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Title: Wera Njedin: Erzählungen und Skizzen
Author: Kolb, Annette
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Wera Njedin: Erzählungen und Skizzen" ***


                       DAS KLEINE PROPYLÄEN-BUCH


                              Annette Kolb



                              Wera Njedin


                        Erzählungen und Skizzen


                      Im Propyläen-Verlag / Berlin

                        Im Ullsteinhaus, Berlin



                                 Inhalt


                     Wera Njedin                  7
                     Varramista                  15
                     Torso                       39
                     Geraldine                   77
                     Der Geiz                    93
                     Schiffahrt und Eisenbahn   101
                     Donaueschingen             115
                     Marseille                  123
                     Venedig 1922               135
                     Abschied von Venedig 1924  151
                     Molières Tod               161



                              Wera Njedin


                         Für Germaine Stockley

Erst später wurde uns bewußt, was für lustige Leute wir doch eigentlich
gewesen sind, als wir zu Hause noch alle beieinander waren. Damals
ahnten wir es ja nicht. Wir hielten uns für tragische Figuren, die nur
aus Trotz, und um andere hinters Licht zu führen, eine so vergnügte
Maske zur Schau trugen, sahen wir doch sogar darin eine heroische Geste,
daß wir als halb Abgebrannte immerzu offenes Haus hielten. In
Wirklichkeit geschah dies aber nur, weil es uns Spaß machte. Da wir
keinem bestimmten Kreis angehörten, hatten unsere Empfänge immerhin die
Eigentümlichkeit, daß sie Leute zusammenführten, die sich nicht zu
begegnen pflegten, jenem Milliardär Gelegenheit boten, sich, einmal und
nicht wieder, mit jenem armen Teufel voraussetzungslos zu unterhalten,
und jenem ehrgeizigen und hoffnungslosen Streber, einmal und nicht
wieder, mit jenem Staatsmann ein paar Worte zu wechseln. Jedenfalls war
es das Unkonventionelle mit all seinen unberechenbaren Möglichkeiten,
das uns in Spannung hielt, und es dünkte uns das Monopol und die
Romantik unseres Salons, daß er gewissermaßen eine Freistatt war, wo
sich Fäden anspannen und Dinge einleiten ließen, deren Tragweite wir
maßlos übertrieben. Und so bildete sich eine Protegierader in uns aus,
die, anfänglich Spielerei, dann zur Grille wurde und endlich in Manie
ausartete. Jedes hatte seine besonderen Schützlinge, zu deren Förderung
eine Soiree nach der anderen veranstaltet wurde. Hatte alles geklappt
und durften wir still triumphierend wahrnehmen, daß sich das Spiel
unserer Intrigen wunschgemäß entrollte, so saßen wir, nachdem unsere
Gäste uns verlassen hatten, noch lange über unser Tun wie über dem
siebenten Schöpfungstage auf, dramatisierten unsere Absichtslosigkeit
und fanden alles gut und höchst merkwürdig, besonders uns selbst.

Nun war es ja schon vorgekommen, daß eine ältere Freundin des Hauses
sich am nächsten Morgen wieder hergetrieben fühlte, nicht etwa, wie wir
bei ihrem Erscheinen erwarteten, um auf unser gelungenes Fest
zurückzukommen, sondern im Gegenteil ihre wohlgemeinten Befürchtungen
betreffs unserer so wenig gesicherten Zukunft auszusprechen und von dem
Ernst des Lebens sowie unserem Leichtsinn zu reden, der uns die
kostbare, enteilende Zeit so vergeuden ließ. Solche Kuckucksrufe wurden
ungnädig aufgenommen. Aber im stillen erschraken wir doch sehr vor
allem, was uns an die Wirklichkeit erinnerte. Zog sich die eine auf
mehrere Tage in ihr Atelier zurück, nahm die andere Orgelstunden, so
fing ich infolge innerer Panik sehr früh zu schreiben an. Ich verfaßte
sehr schöne Artikel über den Tiefsinn in der Malerei, den Unwert der
Renaissance und den Vorteil der Fremdwörter. Unter dem Titel: „_Rose la
France et Bière de Munich_“ tadelte ich den Frankfurter Frieden. Die
Redakteure, über die vielen Briefmarken betroffen, mit welchen ich ihre
Aufmerksamkeit erzwingen wollte, sandten mir alles ziemlich umgehend
zurück. Inzwischen war auch ein Stilleben fertig geworden, und man wußte
allerseits nicht mehr recht, was tun. Wir gaben also wieder eine Soiree.

Damals hielt sich eine strahlend junge und strahlend schöne Amerikanerin
in München auf. Wenn auch nicht für ewig, so verliebte sich doch jung
und alt auf den ersten Blick in sie, und wir pflanzten sie, stets auf
das Dekorative bedacht, nicht anders als einen Blumenbusch, mit Vorliebe
bei uns auf. Sie war dabei ein harmloses und liebenswürdiges Mädchen,
aber von einem geradezu närrischen Snobismus. Obwohl stets ihre
Verwandtschaft mit der Prinzessin Pocahontas betonend, imponierte ihr
schon jede Baronin. Meistens erschien sie in Begleitung eines
nichtssagenden, durch seine Goldplomben wie durch seine ewigen rosa
Hemden ermüdenden Bruders. Eines Abends aber – es war gerade vor ihrer
Abreise – brachte sie auch ihren Vater mit.

Entschuldige, lieber Leser, wenn ich diesen ehrenwerten Mann gleich
wieder stehen lasse, und gestatte, daß ich dir Fräulein Wera Njedin
vorstelle.

Ich hatte sie zuerst entdeckt, und sie stand unter meinem ganz
speziellen Schutz. Trotz ihrer großen Sprachkenntnisse machte sie den
Eindruck einer ausgesprochenen, wenn auch sehr sympathischen Wilden.
Dünn wie ein Faden, schwarz wie die Nacht und kreideweiß, war sie von
einer intensiven, ja entzückenden Häßlichkeit. Auch sonst machten sie
mir zwei Dinge besonders wert: ihre Kunst im Kartenschlagen und ihre
wundervolle Stimme. Keine sehr bildbare, leider, und man konnte weniger
ihr Talent als ihren Gesang, weniger ihren Gesang als ihre Stimme, und
weniger ihre Stimme als ein paar unvergleichliche Töne in der Mittellage
rühmen. Mit sanfter, unwiderstehlicher Glut und wie der Leier des
Orpheus entblüht, drangen sie ans Herz. Man dachte sich dies seltsame
Mädchen inmitten weiter Steppen vor einem Zelt, einem Wachtfeuer, bunte,
malerische Volksstämme im Banne haltend, denn ihr Sang hatte dieselbe
bühnenfremde Wildheit wie sie selbst. Ihre Laufbahn schien höchst
zweifelhaft, ob auch alles darauf ankam. Sie führte ihr sehr reduziertes
Erbteil sozusagen in der Tasche mit. Wenn das zu Ende war, dann stand
für dies romantische Geschöpf die Welt versperrt. Wera Njedin schien sie
zu kennen. Sie machte sich wenig Illusionen. Aber wenn sie bei guter
Laune war, konnte sie die Gespenster ihrer Zukunft noch schwarzer und
grotesker ausmalen, als sie zu sein drohten, und die lustigsten Fratzen
dazu schneiden. Es läßt sich denken, wie sehr eine so gefährdete
Existenz unser Interesse erregte.

Kehren wir jedoch zum Vater des „Blumenbusches“ zurück, der allein und
gelangweilt in einer Ecke steht. Aus bescheidensten Anfängen – die
Verwandtschaft der Geschwister mit der Prinzessin Pocahontas bestand
wohl nur mütterlicherseits – hatte er sich zu einer Art Triumvir seiner
Vaterstadt emporgeschwungen und ihr schon ein Spital, einen Park und ein
Museum gestiftet. Und nun vernahm ich, daß er gerade im Begriffe stand,
ihr über Nacht auch ein Opernhaus zu schenken. Dazu war er auf einige
Tage nach Europa hinübergefahren.

Ein im Grase kauernder, von Spähern umringter Hase konnte die Ohren
nicht bebender spitzen, als ich es da tat. Die Fahne einer neuen Intrige
war blitzschnell in mir aufgezogen, das Seil meiner Pläne schon
verankert. Wera sollte in einer Luxuskabine nach dem wilden Westen
hinüberschaukeln und an der Oper dieses Stadtvaters eine wilde Gage
beziehen. Die Schwierigkeit des Unternehmens kannte ich wohl. Denn
leider war der biedere Mann von dem äußeren Glanz seiner Kinder so
geblendet, und vollends in den Kunstsinn seines rosa und goldenen Sohnes
setzte er ein blindes Vertrauen. Dieser hatte sich bereits von einem
blutigen Dilettanten, der aber Reichsrat der Krone Bayerns war, beraten
lassen. Statt uns zu fragen! Die ganz unbekannte Wera Njedin dagegen
wurde von ihm gründlich übersehen. Ohne Anhang und Empfehlung war sie
sehr buchstäblich von Rußland herübergeschneit. Auch nicht der kleinste
Attaché diente ihr zur Folie. Wie ließe sich da in aller Eile ihr
Engagement erreichen? Dennoch mußte es unverzüglich erwirkt werden.

Da kam uns eine geniale Idee. Ihr Notenstand lag am Flügel auf.
Geschickt wurde er hinausgeschmuggelt, draußen mit Widmungen versehen
und unter einem anderen Schutzdeckel wieder hereintransportiert. Nach
einer Weile wurde Wera mit verteilten Rollen von uns interpelliert. Die
eine hatte sie zum Singen aufzufordern, die andere in ihren Heften zu
kramen und erstaunt auszurufen: „Da hat sich ja das halbe Winterpalais
eingetragen! _Hommage admiratif du Prince de Boutonoff_“ las sie laut
und wie um Wera aufzuziehen vor. Auf einem zerrissenen Notenblatt hatte
eine Duchesse Alice de Montreuil die Worte: „_Pour la voix d’or de ma
chère Wera_“ eingetragen, und mein spezielles Werk war die auf
Tschaikowskys „Sehnsucht“ in zackigen Riesenlettern vor Vornehmheit
förmlich baumelnde Inschrift: _Ne m’oubliez pas!_ Anastasie.

Schon trieb der Blumenbusch heran. Weniger naiv maskierte der Bruder
seine Neugier mit einem weiten Katzenbogen, bevor er sich näherte. Der
Moment zum Probesingen aber war gekommen, ich öffnete den Flügel und bat
um Schweigen. Die Gewalt, mit welcher wir unsere Lachkrämpfe auf später
unterdrückten, verlieh uns teils todernste, teils bezechte Mienen. Wera,
vielfach auf den Fuß getreten, ahnte, wieviel im Spiele war. Sie sang
die Arie der Fides mit schmerzerfüllten Akzenten, welche das
unverdorbene Herz des alten Selfmade-Amerikaners rührten. Mit
ausgestreckten Händen eilte er auf sie zu. Es war erreicht und der
Widerstand der Geschwister Pocahontas war gebrochen. Und Wera war
engagiert. Ach ja, es waren heitere Tage!



                               Varramista


                            Für Zeb-On-Nissa


                                   I

Durch die Abgetrenntheit der letzten Jahre sind die Völker in allen
ihren Eigenheiten charakteristischer sie selbst geworden, als sie es
vielleicht je im Laufe ihrer ganzen Geschichte gewesen sind. Alle ihre
Äußerungen tragen ein so lokales Gepräge, als ob keine Eisenbahnen
wären, und sie sind so stark mit sich selbst beschäftigt, daß ihnen, was
sie vorstellen, in demselben Maße entgeht, wie den Außenstehenden, was
sie sind. Man muß heute die Nationen aufsuchen, um sie zu begreifen. Der
Faszismus spricht italienisch, nur italienisch. Mit dem Auslande, in dem
er so viel von sich reden macht, befaßt er sich herzlich wenig. Die
faszistischen Zeitungen interessieren sich ausschließlich für die
Patria. Kinderkreuzzügler nannte ein florentinischer Witzbold die
Faszisten. Wem aber fiele es im Ausland ein, sie so zu benennen? So oder
so ist die Bezeichnung vorschnell gewesen; aber mit den Leuten um Hitler
oder Leon Daudet sind sie fürwahr nicht zu vergleichen. Die _Camiccie
nere_ sind vielmehr wie ein helles Mantelfutter, das nichts von seiner
ominösen Außenseite weiß. Ja, die Völker sind heute charakteristischer
sie selbst, und was die Italiener angeht, so stieg der Schmutz ihrer
Dörfer noch nie so hoch. Dabei hat die Reinlichkeit der italienischen
Villa und der Palazzos eine Blume und Poesie, zu der gehalten die
Sauberkeit der sauberen Länder gar nüchtern und langweilig erscheint.
Aber zwischen den Herrenhäusern und den Behausungen des Volkes ist kein
Übergang. Wäre ich Faszist und hätte mit einer Handvoll Leute den großen
Kehraus vorgenommen, und wäre ich als neuer Besen in meinem Lande
aufgetreten, ich wüßte, was ihm noch obläge: mit eisernem Griffe in alle
Straßen und Plätze und Straßenecken hineinzufahren, deren Anblick, deren
Befund meinem gesteigerten Nationalgefühl (wennschon) allzupeinlich
wäre.

Allem Gottesgnadentum und allen Servilismen zum Trotz waren zwar nicht
der Verfassung, wohl aber der Anlage nach diejenigen Länder im
vorhinein, bevor es eine Demokratie gab, demokratisch, in welchen das
Dorf und die Kleinstadt ihre Blüte erfuhren und der „kleine Mann“ in
einem würdigen statt ungefähren Rahmen seine Tage verlebte. Aber eine
Hochkonjunktur herrlicher Paläste und herrlicher Dörfer zugleich ist
noch nicht dagewesen, und die einen gingen noch jederzeit auf Kosten der
anderen. So die, wie in einer Spieloper blitzblanken Ortschaften der
heutigen Schweiz, des gestrigen Zentraleuropas, der skandinavischen
Länder: als müsse unverweilt eine Musik von Boieldieu einsetzen, oder
Zerbinetta, zum Tanze geschmückt, warte nur auf ein Zeichen, um
hervorzutreten. Und doch, wie ausdrucksvoll, wie interessant ist gerade
der Kopf der Contadina, ihr verlorenes Profil unter dem kleidsamen
Schleier, der übrigens das Glanzstück ihres sonntäglichen Staates
geworden ist. Sollte er den Faszisten nicht einen Wink bedeuten, zu
einer Hebung einer progressiven Aufklärung des niederen Standes zu
schreiten? Wie brach liegt da ein weites Feld vor ihnen, denn von ihnen,
den Faszisten, reden wir! Der große Anhang, den sie im eigenen Lande
fanden, hat seinen besonderen Grund: Die Bewohner der Dreckshäuser,
deren Fenster wie schwarze Löcher den im Auto Vorbeisurrenden anstarren,
wissen es seit vielen Jahrhunderten nicht anders, als daß es Paläste
gibt in ihrem Glanz – und ihre eigene Unterkunft mit all dem Unrat, der
sie umgibt. – Sie wissen es nicht anders. Der Gedanke an eine
Verschönerung der Lebenshaltung, des Rahmens, in welchem sie sich
abspielt, liegt noch weitab. Sie wissen es nicht anders. Hier liegt der
springende Punkt. Der Italiener aus dem Volke ist höflich, ohne servil
zu sein, er wäre sehr bildungsfähig. Vorläufig ist er leicht erregbar
und wild. Der Tiefstand seiner Kaste beruht nicht auf Unterdrückung,
sondern auf Vernachlässigung (wie überall hat sich der Bauer schwer
bereichert). Nichts ist von so grausamer Trauer wie die italienische
Ebene, als wüßte auch die Natur von diesen trostlosen Dörfern. Die
Grausamkeit nicht nur der Natur, auch des Lebens selbst brütet über ihre
herbstlichen Felder hin. Welkes Weinlaub schlingt sich da von Stock zu
Stock, Kränzen gleich über eine Erde hingeworfen, die nur ein Friedhof
ist. Wie lachend ist Zentraleuropa, verglichen mit der Straße, die nach
Pisa führt! Der Bolschewismus aber in dem sozial so unbalancierten
Italien hätte Europa den Rest gegeben. Eine solche Verfinsterung und
Vergiftung seines Blutes so nah an seinem Herzen hätte es nicht
ertragen.

Fahrten durch italienische Dörfer oder den _piccolo borgo_ boten
jedesmal dasselbe Bild: in den Hauptstraßen, und war es noch so spät,
stand eine aufgeregte und heftig gestikulierende Menge, von Fahnen
umweht (ich sah drei Wochen hindurch die Ortschaften nie anders als
beflaggt, alle Fenster bewimpelt). Der Grad der Erregbarkeit dieses
Volkes war unschwer zu ermessen: es in die Hand nehmen und auf die
Schlösser losmarschieren lassen, um den Besitzern Ovationen zu bereiten,
war ebenso leicht, wie dieselben Scharen denselben Weg, jedoch als
ebenso viele Brandstifter anzuführen und den Conte oder Marchese
niederzuknallen. Als ich den beängstigend langen Zug die Zypressenallee
heraufziehen und im Scheine der Fackeln den Riesenperystil und die
Boskette belagern sah, glaubte ich wieder alle zu erkennen, die so oder
so hätten sein können: bestialische Mörder oder fanatische Beschützer
dieses _Padrone di casa_, der mitten in seinem _pranzo_ unterbrochen und
hervorgeholt wurde (just als sollte er aufgeknüpft werden) und – nicht
ahnend, daß er noch schutzbedürftig sei, die _Evvivas, Alas alas,
alalas!_ seiner Retter schnell gefaßt mit einer Ansprache quittierte.
Und dann flossen Ströme von Chianti. Und so machte der Faszismus
Karriere. Kunststück! Es ist wahr, daß er Italien gerettet hat. Laßt ihm
noch seine kindliche Erpichtheit, es nachträglich Wort haben zu wollen.
Das indolente Rom träumte in den Tag, als es plötzlich, von seinen
anrückenden Befreiern aufgeschreckt, schnell die Schienen aufriß und
sich wie hinter Zugbrücken gegen sie verschanzte. Ohne bedroht gewesen
zu sein außer von seinen Befreiern, ward es dann sehr peremptorisch
befreit und es gab über Nacht eine _Roma Liberata_.


                                   II

Wieder fuhr ich zwischen den hohläugigen Häusern der Dörfer dahin, auf
der Straße, die nach Pisa führt. Von der aufgeweichten Erde war das Auto
überspritzt. Man hätte die Sonnenstrahlen fangen mögen, so schnell
erbleichte ihr Gold und schöpfte der Sturm wieder Atem. Denn am Himmel
war Krieg.

Die plötzlich auftauchende Gestalt eines _Camiccia Nera_ schreckte mich
da – Halt gebietend – aus meinen Novemberträumen. Er streckte den Arm
vor mir aus, wie ihn die Legionen des Cäsar zum Gruß ausgestreckt haben
sollen, und mit den Worten „_Capitano Fascista_“ schwang er sich
theatralisch und elegant, aber ohne weiteres neben den Chauffeur.

Ich war wieder einmal gerettet.

Und weiter ging’s: rechts der Berg von Lucca, in seiner Vereinzelung die
wühlende Trauer dieser Ebene noch mehr akzentuierend. Seitwärts starrte
auf halber Höhe das grausame Weiß von Carduccis Heimatsort. Wer mochte
diese Felder bis zu ihrem Ende durchmessen? Führte denn ein Weg hinauf
zu diesem grellen und gewürfelten Kranz von Mauern? Bogen nicht alle
Straßen von ihnen ab?

Mein schlammüberzogener Wagen indessen gelangte nach Pisa, und von
neuem, Gott sei Dank, waren wieder Paläste zur Rechten und Paläste zur
Linken, oder sogar mitten auf die Straße gestellt, wie um sie zu
versperren. Unter einem geklärten Firmament wurde sodann das Grundstück
aller Grundstücke erreicht, auf welchem der Campo Santo und die
Kathedrale, der schiefe Turm und das Battisterium zusammen stehen.

War ich zwischen den hohläugigen Häusern so vieler Ortschaften gefahren,
um unvorbereitet und unvermittelt zu diesen schwebenden Kolonnaden,
diesen singenden Säulenreihen emporzusehen, die kein Spiel der
Phantasie, kein Abbild je vorwegnehmen könnte? Zum Schächer hatte mich
der Anblick all der Dörfer herabgedrückt, dem aber nun die Verheißung
sich erfüllte: „Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein!“

Was begab sich hier und was vernahm das überwältigte Gemüt? Was für
Knospen bersteten ihm? Welches „Sesam, tu dich auf!“ ließ Pforten der
Hoffnung in ihren Angeln drehen? Ich setzte im Sturm über die Stufen des
Turmes, den roten Streifen am Himmel und der spürbaren Nähe des Meeres
entgegen. In der Nacht trieb es mich noch einmal zurück. Der Mond war
aufgegangen. Der sonst so Teilnahmslose schien mit einbezogen. Auf mein
Wort, er spielte voll herab. Ein Campo Santo, eine Kathedrale, ein
schiefer Turm? Oft vernommene Worte! Was bedeuteten sie? – Die Harmonie
der Sphären, es ist die Sphärenharmonie, von welcher dieser flache
Rasenplan mit diesem schiefen Turm, diesem Dom, diesem Battisterium
verhaltenen Atems rätselhaft erdröhnt.

Hierher, ihr Kommissionen! Unter diesem Himmel würdet ihr nicht
vergebens tagen. Es ist der Himmel desselben Landes, das mit einer
solchen Vergangenheit, in Rom das Denkmal Viktor Emanuels, diesen giftig
weißen Höllenbraten, ansetzte und heutigentages keine Maler, keine
Architekten mehr erzeugt. Wäre es nicht wichtig, die Gründe hierfür zu
suchen? – Der Zauber italienischer Kunst lag in ihrer Gedanklichkeit.
Weltumspannendes zieht seine Linien in den Madonnengesichtern und macht
sie noch zarter, zerbricht sie fast. Wo ist die Seele hin des Jacopo
della Quercia oder jenes Ignoto Fiorentino, dessen Bild in den Uffici
hängt? Die abgründigsten Stellen der Chaconne von Bach greifen nicht
tiefer. Welche Beziehung zur Unsterblichkeit! Und was für Italiener sind
das gewesen?

Auch um Siena aufzusuchen, wählte ich eine Vollmondnacht. Der Zug stieg
wie zwischen hell beschienenen Vorhöfen des Himmels an, von immer
frischeren Winden umstrichen. Und bei der Ankunft ging es erst recht
aufwärts, die lange Stadtmauer entlang, zur steil gewundenen Via Cavour,
die zur Linken, mit allen Schauern, die herrliche Piazza del Campo in
der Versenkung hinter sich läßt. Die Cafés waren noch offen, festlich
trieb der fahnenumwehte Faszismus unter dem mitternächtigen Mond. An
einer besonders stolzen Kreuzung von Palästen, Standbildern und Säulen
warf mich ein pestilenzialischer Gestank aus der Ekstase. Die
Spaziergänger schienen ihn nicht zu bemerken. Gemütlich wogte der Korso
an einer Passerelle auf und nieder, die zwischen Negerkabusen noch ein
Skandal gewesen wäre.

                   *       *       *       *       *

Schauderhafte alte Kokotten kamen die Wunderbauten entlang. War dies das
Siena, zu dem ich wie auf Knien gepilgert war? Die Gassen stiegen in
ehernen Schleifen zwischen den senkrechten Palästen empor, und es war,
als müsse sogleich ein Gipfel, eine Fernsicht kommen. Aber der höchste
Platz war ganz von Zinnen und Arkaden und Türmen umstellt, und nur sie
und der Dom sahen ins Weite. Er thronte in der Mitte, und seine
überladene Fassade (_mauvais gout du XIVe_ oder Restaurierungen?) konnte
die Schönheit des Ganzen nicht beeinträchtigen. Ringsum war Leere. Ich
stand allein. Unten in der Via Cavour blieben die Cafés noch lange
überfüllt, die Lichter und Fahnen in ihrem Braus, und der Gestank der
Passerelle inmitten des elegantesten Viertels tobte nach allen
Richtungen.

Ich durchschritt ein anderes Siena freilich als das, welches seine
Pracht entstehen sah. Allein die Verwandtschaft war nur suspendiert und
jederzeit wieder anzutreten. Das reizvolle Lokal, einem hohen Gewölbe
ähnlich, in dem ich zu Mittag aß, war von poetischer Sauberkeit, in
Zartheit und Geschmack. Ich verließ Siena wie im Traum. Kein Zweifel, es
war noch sein altes Tageslicht, derselbe getönte und schweifende Himmel
hüllte es ein wie dereinst. Was aber war heute von der großen
Gemeinschaft der einstigen Meister Italiens geblieben? Nur ganz
vereinzelt, ohne Gefolgschaft der inneren Vereinsamung anheimgestellte
Künstler, wie hier Gabriele d’Annunzio, dort Ferruccio Busoni. Der Rest
ist die Leere der Straße, die nach Pisa führt. Und der Grund? – Ich will
ihn euch ins Ohr sagen: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei, und
Italien war mit Athen, mit Byzanz und dem germanischen Norden aufs
bräutlichste vermählt. Wie ein Baum trat es in die überschwenglichste
Frühlingspracht. Man reiste damals langsam, es ist wahr. Und dennoch
entblühten das Tuchersche Jagdschloß zu Nürnberg, Maria im Gestade zu
Wien und die diminutive Maria della Spina zu Pisa einer selben Familie.
Denn das nationalistische Schisma hatte noch nicht – in
entgegengesetzter Richtung – den Wettlauf mit den Blitz- und Orientzügen
aufgenommen. Und für die verheirateten Völker bestand noch nicht, wie
heute, die Gefahr, daß die einen in Problematik verarmen und sich
zermürben, die anderen in Gesten und Parolen sich exteriorisieren, jedes
auf seine Weise sich überschlagen und auf toten Geleisen sich heiß
laufen würde. Der Hain der Musen war noch nicht zu einem Theater
abgeholzt, auf dessen Brettern die Auftretenden in ihre eigenen Kulissen
hineinreden und die Geltung ihrer Worte immer mehr zerschichtet sehen.
Die Talente, die noch treiben, dürfen uns über die um sich greifende
Wüste, die uns alle bedroht, nicht hinwegtäuschen. Zwar ist der
vielgenannte „Untergang des Abendlandes“ kein Begriff, sondern nur ein
willkürliches Postulat. Aber die kurzsichtig sich aufwerfenden
Abendländer drängten den Gedanken des Abendlandes ganz und gar zurück,
statt in ihn einzugehen. Die Vorherrschaft bald dieser, bald jener
Abendländer hat die Verwirrung angestellt. Auf diese Abendländer, statt
auf ein Abendland, das außer Kraft gesetzt wurde, wäre diese These zu
stellen, statt mit einer These, die es nicht gibt, die Unnachdenklichen
zu verführen und die Begriffe noch mehr zu verheeren.

Aber laßt mich zurückkehren zur hochgelegenen Villa, die Carducci
besang, die sich stolz abkehrt von den Feldern, welche sie beherrscht,
und ihre Pinienhaine und Boskette im Auge behält. Laßt mich euch eine
Geistergeschichte erzählen, wie ich sie in diesem Hause erlebte.


                                  III

Ich wohnte zur ebenen Erde in einem großen Saal. Die Wände, die vielen
Stühle, das Riesensofa, das weite Himmelbett in gelbem Damast
ausgeschlagen, sie und die venezianischen Spiegel waren reinstes
achtzehntes Jahrhundert, wie ein Bild von Ghislandi. Nur das
schwervergitterte, übrigens einzige Fenster, merkwürdig zur Seite
hinausgerückt, fast in die Ecke gedrängt, entstammte einer früheren
Zeit. Die eine Tür ging auf die Halle hinaus, die andere in ein kleines
Kabinett, als Ankleideraum gedacht, der rechts an das Badezimmer, links
wiederum an eine winzige Türe stieß, von welcher unmittelbar eine
geheime Treppe in vielen Windungen zu den oberen Stockwerken führte. Man
sieht: ein getrenntes Appartement, und nur durch das saalartige
Schlafzimmer so groß. – Zwischen den thronartigen Sesseln ragte der
prachtvolle Kamin, dessen Feuer mich entzückte. Es war November und
regnete immerzu. Doch herrschte keine Kälte. Ja, eine Schlange ringelte
gleich den Parkweg heran, als ihn die Sonne eines Morgens beschien.

