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Title: Schulmädelgeschichten: für Mädchen von 7-12 Jahren
Author: Beeg, Marie
Language: German
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    Anmerkungen zur Transkription


    Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter
    Text ist _so ausgezeichnet_. Im Original in Antiqua gesetzter
    Text ist ~so markiert~.

    Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des
    Buches.

[Illustration]



    Schulmädelgeschichten

    für Mädchen von 7–12 Jahren

    erzählt von

    Marie Beeg.

    Mit zahlreichen Holzschnitten und 4 Farbdruckbildern.

    Sechste Auflage.

    Berlin W.
    Schreiter’sche Verlagsbuchhandlung.



Inhalt.


                                                                   Seite

    1. Kapitel: Der Geburtstag                                         1

    2. Kapitel: Der erste Schultag                                     8

    3. Kapitel: Mit dem linken Fuß zuerst aus dem Bett geschlüpft     17

    4. Kapitel: Die Handarbeitsstunde                                 23

    5. Kapitel: Lehrstunden                                           28

    6. Kapitel: Ein Tag bei Alma                                      30

    7. Kapitel: Ein Schulspaziergang und seine Abenteuer              42

    8. Kapitel: Schlimme Freundschaft                                 72

    9. Kapitel: Martha                                                79

    10. Kapitel: Ein Brief Almas an Aennchen                          92

    11. Kapitel: Tagebuchblätter. Aus Aennchens Tagebuch             100

    12. Kapitel: Aus Marthas Tagebuch                                108

    13. Kapitel: Marthas Hausgarten. Der arme Hansi                  114

    14. Kapitel: Wintervergnügen und Eisabenteuer                    122

    15. Kapitel: Klara                                               126

    16. Kapitel: Musikstunden                                        129

    17. Kapitel: Aus Aennchens Tagebuch. Almas Rückkehr              134

    18. Kapitel: Aus Marthas Tagebuch. Die Konfirmation              140

    19. Kapitel: Das Kränzchen                                       144

    20. Kapitel: Ein überraschender Besuch                           150

    21. Kapitel: Schluß                                              157



Erstes Kapitel.

Der Geburtstag.


Sie war ein niedliches liebes Mädchen, die kleine Anna, und wen sie
mit ihren blitzenden Aeuglein und weißen Zähnchen anlachte, der mußte
sie gern haben, trotzdem sie ein solch tüchtiger Wildfang war, welcher
Haus und Hof fortwährend unsicher machte. Ihre Eltern bewohnten ein
wundervolles Haus, das in einem großen schönen Garten lag, und da
tummelte sich denn klein Annchen nach Herzenslust herum, kletterte auf
die Bäume und spielte mit den kleinen Brüdern Verstecken.

»Das Kind wird uns zu wild, das muß ein Ende nehmen,« sprachen die
Eltern. »Sie lernt gar nichts; die alte Kinderfrau wollte ihr kürzlich
das Stricken zeigen, da zog sie die Nadeln aus den Maschen und spießte
sie ihren Puppen in den Leib. – Ja, das that sie!«

Nun kam Aennchens Geburtstag heran, an dem sie sieben Jahre werden
sollte; sie hatte sich schon lange darauf gefreut. Was ihr da wohl
alles beschert werden würde? Sie hatte solch köstliche Wünsche: eine
große, große Schaukel, ein Schaukelpferd, wie die Brüder es hatten,
eine recht lange Peitsche und eine Trompete! Das waren freilich keine
passenden Wünsche für ein kleines Mädchen, aber sie hegte sie doch.

Der Geburtstagmorgen kam heran, Aennchen wachte in aller Frühe auf,
sie hatte ihn ja schier nicht erwarten können. Die Kinderfrau schlief
noch, die kleinen Brüder schliefen noch und es war ihr streng verboten,
sie zu wecken. Aber so lang still im Bette liegen, das war doch
recht schwer! So erhob sie sich denn ganz leise, schlüpfte heraus und
begann in ihrem Nachtkleidchen und bloßen Füßen auf Tisch und Stühlen
herum zu turnen. Aber plumps, da gab es einen furchtbaren Spektakel,
der Stuhl fiel um und klein Aennchen lag halb zerquetscht und betäubt
darunter. Gleich eilte die erschreckte Kinderfrau aus ihrem Bett
herzu und nun gab es zu allem Schrecken noch tüchtige Klopfe, dann
wurde klein Aennchen wieder ins Bett gesteckt und mußte noch ein paar
Stunden mäuschenstille liegen, bis sie endlich um sieben Uhr festlich
angekleidet wurde, ihrem Geburtstag zu Ehren. Ein hellblaues Kleidchen
mit weißen Schleifen und ein weißes Spitzenschürzchen bekam sie an, das
wilde braune Lockenköpfchen wurde tüchtig gebürstet und gekämmt, dann
durfte sie hinüber nach dem Frühstückszimmer laufen, wo bereits die
Eltern und Geschwister versammelt waren.

Wie köstlich es nach Schokolade und Kuchen duftete, und wie lieb
und freundlich alle sie umringten! Aber sie hatte nur Augen für die
große weißgedeckte Tafel dort drüben, welche ganz mit Geschenken
vollgebreitet war. Die Mama führte das Töchterchen selbst dahin und
es hüpfte dabei vor Freude, blieb aber plötzlich ganz verwundert und
schier erschrocken stehen.

Wo war die Schaukel? Wo das Schaukelpferd, die Peitsche, die
Trompete? Keine Spur davon zu sehen! Aber inmitten des Tisches saß
eine wunderhübsche Puppe, allerdings ganz unangekleidet, nur in ein
Hemdchen gehüllt, auf einem Stühlchen; zu ihren beiden Seiten waren
Kästen aufgestellt; der eine enthielt nichts als eine große Anzahl der
verschiedensten Stoffreste, blaue, rote, weiße und schwarze, seidene
und wollene, dann breite und schmale Spitzen und Bänder und Borten –
kurz, es war das reine Putzwarengeschäft. Der andere Kasten war mit
Faden und Wolle aller Art und jeder Farbe angefüllt, enthielt ein
Nadelbüchschen und Fingerhut und Schere und noch eine Menge anderer
Kleinigkeiten zum Nähen und Sticken. Ferner war ein niedliches
weißes Strickkörbchen aufgestellt, darin lag ein großer rosenroter
Wunderknäuel und ein Bund dicke Stricknadeln.

Vorn am Tisch aber lag ein nagelneues Bücherränzchen mit schönen
Schnallen und Riemen, und auf dem Deckel stand der Name »Aennchen«
schön gestickt und darunter »das fleißige Kind.« Das ganze
Bücherränzchen war mit einer Menge nagelneuer Hefte und Bücher
angefüllt, das Schönste aber war ein wunderhübscher Federkasten, in
welchem Griffel und Bleistifte, Federn und Gummi und sogar ein kleines
Messerchen enthalten waren. Eine schöne, neue Schiefertafel war auch zu
sehen; diese hatte einen bemalten Rand, auf welchem allerlei hübsche
und lustige Sprüchlein standen, wie: »Wer mit dem Griffel schreibet
fein, das muß ein artig Mädchen sein!« und: »Wer fleißig seine Arbeit
thut, dem sind die Menschen alle gut!« und ferner: »Geschrieben Wort
ist Perlen gleich, ein Tintenklecks ein böser Streich!«

Alle diese schönen Dinge waren in bunter Reihe auf den Tisch gebreitet,
dazwischen Teller mit Bonbons und Kuchen, und jedes artige Kind wäre
beim Anblick all’ dieser Herrlichkeiten vor Freude wohl hoch gesprungen.

Unser Aennchen aber nicht! Wie vom Schreck gerührt stand sie da, als
sie keinen ihrer Lieblingswünsche erfüllt sah, und konnte es kaum noch
fassen, da trat die Mama zu ihr und sprach:

»Siehst Du, mein Aennchen, für welch großes artiges Mädchen wir dich
jetzt halten, daß wir dir alle die schönen Sachen zum Geburtstag
beschert haben? Du bist jetzt sieben Jahre alt geworden, also mußt du
auch anfangen, recht fleißig und vernünftig zu werden, und die wilden
Spiele, welche sich nur für Buben schicken, aufgeben. Die reizende
Puppe haben wir dir mit Absicht nicht angekleidet, damit du selbst die
Freude haben sollst, hier aus diesen hübschen Stoffen und Spitzchen
schöne Kleiderchen zu verfertigen. Der Wunderknäuel in diesem Körbchen
ist mit einer Menge süßer Bonbons gefüllt und auf dem Grund desselben
ein kleines Geheimnis verborgen; wenn du daher recht fleißig stricken
lernen willst, so wirst du immer eine Freude und Ueberraschung dabei
haben. – Das Bücherränzchen mit all den vielen Heften und Büchern aber
wird dir wohl das größte Vergnügen gewähren und du darfst es bald
benützen, denn von morgen an darfst du die Schule besuchen.«

»In die Schule soll ich!« rief Aennchen erschrocken aus und starrte die
Mama ungläubig an; als diese aber ganz ernsthaft mit dem Kopfe nickte,
da wurde sie förmlich außer sich; sie warf sich der Länge nach auf den
Boden und schluchzte und schrie:

»Nein, ich will in keine Schule kommen! ich mag in keine Schule!«

Das war ein ganz abscheuliches Betragen für ein kleines Mädchen, noch
dazu für ein Geburtstagskind! Ganz entsetzt standen die Geschwister und
starrten das böse Schwesterlein am Boden an, und der Papa, welcher bis
jetzt nichts mitgesprochen hatte, runzelte zornig die Stirn und trat
vor. Aber die Mama ergriff ihn am Arme und bat:

»Laß du mich heute allein mit Aennchen verhandeln. Ich will sie nicht
gleich schlimm strafen, weil ja ihr Geburtstag ist, aber es wird ihr
schon Strafe genug sein, wenn sie nicht mit uns frühstücken darf,
sondern ihre Schokolade und Kuchen ganz allein verzehren muß.«

Damit hob sie das noch immer weinende Kind vom Boden auf und führte
es hinüber nach dem kleinen Kämmerchen, welches das »Trutzstübchen«
geheißen wurde, denn hieher wurde immer jedes unartige Kind geschickt,
das eine Strafe abzubüßen hatte. Im ganzen Stübchen stand nichts als
ein einziger kleiner Tisch und ein Stuhl. Wie viele Stunden hatte das
wilde Aennchen hier schon abbüßen müssen; niemals aber schien es ihr so
schmerzlich zu sein als gerade heute an ihrem Geburtstag, auf den sie
sich schon so lange gefreut hatte.

So saß sie denn mit strömenden Thränen vor ihrer großen
Schokoladentasse und hielt ihr duftendes Stück Kuchen in der Hand;
all die herrlichen Rosinen und Mandeln, die darauf gestreut waren,
vermochten sie nicht zu trösten; sie schluchzte und schluchzte und
jammerte vor sich hin. Ach, und sie schämte sich so sehr, gerade heute
bestraft worden zu sein – das war doch noch keinem der Geschwister am
Geburtstag passiert, und sicherlich würde sie Bruder Fritz, der auch
schon in die Schule ging, noch tüchtig damit necken.

Eine Stunde später steckte die Mama den Kopf zur Thüre herein und sah
sich nach ihrem Aennchen um. Dieses saß mit ganz dickverweinten Augen
auf seinem Stuhl und als es die Mutter sah, streckte es die Arme aus
und fing von neuem an, bitterlich zu weinen.

»Wie steht es denn mit dir, Aennchen – willst du jetzt wieder artig
sein?« fragte die liebe Mutter und hob das Töchterchen sanft empor.
Dieses schlang seine Aermchen um ihren Hals und flüsterte:

»Ja, liebe Mama! ich bitte um Verzeihung, daß ich so böse gewesen bin.«

»Und willst du jetzt auch gern in die Schule gehen, liebes Kind?«

»Ich will es versuchen,« kam die Antwort sehr langsam und leise aus
Aennchens Mund hervor. Die Mutter setzte sich auf den Stuhl, nahm ihr
Töchterchen auf den Schoß und sprach mit freundlichem Ernst:

»Ja, mein Liebling, versuche es und du wirst sehen, daß es nicht so
schlimm ist, sondern im Gegenteil dir bald ausnehmend gefallen wird.
Denn wenn du darüber nachdenkst, so wirst du selbst einsehen, daß ein
Leben, wie du es bis jetzt geführt hast, nicht ewig so fortgehen kann.
Du bist schon ein kräftiges Mädchen, doch kannst du weder stricken
noch lesen, noch rechnen und schreiben. Nun denke nur daran, wohin
das führen würde, wenn es so fortginge; du müßtest dich ja vor jedem
Menschen schämen, so unwissend zu sein, denn es giebt niemand, der
nicht auch etwas lernen muß, und wenn sich alle so sträuben würden,
so gäbe es wohl nur lauter unwissende Menschen, die ein Abc wüßten
und kein Buch lesen könnten und keinen Strumpf stricken. Gelt, das
wäre schrecklich? Damit aber kleine Kinder schon im richtigen Alter,
wo ihnen das Lernen leicht wird, alles gelehrt bekommen, was nötig
ist, sind die Schulen errichtet worden. In diesen Schulen giebt es
eine Anzahl gar lieber Lehrer und Lehrerinnen, welche alle die vielen
kleinen Nichtswisser um sich scharen und unterrichten im Lesen,
Schreiben und Rechnen und sie noch eine Menge anderes lehren und
ihnen vom lieben Gott erzählen. Jedes Kind, das gern zu ihnen kommt,
haben sie lieb und üben Geduld mit ihm, bis das kleine Köpfchen alles
begriffen hat, aber über die bösen und faulen betrüben sich die lieben
Lehrer, und wenn sie gar nicht folgen wollen, dann gibt es Strafe.
Willst du nun zu den artigen Kindern oder zu den bösen und faulen
gehören, mein Aennchen?«

»Ich will zu den artigen gehören, Mama,« erwiderte Aennchen, welches
aufmerksam zugehört hatte und jetzt ganz still mit leuchtenden Augen
dasaß.

»Das ist brav, mein Kind,« lobte die Mama, »und dafür darfst du heute
den letzten Tag der Freiheit noch recht nach Herzenslust genießen. Lauf
nur schnell hinunter nach dem Garten; die Geschwister warten schon auf
dich.«

Wie nun das kleine Aennchen lief, als ob sie vom Wind getragen würde!
Die Treppe hinab und den Hausflur entlang in einem Husch hinaus zum
Garten und unten vom Rasen her hörte sie schon rufen:

»Aennchen, Aennchen!«

»Ich komme, ich komme!« rief Aennchen jauchzend den Geschwistern
entgegen; die deuteten lachend in die Höhe und da – was war das? Eine
allerschönste große neue Schaukel war mitten auf dem grünen Rasenplatz
angebracht! War das ein Jubel und eine Seligkeit! Aennchen kannte sich
kaum vor Freude und die Geschwister riefen:

»Du darfst ja heute am meisten schaukeln, weil ja dein Geburtstag ist.«

Wie ein Eichhörnchen so flink kletterte Aennchen auf die Schaukel
und Bruder Fritz, der heute einen freien Tag hatte, war so galant
und artig, das Schwesterchen hoch in alle Lüfte zu schaukeln. O das
war herrlich! sie kam dem großen Kastanienbaum ganz nahe und sah die
kleinen Brüderchen Willy und Hermännchen als winzige Punkte unten
stehen. So ging es lange Zeit fort, da wollte Aennchen doch auch die
andern an die Reihe lassen, denn sie war recht artig geworden, und so
setzte sie die kleinen Brüder auf die Schaukel und ließ sie an dem
Vergnügen teilnehmen.

Um zehn Uhr gab es heute als Frühstück herrliches Honigbrot und die
Kinder durften es im Garten verzehren. So verging Stunde auf Stunde des
so schlimm begonnenen Tages in schönster Lust und als Aennchen endlich
spät am Abend im Bettchen lag und Mama noch kam, mit ihr den Abendsegen
zu beten, da flüsterte sie ihr noch leise ins Ohr:

»Nicht wahr, Mütterlein, du verzeihst mir, daß ich heute morgen so
unartig gewesen bin?«

Ein inniger Kuß der Mutter war die Antwort.

[Illustration]



Zweites Kapitel.

Der erste Schultag.


Als Aennchen an diesem Morgen erwachte, war ihr das kleine Herz recht
schwer, denn gleich fiel ihr ein, daß ja heute der erste Schultag sein
sollte. »Ach,« seufzte sie vor sich hin, »wie wird es mir gehen! Wenn
doch dieser erste Tag schon vorüber wäre.«

Aber es half kein Seufzen; sie mußte sich dazu bequemen, aufzustehen
und sich von Lisette, der alten Kinderfrau, ankleiden zu lassen. Diese
that es heute beinahe etwas respektvoll und sagte:

»Nun wirst du ja wohl bald gar ein Fräulein sein und so gelehrt
werden, daß du mehr weißt wie ich selbst, und mir vorlesen kannst aus
deinen schönen Büchern. Auch das Ankleiden kannst du jetzt bald allein
besorgen, ein Schulmädel muß ja alles können. Hast du denn schon die
schönen neuen Schulkleider gesehen, welche Mama für dich bereit gelegt
hat?«

Ei der Tausend, die waren freilich hübsch! Ein rotes Wollkleidchen mit
weißen Borten und eine große schwarze Schürze mit Spitzen besetzt, ein
helles warmes Mäntelchen und ein hübsches Mützchen – alles nagelneu,
war neben dem Ränzchen auf den Tisch gebreitet. Das war freilich eine
Freude für Aennchen, die ein kleines eitles Ding war und sich gar gerne
putzen ließ.

Und so stand sie denn bald, ganz nagelneu angezogen, denn selbst
Strümpfe und Stiefel waren neu, vor den Eltern und Geschwistern und kam
sich förmlich wichtig vor, als sie nun das Ränzchen auf den Rücken
nahm und Papa auf die Uhr sah und sprach:

»Nun muß unsere Tochter aber in die Schule fort; es ist hohe Zeit.«

Mama setzte ihren Hut auf und Aennchen nahm Abschied von den kleinen
Geschwistern, als ginge es zum mindesten nach Amerika, dann gab sie
Papa noch einen Kuß und fort ging es an der Mutter Hand zum Hause
hinaus.

Auf der Straße erblickte sie eine Menge Schulkinder, Mädchen und Knaben
und alle sahen sie neugierig an; je näher sie der Schule kam, desto
mehr kleine Mädchen gingen mit ihnen denselben Weg, viele allein,
manche von ihrer Mutter begleitet, denn das neue Schuljahr hatte noch
nicht lange begonnen.

Das Schulhaus war ein großes altes Gebäude, welches wohl früher ein
Kloster gewesen sein mochte. Es hatte ein großes Portal und so viele
Fenster, wie Aennchen noch nie gesehen hatte. Aennchen stieg an der
Hand der Mutter drei breite Treppen empor; das Herz klopfte ihr, als ob
es zerspringen wollte, und sie sah gar nicht mehr, wohin sie ging. Da
stand sie auf einmal in einem großen Saale und der Herr Lehrer kam auf
die Mama zu und sprach mit ihr. Diese stellte ihr Töchterchen vor und
sprach zu Aennchen, welche ihre Hand mit krampfhaftem Griff umklammert
hielt:

»Sei doch nicht so furchtsam, Kind, und gib Herrn Milde eine Hand!«
Da blickte sie langsam auf und in das Gesicht des Herrn Milde, der so
sanfte Augen hatte, welche hinter einer Brille hervorblickten, und so
freundlich lächelte, daß sie alle Furcht verlor und ihre kleine Hand
in die seine legte. Nun blickte er sich um, die langen Reihe der Bänke
entlang, welche Sitz an Sitz mit lauter kleinen Mädchen besetzt waren,
und fragte:

»Ist kein Platz mehr für unser Aennchen übrig?«

In der dritten Reihe rückten zwei Mädchen zusammen und streckten die
Finger in die Höhe:

»Hier!«

Herr Milde nahm Aennchen an der Hand und setzte sie zwischen die beiden
Mädchen; ängstlich blickte sie sich nach der Mama um. Diese hatte sie
allein gelassen bei all den fremden Mädchen. Sie legte den Kopf auf das
Pult, barg das Gesicht in den Händen und weinte leise und ängstlich
vor sich hin. Da streichelte ein weiches Händchen ihre Wange und eine
sanfte Stimme flüsterte beruhigend:

»Sei ruhig, kleines Mädchen, du brauchst keine Furcht zu hegen.«

Aennchen blickte auf in ein sanftes Gesichtchen, das von schlichten
hellen Haaren umrahmt war. Das Mädchen war klein und schmächtig gebaut
und die rechte Schulter stand bedeutend in die Höhe; sie trug ein
einfaches dunkles Kleid und eine hohe Schürze, um den Hals ein weißes
Halstuch und sah so schlicht aus wie eine kleine Nonne. Aennchen fühlte
sich neugierig angezogen und fragte, ihre Thränen trocknend:

»Wie heißt du?«

»Martha Traugott,« war die Antwort; »ich bin auch erst seit einigen
Tagen in der Schule und schon ganz gut eingewöhnt, also siehst du, daß
es nicht so schlimm ist.«

Die Nachbarin zur rechten Seite Aennchens, welche anfangs sehr
spöttisch den Mund verzogen hatte, als sie diese weinen sah, blickte
sie jetzt aufmerksam an und mischte sich in das Gespräch:

»Glaube ihr nicht, daß es nicht schlimm sein soll; ich sitze nun ein
ganzes Jahr hier in der Klasse und finde es schrecklich.«

Aennchen blickte sie erstaunt an. Schon ein ganzes Jahr war sie hier
in der Schule – wie furchtbar gelehrt mußte sie sein! Aeußerlich
war freilich nichts Auffallendes davon zu sehen, außer daß sie
sich ziemlich ungeniert benahm, sich bequem zurücklehnte und die
Füße baumeln ließ und hinter des Herrn Lehrers Rücken an einer
Schokoladentafel knusperte. Sie war ein wunderhübsches Geschöpf mit
goldig rotem Haar, welches in tausend Löckchen um das reizende Gesicht
flatterte; gekleidet war sie in ein blaues Samtkleid, aus dem ihre
bloßen Schultern und Aermchen leuchtend hervorblickten. Aennchen
glaubte, noch nie ein solch entzückendes Wesen erblickt zu haben, und
atemlos flüsterte sie zu Martha hinüber:

»Wie heißt das Mädchen neben mir?«

Diese gab leise zurück: »Alma von Stolzau. – Aber jetzt darfst du
nichts mehr sprechen – die Stunde beginnt.«

Denn soeben hob die Schuluhr zum Schlage aus und als die neun Klänge
verklungen waren, da gab Herr Milde auf seinem Katheder, den er
inzwischen bestiegen hatte, ein Zeichen und nahm eine Violine zur Hand.

Wir singen heute den Choral: »Ach bleib’ mit Deiner Gnade« – sagte
er, »wer von den Neueingetretenen ihn von zu Hause her kennt, darf
mitsingen.«

Aennchen kannte ihn wohl, die Mama hatte ihn oft mit den Kindern
gesungen und so stimmte sie herzhaft mit in den Chor all der kleinen
Kehlen ein. Auch ihre Nachbarin Martha sang mit klarer Stimme mit, Alma
jedoch, obgleich sie schon so lange in der Schule war, hielt das feine
Taschentuch an die Lippen, als ob sie Halsweh hätte, und sang nicht
mit. Aennchen sah sie verwundert an.

Nach dem Choral betete die ganze Klasse stehend das Vaterunser und dann
trat plötzlich eine tiefe Stille ein, bis Herr Milde gebot, die Griffel
und Tafel sollten hervorgeholt werden. Das thaten nun alle mit großem
Eifer und auch Aennchen nahm mit geheimem Stolz ihre schöne Tafel
heraus – gewiß hatte keine der Schülerinnen eine gleiche – Marthas
Tafel war wenigstens ganz einfach von Schiefer und weißem Holz, doch
Alma besaß wirklich eine noch viel schönere und ihre Griffel waren mit
Goldpapier umwickelt. Aennchen staunte!

Nun nahm Herr Milde eine Kreide zur Hand und schrieb an die Tafel ein
kleines i – das sollten die Kinder nachschreiben und nun machten sich
Hunderte von kleinen Fingern an diese Arbeit, während der Herr Lehrer
von einer zur andern ging und Umschau hielt. Das gab harte Plage!
Aennchen mühte und mühte sich, aber sie brachte keinen geraden Strich
zu stande und bewundernd sah sie der kleinen Martha zu, welche schon
eine Menge von schönen i’s gemalt hatte. Alma jedoch saß ganz müßig da.

»Warum schreibst du nicht?« fragte Aennchen erstaunt.

»Ich kann es schon und habe keine Lust,« gab sie nachlässig zur Antwort.

Als aber Herr Milde zu den drei Mädchen kam, da zeigte es sich doch,
daß sie kein Recht hatte, zu thun und zu lassen, was sie wolle, denn er
schalt sie aus, daß sie ihrer neuen Nachbarin kein besseres Beispiel
gebe, die kleine Martha aber lobte er sehr und beauftragte sie,
Aennchen etwas mit Rat beizustehen.

So ging die erste Stunde zu Ende, schneller, als Aennchen es gedacht
hatte, und als es 10 Uhr schlug, da sprach Herr Milde:

»Nun dürft ihre eure Arbeit fortlegen und in den Garten springen!«

Jetzt ging ein Jubel und Lärmen los! Alle die vierzig Mädchen wollten
laut zur Bank hinausstürzen, Herr Milde aber gebot: »Eine nach der
andern und immer hübsch ruhig!« Da dämpften sie die fröhlichen Stimmen
und schoben sich artiger zur Thüre hinaus. Auch Aennchen wurde mit
fortgezogen in der Schar und befand sich schließlich in einem großen
Garten, der nur wenige Beete und Blumen, dafür aber einen großen Kies-
und Rasenplatz aufzuweisen hatte. Und auf diesen Plätzen spielten nun
die verschiedenen Klassen und vergnügten sich, wie sie wollten.

Aennchens Mitschülerinnen hatten bald einen großen Kreis gebildet, sie
kamen auch zu Aennchen und forderten sie auf, teilzunehmen. Fröhlich
trat sie in die Reihe zum »Ringelreihspiel« und begann bald herzhaft
zu springen und zu jauchzen und es ihrer Nachbarin, der ausgelassenen
Alma, nachzumachen. Als der Kreis sich wieder drehte, sah sie die
kleine verwachsene Martha ganz still und traurig außen stehen.

»Komm doch und spiele mit!« rief sie ihr zu.

»Geh, laß sie doch, sie ist ja bucklig,« wehrte ihr Alma laut und
rücksichtslos ab.

Erschrocken sah Aennchen sich nach der Kleinen um, ob sie die schlimmen
Worte gehört habe; wirklich glänzten dem armen Kind zwei große Thränen
in den Augen und flossen langsam die schmalen Wänglein herunter. Aber
Alma zog Aennchen mit sich fort und diese hatte einen solchen Respekt
vor der glänzenden Gefährtin, daß sie ihr nicht zu wiedersprechen
wagte, sondern sich im Gegenteil sehr geschmeichelt fühlte, so sehr von
ihrer Gunst beglückt zu werden. Denn hier auf dem Spielplatz behauptete
Alma entschieden die erste Rolle; sie gab alle Spiele an, entschied,
wer sich dabei beteiligen durfte, lachte und jubelte am lautesten,
sprang und tanzte am geschicktesten und verstand den Ball so hoch in
die Luft zu schleudern und wieder zu fangen, wie Aennchen es noch nicht
einmal von ihrem Bruder Fritz gesehen hatte. Sie staunte nur so vor
Bewunderung und betete die neue Freundin förmlich an.

Freilich, als die Freiviertelstunde vorüber war und der Unterricht
wieder begann, da mußte die Bewunderung für Almas Leistungen bald ein
Ende finden, denn der Lehrer hatte gerade bei ihr immer am meisten zu
tadeln und zu rügen.

Aennchen aber war ganz eingenommen von ihrer Nachbarin und diese
verstand so reizend und witzig zu plaudern und ihr heimlich eine Menge
Scherzhaftes zuzuflüstern, daß sie ganz den Unterricht vergaß und sich
nur immer unterhalten wollte. Schon machte Herr Milde ernste Augen
und sah oftmals herüber zu den kleinen Klatschmäulchen – Martha stieß
die Nachbarin heimlich mit dem Fuße an, doch ruhig zu sein – allein
Aennchen war wie bezaubert und die Folge ihrer Unachtsamkeit war
schließlich, daß der Lehrer, ordentlich böse geworden, ihr am Schluß
der Stunde die doppelte Hausaufgabe zuerteilte, als den andern, und
Alma wurde gar ein Tadel ins Buch geschrieben.

Aufs tiefste beschämt nahm Aennchen die Strafe hin und suchte beim
Aufbruch ganz zerknirscht ihre sieben Sachen zusammen; Alma jedoch
flüsterte ihr zu, sich doch nichts daraus zu machen, dergleichen würde
wohl noch öfter vorkommen. Sie faßte die neue Freundin unter dem Arm
und zog sie mit auf die Straße. Unten an der Ecke des Hauses hielt ein
reizender kleiner Wagen mit zwei munteren Ponies bespannt. Wie staunte
Aennchen, als Alma darauf zusprang, in einem Nu den Bock erreichte und
dem Kutscher die Zügel aus der Hand nahm.

»Adieu, mein Herz, auf Wiedersehen morgen!« rief sie lachend, dann
schlug sie auf die Pferdchen ein und fort ging es im sausenden Galopp.

Aennchen stand noch lange und sah ihr nach; sie kam sich recht armselig
vor, so zu Fuß nach Haus traben zu müssen, während die Freundin so
stolz kutschieren konnte. Als sie noch dastand, kam eben die kleine
bescheidene Martha vorübergegangen. Sie blieb stehen und fragte
freundlich:

»Willst du vielleicht mit mir kommen, Aennchen?«

»Wo wohnst du denn?« fragte diese ziemlich kühl, »wir haben sicher
nicht denselben Weg.«

»O doch,« erwiderte Martha. »Wir wohnen sogar sehr nahe zusammen und
ich habe dich schon oft in eurem schönen Garten spielen sehen, denn
meine Mutter hat die Wohnung in eurem Hinterhause seit einiger Zeit
gemietet.«

»Aber warum bist du denn dann niemals zu mir in den Garten gekommen?«
fragte Aennchen überrascht.

»Mutter erlaubte es nicht; sie sagte, wir hätten kein Recht dazu,«
war die bescheidene Antwort. »Auch habe ich zum Spielen beinahe keine
Zeit. Ich muß Mütterchen zu Hause an die Hand gehen und meiner kranken
Schwester Gesellschaft leisten.«

»Aber du bist ja noch so klein?« staunte Aennchen.

Ein wehmütiges Lächeln fuhr über das sanfte Gesichtchen Marthas.
»Freilich bin ich noch klein und schwach,« sagte sie, »aber ich thue
eben, was ich kann; später wird es schon besser werden.«

Sie waren an Aennchens Haus angelangt; eine große, prächtige
Eingangspforte führte hinein; weiter unten bildete eine schmale
Thüre einen Durchgang, welcher zum Hinterhause führte. Hier schieden
die beiden Schulmädchen voneinander; Aennchen sprang fröhlich und
leichtherzig die Treppe hinauf und Martha schlich still von dannen.

Was hatte Aennchen heute zu Mittag alles zu berichten! Ihre ganze
Phantasie war noch von der neuen Freundin Alma angefüllt, so daß sie
ganz darüber vergaß, der Mama von der kleinen verwachsenen Martha zu
erzählen. Sie kam sich den Brüdern gegenüber höchst wichtig mit ihren
Erlebnissen vor und als Bruder Fritz sie wie sonst necken wollte,
da meinte sie sehr stolz, diese Zeiten seien vorbei, sie sei nun ein
Schulmädel und wolle sich nichts mehr gefallen lassen.

Nach Tisch mußte Fritz wieder in die Schule fort; Annchen aber hatte
keine Stunde und da es fatalerweise zu regnen begann, so konnte nicht
einmal in den Garten gegangen werden. Aennchen rief die kleinen Brüder
zu sich auf den Hausflur zum Spielen; sie wußte zwar, daß um diese
Zeit, wenn Papa schlafen wollte, nicht viel Geräusch gemacht werden
durfte, und anfangs ging alles ganz still und artig zu. Bald aber fing
sie mit den kleinen Knaben an, laut herumzutollen und Hermännchen so
lang zu necken, bis er tüchtig zu schreien begann. Nun kam der Vater
mit rotem Kopf zornig zur Thüre heraus und rief:

»Du nichtsnutziges kleines Mädel! Kannst du mich denn niemals schlafen
lassen? Hast du keine Hausaufgabe für die Schule zu machen?«

Aennchen murmelte »Ja.«

»Dann marsch in die Stube und nicht eher heraus, bis alles gut fertig
ist!«

So schlich denn Aennchen recht beschämt in die Kinderstube und setzte
sich an den großen Tisch, wo sie sich auf ihrer Tafel bemühte, die
aufgegebene Arbeit gut fertig zu bringen. Sie ächzte und seufzte dabei
und sah immer sehnsüchtig aus dem Fenster, denn es hatte bereits zu
regnen aufgehört und die Kinderfrau hatte die Brüderchen in den Garten
genommen. Wie schwer doch das Stillsitzen war und die i’s standen alle
so bucklig auf den Linien; doch endlich waren beide Seiten der Tafel
bedeckt und nun atmete sie auf und sprang empor, ließ Griffel, Tafel
und Ränzchen liegen, wie sie ausgebreitet waren – es zog sie hinunter
nach dem Garten.

Doch halt, was tönte da für ein fröhlicher Lärm die Straße herauf.
Pfeifen und Trommeln und Lachen und Schreien. Eben stürmte Fritz mit
den Büchern unterm Arme den Hausflur herein: »Aennchen, komm, es giebt
etwas zu sehen.« Und sofort flog diese mit ihm hinaus und starrte mit
entzückten Augen die Wunder an, welche da vorüberzogen. Voran winzig
kleine Pferde, auf welchen buntgekleidete Kinder saßen und standen,
dann eine Schar Musikanten mit Pfeifen und Trommeln, dann ein großer
großer Elefant, auf dessen Rücken lustige Aefflein Grimassen schnitten,
und diesen nach ein großes braunes Kamel. Und nun folgten noch ein
Zebra und eine Menge anderer Tiere, welche Aennchen nicht kannte,
es war ein Lärm und Getöse und die Gassenjugend jubelte und stürmte
hinterdrein. Aennchen wußte sich vor Entzücken kaum zu fassen und als
vom ganzen Zug endlich nichts mehr zu sehen war, da stürmte sie mit
Bruder Fritz die Treppe hinauf, den Eltern das Wunder zu berichten.
Papa hatte auch aus dem Fenster geschaut und meinte nun freundlich:

»Ja, ja, solch eine Menagerie ist wohl interessant und wenn meine
beiden großen Schulkinder sich bis morgen recht gut aufführen und gute
Noten nach Hause bringen, dann führe ich euch morgen abend in die
Vorstellung.«

Wer war glücklicher als die beiden Geschwister! Sie sprangen und
jubelten und konnten den andern Tag kaum erwarten. Fritz mußte Aennchen
alles erzählen, was er in der Schule schon von fremden Tieren erfahren
hatte, wo die Heimat der Elefanten und Kamele sei und wie sich die
verschiedenen andern Tiere alle benennen. Und gleich begannen sie dann
im Garten selbst mit den kleinen Brüdern Menagerie zu spielen.

Als Aennchen spät abends endlich erhitzt zum Schlafengehen herauf kam,
zankte Lisette tüchtig und sagte:

»Du hast heute wieder eine schöne Unordnung hinterlassen, Wildfang.
Als ich hereinkam, waren die Kleinen über deine Sachen her und ich
konnte sie nur gerade noch retten, indem ich alles rasch ins Ränzel
zusammenwarf. Nun magst du selbst sehen, ob alles in Ordnung ist.«

»Es wird schon in Ordnung sein,« erwiderte Aennchen leichtsinnig und
blickte nicht mehr nach dem Ränzchen um; sie ließ sich auskleiden und
schlief fröhlich ein.



Drittes Kapitel.

Mit dem linken Fuß zuerst aus dem Bett geschlüpft.


Der andere Morgen brach recht verdrießlich für Aennchen an, indem sie
verschlief. Lisette, welche sich heute bei der großen Wäsche, die im
Hause war, zu schaffen machte und der bei solchem wichtigen Ereignis
alles andere unbedeutend erschien, kam zu spät, sie zu wecken und
anzukleiden. So geschah es, daß Aennchen zuerst mit dem linken Fuß aus
dem Bett fuhr und deshalb schon beim Ankleiden recht verdrießlich und
weinerlich war. Mit knapper Not konnte sie noch einige Tropfen Milch zu
sich nehmen, dann mußte sie eiligst nach dem Ranzen greifen und ihren
Weg, vielmehr ihren Sturmlauf, nach der Schule antreten.

Dennoch gelang es ihr nicht, sie noch rechtzeitig zu erreichen, denn
als sie noch auf der Straße war, schlug die große Turmuhr bereits neun
Schläge aus und in atemloser Hast rannte sie daher in das Schulgebäude
hinein, die Treppe hinauf und in das Klassenzimmer, wo sie, unbekümmert
um die Störung und das Aufsehen, welches sie verursachte, ihren Platz
zu erreichen strebte. Aber Herr Milde trat ihr ernst und streng
entgegen und faßte sie bei der Hand:

»Langsam, langsam, mein Kind! Weißt du nicht, daß man beim Betreten
eines Zimmers höflich und fein grüßen muß? weißt du nicht, daß man
pünktlich in der Klasse zu erscheinen hat und wenn dies nicht der
Fall ist, wenigstens eine triftige Entschuldigung für die Verspätung
vorbringen muß?«

»Lisette hat mich zu lange schlafen lassen,« stotterte Aennchen
verlegen und unter den neugierigen Blicken der andern tief errötend.

»Nun und wie bittet man jetzt um Verzeihung?« fragte Herr Milde.

»Verzeihen Sie,« flüsterte Aennchen, aber die Bitte kam sehr gezwungen
heraus, denn es war zu peinlich für das Trotzköpfchen, hier so
öffentlich Abbitte thun zu müssen; bereits begann sich ihre üble Laune
wieder zu regen und indem sie die Unterlippe schmollend hängen ließ,
schlüpfte sie auf ihren Platz.

Hier begrüßte sie Alma sogleich lebhaft durch heimliches Zupfen,
Nicken und Flüstern und schon wollte Aennchen ein leises Gespräch mit
ihr beginnen, da stand Herr Milde vor ihr und begehrte die gefertigte
Hausaufgabe zu sehen. Hastig begann sie den Ranzen aufzuschnallen,
daß Bücher und Hefte durcheinander purzelten, und zog die schöne neue
Schiefertafel hervor mit einem Gefühle heimlicher Befriedigung:

»Nun wird Herr Milde sicher Respekt bekommen, wenn er die vielen i’s
sieht!«

Aber was war denn das? Die Seite war ja leer! Höchst erstaunt drehte
sie die Tafel auf die andere Seite, doch auch hier war kein einziges
i zu erblicken, nur ein wirres Durcheinander von Strichen und kleines
Gekritzel. Verblüfft starrte Aennchen darauf hin – war dies denn ihre
Tafel und wie war die Verwandlung vor sich gegangen?

»Nun, wo ist die Hausaufgabe? Du faules Mädchen hast sie wohl am Ende
gar nicht gefertigt?« fragte Herr Milde ernstlich erzürnt.

»Freilich, Herr Lehrer,« schluchzte sie, »ich hatte die beiden Seiten
vollgeschrieben und weiß nicht, warum sie jetzt leer sind – doch halt,«
ein Gedanke blitzte durch ihren Kopf, »gewiß waren es die unartigen
kleinen Brüder, welche mir darüber gekommen sind.«

»Wie konnten diese zu deiner Büchertasche gelangen? Hattest du sie denn
nicht gut verwahrt?«

»Nein,« weinte Aennchen, »weil die Menagerie vors Haus kam, ließ ich
alles liegen und sprang davon.«

»Also bist du wirklich allein schuld daran,« tadelte Herr Milde ernst,
»denn ein Mädchen, ob es noch so klein ist, soll vor allen Dingen stets
ordentlich reinlich und pünktlich sein. Solange sie das nicht ist, muß
sie für ihre Fehler bestraft werden, bis sie dieselben abgelegt hat.
Ich kann dir nicht helfen, Aennchen, ich muß deinen Eltern Anzeige von
dem Vorfall erstatten, damit diese dich nach ihrem Ermessen bestrafen
können.«

Damit entfernte sich Herr Milde und ließ Aennchen in einer trostlosen
Verfassung zurück. Ach, sie wußte wohl, womit ihre Eltern sie bestrafen
würden; warum mußte ihr das Unglück auch gerade heute passieren!

In dumpfem Brüten saß sie auf ihrer Bank und vernahm kaum etwas von dem
Unterricht und doch erzählte Herr Milde in solch schlichter fesselnder
Weise eine Geschichte vom lieben Heiland.

Als um zehn Uhr zur Freiviertelstunde die Mädchen alle wieder fröhlich
aus der Klasse strömten, da hatte sie heute nicht die geringste Lust,
ihnen zu folgen; doch Alma faßte sie einfach am Arm und zog sie mit
sich fort in den Garten hinunter. Und hier begann sie lebhaft auf sie
einzureden, sie solle doch nicht so thöricht sein und sich solche
Kleinigkeit so sehr zu Herzen nehmen, ihre Eltern würden ihr sicher
nicht gleich den Kopf deswegen abreißen.

