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Title: Karl Heinrich
Author: Meyer-Förster, Wilhelm
Language: German
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    Anmerkungen zur Transkription


    Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter
    Text ist _so ausgezeichnet_. Im Original in Antiqua gesetzter
    Text ist ~so markiert~. Im Original fetter Text ist =so
    dargestellt=.

    Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des
    Buches.



Karl Heinrich



[Illustration: Wilhelm Meyer-Förster]



[Illustration]

Von =Wilhelm Meyer-Förster= ist im gleichen Verlage erschienen:

    =Süderssen.= Roman. _Vierte Auflage._ Geheftet M. 3.—; eleg.
        geb. M. 4.—

    =Heidenstamm.= Roman. _Sechste Auflage._ Geheftet M. 3.—;
        elegant gebunden M. 4.—

    =Derby.= Roman. _Dritte Auflage._ Geheftet M. 3.—; eleg.
        gebunden M. 4.—

    =Die Fahrt um die Erde.= Roman. Geheftet M. 3.—; elegant
        gebunden M. 4.—

[Illustration]



[Illustration]

Jubiläumsausgabe

zur 1000. Aufführung von

»Alt-Heidelberg«

[Illustration]

Die nachstehende Erzählung

Karl Heinrich

bildet die Grundlage zu Wilhelm Meyer-Försters

Alt-Heidelberg

Schauspiel in fünf Aufzügen

[Illustration]



    Karl Heinrich

    Erzählung

    von

    Wilhelm Meyer-Förster

    Illustriert von Adolf Wald

    Mit dem Bildnis des Dichters

    17. bis 21. Tausend

    [Illustration]

    Stuttgart und Leipzig ... 1903

    Deutsche Verlags-Anstalt



    Alle Rechte,
    inbesondere das Recht der Uebersetzung in andere Sprachen,
    vorbehalten.
    Nachdruck wird gerichtlich verfolgt.


Papier und Druck der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart.



Erstes Kapitel.


Der »Regierungsanzeiger«, der an jedem Sonnabend in Karlburg erscheint,
ein kleines Blatt in Quartformat, auf einem merkwürdig veralteten
Papier gedruckt, brachte am 18. April folgende Mitteilung:

    »Seine Durchlaucht der Erbprinz hat am Mittwoch in Gegenwart
    Seiner Durchlaucht des Fürsten, Seiner Excellenz des
    Staatsministers von Brandenberg, sowie Seiner Excellenz
    des Wirklichen Geheimen Oberregierungsrats Baer, unter
    persönlicher Assistenz des Schulrats ~Dr.~ Finke, des Herrn
    Gymnasialdirektors Professor Schneidewind, sowie des gesamten
    Lehrerkollegiums des Fürstlichen Franz Georg-Gymnasiums
    nach eingehender und überaus umfassender Prüfung das
    Abiturientenexamen bestanden. In den Fächern: Griechisch,
    Lateinisch, Deutsch, Französisch, Englisch wurde die Note I
    erteilt, in Mathematik und Naturwissenschaften die Note II
    ~a~ (gut), in Religion, Geschichte und Geographie die Note
    I–II (recht gut). Die Gesamtnote lautete I, gleich: ~summa
    cum laude~. Am 1. Mai wird Seine Durchlaucht der Erbprinz die
    Universität Heidelberg für die Dauer eines Jahres beziehen.
    Als Begleiter wurde von Seiner Durchlaucht dem Fürsten Herr
    ~Dr. phil.~ C. Jüttner bestimmt, der seit acht Jahren die
    wissenschaftliche Ausbildung Seiner Durchlaucht des Erbprinzen
    geleitet hat. Herr ~Dr. phil.~ Jüttner hat aus Anlaß des so
    überaus glänzend bestandenen Examens von Seiner Durchlaucht dem
    Fürsten die Ernennung zum Regierungsrat erhalten.«

Am 30. April, einen Tag vor der Abreise, wurde der neue Regierungsrat
von Seiner Durchlaucht dem Fürsten zur Audienz befohlen. Mit seinem
grämlichen, vorzeitig gealterten Gesicht saß der Fürst schlaff vor dem
großen Schreibtisch, in einem kleinen Sessel ihm gegenüber der Erbprinz.

»Sie kennen meine Anschauungen, Herr Regierungsrat: ich wünsche die
wissenschaftliche Ausbildung meines Neffen in derselben ernsten Weise
fortgeführt wie bisher. Der Prinz wird nach Ablauf des Studienjahrs
als Offizier bei den Gardehusaren in Potsdam eintreten; bis dahin
will ich, daß der Erbprinz in strenger, gemessener Arbeit seine
Studien fortsetzt. Das Universitätsjahr soll für Seine Durchlaucht
so aufgefaßt werden, daß dasselbe nicht dem Vergnügen, sondern der
wissenschaftlichen Ausbildung gehört. Unter seinen militärischen
Kameraden und Standesgenossen zu Potsdam wird der Prinz Gelegenheit
finden, in angemessener Form die Freiheiten des Lebens kennen zu
lernen; bis dahin wünsche ich, daß Studium und Lebensweise denselben
geregelten Gang nehmen wie bisher. Haben Sie mich verstanden?«

[Illustration: Der Fürst saß vor dem großen Schreibtisch.]

Der kleine Doktor verneigte sich so tief, daß sein Orden, das Kreuz von
Sachsen, in rechtem Winkel von seiner Brust niederhing.

Dann neigte er sich noch ein zweites Mal – er war entlassen.

Er ging durch die langen, dunkeln Gänge nach dem rechten Flügel
des Schlosses, wo seine zwei Zimmer neben denen des Prinzen lagen.
Ein Moderduft, wie er alten Schlössern eigen ist, lagerte dumpf in
diesen düsteren Gängen, und die Aprilsonne, die durch die fliegenden
Regenwolken bisweilen leuchtete, brach durch die niedrigen Bogenfenster
nur in schwachen, dünnen Streifen. Wie lautlose Schatten glitten die
Lakaien auf den verwitterten Teppichen durch die Korridore; nur wenn
sie an den Fenstern vorbeihuschten, schimmerten ihre dunkeln Gestalten
eine Sekunde lang in Not und Gold.

An der Turmseite wurden die Gänge noch düsterer, die Quaderwände noch
dicker, die Fenster klein wie Schießscharten und die Luft so schwer,
daß der Regierungsrat kaum atmen konnte. Er war ein Freund von echten
Bieren, aber diese Biere hatten die Freundschaft schlecht belohnt und
ihn – namentlich seit einigen Monaten – so korpulent werden lassen, daß
er an Asthma litt.

»Heidelberg wird dir gut thun,« sagte sein Freund, der ~Dr. med.~
Schneider; »da wirst du endlich wieder spazieren laufen und Berge
steigen.«

»Ja, Heidelberg wird mir gut thun!« seufzte der Herr Regierungsrat seit
vielen Wochen.

Er war fünfunddreißig Jahre alt, aber er sah aus wie ein Vierziger.

»Mein Unglück war,« sagte er oft, »daß ich an den Hof kam. Was war ich
für ein lustiger, freier Mensch, und was bin ich geworden! Die Ideale
sind futsch, die Freiheit ist futsch und die Gesundheit auch. Sie haben
mich da im Schloß erstickt.«

Seine Freunde lachten ihn dann aus:

»Dieser Doktor! Der ein Leben führt wie der Herrgott in Frankreich!
Während andre Schulmeister hungern, diniert er, kauft alle Jahre
Wertpapiere und bekommt Orden!«

Aber er winkte trübe ab:

»Nein, nein, es ist schon so. Sie haben mich da oben erstickt.«

Und nun endlich waren diese greulichen acht Jahre vorbei! Er setzte
sich in Frack und Orden auf seinen bequemen Lehnstuhl, trank einen
»Cusinier jaune« und faltete die Hände über der weit gespannten Weste.

Vor ihm standen die zwei großen, vollgepackten Koffer, die nur noch den
Frackanzug aufzunehmen brauchten, ehe der Lakai sie schloß.

Diese lieben zwei Koffer! Symbole der Freiheit!

Und Heidelberg! Morgen schon!

Keine Diners mehr mit der grauen Langweile, keine Kammerherren
und Staatsminister, vor denen man stets etwas erschrickt, keine
Lakaiengesichter, Kutschergesichter, nichts mehr von diesem großen,
schauderhaften Schlosse, in dem der Mensch das Atmen verlernt.

Nur noch Karl Heinrich, der mit hinauszog.

Karl Heinrich, der Erbprinz.

»Wenn dieser Junge nicht gewesen wäre, ich hätte es nicht ausgehalten.«

Vor ihm auf dem Arbeitstisch standen fünf oder sechs Photographien
in vergoldeten Rahmen, die alle in raschen, langen Schriftzügen eine
Widmung trugen: »Seinem verehrten Lehrer – Karl Heinrich« – »Seinem
guten Freunde ~Dr. phil.~ C. Jüttner – Karl Heinrich« – »Seinem treuen
Mentor – Karl Heinrich.«

Das erste Bild zeigte einen pausbäckigen Jungen in Reitanzug, etwa
zwölf Jahre alt, ein hübsches, frisches Gesicht mit zwei großen Augen
wie die eines Mädchens; die andern waren aus späteren Jahren. Das
Gesicht schien da schmaler geworden, unfroher, die Haare lockten sich
nicht mehr, sondern waren militärisch kurz geschnitten.

Er nahm ein Bild nach dem andern in die Hand, und mit diesen Bildern
zogen noch einmal die acht Jahre an ihm vorbei, ihr ganzer langweiliger
Inhalt: Dinieren, Bücklinge machen, wenig Arbeit und verteufelt wenig
Freuden, Neid der Kollegen, viele neue Fräcke, viele neue weiße
Westen, ein Orden, ein vornehmer Titel, Spazierenfahren, Gähnen und
als Resultat eine Herzverfettung. Dieselbe Krankheit, an der die
unglücklichen Straßburger Gänse leiden.

»Geh nach Tisch zwei Stunden spazieren,« das predigte sein Freund
ihm jeden Tag, und jetzt – er sah nach der Uhr, die in der prallen
Weste wie eingekeilt ruhte – war es Zeit, diese langweilige Wanderung
anzutreten.

Aber der arme Regierungsrat fand nicht die Kraft zu dieser
Selbstüberwindung.

›Erstens kann es jeden Augenblick regnen,‹ dachte er, ›und zweitens hat
es wirklich keinen Zweck, an diesem letzten Tage sich noch abzuquälen.
In Heidelberg wird das alles anders, da läuft man den ganzen Tag. Wenn
ich mich in Heidelberg in acht nehme, nicht viel esse, nicht viel
trinke und mit Karl Heinz durch die Berge steige, werde ich vielleicht
noch einmal gesund.‹

In dem offenen Kamin prasselte ein leichtes, aprilgemäßes Holzfeuer,
in dem warmen, weichen Sessel saß es sich unendlich behaglich, er
schloß die müde blinzelnden Augen. Dann öffnete er sie noch einmal
und richtete sich halb auf in der plötzlichen Erwägung, daß er beim
Schlafen den Frack zerdrücke und lieber die bequeme Sammetjoppe
anziehen wolle, aber er war schon zu müde.

»Der Frack wird in Heidelberg aufgebügelt.«

Als der Erbprinz eine halbe Stunde später in des Doktors Zimmer
kam, fand er ihn schwer schnarchend. Er lächelte und breitete die
grüne Decke, die eine Tante des Regierungsrats diesem zum Geburtstag
gestrickt hatte, über die Kniee des Schlafenden.

[Illustration: Der Erbprinz fand den Doktor schwer schnarchend.]

Leise, auf den Zehen ging er wieder hinaus.

Und der Doktor träumte, er wäre am Neckar wieder so dünn und hager
geworden wie einst vor fünfzehn Jahren, als er auf Schusters Rappen in
Jena einzog.

       *       *       *       *       *

Der Kurierzug hält in Karlburg nur, wenn hohe und höchste Herrschaften
denselben zu benutzen beabsichtigen.

Als er pfauchend mit seiner riesigen Lokomotive in die offene
Halle fuhr, öffneten die Lakaien die schweren Eichenthüren des
Fürstenzimmers, und der Fürst trat in Generalsuniform, auf den Arm
seines Neffen gestützt, langsam auf den Perron. Zweimal umarmte er den
Prinzen, dann lehnte er sich, als der Prinz in ein Coupé erster Klasse
gestiegen war, schwer auf den sofort dargebotenen Arm eines Kammerherrn.

Die Thüren der Waggons, aus deren Fenstern die neugierigen Gesichter
der Reisenden schauten, wurden geschlossen, der Bahnhofsvorsteher in
roter Mütze und weißen Handschuhen gab auf einen Wink des Hofmarschalls
ein Zeichen, der Zugführer pfiff, die Lokomotive antwortete, und
langsam, wuchtig setzte sich der schwere Zug von neuem in Bewegung.

Karl Heinrich stand am Fenster und verneigte sich ein letztes Mal
ehrerbietig vor dem Oheim. Eine kurze Weile sah er noch die Offiziere
und Kammerherren, die mit der Hand an der Mütze oder mit abgezogenem
Hute ihn grüßten, darauf die Gepäckträger und ein paar Arbeiter, die am
Ende des Bahnhofs sich militärisch stramm aufstellten, dann atmete er
tief auf.

[Illustration: Karl Heinrich stand am Fenster.]

Aber er blieb noch am Fenster, während der Doktor seinen Cylinder
in eine Hutschachtel packte und eine grün-blau karierte Reisemütze
hervorsuchte.

Karlburg verschwand, eine Weile fuhr der Zug durch den Langenhagener
Wald, jetzt flogen die Dörfer Rotenberg und Hude vorbei, und nun – der
Prinz kannte die Stelle genau – sauste der Kurierzug über die Grenze.

Noch einmal atmete er tief auf.

Dann sah er sich um nach seinem Begleiter, der beschäftigt war, die
gelbe Ledertasche zu durchstöbern.

Er lachte: »Sie suchen wohl schon den Wein, Doktor?«

»Nein, den hab’ ich. Ich suche den Korkzieher, ich bin wie verdurstet.«

Eine Weile unterhielten sie sich, aber des Doktors Konversation hatte
den Fehler, daß sie, mochte man sprechen, über was man wollte, stets
in einem Bogen auf seine eigne Person lenkte. Er holte aus seinem
Ueberrock eine orangefarbene Broschüre: »Die Naturheilmethode bei
Verfettungskrankheiten und Fettleibigkeit« und zeigte dem Prinzen
einige blau angestrichene Stellen:

»Nach der Methode lebe ich von jetzt an. Keine Butter, kein Fett, kein
Oel, kein Reis, keine Rüben und was da sonst noch verboten ist. Lesen
Sie, bitte, die Stelle durch. In Heidelberg wird das durchgeführt,
strikt.«

Karl Heinrich, der so schlank war wie ein gut gewachsener junger
Baum, hatte alle Bücher und Schriften über des Doktors Krankheit
durchstudiert, so that er ihm auch jetzt den Gefallen und las die
unendlich langweiligen Rezepte.

»Morgens eine Tasse Kaffee oder Thee mit etwas Milch und 75 Gramm Brot.
Mittags 100 Gramm Suppe, 200 Gramm gesottenes Rindfleisch, 25 Gramm
Brot. Abends ein bis zwei weiche Eier und so weiter.«

Aber schließlich wurde ihm die Sache fad.

»Zum Kuckuck, Doktor, das ist gegen die Verabredung! Zum wenigsten
heute, wo es nach Heidelberg geht!« Er schlug ihm derb auf die
Schulter. »Wir beide allein, und niemand, der einen kujonieren kann!
Man kann’s noch gar nicht begreifen, daß das jetzt wirklich _ist_! Wenn
Sie das Buch nicht wegstecken, werf’ ich’s aus dem Fenster.«

Der Doktor lächelte etwas wehmütig.

»Ja, ja, Karl Heinrich.«

Merkwürdig: die große Freude, die er seit Monaten und Wochen auf diesen
Erlösungstag zusammengedrängt hatte, wollte nun, da der Tag und die
Freiheit gekommen waren, sich nicht einstellen.

›Es ist zu spät,‹ dachte er, ›das hätte ein Jahr eher kommen müssen. In
Heidelberg wird Karl Heinz mich begraben.‹ Und während der Prinz wieder
am Fenster stand, rollten über des Regierungsrats dicke Wangen zwei
Thränen, die er mit dem Handrücken fortwischte.

»Wie das schnell geht,« sagte der Prinz; »es ist enorm. Sehen Sie nur
mal her, das saust alles vorbei. Da, ein Storch! Da, in der Wiese!
Rasch doch, sehen Sie! Rasch doch!«

Der Doktor that ihm den Gefallen und blickte hinaus, aber sah keinen
Storch, das Tier war ihm auch durchaus gleichgültig.

»Ich könnte den ganzen Tag am Fenster stehen, wenn das alles so
vorbeifliegt. Dörfer und Berge, die man nie gesehen hat. Sehen Sie die
Mühle da? Famos.«

Karl Heinrich war aufgeregt wie ein Kind, das seine erste
Eisenbahnfahrt macht. Ein einziges Mal in seinem Leben hatte er
eine größere Reise ausführen dürfen, mit seinem Oheim an den Hof zu
Dresden, aber das war zehn Jahre her. In Karlburg benutzte man die
Eisenbahn selten, denn in dem kleinen Fürstentum brachten gute Pferde
einen schneller ans Ziel als die Eisenbahnen mit ihrem verzwickten
Sekundärbetrieb.

Und auf allen Bahnhöfen fremde Gesichter, Engländer, Offiziere, ein
Drängen und Hasten, nichts von der feierlichen Ruhe, wie sie daheim im
Schloß zu Karlburg herrschte.

In Eisenach und Bebra kam Herr Lutz, der Kammerdiener, ans Coupé,
um mit abgezogenem Hute sich nach Seiner Durchlaucht Wünschen zu
erkundigen; er that das so auffällig, daß die Fremden von allen Seiten
her den Prinzen anstarrten.

Heftiger als es seine Art war, sagte Karl Heinrich: »Lassen Sie das,
bleiben Sie in Ihrem Coupé, ich will das nicht. Ich wünsche zu reisen,
ohne aufzufallen.«

[Illustration: In Eisenach und Bebra kam Herr Lutz ans Coupé.]

Er wunderte sich selbst über seine Kühnheit, denn Herrn Lutz
anzufahren, war in der That eine Kühnheit. Herr Lutz war bisher nicht
mehr und nicht weniger als zweiter Kammerdiener Seiner Durchlaucht des
Fürsten gewesen, hochangesehen bei allen Kavalieren, gefürchtet bei der
niederen Dienerschaft, umworben von allen denen, die mit Bittgesuchen
dem Fürsten nahten. Seine Ernennung zum Kammerdiener des Erbprinzen war
allgemein so gedeutet worden, daß damit für Herrn Lutz eine Art Mission
gegeben war, eine Vertrauensstellung, in der es sich darum handelte,
dem jungen Prinzen in der Fremde nicht nur zur Seite zu stehen, sondern
auch dessen Lebensführung in die richtigen Bahnen zu leiten.

Herr Lutz verfärbte sich und schien einen Moment seine Fassung
verlieren zu sollen; dieser ganz unmögliche Fall trat indessen nicht
ein. Er verneigte sich und ging.

Aber zwei Stunden später in Frankfurt empfand man es doch unangenehm,
daß Lutz unsichtbar blieb, denn Karl Heinrich sowohl als der Doktor
hatten Hunger und Durst. Was thun?

»Sehr einfach,« sagte der Doktor, »wir gehen selbst.«

»Selbst?«

»In den Wartesaal. Wir haben zwanzig Minuten Zeit.«

»Aber –«

»Was denn? Das ist doch ganz selbstverständlich.«

»Na ja ...«

Am Büffett herrschte ein unerhörtes Gedränge, dem Doktor trat jemand
auf die Hühneraugen, und einige Augenblicke waren die beiden getrennt.

Jetzt gab es von hinten einen Puff, daß Karl Heinrich bis an das
Büffett flog; im nächsten Moment rief ihn jemand an:

»Mein Herr, was wünschen Sie?«

Er war total verwirrt, aber das junge Ding am Büffett, ein rundes Mädel
mit kohlschwarzen Augen, wurde ungeduldig.

»Bitte, wählen, mein Herr, die andern Herrschaften warten! Würstel?
Oder kaltes Kotelett?«

Er sah sich um nach dem Doktor, ganz fassungslos, dann griff er auf
gut Glück nach den Würsteln, zwei fettigen Dingern, die in ein Papier
notdürftig verpackt waren.

»Vierzig Pfennig.«

Er faßte in die Tasche, dann in die andre Tasche, in noch eine –
nirgends Geld!

»Vierzig Pfennig, mein Herr!«

»Ja, ja –« Er suchte verzweifelt.

Irgend jemand hinter ihm schrie: »Zum Donnerwetter, kommt man denn gar
nicht ’ran?!« – alle drängten, stießen, riefen nach Bier, es war zum
Verrücktwerden. Nie in seinem Leben war der Prinz in einer solchen Lage
gewesen, – in der linken Hand hielt er die Würstel, mit der rechten
suchte er, und dabei fühlte er, wie er vor Scham und Verlegenheit
blutrot wurde.

[Illustration: Er faßte in die Tasche – nirgends Geld!]

Das kleine Fräulein hatte ein menschliches Rühren, denn der hübsche
Junge gefiel ihr:

»Nehmen Sie nur die Würstel mit, bringen Sie ’s Geld nachher.«

Da endlich klemmte sich der Doktor durch die Menge und bezahlte.

Mühsam quetschten sie sich den Weg zurück, dann nahmen sie an einem der
ungedeckten Tische Platz und schlangen hastig und ohne aufzusehen die
heißen Bissen hinunter.

»Wohin fahren die Herren?« fragte der Portier, in der Hand eine große
Glocke.

»Nach Heidelberg.«

»Haben S’ noch Zeit, noch Viertelstunde, wird abgerufen.«

»Hier haben Sie ein Glas Bier!« rief der Doktor ihm nach, der drei Glas
Bier von dem Brett des Kellners nahm. Der Portier kam wieder an den
Tisch, dankte und trank:

»Prost, auf den Herren ihr Wohl. Der junge Herr ist wohl Student? In
Heidelberg.«

»Stimmt,« sagte der Doktor, der jetzt in glänzender Laune war.

»Denn glückliche Reise!«

»Danke!«

Der Prinz saß wie in einem Traum. Er nahm eine von des Doktors Zigarren
und blies den Rauch in die Luft. Ohne zu fragen oder zu grüßen, kamen
zwei Herren an den Tisch und setzten sich hart neben ihn; alles
hier war formlos, jeder ging, kam, rief, wie er Lust hatte, keiner
kümmerte sich um den andern. Am Nebentisch saß ein Dutzend Backfische
mit ihrer Pensionsmama, die eine Freundin zur Bahn geleiteten. Alle
zwölf schienen ihre Aufmerksamkeit auf ihn – Karl Heinrich – zu
konzentrieren, aber keineswegs ehrfürchtig wie die Karlburger jungen
Damen, sondern mit schelmischen kleinen Blicken und darauffolgendem
Lachen und Tuscheln.

[Illustration: »Prost, auf den Herren ihr Wohl!«]

»Was, das ist hier ein Leben?« sagte der Doktor. »Lustig, was?«

Und der Prinz nickte.

Niemand außer den zwölf Backfischen beachtete ihn, keiner kümmerte sich
um ihn, ein großer, feister Herr stieß an seinen Stuhl, ohne sich zu
entschuldigen.

»Kellner,« rief der Doktor, »noch zwei Glas! Aber rasch!«

Verstohlen, schüchtern musterte Karl Heinrich seinen Begleiter von der
Seite. Wie dieser Doktor sich in dem Wirrwarr zurechtfand! Ueberhaupt,
der war gar nicht wiederzuerkennen! Als ob der Doktor in Karlburg
ewig gefroren gewesen sei und jetzt auftaue. Bier war ihm nach der
medizinischen Broschüre streng verboten, und nun trank er es doch,
gleich zwei, drei Glas in zehn Minuten.

Der Doktor stand auf:

»’s wird Zeit. Dies Frankfurt ist eine liebe Stadt. Nächste Woche
fahren wir beide mal wieder her und machen uns einen lustigen Tag. Das
ist von Heidelberg ein Katzensprung.«

Als sie schon im Coupé saßen, kam das Pensionat und promenierte auf
dem Bahnsteig hin und her. Und als der Zug sich in Bewegung setzte,
blickten alle zwölf ihm nach, und eines der Fräulein nahm sogar sein
Taschentuch und winkte – im Gefühl der sicheren Trennung – Karl
Heinrich zu: »Adieu!«

»Das sind Frauenzimmer, diese rheinisch-mainischen Mädels!« lachte der
Doktor. »Andre Rasse als bei uns.«

Frankfurt verschwand, der Doktor kramte in der Ledertasche, und Karl
Heinrich stand wieder am Fenster, die heiße Stirn gegen die kalte
Scheibe gedrückt.

[Illustration: Eines der Fräulein nahm sogar sein Taschentuch und
winkte.]

Mädchen – Frauen – auch das war ein neuer Begriff in seinem Leben.
Wie man ihn in allem klösterlich erzogen hatte, fern von seinen
Altersgenossen und fern von jedem, was nicht mit dem Hofleben im
engsten Zusammenhang stand, so auch selbstverständlich fern von allem,
was Weib hieß. Der Fürst war Witwer, kinderlos, die Hoffestlichkeiten
beschränkten sich seit Jahren auf ein bescheidenes Maß, der Hof
zu Karlburg war seit einem Dezennium nicht viel mehr als ein
Junggesellenhaushalt großen Stils.

Die Dämmerung zog über die weite Rheinebene, und als der Zug Darmstadt
passiert hatte, lagen die Dörfer der Bergstraße im Dunkel der Nacht.

Hin und wieder blitzten Lichter vorbei, und irgendwo da hinten
im Westen, keine Stunde entfernt, floß der Rhein. Der Rhein!
Süddeutschland! Rechts, hart vorbeistreifend, die Berge des Odenwalds!
Bisher lauter Geographiebegriffe, jetzt nahe zum Greifen!

In rasender Schnelligkeit fuhr der Zug durch die Nacht, immer weiter
trug er Karl Heinrich fort von dem kalten Norden; und die freudlose
Jugend, das düstere Schloß, der Winter lagen hinter ihm.

[Illustration]



Zweites Kapitel.


»Heidelberg!« – »Heidelberg!«

Die Schaffner mit ihrem badischen Accent gingen rufend den Zug entlang
und rissen die Thüren auf.

»Fünf Minuten Aufenthalt!«

»Ein Jahr Aufenthalt,« sagte der Doktor. Er hatte von Darmstadt an
geschlummert und war jetzt in wundervoller Stimmung. »Nach so einem
kleinen Schlaf ist man wie neugeboren.«

Herr Lutz half mit dem ewig abgezogenen Hut Seiner Durchlaucht beim
Aussteigen, holte dann die Taschen und Schirme aus dem Coupé und
übergab diese und andre Utensilien dem Hoffourier, der seit drei Tagen
bereits in Heidelberg weilte, um für Seine Durchlaucht Quartier zu
mieten, Wagen zu bestellen und alles das auszuführen, was voranreisende
Fouriere zu besorgen haben.

Man ging – der Fourier als Führer voran, Herr Lutz drei Schritte
hinterdrein – durch den langgedeckten Bahnhof nach der Haltestelle der
Wagen.

An einem hübschen Landauer mit galonniertem Kutscher machte der Fourier
Halt und öffnete den Wagenschlag, der Prinz wollte einsteigen, aber der
Doktor hielt ihn zurück:

»Wir gehen doch zu Fuß, es ist ein wunderschöner Abend.«

Der Fourier sah erstaunt auf Herrn Lutz, dieser ebenso erstaunt auf den
Prinzen und Karl Heinrich gleichfalls verblüfft auf den Doktor.

»Zu Fuß?«

»Ja, warum nicht?«

»Wenn Sie meinen ...«

»Wo liegt die Wohnung?« fragte der Doktor den Fourier.

»Am Markt, Nummer achtzehn.«

»Schön.«

Und Herrn Lutz, den Fourier, den Kutscher im Dunkel zurücklassend,
gingen die beiden in der That zu Fuß nach der Stadt.

Karl Heinrich war nie zu Fuß gegangen, das heißt nie in den Straßen
der Stadt. Wenn ihn der Weg durch Karlburg führte oder durch eine der
andern kleinen Städte von Sachsen-Karlburg, so geschah das meist zu
Wagen, selten zu Pferde, aber nie zu Fuß. Es war, als ob es ganz außer
dem Bereich der Möglichkeit liege, daß der Fürst oder der Erbprinz
oder fremde Fürstlichkeiten das Karlburger Pflaster mit den Stiefeln
berührten.

Weshalb das so war? – Vielleicht hätte nicht einmal der Hofmarschall
Herr von Lehe darauf eine Antwort gefunden, aber uralte Sitte hatte den
Gebrauch gleichsam zum Gesetz erhoben.

[Illustration: Man ging – der Fourier als Führer voran.]

Wie in Frankfurt auf dem Bahnhof streiften fremde Menschen an dem
Prinzen vorbei; er mußte ausweichen wie jeder andre, und die Kutscher,
die vom Bahnhof her in die engen Straßen fuhren, jagten so dicht an
ihm her, daß er einmal hastig nach des Doktors Arm griff und sich
bestürzt an ihn lehnte.

»Die fahren einen ja über!«

»Man muß aufpassen,« sagte der Doktor trocken.

Nun wurden die Straßen wieder breiter, man konnte ruhiger gehen.