Schnell aber füllte Dämmerung den Saal. Der gelbe Damast, von
unnachahmlichem Gelb, an manchen Stellen zerschlissen, war er doch so
kostbar wie alt, und der Baldachin mit seinen schweren, etwas
zerfransten silbernen Troddeln, sowie das Bett, die Stühle, die Spiegel
schienen dann alle auf Menschen und auf Dinge zu warten, sie, für welche
Menschen und Dinge doch so Vergangenes und Abgelegtes waren. „Es
geisterte hier“, hörte ich flüstern. Mir aber brauchte man solches weder
zu verheimlichen noch zu verraten. Ich sehe es einem Zimmer sofort an,
auch wenn Morgenlicht es verklärt und Vögel vor dem Fenster trillern, ob
es wacht oder schläft in der Spanne zwischen Nacht und Tag. Denn nie
verscheucht die Sonne seine Wolken, seine Schatten ganz, und immer
bleibt ein solches Zimmer ernst.

Rita hieß die Schwester des Herzogs; sie schien aus einem Raume nicht zu
gehen, sondern leis und leidenschaftlich zu entschwinden.

Man ging früh zur Ruh’ in diesem Hause. Aber sie pflegte noch zu mir
hereinzukommen und die zurechtgelegten Reisigbündel und die Pinienzapfen
anzustecken. Dann rasten die Flammen, und wir plauderten. Mir bedeutete
die Zeit, die sie verweilte, eine Frist, denn die Nacht, kaum
angebrochen, war noch lang und das Lächeln, mit dem ich sie endlich an
der Schwelle verabschiedete, durfte so verzerrt sein als es wollte,
reichte doch der Glanz der Kerzen kaum über den Tisch, und eine andere
Beleuchtung gab es in der Villa nicht. Weit stärker war der Schein des
Feuers, das hin und wieder zusammensank, dann aber, wenn neue Scheite in
Brand gerieten, den Stühlen ihre gelbe Sonnenfarbe wiedergab.

Ich hatte die Türe hinter Rita noch nicht geschlossen und mich dem Saale
noch nicht zugewandt, da fühlte ich schon sein Dunkel ganz ungeteilt im
vollen Braus, wie ein Orchester, das nur auf das Zeichen wartet.

Eine Stunde oder mehr starrte ich ins Feuer, bis die kleine Tür zu der
geheimen Treppe allzu knisternd erbebte, in ihrem Drange sich zu öffnen.
Ich ging auf sie zu, sie versank in Stille, ich trat zurück, von neuem
atmete ihr Griff. – Dem Feuer abgewandt, behielt ich sie jetzt im Auge.
Sie endlich fröstelnd selber öffnend, steckte ich die Kerzen vor dem
Spiegel an und machte mich langsam bereit, das hohe Baldachinbett zu
besteigen, das belagerte! Nur von einem kleinen Teil desselben war die
damastene Decke zurückgeschlagen; links fast in Armeslänge die Wand, die
rechte Schulter aber dem Sturme ausgesetzt und unbeschirmt inmitten der
gesteigerten, immer mehr sich verstrickenden Luft. Trauer wogte und
trieb heran. So werden lachlustige, lachbegierige, stets nach einem
Anlaß zu Gelächter dürstende Lippen in sich zusammensinken, einfallen in
Ernst und Bitterkeit, wenn ein noch so ferner Reflex von einer Welt sie
trifft, die kein Lachen zu kennen scheint. Und der Gedanke an sie kann
sich hinstürzen über uns, gegen uns ausgestrahlt, uns ganz zu seinem
Brennpunkt nehmen und besitzen.

Rita pflegte die Stühle wie für Besuche um den brennenden Kamin zu
stellen; sie maß ihn vom Baldachin aus, der Zwischenräume halber, die zu
belassen waren, auf daß ich das Spiel der Flammen frei genoß.
Hochaufgerichtet starrte ich sie an. Ein Nichts, der Bruchteil eines
Nichts, und ich würde sie erblicken die Gestalten, die, so schien mir,
in den alten, den wohlbekannten Stühlen saßen, dem Feuer zugekehrt, oder
vielleicht mir, die so hinstarrte zu ihnen. Jetzt – jetzt – was vermaß
ich mich so auszuschauen? Und fühlte ich nicht schon allzu deutlich den
Saal ins Grenzenlose schleifen, und dieses ungeheuere Bett? – Was fehlte
noch, daß ich die Griffe faßte, die so geisterhaft auf meiner rechten
Schulter lasteten, und daß meine Finger die Schleier befühlten, die an
meinem Nacken sich verankerten, Schatten, von allen Seiten auf mich
zugewallt. Bis ich aufsprang und die Sessel am Kamin aus dem
Gesichtskreis rückte. Aber all die anderen, längs der Wand angereiht,
lebten sie minder auf? Was ließ mich zuletzt die Pfosten des Baldachins
umschlingen, meiner blinden Zeugenschaft ganz hingegeben, ihr immer mehr
entgegengleitend –

O schattenschwere Novembernächte!

Wohl konnte es sein, daß sich da sachte die Türe öffnete und, ihre Kerze
vorantragend, Cassilda schüchtern hereinsah: nächtlichen Haares im
langen Nachtgewand, fast rätselhaft in ihrer Anmut, schwang sie sich auf
das goldene Bett. Es war ihr Eigentum wie dieses ganze Haus.

„Wie schlecht man schläft in meiner Villa!“ seufzte sie und sprach über
ihr Leben. Und ich hörte zu.

Jedoch der Übergang zu ihr schien mir beschwerlicher als sonst; und
lebendiger freilich, doch scheinhafter auch dünkte sie mir; und
_wesenhafter_ jene Schatten als wir beide, der Weg zu ihnen der
direktere, wenn auch ungangbar; und unsere Gemeinschaft wie unser
Zusammensein, ob es auch alle Saturnalien des Todes in Nichts
zerstreute, war ephemer; Cassildas Nähe war illusorisch. Denn
unübersteiglich dumpf und trennend war die Welt der Körper. Die ganze
Kälte und Abgetrenntheit, der sich jedes einzelne Wesen überantwortet
sieht, ging mir auf, während Cassilda sich schläfrig redete und dann vom
Bett herunterstieg, um ihr eigenes Zimmer wieder aufzusuchen.

Nacht für Nacht verging in dieser Weise: erst der ausgedehnte Abend mit
Rita, welche die Scheite und Pinienzapfen entfachte, unser Abschied an
der Tür, sodann das lange Gegenüber, das schweigsame Duell bis zu den
Morgenstunden, der schwere Schlaf bis in den Vormittag. Zuweilen das
Auftreten der ruhelosen Cassilda, unsere Gespräche unter dem Baldachin,
bis sie den Fuß zu Boden setzte und mich verließ. Ich merkte die Kurve
jener Nächte nicht sogleich, noch das verminderte Grauen, mit welchem
ich mich dem Saale zurückwandte, wenn Rita entschwand, noch daß mein
streitsüchtiger Arm erstarkte. Sondern wie ein Stoß traf mich die
aufgekeimte Sympathie. – Es war nicht nur die Müdigkeit, welche das Auge
immer erloschener in den Tag hineinsehen ließ, den ohnehin so trüben
Novembertag. Sondern sie hatten auch ihren sehr vernehmlichen Lockruf,
diese Nächte, und ihre gefährliche Lust. Wie löste sie den blinden
Drang, nur ja zu leben, nur ja nicht zu sterben, wesensverschieden von
den Gestorbenen zu sein! Und nun – statt des Sturmes und der Furcht –
orphische Schwingungen herüber und hin. – Aber plötzlich, war es
Ungeduld, Widerwille oder Scheu? – zerriß ich alle Fäden, die fein wie
Spinnweben nach mir zogen, und von einer Stunde zur anderen war ich
entschlossen, diesem Hause zu entfliehen. Um Mittag stand mein Koffer
bereit, triumphierend hatte ich ihn abgeschlossen; da ereignete sich ein
Zwischenfall, der mich noch für eine letzte Nacht in diesem Zimmer
zurückhielt und zugleich meinem Aufenthalt in der „_Italia liberata_“
einen unerwarteten Abschluß verlieh.


                                   IV

„Heute wird nicht gefahren!“ rief Cassilda in den Saal, „es sind vier
deutsche Studenten angekommen, zu Fuß, von Rom. Und wie abgerissen sie
sind! Aber ihre Schuhe werden im Dorfe frisch besohlt! Sie übernachten
in der Fattoria, und sie wollen uns vorsingen heute abend.“ Ihr
melodisches Lachen hatte einen metallnen Sprung wie eine Glocke. „Nein,
wie sie essen können!“ brach sie aus.

Mein erster Impuls war, mich vor diesen deutschen Studenten zu drücken.
Ich fand es nicht am Platze, ich fand es nicht an der Zeit, daß sie
gerade jetzt und ausgerechnet dieses Land auf solche Weise bereisten,
Obdach erbittend von Ort zu Ort, in Scheunen nächtigend (und was für
Scheunen!) oder dann auf Gutsherrschaften nach dem Ökonomiegebäude
mitleidig verwiesen. Konnte man besiegter auftreten? Zum Teufel auch!
Man schuldete etwas seiner Vergangenheit! Entstammten sie nicht einem
stolzen Volk? Es hatte nicht mit zagen Bettlerschritten auf diesem Boden
vorzudringen gepflegt! Und war ihre Rolle nicht neu? Was besaßen sie für
Gründe, sich so unschwer in dieselbe zu finden? Aber natürlich mußte ich
helfen, sie zu empfangen.

Übrigens – dem einen oder anderen wurde wohl bei einem Baumeister auf
dem Reißbrett zu schaffen gegeben; aber Studenten waren es keine, und
ihre Naivität schien entschuldbarer, sobald man sie sah. Auch deutete
nichts darauf hin, daß sie seit einem Vierteljahr zumeist auf dem Stroh
italienischer Bauernhöfe schliefen, sondern sauber und adrett, ja
schmuck, bei aller Dürftigkeit, standen sie abends zur Serenade
aufgepflanzt, vornean der Lautenspieler, blond wie Dornröschen und das
Gesicht schneeweiß.

Der Tenor mit seinem schmalen, fahlen und windschiefen Kopf schien auf
ein romantisches Erlebnis mit Rübezahl zurückzuschauen und immer noch
daran zu denken; der dritte glich auf ein Haar dem braven Knappen
Fridolin, und nur der vierte, ein Magdeburger, war Realpolitiker.

Durch das offene Fenster leuchtete im Kerzenscheine der weiß gedeckte
Tisch, Gläser, noch mit Chianti gefüllt, halbgeleerte Riesenschüsseln
mit Makkaroni. Es war ihre vierte Mahlzeit. „_Bevono poco, ma che
appetito!_“ berichtete der Verwalter. Sie standen in Hausschuhen. Ihres
Stiefelwerkes hatte sich der Herzog angenommen. Bis zum nächsten Mittag
sollten sie es gesohlt zurückerhalten. Cassilda war guter Dinge.
Melodisch schlug die zersprungene Glocke ihres Lachens an. Die Luft war
lau. Wir saßen in Tüchern und Mänteln um das Ökonomiegebäude gruppiert.
Durch das immergrüne Laub der Bäume sah der Mond. Und das Konzert
begann. –

Selten hatte ich etwas so Erschütterndes gehört. Wie aus einem
Wunderhorn ergoß sich der Wohllaut dieser staunenswert geschulten
Stimmen. Wälder fingen an zu rauschen, verzückte Büsche über den Vater
Rhein gebeugt, Kähne von Wellen hoch emporgehoben, Seen der Gebirge;
blanke Scheiben einer Herberge dem müde Gelaufenen entgegenfunkelnd ...

Es mehrten sich jetzt unter den Bäumen magisch angezogene Gestalten, sie
traten näher, standen unbeweglich.

Ich achtete nicht mehr der Lieder, sie waren nur noch die Begleitung zu
dem Sturm in meinem Innern. Wie aus einem tiefen Brunnen tauchte ich
empor, als die Sänger innehielten. Man umringte sie, von allen Seiten
kam Applaus. Der Nachtwind strich unter einem milden Himmel,
Kerzenschein flackerte über den Tisch, welcher die Platten, den Chianti,
die halbgefüllten Gläser trug; alles war wie in einer gesitteten,
idyllischen Welt. Nur ließ der Magdeburger seine Kameraden nie zu Worte
kommen.

Nach einer Weile wurden sie gebeten, weiterzusingen. Ich saß zwischen
der Mutter des Herzogs, einer Französin, und einer jungen Deutschen in
Schwesterntracht, die unter ihrem Häubchen mit runden Augen Welt und
Dinge betrachtete. Der Lautenspieler mit dem schneeweißen Angesicht
wartete auf ein Zeichen des Magdeburgers, bevor er in die Saiten griff.
Die Aussprache der vier war nicht sehr deutlich. Nur das Wort Kikeriki
kehrte jetzt nach jeder Strophe vernehmlich wieder. Plötzlich gerieten
die Schatten unter den Bäumen in Bewegung; einige traten mit fast
drohender Gebärde vor. Was ist das für ein Lied? fragte ich die kleine
Diakonissin. Sie kannte es gut. Kikeriki sei der Spitzname der Italiener
während des Krieges gewesen. Ein Kriegslied also! – Es schien ihr
spaßig. Zum Glück ging seine Pointe unserem Halbkreis verloren, und es
wurde geklatscht. Nur der Herzog sah wie mit versteinerter Pupille
geradeaus.

Eigentlich schienen die drei den Magdeburger gar nicht zu mögen. Aber
man erlebte jetzt ein Stückchen deutscher Geschichte: nämlich sie
gehorchten ihm doch.

„Bis daß das Auge bricht, bis daß das Auge bricht“, hieß der nächste
Refrain. Entgeistert lehnte der junge Lautenspieler an der Mauer, und
ferne war sein Sinn. „Bis daß das Auge bricht, bis daß das Auge bricht“,
sangen die vier, als läge in der Vorstellung etwas, worin sie
schwelgten. „_Comme c’est triste_“, sagte die Mutter des Herzogs. Unter
den Bäumen aber waren keine Schatten mehr zu sehen.

„Ich verstehe nur die Ritornelle“, sagte ich leise zur Diakonissin.

Die war schon wieder im Bilde. „Schießen tun sie, bis daß das Auge
bricht“, sagte sie und lachte schelmisch. Sie fand nichts dabei. „Bis
daß das Auge bricht“, sekundierte die Laute mit unerhörter Melancholie.
Dann schloß das Konzert mit einem Hoch auf den Herzog. Ich mußte noch
hören, wie der Magdeburger ihm versicherte, sie fänden überall eine so
gute Aufnahme; bei den Bauern jedoch würden sie erst gefragt, ob sie
wirklich Tedeschi seien, denn wenn sie Francesi wären, wiese man sie vor
die Türe. Über diesen seinen Beitrag zur Politik war er sichtlich
befriedigt. Cassilda lachte. Ihr konnte es egal sein. Mir war es zuviel.
Ich floh in den Park. Sein Dunkel nahm mich auf. Wie der rasende Ajax,
ein pazifistischer Ajax, köpfte ich Sträucher, schlug auf die Hecken wie
auf einen imaginären Konferenztisch, traf drakonische Maßregeln,
untersagte und befahl. „Ich habe keine Lust an Völkern“, schrie ich die
Pinien an. Und kein Angehöriger eines fremden Staates durfte mir auf
drei Generationen bei Verlust aller Ämter eine Landsmännin heiraten.
Noch am Traualtar war sie von seiner Seite zu reißen. Wie besinnungslos
fuhr ich in die Äste, teilte das Gezweige rings um mich her, als sähe
ich schon hier in diesem Lande die Mädchen nicht nur schön und
liebenswürdig, sondern auch wieder versonnen, wieder unschuldigen Auges
und gedankenvoll wie seine Madonnen von einst. Und als sähe ich schon
berückend unkonventionell gewordene Französinnen, komplett aus der Art
geschlagene Engländer und weltkundige Deutsche die ihnen
verlorengegangene Welt nicht zurückerobern, sondern zurückgewinnen.
Nichts stünde dann jener Stunde der Einkehr mehr im Wege, in der sich
jede Nation auf die innerhalb ihrer Grenzpfähle begangenen Infamien, auf
die Niederlagen ihrer Gerechten, auf die Triumphe ihrer Lügner und
Verhetzer als der einzigen Schmach besänne, welche sie treffen kann. Das
Tausendjährige Reich wäre jede Stunde einzuläuten. Aber es geschehen
keine Wunder dem Verblendeten, um ihn der Hölle zu entreißen, die er
sich bereitete. Noch immer litt das Himmelreich Gewalt.

Wo aber sah ich den Weisen, ach, der noch Hoffnungen frönte? Er kehrt
sich ab, begibt sich seines Anteiles und glaubt nicht mehr an diese
Welt. Doch wehe, sie ist die unsere! – Wie ihr heutiger Zustand Werk und
Schlagwort einzelner ist, so könnte nur Wort und Tat einzelner ihre
Rettung bereiten. Wenn sie auch nicht die Saat aufschießen sehen, die
sie streuen, noch die Mühle, an der sie mahlen. Der Tod wird sie
erlösen. Denn die Not dieser ohnmächtigen Zuschauer ist nur vergleichbar
mit der des Schemen, das in seinem Drange, vielleicht sich kundzugeben,
vielleicht zu rufen, doch ohne einen Laut, uns anblickt vielleicht, doch
ohne gesehen zu werden, flehende Arme vielleicht nach uns ausstreckt,
durch die wir schreiten als durch leere Luft. Wie vorstellbar war doch
mit einem Male ihre heiße, verzehrende Wut!

Der Park war jetzt in Nacht versunken. Nacht hing an den Zweigen, kein
Gesang durchbrach sie mehr, die Vögel, die Schlangen, die Bäume, sie
waren eins, sie ruhten. In dichte Wolken hatte sich der Mond gebettet,
kaum ein hellerer Schein dort, wo er schlafend lag. Unenträtselt fügten
sich die Rhythmen der Gestirne, spielte sich dem Auge der Marsch der
Sterne ab, geheimem Schlüssel entspannt.

Ich eilte dem Hause zu. Finster die Terrasse, leer die Halle. Wie lange
war ich verweilt?

In meinem Saale aber entsandten die Flammen des Kamins ihren warmen
Hauch bis zu den sonnenfarbenen Stühlen. Sie standen erwartungsvoll.
Rita hatte es aufgegeben, auf mich zu warten, aber Spätrosen auf den
Tisch gestellt; ein Rosenstrauch leuchtete im Schein des Feuers. Ich sah
mich um. Von neuem rauschte draußen der Regen. Bitterkeit und Süße
wellte jetzt empor und ließ mich die Arme ausbreiten. Zum Fest war die
pulsierende Luft um mich her. Hoch ins Leere aufgerichtet unter
köstlichen Schauern lauschte ich ihr von meinem goldenen Bette entgegen.
Die im Park ausgekostete verwandte Qual, sie war es, die wie mit
Leierklängen die Schatten dieses Saales versöhnte. Blumenleicht! Wie von
Blumen war die Schulter umweht, milde und barmherzig unser Abschied, als
seien wir uns teuer geworden.

Und ihr, meine Leser, seid ihr enttäuscht von meiner Geistergeschichte,
weil sie tröstlich verklang?



                                 Torso


Gedanken, Meinungen und Überzeugungen drängen nach Äußerung, lange bevor
wir noch wissen, welchen Ausdruck wir ihnen verleihen, in welche Form
wir sie bringen können. Den einen treiben sie zur Gestaltung, zur
Ausführung oder zur Tat, den minder Glücklichen zwingen sie zur Schrift.

Leopardi nennt die so verbreitete Meinung von der Seltenheit der
Originale einen großen Irrtum, denn bei näherer Betrachtung erweise sich
fast ein jeder als ein ganz einziges, noch nie dagewesenes Exemplar!
Einem solchen Begriff der Originalität fehlt freilich jedes Prestige.
Aber tatsächlich ist es mit den geistigen Physiognomien der Menschen wie
mit den äußerlichen. Könnten wir jene mit den Augen sehen, wir würden da
genau dieselbe Mannigfaltigkeit, aber auch dieselben Mißverhältnisse
wahrnehmen wie an den sichtbaren Gestalten; nur daß sich auf geistigem
Gebiete der Wahn so bemerkbar macht, als sei hier eine Unterschiebung
der eigenen Identität durch eine schönere oder bedeutendere leichter
möglich, die Gesetze der Unveränderlichkeit leichter zu täuschen oder zu
umgehen als in der körperlichen Welt. Wie wenige sind denn wirklich
schöne oder vollendete Typen! Und wie viele gleichen jenen Bruchstücken
antiker Statuen, deren Wirkung durch einen ergänzten Kopf, eine fremde
Bewegung verdorben oder gestört wird, statt daß sie bleiben, was sie
sind, nämlich meist _ohne_ Kopf und Fuß, aber echt.

Marie stand mit fünf Jahren eines Morgens unter einem Baum, dessen Laub
im Winde rauschte und den blauen Himmel durchblicken ließ. „Das Leben
ist schön!“ dachte sie.

Da flog ein Blatt von den Zweigen herab in ihre Hand, und während sie
seine groben Adern und Fasern langsam auseinanderriß, wurde sie
unsäglich verstimmt. Nicht der frohbewegte Wipfel in der Höhe, das
einzelne langweilige Ding in ihren Händen war die Wirklichkeit! –

Der Grundakkord ihres Wesens schlug da zum erstenmal an ihr Bewußtsein
an; denn es gibt nichts Neues im Menschen. Das _fin mot_ eines Ichs ist
ein Motiv, und was hinzutritt sind Amplifikationen.

Schon ein Jahr darauf lernte sie im Kloster die Langeweile kennen, zu
der sie neigte wie ein anderer zu Gichtschmerzen oder Rheumatismen, und
die sie anwehen konnte, plötzlich, unvermittelt, wie ein Wind, der um
die Ecke fährt.

In ihrem Kloster blies sie durch das ganze Haus, um alle Mauern und
durch den ganzen Garten, die Stelle ausgenommen, an der eine reizende
Brücke über den Wildbach bog, Libellen unklösterlich schwirrten und die
Bäume parkähnlich zusammenstanden. Aber alles andere war häßlich. Zwei
hohe, plumpe Berge versperrten wie Riesentore nach Norden hin die Welt,
und die Monatsrosen standen, meist verwelkt und verweht, um ein
mächtiges Kreuz vor dem Haus. Alles, was sie sah, mußte sie zugleich
empfinden, doch ohne auch nur entfernt die Fähigkeit zu haben, sich dies
zum Bewußtsein zu führen. Wie schmerzlich schien ihr im Frühjahr das
Licht, wenn die Furchen der Berge so rauh aus dem Schnee hervorstachen
und die grünenden Bäume im Scheine eines regnerischen Tages fröstelten.
Ach, wie öde der Ackergeruch im Winter, die Stoppeln und Maulwurfhügel
auf dem Felde, der schwere, fette Flug der Raben!

Zu ihrer Unterhaltung verfiel sie da auf ein höchst seltsames
Gedankenspiel: sie setzte sich abseits, stützte die Arme auf, schloß die
Augen und dachte mit immer beschleunigterem Tempo und eingezogenem Atem:
„Ich bin Ich.“ An diesem Gedanken konnte sie nämlich, wie an einem Seil,
immer dunklere Schlünde hinabgleiten, bis sie ein Schwindel erfaßte und
ihr Ich ihrem Bewußtsein entsank.

Wie sie das zusammenbrachte, wurde ihr später selbst ein Rätsel: ihr
Geist hatte damals eine jongleurartige Geschwindigkeit, als sei er
transparenter und zugleich schärfer gewesen, lösbarer von ihr? – Sie
wußte es nicht. Aber sie fand es „spannend“, sich selbst zu jagen, bis
zu einer Wurzel, die sie nicht mehr war. – „Ich bin gefangen!“ dachte
sie da wohl. „Auch nicht für eine Stunde kann ich jemals von mir fort,
und wenn mir andere Menschen noch so sehr gefallen werden, kann ich sie
nie sein!“

Aber einmal, als ihr diese geistige Rutschpartie besonders gut gelungen
war, faßte sie ein Entsetzen, als hätte sie sich verloren, als hinge das
Seil ihrer Identität in der Luft, als harrten ihrer Gespenster in den
Tiefen, in die sie geraten war, – und mühsam, wie ein Ertrinkender, so
rang sie seufzend zur Oberfläche ihres Bewußtseins zurück.

Ein Instinkt riet ihr jedoch, dies unheimliche Spiel zu lassen, und die
Fähigkeit verlor sich auf diese Weise sehr rasch. Dafür fingen andere
Probleme, deren Lösung sie keinen Augenblick gewachsen war, an, sie zu
quälen.

Starb eine Klosterfrau und wurde es den Zöglingen freigestellt, sie auf
der Bahre noch einmal zu sehen, so ließ Marie alles liegen und stehen
und marschierte, zwei Schuhe hoch, allen voran. Dann starrte sie
forschend in das fahle Gesicht, dem der Geist schon zu lange
entschwunden war, und das ausdruckslos, ja sinnlos vor ihr lag. Und
nichts schien ihr gerade auf das Klosterleben ein so trauriges Licht zu
werfen als der Tod.

Aber es kamen immer mehr Dinge, die ihr mißfielen.

Eines Sonntags fand sie in einem Bilderbuch eine Palmengruppe
abgebildet, einen sprungbereiten Tiger und ein Mädchen, das mit tödlich
entsetzter Miene sich vor ihm zu verbergen suchte, aber vergebens, denn
er hatte sie schon fast erreicht und mußte sie unfehlbar zerreißen.

Empört und außer sich, rannte Marie im Zimmer umher. Sie blickte zu den
gemalten Inschriften auf, die an den Wänden hingen, und die ihr so gut
gefielen: „Siehe, so sehr hat Gott die Welt geliebt ...“ „Er aber liebt
die Seinen bis in den Tod ...“ „Kein Auge hat es gesehen, kein Ohr
gehört ...“ Über ihren Schrank breitete ein Pelikan seine Flügel aus mit
einem ähnlichen gefühlvollen Spruch. Wie reimte sich dies? – Und sie
verbiß sich von neuem in das schreckliche Bild. – Wie konnte Gott dies
ertragen, wenn wir sein Ebenbild waren?

Ein anderes Mal hatte die Feuerglocke wegen eines in der Nähe brennenden
Anwesens wohl eine Stunde hindurch geläutet. Endlich kam fliegenden
Schrittes eine Klosterfrau den Gang heraufgeeilt und sagte: „Gottlob,
Kinder, es ist kein Menschenleben zugrunde gegangen, nur sechzehn Kühe
sind verbrannt.“

In der Nacht sah Marie die Tiere heulend durch die Flammen jagen und
fuhr erschrocken aus ihren Träumen empor. Sie schlief nahe am Fenster,
und der Wildbach rauschte mit düsterem Schwalle, ewig stöhnend, schwarze
Klagen herauf. Was war dies für eine Welt, in der die Kinder ihre Eltern
begruben, und der Herr der Schöpfung zur Beute eines niedrigen Tieres
entehrt werden durfte? Schöne Menschen, die sie kannte oder gesehen
hatte, und die schwerlich je in Kollision mit einem Tiger oder einer
_Boa constrictor_ kommen würden, schwebten ihr vor Augen. Allein gewisse
_Möglichkeiten_ genügten, um da ihren Weltschmerz zu einem unerhörten
Fortissimo zu steigern. Es gab ja kein Entrinnen aus einer solchen Welt,
keinen Tod, keine Bewußtlosigkeit mehr für unsere unsterblichen Seelen!
„Oh, wie ist das?“ dachte sie erschrocken. „Ich kann Gott nicht lieben!“

Am nächsten Morgen waren Geschenke für sie angekommen, und sie bezeigte
eine solche Gier, sie alsbald in Empfang zu nehmen, daß die Oberin sie
zurechtwies: „Du genußsüchtiges Kind“, sagte sie streng. Marie hörte
dies Wort zum erstenmal und vernahm es mit Interesse. In der Tat: Warum
haßte sie nichts so sehr auf der Welt als den Schmerz? Warum ging sie
stets mit abgewandtem Gesicht den unteren Gang entlang, wo die Apostel
der Reihe nach in schlecht gemalten Bildern hingen, mit Kreuz, Nägeln
und Stricken, all den furchtbaren Zutaten ihres Sterbens? Warum erfaßte
sie jede Freude mit so peinvoller Hast und entbehrte sie mit solcher
Heftigkeit? Und warum waren selbst ihre schwärzesten Stimmungen so
seicht wie Wolken, die ein leichter Windstoß wieder zerreißt?