»Du hast gut reden, Alma,« schluchzte Aennchen, »meine Eltern hatten
mir versprochen, mich, wenn ich eine gute Zensur mit nach Hause
brächte, in die Menagerie zu führen, und nun ist es nichts damit.«

»Weiter nichts?« meinte Alma geringschätzig, »aus dieser
gewöhnlichen Menagerie machst du dir etwas? Ich sage dir, da ist ein
Kunstreiterzirkus viel schöner und ich habe schon oft einen gesehen.
Soll ich dir zeigen, wie sie dort tanzen?«

Damit faßte sie ihr Röckchen zierlich an beiden Seiten, senkte sich
tief zu Boden und machte eine anmutige Verbeugung. Nun begann
sie vorwärts und rückwärts zu schreiten, erst langsam, dann immer
schneller, jetzt drehte sie sich rings im Kreis herum, die schmalen
Fußspitzen berührten den Boden kaum und im raschen Reigen flog sie
auf und nieder. Wie gebannt hingen Aennchens Blicke an der reizenden
Erscheinung; auch die andern Schülerinnen hatten ihre Spiele
eingestellt und standen atemlos im Kreis herum.

Als sie endlich ihren Tanz mit einer nochmaligen Verbeugung schloß, da
erschallte lautes Beifallsrufen aus den Reihen der Mädchen, nur einige,
welche Alma nicht leiden mochten, verharrten in mißgünstigem Schweigen
und ein größeres blasses Mädchen mit unfreundlichem Gesicht flüsterte
hämisch:

»Wie eine Gauklerin!«

Alma hatte die Bemerkung wohl vernommen und mit dunkelglühenden Wangen
stürzte sie auf die Sprecherin zu:

»Warum hast du mich Gauklerin genannt, Sarah Elich? nimm es gleich
zurück!«

Sarah Elich aber schwieg verstockt still, da drang Alma mit erhobenen
Armen auf sie ein und nur mit Mühe gelang es den Mädchen, die beiden
auseinander zu bringen. Zur rechten Zeit rief gerade die Schulglocke
die Kinder wieder ins Haus zurück, die leidenschaftliche Alma aber
folgte mit Thränen des Zornes und knirschenden Zähnen ihrem Ruf, und
ihr wunderschönes Gesicht sah ganz entstellt aus, als sie vor sich hin
murmelte: »Dieser Sarah werde ich es noch gedenken!«

Aennchen erschrak beinahe, als sie sie anblickte, und unwillkürlich
mußte sie, als sie wieder auf ihrem Platz saß, ihre Blicke vergleichend
zu ihrer Nachbarin zur Linken hinüberfliegen lassen, welche sie heute
den ganzen Morgen noch nicht beachtet und kaum eines Grußes gewürdigt
hatte. Martha war auch um zehn Uhr nicht in den Garten gegangen, da
sie sich vor dem wilden Mädchen gefürchtet hatte; doch saß sie mit
ihren sanften stillen Augen ganz zufrieden auf ihrem Sitz, als ob ihr
das größte Vergnügen zuteil geworden wäre. Unwillkürlich, beinahe ohne
zu wissen, was sie that, reichte ihr Aennchen die Hand hinüber und
mit einem überraschten beglückten Ausdruck legte Martha ihr schmales
Händchen hinein. Gesprochen wurde nichts dabei, aber Aennchen fühlte
sich mit einemmal viel ruhiger und der Gedanke flog ihr durch den Sinn:
Könnte ich doch diesem Mädchen ein wenig ähnlich werden!

Nun begann wieder der Unterricht und diesmal war Aennchen eine achtsame
Schülerin. Herr Milde las schöne Gedichte und Lieder vor, um sie der
Kinder Gedächtnis einzuprägen für die nächste Singstunde. Gar zu gut
gefiel Aennchen das schöne Lied:

    »Weißt du, wie viel Sternlein stehen an dem blauen Himmelszelt?«

Und als sie das hübsche Liedchen lernen mußte: »Ich hatt’ einen
Kameraden« – da schwebte merkwürdigerweise in ihrer Phantasie als
»treuer Kamerad« ihr nicht die schöne glänzende Alma, sondern die
kleine verwachsene Gestalt der armen Martha vor. So verging die Zeit
diesmal so rasch, daß sie beinahe mit Bedauern zwölf Uhr schlagen
hörte, und nun kehrte ihr auch ihr ganzes Unglück wieder ins Gedächtnis
zurück, als Herr Milde mit einem Briefchen auf sie zutrat und dasselbe
ihren Eltern zu bringen befahl. O sie wußte wohl, was es enthielt, und
wie schrecklich war es, dasselbe selbst übergeben zu müssen!

Den ganzen Heimweg über zermarterte sie sich den Kopf, wie sie sich
des Briefchens am besten entledigen könnte – wie? wenn sie es am Ende
unterschlug und gar nicht abgab, dann würde sie doch heute abend die
Menagerie besuchen dürfen! Aber »pfui Aennchen!« schalt sie sich selbst
aus, »das wäre ja abscheulich schlecht gehandelt und das Schlimmste,
was man begehen könnte!«

So schlich sie denn, zu Hause angelangt, recht kleinlaut die Treppe
hinauf, wo ihr die Mutter mit freundlichem Gruß entgegenkam: »Nun, mein
liebes kleines Mädchen, hast du eine recht gute Zensur mit nach Haus
gebracht?«

Bitterlich weinend, verbarg Aennchen ihr beschämtes Gesicht in der
Mutter Rock: »Ach nein, Mama, ich bin ein recht unartiges Mädchen
gewesen, der Herr Lehrer hat dir alles in dem Briefe geschrieben, aber
das Schlimmste, das Schlimmste weiß er doch nicht und ich kann es dir
nur leis ins Ohr sagen.« Damit drückte sie den Mund fest an das Ohr
der Mutter und flüsterte:

»Ich wollte das Briefchen unterwegs zerreißen und nichts davon sagen.«

Erschrocken rief die Mama: »O Aennchen, das hast du thun wollen! Wie
gut, daß dein frommer Engel dich noch rechtzeitig von solch schlimmem
Unrecht zurückgehalten hat. Was du auch je im Uebermut und Leichtsinn
begehen magst, es wird mich zwar immer sehr betrüben, aber ich kann
es dir doch eher verzeihen, als wenn du zur Unwahrheit und Heuchelei
deine Zuflucht nimmst! Und nun geh hinein, mein Kind, und wasche deine
verweinten Augen; ich werde indes Papa des Lehrers Brief bringen;
freilich kann es mit dem versprochenen Vergnügen für heute Abend nun
nichts werden.«

Ja, leider wurde nichts daraus, wenn auch die Eltern dem reuigen
Aennchen bald verziehen, als es so zerknirscht um Verzeihung bat.
Die kleinen Brüder bekamen auch Strafe, daß sie sich über die Tafel
der Schwester gewagt hatten. Als am Abend der Papa mit Bruder Fritz,
der eine gute Zensur mit nach Hause gebracht hatte, zur Vorstellung
fortging, da mußte sie brav bei Mama zu Hause sitzen und ihre Aufgaben
sorgfältig machen. Aber sie war heute doch voll Eifer dabei und es ging
ihr leichter von der Hand und als sie dann zu Bette ging, da betete sie
heute bei Mama in ganz besonders andächtiger Weise:

    »Hab ich Unrecht heut gethan,
    Sieh es, lieber Gott nicht an –
    Mache Du durch Christi Blut
    Gnädig allen Schaden gut.«



Viertes Kapitel.

Die Handarbeitsstunde.


Dienstag nachmittag sollte Aennchen die erste Handarbeitsstunde
bekommen. Als es zwei Uhr schlug, fand sie sich mit ihrem nagelneuen
Strickkörbchen, in welchem der rosenrote Wunderknäuel lag, in der
Schulstube ein, wo heute anstatt des Lehrers eine Dame den Vorsitz
führte. Es war ein liebes altes Fräulein mit silberweißen Haaren,
welche zu beiden Seiten der Stirne als dichte Löckchen unter der großen
schneeweißen Spitzenhaube hervorquollen. Sie trug ein grauseidenes
Kleid und weißen Kragen und Manschetten und sah so lieb und gütig aus
wie Aennchens Großmama, so daß diese gleich ein Herz zu ihr faßte und
zutraulich auf sie zusprang. Und auch alle andern Mädchen hingen mit
innigster Liebe an dem gütigen alten Fräulein, sie durften sie alle
»Tante« nennen und die wildesten wurden sanft und artig, wenn sie
sie mit ihren milden Augen fragend anblickte. Sie hatte für alle ein
gütiges Wort, einen freundlichen Scherz und in ihrem großen Pompadour,
den sie an der Seite trug, bewahrte sie für die allerartigsten sogar
immer kleine Schokoladeplätzchen auf, die sie dann am Schluß der Stunde
austeilte.

Das war eine gar lustige Stunde, in welcher sich die Mädchen bald so
heimisch wie zu Hause fühlten; das Fräulein sprach mit den Kindern
leichte französische Sätze, die sie bald verstehen lernten, und wenn
sie recht artig gewesen waren, wurden in der letzten Viertelstunde
fröhliche Liedchen gesungen. Aennchen hatte wie immer ihren Platz
zwischen Martha und Alma eingenommen und zeigte sich am Anfang nicht
wenig ungeschickt in der Führung der Stricknadeln, welche immer
anders wollten, als sie selbst sollte. Ach, und die Maschen hatten
eine so unüberwindbare Neigung, herunterzufallen – es war wirklich
zu ärgerlich! Wie staunte Aennchen, als sie die kleine Martha gleich
in der ersten Stunde an einem wunderschön gestrickten großen Strumpf
stricken sah; doch meinte diese lächelnd: »Das ist nicht mein erster.
Meine Mutter hat mich schon lange stricken gelehrt und beinahe alle
Strümpfe, die ich trage, habe ich mir selbst gestrickt.«

Das war wirklich fabelhaft und Aennchen hätte beinahe den Mut verloren
über einem solchen Ausbund von Vortrefflichkeit, wie sie sich
ausdrückte, wenn nicht ihre Nachbarin Alma sich auch so ungeschickt wie
sie selbst gezeigt hätte und dazu nicht einmal den guten Willen besaß,
es besser zu machen. Sie rümpfte das Näschen über die »langweiligen
Arbeiten«, wie sie sagte, und meinte: »Ich werde es ja gottlob doch
niemals nötig haben, meine Strümpfe selbst zu stricken.« Alma hatte
diese letzte Bemerkung so laut gegen Aennchen geäußert, daß selbst
das Fräulein sie vernehmen mußte auf ihrem Platz am Katheder. Langsam
richtete sie die sanften grauen Augen auf das unter ihrem Blick
errötende Mädchen und sprach mit ihrer leisen gütigen Stimme:

»Wenn ich dich recht verstanden habe, liebes Kind, so bist du der
Meinung, für dich wäre es nicht nötig, dich mit Handarbeiten abzumühen,
weil deine lieben Eltern durch Gottes Gnade so sorgenfrei gestellt
sind, daß auch deine Zukunft vollkommen gesichert erscheint. Vielleicht
interessiert es dich daher, eine kleine Geschichte von einem Mädchen zu
hören, das auch in seiner frühesten Jugend ähnliche Gedanken hegte wie
du, und dafür bitter bestraft wurde. Sie wuchs in einem hohen stolzen
Schlosse auf und hatte gütige Eltern, welche ihr alles gewährten, was
ein Kinderherz entzücken kann; sie speiste auf Silber und Kristall und
eine Schar von Dienern stand stündlich nur zu ihren Befehlen bereit.
Und an solchen mangelte es dem kleinen herrschsüchtigen Persönchen
nie, bald wollte sie auf dem großen Teich im Garten gerudert sein, bald
wollte sie in ihrer Pony-Equipage fahren oder es sollten ihr aus der
Stadt neue Spielsachen besorgt werden. Sie war so stolz, daß alle armen
Kinder ihr zu gering schienen, sie nur anzusehen, denn sie glaubte sich
über allen erhaben, und wenn ihre Lehrerin von ihr verlangte, sie solle
eine Aufgabe lösen, dann stampfte sie mit dem Füßchen und behauptete,
das Arbeiten sei nur nötig für arme Leute.

Aber sie sollte für ihren Uebermut hart bestraft werden, denn eines
Tages trat ihr Papa eine weite Reise an, von der er nicht wiederkehrte
– das Schiff, auf dem er fuhr, ging mit ihm unter. Nun war ihre
Mama eine Witwe und fremde Männer kamen ins Schloß, die Reichtümer
zu ordnen. Aber so sehr man suchte und suchte, es fanden sich keine
vor, im Gegenteil nur eine große, große Summe von Schulden, so daß
man auf das herrliche große Schloß und den Garten und die Felder und
Wälder Beschlag legte und der Mutter des kleinen Mädchens gar nichts
mehr übrig blieb, so daß sie eines trüben Tages das Schloß mit ihrem
Kinde verlassen mußte. So jung das kleine Mädchen auch war, es empfand
dennoch schon schwer die furchtbare Umwandlung, welche mit der Mutter
und ihr vorgegangen war; sie sah ihre arme Mama Tag und Nacht weinen
und sich abhärmen und in der kleinen kalten Dachkammer, in der sie
wohnten, war ihr einziger Gefährte die bittere Sorge und Not. Wohl
mühte sich Marguerites Mutter bis tief in die Nacht hinein mit ihren
feinen Fingern ab, Handarbeiten zum Verkauf zu verfertigen, aber der
Erlös reichte kaum hin, die beiden vor dem Verhungern zu retten.

Ach, und Marguerite hatte so gar nichts gelernt, auch an der Arbeit
ihr Scherflein mit beizutragen, ihre Finger waren gar so ungeschickt
und nichts ging ihr von der Hand. Als aber die Not immer größer wurde,
da fing sie doch an, der Mutter die Arbeiten abzusehen und sich selbst
daran zu versuchen, und siehe, als sie nun erst wirklich einmal wollte,
da ging es auch und sie brachte ganz hübsche Stickereien zu stande. Der
Kaufmann, dem sie dieselben brachte, empfand Mitleid mit ihrer Jugend
und Armut und bestellte neue zu guten Preisen! Das erfüllte sie mit
glücklichem Stolz. Aber es war noch nicht genug der Prüfung, die über
sie gekommen, denn nun begann ihre arme Mutter sehr leidend zu werden
und zu schwach, selbst etwas zu leisten. Welches Glück, daß nun das
Töchterlein imstande war, für sie einzutreten, und sich auch in der
Pflege geschickt und willig zeigte. Der Kaufmann, für den sie stickte,
ward ihr ein treuer Freund, welcher half, so viel er konnte, da er
den guten Willen des armen Kindes sah, und so war Marguerite wirklich
imstande, ihre arme Mutter bald ganz zu erhalten. Aber ihr Stolz war
gebrochen und mit tiefster Beschämung dachte sie oft daran, welch ein
unnützes stolzes Geschöpf sie einst in früheren Tagen gewesen. Der
liebe Gott führte sie denn durch Prüfungen und Irrwege schließlich zum
glücklichen Ziel und sie ist zufrieden und glücklich geworden. Und wißt
ihr, lieben Kinder wer die kleine Marguerite eigentlich war?« fügte
das alte Fräulein nach einer Pause noch leise bei: »Ich selbst bin es
gewesen.«

»Sie selbst?« riefen überrascht die Kinder, denen bei der schlichten
Erzählung Thränen des Mitleids in die Augen getreten waren, und Alma,
welche besonders aufmerksam diesmal zugehört hatte, fragte noch einmal:

»Sie selbst waren das vornehme Kind – und jetzt?« – – – Sie stockte.

»Jetzt bin ich eine arme Handarbeitslehrerin,« vollendete Fräulein
Marguerite mit einem unendlich wehmütigen Lächeln den Satz. »Glaubt
aber nicht, liebe Kinder, daß es mir je einfallen sollte, über mein
jetziges Los zu murren. Ich danke im Gegenteil dem gütigen Gott jeden
Tag, daß er mich so weise Wege geführt und davor bewahrt hat, ein
übermütiges stolzes Geschöpf zu werden, und fühle mich glücklich wenn
er mich ferner gesund erhält, euch, ihr kleinen Mädchen, durch meine
eigenen so schwer errungenen Kenntnisse auf die Schule des Lebens
vorzubereiten – möge aber keine von euch allen durch so harte Prüfungen
gehen müssen, als mir selbst bereitet waren!«

Die gute alte Dame hatte zwei helle Thränen in den Augen, als sie
endete, und keine von all ihren kleinen Zuhörerinnen war unbewegt.
Selbst Alma, so sehr sie es zu verbergen bemüht war zeigte sich tief
ergriffen und von dieser Stunde an war sie viel eifriger als vorher
bemüht ihre gütige Lehrerin zufrieden zu stellen.

[Illustration]



Fünftes Kapitel.

Lehrstunden.


Es waren nun bereits Wochen und Monate darüber hingegangen, seit
Aennchen zum erstenmal in die heiligen Hallen der Schule eingeführt
worden war, und sie war inzwischen so heimisch in derselben geworden,
daß ihr das Liebste gefehlt hätte, wenn sie derselben hätte fern
bleiben müssen. Verschwunden war alle Scheu vor den vielen kleinen
Mädchen, denn sie war jetzt mit allen bekannt und vertraut, wußte alle
bei ihren Namen zu nennen und hatte eine Menge Freundinnen unter ihnen
gefunden. Am meisten ging sie allerdings mit Alma Stolzau um, freilich
nicht zu ihrem Vorteil als Schülerin, denn Alma gab, obwohl sie ein
volles Jahr länger als die andern die Klasse besucht hatte und eine
der wenigen Repetentinnen war, doch nur zu oft durch Leichtsinn und
Flatterhaftigkeit Ursache zu Tadel bei den Lehrern.

So war auch unser Aennchen leider keine Musterschülerin geworden,
wenngleich ihr alles Lernen leicht ging und sie sich in keiner Weise
zu sehr plagen mußte. Aber es fehlte ihr eben die Ruhe und Stetigkeit.
Sie hatte es allerdings so weit gebracht, daß ihr die Buchstaben
des Alphabets keine unheimlichen Figuren mehr waren, vermochte im
Gegenteil, wenn auch etwas schwerfällig, zusammenhängende Wörter zu
entziffern; auch hatte sie bereits gelernt, ihren Namen zu schreiben,
wenn er freilich immer in sehr schräger Richtung auf den Zeilen lag,
und der Herr Lehrer hatte sogar versprochen, bald einmal mit Tinte es
versuchen zu lassen.

Aber der Rechenunterricht machte ihr gar viel Kopfzerbrechens und sie
vermochte oft tiefsinnig eine halbe Stunde über einem Rechenexempel
nachzugrübeln, wie viel 5 Birnen und 4 Birnen und 6 Birnen wohl
zusammen ergeben möchten, brachte aber zuletzt doch 13 Birnen heraus,
und das war doch nicht richtig. Oder sie zählte zusammen, daß 6 Pfennig
und 12 Pfennig 16 Pfennig betrügen, und das war doch sicher auch falsch.

In den biblischen Geschichtsstunden hingegen war sie eine brave
und aufmerksame Schülerin, sie hörte gar zu gern die wunderschönen
Geschichten vom Jesuskindlein mit an, wie es auf die Welt gekommen und
auf Erden gewandelt ist. Und wie die Erde geschaffen wurde und das
Paradies, in welchem die ersten Menschen gelebt, bis die böse Schlange
die Eva verführte, das war doch alles ganz wunderbar interessant und
auch alle die schönen Sprüche aus dem Katechismus prägten sich gar
leicht dem Gedächtnis ein.

Am liebsten aber von allen Stunden war und blieb für Aennchen die
Gesangstunde, diese bildete ihre ganze Wonne! Es konnte sich aber auch
keine von allen Schülerinnen rühmen, eine solch klare melodische Stimme
zu besitzen, keine vermochte sich eine Melodie so im Fluge einzuprägen
und mit Ausdruck vorzutragen, wie Aennchen. So war sie denn gar bald
zur ersten Chorführerin vorgerückt, welche sogar dem Lehrer behilflich
sein konnte, die andern im Takt zu halten, und wenn die Stunde zu Ende
ging, baten gar oft die Kinder:

»Bitte, bitte, Herr Milde, lassen Sie Aennchen noch etwas singen.«

Dann durfte sich Aennchen selbst ein Lied auswählen und sie that es gar
gerne. Bald sang sie mit ihrem süßen Stimmchen:

»Guter Mond, du gehst so stille durch die Abendwolken hin« – – oder
»Nachtigall, Nachtigall, wie sangst du so schön« – – oder auch »Ich
weiß nicht, was soll es bedeuten« – – und alle lauschten dann entzückt
ihrem Gesang.



Sechstes Kapitel.

Ein Tag bei Alma.


»Höre, Annchen, morgen ist mein Geburtstag, da hat meine Mama mir
erlaubt, dich für den ganzen Tag zu mir einzuladen,« sprach eines
Samstags am Schluß der Schule Alma zu Aennchen. Aennchens Augen
leuchteten, dennoch aber meinte sie zweifelnd:

»Wenn ich aber nur kommen darf! Am Sonntag hat Papa es immer gern, wenn
wir alle um ihn sind, und vielleicht denkt meine Mama auch, ich könnte
bei dir genieren den ganzen Tag.«

»Nun, du wirst schon sehen, daß sie es erlaubt, wenn meine Mama dich
noch besonders einladen läßt,« versicherte Alma eifrig und damit
trennten sich die Freundinnen.

Aennchen kam ganz aufgeregt nach Hause und erzählte ihrer Mutter von
der Einladung, diese aber schüttelte den Kopf und meinte:

»Auf die bloße Einladung deiner Freundin hin kann ich dich unmöglich in
ein fremdes Haus lassen.« Aennchen schlich betrübt davon.

Nachmittags aber läutete es an der Hausglocke und als Aennchen sehen
wollte, wer da sei, da stand ein riesengroßer Bedienter vor der Thüre
mit langem blauem Rock und großen goldnen Knöpfen daran und einer
breiten goldnen Borte am Hut und hielt ein zierliches Briefchen in der
Hand für Aennchens Mutter. Das Briefchen enthielt in wenigen Zeilen
eine sehr liebenswürdige Einladung für Aennchen von Almas Mama, welche
zudem noch bemerkte, für Abholen und Nachhausebringen werde sie selbst
Sorge tragen.

[Illustration]

Wer war glücklicher als Aennchen, denn die Einladung wurde angenommen
und nun sprang und hüpfte sie im ganzen Haus herum, freute sich auf
den kommenden Tag und sprang jede Viertelstunde zu Papa in die Stube:
»Süßes Papachen, glaubst du, daß morgen schönes Wetter wird?«

»Ein Wirbelsturm wird kommen und dich kleine Wetterhexe wie den
fliegenden Robert in alle Lüfte tragen,« rief der Vater endlich
ärgerlich lachend und jagte den kleinen Plaggeist hinaus.

Am Sonntagmorgen ging aber wirklich, wie Aennchen gewünscht, die Sonne
ganz wunderbar strahlend auf und der blaue Himmel lachte wolkenlos
hernieder. So konnte das weiße Mullkleidchen mit den rosaseidenen
Schleifen denn getrost angezogen werden und Aennchen sah sehr niedlich
darin aus.

Um zehn Uhr fuhr vor ihrem Hause Almas reizende Pony-Equipage vor und
der Diener kam herauf, den kleinen Gast abzuholen. Wie eine richtige
große Dame kam sich Aennchen vor, als sie dann so allein in dem
wunderhübschen Wagen saß, und sie grüßte ordentlich huldvoll zu den
Geschwistern hinauf, welche mit den Eltern zum Fenster heruntersahen,
ihr Aennchen noch abfahren zu sehen. »Ach, wie beneidenswert glücklich
doch Alma ist,« dachte Aennchen, als sie nun in deren Wagen so weich
dahinfuhr zur Stadt hinaus und lange schattige Alleen entlang, dann
durch Felder und Auen bis zu einem großen Park, dessen herrliche hohe
Bäume den Weg zu beiden Seiten dicht begrenzten. Und nun hielt der
Wagen vor einem reizenden kleinen Schloß, dessen Fenster und Zinnen im
Licht der Sonne blitzten und von dessen oberster Spitze eine rote Fahne
lustig in die Welt hinauswehte.

Kaum hielt der Wagen vor der Pforte des Schlosses, da flatterte schon
eine zarte, in rosenrote duftige Stoffe gehüllte Mädchengestalt daraus
hervor und dem Gaste entgegen.

»Willkommen, Liebling, willkommen!« rief sie und hing sich an Aennchens
Hals; beinahe zerdrückte sie bei ihrer heftigen Umarmung das große
Rosenbouquet, welches Aennchen als Geburtstagsgruß für sie in der
Hand hielt, und Aennchen wagte kaum mehr, es ihr zu bieten, denn es
kam ihr jetzt so armselig vor, weil die ganze Umgebung des Schlosses
hier wie ein einziger blühender Rosengarten erschien und Alma selbst
das reizendste Rosenkränzchen im goldenen Haar trug. Diese nahm die
Blumen dann auch ziemlich gleichgiltig hin, war jedoch von bezaubernder
Liebenswürdigkeit gegen ihren kleinen Gast und führte Aennchen gleich
die mit vergoldetem Gitterwerk gezierte Freitreppe des Schlosses
hinauf in einen reizenden Salon, wo eine vornehme Dame in weißem
Kleid nachlässig auf einem Ruhebett lag. Sie reichte dem schüchtern
errötenden und ängstlich knixenden Aennchen freundlich die Hand und
sprach einige gütige Worte; dann aber hielt sie die zarte weiße Hand an
die Stirn und sprach auf französisch zu Alma:

»Führe deine Freundin fort, mein Kind – ihr macht mich nervös bei der
Hitze. Zu Mittag sehen wir uns wieder.«

Sie winkte noch einen gnädigen Gruß und dann verließen die Mädchen das
Zimmer.

»Nun will ich dir vor allem meine Geburtstagsbescheerung zeigen,«
sprach Alma und flog Aennchen voran die Treppe empor zu einer Reihe von
glänzenden Gemächern. Das eine davon war Almas Wohnzimmer, welches mit
deren Schlafzimmer und dem Zimmer für die Gouvernante in Verbindung
stand. Annchen wußte sich vor Staunen nicht zu fassen; bei ihr zu
Haus war es doch sicher recht schön, aber eine solche Pracht hatte
sie noch nicht gesehen. Ueberall, wohin sie blickte, Seide und Samt,
Gold und kostbare Zierraten. Das Schlafzimmerchen Almas war wie eine
kleine Muschel mit rosa Atlas bis zur Decke ausgeschlagen und das
Bettchen glich mit seinen seidenen Kissen und Spitzenvorhängen einem
wahren Feenlager. Auf dem großen Tisch des Wohnzimmers und überall
auf umherstehenden Stühlen war eine solche Masse herrlicher Geschenke
ausgebreitet, daß Aennchen sie anfangs gar nicht zu überblicken
vermochte; da gab es Puppen und Puppenwagen und prächtige Bilderbücher,
Spielzeug und einen reizenden Ziegenbockwagen und neue Kleider, kurz,
was man sich nur denken kann.

Aennchen schwindelte fast beim Anblick aller Herrlichkeiten, Alma aber
sah ganz gleichgiltig aus und meinte:

»Die meisten dieser Geschichten langweilen mich; nur der
Ziegenbockwagen macht mir Freude. Wir werden nachher mit ihm fahren.«

»Darfst du denn alles thun, was du willst?« frug Aennchen.

»O ja! so ziemlich,« antwortete Alma. »Ich habe zwar leider eine
Gouvernante zur Aufsicht, die mir das Leben recht sauer macht. Sie ist
eine Französin und versteht kein Wort deutsch, aber ich werde schon mit
ihr fertig.«

Aennchen wurde ganz ängstlich zu Mute. »Eine Französin?« fragte sie,
»wo ist sie denn?«

»Sie hat heute den ganzen Tag Urlaub erhalten, ich habe Mama darum
gebeten,« lachte Alma. »Mama thut mir alles zuliebe, nur darf ich sie
nicht stören und zu laut in ihrer Gegenwart sein. Sie wollte auch
durchaus nicht erlauben, daß ich in die abscheuliche Schule geschickt
werde, aber mein Papa ist so streng; der hat darauf bestanden, weil er
sagt, ich hätte zu wenig Respekt vor meinen Lehrern zu Hause. Und so
sehr ich mich anfangs sträubte, ich mußte dennoch gehorchen.«

»Wenn du nicht in der Schule wärst, hätte ich dich nicht kennen
gelernt,« sagte Aennchen, »also bin ich doch froh, daß dein Papa darauf
bestanden hat.«

Die beiden Freundinnen umarmten sich, dann führte Alma ihren Gast in
einen kleinen Eßsalon und ließ dort Schokolade und Kuchen und süßes
köstliches Obst für sie auftragen. Wie herrlich Aennchen das alles
mundete! sie glaubte noch nie so gut gespeist zu haben.

Dann aber zog die unruhige Alma sie wieder fort in den Garten und von
da nach den Stallräumen. Hier schien der kleinen Schloßherrin liebstes
Revier zu sein, denn sie kannte alle Pferde und alle streckten ihr
grüßend die Köpfe entgegen. Sie kletterte vom Rücken des einen zum
andern und forderte Aennchen auf, es nachzumachen, diese aber wich
ängstlich zurück. Mit dem Stallburschen, welcher helles Riemenzeug
glänzend putzte, schien sie auf dem besten Fuß zu stehen; sie zupfte
ihn an seinen struppigen strohgelben Haaren, nahm ihm die kurze
Stummelpfeife aus dem Mund und versteckte sie, ehe er es sich versah,
in dem Heukasten.

»Nun mag der Michel schauen, wo er sie wiederfindet,« flüsterte sie
hinter seinem Rücken Aennchen zu, welche ganz stumm vor Erstaunen über
das seltsame Betragen dabeistand.

»Nun aber zum Ziegenbock! Ich habe den Wagen schon herüberschaffen
lassen,« rief Alma. Sie rannte Aennchen voran nach dem kleinen Stall
und zerrte einen großen weißen langhaarigen Ziegenbock hervor. Ein
kleiner Bursche, welcher in blaue Livree gekleidet war und gelbe
Stulpstiefeln trug, war beim Anschirren des Bocks an den Wagen
behilflich; dann stiegen die beiden Mädchen auf; Alma riß dem
Burschen, welcher zum Kutschieren aufspringen wollte, die Peitsche
aus der Hand und fuhr blitzschnell mit dem kleinen Gefährt davon. Der
Ziegenbock sprang und Alma jauchzte; Aennchen aber wurde es beinahe
ängstlich zu Mut und schüchtern bat sie: »Alma, sei doch nicht so
stürmisch, wir könnten herausfallen.«

»Du wirst dich doch nicht fürchten, kleiner Hasenfuß,« lachte Alma
übermütig und hieb immer stärker auf den Ziegenbock ein. Das mochte
diesem aber doch nicht gefallen und er begann störrig zu werden, zerrte
den Wagen nach rechts und nach links und blieb dann bockbeinig stehen.
So sehr Alma zerren und reißen mochte, er rührte sich nicht, da hob sie
die Peitsche zu einem so heftigen Schlag aus, daß der Bock einen Sprung
machte; die beiden Mädchen wurden aus dem Wagen geschleudert, fielen
aber zum Glück so weich auf einen Heuhaufen, daß sie keinen Schaden
erlitten; der Bock aber rannte mit dem reizenden kleinen Wagen über
Stock und Stein davon, daß alles in Stücke sprang und nach allen Seiten
hin die Räder und Kissen auseinander flogen.

Als sich die Kinder betäubt emporrichteten, waren von dem ganzen neuen
Wagen nichts mehr als Trümmer zu sehen; den Bock hat ein Gärtnerbursche
eingefangen und führte den Widerstrebenden soeben nach seinem Stall.

Aennchen war vor Schreck ganz blaß und zitterte an allen Gliedern.

»O weh, was werden deine Eltern sagen, wenn sie es erfahren?« jammerte
sie.

Alma sah auch ziemlich verdrossen aus. »Papa wird freilich etwas
zanken,« meinte sie, »aber wenn ich Mama vorklage, wie sehr ich
selbst erschrocken bin, dann nimmt sie mich schon in Schutz. Diesem
abscheulichen Bock aber will ich es noch vergelten; er soll drei Tage
nicht genug zu fressen kriegen. Für uns ist jetzt Tischzeit, es hat
schon geläutet und wir müssen uns erst noch die Hände und Gesicht
waschen, bevor wir ins Speisezimmer dürfen.«

Damit führte sie Aennchen wieder nach dem Schlosse zurück und als
sich die beiden Mädchen gesäubert und geordnet hatten, traten sie in
einen wundervollen Speisesaal ein, in welchem Almas Mutter bereits
mit einem großen stattlichen Herrn zu Tische saß und voll Ungeduld
die beiden erwartete. Es waren vier Gedecke auf die große lange Tafel
gelegt, welche mit einem großen silbernen Tafelaufsatz und einer Menge
Weinflaschen und Kristallschalen bedeckt war. Hinter jedem Stuhl stand
ein Diener in blauer silbergestickter Livree; sie standen alle so steif
wie von Holz und Aennchen war vor Schüchternheit und Staunen über all
die Pracht die kleine Kehle beinahe zugeschnürt. Sie konnte gar keinen
Genuß an all den köstlichen Speisen haben, welche in langer Reihenfolge
angeboten wurden und von denen sie sich selbst nach Belieben auf den
Teller füllen mußte. Wie schwer vermochten ihre kleinen ungeschickten
Hände damit umzugehen und wie bewunderte sie im stillen Alma, welche
mit solcher Leichtigkeit die schweren silbernen Bestecke handhabte. Die
herrlichen Braten und Puddings hätten ihr zu Hause an der gemütlichen
Familientafel gewiß das höchste Entzücken bereitet – hier konnte sie
vor lauter Angst keinen Genuß daran finden und wünschte nur immer, die
Tafel möchte bald zu Ende sein. Denn es ging so still und förmlich zu,
daß kaum ein Wort von den Anwesenden gewechselt wurde, selbst Alma
wagte unter den strengen Blicken des Vaters kaum laut zu sprechen.
Zuletzt füllte er allen die Gläser mit roten funkelnden Wein und sprach:

»Wir wollen jetzt auf die Gesundheit unserer Tochter trinken.« Darauf
stießen sie alle zusammen an, aber es geschah ganz ernst und steif.

»Ach,« dachte Aennchen für sich, »wie gemütlich ist es doch bei uns zu
Hause im Gegensatz zu hier, wenn wir es auch nicht so schön haben.«

Gegen das Ende der Tafel richtete Herr von Stolzau das Wort an Alma und
fragte:

»Hast du schon dein neues Gefährt probiert und ist es gut gegangen?«

»Ganz gut,« log Alma und stieß Aennchen unter dem Tisch mit dem Fuße
an, sie solle nichts verraten. Aennchen saß da wie mit Blut übergossen
und das Herz schlug ihr zum Zerspringen; sie atmete hoch auf, als nun
die Hausfrau das Zeichen zum Aufbruch gab und den Kindern die feine
Hand zum Kuß reichte.

»Unterhaltet euch gut diesen Nachmittag,« sagte sie freundlich –

»Und macht keine dummen Streiche,« setzte der Vater hinzu; dann durften
die Mädchen das Zimmer verlassen.

Kaum waren sie draußen, begann Aennchen verstört Alma zu fragen:

»Aber Alma, wie konntest du eine solche Unwahrheit sagen und den Unfall
verschweigen, der uns mit dem neuen Wagen passierte?«

»Sprich nicht so laut, Närrchen,« erwiderte Alma rasch und legte der
Freundin den Finger auf den Mund. »Ich werde doch nicht die Thorheit
begehen und mich selbst bei Papa anklagen, was er ohnedies noch früh
genug erfahren wird. Du hast keine Ahnung, wie furchtbar böse er sein
kann, und ich darf ihn schon Mamas wegen nicht reizen, welche immer
gleich angegriffen wird. Sie muß ihre Kräfte für die Gesellschaften
aufsparen und ich darf immer nur kurze Zeit um sie sein. Dann ist sie
freilich lieb und gütig gegen mich, aber ich werde ihr bald zur Last.«

»Wie merkwürdig!« staunte Aennchen sinnend. »Meine Eltern haben vier
Kinder und doch dürfen wir immer bei ihnen sein und werden ihnen nie
zuviel. Arme Alma, du thust mir leid; es ist so schön, von Papa und
Mama geliebt zu werden. Glaubst du nicht, etwas mehr Vertrauen deinem
Vater gegenüber würde diesen mehr erfreuen und milder stimmen?«

»Ich weiß es nicht und scheue den Versuch,« antwortete Alma kurz; dann
brach sie das Gespräch ab und forderte Aennchen auf, zum Spielen mit
in den Park zu kommen. Und gar bald hatten die leichtherzigen Kinder
alles Ernste vergessen und gaben sich mit voller Lust dem Vergnügen
hin. Von einem Spielplatz eilten sie zum andern; von der Schaukel zum
Krocketspiel und als sie an den großen klaren Fluß kamen, an welchen
der Park grenzte und an dessen Landungsplatz ein reizender, weiß und
grün gestreifter Kahn in den Wellen schaukelte, da rief Alma fröhlich:

»Wir wollen eine Kahnpartie machen und ich rudere dich bis zum andern
Ufer auf die kleine Insel hinüber.« Dabei stieg sie in den Kahn und
winkte mit ihrem Taschentuch einem vorüberfahrenden Schiffe zu.

»Aber darfst du denn allein rudern?« frug Aennchen zweifelnd.

»Nun, es ist mir zwar nicht gerade erlaubt, aber da Mademoiselle nicht
da ist, so kann es uns niemand verbieten.«

»Aber ich wage es doch nicht, mit dir zu fahren, wenn es verboten ist.«

»Schäme dich, du Hasenfuß!« rief Alma zornig und stampfte mit dem Fuße,
»du willst mir wirklich nicht das Geringste zulieb thun; das nenne ich
eine schöne Freundschaft.« Sie wandte sich schmollend ab. Das konnte
aber Aennchen nicht ertragen; freundlich schlang sie den Arm um ihren
Hals und versicherte, ihr alles zu liebe thun zu wollen; dann stieg
sie versöhnt zu der Freundin in den Kahn. Alma ergriff ein Ruder und
gab Aennchen das zweite in die Hand, indem sie ihre Freundin lehrte,
es zu gebrauchen. Das war keine leichte Arbeit und es gab viel Scherz
und Lachen, wenn Aennchen so ungeschickte Bewegungen machte. Alma
wurde immer übermütiger; zuletzt erhob sie sich im Kahn und begann,
ihn heftig zu schwanken. Das aber beängstigte Aennchen, der es vom
Schaukeln übel wurde, und halb weinend rief sie:

»O Alma, halt ein, es dreht sich alles mit mir herum.« Dies schien aber
gerade dem übermütigen Mädchen rechten Spaß zu machen und noch heftiger
schaukelte sie den Kahn hin und her. Da – ein lauter Schreckensschrei
aus Aennchens Brust – dieses hatte den Halt verloren und stürzte
kopfüber mitten ins Wasser. Mit großen entsetzten Augen starrte Alma
schreckensbleich auf die leere Stelle im Kahn und in das unruhig
wogende Wasser, dann schrie sie laut um Hilfe.

Da teilte sich plötzlich das Gebüsch und ein etwa vierzehnjähriger
Gärtnerbursche sprang daraus hervor und in den Fluß hinein. Mit
kräftigen Armen durchteilte er die Flut, bis er die Stelle erreichte,
an welcher das verschwundene Kind soeben wieder sichtbar wurde, dann
ergriff er es mit sicherer Hand und hob es in den schwankenden Kahn,
bevor er sich selbst hinein schwang.

[Illustration]

»Das hätte schlimm ausfallen können, kleines Fräulein,« sagte er
aufatmend zu der noch immer zitternden Alma, indem er die Ruder ergriff
und den Kahn zurücklenkte. Alma kniete neben der wie leblos daliegenden
Freundin am Boden.

»Ist sie tot, Jakob?« flüsterte sie entsetzt, das totenbleiche
Gesichtchen betrachtend.

»So schlimm ist’s wohl nicht,« meinte jener beruhigend, »aber sie muß
so rasch wie möglich aus den nassen Kleidern, daß keine Erkältung
nachfolgt.«

»Ich wage mich aber nicht mit ihr ins Schloß, da es sonst Papa
erfährt,« flüsterte Alma, »o was sollen wir thun?«

»Wenn es Ihnen recht ist, Fräulein Alma, bringen wir das Fräulein zu
meiner Mutter, die weiß sicher Rat,« sprach Jakob nachdenklich.

»O Jakob, das ist das beste, du bist wirklich Goldes wert,« rief Alma
befreit aufatmend dem Gärtnerburschen zu, der es eigentlich nicht um
sie verdient hatte, da sie ihn oft mit schlimmem Hochmut behandelte und
ihm kaum einen Gruß schenkte. Er war aber ein guter Bursche und hatte
das alles im Augenblick vergessen.

Sorgsam half er seiner kleinen Herrin, das fremde Mädchen in das alte
Gärtnerhäuschen zu bringen, wo seine Mutter, welche früher Almas Amme
gewesen war, die kleinen Gäste bereitwillig aufnahm und sich sogleich
damit beschäftigte, Aennchen aus den nassen Kleidern und ins Bett zu
bringen, wo diese in der Wärme bald die Augen wieder aufschlug und
behauptete, sich ganz wohl zu fühlen.

Wer war glücklicher als Alma! Sie saß an dem großen Bett in der
Gärtnerstube und plauderte der Freundin vor, welche mit bleichen
Wänglein dalag und sich die seltsame Veränderung kaum erklären
konnte. Währenddem kochte die Frau Gärtnerin den beiden Mädchen einen
prächtigen Kaffee, zu dem sie kräftiges Schwarzbrot und Honig auftrug,
und so fanden sie das Abenteuer erst recht lustig und unterhaltend.
Als Aennchens Kleider am Herde getrocknet waren, wurde sie wieder in
dieselben gehüllt; schon war der Nachmittag darüber zu Ende gegangen
und Aennchen erinnerte sich daran, daß ihr die Mama befohlen habe, bis
um sieben Uhr zu Hause zu sein. Sie fühlte sich auch recht müde und
schwer in den Gliedern, und so vermochte sie Alma nicht zu halten. Sie
geleitete den Gast zum Schlosse zurück, wo sie den Wagen anzuspannen
befahl, dann wollte sie Aennchen zu ihren Eltern führen, damit sie
sich bei diesen verabschieden konnte. Aber beide hatten keine Zeit für
die Kinder und es war Alma willkommen; so wurde auch nichts von der
verunglückten Kahnpartie verraten.