Es war dreiviertel zehn Uhr, aber der erste Maiabend füllte die
Luft mit so sommerlicher Wärme, daß die Leute vor den geöffneten
Hausthüren standen. Die Mädchen spazierten Arm in Arm ohne Hut auf und
ab, bisweilen kichernd, oft laut lachend; Studenten, die in Scharen
vorbeigingen, nickten den Mädels vertraulich zu, es war ein lebhaftes
Treiben voll südlicher Wärme.

Da drang aus einer Seitenstraße Musik, ein dichter Schwarm Menschen
wälzte sich aus der Gasse auf die Hauptstraße, nun füllte sich die Luft
mit Rauch, und mit schmetternden Trompeten und vielen hundert Fackeln
kam ein Zug Studenten an dem Prinzen vorbei.

Sie gingen immer zwei in einer Reihe, von je zwei Fackelträgern
flankiert, lauter lustige Gesichter, die den aus allen Fenstern
schauenden Mädchen zulachten.

»Was ist da los?« fragte der Doktor einen der Zuschauer.

»Das sind die Corpsstudenten, die feiern heute ~S.
C.~-Antrittskommers.«

»Aha!«

[Illustration: Mit vielen hundert Fackeln kam ein Zug Studenten.]

Zuerst kamen die Vandalen als präsidierendes Corps mit ihren roten
Mützen, die mit dem goldenen Band die badischen Landesfarben vertreten,
dann die Sachsen-Preußen in weißen Stürmern, danach die grünen
Westfalen, die gelben Schwaben, die blauen Rheinländer und zum Schluß
die dunkelblauen Sachsen, die kleine Veilchenbouquets an ihren Mützen
trugen. Die drei Chargierten jedes Corps gingen in Wichs: Cerevis,
Sammetpekesche, weiße Lederhosen, hohe schwarze Stulpenstiefel, in der
Hand das Rapier; alle andern nahmen die Affaire weniger feierlich,
sondern schlugen zum Schutz gegen den Pechqualm der Fackeln die
Rockkragen in die Höhe.

Mehr als einer blickte dem Prinzen, der in der vordersten Reihe der
Zuschauer stand und mit großen, offenen Augen den Zug anschaute, scharf
ins Gesicht: das war ein neuer Student, den man noch nicht kannte, ein
eleganter junger Mann, vielleicht ließ sich der »keilen«.

Die enge Straße war so angefüllt gewesen von Lärm und Musik, Menschen
und Fackelqualm, daß es jetzt, als der Zug vorbei und alle Leute ihm
nachgelaufen waren, plötzlich still und einsam erschien.

»Na,« sagte der Doktor mit einem triumphierenden Lächeln, als ob er den
Zug persönlich erdacht und arrangiert gehabt hätte, »war das hübsch?«

»Sehr.«

»So geht das in Heidelberg alle Tage. Immer lustig.«

Als sie dann nach einigem Suchen am Markt das Haus Nr. 18 gefunden
hatten, schlug es vom Kirchturm in langen, langsam verhallenden Tönen
zehn Uhr.

Einen Augenblick zögerten beide, denn das alte Haus sah trotz seines
breiten, hell erleuchteten Flures nicht so aus, wie der Prinz – und
vielleicht auch der Doktor – erwartet hatten. Links vom Eingang
lag ein Friseurladen, der bereits geschlossen war, rechts ein
großes Materialwarengeschäft, dessen Tonnen voll Gurken, Linsen und
getrockneter Aepfel die halbe Thür versperrten.

Die Lehrlinge und ein dickes Dienstmädchen betrachteten neugierig Herrn
Lutz, der bereits angelangt war, mit einem höchst indignierten Gesicht
neben dem Hoffourier stand und auf den bestürzten Mann heftig einredete.

»Es war das beste Quartier in ganz Heidelberg,« beteuerte dieser, »die
teuerste Wohnung in der ganzen Stadt – es sind acht Zimmer, Herr Lutz!«

Aber Herr Lutz stieß mit seinem Lackstiefel gegen ein hohles
Petroleumfaß, daß es dröhnte:

»Dann hätten Sie telegraphieren sollen, dann wäre man noch nicht
abgereist, hätte die Reise verschoben!«

Jetzt traten der Prinz und der Doktor aus dem Schatten der Straße in
das Licht des Eingangs.

»Ist das hier richtig, Lutz?«

»Jawohl, Eure Durchlaucht, leider.«

Der arme Fourier war kreideweiß.

»Haben Sie die Zimmer angesehen, Lutz?«

»Jawohl, Eure Durchlaucht, ein uraltes, verwohntes Haus. Ein für Eure
Durchlaucht ganz unmögliches Quartier.«

Der Prinz wurde unsicher. Dieser erste Tag seiner Universitätsreise
hatte mit tausend neuen Eindrücken und neuen Anschauungen seine ganze
bisherige Denkweise wie ein Sturmwind aufgerüttelt, er sah alles in
verändertem Lichte, aber er war nicht mehr oder noch nicht im stande,
die Dinge um sich her zu beurteilen, zu taxieren.

Konnte er überhaupt in dieses Haus hineingehen oder nicht? Durfte
er das? Ueber seinem hübschen, jugendlichen Gesicht lag ein solcher
Zug von Unbeholfenheit, daß Herr Lutz seine heute verlorene Position
zurückzuerobern glaubte.

»Befehlen Eure Durchlaucht, daß Eure Durchlaucht im Hotel ›Prinz Karl‹
absteigen. Das Hotel liegt hundert Schritte entfernt. Die Koffer werden
sofort hinübergebracht.«

Dem Fourier stand der kalte Schweiß auf der Stirn, während zu den zwei
Lehrlingen und dem dicken Dienstmädchen sich andre Neugierige gesellt
hatten, die mit offenem Munde horchten.

Da legte sich der Doktor ins Mittel:

»Man kann doch die Wohnung erst einmal ansehen.«

Der Prinz nickte: »Ja, gewiß.« Und so ging man hinein.

Herr Lutz hatte wieder verspielt. Bis zum heutigen Tage war ihm dieser
Doktor der gleichgültigste Mensch gewesen: ein Schulmeister, wie ihn
die Prinzen nötig haben, ein Herr, der am Hofe nicht die geringste
Bedeutung hat, dessen Einfluß, mit dem eines Kammerdieners verglichen,
gleich Null ist, und nun das! So was! Der Dicke erlaubte sich, ihn,
Lutz, wie einen Lakaien zu behandeln! That und benahm sich, als ob er
der Prinz selbst wäre!

Er knirschte in die Zähne: »Dem – geb’ ich’s!«

Die Steinfliesen im Hausflur waren offenbar frisch gescheuert und mit
weißem Sand bestreut, an allen Ecken der Treppen standen hellbrennende
Lampen, große und kleine, und das schwere Eichengeländer der Treppe war
so völlig mit Tannenguirlanden umwunden, daß es seinen eigentlichen
Zweck, bei dem engen Aufgang als Halt zu dienen, völlig verfehlte. Oben
hörte man ein Tuscheln, ein Rascheln von Weiberröcken, ein lautes: »Er
kommt!« – dann Thürenschlagen, – dann feierliche Stille.

Und als der Prinz mit seinem kleinen Gefolge, dem sich in einiger
Entfernung die Lehrlinge und das dicke Dienstmädchen anschlossen, die
oberste Treppenstufe erreicht hatte, sah er sich drei steif knicksenden
Matronen und einem gleichfalls tief knicksenden jungen Mädchen
gegenüber.

Er hatte seine Ruhe wiedergefunden. O dergleichen feierliche Empfänge
kannte er, – er war wieder der Prinz, vor dem sich alles neigt.

[Illustration]

Das Mädchen, einen Fliederstrauß in der Hand, trat einen Schritt vor
und knickste noch einmal. Dann blickte sie ihn mit ihren großen
braunen Augen ohne jede Scheu an und sagte mit heller, freier Stimme:

    »Dem Prinzen, der aus fernem Land
    Zu unserm lieben Neckarstrand
    Gezogen kommt, dem bring’ ich hier
    Des Frühlings allerschönste Zier.
    Zieh fröhlich ein in unser Haus,
    Und gehst du wieder einst hinaus,
    Dann denke immer treu zurück
    An Heidelbergs Studentenglück. –

Bitte schön!« Sie gab ihm den Strauß in die Hand.

Karl Heinrich hatte wie festgewurzelt gestanden, die Linke auf den
obersten Knauf des Treppengeländers gelehnt. Während der ganzen Zeit
hatten seine Augen und die des Mädchens einander nicht losgelassen.

Eine der alten Frauen trat vor:

»Und nun, wenn Eure Durchlaucht die hohe Ehre haben wollten – ich bin
nämlich die Frau Dörffel – und wollten sich die Zimmer ansehen?«

Er nickte. Er wollte etwas sagen, auch zu dem Mädchen, aber die Worte
kamen ihm nicht auf die Lippen.

Mit dem großen Fliederstrauß in der Hand ging er höflich hinter der
alten Frau her, die ihm triumphierend erst die Salons zeigte: »Da hat
im vorigen Semester der Herr Graf von Bredow gewohnt,« – dann sein
Schlafzimmer, dann zwei nette kleine Zimmer: »für den Herrn Doktor«,
endlich eine ziemlich dürftige Hinterstube, in der Herr Lutz wohnen
sollte: »Und das ist das Zimmer für den Bedienten.«

Herr Lutz, der zwei Schritte hinter dem Prinzen neben dem Fourier ging,
wurde blaß wie ein Tischtuch. »Bedienten!« Das Wort klang wie ein
Peitschenhieb.

Auch Karl Heinrich empfand den ungewollten Falschton des Wortes.

»Sie meinen für meinen Kammerdiener?«

»Ja, für den da.«

Die gute Frau ließ ihn noch nicht los. Immer voranleuchtend, zeigte sie
ihm jeden Raum, den man in einer neuen Wohnung kennen muß, und immer
ging der Prinz mit seinem Fliederstrauß gehorsam hinterdrein, nur ein
einziges Mal unwillkürlich lächelnd.

Bis man endlich in dem Salon wieder landete.

Ein kleiner Sofatisch aus Mahagoniholz war sauber gedeckt mit Tellern,
Bierflaschen, zwei offenen Weinkaraffen, Brot, Butter und kaltem
Aufschnitt. In der Mitte stand ein Topfkuchen, der von Epheublättern am
unteren Rande umgeben und in seiner Höhlung mit drei Rosen ausgefüllt
war.

»So, wenn Sie nun essen wollen, Eure Durchlaucht –«

»Ja. Danke schön.«

Von einem Fortgehen ins Hotel war nicht die Rede.

[Illustration: Mit dem Fliederstrauß in der Hand ging der Prinz hinter
der alten Frau her.]

»Macht mal alle, daß ihr herauskommt!« rief Frau Dörffel, und diese
Aufforderung war nicht überflüssig, denn abgesehen von dem Doktor,
Lutz, dem Fourier und den vier Frauen sah man in der Thür die zwei
Lehrlinge und das dicke Mädchen, die neugierig die ganze Wanderung
mitgemacht hatten und jetzt staunend das Arrangement des Sofatisches
bewunderten.

»Haben Eure Durchlaucht sonst noch Wünsche?«

»Nein, danke.«

»Es ist auch alles da. Frisch Wasser, Handtücher, Lichter,
Streichhölzer – sieh mal nach, Käthie, ob im Schlafzimmer Streichhölzer
sind.«

Die Kleine ging hinein und kam wieder. »Ja, zwei Schachteln.«

»Na, denn gute Nacht, Eure Durchlaucht. Nun schlafen Sie nach der
langen Reise recht tüchtig. Und träumen Sie was Schönes.«

»Danke.« Er nahm ihre dicke dargebotene Hand und fühlte einen
gutgemeinten Druck.

Auch die Kleine kam unbefangen: »Wünsche gut zu schlafen.«

       *       *       *       *       *

Vom Kirchturm schlug es Mitternacht. Im Hause war es totenstill, alles
schlief, sogar Herr Lutz, der eine Stunde und länger in seinem Loch
von Hinterzimmer wie ein Tiger auf und ab gewandelt war. Kein Schrank
in diesem Zimmer, sondern nur ein paar Kleiderhaken mit einer gemeinen
Kattungardine! Kein Spiegel, keine reguläre Waschtoilette, und dies
Bett! Ein eisernes Gestell mit geblümten ordinären Ueberzügen!

»In dem Bett schlaf’ ich nicht,« er nahm sich das fest vor, »lieber
bleibe ich wach, die ganze Nacht.«

Als einzigen Schmuck zeigte die kahle Wand über dem Bett ein frommes
Bild: Sankt Sebastian, der, an einen Baum gebunden und von Pfeilen
durchlöchert, mild und fast heiter in die Welt schaut. Herr Lutz konnte
an diesem geduldigen Märtyrer keine Freude haben, er war ein Mann aus
anderm Holz geschnitzt.

›Wartet nur bis morgen,‹ dachte er, ›wartet nur alle! Ich schreibe an
den Hofmarschall, ich schreibe an Seine Durchlaucht selbst!‹

Schließlich legte er sich dann doch schlafen, der Gewalt weichend. Man
hatte ihm ein Butterbrot und eine Flasche Bier ins Zimmer gestellt, die
er beide am liebsten aus dem Fenster geworfen hätte, jetzt meldete sich
aber der Hunger, und auf dem geblümten Bett sitzend, verzehrte er das
kärgliche Mahl.

Käse!

Vor übergroßem Grimm kamen ihm fast die Thränen ins Auge.

Hätten ihn die Lakaien in Karlburg jetzt so – hier – gesehen! Herrn
Lutz, der abends sein Glas guten Bordeaux haben mußte und seit Jahren
einen so schwachen Magen hatte, daß der Koch in steter Sorge war, wie
er Herrn Lutz zufriedenstellen könnte.

Wenn es in dieser Stunde nach Wunsch und Willen Lutzens gegangen wäre,
er hätte Kanonen auffahren und dieses Heidelberg in Grund und Boden
schießen lassen. Den Fourier vor die eine Kanone gebunden und den
Doktor vor die andre! Und die Frauenzimmer dito!

[Illustration: Käse!]

Was den Prinzen betrifft, so verstieg sich Herrn Lutz’ Grausamkeit
nicht zu dem Gedanken eines Majestätsverbrechens, aber ehe er
einschlief, malte er sich allerlei Bilder aus, wie Karl Heinrich am
eignen Leibe die Folgen seiner übereilten Thorheit empfinden sollte.
»Der bleibt hier nicht wohnen, darauf wett’ ich!«

Aber der Alltröster Schlaf kam und wiegte den müden Lutz in
friedlichere Träume.

Der Regierungsrat, der unter allen Umständen, im Wagen, im Stuhl, in
der Eisenbahn, im Bett, ausgezeichnet schlief – viel zu ausgezeichnet,
denn gerade dieses unendliche Schlafen verdickte sein Blut –, lag
schwer schnarchend, Karl Heinrich war der einzige im Hause, der noch
wachte.

Er versuchte einzuschlafen, aber es ging nicht, dieser seltsame Tag
hatte zu viel gebracht.

Er dehnte und reckte sich in seinem Bett, dessen Kopfkissen mit
Stickereien verziert waren wie bei einem Damenbett, schließlich zündete
er Licht an und stand wieder auf.

Ein merkwürdiges Zimmer, lauter Möbel aus längst vergangener Zeit,
Stühle mit steifen Lehnen und dünnen Beinen, ein ebensolches Sofa und
darüber auf einer Marmorkonsole eine goldene Uhr, die unter einer
Glaskuppel ihr leises Ticktack hören ließ. Auf den Fenstersimsen lagen
lange rote Polster mit gehäkelten Ueberzügen, und die Fenster selbst
waren holländische Schiebefenster, die aus vielen kleinen Scheiben
zusammengesetzt waren und deren Mechanismus der Prinz erst nach langem
Probieren entdeckte.

[Illustration: Mit dem Licht in der Hand betrachtete er die Bilder.]

Ueber dem Zimmer lag ein eigentümlicher, aber nicht unangenehmer
Geruch, halb nach frischer Wäsche halb nach Aepfeln. Mit dem Licht in
der Hand betrachtete er die Bilder: Paul und Virginie, die gestörte
Hochzeitsfeier, Bismarck, die spanische Tänzerin Lola Montez, – Lola
im Reitkostüm, lebensgroß, schön, strahlend, – dann nochmals Paul und
Virginie, ein Mensurbild und endlich, über das ganze Zimmer, an alle
Wände und in alle Ecken verteilt, eine Unzahl Studentenphotographien in
immer demselben Fünfgroschenrahmen. Die meisten trugen eine Aufschrift
mit einer Dedikation »An Madame Dörffel«, es waren offenbar lauter
Studenten, die einmal hier gewohnt hatten.

Manche dieser Bilder waren nur Silhouetten, aber nie hatte der Künstler
es unterlassen, die Farben der Mütze und des Bandes getreu darauf zu
malen. Und viele der Bilder waren alt: 1848/49 – 1853 – 1854/55 –
seltsam. Vergessene Menschen, vielleicht längst gestorben. Die hatten
alle hier in dem alten Eichenbett geschlafen, bei dem Ticktack der
goldenen Uhr, da aus dem Fenster geschaut. Ein ewiges Kommen und Gehen,
immer neue Gesichter, immer nur Jugend, immer nur Jugend – immer neue
Jugend.

Und jetzt war _er_ der Junge! Karl Heinrich. Der Erbe dieser andern.
Bild für Bild sah er aufmerksam an, manche der Namen waren ihm bekannt:
Karl Hohenlohe – Fürstenberg – Prinz Weimar – Bredow ...

Dann öffnete er das Fenster und sah auf den Marktplatz, an dem hie
und da eine Laterne brannte. Die Nacht war immer noch warm wie im
Hochsommer, er atmete die weiche Luft in tiefen Zügen.

Im Hotel zum »Prinzen Karl«, wo der große Kommers stattfand, setzte
von Zeit zu Zeit die Musik ein; und so deutlich, daß man fast jedes
Wort verstehen konnte, klangen durch die todstille Nacht die hellen
Stimmen der Studenten:

    »O alte Burschenherrlichkeit ...«

Ueber der Kirche und den Häusern schimmerten die Sterne, nur selten
hallten die Schritte eines verspäteten Nachtschwärmers auf dem einsamen
Platz.

Er war so müde, die Augen fielen ihm fast zu; aber leise lächelnd, wie
jemand lacht, der sehr glücklich ist, blieb er auf die roten Polster
des Fensters gelehnt.

Bis die ersten Hähne krähten, und der Himmel im Osten über dem
Neckarthal sich hell färbte.

[Illustration]



Drittes Kapitel.


»Herein!«

»Bitt’ schön, ich bringe den Kaffee.«

Es war die Kleine von gestern, die ungeniert hereinspazierte.

Karl Heinrich stand noch in Hemdärmeln, er hatte bei dem Klopfen an
niemand als Herrn Lutz gedacht; einen Moment war er so verdutzt, daß er
vergaß, ihren freundlichen Guten-Morgen-Gruß zu erwidern.

»Gut geschlafen, Durchlaucht?«

»Danke, sehr.«

»’s is a bissel weich, das Bett,« sagte sie und klopfte im Vorbeigehen
auf die gestickten Kissen, »aber Prinzen sind’s halt so gewohnt.«

Während sie den Kaffeetisch deckte und dabei sein kostbares Necessaire
rücksichtslos auf einen Stuhl schob, suchte er nach dem Rock, aber
der war im Nebenzimmer, oder Herr Lutz hatte ihn mit hinausgenommen,
keinesfalls war er zu finden.

»Soll ich einschenken?«

»Bitte.«

»Ein Stück Zucker oder zwei?«

»Eins, bitte.«

Er suchte immer noch, die ganze Situation war ihm so unfaßlich, daß er
es nicht wagte, Fräulein Käthchen anzusehen.

[Illustration: »Soll ich einschenken?«]

»Was suchen S’ denn?«

»Nichts.«

»Nun trinken S’ erst mal.«

Sie zerschnitt die Weißbrote und strich Butter darauf: »So.«

»Danke schön.«

Ihre sorglose Sicherheit gab ihm einigermaßen die Haltung zurück, so
daß er trotz der Hemdärmel sich an den Tisch setzte und zu trinken
begann. Die Kleine stützte sich auf die Lehne eines Sessels und sah
ihm zu. »Schmeckt’s?«

»Ja, danke.«

Er war so einsilbig, daß sie nun ihrerseits einen Augenblick unsicher
wurde, aber auch nur einen Augenblick. ›’s is halt ein Prinz,‹ erwog
sie im stillen, ›die sind schon immer ein bissel langweilig.‹ Aber im
übrigen gefiel er ihr ausgezeichnet.

›Was er für eine feine Weste anhat, und die seidene Krawatte, – und
dann auch das Gesicht – halb sieht er aus mit dem blonden Haar wie ein
Engländer.‹

[Illustration: Die Kleine stützte sich auf die Lehne eines Sessels und
sah ihm zu.]

Die Thür öffnete sich, und Herr Lutz trat herein. Oder vielmehr: er
trat nicht herein, sondern blieb wie angewurzelt stehen.

Der Prinz in Hemdärmeln beim Kaffee und die freche Person als
Zuschauerin!

»Eure Durchlaucht –?«

»Was?«

»Das Frühstück ...«

»Was ist damit?«

»Das Frühstück – ich sehe: Eure Durchlaucht haben bereits das
Frühstück?«

»Ja. Das Fräulein hat es hereingebracht.«

Karl Heinrich sagte das etwas verlegen, denn natürlich mußte es Herrn
Lutz kränken, daß fremde Leute in seine Pflichten und Rechte pfuschten,
aber Herr Lutz zog ein so tiefbeleidigtes, albernes, böses, anmaßendes
Gesicht, daß den Prinzen die Galle übermannte:

»Gehen Sie hinaus! Warten Sie draußen, bis ich rufe.«

Herr Lutz war wie vom Donner gerührt. Er hatte sich verhört! Es war ja
nicht möglich!

Aber ob er sich verhört hatte oder nicht, jedenfalls war die
Handbewegung Seiner Durchlaucht unheimlich deutlich. Sie wies strikt
auf den Ausgang, es blieb nichts übrig, als das Zimmer zu verlassen.

Nun stand Lutz draußen auf dem zugigen Korridor, den das dicke
Dienstmädchen fortwährend mit Wasser überschwemmte. Der einzige Raum,
in den er sich hätte retten können, war sein greuliches Hinterzimmer,
aber da fand sich Frau Dörffel, die gleichfalls mit Wasser über die
Dielen fuhr.

»Bleiben S’ nur draußen, jetzt mach’ ich hier rein.«

[Illustration: Lutz stand draußen auf dem zugigen Korridor.]

So ging er in seinen dünnen Lackschuhen auf dem nassen Korridor vor
des Prinzen Thür auf und ab und wartete. Er hatte sich gestern in der
Eisenbahn oder heute nacht in dem miserablen Bett erkältet, er nieste
– dreimal, sechsmal, zwanzigmal, immer wieder, und jedesmal sagte das
dicke scheuernde Geschöpf: »Zur Gesundheit!«

Eine nette Gesundheit!

»Warten Sie, bis ich rufe,« hatte der Prinz gesagt, aber es schien ihm
gar nicht einzufallen, zu rufen.

Und das Mädchen kam auch nicht wieder heraus.

Herr Lutz legte das Ohr an die Thür und versuchte zu horchen, aber er
hörte nur undeutlich die beiden reden.

›Ein hübscher Skandal,‹ dachte er, ›das fängt gut an! Gleich am ersten
Tage!‹

So wartete er eine Viertelstunde, eine halbe Stunde, drei
Viertelstunden, schließlich geriet er in eine Art Verzweiflung. Das
dicke Mädchen war fort, alles ringsumher still, nur das umkränzte
Pappschild »Willkommen« grinste ihm ins Gesicht ...

Karl Heinrich lehnte, immer noch in Hemdärmeln, in seinem Sessel,
rauchte eine Zigarette nach der andern und hörte lachend auf Fräulein
Käthchens Schwatzen.

Was hatte sie ihm nicht alles in der einen Stunde erzählt! Wie alt sie
sei: achtzehn – woher sie sei: aus Krems an der Donau, furchtbar weit
her – wieviel Corps in Heidelberg sind und wo sie kneipen, wie der
Rektor heißt, daß Herr Viktor von Scheffel augenblicklich in Heidelberg
wohne und nächste Woche einen Fackelzug bekomme, daß sie zwei beste
Freundinnen habe, die sich beide an ein und demselben Tage verlobten,
wie teuer dieses Jahr der Wein sei, aber sehr gut, und so weiter.
Dann fing sie an zu inquirieren und wie ein Untersuchungsrichter ihn
auszufragen:

»Waren S’ denn schon mal in Heidelberg?«

»Nein.«

»Aber vielleicht in Tübingen?«

»Auch nicht.«

Ob er Brüder hätte? – »Nein.« – Aber Schwestern? – »Nein.« – Aber
Eltern? – »Die sind tot.«

»O wie schrecklich! O wie schrecklich!«

Sie sah ihn so mitleidig an, als ob er eben vom Kirchhof komme, aber
dann fiel ihr ein, daß es ihr selbst gerade so ergangen war:

»Ich hab’ nämlich auch keine Eltern mehr.«

»O –«

Und sie betrachteten sich trotz des hellen Sonnenscheins und ihrer eben
noch guten Laune mit dem etwas konventionellen Mitgefühl.

»Denn die Dörffel ist nur meine Frau Tante oder Frau Großtante. Ich bin
auch nur bei ihr zur Hilfe.«

Sie hielt das Kaffeebrett, das sie schon vor einer halben Stunde
zusammengeräumt hatte, immer noch in den Händen, und auf der Lehne
eines Sessels sitzend sah sie trübe vor sich hin.

Karl Heinrich blickte sie schweigend an. Sie war eigentlich ein
fremdartiges Ding, ganz anders wie die blonden Mädchen in Karlburg.
Das Gesicht war südländisch braun, die gelockten Haare tiefdunkel und
ebenso dunkel die Augen. Es lag etwas sehr Zierliches über der ganzen
Figur, man mußte unwillkürlich an ein Zigeunermädchen denken.

Sie gab sich einen kleinen Ruck, als ob sie die sentimentalen
Anwandlungen abschütteln wollte:

»Ich möcht’ nie wieder nach Oesterreich, ich möcht’ immer in Heidelberg
bleiben, es ist hier zu schön.« Und ehe er etwas erwidern konnte, fuhr
sie rasch fort in einem unvermittelten Gedankensprung: »Das Gedicht
gestern, das ich hergesagt habe, war das schön?«

»Ja,« sagte er galant, »es hat mir ausgezeichnet gefallen.«

»Nein, es war nicht schön.«

»Nicht?«

»Ich habe es zuerst nicht auswendig lernen wollen, aber die Frau
Dörffel, die Tante, hat es gewollt. Wenn Sie nun anders ausgesehen
hätten, als Sie die Treppe herauf kamen, hätte ich Ihnen wohl den
Flieder gegeben, aber das Gedicht hätte ich nicht hergesagt.«

[Illustration: »Fräulein Käthchen, wie hätte ich denn aussehen sollen?«]

»Anders? Wie hätte ich denn anders aussehen sollen?«

»Nun – so –«, sie errötete, »ich weiß nicht.«

Er lachte und stand auf und ging zu ihr.

»Fräulein Käthchen, wie hätte ich denn aussehen sollen?«

Er legte seinen Arm um ihre Schulter und beugte sich nahe zu ihr. Ein
paar Sekunden blickten sie sich an, dann küßte er sie.

Sein erster Kuß.

Die Kleine konnte sich nicht wehren, denn sie hielt das Brett mit
Kaffeekanne, Butterglocke und Tassen in der Hand; aber als er auf den
ersten Kuß einen zweiten folgen lassen wollte, wich sie zurück!

»Nein, nein, nicht!«

»Käthie ...«

»Ich will nicht! Ich will nicht!« Sie stampfte mit dem Fuß auf und sah
einen Augenblick bitterböse aus.

Eine kleine schwüle Pause trat ein, dann nahm sie das Brett auf den
linken Arm, strich sich mit der rechten Hand über die schwarzen Locken
und sagte:

»Denn daß Sie’s ein für allemal und gleich heute wissen: ich bin
verlobt, schon bald ein Jahr.«

[Illustration: Er betrachtete das Bild.]

Karl Heinrich war so verlegen, verdutzt, – er wollte etwas sagen,
aber er brachte nur ein paar gestotterte Laute heraus. Seine erste
bescheidene Liebesaffaire war schmählich verunglückt. Vielleicht
bildete er sich ein, unter so bewandten Umständen ein unverzeihliches
Attentat begangen zu haben, eine Niederträchtigkeit gegen das
vertrauensselige, offenherzige Ding, er zog ein so beklommenes Gesicht
voll Reue, daß sie ihrerseits sich nun ärgerte, den hübschen, netten
Prinzen so angefahren zu haben. Wie reizend er aussah mit seinem
bestürzten, feuerroten Gesicht, das war wirklich einmal ein lieber Kerl.

Und um ihn zu trösten, sagte sie:

»Was man halt so verlobt nennt. Mit der Heirat kann der Franzel noch
lange warten. Er will schon, aber ich nicht. Finden S’, daß ich sehr
österreichisch spreche?«

»Oesterreichisch?« Er verstand nicht, was sie wollte, dieser neue
Zickzacksprung brachte ihn ganz aus dem Konzept.