Aber ihre Grübeleien brachten ihr nur Überdruß, und sie war froh, sich
ihrer zu entschlagen. So fing sie mit acht Jahren an zu schwärmen, und
wenn Orgelklänge und Weihrauchdüfte die Kirche erfüllten, dachte sie nur
mehr an Rosa Flatz, Paula Baselli, Irene Angermaier und Livia Gelmini.

Es gibt Wesen, die in früher, unwahrscheinlicher Vollendung ins Leben
hineinleuchten, gleich jenen vereinzelten Tagen inmitten langer
Regenzeiten, an denen das Licht so zärtlich, das Laub so golden, der
feuchte Blick der Sonne kristallen leuchtet! Aber tags darauf haben
Regen und Wind ihre trüben Lieder wieder aufgenommen ... Flatz war von
hohem Wuchs, hatte goldenes Haar und den Kopf einer Sirene. Da sie fast
schon erwachsen war, wagte Marie nur im Winter, wenn die Zöglinge
schweigend spazierengehen mußten, sich zu ihr zu gesellen, ergriff ihre
Hand und sah stillbeglückt von der Seite zu ihr auf. Kein Frost konnte
die liebliche Röte dieser Wangen beeinträchtigen, so schön und blühend
war ihr Flaum. Aber sie blühte so königlich! Wo sie ging, war kein
Winter, heftige Rosensträuche blühten an allen Wegen, und an den
Frühling gemahnte selbst ihr sicherer, zerstreuter Blick.

Baselli hatte einen zu tiefen Teint und ungeschmeidiges Haar. Aber der
Schnitt war rein wie der eines Ägineten, und ihr stolzer Blick flammte
in unbewußter oder in Zaum gehaltener Trauer. Marie hielt sich gern in
ihrem Umkreis, um die edlen Augenhöhlen, die köstliche Zeichnung ihrer
Lippen in der Nähe zu sehen, und wie über einen heiligen Wald schwärmte
ihr inneres Auge über sie hin.

Aber Irene Angermaier war die schönste! Mit braunem, weichfließendem
Haar, ruhig und müd wie eine Nymphea im Mondlicht. Sie lehnte in ihrer
harten Schulbank mit jener überlegenen Grazie, welche die Menge anjubelt
und vor der die Maler knien. In prunkvoll ausgeschlagener Gondel, in
Palästen hätte sie ruhen sollen; ein Antlitz für Perlen und unschätzbare
Schleier, ein Wesen, zu schön, um zu leben, zu leicht, um im Grabe zu
ruhen.

Gelmini war aus Salurn und melodisch wie ein Glockenspiel. Ihre Achseln
schienen wie mit Blütenfäden an ihren Körper gefügt, und an der Art, wie
sie den Arm nach der Stiegenrampe ausstreckte, und an ihrem Gang konnte
Marie sich nimmer satt sehen. So schritt wohl Julia, als Romeo sie zum
erstenmal erblickte. Und wenn Livia: „_il gallo, la primavera, la
catena_“ sagte, dann schwärmte Maries Herz wie ein bunter Schmetterling
in der Sonne. Mit Livien, die erst neun Jahre alt war, hätte sie
verkehren können, aber sie gefiel ihr zu gut, und wo sie bewunderte,
zerfloß sie in Verehrung. In Wirklichkeit wollte sie weder von Puppen
noch von Freundinnen etwas wissen, und mit Vertraulichkeiten war ihr
nicht gedient. Sondern sie wollte höhere Wesen, die sie ihrer enthoben.
Und angesichts jener vier reizvollen Gestalten, die sie so früh
verlieren und sterben oder scheiden sehen mußte, war sie viel mehr einem
Zustand als Gefühlen hingegeben. Sie sprach nie mit ihnen und suchte nie
von ihnen beachtet zu werden, nur in der Nähe, im selben Zimmer mußten
sie sein; sie mußte sie alle vier sehen können, wenn sie den Kopf
wandte; dann nur war ihr Kloster ein schöner, gewählter und
träumerischer Ort.

Mit ihnen schwand alle Poesie aus Maries klösterlichem Leben; sie stak
von neuem in Grübeleien, wie in ödem, verwirrendem Sande, langweilte
sich und sehnte sich fort. Zudem wurden alle ihre Bücher, die sie gerne
vorschriftswidrig in ihrer Schublade aufgeschlagen hielt, der Reihe nach
konfisziert, und ehe sie sich versah, stand sie als Verkörperung der
Insubordination von allen Zöglingen abseits. Alljährlich feierte man in
ihrem Kloster das sogenannte Königsfest, bei dem sich das ganze
Pensionat in einen Hofstaat umwandelte, und jeder Zögling, von der
Königin herab zu den Köchen und Kaminkehrern, je nach Verdienst, seine
Charge erhielt. Die ersten Jahre stand Marie als Page, in
Korkzieherlocken und Goldreif, einen ganzen Tag hindurch stumm, doch
voll Entzücken, in der Königin Dienst. Es war Irene Angermaier, in
Silbergaze und königlicher Krone. Aber später wurde ihr dies reizende
Fest verleidet: In einem schief aufgesetzten, viel zu kleinen
Schäferinnenhut und einem zu engen grünen Tarlatankleid (denn es hatte
als ehemalige Balltoilette eine Taille, und sie noch lange nicht)
spazierte sie als „königliche Lectrice“ mit einem Riesenbuch, allein und
tödlich verlegen, hinter den Landgräfinnen einher, und wenn im _cortège_
die Reihe an sie kam, tanzte der Hofnarr in seiner roten Schellenkappe
vor ihr her und verkündete ihre Streiche. Nun pflog sie zwar über die
Weltordnung allerlei Separatanschauungen, doch für das Maß ihrer eigenen
Missetaten fehlte ihr jedes persönliche Gutdünken, und sie schämte sich
über Gebühr.

Aber dafür war die freie, herrliche Welt der Tummelplatz aller
Freiheiten, und ihr Herz schlug hoch, als die schweren Klosterriegel auf
immer hinter ihr zufielen.

Das Leben präludiert meist anders, als es verläuft. In der Tat: so
unglaublich es ihr selber erschien: einen Monat später durchschwärmte
sie, frei wie ein Waldestier, eine Mondnacht um die andere in den Bergen
und kampierte am offenen Feuer wie ein Zigeuner. Was hätte sie gesagt,
die würdige Mère Supérieure, die ihre Uhr nach den Hühnern richtete? –
Da hing Maries Disziplin am hohen Klostergiebel, als leeres Fähnchen
zurückgeblieben.

Folgendes müssen wir ihren eigenen Aufzeichnungen entnehmen:

Es war zur Sommerszeit in den bayrischen Bergen, als uns vier Kinder die
Wanderlust zum erstenmal ergriff. Aber der Tag ließ uns nicht weit genug
gelangen; so rüsteten wir uns sorglich auf einen längeren Streifzug aus.
Daß uns gerade nur so viel Geld bewilligt wurde, um vierundzwanzig
Stunden fernzubleiben, kümmerte uns nicht.

Erst als der späte Nachmittag verglühte, traten wir vor. Bald rauschte
dann im Mondlicht der Fluß uns zur Seite, und schneeweiß zog sich die
Straße den bewaldeten Felsen entlang. Jeder Stein, der im Flusse die
Wellen zurückwarf, die Kiesel am Wegesrand, ja das zertretene Gras am
Ufer schienen verklärt. Und wenn sich in dem mondlichen Schweigen der
Schrei eines Tieres entrang, durchzitterte ein ewiges Glück die
schimmernden Mulden.

Immer leichter trugen uns unsere Schritte voran! Immer eifriger berieten
wir die Möglichkeiten einer einstigen großen Erbschaft, und in der
großen Bergesstille schallte unser lautes Gelächter.

Als die Lichter der „Fall“ vom anderen Ufer herüberleuchteten, hielten
wir Rat: denn aller Spaß wäre zu Ende gewesen, hätte unserem Auftreten
etwas von dem hohen Ansehen gefehlt, von dem wir selbst so sehr
überzeugt waren. So betraten wir, stets fremde Sprachen untereinander
führend, das alte Gasthaus, bestellten ein wohl ausgeklügeltes, sehr
zimperliches, aber sehr billiges Essen, gaben dann vor, einer Wette
halber die Nacht in keinem Hause verbringen zu dürfen, und griffen,
mitten in der Nacht, mit großer Eile nach unseren Stöcken. Der Eindruck
war nach Wunsch: die paar Reisenden und das Personal standen neugierig
an der Türe, eine alte Dame protegierte, die Wirtin bewunderte uns, der
Förster zog seine Pfeife weg und wies uns den Weg, und von freundlichen
Zurufen verfolgt, von der alten Dame gewarnt, drangen wir in den Wald,
und weiter hinein in die „Riß“. Den Tag verschliefen wir auf Almen oder
Bergeskanten. Kamen Stürme, so äfften wir sie. Von den Felsen geschützt,
apostrophierten wir das finster fliegende Gewölk und begrüßten die
Donnerschläge mit dröhnendem Gelächter.

In der Folge dehnten wir unsere Touren immer stattlicher aus. An einem
Herbsttag kamen wir vom Achensee und wollten über den Schildenstein
zurück. Die Alm war geschlossen. Da liefen wir in der Dämmerung den
Kanten des Blauberges entlang, drangen durch das Fenster in eine leere
Hütte und machten uns Feuer. Aber draußen lockte die Nacht, lockten die
in Mond getauchten Tiefen des Achentales und der silberne See.
Unbeweglich wie Berggeister saßen wir, in unsere Mäntel gehüllt, vor
unserer Alm. War es Ahnung oder Müdigkeit, die uns verstummen ließ? Die
Welt mit ihrem Spiel riesiger Schatten und frohlockender Höhen atmete
Gesang, aber die Leier unserer Freuden schwebte zerrissen über uns.

Bald standen wir wie ein Häuflein, das ohne den Führer trübe zerfällt.
Der große Zauber jener Wanderungen hing an einem romantischen,
19jährigen, höchst merkwürdigen Wesen, in dem kein Raum war für
Pandorens Trug. Reinste Vernunft gebot hier jeder Unruhe, und die
Erkenntnis überstrahlte den Wunsch. Aber nie vorher hatte sich so hohe
Weisheit mit solcher Grazie umkleidet und die Taue eines so unschuldigen
Lebens gelockert. In dieser fast morbiden Erscheinung mit dem
unbeschreiblichen Relief ihrer bangen Umrisse blieb alle Schwäche
ausgeschieden, war alles Schönheitssinn und Stil. Zuletzt sind Linien,
die uns fesseln, solche, an die wir uns nicht gewöhnen, und stete
Neugier erregte diese schmale, ernste Stirne mit den hochgezogenen
Brauen, die fast leichtsinnige Anmut des kleinen Ovals, das eitel
gesteckte Gold der Haare, und dabei die männliche Zurückhaltung in den
durchdringenden Augen. So glich die Mischung ihrer psychischen Elemente
der Stimmung eines herrlichen, aber zu zarten Instrumentes; und so
ließen sich ihre Anforderungen an ein Leben, an das sie nicht glaubte,
nicht herabdrücken, und mit allen Fasern zog sie sich von ihm zurück.

„_La mort est bête_“, sagte Gambetta. „Aber der Tod überblickt
Zusammenhänge, und das Leben ist befangen. In unserer Existenz wähnen
wir unser Wesen erschöpft, währenddem die Grundlagen neuer
Individualitäten schon in uns dämmern, neue Lebensformen unserer harren
mögen. Allein einzig ist der Mensch als Kunstwerk! Und mit Grauen
erfahren wir, daß es Wesen gibt, die, köstlichen Schalen gleich, einmal
zerschlagen, der Natur nicht wieder gelingen.“

   Wie der Seekranke vom Schiff im ersten Morgengrauen nach der Küste
   späht, so sehnt man sich oft nach dem Tode – man weiß, daß man den
   Gang und die Richtung seines Schiffes nicht verändern kann.

                                       Nietzsche. Nachgelassene Werke.

   Ob wir wollen oder nicht, wir werden am Ende alle katholisch.

                                                               Moltke.

Als Marie heranwuchs, wurde ihr der Ernst so widerwärtig wie früher das
Leiden. Von den beiden Philosophen, von welchen der eine die Welt ewig
weinenswert, der andere sie ewig komisch fand, hatte nur der letztere
ihren Beifall. Denn wer sich über eine Welt, gegen die er nichts
vermochte, Sorgen machte, der war in ihren Augen ein Narr. Man lebt
nicht lange, also lebe man, ohne zu denken. Allein ihren Theorien zum
Trotz erhoben sich die Gedanken wie ein brennender Wüstenwind in ihrem
kindlichen Gehirn. Da faßte sie eine tiefe Abneigung zu Menschen ihrer
Art. Mädchen ihres Alters umging sie in weitem Bogen, aber das
Zusammensein mit schönen verwöhnten Frauen, im Kreise weltgewandter
Männer, wurde ihr Paradies. So geriet sie sehr früh in eine Clique
welterfahrener, mächtiger und verfeinerter Leute, die sich täglich
sahen, in deren Vertraulichkeit, die keine war, das Herz fast keine
Rolle spielte, sondern mehr das Behagen, und deren Denkprozeß bei oft
interessanter Begabung ein geringer blieb. Aber gerade dies fand sie
bezaubernd. Das Leben war es wohl wert, zur Kunst erhoben, erheitert zu
werden, und die Sorglosen waren die Lieblinge, die Nachdenklichen nur
die Frondiener der Götter.

_Jene_ also waren die überlegenen und vollkommeneren Menschen. Ach und
das ferne, freundliche Mitgefühl, mit dem sie eine eben ereignete große
Katastrophe, einen Brand, ein Eisenbahnunglück besprachen, vollends die
Art, mit der sie dann das Thema wieder fallen ließen, entzückte, ja
betäubte Marie. Und die Ironie, mit der sie gesprächsweise die
Erbärmlichkeiten des Lebens streiften, – nur streiften! schien ihr das
Nonplusultra seelischer Eleganz.

Diese siegreichen Typen schieden in ihren Augen alle entwürdigenden
Grausamkeiten, alle Häßlichkeiten aus, alles, was sie haßte, woran sie
nicht erinnert werden wollte.

Denn es lag ihr so sehr am Leben! Es schien ihr so kostbar, so
begehrenswert. Sie liebte, ja in dem höher potenzierten Menschen
vergötterte sie es; aber die _Freude_ war das Gesetz, nach dem er
wandeln sollte.

Aber ach! die Freunde ihrer Wahl, in deren Oberflächlichkeit sie
schwelgte, deren Lächeln sie beruhigte, an deren Leichtsinn sie ihr
Gemüt sonnte wie ein Kranker im Mittagsscheine, sie hinderten ja nicht,
daß ihre Gegensätze bestanden. Ihr Genuß löschte keine Qual, war nur ein
Kontrast – kein Ersatz – nur ein Widerspruch mehr! Empfindungen von
solcher Mannigfaltigkeit konnten sie da überwältigen, und der Andrang
ihrer Gedanken im Verhältnis zu ihren noch kaum entwickelten Fähigkeiten
sich so mächtig steigern, daß vor innerer Erregung ihre Zähne
zusammenschlugen und ein lauerndes Angstgefühl sie immer deutlicher
beschlich.

Zu ihren Freunden hatte sie indes eigentümlich Stellung genommen: zu
jung, um noch zu zählen, störte sie niemanden; die Frauen litten sie
gern, ja die schönste von ihnen zog sie zu den Zusammenkünften, die
täglich bei ihr stattfanden, und hielt sie wie eine Art von Pagen. In
der Tat hatte Marie der Schönheit gegenüber eine huldigende Art, ein
Gefühl des Ausgefülltseins und Verlorengehens, ein Stillstehen ihres
Selbst zu einem Atom, das nicht Schwärmerei war, sondern Glück.

Eines Tages hatte sie sich verspätet, die Besucher waren fort und ihre
Freundin allein.

Durch das alte, gemalte Scheibenfenster umwob sie der goldene Staub der
sinkenden Frühlingssonne. Sie lag, den Kopf zurückgeworfen, ausgestreckt
und rauchte eine Zigarette. Nichts dächte man, was in diesem Anblick
klassische Erinnerungen weckte. Was hielt nun Marie vor einer der
schönsten Gestalten ihrer Zeit unbeweglich, wie geblendet, an der
Schwelle zurück? Sie sah Helden verbluten, Troja im Schutt und Hektor
erschlagen, und wie von einem plötzlichen Schein entrückt, faßte sie das
ewige Relief dieses flüchtigen Lebens.

Aber der Mensch war ihr, was dem Künstler die Kunst, und ihr
Wohlgefallen war ein Meer der Ruhe. Und dieser eine göttliche Funke in
ihr schuf ihr Beziehungen, baute ihr Brücken, die lustig funkelten wie
Regenbogen.

Allein nicht nur vergessen und sich verlieren wollte sie, sondern die
Art ihrer Salonolympier sich aneignen und nachahmen. Stets schwärmend,
haßte sie Exaltation, und Kälte des Herzens war in ihren Augen Weisheit.

Es ist ja eine Tatsache, daß nicht die Eigenschaften selbst, sondern ihr
Reflex es ist, der uns besticht, und nicht der Wert, den man besitzt,
sondern den man verausgabt. Hierin beruht der Reiz gewisser typischer
Genußmenschen. Sie erwecken Illusionen, weil wir ihnen mehr zugute
halten, als sie veräußern, manchmal mit Recht, und manchmal nicht. Es
sind die Reichen, die kein dunkler Stachel der Entbehrung hindert, ihre
Empfindsamkeit ohne Rest auszuleben, und von denen geschrieben steht,
daß sie das Himmelreich so schwer erlangen, denn es leidet Gewalt.

Und doch konnte sie nicht umhin, das Leiden als einen Mißstand, die
Entsagung nicht als eine Bestimmung des Menschen zu betrachten, und wenn
sie glückliche Naturen so sehr liebte, so war es, weil sie ihre
Berechtigung anerkannte. Dieser Glaube saß ihr im Blute, er wuchs und
lebte, er zehrte an ihr. In ihrer eigenen Zerrissenheit erblickte sie
einen untergeordneten Zustand, weil sie fühlte, wie dies Übergreifen
ihrer Individualität nichts anderes aus ihr schuf, als einen heiseren
Mißton, der jede Saite erzittern ließ, der keinen Klang ausschied und
keinen unvermischt behielt. Die Röte stieg ihr dann wohl auf, wenn sie
der eigenen Maßlosigkeit gedachte, ihres übertriebenen Gebarens, noch
vor einer Stunde, als sie in Voltaires Geschichte Karls XII. von Peter
dem Großen las, der seine Kosaken so unentwegt, nach Tausenden rädern
ließ. Gleich einem scheugewordenen Tiere war sie da mit dem Kopf gegen
die Wand gestoßen, wie um eine solche Tatsache aus ihrem Bewußtsein zu
löschen. Denn aller Jammer, der solche Greuel deckt, war da vor ihren
Blicken aufgestiegen, und ungestüme Todessehnsucht ergriff sie vor dem
Bilde einer so schmerzbefleckten Welt.

Bei solcher Gemütsart mag es eigentümlich erscheinen, daß sie die
Religion so ganz abseits ließ. Allein sie war ihr durch das Kloster zu
sehr entfremdet worden. Das Breittreten großer Mysterien hatte nur ihren
Widerwillen, später ihre Gleichgültigkeit hervorgerufen, und weiter ging
das Senkblei ihrer Messungen nicht. Es ging ihr wie so vielen. Daß wir
einem Glauben, in dessen tiefste Geheimnisse wir als kleine Kinder
eingeweiht werden, eines Tages ungeduldig den Rücken kehren, ist ja
ungefähr das Naheliegendste, was es gibt und erfordert spottwenig Geist.
Und wie tief drang jener Rat Goethes in Wilhelm Meister, den Knaben die
Mysterien des Neuen Testaments bis zum Jünglingsalter vorzuenthalten um
der notwendigen Verstümmelung ihrer Eindrücke vorzubeugen? Christus
wählte reife Männer zu seinen Zuhörern, und wie summarisch verstanden
ihn selbst die!

Jene Verstümmelung ihrer Eindrücke nun hatte Marie erfahren. Christus
war ihr ein furchtbares Rätsel geworden, eine unverständliche Gestalt,
der Widersprüche voll, der Umrisse bar, zu der sie keine Fühlung
gewinnen konnte und die sie bedrückte.

Und jene dunkle, unbestimmte Furcht umzingelte sie immer näher mit
unruhigen Schatten. Bald mied, bald erforschte sie im Spiegel ihre
scheuen, trostlosen Blicke. In den Dissonanzen ihres Innern sah sie
keine Lösung, keine Lichtung für einen Strahl des Gleichgewichts, und
wie der Sturm auf schwarzem Geball, so jagte das Gespenst des Wahnsinns
auf dem Getürme ihrer Gedanken und Empfindungen, die ungeschieden
ineinander wogten; wie ein im Stimmen begriffenes Orchester, in dem
Violinen, Hörner und Baßgeigen die unzusammenhängendsten Läufe und
Motive wirr ineinandertönen. Nur indem sie stets zu den heiteren Seiten
des Daseins flüchtete, glaubte sie Ruhe und Rettung zu finden, und glich
so einem in Brand Gesteckten, der vor der Flamme davonläuft und sie
dadurch nur entfacht. Sie las grundsätzlich keine ernsten Bücher mehr
und ging nie in ein Konzert. Einzig französische Musik vermochte sie zu
zerstreuen. Ihr entströmten, wie Wohlgerüche aus unnachahmlicher Phiole,
die Kundgebungen nationalster Grazie und Form, und sie schlürfte den Tau
französischen Geistes, wie durchsickert von seiner Vollendung. Denn sie
liebte feste Umrisse, und der Zauber einer Rasse lag für sie in deren
Geschlossenheit. Das Feine gewährte ihr mehr Befriedigung als das Große,
weil sich in ihm das Wohlgefallen ohne Stachel erschöpfte. So abhold sie
jedoch dem Leben gegenüber jeder Gründlichkeit war, in der Kunst
verletzte sie die Oberflächlichkeit, ja sie erschien ihr gemein. Und
hierin allein mochte sie es nicht mit ihren Freunden halten, deren
Stellungnahme gewissen Dingen gegenüber sie verdroß. Denn sie fühlte die
gänzliche Bezugslosigkeit der Frivolität zu allen höheren Gebieten. Aber
hier wie da gelangten nur flüchtige und heftige Stimmungen bei ihr zu
Atem, und es lag etwas Chaotisches in der Gleichzeitigkeit ihrer oft
ganz entgegengesetzten Empfindungen.

Übrigens mußte sie doch bald einsehen, daß ihr alles nichts half. Sie
mochte ihre Freunde noch so sehr bewundern, die Ansichten des einen, den
Tonfall und das blasierte Lachen eines anderen, die Persiflage eines
dritten nachahmen, schwärmen und kopieren, kopieren und schwärmen, sie
wurde ihnen nicht ähnlich. Zwar wollte auch sie zu denen gehören, welche
ihre Herzen abrichten, ihre Eindrücke assimilieren, nicht ihnen
nachhängen – ja, aber sie stürmte nicht, wie ihre Freunde, in die weite
Welt! Für sie segelte kein Schiff auf die herrlich freien, hohen Wogen
des Lebens, sie stand am Gestade, und der Gedanke an ein ruhiges,
gleichförmiges Dasein erfüllte sie mit Verzweiflung.

Denn das Element, die Atmosphäre, in der ihre Seele lebte, war die Welt
der Eindrücke; wo diese fehlten, stagnierte ihr Inneres wie ein Sumpf,
und ihre Züge wurden stumpf und leblos vor den Augen derer, die entweder
kein Gefühl oder kein Interesse in ihr erweckten.

Ein einziger in jener Gesellschaft, die ihr Eldorado war, hatte sie
durchschaut. – Er trug seiner romantischen Erscheinung halber den
Spitznamen Alfred de Musset. Sein Gesicht war _en face_ gesehen schön
und zauberhaft jung, das Profil niederträchtig, die Gestalt bei
äußerlicher Eleganz von schlechter Rasse, die Hände unsympathisch. Seine
Begabung, in ihrer Art ungewöhnlich, war _à fleur de peau_. Dabei
gehörte er zu jenen Menschen, welche den Geist der anderen auf das
lebhafteste anregen und in Schwung versetzen. In seiner Gegenwart
beherrschte sich die schüchterne Marie vollkommen. Sie drückte sich frei
und unbefangen aus, und die Worte standen ihr für alle ihre Einfälle zu
Gebot. Dies erhöhte nur ihre Gereiztheit, denn genau so, wie sie sich im
Zwiegespräch mit ihm zeigte, wäre sie gern vor ihren anderen Freunden
erschienen, die nur beiläufig auf sie achteten und die ihr so gut
gefielen. Sie glaubte sich an ihm rächen zu müssen, indem sie es ihm ins
Gesicht sagte, und ihm alles vorwarf, was ihr an ihm mißfiel: von seinem
Profil bis zu seinem dekadenten, mehr in die Tiefe als in die Breite
gehenden Verstand. Er ließ sie reden – ihr aber schien ihr eigenes,
merkwürdiges Verfahren höchst angebracht und loyal, und indem sie ihm
ihre Abneigung gestand, ja klagte, glaubte sie den so anregenden Verkehr
mit ihm aufrechthalten und nach Wunsch gestalten zu können.

Aber die Nachwirkung blieb stets dieselbe, die Abneigung für ihn
steigerte sich ins Unerträgliche, und genau so ehrlich, so akut, wie
sich sehr junge Leute verlieben, war sie in ihn verhaßt.

Eines Tages brachte er ihr die frühen, verträumten Lieder Debussys auf
Gedichte Baudelaires, und von der schwülen Atmosphäre dieser Musik halb
gehoben, halb betäubt, sprach sie sich da so manche Last so leicht vom
Herzen: ihre Scheu vor tiefen Problemen und die heimliche Qual großer
Musik. Und wie von fernem Ufer sah sie ihn da aus der Tiefe ihrer
Verlassenheit an und lächelte ihm zu, weil er ihr vom Hauche des
Frühlings umweht erschien wie ein blühender Zweig.

Er aber sagte ihr tröstliche, schmeichelhafte Dinge, für welche sie,
aufatmend, naiv genug war, ihm zu danken; denn er wollte einen Einfluß
über sie gewinnen, nicht aber sie erfreuen. In demselben Tone
weiterredend, änderte er da auf der Stelle seine Taktik; ohne daß sie
seine Absicht merkte, entstellte, verzerrte er das Bild, das er noch
eben von ihr malte. Sie horchte entsetzt und sah nicht, daß er es war,
der sich nun rächte. Ihr war als stürzten die Balken eines Gerüstes über
sie zusammen, als hörte sie den endlichen Schlag einer lang lauernden,
elenden Stunde, den Weckruf finsterer Vögel.

„Den Wahnsinn, dem Sie verfallen sind, ahnen Sie ja längst“, sagte er. –
Aber ein mutigeres, stärkeres Wesen schien da plötzlich in ihr zu
erstarken, sie von seinen Drohungen freizusprechen, zu beschützen.
Dieselbe Fähigkeit, aus dem Stegreif zu erfassen, zu überblicken, sich
auszudrücken, verlieh er ihr auch jetzt; doch als er lächelnd, mit
begütigenden Worten, Abschied von ihr nehmen wollte, hielt sie ihn
schnell zurück: „Dies Haus gaben Sie mir ein Recht, Ihnen zu verbieten“,
flüsterte sie, und wie Liebende in ihrer ersten Umarmung, so war sie
durch die endgültige Trennung von ihm an das Ziel ihrer Wünsche gelangt,
und Haß und Widerwille waren erloschen.

Es gibt Momente, in welchen der Mensch den Charakter seines Lebenslaufes
so klar und nüchtern erschaut, daß, Maeterlincks kühner Hypothese gemäß,
die Zukunft mit der Klarheit der Vergangenheit an ihn herantritt. Warum
erkannte da Marie gerade jetzt, als sie dem Manne nachblickte, daß auf
Jahre hinaus alles, was sich ihr bieten, sich verkehrt zu ihr stellen
mußte, und daß sie alle Früchte verdorren sehen oder zur Unzeit brechen
würde?