»Und zu deinen Eltern sprich auch nicht davon, nicht wahr, Aennchen?«
bat sie dieselbe dringend beim Einsteigen noch. Diese gab widerwillig
nach; sie hatte noch nie ein Geheimnis vor den Eltern gehabt und wußte
nicht wie sie es zu stande bringen sollte. Aber endlich versprach sie
es doch.

Mit bedeutend anderen Gedanken, als diesen Morgen, trat Aennchen ihre
Heimfahrt an; sie war müde und schläfrig, und als sie so in den weichen
Kissen zurückgelehnt saß, dachte sie voll Sehnsucht an ihr liebes
Daheim und sprach leise vor sich hin:

»Arme Alma, ich möchte doch trotz deines Reichtums nicht mit dir
tauschen und fühle mich viel glücklicher als du.«

Aennchen hielt wirklich ihr Versprechen und verriet den Eltern nichts
von der Wasserpartie, trotzdem ihre Mutter sehr verwundert war über
den zerstörten Zustand der Kleidung, in welcher ihr Töchterlein nach
Hause zurückkehrte. Aber es war wenig Zeit, darüber zu sprechen,
denn Aennchen hatte einen so tüchtigen Katarrh von ihrem Besuch mit
gebracht, daß sie gleich auf ein paar Tage ins Bett gesteckt wurde, bis
sie wieder wohl genug war, die Schule zu besuchen.

[Illustration]



Siebentes Kapitel.

Ein Schulspaziergang und seine Abenteuer.


Die Zeit ging dahin so rasch, wie im Fluge. Der Frühling wich dem
Sommer, aus dem Sommer wurde Herbst und dann folgte der Winter mit
seinen Weihnachtsfreuden. Aennchen war nun schon lange Zeit in der
Schule; sie hatte die erste Klasse verlassen und war mit allen
Mitschülerinnen zugleich in die zweite Klasse vorgerückt, nachdem sie
in der großen Prüfung gut bestanden hatte.

Das war ein wichtiger Tag für all die kleinen Schulmädchen gewesen, als
die Prüfung abgehalten wurde. Sie waren alle in ihren Sonntagskleidern
im großen Prüfungssaale erschienen, die Hefte und Bücher hatten
auch ein schönes neues Gewand erhalten und es war ein feierlicher
Anblick, als nun in den großen weiten Saal all die Herrn Lehrer und
Prüfungskommissare eintraten und sich gegenüber der Klasse aufstellten.
An den Wänden herum saßen die Eltern der kleinen gelehrigen Mädchen
und lauschten ängstlich, ob ihre Lieblinge auch ordentlich bestehen
würden. Aber gottlob, es ging! sie hatten alle brav gelernt und sich
gut vorbereitet, und nur selten mußte eine Schülerin auf eine Frage
des Herrn Milde das Köpfchen senken: der Herr Prüfungskommissar war
sehr zufrieden und als das Examen zu Ende war, da trat er in seinem
ordengeschmückten Frack vor und hielt eine lange Anrede an die Kinder,
in der er sie wegen ihres Fleißes und ihrer Aufmerksamkeit belobte.

»Ich darf mit frohem Herzen versichern, daß ihr eure Aufgabe glücklich
gelöst habt,« schloß er zuletzt, »darum entlasse ich euch jetzt mit
Zufriedenheit. Geht nun nach Hause zu euren Eltern und erzählt ihnen,
wie brav ihr die Prüfung bestanden habt.«

Tiefe Stille herrschte im Saal, niemand wagte einen Laut, da tönte
plötzlich Aennchens helle Kinderstimme klar und vernehmlich als Antwort
auf des Herrn Kommissars Rede:

»Meine Mama und mein Papa sind schon selbst da und haben alles gehört.«

Sie verstummte erschrocken, als die Anwesenden in lautes Lachen über
ihre Keckheit ausbrachen, denn sie war so ganz bei der Sache gewesen,
daß sie vergessen, wo sie sich befand, und nur immer mit Stolz daran
gedacht hatte, daß die Eltern Zeugen ihres Sieges seien. Aber der Herr
Kommissar war nicht böse, er klopfte sie freundlich auf die Schulter
und führte sie den Eltern zu. Mittags gab es zu Hause bei Aennchen
dann einen großen Festschmaus, bei dem auf die Gesundheit der kleinen
Gelehrten getrunken wurde.

Der Abschied von dem guten Herrn Milde wurde der ganzen Klasse sehr
schwer und alle weinten heiße Thränen, selbst Alma, welche dies Jahr
mit vorrücken durfte.

Aber auch der Lehrer der nächsten Klasse war sehr gütig und freundlich;
er hieß Haase und von dessen Klasse rückten alle in diejenige des Herrn
Müller vor, welcher es nicht weniger als seine Vorgänger verstand, den
Kindern den Lehrunterricht angenehm und anregend zu machen.

Zur Sommerszeit hatte der Herr Lehrer eine neue Sitte eingeführt:
nämlich allwöchentlich, wenn das Wetter es nur irgendwie erlaubte,
mit seinen Schülerinnen einen Spaziergang hinaus aufs Land zu machen.
Er verband mit diesen Spaziergängen zugleich den Unterricht in der
Botanik, führte die Kinder auf blumige Wiesen und in schöne Wälder,
ließ sie dort Blumen und Kräuter pflücken und lehrte sie dann deren
Namen und Arten erkennen und von einander unterscheiden, nannte ihnen
die lateinischen Namen und belehrte sie über den Nutzen und die
Schädlichkeit jeder einzelnen Pflanze.

Daß natürlich jeder derartige Ausflug für die Schülerinnen eine Quelle
des reinsten Vergnügens wurde, daß sie von einem Spaziergang zum andern
sich immer wieder freuten und denselben kaum erwarten konnten, ist
leicht begreiflich – am höchsten aber steigerte sich ihr Jubel, als
eines Tages der Lehrer verkündete, den nächsten Tag sollte ein ganzer
Tagesausflug veranstaltet werden.

Als Stunde des Aufbruchs war 8 Uhr morgens festgesetzt und jede der
Schülerinnen hatte sich mit etwas Lebensmitteln und Geld zu versehen;
als Ausflugsort war ein höchst romantisch gelegenes Thal bestimmt.

Das war nun eine Freude unter den Kindern; besonders Aennchen konnte
den andern Morgen kaum erwarten. Am Abend schon legte sie sich alles
Nötige für den nächsten Tag bereit und bat und bestürmte ihre Mama so
lange, bis diese die Erlaubnis gab, das neue rotgedruckte Kleidchen
anziehen zu dürfen, obgleich eigentlich Mama meinte, ein derartiges
Gewand sei viel zu schön und zu empfindlich zu einer Partie, denn für
solche Spaziergänge sei oft gerade das Schlechteste gut genug. Aber
klein Aennchen war ein eitles Ding, sie wollte nun einmal ihren Kopf
durchsetzen und sich den Mitschülerinnen in dem schönen neuen Kleide
zeigen – dafür versprach sie, auch recht acht darauf zu geben, damit es
gut geschont bleibe. In ihre große grüne Botanisierbüchse packte sie
alle möglichen Vorräte, welche ihr die gute Mama aus der Speisekammer
zu nehmen erlaubte – Butterbrot mit Wurst und kaltem Braten belegt,
Aepfel und Birnen und Zwieback und Schokolade. Die alte Hanne schnallte
ihr das Regenmäntelchen sorgsam in einen Riemen, damit sie es bequem
tragen könne; Aennchen aber rümpfte das Näschen und meinte, jetzt bei
dem herrlichen Wetter sei ein Mantel doch gänzlich überflüssig und sie
habe keine Lust, sich damit zu belasten.

Und richtig, den andern Morgen ließ sie wirklich wie aus Versehen die
Rolle zu Hause liegen, und als die Kinderfrau sie dann bemerkte und
ganz aufgeregt damit zu ihrer Herrschaft kam, da war es lang zu spät,
den kleinen Flüchtling noch einzuholen. Denn Aennchen marschierte
längst mit ihrer ganzen Klasse, von dem Herrn Lehrer angeführt, über
Stock und Stein davon.

Die Mädchen hatten sich alle zur richtigen Stunde auf dem großen
Platz vor der Schule eingefunden; nur einige wenige, welche durch
Unwohlsein abgehalten waren, fehlten; darunter Martha Traugott, deren
schwächlicher Körper eine so weite Tour nicht zu machen erlaubte.
Aennchen aber flog vor allen anderen auf ihre Freundin Alma von
Stolzau zu, welche auch vollständig wie zu einer Reise gerüstet, im
weißen Wollkleidchen und großen Strohhut erschienen war und voll Stolz
sogleich Aennchen ihr wohlgefülltes Portemonnaie zeigte, welches sie in
einem zierlichen Täschchen bei sich trug.

»Sieh’ her!« flüsterte sie »zwei Thaler hat mir Mama für den heutigen
Tag gegeben und ich habe aus meiner Sparbüchse auch noch einen dazu
genommen – da werden wir wohl reichen!«

Aennchen blickte ganz beschämt auf ihr eigenes Beutelchen nieder; sie
war sich so unendlich reich vorgekommen, als sie die Mark von den
Eltern erhalten hatte; nun aber hatte Alma so sehr viel mehr. Diese
aber tröstete sie:

»Wir teilen alles mit einander und wollen es uns recht wohl sein
lassen. Weißt du, was mir das liebste ist: wenn ich heute einmal recht
nach Herzenslust Käse essen kann in einem Wirtshaus.«

»Aennchen und Alma, was habt ihr wieder für Heimlichkeiten
miteinander?« rief von der Spitze des Zuges Herr Müller zurück.
»Schließt euch ordentlich in die Reihen des Zuges ein und nun frisch in
einem Trab marschiert: Rechts, links, rechts, links, – dann wollen wir
ein Liedchen singen, da geht das Marschieren noch einmal so gut!«

Und mit hellem Klange begann der ganze Mädchenchor aus frohen Kehlen
das schöne Wanderlied zu singen:

    »Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus –
    Da bleibe, wer Lust hat, mit Sorgen zu Haus –
    Wie die Wolken dort wandern am himmlischen Zelt,
    So steht auch mir der Sinn in die weite, weite Welt.

    – Herr Vater, Frau Mutter, daß Gott Euch behüt’!
    Wer weiß, wo in der Ferne mein Glück mir noch blüht –
    Es giebt so manche Straße, die nimmer ich passiert,
    Es giebt so manchen Wein, den nimmer ich probiert!«

Das war ein gar köstlicher Marsch in der hellen Morgenluft über die
herrlichen grünen Wiesen, auf welchen so unzählige Blümlein, weiße
und rote, blaue und gelbe, blühten und von denen die Mädchen schon am
liebsten recht viel gesammelt und in ihre Botanisierbüchse gesteckt
hätten, wenn der Herr Lehrer nicht gemahnt hätte: »Es kommt alles noch
besser und schöner. Wir haben einen großen Wald zum Ziel und kommen
an einem See vorüber, da werdet ihr jubeln vor Freude, denn so etwas
Schönes habt ihr schwerlich je gesehen.«

Der Herr Müller war heute selbst so glücklich und vergnügt wie
seine kleinen Schülerinnen alle, er scherzte mit ihnen, die sich zu
ihm heran drängten, führte bald die eine, bald die andere bei der
Hand und gab ihnen gern auf alle Fragen, die sie an ihn richteten,
bereitwillig Auskunft und Antwort. Da vergingen die Stunden, ehe man
es sich versah, und die kleinen Reisenden kamen gar nicht dazu, eine
Ermüdung zu spüren. Sie passierten mehrere Dörfer und wo sie vorüber
kamen, da liefen die Leute und Kinder zusammen und hatten ihre Freude
an den vielen kleinen fröhlichen Mädchen, welche so lustig singend
vorüberzogen. Die Sonne fing freilich mit jeder Stunde mehr an zu
glühen, die Bäckchen wurden heiß und die Schritte der Wandernden
träger; gar manches der Mädchen hatte schon heimlich ins Körbchen
gegriffen und von dem mitgenommenen Imbiß genascht, besonders Aennchen
und Alma hatten sich ihre Vorräte schon tüchtig schmecken lassen, aber
nun meldete sich der Durst und noch war weit und breit das Wirtshaus
nicht zu sehen, in welchem der Herr Lehrer mittags zu rasten gedachte.

Die Kinder seufzten: »Der Durst! o, der böse Durst!« Herr Müller aber
tröstete: »Um so köstlicher wird euch dann die Erquickung munden, ihr
durstigen Schelme. Gewöhnt Euch nur ein wenig an Strapazen, das kann
euch später einmal gut thun.« Und nun begann er, ihnen die Geschichte
von einem Handwerksburschen zu erzählen, was dieser alles auf seiner
Wanderschaft durch die weite Welt zu erdulden gehabt hatte, wie er
mit bloßen blutenden Füßen und leerem hungrigen Magen oft tagelang
herumirren mußte, und das Herz der kleinen Hörerinnen war so voll
von Aufmerksamkeit und Mitleid, daß sie ihre eigene Erschöpfung ganz
vergaßen und ehe sie es sich versahen, vor einem großen ländlichen
Wirtshaus standen, das, von einem grünen schattigen Garten umgeben,
in friedlicher Ruhe dalag. In dem Garten, welcher freilich mehr ein
Grasplatz zu nennen war, standen eine Menge hölzerner Tische und Bänke
in langen Reihen unter großen weitästigen Lindenbäumen – soeben trat
die Frau Wirtin aus dem Haus und mit vergnügten Knixen dem Herrn Lehrer
entgegen.

»Nun, Frau Wirtin, haben Sie für einen guten Imbiß gesorgt, wie ich
Ihnen geschrieben habe?« rief Herr Müller. »Ich bringe Ihnen dreißig
hungrige Mäulchen, welche alle gesättigt sein wollen.«

»Ei freilich, Herr Lehrer, habe ich dafür gesorgt,« rief eifrig die
Wirtin, welche sich höchst geschmeichelt fühlte. »Die jungen Fräuleins
dürfen nur bestellen, was sie am liebsten wünschen – ich habe Suppe und
Fleisch und Schinken mit Kraut und Butter und Käse, Milch und Kaffee.
So brauchen sie sich nur zu wählen.«

»Also Kinder, bestelle sich jedes nach Belieben,« ordnete Herr Müller
an – »ich rate aber jeder vor allem zu einem Teller warmer Suppe, das
ist jedenfalls das Gesündeste vorderhand.«

Die meisten Mädchen folgten des Lehrers Rat und wünschten sich, während
sie auf den Bänken nach Belieben Platz nahmen von der umhergehenden
Wirtin einen Teller warmer Suppe; als die Wirtin aber zu Alma und
Aennchen kam und frug:

»Hier darf ich wohl auch Suppe bringen?« da rief Alma, sich schüttelnd:

»Brrr, das wäre schön, wenn wir heute uns auch mit so abscheulicher
Suppe plagen sollten, wo wir doch endlich einmal thun und lassen
können, was wir wollen. Nein, Frau Wirtin, meine Freundin und ich
wünschen uns nur Käse und Bauernbrot mit Butter; bringen Sie uns für
einen Thaler Käse und für einen Thaler Bauernbrot.«

Die Wirtin sperrte vor Erstaunen die Augen weit auf.

»Für einen Thaler Käse und einen Thaler Schwarzbrot?« rief sie
verwundert, »das kann dem Jungferchen doch unmöglich Ernst sein, denn
das wäre ja so viel, daß ein halbes Hundert Kinder satt davon werden
können. Ihr habt wohl nur einen Scherz mit mir machen wollen?«

Alma hatte freilich nicht vorgehabt, einen Scherz zu machen; sie sah
nun aber doch ein, daß sie etwas recht Ungeschicktes vorgebracht hatte
in ihrer Unkenntnis mit Geldangelegenheiten; jetzt suchte sie ihre
Verlegenheit so gut als möglich zu verbergen, indem sie mit vornehmer
Miene befahl:

»Bringen Sie uns eben recht tüchtige Portionen Käse und Butterbrot –
ich werde sie dann bezahlen – auch saure Milch wünschen wir dazu.«

Und während dann die Schulmädchen alle sich die kräftige Brotsuppe und
danach eine Portion Fleisch und Gemüse trefflich schmecken ließen,
saßen Alma und Aennchen bei ihren ersehnten Genüssen, denen sie nicht
gerade in mäßiger Weise zusprachen. Sie hatten sich ein möglichst
verborgenes Eckchen ausgesucht, damit man sie nicht beobachten konnte,
und fühlten sich so glücklich und vergnügt wie die Könige bei ihrem
Mahle.

Aber der Schaden blieb nicht aus und ihre Unmäßigkeit rächte sich
bald, zumal sie zwischen den Käse und das Schwarzbrot hinein saure
Milch und Schokolade und Früchte naschten; denn noch hatten sie den
letzten Bissen nicht verzehrt, da wurde es den beiden mit einemmale
furchtbar übel und sie fingen vor Magenschmerzen laut zu stöhnen an.
Mit totenbleichen Gesichtern und großen verglasten Augen saßen die zwei
Freundinnen auf der Bank, während sich die anderen Mädchen neugierig
um sie scharten und der Herr Lehrer sich von der Wirtin über das Mahl,
welches die beiden eingenommen hatten, berichten ließ. Da konnte er
freilich leicht begreifen, daß sie sich den Magen verdorben hatten, und
er ordnete an, daß sie in das Schlafzimmer der Frau Wirtin gebracht
wurden, um sich dort von ihrem Unwohlsein zu erholen, während er mit
den andern Mädchen den Spaziergang weiter fortsetzen wollte.

[Illustration]

»Es thut mir leid, daß die beiden sich durch ihre Unmäßigkeit um das
schönste Vergnügen gebracht haben,« sagte er kopfschüttelnd, »aber ich
kann ihretwegen den Spaziergang der andern nicht aufschieben.«

Alma und Aennchen brachen in Thränen aus und beteuerten, sich wohl
genug zu fühlen, um auch weiter wandern zu können, aber ihre bleichen
Wangen straften sie Lügen und Herr Müller erklärte, dies nicht zu
erlauben; er befahl ihnen im Gegenteil, sich den ganzen Nachmittag
vollständig ruhig zu verhalten und nicht vom Hause zu entfernen; gegen
Abend würde er dann wieder mit den andern Schülerinnen kommen, sie
abzuholen; zum Heimweg sollte dann die Bahn benutzt werden, damit jede
weitere Ermüdung vermieden werden könnte. Und nachdem der Lehrer die
beiden Patientinnen nochmals der Frau Wirtin empfohlen hatte, entfernte
er sich mit den andern Schülerinnen, welche durch die Rast und das Mahl
neu gestärkt mit frischen Kräften und fröhlichem Sinn den Weg nach dem
Walde antraten.

Alma und Aennchen saßen mit hängenden Köpfchen und trübseligen Mienen
währenddem drin in der dumpfen Kammer der Wirtin und jammerten über
ihr Schicksal. Die gute Frau ging ab und zu und kochte ihren jungen
Gästen einen kräftigen Thee, welchen diese wohl mit sehr sauren Mienen
verschluckten, der ihnen aber so ausnehmend wohl für den Magen that,
daß sie sich bald völlig frei von Unwohlsein fühlten und den Wunsch
aussprachen, sich nun auch auf den Weg zu machen, welchen die andern
gegangen waren.

»Aber der Herr Lehrer hat doch befohlen, daß die beiden Jungferchen
ihn hier erwarten sollen?« meinte die Wirtin ängstlich, als sie die
Absicht der beiden wahrnahm. »Ich kann’s wirklich nicht erlauben, daß
Sie fortgehen. Bei mir ist’s ja auch recht schön draußen im Garten,
wir haben Hühner und Geisen und Bienenstöcke, da giebt’s genug zu sehen
für so junge Fräuleins.«

»Gut, so sehen wir uns diese an,« gab Alma zu und folgte der Wirtin aus
der Stube; kaum aber hatte die gute Frau den Rücken gewandt, flüsterte
sie Aennchen ins Ohr: »Wir thun eben doch, was wir wollen und folgen
der Wirtin nicht. Ich hole nur rasch mein Körbchen und die Hüte noch
herbei, dann machen wir uns heimlich auf den Weg. Es wird uns schon
glücken, die andern einzuholen, und wenn Herr Müller dann sieht, wie
gut es uns geht, wird er sicher nicht schelten, daß wir nachgekommen
sind.«

Aennchen horchte nur zu gern auf den Rat der Freundin, rasch suchte
sie ihre sieben Sachen zusammen, wie Alma es geboten, dann verließen
die zwei Mädchen durch ein Hinterthürchen gleich Dieben das Haus der
freundlichen Wirtin und eilten mit raschen Schritten die Landstraße
entlang. Es war ihnen ein Leichtes, die Spuren ihrer Mitschülerinnen
aufzufinden, welche sich in unzähligen kleinen Abdrücken in dem weichen
Sand zu erkennen gaben; der Weg leitete nach einem schönen großen Wald
hin und in übermütiger Eile schritten die beiden Ausreißer demselben
entgegen. Schon nahm ein hohes grünes Waldesdach die Mädchen freundlich
auf und wie herrlich, wie köstlich war es hier!

Die Sonne, welche da draußen in beinahe sengenden Strahlen unbarmherzig
herniedergebrannt hatte, vermochte hier kaum die dichten grünen Zweige
zu durchdringen und nur zuweilen brach ein glänzender Schein hindurch
und zitterte auf dem weichen Moos, welches sich wie ein dichter
Teppich zu Füßen der hohen Bäume ausbreitete. Ein kräftiger Duft von
Waldkräutern und Blumen drang von der Erde empor, kleine Quellchen
rieselten mit vertraulichem Plätschern den Boden entlang und blaue
Vergißmeinnichtchen neigten sich darüber hin – es war ein köstliches
Bild und den beiden jugendlichen Wanderern ging das Herz auf vor
Entzücken.

Sie warfen sich bei einem Quellchen ins Moos und tranken von dem
erquickenden Naß, badeten ihre erhitzten Wangen und Hände darin, ja
zuletzt lösten sie sogar Schuhe und Strümpfe von den Füßen und kühlten
dieselben in der Flut. Dann pflückten sie von den umher blühenden
Vergißmeinnicht einen großen Strauß und als sie dabei auch noch sogar
reife Erdbeeren entdeckten, da kannte ihre Freude keine Grenzen.
Wohl eine ganze Stunde brachten sie damit zu, sich recht viele der
köstlichen Beeren zu pflücken und den größten Teil derselben gleich
zum Munde zu führen, endlich aber fiel es Aennchen wieder ein, daß
sie ja ganz darauf vergessen hatten, ihren Mitschülerinnen auf den
Weg nachzufolgen, und sie erinnerte Alma daran, daß es höchste Zeit
sei, aufzubrechen. Rasch wurden die Hüte wieder aufgesetzt und nach
den Sträußchen gegriffen und nun ging’s wieder vorwärts – aber welche
Richtung sollte man einschlagen? Sie waren ja während des Pflückens so
tief in den Wald geraten, daß sie gar nicht mehr wußten, von welcher
Seite sie hergekommen waren. Nirgends zeigte ein betretener Pfad den
Weg ins Freie, denn überall standen Bäume, dichte Büsche und wucherndes
Farnkraut eng aneinander gedrängt, so daß die Mädchen sich oft kaum
hindurchzuwinden vermochten.

Aber es war ihnen nicht bange; sie hatten beide eine gute Portion
Leichtsinn von der Natur geerbt und so hatte dieses Wandern in der Irre
nur einen neuen Reiz für sie. Immer größer wurden die Sträuße, welche
die beiden pflückten und kaum mehr in den Händen zu halten vermochten,
die Botanisierbüchsen wurden mit Käfern und Eidechsen gefüllt und so
beladen suchten sie dazwischen wieder nach dem Ausgang. Ja, du lieber
Gott, der zeigte sich noch immer nicht, obgleich der Weg jetzt beinahe
steil bergan zu führen begann, so daß deutlich zu erkennen war, daß man
sich auf einer Anhöhe befand.

»Wie spät es wohl sein mag?« bemerkte Aennchen, jetzt doch ängstlich
werdend. »Es kommt mir vor, als wäre es schon etwas dunkler geworden
und ich bin trotz der vielen Beeren, welche ich gegessen habe, schon
wieder hungrig, aber meine Vorräte sind aus.«

»Ich habe noch Schokolade im Körbchen, aber beim Himmel, wo habe ich
dieses? Hast du es nicht gesehen, Aennchen? Bei der Quelle habe ich es
ganz sicher noch gehabt und auch das Geldtäschchen.«

»Dann hast du es unterwegs verloren beim Beerensuchen,« versetzte
Aennchen erschrocken, »wir wollen doch rasch umkehren und nachsehen.«

»Aber wir wissen ja den Weg nicht mehr, den wir gekommen sind,« meinte
Alma kläglich, »laß uns lieber wenigstens vorwärts eilen, daß wir doch
aus dem Walde kommen. Es scheint mir, als ob es endlich doch lichter um
uns würde.«

Wirklich hatte Alma recht, die Bäume standen weniger dicht zusammen und
dazwischen brachen Lichtstrahlen freundlich herein. Die beiden Mädchen
atmeten wie befreit auf; es wurde ihnen eigentlich jetzt erst klar, daß
sie sich zuletzt doch recht ängstlich gefühlt hatten, und sie glaubten,
es sei nun alles gewonnen, als sie das helle Licht des Tages wieder
erblickten und aus dem Waldesbereiche hervortraten.

Aber wo waren sie? An einem vollständig unbekannten Orte! Ohne daß sie
es bemerkt hatten, mußten sie eine hohe Anhöhe erstiegen haben und vor
ihnen, auf dem Gipfel derselben, lag die Ruine eines alten Klosters.
Kein lebendes Wesen zeigte sich ringsum, die Mädchen aber strebten
dennoch, die verlassenen Hallen zu erreichen in der Hoffnung, noch
jemanden zu entdecken. Es ging freilich jetzt nur noch mit mäßiger Eile
vorwärts, Aennchen hatte sich an einer starken Baumwurzel, die über den
Weg lag, den Fuß übertreten und hinkte mühsam vorwärts und Alma fühlte
sich auch recht matt und zerschlagen. Denn es mußten doch schon viele
Stunden vergangen sein, welche sie umhergewandert waren; zwar stand
die Sonne noch am Himmel und eine große Hitze herrschte noch in der
ganzen Natur; aber es war die drückende Schwüle, welche einem Gewitter
voranzugehen pflegt, und auch die Vöglein ringsum schienen dies zu
ahnen, denn sie schwirrten unruhig hin und her und die Schwalben
schossen tief am Boden hin.

Die Mädchen hatten die Anhöhe erreicht und betraten eine weite Halle,
durch deren geborstenes Dach der Himmel hereinblickte. Hohe Bogengänge,
aus mächtigen Säulen gebildet, standen in langen Reihen die Halle
entlang; viele der Säulen waren geborsten oder lagen gestürzt am Boden,
wuchernder Epheu und anderes Gerank war dazwischen emporgewachsen,
selbst junge Bäume hatten sich den Weg zwischen dem Gestein gebahnt
und trieben nun mit frischem Grün daraus empor – es war wie ein Kampf
zwischen Werden und Vergehen, zwischen Leben und Tod; doch das Leben
und Werden hatte den Sieg behalten über Tod und Vergehen.

Die beiden jungen Menschenkinder ergriff beinahe ein heimlicher Schauer
in dieser großartigen menschenverlassenen Einsamkeit, und mit ängstlich
klopfenden Herzen betraten sie die weiten Räume. Aennchen ließ sich
erschöpft auf einer geborstenen Säule nieder, während die keckere Alma
darüber hinauskletterte, um Umschau zu halten, wo sie sich eigentlich
befanden. Ein Ausruf des Entzückens drängte sich von ihren Lippen, als
sie auf der Höhe stand und die Blicke hinabgleiten ließ, denn welche
wundervolle Aussicht bot sich ihren Blicken!

Weit, weit hinein ins Land konnte sie sehen bis zu den Spitzen der
fernsten Berge; zu ihren Füßen dehnte sich ein tiefblauer köstlicher
See aus, darüber erhob sich ein grüner Berg, welcher mit einem stolzen
Schloß gekrönt war, die Wolken zogen in fliegender Eile den blauen
Horizont entlang – es war ein geradezu wunderbares Bild, und Alma war
so ergriffen von dem Anblick, daß sie mit jauchzender Stimme zu singen
begann:

    »Auf die Höhen möcht ich steigen
    In die freie Bergesluft
    Und den Blick herniederneigen
    In das Thal, erfüllt von Duft,
    Auf die friedlich stillen Hütten,
    Auf des Stromes Silberband,
    Und dann rufen laut inmitten:
    Schön bist du, mein Vaterland!«

»Ist es wirklich so schön?« frug Aennchen neugierig, welche ängstlich
dahergehinkt kam; dann deutete sie auf eine schwarze Wolke, welche
pfeilschnell auf die Sonne zugeflogen kam: »Sieh doch Alma, wie
unheimlich das aussieht.«

»Es wird doch kein Gewitter geben?« frug Alma nun auch rasch
erschrocken, und ängstlich blickte sie dem Spiel der Wolken zu, welche
sich nun innerhalb weniger Minuten immer drohender gestalteten. In
kurzer Zeit war der ganze Horizont mit dichten schwarzen Wolkenmassen
überzogen und ein heftiger Sturmwind begann laut heulend über die Erde
hinzufegen.

Entsetzt flüchteten die erschreckten Kinder in die Ruine zurück und
schrieen laut um Hilfe, aber natürlich verhallte ihr Ruf ungehört
und sie kauerten zuletzt, ängstlich aneinandergeschmiegt, in einer
Ecke zusammen, während sie mit entsetzten Augen die Vorgänge um sich
her beobachteten. Und auch andere als junge Kinderherzen hätten wohl
geschaudert beim Anblick eines so furchtbaren Orkans, wie er sich hier
in rasender Schnelligkeit entfesselte. Der Himmel hatte sich so dicht
verfinstert, daß man kaum mehr die Hand vor den Augen sah, und nur wenn
die breiten, zuckenden Blitze am Himmel aufflackerten, beleuchteten sie
mit greller Tageshelle die entfesselte Natur. Mit unheimlich dumpfem
Dröhnen folgte der Donner jedem aufzuckenden Blitz und das Echo der
Berge gab den schauerlichen Klang verzehnfacht zurück. Und nun begann
plötzlich ein solch heftiger Regen niederzuprasseln, als ob alle
Schleusen des Himmels sich mit einem Schlage geöffnet hätten; es waren
keine Bäche, sondern wahre Regenflüsse, welche sich, mit Hagelschauern
vermischt, mit unbarmherzigem Grimm herniedergossen, und den beiden
verlassenen Kindern, welche gleich zwei todesbangen Vögelchen in ihrem
Zufluchtsort kauerten, schien das Ende der Welt gekommen. Keines
wagte laut zu atmen oder sich zu regen; die Furcht schnürte ihnen die
kleinen Kehlen zu; entsetzt horchten sie auf das Rollen des Donners,
das Rauschen der Regenfluten, und als sie beim Aufzucken eines langen
blendenden Blitzes ganz nahe ihrem Zufluchtsort die großen runden Augen
eines Käuzchens erblickten, welches sich wohl höchst erstaunt die
fremden menschlichen Gäste zu betrachten schien, da schrieen sie vor
Entsetzen laut auf und klammerten sich noch fester aneinander.

Aber das Gewitter verschwand so rasch, als es gekommen war; selbst der
Regen hielt nicht lange mehr an und bald war es in der Natur wieder
so ruhig und friedlich, als ob das Ganze nur ein böser Traum gewesen
wäre. Nur die Zerstörungen ringsum zeigten an, daß der grausame Sturm
wirklich hier gehaust hatte; ein junger Eichbaum war von oben bis unten
vom Blitz zerspalten und seine verkohlten Aeste hingen abgestorben zu
Boden – mehrere Säulen lagen in Trümmern geborsten und die abgerissenen
Epheuranken flogen weit umher und in den Ritzen des alten Gemäuers
hatten sich überall kleine Seen von Regenwasser gebildet, welche nun
langsam rieselnd zu Boden sickerten.

Alma und Aennchen krochen wie zwei gebadete zitternde Mäuschen aus
ihrem Versteck, welches ihnen wohl Schutz vor den ärgsten Unbilden des
Sturmes, aber nicht vollständig vor den Regenfluten geboten hatte, und
nun waren die beiden stark durchnäßt und von Aennchens neuem rotem
Kleidchen floß eine rote Brühe zu Boden nieder. Die Hüte hatten alle
beide verloren, sie dachten auch nicht daran, ihnen nachzusuchen; ihr
ganzes Streben war nun darauf gerichtet, in dieser Einsamkeit eine
lebende Menschenseele zu finden. Ach, sie konnten es sich nicht länger
verhehlen, der Abend war wirklich hereingebrochen, denn die Sonne
hatte sich nach einigen letzten Strahlen nun ganz in ihrem Wolkenbette
schlafen gelegt und eine graubleierne Dämmerung begann sich über die
Erde auszubreiten.

Mit zitternden Knieen und erblaßten Wangen begannen Aennchen und Alma
Hand in Hand die weiten Hallen zu durchwandern, immer in der Hoffnung,
auf eine menschliche Spur zu stoßen. Ganz am Ende der großen Ruine
blieben sie plötzlich erstaunt stehen, eine kleine, alte halbverfallene
Kapelle lag mit weitgeöffneter Pforte vor ihren Blicken. Vor dem
Altarbild drinnen brannte eine kleine Lampe mit friedlichem Schein,
droben am geborstenen Turme hing ein Glöcklein, dessen Strang bis
tief zur Erde reichte. Von der Kapelle aus führte eine niedere Thüre
in einen kleinen niedern Raum, welcher auf menschliche Bewohner
schließen ließ, wenn er auch höchst unvollkommen und notdürftig mit den
allernotwendigsten Gegenständen ausgestattet war.

An der niedern Steinbank zog sich eine schmale grobgehauene Holzbank
hin, vor welcher ein ebensolcher Tisch angebracht war. Auf dem Tisch
lag ein Stück grobes schwarzes Brot und ein halbzerbrochener Krug stand
daneben; in der Ecke war von duftendem Heu ein Lager aufgeschichtet,
eine graue Wolldecke lag daneben und oben von der Wand blickte als
seltsamer Schmuck und doppelt überraschend in dieser Einsamkeit ein
kunstvolles silbernes Kruzifix herab.

Die verirrten Kinder betraten voll Angst und Zagen den kleinen Raum
und wähnten sich wie verzaubert. »In wessen Hütte mögen wir geraten
sein?« frugen sie leise und ängstlich und sie betasteten vorsichtig
Tische und Bänke, um sich zu überzeugen, ob es kein Traum sei, was sie
vor sich sahen. Aber als das grobe Stück Brot in ihre Hände geriet,
da konnten sie dem Verlangen nicht widerstehen, ihren nagenden Hunger
damit zu stillen, und zagend brachen sie ein Stückchen ums andere davon
ab, sich damit zu laben. Dann wankten sie todmüde auf das Heulager in
der Ecke und legten sich nieder – sie waren zu erschöpft, um sich noch
Gedanken darüber zu machen, ob sie sich in fremdem Eigentum befanden,
die Natur behauptete ihr Recht, denn sobald sie nur das weiche Lager
erreicht hatten, fielen ihnen auch schon die müden Augen zu und sie
entschlummerten eng und warm aneinandergedrückt in das Traumland
hinüber. – –

Sie mußten wohl ohne Unterbrechung die ganze Nacht durchgeschlafen
haben, denn als sie am andern Morgen erwachten, schien die Sonne mit
goldnem Schein hell durch das kleine scheibenlose Fensterchen in das
Gemach hinein. In stummer Verwunderung blickten die verschlafenen
Mädchen ihre fremdartige Umgebung an, in welcher sie sich erst gar
nicht zurechtzufinden vermochten; ein Schrei des Erstaunens aber rang
sich von beider Lippen, als sie plötzlich einen hohen uralten Greis
vor sich stehen sahen, der sie mit sinnenden Augen betrachtete.
Silberweißes glänzendes Haar floß in langen Locken ihm von den
Schultern herab und ein ebensolcher Bart lag in dichten Wellen auf der
braunen Kutte weit bis über den Gürtel, welchen ein einfacher Strick
bildete, herunter. Ein sanftes schönes Greisenantlitz und gütig-milde
Augen blickten die kleinen erstaunten Mädchen an, während die sanfte
Stimme des fremden Mannes frug:

»Was für fremde Vögelchen haben denn heute nacht Schutz in meinem Nest
gesucht und es sich auf meinem Lager bequem gemacht, während ich nicht
zu Hause war? Sagt Kinder, wie kommt ihr hierher in diese Einsamkeit?«

Nun fiel den beiden verwirrten Kindern erst wieder der ganze
Zusammenhang ihres Schicksals ein und die Schrecken des gestrigen Tages
stellten sich wieder vor ihre Seele. Ach! und sie hatten sich alles
selbst zuzuschreiben durch ihren Leichtsinn und ihren Ungehorsam; aber
wie schlimm waren sie bestraft worden! Mit stockender Stimme, oft durch
Thränen unterbrochen, klagten sie dem fremden Greise ihr Schicksal, sie
verschwiegen nicht, wie sie selbst Schuld daran trugen, und der gütige
Mann hörte sie ohne Unterbrechung an – nur zuweilen schüttelte er den
Kopf.

»Da seid ihr ja recht unartig gewesen – ei – ei,« sagte er zuletzt
und strich sich langsam den glänzenden wolligen Bart, »und all den
Schrecken, welchen ihr dafür ausgestanden habt, den hat euch der liebe
Gott zur Strafe geschickt. Und da ihr nun genug durch ihn selbst
bestraft seid, wollen wir nichts mehr hinzufügen, sondern wollen
nur dem lieben Gott danken, daß er euch wenigstens gesund erhalten
hat und nicht hat krank werden lassen in all den Gefahren, welchen
ihr ausgesetzt gewesen. Nun wollen wir gute Freunde sein, da wir
doch einmal auf so seltsame Weise zusammengekommen sind und ich so
überraschende kleine Gäste erhalten habe. Steht nur auf und macht etwas
Toilette, dann nehmen wir alle zusammen unser einfaches Frühstück ein;
meine kleine Aufwärterin wird gleich erscheinen.«

Rasch erhoben sich die beiden Mädchen vollends von ihrem Lager und
zupften die Heuhalme von ihren Kleidern. Dann zeigte der alte Mann
ihnen, wo sie sich durch Waschen erfrischen konnten, und als sie dann
frisch gereinigt, mit glattgestrichenen Haaren wieder erschienen, da
hatte der alte Mann inzwischen drei Schüsselchen auf den Tisch gestellt
und drei Schnitten Brot dazu gelegt und sprach nun zu seinen Gästen:

»Kommt jetzt, wir wollen sehen, wo meine kleine Hofköchin heute bleibt,
die uns das Frühstück besorgen soll.«

Höchst neugierig folgten die Mädchen dem alten Mann aus der Hütte durch
die kleine Kapelle hinaus ins Freie. Erst jetzt waren sie imstande,
wahrzunehmen, wie wundervoll es doch hier oben war. Die ganze kleine
Kapelle lag wie in einem Bett von wilden Rosen, welche ihre Ranken bis
hoch zu dem alten Türmchen erstreckten. Noch zitterten die Regentropfen
wie Tau in all den blühenden, duftenden Kelchen und eine Schar von
kleinen muntern Vögelchen hüpfte auf dem Gezweig hin und her.

»Nicht wahr, bei mir oben kann’s euch gefallen?« fragte der freundliche
Greis die staunenden Mädchen, dann setzte er die Finger an den Mund und
rief durch die hohle Hand: »Resi, Resi, wo bleibst du?«

Da kam etwas den Berg heraufgehüpft und zwischen den Steinen
hervorgeschossen – ein kleines krausgelocktes, dunkelgebräuntes Mädchen
in rotem Röckchen und weißem Hemde mit bloßen Armen und Schultern; sie
führte eine meckernde Ziege nach sich; als sie aber die fremden Gäste
erblickte, stand sie plötzlich still und steckte den Finger in den Mund.

»Komm näher, Resi; wirst dich doch nicht schämen vor meinen kleinen
Gästen?« ermunterte der alte Mann, »wir sind ja schon lange hungrig und
warten auf das Frühstück, das du uns bringen sollst; nun zeige auch,
was du kannst.«

Er holte den alten Krug, welchen er mit klarem Quellwasser ausgespült
hatte, herbei und reichte ihn dem Kinde; im Nu kniete dieses bei der
Ziege nieder und begann, diese zu melken, bis der Krug ganz bis zum
Rande mit köstlich schäumender Milch gefüllt war; nun bot ihn die
Kleine, dunkelrot vor Verlegenheit, dem alten Mann dar und wandte sich
in einem Husch zum Davonlaufen.

»Halt, halt, du kleine Hexe!« rief der alte Mann und hielt das Kind
scherzend bei den Stirnlocken fest. »So schnell entkommst du uns heute
nicht! Du mußt erst an unserm Frühstück teilnehmen und die Hausfrau bei
meinen kleinen Gästen spielen, denen du dann später den Weg zum Dorf
hinunter zeigen kannst.«

Und er zog die kleine Resi mit hinein in das Gemach, wo er die
aufgestellten Schalen mit der frischen Ziegenmilch füllte und seinen
Gästen darbot. So herrlich wie diese Milch hatte ihnen noch selten
etwas gemundet und mit einem wahren Hochgenuß schlürften sie den
köstlichen Trank. Die braune Resi lachte vor Freude, daß alle ihre
weißen Zähnchen durch die roten Lippen blitzten, als sie sah, welche
Ehre ihrer Ziege angethan wurde, und sie vergaß alle Schüchternheit
darüber, so daß sie zuletzt sogar von selbst zu sprechen und zu
erzählen anfing.