»Ich hab’ ’s Oesterreichische ganz verlernt, weil ich’s nicht mag.
Weil’s der Franzel redet. Er ist nämlich a Wiener.«

»So.«

»Sie dachten wohl, er wohnt hier in Heidelberg?«

Karl Heinrich hatte in der Eile über diesen Fall noch nicht
nachgesonnen, aber um eine Antwort zu geben, sagte er:

»Ja, das dachte ich.«

Käthie lachte, als ob das ein ausgezeichneter Witz sei; sie mußte das
Brett auf den Tisch stellen, um bei dem heftigen Lachen die Tassen
nicht in Gefahr zu bringen. »Noch nie ist der Franzel in seinem ganzen
Leben aus der Wienerstadt herausgekommen. Außer nach Ungarn. Er ist ja
so an langweiliger Kerl. Wissen S’, was er ist? A Juckerhändler.«

»Ein was?«

»Für die Fiaker kauft er die Rosse, darin ist er sehr gescheit.
Letzthin hat er zwei schneeweiße Schimmeln aus Ungarn geholt, die dann
der Nicky Esterhazy ihm abgekauft hat.«

»Aber ...«

»Sehen S’, das ist der Franzel.« Sie drehte sich um, nestelte an ihrem
Mieder und holte eine kleine Photographie hervor, die an einem sehr
warmen Platz über dem Herzen geruht hatte.

Er betrachtete das Bild, und Käthies Kopf bog sich über seinen Arm, um
gleichfalls den Anblick zu haben.

»Gelt, er ist recht hübsch?«

»O ja.«

»Der Schnurrbart ist das beste, nicht wahr?«

»Hm!«

Der Franzel hatte sich im vollen Staat photographieren lassen, eine
Rose im Knopfloch, auf dem Kopfe den etwas schief sitzenden Cylinder
mit flacher Krempe, im Munde eine lange, dünne Virginiazigarre und in
der behandschuhten, außerordentlich großen Hand eine Reitpeitsche mit
einem silbernen Pferdekopf.

»Fesch ist er, gelt?«

»Hm!«

»Und ich nehm’ ihn doch nicht!«

Erstaunt blickte er sie an.

»Denn erstens, er könnte bald mein Vater sein, weil er zu Peter und
Paul dreißig wird, und zweitens, ich geh’ nicht nach Wien, ich mag
nicht.«

»Aber –«

»Es ist nämlich so, daß der Großtante Dörffel ihr Bruder der Vater
gewesen ist vom Franzel. Und meine Mutter selig war dem Franzel seinem
Vater die Cousine. Deshalb. Wie ich schon so klein war, hat’s immer
geheißen: die soll den Franzel heiraten. Nun zu vorigen Johannis hat er
geschrieben, ob ich will, und alle haben gesagt: Ja, ich soll. Da hab’
ich ›ja‹ gesagt, aber ich hab’ gesagt: Nicht gleich, und erst will ich
noch warten.«

Sie nahm das Bild und betrachtete es nachdenklich:

»Eigentlich ist er ja ein lieber Kerl, gelt, die Augen?«

Karl Heinrich wurde es bei all diesem Gerede abwechselnd kalt und heiß.
Sie stand unmittelbar neben ihm, ihre dunkeln Locken streiften seine
Schulter, und wie sie hastig und aufgeregt sprach, bewegte sich ihre
junge Brust unter dem engen Mieder auf und ab.

»Schließlich, heiraten muß jede, nicht wahr? Und in Heidelberg ewig
bleiben kann man auch nicht, gelt?«

»Nein.«

Sie fuhr sich flüchtig mit der Hand über die Augen, um etwas
fortzuwischen, dann schob sie Franzels Photographie zwischen die
Kaffeetassen, atmete tief auf und nahm das Brett von neuem auf den Arm.

»Nun muß ich gehen.«

Sie wollte an ihm vorbei, da hielt er sie einen Moment fest und – er
konnte nicht anders – gab ihr einen zweiten Kuß. Es war im ersten
Augenblick ein etwas zaghafter Kuß, der seiner Keckheit wegen gleichsam
um Verzeihung bat, aber als ihr roter, warmer Mund nicht zurückwich,
preßten sich seine Lippen fester, immer dichter, heißer.

»Käthie!«

Beide atmeten schwer. Einen Augenblick ließ er sie los und beugte den
Kopf zurück, um sie anzusehen, dann küßte er sie von neuem, immer
wieder. Bis ein leises Frösteln über sie hinlief und sie sich stumm
losmachte.

[Illustration: »Und wie heißen denn Sie?«]

»Nicht mehr –«

»Süße Käthie!«

»Und wie heißen denn Sie?«

»Ich? Ich heiße Karl Heinrich.«

»Zwei Namen?«

»Ja.«

»Karl – – Heinrich – das klingt so seltsam.« Dann plötzlich umschlang
sie ihn mit beiden Armen stürmisch:

»Karl Heinrich!!« ...

       *       *       *       *       *

Herr Lutz prallte von der Thür zurück, als diese sich unerwartet
öffnete, aber ohne ihn zu beachten ging das Mädchen mit heißen Wangen
an ihm vorbei über den Korridor.

Er blickte auf seine goldene Uhr: »Anderthalb Stunden!«

Und als er zehn Minuten später die Toilette seines Herrn vollendete,
machte es Herrn Lutz einen diabolischen Spaß, zu beobachten, wie Seine
Durchlaucht sich Mühe gab, unbefangen zu erscheinen.

»Wie ist das Wetter, Lutz?«

»Gut, Eure Durchlaucht.«

»Heute ist doch Mittwoch?«

»Jawohl, Eure Durchlaucht.«

Lauter überflüssige Fragen, wie sie jemand stellt, der sich einer
gewissen Schuld bewußt ist.

Und wenn irgend jemand Seine Durchlaucht durchschaute, dann war es Herr
Lutz. O, er kannte diese hohen Herrschaften, die nie recht den Mut
ihrer dummen Streiche haben und sogar ihrem Kammerdiener gegenüber
alles vertuschen möchten. Kleine, schwächliche Seelen ohne Energie.

Erbprinzen sind keine Fürsten, ihre Bedeutung nach außen ist in manchen
Fällen gleich null. Tausendmal ereignete sich der Fall, daß Erbprinzen
nie zur Regierung gelangten. Mit Erbprinzen rechnen, heißt nicht viel
mehr als Lotterie spielen.

›Nein,‹ sagte sich Herr Lutz, ›dieses Heidelberg paßt mir nicht. Ich
kehre zurück nach Karlburg. Wer, wie ich, seines Hochfürstlichen
Herrn Vertrauen genießt, braucht hier nicht Bedienter zu spielen.
Seine Hochfürstliche Durchlaucht ist sechsundfünfzig Jahre alt, Seine
Hochfürstliche Durchlaucht kann mit Bequemlichkeit achtzig werden.
Bis dahin dürfte man sein Schäfchen im Trocknen haben und auf alle
Erbprinzen pfeifen.‹

Und während er seinen neuen Herrn abbürstete, dachte er:

›Warte! Wenn ich nach Karlburg komme, wenn ich erzähle! Da wird man
Augen machen!‹

Der Prinz schien seine kurze Befangenheit Lutz gegenüber merkwürdig
schnell überwunden zu haben:

»Sehen Sie nach, Lutz, ob der Herr Regierungsrat fertig ist, rasch!«

Mit sehr verbissener Miene kam Herr Lutz zurück:

»Herr Regierungsrat lag noch im Bett. Er zieht sich jetzt an.«

»Zum Kuckuck, wie ist das möglich?! Es ist ja zwölf Uhr mittags!«

[Illustration: Herr Lutz zog die Krawatte fest.]

Lachend ging der Prinz über den Korridor, nickte Käthie zu, die in der
Küchenthür stand und ihm zulächelte, und pochte mit der Faust gegen des
Doktors Thür:

»Aber Doktor! Es ist Mittag!«

»Ja, gleich, fünf Minuten!«

Unnötigerweise wartete der Prinz vor der Thür, immer die Kleine
anschauend, die sich merkwürdig lange im Korridor zu schaffen machte;
dann endlich erschien der Doktor, höchst flüchtig angekleidet.

»Einen Moment. Lutz! Wo ist Lutz?! Lutz, helfen Sie mir mal. Hinten die
Krawatte festziehen – so. Einen Moment noch, Durchlaucht. Bürsten Sie
mich mal ab, Lutz. Und dann holen Sie mir einen Schluck Kaffee.«

»Wir wollen spazieren fahren,« sagte Karl Heinrich, der seine hellen
Handschuhe anzog und immer noch mit Käthie Blicke wechselte.

»Nicht fahren, gehen.«

»Auch gut.«

Und Herr Lutz zog die Krawatte fest, bürstete und holte Kaffee. Alles
mit der vornehmen Ruhe seines Standes. Aber innerlich kochte es in
ihm. Das schlug dem Faß den Boden aus: dieses Schulmeisters Frechheit!
Dieser Herr behandelte ihn als Diener, als Allerweltsbedienten!
»Bürsten Sie mich mal ab, holen Sie Kaffee.« Konnte der edle Herr nicht
seinen Rock selbst abbürsten?! Lutz zitterte vor Aufregung.

Eines fürstlichen Kammerdieners Pflichten und Rechte sind so streng
umschrieben wie die eines hohen Beamten. Er dient lediglich und
ausschließlich den persönlichen Bedürfnissen seines Herrn, er hat
mit allen gröberen Arbeiten nichts – absolut nichts! – zu thun, der
Unterschied zwischen einem Kammerdiener und einem ordinären Lakaien ist
überhaupt nicht in eine Formel zu bringen. Der eine ist Künstler, der
andre Handwerker.

Herr Lutz, der für den Schulmeister Kaffee holt! Es war zum Lachen!
Oder vielmehr durchaus nicht zum Lachen.

Und Karl Heinrich litt das! Statt zu sagen: »Ich muß Sie darauf
aufmerksam machen, Herr Doktor, daß Herr Lutz alle Aufträge nur durch
meinen Mund empfängt«, stand Seine Durchlaucht ruhig dabei und sah zu,
wie Lutz bürsten mußte.

Jetzt fehlte nur noch, daß der Schulmeister etwa sagte: »Putzen Sie mir
die Stiefel.« Hätte er es nur gesagt! Es hätte eine Katastrophe gegeben!

Der Doktor setzte seinen neuen Pariser Cylinder auf, zog, obwohl es
sehr warm war, aus Eitelkeit den eleganten Frühlingspaletot an und sah
alles in allem wie ein höchst chic gekleideter Gentleman aus. Aber
neben Karl Heinrich machte er trotzdem eine schlechte Figur. Der eine
groß, schlank, jugendlich, der andre klein und viel zu gut genährt.
Wer sie zusammen sah, konnte keinesfalls begreifen, was zwei so
verschiedene Menschen zu einander geführt hatte.

»Also wollen wir wirklich keinen Wagen nehmen, Doktor?«

»Aber bewahre! Bei dem Wetter! Wir wollen aufs Schloß gehen.«

Karl Heinrich konnte sich auch heute noch nicht recht in dieses
»Zu-Fuße-gehen« finden, es erschien ihm so sonderbar, am hellen Tage
durch die Straßen zu spazieren, keinen Wagen hinter sich, keinen
Diener. Es ging ihm wie den übernervösen Menschen, die sich vor den
Straßen fürchten und beim Ueberschreiten der Plätze alle Sicherheit
verlieren.

Gut, daß er den Doktor als Begleiter hatte.

Die Treppe hinab mußte man tasten, weil das Treppenhaus in einem
mystischen Zwielicht lag, dann ging es im Hausflur durch eine Reihe
Kisten, und nun standen sie vor der Thür in der Sonne.

»Ein Wetter! ein Wetter!« sagte der Doktor. »Da muß man gesund werden.
Förmlich heiß. Heute fühlt man sich Mensch.« Allen Mädchen, denen sie
begegneten, schaute er ins Gesicht, und im stillen dachte er: ›Wer
weiß, was dieses liebe Heidelberg einem noch Gutes bringt. Vielleicht
daß man sich auf seine alten Tage doch noch entschließt. Mein Gott,
wenn man noch mal lieben könnte, richtig lieben! ...‹

[Illustration: Karl Heinrich betrachtete neugierig wie ein Kind die
Ladenfenster.]

Sie kamen nur langsam vorwärts, denn vor allen Läden blieb
Karl Heinrich stehen und betrachtete neugierig wie ein Kind die
Ladenfenster. Es gab da eine Menge Dinge, die er nie gesehen hatte,
und die ihm der Doktor erklären mußte, dann plötzlich überkam ihn ein
kindischer Wunsch:

»Wir wollen mal hineingehen, irgend etwas kaufen.«

»Was denn?« fragte der Doktor erstaunt.

»Das ist einerlei, ich möchte nur mal kaufen.«

Und so kauften sie: zwei seidene Krawatten, helle Handschuhe, einen
Federhalter und Federn, Tinte, Schreibpapier, Visitenkarten, eine
elegante Schreibmappe, die Karl Heinrich dem Doktor schenkte, und
schließlich für sechs Mark ein silbernes Armband, an dem kleine Münzen
klingelten.

»Wer soll denn das haben?«

»Fräulein Käthie.«

»Welche Käthie?«

»Die gestern das Gedicht hergesagt hat.«

»Heißt die Käthie?«

»Ja, die heißt Käthie.«

Und jetzt erst kam es dem Doktor zum Bewußtsein, daß er heute einen
ganzen langen Vormittag verschlafen hatte. Er räusperte sich und sah
den Prinzen von der Seite an: das war ja ein guter Anfang.

›Recht hat er,‹ dachte er im stillen, ›Jugend ist nicht zum Versauern
geschaffen. Wer noch einmal zwanzig Jahre alt wäre!‹

An der Berglehne stand alles im Blütenschmuck, und als sie nun
bergauf stiegen, bot die langsam unter ihnen niedersinkende Stadt ein
zauberhaftes Bild. Auf allen Schieferdächern lag die helle Sonne, die
in die Schornsteine der Häuser tief hineinzuschauen schien, drüben
stand der Odenwald im hellen Maiengrün, und nun wurde ein langer
Silberstreifen sichtbar, der jenseits der Häuser hell aufblitzte; der
Neckar!

Sie sagten es beide in einem Atem:

»Der Neckar!«

[Illustration: Dann standen sie eine Weile stumm, den Strom hinauf
schauend.]

Dann standen sie eine Weile stumm, den Strom hinauf schauend und den
Strom hinab.

Der Neckar. Der aus Schwaben kommt, aus Schillers Heimat, aus Uhlands
Lande, aus dem Schwaben der Hohenstaufenkaiser. Er fließt vorbei an der
alten Feste Tübingen, bei Reutlingen, gen Stuttgart, durch Heilbronn,
vorbei an des alten Berlichingen Nest durch ein Land, in dem jeder Fuß
Boden Erinnerung atmet und Poesie.

Bis dann der Neckar endlich nach Heidelberg kommt und in die
weite, flache Ebene des Rheins hinauszieht. Der Neckar endet nicht
in Mannheim, wie es die Karten der Geographen lehren, er endet
in Heidelberg. Er endet wie kein andrer deutscher Fluß: in einem
Märchenglanz von Schönheit.

Schweigend stiegen sie weiter bergauf und traten durch das alte Thor
von rotem Sandstein in den Schloßgarten.

Ein paar Fremdenführer gähnten am Eingang, aber drinnen unter den
alten, epheuumsponnenen Bäumen war alles still und einsam. Die fremden
Besucher weilten um diese Mittagsstunde unten in ihren Hotels, die
Studenten sitzen zur gleichen Stunde in der Stadt beim Frühschoppen,
und die Heidelberger selbst haben nicht Zeit, mittags umherzubummeln.

Ein Eichkätzchen sprang vor ihnen durch den Epheu, sonst rührte sich
nichts ringsum. Und schweigend gingen sie weiter, über die Brücke in
den Schloßhof, hinaus auf den Altan, zurück an dem zerschossenen Turme
vorbei, die Balustraden entlang.

Der Doktor sprach bisweilen einige Worte, aber der Prinz antwortete
einsilbig oder nickte nur stumm.

Erst nach geraumer Zeit, in der der Doktor im Gehen sich gelobt hatte,
jeden Tag heraufzukommen und damit seiner Kurzatmigkeit zu steuern,
sagte Karl Heinrich:

»Wir wollen eine Flasche Wein trinken – haben Sie Lust?«

Ja, der Doktor hatte Lust.

»Nehmen Sie eine Zigarre?«

»Ja, danke.«

So saßen sie unter dem grünen Dach der alten Bäume, tranken und
rauchten. Sie sprachen einiges über das Schloß und den schönen Tag,
dann versanken sie beide wieder in Schweigen.

Die Sonne, die durch die Blätter blinzelte, die große Stille ringsum,
der Wein, die Zigarre – alles wirkte auf den Doktor nach dem für seine
Verhältnisse anstrengenden Marsch einschläfernd. Er versuchte, der
Hypnose zu widerstehen, aber das gelang ihm mit großer Anstrengung
nur zweimal; beim dritten Male öffneten sich die widerspenstigen
Augendeckel nicht mehr.

Erst nach einer Weile merkte Karl Heinrich, als er etwas
Gleichgültiges fragte und keine Antwort bekam, daß sein Begleiter
wieder einmal eingeschlafen war.

Er lächelte, er war ihm nicht böse – nein, im Gegenteil.

Er lehnte sich weit zurück in seinen Stuhl, den Ellbogen auf den Tisch
und den Kopf in die Hand gestützt.

War er je im Leben so glücklich gewesen? Nie! Tausend Eindrücke waren
gestern und heute auf ihn eingestürmt, aber kein Mißton fand sich
dazwischen, sie klangen alle harmonisch zusammen in einen einzigen
Glücksaccord. – Käthie, Freiheit, Heidelberg, der Neckar, das Schloß,
der Frühling, die goldene Zukunft – ein einziger Strom von Freuden, ein
einziger Rausch.

Käthie – er nahm das silberne Armband und ließ es in der Sonne glitzern.

›Ob sie sich darüber freut? Ob ich ihr ein besseres kaufen soll?‹ Er
legte das Ding um sein Handgelenk und nahm es nicht wieder ab. Ihm war,
als ob Käthie das Band schon einmal getragen hätte, als ob es gleichsam
ein Stück von ihr sei, etwas Greifbares, das sie ihm näher brachte.

[Illustration: Er nahm das silberne Armband und ließ es in der Sonne
glitzern.]

Da drang in die Mittagsstille ein Lärm; zehn, zwölf Studenten mit
dunkelblauen Mützen kamen durch den Garten, riefen den Kellner,
bestellten Bier und brachten zusammen mit den drei großen Kötern einen
solchen Skandal in den Garten, daß sogar der Doktor sich unruhig
bewegte und aufwachen zu wollen schien.

»Kellermann!«

»Jawohl!«

»Kellermann, sorgen Sie dafür, daß Bier kommt!«

»Schön!«

»Kellermann!«

»Was?«

»Der Kellner soll die Speisekarte mitbringen!«

»Schön!«

»Kellermann!«

»Was?«

»Er soll auch Zigarren mitbringen!«

»Schön!«

Dieser Kellermann kam darauf ohne sonderliche Eile an Karl Heinrich
vorüber, ging in die Wirtschaft und erschien nach einiger Zeit als
Assistent des Kellners mit Bierseideln.

»Kellermann!«

»Was?«

»Der verdammte Köter läuft über die Blumenbeete – fangen Sie ihn!«

»Schön!«

Aber Kellermann fing ihn nicht, sondern pfiff nur. Mit einer total
verrosteten Stimme rief er ein paarmal: »He, hierher!«, und als das
nichts fruchtete, gab er den Versuch auf.

»Kellermann!«

»Was?«

»Holen Sie drei Postkarten.«

»Schön!«

Er kam zum zweitenmal an Karl Heinrich vorbei, der ihn nun genauer
betrachtete. Er trug eine Art Uniformrock und eine Portiermütze
dunkelblauer Farbe, seine ganze äußere Erscheinung sollte ohne Frage
auf eine Stellung als Diener hinweisen, aber nie hatte jemand –
wenigstens nach Karl Heinrichs wohlgeschulten Begriffen – weniger
Aehnlichkeit mit dem Typ eines solchen. Er ging beständig in einem
kleinen Trab, ohne schneller von der Stelle zu kommen als andre Leute,
die ihre Wege in ruhigem Schritt zurücklegen, seine Nase war blaurot,
und der Schnurrbart, den er im Gegensatz zu andern glattrasierten
Dienern trug, hing melancholisch-jämmerlich nach beiden Seiten. Die
Augen hatten etwas Trauriges, sie schienen immer nur geradeaus zu sehen
und alles, was rechts und links lag, absolut unbeachtet zu lassen. Er
sah auch Karl Heinrich nicht an, obwohl er zweimal ganz dicht an ihm
vorbeitrabte.

›Welch ein merkwürdiger Mensch,‹ dachte der Prinz, aber seine
Aufmerksamkeit richtete sich weniger auf diesen als auf die Studenten.

[Illustration: Sie tranken trotz der frühen Morgenstunde gehörige
Quantitäten Bier.]

Sie saßen so entfernt, daß er nur ihr lautes Lachen hörte oder das
häufige »Kellermann«-Rufen, immerhin konnte er sie in Muße beobachten.
Sie trugen sämtlich Mütze und Band in den Sachsenfarben, das war
das einzige, was sie als Studenten kennzeichnete. Nichts an ihnen
erinnerte an die alten, traditionellen Studentenfiguren, wie sie zu
jener Zeit – Ende der siebziger Jahre – noch in den Büchern oder auf
den Theaterbrettern umherspukten. Kein Schnürrock, keine Kanonenstiefel
und keine Tabakpfeife, elegante Jungens, die sich auch ohne jene
halbvergessene Vermummung ihres Studententums offenbar außerordentlich
freuten.

Sie tranken trotz der frühen Morgenstunde gehörige Quantitäten Bier, es
war amüsant und lustig, sie zu beobachten.

Irgend etwas regte sich in dem Prinzen, eine Sehnsucht, ein
nie gekanntes Gefühl der Einsamkeit. Er blickte auf den dicken
Regierungsrat, der mit seiner erloschenen Zigarre schlief und plötzlich
so merkwürdig alt aussah. Gewiß, der Doktor war ein guter Kerl, mit
dem Karl Heinrich seit vielen Jahren in bester Weise harmoniert hatte.
Dieser Doktor war der erste und einzige gewesen, der in die stickige
Luft des Karlburger Schlosses einen frischen Zug und in des Prinzen
kalte Jugend einen Hauch von Lebensfreude gebracht hatte, aber ...

In dieser Stunde begriff Karl Heinrich! Daß man ihn daheim in Karlburg
betrogen hatte, um seine ganze Jugend! Bediente, die mit ihm spielen
mußten, Bediente, mit denen er spazieren ritt, Bediente jahraus
jahrein, von früh bis spät, ewig nur bezahlte Leute!

Bis gestern war er ja überhaupt blind gewesen! Er hatte nichts vom
Leben gewußt, gar nichts! Man hatte ihn gefangen gehalten, in einem
goldenen Käfig, wie ein Tier, das dressiert werden soll.

Ein großer, hübscher Junge ging an ihm vorbei: »Kommen Sie mit,
Kellermann, wir wollen eine Bowle ansetzen, Maibowle.«

»Schön!«

Mit müden, glanzlosen Augen sah der Prinz ihm nach. Er wird immer
allein bleiben, zeitlebens.

Da kam der Kellner hastig hergelaufen und tippte dem erstaunten Prinzen
formlos auf die Schulter:

»Sehen Sie mal hin! Der Herr, der da allein kommt! Das ist Herr von
Scheffel!«

»Wo?«

»Da!«

»Doktor!« Karl Heinrich rüttelte den Schläfer. »Wachen Sie mal auf!«

»Was –? Was?!«

»Da kommt Scheffel. So wachen Sie doch auf!«

»Ja, ja –«

Also das war er. Der den Ekkehard gedichtet hatte. Und die
Rodensteinlieder!

Der Kellner war mittlerweile auch zu den Studenten hinübergelaufen mit
der gleichen Mitteilung, die an dem langen Tisch Sensation machte.
Herr von Scheffel war damals in seinem lieben Heidelberg ein ziemlich
seltener Gast, manche der jüngsten Studenten hatten ihn nie gesehen.

Da kam er!

Irgend einer schien den andern etwas zuzurufen, dann stellten sich alle
zwölf um ihren Tisch in Reihe und:

    »Wohlauf, die Luft geht frisch und rein
    Wer lange sitzt, muß rosten!
    Den allersonnigsten Sonnenschein
    Läßt uns der Himmel kosten ...«

Das fröhliche Wanderlied scholl seinem Dichter mit einer Begeisterung
entgegen, wie sie dem Liebling von Heidelberg nur aus zwölf jungen
Kehlen an einem solchen Frühlingstag zujauchzen konnte.

Er lächelte, und als die zwölf blauen Mützen der Corpsstudenten den
alten Burschenschafter grüßten, zog er seinen Hut und ging dankend
vorüber.

Und wie die Studenten thaten, so that Karl Heinrich: er nahm den Hut ab
und grüßte tief.

Der Dichter lächelte auch ihm zu und dankte.

Langsam ging er weiter, bis er allmählich in den Büschen des
Parks verschwand. Lange noch begleitete ihn das Lied, bis es
jubelnd-übermütig ausgeklungen war:

    »Hallaho: die Pforten brech’ ich ein
    Und nehme, was ich finde.
    Du heiliger Veit von Staffelstein,
    Verzeih mir Durst und Sünde!«

»~Cantus ex est!~ Ein Schmollis dem Dichter!«

Die Gläser klirrten auf den Tisch. –

       *       *       *       *       *

Es war nachmittags fünf Uhr, als der Oberkellner im Hotel zum »Prinzen
Karl« nach zweistündigem Diner Seiner Durchlaucht und dem Herrn
Regierungsrat den Nachtisch servierte.

[Illustration: Der Dichter lächelte auch ihm zu und dankte.]

Sie saßen beide einsilbig und abgespannt. Die neugierigen Blicke der
Hotelgäste, die devoten Kellner, das einförmig endlose Diner – alles
wirkte nach den vorhergehenden Stunden fad und wie ein schlechter
Abklatsch der Karlburger steifen Langeweile. Der erste große Rausch der
Freiheit war für beide vorüber.

Der Piccolo kam mit einer Visitenkarte und überreichte sie flüsternd
dem Regierungsrate:

»Der Herr ist draußen, er bittet freundlich, ob er den Herrn
Regierungsrat einen Augenblick sprechen könnte.«

»Mich?« Der Doktor war erstaunt und drehte die Karte hin und her:
»Konrad von Gräbenitz, ~stud. jur.~ Wer ist das, den kenne ich nicht.
Was will der Herr?«

»Er bittet freundlichst, ob er den Herrn Regierungsrat einen Augenblick
sprechen könnte.«

»Ja, das höre ich.«

»Fragen Sie doch, was er will, Doktor,« sagte Karl Heinrich gleichmütig.

»Ja, is gut. Ich käme gleich.«

Der Doktor stand etwas verdrießlich auf, denn im Gegensatz zu andern
Leuten war er nach jedem Diner schlechter Laune, weil er sich mit Recht
sagte, daß er, wie immer, zu viel gegessen hatte.

Im Rauchzimmer traf er den Herrn, einen sehr eleganten jungen Mann,
dessen Gesicht wie ein Beefsteak zerhackt war.

»Mein Name ist Regierungsrat Jüttner.«

»von Gräbenitz.«

»Bitte, nehmen Sie Platz.«

»Ich habe mir die Freiheit genommen, Herr Regierungsrat, meine Karte
heute mittag in Ihrer Wohnung abzugeben, man sagte mir dort, daß ich
Sie hier antreffen würde.«

»Ja ja.«

»Meine Bitte, Herr Regierungsrat, geht dahin, daß Sie die große
Liebenswürdigkeit haben möchten, mich Seiner Durchlaucht vorzustellen.«

»Dem Erbprinzen?«

»Ich bitte darum.«

»Und – e – was, und – e – weshalb? –«

»Ich möchte Seiner Durchlaucht im Auftrage meines Corps die Bitte
vorlegen, ob Seine Durchlaucht unserm Corps die Ehre geben würde, heute
abend dem Kommers beizuwohnen.«

»Ach so!« Er lächelte. Das hätte er sich gleich denken können. Denn was
ist im Anfang des Semesters für die Verbindungen wichtiger, als neue
Mitglieder »keilen«! Gottesfürchtig und dreist sein, das ist bei diesem
und jenem Werbemetier die Hauptsache. Und gleich einen Prinzen fangen!
Das wäre ein hübscher, fetter Bissen.

Was würde man in Karlburg dazu sagen, wenn Karl Heinrich, der Erbprinz,
in einer Studentenkorporation Mitglied würde! Freilich thun das sogar
die preußischen Prinzen und Thronfolger in Bonn, aber was man in Berlin
zu erlauben beliebt, braucht deshalb für Karlburg noch längst nicht
maßgebend zu sein. Im Gegenteil.

Der Fürst würde – ganz ohne Frage – darüber sehr wenig erfreut sein,
und alle Schuld würde – ebenfalls ganz ohne Frage – ihm, dem Doktor,
beigemessen werden. Er war nicht nach Heidelberg geschickt, um sich
zu amüsieren, sondern einem weltfremden jungen Prinzen die richtige
Direktive zu geben. Er sah die Gesichter der Karlburger Hofleute,
wenn eine solche Nachricht dort eintreffen würde: das apoplektische
Gesicht des Hofmarschalls, die Fischaugen des Herrn von Baltz – alle
erschreckt, empört, angstvoll auf Durchlaucht schauend.

Aber Karl Heinrich!

Wie der Junge auftauen würde! Endlich ein Mensch werden wie andre
Menschen.

Was lag dem Doktor schließlich an der Allerhöchsten Ungnade. Uebers
Jahr war seine Erziehungsaufgabe ja ohnehin schon beendet, und dann –
lieber Gott, dann fängt man eben was andres an.

Und welch eine Wohlthat, den Karlburger verknöcherten Seelen einen
Streich spielen zu können! Nie, natürlich, würde er das Kreuz von
Sachsen erster Klasse erhalten, nie Geheimrat werden, nie mehr zu Hofe
geladen werden – aber was will das alles heißen!