Indessen stand das Haus, in dem alle Freuden ihres Lebens blühten,
unversehens leer, ihre Freunde zogen fort, und ihr Zaubergarten versank.
Ach, auf so winzige Veranlassungen hin konnte dort die Schale ihres
Glückes überströmen, denn mächtiger als in allen Mandelblüten des
Südens, als in allen Fliederbüschen des Nordens rauschte der Frühling in
ihrem Herzen. Sie sah nun zu den verödeten Fenstern empor, und litt um
so mehr, als sie nicht leiden wollte, nicht fliehen, an toter Stätte
nicht vergessen konnte.

Daß unser Leben zwar lange nicht so spannend, aber in seinem
eigentümlichen Verlauf unwahrscheinlicher ist als der kühnste Roman,
diese Bemerkung ist ja nicht mehr neu. Aber was uns in unsere Bahn
lenkt, tritt in der Regel nicht ominös, sondern leicht und mit
nichtssagender Miene in unseren Weg. Die Wendepunkte des Lebens liegen
im Tal, im aussichtslosen Dickicht und Gestrüpp. Marie erhielt Besuch
aus Neuyork in Gestalt eines jungen, reichen und verwöhnten Mädchens. Es
war eine jener zu rasch erfolgten, atemlosen und überhitzten Kulturen,
ohne Verweilen, ohne Gemütlichkeit und ohne Humor. Ihr Geist war stärker
als ihre Persönlichkeit. Sie kampierte auf einer weißen, großartigen
Wolke und schien mit ihrem stets in die Ferne gerichteten Blicke über
ideelle und allgemeine Interessen das Einzelne und Persönliche aus den
Augen verloren zu haben. Dabei aber war dieser „spiralähnlichen“
Begabung ein ausgesprochener Stich ins Erhabene zu eigen. Und wie sich
sehr hervorragende psychische Veranlagungen oder Eigenschaften häufig in
einer körperlichen Linie widerspiegeln und nach sichtbarer Gestaltung
drängen, so verriet sich die hohe Unterscheidungsgabe dieses zu
farblosen und abstrakten Geistes in einer eigentümlichen Hoheit der
Haltung und der Gestalt, in einer unvergleichlich edlen Kurve ihrer
Achseln, und – man lache nicht – in dem idealen Glanz ihrer
träumerischen Flechten. Äußerlichkeiten waren es denn auch, die Marie
mit ihr versöhnten.

„In jeder Menschenseele wohnt das Bedürfnis, sich groß zu machen, und
auch das Bedürfnis, sich klein zu machen.“ Marie, welche
Verherrlichungen ihrer eigenen Person mit fast kindlicher Freude
entgegennahm, trieb eine gewisse Bescheidenheit wiederum so weit, daß es
ihr unmöglich wurde, ein ihr dargebrachtes Gefühl sich wirklich
vorzustellen, noch zu begreifen. Entweder suchte sie den Grund dafür in
irgendeiner Lücke, einer untergeordneten Beschaffenheit des
Betreffenden, oder sie fand überhaupt nicht den Mut, daran zu glauben.
So verwirrte sie jetzt die entschiedene Gunst, die ihr von der jungen
Fremden zuteil wurde, um so mehr, als sie viel zu unerfahren war, um sie
richtig zu taxieren. Die wenigen Tage ihres Aufenthaltes gestalteten
sich übrigens auf die denkbar angenehmste Weise. Marie kam zum erstenmal
mit den berühmtesten Leuten ihrer Zeit zusammen und saß stumm, doch hoch
erregt, mittags mit ihnen zu Gaste und abends im Theater. Zwischendrin
allerdings wurde sie von Honorien, ihrer neuen Freundin, in
Zwiegespräche hineingezogen, die ihr gar nicht entsprachen. Hohen,
übersichtlichen Besprechungen war Marie nicht gewachsen, und selbst wo
sie diese zu verfolgen vermochte, geschah es mit Widerstreben. Denn
philosophische und künstlerische Probleme schienen ihr zu so
gewohnheitsmäßiger Erörterung nicht geeignet, Honoria aber besprach nie
Alltägliches, selten und nur von ferne Personalien. Bei aller
Herzlichkeit lag etwas so Unnahbares, Unpersönliches in ihrem Wesen,
etwas so Indirektes und Ferngerücktes in ihrem Blick, daß Marie immer
den Eindruck hatte, als sähe sie jene nicht selbst, sondern statt ihrer
ein Schemen, das ihr gefiel.

Am Morgen der Abreise ging Marie zu ihr. Es war ein lauer Sommertag.
Honoria empfing sie mit offenen Armen und schickte den Wagen fort, um
die Strecke zur Bahn zu Fuß mit ihr zurückzulegen. Alsbald war denn auch
eines jener Gespräche im Gange, die Marie so sehr langweilten. Sie
seufzte und sah zerstreut auf die staubigen Bäume, zum weichen,
herbstlichen Himmel empor. „Gott sei Dank,“ dachte sie, „sie geht.“

Aber schon am folgenden Morgen kam ein fingerdicker, in der Eisenbahn
geschriebener, französischer Brief, der nichts weniger enthielt, als die
Fortsetzung der allzu umfassenden Philosopheme, welche Honoria auf dem
Weg zur Bahn entworfen hatte. Nicht einen Augenblick länger wollte
jedoch Marie eine solche Komödie aufrechthalten. Das „Du“ ignorierend,
das in jenem Briefe geführt wurde, schilderte sie sich selbst so, wie
sie war, mit ihrem wirklichen, mit ihrem grundsätzlichen Mangel an
Interessen, und die gänzlich verschiedene Richtung, welcher sie ihrer
Natur nach angehörte. Somit galt ihr diese Episode als beendet, und sie
war nicht wenig überrascht, als Honoria, welche die Dinge von oben nahm,
sie in einem noch dickeren Briefe eine Spartanerin nannte und nunmehr
den Verkehr so rege gestaltete, als lebten die beiden Mädchen in
benachbarten Städten, nicht in getrennten Erdteilen. Marie wurde der
Gegenstand fortwährender Sendungen und Geschenke. Bald kamen persische
Lieder in köstlichem Pergamenteinband, mystische und philosophische
Werke, eingerahmte Gravüren in hohen Kisten, und sie hatte vollauf zu
tun, um nur die Zeitschriften durchzusehen, auf die sie sich mit
einemmal abonniert sah, und sich von all den Büchern in Kenntnis zu
setzen, die ihr bald direkt, bald durch Buchhandlungen zukamen. – Sie
tat es denn auch mehr aus Erkenntlichkeit, denn aus Neigung.

So verging ein Jahr. Da erhielt sie in den letzten Septembertagen
unerwartet einen Brief mit dem Homburger Stempel. Honoria war infolge
einer durch Überanstrengung erfolgten Krankheit zur Erholung dorthin
befohlen worden und sollte nach beendeter Kur schleunigst nach dem
Süden. Da ihr der Umweg zu ihr nicht gestattet war, bat sie nun dringend
um ihren Besuch. Marie sah diesem Wiedersehen mit Interesse entgegen;
besonders freute sie sich auf das Treiben eines so berühmten Kurortes
und ließ sich durch die Jahreszeit in ihren Erwartungen nicht
beeinträchtigen, denn in Homburg, wollte sie wissen, gab es das ganze
Jahr hindurch schöne und interessante Leute.

Honoria, die ihr einige Tage später auf dem Frankfurter Bahnsteig
entgegeneilte, erschien ihr noch höheren, noch edleren Wuchses als
vordem. Trotz der Modernität ihrer Kleidung war die Zeichnung ihres
Kopfes, die Linien ihrer Gestalt erhebend wie ein antiker Fries. Ihr
Anblick rührte die leichtbewegte Marie. Sie freute sich, den heißen,
staubigen Zug zu verlassen und die letzte Strecke in dem offenen Wagen
zurückzulegen, der vor dem Bahnhof in der Sonne wartete, durch
Frankfurt, das sie nicht kannte und in der frischen, schimmernden Luft
nach Homburg zu fahren, und sie freute sich, daß sie gekommen war.
Allein schon unterwegs empfand sie die alte Ungemütlichkeit, die alten
Strapazen dieses Verkehrs. Honoria schien in ihrem Element, wenn ihre
Gedanken gleichsam in der Luft hingen; Marie hingegen war gänzlich real,
und ihr Idealismus galt dem Leben. Oh, wie erschrak sie über den
Anblick, den ihr Homburg gewährte! Von Massen welkenden Laubes bedrückt,
starrten die leeren Alleen, starrten verödete Gärten und Villen. Honoria
rühmte ihr die große, wohltuende Stille des sonst so geräuschvollen
Ortes. Die Villa, welche sie ganz allein mit ihrer Gesellschafterin und
einer Kammerfrau bewohnte, war die Dependance des einzigen Hotels, das,
wahrscheinlich ihr zu Ehren, noch nicht geschlossen war. Marie
erbleichte. Ihr Herz sank. Sie haßte das ausschließliche Zusammensein
mit Damen! Sie sah keine Anregung, keinen Sinn in einem einschichtigen
Verkehr, und er langweilte sie auf die Dauer zu Tränen. Ein Leben, das
auf ein Weilchen das Ideal eines geistig und gesellig überanstrengten
Menschen sein mochte, war nur ein Alp für das zerstreuungssüchtige
Mädchen.

Honoria lag des Morgens meist mit schon ganz erschöpften Zügen zu Bett;
hatte vor Tagesanbruch ihre Korrespondenz erledigt und Emersons Essays
oder die Briefe des hl. Paulus gelesen. Sobald sie aufgestanden war,
drang Stunden hindurch der hartnäckige Lärm der Schreibmaschine durch
die stillen Zimmer. Vor dem öden Klippklapp floh Marie ins Freie und
strich durch die toten Straßen Homburgs, oder verlor sich in einer
Anwandlung von Schwermut in den großen Park. Früh am Nachmittag harrte
dann die leichtgeschirrte Viktoria, und Marie freute sich der langen
Fahrten durch den goldenen Taunus. Aber als der Oktober seinem Ende
zuneigte, litt sie bei dem Anblick des sterbenden Laubes, der finster
welkenden Natur. Ihr war, als fielen ihr die gelben Blätter aufs Herz,
und ihr Auge lechzte nach einem grünen Zweig, nach einem blühenden Fleck
inmitten des ungeheuren Grabes, das sich bereitete. Sie begriff die
Schönheit des Herbstes, Honoriens Freude daran nicht. Was der Augenblick
verhieß, nicht was er bot, nicht der Sonne zärtliches Verweilen, ihren
Scheidegruß vernahm sie allein. Und wenn der Wagen in der Dämmerung
durch einen Dom welker, seufzender Bäume fuhr, so umlauerten sie, wie
einst die Elfen des Erlkönigs Sohn, des Verfalles grausame Schatten und
entwanden ihr das Herz.

Zu Hause kam dann der lange Abend mit Shakespeares und Brownings
Gedichten; aber sie fing an, alle Bücher zu hassen. Wohl konnte sich ihr
Blick flüchtig beleben, wenn Honoria duftend und geschmückt, gleich
einer hellen Wolke, ihrem Zimmer entschwebte, sonst aber saß sie oft
stundenlang mit ihrer Stickerei still am Fenster, und nach den
einfältigsten Bemerkungen mußte die sonst so Gesprächige ringen. Gern
folgte sie Honoriens Aufforderung, zu musizieren. Allein die Töne
brachten das Echo ihrer Langeweile mit quälender Steigerung zu ihrem
Bewußtsein, und schlaff und zerstreut endete ihr Spiel.

In dieser Zeit hörte Marie, die sonst alle Wagner-Opern kannte, in
Frankfurt zum erstenmal den Rienzi, und obwohl Aufführung wie Besetzung
zu den minderen gehörten, so war sie von dem Drang, dem titanischen
Gären, ja gerade von dem Unvermögen dieses Werkes heftig ergriffen. Hier
war Ikarus, dessen ewiger Mut sich über Welten hin Flügel, die nicht
brachen, schmieden sollte.

Mächtig angeregt fuhr sie im offenen Wagen durch das mondumhauchte Land
und weiße Dörfer nach Homburg zurück, und Wagners Schaffen als eines
Wunders gedenkend, lehnte sie den Kopf weit im Wagen zurück und verlor
sich in der stillen, bethlehemischen Pracht. Vergessen und verweht
schien ihre Schwermut, die doch schon tags darauf, gleich einem Nebel,
ihr Gemüt von neuem umschleierte. Besonders auf die Schreibmaschine
wurde sie zuletzt erbittert, und als diese eines Morgens wieder so
geschäftig das stille Stockwerk durchdrang, fing Marie in einem
Paroxysmus von Langeweile in ihrem Zimmer stürmisch zu weinen an. Das
Leben war so reich, so mannigfach und schön! Es gingen auf der Welt so
reizende Menschen einher! Ach! Warum lebte sie von ihnen getrennt! Wer
war für des Lebens Genüsse königlicher geartet? Mochte sie zeitlebens
entbehren, bis in alle Fibern blieb sie verwöhnt.

Und obwohl nur mehr drei Tage ihres Bleibens waren, schien ihr gerade
der heutige nicht mehr erträglich. Rasch zu Honoria tretend: „Ich kann
heute keine gelben Bäume sehen und fahre nach Frankfurt“, sagte sie
lachend und drückte ihr den Arm. Sie sah noch Honoriens überraschten,
aber so freundlichen Blick, dann stürmte sie die Treppe hinab und zur
Bahn, der Schreibmaschine und Homburg davon!

Wie ein Füllen, das sich auf freiem Rasen tummelt, so behaglich war es
Marie am selben Nachmittag auf der bewegten, im lieblichsten Lichte
getauchten Zeil. Die üppigen Töchter der Stadt, die mit ihren Müttern
erwartungsvoll einherzogen, die eiligen Geschäftsleute, die Müßigen und
die Lebensfrohen, die gemeinen, die aufgeputzten, oder die sympathischen
Leute, alle schufen ihr Kurzweil, und wie ein Kind in Bilderbücher, war
sie ganz in den Anblick der vielen Spaziergänger versunken; überall von
dem Zauberkreis eines selben Lebens gebannt, ruhte, sich selber
verlierend, ihre gehaltlose Seele, die dem Mann ohne Schatten glich, von
der Einsamkeit aus.

Sie hatte die Stadt der Kreuz und Quere nach durchstreift, an Brücken,
stillen Plätzen und verlorenen Straßen geweilt, und schon erblaßte der
Himmel. Gänzlich ihrer Stimmung hingegeben, war ihr Bewußtsein wie
umflort, von der Atmosphäre des alten und des neuen Frankfurt
durchdrungen, und von der sterbenslauen Luft, in der ein Klang lag
ewiger Ermattung, von ewiger Vergänglichkeit.

In einer kleinen verträumten Sackgasse machte sie halt, um ihren Weg zur
Bahn zu erfragen; und von einem entstellten Profil Richard Wagners, das
dort in der Auslage eines Musikladens prangte, wandte Marie, die ungern
Häßliches sah, im Vorübereilen den Blick.

Den Abend verbrachte sie mit Honorien in aufgeräumtester Laune,
erzählte, was sie gesehen, gehört, gegessen hatte, und unterbrach die
Browningsche Lektüre mit allerlei Späßen.

Dies war ihre vorletzte Nacht in Homburg, und entmutigt schlief sie ein.
Wann endlich würde sich ihr Leben bewegter gestalten? – Sie gedachte der
vergnügten kleinen Konditorsfrau in Frankfurt, an die sie heute so viele
Fragen gestellt, die über ihren schmucken Laden nicht hinausdachte und
inmitten ihrer Glasglocken, ihrer Schokoladekrapfen und Schaumrollen ein
Dasein lebte, vor welchem Marie erschauerte.

Aber was hatte sie denn selbst von ihrem klein bißchen Bildung, als daß
sie für die Alltäglichkeit auf immer verdorben, auf immer beunruhigt
blieb. Heiß schoß ihr das Blut zu Kopfe: was wußte sie denn – und was
sollte sie von Honorien halten, die über ihre Theorien zu leben
verlernte?

Es war finster und still in ihrem Zimmer, als Marie erwachte. Sie besann
sich nicht sogleich, was dies wilde Klopfen ihres Herzens verursacht,
was sie geweckt, was sie gesehen hatte. Dann stürzte sie ans Fenster und
riß es auf. Östlich dämmerte ein heller Streifen durch die Nacht, allein
den Tag in ihrem Herzen begrüßte sie mit einer Flut immer neu
hervorbrechender Tränen, daß ihr Gesicht erblindete wie eine Scheibe
unter dem Regen.

Jenes selbe Profil, von welchem sie gestern im Vorübereilen den Blick
abwandte, hatte sie, verherrlicht, zwei Schritte vor sich, mit
unbewegtem, gerade ausschauendem Auge gesehen. Aber es war ein
vergöttlichtes Auge, weltenstrahlend, weltenspiegelnd und von
unvergeßlicher Größe; ein individuelles und doch gänzlich entrücktes
Auge. Kein Auge, mit dessen Blick der ihre sich hätte kreuzen können. Es
waren die ewigen Augen Wagnerschen Geistes.

Wie ein Erdboden durch plötzliche Erschütterung, so hatte ihre Gesinnung
durch ein so ungeahntes Bild eine Umgestaltung erfahren. Es war seltsam,
es war spaßhaft genug, und sie wußte, welchen Hohn die Tatsache gerade
in ihrem Herzen finden, sie verfolgen würde! Hier war sie: ein junges,
bis ins Mark vergnügungssüchtiges Mädchen, das nichts mehr zur Ruhe
bringen, in dem nichts den einen brennenden Wunsch mehr betäuben konnte:
die Wahrheit zu suchen.

Denn sie wußte in dieser stillsten Stunde ihres Lebens, daß Unwissenheit
es war, die jenen Gram in ihr erzeugte, weil _Gedanken_ hinter jenen
unruhigen Schatten ruhten, die sie schreckten, und daß nichts sie retten
konnte, als ein hellerer Kreis des Wissens, der sie schützend umschloß,
als ein Glaube, um den sie selber rang.

Tags darauf verließ sie Homburg.

Golden flogen im Nachmittagscheine Brücken, Felder und Wiesen vor ihrem
Zug vorbei, aber vor dem Glanz dieser sonnenerfüllten Welt schloß sie
bekümmert die Augen; denn immer schwerer wurde da wieder, auf der langen
Fahrt, ihr einsam entschlossenes Herz. Sie sah sich wie vor einem Berg,
den nur Geübte und Wetterkundige mit einem Arsenal von Werkzeugen
wohlausgerüstet zu besteigen wagen und denen sie nun barfuß und allein
folgen wollte. Was sie erstrebte, war ja zu schwer: Nichts was
Gleichgewicht und Disziplin des Geistes betraf, lag in ihr vorbereitet
noch vererbt, und zu einem systematischen Denken war sie weder veranlagt
noch geschult. Kein Pegasus, die traurigste aller Rosinanten stand ihr
zu Gebote. Aber weniger glücklich als der an Illusionen reichste Don
Quichote, verglich sie unerbittlichen, fast feindlichen Auges ihre
Unzulänglichkeit mit ihrem Wagnis. – Was hatte ihr stumpfes, kindisches
Gehirn mit jenen Rätseln zu schaffen, die es von jeher mühten? Nun war
sie erwacht. Mit weitgeöffneten Augen, die nicht sahen.

Als sie bei ihrer Ankunft in München Glucks Oper „Iphigenie in Tauris“
auf dem Zettel sah, ging sie noch selben Abends hinein. Es war eine der
letzten Vorstellungen, die unter Levis eminenter Leitung und einer
Besetzung alternder aber trefflicher Leute dort stattfanden, und sie
atmete auf in der Atmosphäre dieses edlen Werks.

   „Die Ruhe kehret mir zurück.
   So sollte meine Qual Euch, Ihr Götter, ermüden.“

Es war Orestens Lied, und in prachtvoller Wiedergabe die eherne
Begleitung des Orchesters.

In diesem Augenblick kulminierte das musikalische Vermögen, die
Genialität des Dirigenten. Nicht so sehr „gestaltend“ stand er dem
Meisterwerke gegenüber, als daß seinem unvergleichlich künstlerischen
Impuls, seiner in höchster Passivität so wundervollen Ergriffenheit die
tief umhülltesten Regionen sich erschlossen. So stand er unbeweglich,
mit gesenktem Stabe, nur verklärten Auges sein Orchester bannend. Aber
der Hauch von Ewigkeit, der über den friedensvollen Fall der Baßtöne
gebreitet liegt, riß Marie mit fort. Kein anderes Kunstwerk sollte je
wieder jene selbe überwältigende Wirkung in ihr hervorrufen, zu der sie
jetzt ihr abnorm gesteigerter Gemütszustand befähigte. Sie verlor das
Gesicht. Der Wunsch, den sie so früh gehegt, er war ihr erfüllt, die
Müdigkeit, die sie so früh empfunden, sie war von ihr genommen, und sich
selbst, der eigenen Dürftigkeit, der eigenen Torheit, allen Schranken
des Persönlichen weit enthoben, behielt sie nur das Bewußtsein eines
strömenden Glücks.

So waren denn die Würfel gefallen. Ihr Drang nach Erkenntnis war stärker
als ihr Sträuben, ihre Trägheit und ihr Unvermögen.

Stundenlang saß sie nun, meist ganz vergebens, über einer einzigen Seite
Kants. Aber gerade bei ihm, dem sie ein so lückenhaftes Verständnis
entgegenbrachte, durfte sie, zum Atome sich erkennend, ruhn, wenn sie
die Schwingen ewiger Begriffe auf Augenblicke streiften. Denn Marie
hatte Geist, doch keine Geisteskraft, niemanden, der ihr half, noch sie
belehrte! Nur einem Menschen, dessen Überlegenheit ihr nach allen Seiten
hin entsprach, hätte sie sich ohne Reue anvertrauen können, und einen
solchen Freund zu haben war ihr nicht vergönnt. So mußten denn die
Bücher ihre Freunde, ihre Lehrer werden. Und schon hatte sie erkannt,
daß hervorragende Anlagen nur eine gefährliche Mitgift sind, wenn gerade
sie einen versöhnenden Ausgleich innerer und äußerer Widersprüche
erschweren. Sie hatte erkannt, daß nicht das Leben, für welches wir
geschaffen wären, in die Wage fällt, daß nicht wir selbst, sondern unser
Geschick das Gegebene ist, und daß sie nicht dem Knechte gleichen
durfte, der mit seinem einen Talent verzagte und es vergrub. Am
schwersten ließ sie sich’s mit Schopenhauer werden, der den jugendlichen
Leser terrorisiert. Und wer war sie, daß sie es wagte, ohnmächtig,
verzweifelnd, so lange gegen ihn anzustürmen, bis ihre innerste
Überzeugung sich wieder von ihm losriß, von seinem großartigen
Gedankenring gefördert und belehrt, ihm nicht länger unterworfen war?

Einen heißen, einsamen Sommer verbrachte sie mit Platos Büchern, und
unter Tränen las sie das Symposion. Hier war ein Ziel und göttliches
Verweilen, der Harmonien seliger Hauch, und wie vom hohen Berg herab lag
da die Welt – beschaulich, unbegehrt – zu ihren Füßen.

Aber sie war schön, diese Welt! Feierlich und groß! – Und alles in ihr
erhielt Sinn, Leben und Bestand durch Bezüge. Und in Bezügen lag ein
Schwerpunkt selbst der größten Geister.

Der Erwerb des einen wird da dem anderen Besitz; Steigbügel für den
Kommenden. Allein die Schranke war die Bedingung des menschlichen
Gehirns, und die Grenze des intellektuellen Vermögens durch die
menschliche Natur scharf abgesteckt.

Marie versank in immer tieferes Nachdenken.

Nein: Allumfassende Vollkommenheit war nirgends. –

Da erstand vor ihrem inneren Auge, wie im Morgengrauen deutlich
erkennbar, die universellste, übergreifendste Gestalt, die keine
Irrtümer und keine Lücken in sich aufwies! Vielmehr auf unnennbar
geheimnisvolle Weise alle Widersprüche in sich aufhob, weil ihr nichts
fremd war und nichts entzogen, was tausendfach die Menschen scheidet und
vereinsamt. Ja, es war ein Mensch. Aber Himmel und Erde waren der
Schlüssel zu ihm, und er erfüllte die Welt. Allumfassendes, schweigendes
Begreifen entströmte seinem Auge. Ja, es war ein Gott. Seine Züge aber!
Die größten Denker und Meister aller Zeiten hatten sie ihr entschleiert,
weil alle menschlichen Heroen zu seinen Kommentaren wurden, und ihre
unbeschreibliche Bewandtnis zur Erläuterung! – Keine Philosophie, keine
Äußerung auf dem Gebiete des menschlichen Geistes, ja des Geistreichen,
des Witzigen, des Profanen – keine Kunst, die nicht zu ihm gravitierte.
Der Gedanke war so groß, daß sie erschauerte. Und von der
überschwenglichen Tragweite jenes schlichttönenden Ausspruches: „In
meines Vaters Haus sind viele Wohnungen“ wurde sie wie von unendlichen
Schallwellen fortgerissen und durchleuchtet.

Nur eines trennte ihn von uns – das Übel, das allen Gram erzeugt. Eines
mußte er uns entnehmen. Eines war göttergleich im Prinzip von ihm
ausgeschieden: die Qual.

Marie mochte ihre Gedanken nicht länger ertragen. Sie ging hinab in die
Straße, die starren Häuserreihen entlang, der heißen, verödeten Stadt.
Aber das Licht, der Anblick des leeren, weißlichen Himmels erweckte
Erinnerungen und Leid. Zum Stachel war ihr da der taube Glanz des Tages,
und jene „Geister der Luft“, die den Menschen jagen und ihm das
Himmelslicht versteinern. Atemringend muß er es ertragen.

Nicht daß es sie jetzt nach Mitteilsamkeit drängte, nein, auszuruhen, zu
vergessen, sich zu freuen. Schönheit, Gebärde, Sprache, die Form eines
Auges, die Bewegung eines Armes, dies alles war ein Organismus, der sie
umfriedete. Dann wurde es still in der dumpfen Werkstatt, und Gedanken
feierten. Der Reiz der Nähe löste den gezogenen Blick von ihren Augen,
und ihr Geist erkannte rastend seine Heimat.

Denn es war ihr Geist, der in der Welt der Körper, der in dieser Welt
sein Element erkannte!

Allein in der Einsamkeit, die sie also bedräute, umschloß sie jetzt,
deutlich wie Felsenzacken gegen das Sonnenlicht, der Ring ihrer
Gedanken.

Nicht länger von der Welt barer Vorkommnisse aus den Fugen gerissen,
erkannte sie die tröstliche Bedingtheit alles Elends. Erkenntnis sollte
_nicht_ den Pflock des Leidens tiefer in uns treiben! Alles war Folge,
und selbst Geschehnisse nicht unentrinnbar.

So weit, so anders erblickte sie die verlorenen Tore ihres Glaubens
wieder. Was immer das Dogma vom Geiste löste, erschien ihr da als
ungeheuerster Verrat. Nicht als Dualität, als Organismus erfaßte sie den
Menschen und seine Apotheose, nicht seine Trennung als sein Endziel.
Ihrem weltabgewandten und entsagungsvollen, aber stets verheißungsvollen
Bildern zugekehrtem Auge wollte die unendliche Elastizität jenes
Glaubens als sein tiefinnerstes Geheimnis sich erschließen; des
Paradoxalsten, eingedenk und psychologisch tiefst Begründeten, was der
Mensch zutage förderte: als das „Maß aller Dinge“ stellt er den Abstand
zwischen ihm und der Gottheit, Prometheus, die seligen Götter und den
allgewaltigen Zeus. Quellen und Haine belebt er mit übermenschlichen
Wesen, scheu verehrend, was er selber schuf. Ahnung war es, die ihn die
eigenen Ideale, das eigene Ziel so fern erkennen und den Olymp erträumen
ließ! Solche Träume, mußten sie nicht das Sehnen eines Gottes nötigen,
zu tausendfacher Befreiung den Menschen zu erlösen?



