„Wo ist der Küster?“ fragte ich.

—„Der Küster? Mit dem Priester in die Stadt gefahren.“

Ich starrete die Alte an; mir war, als sei ein Blitz durch mich dahin
geschlagen.

„Fehler Euch etwas, Herr Maler?“ frug sie.

Ich schüttelte den Kopf und sagte nur: „So ist wohl heute keine Schule,
Trienke?“

—„Bewahre! Die Hexe wird ja verbrannt!“

Ich ließ mir von der Alten das Haus aufschließen, holte mein
Malergeräthe und das fast vollendete Bildniß aus des Küsters
Schlafkammer und richtete, wie gewöhnlich, meine Staffelei in dem
leeren Schulzimmer. Ich pinselte etwas an der Gewandung; aber ich
suchte damit nur mich selber zu belügen; ich hatte keinen Sinn zum
Malen; war ja um dessen willen auch nicht hieher gekommen.

Die Alte kam hereingelaufen, stöhnte über die arge Zeit und redete über
Bauern- und Dorfsachen, die ich nicht verstund; mich selber drängete
es, sie wieder einmal nach des Predigers Frau zu fragen, ob selbige alt
oder jung, und auch, woher sie gekommen sei; allein ich brachte das
Wort nicht über meine Zungen. Dagegen begann die Alte ein lang
Gespinste von der Hex und ihrer Sippschaft hier im Dorfe und von der
Mutter Siebenzig, so mit Vorspuksehen behaftet sei; erzählete auch, wie
selbige zur Nacht, da die Gicht dem alten Weibe keine Ruh gelassen,
drei Leichlaken über des Pastors Hausdach habe fliegen sehen: es gehe
aber solch Gesichte allzeit richtig aus, und Hoffart komme vor dem
Falle; denn sei die Frau Pastorin bei aller ihrer Vornehmheit doch nur
eine blasse und schwächliche Kreatur.

Ich mochte solch Geschwätz nicht fürder hören; ging daher aus dem Hause
und auf dem Wege herum, da wo das Pastorat mit seiner Fronte gegen die
Dorfstraße liegt; wandte auch unter bangem Sehnen meine Augen nach den
weißen Fenstern, konnte aber hinter den blinden Scheiben nichts
gewahren als ein paar Blumenscherben, wie sie überall zu sehen
sind.—Ich hätte nun wohl umkehren mögen; aber ich ging dennoch weiter.
Als ich auf den Kirchhof kam, trug von der Stadtseite der Wind ein
wimmernd Glockenläuten an mein Ohr; ich aber wandte mich und blickte
hinab nach Westen, wo wiederum das Meer wie lichtes Silber am
Himmelssaume hinfloß, und war doch ein tobend Unheil dort gewesen,
worin in einer Nacht des Höchsten Hand viel tausend Menschenleben
hingeworfen hatte. Was krümmete denn ich mich so gleich einem
Wurme?—Wir sehen nicht, wie seine Wege führen!

Ich weiß nicht mehr, wohin mich damals meine Füße noch getragen haben;
ich weiß nur, daß ich in einem Kreis gegangen bin; denn da die Sonne
fast zur Mittagshöhe war, langete ich wieder bei der Küsterei an. Ich
ging aber nicht in das Schulzimmer an meine Staffelei, sondern durch
das Hinterpförtlein wieder zum Hause hinaus.—

Das ärmliche Gärtlein ist mir unvergessen, obschon seit jenem Tage
meine Augen es nicht mehr gesehen.—Gleich dem des Predigerhauses von
der anderen Seite, trat es als ein breiter Streifen in die
Priesterkoppel; inmitten zwischen beiden aber war eine Gruppe dichter
Weidenbüsche, welche zur Einfassung einer Wassergrube dienen mochten;
denn ich hatte einmal eine Magd mit vollem Eimer wie aus einer Tiefe
daraus hervorsteigen sehen.

Als ich ohne viel Gedanken, nur mein Gemüthe erfüllet von nicht zu
zwingender Unrast, an des Küsters abgeheimseten Bohnenbeeten hinging,
hörete ich von der Koppel draußen eine Frauenstimme von gar holdem
Klang, und wie sie liebreich einem Kinde zusprach.