Karl Heinz, sein einst kleiner Karl Heinz – der Junge, dem sie daheim
die Kehle zugeschnürt hatten! Sein guter Karl Heinz! Für den.

Er stand auf:

»Kommen Sie, bitte, mit!«

Und ganz fest und heiter, als ob es sich um eine Bagatelle handle,
überschritt der Doktor die Schwelle des Speisesaals, seinen Rubikon,
der ihn für ewig von dem gelobten Lande der schönen Orden und großen
Titel schied.

[Illustration]



Viertes Kapitel.


In Rüders Gasthaus am Neckar hatte Käthie immer nur nachmittags zu
thun. Vormittags half sie der Großtante bei der Wirtschaft zu Hause,
während nach Tisch alle beide über die Neckarbrücke nach Rüders
Gasthaus pilgerten. Rüder war ein Schwager der Frau Dörffel und somit –
im weiten Sinne des Wortes – auch mit Käthie verwandt.

Vielleicht giebt es und gab es in Heidelberg weit bessere Gasthäuser
als das Joseph Rüders, aber über der alten Baracke lag ein ruhevolles
Behagen. Wer in den Garten wollte, mußte von der Straße her durch das
winklige Haus tappen, und der Flur war so niedrig, daß die langen
preußischen Junker, die bei den »Sachsen-Preußen« aktiv waren, ihre
Schädel sorgfältig in acht nahmen.

War man aber erst in den Garten gelangt, so hatte die Not ein Ende.
Man saß unter den alten Lindenbäumen unmittelbar an der Ufermauer des
Neckars, gegenüber lag Heidelberg mit dem Schloß, man trank Joseph
Rüders guten, ehrlichen Wein und freute sich seines Lebens.

Und freute sich der hübschesten kleinen Kellnerin, die den Wein
kredenzte.

Wie es mit vielen Gasthäusern geht, daß sie im Laufe der Zeiten
ihren Charakter wechseln, so war des guten Joseph Gastwirtschaft
ursprünglich nur eine ordinäre Schifferkneipe gewesen. Alte Damen und
Honoratiorenfamilien mit jungen Töchtern entdeckten den Garten als
ein stilles Asyl, in dem man fern vom Lärm nachmittags Kaffee trinken
konnte, bis eines Tages die Studenten Josephs Haus aufstöberten und der
Idylle ein Ende machten.

Sie kamen nachmittags und blieben bis in die Nacht. Sie vollführten den
ewig gleichen Skandal und ließen ihre Doggen über die Mauer weg in den
Neckar apportieren; sie tranken in einem Monat mehr, als Joseph früher
in ganzen Semestern verzapft hatte; nach drei Wochen hatten sie die
armen alten Damen so gründlich ausgeräuchert, daß diese nie wiederkamen.

Oft sagten Frau Rüder und Frau Dörffel und Frau Rüders zwei Schwestern
– lauter bejahrte Frauen: »Früher war es stiller und gemütlicher, wenn
auch nicht so viel verdient wurde.« Aber sie sprachen das mit der
friedlichen Trauer, die man derartigen Schicksalsfügungen gelegentlich
weiht.

Nur in einer Hinsicht waren alle vier fest überzeugt, daß der Wechsel
seine außerordentlichen Nachteile habe: in Bezug auf Käthie.

Als siebzehnjähriges Ding hatte sie nett und artig den Damen im Garten
den Kaffee serviert; sie war ja auch damals schon ein Durchgeher, der
immer seinen eignen Willen hatte, es fiel indessen nie schwer, sie
wieder in die richtige Gangart zu bringen. Seit aber die Studenten da
waren, ließ sich mit dem Mädel nichts mehr anfangen. Oft nahmen die
alten Frauen sie ins Gebet und verwarnten sie:

»Sei nicht so wild, halt mehr auf dich.« Dann saß sie in der Küche mit
ihrem Strickzeug und ließ die endlosen Ermahnungen geduldig über sich
ergehen. Sie hatte bisweilen versucht, zu widersprechen und zu sagen,
daß sie sich keiner Schuld bewußt sei und daß man, wenn man jungen
Herren Wein trägt, sich nicht haben könne wie eine zimperliche Gans,
aber die vier Frauen fielen mit so viel Gegenbeweisen und Schelten über
sie her, daß sie schließlich gar nichts mehr erwiderte. Sie saß ganz
still und geduldig, wie jemand, der eingeregnet ist und auf die Sonne
wartet.

Kamen dann endlich nachmittags die ersten Studenten und riefen draußen
im Garten: »Käthie! He, Käthie!« – dann war sie wie verwandelt. Das
Strickzeug flog in den Tischkasten, und im nächsten Augenblick lief sie
durch das Haus, daß ihre kurzen Kleider, unter denen man die kleinen
Stiefel sehen konnte, um sie her wirbelten.

[Illustration: Sie saß ganz still und geduldig.]

»Bier, Käthie!«

»I komm’ schon!«

»Wieviel? Fünf sechs, sieben, wieviel seid’s denn? Acht. Da setzt euch
her, da am Wasser, ich richt’ euch den Tisch.«

Und je voller es im Garten wurde, um so rascher sprang sie. In beiden
Händen schleppte sie große Bierkrüge, und wenn es so arg wurde, daß von
allen Seiten her ein Kreuzfeuer von Rufen auf sie eindrang:

»Käthie, die Speisekarte!«

»Bier, Käthie!«

»Hierher, Käthie!«

Dann lachte sie, daß ihre weißen Zähne wie zwei blanke Reihen zwischen
den roten Lippen leuchteten.

»I komm’ schon! Habt’s euch nicht!«

Sie sprang hin und her, überall sah man ihre weiße Schürze und ihre
nackten braunen Arme, die schlank waren wie die eines Kindes. Sie
verlor nie den Kopf, sie vergaß nichts, keinen Löffel, keine Gabel,
so daß oft die Frauen in der Küche ihr erstaunt nachblickten: »Ein
Tausendsassa!«

In der Ledertasche am Gürtel, die sie nachts unter ihr Kopfkissen
legte, trug sie einen Haufen Geld, aus dem sie beim Wechseln
Händevoll hervorholte und auf den Tisch warf. Im Augenblick war das
Wechselgeschäft erledigt, und im nächsten Augenblick rasselten die
Münzen wieder in die Tasche.

»Verzählst du dich nie, Käthie?« fragte einer der Studenten.

»O freilich. Aber das macht nix. Ihr seid’s ja ehrliche Leute, ihr gebt
mir’s ja wieder.«

»Prost, Käthie, sollst leben! Trink mal mit!«

»Dank’ schön!« Sie strich mit dem Rücken der Hand über ihre roten
Lippen und that dann einen guten Schluck aus des Studenten Glas.

Einer oder der andre versuchte, sie um die Taille zu fassen und
festzuhalten, aber weg war sie wie der Blitz.

Und die vier Frauen in der Küche sahen alle diese kleinen Scenen mit
einer Mischung von Bedauern und Mißbilligung, mit dem leisen Neid des
Alters und mit der moralischen Strenge des Alters.

Sollte man das immer wieder und jeden Tag von neuem anschauen? Wie
diese Käthie, die der Frau Dörffel ihre Großnichte und der Frau
Rüder ihres Mannes Tante-Enkelin war, so unter die Studenten kam –
gewissermaßen moralisch hinabgezogen wurde?!

Man konnte eine andre Kellnerin engagieren, natürlich, aber du lieber
Gott, das ist leichter gesagt als gethan. Es giebt Kellnerinnen, die
erstens nicht so fleißig sind, zweitens nicht so ordentlich, drittens
nicht so flink, viertens nicht so ehrlich und fünftens – ja dieses
»Fünftens«! – nicht so hübsch.

War Käthie wirklich denn eigentlich hübsch? Oft fragten die vier das
einander und schüttelten die dünnen Zöpfchen. »Entschieden nicht!« Der
Teint zu braun, viel zu braun, die Arme zu dünn, die ganze Figur ohne
rechte Formen. Sie waren alle vier in ihrer Jugendzeit schöner gewesen.

Aber die Studenten fanden Fräulein Käthie reizend, so reizend, daß sie
an Käthies Geburtstag Berge von Blumen schickten, und daß sie ganz ohne
Frage mehr ihretwegen hierherkamen als wegen Rüders Weinen und Frau
Rüders Kalbsnierenbraten.

[Illustration: Käthie that einen guten Schluck aus des Studenten Glas.]

Verschiedene Male erwogen die vier, ob sie nicht die heilige Pflicht
hätten, dem fernen österreichischen Vetter Franzel mitzuteilen, wie
sündhaft gut sich seine Verlobte hier amüsiere, aber dann würde
dieser Franzel aller Wahrscheinlichkeit nach wie ein Donnerwetter
dazwischenfahren und Käthie für immer mit nach Wien nehmen.

Und schließlich beruhigten sich die vier in der tröstlichen Erwägung,
daß Käthie zwar mit ihnen verwandt, aber doch nur entfernt verwandt
sei. Es war traurig, daß sie ein so leichtes Ding wurde, aber was war
dagegen zu thun? Nichts. Das Geschäft blühte, und das war denn doch
schließlich die Hauptsache.

Am 3. Mai nachmittags vier Uhr gab es in Rüders Garten Corpskonzert.
Die Corpsdiener, deren Senior Herr Kellermann war, erschienen schon vor
drei, um die Tische zu arrangieren: in der Mitte die »Vandalen« als
präsidierendes Corps, rechts vorn am Neckar die »Sachsen«, daneben die
»Rhenanen«, daneben die »Sachsen-Preußen«, dann an der Kegelbahn die
»Schwaben« und diesen gegenüber die »Westfalen«.

Käthie half, während Herr Rüder mit prüfendem Blick umherging und sich
die Miene gab, als sei er die Seele des Geschäfts. Er trank mit den
Corpsdienern kleine Schnäpse und gab ihnen mißfarbene Zigarren von
der Sorte, die er von sechs Uhr früh bis zwölf Uhr nachts rauchte.
Hätte man aus den von Herrn Rüder in Jahresfrist verdampften Zigarren
eine lange Stange gebildet, so würde dieselbe nahezu einen Kilometer
Ausdehnung erreicht haben; in die Höhe gerichtet, hätte diese
Tabakstange die höchsten Berge des Odenwalds überragt.

Um halb vier erschienen die Musici, um das ihnen zustehende Faß Bier an
den rechten Platz zu schaffen und dasselbe in Muße anzustechen; dann
wurden von den vier Frauen, den sechs Corpsdienern, den fünf Musici und
Käthie die Lampions an den Bäumen aufgehängt, Herr Rüder inspizierte
noch einmal die Küche, Käthie band eine neue, schneeweiße Schürze um,
und als nun so alles für den Empfang vorbereitet war, spielte die Musik
Tusch, denn Punkt vier betrat »Vandalia« – acht Burschen und zwölf
Füchse – den Garten.

»Holla, Käthie!«

»Wie geht’s?«

Sie war sofort von zwanzig Rotmützen umringt, die ihr die Hände
schüttelten und lachend auf sie einredeten. Während Herr Rüder, der
Onkel, und die vier Tanten sich respektvoll im Hintergrund hielten,
die Musici »Was kommt dort von der Höh’?« spielten und die sechs
Corpsdiener mit ruhiger Höflichkeit Posto faßten, stand Käthie wie eine
kleine Königin in ihrem Kreise.

Ein dicker junger Herr, dessen Backen ganz mit Watte und schwarzen
Binden verpackt waren, fand ihre besondere Teilnahme.

»Armes Tschaperl, haben s’ dich wieder abgestochen? Nein, bist du auch
halt ungeschickt!« Sie nahm seinen dicken Kopf, den er willig herlieh,
in ihre Hände und betrachtete die Verpolsterung. »Geh, so was!«

Aber »Vandalia« behielt die hübsche Käthie nur eine kurze Weile in
ihrem Kreise, denn wieder blies die Musik Tusch, und »Saxo-Borussia«
erschien auf dem Plan, die es nun ihrerseits als ihr gutes Recht
beanspruchte, Käthie die Hände zu schütteln. Und auf »Saxo-Borussia«
folgte »Suevia«, auf »Suevia« »Rhenania«, auf »Rhenania« »Guestphalia«;
die Musici hatten kaum Zeit, zwischen allen Tuschs in Eile einen
Schluck Bier zu trinken; große und kleine Hunde kläfften, der ganze
Garten wimmelte von roten Mützen und blauen, grünen und gelben, und
allenthalben sah man das lachende Gesicht der Kleinen, die immerfort
noch Hände zu schütteln hatte, mit jedem ein Wort tauschen sollte,
jeden kannte und jeden mit Namen nannte.

Dieses eine junge Ding, das von hundert jungen Studenten gefeiert
wurde, allein zwischen den hundert hin und her schritt, alle duzte und
von allen geduzt wurde – das war wirklich ein seltsamer Anblick. Eine
sonnige Unbefangenheit lachte aus ihren hellen Augen, sie nahm die
Huldigungen entgegen wie etwas ganz Selbstverständliches.

[Illustration: Sie nahm seinen dicken Kopf in ihre Hände.]

Zwischen all dem Lärm schallte plötzlich eine Stentorstimme:

»Hierher, Käthie!«

Es war der lange Wedell von den Sachsen-Preußen, der das rief.

Und als sie nicht kam, sondern über den etwas barschen Ruf erstaunt
zu ihm hinüberblickte, trotzig, ärgerlich, stieg er mit seinen langen
Beinen über zwei Stühle weg zu ihr:

»Das verleiht dir Saxo-Borussia, Käthie: das Band. Trag es in Ehren,
Käthie, mach dir, mir, uns, Saxo-Borussia, Heidelberg keine Schande.«

Er nahm das vierfarbige Seidenband seines Corps und legte es dem
verdutzten Mädchen um Schulter und Taille.

Und während die andern Corps überrumpelt und über den seltsamen
Einfall etwas verstimmt herüberschauten, schlugen die Sachsen-Preußen
triumphierend mit ihren Bierseideln auf den Tisch: »Bravo!«

»Sollst leben, Käthie!«

»Prost Käthie!«

Der einzige, der in dieser kritischen Minute, da Saxo-Borussia sich
wieder einmal etwas Extraordinäres erlaubte, die Geistesgegenwart
behielt, war Herr Grimm Vandaliae:

»Käthie!«

»Was?«

»Vandalia giebt dir gleichfalls das Band.« Im Nu hatte er das
rot-gold-rote Band von seiner Weste gerissen und knüpfte es dem
Mädchen um die Brust.

Ganz Vandalia lärmte vor Freude.

»Bravo!«

»Käthie Vandaliae!«

»Käthie, auf dein Spezielles: Einen Ganzen!«

»Einen Ganzen!«

Der Trubel, das Schreien und Freudengebrüll war so groß, daß der
Vertreter Suevias, der kurz entschlossen das Beispiel der andern
nachahmte und Käthie sein gelbes Seidenband um die Taille legte, nicht
zu Worte kam oder wenigstens nur den Nächstsitzenden verständlich war.

Damit war an Suevia die Reihe, in das »Käthie-Geschrei« einzustimmen,
es war ein heilloser, lustiger, toller Lärm.

Rhenania folgte, Guestphalia – willig oder nicht – gleichfalls, und
nun stand das Mädel mit vor Freude glühenden Backen in der Mitte
der lachenden Studenten, alle fünf Seidenbänder um ihre junge Brust
geschlungen, deren kleiner Veilchenstrauß ganz verdeckt war. Rot, blau,
gold, grün, weiß, gelb, schwarz, alle Farben flimmerten im Seidenglanz
auf ihrer weißen Bluse; bald blickte sie lachend und etwas verwirrt im
Kreise umher, bald auf ihre neuen Bänder, die auf ihrer Brust auf und
ab tanzten.

Dann – ohne Ueberlegung wie immer – nahm sie das nächste beste
Bierglas (es gehörte dem kleinen Graumann Rhenaniae) und hob es hoch:

»Ihr seid’s alle lieb! Prost, alle!«

Und mit einem langen Zuge leerte sie das volle Glas.

Da fühlte sie sich umfaßt und emporgehoben. Es war der tolle Fink von
den Vandalen, der sie unter dem Knie ergriffen und wie eine Feder hoch
in die Höhe geschwenkt hatte:

»Käthie soll leben!!«

»Käthie!!«

Sie hielt immer noch das leere Bierglas in der Hand, sie wollte etwas
sagen, vielleicht schelten, aber unter sich sah sie hundert bunte
Mützen, hundert lachende Gesichter, hundert Gläser, die sich ihr
entgegenstreckten, und da lachte sie – lachte – –

Tusch!

Allgemeines Verstummen.

Mitten in dem tollen Lärm war das letzte der Corps im Eingange des
Gartens erschienen, »Saxonia«, das sich verspätet hatte und mit zehn
Mark in Strafe genommen werden würde.

Tusch!

»Saxonia« lüftete feierlich und gemessen zur Begrüßung die Mützen, und
feierlich und gemessen erwiderten die fünf andern Corps den Gruß.

Einen Moment war Käthie vergessen.

[Illustration: Da fühlte sie sich umfaßt und emporgehoben.]

Denn alle Blicke richteten sich gespannt, neugierig, etwas neidisch auf
einen schlanken jungen Herrn, der neben Herrn Bilz, »Saxonias« altem
»erstem Chargierten«, artig seine dunkelblaue Mütze erhoben hatte.

»Das ist er!«

»Da der erste.«

»Welcher? Der neben Bilz?«

»Ja, der.«

Also das war der Erbprinz. Der Erbprinz von Karlburg. Der glänzendste
»Fuchs«, den »Saxonia« je »gekeilt« hatte. Ein veritabler Erbprinz!

»Saxonia« hatte mit dieser Acquisition ein unermeßliches »Schwein«
gehabt. Ein unerhörtes »Schwein«, einen »Dusel« sondergleichen.

Man war sonst nicht neidisch, wahrhaftig nicht, »~suum cuique~«, aber
wie gut hätte sich die Durchlaucht unter dem Sachsen-Preußen-Stürmer
ausgenommen, oder in der roten Vandalenmütze, oder in den
Rheinländerfarben!

Er verneigte sich nach allen Seiten, als ob die Grüße, die seinem Corps
galten, ihm persönlich dargebracht seien, er war ganz offenbar noch
befangen und immer noch nicht im stande, die neuen Verhältnisse wie ein
gewöhnlicher Sterblicher zu betrachten.

Da – –

Bei Gott, das war ein starkes Stück von Käthie!

Alle reckten sich, um das zu sehen!

Sie hatte des Erbprinzen beide Hände grüßend erfaßt!

Aber richtig: sie kannte ihn ja. Er wohnte ja bei der Dörffel.

[Illustration: Sie hatte des Erbprinzen beide Hände grüßend erfaßt.]

Und der Prinz wurde glühend rot im Gesicht, während seine neuen
Freunde, überrascht wie alle andern, um ihn und das Mädchen einen Kreis
schlossen.

»Erlaube, Käthie,« sagte Herr Bilz und machte einen schüchternen
Versuch, sie zurückzuziehen, aber sie beachtete ihn gar nicht.

»O, das ist schön,« sagte sie mit leuchtenden Augen, »das ist zu schön,
daß Sie hierher zu uns kommen. Mit euch.« Sie sah sich um im Kreise,
von Herrn Bilz auf den kleinen Grafen Munster, auf Konrad Gräbenitz und
die andern: »Also nun gehört er zu euch, das ist zu schön.«

Karl Heinrich hatte das Gefühl, daß alle seine neuen Corpsbrüder,
die ihm noch Halbfremde waren, erstaunt ihn musterten, daß der
Regierungsrat, der hinter ihm stand, ganz starr sein müsse, daß alles
– daß er – daß sie – aber ihre beiden kleinen warmen Hände hielten ihn
fest, strömten ihren Lebensmut und ihre Lebensfreude zu ihm hinüber,
und er vergaß alles. Er hörte nicht die Musik, die ihm zu Ehren auf
Kellermanns Anordnung »Heil dir im Siegerkranz« spielte, er sah nicht
die Gesichter ringsumher, er blickte in die zwei dunkeln Augen, die
ihn, glücklich wie die eines Kindes, leidenschaftlich wie die eines
Weibes, anblitzten.

Dann saß er an einem Tische, der eigentlich gar kein Tisch, sondern nur
ein ungehobeltes Tannenbrett war, und hielt vor sich ein großes Glas
Bier und dachte wie Käthie: Es ist zu schön.

Man sprach mit ihm, und er sprach mit den andern, er trank, er sang aus
einem Kommersbuch ein Lied, das die übrigen auswendig konnten, lachte,
antwortete auf jedes, was man ihn fragte, aber er that alles wie im
Traum.

Einer nach dem andern von seinen Corpsbrüdern kam zu ihm, stieß mit ihm
auf Duzbrüderschaft an und nannte ihn dann: »Du« –, das war so seltsam.
Die fünf Musici spielten ein jämmerliches Getön, das ihm zuerst
blechern und unharmonisch erschien, aber mit der Zeit begannen ihre
Lieder weich zu klingen, wie fernher summende liebe Melodien, die er
irgendwann einmal gehört und längst vergessen hatte. Bisweilen sah er
nach dem Doktor, der weiter unten am Tische saß, große Quantitäten Bier
trank und sich ausgezeichnet amüsierte. Und bisweilen streifte Käthie
an ihm vorbei, oder er sah sie drüben durch die Reihen der Tische
gehen; immer fand er ihre Augen.

Dann wurde es Abend, das Schloß drüben am Berge tauchte in die Schatten
der Nacht, in den Häusern von Heidelberg jenseits des Neckars wurden
Lichter angezündet, und nun steckten Herr Rüder und die Corpsdiener die
Lampions an, die über allen Tischen baumelten, in den Bäumen und an
der Ufermauer schaukelten, daß ihr Bunt und das Bunt der Mützen und
das helldurchstrahlte Grün der Büsche eine leuchtende Farbensymphonie
ergaben.

Karl Bilz, der mit seinem melancholischen Schnurrbart neben Karl
Heinrich saß – er war Saxonias bester Fechter, sah aber zwischen
den derben, geröteten Gesichtern seiner Corpsbrüder aus wie ein
verkleidetes Mädchen –, sagte mit seiner leisen Stimme zu dem Prinzen:

»Wenn es dir recht ist, gehen wir eine Weile spazieren.«

»Ja, gern.«

»Man wird müde von dem langen Sitzen.«

Sie gingen durch die Reihen der Tische und den niedrigen, schlecht
erleuchteten Hausflur hinaus auf die Landstraße. Vor dem Zaun standen
Jungen und Mädchen und erwachsene Dirnen, die auf die Musik horchten.
Weiter entfernt vom Hause wurde es ganz still, nur hin und wieder
drückte sich ein Liebespaar im Dunkeln an ihnen vorbei. Der Mond war
noch nicht aufgegangen, die Straße lag im Schatten der Sommernacht, und
je weiter sie gingen, um so leiser und ferner klang die Musik herüber.
Jetzt spielte sie: »Es zogen drei Bursche wohl über den Rhein«, aber es
war nur noch wie ein Verklingen, während rechts in den Neckarwiesen die
Heimchen zirpten und ein paar Frösche quakten.

»Gefällt es dir in Heidelberg?«

Es war nur eine konventionelle Frage, die das Schweigen unterbrechen
sollte, aber in das immer noch verhaltene Glücksgefühl fiel sie wie ein
erlösendes Wort.

»Du?!«

Mit einem eisernen Drucke preßte der Prinz des andern Hände, fest wie
einer, der zum ersten Male im Leben sein Herz öffnen darf.

Der Student war bewegt. Er verstand sicherlich nicht, was in diesem
stürmischen Händedruck lag: die große Sehnsucht eines Menschen, der,
endlich befreit, seines ganzen Lebens Leidenschaft ausströmt – aber er
war stolz, ergriffen.

Der Prinz, der ihn zum Freunde forderte!

Und dann saßen sie wieder an dem Tannentische im Kreise der andern.
Die Laune aller war, wenn möglich, noch lustiger geworden, rings um
den Prinzen lachende junge Gesichter, die ihn hell, freundschaftlich
anblickten. Jeder trank ihm zu:

»Karl Heinrich, dein Wohl!«

»Karl Heinrich, auf dein Spezielles!«

Und er nickte, lachte, stieß mit ihnen an.

In den Nachmittagsstunden war ihm und den andern das »Du« noch
ungeläufig gewesen, jetzt klang es mühelos.

»Morgen gehst du mit auf den Fechtboden, Karl Heinrich.«

»Schön.«

»Roux soll dich einpauken.«

»Wer ist das?«

»Der Fechtmeister.«

»Schön.«

»Wirst du Kolleg hören, Karl Heinrich?«

»Ja, Institutionen und Pandekten.«

»Ach, Unsinn.«

Und man erklärte ihm mit einmütigem Leichtsinn, daß kein Mensch in
Heidelberg Kolleg hört, wenigstens nicht im Mai, am allerwenigsten im
ersten Semester.

[Illustration: »Ich habe in Karlburg tausend Bowlen angesetzt!«]

Er lächelte und hörte den eifrigen Auseinandersetzungen, an denen sich
alle ~unisono~ beteiligten, scheinbar aufmerksam zu, aber ihm war, als
ob in den warmen Sommerabend und seine Lust etwas Kaltes dringe von
fern her, eine graue eiserne Gewalt, die alles zerstören werde. In dem
finsteren Schlosse zu Karlburg saß einer, der ihn hierhergeschickt
hatte, um zu arbeiten. »Das Universitätsjahr soll für Se. Durchlaucht
so aufgefaßt werden, daß dasselbe nicht dem Vergnügen, sondern der
wissenschaftlichen Ausbildung gehört.«

Scheu blickte er nach dem Doktor hinüber, der hierher gesendet war,
um die Ausführung des fürstlichen Willens zu überwachen, aber dieser
Doktor stand vor einer riesigen Steingutterrine, in beiden Händen je
eine Weinflasche, deren Inhalt er in die Terrine glucksen ließ.

»Nein, es gehört keine Zitrone daran!« hörte Karl Heinrich ihn
aufgeregt rufen, und als irgend jemand am unteren Tisch zu
widersprechen schien, hieb der Doktor mit einer der Weinflaschen auf
die Tischplatte und rief fuchsrot vor Eifer:

»Ich habe in Karlburg tausend Bowlen angesetzt! Man wird zum
Donnerwetter doch wissen, ob Zitrone dazu gehört!!« – –

An diesem Abend saß Herr Lutz und wartete zu Hause auf die Heimkehr
Seiner Durchlaucht.

»Ich komme wahrscheinlich nicht vor elf Uhr,« hatte Seine Durchlaucht
gesagt, »Sie können, wenn Sie wollen, Lutz, bis dahin ein Glas Bier
trinken gehen.«

Herr Lutz hatte das gethan, das heißt, er hatte einige Schoppen Rotwein
zu sich genommen, da er Bier nicht vertragen konnte. Der Wein war
nicht schlecht, so daß Lutzens Laune im Laufe des Abends ruhiger und
versöhnlicher wurde als seit Tagen.

›Man soll nichts,‹ dachte er, ›auf die Spitze treiben; lieber in dieser
verfluchten Universitätsstadt ein Jahr ausharren als querulieren. Man
setzt sich dabei doch nur in die Nesseln.‹

Um halb elf ging er, wie alle Bürgersleute, heim, zündete in den
Zimmern die Lampen an, ordnete Seiner Durchlaucht Schlafgemach und
schaute dann aus dem Fenster. Er gähnte etwas, aber er war noch nicht
müde.

Immerhin hätte Seine Durchlaucht jetzt nach Hause kommen können.

Elf Uhr. – –

Der Beruf eines Kammerdieners höchster Herrschaften ist seltsam, ernst.
Lutz kannte viele seiner Kollegen: die ihm auf Reisen an fremden Höfen
vorgestellt waren, Rosanoff, Kroll, Bietingsfeld, Männer, in deren
Händen zuzeiten Europas Geschicke lagen. Vor allen an Rosanoff mußte
er denken. Welch ein Mann! Er sah aus wie ein russischer Staatsrat und
trug den Medschidje-Orden. Oder Bernhuth, erster Kammerdiener Seiner
Hoheit des Herzogs von Koburg. Ein Bonhomme, liebenswürdig, fein,
gütig gegen Untergebene und von freiester Ungezwungenheit im Verkehr
mit den Großen. Oder Legrand, den man auf eine halbe Million schätzte,
oder Schäffer, dessen Glück bei Frauen – selbst denen der höchsten
Kreise – einen ganzen Sagenkreis geschaffen hat.

Mitternacht. – –

In Karlburg ging man um elf Uhr schlafen, in einem behaglich
durchwärmten Zimmer. Man trank einen Schluck alten Rotweins, ehe man
das Licht löschte, und dehnte sich dann müde, zufrieden unter der
weichen seidenen Decke. Ein geregeltes Leben erhält den Menschen
gesund, früh zu Bett ist eine goldene Lebensweisheit. In diesem
gottverfluchten Ort war das alles anders.

Ein Uhr. – –

Herr Lutz fuhr auf. Er war auf dem Rohrstuhl am Fenster eingenickt,
jetzt schmerzte ihm der rechte Arm, der auf dem harten Fensterbrett
aufgestützt gelegen hatte. Ja, zum Donnerwetter, was sollte das
heißen?! Ein Uhr und noch nicht zu Hause! Wenn jemand sagt: »Ich komme
um elf«, dann hat er um elf da zu sein! Ein kühler Nachtwind strich
durch das geöffnete Fenster, der Herrn Lutz husten machte. Er hatte
sich während des kurzen Schlummers erkältet, ganz ohne Frage.