                               Geraldine
                                  oder
                     die Geschichte einer Operation


                  Für Professor Franz Keysser (Berlin)


                                   I

Geraldine, aus dem Häuflein derer, mußte im Spätfrühling des Jahres 1923
in die chirurgische Klinik einer süddeutschen Stadt. Freunde begleiteten
sie. Den Abend durfte sie noch mit ihnen verbringen. Sie war guter Dinge
und trank auf ihr eigenes Wohl. Dann nahm ein helles Zimmer, das ins
Grüne sah, sie auf. Die Schwestern, in der Umrahmung ihrer gesteiften
weißen Flügelhauben, besonders aber deren breite und bejahrte
Vorsteherin, erweckten ihre Zuversicht. Spät trat sie noch bei
Geraldinen ein, um nach der Neuangekommenen zu schauen, und bei ihrem
Anblick streckte die Kranke ihre Füße länger aus, einer Müdigkeit
hingegeben, die sie plötzlich wie von weither überkam. So
schutzverheißend war die erstarkte Weisheit dieser Augen, so geborgen
fühlte sich Geraldine, als sie in diese mächtigen Pupillen sah. Sie
wußte, wie wenig ein Beruf zur Sache tat, wie leicht gerade die
tugendhaftesten zur Klippe werden. Inbegriffen, ganz unausgesprochen
aber war hier alles Fromme, und daß die Pflegerinnen dieses Hauses wie
die Blumen eines gehegten Gartens standen, Unkraut nicht wuchern konnte,
lag an dieser Vorgesetzten. Denn es ist immer das Wichtigste, wer
regiert. Wie eine Mutter, nicht nur der Patienten, sondern irgendwie
auch dieser Ärzte, Geheimräte und Professoren, wie eine Mutter aller
Menschen schritt sie durch die Gänge, homerisch in der Unbeirrbarkeit
ihres Waltens, ehrwürdig wie ein Stück Natur. Und sie hieß Guido, wie
ein Mann.

Aber auch Geraldine kannte die Welt.

                   *       *       *       *       *

Lesend verbrachte sie den nächsten Morgen; am frühen Nachmittag wurde
ihr Morphium gegeben und später noch einmal. Da tönte sich der
Widerschein der grünen Bäume in ihrem Zimmer sanft und immer sanfter ab,
und als eine Bahre hereingezogen kam, bestieg sie sie eilends wie im
Traum. Nach einer kurzen Fahrt befand sie sich zwei Schwestern
gegenüber, und diese trugen ihre weißen Ordensschleier nicht abstehend
und gesteift, sondern gar kleidsam in den Nacken zurückgerafft, und sie
fragte die Schönste um ihren Namen: Ermentrudis. „Meine Zunge ist
schwer, sie ist trocken, sie ist voll Mohn, ich spreche so mühsam“,
sagte Geraldine, und überließ sich ihnen. Ihr war, als würde sie von
Engeln bedient. Da lag sie schon auf einer Bahre, und rechts von ihr gab
sich ein Arzt mit ihr zu tun. Aber seine Gegenwart war ohne Resonanz.
Nur Ermentrudis erfüllte den Raum. Vielleicht ist sie nicht so schön als
ich sie sehe, dachte Geraldine, deren Augen zugefallen waren, vielleicht
ist es Täuschung, wie der Geschmack von Mohn in meinem Munde. Wie ist
sie schön! – Da war sie weg, und Geraldine wieder in der Fahrt. Nur bis
zum nächsten Zimmer dieses Mal. Es dünkte sie aus Glas, und ein anderer
Arzt saß jetzt rechts von ihr, als hätte er auf sie gewartet. Sein
Gesicht schien ihr nicht sein eigenes zu sein, sondern ganz in der
Anspannung seiner Züge statt in seinen Zügen zu beruhen, aber sie
streifte es nur mit einem Blick, dann fielen ihre mohnbeschwerten Augen
wieder zu. Doch alsbald hörte sie sich stöhnen. Und warum riß er ihre
Adern so unbarmherzig auf? Sie fühlte, wie er sich durch nichts beirren
ließ, und sie blieb unbeweglich, aber sie hielt ihm vor, daß er sie
peinige. Fort und fort, wie lange noch? – Da merkte sie plötzlich, daß
er nicht länger rechts, sondern ihr jetzt links zur Seite stand, indes
ein anderer Mann in Szene trat, als wäre dies eine Bühne. Ja, genau so,
war jetzt eine mächtige Form herangetreten, wie ein Dirigent sein Pult
einnimmt, und als schwänge er einen Stab mit den Worten: „_Alla breve_
meine Herren!“ so sagte er: „Klagen Sie nicht!“ und fing an zu
schneiden. Geraldine aber griff da zum Schweigen, wie ein Geiger in sein
Instrument. Sie streckte nur ihre linke Hand schutzflehend ins Leere.
Aber schon war sie von einer andern sanft geborgen und vertröstet, und
sie umklammernd, führte Geraldine ihren stummen Pakt den ersten Stößen
gegenüber aus. Sie wähnte jetzt, es sei Nacht. Doch statt erhöhter
Schmerzen wurden sie mit jeder Sekunde dumpfer. Und war sie denn selbst
ein besaitetes Holz geworden? Sie spürte nur ein virtuoses Kneten, wie
rasche Fingersätze eines Pianisten in ihrem unempfindlichen Fleisch.
_Allegro, vivace, accellerando, presto, tempestuoso_ fuhren die Griffe
wie auf Tasten dahin. Geraldine hatte den Eindruck von _Kunst_. Wie
aber? Wie konnte dies sein? Und doch, welch deutliche, welch aufregende
Beziehung, welch unerhörte Analogie, welch spannende und unvermutete
Sensation! Für einen Augenblick war alles rege in ihr, und sie hätte
sich gern aufgerichtet, um hinzusehen, ihr Kopf aber leistete
Widerstand; er war zu schwer. „Es wird schon genäht, es wird schon
verbunden“, drang es von links, wie aus einem Souffleurkasten zu ihr.

Und schon wurde sie wieder fortgetragen. Unklar diesmal die Fahrt durch
den Gang in ihr Zimmer zurück.

Die Nacht war nicht mehr fern. In ihrem Bette aufgerichtet, ohne eine
Spur von Schmerzen, ließ sie sich ein Buch herüberreichen, wähnend, das
Lesen würde ihr leichter fallen als das Sprechen. Die Vorhänge bauschten
sich sachte in der Frühlingsluft, im Scheine eines blauen Seidenschirmes
lag sie und sann.

Welch freundlicher Dämon hatte die Tafel ihrer Erinnerungen gelöscht,
daß ihre Gelassenheit sich immer mehr vertiefte?

Da, mitten in der Nacht – als klingle es von allen Seiten zugleich –
schlugen die Wunden Alarm. Weggefegt das letzte Stäubchen Morphium; das
ganze Bein entfacht. Schlimmer noch die hohe Stachelkrause, die vom Knie
aufwärts loderte. Aus purer Sympathie erglühten Fuß und Ferse, von
heißer, imaginärer Asche versengt. Geraldine, in den Tumult verstrickt,
hörte ihre eigenen Seufzer nicht.

Am Morgen klirrte der Wagen mit den Verbandwerkzeugen durch den Gang.
Guido war bei Geraldinen. Da öffnete sich die Türe, als sei ihr Zimmer
eine Freistatt. Der Chefarzt trat als erster herein, nach den Schmerzen
dieser Nacht zu fragen. Und es erfolgten sehr genaue Weisungen, um einem
neuen Ansturm vorzubeugen. Da wunderte sich Geraldine zum ersten Male,
ohne sich entsinnen zu können weshalb. Sie grüßte nach rechts und links
die beiden anderen Ärzte von gestern; dann war sie wieder allein.


                                   II

Seltsame Schwingen, neue Rhythmen trugen ihre Tage jetzt dahin, ihre
Stille so manches Mal durch nichts als den Besuch der Ärzte
unterbrochen. Blumen umgaben sie. Der über ihr Bett geschobene
Krankentisch bot ein reiches Feld der Beschäftigung, und ein Zufall
wollte, daß Leute, mit welchen sie lange nicht mehr in Kontakt war,
plötzlich in der Ferne an sie dachten und ihr schrieben. Eines Morgens
kam ein Stoß der neuesten französischen Bücher für sie an; sie lagen in
großer Evidenz auf Tisch und Decke gebreitet. Jedoch der Zeitungsmann
durfte nicht zu ihr herein. In Tönen der Angst bat sie die Schwester,
ihn von ihr fernzuhalten, und schon früh am Nachmittag sehnte sie sich
nach Morphium. Fing aber der Rollwagen mit dem Verbandzeug, den Alkohol
und Jodoformflaschen durch den Gang zu klirren an, so mußte sie lachen;
denn es ging dann so fühlbar von Zimmer zu Zimmer eine Spannung, es
entstand eine Aufregung, wie wenn Hennen gefüttert werden. „Jetzt werden
die Hennen gefüttert“, sagte sie jedesmal zu Guido, die immer der
Karosserie voranschritt.

Eines Tages fragte sie den Arzt, der sie in ihrer Lektüre unterbrach:
„Würde dieses Buch Sie interessieren, wenn ich fertig damit bin?“

Er warf einen Blick auf den Umschlag und zögerte: „Von Franzosen höre
ich lieber nichts“, sagte er dann.

Da schwieg Geraldine.

Das Buch, das er abgelehnt hatte zu lesen, _Siegfried et le Limousin_,
von Jean Giraudoux, war nicht vollkommen. O nein, es hatte seine Fehler.
Man durfte es ein wenig inkoherent nennen sogar. Aber jede Seite rührte
und entzückte Geraldine. Denn regenbogenartig schlug hier eine Brücke
auf, bebend schwang sie herüber, pulsierte, vibrierte, wie ein
Regenbogen ephemär. So gehörte auch dies Buch einer anderen Wirklichkeit
als die der Ereignisse an; und sie mißachtend, sie verachtend, irisierte
über sie hin die Fülle des sich entziehenden, ach! des werbenden Auges
...

Allein es war umsonst geschrieben, da niemand es in Deutschland las.
Auch die anderen neuen Bücher enthielten kein gehässiges Wort mehr über
„_les Allemands_“, aber sie waren umsonst geschrieben, da niemand sie in
Deutschland las. Geraldine entsann sich der skeptischem aber so
aufhorchenden, so gespannten Mienen ihrer Freunde in Paris, als sie
ihnen von „jenen anderen Deutschen“ erzählte, von welchen nichts mehr
bis zu ihnen gedrungen war. Ob auch einige wie mit Engelszungen
hinüberriefen, man stellte sich ihnen taub, wenigstens solange sie
lebten. Heute war es umgekehrt.

Geraldine schlief mit dem Kopf auf dem offenen Buche ein, aber nicht
lange; ihre Aufregung scheuchte sie auf, und sie las im Scheine ihrer
blauen Lampe weiter.

Als am nächsten Morgen der Chefarzt bei ihr eintrat, warf er einen Blick
auf die Tabelle und ließ Sandsäcke herbeischaffen, in welchen Geraldines
Bein wie in einen Schacht eingedämmt werden sollte, damit es sich nicht
mehr bewege. Man schleppte sie wie etwas gar Wichtiges herbei. „Hier
stimmt etwas nicht!“ dachte sie gequält. Die Ärzte umstanden sie ja, als
ob ihre Gesundung eine wichtige Sache sei. Und das Stück von der
gesitteten Weltordnung wurde hier gespielt, als wisse man nicht, wie es
draußen zugeht. Aber sie selbst, spielte sie nicht mit? Ließ sie nicht
alle fünf gerade sein? Nicht einmal nach dem Wetter mochte sie fragen,
als ginge sie das alles nichts mehr an, als sei alles eins. Und nun? Und
wie lange durfte sie noch ihrer beginnenden Unruhe, ihrer wachsenden
Verwirrung wehren? Die Wirklichkeit. Ja sie war das entfallene Wort, der
Faden, der gerissen war, an dem sie wieder anknüpfen mußte.

In der Nacht fuhr sie an die Klingel, und die Stimme, mit der sie die
herbeieilende Schwester unter Ächzen anflehte, sie aus dem eingestürzten
Tunnel vorzuziehen, war wie ein heiserer Bariton. Es hatten sich aber
nur die Sandsäcke verschoben, und mit ihrem Gewicht die Wunden
beschwert. Vielleicht auch hatte sie nur geträumt. Allein die Schwester
beruhigte sie, räumte die Säcke aus dem Weg, brachte ihr eisgekühltes
Zitronenwasser und reichte ihr Morphium. Sie war mürbe und trug sich
zart wie eine schwanke Wicke im Sommerwind, die ihren letzten Duft, ihre
letzte Süße veratmet. „Welch ein Frühbeet von Schwestern!“ dachte
Geraldine. Und Guido die große Gärtnerin.

Es gäbe vielleicht keine Ärzte in der Welt, wenn nicht so ziemlich
jedermann seinen eigenen Arzt in seinem Innern hätte. Geraldinen war es
am folgenden Morgen klar, daß es nur mehr wenig Tage bis zu ihrer
Herstellung bedurfte. Bei ihrem Einzug in die Klinik richtete sie fürs
erste an alle die Frage, wann sie wieder herauskommen würde, und gleich
und auf die Stunde verlangte sie es zu wissen. Nun sie fast keine
Schmerzen mehr hatte, erkannte sie mit einem Male, welche Ablenkung sie
für sie gewesen waren, und sie vermißte sie; denn diese an sich waren ja
auch eine Betäubung gewesen. Und ihr geschah wie dem flüggen Vogel, der
wohl am liebsten noch einmal in seine Geborgenheit zurückkröche, bevor
er den ersten Flug unternimmt. Draußen wartet seiner die Welt. Das Nest
dagegen war ihr entzogen. So dieses Haus. Wie eine Arche zog es über die
finsteren Wasser dahin und beruhte in sich. Bald mußte nun Geraldine aus
seinem Schutze wieder hervor. Und sie verzagte. Sie bangte nach den
wolkenlosen Tagen der Vergessenheit, der Palliative. Sie waren vorbei.
Andere Wunden waren nunmehr wieder erwacht, unheilbare, die niemand
verband, um derentwillen niemand sie bemitleidete, noch eine Blume
schenkte oder sie umgab. Wie ein Himmel, der sich ganz verhängt, und von
dem es dann unablässig niederrauscht, umzog sich Geraldinens Gemüt, und
erst stoßweise, dann unaufhaltsam flossen ihre Tränen. Zwar konnte sie
jederzeit innehalten, und wenn jemand bei ihr eintrat, ganz vernünftig
schwätzen. Aber sobald sie allein war, setzte der Landregen wieder ein.
Der Geruch der Speisen widerte sie mit jedem Tage stärker an, und sie
weinte vor Ekel bei ihrem Anblick, ob sie auch hungrig zu sein
vermeinte, bevor man sie ihr brachte. „Kaputt ist kaputt!“ sagte sie zur
Schwester, die sich über ihre kaputten Nerven ausließ. Aber vor den
alles sehenden Pupillen Guidos redete sie sich auf eine beunruhigende
Äußerung heraus, die bei der Morgenvisite zwischen den Ärzten gefallen
sei; sie habe sie deutlich gehört. Und sie rückte beiseite, damit Guido
sich zu ihr setze, denn sie erbettelte jede Minute ihres Verweilens.

Der Tag verebbte an den weißen Wänden ihres Zimmers, sie standen im
Widerschein des umgoldeten Laubes, dann erbleichten sie wieder.
Geraldine war schon für die Nacht gerichtet, hielt ihr heiles Knie
umklammert und weinte. Die blaue Lampe warf ihren Schein. Niemand störte
sie mehr. Da klopfte es an ihre Türe und Guido in Begleitung des Arztes
trat herein. Er kam sie zu beruhigen: es handle sich nur um eine
vorübergehende Phase und sie würde die Klinik bald verlassen können. Er
erinnerte sie nicht daran, daß Schwerkranke in den angrenzenden Zimmern
lagen, ohne Aussicht auf Genesung. Ein schwedischer Student war in der
Nacht gestorben. Sie aber mußte noch so spät getröstet werden. Ihr
Schuldbewußtsein machte sie befangen, sie wußte nicht, was sagen. Die
französischen Neuerscheinungen lagen auf ihrer Decke gebreitet. Es war
aber derselbe Arzt, der es abgelehnt hatte, sie zu lesen. Scharmante
Bücher, bemerkte sie, doch ohne sie ihm noch einmal anzubieten. Doch als
er sich jetzt anschickte zu gehen, bat sie mit einer winzigen Stimme um
Morphium. Es wirkte nur langsam bei ihr, und bis dahin konnte sie bequem
schluchzen.

Fürwahr, sie hatte es gut. Selbst in der Nacht war dieses Zimmer
freundlich: der weiße Tisch mit den lichten Messinghähnen für warm und
kalt, wie sie es liebte; der magisch sanfte Schein des Seidenschirmes,
wie blasser Rittersporn so blau. Die Birne war schwach, aber sie genügte
gerade.

Sie dachte an ermordete Freunde, an die grenzenlose Abgeschiedenheit
ihrer letzten Augenblicke. Ja, das war die Wirklichkeit! Feige, feige
Geraldine! Freunde, besser als sie, waren gegangen, früher als sie, und
hatten ihr Tagewerk vollendet. Ihr war noch eine Frist gegeben. Nichts
anderes als eine Frist bedeutete ihr Genesung.

Geraldine hörte der Posaunen viele.

Und dann genoß sie doch wieder die tröstliche, verbrecherische Schale
der Vergessenheit, und es war alles eins.

Jedoch derselbe Arzt kam tags darauf selbst auf das Thema zurück, und
bevor sie ihrerseits sich dazu äußerte, überschlug sie im stillen, wie
oft sie schon dasselbe gesagt hatte, sich, und gewiß auch andern zum
Überdruß. Innerlich seufzend legte sie über „jene anderen Franzosen“
los, wie sie es drüben über „jene anderen Deutschen“ getan hatte. Es ist
nicht mehr zum Anhören, dachte sie dabei. Denn das Wahre, das Rechte,
das Richtige, es verträgt nicht unbeschadet die Geistlosigkeit ständiger
Wiederholung. Diese schlägt vielmehr den widerlegbaren, den falschen
Argumenten vortrefflich an, und entkräftet sie nie; ja sie ist das
Geheimnis ihrer Wirkung: immerzu laut ausgerufen schlagen sie ein, und
wuchern wie jedes andere Unkraut. Indessen sprach Geraldine von dem
versöhnlichen Geist der Intellektuellen, den man unbeachtet ließ; wie
unglücklich sind wir über so vieles gewesen, schloß sie mit schier
lahmer Zunge, was unter unserem Namen geschah, und heute stellen wir uns
unseren Gleichgesinnten gegenüber taub.

„O wirklich?“ sagte er.

Es war aber so ganz und gar derselbe aufhorchende Ausdruck, dieselbe
Skepsis, dieselbe sensible Spannung im Auge, mit welcher auch ihre
Pariser Freunde „_oh vraiment?_“ erwidert hatten, daß sie fürwahr nicht
nur ein ähnliches, nein! ein identisches Gesicht vor sich sah. Und es
war undenkbar, daß mit demselben verschütteten Gefühl, derselben
verdrängten Schmerzlichkeit das „_oh really?_“ eines Engländers, auch
des „deutschfreundlichsten“ gefallen wäre. Denn nicht Sympathie oder
Abneigung sind hier, wie zwischen andern Völkern, das Hin und Her.
Sondern Erotik oder der Haß der Geschlechter, die beseligende Flamme,
oder der Atem des Teufels, der über sie hinbläst.

Seit ihrer Krankheit wechselten ihre Anwandlungen schneller als das
Licht. Was ließ sie jetzt in einer blauen, spiegelklaren Stimmung
untergehen?

Sie hatte unter ihren mitgenommenen Büchern die von Hofmannsthal Anno
1913 so schön und ahnungsvoll eingeleiteten Bände des „Deutschen
Erzählers“. Ein paar Generationen alt und schon antik! Verwunschen,
unerschöpflich, losgelöst! – Und aus ihrer Welt heraus, ebenso zeitfremd
wie sie, war hier ein Deutscher, der Sache so ganz ihrer selbst willen
ergeben, daß eine fühlbare Stille ihn umgab, die ihn allem Getriebe
entzog. Schlecht oder recht dachte Geraldine, wie ist doch der Deutsche
so gründlich! Er ist schlecht fast bis zur Pedanterie, seine Güte ist
unwahrscheinlich. Dieser hier stand an der Spitze einer nunmehr so weit
gediehenen Forschung, daß sicheren Todeskandidaten eine Anwartschaft,
statt auf Rückfälle, auf ein neues Leben verliehen wurde. Da entsann
sich Geraldine, was sie sich vorgenommen hatte, ihm zu sagen. „Mich faßt
eine wilde Freude,“ sagte sie, „wenn ich an solche Verwirklichungen
denke. Denn ein Deutschland als Wohltäter der Menschheit, welch ein
Triumph wäre dies! Welch stolze Absage an seine Schuldigen! Welche
Ehrung seiner Schuldlosen und seiner Geopferten! Welch einzig würdige
Art, der Welt seine Leiden heimzuzahlen!“

Utopien, dachte sie, als er draußen war, Utopien, und weinte in Strömen.

Aber wie eine Bravourarie ging tags darauf das Ausziehen der Fäden vor
sich. Rhythmisch flog die Schere durch die Luft und schoß wieder herab.
Geraldine gab keinen Laut und staunte.

Eine Woche später packte sie ihre Siebensachen mit Hilfe der Schwester,
die französischen Neuerscheinungen obenauf. Dann besann sie sich auf
Zahnschmerzen und bat um Morphium für die letzte Nacht. Im Schein der
blauen Lampe war sie des Augenblicks gewärtig, wo sie sich entfliehen,
noch einmal Urlaub von sich nehmen durfte. Wie ein alter Zwilchrock, der
müde vom Nagel hängt, so harrte ja ihr abgelegtes Sein, daß sie es
wieder überzog. Nur einmal noch wollte sie das Fest der Trennung von ihm
feiern. Als Kind hatte sie sich an Erwachsene geklammert mit der Frage,
ob man denn sein ganzes Leben sich selber bleiben müsse, ohne jemals von
sich fort zu können, ohne je andere sein zu dürfen. Ihr früher Wunsch
war wohl ein Vorgefühl, in welche Zeit ihr Ich hineinwachsen, welche
Last es ihr aufbürden würde. Allein die Möglichkeit, die damals
verneinte, die gab es dennoch. Schon rauschten ihr die Fittiche
entgegen; das Leben war eine holde Landschaft, von verlockenden Linien;
Fernen, sie nicht mehr betreffend, nahmen die beiden Länder ihres
Herzens auf, deren Not war an Ereignisse gebunden, vergänglich wie sie
selbst. In ihrer Wonne ließ sie sich gleiten. Sie sah Gras wachsen über
ihr eigenes Grab, und es war alles eins.

Aber dein Kopf liegt in den Kissen schwer zurückgeworfen, Geraldine, und
dein Gesicht ist fahl, derweil du dir enteilst, melodischen Ufern
entlang, geäugt von Vögeln, deren Staunen Schleier der Lust in deine
erinnerungslosen Augen treibt. Sie sind nicht dein! Und dies ist nicht
das Leben, sondern dein Erwachen, und dein Wissen um die Außenwelt.

Und tags darauf nahm sie Abschied. Und Guido geleitete sie hinab zu dem
offenen Tor, durch das ein Stück Himmel hereinsah. Und wie die Taube,
der Arche entsandt, die vergebens spähte, ob die Wasser noch nicht
fielen, und die nicht wiederkehrte, so flog sie aus.



                                Der Geiz


_Avec la richesse commence l’avarice_, sagt Balzac in seinen _Illusions
perdues_.

Der Geiz scheint jedoch nicht zur Beobachtung zu reizen, und außer
Molière und Schopenhauer haben sich nur die allerwenigsten mit diesem
hochinteressanten Laster eingehend befaßt. Auch soll hier keineswegs von
seinen ungeheuerlichen Auswüchsen die Rede sein, sondern vom Geiz in
seinem normalen Verlauf, wie die Ärzte sagen.

Vor allen Dingen glaube man nicht, das Geld sei etwas Totes. Es ist ganz
Wahlverwandtschaft, ganz Antipathie, ganz Selbsterhaltungstrieb, ganz
„Seele“ (auf seine Art). Ja, dem Gelde entströmen atmosphärische
Schichten, die sich in feine, aber undurchsichtige Schleier zerteilen,
um sich über das Gemüt des Reichen zu lagern. Es ist, als schöbe sich
ein Milchglas trennend zwischen ihn und seine Welt. Mag der Trinker vom
Weine noch so sehr umnebelt sein: daß er ein Trinker ist, darüber ist er
sich klar. Der Lügner weiß von seiner Verlogenheit, der Zornige von
seinem Haß. Aber der Geiz spinnt so feine und undeutliche Fäden, daß der
von ihm Betroffene ganz im unklaren über sich selbst verbleiben darf.
Dem Geizigen steht überdies ein Überfluß an Mänteln und Mäntelchen zu
Gebote, die ihm sein Spiegelbild bis zur Unkenntlichkeit maskieren,
wobei immer nur er selbst, niemals die anderen über seine wahren Züge
mystifiziert werden. Man denke sich die Freudsche Methode, die meist
einer sinnwidrigen Anwendung verfällt, einmal auf verhärtete Geizhälse
angewandt. Einer psychoanalytischen Behandlung unterzogen, würden diese
Patienten am Ende gar kuriert vor Schreck über die Entdeckungen, welche
sie an sich selber zu machen hätten.

Ein Grund ihres Selbstbetruges liegt darin, daß sie nicht selten mit
Vorliebe geben; ja Geschenke zu machen – freilich niemals entsprechende
– kann bei dem Geizigen fast zur Marotte werden. Denn er weiß so gut wie
ein anderer, daß Geben seliger ist als Nehmen, und er hat es so gut wie
der Freigebige an sich erfahren. Und weil er auch – denn er will alles
haben – des Gebens froh werden will, gibt er nochmal aus seinem Geiz und
seiner Habgier heraus. Und darum schenkt auch er. Aber dabei rächt sich
alsbald sein Laster an ihm und bindet seine Hände, daß er nicht
freigebig, d. h. nicht frei wird zu geben wie er möchte, und schließt
ihn wie mit eisernen Fäden in immer engere Gefangenschaft, bis seine
Miene den inneren Bann, dem er verfiel, auch äußerlich verrät.

Wer wollte denn auch leugnen, daß geizige Leute häufig zu bedauern sind,
und zwar je mehr sie sich bereichern, da ein Zuwachs ihrer Habe eine
Verhärtung ihres Geizes unerbittlich zur Folge hat. Wobei ihm die fremde
Schlechtigkeit vielfach Grund für sein Verhalten zu bieten scheint. Denn
ein sehr reicher Mensch ist ja schlechten Erfahrungen in schlimmster
Weise ausgesetzt. Die anständigen Leute werden es nicht sein, die sich
an ihn herandrängen – seine guten Erfahrungen bleiben somit negativ –,
während er die miserabelste Sorte aus nächster Nähe kennenlernt. Kein
Wunder, daß manch vertrauendes und großmütiges Herz karg und mißtrauisch
wurde. Es kommt unversehens. Der Geiz hat eine unheimlich schnelle
Reife. Dann aber läßt er seine Opfer nicht mehr los. Er hat nur eine
aufsteigende Linie. Er kennt keinen Verfall und er kann nicht sterben.

Das Trübseligste erlebte ich einmal auf der Reise von seiten einer
alten, kinderlosen Dame, deren Nichte mich gebeten hatte, ihr Nachricht
zukommen zu lassen, denn die Greisin schien sich um ihre sämtliche
Verwandtschaft nicht mehr viel zu kümmern. Sie lebte fern von ihr in
einer fremden Stadt, und hatte es glücklich auf sechsundachtzig Jahre
und fünfzig Millionen gebracht. Ich traf sie in ihrem wundervollen Haus,
umgeben von Bildern und Schätzen. – In ihrem Lehnstuhl vergraben, klagte
sie, daß ihr das Schreiben schwer fiele und erkundigte sich alsbald mit
wärmster Anteilnahme nach der Schar ihrer Nichten, Groß- und
Urgroßnichten, insbesondere nach einer gewissen „Hertha“, ihrem Patchen,
das sie am innigsten liebte. Um die handelte es sich eben. Ich malte
also die blasse Schönheit dieser Hertha in den leuchtendsten Farben hin
und erzählte sodann, daß die Ärzte einen längeren Aufenthalt in Ägypten
sehr ratsam für sie hielten.

„Ja mein Gott,“ forschte sie ganz bestürzt und voll aufrichtiger
Besorgnis, „wird sich denn das pekuniär machen lassen?“

„Schwer“, erwiderte ich.

Mehr zu sagen stand mir natürlich nicht zu. Derselbe Gedanke war zwar
gleichzeitig in uns aufgestiegen; aber nichts von Unentschlossenheit
malte sich in dem Gesicht der Greisin – viele Jahre früher hätte sie
wohl gezaudert –, doch nur Schatten des Grams breiteten sich über ihr
melancholisches Gesicht.