Unwillens schritt ich solchem Schalle nach; so mochte einst der
griechische Heidengott mit seinem Stabe die Todten nach sich gezogen
haben. Schon war ich am jenseitigen Rande des Holundergebüsches, das
hier ohne Verzäunung in die Koppel ausläuft, da sahe ich den kleinen
Johannes mit einem Ärmchen voll Moos, wie es hier in dem kümmerlichen
Grase wächst, gegenüber hinter die Weiden gehen; er mochte sich dort
damit nach Kinderart ein Gärtchen angeleget haben. Und wieder kam die
holde Stimme an mein Ohr: „Nun heb nur an; nun hast du einen ganzen
Haufen! Ja, ja; ich such derweil noch mehr; dort am Holunder wächst
genug!“

Und dann trat sie selber hinter den Weiden hervor; ich hatte ja längst
schon nicht gezweifelt.—Mit den Augen auf dem Boden suchend, schritt
sie zu mir her, so daß ich ungestöret sie betrachten durfte; und mir
war, als gliche sie nun gar seltsam dem Kinde wieder, das sie einst
gewesen war, für das ich den „Buhz“ einst von dem Baum herabgeschossen
hatte; aber dieses Kinderantlitz von heute war bleich und weder Glück
noch Muth darin zu lesen.

So war sie mählich näher kommen, ohne meiner zu gewahren; dann kniete
sie nieder an einem Streifen Moos, der unter den Büschen hinlief; doch
ihre Hände pflückten nicht davon; sie ließ das Haupt auf ihre Brust
sinken, und es war, als wolle sie nur ungesehen vor dem Kinde in ihrem
Leide ausruhen.

Da rief ich leise: „Katharina!“

Sie blickte auf, ich aber ergriff ihre Hand und zog sie gleich einer
Willenlosen zu mir unter den Schatten der Büsche. Doch als ich sie
endlich also nun gefunden hatte und keines Wortes mächtig vor ihr
stund, da sahen ihre Augen weg von mir, und mit fast einer fremden
Stimme sagte sie: „Es ist nun einmal so, Johannes! Ich wußte wohl, du
seiest der fremde Maler; ich dachte nur nicht, daß du heute kommen
würdest.“

Ich hörete das, und dann sprach ich es aus: „Katharina,—so bist du des
Predigers Eheweib?“

Sie nickte nicht; sie sah mich starr und schmerzlich an. „Er hat das
Amt dafür bekommen“, sagte sie, „und dein Kind den ehrlichen Namen.“

—„Mein Kind, Katharina?“

„Und fühltest du das nicht? Er hat ja doch auf deinem Schoß gesessen;
einmal doch, er selbst hat es mir erzählet.“

—Möge keines Menschen Brust ein solches Weh zerfleischen!—„Und du, du
und mein Kind, ihr solltet mir verloren sein!“

Sie sah mich an, sie weinte nicht, sie war nur gänzlich todtenbleich.

„Ich will das nicht!“ schrie ich; „ich will …“ Und eine wilde
Gedankenjagd rasete mir durchs Hirn.

Aber ihre kleine Hand hatte gleich einem kühlen Blatte sich auf meine
Stirn gelegt, und ihre braunen Augensterne auf dem blassen Antlitz
sahen mich flehend an. „Du, Johannes“, sagte sie, „du wirst es nicht
sein, der mich noch elender machen will.“

—„Und kannst denn du so leben, Katharina?“

„Leben?—Es ist ja doch ein Glück dabei; er liebt das Kind;—was ist denn
mehr noch zu verlangen?“

—„Und von uns, von dem, was einst gewesen ist, weiß er davon?“

„Nein, nein!“ rief sie heftig. „Er nahm die Sünderin zum Weibe: mehr
nicht. O Gott, ist’s denn nicht genug, daß jeder neue Tag ihm
angehört!“

In diesem Augenblicke tönete ein zarter Gesang zu uns herüber.— „Das
Kind“, sagte sie. „Ich muß zu dem Kinde; es könnte ihm ein Leids
geschehen!“

Aber meine Sinne zieleten nur auf das Weib, das sie begehrten. „Bleib
doch“, sagte ich, „es spielet ja fröhlich dort mit seinem Moose.“

Sie war an den Rand des Gebüsches getreten und horchete hinaus. Die
goldene Herbstsonne schien so warm hernieder, nur leichter Hauch kam
von der See herauf. Da hörten wir von jenseits durch die Weiden das
Stimmlein unseres Kindes singen:

„Zwei Englein, die mich decken,
Zwei Englein, die mich strecken,
Und zweie, so mich weisen
In das himmlische Paradeisen.“