»Gestern hab’ ich aber ’was geseh’n, Vater Einsiedel, das hätt’ ich mir
in meinem ganzen Leben nit träumen lassen,« berichtete sie mit höchst
wichtiger Miene. »Lauter so feine Fräuleins, wie diese zwei da, wohl an
dreißig Stück, in lauter wunderschönen Kleidchen, in grünen und roten
und blauen, mit gerad so feinen weißen Gesichtern und weißen Händchen,
die sind im Wald mit einem Mann dahergekommen und haben so schön und
hell gesungen wie die Engelein. Ich bin hinter einem Baum gestanden und
hab’ sie vorüberziehen sehen und hab’ Augen und Ohren aufgesperrt vor
lauter Freud’ über all’ die vielen schönen Fräuleins.«

»Das war unsre Klasse mit dem Herrn Lehrer,« riefen Alma und Aennchen
in einem Ton, und wie aus einem Mund setzten sie langsam hinzu: »ach,
was wird Herr Müller gesagt haben, als er uns nicht mehr im Wirtshaus
vorfand!«

»Ja, euer armer Lehrer thut mir wirklich leid,« sprach der
Einsiedelmann ernst. »Jedenfalls muß er nun so rasch als möglich
benachrichtigt werden, daß ihr nicht verloren gegangen seid; darum ist
es wohl das beste, wenn ihr euch sogleich auf den Weg nach dem Dorfe
macht. Resi kann euch die beste Führerin sein und ich werde euch ein
Stückchen begleiten!«

So machten sich denn alle auf den Weg. Resi hüpfte mit ihrer Ziege
voran und dann folgten die beiden Freundinnen, von dem Einsiedelmann
zu beiden Seiten geführt. Sie waren längst ganz zutraulich gegen den
gütigen alten Mann, welcher ihr ganzes Herz gewonnen hatte und ihnen
von seinem Leben in der Einsamkeit erzählte. Er berichtete ihnen, daß
er nun schon seit zwanzig Jahren hier oben in der Einsamkeit hause
und sein ganzes Leben dem Dienst des lieben Gottes gewidmet habe.
Nur selten komme er den Hütten der Menschen nahe und das sei stets
dann, wenn er zu Kranken und Sterbenden gerufen werde, welche seines
Rates bedürfen; aber wer zu ihm komme und seine Hilfe begehre oder
nach seinen Kräutersäften verlange, dem stehe er immer gern mit allen
Kräften bei.

»Der Einsiedel ist ein heiliger Mann, sagt die Großmutter; er ist
so gut wie der liebe Gott,« sprach die kleine Resi, indem sie ihr
braungelocktes Köpfchen rückwärts wandte und andächtig zu dem alten
Manne aufsah; dieser wehrte scherzend mit der Hand, dann zog ein
wehmütiges Lächeln um seine Lippen und er sprach gedämpft:

»Ein heiliger Mann bin ich nicht, sondern nur ein armer sündiger
Mensch, welcher Gott zu dienen strebt mit seinen schwachen Kräften!«

Sie waren nun an dem Weg angelangt, welcher auf eine betretene Straße
führte, und hier schied der Einsiedelmann von seinen Gästen, indem
er ihnen freundlich die Hand reichte und sie ermahnte, nicht mehr so
leichtsinnig und unfolgsam zu sein. Die Mädchen dankten dem gütigen
Greis aus vollem Herzen und Aennchen neigte sich über seine Hand,
dieselbe zu küssen; das aber wehrte er freundlich lächelnd ab und
drückte ihr einen leisen Kuß auf die Stirn; darauf verschwand er so
rasch, daß die beiden sich ganz verdutzt anblickten, bis Resi ihnen
zurief:

»Nun müßt ihr euch aber sputen, denn ich habe mich schon tüchtig
versäumt und Großmutter wird schelten, wenn ich nicht bald nach Hause
komme.«

Und bergabwärts flogen nun die drei im raschen Lauf, bis sie ein
freundliches Dörfchen vor sich liegen sahen und Resi stolz mit dem
Finger darauf hinwies:

»Seht, da bin ich zu Hause!«

Etwas abseits vom Dorf stand ein winzig kleines weißes Häuschen mit
gelbem Strohdach. Aus dem niedern Schornstein stieg eine leichte
Rauchsäule in die blaue Luft und Resi rief erschrocken:

»Herrje! jetzt hat die Großmutter sich rein das Feuer selbst angezündet
zur Suppe kochen, weil es ihr mit mir zu lang gedauert hat. Nun muß ich
aber laufen, soviel ich kann.«

Und sie ließ ihre Geis mit dem Stricke fahren, welche selbst recht
vergnügt meckernd ihren Weg zu finden schien, denn sie sprang mit dem
Kind um die Wette zum Häuschen hinauf. Alma und Aennchen blieben, als
sie dasselbe erreicht hatten, höchst erstaunt stehen, denn etwas so
Winziges hatten sie noch nie erblickt, als das kleine Haus, welches
mehr einer Puppenwohnung als einer menschlichen Wohnung glich. Die
niedere Hausthür schien gerade nur für ihre eigene Größe passend zu
sein und als sie durch dieselbe zögernd eingetreten waren, da mußten
sie unwillkürlich an das Märchen von Hänsel und Gretel denken und es
begann ihnen etwas zu grauen. Denn über den niedern rauchenden Herd
gebückt, stand ein kleines steinaltes Mütterlein auf seine Krücke
gelehnt und rührte mit einem Stecken in einem dampfenden Topf; die
braune Resi aber stand mit Reisern beladen daneben und warf eines um
das andere in das lodernde Feuer. Sie begann herzhaft zu lachen, als
sie die verdutzten Gesichter der ängstlich dastehenden Kinder sah, und
rief munter:

»Kommt nur ohne Scheu näher! Ihr werdet euch doch nicht vor der
Großmutter fürchten, weil sie so klein und alt ist. Wartet nur, sie
wird euch sicher willkommen heißen.«

Dann preßte sie ihren roten Mund an das rechte Ohr der Großmutter und
rief ihr ins Ohr:

»Großmütterlein, wir haben Gäst’ bekommen, feine Gäst’! Dort an der
Thür stehen sie und trauen sich nicht heran, obgleich der Einsiedel sie
mit mir geschickt hat!«

»Ei, ei, ist das wirklich wahr?« murmelte die Alte und wackelte mit
dem Kopf, während sie die Kinder mit ihren kleinen klugen Augen
wohlgefällig betrachtete; »sind wirklich feine Kinder und wenn sie der
Einsiedel uns geschickt hat, dann sollen sie auch willkommen sein.«

Und sie streckte die runzliche Hand den Kindern entgegen, welche etwas
zögernd einschlugen; dann fuhr sie weiter fort: »Wollt ihr eine Suppe
mit uns essen? Wenn sie nicht zu gering für euch ist, dann sollt ihr
gerne geladen sein.«

Damit öffnete sie die Thür in ein niedriges Stübchen, dessen Hauptraum
von einem breiten hochgetürmten Bett mit grünen Vorhängen und einem
Kachelofen eingenommen war. Weiter stand noch eine Bank und ein
Lehnstuhl vor einem alten Tisch, daneben ein Spinnrad, und zwei
große alte Katzen mit fünf niedlichen Jungen kugelten übermütig auf
den Dielen herum. Kaum hatte Resi die dampfende Suppe auf den Tisch
gestellt, kamen sie alle heran und die Kleinen steckten neugierig ihr
Näschen an die Schüssel – die Alte aber wehrte mit dem Kochlöffel und
rief:

»Wartet nur, ihr kleines Gesindel! heut seid ihr nicht die
Hauptpersonen, denn wir haben vornehme Gäste bekommen und erst, wenn
diese satt sind, kommt an euch die Reihe.«

Sie reichte Alma und Aennchen zwei Holzlöffel und forderte sie auf,
zuzugreifen, was diese sich auch nicht zweimal sagen ließen, denn sie
fühlten heute erst so recht, daß sie gestern keine wirkliche Mahlzeit
genossen hatten, und so schmeckte ihnen die derbe Suppe, welche nur
aus gebranntem Mehl und Wasser bestand, wirklich ganz gut. Während des
Essens scherzten sie mit den kleinen Kätzchen, welche sich wirklich
hier für die Hauptpersonen halten mochten, denn sie wagten sich an
alles heran, sprangen der Alten und den Kindern auf die Schultern und
Köpfe, und als sie dann endlich die halbgeleerte Schüssel zu ihrer
freien Verfügung bekamen, da begann eine Balgerei und ein Gekugel um
die ersehnte Speise, daß den Mädchen vor Lachen die Thränen in die
Augen traten, während die Alte mit höchst drolligem Ernste immer mit
ihrem Löffel Frieden zu schließen versuchte. Resi aber stand jetzt vom
Tisch auf und rief:

»Nun darf ich aber nicht mehr länger zögern, euch zu unserem
Schulmeister zu bringen, wie mir der Einsiedel befohlen hat, der wird
dann schon weiter für euch sorgen.«

Und so verabschiedeten sich dann die Mädchen von der freundlichen
Alten, welche ihnen mit ihren Katzen noch bis vor die Thür das Geleit
gab und so lange mit dem Kopfe wackelte, bis die Kinder ihren Augen
entschwunden waren. Die Mädchen aber schritten mit Resi auf der
Dorfstraße weiter bis zu dem Schulhaus, welches freilich ganz anders
aussah als das ihrige in der Stadt. Denn dieses hier war ein niederes
einstöckiges Haus, in einem kleinen Vorgarten gelegen und von unten bis
oben mit grünen Reben bewachsen, so daß selbst die Fenster teilweise
überwuchert waren. Was man aber aus diesen Fenstern vernahm, das ließ
doch recht deutlich auf eine Schulstube schließen, denn ein lauter Chor
gemischter Buben- und Mädchenstimmen schien im gleichen Takt das ABC
aufzusagen – _abcdefghiklmnop_, und die Stimme des Lehrers schallte oft
verweisend laut dazwischen.

Resi führte die Mädchen bis an die Thür und klopfte ein paarmal an. Man
schien sie nicht zu hören, endlich riefen mehrere Stimmen:

»Herr Lehrer, es klopft!«

»Wartet, ich will euch klopfen, ihr Schelme!« rief der Lehrer. »Ihr
habt nur wieder Dummheiten im Kopf.«

»Aber es klopft ganz gewiß, Herr Lehrer – hören Sie nur selbst,« gaben
mehrere Kinder zurück – da spitzte auch der Lehrer das Ohr und öffnete
rasch die Thür. Es war ein alter Mann mit einer langen spitzen Nase,
auf welcher eine große blaue Brille ganz bis zur Spitze vorgerückt
war, doch wurde sie zur Strafe für ihren Vorwitz dafür dann zuweilen
rasch bis über die Stirne hinaufgeschoben. Dünne graue Haarsträhne
flatterten nach allen Seiten um das schmale Gesicht und die gebeugte
Gestalt steckte in einem langen hellen Kittel, was den Stadtkindern
äußerst seltsam vorkam. In der Hand trug der Schulmeister eine lange
Rute, welche nur zu deutliche Spuren der Benützung zeigte und selbst
in friedlichem Zustand von des Herrn Lehrers Faust immer unruhig hin-
und hergeschwenkt wurde. Ziemlich barsch ließ sich der Schulmeister
von Resi berichten, was der Einsiedel ihr aufgetragen hatte – daß die
zwei Mädchen aus der Stadt hier sich gestern auf die Ruine verirrt
hätten und daß der Herr Lehrer so freundlich sein und für ihr weiteres
Fortkommen sorgen möge.

»Also ihr seid die Flüchtlinge, welche meinen werten Herrn Kollegen
gestern so in Sorge versetzt haben?« begann der Schulmeister mit
näselnder Stimme und blickte die beiden Mädchen durch seine große
Brille so forschend an, daß sie dunkelrot wurden.

»Ei, ei, gibt’s also auch in der Stadt so wilde Rangen von der Spezies
wie der Michel da?« Damit deutete er auf einen heulenden, gegen die
Wand gekehrten Buben, dessen dunkelrote geschwollene Backe leider nur
zu leicht erraten ließ, daß sie vor nicht langer Zeit Bekanntschaft mit
der gefürchteten Rute gemacht haben mußte. Den Mädchen wurde angst und
bang und sie blickten scheu nach dem unheimlichen Instrument, doch der
Herr Lehrer sagte nur:

»Wollet euch jetzt noch einige Zeit gedulden, bis ich die Stunde zu
Ende gebracht habe, dann werde ich weiter für euch sorgen. Nehmet
dahinten auf der Bank Platz, wo noch leere Plätze sind, und spitzet
wohl eure Oehrlein, was ihr von dem Unterricht vernehmet, denn der
Mensch soll keine Gelegenheit vorübergehen lassen, sich zu belehren.«

So setzten sich Alma und Aennchen denn still auf die letzte Bank,
während Resi durch die Thür verschwunden war. Voll lebhafter Neugier
ruhten die Augen all’ der Dorfkinder auf den seltenen Gästen, sie
verdrehten sich fast die Köpfe nach ihnen, bis der Herr Lehrer mit
einem Stock auf den Tisch schlug und rief: »Aufgepaßt, ihr neugierigen
Rangen. Nun zeigt einmal, was ihr alles wißt, damit die fremden
Mägdlein aus der Stadt Respekt vor eurer Weisheit bekommen!« Da wagten
sie doch nur zuweilen heimlich nach rückwärts zu schielen und mühten
sich unendlich ab, des Lehrers Fragen zu beantworten. Die eine Seite
der langen Bankreihe hatten die Buben, die andere die Mädchen inne –
die meisten waren barfuß und ärmlich gekleidet, nur ein paar trugen
hübsche ordentliche Jacken oder Mieder, doch der blonde Michel in
der Ecke prangte sogar in einem braunen Samtwams und trug blanke
Silberstücke als Knöpfe daran. Da der Herr Lehrer offenbar Staat machen
wollte vor seinen fremden Gästen mit dem Wissen seiner Schüler, so
sprang er mit seinen Fragen in allen Gebieten des Unterrichts umher und
die große Rute hatte es gar eilig, den Schulmeister beim Unterricht zu
unterstützen.

»Hansjörg, wie hieß der erste Mensch?« Ein langer, aufgeschossener
Bauernbub erhob sich mit blöden Augen und starrte den Lehrer ratlos
an, dann puffte er seinen Nachbar in die Seite: »Sag’ mir doch ein,
Christel.« Dieser flüsterte: »Adam – Adam,« doch da fuhr schon die Rute
flink dazwischen und Hansjörg, der nur die Hälfte verstanden hatte,
stotterte unsicher: »A– A– – A– –«

»Nein, da hört sich doch alles auf, wenn der Dummkopf nicht einmal mehr
den ersten Menschen weiß!« schrie der Lehrer im hellen Zorn – »zur
Strafe dafür sollst du aber heute deine zwei Schiefertafeln voll »Adam«
schreiben und damit du es nicht wieder vergißt, will ich dir für alle
Fälle noch einen Gedenkzettel geben.«

Natürlich bestand der Denkzettel in einem Gruß der Rute und laut
aufheulend setzte sich Hansjörg wieder auf seinen Platz. Nun wollte der
Lehrer es mit Rechnen versuchen, er schrieb große Zahlen an die Tafel
und diese mußten die Kinder zusammenaddieren. Einige waren darunter,
welche ganz flink damit umzugehen vermochten, aber dann gab es leider
auch eine ganze Anzahl in der Art von Hansjörg, welche dem Schulmeister
den hellen Schweiß auf die Stirne trieben, so daß er endlich ganz
erschöpft innehalten mußte.

»Herr Lehrer, es hat elf Uhr geschlagen draußen!« rief ein größerer
Junge und sprang von seiner Bank auf.

»Halt, du Naseweis, wirst wohl warten können, bis ich selbst ein Ende
mache,« rief der Herr Lehrer ärgerlich – »jetzt sollst gerade du heut’
der allerletzte sein, der aus der Schule hinaus darf. Ihr anderen
geht jetzt sachte und ohne Geschrei von dannen, auf daß kein weiteres
Aergernis entstehe.«

Nun drängten sich die Kinder alle mit Ungestüm durch die engen Bänke
zur Thüre hinaus – die Buben knufften die Mädchen, wenn sie vor ihnen
das Freie zu erreichen strebten, und der arme geplagte Herr Lehrer
kam noch zu keiner Ruhe, denn kaum waren sie draußen, so guckten die
Kecksten wieder durch die kleinen Fenster herein voll Neugier die
fremden Stadtmädchen anstarrend und ihre Bemerkungen laut austauschend:

»Hört, die sind aber fein!« »Habt ihr die schönen Schuhe gesehen, die
sie anhaben?« »Die Eine hat gar ein goldenes Ringerl am Finger.«

Nun aber stürzte der Schulmeister mit der Rute zur Thüre hinaus, man
hörte noch ein paar Weherufe, dann stob der ganze Schwarm auseinander
und der alte Mann kehrte erschöpft zurück. Nachdem er sich etwas
ausgeschnauft hatte, rief er die harrenden Mädchen zu sich und sprach:

»Wollet mir nun folgen, liebe Kinder, daß ich euch zu dem Herrn Pfarrer
bringe, welcher am besten wissen wird, wie ihr nach Hause kommen sollt.«

Und so führte er die beiden nach dem Pfarrhaus; da stand der Herr
Pfarrer gerade in seinem Gärtchen und besah sich die reifen Beeren.
Der Lehrer nahm den Pfarrer beiseite und setzte ihm den Sachverhalt
auseinander; da machte sich dieser sogleich nach dem Telegraphenamt
auf, um dort ein Telegramm an Herrn Müller aufzusetzen, welcher gestern
schon, als er seine Schützlinge vermißte, seine Adresse mit der Bitte
zurückgelassen hatte, ihm doch, sobald dieselben aufgefunden seien,
Nachricht zu geben.

Und nachdem das Telegramm abgegangen war, kam der Herr Pfarrer ganz
atemlos zurückgelaufen:

»Sputet Euch, liebe Kinder – es geht gerade ein Zug ab nach der Stadt,
den könnt ihr noch erreichen.« So ging es denn im raschen Lauf der
kleinen Bahnstation zu, dort wurden Alma und Aennchen, ehe sie es sich
versahen, in ein Koupé gehoben und ihnen zwei Billets in die Hand
gedrückt.

»Nun gebt ein andermal besser acht und grüßt mir meinen werten Kollegen
in der Stadt!« rief der Schulmeister noch; seine grauen Locken flogen
im Winde, da setzte sich der Zug auch schon in Bewegung und entführte
die Mädchen im pfeilschnellen Lauf.

Ganz verdutzt saßen sich Aennchen und Alma auf den weichen Koupékissen
gegenüber; sie hätten geglaubt, geträumt zu haben, wenn ihre äußere
Verfassung ihnen nicht zu deutlich gezeigt hätte, daß sie alle die
Abenteuer wirklich erlebt hatten. Denn ach, wie sahen sie aus! Beide
hatten ihre Hüte verloren, die Kleider hingen ihnen von dem gestrigen
Regen verwaschen und zerknittert herab, Aennchens neues rotes Kleidchen
hatte seine ganze Farbe eingebüßt und hing ihr in braunroten Streifen
von den Gliedern. Almas Körbchen und Geldtäschchen waren verschwunden,
nur die Botanisierbüchsen hatten beide noch, aber sie hatten diese
längst ihres krabbelnden und zappelnden Inhalts entleert und so
brachten sie nichts weiter nach Hause zurück als ein recht böses
Gewissen.

»Was wird der Herr Lehrer sagen – und was meine Eltern?« jammerten
sie um die Wette und keine wußte mehr ein Trostwort vorzubringen – da
fuhr auch schon der Zug auf den wohlbekannten Bahnhof ein und voll
Angst gewahrten die beiden jungen Passagiere auf dem Perron schon
die wohlbekannten Gesichter des Lehrers und der Eltern. In einiger
Entfernung stand auch Almas elegante Equipage, des Zuges harrend, und
soeben stieg ein schlanker Herr aus derselben und näherte sich dem
Perron.

»O Gott, selbst Papa ist gekommen, mich abzuholen – Herr Müller hat
wohl alles benachrichtigt!« stöhnte Alma schreckensbleich und lehnte
sich zurück, aber schon war sie mit ihrer Gefährtin erblickt worden
und die beiden Mädchen wurden von ihren Angehörigen aus dem Wagen
gehoben. Aennchens Mutter stürzte auf dieses zu: »Gott sei Dank, daß
du lebst und gesund bist!« rief sie schluchzend und umarmte stürmisch
ihr Kind; sie sah ganz angegriffen aus, auch Herr Müller hatte bleiche
Wangen, denn er hatte sich die ganze Nacht nicht wenig um das Schicksal
seiner verloren gegangenen Schutzbefohlenen abgehärmt und selbst Herrn
von Stolzau konnte man ansehen, daß ihm ein Stein vom Herzen gefallen
war, als er sein Töchterchen wohlbehalten wieder vor sich erblickte.
So fiel denn der Empfang für die leichtsinnigen Mädchen weit weniger
schlimm aus, als diese gefürchtet und wohl auch verdient hatten,
aber sie waren selbst so sehr vom Gefühl ihres begangenen Unrechts
durchdrungen und baten auch so zerknirscht um Verzeihung, daß man
ihnen eine weitere Strafe erließ, in der Annahme, daß sie durch die
ausgestandene Angst und Gefahren schon genug gestraft worden seien.

Zu Hause angelangt, mußte Aennchen den aufhorchenden Eltern und
Geschwistern natürlich alles haarklein berichten, was sie erlebt hatte,
und als sie fertig war, da bat sie mit dringender Stimme: »Gelt, liebes
Mütterlein, du erlaubst es, daß ich dem guten Einsiedelmann und der
kleinen braunen Resi etwas zum Dank für ihre Hilfe sende? Alma hat auch
schon denselben Gedanken gehabt und wir haben ausgemacht, dem Einsiedel
ein Briefchen zusammen zu schreiben.«

Aennchens Mutter erlaubte es gern, denn sie war den beiden Rettern ja
selbst sehr dankbar; darum ging nach wenigen Tagen ein Paket an Resi
und den Einsiedel ab, darin war eine Menge schöner Dinge – für die
kleine Resi ein neues rotes Röckchen und ein Samtmieder und einige
nagelneue Hemdchen und Strümpfe und Schuhe; für die Ziege ein gelbes
Glöckchen am rotseidenen Band und für die alte Großmutter eine Düte
Kaffee und Zichorie und eine Düte Zucker und Butterbrezeln; für die
fünf Katzen aber fünf niedliche kleine Halsbändchen.

Dem Einsiedelmann hatte Aennchens Mutter ein wunderschönes Gebetbuch
gekauft; sie glaubte, das würde ihm doch die größte Freude sein, und
Alma sandte ihm einen schönen neuen Wasserkrug, weil der seinige ja
schon ganz gesprungen gewesen.

Wer beschreibt nun die Freude der Mädchen, als dafür nach wenigen Tagen
ein Brief an sie beide ankam; er war auf ganz grobes Papier geschrieben
und die langen Buchstaben standen nach allen Seiten, waren auch mit
verschiedenen Klecksen und Schreibfehlern untermischt, aber er freute
doch die Empfängerinnen nicht minder. Der Brief lautete:

    »Liebe Stadtfräuleins! Der Einsiedel ist so gut und thut mir
    bei meinem Schreiben helfen, denn allein könnt’ ich’s nicht,
    wenn ich auch schon drei Jahre in die Schul’ geh’ – freilich
    immer noch in der unterst’ Klass’ – wir haben eben nur zwei
    und in die erste komm’ ich noch lang’ nicht, wenn ich auch gut
    aufpassen thu’ und mich besser anstellig zeig’ wie das Katerl,
    das neben mir sitzt und gar nix weiß, nicht das Geringste. Der
    Herr Lehrer ist auch recht gut gegen mich und sein Rütlein
    tanzt nicht so oft auf mir herum wie auf den andern. Aber was
    ich sagen wollt’ – ich schreib’ ja lauter falsches Zeug, denn
    der Brief ist doch dazu da, daß ich mich bedanken will für
    die große Freud’, die mir die Stadtfräuleins gemacht haben.
    Ich hab’s kaum glauben wollen, wie mir der Postsepp das große
    Paket gebracht hat, der hat aber gesagt: »Schau’, Resi, da
    steht ganz wirklich und wahrhaftig dein Nam’ d’rauf und du
    darfst’s getrost aufmachen.« Nein, aber die Freud’, wie ich’s
    dann wirklich gewagt hab’ und alle die herrlichen Sachen
    gefunden hab’! ich bin mir vorgekommen wie die Prinzessin
    aus dem Märchen, von dem die Großmutter mir immer so schön
    erzählt, und ich bin gleich in das schöne Hemdlein und rote
    Röckle und Mieder und die Schuhe und Strümpfe geschlüpft und
    alles hat mir ganz herrlich gepaßt und hab’ ausgeschaut wie
    eine leibhaftige Fee. So hat die Großmutter selbst gesagt und
    die weiß doch alles. Ach, die Großmutter! war das ein Glück
    und eine Seligkeit, wie sie den teuren Kaffee und Zucker und
    Zichorie gesehen hat; ihre Hände haben ganz gezittert und sie
    hat gesagt: »Schau, Resi, seit meiner Hochzeit hab’ ich nicht
    so viel Kaffee und Brezeln mehr beisammen gesehen, wo dies
    doch meine größte Freude ist, und ich hätt nie gedacht, daß
    mir’s im Leben noch einmal so gut werden thät. Jetzt schür’
    aber gleich ein großes Feuer, denn ich will einen Kaffee kochen
    so dick, daß der Löffel darin stehen bleibt und so gut wie der
    Kaiser selbst noch keinen getrunken hat.« Und sie hat auch
    wirklich so einen gekocht und dann hab’ ich auch ein Schälchen
    und eine Brezel bekommen und unsere Kätzchen mit den schönen
    Halsbändchen sind um uns herumgesprungen, auch die Geiß hat
    mit ihrem neuen Glöckle zur Thür hereingeguckt und vor eitler
    Freude gemeckert. Dann bin ich mit ihr den Berg hinaufgestiegen
    und hab’ dem Einsiedel das schöne Gebetbuch und den Krug und
    Eure Briefe gebracht; dem sind die hellen Thränen vor Freude
    herunter gerollt und er hat gar nicht gewußt, über was er
    sich am meisten freuen sollt’. Aus dem schönen Krug haben
    wir gleich zusammen getrunken, und da hat’s noch tausendmal
    besser geschmeckt als aus dem alten; dann hat der Einsiedel
    das neue Buch mit dem schönen Einband genommen und mir Gebete
    daraus vorgelesen, daß mir’s ganz andächtig geworden ist, und
    dann haben wir zusammen ausgemacht, daß ich euch einen Brief
    schreiben sollte, und hier ist er. Nehmt nur die Kleckse nicht
    übel, daran ist nur die Tinte schuld, auf die Schiefertafel
    mach’ ich keine. Also adieu, liebe Stadtfräuleins, habt
    nochmals tausend Dank. Der Einsiedel grüßt und Großmutter grüßt
    und ich grüße.

            Eure _Resi_.

    Nachschrift. Der Herr Lehrer hat mir auch einen Gruß
    aufgetragen und sogar der Herr Pfarrer – das ist eine hohe
    Ehr’, die euch widerfährt, und ich wag’s kaum niederzuschreiben.

       *       *       *       *       *

    Einen Strohhut haben wir auch gefunden, aber er ist ganz
    zerdrückt, und ich hielt ihn für eine Düte.« – – –

       *       *       *       *       *

So lautete der Brief der kleinen Resi, welchen Alma und Aennchen mit
großer Freude immer wieder lasen, und der Schulspaziergang mit all
seinen Abenteuern bildete noch lange Zeit ihr liebstes Gesprächsthema,
denn alles, was sie da erlebt hatten, entschwand ihrem Gedächtnis nicht
wieder und noch gar oft weilten sie im Geiste bei dem lieben alten
Einsiedel und der braunen Resi in der kleinen Hütte.

[Illustration]



Achtes Kapitel.

Schlimme Freundschaft.


Die Schulstunde war zu Ende und alle Mädchen machten sich fröhlich
daran, nach Hause zu gehen; auch Aennchen hatte bereits ihren Hut vom
Nagel genommen und nach der Büchertasche gegriffen, da nahm Alma sie
beiseite und flüsterte ihr ins Ohr:

»Du mußt mir einen Gefallen thun und Sarah Elich noch einige
Augenblicke im Zimmer zurückhalten, ohne daß sie es merkt.«

Aennchen sah die Freundin erstaunt an – was mochte diese mit Sarah
Elich vorhaben, mit welcher sie doch seit jener Scene im Garten in
beständiger Feindschaft gelebt hatte? Aber bereitwillig wie immer, wenn
es galt, einen Wunsch Almas zu erfüllen, ging sie auf Sarah zu, welche
sich soeben zum Fortgehen anschickte, und bat sie um die Gefälligkeit,
ihr ein Rechenexempel, welches der Lehrer heute aufgegeben, noch einmal
zu erklären. Damit war Sarah an ihrer schwachen Seite gepackt, denn
nichts schmeichelte dem ehrgeizigen Mädchen mehr, als wenn sie die
Belehrende in der Klasse spielen durfte. So nahm ihr für gewöhnlich
unfreundliches Gesicht einen milderen Ausdruck an, während sie Aennchen
aufs Umständlichste die Aufgabe begreiflich zu machen versuchte. Die
andern Mädchen verließen unterdessen alle nach einander die Schule;
nur Alma stand, von Sarah unbemerkt, hinter ihr und machte sich hinter
deren Rücken zu schaffen. Endlich war Sarah mit ihrer Erklärung zu
Ende, wandte sich und ging zur Thüre hinaus. Auch Aennchen war im
Begriff, ihr zu folgen, hätte aber beinahe laut aufgeschrieen, als
Alma ihr rasch die Hand auf den Mund legte und Schweigen gebot.
Aennchen aber starrte aufs höchste verblüfft bald die Freundin an, bald
der verschwindenden Sarah nach.

Wie unendlich komisch, wie furchtbar lächerlich sah die gravitätisch
und ahnungslos dahinschreitende Sarah aus! Alma hatte ihr verstohlener
Weise auf den Hut eine Haube aus rotem Seidenpapier befestigt, von
welcher zwei Bockshörner in die Höhe ragten, und auf dem Deckel ihres
Bücherranzens prangte ein rotes Papier, welches mit einem großen
Eselskopf bemalt war.

»Aber Alma!« rief Aennchen, als sie wieder Atem bekam. »Du kannst doch
unmöglich wollen, daß Sarah so durch die Stadt läuft!«

»Natürlich will ich das,« versetzte Alma ernsthaft, »ich gönne ihr eine
solche Demütigung von Herzen.«

»Nun, dann will ich wenigstens nichts von deinem Streiche wissen!« rief
Aennchen ernstlich böse, indem sie sich rasch von Alma abwandte, »es
thut mir wirklich leid, daß ich dir durch meine Gefälligkeit noch die
Sache erleichtert habe.«

»Wenn du mich verklatschen willst, du feige Liese,« rief Alma
verächtlich und zornglühend aus, »dann thue es doch! Aber dann erhältst
du auch niemals mehr einen freundlichen Blick von mir!«

Diese letzte Drohung hätte wohl Aennchen im Augenblick wenig
erschreckt, da sie wirklich aufgebracht über Alma war, aber die
Anschuldigung, feige klatschen zu wollen, erschien ihr wie die größte
Beleidigung. So rief sie dann erregt:

»Verklatschen werde ich dich niemals, denn das ist verächtlich und du
weißt recht wohl, daß ich verschwiegen sein kann.«

»Gut, dann versprich mir auch in die Hand, daß du, wenn du gefragt
wirst, meinen Namen nicht nennen willst,« sprach Alma rasch versöhnt,
und Aennchen mußte ihr die Hand darauf geben.

Es war ihr nicht wohl bei der Sache und mit ziemlich bösem Gewissen
ging sie heute nach Hause, mußte auch den ganzen Mittag über an
die Geschichte denken und beneidete Bruder Fritz, welcher eine
ausgezeichnete Zensur mit nach Hause gebracht hatte und nun so stolz
und vergnügt von seinen Schulerlebnissen erzählen konnte.

Als Aennchen nachmittags spät in die Schule kam, herrschte in der
ganzen Klasse große Aufregung. Herr Müller stand mit einer lebhaft
erregten Dame in einer Ecke des Zimmers und nicht weit von den beiden
stand Sarah Elich mit ganz dick verweinten Augen, die sie böse im
Zimmer umherschweifen ließ. Die Mädchen flüsterten und kicherten alle
zusammen, bis Herr Müller, nachdem die Dame das Zimmer verlassen hatte,
ein Zeichen gab und sprach:

»Ich habe heute eine sehr traurige Erfahrung gemacht, die mich bitter
kränkte. Eine eurer Mitschülerinnen, Sarah Elich hier wurde durch
einen so abscheulichen Streich gefoppt, wie er nicht einmal in der
Knabenschule vorkommen darf. Es wurden ihr heimlich entstellende Bilder
am Hut und Ranzen befestigt und als Sarah dann ahnungslos durch die
Straßen nach Hause ging, folgte ihr die Gassenjugend mit Spottgeschrei
und Hohngelächter, so daß sich das erschreckte Mädchen ganz atemlos
in ein Haus flüchten mußte, wo sie die Ursache jenes Aufsehens erst
entdeckte. Wer hat der Armen nun diesen schlechten niederträchtigen
Streich gespielt? Ich fordere jede von Euch auf, zu gestehen oder
anzugeben, was sie darüber weiß!«

Herr Müller machte eine Pause und ließ seine Blicke forschend über
alle Schülerinnen hinschweifen; als er Aennchens Augen traf, mußte
diese schwer die Lider senken und fühlte dabei, wie sie über und über
flammend rot wurde.

»Aennchen,« sprach Herr Müller ernst und ließ seinen durchdringenden
Blick noch immer auf ihr ruhen, »du warst diejenige, mit welcher Sarah,
nach ihrer Aussage, zuletzt noch im Gespräch verweilte. So mußt du
unbedingt am ersten Bescheid wissen und ich frage dich ernstlich und
dringend: Was weißt du von dem ganzen Streiche? Hast du ihn am Ende
selbst verübt?«

»Nein, o nein, gewiß nicht!« rief Aennchen angstvoll, indem sie die
Hand abwehrend ausstreckte, und ihre Augen zeigten solch aufrichtiges
Entsetzen, daß Herr Müller ihr glaubte und freundlicher fortfuhr:

»Es freut mich, daß du nicht die Schuldige warst; aber vielleicht weißt
du doch, wer es gethan hat; du und Alma von Stolzau, welche heute
nicht in der Klasse erschienen ist, ihr beide waret zuletzt um Sarah
beschäftigt. Weißt du vielleicht, ob Alma den Streich begangen hat?«

Es wurde Aennchen bei dieser Frage schwindelnd vor den Augen – wie
gerne, o wie gerne hätte sie ihr schweres Herz erleichtert und gerufen:
»Ja, Alma hat es gethan!« aber das durfte sie ja nicht, sie hatte Alma
versprochen, sie nicht zu verraten; so stürzten Thränen aus ihren
Augen, sie zitterte am ganzen Körper und rief angstvoll:

»Lieber, guter Herr Müller, fragen Sie nicht, fragen Sie, bitte, nicht
– ich kann es nicht sagen!«

»Wenn ich es aber von dir fordere, so _mußt_ du es gestehen!« rief Herr
Müller, ernstlich böse und entschieden aus.

Aennchen jedoch gab keine Antwort, so sehr der Lehrer in sie drang;
sie weinte nur immer heftiger und erklärte, nichts zu wissen. So
unglücklich wie in diesem Augenblick hatte sie sich doch im Leben noch
nicht gefühlt und dies alles durch die Schuld der bösen Freundin,
welche sie noch dazu in der Stunde der Not im Stich gelassen hatte und
einfach gar nicht erschienen war. Herrn Müller standen die Zornesadern
auf der Stirn, als er seine Schülerin so verstockt fand, und mit
bebender Stimme erklärte er, sie zur Strafe so lang jeden Tag nach
dem Unterricht eine Stunde nachsitzen zu lassen, bis sie ein offenes
Geständnis abgelegt habe.

Hierauf brach der Lehrer von der Sache ab und der Unterricht begann,
von welchem Aennchen in ihrer trostlosen Stimmung freilich herzlich
wenig vernahm.

Als die Uhr vier schlug, durften alle Schülerinnen den Weg nach Hause
antreten. Herr Müller kam noch einmal auf Aennchen zu und sprach
freundlich ernst:

»Bedenke dich wohl, Aennchen! Wenn du mir den gewissen Bescheid
giebst, kann ich dir die Strafe erlassen und werde dir sogar meine
Verzeihung angedeihen lassen.«

Aennchen schaute den gütigen Lehrer mit trostlosen leeren Blicken an,
schüttelte den Kopf und – schwieg – da schritt er traurig und ernst
hinaus. Auch die Mädchen hatten sich verzogen, eine nach der anderen,
still war es im Zimmer, stille im ganzen Hause und alle die leichten
Mädchenfüße, welche tänzelnd die Treppen hinuntergeglitten waren,
verhallten nach und nach in der Ferne. Nun mochten auch die letzten das
Haus verlassen haben, denn die alte Hausmeisterin stieg schwerfällig
die Treppe herauf und schloß mit einem großen klappernden Schlüsselbund
die Klassen eine nach der anderen ab. Auch zu derjenigen, in welcher
Aennchen weilte, kam sie auf ihren großen Filzschuhen hergeschlürft und
streckte den grauen Kopf zur Thüre herein, brummte dann aber, als sie
die kleine zusammengekauerte Gestalt in der Ecke sah:

»Aha, noch ein kleines gefangenes Vögelchen; da darf der Käfig noch
nicht ganz geschlossen werden!«

Aennchen hätte gar zu gern auf die Alte zustürzen und sie anflehen
mögen, bei ihr zu bleiben in dem großen stillen Zimmer; allein
sie hegte große Scheu vor der strengen Frau, welche schon oftmals
gescholten hatte, wenn sie mit von der Straße beschmutzten Füßen über
die frischgereinigten Treppen hinaufstürmen wollte, ohne sich vorher
gehörig abzustreifen. So lauschte sie angstvoll, bis die Tritte der
Alten langsam wieder verhallten, und nun kam das Gefühl der Einsamkeit
erst recht beängstigend über sie. Sie wagte kaum zu atmen und sich in
dem Gemach umzusehen, das ihr in seiner Verlassenheit so ganz verändert
erschien, und doch mußte sie mit starren Blicken immer auf die lange
Reihe der leeren Bänke vor sich hinschauen und auf die große bunte
Landkarte an der Wand.

Und dann mußte sie wieder an zu Hause denken, welche Angst wohl ihre
liebe Mama empfinden würde, wenn das Töchterlein nicht zu gewohnter
Stunde nach Hause käme, und welch einen Schmerz würde es ihr bereiten,
wenn sie erfuhr, warum Aennchen nicht nach Hause kam?

So waren wohl drei Viertelstunden verstrichen, welche Aennchen wie
eine Ewigkeit dünkten, da kam abermals ein Schritt die Treppe herauf,
aber es war nicht der schwere schlürfende Schritt der Hausmeisterin,
sondern er klang leicht und elastisch. Und plötzlich stand eine kleine
unscheinbare Gestalt unter der Thüre und eine sanfte Stimme sprach:

»Aennchen, ist es dir recht, wenn ich dir etwas Gesellschaft leiste?«

Aufs höchste überrascht fuhr Aennchen empor und starrte die
Eingetretene an:

»Du bist es, Martha Traugott, was willst du hier?«

Martha trat näher zu Aennchen und sprach beinahe schüchtern:

»Ich habe so sehr Mitleid mit dir gehabt, als du so allein bleiben
mußtest. Da bin ich vorhin zu Herrn Müller gelaufen und habe ihn
gebeten, ob er mir nicht erlaube, die letzte Viertelstunde noch mit
dir nachzusitzen, und er hat es endlich gestattet, wenn auch nur
widerstrebend. Nun wird es dir doch hoffentlich recht sein, wenn ich
bei dir bleibe?«

Die sanften treuherzigen Augen der armen verwachsenen Martha blickten
Aennchen so herzlich an, daß diese aufs tiefste gerührt in Thränen
ausbrach, die Arme um das kleine verachtete Mädchen schlang, über
welches sie immer so hochmütig hinweggesehen hatte, und schluchzend
rief:

»O Martha, liebe Martha, wie soll ich dir diesen Liebesdienst vergelten
und wie habe ich es um dich verdient?«

Martha aber streichelte liebkosend mit ihren dünnen Fingerchen
Aennchens nasse Wangen und flüsterte dabei:

»Sei nur gut Aennchen, ich habe dich ja immer lieb gehabt, wenn du mich
auch nicht beachtet hast. Nun darfst du bald zu deinem Mütterchen nach
Hause und der erzählst du dann ganz aufrichtig, wie alles gekommen ist,
und verschweigst ihr nicht das Geringste – gelt? Dann wird alles wieder
gut.«

»Gewiß glaubt der Lehrer und alle Mädchen, daß ich der Sarah den
Streich gespielt habe?« schluchzte Aennchen.

»Nein,« sprach Martha, »das glauben nur die wenigsten von uns. Die
meisten haben Verdacht auf Alma, welche es gewiß auch gethan hat; du
wolltest sie nur nicht verklatschen.«

»Martha, woher weißt du es so genau?« rief Aennchen, indem ihr die
Thränen stille standen. »Du mußt wirklich sehr klug sein; aber nun
sage selbst: hätte ich Alma verklatschen dürfen, nachdem ich doch
versprochen hatte, es nicht zu thun?«

»Ich glaube, du hättest es eben gar nicht versprechen dürfen,« meinte
Martha nachdenklich. »Nun muß jedenfalls Alma bewogen werden, auch
selbst ihr Geständnis abzulegen, und es war sehr schlimm von dir, daß
du gegen Herrn Müller so verstockt warst. Nun wollen wir aber nicht
mehr von der Geschichte sprechen, die Stunde deiner Befreiung schlägt
soeben und ich führe dich nach Hause, wenn es dir recht ist.«

»Du bist das liebste beste Geschöpf auf Erden!« rief Aennchen tief
gerührt und umarmte die kleine Gefährtin dankbar. »O bitte, stehe mir
noch bei, wenn ich nach Hause komme und Mama die Geschichte erzählen
muß!«

[Illustration]



Neuntes Kapitel.