Seufzend sprach sie jetzt von ihrem nahen Tode, von der Verlassenheit
und den Enttäuschungen eines zu langen Lebens. Während wir uns
unterhielten, trat die Jungfer ein und fragte leise, ob sie das
Töchterchen des Kutschers, das heute das Haus verließ und in die Lehre
zog, einen Augenblick einlassen dürfe. Die alte Dame empfing das Kind
voll Güte und Wohlwollen, und als es dann schied, hielt sie es noch
einmal zurück. Schränke, Kisten und Truhen wurden nun durchgesehen,
aufgeschlossen und dann wieder abgesperrt. Ein Heer weißer Schachteln in
Seidenpapier, umwickelte Päckchen und Pakete kamen dabei zum Vorschein.
Aber sie zog bald diese, bald jene Schieblade zu Rat, ohne sich
entscheiden zu können. Die Kleine stand indes mitten im Zimmer und
wartete, wie man es ihr gesagt hatte. Plötzlich flog ein Schein, eine
schnelle Röte über ihr Gesicht. Gleich darauf wandte sie erblassend den
Blick nach der anderen Seite hin. Aber ich war ihm schon gefolgt und
gewahrte ein schwarzes Ledertäschchen, das die Greisin gerade in Händen
hielt, öffnete und untersuchte. Innen mit dunkelroter Seide ausstaffiert
und mit Nähutensilien angefüllt, zugleich verschiedene Fächer
enthaltend, war es wohl der kühnste Traum von einem Täschchen für eine
kleine Nähmamsell; im übrigen nichts Kostbares, sondern ein schöner
Dutzendartikel aus einem Warenhaus. Aber nicht lange, und die Besitzerin
hüllte es wieder ein. Ihre Hände waren gebunden, und sie konnte das
Täschchen, das um eine Idee zu schön für die Kleine war, nicht spenden.
Diese stand unbeweglich mitten im Zimmer, aber der Strahl in ihren Augen
war erloschen. Die Alte kramte indes in einem anderen Fach und zog ein
silbernes Armband hervor, auf dem „Gott mit dir“ in schwarzen Lettern
eingetragen war, und damit entließ sie das enttäuschte Kind.

Die Geberin saß nun wieder in ihrem Lehnstuhl zusammengesunken und
schaute mit einem blassen, vergrämten Gesicht vor sich hin. Ein Fest war
ja der kleine Zwischenfall mit dem häßlichen Armband, darauf „Gott mit
dir“ in schwarzen Lettern prangte, für niemanden gewesen, und ein
gesteigertes Bewußtsein hatte sich der Spenderin unmöglich mitteilen
können, vielmehr die Öde des Ereignislosen. Es hatte sich nichts
ereignet. Die Kleine war nur um eine gewaltige Freude betrogen worden,
und die Alte, die gern Freude bereitete, wußte es genau; und wußte
ebensowohl, daß sie niemals anders verfahren würde, selbst wenn sie das
Kind noch einmal zurückriefe. Nebenan hub jetzt ein Papagei, von der
kleinen Passantin aufgeschreckt, zu schreien und über die
Unerfreulichkeit der Welt zu schimpfen an. Schräge Strahlen ergossen
sich durch die weit geöffneten Fenster (die größten der Stadt) und über
die prachtvoll weichen Farben der Teppiche, die Leuchter aus altem
Kristall, die goldumränderten Schalen und silbernen Dosen. Dennoch lag
etwas Drückendes, in seiner Öde unerträglich Akzentuiertes, ja
Unheimliches in der Atmosphäre dieses Raumes. Und plötzlich war mir, als
befände ich mich ganz allein, als sei die halb erloschene Frau vor mir
schon verblichen und nur mehr ein Schemen. Es fehlte so wenig! All die
Päckchen und Pakete, die sich in tadelloser Ordnung in ihren Kästen und
Truhen häuften, waren schon fast herrenlos. Und nicht die kleine
Nähmamsell, nicht einmal die Nichte Hertha schien mir mit einem Male
beklagenswert, sondern die sonst so kluge, ja sympathische, die
unbegreifliche alte Dame, die rettungslos in die Falle geraten war,
welche der Geiz den Besitzenden stellt.

Sie starb bald darauf. Und da ihr Geiz eine lange Geschichte hatte,
ragte er denn auch weit über ihr Leben hinaus. Sie hinterließ ihr
Vermögen ihren _reichen_ Verwandten, den weniger bemittelten, der
Großnichte Hertha, die ihrem Herzen so nahe stand, unbedeutende Legate.



                        Schiffahrt und Eisenbahn


Wie behaglich, wie menschenwürdig hat sich unsere Schiffahrt
ausgebildet; wie stolz setzen wir über das Meer, aber wie barbarisch
fahren wir noch Eisenbahn. Unser größter Wohltäter wäre der, welcher
frei nach Pullman einen neuen Typ unserer Eisenbahnwagen einführte. Aber
würden die zuständigen Generaldirektionen die leiseste Notiz davon
nehmen? – Hat je vor mir einer den Plan eines Generalstreikes der
Eisenbahnpassagiere gefaßt? Nein. Wir lassen uns in den stets
überfüllten Zügen wahllos wie Herdentiere zusammendrängen und zahlen und
überzahlen die unverschämte Tortur.

Oder sitzen wir etwa _nicht_ wie Böcke und Schafe stunden- und tagelang
in einer verrußten, vergifteten Luft – mit einer Platzkarte gezeichnet,
wie Hammel mit einem Kreuz? Nur die rachsüchtige Hoffnung im Herzen,
unsere Leidensgefährten (welche die Eckplätze innehaben) möchten doch so
töricht oder so unerfahren sein, sich in jene andere Vorhölle: den
Speisewagen, zu begeben, woselbst ein wüster Dunst, übel wie eine
Seekrankheit, regiert. Und sind wir endlich allein, so stürzen wir ans
Fenster, um Luft, und wäre sie noch so eisig, hereinzulassen. Aber wir
bringen es nicht auf. Wir rufen den Gefängniswärter: er bringt es auch
nicht auf. Das Holz sei aufgequollen, bemerkt er und geht. Nicht lange,
und die anderen Sträflinge kehren zurück. Man nimmt also wieder mit
stechendem Kopfweh seinen Rückplatz ein und hat bald darauf die
unmittelbare Aussicht auf zwei vom Schlaf überwältigte ältere Herren.

Sie sind nicht schön.

Endlich – ich spezialisiere schon; ach es liegt so nahe! – ist das Licht
dieses mühseligen Tages gesunken. Aber der Lampenschein ist nur ein
trübes Geblinzel in dieser Luft! Und noch fünf Stunden. Das heißt, man
wird nie ankommen. Man wird es nicht erleben. Hannover! – Die
schlummernden Gebrüder fahren auf, greifen nach ihren Taschen und fort!
– Oh! – Ich bin allein mit einem jungen und scharmanten Mädchen. Wir
wissen nichts voneinander, aber die gemeinsame Plage hat uns längst zu
Verbündeten gemacht. Sie erzählt mir, daß sie soeben einen Krankenkursus
absolviert. Sie hat einen Apfel, ich gebe ihr ein Messer; sie reicht mir
ein Aspirin. „Aber Sie müssen sich hinlegen,“ sagt sie, „sonst wirkt es
nicht.“ Sie reißt die oberen Klappen auf und verhängt das Licht, und wir
strecken uns der Länge nach aus. „O Gott, Schwester,“ rufe ich aus,
„dies ist viel zu schön. Es kann nicht dauern!“ Aber sie tröstet mich,
daß der Zug vor Hamburg nicht mehr hält. Da wird – bang! – die Tür
aufgerissen und eine Blendlaterne grell vor unsere Augen gehalten. Es
ist der Kerkermeister, der sich umsieht wie einer, der hier zu Hause
ist, dann die Tür zuschlägt und wieder verschwindet.

Dem ist etwas nicht recht, meinten wir bescheiden und einigten uns über
ein Trinkgeld, falls er wiederkäme. Wir fingen schon an, unsere Ruhe und
das Dunkel wieder zu genießen, als die Tür lärmend aufgerissen wurde und
Kerkermeister und Laterne uns von neuem aufschreckten. Gebieterisch
verlangte er (wie oft denn noch) nach unseren Billetten. Ich reichte ihm
das meinige zugleich mit einem Zweimarkstück entgegen. „Wieso? Was soll
dieses Geld?“ herrschte er. „Daß Sie uns nicht immer stören sollen, weil
wir müde sind.“ „Sie haben ja“ – tat er sehr überrascht – „ein Billett
zweiter Klasse und sind hier in der ersten.“ „Das wissen Sie so gut wie
ich. Ich wurde hierher verwiesen, weil alles überfüllt ist.“ „Das gilt
nur, solange wirklich kein Platz ist“, bestimmte er. „In Hannover sind
mehrere Personen ausgestiegen. Ich werde gleich nachsehen, ob etwas frei
geworden ist. Dann müssen Sie hinüber.“ Er schlug die Tür zu und ging.
„Gibt es Worte!“ rief die Schwester empört. „Wir sind hier im Lande der
häßlichen Briefmarken“, sagte ich, vor Wut zitternd. „Paßt so viel
Gemeinheit nicht wundervoll zur Schreibweise der Worte ‚Soße‘ und
‚Büro‘?“ Dabei stand der Laternenkerl schon wieder unter der Tür. „So,“
meinte er im Tone des Vorgesetzten, „drüben ist Platz“, und machte sich
anheischig, nach meinem Gepäck zu greifen. „Zurück!“ schrie ich wie eine
Wilde. „Dann zahlen Sie die erste Klasse nach“, sagte er erschrocken.
„Nein, keinen Pfennig!“ schrie ich, denn mein Zorn kochte jetzt wie auf
einem Schnellsieder. „Aber morgen“, schrie ich, „steht diese Geschichte
in allen Blättern; es stehen mir alle Blätter,“ log ich schreiend, „alle
Blätter Deutschlands stehen mir zu Gebote.“ Ich fand eine sehr
dramatische Geste, und der Mann fuhr vor meinen Megärenaugen betreten
zurück. „Ach was, meinetwegen bleiben Sie, wo Sie wollen“, sagte er.
„Jawohl!“ schrie ich, und meine Börse öffnend, warf ich das ihm
zugedachte Geldstück ostentativ wieder hinein. Dies imponierte ihm
vollends. Er schlug zwar die Tür noch einmal zu (dies war seine Natur),
jedoch blicken ließ er sich nicht mehr.

„Sind Sie Schauspielerin?“ fragte mich meine Gefährtin voll Bewunderung.

Aber ich sank erschöpft zurück.

Diese eine gröbliche Geschichte greife ich nur deshalb mit Vorliebe
heraus, weil ich merkwürdigerweise nicht den Kürzeren dabei zog. Die
anderen Geschichten erzähle ich nur auf speziellen Wunsch, weil ich mich
zu sehr dabei aufrege. Und wer sie auch für erdichtet hielte, würde sie
doch nie für übertrieben erklären. Wir fahren heute lieber auf dem
längsten Seeweg nach England, lieber vierundzwanzig Stunden lang die
ganze Küste entlang zu Schiff, um der möglichen Drangsal einer
zehnstündigen Bahnfahrt zu entgehen; und wer all die Eventualitäten des
Winter- und Sommerfahrplans auf der Strecke München-Ostende oder
Vlissingen erprobte, der zieht es vor, sich allen Meeresstürmen und dem
dichtesten Nebel auszusetzen und einen ganzen Tag und eine Nacht länger
unterwegs zu sein. Daß die Schiffahrtsgesellschaften bei täglich
wachsender Konkurrenz so emporblühen und ihre Bureaux (ich schreibe es
so) in allen Städten aufschlagen und daß der Zulauf sich immer steigert,
geschieht nicht nur, weil die Schiffe so prächtig geworden sind, sondern
weil das Eisenbahnfahren mit jedem Jahr unerfreulicher und mühsamer wird
und hier statt des Fortschritts eine immer größere Nachlässigkeit
waltet. Nur die Preise sind gestiegen. Aber es ist, als führe man
geschenkt. Die armen Ausflügler, die an Feiertagen zu ihren
unzureichenden Zügen strömen, angebrüllt, zurück- und zurechtgewiesen
werden, sind ein Kapitel für sich. Sich darüber zu beschweren, überlasse
ich denen, welche noch den Mut besitzen, Sonntag über Land zu fahren und
durch Lösung einer Fahrkarte das Recht auf anständige Behandlung
einzubüßen. Natürlich gibt es viele Schaffner, die höflich und gefällig
sind. Unwürdig ist nur die Tatsache, daß Wohl und Wehe des Reisenden von
der Gemütsverfassung, der Laune und dem Naturell der Diensthabenden
abhängig sind. Sinnen und Trachten unserer Generaldirektionen gehen
dahin, möglichst große, umständliche, protzige und unnötige Bahnhöfe
(die Bahnzüge sind ihnen egal!) zu errichten. _Unnötig_: Diese
Behauptung ist mitnichten so unverständig, wie die Herren
Bahninspektoren und Oberbauräte es möchten. Wenn sie notwendig sind,
warum stehen sie nirgends in dem praktischen England? Warum stehen sie
nicht in Paris? Warum bleiben sie in London auf ihre einfachste Form
erhalten? Warum sind sie dort nur weite Hallen, die nur von einem ewigen
Kommen und Gehen atmen – nur praktisch – nur zweckmäßig und trotzdem und
gerade deshalb von einer starken, beschwingten Atmosphäre von
klassischer Einfachheit, und deshalb schön.

Kürzlich mußte ich in Leipzig den Nachtzug nehmen. Der Bahnhof – der
Stolz des Sachsenlandes – ist groß wie ein Marktflecken, und ich könnte
mir so gut vorstellen, wie hier ein Massenkostümfest veranstaltet würde,
nicht aus den besten Kreisen, aber üppig, mit großen Palmenarrangements.
Ich bitte Sie, all die Treppen, das schöne Auf und Ab, wie geeignet! Nun
– ich warte also auf Bahnsteig vier auf den Berliner Zug. Er lief
verspätet in die großartige Halle ein, und war vollkommen überfüllt. Wir
standen geduldig und übernächtig auf der Plattform wie ein Rudel
Landstreicher, die zu warten haben, bis man sie abschiebt. Plötzlich,
wie von hoher Brücke herab, der stolze Kommandoruf: Wagen werden keine
angehängt! Es herrschte der gewöhnliche Kriegszustand. Ich wurde in
einem Halbcoupé einem alten Sachsen zugesellt. Als nach einer Weile der
Schaffner erschien und ich ihn fragte, ob denn nirgends Platz sei,
schlug er die Tür zu, ohne mich einer Antwort zu würdigen. „Von dem
erwarten Sie ja nichts!“ rief der alte Herr. „Das Subjekt kenne ich. Er
war eine Zeitlang in meinem Geschäft angestellt, aber ich mußte ihn
schleunigst entlassen.“

Es gelang uns mit vereinten Kräften, das Fenster zu öffnen, aber vor dem
Ruß, der uns entgegenflog, zogen wir es alsbald wieder in die Höhe. Wir
stellten die Heizung auf kalt, wobei es immer wärmer wurde. „Ich bin
schon alt“, sagte er plötzlich, „und werde nicht mehr viel Eisenbahn
fahren. Das ist aber auch das letzte, worum ich die Lebendigen beneiden
werde.“

Nun – eine solche zehnstündige Fahrt, um die kein Toter mich beneidet
hätte, lag unmittelbar hinter mir, als ich in Cuxhaven, unter einem
flockigen Himmel, von Möwen umkreist, die hohe Brücke eines Dampfers
bestieg. Der Kontrast zwischen dem Aufschwung unseres Schiffsbaus und
der Rückständigkeit unserer Eisenbahnen hat etwas Überwältigendes; man
ist auf den Eindruck nicht vorbereitet. Es ist ja nicht der Luxus, der
uns erstaunt. Mein Gott, den findet man heute mehr oder minder in jedem
Hotel, und er hat den Reiz der Neuheit schon so sehr verloren, daß ich
mich fragte, ob er sich in der gegenwärtigen Form noch lange halten
wird. Und da ich mir nun schon einmal das Kapitel der Anregungen
gestatte: Wäre es nicht schön, den ganzen Aufwand neuen Bahnen
zuzuleiten und einmal ein wirklich gutes Orchester und große Musik auf
einem so würdigen Boden, wie den eines großen Dampfers zu lancieren? Das
Meer ist eine unvergleichliche Konzerthalle!

Nicht die kostbare Ausstattung des Schiffes, sondern daß wir
stimmungsvolle, lauschige Zimmer statt der engen Kabine beziehen,
sondern daß wir einen Kilometer zurückgelegt haben, wenn wir dreimal das
Deck umgehen, der Luxus des _Raums_, das ist es, was uns hier ergreift.
Jeder Fußbreit mehr, der sich hier dem Element widersetzt, das ist es,
was imponiert! Drinnen im Binnenlande begreift man nicht recht, bevor
man es erfuhr, warum ein Schiff so groß sein soll. Erst wenn man darauf
hinzog, versteht man den Sinn dieser großen, immer größeren Häuser, in
welchen man des Schiffes immerzu vergißt. Wir ahnen nicht vorher, mit
welcher Rührung wir uns besinnen werden, wenn uns in mitternächtlicher
Stille ein dumpfes, kaum wahrnehmbares, wie unterirdisch wachsames
Treiben die Augen aufschlagen läßt, und ein Ruck, ein sanft harmonisches
Rauschen uns daran erinnert, daß nicht Straßen noch Plätze, nicht Gras
noch Baum vor dem Fenster im Winde stehen, sondern das nasse, leere Feld
des furchtbaren, feindseligen Gottes, auf welchem dies ungeheure,
beladene Schiff zur winzigen Nußschale schwindet. Aber eine Nußschale,
die uns das Gefühl höchster Geborgenheit mitzuteilen weiß, und an
welcher Menschenhände so lange und so kundig bildeten, bis sie, allen
Stürmen gewachsen, endlich den Begriff des Schiffes selber überwand. So
ist hier der Zauber aus dem Kontrast von Größe und Kleinheit gewoben,
und mit innerem Jubel kreisen wir immer wieder um das weite Deck dieser
schwimmenden Arche, des Spiels nicht müde, so groß ist die Romantik
dieser kleinen, armseligen, rastlos dahingemähten, dieser so kühnen,
prometheischen Menschheit, und so stark sind hier die Perspektiven, daß
wir plötzlich, wie selbst aus ihr hinausgerückt, von Bewunderung
hingerissen vor ihr stehen.

                   *       *       *       *       *

Da wir von Perspektive und von Romantik sprechen, treten wir doch bitte
einen Schritt zurück, kneifen wir ein Auge zu, und sehen wir ins Leere,
in die Ferne; dorthin, wo sich über den Fluß die massive Brücke
schwingt. Denn nicht lange, und der Schnellzug saust plötzlich
darüberhin, aus dem Hals der Lokomotive windet sich ein brauner Rauch
zur krausen Barocksäule empor, und die locker aneinandergeschmiedeten
Wagen rollen fröhlich mit lautem, schnell verhallendem Geräusch und wie
ein gefährliches Spielzeug vorbei. Ein kurzer Pfiff, wie ein
Angstschrei, und nichts ist mehr, als die schwarze Wölbung eines
Tunnels, durch die sie geradewegs ins Innere des Felsens drangen. Und
nun meine Zeitgenossen, bitte ich Sie: Ist die Ritterburg, deren
efeuumrankter Turm vom Berge niederschaut, suggestiver? Kann sie unserer
Phantasie die Seele eines Zeitalters mächtiger, unmittelbarer
entgegenhalten, wie der soeben vorübergerauschte Zug, dessen Fenster wir
einen Augenblick in der Sonne flimmern sahen? Fühlen wir uns da nicht
blitzschnell den vielfachen Existenzen ein, die er dahinträgt, reißt er
da nicht unsere Teilnahme zu Schemen des Lebens hin, vertraut und
unbekannt – verklungen schon, wie angesichts des verwitterten Burgtores
das Bild des Jagdtrosses, der über die Zugbrücke lärmte; melancholischer
auch in der zerrinnenden Vielfältigkeit seiner steigenden und fallenden
Linien. Denn wie Lose in einer Urne sind unsere Leben in jener kleinen
Eisenbahn zusammengeworfen. Wieviel vergrämte, bekümmerte und schwere
Herzen trug sie nicht schon dahin! Wieviel Verliebte starrten schon
durch ihre Scheiben in die fliehende Gegend hinaus und erfaßten mit
magischer Schärfe den Baum, den zuckenden Steg, Dörflein und Wald,
während sie doch nur das Bild der Kreatur, an die sie dachten, vor Augen
hatten! Verträumte Flammen des Hoffens, der Illusion, von der Bewegung
gefächelt, wie Blumen, die im Zephir stehen. Es ist eine Zeit, es ist
ihr bewegter, ruheloser Schild, der nachts als funkelnde Schlange mit
runden, feurigen Drachenaugen seinen Weg erkannt und viel Romantik in
sich verdichtet. Und es ist, als sei nichts klein, als sei alles
interessant an den Wesen und ihren Schicksalen, solange die Bahn sie
hinträgt und gleichsam dem Alltag entreißt. Nur daß sie noch nicht, wie
die viel besungene Burg, ihren Dichter gefunden hat, die eilige
Besiegerin der Fernen, die, rastlos, immer auf der Flucht, unsere Epoche
gestaltet, deren Schienen unsere Welt aufackerten und uns erst zu eigen
machten.

Und ein Ding, so verlockend anzusehen, unterhält so wüste Möglichkeiten;
einer so glorreichen Erfindung sollte jener Fortschritt verwehrt
bleiben, der sich heute auf allen Gebieten des äußeren Lebens – von dem
fabelhaften Aufschwung unseres Schiffahrtwesens nicht zu reden – so
glücklich geltend macht. Man fährt schon in Rußland und auf der
transsibirischen Eisenbahn sehr angenehm – es ist also möglich. Warum
sollten wir hier nicht auch wie in so vielem Vorbildliches stellen? Wie
schön, welche Freude wären die Eisenbahnwagen, die einmal ein Künstler
wie Adolf Hildebrand entwarf. – Wo sind sie?

„Aber“, sagte mir kopfschüttelnd, mit erhobenem Finger, ein mehrfacher
Aufsichtsrat, „sehen Sie denn nicht ein, daß die kolossalen
Anstrengungen, welche von seiten der Schiffsagenturen zur Hebung
desselben geschehen sind, absolut notwendig waren, um das Verkehrsmittel
überhaupt in Schwung zu bringen, und daß es ohne die rücksichtsvolle
Behandlung der Passagiere, welche Sie so sehr rühmen, niemals florieren
könnte, während unsere Eisenbahnen – ob nun etwas für sie geschieht oder
nicht, und mögen sie noch so rückständig bleiben, ja noch unerträglicher
werden – einen stets wachsenden Zudrang erfahren werden, da es kein
anderes großes Verkehrsmittel _gibt_ – es sei denn das Auto oder der
Luxuszug, der ja auch“, schloß er zutreffend und mit einem süffisanten
Lächeln, „mehr oder minder nur für Autobesitzer (er war selbst einer) in
Betracht kommt.“

Nun möchte ich nur, wiewohl vergebens, unsere Herren Eisenbahnminister
fragen, ob dies ein anständiges Argument war.



                     Donaueschingen im Sommer 1923


                                   I

Ich glaubte es meinem Interesse für die Musik schuldig zu sein, daß ich
nach Donaueschingen fuhr. Die Hitze war mörderisch, die Züge so
überfüllt, wie sie nur hart vor einer Tariferhöhung zu sein pflegten.
Der Rauch billiger Zigarren mischte sich in den herrschenden Dunst. Tief
verdrossen saß ich in der Dichterklasse. Wo sonst? Zum Lesen war es zu
dunkel in der einbrechenden Nacht, die Beleuchtung spärlich wie für
Sträflinge, und alles winterlich trübe bis auf die Hitze.

In Titisee wurde die Tür aufgerissen, und es quetschten sich noch zwei
junge Leute herein: der eine war blaß und mickerig: erster
Handlungsgehilfe, letzter Bankbeamter, man wußte nicht recht. Auch beim
andern nicht, dessen hübsches, rundes und zierliches Gesicht bunt war
wie eine Forelle.

„Sie Lümmel!“ sagte er plötzlich zu dem bläßlichen Handlungsgehilfen
oder Schaltervolontär. „Sie Lümmel! So ein Lümmel!“ Man horchte auf.
Denn welch ein überraschender Wohlklang, welch bezauberndes Organ! War
er wenigstens ein kommender Bühnenstar, wartete seiner wenigstens ein
Ruf aus der Großstadt? Er sprach das reizendste und geschmeidigste
Deutsch, aber so blitzschnell, daß vieles, was er sagte, im Geräusch des
Wagens und des Gelächters unterging. Wir vernahmen jetzt etwas von einem
Onkel, der dem „Lümmel“ einen Dollar schenkte, worauf vier Kellner
ausgesandt wurden, um nach den Kursen zu schauen. Hitze, Rauch, billige
Zigarren, alles war vergessen: wir saßen im Parkett. Chaplin war nicht
anmutiger. Donaueschingen kam nur zu bald. Die anderen lachten
vielleicht noch bis Mainz, den ganzen Rhein entlang. Wohin fuhr der
junge Mann? Was war er? Vielleicht verkaufte er Handschuhe und Krawatten
die Woche über. Seine übersensible Lustigkeit rührte geradezu. Ein
Künstler unleugbar, aber der arme Kerl ahnte es vielleicht nicht. Die
Laufbahn kam wohl nicht in Frage für ihn. Ja, ja, ein neuer Typ!

Ich dachte noch an ihn, als ich auf dem Bahnhof stand. Donaueschingen
lag in tiefster Schwärze. Die drei Personen, die sich eingefunden
hatten, mich abzuholen, versicherten mir alle zugleich, sie seien drauf
und dran gewesen, im Hotel ein Zimmer für mich zu finden. So war es auch
mit jener Dame, die immer so lange Geschichten erzählte, deren Pointe
immer war, daß sie fast ertrunken, eigentlich nur durch ein Wunder nicht
abgestürzt, bei zweiundvierzig Grad Fieber um ein Haar gestorben wäre
usw. Kurz gesagt: das Wort „Privatquartier“ schlug jetzt an mein Ohr,
und ich mußte nehmen, was sich mir bot, oder die Krönungsmesse des schon
nahenden Morgens versäumen. Um neun Uhr früh, bequem an einen Pfeiler
lehnend, freute ich mich zum erstenmal, daß ich gekommen war. Ein feines
Städtchen dieses Donaueschingen. Die Solisten sangen so schön und
stilvoll, daß ich schon Berühmtheiten in ihnen vermutete, statt dessen
waren es Einheimische, deren Namen niemand kannte.

Von der Kirche weg ging alles im Oberammergauer Passionsschritt auf eine
stimmungslose Turnhalle zu, in welcher die Konzerte abgehalten wurden.
Die des ersten Tages habe ich vergessen. Was den Durchschnitt der
Aufführungen überragte, überragte ihn so bestimmt, daß die Besprechungen
vermutlich recht gleichförmig ausgefallen sind. So wird jeder Kritiker
Hába hervorgehoben haben, aber nicht die überraschende Sinnfälligkeit
seines Quartetts im Vierteltonsystem. Durch seine innere Notwendigkeit
leuchtete es ebensosehr wie durch seine meisterliche Kürze ein. Denn
keine Musik verträgt Längen schlechter als die neue. Wohl haben wir die
der nachwagnerischen Programmusik noch voll im Gedächtnis. Aber bei
ihnen konnte man einschlafen, seine eigenen Gedanken spinnen. Wir kennen
die Klippe der tonalen Kompositionen; die der atonalen heißt
Katzenmusik. Mit halbem Hinhören wird man sie nicht los. Mit Snobismen
führe hier die ganze Hölle auf. Zwar keimen sie bereits, jedoch –
gottlob! – sie wucherten noch nicht. Die Atmosphäre Donaueschingens war
noch sehr sympathisch. Der Dollarstand war fern, von Nationalismen keine
Rede. Es drehte sich wirklich alles nur um die Sache. Diese Jugend, ganz
sich selbst überlassen, war ganz sich selbst. Viel eher schien sie sich
der kontemplativen Landschaft anzupassen, so daß ein fast zeitloses
Stimmungsbild entstand. Einem jungen Belgier wurde zugejubelt, als gäbe
es nur _eine_ Kameradschaft auf der Welt, und als Sieger des
musikalischen Turniers ging der Tscheche Hába und der Spanier Jarnach
hervor.