Katharina war zurückgetreten, und ihre Augen sahen groß und geisterhaft
mich an. „Und nun leb wohl, Johannes“, sprach sie leise; „auf
Nimmerwiedersehen hier auf Erden!“

Ich wollte sie an mich reißen; ich streckte beide Arme nach ihr aus;
doch sie wehrete mich ab und sagte sanft: „Ich bin des anderen Mannes
Weib; vergiß das nicht.“

Mich aber hatte auf diese Worte ein fast wilder Zorn ergriffen. „Und
wessen, Katharina“, sprach ich hart, „bist du gewesen, ehe bevor du
sein geworden?“

Ein weher Klaglaut brach aus ihrer Brust; sie schlug die Hände vor ihr
Angesicht und rief. „Weh mir! O wehe, mein entweihter armer Leib!“

Da wurd ich meiner schier unmächtig; ich riß sie jäh an meine Brust,
ich hielt sie wie mit Eisenklammern und hatte sie endlich, endlich
wieder! Und ihre Augen sanken in die meinen, und ihre rothen Lippen
duldeten die meinen; wir umschlangen uns inbrünstiglich; ich hätte sie
tödten mögen, wenn wir also mit einander hätten sterben können. Und als
dann meine Blicke voll Seligkeit auf ihrem Antlitz weideten, da sprach
sie, fast erstickt von meinen Küssen: „Es ist ein langes, banges Leben!
O Jesu Christ, vergib mir diese Stunde!“

—Es kam eine Antwort; aber es war die harte Stimme jenes Mannes, aus
dessen Munde ich itzt zum ersten Male ihren Namen hörte. Der Ruf kam
von drüben aus dem Predigergarten, und noch einmal und härter rief es:
„Katharina!“

Da war das Glück vorbei; mit einem Blicke der Verzweiflung sahe sie
mich an; dann stille wie ein Schatten war sie fort.

—Als ich in die Küsterei trat, war auch schon der Küster wieder da. Er
begann sofort von der Justification der armen Hexe auf mich einzureden.
„Ihr haltet wohl nicht viel davon“, sagte er; „sonst wäret Ihr heute
nicht aufs Dorf gegangen, wo der Herr Pastor gar die Bauern und ihre
Weiber in die Stadt getrieben.“

Ich hatte nicht die Zeit zur Antwort; ein gellender Schrei durchschnitt
die Luft; ich werde ihn leblang in den Ohren haben.

„Was war das, Küster?“ rief ich.

Der Mann riß ein Fenster auf und horchete hinaus, aber es geschah
nichts weiter. „So mir Gott“, sagte er, „es war ein Weib, das so
geschrien hat; und drüben von der Priesterkoppel kam’s.“

Indem war auch die alte Trienke in die Thür gekommen. „Nun, Herr?“ rief
sie mir zu. „Die Leichlaken sind auf des Pastors Dach gefallen!“

—„Was soll das heißen, Trienke?“

„Das soll heißen, daß sie des Pastors kleinen Johannes soeben aus dem
Wasser ziehen.“

Ich stürzete aus dem Zimmer und durch den Garten auf die
Priesterkoppel; aber unter den Weiden fand ich nur das dunkle Wasser
und Spuren feuchten Schlammes daneben auf dem Grase.—Ich bedachte mich
nicht, es war ganz wie von selber, daß ich durch das weiße Pförtchen in
des Pastors Garten ging. Da ich eben ins Haus wollte, trat er selber
mir entgegen.

Der große knochige Mann sah gar wüste aus; seine Augen waren geröthet,
und das schwarze Haar hing wirr ihm ins Gesicht. „Was wollt Ihr?“ sagte
er.

Ich starrete ihn an; denn mir fehlete das Wort. Ja, was wollte ich denn
eigentlich?

„Ich kenne Euch!“ fuhr er fort. „Das Weib hat endlich alles
ausgeredet.“

Das machte mir die Zunge frei. „Wo ist mein Kind!“ rief ich.