Martha.


Aennchen war krank. Sie war damals an jenem unglücklichen Nachmittag
mit Kopfschmerzen nach Hause gekommen, und während die kleine Martha,
wie sie gebeten worden war, Aennchens Mutter den ganzen Hergang
berichtete, hatte das zerknirschte Mädchen so viel geweint und
geschluchzt, daß es ganz elend geworden war.

So wurde sie denn rasch zu Bett gebracht und hier begann sie zu
fiebern. Der Herr Doktor wurde geholt und erklärte, daß der Scharlach
bei dem Kind im Anzug wäre. Aennchens Eltern erschraken sehr und
ließen ihr krankes Kind aus dem Kinderzimmer in ein abgelegenes Gemach
bringen, damit die Brüder nicht von ihm angesteckt würden. Die Mama
widmete sich Tag und Nacht der Pflege der Kleinen und nur, wenn sie
zu sehr davon erschöpft war, erlaubte sie der alten Kinderfrau, sie
abzulösen. Aennchen lag längere Zeit in heftigem Fieber und wußte
nichts von sich; da phantasierte sie beständig von der Schule und
Alma – am meisten aber beschäftigte sie sich doch mit Martha und kaum
begann sie wieder klaren Sinnes zu werden, da verlangte sie dringend,
das kleine verwachsene Mädchen zu sehen. Es konnte ihr freilich nicht
gestattet werden; die Gefahr der Ansteckung war noch nicht beseitigt,
aber die Mama versprach ihr sobald sie wieder vollständig genesen sei,
würde sie das kleine Mädchen zu ihr herüberbitten.

Und so war denn endlich einmal ein Tag gekommen, an welchem Aennchen
vollständig fieberfrei und genesen in ihrem Bettchen saß; der Herr
Doktor war soeben fortgegangen, nachdem er erklärt hatte, seine liebe
Patientin sei von nun an als vollständig gesund zu betrachten und
er habe ihr keinen Rat mehr zu erteilen, als sich das Essen recht
schmecken zu lassen. Die Mama hatte Freudenthränen in den Augen, als
sie ihr liebes Kind mit Dank gegen Gott in die Arme schloß, und die
Brüderchen durften alle an ihr Bett kommen und sie begrüßen. Dann
wurden sie wieder davongeführt und es war still im Zimmerchen; da
öffnete sich auf einmal die Thüre und an der Hand von Aennchens Mutter
trat die kleine Martha schüchtern in das Gemach, in den Händen einen
großen Blumenstrauß haltend.

»Hier hast du denn endlich deine kleine Freundin, welche ein Stündchen
bei dir bleiben darf,« sprach Aennchens Mama lächelnd. »Ihr dürft
aber nicht gar zu lang sprechen und euch gegenseitig nicht aufregen.
Aennchen besonders soll sich ganz ruhig verhalten und sich lieber von
Marthchen erzählen lassen.«

Damit ließ die gute Mutter die beiden Mädchen allein, welche sich
innig umschlungen hielten. Die kleine Martha setzte sich an Aennchens
Bett und erzählte ihr mit ihrer leisen sanften Stimme alles, was sich
während der langen Wochen, welche Aennchen krank gelegen, zugetragen
hatte. Und Aennchen hörte voll Staunen, daß bereits so lange vergangen
sei seit jenem letzten Schultag; daß unterdessen der Herbst ins Land
gezogen sei und was sich inzwischen in der Schule alles verändert habe.

Alma von Stolzau sei gar nicht mehr in die Schule gekommen, weil
ihre Mutter eine Reise mit ihr angetreten habe. Der Lehrer habe ihre
Eltern von dem bösen Streich noch in Kenntnis gesetzt, welchen sie am
letzten Tag einer Schülerin gespielt habe, und Herr von Stolzau habe
geantwortet, er würde seine Tochter noch gebührend bestrafen.

»Die arme Alma!« sagte Aennchen bedauernd; »das wird wohl schlimm
ausgefallen sein, denn ihr Vater ist sehr streng. Aber hat sie mir denn
kein einziges Wörtlein Lebewohl sagen lassen?«

»O ja, sie sandte in deiner Krankheit wohl Grüße und Blumen an dich,
aber du warst zu krank, davon zu erfahren. Armes Aennchen, nun hast du
deine Freundin verloren!« Martha blickte Aennchen mitleidig an, diese
schlang den Arm um ihren Hals und bat leise:

»Willst du meine Freundin sein, wenn ich dir nicht zu böse bin?«

Damit war der Freundschaftsbund geschlossen und nun kamen Stunden
schönsten Genusses für die beiden kleinen Mädchen. Jeden Tag, welchen
Aennchen noch im Zimmer zu verbleiben hatte, brachte Martha einige
Stunden bei Aennchen zu, machte ihre Schulaufgaben bei ihr und war
Aennchen behilflich, das, was sie während der Krankheitszeit versäumt
hatte, unter ihrer Leitung nachzuholen. Und sie verstand es so gut, die
geduldige, gewissenhafte Lehrerin zu spielen, daß Aennchen wirklich
Fortschritte machte und sich bestrebte, dem guten Beispiel, das ihr
geboten war, nachzufolgen.

Als sie wieder ausgehen konnte, durfte ihr erster Gang zu Martha sein,
um dieser für alles, was sie ihr während der langen Krankheitszeit
erwiesen hatte, zu danken. Mit klopfendem Herzen stieg sie die enge,
dunkle Treppe empor und klingelte an der kleinen Thür des Hausganges.
Trippelnde Schritte näherten sich von innen und Martha selbst öffnete
ihr. Sie sah wie ein kleines Hausmütterchen aus, war in eine große
leinene Schürze gekleidet, welche die ganze schmächtige Gestalt
einhüllte, und ihre schwachen Aermchen schleppten an einem Bündel Holz
und Reisern, welche sie fest an sich gedrückt trug. Bei Aennchens
Anblick flog ein verlegenes Erröten über ihr Gesichtchen: »Du findest
mich sehr beschäftigt,« sagte sie, »ich war eben darüber, ein kleines
Feuerchen in meiner Schwester Zimmer zu machen.«

»Ist es möglich?« staunte Aennchen. »Du kannst es doch unmöglich
verstehen?«

»O doch,« versicherte Martha eifrig, »wir haben kein Mädchen und da
wir deswegen alle Geschäfte selbst verrichten müssen, so habe ich
Mütterchen vieles abgelernt, um sie etwas bei der Arbeit unterstützen
zu können. – Aber so komm doch nur herein, damit du die Meinen begrüßen
kannst!«

Damit führte sie Aennchen in ein kleines, niedriges Zimmer, das
freilich sehr einfach in seiner Einrichtung war, aber doch höchst
behaglich wirkte durch die Sauberkeit und Ordnung, welche überall
herrschte. Die Kommoden und Tische waren mit weißen gehäkelten Deckchen
geziert, blendend weiße Gardinen verhüllten die kleinen Fenster,
an welchen einige Blumenstöcke standen, und in einem Messingbauer
zwitscherte ein gelber Kanarienvogel ein vergnügtes Liedchen. In einer
Ecke des Gemaches stand ein Bett und auf den weißen Kissen lag ein
blasses zartes, junges Mädchen mit großen glänzenden Augen und sanftem,
lieblichem Gesicht. Den Lehnstuhl neben ihrem Bette hatte eine würdige
alte Dame inne, welche sich bei Aennchens Eintritt freundlich erhob und
ihr grüßend entgegenkam.

»Gott segne dich, mein liebes Kind, und erhalte dich fortan gesund,«
sprach sie, indem sie Aennchen küßte; »wie glücklich wird deine Mama
sein, daß du wieder genesen bist! Könnte doch meine arme Klara auch
wieder gesund werden!«

Ein trauriger Blick der guten Frau flog zu dem kranken Mädchen im Bett
hinüber; dieses streckte mit einem süßen Lächeln dem schüchternen
Aennchen die abgezehrte Hand entgegen und sprach mit unendlich sanfter
Stimme:

»Komm doch näher, liebes Aennchen! Du bist mir schon längst aus den
Erzählungen meines Schwesterchens bekannt und vertraut, und ich habe
mich schon so darauf gefreut, dich kennen zu lernen. Nun mußt du dich
auch zu mir setzen und mir recht viel erzählen.«

Und sie zog Aennchen zärtlich zu sich heran, welches bald alle Scheu
verlor und sich außerordentlich angeheimelt und wohl in dem niedrigen
kleinen Stübchen zu fühlen begann. Das Feuer, welches Martha im Ofen
entzündet hatte, knisterte so behaglich, Martha ging ab und zu, setzte
einen Topf mit Wasser auf und begann draußen in der kleinen Küche
Kaffee zu mahlen, während die Frau Pfarrerin ruhig an ihrer Arbeit,
einer großen Filetdecke, fortfuhr. Aennchen sah mit hellem Staunen
diesem fleißigen Walten in der Stube zu; sie hätte niemals gedacht,
daß ein kleines Mädchen der Mutter schon so an die Hand zu gehen
vermöchte, denn während diese den Kaffee aufgoß, begann Martha den
Tisch aufzudecken, Tassen und den Brotkorb und die Zuckerdose darauf zu
stellen, und als alles fertig war, nahm sie die große Schürze ab und
lud alle freundlich zum Kaffee ein.

»Du staunst wohl, liebes Kind, was mein fleißiges Hausmütterchen
Martha alles zu arbeiten versteht?« sprach die Frau Pfarrerin zu dem
verblüfften Gast während sie ihm Kaffee einschenkte. »Aber mit gutem
Willen und einiger Geschicklichkeit vermag ein Mädchen selbst in
Kinderjahren schon Tüchtiges zu leisten. Ich könnte ohne meine liebe
kleine Martha gar nicht zurechtkommen; sie ist unser Sonnenstrahl in
trüben Tagen.« Damit küßte sie ihr vor Freude errötendes Kind auf die
Stirn und blickte ihr tief in die großen blauen Augen, fragte aber dann
besorgt:

»Hast du heimlich geweint mein Kind, weil du einen solch trüben,
umränderten Blick hast?«

Martha neigte das Köpfchen tief auf die schmale Brust, konnte aber doch
nicht verbergen, daß zwei große Thränen langsam aus ihren Augen über
die Wangen herabrollten. Leise und betrübt murmelte sie:

»Als ich vorhin über die Straße ging, kreuzten wilde Gassenbuben meinen
Weg und wie ich ihnen ängstlich auswich, riefen sie mir spottend nach:
›Dort läuft die bucklige Martha!‹«

Das arme verwachsene Kind brach in Thränen aus und auch Aennchen
standen die hellen Thränen in den Augen. Sie umschlang die Freundin
zärtlich mit den Armen und rief:

»Laß dich doch durch solche rohe Buben nicht kränken! Ich werde dir ein
Märchen erzählen, das mir erst gestern Mama aus einem schönen Buche
vorgelesen hat und das dich am besten trösten mag. – Da war einmal ein
armes, kleines buckliges Mädchen, das traute sich nie bei Tag über die
Straße zu gehen, weil es einen so großen Höcker gleich einem dicken
Kasten auf dem Rücken trug, daß alle bösen Kinder, die es sahen,
seinen Spott mit ihm trieben und es verhöhnten. Weil das arme Kind
aber nie an die Luft kam und seine Eltern zu arme Leute waren, die
ihm keine kräftige Nahrung bieten konnten, wurde es immer blässer und
schmächtiger und eines Tages war es so schwach, daß es sich nicht mehr
aus seinem elenden Bettchen erheben konnte. Es betete zum lieben Gott
um Erlösung, da sandte er einen lichten Engel, welcher zu dem buckligen
Mädchen niederflog und es emporholte in das himmlische Reich. Der
Engel flog mit dem staunenden Kind durch das ganze weite Himmelszelt:
vor der Pforte zum Eingang in die Ewigkeit setzte er es nieder und
Petrus öffnete die Thür und lud es zum Eintreten ein. Aber das kleine
Mädchen zauderte und Thränen rannen ihm die blassen Wänglein herab.
›Ach,‹ schluchzte es, ›ich bin doch nicht wert, zu all den herrlichen
himmlischen Englein eintreten zu dürfen, ich habe ja einen so großen
Buckel.‹ Petrus stand gerührt und des Engels Antlitz erglänzte voll
himmlischer Milde. Sanft berührte er mit seinem goldenen Stab den
häßlichen großen Kasten, welchen das arme Kind Zeit seines Lebens auf
dem Rücken getragen hatte, und siehe – er sprang auf und zwei wunderbar
lichte Engelsflügel schwangen sich daraus hervor. ›Weißt du nun, was du
so lange auf dem Rücken getragen hast?‹ fragte der goldene Engel und
er küßte den neuen kleinen Engel, welcher ganz berauscht von Glück mit
ihm in die himmlischen Gefilde flog. – Dies ist die Geschichte von dem
armen, buckligen Mädchen.« schloß Aennchen ihre Erzählung.

Eine feierliche Stille herrschte im Zimmer, dann zog Marthas Mutter die
kleine Erzählerin an sich und küßte sie mit bebenden Lippen.

»Hab Dank für diese liebe Mär,« flüsterte sie und blickte dann ihre
Martha an, welche ganz gehoben dasaß und deren demütiges Gesichtchen
einen beinahe feierlichen Ausdruck zeigte. »Deine kleine Geschichte
wird ihr künftig bei allen weiteren Demütigungen ein Trost sein, den
sie auf ihrem Lebensweg gar wohl gebrauchen kann. Willst du aber nun
auch erfahren durch welchen unglückseligen Fall mein armes Kind zu
diesem Gebrechen kam? Er hängt mit der Krankheit meiner Tochter Klara
eng zusammen.«

Aennchen nickte aufs höchste gespannt und die Frau Pfarrerin erzählte:

»Als mein guter Mann noch lebte, da wohnten wir in einem freundlichen
Pfarrhause auf dem Land. Es war ein reizendes Häuschen, das ein
blühender Garten dicht umschloß, aber freilich lag es ziemlich einsam
und abgelegen von allem Verkehr. Uns störte das in unserem Glücke nicht
und unsere Kinder noch weniger; sie waren damals noch klein: meine
Tochter Klara acht Jahre alt, Martchen kaum ein einziges Jahr, und die
köstliche Landluft, in welcher sie aufwuchsen, ließ die beiden gleich
Röslein erblühen. Eines Tages hatten mein Mann und ich einen weiten
Weg in die Stadt zu machen; wir übergaben daher die beiden Kinder der
Wärterin, welche allerdings keine sehr gewissenhafte Person war. Als
wir halbwegs gegangen waren, begegnete uns eine Schar von Zigeunern und
besorgt sprach ich gegen meinen Mann die Befürchtung aus, dieselben
könnten möglicherweise ihren Weg über das Pfarrhaus nehmen. Beinahe
wäre ich umgekehrt, doch schalt ich mich thörichterweise aus wegen
meiner Angst – hätte ich doch meinen Entschluß ausgeführt, ich würde
viel Unglück verhütet haben! – Denn ach, es geschah, wie ich gefürchtet
hatte: die Zigeuner gerieten in die Nähe unseres Pfarrhauses und ein
Weib wurde von der Bande zum Betteln ausgeschickt. Sie fand keinen
einzigen, erwachsenen Menschen im ganzen Hause; die treulose Wärterin
war zum Plaudern ins Dorf gegangen; Klara spielte hinten im Gärtchen
und alles war totenstill. So machte sich die Alte mit gieriger Hand
daran, in dem offenen Wohnzimmer zu stehlen, soviel sie konnte; da fiel
ihr Blick auf eine kleine Wiege, in welcher ein unschuldiges Kindlein
in süßem Schlummer lag. Rasch wie der Blitz hatte sie es ergriffen
und an sich gedrückt, da fühlte sie sich von hinten umfaßt und eine
bebende Kinderstimme rief: »Laß mir mein Schwesterchen, o nimm mein
Schwesterchen nicht davon.« Die Alte suchte das sie umklammernde
Kind von sich abzuschütteln – allein dasselbe hatte sich mit beinahe
übermenschlicher Gewalt an sie gehangen und rief in lauten gellenden
Tönen um Hilfe. Lange dauerte der Kampf zwischen der Frau und der
Kleinen, die mit dem Mut der Löwin um das zarte Schwesterchen kämpfte
obwohl die Alte ihr einige entsetzliche Stöße versetzt hatte: endlich
riß der Zigeunerin die Geduld, als sie von fernher Schritte nahen
hörte; sie warf den kleinen Säugling mitten in die Stube, schleuderte
das Mädchen von sich ab und rannte ins Freie. – Als wir Eltern nach
Hause kamen, fanden wir unsere unglücklichen Kinder zwar gottlob noch
vor, aber beide schwer verletzt von dem furchtbaren Ueberfall. Es
zittert mir das Herz, mehr davon berichten zu sollen; genug, meine
arme Klara trug durch den Schrecken ein langes Siechtum davon und
meiner armen kleinen Martha ward von dem jähen Fall das zarte Rückgrat
gekrümmt. – Nicht wahr, das ist eine traurige Geschichte, mein Kind?«
schloß die Frau Pfarrerin, ihre Augen trocknend, zu Aennchen, »aber
unser Trost ist, daß jedes Leid von Gott kommt, und daß es uns nur so
viel schickt, als unsere Schultern tragen können. Auch uns ist aus
dem Leid hohe Tröstung erwachsen; die Herzen meiner Kinder haben sich
zu Gott gekehrt und sie nehmen dankbar entgegen, was er in seinem
Ratschluß für sie beschlossen hat.«

Es war Aennchen zu Mut, als wäre sie in einer Kirche, und sie vermochte
kein Wort zu erwidern. Aber die Frau Pfarrerin, welche fürchten mochte,
sie zu sehr aufgeregt zu haben, brachte das Gespräch auf andere Dinge
und forderte Martha auf, Aennchen ihre Spielsachen zu zeigen – »denn,«
sagte sie, »meine Martha soll auch ihre kindlichen Freuden haben gleich
andern Kindern.«

»Hast du auch ein Spielzimmer, wie wir?« frug Aennchen neugierig.

»O nein, wie kannst du denken,« lächelte Martha, »wir haben ja nur zwei
Stuben im ganzen, aber dennoch besitze ich eine so schöne Spielecke mit
Puppenstube, daß ich sie mit keiner prächtigeren vertauschen möchte.
Komm nur, ich will sie dir zeigen.«

Damit führte Martha Aennchen mit geheimnisvoller Miene nach einem
Plätzchen hinter dem Ofen und voll Staunen stand diese davor. Eine
solche Spielecke hatte sie noch nie gesehen! Der große Kachelofen
bildete eine tiefe Nische zwischen der Wand und einem vorstehenden
Tisch, welcher gerade für eine schmale Kindergestalt noch Raum zum
Durchschlüpfen ließ. Und so war die kleine Ecke denn ein höchst
gemütliches lauschiges Winkelchen, welches sich Martha mit unendlicher
Sorgfalt und Mühe und viel Geschicklichkeit zu einem niedlichen
Puppenzimmer umgeschaffen hatte, in dem sie selbst auf einem
niedern Schemelchen auch Platz finden konnte. Ein kleines einfaches
Puppenbettchen, mit weißen Wollvorhängen umzogen, stand in der Ecke,
daneben eine alte Puppenkommode, auf der ein gehäkeltes Deckchen und
allerlei niedliche Kleinigkeiten lagen; dann ein Schränkchen und ein
Puppentisch und Puppenstühlchen, auf dem eine Puppe saß vor einem
aufgeschlagenen Puppenschreibheft und mehreren Büchelchen. Alles war
sehr einfach aber außerordentlich sauber gehalten, dann hatte noch ein
Nähkästchen und ein Korb mit Flickresten seinen Platz dabei.

Aennchen war ganz entzückt von allem; so gut hatten ihr selbst Almas
Spielsachen nicht gefallen.

»Hat deine Mama dir alles so gemütlich eingerichtet?« frug sie lebhaft.

»Bewahre, Aennchen, das habe ich mir alles selbst gemacht,« erwiderte
Martha. »Sieh, meine Mama ist viel zu arm, mir kostbares Spielzeug zu
kaufen, aber sie besaß selbst von ihrer Kinderzeit her noch diese Puppe
und die kleinen Möbel, welche auch meine Schwester Klara zum Spielen
hatte. Als es auf mich übertragen wurde, war alles schon recht alt
und morsch, doch hat ein guter Tischler, den ich darum bat, mir alles
wieder zusammengeleimt und angestrichen. Dann bat ich Mama um etwas
Mull zu einem Bettvorhang und Stoff zu Ueberzügen. Das nähte ich dann
alles selbst und es ist doch sehr hübsch geworden, nicht wahr? Alle
vierzehn Tage halte ich Puppenwäsche, da wird alles gut durchgewaschen,
damit es ordentlich und sauber aussieht.«

Aennchen glaubte ihren Ohren nicht trauen zu dürfen. »Das hast du
wirklich alles selbst genäht?« fragte sie erstaunt. »Aber doch sicher
nicht die niedlichen Puppenkleider, die hier in dem Schränkchen hängen?«

»Alle hab ich selbst gemacht,« versicherte Martha stolz. »Meine
Schwester Klara hat sie mir zugeschnitten und ich nähte sie dann in
meinen freien Stunden, selbst das Mäntelchen und die Kapuze. Wenn ich
nur mehr hübsche Fleckreste bekommen könnte; ich hätte dann auch gern
ein paar Staatskleidchen gemacht.«

Aennchen war beinahe stumm vor Beschämung. Sie erinnerte sich jener
schönen Puppe zu Hause, welche sie unbekleidet zum Geburtstag bekommen
hatte, damit sie aus den hübschen Zeugresten ihr selbst Kleidungsstücke
herstellen sollte; das hatte sie aber nicht gethan, sondern die arme
Puppe lieber die ganze lange Zeit im dünnen Hemdchen im Kasten liegen
lassen, als daß sie selbst die faulen Fingerchen ihretwegen gerührt
hätte. Und dies kleine Mädchen hier, welches schon ohnedies so viel
Anderes zu thun hatte und in der Schule eine Musterschülerin war, hatte
trotzdem Zeit gefunden, seinen Puppenhaushalt in solch musterhafter
Ordnung zu erhalten!

»Ich habe auch eine schöne Puppe daheim, welche der Kleidchen bedarf,«
sagte Aennchen jetzt beinahe schüchtern, »würdest du so freundlich
sein, mir zu zeigen, wie man dieselben anfertigt? Meine Mama hat mir
die reizendsten Stoffe zu Kleidchen gegeben.«

»O, das ist ja herrlich,« rief Martha freudig aus. »Da wollen wir
tüchtig zusammen schneidern; du wirst sehen, welch großes Vergnügen es
gewährt, etwas Hübsches zu stande zu bringen, und ich bin immer ganz
stolz, wenn mein Kind neu und schön gekleidet ist. Bringe deine Puppe
nur recht bald zu mir herüber; wenn ich eine freie Stunde habe, dann
wollen wir recht fleißig zusammen sein. Nun mußt du aber auch noch die
Schulbücher meiner Lilly sehen.«

Damit öffnete sie ein kleines Schubfach, in welchem eine Anzahl der
niedlichsten Heftchen lagen, alle selbst zugeschnitten und genäht,
liniert und mit sauberer, sorgfältiger Schrift beschrieben, selbst ein
kleines Zeichenheft, zur Hälfte mit Zeichnungen bedeckt, war dabei
und eine kleine Schiefertafel mit Schwämmchen. So etwas Niedliches
hatte Aennchen wirklich noch nicht gesehen und begierig ließ sie sich
von Martha berichten, in welcher Art sie mit der Puppe immer die
Lehrstunde halte und wie diese alles, was Martha selbst in der Schule
gelernt, dann auch in ihre kleinen Hefte eintragen müsse. Bei dieser
Gelegenheit prägte sich Martha dann spielend alles doppelt leicht
ein. Welche Freude hatte Aennchen, als die kleine Lehrmeisterin sie
aufforderte, sich auch künftig an dem Spiel zu beteiligen, und als sie
dann endlich nach Hause zurückkehrte, da war ihr kleines Herz so voll
von allen neuen Eindrücken, daß sie es gar nicht erwarten konnte, ihrer
Mama alles zu berichten. Diese lauschte erfreut den Erzählungen ihres
Töchterleins und sagte dann:

»Ich bin sehr zufrieden, liebes Kind, wenn du dir ein so vortreffliches
Mädchen, wie die arme kleine Martha es ist, zur Freundin auswählst.
Du kannst dir an ihrem Fleiß, ihrem Gehorsam und ihrer Pflichttreue
nur ein gutes Beispiel nehmen und dies wird von unendlichem Nutzen für
dich sein. ›Sage mir, mit wem du umgehst und ich will dir sagen, wer du
bist,‹ ist ein nur zu wahres Sprichwort. Ein guter Freund vermag den
ganzen Charakter des andern zu veredeln und seinen Anschauungen eine
bessere Richtung zu geben. Dir mein kleines flatterhaftes Aennchen,
wäre dies von ganz besonderem Nutzen, denn durch die Freundschaft,
welche du so lange mit Alma von Stolzau gepflegt hast, hatten deine
Neigungen zum Leichtsinn und Uebermut sich sehr verschlimmert; so
danke ich Gott, wenn du nun auf andere Wege geführt wirst, und werde
glücklich sein, aus meinem Töchterlein ein recht braves artiges Mädchen
werden zu sehen.«

Und wirklich, die Freundschaft Aennchens zu der armen Martha trug
bald so überraschende Früchte, daß Eltern und Lehrer voller Staunen
die Umwandlung mit ansahen, welche mit dem früher so flatterhaften
Mädchen vorging. Aennchen bemühte sich, in der Schule eine ebenso
fleißige und aufmerksame Schülerin zu sein, wie ihre Freundin; sie
gab in den Unterrichtsstunden genau auf die Worte des Lehrers acht,
vermied es, mit ihren Nachbarinnen heimlich zu flüstern oder unter
dem Tisch sich mit Spielereien zu beschäftigen, wie sie es, zu ihrer
Schande müssen wir es gestehen, leider früher nicht selten versucht
hatte. Ihre Bücher und Hefte hielt sie von nun an sauberer als vorher,
denn das war wirklich höchst notwendig, wollte sie die Geduld ihrer
Lehrer nicht aufs äußerste erschöpfen. Hatte sie doch einmal ein ganzes
Rechenbuch derartig mit Kritzeleien und kleinen Bildern vollgezeichnet,
daß es völlig unbrauchbar geworden war und sie dafür tüchtig bestraft
werden mußte. Ihre Hausaufgaben fertigte Aennchen nur immer mit Martha
zugleich.

Aennchens Eltern hatten aus dem kleinen Stübchen, welches früher das
»Trutzstübchen« gewesen, seitdem die Kinder größer und artiger geworden
waren, ein gemütliches Arbeitszimmerchen geschaffen, in welchem ein
großer Schreibtisch und ein Büchergestell mit mehreren Stühlen alles
boten, was man zum Arbeiten nötig hatte, ohne die Aufmerksamkeit
durch andere Dinge abzuziehen. Hier saßen nun täglich nach der Schule
Martha und Aennchen zusammen, nachdem sie ihr Vesperbrot verzehrt
hatten, und arbeiteten mit Fleiß und Sorgfalt die Arbeiten aus,
welche die Lehrer ihnen aufgegeben. Bereits bestanden diese nicht
mehr allein aus Schreibübungen, Lesen und Rechnen, sondern sie hatten
schon französische Grammatik zu treiben, für den Religionsunterricht
nachzuholen, Naturgeschichte und Geographie zu studieren und noch
verschiedenes andere. Sogar schon deutsche Aufsätze wurden geübt, das
war den Mädchen die liebste Beschäftigung und sie arbeiteten dieselben
leicht und zufriedenstellend, so daß sie meist gute Noten davontrugen.

Wenn die Schularbeiten fertig waren, dann mußte Martha nach Hause zu
ihrer Mutter, um dieser an die Hand zu gehen; hatte dieselbe aber
keine besondere Arbeit für ihr fleißiges Töchterchen vor und bedurfte
die kranke Schwester Agnes ihrer Gesellschaft nicht, dann wurde ihr
erlaubt, mit Aennchens Puppe zu spielen.

Und das war nun erst recht der wahre Genuß! Lange schon hatte Aennchen
mit geschickten Fingern ihrer Freundin das Kleidermachen für Puppen
abgelernt und bereits besaß ihre früher so vernachlässigte Puppe eine
vollständige Garderobe, welche vom hübschesten Sonntagskleidchen bis
zum einfachsten Hausanzug äußerst niedlich von ihr selbst gefertigt
war. Wenn die Weihnachtszeit aber herankam, dann begnügten sich die
fleißigen Mädchen, nicht, ihre eignen Puppen zu versorgen – dann kaufte
Aennchens Mama eine Anzahl hübscher Puppen und diese wurden dann abends
bei Lampenlicht von den lieben kleinen Mädchenhänden reizend gekleidet
und geziert, damit sie dann am Weihnachtsabend eine Anzahl armer Kinder
erfreuen konnten.

So hatte die Freundschaft der kleinen verwachsenen Martha für Aennchen
wirklich die köstlichsten Früchte getragen.

[Illustration]



Zehntes Kapitel.

Ein Brief Almas an Aennchen.


Beinahe zwei Jahre waren schon darüber hingegangen, seitdem Aennchen
ihre Freundin Alma nicht mehr gesehen und nichts mehr von ihr gehört
hatte. Nur einmal brachte am Anfang Aennchens Vater die Nachricht nach
Hause, Herr von Stolzau sei nun auch ganz auf Reisen gegangen und
habe sein Gut einem Verwalter übergeben, seit Frau von Stolzau ganz
plötzlich in Italien gestorben sei. Aennchen hörte voll Mitleid, welche
Trauer die arme Alma betroffen habe, sie hätte ihr gerne ihre Grüße
gesandt, doch wußte sie ihre Adresse nicht und glaubte sich von ihr
längst vergessen.

Da, wer beschreibt ihr Erstaunen, brachte eines Tages der Briefträger
einen verschlossenen Korb an ihre Adresse; Aennchen konnte kaum
glauben, daß sie selbst damit gemeint sei, und als sie dennoch mit
hastigen Händen öffnete, da stieg ihr ein köstlicher süß betäubender
Duft entgegen! Zwischen Myrten und Orangenblüten lagen die herrlichsten
Apfelsinen, Trauben und Datteln vor ihren entzückenden Blicken, zu
oberst des Korbes aber, in Seidenpapier gewickelt, ein viereckiges
Couvert mit einem dicken engbeschriebenen langen Briefe. Ein Brief von
Alma! War es wirklich möglich?! Hatte die Freundin wirklich sie noch
nicht ganz vergessen?! Aennchen war ganz außer sich vor Stolz, und als
sie sich etwas gefaßt hatte, setzte sie sich hin und las den langen
Brief der folgendermaßen lautete und mit einer hübschen gleichmäßigen
Kinderschrift geschrieben war:

            Venedig.

        _Mein liebes Aennchen!_

    Du hast ganz sicherlich gedacht, daß ich dich vergessen habe,
    weil ich so ewig lange Zeit nichts von mir hören ließ und bei
    meiner schnellen Abreise nicht einmal Abschied von dir nahm.
    Aber du warst krank damals, da durfte ich nicht zu dir und
    hätte auch keine Zeit dazu gehabt, weil meine liebe Mama sich
    so schnell zu einer Reise nach Italien entschließen mußte.
    Sie war leidend geworden und sollte keinen Augenblick zögern,
    in ein wärmeres Klima zu kommen; der Herr Doktor hoffte dann
    sichere Genesung für sie. Aber ach, meine arme liebe Mama hat
    die Genesung leider nicht gefunden! sie wurde im Gegenteil
    immer kränker und schwächer, wenn ich dies selbst freilich kaum
    bemerkte; aber einmal, da kam ein schrecklicher Tag, an den ich
    nur mit Entsetzen zurückdenken kann, man sagte mir, als ich zu
    meinem Mütterchen wollte, es sei gestorben und ich hätte nun
    keine Mama mehr auf der Welt. Wie schrecklich mir da zu Mute
    war, liebes Aennchen, davon kann ich noch immer nicht sprechen;
    sie war ja die Einzige, welche mich, wie ich glaubte, wirklich
    lieb gehabt hat auf der Welt, mein Vater stand mir fern und ich
    fürchtete ihn und so wollte ich denn schier in meinem Schmerz
    verzweifeln. O, ich war so böse damals; ich wollte niemand,
    niemand mehr sehen; mein Fräulein, das mich nur immer strafen
    und ermahnen konnte, stieß ich mit Widerwillen von mir, und als
    mein Vater nach Mamas Tode kam und mich begrüßen wollte, da
    floh ich in Angst vor ihm und konnte auch später nur voll Scheu
    mit ihm verkehren, obgleich er gütig und nachsichtig war.

    Nicht wahr, lieb Aennchen, du kannst es kaum glauben, daß
    dies deine lustige Freundin Alma war? aber ich war völlig
    anders geworden und von all dem Kummer wurde ich blaß und
    krank und mußte viel zu Bette liegen. Wir wohnten in einem
    großen Palaste; mein Fräulein und ich hatten große prächtige
    Zimmer, aber sie waren so kalt und hoch, daß mich immer darin
    fröstelte. Mein Vater wohnte in einem andern Flügel des Hauses
    und machte viel Ausflüge, wo er nach Altertümern unter der
    Erde forschte. So war ich mit Mademoiselle doch immer wieder
    allein, welche sich gar wenig um mich kümmerte sondern meist in
    französischen Romanen las.

    Eines Tages lag ich recht matt auf dem Sofa und war etwas
    eingeschlummert; Fräulein hatte im Zimmer nebenan gesessen,
    da hörte ich sie plötzlich: »Feuer! um Gottes willen, Feuer!«
    rufen, sie warf ihr Buch auf den Boden, stürzte zur Thüre
    hinaus und schlug diese hinter sich zu. Erschrocken sah ich
    um mich, ich roch Brandgeruch und ein Knistern und Knattern
    tönte zu meinen Ohren. Und wie ich noch beinahe betäubt von dem
    Schreck war, da schlug plötzlich eine blendende Lohe zum Zimmer
    herein und gelbe und rote Flammen zingelten um mich auf. Ich
    wollte nun, meinem Fräulein nach, mich durch die Thüre retten;
    als ich sie aber geöffnet hatte, schlugen mir schon von unten
    Flammen entgegen, so daß ich die Treppe nicht mehr passieren
    konnte.

    Ich stürzte zum Fenster und blickte hinaus; schwarze
    Rauchwolken hüllten mich ein und man vermochte mich von unten
    wohl kaum zu sehen. So schrie ich laut und entsetzt um Hilfe,
    bis mein Hals heiser wurde und die Stimme mir versagte. In
    dieser entsetzlichen Not, Aennchen, da war ich ganz sicher, daß
    ich sterben würde und daß mir niemand nahe sei, als der liebe
    Gott; ich warf mich auf die Kniee und betete zu ihm und es fiel
    mir in dem gräßlichen Augenblick schwer aufs Herz, welch ein
    leichtsinniges verwöhntes Kind ich gewesen sei, wie böse ich
    mich dagegen aufgelehnt, als der liebe Gott meine kranke Mama
    zu sich genommen hatte und wie unrecht es von mir gewesen war,
    meinen Vater durch meine Kälte so zu betrüben. Wie gerne wäre
    ich anders geworden, aber jetzt war es zu spät, ich hatte nur
    noch Zeit, den lieben Gott um Verzeihung anzuflehen.

    Die Flammen leckten schon an meinen Kleidern und die Besinnung
    hatte mich beinahe verlassen, da sah ich plötzlich wie im
    Traum, wie eine schwarze jugendliche Gestalt sich über den
    Balkon zu mir hereinschwang, mich ergriff und dann zum Fenster
    emporhob. Dann hörte und sah ich nichts mehr, denn eine tiefe
    lange Ohnmacht kam über mich. –

    Als ich nach langer langer Zeit endlich wieder die Augen
    öffnete, da wußte ich mich kaum zurechtzufinden, wo ich war.
    Ich lag in einem fremden Bette und neben mir saß mein Vater mit
    einem gütigen kummervollen Gesicht, er hielt meine beiden Hände
    in den seinen und als ich ihn nun erwachend anblickte, da flog
    ein freudiger Strahl über sein Gesicht und er rief:

    »Lebst du wirklich, mein Kind? O, Gott sei gelobt!« Er umarmte
    mich, während Freudenthränen über seine Wangen rollten; ich
    wagte kaum an das Glück zu glauben, so geliebt zu sein und
    leise stammelte ich:

    »Hast du mich denn wirklich lieb, Väterchen?« Da gab sein
    inniger Blick mir die Antwort und als ich ihn um Verzeihung
    gebeten hatte für mein Benehmen, da sagte er mir, wie bitter
    weh es ihm gethan habe, daß sein kleines Mädchen kein Herz
    für ihn gezeigt habe, als er sich doch ohnedies so vereinsamt
    gefühlt habe in seiner Trauer. Und dann erzählte er mir, wie
    lange ich krank gelegen habe seit dem Brand und wie sehr er um
    mein Leben gebangt habe. Er hätte damals gar nicht im Hause
    geweilt, als der schreckliche Brand ausgebrochen sei, und wäre
    erst gerade in dem Moment zurückgekommen, als ein mutiger Knabe
    sein Kind aus den Flammen rettete.

    »Wo ist Mademoiselle?« frug ich.

    »Sie ist nicht mehr bei dir,« antwortete mein Vater
    stirnrunzelnd. »Als sie dich in der Gefahr so treulos verlassen
    konnte, sah ich ein, daß mein armes Vögelchen keine liebende
    Gefährtin an ihr besessen hatte. Aber deinen Lebensretter
    willst du doch sicher kennen lernen, nicht wahr, mein Kind?«

    Mein Vater stand auf und holte aus dem nächsten Zimmer einen
    Knaben herein, der, um einige Jahre älter als ich, mich mit
    seinen großen schwarzen Augen freundlich anlachte. Seine
    Gestalt schien mir von jener entsetzlichen Stunde her bekannt,
    das Gesicht hatte ich nicht deutlich erblicken können. Heute
    erschien es mir über die Maßen anziehend: schwarze feurige
    Augen, dunkle Gesichtsfarbe und dichtes braunes Lockenhaar.
    Ich reichte ihm dankbar die schwache Hand, die er halb
    schüchtern ergriff. Mein Vater sagte zu mir:

    »Du wirst hier in Peppino einen Gefährten erhalten für die
    Zukunft. Der junge Mann hat dich mir aus den Flammen gerettet,
    darum kann ich ihm nie genug dankbar sein. Er ist ein armer,
    elternloser Savoyardenknabe, der im größten Elend aufgewachsen
    ist; ich habe ihn zu deinem Bruder gemacht und werde ihn nun
    mit dir erziehen und ihn alles lernen lassen um dereinst einen
    tüchtigen Mann aus ihm zu machen. So hoffe ich auch von dir,
    Alma, daß du ihm eine brave liebende Schwester sein wirst.«

    Ich versprach es mit tausend Freuden und siehst du, liebes
    Aennchen, auf diese Weise bin ich zu einem gar lieben Bruder
    und Gefährten gekommen. Peppino ist ein prächtiger braver Junge
    und macht meinem Vater und seinen Lehren durch seinen Fleiß
    und seine Strebsamkeit viel Freude und wir beide haben uns so
    lieb, als ob wir wirkliche Geschwister wären. Mein Vater hat
    eine liebe gütige Dame als Erzieherin für mich gewonnen, welche
    so sanft und liebreich gegen mich ist wie eine Mutter, und
    ich lerne bei ihr so gern, daß mir die Lehrstunden immer ein
    wahrer Genuß sind. Ich habe auch schon sehr gute Fortschritte
    gemacht, sagt mein Fräulein. Viele Unterrichtsstunden teile
    ich mit Peppino, welcher einen Hofmeister hat, der immer ganz
    überrascht ist, wie leicht und rasch sein Schüler lernt.

    Nun muß ich dir aber, mein liebes Aennchen, auch ein wenig
    von dem herrlichen Land erzählen, in welchem ich nun schon so
    lange verweile. Ich wollte nur, du könntest all das Wunderbare
    mit mir schauen, welches uns hier in der Natur stets umgiebt.
    – Die Orangen- und Myrtenhaine, die köstliche Blumenpracht,
    die Palmen- und Myrtenbäume! Ich habe Rom gesehen mit all den
    Römerdenkmalen aus alter Zeit, dem Kapitol und dem Kolosseum,
    und mein Vater hat mir alles erklärt, so daß ich beinahe
    begriffen habe, warum die Ueberreste so wunderbar interessant
    für uns sind.

    Wir haben den Vesuv bestiegen; das ist ein hoher Berg, welcher
    einen offenen Krater besitzt; aus demselben steigen bei Tag
    und Nacht glühende Dämpfe hervor, denn das furchtbare Feuer,
    welches in seinem Innern brennt, ist fortwährend bestrebt, sich
    nach außen hin Luft zu machen. Deshalb findet von Zeit zu Zeit
    ein so heftiger Ausbruch statt, daß lodernde Feuerflammen hoch
    zum Himmel schlagen und glühendes Gestein und Lava hervorbricht
    und bergabwärts stürzt in rasendem Lauf. Dabei fällt ein
    glühender Aschenregen gleich einem wirklichen Regen im ganzen
    Umkreis nieder und wo er hinfällt, da verwüstet und zerstört
    er, was zu zerstören ist. Auf diese Weise wurden vor vielen
    tausend Jahren zwei blühende, herrliche Städte vollständig vom
    Erdboden vertilgt. Der Aschenregen fiel auf sie und bedeckte
    sie so vollständig, daß es keine Rettung mehr gab, alles
    Lebende wurde zerstört und ein großer Teil durch die glühende
    Lava verbrannt. Die beiden unglücklichen Städte hieß Pompeji
    und Herkulanum und jetzt, nach Jahrtausenden, hat man die
    erkaltete Lava und Asche weggegraben und die Städte wieder
    aufgedeckt.