                                   II

Ich suchte, außer um mich umzuziehen, tagsüber mein „Privatquartier“
nicht auf. Im „Lamm“ war ein leerer Saal. Dort saß ich am zweiten
Nachmittag, als aus einem Nebenraum Musik ertönte. Alt oder neu? Beides,
oder weder dies noch das, aber so reich, so ergreifend, daß ich zur Tür
ging und sie öffnete: um ein Pianino saß eine kleine Schar, und man
probte die Oper eines Komponisten, dessen Namen ich zum ersten Male
hörte: Rudi Stephan. Im Kriege gefallen. Natürlich.


                                  III

Daß Jarnachs Quartett den Glanzpunkt des letzten Tages bildete, auch
dieses werden sehr viele geschrieben haben, denn es konnte kein Zweifel
darüber bestehen. Zu wenige aber bemerkten vielleicht, daß hier ein
wahrer Schüler Busonis die Probe seines Talentes gab. Der wahre Schüler
ist immer nur der, welchem sein Lehrer Wegweiser, aber nicht
Gängelführer bleibt. Wie es des wahren Schülers ist, seine eigenen Wege
auf der ihm gewiesenen Bahn weiter zu verfolgen, so des wahren Meisters,
jene Bahn zu brechen. Mit dem so viel gebrauchten Worte „Anreger“
scheint mir bei Busoni entschieden zu wenig gesagt. Man mag sich zu ihm
stellen wie man will, heute schon gebietet sein Werk vor allem Distanz;
diese aber, finde ich, wird nur von den paar ganz erlesenen Kennern
eingehalten. Bei den anderen vermisse ich sie. Distanz schließt die
Kritik nicht aus, ist aber immer eingedenk. Busonis Tragik liegt darin,
daß er sich wieder an den Anfang aller Dinge stellte, keiner in unseren
Tagen machte es sich so schwer. Vielleicht ist es schon für Jarnach eine
Lust zu komponieren: seinem edlen Kolorit, seiner bedeutenden Sprache
ist die Arena geöffnet. Armer Busoni! Wie rührend ist er, wenn er
feiert! Die Schauer der Angelangtheit, jener Orgel-Tokkata,
„Bach-Busoni“ überschrieben, weihevoll wie ein erhobener Kelch, die
göttliche Melancholie, der er in seiner Tokkata frönt, und sein
Perpetuum mobile, in welchem Seite achtunddreißig mit einem Male die
Flöte Pans einsetzt – wie selten sind die Feste, die er sich gewährt.
Seine wahren Schüler haben es schon leichter. Gerodet liegt das
unbetretene Land vor ihnen, die Ufer von Gestrüpp frei.


                                   IV

Es dalberte der Satrap von Donaueschingen – laßt ihn uns so nennen – im
Grase seines Gartens mit den Musikern herum. Er hatte sich aus
Zeitungspapier einen Helm gedreht, und den Musikern desgleichen. Dann
hieß es: Augen links und stramm gestanden unter dem Papierhut, und so
wurde die Parade abgenommen. Ja, und so lobe ich mir das Militär.


                                   V

Aber es kam noch viel schöner. Am letzten Abend, als alle Konzerte
glücklich hinter uns lagen, standen im Kurhaus noch einige
Gelegenheits-Kompositionen Paul Hindemiths in Aussicht. Man saß bei Wein
oder Tee und Kuchen, als das Amarquartett mit der bescheidenen Bitte
aufzog, man möge eine Weile nicht servieren; sie gedachten noch einiges
zum besten zu geben.

„Es darf nicht serviert werden!“ rief in unbändiger Fröhlichkeit der
Satrap durch den Saal. Und nun ertönte als erstes ein Militärmarsch, ein
Militärmärschlein sage ich, ein goldiges Militärmärschli, dessen
geringelte Ritornelle, dessen Ringelschwänzchen von einer Ritornelle die
ulkigste, witzigste, übermütigste und zugleich saftigste Verhöhnung war,
welche militaristischer Dünkel und Stupidität jemals erfuhren. Der
Komponist spielte in sich hinein, machte seinen runden, lustigen Kopf,
und sooft die Ritornelle seinem Bogen entquirlte, ging unwiderstehliches
Gelächter durch den ganzen Saal. Oh! Hätte man solchen Rattenfängern von
Hameln eher gelauscht!



                               Marseille


                                   La patrie c’est la terre, c’est
                                   l’Univers, ce sont les étoiles,
                                   c’est l’air, c’est la pensée
                                   elle-même.

                                                          _Flaubert_
                                                      Correspondence


                                   I

                                                         Dezember 1923

Ich habe von der Vogelperspektive aus noch keine schönere Stadt gesehen
als Marseille. Die sehr nennenswerte Kälte und ein strömender Regen
beeinträchtigten den Eindruck nicht. Freilich, das Meer war tonlos bis
in alle Fernen. Doch um so berückender leuchteten inmitten des Dunstes
die Dächer und die schmalen Fronten der Häuser. Eines stand ganz allein
für sich in seiner Feinheit, von einem rührenden Garten umzogen, der ein
flaches Viereck bildete. Sonst nirgends ein grüner Fleck. Aber durch
geheimnisvolle Vorgänge der Sonne und der Luft war hier im Laufe der
Zeiten ein Werk von Menschenhänden selber zur Natur geworden. Diese
Dächer, diese Steine überboten die Natur.

Als wir zu Tale fuhren, dem alten Hafen zu, blieben wir in dessen
handbreiten Gassen natürlich hängen. Es dunkelte. Schon brannten die
Lichter überall. Ich sprang aus dem Wagen hinter einem grauen Kater her
und erhaschte ihn. Doch ich war der französischen Katzensprache nicht
mehr mächtig, und er riß mir aus. Trotz des Regens setzte ich mich zum
Chauffeur. Wir blieben lange festgefahren. Ein wunderhübsches junges
Mädchen schlug im Vorübergehen leise auf seine Hand, sah sich dann um
und lächelte. Auf der andern Seite schwang sich ein kleiner Junge
herauf, starrte mich an und wartete, daß ich lachte über seinen Spaß.
Dann erst sprang er wieder ab. Diese schwarzäugigen, grauäugigen
Gesichter unter dem nächtlichen Haar waren alle auf der Lauer. Auf ein
Lächeln, ein lustiges Wort des Nächsten lauerten diese dunkeln und
verspielten Gesichter. Im Restaurant, in dem wir aßen, servierte nicht,
es zelebrierte der Kellner.

Ich fuhr am nächsten Morgen wieder auf den Berg, um die Stadt noch
einmal von der Höhe aus zu sehen. Aber die Dächer lagen wie entkräftet
im Sonnenlicht. Dafür schlug das Meer tiefblaue Pulse zu ihm auf. In den
Gassen des alten Hafens baumelten bis zu den obersten Mansarden hinauf
farbenfrohe Kleider übereinander und wehten bunte Schürzen hin und her.

Fasse dich, Leser, Geduld. Ich komme bald zu dem, was ich sagen will.
Sieh, schon verlasse ich Marseille.

Paris-Lyon-Méditerranée hieß mein Zug. Im Mittagglanze dampfte er los.

Wieviel Inspiration niedrigen Bergen innewohnen kann, ahnte ich nicht,
bevor das weiße, lebhafte Arles vor mir aufblitzte, bevor ich die
niedrigen Berge um Arles, die einfachen Terrainwellen der schaukelnden
Erde um Tarascon, die unaufdringliche und wunderbare Schönheit der
Provence gewahrte.

Freunde. Eure Hände. Wie oft schwur ich mir, keine Betrachtungen mehr
über Frankreich anzustellen. Denn es ist mir nicht gegeben, sie anders
als auf Deutschland zu beziehen. Aber heute ist man verwachsen mit
seinem Kreuz. Und die Unkenntnis wahrzunehmen, die ein Stockwerk um das
andere dem Turm Babel anreiht, zwingt uns immer wieder, unsere nie
vernommenen Stimmen zu erheben.

Laßt uns ganz unsentimental sein. Auch ohne Liebhaberei müßte uns der
Anblick Frankreichs die Worte: „Es lebe Frankreich!“ entreißen. Denn
Frankreich mit seinem rar gewordenen Blute ist unser Wein. Sein Leben
ist der Welt notwendig. Deutschland – denn immer nur um diese beiden
geht es –, Deutschland wäre aller Brot, wenn es doch endlich die Dinge
gehen ließe. Die Stärke seiner geistigen Existenz ist eine Großmacht
geblieben, intangibel und der Welt notwendig.


                                   II

Nicht wie eine Dichterin, wie eine Schwerkapitalistin, in einem Coupé
erster Klasse, durchfuhr ich Frankreich der ganzen Länge nach. So etwas
will ausgekostet werden. Allein, ich war zu krank. Und welche Not, Arles
mit seinen kleinen Bergen vor sich zu sehen, ohne auszusteigen. Denn die
mir zuerteilte Jungfer kam aus ihrem Abteil hervor und parlamentierte so
eindringlich dagegen, daß ich im Zuge blieb. Aber in Avignon sprang ich
doch heraus und ließ meine Suite vorausreisen.

Ich fuhr – denn sobald ich zu Fuße ging, neigten sich die Häuser höflich
vornüber und der Boden beschrieb unsichere Kurven –, ich fuhr also die
lange Straße, die zum Palast der Päpste führt. Er war geschlossen. Was
blieb mir da, als die Zeit mit einer Rundfahrt auszufüllen in dieser
gewesenen Stadt mit ihrem Vorgeschmack des Nordens, ihrer herbstlichen
Sonne, ihrer kälteren Luft und ihrer Schwermut? Wie eine Orgel nach
allen Richtungen braust, so erfüllte der Palast der Päpste überallhin
den Raum. Als ich mit dem nächsten Zuge weiterfuhr, glühte er feenhaft
im Abendschein in seiner Weitläufigkeit wie zum Tanze geschlossen, gebot
er über die Rhone, die breiten Laufes sich dem Meer entgegenwand. Der
Gang, von dem aus ich zu ihm hinüberschaute, war leer. Auch kein
Schaffner zeigte sich, und die Bangigkeit des Abends umspann mich ganz.
Mein einziger Reisegefährte war ein Herr, der sehr viel Zeitungen mit
sich führte. Aber die Dämmerung kam schnell, das Licht war zu trübe, um
dabei zu lesen, und so gerieten wir in ein Gespräch. Langsam und
beschaulich war manch ein Wort gefallen, als in Valence eine
fremdsprachige Familie, mit starken Nüstern, hereinbrach. Ein
ungebärdiges, der hintersten kleinen Entente entstammendes Französisch
um sich werfend, zog sie gleich darauf wieder ab, größere
Ausbreitungsmöglichkeiten zu suchen.

„_Que de mines étrangères quand on traverse la France, nous ne sommes
plus chez nous._“

Ich war es, die so gesprochen hatte, und ob ich auch alsbald über meine
Worte sehr erschrak, so war es doch zu spät, um sie zurückzunehmen.
Dieser Tag, bisher so stumm verbracht, hatte mich in seine Falten
eingeschlagen, bis ich, voll eines sanften Übermutes, heimisch in ihm
wurde, geborgen und betäubt. Nun war er zu Ende. Es war Nacht. Der Fluß
zog im Dunkeln hart an uns vorbei. Das Rauschen des Zuges glich einem
Monolog, wir aber waren eines Sinnes, und mit sepulchraler Melancholie
unterhielten wir uns über Frankreich. Beide, weit zurückgelehnt, sahen
wir einander nicht. Ich sehnte Lyon herbei, denn eine grauenvolle
Erschöpfung kam jetzt zu ihrem Recht. Der Wagen schien mir hin und her
gestoßen wie ein Schiff, das im Sturm auf Grund gerät. Wir sprachen von
der Notwendigkeit, sich zu vertragen, und daß wir alle nur eine einzige
Aufgabe hätten, einen neuen Krieg zu verhindern. Alles andere sei
unwichtig. Wann aber kam Lyon? Wenn ich bewußtlos wurde, bevor wir es
erreichten, was dann? Als erstes würde man suchen, mich zu
identifizieren. Gleich zuoberst in meinem Täschchen aber lag mein Paß.
So so; ei ei. Ich rieb mir die Schläfen mit Kölnischem Wasser, saß jetzt
mit gefalteten Händen und schwieg. Wann kam Lyon? Hinter meiner Lehne
verschanzt, sprach ich mir Mut zu. Endlich gab ich es auf und bat ihn,
das Fenster zu öffnen. Nebel und Kälte strömten herein. „_Nous voilà_“,
sagte er, und kramte seine Zeitungen zusammen. Wir waren in Lyon.

                   *       *       *       *       *

Auch in England, daß ich es nur gestehe, habe ich mich vor dem Kriege
manchmal heimisch gefühlt. Wer jedoch die Geschicke dieses Kontinents
mit starker Anteilnahme verfolgt, der kann heute kein Herz fassen zu
England. Auch durchschauen die Besten dort wohl, und weisen die
Heuchelei eines Axioms zurück, das sich als eine „Parteinahme des
Schwächeren“ formuliert, in Wirklichkeit aber nur den Hader auf diesem
Erdteil zu perpetuieren beabsichtigt. Der falsche Bruder hatte vor dem
rabiaten Gegner ohne weiteres den Vorzug für die leichtgläubigen
Deutschen. Der Politik Frankreichs zuzusehen, ist ja ein Alpdruck für
sich, aber Englands Rolle in diesen Tagen war viel finsterer. Die Besten
dort erkennen wohl, daß es sich in seiner Rechenkunst überschlug; denn
der Rest wäre zu trübe, um darin fischen zu können; so daß letzten Endes
es nicht mehr in Englands eigenstem Interesse läge, seinen säkularen,
aber nicht ehrwürdigen Kurs in Europa beizubehalten. Die Besten dort
wissen es wohl.


                                  III

Der Schnellzug nach Straßburg verließ Lyon frühmorgens. Auf dem andern
Geleise lief einer, auf den ich hatte verzichten müssen, um die gleiche
Stunde nach Paris. Lyon trug sich in Nebeln, vielfach noch in Lichtern.
Es gab viel Reisende, und bei mir zog gleich eine ganze Gesellschaft
ein: zwei ältere Herren, der eine sehr schön gewesen, der andere sehr
lustig geblieben, ein Herr von vierzig Jahren und eine noch
wunderhübsche Dame mit einem schon siebzehnjährigen Söhnchen, der in
einem großen, weiten Eisbärpelz schier zerging. Sie waren guter Dinge,
und kurzweilig kündete sich meine Fahrt. Der lustig Gebliebene lachte
über eine Komödie aus der „_Illustration_“, und die Weise, in welcher
der schöne Nestor der Dame aus ihrer Jacke half, sprach Bände für seine
Vergangenheit. Als sie das erste Mittagessen wählten, wählte ich auch
das erste Mittagessen, und im Speisewagen behielt ich sie erst recht im
Auge. Die Dame trug eine Bluse aus weißer Chinaseide zu einem grauen
Rock. Ihre schlanken Füße in den hellen Strümpfen und den offenen
Schuhen hatten eine feste Art aufzutreten. Munter speiste sie, trank
munter Wein, derweil sie munter sprach, und blieb zart und blaß dabei
wie eine Narzisse. Das Reizendste vielleicht war doch ihr Mund, der, ein
bißchen schief gezogen, ein bißchen schmerzlich, eben diese
Schmerzlichkeit jener leisen Verzogenheit verdankte. Es war ein
schwärmerischer, bitterer, glückseliger Mund, man wußte nicht recht, wie
er sich zu ihrem lebhaften und sicheren Wesen verhielt. Aber sie war
sich bewußt, glücklich zu sein.

Vor den breiten Scheiben floh eine Landschaft dahin, die mich nicht
fesselte. Hin und wieder Hügel, von Schnee gestreift: der Winter, mir
von jeher verhaßt, der von der Erde Besitz ergriff, und ein toter,
mißgelaunter Himmel. Lieber sah ich zu jenem Tische hin. Als sie dort
Kaffee nahmen, nahm ich auch Kaffee, denn ich wollte erst aufbrechen,
wenn sie aufbrechen würden. Mein Eckplatz befand sich an der Seite des
Ganges. Dort pflanzten sie sich bei ihrer Rückkehr auf; sie setzten sich
nicht gleich herein, aber sie blieben bei mir, und ich hörte alles, was
sie sagten. In aufgeregtester Debatte standen sie beisammen: denn das
Essen hatte nichts getaugt. Dieses _Fricandeau_, was das wohl hatte
bedeuten sollen? Gab es Worte für so unzulängliche Kartoffeln und eine
so nichtssagende _Omelette_? „_Cependant les petits pois_“, sagte der
Mann von vierzig Jahren ... „_Les petits pois étaient bons_“, sagte die
hochstielige Narzisse. „_C’étaient ma foi d’excellents petits pois_“,
sagte Nestor. „_Ils étaient même étonnants_“, sagte mit großem Ernst der
lustig Gebliebene. Das Söhnchen hatte im Speisewagen sein Zigarettenetui
vergessen, kam jetzt herzu und sagte lebhaft: „_Il n’y avait de bon que
les petits pois_.“ Und nun wurde noch eine ganze Weile intensiv, wie in
den Wandelgängen der Kammer, über die, wie mir dabei kund wurde,
keineswegs leichte Kunst der Erbsenzubereitung verhandelt. Von den
Erbsen kam man auf die Wicken, von den Wicken auf die Gewinnung des
Lavendels. Der echte ist sehr schwer vom wilden zu unterscheiden.
Nestor, müde vom Stehen, nahm als erster wieder Platz. Er fragte mich,
ob mich der Rauch nicht störe, und mein „_oh non_“, die einzigen Worte,
die ich an diesem Tage sprach, wollte sagen: „Kommt alle herein, setzt
euch. Ich bin entzückt.“

Das Geheimnis der Franzosen, was ist es, wenn nicht, daß sie bei so
starker Animalität so wenig materiell sind. Hier ist der Schlüssel zu
ihrem Wesen wie zu ihrer Kunst. Es ist der Augenblick, der, wenn auch
nicht verweilen, sich voll auslösen darf, weil er nie vorgreift, auch wo
er überfließt, und weil sein Rhythmus sich genügt. Unüberlegtes Volk,
tragisch in seiner Kindlichkeit. Wem würde es einfallen, die Deutschen
Kinder zu nennen? Frankreich ist der Wein der Welt, Deutschland wäre
aller Brot, wenn es doch endlich die Dinge treiben ließe.

Ich kann freilich nicht verlangen, daß ein Militarist von dem, was hier
gemeint ist, auch nur ein Wort versteht. Denn Militaristen sind
Geschöpfe ohne Hirn, an sich also nur grotesk. Allein, solche Wesen ohne
Kopf durften sich zu Herren der Welt erheben, und streben vollen
Ernstes, es noch einmal zu werden. Auf die Weise zwingen sie denkende
Kreaturen, im Harnisch zu bleiben und weiterhin zu buchstabieren.



                              Venedig 1922


Ich traf es unvergleichlich, um über den Gotthardt zu fahren. Er stand
in Verzückung, und die Seen lösten sich als himmlische Dekorationen ab.
Dennoch ist es nicht nur die Schönheit – die Welt ist in Europa fast
überall schön –, sondern der seltene Vorzug der Schweiz ist ihre heutige
Leere. Man kehrt in leeren Gasthöfen ein, speist in leeren Lokalen, kein
Zug ist überfüllt. Wohin du siehst, brauchst du nicht über eine Unzahl
Köpfe hinüberzublicken: die Dinge sind dein. Der hohe Kurs hält nicht
nur den Andrang der Reisenden ab, auch von den eigenen Landeskindern
sind viele ausgeflogen. Schon in Como sitzt man wieder gedrängt. Und
angesichts des immer voll besetzten Vaporettos, der zum Lido fährt,
steigt der Gedanke auf, daß wir zu zahlreich geworden sind, Atem holen,
eine Orgelpause ansetzen, auch in geistiger Hinsicht aufräumen, und uns
besinnen sollten, bevor wir weitergehen. Wir erleben eine Zeit, die sich
nicht mehr überblicken läßt. Vorigen Herbst kam ich in einem sehr
östlichen Lande beim Umsteigen hinter einer dichten Menschenmenge durch
die Untergründe eines Bahnhofs zu gehen, von welchen zwei Treppen zur
Oberfläche zurückführten. Von unten gesehen schienen die langsam nach
oben vorschiebenden Köpfe alle konisch auszulaufen, und also gestaut,
und in solcher Massenauflage kaum noch auf ein persönliches Schicksal
hinzudeuten. Entsetzlich zu sagen: wie Sardinenpackungen nahmen sie sich
aus.

Die Allgemeinheit ist heute jener Wald geworden, den man vor Bäumen
nicht mehr sieht. Sie stiebt hin und her, und nicht mehr dem Führer,
sondern den mannigfachen Verführern eröffnet sich heute ein dankbares
Feld. Es wird immerzu von der Masse gesprochen, nie von der Menge, nie
von der _pacotille humaine_, welche, lediglich weil sie aus allen
Ständen zusammengesetzt und zahlkräftig ist, zum Machtfaktor erhoben
wurde. Die stets lenksame Herde ist es, der man sich unterwirft. Und
diese so unnötige Diktatur der Menge, sie, deren Exponent der
Ramschladen ist, sie ist es, die unserem Gemeinschaftsleben den
gewöhnlichen Stempel aufdrückt.

Ich schreibe diese Zeilen in Venedig, es ist wahr, aber Leute wie ich
haben ja nur für ein paar Gedanken Raum, und alle Wege führen zu ihnen
wie nach Rom. Sie bezahlen ihren partiellen Scharfsinn mit
Unzulänglichkeiten aller Art.

Auf meiner Fahrt hierher stellte ich des öfteren fest, in wie hohem
Grade die Masse sowohl heranzubilden wie zu korrumpieren ist. Ich war
bereit, in Mailand dieselbe angenehme Enttäuschung zu erleben wie bei
meiner ersten Reise nach Italien, vor welcher ich manches von dem
„erledigten und geschmacklosen Rafael“ gehört hatte und seine Stanzen
und Deckengemälde mir dann vor Bewunderung den Atem raubten.

Vielleicht würde es mir mit dem Mailänder Dom ähnlich ergehen.

Allein ich kam über den Krankheitsherd seiner Fassade nicht hinaus; die
schönen Paläste, die sich auch hier vorfinden, kommen dagegen nicht an.
Die in Triangelform ausgehauene Schweizer Stickerei, welche sie
überragt, schlug eine Dominante für Mailand an. Sie ist heute
noch verantwortlich für gewisse Hüte, Kleiderarrangements,
Farbenzusammenstellungen, Loggien und Neubauten, denen man anderorts
nicht begegnet, denn sie hat fortwirkend das Auge der Mailänder so
sicher gefälscht, wie sich das der Venezianer bildete. Die ärmste Frau
aus dem Volke hüllt dort bis an das Ende der Zeiten ihre ungefähre
Kleidung in das Dekorum eines schwarzen Schals, zum Zeichen, daß sie
einen höheren Rang einnimmt als die Kollegin, welche in Schürze und
Kittel zwischen scheußlichen Mietskasernen ihre Sohlen schief tritt,
während die Elektrische hinter ihr daherpoltert. Ihr Bewußtsein ist ein
Reflex der Wundergassen, durch die sie wandelt. Er leuchtet von den
beseelten Stirnen der venezianischen Kinder. Laut sind nur die
melodischen Rufe der Gondoliere. Man erschrickt hier vor groben Stimmen,
oder sie wirken komisch.

Für den Militarismus freilich war diese Stadt wie jede andere lediglich
eine Zielscheibe für erfolgreiche Bombenwürfe, und nichts könnte ihn
besser kennzeichnen, als seine Kanonenauffahrt gegen ihre Fragilität.
Von seinen Bekennern sagte ich ja schon, daß ihre Nasen stumpf
ausliefen, wie die Nasen der Hunde, ebenso unfähig wie Hunde, den
geistigen Gang der Dinge zu spüren.

Ich schreibe diesen Brief im Abendwinde der Piazzetta, nach einem ersten
flüchtigen Rundgang in den _giardini publici_. Dort stehen ein halb
Dutzend Gebäude oder mehr den Bildern aller Länder gastlich, allzu
gastlich offen. Die schon geäußerten Erwägungen drängen sich von neuem
auf: Überschüssiges, Ausschußware, als eine Folge der Quantität, die
sich auf Kosten der Qualität behauptet, infolgedessen höherer, nicht zu
vermeidender Ramsch auch hier. Die guten Bilder, oder wenigstens die
guten Künstler, auch die guten Plastiker kannte man.

Überall läuteten schon die Wächter den Schluß der Ausstellung ein, sehr
verfrüht, wie mir schien, aber sie waren es wohl müde, vor so viel
Bildern herumzustehen. Gott, o Gott! Was sollte ich über diese
Ausstellung schreiben? „Ich komme schon!“ rief ich, England durchrasend,
dem Türhüter zu. Nach Holland fliehend, läutete mich schon wieder einer
hinaus. Aber ein erster Rundgang sollte es ja sein. Also rasch nach
Ungarn, dazu reichte es noch. –

Seid mir gegrüßt, ihr Glocken!

Ich stand wieder auf dem Vaporetto; konnte es etwas Überwundeneres
geben, etwas, das sich in dem Maße überlebt hatte, etwas den Bildern
selbst Unzuträglicheres, wie solche Massendarbietungen? Nur
Separatausstellungen haben noch einen Sinn. Der Eindruck einer Überzahl
von Bildern verschiedensten Ursprungs hingegen ist dem eines großen
Geschreies vergleichbar. Wir möchten uns die Ohren zuhalten: sie reden
alle zugleich und fallen einander ins Wort, wobei die Unwichtigsten, wie
das so geht, am lautesten sind. Welch eine stillere Kunst fürwahr ist
die Musik! Und wäre es nicht an der Zeit, solche Bilderparlamente ein
für allemal zu schließen? Hier geht es doch wirklich nicht um
Demokratie. Lohnt es sich, so weise man diesen und jenen Malern einen
Raum. Wenn nicht, so mögen sie erst ausreifen, sofern sie das Malen
nicht aufstecken; jedenfalls verschone man uns mit ihrem Lärm. Auch dem
Nichtssagenden, wie allem, was es gibt, hat der Weltkrieg neue Lichter
aufgesteckt. Vor Leuten, von welchen sich einer acht Jahre früher anöden
ließ, ergreift er heute erschrocken die Flucht, und die Menschengruppen
sondern sich heute reinlicher ab, es ist wahr.

                                                      Montag, 26. Juni

Wieder auf dem Vaporetto. Nur für Stehplätze an der Sonne ist noch Raum,
einer Julisonne kann man wohl sagen, und es ist Mittag. Mein
Sonnenschirm ist an der Grenze geblieben, und mein Fächer im Hotel. Es
fällt mir plötzlich ein, daß man damals, als es sich noch ausbreiten
konnte in der ganzen Welt, und seine Schiffe in allen Häfen einliefen,
so oft sagen hörte: Deutschland müsse seinen Platz an der Sonne haben
und er sei ihm verwehrt. Barmherziger Gott! Wie ist es heute
zusammengepfercht! Warum ich gerade heute so viel hinüberdenke? Ist es
das überfüllte Boot?

Es glitt den _Canal Grande_ entlang, und das Auge stillte sich an den
unsterblichen Palästen, den gewaltigen wie den schmächtigen, der Musik
ihrer Formen, dem Zusammenklang ihrer Farben; denn sie sprachen zu ihm.
Ja, es fühlte sich angerufen von diesen geschwungenen Brücken, sie
fingen an, ihm die intimste aller Gefolgschaften zu bilden; diese
Gassen, in den Gewässern aufgetan, die Stufen, die hinab in ihre Stille
führten, und ihre Pforten, so traumhaft umspült, sie zogen alle mit ihm;
und die Gärten, die Mauern, tief von den Ästen überhangen, und jene
Kinder dort, zwischen den Säulen der Terrasse, so schlank, so zart
gekleidet, und die so still hielten ... Und die berückende Dame, die uns
in ihrer Gondel kreuzte, deren Rosenherz vorfrüh gebrochen ist, und
lange vor Sommers Ende den Herbst erlebte. Welcher Stoß hat es
getroffen, und wird es sich erholen? Sie gibt die schweren Kelche ihrer
Augen, die von der Süße und Qual der Rosen beladenen, dem Lichte preis,
fesselnder in ihrem unverminderten, doch schon verfallenen Zauber, wie
alle Jugend. Sie ist vorbeigezogen.