Er sagte: „Die beiden Eltern haben es ertrinken lassen.“

—„So laßt mich zu meinem todten Kinde!“

Allein, da ich an ihm vorbei in den Hausflur wollte, drängete er mich
zurück. „Das Weib“, sprach er, „liegt bei dem Leichnam und schreit zu
Gott aus ihren Sünden. Ihr sollt nicht hin, um ihrer armen Seelen
Seligkeit!“

Was dermalen selber ich gesprochen, ist mir schier vergessen; aber des
Predigers Worte gruben sich in mein Gedächtniß. „Höret mich!“ sprach
er. „So von Herzen ich Euch hasse, wofür dereinst mich Gott in seiner
Gnade wolle büßen lassen, und Ihr vermuthendlich auch mich—noch ist
Eines uns gemeinsam.—Geht itzo heim und bereitet eine Tafel oder
Leinewand! Mit solcher kommet morgen in der Frühe wieder und malet
darauf des todten Knaben Antlitz. Nicht mir oder meinem Hause; der
Kirchen hier, wo er sein kurz unschuldig Leben ausgelebet, möget Ihr
das Bildniß stiften. Mög es dort die Menschen mahnen, daß vor der
knöchern Hand des Todes alles Staub ist!“

Ich blickte auf den Mann, der kurz vordem die edle Malerkunst ein
Buhlweib mit der Welt gescholten; aber ich sagte zu, daß alles so
geschehen möge.

—Daheim indessen wartete meiner eine Kunde, so meines Lebens Schuld und
Buße gleich einem Blitze jählings aus dem Dunkel hob, so daß ich Glied
um Glied die ganze Kette vor mir leuchten sahe.

Mein Bruder, dessen schwache Constitution von dem abscheulichen
Spectacul, dem er heute assistiren müssen, hart ergriffen war, hatte
sein Bette aufgesucht. Da ich zu ihm eintrat, richtete er sich auf „Ich
muß noch eine Weile ruhen“, sagte er, indem er ein Blatt der
Wochenzeitung in meine Hand gab; „aber lies doch dieses! Da wirst du
sehen, daß Herrn Gerhardus’ Hof in fremde Hände kommen, maßen Junker
Wulf ohn Weib und Kind durch eines tollen Hundes Biß gar jämmerlichen
Todes verfahren ist.“

Ich griff nach dem Blatte, das mein Bruder mir entgegenhielt; aber es
fehlte nicht viel, daß ich getaumelt wäre. Mir war’s bei dieser
Schreckenspost, als sprängen des Paradieses Pforten vor mir auf; aber
schon sahe ich am Eingange den Engel mit dem Feuerschwerte stehen, und
aus meinem Herzen schrie es wieder: O Hüter, Hüter, war dein Ruf so
fern!—Dieser Tod hätte uns das Leben werden können; nun war’s nur ein
Entsetzen zu den andern.

Ich saß oben auf meiner Kammer. Es wurde Dämmerung, es wurde Nacht; ich
schaute in die ewigen Gestirne, und endlich suchte auch ich mein Lager.
Aber die Erquickung des Schlafes ward mir nicht zu Theil. In meinen
erregten Sinnen war es mir gar seltsamlich, als sei der Kirchthurm
drüben meinem Fenster nah gerückt; ich fühlte die Glockenschläge durch
das Holz der Bettstatt dröhnen, und ich zählete sie alle die ganze
Nacht entlang. Doch endlich dämmerte der Morgen. Die Balken an der
Decke hingen noch wie Schatten über mir, da sprang ich auf, und ehbevor
die erste Lerche aus den Stoppelfeldern stieg, hatte ich allbereits die
Stadt im Rücken.

Aber so frühe ich auch ausgegangen, ich traf den Prediger schon auf der
Schwelle seines Hauses stehen. Er geleitete mich auf den Flur und
sagte, daß die Holztafel richtig angelanget, auch meine Staffelei und
sonstiges Malergeräth aus dem Küsterhause herübergeschaffet sei. Dann
legte er seine Hand auf die Klinke einer Stubenthür.

Ich jedoch hielt ihn zurück und sagte: „Wenn es in diesem Zimmer ist,
so wollet mir vergönnen, bei meinem schweren Werke allein zu sein!“

„Es wird Euch niemand stören“, entgegnete er und zog die Hand zurück.
„Was Ihr zur Stärkung Eueres Leibes bedürfet, werdet Ihr drüben in
jenem Zimmer finden.“ Er wies auf eine Thür an der anderen Seite des
Flures; dann verließ er mich.

Meine Hand lag itzund statt der des Predigers auf der Klinke. Es war
todtenstill im Hause; eine Weile mußte ich mich sammeln, bevor ich
öffnete.