Er ging auf und ab in den Zimmern, ruhelos auf und ab, verärgert,
todmüde, – bis es drüben auf dem Kirchturm zwei Uhr schlug.

Ganz plötzlich erfaßte ihn eine Angst: es ist etwas passiert! Man hat
den Prinzen ermordet! Es war eine lächerliche Idee, die er sich bald
wieder ausredete, aber eine Unruhe erfaßte ihn, die sich nicht mehr
vertreiben ließ. Er nahm einen der altmodischen Britannialeuchter und
trat damit hinaus auf den Korridor. ›Ich werde die Wirtin wecken,‹
dachte er, ›die Person muß aufstehen und mir Gesellschaft leisten.‹
Er pochte erst mit dem Knöchel des Zeigefingers, dann mit der ganzen
Faust an die Stubenthür der Frau Dörffel, aber niemand antwortete. Er
drückte auf die Thürklinke, die sofort nachgab, und leuchtete in das
etwas muffige Zimmer: Niemand da! Das Bett leer! Das Bett des jungen
Frauenzimmers gleichfalls leer! Nachts um halb drei!

In der Ecke regte sich etwas, es war die Hauskatze, aber dieses leise
Geräusch erschreckte Herrn Lutz in der unheimlichen Stille dermaßen,
daß er leichenblaß wurde. Er warf die Thür hinter sich zu und stand
wieder in dem weiten Korridor mit seinen grauen Ecken und Schatten.
Niemand in dem nächtlichen Hause, er mutterseelenallein.

[Illustration: In der Ecke regte sich etwas.]

Als es vier Uhr schlug, war Lutz ein kranker Mann. Er saß mit blassem
Gesicht ohne Ausdruck, die dünnen Lippen etwas zitternd, das Hirn
ganz leer. Er konnte nichts mehr denken, was er in dieser Nacht
nicht schon gedacht hatte; er wußte nur eins: daß nie ein Mann seiner
Stellung in so nichtswürdiger Weise zu Boden gedrückt war.

Er sah, wie auf dem schwarzen Dache der Kirche sich die ersten grauen
Töne des herandämmernden Morgens malten, bis sie heller wurden, weiß,
dann alles ein einziger heller Sonnenschein. Draußen piepsten die
Spatzen, der Morgen war da.

»Lutz! He, Lutz!«

Er fuhr auf, irgend jemand hatte ihn an der Schulter gerüttelt, er
hatte geschlafen und rieb sich nun, noch ohne rechte Besinnung, die
Augen.

»Das ist recht, Lutz, daß Sie geschlafen haben,« sagte der Prinz, »das
freut mich. Es ist etwas spät geworden oder vielmehr etwas früh.« Und
zu einer Anzahl Menschen, die das Zimmer füllten, sagte er: »Das ist
nämlich Lutz, mein treuer Kammerdiener; ich stelle ihn hiermit euch
feierlich vor.«

Lutz war gewiß ein Mann, der das »Sichwundern« in einem bewegten
Hofleben längst verlernt hatte, aber momentan fand er sich mit seinen
übermüdeten, bleischweren Augen nicht zurecht. Auf allen Stühlen,
Sesseln, Sofas, auf dem Tisch, auf dem Klavier, auf der Fensterbank
saßen Menschen, Kerls mit Studentenmützen und bunten Bändern. Irgend
einer spielte auf dem Klavier das Lied von Madame Angot – wie Lutz
nach einiger Zeit konstatierte, war es der Regierungsrat –, drei
kolossale Köter strichen um Lutzens Beine und beschnüffelten ihn, alles
lachte, lärmte, rauchte, und inmitten dieser Räuberbande stand das
junge Frauenzimmer von drüben und fragte: »Also siebzehn Tassen Kaffee!
Zählt mal.«

[Illustration: Irgend einer spielte auf dem Klavier das Lied von Madame
Angot.]

Karl Heinrich zählte: »Siebzehn, stimmt. Lutz, gehen Sie, bitte, mit in
die Küche, damit die Sache rasch geht.«

Und Lutz ging.

Seine Kraft war gebrochen, sein Widerstand zu Ende. »Das ist recht,
Lutz, daß Sie geschlafen haben,« fortwährend summte ihm diese Redensart
des Prinzen im Ohr. Das klang so, als hätte er seine gute, ernste
Nachtruhe gehabt, während er keine zehn Minuten geschlummert hatte.

»Gehen S’, helfen S’ mal a bissel, geben S’ mal die blauen Tassen da
vom Brett. Ja, die.«

Er that’s.

Man schrie nach Cognac, er holte Cognac.

Man wünschte Zigarren, er brachte Zigarren.

Die Hunde sollten in der Küche Wasser zu trinken bekommen, er lockte
die drei Wölfe hinaus und erfüllte auch deren Wünsche. Der eine knurrte
ihn auf dem Korridor bösartig an, aber Herr Lutz dachte gottergeben:
›Beiß mich tot, das ist auch egal.‹

Morgens um sechs war Herr Lutz wieder allein, Prinz, Doktor, Studenten,
Hunde polterten die Treppe hinunter, und die verlassenen Zimmer sahen
nach der einen Stunde aus wie ein Schlachtfeld. Allenthalben lagen
Asche, Zigarrenstummel, eine Cognacflasche war umgeworfen, Tassen,
Gläser standen in wüster Unordnung, ein Stuhl war zerbrochen und die
Luft so voll Tabakgestank, daß Lutz übel wurde.

»Wir gehen aufs Schloß,« hatte Karl Heinrich gesagt; »mittags komme ich
nach Haus und schlafe dann eine Stunde.«

Also dieser Prinz war ein Wüstling geworden, Herr Lutz der Kammerdiener
eines Wüstlings.

So würde das fortan jeden Tag gehen.

Und Herr Lutz ballte in ohnmächtigem Grimm die Faust gegen die sonnige
Stadt: »Heidelberg!«

[Illustration]



Fünftes Kapitel.


An dem Nachmittag, da Karl Heinrich in einer Droschke nach Hause
befördert wurde, den Kopf zerprügelt, die linke Backe zerfetzt, so
gründlich »abgestochen«, wie es einem nur im ersten Semester bei der
allerersten Mensur ergehen kann, – an diesem Nachmittag erwachte
der Doktor aus dem leichtsinnigen Bummelleben zu einer greulichen
Ernüchterung.

Wenn man das in Karlburg erfuhr!

Unerhört, unerhört!

Und wenn man dann weiter nachforschte und alles andre erfuhr! Daß Karl
Heinrich nie und absolut nie Kolleg besuchte! Daß er zu Pfingsten eine
Spritzfahrt nach Mailand unternommen und sehr anständige Schulden
kontrahiert hatte! Dann vor allem die Liebesgeschichte mit der
Kellnerin, die in Heidelberg die Spatzen von den Dächern pfiffen!

Schauderhaft!

Aber diese Paukerei setzte allem die Krone auf!

[Illustration: Wie ein Rasender kam der Doktor in Karl Heinrichs
Zimmer.]

Man hatte ihm, dem Doktor, nichts davon gesagt, die Geschichte war
hinter seinem Rücken vorgegangen, – ein Skandal.

Wie ein Rasender kam er in Karl Heinrichs Zimmer.

»Durchlaucht!«

»Doktor?«

»Jetzt hab’ ich’s satt!«

»Was?«

»Alles. Ich lege mein Amt nieder, ich schreibe nach Karlburg, noch
heute. Gut, ich habe die Schuld, ~bon~, aber länger seh’ ich das nicht
an.«

»Aber Doktor –?«

»Wär’ man nie hierher gekommen! Wo ein Mensch wie ich, von
fünfunddreißig Jahren, ein gesetzter Mann, alle Pflicht und Ordnung
vergißt! Man ist hergekommen, um sich zu erholen und mäßig zu leben,
und statt dessen lumpt man herum und richtet sich zu Grunde. Wie seh’
ich aus! Verfallen! Vollständig verfallen!«

Er sah wirklich nicht gut aus, und Karl Heinrich fühlte ein
aufrichtiges Mitleid.

»Lieber Doktor, das geht auch nicht länger. Sie müssen sich schonen,
fleißig spazieren gehen und weniger schlafen. Sie müssen nach der Uhr
leben, Doktor.«

Aber nichts konnte der Doktor so schlecht vertragen, als wenn jemand
seinen Selbstanklagen beipflichtete.

»Ich spreche nicht von mir, Durchlaucht, ich spreche von Ihnen. Daß
_Ihr_ Leben nicht so weiter geht! Ich lege meine Stellung nieder,
es ist abgemacht. Ein kranker Mensch wie ich, der keine fünf Jahre
mehr zu leben hat, keine drei, keine zwei, nicht eins, der kann nicht
Erzieher spielen, am wenigsten hier in Heidelberg.« Dann plötzlich
schlug seine heftige Erregung in das Gegenteil um: »Ach, Karl Heinz,
ich wollte, wir wären nie hierher gekommen.«

Den Nachmittag und die darauffolgende Nacht spielte er Krankenwärter,
und als er einige Flaschen Wein getrunken hatte, war er wieder in
bester Stimmung.

»Das ist das Niederträchtige,« sagte er, »daß man nur noch durch
Alkohol in Laune gehalten wird,« aber er sagte das ganz heiter und
fröhlich.

Noch zu verschiedenen Malen machte er den Versuch, Karl Heinrich ins
Gewissen zu reden, aber es ging ihm wie dem Zauberlehrling, der die
schlimmen Geister heraufbeschworen hat und sie nicht mehr zurückbannen
kann.

Merkwürdig, wie der Prinz sich in den wenigen Monaten verändert hatte.
Auch im Aeußern. Sein ganzes Auftreten war fest und bestimmt geworden,
das Gesicht hatte etwas Energisches angenommen, und die Hiebnarben
gaben ihm einen martialischen Zug. Es gab keinen tolleren Studenten
in Heidelberg – vielleicht den langen Wedell von den Sachsen-Preußen
ausgenommen –, aber in Karl Heinrichs großen und kleinen Narrheiten,
seinen Kneipfahrten, Mensuren, Streifereien lag stets etwas vom
Grandseigneur. Es war immer – auch in der trunkensten Stimmung –, als
ob er um einen Kopf über die andern hinausrage und sich den tollen Ulk
aus der Vogelschau ansehe.

So kam der Doktor mit seiner Erzieherrolle in eine immer schiefere
Lage. Er war nicht mehr der Vormund, sondern Karl Heinrich fing an,
gleichsam _ihn_ zu bemuttern.

Punkt neun Uhr mußte der Doktor aufstehen, Punkt zwölf ins Bett, zwei
Stunden zwang man ihn, spazieren zu gehen, – aber diese energische Kur
hätte für den Regierungsrat viele Monate, vielleicht viele Jahre eher
verordnet werden müssen.

»Ja, Karl Heinrich, zwing mich,« sagte er häufig, »zwing mich!« – aber
viel öfter war er über diesen Zwang außer sich: »Zum Kuckuck, laßt mir
diese paar letzten Jahre! Nein, ich gehe nicht spazieren, ich bin müde,
ich habe keine Lust; Käthie, einen Schoppen Roten!«

Aber der Prinz war zäh: »Keine Sperenzien, Doktor, vorwärts! Wir gehen
zusammen auf den Königsstuhl, ~allons~!«

Eher, als man gedacht hatte, wurde der arme Doktor von diesen und
andern Spazierstrapazen erlöst. Denn eines Tages wurde auf Karl
Heinrichs dringende Ordre Herr Geheimrat Professor Doktor von Michaelis
konsultiert, der kurzen Prozeß machte und den Regierungsrat in die
Klinik schickte.

Er bekam da ein sehr hübsches Krankenzimmer mit einem famosen Balkon,
der einen netten kleinen Rauchtisch enthielt, ein außerordentlich
bequemes Kanapee und all die Ausstattung, die der Doktor für seines
Lebens Wohlfahrt beanspruchte. Da lag er nun tagein tagaus, blinzelte
in die Sonne, erhielt viele Besuche von Karl Heinz und dessen
Corpsbrüdern, trank, rauchte, spielte Skat und fand sein Dasein so
angenehm wie seit langer Zeit nicht.

[Illustration: Da lag er nun tagein tagaus.]

»Hier werde ich wieder gesund,« sagte er, »das fühle ich.« Der
Geheimrat mit seinem überlegenen, feinen Lächeln hatte ihm einige
kleine Verhaltungsmaßregeln gegeben: »Kein Bier, keine Kartoffeln«,
und da der Doktor beides nicht übermäßig liebte, sondern einen guten
Tropfen Wein jedem Bier vorzog, so achtete er peinlich auf die
Durchführung dieser Vorschriften.

Er hätte ruhig Bier trinken und ruhig Kartoffeln essen können, aber
Kranke, denen man nichts mehr verbietet, verlieren die Hoffnung.

Karl Heinrich war wochenlang tief verstimmt. Der erste graue Schatten
war in die sonnige Fröhlichkeit von Heidelberg gefallen. Er wußte
nicht, daß seine Tage in der heiteren Stadt ebenso gezählt waren wie
die des Doktors, freilich in anderm Sinne. Und während der Doktor die
karg gemessene Zeit mit einer Gemütsruhe und guten Laune durchlebte,
die selbst den Geheimrat in Staunen versetzten, war der Prinz trübe und
in sich gekehrt.

Er saß ganze Tage auf dem engen Balkon neben dem Doktor, als ob es
seine heilige Pflicht sei, ihm beständig Gesellschaft zu leisten; bis
eines Tages diesem selbst die Geduld riß.

»Du hast eine Art, Karl Heinrich,« sagte er – in sehr guter oder sehr
schlechter Laune duzte er den Prinzen wie einst –, »hier zu sitzen
und zu thun, als ob ich todkrank wäre! Zum Donnerwetter, so weit ist
es denn doch noch nicht. Lauf herum, amüsiere dich, aber schneid hier
keine Gesichter, als ob ich im Sterben läge.«

Der Prinz war so verdutzt, daß er keine Antwort fand, aber der Doktor
ließ ihm dazu auch wenig Ueberlegung:

»Mein lieber Karl Heinz, du verschwendest, und zwar das Beste, was
der Mensch hat: die Zeit, die Jugend! Du denkst auch, du sitzest
hier ewig in Heidelberg, bei deinen Freunden, bei dieser niedlichen
kleinen Käthie ~et caetera~. Das ist ein Handumdrehen, dann ist das
Jahr vorbei. Jede Stunde, die man verpaßt, ist verloren, kommt nicht
wieder, ist ›~temps perdu~‹. Ob jemand Prinz ist oder ein andrer
Sterblicher, das ist dabei ganz einerlei. Schenk mir, bitte, mal ein,
die Flasche steht da in der Ecke. – Ich war auch mal jung, habe auch
immer gedacht: es ist noch Zeit, es ist noch Zeit, bis es glücklich zu
spät geworden ist. Also los, amüsiere dich. Komm morgen mal gar nicht.
Komm übermorgen, und dann höchstens ’ne Stunde. Gieb mir, bitte, die
Kiste herüber, da rechts, die Zigarren. ~Merci!~ Wie man hier liegt,
ausgezeichnet! Sieh mal die nette Kleine da drüben, auf dem Balkon, ein
lieber kleiner Kerl. Wie sie herschaut! Zum Donnerwetter, wer noch mal
jung wäre!« ...

In der nächstfolgenden Woche machte »Saxonia« eine Spritzfahrt
durch den Schwarzwald. Alle Tage erhielt der Doktor engbekritzelte
Postkarten, auf denen ihm mitgeteilt wurde, wieviel Ganze man in
Gernsbach, Baden, Freiburg, auf dem Feldberg und in jedem Bierdorf auf
sein Spezielles getrunken habe. Wenn die Gesundheit in der That durch
derartige Trankopfer würde gekräftigt werden können, so hätte der arme
Doktor in dieser kurzen Frist vollständig gesunden müssen.

Karl Heinrich kam mit verbranntem Gesicht und glänzender Laune
wieder. Sein erster Gang war zu Käthie, die ihn mit ihrer stürmischen
Leidenschaftlichkeit empfing, der zweite in das Krankenhaus. Vielleicht
rötete die Freude des Wiedersehens des Doktors etwas eingefallene
Backen, jedenfalls bewillkommnete er ihn mit strahlendem Gesicht:

»So ist es recht, Karl Heinz! In der Welt herum mit den andern! Nur
nicht hinter dem Ofen sitzen und langweilige Gesichter ziehen. Klingle
mal, wir wollen eine Flasche Steinwein trinken. Was macht die Käthie?
Die ist wohl heute außer sich? War sie am Bahnhof? Nein? Weshalb nicht?
Ein liebes Mädel! Nun erzähl mal. Wart ihr in Straßburg? Junge, siehst
du brillant aus! Verbrannt wie ein Neger. Wie’s mir geht? Gut. Diese
Ruhe hier, die thut dem Menschen wohl. Wart ihr in Wildbad? Reizend,
was? Ach, der ganze famose Schwarzwald! Schenk ein, Karl Heinz, dein
Wohl!«

Vielleicht ging es dem Doktor wirklich besser, und der Geheimrat
und seine Assistenzärzte hatten wieder einmal zu schwarz gesehen.
Jedenfalls war der Doktor nie besserer Laune als in diesen bequemen
Ruhetagen seiner Krankenzeit, und auch Karl Heinrich fand damit seine
lustige Stimmung wieder.

An einem der letzten Tage des Juli gab er dem Corps ein Fest bei
Rüders. Es ging hoch her, das gegenüberliegende Schloß wurde spät
abends bengalisch beleuchtet, und ganz Heidelberg samt allen Fremden
versammelte sich am Neckar, um das feenhafte Schauspiel zu betrachten.
Der Doktor konnte das wundervolle Bild nur von seinem einsamen Balkon
aus bewundern, während Karl Heinrich, der Held des Tages, gleichfalls
von der großen Menge sich getrennt hatte. Er saß neben Käthie in
Rüders etwas gebrechlichem Kahne, den Herr Kellermann stromaufwärts
rudern mußte. Denn kein Mensch in Heidelberg war besser geeignet,
ein Liebespaar bei solcher Nachtfahrt zu begleiten, als eben Herr
Kellermann. Er sah nichts und hörte nichts, er hatte beständig mit den
widerspenstigen Ruderriemen zu thun, die ihn ärgerten und alle seine
Aufmerksamkeit absorbierten. Er hatte die Gewohnheit, leise vor sich
hin zu reden, ein beständiges Gemurmel, das aus Behagen, Mißbehagen,
Reminiscenzen und augenblicklichen Einfällen, Unsinn und Sinn sich
wunderlich zusammensetzte:

»Dummes Zeug – Ruder – jawohl – Wasser – spät – gut – morgen früh – mal
hinschicken – holen – verflucht – alle Stiefel –« und so weiter.

[Illustration: Als dann das Schloß auf dem Berge zu leuchten begann ...]

Als dann das alte Schloß in seiner Nachteinsamkeit drüben auf dem Berge
zu leuchten begann, Fenster um Fenster der alten Ruine im roten Feuer
erglänzte und Karl Heinrich entzückt in dem schwankenden Kahn sich
erhob, wandte Herr Kellermann keinen Blick zur Seite. Was gingen ihn
Schloß und Feuerwerk an. Er hatte das in dreißig Jahren Dutzende von
Malen gesehen, er hatte mehr zu thun, als auf solche Faxen zu achten.

Langsam verglimmten drüben die Flammen, nur wenige Fenster des weiten
Schlosses leuchteten noch, bis ihr Feuer und ihr letzter Wiederschein
im Neckar erloschen.

Der Kahn glitt in Nacht und Totenstille, Karl Heinrich und Käthie saßen
eng aneinander geschmiegt, stumm, nur Herrn Kellermanns Murmeln und die
leisen Ruderschläge unterbrachen das Schweigen.

So fuhren sie lange stromauf, bis Käthie unruhig wurde.

»Wir müssen heim.«

Und wirklich, es war Mitternacht vorbei.

»Kellermann, wir müssen umdrehen; lassen Sie den Kahn treiben.«

»Hm!«

»Zünden Sie sich eine Zigarre an, Kellermann.«

»Hm!«

Das Streichholz flackerte auf und beleuchtete sekundenlang das alte,
verwitterte Gesicht.

Der Prinz kannte den Alten nun schon seit Monaten, aber in diesen
wenigen Augenblicken war es ihm, als ob er diese müden Züge zum
erstenmal sehe.

»Wie alt sind Sie, Kellermann?«

Eine Weile antwortete Herr Kellermann nicht, denn die Frage schien ihm
so neu und eigenartig, daß sie ihn aus dem Konzept brachte.

»Fünfundsechzig.«

Fünfundsechzig! Und jede Nacht im Gange, den ganzen Tag im Gange,
immer etwas langsam, aber immer willig, ein armer Kerl, der auf
zwanzig Herren hören muß und es keinem ganz recht machen kann. Kein
lustiges Original, wie es eigentlich zu den Studenten gehört – so ein
Possenreißer, über den man beständig lachen könnte –, nur ein müder
Mensch, der Semester für Semester neue Herren bekommt.

»Haben Sie Familie, Kellermann?«

Der Alte blickte erstaunt, fast mißtrauisch. Das hatte ihn – wenigstens
in dem Tone – noch keiner der Studenten gefragt. Seine Frau trat nur
insofern bisweilen in die Erscheinung, als sie die Wäsche der Studenten
wusch.

Aber Karl Heinrich ließ in seinen Fragen nicht locker, während Käthie,
die, für Herrn Kellermann in der Dunkelheit fast unsichtbar, ihren Kopf
an des Liebsten Brust gelegt hatte, ihn unterstützte:

»Antworten S’ doch, Kellermann, reden S’ doch.«

Und beide, in ihrer weichen, glücklichen Stimmung doppelt empfänglich
für die Leiden eines andern, fragten abwechselnd mit so viel Eifer und
Teilnahme, bis Herrn Kellermanns kleine, trübe Lebensgeschichte zu Tage
gefördert war.

Fast zum erstenmal in des Prinzen Leben trat diesem die schwere
Daseinssorge eines Menschen handgreiflich nahe.

»Kellermann –«

»Was?«

»Kellermann, wenn ich später einmal nicht mehr hier bin und Sie geraten
in irgend welche – welche Not, dann wenden Sie sich an mich, hören Sie?«

Der Alte antwortete nicht, aber Käthie legte ihre Arme um Karl
Heinrichs Hals und flüsterte ihm etwas ins Ohr, vielleicht einen Dank.

»Sie verstehen allerlei vom Trinken, Kellermann« – Karl Heinrich suchte
zu lächeln; – »wenn ich später einmal Fürst bin, dann kommen Sie zu
mir. Sie sollen mein Kellermeister werden, das paßt auch zu Ihrem
Namen, was?«

Da kam aus dem Dunkeln eine schwielige Hand, die vorwärts tastete, erst
versehentlich Käthies Hand ergriff, daß Käthie zum Tode erschreckt
aufschrie, dann unbekümmert weiter suchte und endlich des Prinzen Hand
faßte und zusammenpreßte.

Dann glitt der Kahn wieder in tiefem Schweigen.

Herrn Kellermanns Zigarre leuchtete wie ein roter Punkt, und Karl Heinz
und Käthie saßen stumm nebeneinander, andächtig, bewegt, glücklicher
als je. Sie küßten sich auch nicht mehr, sie hielten sich nur fest
umarmt, und Käthie summte traumverloren ein altes böhmisches Volkslied,
das sie drunten an der Donau als Kind gelernt hatte. – –

Drei Depeschen waren im Lauf des Abends in kurzen Intervallen für Seine
Durchlaucht in Heidelberg eingetroffen, die – da sie sämtlich aus
Karlburg kamen – Herrn Lutz nachdenklich stimmten und ihn schließlich
veranlaßten, in eigner Person Rüders Gasthaus aufzusuchen. Er kannte
dieses Lokal ebensowenig wie alle die übrigen Kneipen, die Seine
Durchlaucht zu frequentieren beliebte, und er war auch keineswegs
verwundert, als der Gastwirt Rüder ihm mitteilte, daß Seine Durchlaucht
momentan nicht anwesend sei, jedenfalls aber bald wiederkommen werde.
Seine Durchlaucht war von zwölf Uhr mittags bis morgens drei nie zu
finden, nirgends, das war Herr Lutz längst gewöhnt. Einer der ersten
Grundsätze höfischen Lebens ist der, daß auf Minute und Sekunde
Mahlzeiten, Spaziergänge, Reisen und so weiter geregelt sind, daß man
in jedem Augenblick über Thun und Lassen hoher Herrschaften orientiert
ist; Seine Durchlaucht der Erbprinz lebte im genau entgegengesetzten
Sinne.

Nicht daß Herr Lutz sich darüber ärgerte, o, er hatte das Aergern
längst aufgegeben. Was allein in diesem Lotterleben ihn bedrückte, war
das deutliche Empfinden, daß er selbst – Lutz – dabei langsam bergab
ging. Er legte auf seine äußere Erscheinung nicht mehr die peinliche
Sorgfalt wie früher, und das blendende Weiß seiner Krawatten wurde
matt. Niemand fragte nach ihm, kümmerte sich um ihn, seine Thätigkeit
war gleich Null, also wozu?

Selbst das feine und sichere Gefühl für die Schranken, welche Stand
und Bildung ihm auferlegten, ging Lutz allmählich verloren. Es kam
vor, daß er, von Langweile verzehrt, abends stundenlang bei den alten
Weibern in der Küche saß und mit ihnen Kaffee trank! Er sank, er war
eigentlich nur noch ein Bedienter, er verlor die Selbstachtung. Sein
matter Zeitvertreib wurde der Verkehr mit einem Dienstmädchen aus der
Nachbarschaft, mit dem er sich bisweilen traf, aber die Person ließ
durchblicken, daß sie Lutz’ Frau zu werden beabsichtige, – so ließ er
auch diese flüchtige Liaison fallen.

Gegen halb elf war Herr Lutz mit seinen drei Depeschen bei Rüders
eingetroffen, aber es hatte längst Mitternacht geschlagen, ohne daß von
Seiner Durchlaucht etwas zu sehen war.

Dann ganz plötzlich bemerkte Herr Lutz seinen Herrn. Seine Durchlaucht
stand inmitten des tollen Lärms zwischen den Studenten. In der Rechten
hielt er ein Bierglas, in der Linken den Schläger, die blaue Mütze saß
ihm tief im Nacken, er schien eine Ansprache zu halten. Gleich darauf
erhob sich ein unsinniges Gebrüll, man hieb mit den Gläsern auf den
Tisch, daß es krachte, und Karl Heinrich stand lachend in der Mitte,
mit blitzenden Augen rechts und links schauend.

Gravitätisch, ernst ging Herr Lutz durch die Reihen und machte hinter
dem Prinzen Halt.

»Eure Durchlaucht –«

»~Silentium!~ Der ~cantus~: ›Von allen den Mädchen so blitz und so
blank –‹«

Die Musik setzte ein, da verbeugte sich Herr Lutz zum zweitenmal:

»Eure Durchlaucht –«

Aber der Prinz sah ihn nicht, niemand sah ihn. Zwischen den Tischen
liefen die Kellner mit den Bierseideln, stießen vorbeigehende Studenten
Herrn Lutz absichtslos, aber auch rücksichtslos hin und her, dann
begann tief einsetzend das Lied:

    »Von allen Mädchen so blitz und so blank
    Gefällt mir am besten die Lore ...«

Und verärgert, halb verzweifelt verbeugte sich Herr Lutz hinter Karl
Heinrich zum drittenmal:

»Eure Durchlaucht –«

    »Sie ist mein Gedanke bei Tag und bei Nacht
    Und wohnet im Winkel am Thore ...«

[Illustration: Blaß vor Grimm stand Herr Lutz.]

Blaß vor Grimm stand Herr Lutz; in seinem schwarzen distinguierten
Anzug sah er zwischen der lustigen, halbtrunkenen Rotte, aufrecht
stehend und gelblichfahl im Gesicht, wie ein unheimlicher Gast aus,
der nur darauf wartet, seine Hand zum Unheil auszustrecken.

Da stieß Karl Bilz, der neben dem Prinzen saß, diesen an:

»Karl Heinz, da ist jemand, da hinter dir –«

»Wo? – Lutz?«

»Eure Durchlaucht –«

»Was giebt’s?«

»Eure Durchlaucht, es sind dringende Depeschen gekommen, von Karlburg.«

Der Prinz verfärbte sich.

Und während der zweite Vers des Loreliedes durch den nächtlichen Garten
dröhnte, brach er die Blätter der Telegramme auseinander und las:

»Eurer Durchlaucht hiermit ergebene Mitteilung, daß Seine
Hochfürstliche Durchlaucht ernstlich erkrankt sind und Eure Durchlaucht
ersuchen lassen, möglichst im Laufe nächster Tage auf einige Zeit nach
Karlburg zu kommen.«

Die Depesche war von dem Hofmarschall gezeichnet, ebenso die beiden
folgenden, deren erste eine kurze Skizze der Krankheit gab, während
die zweite etwas beruhigender lautete und Seine Durchlaucht bat, die
Krankheit einstweilen keinesfalls als lebensgefährlich anzusehen.

Er wandte sich um:

»Es ist gut, Lutz, gehen Sie. In einer Stunde komme ich nach Hause.
Packen Sie die Koffer, wir reisen morgen abend.«

Die wenigsten hatten den kleinen Zwischenfall bemerkt, und als eine
Viertelstunde später Karl Heinrichs Platz an der Tafel leer war,
beachtete das niemand.

Am Ausgang des Gartens blieb der Prinz stehen und sah sich noch einmal
um.

Wie nun, wenn die Krankheit sich lang hinzog und ihn Wochen oder gar
Monate an Karlburg fesselte?