Am Rialto gab es ein Gedränge. Doch jetzt saß ich am äußersten Ende des
Bootes. Das Glück stieg und schwellte in mir empor, und ich gewährte ihm
ganz. Wir hatten im Schatten angelegt, und vor mir war ein schwerer
Palast, die rostbraunen Gardinen herabgelassen. Aber ein Luftzug bewegte
sie; sie blähten sich wie Segel, bereit, dem Winde zu folgen. Warum
erhöhte sich da meine Lust? – Die Welt ist nie so heimatlos, Venedig
noch nie so kostbar gewesen.

Ich hatte beim Einsteigen den _Corriere della Sera_ erstanden, aber
vergessen, ihn zu lesen. Er glitt jetzt von meinen Knien zu Boden, und
ich hob ihn auf. Zuoberst auf der ersten Seite standen die Worte:
_Rathenau assassinato_. Sie setzten das Auge unverzüglich außer Spiel
und schalteten es aus. Von all den Palästen sah es keinen einzigen mehr.

                   *       *       *       *       *

Fürwahr, ihr Freunde, ein wunderbarer Richter ist der Tod. Mit zeitloser
Geschwindigkeit hat er die Maske von uns gerissen, die Schale zerbrochen
und den tauben oder süßen Kern in uns geprüft und kundgetan. Da sind
„gute Bekannte“, von deren Sterben man Notiz nahm, ohne mit der Wimper
zu zucken; da ist ein anderer, scheinbar Fernerstehender, dem wir durch
die Umstände oder durch gewisse Eigenschaften, die uns in Schach
hielten, nie wirklich nähertraten. Und da trifft uns sein Tod wie der
eines nahen Freundes, als hätten wir ihn immer geliebt. Es zeigt sich,
daß alle seine Schuldscheine zerrissen, jeder Schatten durch starke
Wesenheiten überboten sind, und es will plötzlich nicht mehr gelingen,
uns seiner Fehler auch nur zu entsinnen. Was ist geschehen? Es gibt
Fehler, die nichts Inherierendes sind.

Rathenau gehörte, wie der während des Krieges verstorbene Robby
Mendelsohn, zu den ganz wenigen feudalen Juden, die in Deutschland zu
finden sind. Hier ist der Punkt, wo jeder Mensch von Ressentiment (sei
es aus Rasse oder sonstigen Gründen) ihn mißverstehen mußte. Undenkbar –
denn es war nichts Kleinliches in ihm, nicht einmal in seiner Eitelkeit
–, daß er den Nekrolog geschrieben hätte, der ihm von Harden zuteil
wurde. Selbst was er Richtiges enthält, ist daneben. Rathenaus Ehrgeiz
war ohne eine Spur von Subalternität. Als er zur Regierung gelangte,
zeigte es sich, daß er nicht nur seinem Talent, sondern auch seiner
Natur nach dazu berufen war. Dies gab seiner Gestalt das ungemeine
Relief: mochte er diesen oder jenen Fehler begehen, er war an seinem
richtigen Platz. Und die antike Glorie seines Todes entsprach ihm
wirklich.

Daß er übrigens bis in das Jahr neunzehnhundertundachtzehn an den Sieg
Deutschlands glaubte, habe ich von ihm selbst anders gehört. Im Frühjahr
neunzehnhundertundsechzehn besuchte er mich einmal in München, im Herbst
desselben Jahres fuhren wir die Strecke Romanshorn-Buchloe zusammen, im
Januar neunzehnhundertundsiebzehn sah ich ihn zum letzten Male in
Berlin. Es war hier und dort fast dasselbe Gespräch:

„Lassen Sie heute die Hände“, sagte er, „von der Politik. Sie ist des
Teufels Kessel. Sie wissen nicht, was vorgeht, und Sie können nicht
dagegen an.“

„Warum tun _Sie_ nichts?“

„Weil nichts zu machen ist, die Dinge müssen ihren Lauf nehmen. Erwarten
Sie immer das Ärgste, und Sie werden es noch übertroffen sehen. Es gibt
keine Dummheit, die man unterlassen wird. Den Unterseebootkrieg? Ja, der
kommt auch,“ fuhr er in seiner gleichmäßigen Stimme fort, „und dann der
Krieg mit Amerika. Und zuletzt wird man ihn verlieren. Auch das.“

„Das sagen Sie,“ rief ich, „und sehen zu?“

„Weil alles vergebens ist. Später, viel später erst, werde ich
vielleicht eingreifen können. Ich warne Sie“, fing er wieder an – und
nahm seine Belehrungen wieder auf.

Seine Worte, meine Unfähigkeit, die Lage zu übersehen, bedrückten mich
schwer. Doch ich hielt an meiner Hoffnung an ein baldiges Ende fest.
Dieser Allesbesserwisser! Gottlob, daß er nicht recht zu haben brauchte.


                    Den Hakenkreuzlern ins Stammbuch

Kein Glaube hat sich als so ominös erwiesen, als wie der Glaube, das
auserwählte Volk zu sein. Ihm wurde auf Jahrhunderte der Fluch des
Ghettos zuteil, der auf den größten aller Morde zurückführt. Seht ihr
nicht, wie sich für eure Verblendung und eure Missetaten über eure Köpfe
hin das Ghetto profiliert, das euch abseits stellt? – Kein Mord bleibt
ungesühnt, auch wenn der Täter entwischt. _Haken_-Kreuzler in der Tat!


                         Zum Wandel der Zeiten

Das jüdische Problem ist reich an Geheimnissen. Auf vielfache Weisen,
auch auf Weisen, die wir vielfach übersehen, tritt es immer stärker in
den Vordergrund. Vielleicht sind gewisse typische Christusmenschen
jüdischer Abkunft das Unverjudetste, was es gibt. Ihrer wurden in
Deutschland während der letzten Jahre eine Anzahl um die Ecke gebracht.
Ist da nicht der Moment gekommen, uns über die Juden zu äußern, statt
diese ausschließlich von sich reden zu lassen? Man gestatte es uns ganz
ohne Empfindelei: es ist immer so langweilig, was ein Volk über sich
selber sagt. Räumen wir auch mit allen gefälligen Fiktionen auf, als sei
der Haß der Juden für uns in Frage. Vielmehr bildet die Attraktion,
welche unsere Typen, je ausgesprochener sie sind, auf sie ausüben – das
Wort ist heraußen –, einen Bestandteil des Rätsels, dessen endliche
Lösung mit unserer endlichen Erlösung insgeheim verwoben ist. Aber die
Judenfrage ist eine Christenfrage. Das Wort ist nicht von mir.

Man mißverstehe nicht absichtlich folgende einfache Bemerkungen zum
schwierigsten aller Themen: Wie jeder hochgezüchtete Deutsche das
lebendige Gegenteil ist von einem Boche, also ein Anti-Boche, so ist
nicht nur der Unterschied, sondern der Gegensatz zwischen dem
losgelösten und dem, was wir den stofflichen Juden nennen wollen, so
groß, daß wir in jenem den eigentlichen Anti-Semiten erkennen dürften.
Freilich nicht nach Art der Haken-Kreuzler, die das Verjudetste sind,
was es heute gibt. Man kann es ihnen nicht oft genug wiederholen, auch
wenn sie einen dafür auf ihre Liste setzen.

                                          Tags zuvor 25. Juni, Sonntag

So schön sah ich Venedig noch nie! Es schimmerte von weitem, das Schiff
hatte eben vom Lido abgestoßen, und der Himmel verdunkelte sich, aber
ein magischer Umsturz aller Farben – dem Fabelreiche entnommen – setzte
sich in Szene. Einer Laune folgend, schien die Sonne ins Meer
hinabzufahren, um aus den Tiefen zu dieser Stadt emporzuleuchten, daß
sie in pfirsichgelbem, in grünstem Gold erglühte, ermattete. Ein zartes
Rosa schlug melodisch an, eine Kuppel trug sich, Feuer fangend, wie ein
Edelstein, und vor den toll erblauenden Lagunen fuhren Türme
leidenschaftlich auf. Venedig zuckte, flammte und erlosch, von einer
schwarzen See verschlungen. Das Vaporetto, allen Ufern entzogen, vom
Sturme eingehüllt, wurde der Schauplatz eines Wolkenbruches und war so
dicht besetzt, daß keiner von seinem Heringsplatz wegrücken konnte.
Ströme liefen den Längsseiten entlang und gurgelten in die Schuhe. An
der Peripherie stehend und vom Wind halb erstickt, erhaschte ich gerade
noch meinen Hut, als er über Bord fliegen wollte. Von allen Köpfen rann
das Wasser. Da schlug ein Blitz wie ein Riesenschwert hart am Schiffe
vorbei in die Wellen, und im selben Augenblick setzten Rufe und
Wehklagen von Frauen und Kindern ein, das merkwürdigste Lamento, einem
Sirenengeheul nicht unähnlich. Was jetzt vor sich ging, war die
regelrechte Generalprobe einer großen Panik; denn das Schiff hatte
keinen Schaden erlitten. Es schien zu stoppen, legte aber langsam die
gewohnte Straße zurück, und nur der _Gedanke_ an den Untergang löste
also diese Angst und dies rührende Flehen der Kinder aus, die, an ihre
Mütter gepreßt, unausgesetzt nach ihnen riefen. Väter waren plötzlich
etwas Unvorhandenes in der Welt. Aber dieser Präventivjammer, war er
nicht seltsam angesichts der Tatsache, daß wir in einer viertel Stunde
landen würden, während Schiffe, die solche Klagetöne entsandten, zu
Tausenden untergegangen waren mit Menschen, welche auch vermeinten,
ihnen könne und dürfe dies nicht widerfahren, und mit demselben starken
Willen wie hier sich an das Leben klammerten, bevor sie ertranken. Und
waren wir darum weniger Kandidaten des Todes, weil jetzt das Schiff ohne
Havarie das Ufer erreichte, der seltsame Choral verstummte und Gelächter
sich vernehmen ließ, als sei alles gewonnen? Dem Wolkenbruch war ein
heftiger Regen gefolgt. Meinen Hut, der einer ersäuften Ratte glich, in
der Hand haltend, stürzte ich blindlings auf einen offenen Eingang los.
Es war die dem Landungsplatz gerade gegenüberliegende Pforte des Hotels
Danieli. Ein großer, breitschulteriger Herr starrte mich an, als sei der
Genius des Regens durch den Schornstein zu ihm hereingefahren. Dann aber
geleitete er mich, ohne eine Frage zu stellen, die Treppe hinauf, schloß
eine Tür auf, läutete einer Cameriera, die alle meine Sachen mit
fortnahm, und ich war allein in einem großen Doppelzimmer, das plötzlich
stockfinster wurde, weil jetzt der Blitz irgendeine Leitung beschädigte,
so daß alle Klingeln und alles Licht im Hotel versagte. Nun war ich bis
zu diesem Tage mit meinem Italienisch pompös ausgekommen. Vergessene
Worte aus meiner Kindheit waren mir in Scharen wieder zugeflogen. Und
ich fing sie ein, wie sie gerade kamen, duzte groß und klein, weil mir
die Verben nur _en gros_ einfielen, spickte sie dafür mit _magaris_ und
_c’è casos_ und _ma comes_ und _ma ches_, alles in rüstiger Bearbeitung,
wie frische Salatblätter, und mit einer so draufgängerischen
Volubilität, als müßte mir doch endlich jemand sagen: „Nein, wie _Sie_
gut italienisch reden!“ Allein, das neueröffnete Konto meines
Wortschatzes hatte angesichts des Bewußtseins als Dachrinne, statt, wie
es in meinem _Biglietto gratuito_ stand, als „_critica del Berliner
Tageblatt_“ _in questo albergo_ aufzutreten, eine plötzliche Sperre
erlitten. Während ich zähneklappernd durch die strahlende Halle
vorüberströmte, hatte mir zwar meine rinnende Stirn noch einige
Kontenance gegeben. Als ich aber zwei Stunden später, nach Verbrauch
vieler Handtücher, in getrockneten und heiß gebügelten Kleidern und mit
einem menschlichen Angesicht im Bureau des Hotels bei dem
breitschulterigen Herrn vorsprach, da war mein Italienisch, wie der
Federkranz auf meinem Hute, von mir weggeweht, und gefaßt, aber in einem
fürchterlichen Kauderwelsch erkundigte ich mich nach dem Preis. _Ma
niente!_ sagte er, ganz Kaufmann von Venedig und mit einer Geste, welche
diese ganze Stadt zum Hintergrunde hatte.

                   *       *       *       *       *

Mit der Hitze ist es übrigens, wie ich vermutet habe. Heiß ist heiß und
kalt ist kalt. Mehr als heiß kann es nicht geben, und ein Eisenbahnwagen
in der Sommersglut zwischen Offenburg und Frankfurt bietet nicht die
Spur größerer Kühle als Verona um dieselbe Jahreszeit.

                                                    27. Juni, Dienstag

Was die Ausstellung betrifft, so mußte es bei jenem ersten flüchtigen
Rundgang bleiben. – Als ich heute morgen Lire kaufen wollte, war die
Mark derart zusammengebrochen, daß man in den Wechselstuben Miene
machte, sie überhaupt nicht mehr zu nehmen. Als sei mit Rathenau ein
letzter tragender Pfeiler niedergerissen, und jener drohende Ruin, gegen
welchen dieser Sohn seines Landes alle seine Kräfte angespannt hatte,
vollzöge nunmehr ungehindert seinen verheerenden Marsch. Fluchtartig
verließ ich Venedig.



                       Abschied von Venedig 1924


Von der Einnahme Venedigs durch die Deutschen in der Osterwoche 1924
werden die Annalen dieser Stadt vermutlich nichts berichten. Wer hätte
es auch gedacht? So schnell, nicht wahr? Ohne Schwertstreich. Infolge
der schönen Verordnung, daß ihnen bei der Ausreise eine hohe Summe
abzufordern sei, sprangen, kletterten, überrannten, stürmten sie in
ihrer Torschlußpanik scharenweise die Grenzpfähle – und waren da. Man
sah mit einem Male auf unbemittelte Deutsche, welchen man die Spuren der
letzten zehn Jahre anmerkte, und die billigen Alberghi waren nicht
minder angefüllt als wie Danieli, Grünwald usw. – Bleibt es bei jener
Verordnung, dann werden – ausgerechnet – nur mehr jene Typen, welche uns
dies Frühjahr so blamierten und durch ihren Aufwand so viele Spenden an
ihre notleidenden Landsleute rückgängig machten, sie allein werden
dieselben fürderhin vor dem Auslande repräsentieren.

In jener Osterwoche jedoch sah man, wie gesagt, so manch sympathisches
Gesicht mit dem Gepräge einer geistigen Existenz. Wie eine Springflut
stürzte auch die heute so zurückgedämmte Sprache über ganz Venezien hin,
und deutsche Speisekarten lagen in allen Ristorante auf. Mehrfach habe
ich „Wurstl mit Cren“ gelesen; hyperdeutsch; nur Münchner mochten auf
den ersten Blick erfassen, daß hiermit kein Hanswurst gemeint ist, kein
Wurstl, sondern Wurst mit Meerrettig.

Die Osterglocken läuten über den Markusplatz, die Sonne leuchtet und
lockt ans Meer; es gurren die Tauben im verstärkten Chor, und nie war
die Welt so gemein. Restbestände aus der Arche Noah sind natürlich
überall noch anzutreffen, aber mehr als „Souvenirs“, nicht daß sie ins
Gewicht fallen; bewahre! Ausschlaggebend ist durchaus die dicke Krämerin
aus dem Grand Hotel, die an einer Porphyrsäule der Markuskirche lehnt
und behufs photographischer Aufnahme mit ihrem Mispelgesicht zu einer
Taube wie eine Mispel niederlächelt, wenn eine Mispel lächeln könnte.


                              Wunschtraum

Wenn ich ein Vöglein wäre, flöge ich natürlich dieser Welt davon. Hätte
ich aber in ihr etwas zu sagen, so führe dieser Tage ein strammer und
himmellanger Besen in den Markusplatz hinein. Die an der Porphyrsäule
Lehnende würde in eine Calle hinter einen Ladentisch mit Mortadella
zurückgefegt. Sodann müßten mir die Konzertprogramme bei Quadri,
Olympia, Florian und Lavena unterbreitet werden. Denn bei schwerer
Geldstrafe dürfte keine Bumsmusik auf der Piazza hin- und herüber tönen.
Ich erlebte folgendes: Eine der dortigen Kapellen – sie bestand aus
Deutschen, Südtirolern und einem Italiener – gab als schüchterne
Konzession an den Karfreitag Paraphrasen aus dem Parsifal. Zum Schluß
rief jemand Bis. Daraufhin entspann sich zwischen den Musikern und mir
folgender Dialog: „Spielen Sie das doch noch einmal.“ – „Wir können
nicht.“ – „Man hat doch Bis gerufen.“ – „Es war ja nur Hohn.“ „_Non li
piace_,“ sagte der Cellist, „_piace a noi, ma non a loro_.“ Ich würde
mir aber das Publikum schon ziehen.

Haben wir, die wir uns in der Welt nicht mehr recht zu Hause fühlen, am
Ende ehrlichere Gesichter von unserem Unbehagen weg? – Ich erstand ein
Fernglas, hatte aber nicht genügend Geld bei mir und ersuchte die
Verkäuferin, es mir zurückzulegen. Da trat aus dem Schatten die Padrona
hervor, bat mich um Namen und Adresse und händigte mir das Fernglas ein.

Und doch bin ich finsterer denn je entschlossen, den nächsten Fund, den
ich mache, zu behalten. Aber ach! Die Menschen teilen sich in Finder und
in Verlierer ein und mir sind die Finder immer an den Fersen. –


                              _La valigia_

Die Nacht war längst angebrochen, als der Zug, mit dem ich fuhr, sich
Venedig näherte. In meinem Abteil saßen mir zwei Herren gegenüber, auf
meiner Seite niemand. Ich streckte mich also der Länge nach aus und
merkte nicht einmal, daß einer meiner Reisegefährten in Vicenza
ausstieg, der andere in Mestre. In Venedig angekommen, merkte ich aber,
daß an Stelle meiner Handtasche eine viel kürzere, die ihr außer in der
Farbe gar nicht glich, zurückgeblieben war. Die meinige war offen
gewesen. Kofferschlüssel führe ich prinzipiell schon lange keine mehr
mit mir. Wozu auch? Es mußte regelmäßig der Schlosser gerufen werden,
der neue Schlüssel aber war es, der als erster abhanden ging, während
der alte wieder zum Vorschein zu kommen pflegte, zum geänderten Schlosse
aber nicht mehr paßte. Außerdem: was nützen Schlüssel? – Fuhrwerke etwa
ich in Koffern herum, die andern gehören? Wäre ich aber ein Dieb, würde
das bißchen Schloß mich daran hindern? Also.

Übergehen wir aber, ehrlicher und teilnehmender Leser, meine
Fassungslosigkeit, als über das Fehlen meiner Tasche kein Zweifel mehr
bestand. Nichts von angelsächsischer Selbstbeherrschung legte ich an den
Tag; nichts von Stoik. Ungeheuchelt brach sich mein Furor Bahn. Zwar
hatte schon ein Herr aus Vicenza wegen eines Gepäckstückes telephoniert;
aber böse Ahnungen zogen im Sturme in mir auf; den Bettelstab sah ich
grünen in meiner Hand. Denn auch meine Manuskripte, die Arbeit von
Jahren, steckten wohlverschnürt in einer Seitentasche und sollten in
Venedig ihre letzte Reife erfahren. Und nicht nur sie, sondern mein
jüngstes Produkt, mein Benjamin, welcher den Titel führte: veder _Napoli
e partire_. Er war nicht gegen Napoli, nur gegen das schlechte Wetter
gemünzt, das ich dort angetroffen hatte. Wer aber bürgte mir, daß mein
_mal’ occhio_ weiter als diesen Titel lesen und in nationalistischer
Entrüstung den ganzen Bündel nicht ins Feuer werfen würde. Hatte man
nicht wegen Palermo den Maeterlinck gefordert? –

Um zwei Uhr morgens war ich in meinem Hotelzimmer, um neun Uhr schon
wieder auf dem Weg zur Bahn. Über meine Tasche lagen nur höchst
undeutliche Meldungen vor, die des Vicentiners hatte man ihm
zurückgeschickt. Ich begab mich zum _capo di stazione_. Wert im Rate der
Zehn zu sitzen, höchst ritterlich, und noch dazu auffallend schön, nahm
er sich, über jeden _sacro egoismo_ erhaben, sofort meiner an und
telephonierte nach Vicenza. Es sei eine Tasche da, jawohl. Ich wurde
gefragt, was alles drin sei, und ich nannte ein paar Dinge, die mir
gerade einfielen. „Toilettengegenstände, eine Reiseuhr, ein Arbeitssack,
_Delle lettere_“, sagte ich; _scritture_. Der _capo di stazione_
notierte alles und gab seine Orders. Mit dem Sieben-Uhr-Abendzug würde
die Tasche ankommen, wenn ich also um dieselbe Zeit mich einfinden
wollte? ... Doch ach, nur ich traf ein zu diesem Abendzug. Der _capo di
stazione_ begab sich in den Gepäckraum; errötend gab er mir das negative
Ergebnis mit. Er telephonierte und telegraphierte von neuem.

Am nächsten Morgen war die Tasche da.

                   *       *       *       *       *

Verschnürt und plombiert harrte sie meiner im Lagerraum, und ich wurde
aufgefordert, sie zu öffnen und festzustellen, ob nichts fehle. Ich
zerschnitt die Schnüre, sie sprang auf. Ein Griff nach rechts, ein
Befühlen der Rolle, meine Werkstatt war unversehrt. Da genügte ein
flüchtiger Blick auf alles übrige. „_C’è tutto!_“ sagte ich, zog ab mit
meiner Tasche, nahm eine Gondel für die Tasche und mich und blickte
triumphierend den _Canal Grande_ hinab. Die Tasche und ich, wir fuhren
dann ein in die stilleren Seitengewässer und die nur aus ihrer Stille
vernehmbare Musik Venedigs, von den Steinen und den Pforten angestimmt,
ob sie eintauchen in die Flut oder bemoost sie überragen, wie süß drang
sie zu mir.

Erst beim Auspacken trat zutage, was alles fehlte: von drei Scheren
zwei, von zwei Bürsten die zusammenlegbare in einem Etui, der Sack
Pralinés aus Nizza. Allein solche Verluste nimmt man leicht. Als ich
jedoch den Arbeitsbeutel öffnete, wehe! Da fehlte der wertvollste und
teuerste jener Gegenstände, die ich immer mit mir führe: eine schmale,
silberne, einfache, aber wirklich vollkommen schöne Empire-Nadelbüchse,
einzig in ihrer Art, die alle kennen, die meine Sachen kennen. Sie
fehlte. Sie war gestohlen. Der naheliegende Gedanke, daß man so grausam
sein würde, sie mir zu rauben, war mir nie gekommen. Eine Welt von
Erinnerungen umschloß für mich ihr schmaler, schreinartiger Hals. Nie
öffnete ich sie mit gleichgültiger Hand. Ich hing an ihr über mein Leben
hinaus, ich träume von ihr.

Mit welchem Fuge aber hätte ich den Weg zur Bahn von neuem
eingeschlagen, nachdem ich doch ausgerufen hatte: „_C’è tutto!_“

Ihr Herren Eisenbahner aus Vicenza, lohnt mir so nicht mein Vertrauen.
Gebt mir meine Nadelbüchse wieder! Was ist sie für ein verschwindend
Ding inmitten der Pracht, die euch umgibt.

Oder sollten Sie mein Herr, der Sie meine Tasche verwechselten – Ihr
Name wurde ja auf Protokoll genommen –, sollten Sie ein Antiquar sein
und der Versuchung nicht haben widerstehen können, so schicken Sie mir
die kleine Nadelbüchse wieder. Wer sie mir findet und zurückschickt, dem
werde ich ihren vollen Wert zurückerstatten, wer immer es sei. Dem Dieb,
der sie behält, wird sie Unglück bringen, denn sie gehört zu niemandem
als zu mir.

Seltsame Stadt, schwebend gleichsam, nein, wie in sich selbst versunken,
und dem Tode stärker als dem Leben zugewandt. Wie behält sie jedes Echo!
Was läutet sie? – Noch vibrieren heimliche Reflexe jenes Februartages,
an dem der junge d’Annunzio den Sarg des „_Grande Barbaro_“ auf seine
Schultern hob und mit seinen Freunden die Stufen des Palazzo Vendramins
hinabtrug. Noch lauern Schatten jener Gondel, die Wagners Leiche zog,
noch weht am _Canal Grande_ ein Hauch der Stunde, zu der er starb.

Schöner, tiefer, stiller war Venedig vor zwei Jahren inmitten seiner
Junihitze und seiner Leere. Damals klang die trübe Nachricht vom Mord an
Rathenau herüber; dieses Mal der Tod der Duse, und gleich darauf in
seiner schauderhaften Schrille das Ende Helfferichs. Wer hat den Tod mit
einer Geige abgebildet? Wie verschieden moduliert er seine Weisen! Mit
welcher Pracht umleuchtete und steigerte er weithin das Sterben der
Duse. O heilige Kunst! –



                              Molières Tod


Es ist die Liebenswürdigkeit Molières, welche wir bei aller sonstigen
und eingebürgerten Würdigung seines Genies übersehen. Geistige
Verwandtschaften konstruieren sich ebenso bestimmt wie die Ausläufer und
Nebenlinien eines Stammbaumes. Es gibt Familien hier wie dort.

Ich kann mir nicht helfen, aber ich sehe – ganz unswedenborgisch
natürlich – ich sehe immer Pascal mit Hebbel und Brahms eingehängt
daherkommen, und ich sehe, wie Molière und Mozart „_mon cousin_“
zueinander sagen und ein Lächeln an sich tragen wie Brüder; eines selben
Hauses und von selbem Adel: zwei lichte Gestalten auf dunklem Grund.

Molières ausgelassene Augen haben sehr melancholische Wimpern. Es
verhält sich ähnlich mit Mozarts vielgerühmter und doch so beschatteter
Heiterkeit, seinem beiläufigen, aber grandiosen Ernst. Sie sind beide zu
scharfblickend, um sich mit dem leichtsinnigen Rossini oder dem trotz
chronisch unglücklichen Verliebtseins bei Gelegenheit so fidelen
Schubert zu verzweigen. Molière und Mozart haben die ähnlichen Nerven,
den ähnlichen geistigen Charme und jene charakteristischen Merkmale,
welche nur den Lieblingen der Götter eigen sind: selbst der unheilbar
erkrankte Molière, der, in der Sänfte getragen, seinen hohen Gönnerinnen
Besuch abstattet, ist noch von Jugend umweht. Selbst der sterbende
Molière ist unvorstellbar als ein Gealterter.

Sie haben eine ähnliche Haltung ihrer Zeit gegenüber, die ihnen teils
eine bevorzugte Stellung einräumt und sie kajoliert, teils mit letzter
Roheit ihre Vorurteile ihnen gegenüber aufrecht hält.

So trägt Mozart den berühmten Fußtritt jenes Grafen davon, an dessen
Wappen er dann haftenblieb, und Molières Leiche wird einer Bestattung in
geweihter Erde nicht für würdig erachtet.

Sollte man da nicht doch versucht sein, an einen Fortschritt zu glauben?
Aber nichts beleuchtet ihn besser als die unbestreitbare Tatsache, daß
in unserer Zeit Molière und Mozart auf ihre Felddiensttauglichkeit
geprüft worden wären. – Wolfgang Amadäus Mozart im Schützengraben!
Molière als Poilu! – Es ist also schon besser, nicht wahr, sie lebten im
_Dix-septième_ und _Dix-huitième_.



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                  Herausgegeben von Heinrich Eduard Jacob

                      Die Sammlung wird fortgesetzt!
              Jeder Band in Leinen M. 2.50, in Satin M. 3.20


                       IM PROPYLÄEN-VERLAG / BERLIN



                     Anmerkungen zur Transkription


Offensichtliche Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):

   [S. 29]:
   ... Es was ihr Eigentum wie dieses ganze Haus. ...
   ... Es war ihr Eigentum wie dieses ganze Haus. ...

   [S. 30]:
   ... lökte sie den blinden Drang, nur ja zu leben, nur ja nicht ...
   ... löste sie den blinden Drang, nur ja zu leben, nur ja nicht ...




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