    Nicht wahr, das ist interessant? Ich habe Vieles davon sehen
    dürfen und zum Vesuv bin ich mit meinem Vater auf einem
    Maulesel geritten und habe in den feurigen Krater voll Grauen
    hinabgeschaut.

    Jetzt wohnen wir in Venedig; das ist auch eine ganz merkwürdige
    Stadt. Sie besteht aus lauter großen, alten Palästen, welche
    wundervoll von Stein aufgeführt sind. Aber die Paläste
    sind nicht wie in andern Städten durch Straßen miteinander
    verbunden, sondern sie stehen mitten im Wasser und wenn man
    über die Straße will, so sind große schwarze Gondeln da, in
    denen man fahren muß. Das ist dann so still und feierlich, daß
    es Einem ganz eigen zu Mut wird auf dem dunkelblauen Wasser
    zwischen den hohen Steinpalästen. Ein einziger Platz ist in der
    Stadt, der heißt der Markusplatz, wo die große Markuskirche
    steht, und dort gehe ich mit Peppino am liebsten hin. Denn eine
    unzählige Schar weißer Tauben wird dort täglich gefüttert und
    sie sind so zutraulich, daß sie zu jedem Menschen heranfliegen
    und ihm die Körner aus der Hand picken. Ist das nicht reizend?

    Jetzt habe ich dir aber so viel vorgeschwätzt, liebes Aennchen,
    daß du einen halben Tag daran zu lesen haben wirst; ich habe
    auch eine Woche daran geschrieben; jeden Tag eine Stunde und
    mein Fräulein hat mir die orthographischen Fehler korrigiert,
    sonst würde wohl manches Fehlerhafte darinnen sein. Ich sende
    dir hier als Gruß aus Italien einige Früchte und Blumen, damit
    du dir doch einen Begriff machen kannst, und auf dem Grund
    des Körbchens wirst du in einem Karton eine Photographie
    finden, welche mich und meinen Bruder Peppino darstellt. Ich
    habe diesem auch viel von dir erzählt und er läßt dich recht
    herzlich grüßen. Vater hat versprochen, uns im nächsten Jahr
    wieder einmal nach Deutschland zu führen, dann können wir uns
    wiedersehen. Vielleicht schreibst du mir auch einmal. Adieu,
    liebes Aennchen; ich umarme und küsse dich von Herzen als deine
    treue Freundin

            _Alma von Stolzau_.

Aennchen hatte voll Interesse und Staunen Almas Brief zu Ende gelesen
und begann nun eifrig nach der besprochenen Photographie zu suchen.
Richtig, da lag sie auf dem Boden des Körbchens und als Aennchen sie
erblickte, stieß sie einen Schrei des Entzückens aus. Ja, das war ihre
Alma, aber noch viel, viel schöner als damals; wohl waren es dieselben
großen Augen, dasselbe zarte, wunderhübsche Gesichtchen, und die
goldenen Haare fielen wie ein lange Schleier über die Schultern; aber
sie zeigte einen so lieblichen, sinnigen Ausdruck, wie sie ihn früher
nicht besessen, und ein stiller sanfter Zug spielte um den kindlichen
Mund. An ihrer Seite lehnte ein braungelockter Knabe mit offenen,
schönen Zügen, er sah das Schwesterchen so freundlich zärtlich an, daß
das Bild einen wahrhaft rührenden Anblick bot und Aennchen voll Stolz
und Glück sich nicht satt daran zu sehen vermochte und eiligst zu
Martha hinüberlief, dieser ihren Schatz zu zeigen.

Aennchen zögerte auch nicht lange, den Brief ihrer Freundin zu
beantworten, wenn sie auch freilich weniger Interessantes zu berichten
hatte, und so entstand gar bald ein Briefwechsel, welcher nicht nur
sehr anregend und amüsant für die jungen Mädchen war, sondern wirklich
auch sehr bildend und lehrreich, sowohl was Stil und Orthographie
anbelangt, als auch weil er die Schreiberinnen veranlaßte, sich von
ihren Gedanken genaue Rechenschaft zu geben, dieselben klar und
anschaulich zu Papier zu bringen und überhaupt genau zu beobachten, was
um sie her vorging und was das Leben ihnen Liebes und Trauriges brachte.

[Illustration]



Elftes Kapitel.

Tagebuchblätter.


Auf des Herrn Lehrers Rat hatten die Mädchen sogar neuerdings
angefangen, kleine Tagebücher zu führen, seitdem es ihnen ein Leichtes
war, die Feder zu führen und sich von ihren Erlebnissen Rechenschaft
zu geben. Bald war es Aennchens und Marthas liebstes Vergnügen, alles,
was sich in ihrem Leben Bemerkenswertes zutrug, in ihren Tagebüchern
festzuhalten, und wir wollen unseren Leserinnen hier einen kleinen
Einblick in einige dieser Blätter gestatten.


Aus Aennchens Tagebuch.

Wir haben gestern einen sehr schönen Sonntag erlebt, an welchen ich die
Erinnerung für mein Leben festhalten möchte.

Es war der Hochzeitstag meiner lieben Eltern, welchen wir jedes Jahr
in festlicher Weise zu begehen pflegen. Dieses Jahr überraschte uns am
Morgen, als wir alle aufgestanden waren, mein Vater mit der Nachricht,
er hätte heute eine Partie mit uns vor, wohin, das sage er nicht,
auch Mama dürfe es noch nicht wissen! Natürlich jubelten wir laut vor
Freude und erschöpften uns in Vermutungen, wohin der Weg uns wohl
führen möge? Mein Bruder Fritz riet wohl zwanzig verschiedene Orte, die
kleinen Brüder riefen eifrig: »Zur Milchfrau, zur Milchfrau!« (denn
das wünschen sie sich schon lange, weil sie uns eingeladen hat) und
ich selbst wußte gar nicht, was ich denken sollte, auch Mama nicht.
Nun, wir machten uns aber natürlich alle sehr rasch bereit; Papa
befahl, eine Menge Dinge mitzunehmen, die uns in Erstaunen setzten.
Die Kinderwagen, in welchem Hermännchen und Willy durchaus sich nicht
mehr fahren lassen wollen, wurde mit allerlei Eßwaren, einem kalten
Braten und zwei Flaschen Wein und Limonade und einem frischgebackenen
Kaffeekuchen und Obst, ferner mit Tellern und Gläsern und Bestecken
vollgepropft! Er war schließlich so schwer, daß ihn unsere Lisette
nicht allein mehr ziehen konnte, sondern Bruder Fritz mithelfen mußte.
Dieser hatte sich selbst auch tüchtig beladen, obwohl er nicht wußte,
wohin der Weg ging. Seine Botanisierbüchse trug er über der Schulter,
darin ein Gartenmesser und eine Menge anderer Sachen lagen; dann hatte
er seine neue Armbrust bei sich und seine Büchse. Die kleinen Brüder
nahmen ihre Schmetterlingsnetze mit und ein Reifspiel, Hermännchen, der
ein Gärtner werden will, seine kleine Schaufel. Ich selbst nahm meine
Puppe Lilly auf den Arm, welcher ich zum Glück gerade vor einigen Tagen
ein neues Sommerkleid gefertigt hatte, so daß sie sehr niedlich in dem
rosa Röckchen und dem gelben Strohhut aussah.

So brachen wir auf. Die Eltern gingen voran; Papa führte Mama am Arm,
welche beinahe nicht weniger neugierig war als ihre Kinder und immer
lächelnd fragte: »Wohin werden wir wohl heute noch kommen?« Es war ein
ganz wundervoller Maimorgen; die liebe Sonne schien schon am frühen
Morgen so warm, die Bäume und Hecken standen schon im frischen Grün und
auf den Wiesen guckten unzählige Frühlingsblümchen neugierig zu uns
auf, die wir am liebsten alle gleich gesammelt hätten, wenn Papa nicht
davon abgeraten und gemeint hätte, wir sollten unsere Kräfte noch für
den ganzen langen Tag aufsparen.

Unser Weg führte erst an der Stadtmauer entlang, dann durch den schönen
Stadtwald über Felder und Wiesen, bis wir ein kleines, freundliches
Dörfchen vor uns liegen sahen. Es war uns wohl bekannt und wir jubelten
vor Freude; Mama war schon einmal mit uns daheraus gekommen und hatte
dann gegen Papa geäußert: sie wisse sich eigentlich kein lieberes
und hübscheres Fleckchen Erde als dieses. Denn das Dörfchen liegt
in einem kleinen Thal, das ganz von romantischen bewaldeten Bergen
eingeschlossen ist, ein silbernes Flüßchen schlängelt sich dazwischen
hin. So schritten wir denn voll froher Erwartung dem Dörflein entgegen
und Mama sagte fröhlich zu Papa: »Das hast du hübsch angefangen, lieber
Mann, daß du uns gerade hierher geführt hast.« Papa aber lächelte und
meinte: »Geduld, Geduld, es kommt schon noch schöner.«

Wir bogen in die Dorfgasse ein, wo die Leute gerade sonntäglich geputzt
aus der Kirche kamen und uns alle gar freundlich grüßten. Lisette
freute sich so darüber, daß sie ihren alten Kopf vor lauter Nicken gar
nicht zur Ruhe bringen konnte. Schon hatten wir das ganze Dörflein
passiert und Papa war auch an dem Wirtshaus vorübergegangen, zu dem wir
sehnsüchtig hineinschauten, denn es hätte uns gar zu wohl gefallen,
in dem kühlen Wirtsgarten verweilen zu dürfen, und etwas enttäuscht
folgten wir dem nun immer rascher voranschreitenden Vater, der nun
sogar in den Waldweg, welcher zur Anhöhe führt, einbog. Schon verzogen
Hermännchen und Willy kläglich die Gesichter und jammerten, sie wären
müde, da stand Papa auf einmal still und deutete mit dem Finger
aufwärts. Wir riefen alle miteinander »Ah!« und Mama sprach überrascht:
»Welch’ entzückendes, kleines Häuschen steht denn da oben?«

Es war auch wirklich ein entzückendes Häuschen, das ganz so erbaut war
wie das Schweizerhäuschen, welches wir zu Haus auf der Etagere stehen
haben. Es mußte ganz nagelneu sein: die Wände glänzten von dem hellen
Holz und waren mit vielen Geweihen geziert. Zwei große Veranden liefen
rings um das Häuschen herum, an den Fenstern waren hellgrüne Läden, das
schwarze Dach sprang weit vor und auf der Spitze des Daches wehte eine
Fahne lustig im Wind.

»Wem gehört denn das köstliche, kleine Anwesen?« frug Mamachen ganz
entzückt, als sie an Papas Arm rasch darauf zuschritt.

»Du wirst schon sehen!« erwiderte Papa geheimnisvoll. »Wir sind ja bald
oben.« Und wirklich standen wir nun alle vor dem Häuschen, dessen
Thüre gastlich geöffnet war, aber niemand zeigte sich, uns zu begrüßen.

»Springt nun hinein, Kinder, und sucht die Hausfrau! Ihr dürft es ohne
Scheu!« gebot Papa, und schüchtern folgten wir dem Befehl. Anfangs
getrauten wir uns kaum, in den nagelneuen Stuben aufzutreten, da
die Dielen so schneeweiß waren. Ein Zimmerchen war freundlicher und
niedlicher als das andere, Tische und Stühle, alles war nagelneu, die
Wände reizend verziert, die Sonne lachte durch bunte Scheiben herein,
es war wie in einem verzauberten Häuschen. Denn nirgends war jemand
zu erblicken, das ganze Haus war leer und mir klopfte beinahe das
Herz, während die kleinen Brüder fröhlich vor mir hertrabten und erst
zaghaft, dann immer lauter und herzhafter riefen: »Hausfrau, wo ist
denn die Hausfrau?«

Endlich waren wir oben am Speicher angelangt und mußten wieder
umkehren; wir liefen zu den Eltern zurück, die uns Hand in Hand vor der
Thür erwarteten, und riefen:

»Wir haben niemand finden können, die Hausfrau ist nicht da!«

»Hier ist die Hausfrau!« sprach Papa lächelnd, indem er den Arm um
unser Mütterlein legte, »ich habe eurer Mama heute zum Hochzeitstag
dies Häuschen als Gabe beschert und ihr dürft auch als kleine Herren
darin mit uns schalten und walten. Jeden Sonntag in der schönen
Jahreszeit und jede Ferienzeit werden wir nun in dem neuen Landhäuschen
zubringen, das euch hoffentlich allen gut gefällt.«

Ach, wie sollte es uns nicht gefallen? Es war alles geradezu himmlisch
schön. Vergessen war alle Müdigkeit in einem Nu, wir wußten uns vor
Freude kaum zu fassen und wurden nicht müde, jeden Winkel des Hauses
zu durchstöbern und alles zu bewundern. Als wir in die niedliche,
nagelneue Küche traten, stand schon unsere Lisette voll Stolz darin;
sie hatte auf dem blitzenden Herd das erste Feuerchen angemacht und
faltete nun betend die Hände, daß es Segen bringen möge, indem ihr die
Thränen über die runzligen Backen herunterliefen. Dann packte sie aus
dem Korb die Eßwaren und das Geschirr und begann im Eßzimmer den Tisch
für das Mahl herzurichten.

Wir aber sprangen ins Freie, in den Garten hinaus. Da wartete unser
neue Ueberraschung. Ein großer, viereckiger, noch unbepflanzter Platz
war in vier gleiche Teile geteilt, an jedem stand ein Stecken in die
Höhe, welcher eine Tafel mit Namen trug Fritz, Aennchen, Hermann und
Willy! Papa hatte jedem von uns ein eigenes Gärtchen zum Bebauen
zuteilen lassen; der gute, liebe Vater! In einem Stallschuppen standen
eine Menge Gartengerätschaften für uns Kinder, nebenan aus dem Stalle
hörten wir meckern.

»Eine Ziege, eine lebendige Ziege!« riefen die kleinen Brüder, welche
zu Hause einen ausgestopften Ziegenbock haben, aber sonst noch keinen
sahen. Sie sprangen auf ihn zu und wollten ihn bei den Hörnern fassen,
Ziegenböckchen aber ließ nicht mit sich spaßen, und ehe Hermännchen
sich’s versah, lag es umgeworfen in der weichen Streu auf dem Boden.

»Mein Sonntagskleidchen! Der böse, böse Bock!« jammerte der kleine
Mann, welcher heute Morgen voll Stolz sich das weiße Kleidchen hatte
anziehen lassen. Währenddem hatte aber Fritz eine neue Entdeckung
gemacht – einen zweiten Stall, in welchem eine glänzende, braune
Kuh sich befand, daneben ein Milchkämmerchen. Darin war ein langer
Holztisch, auf welchem eine Anzahl von Schüsseln, alle mit köstlicher
Milch gefüllt, standen, ferner ein Butterfaß und ein Wasserbottich, in
dem schwamm ein Ballen wundervoll goldgelber Butter herum. Ein junges
Bauernmädchen in rotem Rock, schwarzem Mieder und weißer Schürze trat
herein und erklärte knixend, sie sei als Stallmagd hier gedungen, und
ob wir die Butter verkosten wollten, die sie heute morgen ausgebuttert
habe.

»Wie, die kannst du doch unmöglich selbst gemacht haben?« frug ich
erstaunt, und Hermännchen rief altklug: »Die Butter wächst ja!«
Wir mußten tüchtig lachen, er aber stampfte mit dem Fuße und rief
weinerlich: »Freilich, die Butter wächst und die Eier – der Fritz hat’s
gesagt.«

»Fritz hat dir etwas weisgemacht,« belehre ich ihn; dieser wurde ganz
verlegen, das Bauernmädchen aber, welches Bärbele hieß, zeigte uns, wie
die Butter aus der Milch hergestellt wird und wie lang die Milch im
Butterfaß gedreht werden muß, bis sie endlich zu schöner, goldklarer
Butter geworden ist. Das war wirklich höchst erstaunlich – wir konnten
uns nicht genug verwundern.

»Wollt ihr auch sehen, wo die Eier zu finden sind?« frug Bärbele
und führte uns in einen schönen, geräumigen Hühnerstall, der in
einen umgitterten Hof hinausführte. Was war hier für ein Gegluck und
Gegacker! weiße Hennen, schwarze Hennen, bunte Hennen, große Hähne,
kleine Hähne, niedliche Puttchen, Perlhühner und, o Wunder, sogar ein
großer, prächtiger Pfau spazierten in dem Hofe hin und her, flatterten
auf und duckten sich nieder, es war ein Lärm, daß man sein eigenes Wort
nicht verstand. Bärbele gab uns einen Korb mit Körnern, die durften
wir austeilen; da flogen sie uns auf die Arme und Hände, sogar auf die
Schultern und Köpfe, und wir jauchzten vor Vergnügen. Nur Willy hatte
anfangs beinahe Angst und meinte: »sie wollen mich fressen!«

Nun ließ uns Bärbele Eier in den Verstecken suchen. War das ein
Vergnügen, als wir eine Menge zusammenfanden! sogar Hermännchen
entdeckte zwei Eier; als er sie uns aber voll Eifer bringen wollte,
stolperte er und brach sie entzwei, so daß seine Händchen ganz gelb
und klebrig wurden, und als er sich weinend damit ins Gesicht fuhr, da
wurde auch dieses voll gelber Flecken.

Es war nun auch Zeit, nach oben zu kommen. Lisette rief zu Tisch. Und
nun hielten wir das fröhlichste Mahl, noch nie in unserem Leben hatte
es uns so gut gemundet! Papa und Mama sahen ganz glückselig aus und
waren so gütig und liebreich mit uns Kindern, daß wir ganz stolz waren.
Zuletzt bekam jedes in einem Gläschen sogar etwas Wein, Lisette wurde
hereingerufen und erhielt auch ein Glas in die Hand und Papa sagte, sie
dürfe die erste Rede halten, dann müsse jedes der Kinder jemand leben
lassen. Lisette wischte sich erst mit der Schürze über den Mund und sah
ganz kirschrot vor Verlegenheit aus, dann räusperte sie sich und sagte:

»Oh, die Ehr’, die Ehr’, mir wirbelt der alte Kopf! Gnädiger Herr,
gnädige Frau, ich weiß wohl, was ich sagen möcht’, aber ich bin ein
armer Dienstbot’ und kann’s nicht ausdrücken. An die Kinderlein muß ich
halt denken, wie die in dem schönen Hause aufblühen werden, und ich
wünsch’, es soll halt jedes von ihnen so gut und so brav und so lieb
und treu werden wie ihr Papa und ihre Mama.«

»Brav gemacht, gute Alte!« rief Papa und reichte Lisette die Hand, und
auch Mama schien ganz gerührt.

Nun mußte Fritz sprechen – er stand rasch vom Stuhl auf, stieß an das
Glas und rief:

»Meine Herren und Damen! (So hatte er es schon gehört und war stolz
darauf.) Wir sind so fröhlich hier beisammen, daß niemand weiß, wer von
uns der Fröhlichste ist. Aber ich weiß, wer heute der Allerbeste ist,
und das ist der liebe, gute, goldige Papa, der uns ein so wundervolles
Vergnügen gemacht hat, und darum wollen wir ihn alle mit unserem
köstlichen Wein hochleben lassen und rufen: Hoch, hoch, hoch!«

Wie wir alle durcheinander schrieen – es war eine Lust! Nun aber sollte
ich sprechen und das machte mich so verlegen, daß meine Stimme ganz
zitterte, als ich stotternd begann:

»Es ist heute – nein, so wollte ich ja nicht sagen – liebe Mama, lieber
Papa, ich gratuliere, ach, das gehört ja zu einem Geburtstag, lieber
Papa, liebe Mama, wir sind hier versammelt –« ich wußte gar nicht mehr
weiter, d’rum schwenkte ich rasch mein Glas und rief: »Die liebe, süße,
goldige Mama lebe hoch!«

Dann aber setzte ich mich recht beschämt nieder; ich hatte meine Sache
sehr schlecht gemacht, da konnten’s ja die kleinen Brüder noch besser,
denn Willy rief ganz keck:

»Hoch! das Häuschen hoch!« und Hermännchen schrie dazwischen:

»Das Bärbele hoch und die Hühner und die Kuh, nur der Ziegenbock nicht;
der hat mich in meinem Sonntagskleidchen umgeworfen!«

Nun wurden wir aber den Eltern allzu übermütig, deshalb brachen sie
rasch ab und wir wurden alle hinauf in die Schlafzimmer gebracht;
wir behaupteten zwar, nicht müde zu sein, aber kaum lagen wir auf
den weichen Betten, so sanken wir alle in tiefen Schlaf. Leider
verschliefen wir eine lange Zeit des schönen Nachmittags, dann aber
konnten wir doppelt erfrischt in den Garten springen und uns dem
Vergnügen hingeben, bis am Abend zu unserem großen Bedauern der Heimweg
wieder angetreten werden mußte.

Diesmal verschmähten Hermännchen und Willy den Kinderwagen nicht, sie
hatten sich so müde gelaufen, daß sie wie die Säcke hineinfielen und
darin schliefen bis zur Heimkehr; ich kam auch sehr müde zu Hause an
und hatte nur noch Zeit zu beten:

»Lieber Gott, ich danke dir tausendmal für den schönen, schönen Tag.« –
Da fielen mir auch schon die Augen zu. – –

[Illustration]



Zwölftes Kapitel.

Aus Marthas Tagebuch.


Ich habe gewöhnlich nicht viel des Interessanten zu erleben, am
verflossenen Sonntag aber fiel doch etwas vor, was mir noch lange im
Gedächtnis bleiben wird.

Ich erhob mich, wie ich es immer an Sonntagen zu thun pflege, eher als
an den anderen Tagen von meinem Lager. Am Sonntag habe ich immer gern,
wenn mein Mütterchen, welches sich die ganze Woche über gar so viel
plagen muß, länger als sonst der Ruhe pflegt, und da ich mich nicht für
die Schule zu richten habe, so bleibt mir an diesen Tagen immer gut
Zeit, die Hausarbeit an ihrer statt zu übernehmen. So hatte ich denn
auch heute bereits mein Bett gemacht, die Stube gekehrt, Feuer im Ofen
geschürt und den Kaffeetisch gerichtet, als meine liebe Mutter aufstand
und sich freute, alles schon besorgt zu sehen. Meine kranke Schwester
Klara hatte gottlob auch eine bessere Nacht gehabt und freute sich
jetzt der Sonnenstrahlen, welche durch das Fenster gerade schräg auf
ihr weißes Bett hereinzitterten. Sie sprach so hoffnungsvoll:

»O Mutter, ich glaube, der Frühling läßt mich ganz besonders grüßen!«
daß es uns allen ganz warm mit ihr zugleich ums Herz ward. Mutter
setzte sich dann zu ihr, um mit ihr aus dem Gebetbuch zu lesen, während
ich mich nach dem Gang zur Kirche vorbereitete. Wir wechseln jeden
Sonntag regelmäßig ab und heute war an mir die Reihe.

Als ich dann in der Kirche saß, war mir ganz besonders festtäglich zu
Mute, denn das Sonnenlicht vergoldete den Altar und die Bilder so
wunderbar, daß alles wie in einer Glorie erschien. Und der Herr Pfarrer
sprach heute so besonders schöne, herzbewegende Worte über den Text:
»Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will
euch erquicken.«

Ach, das war so gerade wie für mich gesprochen, und ich prägte mir alle
die herrlichen Worte tief ins Herz, um sie zu Hause meinem Mütterchen
wieder erzählen zu können. Wie oft hatte ich schon im stillen geseufzt
und war mir recht unglücklich vorgekommen im Gegensatz zu anderen
glücklicheren Mädchen, welche nicht, wie ich, mit einem Gebrechen
behaftet sind, denen nicht zu Hause Sorge, Krankheit und Not beständig
vor Augen stehen wie mir. Der Herr Pfarrer aber zeigte darauf hin, wie
unrecht es sei, über solches Kreuz zu murren und zu seufzen, denn »wen
Gott lieb hat, den züchtigt er. Er hat für jedes Leid den rechten Trost
bereit, und eines Tages wird er denen, welche die Last ihrer Sorgen
hier auf Erden ohne Murren ertragen haben, die Krone des ewigen Lebens
geben.«

Ich war so tief in diese Gedanken versunken, daß ich gar nicht vernahm,
wie der Pfarrer seine Predigt schloß; als er dann vorm Altare stand
und den Segen sprach, da flatterte plötzlich ein weißer Schmetterling
zum Kirchenfenster herein und um das Christusbild am Altar. Der erste
weiße Schmetterling! es sah aus, als wolle auch er an dem Gottesdienst
teilnehmen.

Gehobenen Herzens schritt ich nach Hause, machte aber noch einen
kleinen Umweg an einer Wiese vorbei, auf welcher ich neulich Veilchen
aufkeimen sah. Heute mußten sie aufgeblüht sein, dann wollte ich meiner
kranken Schwester einige zum Gruß ans Bett bringen. Und wirklich eine
ganze Schar der lieben blauen Blümchen lachte mir entgegen, so daß ich
sie nur zu pflücken brauchte, dann eilte ich rasch, um die versäumte
Zeit einzuholen, nach Hause.

Als ich unsere Treppe hinaufstieg, hörte ich voll Erstaunen mehrere
laute Stimmen aus dem Zimmer schallen und beinahe erschreckt öffnete
ich die Thür. Da saß neben Mütterchen ein fremder, dunkelgebräunter
Herr auf dem Sopha und an dem Tisch stand ein fremdartig gekleidetes
kleines Mädchen mit braunem Lockenkopf und gelblichen Wangen. Ich war
vor Erstaunen ganz stumm und hielt noch immer die Thürklinke in der
Hand; da rief Mutter:

»Komm nur näher, Martha, und begrüße deinen Onkel aus Amerika, welchen
ich zu meiner großen, großen Freude heute wiedersehen durfte. Seit
seinen Kinderjahren war er verschollen und wir glaubten ihn nicht mehr
am Leben. Doch der liebe Gott hat ihn zu uns zurückgeführt.«

»Also dies ist deine Jüngste?« fragte der fremde Onkel, mir die Hand
entgegenstreckend; er blickte sehr erstaunt meine kleine Gestalt an
und auch das fremde Mädchen maß mich mit überraschten Blicken, so daß
ich mich am liebsten in den Boden verkrochen hätte. Aber Mutter machte
mich auch mit dem Mädchen als meiner Cousine bekannt und ich hätte
gern mit ihr gesprochen; doch sie verstand unsere deutsche Sprache
nicht und schüttelte immer nur mit dem Kopf. Mutter gab mir einen Wink,
draußen nach der Küche zu sehen; zum Glück war unsere Aufwärterin noch
da und hantierte am Herde; sie stand mir mit Rat und That bei, unser
Mittagsmahl zu vergrößern, das für uns aus einem Kalbsbraten bestanden
hätte, und während ich den Tisch aufdeckte, holte sie noch einiges
Nötige herbei.

So war denn nach meiner Meinung alles ganz hübsch und festlich
gerichtet, als wir uns zu Tisch setzten; meinem Onkel mochte es
freilich recht bescheiden erscheinen; er fragte uns, ob wir immer so
spät »frühstückten,« und als Mutter ganz erstaunt sagte, dies sei
unser Mittagessen, da teilte er es seinem Töchterchen auf englisch
mit und dieses lachte laut auf. Das gefiel mir nicht, auch daß die
fremde Cousine ihr Mißfallen an unseren einfachen Speisen gar so
auffallend kundgab und den Teller so rasch zurückschob, als es ihr
nicht schmeckte, was uns doch als Leckermahl erschien. Aber es war
unrecht von mir, so vorschnell zu urteilen, und als meine Mutter mir
später erklärte, das arme Mädchen habe eben ganz ohne Mutter aufwachsen
müssen, die ihr alles gesagt hätte, was recht und unrecht sei, da
that sie mir unendlich leid. Ich bemühte mich sehr, das fremde keine
Mädchen zutraulich zu machen; endlich gelang es mir und es schmiegte
sich an mich und sprach einige wenige deutsche Worte, die es gelernt
hatte: »Vater, Mutter, Vaterland, Deutschland.«

»Als ich in der fernen Welt zuweilen Heimweh nach zu Hause hatte, da
habe ich meiner Kleinen die Worte gelehrt,« sprach mein Onkel. »Jetzt
bin ich hier in der alten Heimat, aber sie erscheint mir nach der
langen Abwesenheit beinahe wie die Fremde und es zieht mich nach den
fernen Ländern zurück.« Dann erzählte er von seinen Erlebnissen drüben
in Südamerika, wie alles, alles so ganz anders sei als hier. Er sei
Besitzer einer großen Ansiedelung, die er ganz aus eigenen Kräften
geschaffen habe; von Jahr zu Jahr vergrößere sich dieselbe, die Reis-
und Zuckerfelder bekämen immer größere Ausdehnung und er sei bereits
dadurch ein reicher Mann geworden.

»Hast du auch schon Indianer gesehen, Onkel!« frug ich ganz atemlos.

»Zu Hunderten,« war seine Antwort. »Ich bin schon oft genug mit den
Wilden im Kampfe gewesen, ja, ich war sogar schon einmal von ihnen
gefangen und zum Tode verurteilt, da gelang es mir noch, zu entwischen.
Seht her, hier ist noch die Narbe von der Wunde, die mir eine
erbitterte Rothaut schlug.«

Damit schob Onkel das Haar über der Stirn etwas beiseite und zeigte uns
eine entsetzliche dunkelrote Narbe, welche sich um den halben Kopf zog.
Mutter schauderte und rief ängstlich:

»Und doch willst du wieder in dies unheimliche Land zurück, in Kampf
und Gefahr, anstatt deine letzten Lebensjahre in Ruhe in der alten
Heimat zu verleben?«

»Ich muß, ich muß!« drängte der Onkel, »es läßt mir keine Ruhe hier.
Aber weißt du,« wandte er sich plötzlich an Mutter, indem er mich
aufmerksam ansah, »gieb mir deine jüngste Tochter hier als Gefährtin
für meine Ellen mit. Ich verspreche dir, sie so gut zu halten, als wäre
sie mein eigenes Kind; sie scheint schwächlich und zart, du bist nicht
in der Lage, ihr ein sorgenfreies Leben zu schaffen – ich werde sie mit
allem umgeben, was Reichtum zu bieten vermag, und selbst ihre Zukunft
sicher stellen, indem ich sie im Verein mit meiner Tochter zur Erbin
einsetze. Meine Ellen bedarf einer Gefährtin, am liebsten hätte ich ein
deutsches Kind aus der Heimat für sie, also gib mir deine Martha.«

Onkel war schließlich ganz lebhaft geworden in seiner Rede; ich aber
saß da, wie versteinert vor Schreck, und das Herz stand mir beinahe
still. Was würde Mutter antworten? Würde sie ihr Kind von sich geben? O
nein, Mütterchen sprach tieferblaßt und mit zitternder Stimme:

»Von meiner Martha werde ich mich nie trennen und wenn ich das letzte
Stückchen Brot mit ihr teilen müßte. Nicht wahr, mein Kind, du ziehst
auch unser bischen Armut dem Reichtum in der Ferne vor?« Da stürzte ich
mich weinend an ihre Brust. Onkel war sehr kühl geworden; er sah auf
die Uhr und meinte:

»Ich kann euch nicht helfen, wenn ihr euer Glück so von euch stoßt. Ich
dachte, dir eine Wohlthat zu thun, indem ich die Last einer Tochter
von dir nehmen wollte, nachdem dir schon die Kranke so viel Sorgen
bereitet – nun lasse ich euch noch einen halben Tag Bedenkzeit, bevor
ich abreise.«

»Es bedarf keiner Bedenkzeit, Onkel; ich verlasse mein Mütterchen
nicht,« rief ich rasch; ich wußte nicht, woher ich den Mut dazu nahm.
»Ich will mich lieber bemühen Tag und Nacht und arbeiten, so viel ich
kann, um ihr keine Last zu sein, als daß ich mich von ihr zu trennen
vermöchte.«

»Gut, dann habe ich nichts mehr zu sagen,« unterbrach mich mein Onkel
kühl; er wandte sich zu seinem Töchterchen und sprach einige englische
Worte zu ihr, da griff sie nach ihrem Hut und Mäntelchen. Meine Mutter
hatte ganz rote Flecken vor Aufregung auf ihren Wangen, angstvoll
suchte sie meinen Onkel zu begütigen, bis dieser sie zuletzt doch noch
ganz freundlich an sich zog und ihr zum Abschied herzlich die Hand
drückte; auch mir reichte er freundlich die Hand und sprach:

[Illustration]

»Wenn ihr einmal meiner bedürfen solltet, so denkt an mich. Lebt
wohl, ich habe Eile!« Damit ging er mit Ellen an der Hand, welche mir
noch herzlich zuwinkte, davon und wir sahen den beiden so lange nach,
bis sie um die Ecke verschwunden waren. Das ganze Erlebnis war wirklich
wie ein Traum gewesen und laut fragte ich mich selbst wiederholt: »Hat
man mich wirklich meinem Mütterlein entreißen wollen?«

»Nicht wahr, du bleibst doch lieber bei deiner alten Mutter und deiner
armen kranken Schwester?« frug Mütterchen, indem sie mich an sich zog,
dann eilten wir hinüber nach dem Lager meines armen Schwesterchens
und kamen uns vor, als seien wir drei uns wiedergeschenkt. Und als am
Abend das Lampenlicht so traulich auf unserem kleinen Tischlein brannte
und wir so eng zusammensaßen, da fühlten wir so recht erst, wie wir
zusammengehörten, und beteten zum lieben Gott, er möge uns dies Glück
auch ferner erhalten, dann wollen wir ja für alles, was er uns oft
Schweres auferlegt, gern dankbar sein.

[Illustration]



Dreizehntes Kapitel.

Marthas Hausgarten. Der arme Hansi.


Klein Aennchens Vater ließ an seinem Hause verschiedene bauliche
Aenderungen vornehmen, auch das Hinterhaus sollte eine Aufbesserung
erhalten, denn Aennchens Vater hatte einen Plan, welcher Frau Pfarrer
Traugott zu Nutzen dienen sollte. Er hatte sich ausgedacht, daß von
deren Wohnung eine Thüre heraus auf das flache Dach des nebenstehenden
Anbaues gebrochen werden könne, und wenn man dieses Dach dann etwas
herrichten und verschönern, zudem ringsum mit einem Gitter versehen
ließ, so konnte mit wenig Mittel ein kleiner einfacher Garten auf
demselben angelegt werden. Und von welcher unendlichen Wohlthat mußte
ein solch bescheidener Zufluchtsort gerade für die kleine Familie
Traugott werden, welche, durch die kranke Tochter beständig ans Haus
gebunden, sich nicht wie andere häufig in der freien Natur ergehen
konnte.

Wie Aennchens Vater es sich ausgedacht hatte, so geschah es – das Dach
ließ sich wirklich ganz gut zu einem hübschen Aufenthaltsort umschaffen
und nach wenigen Wochen war schon alles fix und fertig, so daß die
Familie Traugott davon Besitz nehmen konnte. Wer war glücklicher als
diese?! Die bescheidenen Menschen wähnten im Himmel zu sein und kein
Palast dünkte ihnen jetzt beneidenswerter als ihre wenigen Stübchen
mit dem daranstoßenden Dachsalon. Nun konnte doch die kranke Klara an
besseren Tagen zuweilen ins Freie getragen werden auf ihren Stuhl, nun
konnte sie doch einmal wieder den freien blauen Himmel und die lieben
Vöglein über sich sehen! Und Martha, die glückliche Martha, konnte
hier ihrer heimlichen beständigen Herzenssehnsucht genügen, welche
darin bestand, selbst ein wenig Blumen und grüne Ranken zu ziehen
und mit aller Sorgfalt über deren Gedeihen zu wachen. Von Aennchens
Gärtner, der das sanfte Kind schon lange in sein Herz geschlossen
hatte, bekam sie verschiedene Samen und kleine Schößlinge geschickt;
es waren nur die einfachsten Pflanzen, die sie in alten Kisten aufzog,
Kressen und Kapuziner, Winden und Erbsen und Geranium, aber unter
ihren sanften Händen schienen alle diese bescheidenen Pflänzlein wie
aus Dankbarkeit doppelt so hold aufzublühen als wo anders. Bald war
wirklich Marthas Garten ein kleines Blütenmeer geworden und wer da oben
über all den hohen Häusern so viel näher dem Himmel diesen seltsamen
Garten erblickte, der mußte voll Staunen das kleine unscheinbare
Geschöpfchen bewundern, welches mit seinen schwachen Händchen dies
alles hervorgebracht hatte.

Aennchen wußte sich auch nichts Lieberes von nun an, als bei Martha
in deren reizendem Gärtchen zu weilen, und wie viele Stunden des
schönsten Genusses verbrachten die beiden jungen Mädchen da oben,
wenn sie, mit den Schulaufgaben fertig geworden, hier mit ihren
Unterhaltungsbüchern und Handarbeiten beisammen saßen. Da gab es ja
schon ohnedem Unterhaltung in Fülle; nicht allein, daß man von dem
hohen Aussichtsturm eine weite Fernsicht auf die Stadt und die Straßen
hinunter hatte, daß man mit den Augen all die vielen Menschen, die so
lebhaft durcheinander wimmelten, beobachten konnte – es war in der Nähe
noch viel Interessantes zu schauen, was sowohl Marthas als Aennchens
größtes Entzücken bildete.

Hoch oben auf dem Dach des Hauses, aber gar nicht weit entfernt von
ihnen, hatte sich nämlich eine Storchenfamilie auf dem breiten Schlot
ihr Nest gebaut und die Kinder vermochten so gut hineinzusehen, daß sie
ganz deutlich beobachten konnten, was in der Storchenfamilie täglich
und stündlich vorging. Und das war des Bemerkenswerten oft wirklich
nicht wenig, vom ersten Tag an, da dort oben vier junge Störchlein
aus dem Ei gekrochen waren, bis zu jenem, als sie ihre ersten
Flugversuche anstellten. Was hatten die braven Storcheltern während
der ganzen Zeit für eine fabelhafte Arbeit gehabt, bis sie all die
hungrigen Schnäbelchen, welche so unaufhörlich nach Nahrung schrieen,
befriedigen konnten; besonders der Herr Storch gönnte sich den ganzen
Tag keine Ruhe, bald flog er mit einem Würmchen im Schnabel, bald
gar mit einem zappelnden Fröschlein zum Nest hinauf, um den ärgsten
Schreiern rasch den Schnabel zu stopfen – das war dann ein Zanken um
den besten Leckerbissen, als wenn sich eine Schar unartiger Buben um
eine Wurst balgte, und die Frau Störchin mußte mit ihrem Schnabel oft
friedestiftend dazwischen fahren und Streiche nach allen Seiten hin
austeilen. Sie mochte wohl seufzend die Zeit herbeisehnen, da die
unartigen Kinder sich selbst ihre Nahrung draußen suchen konnten,
und heute schien wirklich der große Tag dazu gekommen, denn Martha
beobachtete schon vom frühen Morgen an ein besonderes festliches
Treiben in dem Storchneste auf dem Dache. Und wirklich, gegen Mittag da
vollzog sich das große Ereignis! Nachdem Vater Storch unruhig, wie zur
Aufforderung, oftmals hin- und hergeflogen war, erhoben sich die Jungen
kreischend und schreiend aus dem Neste, sie setzten sich auf den Rand
desselben, schlugen lebhaft mit den Flügeln und auf einmal hatte das
kühnste sich in die Luft erhoben und wagte mit dem Vater einen kurzen
Flug, die beiden andern folgten flügelschlagend mit der Mutter nach.

Nur das vierte und kleinste blieb ängstlich im Neste kauern und sah
den Geschwistern sehnsüchtig nach, es wagte sich wohl noch nicht
heraus, obgleich die Eltern bald zurückkamen und es durch Stöße mit
dem Schnabel zu ermuntern suchten. Endlich schien Vater Storch recht
ungeduldig über das ungeschickte Nesthäkchen zu werden, und als
dasselbe gerade ängstlich auf dem Rand des Nestes kauerte, da gab er
ihm einen Stoß, der es von demselben schleuderte. Das Nesthäkchen
kreischte und flatterte mit den Flügeln, es versuchte zu fliegen und
brachte es doch nicht zustande, es mochte doch wohl noch zu schwach
dazu sein, denn auf einmal verließen es die Kräfte, es durchschoß die
Luft, überpurzelte sich und stürzte plötzlich auf das Gartendach neben
Martha nieder, welche wohl seit einer halben Stunde unbeweglich dort
gestanden und den Störchen voll Interesse zugeschaut hatte. Nun war
sie beinahe ebenso erschrocken als das kleine Nesthäkchen, dann aber
bückte sie sich rasch und hob das zappelnde Störchlein auf, welches
so betäubt von dem Fall schien, daß es sich ohne Scheu berühren ließ.
Der eine kleine Flügel hing gebrochen herab und Martha rief rasch die
Mutter, mit deren Hilfe sie den kleinen Patienten verband. Dann suchte
sie, so rasch es ging, ein Nestchen für ihn auf dem Dache zu bereiten
aus weichen Gräsern und Stroh, darauf bettete sie das arme Vögelchen,
schob das Nest so weit als möglich auf dem Dache vor und verbarg sich
dann hinter der Thüre, um abzuwarten, ob nicht die alten Störche nach
dem verunglückten Jungen sehen würden.