Wenn er – möglich war auch das – nie mehr nach Heidelberg zurück
könnte? Aber er raffte sich zusammen und ärgerte sich über seinen
Kleinmut. Das war seine Art, alles im hellsten oder dunkelsten Lichte
zu sehen, eine weibische, schwächliche Art, wie sie Leuten eigen ist,
die nie ernstlich mit dem Leben gekämpft haben. Und mißgestimmt über
sich selbst, vergaß er sogar, Käthie gute Nacht zu sagen.

[Illustration]



Sechstes Kapitel.


Als er am nächsten Mittag in das Krankenhaus kam, um sich von dem
Regierungsrat zu verabschieden, lag dieser auf seinem Bett, das die
Wärter auf den schmalen Balkon gerollt hatten. Man blickte von da aus
auf das Schloß und den Königsstuhl, aber die Aussicht war heute trübe,
weil ein feiner Regen niederging, der von den Bäumen den Staub wusch
und nach der erstickenden Hitze der letzten Tage ein wahres Labsal bot.

Der Doktor lag matt in den Kissen und lächelte dem Prinzen müde
entgegen, aber bei dessen ersten Worten schnellte er auf:

»Abreisen?! Nach Karlburg?!«

Er nahm die Depeschen und las sie in fiebernder Hast, dann noch einmal,
dann lehnte er sich schwer zurück und blickte, ohne ein Wort zu sagen,
an Karl Heinrich vorbei in den dichter fallenden Regen.

»Da ist doch nichts zu machen, lieber Doktor?«

»Nein, da ist nichts zu machen.«

»Ich reise heute abend.«

»Hm!«

»Nach acht oder vierzehn Tagen, denke ich, werde ich zurück sein.«

»Möglich.«

[Illustration: Er las die Depeschen in fiebernder Hast.]

»Und während der Zeit, lieber Doktor, brauchen Sie sich nicht zu
fürchten. Ich habe mit meinen Corpsbrüdern gesprochen: jeden Morgen
und jeden Nachmittag kommt einer her, um Sie zu besuchen. Wenn Sie es
wünschen, lasse ich Ihnen auch Lutz hier zur Bedienung.«

Der Doktor lächelte schwach: »Nein, danke, danke herzlich!«

Und Karl Heinrich lächelte auch; Herr Lutz und der Regierungsrat
hatten nie zusammengepaßt, hier im Krankenhause würden sie sich am
allerwenigsten verstehen.

Aber dann lächelte er nicht mehr. Der Doktor hatte sich in diesen
letzten Tagen seltsam verändert, das runde Gesicht war fast hager
geworden, die Hände lagen schmal und weiß auf der blauen Steppdecke,
müde ineinander gefaltet, wie kraftlos.

Der Gedanke beherrschte ihn immer mehr: es geht mit ihm zu Ende.

Plötzlich fanden sich ihre Augen. Er wollte zur Seite schauen, aber
er konnte nicht. Vielleicht versuchte auch der Doktor zur Seite zu
schauen, aber er fand noch weniger die Kraft. So blickten sie einander
wie magnetisch gefesselt, sekundenlang an, bis es Karl Heinrich heiß
aufstieg. Er biß die Zähne aufeinander und versuchte, gleichgültig in
die Luft zu starren.

Wie aus einer weiten Ferne hörte er den Doktor dann reden:

»Ob früher oder später, Karl Heinz, das ist ja so gleichgültig.
Schöner kann man sich den Abschied nicht wünschen als hier. Man braucht
kein Poet zu sein, um damit zufrieden zu sein. Man schläft ein, ganz
ruhig. Wir wollen lieber von dir sprechen, Karl Heinz. Du sagst, du
kommst wieder, in acht Tagen oder in vierzehn Tagen, es mag sein. Aber
es mag auch sein, daß du nicht wiederkommst. Bleib jung, Karl Heinrich,
das ist alles, was ich dir wünsche. Bleib so, wie du bist, und wenn sie
dich anders machen wollen – alle werden das versuchen –, dann kämpfe
dagegen. Bleib ein Mensch, Karl Heinz, mit deinem jungen Herzen ...
Vielleicht kommt einmal eine Zeit, in der du an diese Heidelberger
Tage und an mich mit andern Gefühlen denkst als heute, vielleicht mit
Mißachtung oder gar mit Zorn. In der du dir sagst: ›Ich hätte damals
nicht so tief hinabsteigen sollen zu den Menschen und meine Würde
anders wahren müssen.‹ Sie werden dir alle vorreden, das sei wirklich
so, und diese kurze Spanne Zeit sei ein unschöner Mißton in deinem
Leben. Aber glaube ihnen nicht.«

       *       *       *       *       *

In dem gleichmäßig plätschernden Regen ging der Prinz den Schloßberg
hinauf, dann zur Molkenkur und, ohne es zu wollen, immer höher, bis
zum Königsstuhl. Die Wege waren feucht, und durch die Tannen ging es
auf den Moosteppich nieder wie ein unaufhörliches leises Rieseln. Man
sah keine hundert Schritt weit, der Blick auf die Rheinebene war
vollständig verschleiert, aber aus den Wäldern drang ein so frischer,
belebender Odem, daß es Karl Heinrich nach dem raschen Steigen leicht
ums Herz wurde.

Er schnitt sich eine Gerte, mit der er die Regentropfen von den Zweigen
klatschte, dann – erst langsam und dann schneller – lief er den
einsamen Weg bergab.

Eine halbe Stunde später saß er in der neuen Glasveranda, die Herr
Rüder für schweres Geld hatte bauen lassen, und trank von Herrn Rüders
gutem »Badischen«.

Käthie hockte neben ihm auf der Ufermauer, sonst war niemand im Garten.
Die Corps hatten heute Mensurtag, und andre Leute verirrten sich zu
dieser Stunde und vor allem bei solchem Wetter nicht hierher. Es
regnete jetzt so stark, daß die Tropfen auf dem Neckar Blasen schlugen,
und daß man kaum die Häuser an der gegenüberliegenden Seite erkennen
konnte, aber die trübe Laune, in der Karl Heinrich früh erwacht war und
in der er den armen Regierungsrat besucht hatte, war verflogen. In ein
paar Wochen würde er wieder hier sein, wo möglich schon eher, und der
dicke Doktor würde wieder gesund werden, und alle Sentimentalität war
Unsinn.

»Hol mal eine Postkarte, Käthie!«

»Wozu?«

»Wir wollen an den Doktor schreiben.«

[Illustration: Sie spannte ihren Regenschirm auf.]

Sie spannte ihren Regenschirm auf, raffte ihre Kleider zusammen und
trippelte vorsichtig durch den überschwemmten Garten nach dem Hause.
Als sie die Karte gebracht hatte, schrieb er darauf:

    »Lieber ~Dr.~! Alles dummes Zeug! In vierzehn Tagen hole ich
    Sie heil und gesund aus der Klinik. Käthie und ich trinken auf
    Ihr Wohl.

            K. H.«

»Schreib einen Gruß drunter, Käthie.«

Sie las aufmerksam, nahm seinen goldenen Stift, dessen Spitze sie erst
zwischen ihre Lippen schob, und schrieb dann:

    »Karl Heinrich und ich (Käthie) wünschen Ihnen das Beste.

            Käthie.«

»Was würdest du sagen, Käthie,« fragte er, »wenn ich nie wiederkäme?«

Sie sah ihn erstaunt an: »Nie wieder?«

»Ja, nie wieder.«

»Das ist doch nicht möglich.« Alles Blut wich aus ihren Wangen. »Du
kommst doch wieder?«

Er lachte. Er war seiner Sache jetzt so sicher, daß er darüber schon
spotten konnte. Wenn der undenkbare Fall eintreten sollte, daß man ihn
aus irgend welchen Gründen in Karlburg zurückhalten würde, so würde er
die Rückkehr nach Heidelberg erzwingen. Er war nicht mehr der Junge,
der sich am Gängelbande leiten ließ, und es gab keine Macht, die ihn in
seiner endlich gewonnenen Freiheit dermaßen beschränken durfte.

»Nimm den Fall, Käthie, ich käme nicht, nie mehr, was thätest du dann?«

Ihre Lippen zitterten, sie wollte etwas sagen und fand kein Wort; dann
stand sie auf, ging mit zwei Schritten zu ihm und schlang ihre Arme um
seinen Hals.

»Du kommst wieder, Karl Heinz, ganz gewiß.«

Und Stunde auf Stunde verrann, und während immer noch der Regen in
gleichmäßiger Eintönigkeit niederrauschte, saßen die beiden in der
Glasveranda am Neckar vor Herrn Rüders badischem Wein, den Käthie oft
erneuern mußte.

Die Tanten in der Küche und Herr Rüder selbst schauten wohl bisweilen
durch den Spalt in der Glasthür, aber sie störten das Paar nicht. Es
kamen auch im Laufe des Nachmittags ein paar Gäste, die man vorn in der
Gaststube festhielt.

Als dann kaum noch eine halbe Stunde bis zur Abfahrt des Frankfurter
Schnellzuges übrig blieb, spannte Herr Rüder seinen Fuchs vor
die Halbkalesche und setzte sich selbst auf den Bock, um seinen
angesehensten Stammgast zur Bahn zu fahren.

Es war die stilloseste Art, in der je ein Erbprinz nach einem Bahnhof
befördert wurde: Eine kleine Kellnerin, die ihm mit dem Taschentuch
nachwinkte, ein galoppierendes Pferd, eine miserable Kutsche, die
mit Schmutz bespritzt vor den Bahnhof rasselte, kein Gepäck, keine
Diener, nur ein Herr Rüder, der etwas bezecht war und sofort wegen
Galoppfahrens von dem Polizeidiener aufgeschrieben wurde.

[Illustration: Eine miserable Kutsche rasselte vor den Bahnhof.]

Was Herrn Lutz betrifft, so hatte er bis zwanzig Minuten vor Abfahrt
des Zuges in immer steigender Aufregung seinen Herrn daheim erwartet,
aber wie richtig Herr Lutz mit den zerfahrenen Lebensgewohnheiten
Seiner Durchlaucht sich vertraut gemacht hatte, bewies der Umstand,
daß er richtig schloß: Durchlaucht werde in letzter Minute schon
rechtzeitig zum Bahnhof kommen.

Durchgeregnet, ohne Paletot, sprang Karl Heinrich in das reservierte
Coupé, Herr Lutz hatte nur noch Zeit, Durchlaucht auf Mantel, Decken,
Koffer aufmerksam zu machen, dann hetzte Herr Lutz in sein eignes
Coupé, und eine halbe Minute später glitt der Zug in den Regen hinaus.

Lange stand der Prinz am Fenster und schaute rückwärts dorthin, wo die
Neckarstadt im Nebel verschwunden war. Dann atmete er tief auf wie
jemand, der aus einem Traum erwacht. Er zog das seidene Band, das über
seiner Weste lag, durch die silberne Schnalle, rollte es auf und schob
es in die Tasche. Die dunkelblaue Mütze legte er in den von Herrn Lutz
vorsorglich geöffneten Koffer und nahm einen Reisehut.

Drei rote Rosen, die Käthie ihm gegeben, behielt er in der Hand.

Er lehnte sich in die weichen roten Polster und versuchte an Käthie
zu denken, aber plötzlich stand das Bild des Doktors vor ihm, das ihn
nicht mehr losließ. Der lag nun im Krankenhaus, schon viele Meilen
entfernt, und er, Karl Heinrich, fuhr nach Karlburg. Allein!

Vor drei Monaten waren sie zusammen auf diesem selben Wege nach
Heidelberg gekommen, zusammen.

Zusammen. – Käthie, der Doktor, die Corpsbrüder – mit allen war er
zusammen gewesen, immer lustig, immer zusammen ... nun war er allein.

       *       *       *       *       *

Der Hofmarschall, die Kammerherren, zwei Adjutanten – es war der Seiner
Durchlaucht dem Erbprinzen gebührende feierliche Empfang.

Die Lakaien standen mit den flach an die Plüschhosen gelegten
Cylindern, und rechts und links hinter der abgesperrten Linie drängte
ein neugieriges Publikum, das – in begreiflicher Erregung wegen der
immer düsterer lautenden Bulletins, Seiner Durchlaucht des Fürsten
Krankheit betreffend – sich zahlreich am Bahnhof eingefunden hatte.

Also der Erbprinz kam!

Man hatte ihn telegraphisch berufen.

Vielleicht war Seine Durchlaucht der Erbprinz in wenigen Tagen schon
der regierende Herr.

Man rief nicht »Hoch«, das hätte in dieser schweren Stunde nicht
gepaßt, aber alle Hüte senkten sich tief, und die Frauen verneigten
sich vor dem künftigen Herrn.

Draußen vor dem Bahnhof drängte sich eine dichte Menge, und den ganzen
Weg entlang bis zum Schloß stand eine ununterbrochene Reihe Menschen,
die alle schweigend grüßten.

Karl Heinrich saß neben dem Hofmarschall. In dem Fürstenzimmer des
Bahnhofs hatte er mit den Herren vom Hofe und den Aerzten gesprochen,
man versicherte ihm, die größte Gefahr, die heute nacht gedroht habe,
scheine überwunden, und eine Genesung Seiner Durchlaucht liege nicht
mehr außer dem Bereiche der Möglichkeit.

[Illustration: Er hielt die Hand am Hute und grüßte nach rechts und
links.]

Er sprach kein Wort. Er hielt die Hand am Hute und grüßte nach rechts
und links.

»Wie er düster aussieht!« sagten die Männer.

»Wie er traurig aussieht!« sagten die Frauen.

Und er grüßte.

Grüßte.

Tausende von Menschen, die sich vor ihm neigten, eine ganze Stadt.

Der Weg war nur kurz, die schnellen Pferde gebrauchten wenige Minuten,
um ihn zurückzulegen.

Aber in dieser kleinen Spanne Zeit war es, als ob eine unsichtbare Hand
über des Prinzen Herz ging und dort vieles auslöschte.

Die Wache an der Schloßbrücke trat ins Gewehr, ohne daß die Trommel
gerührt wurde.

Er grüßte.

Der Wagen hielt, und er stieg langsam, ohne Hast aus. Er sah nicht
die Lakaien zu beiden Seiten der Treppe, er ging geradeaus, ohne sich
nach Hofmarschall und Adjutanten umzuschauen, die zwei und drei Stufen
hinter ihm die breite Marmortreppe hinaufstiegen.

Er war wieder in Karlburg, er war wieder der Prinz.

       *       *       *       *       *

Die Tage vergingen, Wochen wurden daraus und aus den Wochen Monate.

Herren im Schlosse zu Karlburg waren die Aerzte, denen man Zimmer
einräumte, und die schließlich kaum noch die Gemächer des Fürsten
verließen.

Die Lakaien gingen noch leiser als sonst, jeder helle Ton war aus dem
Schlosse und seinem Umkreis verbannt, über Haus und Gärten breitete
sich Kirchhofsruhe.

Aber Angst und Sorge, die in den ersten Wochen auf allen Gesichtern
lagen, aufrichtig empfunden oder doch gut zur Schau getragen, wichen
langsam und machten einer müden Abspannung Platz. Die Diener gähnten
hinter den Thüren, und die erschlaffende Langeweile breitete sich aus
den Krankenzimmern durch das Schloß und weiter über die ganze Stadt
Karlburg. Nirgends Festlichkeiten, keine Lustbarkeit, am Sonntag in den
Kirchen das ewig gleiche Gebet für den kranken Fürsten – eine Monotonie.

An eine Abreise des Erbprinzen war nicht zu denken. In den ersten
Wochen war er unruhig, nervös und verlangte von den Aerzten bestimmte
Aussagen. Aber er gewöhnte sich an ihr Achselzucken und dachte
schließlich selbst nicht mehr an die Möglichkeit, vorerst nach
Heidelberg zurückzukehren.

Die Last der Regierungsgeschäfte, die er vielleicht ernster auffaßte,
als notwendig war, und die zu übersehen ihm noch schwer fiel,
nahm seine Zeit in Beschlag, während der sterbende Fürst es als
selbstverständlich forderte, daß sein Neffe und Erbe endlose Stunden
bei ihm weilte. Mit seiner matten, heiseren Stimme, oft nur flüsternd,
sprach er von Vergangenheit und Zukunft, und in diesen düsteren
Stunden spann sich zwischen Oheim und Neffe, die zwanzig Jahre lang
fast wie Fremde nebeneinander gelebt hatten, das erste Band. Sie
gehörten zusammen, der sterbende Fürst und der künftige Fürst; aus der
fieberheißen Hand, die zitternd die junge Hand umspannt hielt, ging ein
Strom hinüber, der langsam Denken und Empfinden des Jüngeren wandelte.
»Die Fürsten der Erde wohnen einsam auf ihren Thronen, eine nie zu
überbrückende Kluft trennt sie von allen andern, selbst von denen, die
nach Geburt und Rang als Diener dem Throne am nächsten stehen. Und
sie sollen einsam bleiben, sie müssen einsam bleiben, – darin liegt
ihre schwerste Aufgabe, darin aber auch ihre Kraft. In einsamer Höhe
stehen, das ist das große Geheimnis der Gewalt!« – Vielleicht suchte
Karl Heinrich in der ersten Zeit, halb unbewußt, sich diesen Worten zu
entziehen, zu verschließen, aber in dem dumpfen, heißen Krankenzimmer
wiegten sie ihn in täglicher Wiederholung wie in einen Traum. Sie
ergriffen Besitz von ihm und lähmten seine matten Versuche, sich
kritisch mit ihnen in Widerspruch zu setzen. Er rang dagegen, aber er
war zu schwach, zu schwach, wie in allem.

Und jeder neigte sich vor ihm. Nicht der Sterbende war mehr der Herr
im Schlosse, er, Karl Heinrich, war es, dem man huldigte. Früher, als
er noch junger Prinz war, bei Seiner Durchlaucht in geringer Gunst
stehend, einzig von dem vagen Glanz einer in ferner Zukunft liegenden
Thronfolge umgeben, waren die Huldigungen der Hofleute kühl und
gemessen gewesen. Jetzt war er nicht Kind mehr, sondern Mann, nicht
mehr der Anwärter auf die Ehren einer ungewissen Zukunft, sondern der
neue Herr, der über Nacht in die Fürstenrechte einziehen würde. Es
war ein Zauberkreis, der sich um ihn schloß; demütige Huldigungen von
Tausenden, die keinen Widerspruch duldeten, und das alles in dieser
dumpfen Treibhausluft, die das Denken tötete.

So vergingen Monate. Es wurde Herbst, Winter, Frühling – ein Jahr ging
vorbei. Aber es war, als ob es nicht ein Jahr gewesen sei, sondern
viele. Es gab Zeiten, wo eine wilde Ungeduld ihn überwältigen wollte:
sollte denn das nie enden?! dieses grauenhafte, mordende Warten?! –
Aber auch diese Ungeduld wurde schwächlich, kraftlos, schlief ein.

Er begann zu kränkeln, die blühende Gesichtsfarbe nahm einen grauen
Ton an, aber wenn der alte Hofrat und die fremden Aerzte ihm Bewegung
anrieten, zuckte er gleichgültig die Achseln: ›Mir fehlt nichts, ich
bin nicht krank.‹

In seinem Schreibtisch lagen die blaue Mütze und das dreifarbige
Seidenband von Heidelberg, daneben drei vertrocknete Rosen – das waren
die einzigen Erinnerungen an damals.

Heidelberg! Wenn er daran dachte, legte es sich um seine Brust wie
eherne Klammern, die ihn zu ersticken drohten.

Vorbei! Verloren! Für immer!

Bisweilen versuchte er, mit Lutz über Heidelberg zu sprechen. Der
Mensch war ihm unsympathisch, aber er hatte ihn als seinen Kammerdiener
beibehalten. Vielleicht nur deshalb, weil dieser Lutz die einzige
lebende Erinnerung an jene Zeit war. Und Herr Lutz gab sich Mühe,
seinem Herrn entgegenzukommen, die jämmerlichen Tage in Heidelberg in
ein rosiges Licht zu kleiden und kleine Scherze jener Zeit aufzuwärmen.
Aber keine Saite tönte in seinen Reden echt und warm, das weiche
Bild der drei Monate verzerrte sich in seinen erzwungenen Späßen zur
Grimasse.

Im übrigen war Herr Lutz jetzt der glücklichste Mensch am Hofe.
Sein geduldiges Ertragen jener Schreckenszeit hatte goldene Früchte
getragen, er war der kommende Mann, vor dem schon jetzt die Lakaien in
Ehrfurcht erstarben. Noch schritt der Kammerdiener Seiner Durchlaucht
des Fürsten mit unnahbarem Gesicht durch das Haus, aber die Tage seiner
Herrschaft waren gezählt, der neue Stern hieß Lutz. Und während in
Karl Heinrichs Erinnerung die Heidelberger Zeit langsam verblaßte,
wie ein Kindermärchen, das man nicht mehr versteht, verschönte sich
bei Herrn Lutz das Bild der Studentenstadt immer mehr. Man hatte
da einmal über die Stränge geschlagen, miserabel gewohnt und viel
Aergerliches durchgemacht, aber es war doch auch schön gewesen. Er
wußte dem Küchenchef wundersame Geschichten zu erzählen von lustigen
Liebesabenteuern, durchzechten Nächten und allerhand Affairen, »über
die man als Kavalier schweigt«. Dieses Heidelberg hatte Herrn Lutz’
Glück gemacht, und er war nicht undankbar. – –

[Illustration: Er wußte dem Küchenchef wundersame Dinge zu erzählen.]

Nun schlief der Doktor schon seit Wintersende in Heidelberg seinen
letzten Schlaf. Die Todesnachricht, die der Direktor des Krankenhauses
in ehrerbietig gemessener Form Seiner Durchlaucht mitteilte, kam Karl
Heinrich nicht unerwartet, und doch traf sie ihn wie etwas Unfaßliches.

Aber der Prinz hatte in allem Schmerz die bittere Empfindung, daß
ihn vor Jahresfrist der Tod des Doktors tiefer, unendlich tiefer
erschüttert haben würde. Hätte sie beide das Leben noch einmal
zusammengeführt, sie würden sich nicht mehr verstanden haben. Er fühlte
das deutlich. Es war ihm, als sei jemand gestorben, den er einmal sehr
gern gehabt hatte, der ihm aber so fern gerückt war, daß er ihn auch
als Lebenden schwerlich je wiedergefunden hätte.

Im Auftrage Seiner Durchlaucht des Erbprinzen übermittelte das
Hofmarschallamt dem Corps »Saxonia« zu Heidelberg einen Kranz mit
der Bitte, diesen Kranz auf dem Grabe des Herrn Regierungsrats
niederzulegen.

Im Auftrage Seiner Durchlaucht des Erbprinzen ließ das Hofmarschallamt
das Grab mit einem Denkstein versehen, dessen Inschrift lautete:
»Seinem Freund und Lehrer in dankbarer Erinnerung Karl Heinrich, Prinz
von Karlburg.« – –

Und Käthie?

Ja Käthie.

Wo mochte Käthie sein? – Er hatte kein Bild von ihr, die kleine
Photographie, die sie ihm einmal geschenkt hatte, war in den aus
Heidelberg nachgesendeten Koffern nicht zu finden gewesen, aber dieses
Bild war in sein Herz gegraben. Käthie!

Verloren wie die andern ...

In goldenem Rahmen stand auf des Prinzen Schreibtisch das Bild der
jungen sächsischen Prinzeß, seiner Cousine, deren Verlobung mit Karl
Heinrich herbeizuführen während dieser Monate die letzte Sorge des
sterbenden Fürsten gewesen war. Das Bild zeigte ein feines Gesicht mit
lebhaften Augen, eine schlanke, pompöse Figur.

Karl Heinrich hatte nicht »Nein« gesagt, und die schöne Prinzeß war
nicht unzufrieden. Sie war ein Jahr älter als der künftige Fürst, als
Kinder hatten sie einmal zusammen gespielt, sie hatten keinen Grund,
einander abgeneigt zu sein, und die Heirat würde der Staatsraison
ebensogut entsprechen wie den Wünschen der Familien.

Natürlich war in dieser Trauerzeit an die Hochzeit noch nicht zu denken.

Käthie! ... Käthie!

[Illustration]



Siebentes Kapitel.


In der alten Fürstengruft zu Marienburg war der Fürst zur letzten Ruhe
gebracht, und zu Karlburg im Schlosse war Karl Heinrich der Herr.

Aber die düstere Stimmung, die langes Siechtum und endlich der Tod über
Land, Stadt und Schloß gebreitet hatten, wich auch jetzt nicht. Monate
vergingen und neue Monate, immer noch lag über Hof und Schloß dumpfe
Stille.

»Seine Durchlaucht trauert,« sagten die Leute, aber sie glaubten selbst
nicht recht an diese matte Entschuldigung.

Was hatte man nicht alles von dem jungen – fast allzu jungen – Fürsten
erwartet! Lustige Feste, Heiterkeit, einen frischen Zug, der in das
verschlafene Hofleben und in die Residenzstadt endlich einmal fröhliche
Stimmung bringen sollte. Fremde Fürstenbesuche, Bälle, Hofjagden,
einen Ball der Bürgerschaft in den neuen Rathaussälen, vielleicht eine
Förderung des Theaters, in jedem Fall aber ein freundliches Gesicht,
Teilnahme für die Wünsche der Stadt und des Landes.

Welch hübscher junger Prinz war dieser Karl Heinrich gewesen, offen,
liebenswürdig! Freilich hatte er als Kind schon im Verkehr mit Fremden
eine Zurückhaltung stets gezeigt, eine leichte Unbeholfenheit und
Menschenscheu, aber er war damals eben ein Kind.

Wenn jetzt Seine Durchlaucht durch Karlburg fuhr, so lehnte er in
seinem Wagen neben dem Adjutanten und erwiderte die Grüße kalt,
gleichgültig. Die Deputationen der Städte empfing er in großer Audienz,
ohne auf deren Ansprachen mehr als kurze Antworten zu finden. Der alte
Fürst war in den letzten Jahrzehnten eisig, abweisend, hochfahrend
gewesen, der junge Fürst schien alles in verstärktem Maße zu sein.

»Wenn er verheiratet ist,« trösteten sich die Kammerherren und
Hofleute, »wird er anders werden,« und dieser schwache Glaube fand in
der Bürgerschaft Widerhall: »Wenn er nur erst verheiratet ist.«

Die Hochzeit war auf den 30. Mai festgesetzt, am 4. Juni würden die
fürstlichen Herrschaften in Karlburg Einzug halten.

Am 5. Juni Fackelzug der Bürgerschaft, am 6. Juni erstes großes Hoffest
im Schlosse, drei weitere Tage hindurch Empfänge, Audienzen, Feste
aller Art. In dem Hofmarschallamt wurde Tag und Nacht gearbeitet, in
Schloß und Stadt herrschte ein fieberhafter Eifer, alles vorzubereiten
und in stand zu setzen, der einzige, der seine kalte Ruhe bewahrte, war
der, für den alles dies geschah.

[Illustration: »Der Mensch, Eure Excellenz, heißt Kellermann.«]

Da ereignete sich – zwölf Tage vor dem Termin der Hochzeit – etwas
Seltsames, das, ohne später irgendwie besondere Folgen nach sich zu
ziehen, einige Tage lang alle Gemüter in Aufregung hielt.

Ein eigentümlicher Mensch in uraltem Frack und gleichem Cylinder
wurde durch Lakaien dem dienstthuenden Kammerherrn und durch diesen
Seiner Excellenz dem Hofmarschall zugeführt. Er hatte in ziemlich
unzeremonieller Weise im Schlosse Eingang zu gewinnen versucht und
beteuerte, Seine Durchlaucht sprechen zu müssen.

»Der Mensch, Eure Excellenz,« erklärte der Kammerherr, »heißt
Kellermann und stammt aus Heidelberg. Er behauptet, bei Seiner
Durchlaucht ein Anliegen zu haben, dessen Erfüllung ihm Durchlaucht
damals in Heidelberg fest zugesagt habe.«

Seine Excellenz der Hofmarschall, überarbeitet und nervös, befahl,
das Subjekt fortzuschicken, respektive das Subjekt auf den Weg einer
schriftlichen Eingabe zu verweisen, aber irgend eine Ahnung sagte
dem Kammerherrn, daß Seine Durchlaucht eventuell geneigt sein werde,
nicht des Subjektes wegen, sondern seiner selbst wegen den Menschen
anzuhören. Und so geruhte der Kavalier, bei der Mittagstafel Seiner
Durchlaucht von dem Subjekt zu erzählen.

»Kellermann?«

»Jawohl, Eure Durchlaucht, ein Mensch Namens Kellermann.«

»Aus Heidelberg?«

»Aus Heidelberg, Eure Durchlaucht.«

»Es ist gut. Führen Sie, bitte, den Mann zu mir. Nach der Tafel.«

Ruhig, mit seinem steinernen Gesicht, ohne eine Spur von Hast,
beendete der Fürst die Mahlzeit, aber ein Sturm von Erinnerungen war in
ihm erwacht. Kellermann! Heidelberg! Einer von damals! Endlich einer
von damals! Wenn auch nur Kellermann! Der armselige Kellermann.

Kalt und gleichgültig verabschiedete er sich von seinen Kavalieren,
dann ging er hinüber in sein Arbeitszimmer und öffnete den
Schreibtisch. Da lag das dreifarbige Band, die Mütze, die Blumen ...

Die Lakaien im Vorzimmer schauten einander an und schüttelten die
Köpfe. Sie schauten einander wieder an und schüttelten die Köpfe. Seit
zwei Stunden war das fremde Subjekt drinnen bei Seiner Durchlaucht und
kam nicht wieder.

Hätten sie hineinschauen können und sehen, wie der alte Mensch in
seinem schäbigen Frack in Durchlauchts Ledersessel saß, während der
Fürst dem Alten die Hand auf die Schulter gelegt hatte, sich dicht zu
ihm beugte und mit zuckenden Lippen zu lächeln versuchte!