Es war ein großes, fast leeres Gemach, wohl für den
Confirmandenunterricht bestimmt, mit kahlen weißgetünchten Wänden; die
Fenster sahen über öde Felder nach dem fernen Strand hinaus. Inmitten
des Zimmers aber stund ein weißes Lager aufgebahret. Auf dem Kissen lag
ein bleiches Kinderangesicht; die Augen zu; die kleinen Zähne
schimmerten gleich Perlen aus den blassen Lippen.

Ich fiel an meines Kindes Leiche nieder und sprach ein brünstiglich
Gebet. Dann rüstete ich alles, wie es zu der Arbeit nöthig war; und
dann malte ich—rasch, wie man die Todten malen muß, die nicht zum
zweitenmal dasselbig Antlitz zeigen. Mitunter wurd ich wie von der
andauernden großen Stille aufgeschrecket; doch wenn ich inne hielt und
horchte, so wußte ich bald, es sei nichts da gewesen. Einmal auch war
es, als drängen leise Odemzüge an mein Ohr.—Ich trat an das Bette des
Todten, aber da ich mich zu dem bleichen Mündlein niederbeugete,
berührte nur die Todeskälte meine Wangen.

Ich sahe um mich; es war noch eine Thür im Zimmer; sie mochte zu einer
Schlafkammer führen, vielleicht daß es von dort gekommen war! Allein so
scharf ich lauschte, ich vernahm nichts wieder; meine eigenen Sinne
hatten wohl ein Spiel mit mir getrieben.

So setzete ich mich denn wieder, sahe auf den kleinen Leichnam und
malete weiter; und da ich die leeren Händchen ansahe, wie sie auf dem
Linnen lagen, so dachte ich: ,Ein klein Geschenk doch mußt du deinem
Kinde geben!‘ Und ich malete auf seinem Bildniß ihm eine weiße
Wasserlilie in die Hand, als sei es spielend damit eingeschlafen.
Solcher Art Blumen gab es selten in der Gegend hier, und mocht es also
ein erwünschet Angebinde sein.

Endlich trieb mich der Hunger von der Arbeit auf, mein ermüdeter Leib
verlangte Stärkung. Legete sonach den Pinsel und die Palette fort und
ging über den Flur nach dem Zimmer, so der Prediger mir angewiesen
hatte. Indem ich aber eintrat, wäre ich vor Überraschung bald
zurückgewichen; denn Katharina stund mir gegenüber, zwar in schwarzen
Trauerkleidern und doch in all dem Zauberschein, so Glück und Liebe in
eines Weibes Antlitz wirken mögen.

Ach, ich wußte es nur zu bald; was ich hier sahe, war nur ihr Bildniß,
das ich selber einst gemalet. Auch für dieses war also nicht mehr Raum
in ihres Vaters Haus gewesen.—Aber wo war sie selber denn? Hatte man
sie fortgebracht, oder hielt man sie auch hier gefangen?—Lang, gar
lange sahe ich das Bildniß an; die alte Zeit stieg auf und quälete mein
Herz. Endlich, da ich mußte, brach ich einen Bissen Brot und stürzete
ein paar Gläser Wein hinab; dann ging ich zurück zu unserem todten
Kinde.

Als ich drüben eingetreten und mich an die Arbeit setzen wollte,
zeigete es sich, daß in dem kleinen Angesicht die Augenlider um ein
weniges sich gehoben hatten. Da bückete ich mich hinab, im Wahne, ich
möchte noch einmal meines Kindes Blick gewinnen; als aber die kalten
Augensterne vor mir lagen, überlief mich Grausen; mir war, als sähe ich
die Augen jener Ahne des Geschlechtes, als wollten sie noch hier aus
unseres Kindes Leichenantlitz künden: „Mein Fluch hat doch euch beide
eingeholet!“ Aber zugleich—ich hätte es um alle Welt nicht lassen
können—umfing ich mit beiden Armen den kleinen blassen Leichnam und hob
ihn auf an meine Brust und herzete unter bitteren Thränen zum ersten
Male mein geliebtes Kind. „Nein, nein, mein armer Knabe, deine Seele,
die gar den finstern Mann zur Liebe zwang, die blickte nicht aus
solchen Augen; was hier herausschaut, ist alleine noch der Tod. Nicht
aus der Tiefe schreckbarer Vergangenheit ist es heraufgekommen; nichts
anderes ist da als deines Vaters Schuld; sie hat uns alle in die
schwarze Fluth hinabgerissen.“

Sorgsam legte ich dann wieder mein Kind in seine Kissen und drückte ihm
sanft die beiden Augen zu. Dann tauchete ich meinen Pinsel in ein
dunkles Roth und schrieb unten in den Schatten des Bildes die
Buchstaben: C. P. A. S. Das sollte heißen: Culpa Patris Aquis
Submersus, „Durch Vaters Schuld in der Fluth versunken“.—Und mit dem
Schalle dieser Worte in meinem Ohre, die wie ein schneidend Schwert
durch meine Seele fuhren, malete ich das Bild zu Ende.