Richtig dauerte es nicht sehr lange, so umkreiste von oben her die alte
Störchin mit lautem Flügelschlagen das Dach, immer näher kam sie heran,
das Kleine schlug ihr wie zum Gruß mit dem gesunden Flügelein entgegen,
da konnte sie es vor Sehnsucht nicht mehr aushalten, schoß hernieder
und stellte sich neben dem Kranken auf. Das Junge sperrte den Schnabel
auf und schrie vor Hunger, da schoß die Alte wieder davon und kehrte
bald mit einem fetten Leckerbissen im Schnabel zurück, ihr nach folgte
der Vater, welcher auch eine Delikatesse in Bereitschaft hielt. Und nun
fütterten die beiden Eltern ihr unglückliches Nesthäkchen so sorgsam,
als ob es droben im eigenen Nest wäre, und Martha stand mit vor Freude
klopfendem Herzen neben dem herbeigerufenen Aennchen hinter der Thür
und weidete sich an dem hübschen Schauspiel.

Als mit lautem Geklapper die anderen Jungen von ihrem Ausflug
zurückkehrten, da streckten sie gar verwundert die Hälse aus, als sie
das Brüderchen statt im Nest drunten auf dem Dach erblickten, und die
Alten hatten es heute doppelt notwendig mit den beiden Kinderstuben.
Sie waren bald so zutraulich, daß sie gar keine Scheu vor Martha und
Aennchen empfanden, welche sich um das kranke Störchlein zu schaffen
machten, ja es schien, als fühlten sie sogar wirkliche Dankbarkeit
gegen die Menschen, welche sich ihres kranken Jungen angenommen hatten.

Das verunglückte Störchlein erholte sich auch bald von seinem Fall
und spazierte schon nach einigen Tagen aus dem Nestchen heraus,
aber der eine Flügel, den es beim Fall gebrochen hatte, blieb lahm
herunterhängen und so war wohl niemals Aussicht für das arme Tier
vorhanden, daß es gleich seinen Geschwistern sich in die blaue Luft
erheben konnte. Aber es schien sich dennoch ganz wohl zu fühlen in der
Obhut seiner lieben Pflegerin – es war schon so zutraulich gegen Martha
geworden, daß es ihr gleich entgegenlief, wenn sie sich nur von ferne
zeigte, und ihr wie ein Hündchen auf Tritt und Schritt nachfolgte, wenn
sie sich in ihrem Garten zu thun machte. Das war doch wirklich gar zu
niedlich.

Martha und Aennchen hatten den jungen Storch Hansi getauft und Hansi
war der Liebling des ganzen Hauses, eine gar wichtige Respektsperson
geworden. Er empfing oft an einem Tag eine Menge Besuche, denn wer
von den Bekannten etwas über den jungen Storchfindling vernahm, der
wollte ihn auch sehen und kennen, und weil Hansi gar so zutraulich und
possierlich war, gefiel er jedermann.

Nur ein Junge aus der Nachbarschaft, welcher Moritz hieß und der von
seinem Dachfenster herüber zu Hansi klettern konnte, machte Martha
Sorge, denn er neckte und ängstigte den armen Vogel oft ganz gewaltig,
zog ihn an dem rotseidenen Halsband, das jener um den Hals trug, und
trieb so lang allerlei Schabernack mit ihm, bis Martha ihm endlich
ernstlich den Zutritt zu dem Dach verbieten mußte, was den bösen Knaben
in eine wahre Wut versetzte. Aber von nun an hatte der arme Hansi doch
wenigstens wieder Ruhe.

Der Sommer verging und der Herbst rückte heran. Droben auf dem Dache
beim Storchnest richteten sich die Störche zur Reise nach den fernen
warmen Ländern. Jeden Tag blieben sie länger bei ihren Ausflügen aus,
denn die Jungen mußten ihre Kräfte immer mehr erproben.

Auf einer Wiese in der Nähe der Stadt hatten sie ihren Exerzierplatz;
da fanden sich viel Hunderte von Störchen aus der ganzen Umgegend
ein und mußten hier auf Kommando einiger alten Störche in Reih und
Glied marschieren. Jeden Tag fanden sich mehr Störche ein, es war
ein Geklapper und Geschrei auf der Wiese, daß es von weitem dem
Geräusch eines großen Jahrmarktes glich; aber hier handelte es sich um
durchaus ernste Dinge, denn die Proben, welche jeder Storch von seiner
Tüchtigkeit zu geben hatte, entschieden bei ihm über Leben und Tod.

Der letzte Tag kam heran vor der großen Storchenreise, die
Vorbereitungen schienen alle getroffen und die meisten Störche
hatten die Proben ihrer Leistungsfähigkeit gut bestanden. Nur ein
paar schwächliche Geschöpfe schienen darunter, die hatten sich die
ganze Zeit bemüht, es den andern an Tüchtigkeit gleichzuthun, aber
vergeblich. Als sie jetzt zum letztenmal heute in Reih und Glied
beisammen standen, da senkten sie wie in ängstlicher Ahnung die Köpfe,
denn heute sollte sich ihr Schicksal erfüllen, nach der grausamen Art,
mit welcher diese klugen Tiere für ihre Schwachen und Kranken zu sorgen
pflegen.

Das Gericht dauerte nur wenige Augenblicke, während welcher die Störche
mit lautem Geschrei über ihre Schwächlinge herfielen, dann lagen diese
tot und zuckend am Boden, die andern Störche aber erhoben sich laut
klappernd in die Luft, welche ganz verdunkelt wurde durch den dichten
Schwarm der großen Vogelkörper. – –

Welch ein Glück für unsern armen Hansi, daß er vor dem Schicksal seiner
kranken Leidensgenossen bewahrt blieb und in der guten Fürsorge und
Pflege der kleinen Martha dem kommenden Winter ruhig entgegensehen
konnte.

Ach, aber es sollte ihm doch nicht beschieden sein, den kommenden
Frühling und mit ihm die Wiederkehr seiner Eltern und Geschwister mehr
zu schauen – die Bosheit eines Knaben hatte es auf sein Leben abgesehen.

Längst schon hatte der böse Moritz im Nachbarhause einen Haß auf den
armen unschuldigen Vogel geworfen, den er nicht mehr necken und quälen
durfte, und sich einen ganz abscheulichen Plan ausgedacht, durch den
er Martha Schmerz bereiten konnte. Er wußte nur zu gut, daß der kleine
Hansi ein großes Leckermäulchen war, wenn man einen Vogel so nennen
kann, und darauf baute er seinen bösen Plan.

Einmal am späten Abend, als alles schon zur Ruhe gegangen war, stieg er
über das Dach hinauf und schlich sich zu Hansis Nest hin, wo er leise
einige Leckerbissen für Hansi niederlegte, von welchen er wußte, daß
sie dieser gern schnabulierte; dann entfernte er sich ebenso leise, als
er gekommen war.

Am andern Morgen, als Martha, wie sie dies gewöhnlich zu thun pflegte,
ihren ersten Gang zu Hansis Nest richtete und ihn fröhlich anrief,
damit ihr dieser, wie immer mit fröhlichem Klappern entgegenhüpfen
sollte, da rührte sich kein Hansi von der Stelle, und als sie
erschrocken näher trat, da sah sie das arme Tier ganz tot mit
verglasten Augen der Länge nach ausgestreckt liegen – er mochte wohl
schon ein paar Stunden so gelegen haben.

Marthas Jammer war grenzenlos – das ganze Haus lief zusammen den armen
unglücklichen Vogel zu sehen, und da kam es denn heraus, daß der Vogel
Gift bekommen hatte, auch wer der Thäter dieser abscheulichen That war.

Natürlich entging der böse Moritz der Strafe nicht für seine
Frevelthat, aber was half dies Martha und Aennchen, welche ihren
liebsten Freund und Spielgefährten verloren hatten? Die beiden weinten
heiße Thränen um den entrissenen Liebling, drunten in Aennchens Garten
wurde ihm unter einem Eschenbaume ein kleines Grab gegraben und die
Mädchen bepflanzten es mit Epheu und Immergrün. Dann ließ Aennchen von
ihrem Sparbüchsengeld einen weißen Stein anfertigen, darauf stand mit
goldenen Buchstaben:

»Hier ruht unser guter Hansi!« und als im nächsten Frühjahr die Störche
wieder im Nest einkehrten und immer wie fragend das leere Nest auf der
Altane umschwirrten, da zeigten die Mädchen eifrig nach dem kleinen
Gräblein drunten im Garten, aber die Störche verstanden sie natürlich
nicht.

[Illustration]



Vierzehntes Kapitel.

Wintervergnügen und Eisabenteuer.


Das war ein großer Jubel, als Aennchen einmal im Winter die
ersten Schlittschuhe bekam. Sie war immer eine große Freundin der
Eisvergnügungen gewesen, und als ihre Eltern es noch nicht erlauben
wollten, die Eisbahn zu besuchen, da hatte sie mit ihren Geschwistern
einen Teil des Gartens überschwemmen dürfen; dort bildete sich
nun sehr rasch dann eine Eisdecke, auf welcher die Kinder nach
Herzenslust herumschlittern durften. Nun aber war Aennchen groß
genug, sogar Schlittschuhe zu bekommen und selbst mit auf die
Eisbahn gehen zu dürfen; ihr Bruder Fritz, welcher schon ein ganz
flotter Schlittschuhläufer war, bekam die Aufgabe zugeteilt, seinem
Schwesterchen das Schlittschuhlaufen zu lehren, und es dauerte gar
nicht lange, da war sie beinahe so geschickt wie er selbst. Jeden
freien Winternachmittag eilten nun die Geschwister zusammen auf das
Eis; Aennchen hatte einen niedlichen Pelzanzug bekommen, in dem sie
recht warm steckte, und so fuhren die Geschwister Hand in Hand oft
stundenlang die weitesten Strecken des Sees entlang.

Eines Tages, als die beiden, ihre Schlittschuhe in der Hand, soeben
sich auch zum Fortgehen bereit machen wollten, sagte die Mutter:

»Aennchen, heute wird’s wohl mit eurem Eisvergnügen nichts werden, denn
ich habe einen Gang für euch, der sich nicht aufschieben läßt. Unsere
alte Näherin ist krank und ich möchte ihr eine Flasche Wein schicken,
aber keine der Mädchen hat Zeit dazu. So müßt ihr es denn übernehmen.
Ihr Häuschen steht wohl dicht am See, aber es ist eine zu weite
Strecke, als daß ihr dieselbe schlittschuhlaufen könntet, auch wird
wohl das Eis heute schwerlich mehr sicher sein, nachdem es in der Nacht
so getaut hat; darum müßt ihr eben auf euer Vergnügen verzichten und
euch damit trösten, daß erfüllte Pflicht auch ein Vergnügen ist.«

Sie händigte damit den beiden Kindern eine Flasche Wein ein, welche
sich mit sehr langen Gesichtern auf den Weg machten. Als sie aber an
den See kamen und die Eisfläche so spiegelglatt daliegen sahen, da
gewann das Verlangen, Schlittschuh zu laufen, doch die Oberhand und
Fritz sagte entschlossen:

»Das Eis sieht ja noch ganz prächtig aus und hat keine Gefahr. Nicht
wahr, Aennchen, wir machen den Weg lieber direkt über den See, als am
Ufer entlang?«

Aennchen war dies gleich zufrieden und so schnallten dann die beiden
ihre Schlittschuhe an und machten sich auf den Weg. Es waren nur wenige
Leute anwesend und keiner kümmerte sich um die beiden Kinder, welche
pfeilschnell die sonnenbeschienene Bahn dahinschossen und sich an dem
Krachen des Eises unter ihren Füßen ergötzten. So gut wie heute hatte
es ihnen selten gefallen. Es dauerte auch kaum dreiviertel Stunden, da
waren sie an dem Ufer des Sees angekommen, wo das Häuschen der Näherin
stand. Nun schnallten sie die Schlittschuhe ab und gingen ins kleine
Haus hinein, die Frau zu besuchen.

Die alte Kathrin war eine gar treue Person und mit dem Hause von
Aennchens Eltern wie verwachsen. Alle Kinder hatte sie von deren ersten
Tagen an gekannt, jede Woche war sie zwei Tage vollständig im Hause
und da von Morgen bis Abend unermüdlich beschäftigt, all die kleinen
Höschen und Röckchen, die ihre unruhigen Lieblinge zerrissen hatten,
auszubessern und neu zu richten. Jetzt lag sie krank, nur von einer
alten Frau gepflegt, und sie freute sich unbeschreiblich, als Aennchen
und Fritz nun ins Zimmer traten und ihr den Liebesgruß brachten. Sie
that es nicht anders: ihre Pflegerin mußte einen Kaffee für ihre
kleinen Gäste kochen und währenddem ließ sie sich von diesen erzählen,
wie es zu Hause gehe. So waren im Umsehen einige Stunden vergangen, da
stand Fritz rasch auf und rief:

»Nun müssen wir aber aufbrechen, wenn wir noch bei Tag zu Hause sein
wollen.«

»Ihr werdet doch nicht über den See laufen wollen?« frug Kathrin
erschrocken, als sie die Kinder nach den Schlittschuhen greifen sah;
diese aber lachten fröhlich:

»Natürlich laufen wir über den See zurück, wie wir hergekommen sind.«

Und in einem Nu waren sie zur Thür geeilt und verschwunden.

Draußen war es unterdes noch viel milder geworden, als es vor einigen
Stunden gewesen war, ein warmer Südwind blies mit voller Macht und
als sie auf den See kamen, bemerkten sie, daß derselbe schon bei
weitem mehr Wasser auf der Oberfläche stehen hatte als vorher, aber
es war ihnen nicht bange, doch noch glücklich darüber hinzukommen. So
faßten sie sich denn wieder an den Händen und liefen eiligst vorwärts,
aber je mehr sie weiter hineinkamen, um so heftiger begann es unter
ihnen zu krachen und zu knacken, so daß es ihnen jetzt selbst recht
ängstlich zu Mute wurde und sie nur drängten, vorwärts zu kommen, zudem
der Abend sehr rasch hereinzusinken begann. Der ganze See war auch
merkwürdigerweise völlig menschenleer, und es wurde ihnen die Ursache
erst schrecklich klar, als sie plötzlich zu ihrem Entsetzen bemerkten,
daß das Eis unter ihnen wirklich ganz unsicher war und die Scholle,
auf welcher sie standen, sich soeben langsam von den anderen abzulösen
begann.

»Um Gotteswillen! Das Eis bricht!« schrie Aennchen entsetzt; Fritz,
selber heftig zitternd, faßte das Schwesterchen um den Leib und
sprang mit ihr über den Spalt vorwärts, dann wie gejagt im fliegenden
Lauf weiter fort. – Gottlob, schon sahen sie das Ufer ziemlich nahe,
da gähnte vor ihnen plötzlich wieder eine Wassertiefe, welche sie
nicht zu überspringen wagten. Mit zitternden Knieen standen sie da,
dann begannen sie laut um Hilfe zu schreien und mit den Tüchern zu
schwenken; da bemerkten sie die Leute am Ufer. Ein Mann sprang vor und
stürzte ihnen entgegen, aber das morsche Eis trug ihn nicht so weit,
daß er die Kinder erreichen konnte; da rief er um einen Strick und
winkte den Kindern, stehen zu bleiben. Einige wenige schreckensvolle
Momente, welche den entsetzten Zuschauern eine Ewigkeit währten,
vergingen – da hatte der tapfere Mann den Kindern den Strick zugeworfen
und denselben bedeutet, ihn um ihren Leib zu schlingen, – Fritz that
es mit bebenden Händen und als der Strick endlich fest genug saß, da
zog der Retter auf der anderen Seite an und schnellte die Kinder mit
einem blitzartigen Ruck über die gefährliche Stelle und von da an
vollends bis an das sichere Ufer hin. Es waren nur wenige Augenblicke
der furchtbarsten Gefahr gewesen, aber ein Schrei des Entzückens ging
durch die angesammelte Menge der Zuschauer beim Anblick der geretteten
Kinder, welche totenbleich und mit wankenden Gliedern sich kaum
aufrecht zu halten vermochten. Aennchen konnte vollends keinen Fuß
mehr rühren, eine mitleidige Frau trug sie auf ihren Armen nach Hause
und als die ahnungslosen Eltern hier erfuhren, welcher furchtbaren
Gefahr ihre Kinder preisgegeben waren, da dankten sie Gott aus innigem
Herzen, daß er sie so gnädig vor dem Verderben bewahrt hatte, und der
hochherzige Retter wurde reich beschenkt entlassen. Fritz und Aennchen
konnten lange nicht die ausgestandenen Schrecken vergessen, und sie
gelobten feierlich, nie mehr in ihrem Leben so unvorsichtig sein zu
wollen.

[Illustration]



Fünfzehntes Kapitel.

Klara.


»Herr Doktor, wie geht es eigentlich der armen Klara Traugott?« frug
Aennchens Mutter ihren Hausarzt, welcher jede Woche, selbst wenn
niemand von der Familie krank war, im Hause vorzusprechen pflegte; »ich
habe leider gehört, das arme Mädchen wäre sehr schlimm daran – ist das
wahr?«

»Leider, leider,« erwiderte der Doktor, indem er sich nachdenklich
über den Bart strich. »Es thut mir leid, nicht helfen zu können, denn
der Kranken wäre leicht geholfen, wenn man ihr nur einmal einen ganzen
Sommer lang vollständigen Aufenthalt in frischer Luft, eine energische
Milchkur und sorgenfreies Dasein verschaffen könnte. Aber wie ist das
anzufangen, wo alle Mittel dazu fehlen? So muß sie wie eine Blume,
welche nicht genug Sonnenschein und Wasser hat, elend verkümmern; es
ist zu traurig. Nicht einmal zum Spazierengehen kann man sie bringen,
da sie zum Gehen zu schwach ist und einen Fahrstuhl nicht besitzt –
ich würde ihrer Mutter, der Frau Pfarrerin, gern etwas unter die Arme
greifen, aber sie ist zu stolz, etwas anzunehmen!«

»Halt, aber mir kommt ein Gedanke!« rief Aennchens Mutter, welche
aufmerksam und betrübt zugehört hatte. »Herr Doktor, wäre nicht unser
neues Landhaus gerade als Erholungsort für die Kranke wie geschaffen?
Sie könnte dort die ganze schöne Jahreszeit über ländliche Ruhe
genießen, wir haben die köstlichste Milch dort selbst im Hause, ein
Fahrstuhl steht noch von meinem seligen Vater her droben auf dem
Speicher, den könnten wir hinausschaffen lassen, wenn die Patientin
weitere Wege in den Wald unternehmen sollte – fügt sich nicht alles
herrlich zusammen?«

»Wenn Sie wirklich der armen Kranken diese Hilfe bieten wollen,
dann stehe ich auch dafür ein, sie gesund zu machen,« rief der
Hausarzt erfreut, der gütigen Dame die Hände schüttelnd, und der
vielbeschäftigte Mann empfahl sich, indem er noch meinte, jeder Tag sei
jetzt Gewinn und er könne nur für rasche Ausführung des ausgezeichneten
Planes stimmen.

So begab sich denn Aennchens Mama ohne Zögern hinüber in das kleine
Stübchen der Frau Pfarrerin Traugott, mit welcher sie sich seit der
Freundschaft der beiden Kinder auch schon längere Zeit befreundet
hatte, und schlug ihr vor, mit ihrem kranken Töchterlein hinaus auf
das schöne Landhaus zu ziehen, damit diese in frischer Luft und bei
kräftiger ländlicher Kost dort zu neuem Leben gesunden könne. Die Frau
Pfarrerin vermochte anfangs kaum an das Glück zu glauben, welches sich
ihr plötzlich so unvermutet bot, sie zögerte, eine solche Großmut
anzunehmen, aber die Sorge für ihre immer mehr dahinsiechende Tochter,
deren Leiden zu lindern so wenig in ihrer Macht stand, ließ sie die
dargereichte Rettungshand mit gerührtem Herzen ergreifen und Gott innig
danken, welcher so edle Menschenfreunde auf ihren Pfad geführt.

So wurde denn auch kein Tag mehr versäumt, die Uebersiedlung der
Kranken nach dem Landhäuschen, welches »Glückesruh« getauft worden war,
vorzunehmen. Zwei niedliche Fremdenzimmer wurden dort für sie in Stand
gesetzt, die Frau Pfarrerin zog mit Klara hinaus in das reizende Heim
und Martha wurde während der Abwesenheit der Mutter zu Aennchen als
Gast geladen. Das war nun eine köstliche Zeit für die kleinen Mädchen;
wie zwei Schwestern teilten sie alles zusammen und Aennchens Eltern
gewannen die kleine Martha so lieb, als ob sie ihr eigenes Kind wäre;
auch die Jungen hingen mit knabenhaftem Ungestüm an der lieben sanften
Freundin.

Jeden Sonntag aber den ganzen Sommer über pilgerte denn die ganze
Familie schon am frühen Morgen hinaus nach »Glückesruh« und Martha
konnte es sehnsüchtig immer kaum erwarten, ihre Lieben wiederzusehen.
Und wie grenzenlos war jedesmal ihre Freude, wenn sie ihre geliebte
Schwester Klara von Woche zu Woche immer weiter genesen fand. Der
Herr Doktor hatte recht gehabt; die Kranke hatte wirklich einer Blume
geglichen, welcher der Sonnenschein gefehlt; nun aber ihr alles zuteil
werden konnte, was ihrem geschwächten Körper not that, kehrte die
Farbe der Gesundheit auf ihre blassen, lieblichen Wangen zurück, neue
Kraft strömte durch ihre Glieder, so daß sie nun schon imstande war,
kürzere Wegstrecken allein zurückzulegen, bei weiteren Wegen wurde sie
im bequemen Fahrstuhl gefahren. Das Bärbele fühlte sich sehr wichtig
und geschmeichelt, wenn sie der verehrten Kranken zu wiederholten
Stunden des Tages große Gläser köstlich schäumender Milch bringen
durfte, welche dieser so herrlich mundeten, wie ihr seit Jahren nichts
gemundet hatte. Der Doktor kam alle paar Tage herausgefahren, nach
seiner Patientin zu sehen, und trat stets aufs höchste befriedigt den
Heimweg an, nachdem er ein Stündchen im Garten mit den beiden Damen
verplaudert, und sich von Herzen gefreut hatte über die zunehmende
Frische und Lebenslust des lieben kranken Mädchens – ja, er weissagte
sogar, bis zum Herbst würde er es mit keiner Patientin mehr,
sondern mit einem völlig gesundeten Fräulein zu thun haben. Wer war
glücklicher, als die ganze Familie Traugott – niemals hätten sie zu
hoffen gewagt, daß sich ihr Lebenslos noch so gnädig gestalten würde.

[Illustration]

[Illustration]



Sechzehntes Kapitel.

Musikstunden.


»Lieber Mann, meinst du nicht, daß es Zeit wäre, Aennchen jetzt mit
dem Musikunterricht beginnen zu lassen? Sie hat doch ungewöhnliches
musikalisches Talent und auch offenbar viel Liebe zur Musik. Andere
Kinder beginnen oft schon mit sechs Jahren Klavier zu spielen; so
ist unser Töchterchen verhältnismäßig spät daran, doch wollte ich
sie bisher nicht mit Arbeit überbürden, da ich dafür bin, daß die
Kinder nicht zuviel auf einmal beginnen sollen, weil sonst leicht
alles nur halb gethan wird. Darum ließ ich Aennchen lieber erst über
alle Schwierigkeiten des Anfangsunterrichts in der Schule hinweggehen
und ihr dabei genug Muße zu Spiel und Erholung; jetzt aber, da
ihr Charakter ernster geworden ist und sie verständig genug ist,
einzusehen, welchen Vorteil das Lernen bringt, wird sie mit Freuden
den Musikunterricht beginnen und sich hoffentlich recht gelehrsam und
strebsam zeigen.«

So sprach eines Tages Aennchens Mutter zu ihrem Mann, welcher sich
vollständig damit einverstanden zeigte; daraufhin wurde dem jungen
Mädchen angekündigt, daß sie von nun an Klavierstunden bekommen
würde, und Aennchen vernahm die Nachricht mit freudigem Stolz. Hatte
sie die Musik ja so lieb, als wäre sie als Waldvögelein geboren! sie
konnte nicht leben, ohne zu zwitschern und zu singen; den ganzen Tag
klangen ihre frohe Liedchen durchs Haus. Wie schön dachte sie es sich
nun, Klavierspielen und sich selbst begleiten zu können – sie hatte
die Freundinnen schon zuweilen beneidet, welche so stolz von ihrem
Klavierunterricht erzählten, und so versprach sie denn gar gern ihren
gütigen Eltern, eine recht fleißige und strebsame Schülerin werden zu
wollen.

Des andern Tages begleitete ihre Mutter sie dann in die Musikschule,
wo Aennchen bereits angemeldet war. Die Vorsteherinnen derselben waren
zwei feingebildete Damen, welche mit Hilfe mehrerer Lehrerinnen das
Institut gegründet hatten, das sich des besten angesehensten Rufes
erfreute und von den meisten besseren Familien besucht ward.

Voll Herzklopfen folgte Aennchen ihrer Mutter die Treppe hinauf in
einen großen eleganten Salon, wo die Vorsteherin Fräulein Tamann sie
mit freundlicher Würde empfing. Nach wenigen Worten mit Aennchens
Mutter führte sie dann diese mit dem Töchterlein hinüber nach einem
andern Zimmer, darin standen drei Klaviere an den Wänden, außerdem noch
ein Tisch, einige Fauteuils, ein Sofa, ein Blumentisch und mehrere
Etageren an den Wänden. Aennchen hatte sich eine Musikschule durchaus
nicht so freundlich vorgestellt und war freudig überrascht, auch in der
Lehrerin eine sehr feine junge Dame in höchst gewählter Kleidung zu
erblicken, welche den Kindern so liebenswürdig entgegenkam, daß sie gar
keine Gelegenheit fanden, sich zu fürchten und Scheu zu empfinden. Es
waren außer Aennchen noch drei Ankömmlinge im Zimmer, zwei Knaben und
ein Mädchen, letzteres auch von seiner Mutter begleitet. Doch empfahlen
sich die Damen, als der Unterricht begann; nur die Vorsteherin, Frl.
Tamann, verweilte noch eine Zeitlang im Zimmer, um zu beobachten, wie
sich die neuen Schüler beim Unterrichte benehmen würden.

Dieser begann nun freilich ganz anders, als Aennchen ihn sich gedacht,
denn anstatt, daß sie gleich an das Klavier gesetzt wurde und dort
darauf heraufklimpern durfte, sang ihnen die Lehrerin, Fräulein
Ina, mit klarer hübscher Stimme ein einfaches Liedchen vor; »Wenn
die Sonn’ mit hellem Schein leuchtet in dein Bett hinein – Büblein,
spring geschwind heraus, sticht dir sonst die Augen aus.« Die Kinder
mußten das Liedchen nachsingen, bis sie es ohne Fehler konnten,
natürlich brachte Aennchen dies mit großer Leichtigkeit zu stande. Dann
wurden alle vier an eine große schwarze Tafel geführt, auf welcher
Notenlinien aufgezeichnet waren und große runde Notenköpfe, welche
freilich den Kindern vollständig unbekannte Größen waren. Es war nun
nicht leicht, bis sie alle nach und nach begriffen hatten, daß diese
Noten, in aufsteigender Reihe auf den fünf Linien hingemalt, die Noten
~c d e f g a h c~ darstellten; noch viel schwerer war es, die Bedeutung
der Zeichen und Vorzeichen kennen zu lernen, den Violinschlüssel
nachzumalen und vieles andere mehr, und es bedurfte dazu vieler
Stunden, bis sie dies alles vollständig begriffen hatten. Heute aber
in dieser ersten Stunde kamen sie doch schon so weit, daß sie einige
der Noten kennen lernten. Dann wurden sie alle an die Klaviere gesetzt,
die zwei Mädchen an das erste, die zwei Knaben zusammen an das zweite,
und Fräulein Ina ging von einem zum andern und zeigte ihnen, wie sie
gerade und aufrecht am Klavier zu sitzen hatten und wie sie Füße und
Arme, Ellbogen und Hände in richtige Haltung bringen mußten. Dies
war besonders bei den Buben keine leichte Mühe, denn ihre eckigen
Gliedmaßen zeigten sich recht ungeschickt für diese Künste. Nun sollte
sich jedes der Kinder die Melodie des Liedchens auf dem Klavier
zusammensuchen. – Aennchen fand sogleich den ersten Ton richtig und,
o Wunder, auch die nächsten Töne ganz gut bis zum Schluß, während die
andern Kinder sich weit mehr bemühen mußten. Fräulein Ina hatte eine
große Freude an ihrer talentvollen Schülerin; zum Schluß der Stunde
bekamen alle als Hausaufgabe eine Seite Violinschlüssel zu schreiben,
ferner das Liedchen recht oft auswendig zu singen, die Notenzeichen
dazu auswendig ins Buch zu schreiben und die Namen der Noten darüber zu
setzen.

So war denn die erste Stunde sehr gut abgelaufen und Aennchen kehrte
ganz freudestrahlend nach Hause zurück; voll Eifer nahm sie von nun
an jeden freien Augenblick wahr; sich auf dem Klavier zu üben; es war
erstaunlich, welche Fortschritte sie schon in den ersten Lehrstunden
machte, wie sie auch den schriftlichen Teil ihrer Aufgabe stets
zur Zufriedenheit löste und sogar anfing, kleine Kompositionen zu
versuchen, welche ganz niedlich ausfielen. Ihre Eltern und Lehrer
hatten große Freude darüber, besonders aber war Martha stolz über die
musikalischen Fortschritte ihrer Freundin, und jede Stunde, welche
sie am Klavier zubrachte, setzte sie sich mit ihrer Arbeit in ein
Winkelchen daneben und bildete eine aufmerksame Zuhörerin. Sie selbst
konnte ja nicht daran denken, auch Klavier spielen zu wollen – ihre
kleine verkrümmte Figur war schon viel zu schwächlich dazu und dann
hätte ihre Mutter den kostspieligen Unterricht gar nicht erschwingen
können, aber sie war dennoch frei von jedem Neid und freute sich
aufrichtig des Glückes ihrer Freundin.

Denn für diese wurde die Musik nun wirklich zu einer wahren Quelle des
Glücks und ihre Eltern mußten sie schließlich beinahe zurückhalten,
daß sie nicht zuviel darin that. Bald war sie so weit, daß ihr das
Notenlesen nicht die geringste Schwierigkeit mehr verursachte und sie
nach dem Gehör die verschiedensten Akkorde schon auseinanderzukennen
vermochte; sie spielte mit richtigem Anschlag und gutem Ausdruck schon
eine Anzahl hübscher kleiner Liedchen, Uebungen und Sonatchen, und
als nun in der Musikschule der erste Musikabend, die sog. »Soiree«,
herannahte, da konnte sie bereits zu denjenigen gezählt werden, welche
ein hübsches Musikstück zum Vortrage bringen durften.

Diese erste Soiree sollte abends 6 Uhr beginnen; die ganze Schülerschar
der Musikschule freute sich schon lange darauf und Aennchen hatte von
den andern schon so viel erzählen hören, wie hübsch und unterhaltend
es an solchen Abenden immer sei. Da wurden alle Eltern derjenigen
Klassenschüler mit eingeladen, welche an dem Abend vorspielen durften,
es wurde Thee gereicht und die Kleinen mußten sich da wie in einer
richtigen Gesellschaft benehmen. Welch ein Ehrgeiz wurde da in den
Kindern erweckt! jedes war bestrebt, an diesem Abend sowohl durch sein
Spiel als auch durch sein gutes Betragen nur Ehre einzulegen!

Aennchen hatte bei Fräulein Tamann um die Erlaubnis ersucht, ihre
Freundin Martha mitbringen zu dürfen; sie wollte ihr gern auch das
Vergnügen gönnen, obschon das schüchterne Mädchen allerdings nur schwer
zu überreden war, sich mit in den Kreis all der andern frohen Kinder
zu mischen; sie war im größeren Kreise immer ängstlich und scheu, da
sie stets fürchtete, wegen ihres Gebrechens verhöhnt zu werden. Aber
im Hause Fräulein Tamanns brauchte sie keine Furcht zu hegen, daß
die Kinder in Unart und Uebermut ausarten könnten; dort waren alle
liebenswürdig und jedes darauf bedacht, sich so fein und gesittet als
möglich zu benehmen.

So gestaltete sich dieser Abend für die beiden Mädchen denn auch zu
einem höchst vergnüglichen. Aennchen erntete viel Lob, als sie ihr
Musikstück hübsch und fehlerfrei vorgetragen hatte. Nachdem alle
Kinder ihre Vorträge beendet hatten, wurden für Groß und Klein Thee
und Süßigkeiten herumgereicht und alle durften sich nach Gefallen
Plätze suchen, schwatzen und lachen. Das war nun eine Fröhlichkeit in
der kleinen Schar; sie saßen dicht gedrängt auf den niederen Samtsofas
die Wände entlang, hielten ihre Theetassen, wie die großen Damen, in
der linken Hand und dabei schwatzten all die vielen kleinen Mündchen
unaufhörlich. Ein kleiner sechsjähriger Knabe war dabei, er hieß
Fredchen, der glaubte, für die Unterhaltung allein sorgen zu müssen;
in höchst drolliger Weise geberdete er sich wie ein Kavalier, trug
den kleinen Damen die leeren Theetassen fort, erzählte ihnen lustige
Geschichtchen und es war zuletzt ein Gelächter und Gekicher unter
allen, daß Fräulein Ina neugierig herzukam und fragte, was es denn so
Lustiges gebe?

»O, Fräulein Ina,« sprach Aennchen lächend, »Fredchen hat gerade
erklärt, wenn er groß sei, wolle er uns alle miteinander heiraten,
aber wir müßten ihm dann den ganzen Tag ›Wer will unter die Soldaten?‹
vorspielen.«

»Fräulein Ina aber will ich aber zuerst heiraten, denn sie hat so
schöne Kleider an und ist so arg lieb!« rief der komische kleine
Schelm und versuchte an der jungen Lehrerin hinaufzuklettern; er wäre
wohl am Ende noch gar zu übermütig geworden, wenn die Soiree nicht
ihr Ende erreicht hätte und die verschiedenen Mamas mit ihren Kindern
aufgebrochen wären. Aber noch lange schwärmten alle von dem schönen
Abend und Aennchen konnte schon die nächste Soiree kaum erwarten.



Siebzehntes Kapitel.

Aus Aennchens Tagebuch. Almas Rückkehr.


Was habe ich doch gestern für eine Freude gehabt! Wirklich, ich bin
jetzt noch ganz aufgeregt, während ich es niederschreibe.

Wir waren, wie jeden Sonntag in diesem Jahr, alle mit einander zu
unserem Landhäuschen »Glückesruh« hinausgepilgert. Freilich sagten wir
uns unterwegs mit Bedauern, daß es nun wohl nicht oft mehr in diesem
Jahre geschehen könne, denn es ist bereits der Spätherbst gekommen und
dieser macht sich zuweilen schon recht fühlbar. Freilich, gestern war
noch ein ganz köstlicher Tag, die Sonne schien so warm und golden, als
dächte sie gar nicht daran, bald Abschied nehmen zu müssen, und der Weg
über die abgemähten Felderstoppeln war so lustig, daß wir Kinder uns
alle an der Hand faßten und im vollen Galopp über die Furchen jagten.
Dann hingen sich uns die silbernen Marienfäden um die Gesichter, wir
waren wie mit Schleiern umsponnen und spielten »Märchenfee.«

Und wie freuten wir uns alle, besonders aber meine liebe Martha, die
immer vorauseilen wollte, auf unsere liebe, liebe Klara! Wir konnten
es kaum erwarten, zu ihr zu kommen, da wir alle miteinander mit so
inniger Liebe an ihr hängen. Keine versteht es, wie sie, uns schöne
Märchen und Geschichten zu erzählen, keine nimmt mit so viel Geduld
und Freundlichkeit all unsere kleinen Anliegen entgegen; bei niemand
sind wir so artig und still, selbst die wilden Brüder sind in Fräulein
Klaras Gegenwart immer wie ausgewechselt und man hört kein einziges
wildes oder unbedachtes Wort von ihnen. Und seitdem sie nun so viel
gesünder und kräftiger geworden ist, nimmt sie sogar ganz gern an
unseren Spielen teil, wenn dieselben nicht zu wild sind; wir vergessen
dann immer ganz, daß sie nicht auch ein Kind ist, wenn sie gar so
herzlich lachen und sich mit uns freuen kann.

So beflügelten sich denn unser aller Schritte, als wir »Glückesruh«
näher kamen – Martha war gar nicht mehr zu halten; sie sprang die
Anhöhe vor uns hinauf, da hörten wir sie ganz glückselig rufen: »Klara,
bist du es denn wirklich?« und als wir um die Ecke bogen, da trauten
auch wir kaum unsern Augen, denn Fräulein Klara stand ganz gesund und
frisch mitten im Weg und hielt die kleine Schwester umschlungen; sie
hatte den Weg vom Häuschen her, der wirklich gar nicht so kurz ist,
ganz allein zu Fuß zurückgelegt, um uns entgegen zu gehen! Das war nun
ein Glück und eine Ueberraschung! Die Eltern und wir alle umringten sie
jubelnd; Frau Pfarrer Traugott kam vom Hause auch herbei und vergoß
Freudenthränen über die Genesung ihrer Tochter und dann schritten wir
alle dem Häuschen zu. Ich durfte mit Fritz zugleich Fräulein Klara
voranführen; wie glücklich und stolz fühlten wir uns! Ich mußte sie
nur immer ansehen, so gut gefiel sie mir mit den zartrosa Wangen und
dem feinen sanften Gesicht, um das die hellen Haare in schönen Wellen
fielen. So könnte eine Fee ausgesehen haben aus den Märchenbüchern!
Ach, und so lieb und gut war sie; wir durften ihr alles erzählen,
was wir die Woche über erlebt hatten, und sie hatte dafür eine Menge
Geschichten für uns bereit, die sie hier außen beobachtet hatte, von
Bärbele und vom Hühnerhof und dem Ziegenbock, und dann hatte sie auch
acht auf unsere verschiedenen Gärtlein gegeben, welche freilich jetzt
leider schon anfingen, recht kahl zu werden. Keine Blume wollte sich
mehr halten, auch die Blätter wurden welk, aber auf der Wiese sah’s
lustig aus, da gab’s Herbstzeitlosen die Hülle und Fülle.

So verging uns denn der Vormittag in lauter Lust und Fröhlichkeit
und nachmittags waren wir im warmen Sonnenschein alle zusammen auf
dem großen Platz vor dem Hause. Fräulein Klara war in ihren Fahrstuhl
gebettet, da sie hier die beste Bequemlichkeit hatte, und wir Kinder
spielten alle miteinander Croquet, wenn wir auch freilich nichts
Besonderes darin zu leisten vermochten; zumal die kleinen Brüder haben
es noch zu keiner Geschicklichkeit gebracht und Hermännchen schleudert
seine Kugel immer nach allen Richtungen hin, nur nicht nach derjenigen,
welche sie nehmen soll. Eben hatte er wieder höchst unbedacht eine
ganz falsche Kugel erwischt und wollte mit dieser seine Kunststücke
beginnen, Fritz sprang dazwischen und packte ihn am Schopf, und es
hätte vielleicht eine kleine Keilerei gegeben, die unter den Buben
nicht selten ist, da rief Fräulein Klara aufhorchend:

»Ich höre einen Wagen fahren – es wird doch kein Besuch kommen?« Und
richtig, soeben fuhr eine wundervolle elegante Equipage mit Kutscher
und Diener in schöner Livree den Hof herein. Stumm vor Erstaunen,
mit offenem Mund stand ich da und konnte nicht begreifen, wer das
wunderfeine junge Mädchen war, welches mir schon von weitem aus dem
Wagen so lebhaft zuwinkte. Der Wagen hielt und eine helle Stimme rief:

»Aennchen, kennst du denn deine Freundin Alma nicht mehr?«

Beim Himmel, dieses reizende junge Dämchen war Alma! Sie sah ja beinahe
erwachsen aus in dem köstlichen Samtkostüm und Barett, die langen
Haare flossen ihr wie ein Schleier den Rücken herunter; ich konnte nur
stehen und sie anstaunen, während sie rasch aus dem Wagen sprang und
auf mich zueilte. Aber wie sie mich so herzlich und stürmisch umarmte
und an sich drückte, da erkannte ich doch meine liebe alte Alma wieder,
die Schüchternheit verschwand und voll Jubel drückte ich sie an meine
Brust! Es war mir freilich noch immer wie ein Traum, daß es wahr sein
sollte und wir uns wieder hatten; ich stammelte ganz betroffen:

»Wo kommst du denn so überraschend hierher?«

»Direkt aus Italien!« lachte Alma fröhlich. »Papa hatte plötzlich
eine große Sehnsucht nach Deutschland erfaßt; so wurde rasch alles
gepackt und zur Abreise gerichtet. In wenigen Tagen waren wir hier;
mein Fräulein trennte sich unterwegs leider von uns, da sie nach Hause
berufen wurde und nicht mehr bei mir bleiben kann. Mein Papa hatte mir
schon in Italien versprochen, sobald wir zu Hause wären, dürfte es mein
Erstes sein, dich, liebes Herz, zu besuchen; so fuhren wir heute gleich
nach eurem Hause, doch wurde uns gesagt, daß ihr hier außen zu finden
wäret. Rasch wurde Kehrt gemacht und hierher gefahren und nun sind wir
hier, alle miteinander, Papa, Peppino und ich. Aber wo ist Peppino, daß
du ihn auch kennen lernst?«

Nun erst bemerkte ich, daß außer Alma noch andere Fremde im Wagen
gekommen waren: ein vornehm aussehender Herr, welcher sich jetzt
lebhaft mit den Eltern unterhielt, und ein junger Mann von etwas
fremdartigem Aussehen, welchen Alma nun an der Hand ergriff und mir
als ihren Bruder Peppino vorstellte. Ich wurde dunkelrot und verlegen,
aber die beiden sprachen so unbefangen und heiter zusammen und Peppino
wußte schon so viel von mir und meinem Leben, daß ich doch bald auch
ganz vertraulich mit ihm wurde und anfing, tüchtig zu plaudern und
zu lachen. So verging die Zeit wie im Fluge, Mama hatte für Thee und
Kaffee gesorgt, und wir saßen alle zusammen im Kreise um den großen
runden Tisch auf der Veranda, auch Fräulein Klara verweilte sehr
glücklich unter uns und Herr von Stolzau hatte seinen Platz an ihrer
Seite; da bemerkte ich auf einmal, daß meine Martha fehlte. Ich fragte
nach ihr, niemand wußte etwas, sie war schon lang verschwunden! Unruhig
stand ich auf, sie zu suchen; Alma rief mir nach:

»Halt, Aennchen, ich gehe mit dir!« und hing sich an meinen Arm,
während ich im ganzen Garten nach Martha rief. Da fiel mir ein: sie
wird wohl an ihrem Lieblingsplätzchen sein; das war eine lauschige
entfernte Ecke, welche ganz zwischen Bäumen und Sträuchern verborgen
war; eine einzige kleine Bank stand dort und schon längst hatte Martha
sich diesen kleinen traulichen Platz als Lieblingsort ausgewählt. Als
ich jetzt die Zweige des Gebüsches teilte, da saß sie richtig dort auf
der Bank; sie hatte das Gesicht abgewandt in ihren Händen verborgen;
als ich sie aber anrief, da sah sie zu mir auf – ihr ganzes liebes
Gesichtchen war von Thränen überflutet.