»Dieser Kellermann! Er will Kellermeister werden! Er hat nicht
vergessen, was ich ihm damals versprochen habe. Er kommt extra von
Heidelberg und bringt Frack und Cylinder mit. Laß dich ansehen,
Kellermann. Wie er ausschaut!«

Er lachte, zum erstenmal seit Jahren.

[Illustration: »Hast du mich erkannt?«]

»Ja, Kellermann, bravo! Du bleibst, du wirst mein Kellermeister,
selbstverständlich. Aber du hast Hunger und vor allem Durst, du kommst
von der Reise, wann bist du angekommen?« Er drückte auf die Klingel:
»Bringen Sie Wein und etwas für den Herrn da zu essen. Ja, hierher.
Ohne alle Umstände.«

Er ging zweimal auf und ab, dann blieb er wieder stehen:

»Sieh mich mal an, Kellermann. Kennst du mich noch? Hast du mich
erkannt?«

»O freilich.«

»Wirklich? Hast du?« Er lachte nicht mehr. Er legte einen Moment beide
Hände flach an die Schläfen und starrte vor sich nieder. Es sind zwei
Jahre her, da ändert man sich, in zwei Jahren geschieht vieles.

Müde schaute er nach einer Weile auf, Kellermann hatte etwas bedrückt
und verschüchtert eine Frage gethan.

»Deine Frau mitbringen? Ja natürlich. Aber meine Wäsche, Kellermann,
kann sie nicht mehr besorgen wie in Heidelberg. Oder dachtest du?« Er
lächelte wieder, und Herr Kellermann lächelte gleichfalls.

»Nun erzähle, Kellermann, das ist die Hauptsache. Von Heidelberg. Von
allen.«

Aber dieses Erzählen ging schwer von statten. Aus freien Stücken
berichtete Herr Kellermann nichts, er verlangte, daß man ihn fragte,
daß man jede Frage genau präzisierte und erst nach der Beantwortung an
die Erledigung eines neuen Themas ging. Er war wie eine alte Chronik,
aus der man sich durch mühsames Zusammensuchen belehrt, aber eines
hatte er vor diesen alten Chronikbüchern voraus: er war zuverlässiger
und blieb keine Antwort schuldig.

Ja, Herr Bilz war noch bei »Saxonia« aktiv, auch der kleine
Hammerschmidt, der zu Ostern durchs Examen gefallen war, auch Herr von
Bansin, der in Heidelberg der beste ~S. C.~-Fechter geworden war und
dieser Kunst zuliebe seinen Aufenthalt auf deutschen Universitäten
beständig verlängerte; aber alle die andern waren fort, die meisten
schon lange.

»Ernst von Heidenreich?«

»Nach Berlin.«

»Franzius?«

»Nach Berlin.«

»Und der dicke Kurt Engelbrecht?«

Herr Kellermann zog ein ernstes Gesicht und sagte mit gedämpfter Stimme:

»Nach drüben, nach Amerika.«

Also nur drei waren noch in Heidelberg. Drei letzte von der lustigen
Schar, die damals nie an die Zukunft gedacht hatte, die hingelebt
hatte, als ob sie ewig beisammen bleiben würde. Zerstoben in alle Winde.

Der Lakai brachte Wein und Speisen, die Herr Kellermann ohne viel
Ziererei entgegennahm, dann, nach einer langen Pause, mußte dieser von
neuem berichten. Wo der Regierungsrat begraben sei, und ob Kellermann
das Grab gesehen habe. Wer jetzt in Frau Dörffels Zimmern wohne, –
ging man noch alle Vormittag zum Frühschoppen aufs Schloß? – fuhr
man wie damals alle Montag nach Neckarsteinach? – war Herr Roux noch
Fechtlehrer? – und wie war es mit den Mensuren? – paukten die Corps in
Heidelberg oder auf den Dörfern? – und dann:

»Was macht Fräulein Käthie?«

»Käthie?«

»Die in Rüders Gasthaus?« Er stockte mit der Stimme und wurde blutrot
bei der Frage. Aber Herr Kellermann merkte nichts von der Befangenheit,
und gleichmütig gab er Bescheid.

»Ja, die. Ja, die ist auch noch da.«

»Bei Rüder?«

»Ja bei Rüder.«

»Und – und – geht es ihr gut?«

»Ganz gut.«

»Sie ist immer noch da? Ganz wie früher? Wenn man hinkommt zu Rüders,
dann – dann findet man sie noch?«

»Natürlich.«

Karl Heinrich trat in die Mauernische des gewölbten Fensters und
starrte hinaus. Durch die breite Lindenallee des Schloßparkes sah er
Felder, die sich endlos in die blaue Ferne dehnten. Tief unten an der
Schloßmauer vor dem breiten Graben blühte der Flieder, und über dem
Wasser schossen pfeilschnell die Schwalben, oft dicht an dem Fenster
vorbeistreifend.

Zwei lange, einsame Jahre hatte er hier gehaust, fern der fröhlichen
Welt, am Lager eines vergrämten Kranken, der nicht sterben wollte und
mit den langsam erstarrenden Händen ihn fest umklammerte. Während er
selbst zu schwach und zu feige gewesen war, sich gewaltsam loszureißen.

Zwei beste Jahre! Zwei Jahre, in denen er hätte glücklich sein können.
Sie erschienen ihm wie Jahrzehnte. Jenseits dieser Jahrzehnte lag seine
kurze Jugend, an die er kaum noch gedacht, die er fast vergessen hatte.
Vergessen! Wie nur schwächliche Seelen vergessen!

Heidelberg, das Corps, Käthie – das waren ferne, traumhafte Begriffe
geworden, und jetzt kam dieser Mensch da und erzählte! Und erzählte,
daß das alles noch war, jetzt noch war; daß drüben in Heidelberg,
hundert Meilen entfernt, eine Tagereise entfernt, diese Menschen noch
lebten! Spazieren gingen, sich ihres Lebens freuten, tranken, lachten,
liebten – und das alles ohne ihn, als ob ein Prinz Karl Heinrich nie
existiert hätte oder zum wenigsten nie für sie notwendig gewesen sei.

Da kam aus dem Hintergrunde des Zimmers Herrn Kellermanns Stimme,
die zum erstenmal ungefragt redete. Schwer und langsam, als ob er
eine tiefe Weisheit verkünde und während der letzten stummen Minuten
darüber nachgesonnen habe, sagte er:

»So ist Heidelberg nicht mehr wie früher. Das sagen alle, das sagt auch
Herr Bilz.«

»Wie nicht mehr?«

»Als wie damals. Als wie Sie da waren.«

Karl Heinrichs Augen leuchteten.

»Sagen sie das? Sagen das alle? _Sprechen_ sie in Heidelberg noch von
mir, Kellermann?«

»O ja.«

»Hat keiner einmal gefragt« – er faßte den Alten an beiden Schultern
und riß ihn empor – »ob ich wiederkommen würde? Oder weshalb ich nicht
wiederkäme, Kellermann?!«

»Ja, ja, o ja, oft.«

»Und die Kleine – die bei Rüders?«

»Die –?« Herr Kellermann war etwas verdutzt. Langsam dachte er nach und
kramte in seinem Gedächtnis. »Die –?« Da blitzte irgend eine Erinnerung
in ihm auf, eine Kette von Erinnerungen schloß sich in seinem Hirn, und
halb mit sich selbst redend, nickte er vor sich hin.

»Die Käthie. Richtig! Ja, ja! Die hat viel geweint.«

       *       *       *       *       *

»Sorgen Sie für den Alten, meine liebe Excellenz, ich bitte Sie darum.
Der Mann steht mir nahe aus meiner Heidelberger Zeit her, ich möchte
ihn gut aufgehoben wissen.«

[Illustration: Excellenz selbst geleitete den Alten in die Gastzimmer.]

Der Hofmarschall war glücklich. Das waren die ersten warmen Worte, die
er aus dem Munde Seiner Durchlaucht je erhalten hatte. Und wie seltsam
der Fürst gesprochen hatte! Fast weich. Nichts von dieser schroffen
Zurückhaltung, die sonst alles um den Fürsten erstarren machte. Was war
denn geschehen?! »Meine liebe Excellenz?!«

Die Excellenz selbst geleitete den Alten in die Gastzimmer, die Lakaien
flogen, Küche und Keller mußten das Beste leisten; o, Herr Kellermann
durfte zufrieden sein.

Aber was war geschehen?!

       *       *       *       *       *

Der Fürst saß wach bis spät in die Nacht.

Die Jugend, die vergessene, verlorene, hatte noch einmal an das Thor
gepocht, und Karl Heinrichs müdes, versteinertes Herz zuckte.

In wenigen Tagen würde er ausziehen, um in das Schloß zu Karlburg
die Braut zu holen, und von dem Tage an begann die ruhige, gemessene
Zeit gereiften Lebens. Von da an war alles klar, vorgeschrieben,
ausgerechnet, jeder Schritt und jede Handlung vorgezeichnet, alles
zukünftige Leben eine schnurgerade Straße, auf der man so lange
fortpilgert, bis das Ende erreicht ist. Jedes Bürgermannes Leben kann
im Zickzack gehen, auf und nieder schwanken, das des Fürsten ist
berechnet und abgezirkelt, sicher und einförmig in alle Zukunft.

Einen einzigen Menschen haben, der jetzt dasäße und spräche:

»Karl Heinrich, das ist nicht anders, du mußt das ertragen.« Der ihn
trösten oder beruhigen würde, oder ...

»Mein Gott! Mein Gott!«

Er war wie außer sich.

Und Totenstille.

Draußen im Park rauschte der Nachtwind leise in den Bäumen, aber das
Schloß schlief. Karlburg schlief, die Stadt, das Land, hier schlief
alles.

Mitternacht. – Da saßen sie in Heidelberg in Rüders Garten bei
Lampions, sangen, tranken, lachten und sahen nach der Uhr und sagten:
»Es ist erst Mitternacht.«

Und da kam Käthie durch den Garten mit ihrer weißen Schürze und gähnte
etwas und rieb mit den kleinen Fäusten die Augen, – daß alle lachten,
und Karl Heinrich ihr das Glas entgegenhielt: »Trink, Käthie, werde
wieder munter!« – –

»Prost, Karl Heinz! Sollst leben!«

Wer rief das?! Er fuhr auf und starrte vom Fenster her in das
halbdunkle Zimmer. Wer hatte das gerufen?! Da aus dem Zimmer her?!

Das war des Doktors Stimme! »Prost, Karl Heinz, sollst leben!«

Ein leises Zittern ging über den Fürsten. Er trat zurück in das Zimmer,
schraubte die Lampe höher und trank das große Weinglas in einem Zuge
leer.

»Sollst leben!« – Ja, er lebte, und der Doktor, der das tausendmal
gerufen hatte, moderte in der Erde.

»Sollst leben!« Ja, der Karl Heinz lebte noch, ein herrliches Leben!

Er schenkte das Glas von neuem voll und hob es empor. Gegen die dunkle
Ecke da drüben starrte er und schwenkte das Glas:

»Doktor!!«

Und als alles totenstill blieb: »Dein Wohl!«

       *       *       *       *       *

Herr Lutz saß draußen im Vorzimmer und kämpfte seit Stunden mit dem
Schlafe. Nie seit der Heidelberger Zeit hatte man ihm eine solche
Nachtwache zugemutet. Zu verschiedenen Malen horchte er an der Thür, ob
Seine Durchlaucht nicht etwa am Schreibtisch eingeschlafen sei, aber
immer wieder hörte er drinnen die dumpfen Schritte des ruhelos auf und
ab Wandelnden.

Ja, was war geschehen?!

Aber Herr Lutz konnte nicht mehr denken. Er war so sterbensmüde, daß
sein Körper zwar noch wachte, aber sein Geist vollständig gelähmt
erschien. O gut, daß diese Hochzeit vor der Thür stand. Von da an ging
man pünktlich schlafen und lebte, wie sich’s gehört.

Da endlich – es war nachts drei Uhr – kam der erlösende Ruf der
schrillen Glocke.

»Sofort!«

Herr Lutz fuhr auf. In der nächsten Sekunde war er in Seiner
Durchlaucht Zimmer.

Der Morgen dämmerte herein, und in dem fahlen Licht stand der Fürst am
Fenster, von den trüben Schatten des Zwielichts grau überdeckt:

»Sind Sie noch wach, Lutz?«

»Zu Befehl, Eure Durchlaucht.«

»Lutz, Sie können heute nicht schlafen gehen. Wecken Sie die Diener,
meine Koffer sollen gepackt werden. Man soll Seine Excellenz den Herrn
Hofmarschall benachrichtigen. Ich verreise.«

»Ver –?«

[Illustration: Gegen die dunkle Ecke starrte er und schwenkte das Glas.]

»Sie begleiten mich, Lutz, Sie ganz allein. Wir reisen nach Heidelberg.«

»H–Heidelberg –?«

»Nur auf einen Tag oder zwei. Am Sonntagabend sind wir wieder zurück.
Wir haben keine Minute zu verlieren. Vorwärts!«

Herr Lutz ging, den Kopf etwas vornübergeneigt, wie jemand, der einen
heftigen Schlag auf den Schädel erhalten hat und momentan nicht zu
denken vermag.

Karl Heinrich stand und schaute in den immer helleren Morgen mit
leuchtendem Gesicht.

»Einmal noch!«

»Noch einmal!«

[Illustration]



Achtes Kapitel.


Als Hofmarschall und Kammerherren, aus dem Schlafe geweckt, atemlos und
mit verstörten Gesichtern auf dem Bahnhof erschienen, war die schwarze
Qualmwolke des Kurierzuges längst in der hellen Morgenluft verweht.

Es war sechs Uhr morgens.

Man drängte um den Stationsassistenten, der, immer noch fassungslos,
nichts zu berichten wußte, als daß Durchlaucht kurz vor Passieren des
Kurierzuges vorgefahren sei, Ordre gab, den Zug halten zu lassen, und –
nur von dem Kammerdiener begleitet – die Reise angetreten habe.

Ja, was war geschehen?!

Was?! Was?!!

Und der Hofmarschall starrte wie betäubt nach Süden, wo die Schienen
der Eisenbahn sich silbernflimmernd hindehnten ...

       *       *       *       *       *

So fuhr Karl Heinrich noch einmal gen Heidelberg.

Es war ein Maitag wie damals vor zwei Jahren. Dieselben Dörfer, Mühlen,
Felder, Städte flogen vorbei, das Gebirge der Rhön, blaute in der
Ferne, der Zug erklomm die Höhen des Main, und dort das Land in der
Ferne, dem man entgegeneilte, war Süddeutschland.

[Illustration: Ja, was war geschehen?]

Die Sonne stand hoch am Himmel, heiß, blendend. Der Fürst ließ die
blauen Vorhänge am Fenster nieder und schloß die Augen. Er war müde.
Seit dreißig Stunden hatte er nicht geschlafen, nun trat langsam an
Stelle der leidenschaftlichen Erregung eine dumpfe Abgespanntheit.

Was bezweckte denn diese Reise? Nichts! Was wollte er überhaupt in
Heidelberg? Jetzt zerbrachen sie sich daheim in Karlburg die Köpfe, und
jeder einzelne Mensch, vom Minister bis zum letzten Stallknecht, würde
diese Reise einen Tollhausstreich nennen. Eine Dummheit, wie sie sich
nur ein junger Student erlauben darf.

Er preßte nervös den Kopf in die Hände: umkehren, das wäre das beste.
Diese Donquichotterie nicht zu Ende führen.

Aber dann würde man erst recht staunen und die Köpfe noch mehr
schütteln. Jeder Mensch in der ganzen Welt konnte sich solche
Extravaganzen herausnehmen, nur der nicht, auf den Hunderttausende
schauen, und dessen geringste Handlungen jeder Philister kritisiert.

Es war erstickend heiß, er riß die Vorhänge wieder zurück und beugte
sich so weit vor, daß die Staubwolke, die der Zug aufwirbelte, ihm wie
ein Sturm um den Kopf flog.

»Alles einerlei!« Mochten die Aufpasser daheim lachen, spotten, die
Fäuste ballen – heute war Karl Heinrich frei!

Vorwärts! Wie der Zug jagte! Immer weiter! Keiner holte ihn ein! Die
kläffende Meute blieb immer weiter zurück, und er war frei. Er schloß
die Augen und ließ den Sturm voll in sein Gesicht brausen. Das that
gut, es war wie ein Kampf.

War das nicht eine gleiche Empfindung wie damals, als der lange Vandale
ihm immer wieder die Parade durchschlug und Hieb auf Hieb in Karl
Heinrichs Gesicht fegte?! Famos! Auf die Mensur! Klatsch!

Kampf! Du Schönstes auf Gottes Welt! Nichts entsetzlicher als dieses
kampflose Hindämmern, Einschlafen, dieses Verhätscheltwerden und
Bevormundetwerden und Eingelulltwerden und Vermodern.

Alle seine Muskeln spannten sich. Vorwärts, vorwärts! Und heute abend
in Heidelberg! Noch hatten sie in Karlburg ihn nicht besiegt, noch
hatte er den Mut gehabt zu dieser tollen, unglaublichen Reise! Bravo!
Und lustig soll es werden! Nur zwei Tage, aber zwei lustige Tage!

    »Wer reit’t mit zwanzig Knappen ein
    Zu Heidelberg im Hirschen? ...«

Mit halblauter Stimme sagte er das Lied her, bis er es leise zu singen
begann, dann immer lauter.

    »Hollaheh! den Hahn ins Faß! schenkt ein! –«

Weit vor ihm lag die sonnige Ebene des Main. Wie heißt es im Liede?:
»... Ich seh’ die Lande um den Main zu meinen Füßen liegen –«

So schön, so schön!

Er war noch so jung, der Karl Heinz. Er war zweiundzwanzig Jahre alt.
Die ganze Welt hätte ihm offen stehen müssen, und daheim hatten sie ihm
Licht und Luft vermauert ...

       *       *       *       *       *

Auf dem Bahnhofe zu Frankfurt zuckte es ihm einen Augenblick in
den Füßen. Dicht vor ihm lag der Wartesaal, in den die Menschen
hineindrängten. Weshalb ging er nicht mit in dem Strom? Wie an jenem
ersten Reisetage, als er mit dem Doktor dort hineinspazierte und die
ersten Atemzüge der neuen Freiheit that? Niemand kannte ihn, vielleicht
die paar Schaffner und Lutz ausgenommen, also weshalb nicht?

»Zwanzig Minuten Aufenthalt!« schrieen die Kondukteure, und alle
Reisenden eilten in die Säle. Nur einige ältere Damen blieben ängstlich
in den Coupés.

Karl Heinrich stand auf und setzte seinen Fuß auf das Trittbrett, aber
er zog ihn wieder zurück und schloß die Wagenthür. Er war unselbständig
geworden wie einst, fast schlimmer noch als damals. Es war doch ein so
leichtes, wie andre Menschen auszusteigen, sich einfach und natürlich
zu bewegen, den Kellner zu rufen, zu bezahlen und so weiter, – und er
konnte es nicht.

Konnte es nicht. Er machte noch einmal den Versuch, aber der kalte
Schweiß trat ihm auf die Stirn.

Der Zug hatte schon lange Frankfurt wieder verlassen, als der
Fürst immer noch in den Polstern saß, die Augen starr auf die
gegenüberliegende Wand gerichtet, die Arme schlaff herabhängend.

›Eine Marionette, die nur tanzen kann, wenn man sie an den Drähten
zerrt. Unbeholfen wie ein Kind und feige wie ein Kind.‹

Ein grimmiges Lachen verzog sein blasses Gesicht. Er wollte aus der
Schule in die Freiheit laufen! Wenn auch nur für zwei armselige Tage!
_Er_, der keinen Schritt mehr allein gehen konnte! Der sich an jeder
Ecke stieß, alles schief sah und in Heidelberg nicht mehr im stande
sein würde, ein einziges natürliches Wort zu reden.

Dorf an Dorf flog in der Abendsonne vorbei. Weinheim, – da war das
famose Mädel mit den zwei blonden Zöpfen gewesen, mit der Prinz Karl
Heinz eine halbe Nacht getanzt hatte.

Jugenheim. Ein leises Lächeln ging über seine matten Züge. Da hatte man
mit dem Darmstädter Pensionat die tolle Affaire gehabt.

Das alles war erst zwei Jahre her? Nicht länger.

Noch zehn Minuten, noch acht, – fünf – drei – da kamen die ersten
Häuser – und da: der Neckar!

Sein Herz schlug zum Zerspringen.

»Heidelberg!«

»Fünf Minuten Aufenthalt!«

Damals hatte der dicke Doktor mit seinem trockenen Phlegma gesagt:
»Ein Jahr Aufenthalt«; ein dünnes Lächeln ging um Karl Heinrichs Mund,
und indem er sich bewegungslos an die Thür lehnte und auf den Schaffner
wartete, murmelte er – fast ohne es selbst zu merken: »Zwei Tage
Aufenthalt, – zwei Tage – zwei –«

Er ging neben Lutz durch die Menge und stieg in den Wagen. Er kannte
jedes Haus, an dem man vorbeifuhr, und sah auch jedes Haus, aber seine
Gedanken waren fern, nirgends. »Ein Jahr Aufenthalt« – das war alles,
an was er dachte. Und daran, daß aus diesem »Jahr Aufenthalt« für den
Doktor ein »ewiger Aufenthalt« geworden sei. Aber diese Erwägung hatte
nichts Sentimentales, sondern kam ihm wie eine mathematische Folgerung,
die man sich im Kopfe zurechtlegt, weil der Schädel augenblicklich an
nichts Vernünftiges zu denken vermag. Er hätte genau so gut vor sich
hin denken können: ›Dreimal neun ist siebenundzwanzig.‹ Als ob auf den
Kopf und das Denken von allen Seiten her ein ungeheurer Druck ausgeübt
würde, der das Hirn zu der Größe einer Haselnuß zusammenpreßte.

Der Wagen rollte über den Markt: da lag Frau Dörffels Haus mit den
sechs Fenstern, hinter denen er gewohnt hatte.

Er nickte stumpf vor sich hin: »Ja, ja!«

Vor dem Hotel »Zum Prinzen Karl« flüsterte Herr Lutz dem Portier und
dem Oberkellner ein Wort ins Ohr, das in wenigen Sekunden das ganze
Haus in Aufregung brachte.

Tief neigte sich alles, und der Fürst schritt mit seinem starr
abweisenden Gesicht zwischen der Dienerschaft die Treppe empor, in ein
Zimmer, als ob er daheim zu Karlburg die Treppen hinaufstiege.

Als Herr Lutz mit einem ängstlichen Blick seinem Herrn den Arm reichte,
lehnte sich der Fürst schwer darauf.

[Illustration: Mit geschlossenen Augen saß der Fürst minutenlang.]

Lutz geleitete ihn zu einem Sessel, Lutz winkte den Kellnern, die
Thüren zu schließen.

Mit geschlossenen Augen saß der Fürst minutenlang.

»Durchlaucht –?«

»Was?« Er öffnete die Augen und schaute um sich wie einer, der aus
einem langen, schweren Traum erwacht.

»Durchlaucht sollten zur Ruhe gehen, Durchlaucht sind übermüdet.«

Und als der Fürst ihn anstarrte mit einem leeren Blick, fügte er hinzu:

»Durchlaucht sind in Heidelberg.«

»Ja, ja.«

Ein müdes, verfallenes Lächeln ging um Karl Heinrichs Mund, das Herr
Lutz nicht bemerkte oder zum wenigsten nicht verstand.

»In Heidelberg. Ganz recht. Ja, ich will schlafen.«

       *       *       *       *       *

In tadellosem Gesellschaftsanzug, das dreifarbige Seidenband über der
tief ausgeschnittenen Frackweste, vortrefflich frisiert und ~comme
il faut~ zurechtgestutzt, versammelte sich »Saxonia« mit fünf »alten
Herren«, zehn »Corpsburschen« und acht »Füchsen« in Seiner Durchlaucht
Empfangssalon, um Seiner Durchlaucht die Aufwartung zu machen.

Es war vormittags zehn Uhr.

Man flüsterte und stand in Gruppen. Herr Bilz ging von einem zum
andern und gab mit seiner immer etwas wehmütig klingenden Stimme
namentlich den Jüngeren und Jüngsten die letzten Verhaltungsmaßregeln.
Aber Herrn Bilz selbst klopfte das Herz. Er war nun vierundzwanzig
Semester in Heidelberg und hatte vielerlei Menschen jeden Standes
kennen gelernt, aber einem regierenden Fürsten war er noch nie
entgegengetreten. Er repetierte die Rede, mit der er Seine Durchlaucht
empfangen wollte, und fand sie jetzt nüchtern, abgeschmackt. Nichts
schwieriger als diese kleine Rede. Sie konnte zu feierlich geraten oder
zu kordial, zu pathetisch oder zu kühl, sie konnte durch die geringste
falsche Nuance alle Stimmung zum Teufel jagen.

Mit dem feinen Batisttuch tupfte er sich leicht auf die Stirn und ging
wieder zu den Füchsen: »Ihr bleibt hier stehen im Hintergrunde, bis
ich euch winke. Ihr sprecht nur, wenn der Fürst euch fragt. Um Gottes
willen, Winz, wie siehst du aus? Was hast du für einen Frack an?«

»Ich habe ihn geborgt,« sagte Winz ängstlich.

»Ach, ach, ach!« Herrn Bilz’ wehmütige Stimme hatte einen tieftraurigen
Ton, aber er ging auf die fatale Sache nicht weiter ein. »Bleib hinten
stehen, auf jeden Fall, hörst du? Daß niemand dich sieht.«

Ueber dem ganzen Corps lag eine große Stimmung: ein regierender Fürst,
der gewissermaßen zu »Saxonia« gehörte und »Saxonia« zu sich lud! Kein
Heidelberger Corps, das sich einer solchen Ehre rühmen konnte.

Da:

Ein Herr in Frack und Escarpins stieß die Flügelthüren auseinander und
trat in feierlicher Haltung zur Seite. Einige Sekunden sah man in das
nebenan liegende, mit schweren Seidenvorhängen drapierte Zimmer – dann
kamen Schritte über den weichen Teppich, in der weit geöffneten Thür
stand der Fürst.

Er trug den schwarzen Gesellschaftsanzug. Das Gesicht war blaß, nur
auf der linken Backe glühten brennendrot zwei Hiebnarben. Er hatte
die rechte Hand leicht erhoben, als wollte er sie irgend einem
entgegenstrecken, dem ersten, den er wiedererkennen würde ...

Aber in dem Zimmer vor ihm nur ein tiefes Verneigen.

Herr Bilz trat vor:

»Eure Durchlaucht –«

Sein Blick begegnete dem des einstigen Freundes, der ihn anstarrte, als
ob er sagen wollte: »Kommst du denn nicht?! Giebst du mir denn nicht
die Hand? Karl Bilz?!« ...

Und Herr Bilz kam aus dem Konzept:

»Eure Durchlaucht geben – haben – geben uns die Ehre – wir alle dankbar
– eine Ehre, die jeder von uns – jeder zu würdigen weiß, – und deshalb
– wir heißen Eure Durchlaucht in aller Ehrfurcht in Heidelberg herzlich
und ehrerbietig willkommen.«

[Illustration: In der weit geöffneten Thür stand der Fürst.]

Der Fürst trat einen Schritt vor und nickte kurz. Das Gesicht war kalt
und apathisch geworden.

»Wollen Sie, bitte, Herr Bilz, mir Ihre Herren Corpsbrüder vorstellen.«

Herr Bilz gehorchte. Er verwechselte alle Namen, aber das that nichts
zur Sache.

Und der Fürst sprach mit jedem:

»Wieviel Semester studieren Sie?« – »Wie gefällt Ihnen Heidelberg?« –
»Sie sind Jurist?« – »Wo wohnen Ihre Eltern?« – »Werden Sie längere
Zeit hier bleiben?« und so weiter.

Als die Cour beendet war, wandte er sich wieder zu Herrn Bilz:

»Wollen, bitte, Sie und Ihre Herren Corpsbrüder heute hier im Hotel
meine Gäste sein. Ich reise noch heute abend, ich bitte also etwa um
drei.«

Er nickte kurz, neigte sich gegen die übrigen mit einer fast
unmerklichen Bewegung des Kopfes und ging. Der Herr im Frack und
Escarpins schloß die Flügelthüren, – die Audienz war beendet.

Vor dem Hotel standen sehr feierlich zehn Wagen, in denen man gekommen
war, und in denen man vornehm wieder heimfuhr. Der Stolz lag auf allen
jungen Gesichtern, und ganz Heidelberg, Studenten und Philister,
blickte ihnen nach. Der Fürst hatte sie in feierlicher Audienz
empfangen, sie waren wirklich zu beneiden.

Karl Heinrich stand in der Mitte seines Zimmers und stützte sich auf
die Lehne des Stuhls. Der lächerliche Traum zweier Tage war zu Ende ...

Der Fürst fuhr am Mittag in geschlossenem Wagen zum Kirchhof. Er hatte
mit sich gekämpft, ob er dieser letzten Pflicht, die ihn noch an
Heidelberg band, nachkommen sollte oder nicht; schließlich bezwang er
sich und fuhr hin.