Während meiner Arbeit hatte wiederum die Stille im Hause fortgedauert,
nur in der letzten Stunde war abermalen durch die Thür, hinter welcher
ich eine Schlafkammer vermuthet hatte, ein leises Geräusch
hereingedrungen.—War Katharina dort, um ungesehen bei meinem schweren
Werk mir nah zu sein? Ich konnte es nicht enträthseln.

Es war schon spät. Mein Bild war fertig, und ich wollte mich zum Gehen
wenden; aber mir war, als müsse ich noch einen Abschied nehmen, ohne
den ich nicht von hinnen könne.

So stand ich zögernd und schaute durch das Fenster auf die öden Felder
draußen, wo schon die Dämmerung begunnte sich zu breiten; da öffnete
sich vom Flure her die Thür und der Prediger trat zu mir herein.

Er grüßte schweigend; dann mit gefalteten Händen blieb er stehen und
betrachtete wechselnd das Antlitz auf dem Bilde und das des kleinen
Leichnams vor ihm, als ob er sorgsame Vergleichung halte. Als aber
seine Augen auf die Lilie in der gemalten Hand des Kindes fielen, hub
er wie im Schmerze seine beiden Hände auf, und ich sahe, wie seinen
Augen jählings ein reicher Thränenquell entstürzete.

Da streckte auch ich meine Arme nach dem Todten und rief überlaut: „Leb
wohl, mein Kind! O mein Johannes, lebe wohl!“

Doch in demselben Augenblicke vernahm ich leise Schritte in der
Nebenkammer; es tastete wie mit kleinen Händen an der Thür; ich hörte
deutlich meinen Namen rufen—oder war es der des todten Kindes?—Dann
rauschte es wie von Frauenkleidern hinter der Thüre nieder, und das
Geräusch vom Falle eines Körpers wurde hörbar.

„Katharina!“ rief ich. Und schon war ich hinzugesprungen und rüttelte
an der Klinke der fest verschlossenen Thür; da legte die Hand des
Pastors sich auf meinen Arm: „Das ist meines Amtes!“ sagte er. „Gehet
itzo! Aber gehet in Frieden; und möge Gott uns allen gnädig sein!“

—Ich bin dann wirklich fortgegangen; ehe ich es selbst begriff,
wanderte ich schon draußen auf der Heide auf dem Weg zur Stadt.

Noch einmal wandte ich mich um und schaute nach dem Dorf zurück, das
nur noch wie Schatten aus dem Abenddunkel ragte. Dort lag mein todtes
Kind—Katharina—alles, alles!—Meine alte Wunde brannte mir in meiner
Brust; und seltsam, was ich niemals hier vernommen, ich wurde plötzlich
mir bewußt, daß ich vom fernen Strand die Brandung tösen hörete. Kein
Mensch begegnete mir, keines Vogels Ruf vernahm ich; aber aus dem
dumpfen Brausen des Meeres tönete es mir immerfort, gleich einem
finsteren Wiegenliede: Aquis submersus aquis submersus!


Hier endete die Handschrift.

Dessen Herr Johannes sich einstens im Vollgefühl seiner Kraft
vermessen, daß er’s wohl auch einmal in seiner Kunst den Größeren
gleichzutun verhoffe, das sollten Worte bleiben, in die leere Luft
gesprochen.

Sein Name gehört nicht zu denen, die genannt werden; kaum dürfte er in
einem Künstlerlexikon zu finden sein; ja selbst in seiner engeren
Heimat weiß niemand von einem Maler seines Namens. Des großen
Lazarusbildes tut zwar noch die Chronik unserer Stadt Erwähnung, das
Bild selbst aber ist zu Anfang dieses Jahrhunderts nach dem Abbruch
unserer alten Kirche gleich den anderen Kunstschätzen derselben
verschleudert und verschwunden.

Aquis submersus





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