»Martha, warum weinst du?« rief ich sie ganz erschrocken an. Da sprang
sie auf und suchte zu entschlüpfen, ich aber umfaßte sie rasch und bat
dringend:

»Du mußt mir sagen, warum du weinst! Hat dir jemand etwas gethan?«

»O nein, nein!« schluchzte sie, »aber – – –«

»Aber?« frug ich dazwischen.

»Aber ich bin doch tief unglücklich, weil – – –«

»Weil – – –?« drängte ich sie.

»Weil – weil du nun eine andere Freundin hast und mich nicht mehr lieb
haben wirst,« kam es endlich stockend heraus. Also das war’s! Das böse
Mädchen war eifersüchtig! Sie fürchtete, ich würde sie nun übersehen
neben der neuen Freundin! In ihrer Bescheidenheit dachte sie ja immer,
hinter den andern zurückstehen zu müssen; aber sie sollte sehen,
daß ihre Befürchtungen gänzlich grundlos waren, denn von der einen
Seite nahm Alma, von der andern ich sie unter den Arm, wir umarmten
und küßten sie, schalten sie tüchtig aus und schwuren uns dann auf
derselben Stelle ewige Freundschaft. Es sollte zwischen uns dreien ein
Freundschaftsbund fürs Leben werden; wir waren ganz begeistert von
dem Gedanken und entwarfen sofort den Plan, von nun an ein Kränzchen
stiften zu wollen, welches »Vergißmeinnicht« benannt werden sollte.

Dann kehrten wir glücklich vereint zu den andern zurück, welche uns
lächelnd empfingen und durchaus wissen wollten, was uns so lange
zurückgehalten habe. Wir aber verrieten nichts, so sehr Peppino in uns
drang. Derselbe ist gar ein lieber, lustiger Bursche, er befreundete
sich herzlich mit Bruder Fritz, obgleich derselbe etwas jünger ist, und
die kleinen Brüder waren bald so keck, daß sie ganz ungeniert mit ihm
spielten und ihre Possen treiben.

Herr von Stolzau hatte seine Freude daran. Ich hätte nie gedacht, daß
er so mild und liebenswürdig zu sein vermag; er unterhielt sich sehr
freundlich mit allen, am meisten aber sprach er doch mit Fräulein
Klara, welche mit glänzenden Augen zu ihm aufschaute und so frisch und
wohl aussah, daß wir uns alle nicht genug darüber freuen konnten.

Erst spät am Abend ließ Herr von Stolzau seine Equipage wieder
vorfahren, doch versprach er vor der Trennung noch, Alma recht oft mit
uns verkehren zu lassen, wenn er auch nicht vor hat, sie noch einmal in
die Schule zu schicken; vielmehr erkundigte er sich bei Mama nach einem
passenden Pensionat. Diese sprach lange halblaut mit ihm; ich hörte
zuletzt, wie sie sagte:

»Auch ich werde Aennchen nach der Konfirmation in diese Pension senden.«

Das wäre ja dann in gar nicht weiter Ferne, denn meine
Vorbereitungen für die Konfirmation haben schon begonnen und nächste
Ostern wird dieselbe stattfinden. Ich habe mit Martha zugleich
Konfirmationsunterricht bei unserem lieben alten Herrn Dekan, der so
recht versteht, unsere Herzen vorzubereiten zu dem wichtigen Schritt,
der uns bevorsteht. Alma ist katholisch, ich fragte sie, ob sie schon
konfirmiert sei; sie sagte, ihr Vater sei dafür, daß dies erst mit 18
Jahren geschehe, zu Hause bei ihnen im Norden sei dies so Brauch – dies
wunderte mich sehr.

[Illustration]



Achtzehntes Kapitel.

Aus Marthas Tagebuch. Die Konfirmation.


Sehr lange Zeit kam ich nicht mehr dazu, in mein Tagebuch zu schreiben;
ich hatte gar so viel anderes vor, diesen ganzen Winter. In der
Schule gab es mehr als je zu lernen, nun das Ende des Schuljahres
und die große Prüfung nahe war; kurze Zeit darauf sollte die
Konfirmation stattfinden, so war denn meine Zeit vollauf mit Lernen und
Vorbereitungen in Anspruch genommen. Als schönste Erholung dazwischen
wurde mir aber dann gestattet, wöchentlich das Kränzchen mit meinen
lieben Freundinnen Aennchen und Alma abzuhalten, und zwar hatten wir
dafür den Sonntagnachmittag festgesetzt. Welch köstliche Stunden haben
wir an diesen Tagen immer zusammen verlebt! wir freuten uns von Woche
zu Woche darauf und einmal war es schöner und genußreicher als das
andere Mal. Unser Zusammensein war nicht nur dem Vergnügen gewidmet;
wir hatten immer eine Stunde für die Unterhaltung in französischer
Sprache festgesetzt. Natürlich ist Alma darin unsere Meisterin, denn
sie spricht französisch, als wäre es ihre Muttersprache, während wir
andern oft nur recht kläglich zu stammeln vermögen; aber das giebt dann
gerade den größten Spaß, und Alma hat so lange Geduld, bis sie uns die
richtigen Sätze über das, was wir ausdrücken wollen, eingeprägt hat.

Die liebe Alma! Wie gütig und freundlich ist es von ihr, mich als
Aennchens Freundin mit in den Kauf zu nehmen und zu ihrer Freundin
zu machen! Ich hätte das nie zu hoffen gewagt! Sie ist sehr lebhaft
und witzig, sehr glänzend und verwöhnt, dabei aber doch von Herzen
gut und liebenswürdig. Früher in der Schule hatte ich immer Scheu vor
ihr, da sah sie mit Hochmut über alle hinweg, welche es ihr nicht
gleichthun konnten; mich selbst hatte sie nie beachtet. Aber sie ist
vollständig verändert von der Reise zurückgekommen, wenn sie auch
äußerlich noch dieselbe ist; nur noch viel reizender als früher, und
sie sieht so erwachsen aus, daß sie immer für eine junge Dame gehalten
wird. Ich rechne es ihr hoch an, daß sie es nicht verschmäht, aus ihrem
glänzenden Schloß, so oft die Reihe des Kränzchens an mir ist, in unser
kleines, enges Stübchen zu kommen, und wahrhaft merkwürdig ist es, daß
sie behauptet, sich immer gerade da am wohlsten zu fühlen, weshalb
mein Herzens-Aennchen schon einmal beinahe eifersüchtig geworden
ist. Sie hängt mit einer schwärmerischen Liebe an meiner Schwester
Klara und erscheint niemals, ohne ihr etwas Hübsches an Früchten und
Blumen von ihrem Gute mitzubringen. Klara errötet dann immer vor
Freude; anfangs war es ihr beinahe peinlich und sie fragte Alma, ob
es ihr denn gestattet sei, das Treibhaus so zu plündern; doch Alma
erklärte fröhlich, ihr Papa habe mit eigener Hand ihr immer die Blumen
für Fräulein Klara abgepflückt und sie könne ihn ja selbst darüber
befragen. Denn Herr von Stolzau unterläßt es selten, sein Töchterchen
mit dem Wagen aus dem Kränzchen abzuholen, und es ist vorgekommen,
wenn das Kränzchen in unserem Hause stattfand, daß er sich noch eine
halbe Stunde hinsetzte und mit Klara unterhielt, sie in teilnehmendster
Weise nach ihrer Gesundheit befragte und sich recht herzlich freute,
daß es ihr fortwährend so gut geht. Denn gottlob, mein liebes, liebes
Schwesterchen ist wirklich seit diesem letzten Sommer ganz gesund
und kräftig geworden; sie fühlt keine Schmerzen mehr, kann täglich
ein Stündchen ausgehen, sich zu Hause beschäftigen und ist darüber
natürlich sehr glücklich und dankbar gegen Gott, der ihr dazu so gnädig
verholfen hat. Und wie viele große Hilfe haben wir den gütigen Eltern
meines lieben Aennchen zu verdanken – meiner armen Mama wäre es ja
nicht möglich gewesen, einen solch langen herrlichen Landaufenthalt
für meine leidende Schwester zu erschwingen. Jetzt ist es, als ob
lauter Sonnenschein in unser Häuschen eingezogen wäre; der ganze lange
Winter ging uns wie ein freundlicher Traum vorüber.

Auch in der Schule durfte ich viel Freude erleben. Die Lehrer sind
alle so gütig gegen mich und haben mich zur Ersten der Klasse ernannt.
Gleich nach mir kommt Aennchen, die es eigentlich noch viel mehr
verdient hätte. Denn sie ist eine vortreffliche Schülerin und lernt
so rasch und leicht, daß es oft ganz wunderbar ist, während ich mich
oft viel mehr plagen muß. Bei der Prüfung erregte sie mit ihrem
Aufsatz über Kaiser Barbarossa förmliches Aufsehen und erhielt eine
Extrabelobung.

Zwischen der Schulprüfung und der Konfirmation blieben uns noch drei
Wochen zur Vorbereitung für die Konfirmation. Aennchen und ich, welche
den ganzen Unterricht miteinander genossen, verlebten auch diese letzte
Zeit tagtäglich zusammen. Wir waren gegenseitig bemüht, uns auf den
Ernst dieses wichtigen Schrittes würdig vorzubereiten, und als dann
der heilige Ostertag herankam, an welchem wir das Gelübde ablegen
sollten fürs Leben, da nahmen wir mit hohem Ernst die Gnade entgegen,
als erwachsene Christen in die Gemeinschaft der andern aufgenommen
zu werden. Der Spruch, welchen ich erhielt, lautete: »Sei getreu bis
in den Tod, so will ich dir die Krone des ewigen Lebens geben!« und
Aennchen bekam die Worte auf den Lebensweg: »Die Augen des Herrn sehen
auf die, so ihn lieb haben!«

Wir waren beide zusammen vor den Altar geschritten. Mein schönes
Aennchen, das so unbeschreiblich lieblich mit den hängenden Zöpfen in
dem ernsten schwarzen Gewand aussah, hatte es nicht verschmäht, mit der
mißgestalteten kleinen Freundin zu gehen, welche, ich bemerkte es gar
wohl, die Blicke der meisten auf sich zog. Als ich mich darüber gegen
Aennchen äußerte, meinte das liebe gute Kind: »Vor dem lieben Gott sind
wir ja alle gleich und dein Herz in der unscheinbaren Hülle ist ihm
sicher lieber als das meinige!« Ach, sie weiß doch immer einen Trost
für mich!

Mittags waren wir alle zu Tisch in Aennchens Hause geladen, Mama, Klara
und ich, auch Herr von Stolzau und Alma. Es war ein schönes erhebendes
Festmahl; wir beiden Konfirmandinnen wurden als erwachsene Christen
betrachtet und jedes sprach schöne gütige Worte mit uns. Aennchens
Brüder wagten sich vor Respekt kaum an uns heran; selbst Alma erklärte,
beinahe etwas Scheu vor unserer Würde zu empfinden.

Aennchen aber und ich waren den ganzen Tag von einem Gefühl dankbaren
Glückes beseelt, und als ich mich am Abend niederlegte, da gelobte ich
dem lieben Gott noch einmal im stillen, ihm »getreu zu sein und zu
bleiben bis in den Tod.«

[Illustration]



Neunzehntes Kapitel.

Das Kränzchen.


Wieder war es Mai geworden, ein wonniger, köstlicher Mai voll
Blütenpracht und Blumenduft und Vogelsang. Das reizende Schlößchen
Stolzau lag wie in einem Meer von Blüten gebettet, weiße und blaue
Fliederbüsche guckten mit ihren duftenden Dolden neugierig in die
Fenster eines glänzenden Zimmers, aus welchem ein jugendlicher
Mädchenkopf, von einer goldenen Haarfülle umrahmt, ungeduldig
herauslugte.

»Sie kommen noch immer nicht, die säumigen Mädchen,« sprach Alma
halblaut, während sie die reizenden, rosigen Lippen schmollend aufwarf.
In demselben Augenblick aber bog drunten der Wagen um die Ecke, welcher
allwöchentlich die Freundinnen aus der Stadt heraus brachte, und Alma
sprang mit einem frohen Jubelschrei ihnen entgegen. Eine ganze lange
Woche war ja vergangen, seitdem sie sich nicht mehr gesehen hatten –
das dünkte ihnen eine wahre Ewigkeit. Wie viel gab es da zu plaudern
und Neuigkeiten auszutauschen!

»Heute an dem herrlichen Tag können wir unser Kränzchen im Garten
abhalten!« sprach Alma, während sie ihren jungen Gästen fröhlich
voransprang an ein reizendes Plätzchen unter einem blühenden Apfelbaum.
Dort war ein weißgedeckter Tisch höchst einladend mit Tassen und
Tellern, Früchten und Gebäck besetzt, ein silberner Theekessel summte
über einer Spiritusflamme und eben brachte der Diener auch die
dampfende Schokoladenkanne herbei.

»Aber Alma! Das ist wider die Verabredung!« tadelte Aennchen,
»Schokolade ist nur bei ganz besonderen Gelegenheiten erlaubt und heute
weiß ich von keiner.«

»Nun, es könnte aber doch möglicherweise eine geben,« sprach Alma
geheimnisvoll, »obgleich ich, offen gestanden, selbst nicht weiß
welche. Aber mein Papa kam heute mittag zu mir und sprach: ›Ich fahre
in die Stadt und wenn ich zurückkomme, erfährst du etwas Köstliches und
ich bringe dir etwas mit, was dich sehr, sehr freuen wird.‹ Natürlich
war meine Neugierde gleich aufs höchste gespannt und ich bestürmte
Papa, mir doch zu sagen, was es sei – er aber verriet nichts, nur
gestand er zuletzt noch zu, daß es etwas Lebendiges wäre und sprechen
könne, und daß er es bringen wollte, so lange ich noch mit meinen
Freundinnen hier beisammen sei. Nun helft mir aber nur um Gotteswillen
raten, in was die Ueberraschung bestehen könnte? Mir wirbelt schon ganz
der Kopf von dem vielen Denken.«

»Dann rege dich nur lieber nicht zu sehr auf und lasse die
Ueberraschung an dich herankommen, wie dein Papa es beabsichtigt,« riet
die besonnene Martha, während Aennchen, angesteckt von der Neugierde
der Freundin, in grübelnde Betrachtungen versank, deren Resultat
zuletzt darin bestand, daß sie meinte:

»Dein Papa bringt dir vielleicht einen Papagei, weil er ja verheißen
hat, daß der geheimnisvolle Gegenstand auch sprechen könne.«

»Richtig, ein Papagei wird’s sein!« rief Alma aufspringend und in
die Hände klatschend; »o, du kluges Aennchen weißt doch immer das
Richtige zu treffen. Dafür muß ich dich aber gleich mit einem Stück
selbstgebackenen Kuchens belohnen.«

»Wirklich, selbstgebacken?« staunten die Freundinnen. »Alma, du willst
uns bloß foppen. Deine feinen Fingerchen verstehen doch dergleichen
nicht.«

»Sicher haben diese zehn Finger den Teig selbst geknetet,« rief
Alma beteuernd aus, indem sie ihre niedlichen weißen Händchen
emporstreckte. »Glaubt ihr denn, man vermöchte lang mit solch
vortrefflichen Geschöpfen, wie ihr es seid, zu leben, ohne von dem
ausgezeichneten Beispiel angesteckt zu werden? Ich habe mich tüchtig
geschämt, als Martha neulich die süßen Kaffeeküchlein auf den Tisch
brachte, welche sie selbst fabriziert hatte, denn ich hatte gar
keine Ahnung, daß man das nur versuchen könnte. Da bin ich heute zu
unserer Mamsell gelaufen und habe gebeten: ›Lassen Sie mich heute
den Kaffeekuchen backen.‹ Denkt euch, Kinder, die Gute hat geglaubt,
ich spreche im Fieber, und hat laut aufgeschrieen. Als sie aber dann
endlich überzeugt worden war, daß es mir mit dem Vorhaben heiliger
Ernst sei, da sind ihr vor freudiger Rührung die Thränen über die
Backen gelaufen und sie hat sich alle Mühe gegeben, mir das Ding
begreiflich zu machen. Freilich, es war nicht leicht; erst zerbrach ich
ein halbes Dutzend Eier, dann schüttete ich die Rosinen ungewaschen in
den Teig, dann ergriff ich anstatt des Zuckers das Salzfaß, und so war
der erste Kuchen ›futsch.‹ Aber der zweite geriet um so besser und ihr
seht das prächtige Resultat hier vor euren eigenen Augen.«

»Und ganz köstlich schmeckt er,« riefen die Freundinnen, bewundernd in
die duftenden Kuchenstücke beißend. »Welche Freude wird dein lieber
Papa haben, wenn er das erfährt.«

»Ja, er wird es kaum glauben können,« sprach Alma mit strahlenden
Augen. »Der liebe, gute Papa sieht mich manchmal so traurig an und
spricht: ›Mein armes kleines Mädchen muß sich so allein ohne Mutter
behelfen, da wird es schwer fürs Leben tauglich werden.‹ Ich bemühe
mich ja redlich, ihm ein sorgendes Hausmütterchen zu sein, aber ich
sehe leider nur zu deutlich, das ihm die rechte Behaglichkeit doch
fehlt, wenn er auch freilich in seiner Güte recht zufrieden mit mir
ist und sich noch nicht von mir zu trennen vermochte, trotzdem er den
Hausunterricht, welchen ich dieses halbe Jahr hier außen empfing,
für ungenügend erklärte. Und so wird’s wohl in einigen Wochen Ernst
werden, ihr Lieben, Papa hat schon an die Pensionsvorsteherin nach N.
geschrieben, in deren Haus ich kommen soll.«

»Alma, weißt du denn schon, daß auch ich zu gleicher Zeit mit dir in
die Pension kommen werde?« rief Aennchen lebhaft. »Mama hat es mir
allen Ernstes nach der Konfirmation eröffnet, und wenn mir der Gedanke,
das Vaterhaus zu verlassen, auch ein recht schmerzlicher war, so ist es
mir doch auf der andern Seite ein Trost, mit dir, du Liebe, zugleich in
ein Institut zu kommen.«

»Und ich bleibe ganz allein,« murmelte Martha traurig. »Wie schmerzlich
werde ich euch entbehren!«

»Armes, liebes Herz!« rief Aennchen, sie lebhaft umarmend. »Kannst du
deine Mutter nicht auch bitten, dich mit uns zu lassen?«

»Nein, das würde ich nie,« versetzte Martha rasch und fest. »Erstens
brächte ich es nicht übers Herz, mich von meinem lieben Mütterchen zu
trennen, und dann gestatten unsere Verhältnisse es auch gar nicht, mich
eine solch kostspielige Pension besuchen zu lassen. Mein Weg, der mir
vorgezeichnet ist, wird ein ganz anderer sein. Nach dem Verlassen der
Schule werde ich zum Lernen in eine Frauenarbeitsschule geschickt, dort
kann ich in vierteljährigen Kursen alles durchmachen, was mich später
zu einer Handarbeitslehrerin befähigt – im ersten Kurs Handnähen, im
zweiten Maschinennähen, dann Kleidermachen, dann Sticken u. s. w. Habe
ich dann alles so gründlich erlernt, daß ich am Schluß ein vorzügliches
Zeugnis davontrage, dann braucht es mir nicht bange zu sein vor der
Zukunft; ich kann dann mit Gottes Hilfe meinem Mütterchen eine gute
Stütze werden.«

»Du beschämst uns alle, du Gute,« sprachen Aennchen und Alma, indem sie
dem verkrüppelten Mädchen, welches so bescheiden dasaß und deren ganzes
Leben nur aus Pflichterfüllung bestehen sollte, die Hände reichten;
dann fragte Aennchen, auf ein anderes Thema überspringend:

»Was schreibt dein Bruder Peppino aus der Stadt, Alma?«

»Die glücklichsten, zufriedensten Briefe,« war die rasche Antwort.
»Er ist auf dem Münchener Gymnasium und seine Lehrer rühmen ihn alle
als ihren fleißigsten, begabtesten Schüler, welcher rastlos vorwärts
strebt. Seine ganze Zeit füllt er mit Lernen und Zeichnen aus, ihr
glaubt nicht, wie weit er es darin schon gebracht hat. Sein höchster
Wunsch ist, Maler zu werden; Papa ist aber dafür, daß er erst tüchtig
die Wissenschaften studiere, bevor er in die Kunstschule übergeht.
Peppino ist ein gar zu lieber braver Mensch, es vergeht kein Tag, an
welchem er nicht seinem fernen Schwesterlein ein paar Zeilen schreibt,
und meistens legt er auch einige niedliche Handzeichnungen bei. Erst
heute morgen kamen wieder mehrere Skizzen an – soll ich sie euch
zeigen?«

Alma wollte aufspringen, Martha aber hielt sie zurück, indem sie sagte:

»Später, liebes Herz; jetzt haben wir wirklich so viel geplaudert,
daß wir ganz darauf vergessen haben, daß wir nicht nur zum Vergnügen
beieinander sind, sondern auch Französisch treiben müssen. Und es ist
die höchste Zeit für heute, das Versäumte nachzuholen, darum wollen wir
rasch beginnen.«

Es sollte aber heute doch nicht zum richtigen Ernste mehr kommen, denn
in demselben Moment hörten die Mädchen einen Wagen in den Hof fahren
und Alma rief aufspringend: »Der Vater kommt! Nun hat er mir sicher die
Ueberraschung mitgebracht! Ich kann es kaum mehr erwarten!«

Und vor Erwartung beinahe zitternd, schaute sie von ihrem Platz hinüber
nach dem Weg, auf welchem der Erwartete herankommen mußte; die beiden
andern Mädchen, kaum minder neugierig als sie, thaten desgleichen.
Und wenige Augenblicke waren vergangen, da zeigte sich wirklich Herr
von Stolzaus Gestalt zwischen den Büschen, aber nicht allein, denn er
führte eine schlanke Dame am Arme, welche allen merkwürdig bekannt und
vertraut schien.

»Klara! wie kommt Klara hierher?« murmelte Martha überrascht und
zweifelnd; Alma aber sprang auf ihren Vater zu und rief:

»Papachen, süßes Papachen, was hast du mir Lebendiges mitgebracht?«

»Du siehst es hier vor dir, mein Kind!« erwiderte Herr von Stolzau
freudig, dessen sonst so ernste Züge einen ganz glückstrahlenden
Ausdruck zeigten. »Rätst du es nun noch immer nicht, was ich dir
mitgebracht habe? Eine liebe, neue Mama!«

»Eine neue Mama!« Alma wiederholte es fast wie im Traum; sie konnte das
Wunder kaum begreifen; plötzlich aber jauchzte sie auf: »Eine neue Mama
habe ich bekommen und diese wird meine liebe, liebe Klara sein – o, das
ist zu viel, zu viel des Glücks!«

Und aufschluchzend vor Freude hing sie bald der neuen Mutter, bald dem
Vater am Hals, während die beiden andern Mädchen noch ganz fassungslos
dabei standen und kaum begriffen, was um sie her vorging.

»Nun, Marthchen, was sagst du dazu, wenn ich dich verlasse, um die
Mutter deiner Freundin zu werden?« frug da auf einmal die süße Stimme
Klaras zu Martha gewandt, und sie streckte ihr beide Arme entgegen.
»Bist du es zufrieden, allein bei Mütterchen zu bleiben und ihr die
fehlende Tochter mitzuersetzen, und freust du dich meines Glückes?«

»Es ist zu groß das Glück, als daß ich es so schnell zu fassen
vermöchte,« sprach Martha mit bebender Stimme, sich an die geliebte
Schwester schmiegend, und dann flüsterte sie leise:

»Weiß es denn Mütterchen schon?«

»Freilich weiß sie es; sie gab uns freudig ihren Segen und hat uns auch
hier heraus begleitet, nur ließ sie uns allein, bis die Ueberraschung
hier bei euch gelungen wäre. Jetzt aber wollen wir wieder zu ihr eilen.«

»Und ich muß der künftigen Herrin des Schlosses auch das Heim zeigen,
in welchem sie regieren soll,« sprach Herr von Stolzau, seiner Braut
sorgsam den Arm bietend und sie nach dem Schlosse hingeleitend, während
die drei jungen Mädchen freudestrahlend folgten.

[Illustration]



Zwanzigstes Kapitel.

Ein überraschender Besuch.


Zum letztenmal vor der Abreise der Freundinnen sollte das Kränzchen
bei Martha stattfinden. Diese hatte mit gar schwerem Herzen ihren
Hausgarten, wie sie die Terrasse nannte, heute festlich geschmückt, an
der Thüre prangte ein mächtiges, von Blumen umranktes »Willkommen.«
Zum erstenmal in diesem Jahr war das Wetter schön genug, um diesmal
bei Martha im Freien zusammenkommen zu können, zum erstenmal, aber
ja leider auch zum letztenmal! So legte sie denn unter Seufzen und
heimlichen Thränen das selbstgestickte schöne Gedeck und den weißen
Tischläufer auf, welchen sie mit roter Baumwolle in Stilstich mit
allerlei Arabesken so kunstreich verziert und mit selbstgehäkelten
Spitzen versehen hatte. In die Mitte der Tafel stellte sie eines
der schönen Blumenbouquets, deren ihre Schwester Klara täglich von
Herrn von Stolzau eines gesandt bekam, und als sie gerade mit allem
fertig war und ihr Werk noch einmal prüfend betrachtete, da flogen
auch schon die Freundinnen herein und es gab eine Begrüßung, als ob
man sich seit Jahren nicht mehr gesehen hätte. Bald saß Alles in
fröhlichster Eintracht um den hübsch gezierten Tisch herum; Alma hatte
sich natürlich ihren Lieblingsplatz neben ihrem »lieben Mütterchen,«
wie sie Klara mit Vorliebe schon jetzt nannte, genommen und beinahe
beständig hielt sie eine von deren weißen, schmalen Händen liebkosend
an sich gedrückt, als ob sie fürchtete, sie ihr entrissen zu sehen.
Auch Klara dachte mit aufrichtigem Schmerz daran, das geliebte Kind so
bald verlieren zu müssen, und hielt jede kostbare Minute fest, in der
sie noch mit Alma zusammensein konnte. Sie besaß eine so merkwürdige
Macht über deren Gemüt, wie es noch niemand vor ihr besessen hatte – in
Klaras Gegenwart war Alma eine vollständig andere Natur, hier schien
sie nichts als das sanfte bescheidene Kind, welches zu Füßen der
Mutter Schutz sucht.

[Illustration]

Natürlich drehte sich heute das Hauptgespräch um die nächste Zukunft
der beiden Institutselevinnen, welche schon mit allen ihren Gedanken
halb in der künftigen Sphäre waren und deren Phantasie sich lebhaft
damit beschäftigte, wie es in dem Institut wohl aussehen möge, ob
es ihnen gelingen werde, die Vorsteherin zufrieden zu stellen, und
welcher Art ihre künftigen Genossinnen sein würden. So war denn der
Gesprächsstoff darüber noch niemals ausgegangen und auch jetzt war man
in den wichtigsten Debatten; da störte plötzlich ein auf der Straße
entstehendes dumpfes Geräusch die Aufmerksamkeit und neugierig sprangen
Aennchen und Alma sogleich von ihren Sitzen, um nachzusehen, was es
wohl da unten zu schauen gebe.

Eine größere Menschenmenge, meist aus Kindern bestehend, war um
eine elegante Hotelequipage versammelt, welche unten vor der Thür
des Hauses hielt und die Insassen derselben, welche sich nach
einigen Erkundigungen soeben zum Aussteigen anschickten, mochten
es wohl gewesen sein, welche das Aufsehen hervorgerufen hatten. An
der Hauptperson, einem sehr jungen Mädchen, war allerdings nichts
Auffälliges zu bemerken, als daß ihre Kleidung einen beinahe männlichen
Schnitt besaß, indem diese aus einem kurzen schwarzen Jacket mit
Herrenkragen und Kravatte und einem glatten schwarzen Rock, ferner
einem kleinen Herrenhütchen bestand.

Um so seltsamer stach die Begleiterin der jungen Dame von derselben
ab, denn sie war so bunt als möglich gekleidet in kostbare rote und
schottisch-seidene Stoffe. Um den Kopf trug sie ein fremdartig buntes
Tuch gewunden und darunter schaute ein dunkles Mulattenantlitz hervor
mit schwarzen blitzenden Augen und dunkelroten Lippen, durch welche
die weißen Zähne glänzten. Es war ein seltsam schönes Gesicht, das
aber in dieser Umrahmung noch doppelt überraschend wirkte, zumal die
fremdartige Erscheinung noch aufs reichste mit allerlei Ketten und
kostbaren Perlenschnüren behangen war und außerdem noch ein kleines
Aeffchen und einen Papagei neben sich auf dem Sitz hatte, welch
letzterer beständig in englischer Sprache schwatzte und schrie. Beim
Aussteigen jetzt belud sie sich sowohl mit dem Käfig als mit dem
kleinen Affen, unbekümmert um das Gaffen und die lauten Bemerkungen der
übermütigen Gassenjugend – sie schritt mit fremdartiger Grandezza ihrer
Gebieterin nach, welche mit etwas herrischem Ton sich nach der Wohnung
der Frau Pfarrer Traugott erkundigt hatte und jetzt unten durch die
Thür des Hauses trat.

»Ist’s möglich?! Die merkwürdigen Gäste wollen zu euch, Martha – ich
habe es ganz deutlich gehört!« rief Aennchen, förmlich atemlos vor
Erstaunen. Doch die Frau Pfarrerin schüttelte ungläubig den Kopf –:

»Du wirst dich wohl getäuscht haben, mein Kind,« sagte sie, »was hätten
die Fremdlinge bei uns hier zu suchen?«

Allein schon nahten sich laute Schritte auf der Treppe von außen her
und nach einem raschen Klopfen öffnete sich die Thür, unter deren
Rahmen richtig die Fremden von der Straße unten erschienen.

Aufs höchste verdutzt, starrten die Anwesenden die Eintretenden an,
dann rief die Frau Pfarrerin ungläubig und zögernd aus:

»Täusche ich mich oder bist du’s wirklich, meine Nichte Ellen?«

»Ja, ich bin Ellen Trustgod!« gab die junge Dame in etwas gebrochenem
Deutsch rasch zurück, »und war schon vor Jahren einmal als Gast hier
in deinem Hause zugleich mit meinem Vater. Jetzt ist mein Vater tot,«
ein leises Schluchzen bewegte ihre Stimme, »und ich komme in seinem
Auftrag, dir seine letzten Grüße zu überbringen.«

»O du armes, armes Kind!« rief die alte Dame tief erschüttert aus, ein
Thränenstrom brach aus ihren Augen und schluchzend zog sie die junge
Mädchengestalt in ihre Arme. »So ist mein armer Bruder wirklich in der
Fremde gestorben und du, mein Kind, bist eine alleinstehende Waise!«

Auch dem jungen Mädchen wurden die Augen feucht, es unterdrückte
aber mit einer gewaltsamen Anstrengung die Bewegung, als schäme es
sich, seinen Schmerz zu zeigen – so war es wirklich ein merkwürdiger
Anblick, dies blutjunge Geschöpf mit den streng geschlossenen Lippen
neben der fassungslosen alten Frau zu sehen. Auch Klara und Martha
hatten mit schmerzlicher Teilnahme von dem traurigen Schicksale des
Onkels vernommen und eilten herzu, die fremde Cousine zu begrüßen und
mit den Freundinnen bekannt zu machen: auch Ellen dachte nun wieder an
ihre im Hintergrund harrende Begleiterin und stellte diese als ihre
Freundin und treue Gefährtin Olivia Ricardo vor. Dieselbe sei von ihrer
frühesten Kindheit an ihre Gefährtin auf der Farm gewesen und habe sie
auch seit dem Tod ihres Vaters keinen Augenblick verlassen und sich
trotz der Furcht, welche sie vor dem Wasser hege, entschlossen, sie
hinüber nach Deutschland zu begleiten.

»Unter wessen Schutz habt ihr armen Kinder die weite Reise über Hamburg
bis hierher zurückgelegt?« frug die Tante, als man sich gesetzt hatte,
während Martha eifrig von neuem Kaffee einschenkte und Kuchen anbot.

»Wir sind ganz allein gereist – was hätten wir auch des Schutzes
bedurft? Ich bin gewohnt, mir allein zu helfen,« gab Ellen in beinahe
verwundertem Ton und mit solcher Entschiedenheit zurück, daß alle dies
junge merkwürdige Mädchen ganz verdutzt anstarrten.

»Jetzt aber wirst du wohl bei uns bleiben und gerne werde ich an der
armen Waise meines Bruders Mutterstelle vertreten,« sprach die Tante,
indem sie der Nichte die Hand entgegenstreckte. Diese schlug halb
zerstreut ein.

»Verzeih, liebe Tante,« sprach sie entschieden, »wenn ich von deinem
freundlichen Antrag keinen Gebrauch mache, aber ich habe bereits
meinen Lebensplan festgesetzt. Ein Freund meines Vaters, welcher in
der Residenz Verbindungen hat, hat für mich dort ein hübsche Villa mit
Garten gekauft, dort werde ich mit meiner Olivia leben – wenn ihr mich
aber dort besuchen wollt, werdet ihr mir immer liebe Gäste sein.«

»Aber das ist ja ganz unmöglich, Kind, daß dies dein Ernst sein
sollte,« rief die alte Dame ganz erschrocken aus, »du kannst doch nicht
daran denken, allein leben zu wollen, kaum 14 Jahre alt und ohne allen
Schutz!«

»Ich habe ja den Schutz meiner Olivia und einer treuen Dienerschaft,«
erwiderte Ellen beinahe etwas gereizt, »wer sollte mir da etwas anhaben
können!«

»Aber, was würde die Welt dazu sagen!« rief die Tante lebhaft.

»Die Welt?« wiederholte Ellen, indem ein hochmütiges Lächeln ihre
Lippen teilte. »Ich bin es nicht gewohnt, nach dem Urteil der Welt
zu fragen und mich deren engherzigen Begriffen unterzuordnen, welche
besonders hier in der alten Welt von einer beinahe lächerlichen
Beschränktheit sein sollen. Ich habe mich gewöhnt, mir selbst Richter
zu sein und einzig meiner eigenen Person Rechenschaft über mein Thun
und Lassen abzulegen. Wenn ich also in der Zurückgezogenheit meines
eigenen Hauses meinen Studien lebe und mir als einzige Erholung nur die
gewohnten Ritte ins Freie gönne, so ist niemand berechtigt, mein Thun
anzutasten oder Tadel daran zu finden. Bei uns in Amerika hat die Frau
ebenso wie der Mann das Recht, über ihr Schicksal zu bestimmen.«

»Aber du bist keine Frau, sondern ein Kind!« rief die Pfarrerin
ganz entsetzt aus, indem sie sich erregt von ihrem Sitz erhob. »Ich
kann doch unmöglich zugeben, daß meine einzige Nichte sich meinem
mütterlichen Schutze ganz entziehen will. Ich werde keine ruhige Stunde
haben, dich so allein zu wissen.«

»Aber Tante, du wirst doch nicht komisch sein wollen?« rief das junge
Mädchen, von ihrem gehaltenen Ernst jetzt plötzlich in Lustigkeit
umspringend und die alte Dame umfassend. »Glaube mir, du und die
Cousinen, ihr werdet noch staunen, wie gut ich mich in das neue Leben
hineinfinden werde, und ich lade euch alle zu Besuch in meine Villa
ein. Dann können wir das Wiedersehen recht gründlich erneuern; für
heute muß ich leider gleich wieder Abschied nehmen, da ich eilen
muß, nach der Residenz zu kommen, um mit meinem Baumeister und
verschiedenen Handwerkern zu verhandeln.«

»Also wirklich ist es dein unabänderlicher Entschluß?« frug die alte
Dame ganz bekümmert; sie fühlte sich, wie auch alle die anderen,
durch das überlegene Wesen der jungen Amerikanerin so gedrückt,
daß sie an keinen Widerspruch mehr dachte, und so sah sie nur mit
stummer Verwunderung, mit welcher Sicherheit Ellen ihre Befehle an
ihre Gefährtin erteilte, welche in vollständigem Schweigen die ganze
Zeit über verharrte und sich nur mit dem Papagei und dem Aeffchen
beschäftigt hatte, während ihre blitzenden Augen von einem der
Anwesenden zum andern flogen. Jetzt bepackte sie sich wieder mit ihren
Lieblingstieren, während Ellen Abschied von ihren Verwandten nahm, auch
Alma und Aennchen freundlich die Hand schüttelte und diese, als sie
hörte, daß die Residenz M. in kurzem deren Aufenthaltsort werden solle,
herzlich einlud, sie in ihrem Hause zu besuchen.

Gleich darauf verschwand sie mit ihrer Begleiterin durch die Thür,
alle andern in einer leicht begreiflichen Aufregung und Verblüfftheit
zurücklassend. Der Frau Pfarrerin zitterten ganz die Kniee, so sehr
hatte sie das eben Vernommene angegriffen, und ihre Töchter hatten
lange zu thun, die bekümmerte Mutter über den Gedanken zu beruhigen,
daß die Tochter ihres Bruders ein so emanzipiertes Mädchen geworden sei.

»Du hast alles versucht, was in deiner Macht stand, Mütterchen, Ellen
von ihrem Vorsatz abzuhalten,« tröstete Klara, »nun liegt dir auch jede
Verantwortung fern und es bleibt uns nichts übrig, als das verblendete
Wesen Gottes Schutz zu empfehlen.«

»Ja, das wollen wir,« bestätigte die alte Dame einigermaßen getröstet,
aber es lastete doch seitdem wie ein geheimer Druck auf ihr und so
beeilten sich die Gäste, Alma und Aennchen, die aufgeregte Familie
lieber allein zu lassen. So hatte dies letzte Beisammensein in Marthas
Hause heute einen unerwartet trüben Abschluß erhalten, der noch lange
Zeit nachher die Gemüter Aller beschäftigte.



Einundzwanzigstes Kapitel.

Schluß.


Mehrere Wochen später war eine große Gesellschaft auf dem Bahnhof der
Stadt um zwei junge Mädchen in niedlicher Reisekleidung versammelt,
welche der nächste Eilzug in wenigen Minuten entführen sollte. Es waren
Aennchen und Alma, beide von ihren Familien begleitet; außerdem hatte
sich natürlich auch Martha, die unzertrennliche Freundin der beiden,
eingefunden und deren Mutter. Herr von Stolzau führte die zarte Klara
am Arme, welche das geliebte Stieftöchterchen mit Thränen scheiden
sah; sie hätte so gerne gewünscht, sie hier zu behalten, doch hatte
Almas Vater es für besser gefunden, dieselbe, wie bereits früher
beschlossen gewesen, wirklich in die Pension zu senden – in einem
halben Jahr sollte sie einmal auf einige Tage zurückkehren dürfen, um
der Vermählung des Vaters beizuwohnen. Für heute aber galt es nun,
ernstlich Abschied zu nehmen – der Zug pfiff, es war höchste Zeit
einzusteigen, und kaum waren sie im Waggon, so läutete die Glocke zum
zweitenmale.

In Thränen aufgelöst, hing Martha an Aennchens Halse.

»Gelt, Liebling, du vergißt mich nicht?« schluchzte sie immer und immer
wieder.

»Nein, nie im Leben!« versicherte Aennchen, beinahe ebenso tief bewegt,
»ich werde immer in Gedanken bei dir sein und dir täglich Briefe in
Tagebuchform schreiben. Verlaß dich darauf, Liebling.«

»Die Billets, meine Herrschaften!« scholl die Stimme des Schaffners
dazwischen, die Freundinnen wurden getrennt, beide griffen nach
ihren Täschchen, der Mann nahm die Billets und schlug die Thür zu,
ein lautes, grelles Pfeifen der Lokomotive, die Glocke läutete zum
drittenmal, Aennchens Brüder schwenkten die Mützen und riefen: »Hurra,
nun geht’s auf die Hochschule!« Die weißen Tücher flatterten im Winde
und im raschen Flug entführte der Bahnzug die Mädchen dem neuen
Lebensziel entgegen.

Welches die Schicksale der drei Freundinnen in den weiteren Jahren
waren, das werde ich meinen jungen Leserinnen ein andermal berichten.

[Illustration]


Druck von Maschning & Kantorowicz, Berlin S., Gneisenaustr. 41.



    Weitere Anmerkungen zur Transkription


    Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Lange
    Folgen von Gedankenstrichen wurden auf eine einheitliche Länge
    gekürzt.

    Korrekturen:

    S. 132: son → schon
      und gutem Ausdruck {schon} eine Anzahl




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