Der Totengräber, der ihn nicht kannte, führte ihn zu dem Grabe und
sagte entschuldigend: »Es ist noch nicht wieder in Ordnung, es ist
jetzt im Frühjahr immer viel zu thun, aber nächste Woche fangen wir
damit an.«

»Es ist gut.«

Der Mann wollte noch mehr reden, aber der Fremde winkte ihm ab: »Es ist
gut, ich danke.«

Eine kleine weiße Blattpflanze hatte das ganze Grab überwuchert,
zur Seite lagen noch einige verwelkte Kränze mit grau-schmutzigen
Seidenschleifen, das Gitter stand roh, unfertig, und das einzig Pompöse
war das Marmorkreuz mit der Inschrift »Seinem Freunde und Lehrer in
dankbarer Erinnerung Karl Heinrich, Prinz von Karlburg.«

Lange blickte Karl Heinrich auf dieses vergessene Grab, das seit dem
Tage der Bestattung sicherlich niemand mehr besucht hatte. Er beugte
sich und pflückte eines der silbergrauen Blätter, um es aufzubewahren,
aber bald darauf nahm er es achtlos zwischen die Zähne und ließ es
fallen.

Merkwürdig, wie ruhig und gleichgültig ihn diese Grabstätte seines
einzigen Freundes ließ! Er hatte auf einmal das lächerliche Gefühl, daß
der Tote im Leben eigentlich ein pflichtvergessener Mensch gewesen
sei, der – man mochte die Sache ansehen, wie man wollte – als Erzieher
sich außerordentliche Eigenmächtigkeiten erlaubt hatte.

Die ganze grenzenlose Ernüchterung des heutigen Tages, die
Hoffnungslosigkeit, die eisige Kälte der letzten zwei Jahre, alles
drängte in diesen Minuten wie in einem Brennspiegel zusammen.

Der Mensch da unten, das war sein einziger Freund gewesen! Welcher
Hohn! Ein Trinker, ein Schwätzer, ein Mensch ohne jeden Lebensernst.

Aber immerhin: dieser Doktor hatte es mit ihm gut gemeint, aufrichtig
gut.

Sie hatten doch manche freundliche Stunde zusammen verlebt. – Schon
damals in Karlburg, als der pflichtvergessene Doktor ihm Zigaretten
gab, die sie oben im Turmzimmer rauchten. – Er lächelte. – Und dann in
Heidelberg! Er blickte sich um nach dem Schloß, das aus seinem Waldgrün
rotleuchtend herüberfunkelte. Mein Gott, welch ein toller Kerl war
dieser Doktor gewesen! Wenn er da oben auf dem Schloß Handharmonika
spielte, daß alle Engländer und Engländerinnen stehen blieben und ihre
steif-britischen Gesichter zum Lachen verzogen.

»Prost, Karl Heinz! Sollst leben!« Des Doktors ewiger Trinkspruch.

Der Fürst neigte sich vor über das verwilderte Grab: »Armer Doktor!«

[Illustration: Länger als eine halbe Stunde arbeitete er daran.]

Er nahm die vermoderten Kränze und legte sie außerhalb des Gitters
zusammen. Das Unkraut, das zwischen Grab und Gitter fußhoch wilderte,
riß er mit beiden Händen aus dem Boden und warf es zu den Kränzen.
Länger als eine halbe Stunde arbeitete er daran, die dünnen, schmalen
Wege rechts und links und vor dem Grabe innerhalb der Einfriedigung zu
säubern.

Als er fertig war, atmete er tief auf. Wie viel freundlicher und heller
das jetzt aussah! Die beschmutzten Handschuhe zog er ab und wollte sie
zu den Kränzen und dem Unkraut werfen, aber er faltete sie nur zusammen
und schob sie in die Tasche.

Als er eine halbe Stunde später den Kirchhof verließ, war ihm leichter
zu Mute. Und wenn diese ganze Heidelberger Reise von gestern und heute
keinen Zweck gehabt hatte, so war sie doch nicht verloren. Diese Stunde
an des Doktors Grabe war die Reise schon wert.

       *       *       *       *       *

Die Unterhaltung bei der Tafel wollte nicht recht in Fluß kommen, aber
die Schuld lag nicht an dem Gastgeber.

Karl Heinrich saß in der Mitte des langgedeckten Tisches neben Karl
Bilz, der langsam seine Befangenheit überwand und nichts zu thun hatte
als zu erzählen. Der Fürst stieß zweimal mit ihm an: »Auf Ihr Wohl,
lieber Bilz!« Dann, nach dem dritten Gang, erhob sich der Senior und
forderte nach einer kurzen Ansprache das Corps auf, »die Gesundheit
dessen zu trinken, dessen Zugehörigkeit zum Corps ›Saxonia‹ der
glänzendste Markstein in der Geschichte des Corps für einst, jetzt
und alle Zeiten bildet. Seine Durchlaucht beweist durch seine heutige
Anwesenheit in unsrer Mitte, daß auch Seine Durchlaucht sich gern der
fröhlichen Zeit erinnert, die mir und allen, die an ihr teilhatten,
unvergeßlich bleiben wird.«

Ein brausendes Hoch ging durch den Saal, die Kellner stürzten um den
Tisch mit Champagnerflaschen, die Gläser klangen, und nach allen Seiten
grüßend, mit seinem Glase leicht das der Nachbarn berührend, stand der
Fürst in der Mitte.

Die Stimmung wurde fröhlicher, und als kurz vor Ende des Diners der
Fürst sein Glas erhob, um nach einigen freundlichen Worten mit dem
alten Spruche das Corps zu grüßen: »~Saxonia! vivat, floreat, crescat,
in aeternum!~« – war der Bann gebrochen. Man jubelte, man umringte ihn.

Freilich war das der Höhepunkt, der nicht überboten werden konnte. Die
Wogen der Erregung ebbten rückwärts. O, Seine Durchlaucht war sehr
leutselig, sehr gütig, sehr verbindlich, aber selbst der tolpatschigste
Fuchs fühlte instinktiv, daß es da eine sehr deutliche Grenze gab.

Das trat bei einem Zwischenfall scharf zu Tage. Die Rede kam auf die
Abreise, und als der Fürst nach der Uhr blickte und in wenig mehr als
einer Stunde abfahren zu müssen erklärte, erhob sich ein allgemeines
Bedauern und Bitten: Durchlaucht sollte diesen einen Abend zugeben!
Einen so schönen Abend. Man würde aufs Schloß fahren oder nach
Neckargemünd! Oder eine Neckarfahrt veranstalten mit Musik und Lampions!

Der Fürst lächelte zwar, aber etwas kalt und gezwungen. Schließlich
wurde das gut gemeinte heftige Bitten so allgemein, daß er kurz zusagte.

Von da an saß er stumm, einsilbig, wie jemand, der zu weit gegangen
ist. Und – merkwürdig – jeder einzelne erkannte das. Ueber der
Tafel mit ihren Wein- und Speiseresten lag es plötzlich wie graue
Alltagsstimmung, die Gespräche wurden matter, verstummten, kamen
mühsam wieder in Fluß, verstummten von neuem. Die erhitzten Gesichter
erschienen stumpf, und der letzte Wein in den Gläsern blieb unberührt.

Auf dem Schloß nahm man den Kaffee, und hier draußen in der freien
Luft wurde der Fürst wieder unbefangener. Es war ein Tag mit ewig
wechselnden Stimmungen. Ein Musikcorps spielte, während ringsumher die
Heidelberger Professoren- und Bürgerfamilien saßen, deren Damen alle
Blicke und Aufmerksamkeit dem jungen Fürsten zuwandten. Er kannte die
meisten von Ansehen, mit der Kleinen da rechts hatte er in Jugenheim
getanzt, sie wurde dunkelrot, als er sie jetzt anschaute. Und da und
dort – allenthalben bekannte Gesichter.

Seine Magnificenz der Rektor mit seinen Damen kam vorbei, das Corps
grüßte, Karl Heinz grüßte mit. Und der Rektor, der ihn nicht kannte,
zog oberflächlich gleichgültig den Hut.

Ganz wie früher.

Als der Fürst gegen Abend mit dem Corps über die Berghänge und Wiesen
neckaraufwärts ging, war eine tiefe Ruhe über ihn gekommen. Herr Bilz
ging neben ihm und erzählte, die Stimmen der andern hörte er dicht
hinter sich, aber die Worte und Laute drangen zu ihm wie aus einer
weiten Ferne. Ihm war zu Sinne wie einem ermüdeten Wanderer, der einen
Tag ausruhen darf. Morgen ging es weiter; hierher nach Heidelberg
– zu den Studenten – würde er nun nie mehr zurückkehren. Er empfand
das ohne Schmerz. Sie waren ja alle freundlich, aufmerksam, aber im
Grunde genommen war er für sie ein Fremder geworden. An der Stelle des
einstigen »Du« und des »Karl Heinz« das steife »Eure Durchlaucht«. Er
würde diesen Tag nicht bereuen, er hatte ihm seine Jugend noch einmal
gezeigt, aber freilich nicht mehr in dem goldnen Sonnenschein der
Mittagshöhe, sondern in einem matten Abendschimmer.

Bisweilen blickte er zur Seite auf Karl Bilz. Vor Jahren hatten sie
zusammen tolle Streiche gemacht, gezecht, gepaukt, sich geduzt, und
heute ging dieser selbe Karl Bilz neben ihm wie ein Fremdenführer, der
»Seiner Durchlaucht« aus der Chronik von Heidelberg erzählt.

Nein, fort! Er hätte reisen sollen! Schon heute! Denn im Grunde
genommen war dieser ganze Tag nichts als ein langsames Würgen, ein Tag,
an dem alle Jugenderinnerungen erdrosselt wurden.

Ein einziges Wort, das aus vollem Herzen gekommen wäre, ein einziger
echter Laut, der sagen würde: »Du bist unser guter Freund gewesen,
wir haben dich lieb gehabt. Heute stehst du uns fern, aber wir werden
immer an dich denken, dich nie vergessen! Denn wir sind zusammen jung
gewesen!« ...

[Illustration: »Da drüben liegt Neckargemünd!« sagte Herr Bilz.]

Aber nichts, nichts!

»Da drüben liegt Neckargemünd,« sagte Herr Bilz.

»Ja, Neckargemünd.«

       *       *       *       *       *

Man fuhr spät abends in sechs Booten neckarabwärts nach Heidelberg
zurück. Die Musik im vordersten Kahne spielte ihre ewigen
Studentenlieder, die dem, der sie alle Tage hört, so langweilig
scheinen und dem, der sie nach langen Jahren zum erstenmal wieder
vernimmt, das Herz zermartern.

Der Fürst saß über den Bord gelehnt und ließ das vorbeiströmende
Wasser durch seine herabhängende Hand gleiten. Der Neckar ging nach
den Wolkenbrüchen der letzten Woche mit hohem Wasser, so daß die Boote
schnell stromab Heidelberg entgegenglitten. Am rechten Strande sah man
schon von weitem eine durch bunte Lampions hell erleuchtete Ufermauer.
»Da kommt Rüders Gasthaus,« sagte Herr Bilz.

»Wo?« Karl Heinrich fuhr aus seinem Brüten empor.

»Da.« Und nach einer Pause fügte Herr Bilz hinzu: »Die Corps verkehren
nicht mehr bei Rüder oder nur noch selten. Aber Durchlaucht erinnern
sich noch an Rüder? Wir haben da manche Nacht gesessen.«

»Weshalb verkehren die Corps nicht mehr bei Rüder?«

»Einen rechten Grund giebt es nicht. Das ist in Heidelberg und wohl
allenthalben Modesache. Vielleicht war das Bier nicht mehr gut. Die
Corps gehen jetzt meist nach Neckargemünd.«

»So!«

»Und wie das so kommt, jetzt ist bei Rüders kaum noch was zu thun.
Neues Publikum gewöhnt sich schwer hin, das ist immer so.«

Der Fürst antwortete nicht. Aus der dunkeln Nacht, die über dem Neckar
lag, kamen die Lampions immer näher, ein paar kümmerliche Lampions mit
kleinen Lichtstümpfen, die sich in dem Nachtwinde schaukelten. Schwer
und massiv ragte die Ufermauer aus dem Strome, während die Linden im
Garten, schwach beleuchtet, mit ihrem feinen Grün herüberschimmerten.
Die Musik war im vorderen Boote verstummt, man hörte nur das Plätschern
der Ruder und aus den weiter zurückfolgenden Booten undeutliche Worte.

Jetzt glitt der Kahn vorbei. Man sah mitten in den Garten hinein, der
fast leer war. Rechts und weiter hinten saßen ein paar Menschen, vorn
über die Mauer lehnte eine weibliche Gestalt, von der man nur die
dunkeln Umrisse sah.

Und langsam blieben die Lampions zurück, fuhr der Kahn stromab.

Rüders Gasthaus. Da verschwand es in der Nacht. Auch zu Grunde
gerichtet, auch verblüht ... Auch ...

Plötzlich begann vorn im ersten Kahn wieder die Musik. Laut, grell:
»Leichte Kavallerie!«

Da fuhr der Fürst empor. Der kalte Schweiß stand auf seiner Stirn.

»Umkehren!«

»Wie?« Herr Bilz und die vier andern im Kahn fuhren gleichfalls aus
ihrem Brüten auf.

»Lassen Sie umkehren. Zu Rüders.«

»Zu –?«

»Ja.«

Herr Bilz war so verdutzt, daß er einen Augenblick nicht wußte, was er
thun sollte. Dann erhoben die andern ein Rufen:

»Musik!! Umkehren!!«

Die Musik brach mit einem Mißton ab, gleich darauf glitten aus dem
Dunkel die andern Boote heran, es erhob sich ein Rufen und Fragen:
»Umdrehen?! Zu Rüders!« Man mußte acht geben, daß die Kähne nicht
aneinander stießen; erst nach einer Weile ordnete sich der Zug wieder,
und nun ging es, mühsam gegen den Strom, rückwärts.

Die Musik spielte: »Alt-Heidelberg, du Feine«, – die Lampions rückten
wieder näher, dann sah man, wie in Rüders Garten eine Bewegung
entstand, Herr Rüder selbst aufgeregt an den Landungssteg lief, und
da ...

Käthie!

Da stand sie! Sie hielt die Hand über die Augen, um besser in die
Dunkelheit zu schauen. Sie wartete ganz ruhig und ließ das Musikboot,
das den andern Platz machte, an sich vorübergleiten.

Jetzt erkannte sie die bunten Mützen:

»Die Sachsen! Kommt’s ihr endlich mal wieder?«

[Illustration: Sie hielt ihn umklammert und preßte sich zu ihm empor.]

Der erste, der ans Land sprang, war Karl Bilz; sie reichte ihm die Hand:

»Ihr seid’s so schlecht. Nie mehr zu kommen.«

Da – ihre Augen öffneten sich groß, starr, einen Schritt trat sie
zurück, als ob ein Gespenst aus der Nacht des Neckars vor ihr
auftauchte – dann ein Schrei, ein alles durchdringender Schrei:

»Karl Heinz!!«

Eine Totenstille ringsumher, keiner sprach ein Wort, nur der Neckar
rauschte und stieß das folgende Boot heftig gegen die Balken der Brücke.

»Du! Du! Du!« Sie hielt ihn umklammert und preßte sich zu ihm empor,
dicht an sein Gesicht.

       *       *       *       *       *

Es war eine seltsame Nacht, diese letzte in Heidelberg. Mit glühenden,
begeisterten Augen schauten die jungen Studenten auf Karl Heinrich
von Karlburg, der wieder Band und Mütze trug und zwischen ihnen saß,
jung wie sie. Ein Ahnen durchzog sie alle, was diese Nacht für den
bedeutete, der heute im hellen Tageslicht kalt und stumm gewesen war.

Eine letzte Nacht.

Die Musik spielte, Herr Rüder ging mit einem strahlenden Lächeln hin
und her, das sich auf seinem etwas vergrämten Gesicht wunderlich
ausnahm, und draußen an dem Zaun der Landstraße standen wieder wie
früher die jungen Burschen und Dirnen aus der Nachbarschaft, die lange
bei Rüders keine Musik mehr gehört hatten.

Nun wurde alles für Herrn Rüder wieder gut. Sie würden alle
zurückkommen, die Studenten, jeden Tag, jetzt mehr als je. Er würde
eine Tafel am Hause anbringen lassen zur Erinnerung an diesen Tag
mit dem Namen seines erlauchten Gastes. Und dann – es war gar nicht
auszudenken, was alles daraus folgen mußte ...

       *       *       *       *       *

»Liebe Käthie!«

Karl Heinrich hatte den Arm um ihre Schulter gelegt und lehnte neben
ihr im Schatten der zwei alten Linden am Ufer. Fern durch die Büsche
sah man den hell erleuchteten Garten, in dem Herr Rüder, trotzdem
seine Gäste nun schon Stunden hier waren, noch immer neue Lampions
aufhängte.

Es war wohl nicht mehr die kleine, süße Käthie von einst – ein fremder,
trauriger, fast alter Zug war in das Gesichtchen gekommen, aber Karl
Heinrich und das Mädchen hielten sich umschlungen, wie zwei, die sich
noch einmal gefunden haben, um Abschied zu nehmen für immer.

Sie sprachen nicht viel, sie hatten nie viel zusammen gesprochen.

Von den zwei Jahren hatten sie einander wenig zu erzählen, auch die
Zukunft streiften sie nur mit wenigen Worten. Was war darüber groß zu
reden?!

Daß er Hochzeit halten würde, bald schon, hatte sie in den Zeitungen
gelesen, das verstand sich ja auch ganz von selbst.

»Und du, Käthie?«

»I geh’ nach Oesterreich, Karl Heinz. Der Franzel schreibt alle
Vierteljahr’, i soll kommen, er will nun endlich heiraten.«

Stumm, wortlos lehnten sie aneinander, nur bisweilen flüsterte sie im
Kuß: »Karl Heinz«, und leise gab er zur Antwort: »Käthie.«

Ihre kleinen Erinnerungen tauschten sie aus, »Weißt du noch das ...?«
– »Denkst du noch daran, als ...?« – lauter belanglose Ereignisse, die
aber in dieser einen letzten Stunde wie ferne Wunder erschienen aus
einer Märchenwelt.

»Weißt du noch den Tag, Karl Heinz, als du fortgingst?«

»Ja.«

»Und sagtest: ›Ich komme wieder!‹ Nun bist du wiedergekommen.«

Er hielt sie auf seinem Schoß und wiegte sie leise, traumverloren. Das
einzige, was er in Heidelberg wiedergefunden hatte, das einzige aus der
Jugendzeit.

»Käthie?«

»Was?«

»Wir behalten uns. Ich vergesse dich nie und du mich nicht. Wir sehen
uns nicht wieder, aber wir vergessen uns nicht. Ich vergesse dich nie,
Käthie, nie, nie, nie!«

Die Musik drüben war längst verstummt, sie hatten nicht darauf geachtet.

Der Garten war leer, die Studenten fort, die beiden hatten es nicht
bemerkt. Man hatte Karl Heinrich mit gutem Takt den Abschied gespart.

Einer der Lampions nach dem andern erlosch, aber unter der Glasveranda
saß Herr Rüder neben zwei Windlichtern als treuer Wärter. Und der
Neckar rauschte.

Stunde um Stunde verrann. Bis der erste Hahn krähte und die grauen
Morgenschatten über den Fluß glitten.

[Illustration: Da stand Käthie an einen Baum gelehnt, die Arme schlaff
herabhängend.]

Hand in Hand gingen sie aus dem Garten auf die einsame Landstraße.

Noch hundert Schritte geleitete Käthie ihn über den Wegweiser hinaus,
bis dort, wo die ersten Gärten der Stadt beginnen.

Da blieben sie stehen und umarmten sich zum letzten Male.

»Käthie –«

»Karl Heinz –«

Und noch einmal wandte er sich, ehe er um die Wegbiegung ging. Da stand
Käthie an einen Baum gelehnt, die Arme schlaff herabhängend. Er konnte
ihr Gesicht nicht mehr erkennen, sie bewegte sich nicht, sie hob keine
Hand.

Es war Sonntagmorgen.

[Illustration]



Deutsche Verlags-Anstalt in Stuttgart

Von dem Verfasser der Erzählung »_Karl Heinrich_« sind ferner in unserm
Verlage erschienen:

[Illustration: Wilhelm Meyer-Förster.]


    =Süderssen.= Roman von =Wilh. Meyer-Förster=. =4. Aufl.=
        Geheftet M. 3.—, elegant gebunden M. 4.—

Mit besonderer Lebendigkeit und in packenden Bildern führt uns der
Dichter in diesem Werke das Leben in Börsenkreisen und auf dem
Rennplatz vor Augen, das kaum ein anderer Schriftsteller der Gegenwart
so zu schildern versteht wie er.


    =Derby.= Sportroman von =Wilh. Meyer-Förster=. =3. Auflage.=
        Geheftet M. 3.—, elegant gebunden M. 4.—

Ein fesselnder, lebhaft anregender Roman. Psychologische Vertiefung,
glückliche Episodenzeichnung fehlen nicht u. werden dem Buche weit über
den zunächst bestimmten Interessentenkreis hinaus Freunde gewinnen.

            Adels- und Salonblatt, Berlin.


    =Heidenstamm.= Roman von =Wilh. Meyer-Förster=. =6. Auflage.=
        Geheftet M. 3.—, elegant gebunden M. 4.—

Eine Geschichte, ebenso einfach im Stoff wie schlicht erzählt. Mit
dieser Schlichtheit aber, der es an feinen Stimmungselementen nicht
fehlt, erreicht sie gerade die rechte Wirkung.

            Velhagen & Klasings Monatshefte, Leipzig.


    =Die Fahrt um die Erde.= Roman von =Wilh. Meyer-Förster=.
        Geheftet M. 3.—, elegant gebunden M. 4.—

Ein Radfahrer-Roman, der allen Stahlroßreitern aufs wärmste empfohlen
sei. Was Meyer-Förster immer auszeichnet: die straffe Komposition, die
starke, bis zum letzten Kapitel vorhaltende Spannung und der kurze,
treffende Ausdruck – findet sich auch in diesem Roman durchweg.


Durch alle Buchhandlungen zu beziehen.



Deutsche Verlags-Anstalt in Stuttgart

In unserm Verlage sind erschienen:


Die Saxoborussen. [Icon]

Roman

            von =Gregor Samarow=.

3 Bände. Geheftet M. 12.—, elegant gebunden M. 15.—

=Der prächtige Hintergrund der Heidelberger Universität, auf welcher
das Corpswesen immer in höchster Blüte stand, verleiht diesem Buche
einen ganz besonderen Reiz.= Die Dichtung fesselt den Leser durch den
Reichtum der Scenerie, die Lebenslust und Jugendfrische der Charaktere
und die Anmut seiner Frauengestalten.

            Heidelberger Zeitung.

=Ein flott geschriebener, durchwegs fesselnder Studentenroman=,
bei dessen Lektüre man sich in die fröhliche Zeit des Burschentums
zurückversetzt fühlt und den auch der Philister mit Behagen lesen wird.

            Tagespost, Graz.


Auch Einer. [Icon] [Icon]

Eine Reisebekanntschaft

            von =Friedrich Theodor Vischer=.

Mit Lichtdruck nach Professor Donndorfs Büste. =_9. Auflage._=

Geheftet M. 9.—, elegant gebunden M. 11.—, in Liebhaberband M. 13.—

Eines der eigenartigsten Bücher, die in deutscher Sprache geschrieben
sind; in seinem Durcheinander von Erzählung und Tagebuch unendlich
kunst- und formvoll.

            Leipziger Zeitung.


Die Sebalds. [Icon] [Icon]

Roman aus der Gegenwart

            von =Wilhelm Jordan=.

=_3. Auflage._=

2 Bände. Geheftet M. 10.—, elegant gebunden M. 12.—

=Ein wohlgegliederter, inhaltreicher Roman, der ein lebensvolles, weit
ausblickendes Bild der Gegenwart entrollt=, ohne den Rahmen einer
Familiengeschichte zu überschreiten. Zwischen der alten und neuen
Welt hin und her spielend läßt er keine der großen Fragen, welche uns
bewegen, unberührt, und weiß innerhalb eines Rahmens auch für die
Judenfrage eine glückliche Lösung zu finden.

            Tägliche Rundschau, Berlin.


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_Geschenkbücher für Damen._

Deutsche Verlags-Anstalt in Stuttgart.


    =Aus der Töchterschule ins Leben.= Ein allseitiger Berater für
        die jungen Mädchen. Herausgegeben von =Amalie Baisch=. 10.,
        =neu bearbeitete Auflage=. Elegant gebunden M. 6.—

Ein Buch von seltener Reichhaltigkeit, das deutschen Mädchen im großen
wie im kleinen mit gutem Rat zur Seite steht.

            Münchner Neueste Nachrichten.


    =Das junge Mädchen auf eigenen Füssen.= Ein Führer durch das
        weibliche Berufsleben von =Amalie Baisch=. Elegant gebunden
        M. 3.—

Ein verständnisvoller Führer und Berater für alle junge Mädchen, die
sich einem weiblichen Erwerbszweig widmen sollen und vor der Wahl eines
solchen stehen.


    =Ins eigene Heim.= Ein Buch für erwachsene Mädchen und junge
        Frauen von =Amalie Baisch=. =4. Auflage.= Elegant gebunden
        M. 6.—

Ein ebenso schönes und anziehendes als praktisches litterarisches
Geschenk.

            Schweizer. Familienwochenblatt, Zürich.

    =Die elegante Hausfrau.= Mitteilungen für junge Hauswesen. Von
        =Isa von der Lütt=. =5. Auflage.= Elegant gebunden M. 5.—

Wir können das Büchlein nur warm empfehlen. Es lehrt nicht nur, wie man
sich im gesellschaftlichen Verkehr zu benehmen hat, sondern auch, wie
man seine Mittel anwenden muß, um, ohne irgendwie anzustoßen, allen
Ansprüchen, welche die Gesellschaft stellt, zu genügen.

            Von Haus zu Haus, Leipzig.


    =Ueberleg’s!= Plaudereien von =Tony Schumacher=.

            Elegant gebunden M. 4.—

Eine Sammlung von Plaudereien, wie wir sie von der Verfasserin schon
gewöhnt sind und lieb gewonnen haben! – Das Buch kommt von Herzen und
regt, erfrischend und erwärmend, vielerlei Gedanken an.


    =Vom Schulmädel bis zur Grossmutter.= Plaudereien von =Tony
        Schumacher=. =3. Auflage.= In Leinwand gebunden M. 4.—, in
        Seide gebunden M. 5.—

Ein Büchlein voll Schalkheit und Innigkeit, voll Ernst und Poesie.

            Der Bazar, Berlin.


    =Spaziergänge ins Alltagsleben.= Plaudereien von =Tony
        Schumacher=. =3. Auflage.= Elegant gebunden M. 4.—

Ein Brevier modernen weiblichen Weltverstandes, nicht so neu, daß man
zu sagen vermöchte, es habe aus früherer Zeit keine litterarischen
Vorbilder, aber nützlich und lesenswert genug, um rückhaltlos
freundliche Empfehlung zu verdienen.

            Neue Freie Presse, Wien.


Durch alle Buchhandlungen zu beziehen



Deutsche Verlags-Anstalt in Stuttgart

_Illustrierte Unterhaltungs-Lektüre._


    =Eine grosse Dame.= Roman von =Johannes van Dewall=. 2 Bände.
        =3. Auflage.= Mit 155 Illustrationen von R. Blumenau. In
        prächtigem Farbendruck-Umschlag geheftet M. 3.—

Die Handlung atmet Leben und Wahrheit, es ist die alte Geschichte von
der Liebe, die zum Verhängnis wird. Ein warmes Kolorit durchweht die
Entwickelung des ganzen Liebesdramas.

            Rheinisch-Westfälische Zeitung, Essen.


    =Der Spielprofessor.= Roman von =Johannes van Dewall=. =3.
        Auflage.= Mit 176 Illustrationen von G. Brandt. In
        prächtigem Farbendruck-Umschlag geheftet M. 3.—

Der Roman schildert das Treiben von Gaunern, welche zu der Zeit, als in
Baden-Baden noch das Hazardspiel blühte, unter hochklingenden Namen ihr
Wesen trieben, und ist flott und unterhaltend geschrieben.

            Deutsche Hausfrauen-Zeitung, Berlin.


    =Der Ulan.= Roman von =Johannes van Dewall=. =3. Auflage.=
        Mit 141 Illustrationen von G. Brandt. In prächtigem
        Farbendruck-Umschlag geheftet M. 3.—

Weniger in Form eines Romans, denn als sehr einfache Erzählung werden
hier die historischen Ereignisse der Pariser Belagerung und Kommune in
lebendigen Schilderungen mit einer Liebesgeschichte verflochten. Das
Buch ist frisch und zum Teil von köstlichem Humor.

            Gegenwart, Berlin.


    =Unkraut im Weizen.= Roman von =Johannes van Dewall=. =3.
        Auflage.= Mit 118 Illustrationen von R. Blumenau. In
        prächtigem Farbendruck-Umschlag geheftet M. 3.—

Zeichnet sich durch hübsche Schilderungen, feine Charakteristik der
handelnden Personen und einen weniger befriedigenden als frappierenden
Abschluß aus.

            Breslauer Zeitung.


    =Die geheimnisvolle Sängerin.= Roman von =Karl Detlef=. =3.
        Auflage.= Mit 95 Illustrationen von R. Blumenau. In
        prächtigem Farbendruck-Umschlag geheftet M. 3.—

Selten ist uns ein Buch vorgekommen, das allen, ja auch den
höchstgespannten Anforderungen, die man an eine Unterhaltungslektüre
nur stellen kann, in so reichem Maße entspräche.

            Hamburgischer Correspondent.


    =Kadettengeschichten.= Erinnerungen aus meinen Kadettenjahren
        von =Johannes van Dewall=. Illustriert. =3. Auflage.=
        Geheftet M. 2.—

Reminiscenzen, in denen sich der sprudelnde Uebermut der Jugend
kennzeichnet.

            Deutsche Heereszeitung, Berlin.


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    Weitere Anmerkungen zur Transkription


    Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Die
    Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht.



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